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Erzählte Mobilität im östlichen Europa

2013
978-3-7720-5484-6
A. Francke Verlag 
Thomas Grob
Boris Previsic
Andrea Zink

Der Band befasst sich mit Narrativierungen von Mobilität in übernationalen Raumparadigmen, wie sie für das verschüttete imperiale Erbe des östlichen Europas charakteristisch sind. Wie spiegelt sich diese Mobilität in Erzählungen? Wie konstituieren sich Begegnungen, Austausch, Grenzen, aber auch Biographien und Reiseerfahrungen? Welche Erkenntnisse bieten sich für das Erzählen, welche für einen Begriff des ,Imperialen', verstanden als kulturelle und kommunikative Struktur? Die Fallbeispiele betreffen die Habsburger Monarchie und den jugosla wischen Raum ebenso wie Russland und die Sowjetunion.

K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 1 8 Thomas Grob / Boris Previšic / Andrea Zink (Hrsg.) Erzählte Mobilität im östlichen Europa (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination ´ KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 18 · 2014 Erzählte Mobilität im östlichen Europa (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination Herausgegeben von Thomas Grob, Boris Previšic und Andrea Zink ´ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die Drucklegung wurde finanziert von der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8484-3 Umschlagfoto: Georg Mahkorn, Transsib am Bahnhof von Irkutsk (1991) mit freundlicher Erlaubnis des Fotografen. Inhaltsverzeichnis Imperium, Nation und Mobilität Eine Einleitung ....................................................................................................... 7 Boris Previšić Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie Die historische Zäsur des Ersten Weltkriegs ................................................... 25 Wolfgang Müller-Funk Besichtigung eines neuen Imperiums Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 ................................... 43 Peter Deutschmann Eine „Weltfrage“ und eine Weltreise Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg .......................................................... 59 Andrea Zink Land in Bewegung Die Imagination Jugoslawiens in der bosnisch-kroatisch-serbischen Literatur 79 Kati Brunner Erzählte Peripherie Raum und Bewegung in Ol’ha Kobyl’ans’kas Roman Zeml’a (Erde) ......... 101 Alexis Hofmeister Erfahrungsraum Anti-shtetl Paradies und Hölle der großen Stadt in der jüdischen Autobiographik aus dem Russischen Reich ................................................................................ 113 Maurus Reinkowski Der rasende Reichsdiener Beschleunigung und Verlangsamung im späten Osmanischen Reich .........129 Milanka Matić „Mobilität“ eines Renegaten am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha .............. 145 Inhaltsverzeichnis 6 Alexander Honold Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern Die Eisenbahn als Agentur innerer Kolonialisierung ................................... 159 Frithjof Benjamin Schenk „Asien gibt sich langsam, aber immer deutlicher zu erkennen“ Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich ......... 179 Susi K. Frank Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland ................................... 197 Thomas Grob Orientalismus jenseits des Nationalen Ivan Bunins Reiseerzählungen als Spur imperialer Raumerfahrung .......... 221 Zaal Andronikashvili Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise .................................................. 245 Franziska Thun-Hohenstein ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium Evfrosinija Kersnovskaja .................................................................................. 261 Eva Hausbacher Unterwegs-Literatur Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume .............................................................................................. 287 Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren ............................................ 305 Imperium, Nation und Mobilität Eine Einleitung Landkarten können vieles zeigen, sie können aber auch ebenso vieles verbergen, und die Geschichte der politischen Karte Europas weist gerade in der Spannung von Zeigen und Verbergen nicht wenige seltsame Ironien auf. Nach der Vereinigung Italiens und Deutschlands wirkt sie 1871, als sei sie definitiv zur Ruhe gekommen: den ‚klassischen‘ europäischen Nationalstaaten stehen die imperialen Gebilde Russlands, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs gegenüber. Sämtliche slavischen außer der russischen, aber auch andere Ethnien hatten es nicht in den Kreis der Territorialstaaten geschafft. Doch ist die reale Situation in Bezug auf diese sogenannten ‚kleinen‘ Völker damit nicht abgebildet: Die ungelösten alten Probleme Polens, der Nation ohne Staat, die drängenden neuen in Bulgarien, Rumänien oder Bosnien, die teilweise bereits unabhängigen, zudem in verschiedenen Staaten lebenden Serben, die Unabhängigkeitsbemühungen von Tschechen und Slowaken, das wachsende nationale Selbstbewusstsein der intellektuellen, auf zwei verschiedene imperiale Territorien verteilten Ukraine - all dies wird erst in der Folge an die Oberfläche der politischen Landkarte Europas treten. So liegt paradoxerweise die stärkste Dynamik hinter dem Prinzip moderner nationalstaatlicher Karten, nämlich die nationale Idee, noch weitgehend jenseits der kartographischen Darstellung - obwohl gerade die Sichtbarkeit auf dieser Karte zunehmend zum Ziel verschiedenster nationaler Bewegungen wurde. Diese Bewegungen brachten die europäischen Landimperien in dieser Zeit bekanntlich in zunehmende Legitimationsschwierigkeiten. Doch änderte die nationale Dynamik nicht nur an der Peripherie, sondern auch vom Zentrum her den Charakter der imperialen Gebilde, und die ‚Nationalisierung‘ der Zentren verstärkte zusammen mit der Schwierigkeit, althergebrachte zentralistisch-autoritäre Strukturen zu modernisieren, die zentrifugalen Kräfte. Und doch waren es entgegen der Wahrnehmung der Zeit nicht primär die explosiven Kräfte dieser multiethnischen, ja in gewissem Sinne - da Nation noch keineswegs mit Territorialstaat deckungsgleich sein musste - multinationalen Gebilde, die Europa besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mörderischen Auseinandersetzungen ausliefern sollten. Vielmehr entfaltete das territorialisierte nationale Denken selbst das größte Konfliktpotential, und das nicht in den sich ‚befreienden‘, sondern in den Thomas Grob / Boris Previšić / Andrea Zink 8 für die anderen vorbildhaften, scheinbar in sich ruhenden Nationalstaaten wie etwa Deutschland. Im Schatten der dominierenden politischen Diskurse gibt es schon im frühen 20. Jahrhundert durchaus europäische Stimmen, die das Konfliktpotential für das plurale Erbe der europäischen Imperien im östlichen Europa durch ein Prinzip nationaler territorialer Ordnung erkannten. 1 Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade ein Schriftsteller wie Alfred Döblin die Bedrohung weiter europäischer Kultur- und Lebensräume durch eine nationale Territorialisierung mit überraschender Klarheit erkannte: Es ist aber etwas Schauerliches um das Nationale von heute. Ich verliere jede Lust, mich für die Freiheit von Völkern einzusetzen. Ich verliere jede Lust, mit den „Grenzen“ zu trösten und zu drohen, die „Tyrannenmacht“ hat, wo ich die Tyrannei des Nationalen sehe. Hier in den Schulen sitzen sie jetzt, Ukrainer, Juden, Weißrussen und wer noch. Ihre Völker sind zerrissen. Man lässt sie sich nicht entwickeln, wie sie wollen. […] Wir leben in einer Periode der Kollektivbestienfurcht. Staaten sind Kollektivbestien. 2 Das nationale Denken hatte in Europa bereits vor der Jahrhundertwende nicht nur politische, sondern auch breite intellektuelle Milieus erfasst, in Konkurrenz zu sozialen weltanschaulichen Paradigmen, die eher zu übernationalem Denken tendierten, sich ihm aber keineswegs immer entzogen. Dies hinderte nicht, dass aus dem Befreiungsparadigma des Nationalen, vorsichtig ausgedrückt, etwas höchst Ambiges wurde, als es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Konzept des homogenen Raums, von einem Paradigma der Verbindung zu einem der Exklusion wandelte. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert steigerten sich in ganz Europa die nationalen Phantasien in einen Zustand, der in der Rückschau als kollektiver Wahn erscheint. Nicht einmal der Erste Weltkrieg konnte diesen beenden, sondern er kulminierte erst in den gewaltigen ethnischen ‚Säuberungen‘ Mitteleuropas, die nach 1945 auf der Landkarte Europas festgeschrieben wurden. Dadurch entstand eine neue politische Landkarte, die suggerierte, sie sei das Resultat eines Prozesses kontinuierlich progredierender Freiheitsbestrebungen. Doch ist sie nicht zuletzt das Ergebnis höchst gewaltsamer Prozesse im Namen einer (unerreichbaren) Homogenisierung nationaler Räume; Eric Hobsbawm nannte diesen Prozess „the murderous reductio ad absurdum of nationalism in its territorial version“. 3 Gerade im Osten Europas wurden die 1 Vgl. dazu auch die Beiträge von Wolfgang Müller-Funk und Boris Previšić in diesem Band. 2 Alfred Döblin, Reise in Polen (1925), München 2006, S. 198 und 200. 3 Eric Hobsbawm, Nations and nationalism since 1780. Programme, myths, reality, Cambridge 1990, S. 133. Imperium, Nation und Mobilität 9 Staaten „on the ruins of the old empires“ 4 und damit auf ehemals stark durchmischten Territorien errichtet. Bis heute bewegt sich das nationale Paradigma im Schatten der ‚großen Erzählung‘ moderner Emanzipation, 5 und es ist seiner erstaunlichen Persistenz zuzuschreiben, dass die Veränderungen zwischen 1914 und 1947 mit Ausnahme der Shoah weitgehend als Prozess der Installation von Normalität oder Modernität verstanden wurden, während alles ‚Imperiale‘ bis heute mit Gewalt, Rückständigkeit und Unterdrückung assoziiert wird. Ein verbindendes und gleichzeitig exkludierendes nationales Selbstverständnis kann schwer ohne die rückprojizierende Konstruktion einer legitimierenden Geschichte auskommen. 6 Diese Geschichtsbilder tendieren naturgemäß dazu, übernationale Spuren auszublenden. Um das kulturelle Erbe teilweise jahrhundertelanger imperialer Strukturen zu erkennen, wären Perspektiven einer Imperiumsforschung zu suchen, die das moderne Imperiale und das Nationale als stark aufeinander bezogene und dennoch differente Phänomene begreift und beispielsweise Modernisierungsprozesse auch in imperialen Kontexten untersucht. 7 Eine solche Forschung müsste imstande sein, im imperialen Erbe mehr zu sehen als dasjenige eines „Völkergefängnisses“ und eine Folie für nationale Bestrebungen. Damit muss auch der Diskurs der postcolonial studies in seiner Anwendung auf die europäischen Kontinentalimperien neu gedacht werden. Bekanntlich sind an den Saidschen Thesen von verschiedenen Seiten Einwände und Korrekturen vorgebracht worden, 8 doch führte dies nicht immer zu einer Klärung der Situation. Zu oft wurden gerade in literaturwissenschaftlichen Kontexten unter dem Label der postcolonial studies vorgefertigte Vorstellungen über imperiale Strukturen eingesetzt und der Blick auf vielschichtige kulturelle Räume einer politisch vereindeutigenden Lektüre geopfert, in der das ‚Imperiale‘ oder gar ‚Koloniale‘ den Status eines selbsterklärenden Arguments erhielt. Die von Historikern betonte Einsicht, dass 4 Ebd. 5 Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übers. v. Otto Pfersman, Graz-Wien 1986. 6 Eric Hobsbawm, Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 7 Vgl. in diesem Band zum Beispiel der Eisenbahn die Beiträge von Alexander Honold und Benjamin Schenk, zur Modernisierung der osmanischen Verwaltung denjenigen von Maurus Reinkowski. 8 S. z.B. Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 28-38. Zur kontrovers diskutierten Anwendung auf Russland vgl. etwa die Beiträge in Michael David-Fox, Peter Holquist, Alexander Martin (Hrsg.), Orientalism and Empire in Russia, Bloomington 2006. Thomas Grob / Boris Previšić / Andrea Zink 10 sich Imperien nach Typen wie auch individuell sehr unterschiedlich verhalten können, dass sie gerade in kulturellen Aspekten eine starke historische wie auch geographische Binnendifferenzierung 9 aufweisen, schafft Freiraum für neue Fragestellungen in diesem Bereich. In sich ‚postkolonial‘ verstehenden Analysen blieb zudem oft sogar die Selbstverständlichkeit unbeachtet, dass ästhetische Bereiche ihre eigenen Formen von Bedeutung generieren und entsprechende Lektüren verlangen. Es waren Kolonialismushistoriker, die an die Adresse der postcolonial studies vermerkten, es sei „erstaunlich zu sehen, wie stark die Aufklärungskritik an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert die angebliche Mitverantwortung der philosophes für europäische Arroganz, koloniale Unterdrückung oder gar Rassismus unterstreicht“. 10 Dies wäre ebenso an die literaturwissenschaftliche Adresse und ihren Umgang mit dem ‚Imperialen‘ zu richten. Was das Imperium betrifft, so waren es Politologen wie Herfried Münkler, Historiker wie Jürgen Osterhammel oder der internationale Kreis um die russische Zeitschrift Ab imperio, die sich um offenere, analytisch produktivere wissenschaftliche Konzeptionen bemühten. Nicht zuletzt dank ihnen ist die Imperiumsforschung zu Osteuropa heute ein lebendiger Forschungszweig geworden; Analoges gilt für den osmanistischen Bereich. Oft sind diese Forschungen vergleichend angelegt, doch weisen imperiale Merkmale deutlich weniger strukturelle oder gar ideologische Analogien auf als die nationalen. Das nationale Denken hat sich in Europa trotz der jeweils unterschiedlichen historischen Voraussetzungen eines nation building in erstaunlich ähnlichen, eher zeitals regionalspezifischen Mustern entwickelt, was bereits am überregionalen Fokus der klassischen Nationalismusforschungen von Ernest Gellner, Eric Hobsbawm oder Benedict Anderson 11 zu erkennen ist. Doch bringen auch imperiale Situationen oft in ganz verschiedenen Kontexten vergleichbare Erfahrungen lebensweltlicher Art hervor, sei es in der Erfahrung von übergeordneten Räumen oder von verschiedenen 9 Ein Markstein dafür war bezüglich Russland Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992. 10 Jürgen Osterhammel, Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung, in: H.-J. Lüsebrink (Hrsg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006, S. 35. 11 Vgl. etwa Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991; Eric Hobsbawm, Nations and nationalism (Anm. 3); Benedict Anderson, Imagined communities. Reflections on the origins and spread of nationalism, London 1991. Letzterer weist mit Blick auf außereuropäische Gegebenheiten darauf hin, dass man Vorsicht walten lassen sollte, Nationalismus zu einer Ideologie zu hypostasieren (ders., Die Erfindung der Nation. Zur Kategorie eines erfolgreichen Konzepts. Aus d. Engl. v. Ch. Münz u. B. Burkhard. 2. A., Frankfurt-New York 1996, S. 15). Seine Definition von Nation als vorgesellte, begrenzte und souveräne politische Gemeinschaft (ebd.) ist allerdings für eine Unterscheidung Nation vs. Imperium kaum hinreichend. Imperium, Nation und Mobilität 11 Formen der Plurikulturalität. Deswegen lohnt es sich, imperiale Vergleiche von dieser Erfahrungsebene her anzugehen, und schon deswegen können literarische Beispiele die historischen Erkenntnisse um Wesentliches ergänzen. Die hier versammelten Beiträge verdanken den genannten Forschungsansätzen und Imperiumsdiskussionen viel, auch wenn es nicht darum gehen kann, historische Konzeptionen tale quale etwa auf literarische Gegenstände - und damit auf den eigentlichen fachlichen Bereich der Herausgeber und der meisten AutorInnen - zu übertragen. Allein der Bezug auf den ost- und mitteleuropäischen Raum sowie das Osmanische Reich verlangt hier Anpassungen. Die Diskussion etwa, was als ‚Imperium‘ anerkannt werden soll - so schließt Herfried Münkler etwa Österreich-Ungarn nicht in seinen Imperiumsbegriff ein -, 12 ist für die hier diskutierten kulturellen Gegenstände von relativem Belang. Legt man den Akzent, und das ist der Ausgangspunkt dieses Bandes, weniger auf die politische Struktur als auf kulturelle Erfahrungen in Europa, dann geraten unweigerlich Räume aller drei Landimperien Österreich-Ungarn, Russland und Osmanisches Reich in den Fokus; sie lassen sich um Jugoslawien und die Sowjetunion erweitern. Gemeinsam ist diesen Räumen die Erfahrung von Pluralität, die viele Formen annehmen kann, von auch ideologisch heterogenen Strukturen, von der Zugehörigkeit zu ‚fremden‘ bzw. mehrfach kodierten Räumen oder von imperialen Dynamiken zwischen Zentrum und Peripherie - und da wir es hier primär mit peripheren Räumen zu tun haben, handelt es sich dabei meist um die Erfahrung eines ‚auswärtigen‘ Zentrums, sei dies nun eines der Macht oder eines der kulturellen Attraktion. *** Raumerfahrungen in imperialen Strukturen sind durch Heterogenitäten gekennzeichnet, die auf scheinbar paradoxe Weise von übergreifenden kulturellen Enzyklopädien begleitet werden. In diesen können, wie sich etwa am Beispiel der Sowjetunion zeigt, ästhetische Phänomene eine beachtliche Rolle spielen - Literatur, Film oder Musik treten dann als selektiv verbindende, hierarchisierende kulturelle Gedächtnismedien auf. Zu diesen Formen übernationaler Raumbildung, die im 20. Jh. aufgrund der steigenden medialen Durchdringung zunimmt, ist noch viel Forschung zu leisten. 13 12 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 23. 13 Vgl. etwa mit Fokus auf den Zusammenbruch der Sowjetunion Alexei Yurchak, Everything was forever, until it was no more. The last Soviet generation, Princeton, N.J. 2006. Thomas Grob / Boris Previšić / Andrea Zink 12 In diesem Band steht mit der Mobilität ein solcher auf Heterogenitätserfahrungen beruhender und dennoch verbindender Aspekt im Vordergrund. Formen von Mobilität gehören immer schon zu den Kernaspekten imperialer Raumerfahrung, und damit auch zu den Parametern, an denen sich imperiale Räume und Raumbilder besonders gut nachzeichnen lassen. Imperiale Gebilde bringen ihre eigenen Mobilitäten hervor, sie ermöglichen, ja sie benötigen sie. Mobilitätsformen werden von inneren Grenzverläufen wie vom Fehlen bestimmter Grenzen, von inneren Dynamiken, politischen Strategien oder von Sogwirkungen von den Zentren aus bestimmt. 14 Sie zeigen sich an Räumen und Grenzen, werden von diesen geformt oder charakterisiert, so wie sie sie selbst immer wieder neu schaffen. Überlegungen zur Differenz von Imperien und Nationen verweisen durchgehend auf differente Formen der Grenzbildung 15 - dies primär mit Bezug auf die Außengrenzen, sekundär auf die physischen oder rechtlichen Grenzabstufungen zwischen Zentrumsgebiet und Peripherie. Diese Differenz wäre bis hinein in das dichte Gewebe innerer Raumverflechtungen zu verfolgen, die plurale ethnische, religiöse, sprachliche und manchmal auch politisch-rechtliche Räume formen. Innerhalb solch vielschichtiger, diffuser (oder zumindest komplexer) Binnengrenzen, in der systemischen Nichtidentität von kulturellen und politischen Grenzen, in überregional ausgerichteten administrativen oder kommunikativen Raumstrukturen mit ihren Erschließungstechnologien entstehen Biographien, Begegnungen, Bewegungen, damit auch Identitäten, die von denjenigen rein nationaler Kontexte differieren. Die dabei entstehenden kulturellen Erfahrungen greifen tief und wirken weit über die Existenz der politischen Imperien, sprich: über die Zeit des Ersten Weltkriegs oder über den Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens hinaus. Mobilität ist in ihren vielfältigen Formen sicher eines der aufschlussreichsten Paradigmen, imperiale Raum-und Grenzbildungen zu verfolgen. Nichts macht Grenzen so sichtbar, wie sie zu überschreiten, sei dies nun physisch oder mental; so sind Mobilitätsformen in besonderer Weise geeignet, die Vielschichtigkeit imperialer Grenzen sichtbar zu machen. An den Formen von Mobilität erweisen sich die Beziehungen zwischen Peripherie und Zentrum oder diejenigen zwischen verschiedenen Peripherien, sei es als geographische oder soziale Mobilität im Zuge von Modernisierung und Urbanisierung, als Potential für imaginative Raumentwürfe, 16 als individu- 14 Vgl. zu letzterem etwa den Beitrag von Alexis Hofmeister in diesem Band. 15 Vgl. dazu auch den Beitrag von Susanne Frank in diesem Band. 16 Beispiel für das imaginative Potential der Peripherie finden sich in diesem Band etwa in den Beiträgen von Zaal Andronikashvili und Kati Brunner; vgl. zu den ‚imperiumstheoretischen’ Implikationen den Beitrag von Susanne Frank. Imperium, Nation und Mobilität 13 elle Karrierebildung oder schlicht als Alltagserfahrung. Gerade auch biographisch-soziale Mobilität ist in imperialen Landschaften meist mit räumlicher Bewegung verbunden. 17 Zu all diesen und weiteren Aspekten sind in den Beiträgen dieses Bandes Beispiele zu finden. Die europäischen Kontinentalimperien, das Osmanische Reich mitgerechnet, bilden komplexere Mobilitätsräume aus, nicht nur als Nationalstaaten, sondern wohl auch als Imperien, deren hauptsächliche Unterscheidung zwischen Mutterland und ‚Übersee‘ liegt und die im Zentrum deswegen auch einfacher eine nationalstaatliche Struktur ausbilden konnten. 18 Die historische Großtendenz zur nationalen Selbstdefinition des Zentrums nimmt in den Reichen, die eine solche Grenze im eigentlichen Sinne gar nicht kennen - dafür aber eine Vielzahl anderer Schwellen entwickeln -, andere Formen an. Die politische Strukturierung der geschichteten, überlappenden, wandelbaren kulturellen und politischen Räume der Landimperien bedingt, dass deren innere Grenzen ständig neu ausgehandelt werden müssen, aber auch, dass die kulturelle Rolle der Peripherie eine wesentlich andere ist als in anderen ‚kolonialen‘ Kontexten. Es sind diese lebendigen - vielleicht auch: instabilen -, auf komplexen Beweglichkeiten basierenden Prozesse, die diese kulturellen Räume insgesamt vielleicht mehr als alles andere charakterisieren. *** Die europäischen Spuren imperialer Erfahrung reichen weit über die politische Verfasstheit der involvierten Regionen hinaus und lassen sich in unterschiedlichsten kulturellen Feldern finden. Diese Erfahrungen lagern sich an Grenzen und in Räumen ab, die gerade durch ihre Vielfalt in hohem Maße kulturell kodiert sind. Um einen überindividuellen Charakter und eine nachhaltige Wirkung zu entfalten, müssen sie jedoch durch entsprechende Repräsentationsformen kommuniziert werden. Eine der Thesen dieses Bandes besagt, dass beispielsweise die Literatur solche Spuren nicht nur erkennen lässt, sondern sie auch selbst formen und tradieren kann. Nur Weniges bringt imperiale Erfahrungen, das Erbe der Imperien und ihre mental maps medial so differenziert zum Ausdruck wie das Erzählen. Auch erzählend entstehen Karten - aber sie folgen nicht dem zweidimensional- 17 Vgl. zu einem extremen Fall der biographischen Grenzüberschreitung den Beitrag von Milanka Matić in diesem Band. 18 Vgl. etwa den Vergleich zwischen dem multikulturellen Osmanischem Reich und dem religiös unifizierenden Spanischen Reich der Habsburger bei Jane Burbank / Frederick Cooper, Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton/ Oxford 2010, S. 117-148. Thomas Grob / Boris Previšić / Andrea Zink 14 flächigen Entweder-Oder der graphischen Landkarte, sondern verzeichnen Vielschichtigkeiten, Unbestimmtheiten und nicht selten sogar Paradoxien. In diesem Feld treffen sich kulturwissenschaftliche Ansätze aus verschiedenen Fächern. Doch spielen in diesen Dynamiken der Kohärenzbildung und Abgrenzungen Narrative eine herausragende Rolle; die Literatur kann dies nicht nur besonders differenziert reflektieren, sondern sie spielte bekanntlich im Prozess des nation building in osteuropäischen Ländern, angefangen bei der Herausbildung von Standardsprachen bis hin zur aktiven historischen Gedächtnispolitik, eine besondere Rolle. Das Wissen darum wird gerade in postkommunistischer Zeit in den einzelnen nationalen Diskursen gelegentlich exzessiv und vereinnahmend gepflegt. Entsprechend weniger Aufmerksamkeit finden dagegen gerade in den letzten beiden Jahrzehnten über- und transnationale Erscheinungen, obwohl auch sie in all diesen Räumen, vom Westbalkan bis nach Russland, konsistente Motiviken ausbilden, die nicht weniger über kulturelle Prägungen aussagen als die Geschichte des Nationalen. 19 Ihre Missachtung führt zu einem höchst einseitigen Bild der kulturellen Schichtung Europas, und sie verwischt besonders die spezifischen Erfahrungen von dessen Osten und Südosten. Diese Erfahrungen entwickelten ihre kulturelle raumbildende Kraft lange Zeit, bevor die ihr zugrundeliegende Vielfalt auf der politischen Karte überhaupt sichtbar wurde, und sie wirken noch nach, nachdem diese Vielfalt längst der kartographischen Zersplitterung wich. Das Erzählen pflegt an sich schon eine enge Beziehung zur Grenze - dies zeigte schon Michel de Certeau - 20 und zur Grenzüberschreitung im Besonderen. Im Falle des Reisens ist sprichwörtlich geworden, dass der Reisende anschließend etwas zu erzählen hat; in einem abstrakteren Sinne sind es bei Jurij Lotman Grenzüberschreitungen, die dem Erzählen Sujethaftigkeit verleihen. 21 Bei der archäologischen Aufarbeitung imperialer Erfahrungsschichten, so die Hypothese, zeigt sich die besondere Rolle von Erzählliteratur, die im Zusammenspiel mit anderen historischen Betrachtungen genutzt werden kann. Erzählen bedeutet immer, kulturelle Grenzen zu konstruieren, sie zu 19 Vgl. in diesem Band zu einer ‚übernationalen‘ russischen Gegenwartsliteratur den Beitrag von Eva Hausbacher, zu einem Beispiel von Reisen und übernationaler Raumimagination denjenigen von Thomas Grob. Der Beitrag von Peter Deutschmann lässt am Beispiel Masaryks erkennen, wie eng auch ‚nationale‘ Momente der ostmitteleuropäischen Geschichte mit übernationalen Kontexten verbunden sind. 20 Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Aus d. Frz. v. R. Voullié, Berlin 1988, S. 226ff. 21 Jurij M. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes. Hrsg. v. R. Grübel, Frankfurt a.M. 1973, S. 347ff. Imperium, Nation und Mobilität 15 festigen, zu überschreiten oder zu unterwandern. Gerade das Überschreiten der Grenze des Eigenen und die Begegnung mit dem Fremden gehört zu den Ur-Erfahrungen des Erzählens 22 und damit zu seinen ältesten Funktionen. Dass umgekehrt auch Feindbilder in der Literatur konstruiert und konsolidiert werden können, auch davon kann man sich in der Geschichte der nationalen Bemühungen bis hin zu den neuesten Nationalismen überzeugen. Es liegt jedoch in der Natur eines komplexen Erzählens gerade in der Literatur, hier auf letzte Eindeutigkeit zu verzichten. Nicht zufällig sind es oft dieselben Autoren und Texte, die als Zeugen patriotischer Identifikationen ebenso zitiert werden wie als Hüter übernationaler, heterogener kultureller Ordnungen. Es sind diese Uneindeutigkeiten, aus denen sich die besten Aufschlüsse über kulturelle ‚Landkarten‘ ergeben. Denn die Lektüren im ersten Sinne sind fast immer reduktionistisch, was naturgemäß die Leserschaft nicht stört, die genau an diesem Reduktionismus interessiert ist. Der vorliegende Band schlägt einen entgegengesetzten Zugang vor: die Freilegung von Erzählpotentialen, die oft sogar dann transnationale Erfahrungen spiegeln, wenn sie in ‚nationaler‘ Absicht geschrieben sind. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern das Transnationale auch unweigerlich ein ‚Imperiales‘ ist. Dies muss von Fall zu Fall entschieden werden, und meistens werden sich die Antworten einem Beweis entziehen. Die hier vorgelegten Aufsätze lassen sich denn auch nicht unter einen Begriff des Imperialen fassen, haben die imperiale Dimension aber dennoch immer im Blick. Damit wird ‚Imperium‘ nicht als fertiges Paradigma, geschweige denn als Argument eingesetzt. Das Imperiale wird in gewisser Weise zur Variablen, aber keinesfalls zur Beliebigkeit - nur sind es immer lokale Bedeutungen und Aspekte, die den Begriff mitprägen. *** Erzählte imperiale Räume, insbesondere literarische, unterliegen in der Regel keiner eindimensionalen Axiologie, und sie können durchaus paradoxe Konstellationen reflektieren. Gerade unter dem Aspekt von Mobilitätsthemen wird deutlich, dass ein ‚Imperium‘ gleichzeitig Freiheit wie auch 22 Vgl. beispielsweise den „Weg“ bzw. die Triade Aufbruch, Initiation und Rückkehr im Mythos bei Joseph Campell, Der Heros in tausend Gestalten [1949], übers. v. K. Kroehne, Frankfurt a.M. 1999, S. 28 und passim, dessen Analogie zu Vladimir Propps Morphologie des Märchens (1969) - oder Walter Benjamins Erzähler-Aufsatz, der den reiseerfahrenen Erzähler als einen der beiden „archaischen Typen“ des Erzählens einführt (Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/ 2, Frankfurt a.M. 1980, S. 438-465, hier S. 440). Thomas Grob / Boris Previšić / Andrea Zink 16 Zwang bedeuten kann; 23 insbesondere nach seinem realen Verschwinden kann es als imaginierte Größe ‚positive‘, ja utopische Schattierungen annehmen. 24 Alle genannten drei Imperien vor 1918, aber auch Jugoslawien und sogar die Sowjetunion erschöpften sich in Struktur und Wirkung keineswegs in der ‚Tyrannei‘, und ihr Ende war selbstverständlich, wenn auch nicht überall gleichermaßen, mit Aspekten des Verlusts verbunden. Traditionelle Imperiumskonzepte können deren Thematisierung nur als naive Nostalgie, Verbrämung oder als Irrtum verstehen (wovon man nur mit ‚Kakanien‘ eine gewisse Ausnahme machte). Ein mehrschichtiger, kulturell orientierter Imperiumsbegriff, wie er hier angestrebt wird, kann auch diesen Imaginationen, die weit über Magris’ Habsburg-Mythos hinausgehen, 25 gerecht werden. Da der kulturwissenschaftliche Imperiumsbegriff immer noch axiologisch kontaminiert ist, kommt eine solche Betrachtung rasch in den Verdacht, Imperiumsnostalgie zu betreiben - ein Verdacht, der auch Forschungen aus ehemaligen imperialen Zentren treffen kann, umso mehr, als Formen der Imperiumsnostalgie, meist in pseudohistorischem Gewand, momentan besonders in Russland und der Türkei tatsächlich Elemente der Populärkultur sind. Vertretern aus Ländern, die sich erst vor kurzem aus dem sowjetischen oder teilweise auch jugoslawischen Einflussbereich befreit haben, ist der Versuch nicht einfach zu vermitteln, ein Konzept von imperialen Strukturen zu finden, das dem Imperium auch etwas ‚Positives‘ abgewinnen kann. Doch muss es Ansätze zur Analyse historischer Gegebenheiten und der ihr zugehörigen Erinnerungs- und Projektionskultur geben, die nicht hinter die Differenziertheit ihrer Gegenstände zurückfallen und diese nicht desavouieren oder eliminieren. Die Bedeutung der ästhetischen Repräsentationen des ‚Imperiums‘ für die Konzeptualisierung ihres politisch-kulturellen Raums, wie auch für das nation building, entsteht keineswegs ausschließlich auf dem politischen Feld der Unterdrückung nationaler Freiheit und anderer Machttechnologien. Vielmehr gilt es hier, das enorme kulturelle Potential imperialer Kontexte und ihre lebensweltliche Vielfalt zu integrieren. Das Spektrum der hier versammelten Arbeiten zeigt, dass es keineswegs einfach um einen Versuch der Umwertung des ‚Imperialen‘ ins Positive geht. Doch ermöglicht erst eine Neutralisierung der Wertungen eine Analyse, in der gewaltbestimmte Erfahrungen und ihre Repräsentationen mit 23 Wie überraschend eng dies ineinander verwoben sein kann, zeigt v.a. der Beitrag von Franziska von Thun-Hohenstein in diesem Band. 24 Vgl. dazu u.a. den Beitrag von Andrea Zink in diesem Band. 25 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Aus d. Ital. v. M. von Pásztory, Salzburg 1966. Imperium, Nation und Mobilität 17 den nostalgisch oder projektiv imaginierten Räumen zusammen gedacht und auf ihren vielleicht gemeinsamen Erfahrungshintergrund hin betrachtet werden können. Andrej Bitov hat heftigen Widerspruch provoziert mit seiner Aussage, er sehe in Imperien nicht nur Schlechtes; damit meinte der begeisterte Kaukasusreisende nicht zuletzt Elemente der Mobilität. Um einen kulturellen Imperiumsbegriff denkbar zu machen, muss man diese Schwelle überschreiten können, ohne die Gefahr einer Mythisierung des Imperialen zu missachten. Umgekehrt impliziert eine Haltung, die ‚Imperium‘ ausschließlich als asymmetrische, nicht-partizipative, auf militärischer Gewalt und Verwaltungskontrolle beruhende Einheit sieht, wohl immer eine romantisierende Perspektive auf den Nationalstaat. *** Die Beiträge dieses Bandes bewegen sich alle in einem Feld von (post-)imperialen, damit trans- oder übernationalen Raumerfahrungen, Raumimaginationen und Raumnarrationen - und dies im Fokus auf Formen von Mobilität. Die Aufsätze weisen je nach regionalen oder thematischen Schwerpunkten verschiedene Berührungspunkte auf. In der Verknüpfung von regionalen und thematischen Ausrichtungen lassen sich dennoch vier Gruppen ausmachen: a. eine österreichisch-ungarische, in der die Frage des imperialen Zerfalls und der ‚nostalgischen‘ Wendung einerseits, die Suche nach dem Nationalen im imperialen Kontext andererseits eine besondere Rolle spielen, b. eine osmanisch-russische, in der es um Grenzräume, um administrative wie um imaginäre Moblität und um Modernisierung geht, c. eine überregionale, die sich der Modernisierung, im Einzelnen der Eisenbahn widmet und d. um russisch-(post-)sowjetische Beispiele und transkulturelle Fälle von Reisen, Verbannung oder Migration. Die erste Gruppe kreist um politische Imaginationen in der Zeit der Auflösung der vielleicht besonders mythogenen Habsburgermonarchie. Die Beiträge nähern sich damit aus drei ganz verschiedenen Richtungen dem imaginativen Potential von Imperien, das mit zeitlicher und räumlicher Distanz noch zu wachsen scheint. B ORIS P REVIŠIĆ beschäftigt sich mit dem imperialen Zerfall, mit der literarisierten Katastrophe des Ersten Weltkrieges und insbesondere den Erzählungen vom Untergang der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Dabei geraten die Verfallsgeschichten - die analysierten Beispiele entstammen der österreichischen und der südslavischen Literatur - keineswegs ins nationale Fahrwasser. Sie zeigen sich vielmehr vom imperialen Erbe infiziert und schreiben der Katastrophe sogar eine neue, utopische Vision ein. Der Thomas Grob / Boris Previšić / Andrea Zink 18 Beitrag geht minutiös den narrativen Strategien dieses (Post-)Imperialen nach, zu denen etwa eine ambige Erzählerposition, Figuren mit multiplen Identitäten und eine spezifische Raumgestaltung gehören. W OLFGANG M ÜLLER -F UNK beschreibt anhand von Joseph Roths Reisebericht aus dem Kaukasus die Entstehung des ‚Habsburgischen Mythos‘. Er zeigt auf, wie Roth das Politische in seinen feuilletonistischen Reiseberichten - im Unterschied zu seinen Romanen - ausblendet. So sehr er den sowjetischen Sozialismus zu einer spezifischen Spielart einer modernen Bourgeoisie degradiert und in Ergänzung zum amerikanischen Modell betrachtet, so sehr konzentriert sich seine kulturelle Analyse auf die imperiale Peripherie - sie ist für den neuen sowjetischen „Riesenstaat“ in seiner Perspektive aussagekräftiger als die Zentren Sankt Petersburg oder Moskau. So beschreibt Roth im Kaukasus die transnationale Vielfalt des Imperiums und die kulturelle Heterogenität des scheinbar friedlichen Zusammenlebens, das ihm Modell sein wird für eine inzwischen untergegangene, idealisierte Doppelmonarchie, deren Essenz er in seinen späteren Romanen ebenfalls in ihrer östlichen und südöstlichen Peripherie aufsucht. P ETER D EUTSCHMANN wiederum folgt einem nationalen Anliegen, das sich aber auf übernationalem Weg realisiert: Er zeichnet die agitatorischen Reisen nach, die Tomáš Masaryk, gleichsam die Gunst der Stunde nutzend, zwischen 1914 und 1918 unternahm. Mit einer intellektuellen ‚Partisanentaktik‘, die ihn den ganzen Erdball umrunden lässt, wirbt Masaryk erfolgreich für die kleinen Völker in der zerfallenden Donaumonarchie, und er kann bei Vertretern der Entente schließlich die notwendige Unterstützung für einen neuen tschechoslowakischen Staat gewinnen. Obwohl die nationale Idee von Masaryk gegen das multinationale österreichisch-ungarische Imperium ins Feld geführt worden war, mündet die so genannte Revolution nicht in einen rein nationalen Territorialstaat. Deutschmann arbeitet nicht zuletzt mit den 1925 erschienenen autobiographischen Aufzeichnungen Světová revoluce, die neben Reisebeschreibungen und Erinnerungen auch viele theoretische Reflexionen enthalten. Die Beiträge der zweiten Gruppe verbinden ebenfalls den imaginativen Aspekt mit einem politischen, dies vornehmlich im Hinblick auf unterschiedliche Dynamiken von Zentrum und Peripherie an jugoslawischen, ukrainischen, jüdischen und osmanischen Fallbeispielen. A NDREA Z INK zeigt anhand der drei entscheidenden Zäsuren im 20. Jahrhundert auf, wie der übernationale Raum Jugoslawien als Chronotopos der Krise in die Literatur eingeht. So sehr Miroslav Krleža bereits das heterotopische nationale Moment in der österreichisch-ungarischen Armee hervorhebt, so sehr distanziert er sich von einer nationalstaatlichen Verklärung. Imperium, Nation und Mobilität 19 Ihn interessiert die Dynamik des imperial Peripheren, das sich auf die Figuren am Rand der Gesellschaft überträgt. Während der Zäsur des Zweiten Weltkriegs formuliert Ivo Andrić insbesondere in seiner Travniker Chronik eine allegorische Anweisung für die Zukunft dieses dynamischen Raums. Die jüngste Generation setzt diese Dynamik literarisch um, indem die ‚Jugosphäre‘ - wie das Gebiet des ehemaligen sozialistischen Staates heute als kulturelle Einheit umschrieben wird - sich als intertextuelles Netzwerk inszeniert. Unter der Oberfläche plakativer sozialistischer Einheitsdeklarationen wird ein unheimliches, nationalistisches Potential eruiert, das den einstigen imperialen Grenzraum des Osmanischen und des Habsburger Reichs als ‚espace lisse‘ auszeichnet. K ATI B RUNNER macht in der hybriden Position der ukrainisch und deutsch schreibenden Autorin Ol’ha Kobyl’anska (1863-1942) eine ambivalente und aufschlussreiche Raummetaphorik des imperialen Grenzlandes zwischen habsburgischer ‚Kolonisation‘ und weiter ‚Steppe‘ fest. Im Unterschied zu Karl Emil Franzos oder Leopold von Sacher-Masoch schreibt Kobyl’anska die Dichotomie zwischen zivilisierter Westkultur und barbarischem asiatischem Osten nicht fort. Vielmehr figuriert die Steppe als mehrdimensionaler Zwischenraum, in den sich weder ein imperiales, noch ein nationales Projekt einzuschreiben vermögen. Letztlich erweist sich nur die Bildung als geeignete Strategie, sich an diesem kulturell multiplen Raum sinnvoll zu beteiligen, und dies jenseits des Nationalen. A LEXIS H OFMEISTER beschreibt die Gemengelage von imperialer Mobilität und sozial-ethnischer Schichtung, wie sie sich in der jüdischen Biographik und Erinnerungsliteratur um 1900 hinter scheinbar einfachen Dichotomien von Shtetl und Metropole (wie Moskau, Kiev oder Odessa), Traditionalismus und Moderne, zyklischer und linearer Zeitauffassung, rückständigem Russischem Reich und fortschrittlichem Westeuropa darbietet. Die bedeutende Migration vom Shtetl in die Metropolen und weiter nach Westeuropa oder nach Übersee ist ein diese Zeit prägendes Moment, das erst mit der Sowjetisierung eine vorübergehende Kehrtwende erfährt. Anhand individueller Erinnerungen und Narratrivierungen wird deutlich, wie sehr die Bewertung der verschiedenen imperialen Lebensstationen von der persönlichen, religiös oder politisch induzierten Haltung sowie von Erzählort und -zeit abhängen - woraus sich eine eigene Geschichte auch durch eine dritte Person perspektiviert und ironisch distanziert erzählen lässt. Um imperiale Prägungen von Biographien geht es auch in den folgenden Beiträgen. M AURUS R EINKOWSKI zeigt, wie die auf und durch europäische Imperien wirkenden Kräfte im Falle des späten Osmanischen Reiches Phasen und Zonen der Beschleunigung und der Stagnation entstehen lassen; diese wiederum wirken sich direkt auf die Biographien der Würdenträger und hohen imperialen Beamten aus. Das Tempo von Orts- und Amtswech- Thomas Grob / Boris Previšić / Andrea Zink 20 seln wird damit ebenso bestimmt wie die Dynamiken der Problemlösung. Da sich diese Dynamiken in einem Feld kolonialer Interessen und Verschiebungen, aber auch der zunehmenden Faszination nationaler Projekte und eines entsprechend aggressiv vertretenen Selbstverständnisses im Zentrum abspielen, wird hier besonders deutlich, wie wenig autonom manchmal ein ‚Imperium‘ seine imperiale Machtpolitik gestalten konnte - obwohl erst diese Autonomie ein Imperium nach innen legitimieren kann. Damit müssen Imperiumstheorien wohl mehr, als dies bisher der Fall war, neben konkreten Machtfeldern durch das erstarkte Europa auch ‚wandernde‘ Mechanismen der Selbstlegitimierung und Machttechniken gerade in krisenhaften Zeiten berücksichtigen. Einen durch die Literarisierung in Ivo Andrićs im postum publizierten Romanfragment Omerpaša Latas (dt. Omer-Pascha Latas) berühmt gewordenen Fall der in solchen Dynamiken entstehenden ‚geschichteten‘ Identitäten beschreibt M ILANKA M ATIĆ anhand der historischen Figur des Renegaten Ömer Lü fī Pascha. Dieser wurde in der Zeit der osmanischen Tanzimat- Reformen als hoher Vertreter des Imperiums in den verschiedensten Provinzen eingesetzt und kam so auch in seine Herkunftsregion Bosnien zurück; er steht exemplarisch für die biographische Wirksamkeit imperialer Dynamiken und Mobilitäten im 19. Jahrhundert. In seinem Fall impliziert das die Konversion vom orthodoxen Christen zum Muslim ebenso wie der Seitenwechsel vom habsburgischen Militärkadetten zum Soldaten im osmanischen Heer, wo er eine steile Karriere erlebt. So ambige die Rolle dieses Renegaten im Umgang mit seiner Herkunftsregion Bosnien bei Ivo Andrić verhandelt wird, so eindrucksvoll dokumentiert sich in Ömer Lü fī Paschas Werdegang die administrative Flexibilität und Dynamik im Osmanischen Reich im Zuge seiner Modernisierung. Die funktionale Ausdifferenzierung überwiegt dabei bei weitem die ethnisch-nationale Identifikation: Ömer Lü fī Pascha besinnt sich selbst in seiner Herkunftsregion nicht seiner ‚Wurzeln‘, sondern weiß seine Ortskenntnisse strategisch für ‚sein‘ Imperium einzusetzen. Mit der Kulturgeschichte infrastruktureller Raumerschließung anhand des Eisenbahnbaus in imperialen oder ‚kolonialen‘ Kontexten befassen sich, und dies bildet eine dritte Gruppe, die Beiträge von B ENJAMIN S CHENK und A LEXANDER H ONOLD . Hier wird deutlich, wie gut sich historische und literaturwissenschaftliche Perspektiven in diesen Fragen ergänzen können. Beide Autoren sehen die Eisenbahngeschichte am Knotenpunkt von Modernisierung und Durchdringung von Räumen und damit als Ort, in dem sich Modernisierung am deutlichsten als Mobilität erweist. Schenk geht es um den Bau der Transsibirischen Eisenbahn und die Frage, wie die vorher un- Imperium, Nation und Mobilität 21 denkbare Geschwindigkeit, mit der Sibirien nun zu durchqueren war, die Konzeptualisierung von ‚Russland‘ und ‚Sibirien‘ als Eroberungs- und Kolonisationsraum, auch im Hinblick auf eine offiziell gewünschte Integration, beeinflusste. So wird die Frage gestellt, ob diese neue Er-Fahrung des sibirischen Raums (und der Trennschwelle des Urals) tatsächlich nur einen integrierenden Charakter trug, oder ob nicht gerade diese neuen Reiseerfahrungen auch die verschärfte Begegnung mit einer Fremdheit des offiziell Eigenen, mit innerer kultureller Differenz im Russischen Reich bedeuten konnten. Jedenfalls gab es eine markante Differenz zwischen der Präsentation und ‚exotisierenden‘ Wahrnehmung des Projekts an der Weltausstellung in Paris im Jahr 1900 und der Wahrnehmung russischer Reisender, die hier ausgearbeitet wird. Etwas anders ist die Perspektive Honolds, der ausgeht von der Eisenbahn als Teil der Schrift des Kolonialzeitalters, von der neuen, im Grunde gewaltsamen Spurführung als Signatur rationaler Formen der Raumerschließung. Ein Netz verbindet weit entfernt liegende Zentren und wird von einer flächendeckenden, uniformen administrativen Struktur gewährleistet. Der Schnelligkeit der Überwindung großer Distanzen steht allerdings die Langsamkeit der peripheren Betreuung gegenüber, und die Verschiebung in der Ordnung der Regionen zeigt sich keineswegs, wie die literarischen Beispiele von Musil, Kafka, Hauptmann und anderen belegen, als Aufwertung des Peripheren, sondern zuerst einmal als Gefälle zum aufgewerteten Zentrum wie Berlin (Schenk beobachtet Analoges am Beispiel Moskau). Bei allen Unterschieden zwischen der transsibirischen und der preußischen Bahn ergeben sich erstaunliche Schnittstellen, so etwa in der Frage, wie sich das Panorama der Fernreisenden und deren mental maps mit der Erfahrung vor Ort in Übereinstimmung bringen lässt. Es erweist sich, dass sich die Territorialisierung durch Eisenbahnmobiliät aus der Verbindung des subjektivierten Blicks - sei er aus der Literatur oder aus dem Reisebericht - mit dem eisenbahngeschichtlichen Kontext beschreiben lässt. Die vierte und letzte Gruppe widmet sich vorwiegend Phänomenen aus dem Bereich des russischen bzw. sowjetischen Imperiums, deren ‚imperialer‘ Charakter in seiner kulturellen Dimension zuerst skizziert wird. Wiederum geht es dann um Beispiele imaginativer Raumbildungen, in denen sich an Paradigmen der Mobilität Spuren imperialer Erfahrungen zeigen, sei dies in literarisierten Reiseberichten, in der Erfahrungsbewältigung von Zwangsmobilität im sowjetischen Strafsystem durch das Tagebuch oder in transkulturellen Perspektiven in der Gegenwartsliteratur. Der Beitrag von S USANNE F RANK skizziert grundlegende Aspekte der neueren historischen Imperiumsforschung und entwickelt mit Blick auf Thomas Grob / Boris Previšić / Andrea Zink 22 Russland ein Modell der Gegenüberstellung von Nation und Imperium, das über eine historisch-politische Perspektive hinausgeht. Der Fokus liegt dabei auf der symbolischen Raumkonstruktion, in der sich die politische Durchdringung mit kulturellen Semantisierungen verbindet. Besonders hervorgehoben werden die „universalen Ideen“, die Imperien legitimieren, die Beziehung zum Außen und damit die Außengrenze, sowie die innere Heterogenität bzw. die „politics of difference“ im Sinne von Jane Burbank und Frederick Cooper. In diesem Rahmen ergibt sich ein neuer Blick auf räumliche Dynamiken und dabei v.a. auf die Rolle imperialer Peripherien. Deren kulturelle Bedeutung wird nicht zuletzt mit Bezug auf Jurij Lotman diskutiert, der sich dabei gleichsam als impliziter Imperiumsforscher erweist. T HOMAS G ROB analysiert Reisetexte von Ivan Bunin, die auf Fahrten in die Ukraine, nach Istanbul, Palästina und Ägypten und nach Ceylon basieren. Die Reiseziele und der exotisierende Blick scheinen trotz des differenten Wirklichkeitszugangs in vielem den romantischen Vorläufern verpflichtet. Bunin verbindet eine hohe Plastizität der Eindrücke mit einer Poetisierung, die von Neugier und Faszination für das Fremde geprägt ist und dieses bei aller Subjektivität aus den eigenen Texten und der Geschichte der bereisten Regionen heraus zu begreifen versucht. Die Erweiterung von Identität, die diese Poetik der Begeisterung nach sich zieht, sowie die dabei entstehende übergreifende, durch anthropologisch-еxistentielle Erfahrung definierte Raumstruktur, die in „Reichen“ denkt, lässt sich auf eine imperiale Erfahrung zurückführen. Die Vertrautheit mit dem Anderen in Bunins Reisetexten korrespondiert mit seiner Weigerung, nationale Merkmale überhaupt wahrzunehmen. Gleichzeitig geht ein imperiales Schreiben - wie Bunins Reisebilder eindrucksvoll unterstreichen - nicht zwangsläufig mit ‚imperialistischen‘ und kolonialisierenden Ansprüchen einher. Wie die imperiale Peripherie als chronotopischer poetischer Zwischenraum inszeniert wird, zeigt Z AAL A NDRONIKASHVILI anhand von Boris Pasternaks Gedichtzyklen Die Wellen und Die zweite Geburt, die auf der Folie seiner Reise nach Georgien im Jahre 1931 entstanden sind. Dabei rekurriert Pasternak nicht nur auf seine Vorgänger Puškin und Lermontov, sondern überträgt die Verheerungen der imperialen Eroberungen auf Naturbilder und vergleicht sie mit der allgemeinen Entwurzelung in der stalinistischen Ära des Sozialismus. Damit wird Georgien in die autochthone Struktur eines pluralen Grenzraums eingebunden, der sich explizit vom flottierenden imperialen Zentrum Moskau abhebt. Aus dieser Perspektive ‚von unten‘ wird die Funktion des imperialen Raums gleichsam invertiert: Nicht die Peripherie, sondern das imperiale Zentrum wird zur variablen Größe des Sowjetimperiums. F RANZISKA T HUN -H OHENSTEINS Beitrag geht von einer unfreiwilligen Mobilität als Ausdruck imperialer Bedürfnisse aus, aber nicht in Bezug auf Imperium, Nation und Mobilität 23 die höhere Verwaltungsschicht - wie etwa Maurus Reinkowski -, sondern in Bezug auf den Kontext von Zwangsmigration, die der alten russischen Praxis der Wanderer (stranniki) eine neue Bedeutung verleiht. Dies wird - gerade auch in der wechselseitigen Verflechtung mit Kriterien des Nationalen - allgemein skizziert und am Beispiel der Memoiren von Evfrosinija Kersnovskaja, d.h. an Bewegungen gezeigt, die sich zwischen Verbannung und Flucht situieren. Die sprachlichen und bildlichen Aufzeichnungen über diese Bewegungen entwerfen eine ganz eigene - auch kulturell-historische - Landkarte zwischen Mobilität und Zwang, Fremdem und Eigenem, Realem und Imaginärem. E VA H AUSBACHER schließlich geht in ihrem Beitrag den Spezifika der Migrationsliteratur nach, einem Erzählen also, das genuin mit Bewegung verbunden ist. Anders als die Emigrationsliteratur lässt die jüngere Migrationsliteratur nationale Bindungen hinter sich, sie vermeidet Dichotomien und siedelt sich bewusst im Zwischenraum zwischen verschiedenen Kulturen an. Am Beispiel des Briefromans Annuschka Blume von Marija Gaponenko zeigt Eva Hausbacher, dass sich Transkulturalität besonders gut mit einer Gattung verträgt, die ein führungsloses elliptisches Erzählen und eine dialogische Ausrichtung auf ein Gegenüber auszeichnet. Der Briefroman bietet dem transkulturellen Schreiben eine ausgezeichnete Basis, und so verwundert es kaum, dass fiktive Briefe im Kontext von Globalisierung und Migration zu neuem Leben erweckt werden. *** Die Herausgeber des Bandes danken allen Beteiligten für die regen Diskussionen und das Bemühen um gemeinsame Perspektiven. Danken möchten wir darüber hinaus lic. phil. Georg Escher (Basel), der die beiden Konferenzen an der Universität Basel, die diesem Band zugrunde liegen, koordinierte und betreute, und Sebastian Wirz für die technische Unterstützung bei der Satzeinrichtung. Ein besonderer Dank gilt den Institutionen, die die Konferenzen und den Band ermöglicht haben: dem Forschungsfonds der Universität Basel, der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel sowie dem Schweizerischen Nationalfonds. Den Herausgebern der Reihe „Kultur - Herrschaft - Differenz“ danken wir für das freundliche Gastrecht. Die Herausgeber Boris Previšić Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie Die historische Zäsur des Ersten Weltkriegs Insbesondere in Zeiten von ethnischem Exklusivanspruch, von Nationalisierung und Ausgrenzung des vermeintlich Fremden erinnert sich die Literatur an vergangene Zeiten eines plurikulturellen und plurireligiösen Raums - der sich meist durch eine imperiale bzw. ‚postimperiale‘ Struktur auszeichnet. Gemeint ist beispielsweise zeitgenössische Kriegsliteratur, die sich mit dem übernationalen Jugoslawien und mit dessen Vorgängern, mit dem Osmanischen und Habsburgischen Reich beschäftigt und im Akt des Erinnerns einen utopischen Fluchtpunkt entwickelt. Es ist geradezu symptomatisch, dass die Literatur für diese Transferleistung, in der das Erinnerte in eine bessere Zukunft projiziert wird, die historische Zäsur des (post)imperialen Zerfalls - wie die kriegerische Auflösung Jugoslawiens oder der ungarisch-österreichischen Monarchie - genau unter die Lupe nimmt. Die Mobilität wird dabei zu einem Charakteristikum erster Güte dieses verlorenen übernationalen, vielschichtig angelegten Großraums des ‚Imperiums‘. Exemplarisch kann dieser Sachverhalt in Dževad Karahasans Roman Sara i Serafina (1999) nachgezeichnet werden, in dem gleich drei historische Zäsuren, jene des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie des jüngsten Bosnienkriegs in den Blick geraten und verarbeitet werden. Die historische Vielschichtigkeit impliziert narrative Verfahren der Verschachtelung von Binnen- und Rahmenerzählungen und entsprechend multipler Perspektivierung. Zwar kompliziert diese doppelte historisch-narrative Vielschichtigkeit die ‚Utopisierung‘ der literarischen Erinnerung noch einmal, sie zeigt aber umso eindringlicher, mit welcher Konsequenz und Konstanz der mobile imperiale Raum zum Ausgangspunkt für eine literarische Utopie wird - was anhand der Werke von Józef Wittlin und Miloš Crnjanski (II), Alexander Lernet- Holenia (III) sowie Franz Theodor Csokor (IV), die sich ganz auf den Ersten Weltkrieg, auf die Schlusszäsur von Österreich-Ungarn, fokussieren, besonders deutlich wird. Hier zeigt sich, dass sich der eigentliche „Habsburgische Mythos“ erst nach dem Untergang des Reichs literarisch konstituiert. 1 Je 1 Zwar bildet das literarische Werk von Autoren wie Robert Musil, Franz Werfel, Joseph Roth und Heimito von Doderer den eigentlichen Ausgangspunkt von Claudio Magris Monographie; doch versucht er gleichzeitig, den von ihm propagierten Mythos bereits in der Literatur, die während der österreichisch-ungarischen Monarchie entstanden ist, zu orten. Wie Magris erklärt, versteht er den Mythos nicht nur als Boris Previšić 26 präziser die Zäsur zwischen der imperialen Epoche einer multiethnischen und plurireligiösen Großräumigkeit und einer Jetzt-Zeit einer zentripetalen Unifizierung von Identität in den Blick genommen wird, umso deutlicher wird, wie sehr der neu konstruierte utopische Raum der postimperialen Literatur auf spezifische Charakteristika des imperialen Raums zurückgreift. Zu dieser literarischen Transferleistung sind aber verschiedene historischfaktuale und literarisch-narrative Faktoren notwendig, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen. I Folgt man der Definition der „kuferaši“, der „Koffermenschen“, in Dževad Karahasans Roman Sara i Serafina, so kann man die Mobilität nur mit den imperialen Staats- und Wirtschaftsvertretern zusammendenken. Das Wort sei „mit der österreichischen Okkupation aufgetaucht“ und bezeichne „den weiten Kreis von Menschen, die beim Staat angestellt waren oder in einer der wenigen großen Firmen arbeiteten“. 2 Die „kuferaši“ bekleideten die Stellen in der neuen Verwaltung, Armee, Polizei, Post und Eisenbahn der Doppelmonarchie, waren federführend bei der Errichtung der neuen Infrastruktur und bei der Erschließung der Bodenschätze. In der okkupierten Peripherie werden die ‚mobilen Menschen‘, die ‚Wurzellosen‘, die samt Familiennachzug und Bediensteten in das Verwaltungszentrum der neuen Provinz ziehen, um diese nach einer bestimmten Zeit wieder zu verlassen, vor allem auch als Phänomen der Moderne wahrgenommen - welche damit die alteingesessene bosnische Gesellschaft erreicht: „Sie erkannten dieses Zeitalter im Koffer, die grundlegende Eigenschaft der Epoche und des Daseins in der modernen Welt waren in der Koffermetapher versammelt.“ 3 So sehr die neue Mobilität einer bestimmten imperialen Elite aus der räumlichen Expansion der Doppelmonarchie resultiert, so sehr markiert sie den Einbruch Utopisierung des Vergangenen, sondern auch als literarische Konstruktion des Imperiums, das dadurch das Vielvölkerreich zusammen zu halten vermochte. Vgl. dazu seine Bemerkungen in der übersetzten zweiten Ausgabe: Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien, 2 2000, S. 15. 2 Dževad Karahasan, Sara i Serafina, Zagreb 1999 / Sara und Serafina. Roman, Deutsch von Barbara Antkowiak, Berlin 2000, S. 127. 3 Karahasan (Anm. 2), Sara und Serafina, S. 130. Dass der erste Modernisierungsschub Bosniens mit der österreichisch-ungarischen Okkupation einsetzt, mag historisch durchaus zutreffen. Die Provinz hat zu diesem Zeitpunkt jedoch schon Erfahrungen mit den Vertretern des Osmanischen Reich gemacht und mit den Vertretern einer imperialen Mobilität, wie sie exemplarisch in Ivo Andrićs ‚Chroniken‘ Na Drini Ćuprija, Travnička Hronika oder Omerpaša Latas zu finden sind. Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie 27 einer neuen Zeit; die Mobilität nimmt mit dem Einzug des neuen Imperiums in Bosnien, mit der militärisch-wirtschaftlichen Konsolidierung des österreichisch-ungarischen Drangs nach Südosten und der Modernisierung der Infrastruktur, auf einmal neue Ausmaße an. Die Mobilität charakterisiert somit nicht nur die Bewegungen (der Verwaltung, des Militärs, der Güter etc.) innerhalb des imperialen Raums, sondern ebenso die Flexibilität der imperialen Grenzen selbst: Die für die Staaten typische Grenzziehung ist scharf und markant; sie bezeichnet den Übergang von einem Staat zu einem anderen. Solche präzisen Trennungslinien sind im Falle von Imperien die Ausnahme […]. Imperiale Grenzen trennen keine gleichberechtigten politischen Einheiten, sondern stellen eher Abstufungen von Macht und Einfluss dar. 4 In der Erzähllogik von Karahasans Roman wird die Beschreibung der „kuferaši“ aber ironisch unterminiert. Als Binnenerzählung ist sie gerahmt durch die Erkundigungen des Professors, des Ich-Erzählers, über die Hauptprotagonistin Serafina Bilal, und berichtet wird schließlich aus einer doppelt personalisierten Perspektive: aus der Perspektive des Professors, der wiederum vom Bericht seiner Schwester erzählt. Obwohl der Ich-Erzähler Serafina Bilal kennt und mit ihr schon im Gespräch ist, erfolgt also ihr Potrait, „fast ein Polizeidossier über eine Person, die von erkennungsdienstlichem Interesse war“, in einem doppelten Erzählrahmen, wenn er von ihrer Herkunft aus einer „kuferaši“-Familie erzählt. 5 Die Metaphorik der ‚Wurzellosigkeit‘ der ‚Fremden‘ bzw. der ‚Verwurzelung‘ der ‚Autochthonen‘ bezieht sich weniger auf die „kuferaši“ selbst als vielmehr auf die aktuelle Zeitgeschichte, in welcher der Roman spielt: auf die nationalistische Vereinnahmung der angeblich ‚eigenen Wurzeln‘, auf Herkunft und Religionszugehörigkeit in den postjugoslawischen Kriegen. 6 Die in der Logik des Binnenerzählers aus der Wurzellosigkeit resultierende Erinnerungslosigkeit wird durch die Ahnengeschichte und vor allem durch die persönliche Geschichte der Hauptprotagonistin, die einer solchen Beamtenfamilie entstammt, Lügen gestraft: 7 Bereits in der ersten Generation ‚assimilieren‘ sich die „kuferaši“, 4 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Reinbek 2007, S. 16. 5 Karahasan, Sara und Serafina (Anm. 2), S. 127. 6 Vgl. zur Konstruktion dieser Verwurzelungsdiskurse in den postjugoslawischen Nationalismusdebatten Ugo Vlaisavljević, Rat kao naveći kulturni događaj. Ka semiotici etnonacionalizma [Der Krieg als größtes Kulturereignis. Zur Semiotik des Ethnonationalismus], Sarajevo 2007. 7 „Ohne Wurzeln in Bosnien zu sein, bedeutete damals, hier keinen unbeweglichen Besitz, keine Erinnerungen, keine Toten zu haben, also Bosnien durch nichts von den anderen Provinzen des riesigen Reichs zu unterscheiden, wo man diente oder dienen würde.“ Karahasan, Sara und Serafina (Anm. 2), S. 128. Boris Previšić 28 welche „mit der Amtssprache als der einzigen Sprache kamen“, an die örtlichen Gepflogenheiten. 8 Die scheinbar ubiquitäre Beliebigkeit, die aus der imperialen Mobilität resultiert, entpuppt sich im Gesamtkontext als eine multiple Verschichtung verschiedener peripherer Zonen der Doppelmonarchie. Mit diesem literarischen Beispiel, welches die imperiale Mobilität aus einer Distanz von mehr als hundert Jahren thematisiert, wird deutlich, wie sehr der Themenkomplex von der Erzählbzw. Erinnerungsinstanz selbst abhängt. Karahasans Reminiszenz ist exemplarisch, weil sie die unterschiedlichen Zeitschichten und die damit verbundenen imperialen, nationalen und ideologischen Loyalitäten des 20. Jahrhunderts durchleuchtet: den mit Gewalt erzwungenen Übergang vom osmanischen zum österreichisch-ungarischen Imperialanspruch 1878 (den Wien spätestens 1908 mit der Annexion Bosniens offizialisierte); den ‚Großen Krieg‘ (und das damit verbundene Ende der kolonialähnlichen Politik Wiens und Budapests in der gemeinsam verwalteten Provinz und den Übergang zu einem national-imperialen Zwitter, einem südslavischen Gesamtstaat); die zweite Zäsur des Zweiten Weltkriegs der nationalistischen Fragmentierung und faschistisch-nationalsozialistischen Okkupation; die sozialistische Einigung und die erneute Zerschlagung, deren Folgen bis heute zu spüren sind. Mit anderen Worten: Je nach zeitlicher Distanz und aktueller historischer Verortung der literarischen Aussageinstanz zeigen sich die Landimperien im langen 19. Jahrhundert unter einem anderen Licht. Ganz im Wissen darum, dass die perspektivische Vielfalt, wie sie bei Karahasan angelegt ist, mit jeder zusätzlich eingelagerten historischen Schicht noch einmal zunimmt, fokussiere ich mich im Folgenden auf das Ende des Ersten Weltkriegs und die unmittelbar darauf einsetzenden Erinnerungen an denselben. Hier oszilliert die thematische Einordnung der Mobilität zwischen Alterierung und Bukolisierung des kulturell ‚Anderen‘, weist einen deutlichen Hang zur Nostalgisierung des einstigen imperialen Großraums und eine sich daran anschließende mehr oder weniger explizite allgemeinere Utopisierung auf. In der historischen Verortung wird deutlich, dass der Mobilitätstopos mitnichten mit demjenigen der ‚Wurzellosigkeit‘ in Korrelation gesetzt werden muss. In den im Folgenden besprochenen literarischen Werken, die alle vom Ersten Weltkrieg erzählen, lässt sich zeigen, dass das Verhältnis zwischen Raumgröße und identifikatorischer Verortung nicht 8 Karahasan, Sara und Serafina (Anm. 2), S. 128. Die wohl aus der Krain stammende Familie Kohek nistet sich in der Čaršija ein und Saras Vater engagiert sich in der kroatischen Bauernpartei, was ihn während des Zweiten Weltkriegs und zu titoistischen Zeiten vor falschen Verdächtigungen und somit vor den größten Übeln verschont. Karahasan, Sara und Serafina (Anm. 2), S. 130f. Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie 29 umgekehrt proportional sein muss. Im Gegenteil: Es sind durchwegs die kleinräumigen nationalstaatlichen Gebilde, welche ein Heimischwerden verunmöglichen und gewissermaßen auf der Basis des untergegangenen imperialen ‚Vorraums‘ eine postnationale Utopie entwickeln lassen. II Die ersten literarischen Zeugnisse nach 1918 widmen sich der Zäsur des Krieges in besonderem Maße. Zudem steht die Mobilität nicht nur einer Elite, sondern der Gesamtbevölkerung zur Debatte. Insbesondere die Militärverwaltung Österreich-Ungarns erweist sich als effiziente Organisation, um die wehrfähigen Männer zu Kriegsbeginn möglichst weit weg von ihrer eigenen Heimat an die Front zu schicken, was Józef Wittlins Sól ziemi / Das Salz der Erde aus der Perspektive des Huzulen Piotr Niewiadomski festhält, der als Bahnwärter der Station Topory-Czernielitza auf der Strecke Lemberg-Czernowitz-Itzkany aus der Bukowina Richtung Westen nach Ungarn geschickt wird. 9 Erstmals in seinem Leben überhaupt gelangt auf diese Weise der einfache Mann in eine ihm scheinbar fremde Kultur in der Vielvölkermonarchie, in eine Kultur, von der er aber genaue Bilder hat. Zuvor noch erzählt der Hauptprotagonist von der Evakuierung der Juden mit der Eisenbahn ins „Gelobte Land“, das - „nach Wille und Gnade des Kaisers Franz Joseph - in Mähren“ liegt. 10 Aus einer analogen Perspektive der scheinbaren Fremde berichtet in Miloš Crnjanskis Dnevnik o Čarnojeviću / Tagebuch über Čarnojević der Ich-Erzähler, aus der serbischen Batschka stammend und einberufen an die russische Front in Galizien, von den „Scharen einsamer Frauen, Horden betrügerischer Händler, Horden von Arbeitern, Scharen von Kranken und Toten“. 11 Die Menschen während des Krieges nimmt der Ich-Erzähler nur noch als nomadisierende Masse wahr; die ihr inhärente Raumlogik ist durch das Fluidum ständiger Bewegung bestimmt. Geradezu typisierend nimmt sich die ständige jüdische Wanderschaft aus; nicht nur ist 9 „Schon begann die kaiser- und königliche Völkerwanderung. Aus der ganzen Monarchie führte man Transporte des Landsturms zusammen, aus den Bergen ins Tiefland, aus den Karpaten in die Alpen, aus Dalmatien nach Tirol, aus Galizien nach Bosnien, nach Böhmen, nach Ungarn.“ Józef Wittlin, Sól ziemi (1935) / Das Salz der Erde. Roman, Aus dem Polnischen von Izydor Berman, Frankfurt am Main 2000, S. 252. Vgl. dazu auch als historischen Beleg Otto Hoetzsch, Österreich-Ungarn und der Krieg. Stuttgart, Berlin 1915. 10 Wittlin, Salz der Erde (Anm. 9), S. 118. 11 Miloš Crnjanski, Dnevnik o Čarnojeviću (1921) / Tagebuch über Čarnojević, Übersetzung aus dem Serbischen von Hans Volk, mit einem Nachwort von Ilma Rakusa, Frankfurt am Main 1993, S. 33. Boris Previšić 30 diese Volksgruppe allgegenwärtig, sie ist auch erstes Opfer der imperialen Umsiedlungspolitik im Kriegszustand. Die Diaspora innerhalb der Doppelmonarchie wird zum Sinnbild einer weltlichen Ökumene, in welcher der Kaiser befiehlt. Das kaiserliche Manifest, die Kriegserklärung an Serbien, liest man im Chor: „Sie wiederholten jedes Wort wie die Litanei in der Kirche. Der Glauben an den Kaiser Franz Joseph vereinigte in diesen entlegenen Ländern die römischen Katholiken mit den griechischen Katholiken, die Armenier und die Juden zu einer gemeinsamen und allgemeinen Kirche.“ 12 Der Krieg totalisiert die Staatsmacht und den Glauben an sie; er schweißt die pseudoreligiöse Oekumene in allen Lebensbereichen zusammen. Denn zuvor unterscheidet der naive Untertan ganz deutlich zwischen dem, was des Kaisers, und dem, was Gottes ist: „Die Erde und der Himmel, der Pruth und der Czeremosz, die Karpaten und die Kühen, Hunde und Menschen gehören Gott. Die ganze Eisenbahn dagegen [...] gehört dem Kaiser.“ 13 Die Dichotomie zwischen religiösem und weltlichem, zwischen natürlichem und imperialem Raum löst aber die Kriegsmobilisierung auf. Umso absurder erscheint in der Logik des Hauptprotagonisten, die orthodoxen Russen und Serben zu Feinden zu erklären, obwohl ja „der Rumäne [...] auch griechisch-orthodox“ sei und dem Kaiser diene. Die national-religiöse Unterminierung des das Nationale transzendierenden Imperiums manifestiert sich in der Hauptfigur selbst. Die Verwischung der nationalen Grenzen wird in seiner ruthenisch-polnischen Doppelidentität deutlich: „Das Nationalbewußtsein war nie Piotrs starke Seite. Wenn man so sagen darf, blieb Piotr hart an der Schwelle des Nationalbewußtseins stehen. Er sprach polnisch und ukrainisch, er glaubte an Gott nach griechisch-katholischem Ritus, er diente dem österreich-ungarischen Kaiser.“ 14 Die „Schwelle“ wird hier zum Signum der imperialen Identität in doppelten Zuordnungen religiöser, sprachlicher und politischer Art. Nicht zu übersehen ist die Ironie des Erzählers, die - ähnlich wie schon bei Karahasan - auf einer narratologischen ‚Doppelfokalisierung‘ beruht: auf der Nullfokalisierung der Einleitung des Romans und auf der internen Fokalisierung des 12 Wittlin, Salz der Erde (Anm. 9), S. 51. Im kriegerischen Kontext der Mobilisierung wird der religiöse Erfahrungshorizont immer wieder neu abgesteckt. Explizit wird er zum Abschluss der Aushebung des Hauptprotagonisten in Wittlins Roman: „[Gott] schwebte über den Körpern, den Seelen, den Turngeräten. Piotr Niewiadomski schlug die Augen zu Boden wie in der Kirche während der Messe. Er zweifelte nicht, daß irgendwo noch unter der Decke, an der höchsten Sprosse der gelben Leiter, mit eingezogenen Flügeln der Heilige Geist sitze. Nicht in Gestalt einer weißen Taube, sondern als schwarzer zweiköpfiger Adler“ (S. 105). 13 Wittlin, Salz der Erde (Anm. 9), S. 65. 14 Wittlin, Salz der Erde (Anm. 9), S. 151. Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie 31 Hauptprotagonisten. 15 Just in dem historischen Moment, in dem sich die explizit hybride Biographie gegen die auseinanderstrebenden nationalen Kräfte einigend für das Imperium und somit staatserhaltend erweisen könnte, und just an der Schlüsselstelle des Romans, in der sich die individuelle Ambivalenz auf die imperiale Ambiguität überträgt, wird die Erzählposition selbst ambige. So überträgt sich das kulturelle Dispositiv auf den narrativen Modus - und umgekehrt. So könnte man auch umgekehrt formulieren, dass sich nur ein vielstimmiges Erzählen einer unifizierenden identifikatorischen Zuordnungslogik - sei sie nun nationaler, religiöser oder ideologischer Natur - entziehen kann. Umso interessanter ist es, das Korpus der Analyse auf Literatur auszuweiten, welche in ihrer ideologischen Zuordnung nicht über jegliche Zweifel erhaben ist, die sich aber gerade für diesen historischen Moment des Übergangs von einer multinationalen und multikonfessionalen imperialen Vergangenheit in ein national definiertes Zukunftsszenario interessiert. Dem bereits zitierten Crnjanski wird vor allem aus historiographischer Perspektive und im Zusammenhang mit seinem opus magnum Seobe [Völkerwanderungen] (1929/ 1962) unterstellt, er pflege eine nationalistisch grundierte serbische Mythologie. 16 Umso entscheidender ist es, in einem noch ‚unverdächtigen‘ Werk wie dem Tagebuch über Čarnojević die enge Korrelation zwischen dem literarischen Gegenstand und literarischen Verfahren aufzuzeigen, auf das sich selbst Peter Handke beruft. 17 15 Den Begriff der hier postulierten ‚Doppelfokalisierung‘ gibt es bei Gérard Genette nicht. Hingegen kann man - in Anlehnung an die Begrifflichkeit des narratologischen Typenkreises von Franz K. Stanzel - bei einer merklichen „Distanz zwischen dem erzählenden/ erinnernden und dem erinnerten/ erlebenden Ich“ durchwegs von einer solchen sprechen. Michael Bassler / Dorothee Birke, Mimesis des Erinnerns, in: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin 2005, S. 123-148, hier S. 137. Die Ironie entsteht bei Wittlin aus einer spezifischen bipersonalen Konstellation der Erzählinstanzen. 16 Der Historiker Holm Sundhaussen attestiert dem Schriftsteller Crnjanski als vormaligem Expressionisten „eine Kehrtwende hin zum ‚salonfähigen Nationalismus‘“, da der Dichter meinte, erkannt zu haben, „dass das serbische Volk seine Heiligtümer […] nicht aufgeben könne“. Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2007, S. 296. Doch selbst dem Spätwerk Seobe ist das Scheitern einer solchen nationalen Besinnung eingeschrieben. Vgl. dazu Jens Herlth, Der Chronotopos der Nation in Miloš Crnjanskis Raumprojekt „Seobe“, in: Michael Müller (Hg.), Serbiens Identitätskrise als Kontinuum. Äußere und innere Wandlungen in Literatur, Sprache und Geschichte, Nürmbrecht 2010, S. 218-238. 17 Crnjanski erfährt im deutschen Sprachraum durch die 1993 erfolgte Übersetzung des Tagebuchs über Čarnojević größere Beachtung, die Peter Handke 1996 nochmals verstärkt, indem er seinem in der Süddeutschen Zeitung erstmals publizierten und höchst polemisch rezipierten Essay Eine Winterliche Reise in der Buchausgabe neu Boris Previšić 32 Die vermeintlichen ‚Gegner‘ einer nationalen Emanzipation werden bei Crnjanski nicht direkt genannt, doch trifft man immer wieder auf die Gewalt gegen die imperiale ‚Achse des Bösen‘, 18 wenn der Ich-Erzähler von den erhängten Ruthenen erzählt oder „über die Galgen weint, die irgendwo hochragen“. Selbst er wird Opfer der offiziellen imperialen Repression, wird gefoltert, nachdem „ein Lehrer aus Sombor zu den Russen übergelaufen“ ist. 19 Die Solidaritätsbekundungen der in der Doppelmonarchie lebenden Serben mit dem angegriffenen Serbien bleiben dem Erzähler nicht verborgen: „In der Kirche pries der Bischof die Treue zum Kaiser, und in den Häusern wurden Ikonen und die Bilder des Zaren Dušan versteckt.“ 20 Die offiziellen Feinde an der Ostfront der Doppelmonarchie, die Serben und Russen, werden nie wie die Preußen als Gefahr wahrgenommen. 21 Daraus könnte man schließen, dass Crnjanski ein manichäisches Weltbild skizziert, das zwischen der guten eigenen Heimat und der schlechten offiziellen imperialen Machtmanifestation unterscheidet. Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit: Denn der imperiale Großraum bildet erst den Ausgangspunkt für eine poetologische Reflexion, welche sich letztlich jeglichem nationalen Identifikationsmuster entzieht. Zu diesem imperialen Großraum gehört die Vorliebe der Mutter für die Walachen, die Bewunderung für die Melancholie der tschechischen Lieder; und vor allem gehören „meine galizischen Wälder“, von denen er als Kriegsversehrter später noch träumt, dazu. 22 Man orientiert sich an den imperialen Metropolen, an Wien und Budapest, und erholt sich in Karlsbad. Die eigene Befindlichkeit, „in der Fremde“ zu leben und immer wieder umzuziehen, weist wesentliche Strukturparallelen zu der jüdischen Diaspora auf, welche für den gesamten imperialen Raum konstitutiv ist. 23 Im Falle des Ich-Erzählers Crnjanskis vermeint man auch schnell die topographischen Orientierungspunkte in der und vor allem über die Doppelmonarchie hinaus festhalten zu können: die Bewunderung für die russischen Kirchen, für die zarte polnische Sprache seiner Geliebten, die Begeisterung unter den Studenten für das Slaventum. 24 drei Mottos aus dem Kriegstagebuch - gewissermaßen zur literarischen Legitimation - voranstellt. 18 „Die ausgeprägte Selbstsakralisierung eines Imperiums provozierte schon immer starke antiimperiale Reaktionen.“ Münkler, Imperien (Anm. 4), S. 149. 19 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 25, S. 62 bzw. S. 26. 20 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 25. 21 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 32. 22 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 16, S. 20, S. 23 und S. 91. 23 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 45, S. 37, S. 14 und S. 16. Anschließend an diese Beobachtung vgl. auch Wittlin, Salz der Erde (Anm. 9), S. 77f. 24 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 29, S. 30 und S. 24. Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie 33 Doch handelte es sich hier nicht um einen literarischen Text, würde nicht klar unterschieden zwischen erlebendem und erzählendem Ich - eine Differenz, die sich nicht nur in der narrativen Struktur manifestiert, sondern auf das Erzählte selbst zurückgespiegelt wird. Denn so groß das Interesse für die ‚andere Kultur‘ auch sein mag - die Liebe zur polnischen Geliebten in Krakau ist grenzenlos -, so ambivalent definiert sich das Verhältnis zum vermeintlich Eigenen, Serbischen. Die Identität wird ihm nur zugeschrieben - meist von Krankenschwestern, die in ihm lieber einen Kroaten sähen -, und äußert sich in Form einer ‚Etikettierung‘, wenn er die Tafel beschreibt, welche über seinem Krankenbett hängt: Über meinem Bett, unter dem Kruzifix mit dem schwarzen Rosenkranz, hing eine kleine Tafel, darauf war, wie im Scherz, von lustigen Kameraden auf deutsch geschrieben: Name: Peter Raitsch Charge: stellenloses Kanonenfutter Konfession: gr.-orth. Stand: ledig Alter: 23 Beruf: Königsmörder Diagnose: Tuberkulose Auch wenn damit die Identität des Autors umspielt wird, konfiguriert die Zuschreibung eine komische Ambivalenz, die selbst in ihrer Beschreibung nicht aufgelöst wird. Die „gr.-orth.“ „Konfession“ korreliert mit der Stereotypisierung „Beruf: Königsmörder“ und dem Namen „Peter Raitsch“. Diese höchst prekäre Identitätszuschreibung wird zugespitzt im vorausgehenden Kommentar zur Tafel: „wie im Scherz, von lustigen Kameraden auf deutsch geschrieben“. 25 Die Irritation, die zwischen der konjunktivischen Scherzzuschreibung (d.h. deren Verneinung) und Stereotypisierung sowie einem sichtbaren Mokieren über die prekäre Lage des Protagonisten („Charge: stellenloses Kanonenfutter“) oszilliert, bleibt unaufhebbar und ist konstitutiv für die prekäre Identitätskonstruktion, welche zusätzlich durch die Unmöglichkeit unterminiert wird, den Ich-Erzähler einer einzelnen Figur zuzuschreiben. Wenn bei Karahasan eine - zwar noch überblickbare - Verschränkung verschiedener Erzählebenen und bei Wittlin eine ‚Doppelfokalisierung‘ vorliegt, so kann man bei Crnjanski durchwegs von einer „Erzähler- Doppelfigur“ sprechen. 26 25 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm 11), S. 70. 26 In der jüngeren Crnjanski-Forschung gibt es unterschiedliche Figuren-Zuordnungen zum Ich-Erzähler. Eine immer noch gängige Interpretation geht davon aus, dass sich in der Figur Čarnojević viele Stimmen ansammeln, von denen der Ich-Erzähler berichtet - so z.B. die serbisch-ukrainische Slavistin Ala Tatarenko. Sie konstatiert, dass Boris Previšić 34 Identität, so national sie auch gedacht sein mag, entpuppt sich im Fall von Crnjanski als Maskerade, in der das Vaterland Serbien und die neue übernationale Idee des Jugoslawentums zur Mode verkommen. 27 Auch wenn sich der Erzähler in der katholischen „Komödie des Weins“ fremd fühlt, so kann er nichts Eigenes auf derselben religiösen Ebene vorweisen. Vielmehr vergleicht er sich, würde er an den Pranger - „dort auf diese Kirche“ - gestellt, mit einem Muezzin. 28 Seine Geliebte zu Hause in der Batschka ekelt ihn zusehends an: „Sie begann, langsam dick zu werden. Und wir hatten keine Kinder.“ 29 Der Unfruchtbarkeitstopos demaskiert nicht nur die vermeintliche Identitätszuschreibung, sondern zeigt die Zukunftslosigkeit einer solchen Konzeption auf. So sehr der imperiale Raum von repressiven Machtstrukturen durchsetzt ist, die der Ich-Erzähler als Serbe und somit als imperialer Antipode am eigenen Leib immer wieder zu spüren bekommt, so sehr bildet derselbe Raum eine transitorische Option der Begegnung mit der befruchtenden Fremde und macht weder an der ideologischen noch an der geographischen Grenze halt, welche eine eigentliche periphere Übergangszone bildet hin zum „Sumatraismus“. 30 III Bevor wir die tropische Utopie genauer erörtern, stellen wir uns der Frage, ob die ‚Gegenseite‘, d.h. eine deutschsprachige Literatur, welche die nicht- man bei genauer Lektüre auf Stimmen derjenigen trifft, die Čarnojević auf seinem Weg trifft. Selbst die ganze Rede des Dalmatiners habe Čarnojević einfach gehört. Durch ihn werde sie einfach wiedergegeben. Ala Tatarenko: Između Mansarde i Sumatre. Kišov junak u ogledalu Crnjanskovog Dnevnika, in: Polja 437 (januar-februar 2006), S. 16-30, hier S. 18 (http: / / polja.eunet.rs/ polja437/ 437-2.htm). Dagegen spricht Zvonko Kovač von einer ‚mystischen Erzähler-Doppelfigur‘. Zvonko Kovač: Poetika Miloša Crnjanskog, Rijeka 1988, S. 94. Diese These unterstreicht Cornelia Maks: „Die Erzähler-Doppelfigur setzt sich zusammen aus dem Protagonisten, (sei sein Name nun Petar Raitch [sic] oder Čarnojević), und aus dessen Alter Ego in Gestalt des dalmatinischen Marineoffiziers […]. Sie sind eine Person, der Sumatraist und der Ich- Erzähler.“ Cornelia Maks, Von Sumatra bis Lamento für Belgrad. Zu den poetischen Visionen des Serben Miloš Crnjanski, Frankfurt am Main 2011, S. 21. Dass Crnjanski selber die verschiedenen Figuren und Erfahrungen in einer Erzählerfigur versammelt wissen wollte, darauf verweist seine eigene Interpretation. Miloš Crnjanski, Objašnjenje „Sumatre“, in: ders., Pesme , Beograd 1983, S. 210. 27 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 117f. 28 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 101. 29 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 60. 30 Vgl. zur Unterscheidung zwischen den klar definierten nationalen Grenzziehungen und den durchlässigen und verschiebbaren imperialen Grenzräumen nochmals Münkler, Imperien (Anm. 4), S. 16. Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie 35 deutschen, insbesondere die slavischen (aber auch romanischen und ungarischen) ‚Elemente‘ für die Auflösung der Doppelmonarchie verantwortlich macht, nicht auf dem nationalen Raum als Ideal insistieren müsste und damit unvermeidlich bei der Glorifizierung des Dritten Reichs eine Vorreiterrolle spielte, was exemplarisch anhand von Alexander Lernet-Holenias Roman Die Standarte erörtert und mit Franz Theodor Csokors Drama 3. November 1918 kontrastiert werden soll. Ähnlich wie auf Crnjanski der historiographische Vorwurf des Nationalismus lastet, gibt es Stimmen, welche insbesondere den erwähnten Roman Lernet-Holenias in eine deutschnationale Tradition stellen wollen. 31 Im Unterschied zu Wittlin, dessen Roman vor den eigentlichen Kriegshandlungen abbricht, und im Unterschied zu Crnjanski, der den ganzen Krieg in den Blick nimmt, konzentrieren sich die deutschsprachigen Werke auf sein Ende. So erstaunt es weiter nicht, dass auch Die Standarte das Datum der mitteleuropäischen Schlusszäsur des Imperiums trägt - „den dritten November“. 32 Der Fokus auf das Schlussdatum verdeutlicht die Entscheidung des Erzählers, nicht mehr der Ursache oder der Dynamik des Krieges auf den Grund zu gehen, sondern sein Ende als unabwendbares Schicksal darzustellen und daraus poetologisches Kapital im Hinblick auf neue imaginär-phantastische Räume zu gewinnen. Lernet-Holenias Roman steht von Anfang an unter dem Vorzeichen des Untergangs von Österreich-Ungarn, wofür die Standarte symbolisch steht. Sie gerät im Laufe des Romans zusehends in Konkurrenz zur Liebesbeziehung, welche Menis, der Ich-Erzähler der Binnenerzählung, zu Resa, einer Frau aus reichem Wiener Haus, im besetzten Belgrad aufbaut. Die nächtlichen Ritte von seinem Regiment, in das er strafversetzt wird und das in Karanschebesch fünfzig Kilometer jenseits der Donau stationiert ist, nach Belgrad zu seiner Geliebten kulminieren schließlich im Aufbruch mit dem ganzen Regiment an die Balkan-Front. Ein letztes Mal überquert Menis den 31 Mit Verweis auf Donald G. Daviau (Alexander Lernet Holenia in seinen Briefen, in: Thomas Gruber / Bettina Gruber, Zwischen Poesie und Boulevard, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 39-63, hier S. 48) spricht Clemens Ruthner von „Lernets ultrakonservative[r], aristokratische[r], undemokratische[r] Gesinnung“, welche die „Utopie multiethnischen Zusammenlebens […] nur in den Salons der oberen Zehntausend“ beschränkt sieht. Clemens Ruthner, Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 181f. 32 Alexander Lernet-Holenia, Die Standarte, Berlin 1934, S. 188. Zwar löst sich die Doppelmonarchie bereits zwischen dem 28. und 31. Oktober 1918 auf. Doch erst die militärische Niederlage und den damit verbundenen Waffenstillstand von Villa Giusti vom 3. November 1918 markiert das offizielle Ende der Habsburgermonarchie. Boris Previšić 36 Grenzfluss, wobei sich die Mannschaft just auf dem Ponton weigert, weiter zu reiten: [U]nd wenngleich die Mannschaft eigentlich nichts tat, als daß sie dumpf aus sich herausschrie, so war es doch, als fiele mit diesem Geschrei von ihnen und dem Regimente alles ab, was sie und das Regiment erst zu dem gemacht hatte, was es war: zu einem großen Machtmittel voll Sinn und Schlagkraft, einer Einheit voll historischer Sendung, einem Instrument der Weltpolitik. Es war, als fielen die Helme und Uniformen, die Abzeichen der Chargen und die kaiserlichen Adler der Kokarden von den Leuten ab, als schwänden die Pferde und die Sättel hinweg, und es blieb nichts übrig als ein paar hundert nackte polnische, rumänische oder ruthenische Bauern, die keinen Sinn mehr dafür hatten, unter dem Zepter deutscher Nation die Verantwortung für das Schicksal der Welt mitzutragen. 33 Daraufhin befiehlt General Bottenlauben dem deutschen Regiment, auf die Meuterer zu schießen. Im Nachhinein erweist sich aber, wie sinnlos dieser Befehl war, da die meisten österreichisch-ungarischen Regimenter schon von der Balkanfront abgezogen werden, die sich zuvor gegen die Alliierten richtete, die ihrerseits wiederum gegen das Osmanische Reich erfolgreich waren. Die bedeutungsschwere Beschreibung, der das imperiale Erbe inhärent ist, verweist somit weniger auf das verzweifelte Ankämpfen gegen den Lauf der Dinge - welche durchwegs die Spannungsmomente des Romans konfigurieren - als vielmehr auf den Anspruch des Reichs, der zwar die ganze Welt betrifft, der aber historisch nicht mehr eingelöst werden kann und somit transzendiert werden muss. Der physische Übergang über den Fluss bildet gleichzeitig die Katastrophe für das Regiment und die dramaturgische Klimax, an welcher der Ich-Erzähler in den Besitz der Standarte gelangt, wegen der er seine Geliebte in Belgrad und später wieder in Wien ganz einfach vergisst. 34 Die nationale Zuordnung rückt in den Hintergrund. Dies zeigt sich in der Szene vor dem Rückzug aus Belgrad besonders deutlich, wo der Erzähler die preußische Sturheit Bottenlaubens in Absetzung von Charbinskys gesundem Menschenverstand bloß stellt. 35 33 Lernet-Holenia, Die Standarte (Anm. 33), S. 161. 34 Lernet-Holenia, Die Standarte (Anm. 33), S. 199 bzw. S. 278. Das quid (die Standarte) pro quo (für die Geliebte) bestätigt sich in einer symbolischen Szene, in der Menis Resa nach langer Zeit erstmals in Wien wieder flüchtig küsst: „[A]ls sie sich wieder aufrichtete, hatte ihr Herz für einen Augenblick an der Stelle geschlagen, an der ich, über meinem Herzen, die Standarte trug.“ Lernet-Holenia (Anm. 32), S. 287. Vgl. dazu Franziska Mayer, Wunscherfüllungen. Erzählstrategien im Prosawerk Alexander Lernet-Holenias, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 108. 35 Lernet-Holenia, Die Standarte (Anm. 33), S. 103. Der sinnlose Befehl, auf die eigene Truppen zu schießen, wird bezeichnenderweise von Deutschen ausgeführt: „Sie seien Deutsche und würden dem Befehl unter allen Umständen gehorchen“ (Lernet-Hole- Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie 37 Der mehrmalige Übertritt über die ehemalige Reichsgrenze, die Donau, nach Belgrad liest sich als topographische Metapher für den neuen transzendenten Raum, den der Ich-Erzähler spätestens mit dem Erhalt der Standarte betritt. 36 Zur militärischen Mobilität am historischen Ende des Imperiums gehört die ihr inhärente Wirklichkeitsentfremdung und „phantastiktypische Relation“, 37 in welcher die Wirklichkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit zum ‚Schattenreich‘ verkommt und die Toten zu Lebenden werden: Als sie am nächsten Nachmittag auseinandergingen, mochten sie eingesehen haben, daß nicht sie selbst es gewesen waren, die sich versammelt gehabt, sondern nur mehr ihre Schatten. […] Was zurückgekehrt war, waren Schemen. Die Toten draußen waren nicht tot, sie erstanden auf zu blutigem Ruhm. Die Lebenden, die zurückgekehrt waren, waren selber die Toten. 38 Die chiastische Verschränkung von Wirklichkeit und fiktionaler Irrealität einerseits, von ‚Unwirklichkeit‘ und fiktionaler Realität andererseits erhält ihre narrative Legitimation durch die Reversibilität zwischen Leben und Tod. Damit erweist sich das mehrmalige Überschreiten der Donau als Allegorie der fiktionalen Transzendierung. Die einzige Legitimation des Ich- Erzählers, am Leben zu bleiben, liegt in der Standarte begründet, deren Stoff er schlussendlich in Schönbrunn in den Gemächern des abgereisten Kaisers zusammen mit anderen Fahnen in den Flammen aufgehen lässt: Ich starrte in das Feuer und sah, wie über den Fahnen, die brennend zusammensanken, ein Gewirr von Feldzeichen, ein geisterhafter Wald von Fahnen und Standarten wieder aufstand, nicht mehr aus Samten, Seiden und nia, Die Standarte [Anm. 33], S. 167), lautet die simple Begründung und bildet eine visionäre Vorausnahme des totalen Kriegs. Die Nichtigkeit des Blutbads wird deutlich vor Augen geführt, indem mit der Stimme des einfachen Mannes die Vernunft spricht, „as the refusal of the mutinous soldiers to cross the bridge is given belated credence. Bottenlauben’s refusal to accept this fact is met with anti-German sentiments by Charbinsky, who calls him ‚ein verdammter Preuße‘“. Robert Dassanowsky, The Phantom Empires. The Novels of Alexander Lernet-Holenia and the Question of Postimperial Austrian Identity, Riverside 1996, S. 45. 36 Belgrad direkt auf der anderen Seite von Donau und Save eignet sich gerade deshalb so gut als topographische Metapher, weil die Stadt schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder als erstes potentielles Eroberungsziel Österreich-Ungarns höchste Priorität hatte. Die Stadt wird zwar im Dezember 1914 des Kriegs ziemlich rasch eingenommen, doch ebenso schnell von den Serben zurückerobert. Erst das Eingreifen deutscher Truppen ermöglichte eine erfolgreiche Besetzung der Stadt durch die Mittelmächte während mehr als drei Jahren zwischen dem 9. Oktober 1915 und dem 5. November 1918. 37 Mayer, Wunscherfüllungen (Anm. 34), S. 112. 38 Lernet-Holenia, Die Standarte (Anm. 33), S. 281. Boris Previšić 38 Brokaten, sondern ganz aus den rauschenden Flammen selbst. Es waren auch nicht mehr die alten Fahnen mit den typischen Bordüren aus rotweißen oder schwarzgelben, halben Rauten, es waren neue. 39 Was zum einen als apokalyptische Vision interpretiert werden kann, ist zum anderen als allgemeinere Reichsidee zu lesen, welche in Zukunft fortbestehen soll. Im Gesamtkontext des Romans wird hier aber kein realpolitischer ‚Anschluss‘ gesucht; im Gegenteil handelt es sich um einen visionären transitorischen Raum, den die Fiktion hier schafft und dem das imperiale Erbe als phantastische ‚translatio imperii‘ vermacht wird. IV Ein Blick auf Franz Theodor Csokors Dreiakter 3. November 1918 unterstreicht die These, dass der imperiale Großraum in direkter Reaktion auf seinen eigenen Untergang realpolitisch nicht mehr gerettet werden muss. Der Autor versteht es, den Ort der Handlung zum einen mitten ins untergegangene Reich, zum anderen genau auf die zukünftige Grenzlinie zwischen deutschsprachigem und südslawischem Raum zu platzieren - in ein ehemaliges Alpenhotel, das während des Kriegs in ein Rekonvaleszentenheim umgewandelt worden ist, in den „Kärntner Karawanken“. Die Personen des Stücks, zwölf an der Zahl, reichen von der Schwester Christina, der einzigen weiblichen Figur, über verschiedene militärische Funktionsträger bis hin zum Oberst von Radosin: „Alle Männer sprechen das sogenannte k. u. k. Armeedeutsch, gefärbt durch die besondere nationale Zugehörigkeit eines jeden.“ 40 Während im ersten Akt die Mannschaft in Schnee und Eis im Heim feststeckt und die nationalen Differenzen zum Ausdruck kommen, überbringt im zweiten Akt der aus Klausenburg stammende Pjotr Kacziuk, knapp dem Untergang des Admiralsschiffs in der Adria entkommen, die Kunde vom Ende des Reichs. In nuce erfasst folgende Begründung des Leutnants Vanini die nationale Segregation und den Abzug der Einzelnen in ihre Staaten, nach Italien, nach Ungarn, nach Polen, in den Staat der Slowenen, Kroaten und Serben und in die Tschechoslowakei: „Bei uns Trientinern war das nie dasselbe: Vaterland und Heimat.“ 41 Die zentrifugalen Kräfte gewinnen im Lauf des Theaters an Dynamik, sie beginnen mit ethnisierenden 39 Lernet-Holenia, Die Standarte (Anm. 33), S. 295. 40 Franz Theodor Csokor, 3. November 1918 (1936), in: Österreichisches Theater des 20. Jahrhunderts, München 1961, S. 233-280, hier S. 234. 41 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 262. Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie 39 Zuordnungen, in welcher z.B. Josip „nach Serbien hinüber[schaut]“ oder der Regimentsarzt Doktor Grün sich selbst als „Jud“ stigmatisiert. 42 Plakativ wird der Zerfall vor Augen geführt anhand einer Eisenbahnkarte der „alten Monarchie“, auf der „die einzelnen Kronländer“ „wie die Grenzen des Reiches und die anstoßenden Länder […] genau sichtbar abgeteilt“ sind. Kacziuk schlitzt die Karte mit seinem Marinebajonett „nach ihren neuen Grenzen“ ein und trennt die einzelnen Teile ab, bis nur noch der Nationalstaat Österreich übrigbleibt. Meteorologisch metaphorisiert, vollzieht sich der Zerfall „so rasch, wie jetzt die Lawinen abwandern beim Föhn“. 43 Damit wird der Zerfall nicht nur auf das Konto der auseinanderstrebenden Nationen abgebucht, sondern ebenso als scheinbar unwiderrufbares Naturgesetz dargestellt. Auf diesem Hintergrund gerät der Großraum „vom Bodensee bis ans Eiserne Tor, von der Tatra bis nieder ans Meer“ 44 - in den Worten des Obersts von Radosin - zur reinen Fiktion. Zwar bemüht der Befehlshaber der im Untergang befindlichen Armee noch die imperiale Rhetorik eines zukünftigen übergeordneten Friedensprojekts als eines „Ganze[n]“, wofür die „sieben Völker […] geblutet“ hätten. 45 Doch letztlich hilft diese überkommene Argumentation nichts gegen das „winzige Heimweh“ der einzelnen Nationenvertreter, und die Gestalt des Oberst macht sich trotz seiner hehren Zielsetzung lächerlich vor den Übrigen, die dem Naturgesetz des imperialen Zerfalls folgen. Erst die Unmöglichkeit, den „aus einer Soldatenfamilie“ Stammenden 46 und den Juden Doktor Grün einer Nation zuzuweisen, lässt erste Züge von Nostalgie aufkommen: Orvanyi: Und so endet ein Reich, tausend Jahre fast alt - […] Sokal: Hörts mir auf! In einem Jahr fragen wir uns: Wie ist das überhaupt möglich gewesen, dieses Österreich-Ungarn? Orvanyi: Ihr werdets mir alle noch weinen darum, - schon in zehn Jahren vielleicht! 47 Die geographische Weite des Imperiums korreliert mit einer entsprechenden Zeitspanne „fast“ biblischen Ausmaßes. Die oft zitierte Schlüsselszene 42 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 237 und S. 240. Die diffamierende Bezeichnung „Jud“ multipliziert Paul Celan geradezu in seinem Gespräch im Gebirg (1959), in: Gesammelte Werke 3, Frankfurt am Main 1983, S. 169-173. Damit umschreibt er seine Begegnung mit Adorno. 43 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 258 und S. 256. 44 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 249. 45 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 261. Vgl. zu dieser spezifischen Imperialrhetorik insbesondere das Kapitel „Der Frieden als Rechtfertigung imperialer Herrschaft“ bei Münkler (Anm. 4), S. 128-132. 46 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 246 und S. 260. 47 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 270. Boris Previšić 40 von Radosins Begräbnis im zweiten Akt („Erde aus Ungarn! […] Erde aus Polen! […] Erde aus Kärnten! […] Slowenische Erde! […] Tschechische Erde! […] Italienische Erde! “) - die Szene, welche in die Verlegenheitslösung des jüdischen Regimentsarztes Grün mündet („Erde - aus - Erde aus - Österreich! “), bildet auch hier keine Lösung des Identitätsproblems. Vielmehr bahnt sich in der deutsch-slowenischen Figurenkonstellation Ludoltz- Zier(sch)owitz der erste Grenzkonflikt in Kärnten an, worin sich die Wurzelsymbolik geradezu festfährt. 48 So sehr der imperiale Zerfall einem Naturgesetz zu folgen scheint, so anders konfiguriert das Drama den Begriff der Heimat. Zwei Positionen sind dafür paradigmatisch: erstens eine äußerst lokale, zweitens eine höchst transnationale, imperiale Position. Es handelt sich zum einen um das ‚Madeleine-Erlebnis‘ à la Csokor, um den Apfelgeruch auf dem Obstmarkt im siebzehnten Bezirk, woher der Zugsführer Geitinger stammt, zum anderen um die Friedensbotschaft Christinas, welche mit Unverständnis auf den sich anbahnenden und am Ende des Dramas auch ausgebrochenen Kärntner Konflikt reagiert - mit einem Verweis auf ihren hybriden Migrationshintergrund: „Mein Vater war Offizier - aus Tirol, meine Mutter ist aus Dalmatien gewesen, - beim Garnisonswechsel brachte sie mich zur Welt - in irgendeinem bosnischen Nest ohne Arzt, - daran starb meine Mutter.“ 49 Wohl nicht zufällig stehen sowohl Geitinger als auch Christina auf der untersten Stufe in der militärisch-dramatischen Hierarchie und bilden somit den sozialen, nicht aber den ideologischen Gegenpol zum Oberst von Radosin. In der Spannung zwischen äußerst lokaler Verortung am Rand des imperialen Zentrums (im Wiener Außenbezirk Hernals) und maximaler Mobilität an der imperialen Peripherie entsteht eine neue Vision, bestehend aus „einem Reich, das aus Menschen gebaut wird und nicht aus Nationen und Grenzen“ - wie die einzige Frauenfigur im Stück formuliert. 50 Damit wird der imperiale Raum - wie schon in Radosins Ausführungen - zum impliziten oder expliziten ‚Zwischenraum‘ in einer Entwicklung hin zu einer transnationalen, literarischen Utopie, die Crnjanski der Figur des „Sumatraist[en]“, der „die Fremde“ „liebte“, zuschreibt. 51 Die romantische Farbe „blau“ grundiert bei Crnjanski wie bei Csokor die maritime Ubiquität 48 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 266f. „Ludoltz: […] nur der Zierowitz grabt sich hier ein mit den Seinen, weil er hier wurzelt wie ich, - und Krieg zwischen uns wird deswegen noch kommen, - ja, von Mitternacht heute an ist wieder Krieg! “ Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 277. 49 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 275 und S. 278. 50 Csokor, 3. November 1918 (Anm. 40), S. 275 51 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 78 und S. 77. Vgl. zur vielfältigen literarischen Typologisierung des „Zwischenraums“ den Sammelband von Uwe Timm (Hrsg.), Bewegen im Zwischenraum, Berlin 2012. Literarische Erinnerungen an das Imperium als Utopie 41 und Mobilität als visionäre Heimat - jenseits jeglicher national-industrieller Modernisierung, aber als genuin modernes Projekt: „Er [der Sumatraist] sagte dem [amerikanischen] Konsul, daß alles vergebens sei, was Amerika mache, daß die Zukunft eines Volkes nicht von riesengroßen Turbinen abhänge, auch nicht von der Arbeit, sondern von einer bestimmten blauen Farbe einer fernen Insel.“ 52 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die eingangs skizzierte literarische Transferleistung auf vier unterschiedlichen ‚Operatoren‘ des Raums (1), der Figurenbzw. Subjektkonstitution (2), der Totalisierung der menschlichen Existenz durch den Krieg (3) und der Narration (4) basieren. 1. Zum einen induziert der imperiale Raum in seiner transnationalen Größe einen Universal- und Vollkommenheitsanspruch, wie er beispielsweise durch die „sieben Völker“ der Doppelmonarchie bei Csokor symbolisiert wird; entsprechend schließt sich daran ein Friedensprojekt an, das der General Radosin in die Vergangenheit und die einzige Frauenfigur Christina in die Zukunft projizierte. Zum anderen bilden die peripheren Übergangszonen, seien es die Donau bei Lernet-Holenia oder die „galizischen Wälder“ bei Crnjanski - als Ausgangspunkt, um die habsburgisch-russische Front zu überwinden und nach „Nowaja Semlja“ zu gelangen 53 - Zonen der Transgression. In Form der literarisch-räumlichen Expansion erschließt eine solchermaßen konkrete, geographischpolitisch nachvollziehbare Transgression neue utopische Räume - die wiederum auf die Peripherie zurückprojiziert werden können. 54 2. Die Figurenbzw. Subjektkonstitution in allen besprochenen Werken basiert auf expliziten Doppelbzw. Mehrfachidentitäten, handelt es sich nun um den polnisch-ruthenischen Huzulen Niewiadomski bei Wittlin, den „Sumatraisten“ bei Crnjanski oder die dalmatinisch-tirolische Friedensvermittlerin Christina bei Csokor. Dabei ist in erster Linie der realimperiale Hintergrund einer solchen literarischen Identitätskonstituierung herauszustreichen, aus der sich auch entsprechende ambige Erzählverfahren entwickeln können (vgl. Punkt 4). 3. Das kriegerische Ende der Landimperien ist gleichzeitig ein einmaliges historisches Moment, das alle und alles erfasst. Die Totalisierung der 52 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 82. 53 Crnjanski, Tagebuch über Čarnojević (Anm. 11), S. 92. 54 Geradezu prototypisch für eine solche Utopisierung der Peripherie, insbesondere des slawischen Teils der Doppelmonarchie, findet sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Scipio Slatapers Biographiefragment Il mio Carso (Triest 1912) und später in Joseph Roths Erkundungen der südbzw. nordöstlichen Randzonen des Imperiums. Boris Previšić 42 menschlichen Existenz durch den Krieg führt nicht nur zur Auflösung einer alten Ordnung, sondern auch zu einer solchen der scheinbar gottgegebenen Dichotomie zwischen religiösem und weltlichem, zwischen natürlichem und imperialem Raum. Die Generalmobilmachung, die Mobilisierung der Massen, totalisiert das Weltbild, was beispielsweise das pseudoreligiöse Setting der Doppelmonarchie bei Wittlin gut veranschaulicht, und revolutioniert die Kunst - die sich im Fall Crnjanskis ganz der Moderne verschreibt. Der imperiale Raum, den man erst im Krieg richtig erfährt und zugleich verliert, wird ins Religiöse transzendiert; die Literatur entrückt das Reich in andere Dimensionen - jenseits der Realpolitik in ein wirksames utopisches Narrativ. 4. Die im ersten Teil konstatierte Verschachtelung von Erzählerstimmen bei Karahasan ist nicht nur den verschiedenen verarbeiteten historischen Zeitschichten geschuldet, sondern impliziert eine ebenso komplizierte Erzählsituation, die Stereotype unterminiert und das scheinbar Gesichtslose der Mobilitätsträger in komplexen Figurenkonstellationen personalisiert. Die doppelte Fokalisierung bei Wittlin, der nicht eindeutig personifizierbare Ich-Erzähler bei Crnjanski sind das Resultat eines avantgardistischen Erzählverfahrens der Moderne, die multiplen Möglichkeiten des imperialen Raums über die historische Zäsur hinweg zu retten. Hier formiert sich aus einer genuin literarischen Perspektive eine nicht genau lokalisierbare Erzählerposition. So verkörpern die „kuferaši“ Karahasans eine alt-neue Friedensidee, welche ihren Ursprung im langen 19. Jahrhundert hat und im kurzen 20. Jahrhundert immer wieder von Neuem aktiviert wurde. Die Literatur, welche direkt nach dem Ersten Weltkrieg entsteht, erbringt den Beweis, dass ein transnationales Europa in der eigenen Geschichte pränationale reale Imperialräume aufweist, die eine breite Ausgangsbasis bilden für eine neue Geschichte: die Geschichte einer postnationalen Friedensvision. Gleichzeitig zeigt sich im Potential, eine solche Vision zu poetisieren, die Qualität einer spezifischen Literatur der Moderne. Wolfgang Müller-Funk Besichtigung eines neuen Imperiums Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 In den letzten Jahren hat sich, nicht zuletzt im Gefolge der Implosion der Sowjetunion, im Anschluss an den Terminus postkolonial zunehmend der Begriff post-imperial durchgesetzt. 1 Damit wird auf spezifische Differenzen zwischen Imperialismus und Kolonialismus hingewiesen. Nicht alle Machtgefüge, die man als imperial bezeichnen kann, sind automatisch kolonial; umgekehrt sind nicht alle kolonialen Konstellationen automatisch imperial. So waren Belgien, die Niederlande oder auch Portugal bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Kolonialmächte, haben aber niemals ein Machtpotential entfalten können, das die Zuschreibung des Imperialen erlauben würde. Die im zentral- und osteuropäischen Raum wirksamen politischen Formationen sind wiederum nicht im Sinn einer klassischen Definition „kolonial“, sind aber ganz bestimmt „imperial“. 2 Sie sind zumindest Großmächte, die politisch und symbolisch einen größeren symbolischen und politischen Raum kontrollieren und verwalten. Für sie ist charakteristisch, dass sie im Gefolge häufig demokratisch insinuierter Nationalbewegungen unter Druck geraten und infolge außenpolitischer Konflikte (Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg) implodieren. Das gilt für das zaristische Russland und den sowjetkommunistischen Nachfolgestaat, für das Osmanische Reich für die Habsburgische Monarchie und deren multiethnische Nachfolgestaaten (Tschechoslowakei, Jugoslawien). Kulturwissenschaftlich besehen, divergieren auch die Dynamiken, die die postcolonial studies für das Verhältnis von Fremdem und Eigenem, von Kolonisierenden und Kolonisierten geltend gemacht haben. Diese Differenzsetzung zwischen „postkolonial“ und „postimperial“ ändert freilich nichts daran, dass einige zentrale Fragestellungen und Zugänge aus den angelsächsischen Cultural Studies maßgeblich zum Verständnis innereuropäischer Konflikte beizutragen vermögen. Zu denken ist dabei unter anderem an die Einschreibung von Machtdispositionen im interkulturellen Verhältnis von Zentrum und Peripherie, von Selbst- und 1 Vgl. Rada Ivekovic, Die Spaltung der Vernunft und der postkoloniale Gegenschlag, in: Wolfgang Müller-Funk / Birgit Wagner, Eigene und andere Fremde. ‚Postkoloniale‘ Konflikte im europäischen Kontext, Wien 2005, S. 48-64. 2 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Reinbek 2007, S. 11- 21; Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte - Formen - Folgen, München 1995, S. 23-28. Wolfgang Müller-Funk 44 Fremdbild. Diesen Relationen entsprechen ganz bestimmte Erzähl-Matrices, die zugleich als Interpretationen von Machtasymmetrien, wie sie für Kolonialismus und Imperialismus charakteristisch sind, gelesen werden können. 3 Vor diesem Hintergrund lässt sich Joseph Roth als ein beinahe klassischer post-imperialer Autor begreifen. Die post-imperiale Konstellation impliziert einen historischen Bruch, in diesem Fall den Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie und deren Nachbarn, des zaristischen Russland. Der historische Einschnitt fällt mit einer biographischen Brucherfahrung zusammen. Wie viele andere Autoren auch, hat Roth seine familiäre, schulische und gesellschaftliche Sozialisation in der Monarchie durchlaufen. Als diese zu Ende ist, befindet er sich plötzlich in einem politischen und symbolischen Raum, der nicht mehr zu dieser Sozialisation zu passen scheint. Dies ist die Ausgangserfahrung jener Fremdheit, die sich mit den Fremdheitserfahrungen der Moderne verknüpft und die in die Tiefenstruktur seines Werkes eingeschrieben ist. Ein Großteil seines literarischen und essayistischen Werkes ist an den imperialen Rändern angesiedelt, in der tschechischen Provinz, in Galizien, in der Ukraine oder auf dem Balkan. Für sein Bild des Habsburgischen Imperiums aber auch Russlands ist die Wahrnehmung von Multikulturalität in all ihren Ausformungen maßgeblich; diese scheint - im Gegensatz zum nationalistischen Diskurs - zum Charakteristikum von Imperien überhaupt zu gehören. Roths Reiseberichte sind Teil eines Diskurses, der heute merkwürdigerweise historisch und zugleich gegenwärtig anmutet. Dieser Diskurs ist in Roths Texten fortwährend anwesend, etwa wenn er das sowjetische Russland mit dem kapitalistisch-neusachlichen Amerika vergleicht. Dabei geht es um den politischen Aufstieg von Großmächten, die gegenüber den klassischen Imperien ein völlig neues Eigenprofil aber auch eine ganz andere gesellschaftliche Dynamik besitzen. Was sie bei allem Unterschied gemeinsam haben, ist, dass sie postkolonial (USA) bzw. postimperial (Sowjetrussland) - in der Mehrfachbedeutung dieser Wörter - sind. Sie sind aus imperialen Konstellationen entstanden, sie erheben zugleich einen globalen ‚demokratischen‘ Geltungsanspruch, der sich von klassischen Imperien, dem maritim-kolonialen Weltreich England und dem prämodernen zaristischen Großreich, unterscheidet. Vor allem aber nehmen die kapitalistisch-republikanischen USA wie das bolschewistische Sowjetrussland, durchaus in Konkurrenz zueinander, für sich in Anspruch, ein verbindliches zeitgemäßes 3 Wolfgang Müller-Funk / Birgit Wagner, Diskurse des Postkolonialen in Europa, in: Dies., Eigene und andere Fremde (Anm. 1), S. 9- 27. Jenny Sharpe, Figures of Colonial Resistance, in: Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin (Hg.), The post-colonial studies reader, London: Routledge 1995, S.102. Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 45 Modell einer modernen, zukunftsträchtigen Kultur und Gesellschaft für alle anderen Länder zu sein, liberaler demokratischer Marktkapitalismus auf der einen, proletarische Weltrevolution auf der anderen Seite. Sie entwerfen ein trügerisches Eigenbild, das nicht auf imperiale oder koloniale Aneignung fremder Territorien gerichtet ist, sondern das zur Nachahmung einladen will. 4 Beiden Alternativen steht Roth vor allem kulturell überaus skeptisch gegenüber. Nicht zufällig heißt es in einer Tagebuchnotiz aus der Russland- Reise mit unüberhörbar kulturpessimistischem Unterton: Rußland liegt heute eher zwischen Asien und Amerika, als zwischen Asien und Europa. Da die europäische Kultur für die Reformatoren des Zwanzigsten Jahrhunderts eine schädliche ‚bourgeoise Kultur‘ ist, die Technik, die Vernunft, der Fortschritt, die Hygiene, die sexuelle Aufklärung, die primitive Moral im Privat- und öffentlichen Leben erstrebt wird, aber die Sitten und Gebräuche, die Menschen und die Einrichtungen, die Charaktere und die Neigungen asiatisch-byzantinisch wenigstens bis heute geblieben sind, ist die geographische Lage Rußlands nunmehr und seine psychologische die von mir oben erwähnte. Les voyages sont une source de l’histoire (Chateaubriand) (RW 2, S. 1016f). 5 Zu der neuen realen wie symbolischen globalen Konstellation gehört bereits nach dem Ersten Weltkrieg die sich ankündigende machtpolitische ‚Deplacierung‘ des Alten Kontinents. Sie löst einen Diskurs aus, der, wie die Schriften von Roths Landsmann Richard Coudenhove-Kalergi zeigen, ein integriertes Europa als ein Drittes, als Alternative zu beiden Modellen, und zugleich als eine politische Utopie präsentiert, die den Machtverlust der europäischen Staaten wettmachen soll. Man sollte Roths intellektuelle Entwicklung, etwa die Konstitution des Habsburgischen Mythos im Medium der Literatur wie auch der politischen Publizistik viel mehr vor diesem Hintergrund sehen, nämlich als Entwurf einer Gegenwelt zu Nationalismus und Neoimperialismus. Wie Roth, ein politisch wacher Kopf, indes zur Kenntnis nehmen muss, zeichnet sich im Europa nach dem Ersten Weltkrieg ein ganz anderer „dritter“ Weg ab, zunächst in Gestalt des komischen, aber zugleich verhängnisvollen faschistischen und nationalistischen Neoimperialismus in Italien, dem Roth 1928 fünf überaus kritische Essays widmet, und sodann in 4 Herfried Münkler, Imperien (Anm. 2), S. 221: „Mit der Sowjetunion verließ die letzte der imperialen Mächte die politische Bühne, die in den zurückliegenden Jahrhunderten den Westen Eurasiens beherrscht hatten.“ 5 Zitiert wird nach der sechsbändigen Ausgabe Joseph Roth, Das journalistische Werk 1924-1928, Werke, Bd. 2, herausgegeben und mit einem Nachwort von Klaus Westermann, Köln 1990. Fortan wird die Sigle RW 2 im Fließtext verwendet. Wolfgang Müller-Funk 46 der ungleich aggressiveren und sodann in jener ungleich gefährlicheren Form des deutschen Nationalsozialismus. Roth hat sich bis 1925, wie vor allem seinem publizistischen Werk zu entnehmen ist, voll und ganz mit der Weimarer Republik identifiziert. Das lässt sich insbesondere an seinen Aufsätzen zu Rathenau aber auch an seinen pietätvollen Texten zum Staatsbegräbnis von Friedrich Ebert ablesen (RW 2, S. 353-257). Sein Abschied von dem Toten beginnt mit dem Satz „An diesem Tag nahm das republikanische Berlin Abschied vom toten Präsidenten des Reiches.“ (RW 2, S. 354) Es ist keine Frage, dass sich der Verfasser des Artikels diesem Republikanismus zurechnet. Mit Seitenblick auf seinen späteren österreichischen Monarchismus lässt sich ironisch konstatieren, dass er diesen Abschied des deutschen Reichspräsidenten in einer ähnlichen Rhetorik sprachlich inszeniert und zelebriert wie in späteren Texten den Tod von Kaiser Franz Joseph. 6 Mit der sich an den Tod Eberts anschließenden Wahl Hindenburgs ist es für Roth zunehmend ein Abschied vom republikanischen Deutschland. Bereits am 14.Juli 1925 berichtet Roth der deutschen Leserschaft überschwenglich davon, wie die Pariser ihren Nationalfeiertag feiern, als eine symbolisch würdige Manifestation des Volkes. Das darf man getrost als eine Respondenz auf die zunehmend restaurativen Tendenzen in Deutschland lesen. Seit dem Jahr 1925 ist Roth, auch wenn er das zuweilen kaschiert, intellektuell, politisch und kulturell mehr oder minder heimatlos. Und genau diese Situation entfacht seine literarische und publizistische Energie. Joseph Roth ist ein Autor auf Wanderschaft in und durch den post-imperialen europäischen Raum der 1920er Jahre. In diesen Jahren reist er in den Balkan, nach Polen und Galizien, nach Frankreich, nach Italien, nach Russland. Er schreibt seinen Makro-Essay Juden auf Wanderschaft, in dem er die prekäre Situation des osteuropäischen Judentums erörtert und analysiert. Im Unterschied zu früheren Artikeln, Glossen und Kurzessays mutieren auch seine Texte über Deutschland, etwa über das Saargebiet oder über Mitteldeutschland zur Form der Reiseprosa. Es sind Beobachtungen eines Menschen, der sich in einem Außerhalb befindet. 1928 schließlich wird - das schwingt schon in den Jahren zuvor untergründig mit - Roth Altösterreich und sich darin als Bewohner entdecken und erfinden. 7 Dabei kommt es, vorweg gesprochen, zu einer merkwürdigen Überlappung zwischen Altem und Neuem. Bekanntlich erfolgt in Roths Werk seit 6 Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth. Besichtigungen eines Werkes, 2. erweiterte Ausgabe, Wien 2012, S. 90-103. 7 Vgl. zur gebrochenen Identität Roths: Kati Tonkin, Joseph Roth’s March into History. From the Early Novels to Radetzkymarsch and Die Kapuzinergruft, Rochester, New York 2008, S. 16-45. Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 47 Radetzkymarsch - in retrospektiver Überhöhung - eine systematische narrative Legitimierung des Habsburgischen Kaiserreiches (etwa seit Ende der 1920er Jahre), diese ist aber erstaunlicherweise mit der Solidarität der Menschen und Kulturen an den Rändern verbunden, so als ob das Imperium sich durch seine Ränder konstituiert und nicht so sehr durch das Zentrum, das, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei Roth eine durchaus unbedeutende Rolle spielt. Selbst in Die Kapuzinergruft gilt das Hauptaugenmerk nicht dem gesellschaftlichen Gefüge der einstigen Hauptstadt des Imperiums, Wien, sondern deren symbolischer Bedeutung als utopischem Erinnerungsort, als der er hier durch die Kapuzinergruft präsentiert wird. Der Wechsel der Perspektive, die das ungleiche Verhältnis von Zentrum und Peripherie umkehrt und den Benachteiligten, Juden, Minderheiten aber auch den großen slawischen Kulturen, Stimme verleiht, hat durchaus Ähnlichkeiten mit Erzählstrategien von postkolonialen Intellektuellen und Autoren, wohingegen die imperiale Nostalgie nur schlecht damit übereinstimmt. Roths Werk überbrückt diese Kluft nicht zuletzt dadurch, dass bei ihm der zentraleuropäische Kaiserstaat selbst - und zwar auf der Zeitachse - in eine marginale Situation rückt. Durch diesen narrativen Kniff wird die Monarchie so randständig wie die Menschen an deren Rändern. 8 So nimmt der narrative Aufbau seiner Aufsatzserie über das post-revolutionäre Russland nicht weiter Wunder; auch hier ist die Aufmerksamkeit für das Periphere augenscheinlich, so als ob sich der revolutionäre Sozialismus, ähnlich wie später Roths Habsburgisches Kaiserreich, nur von den Rändern her begreifen lässt. 9 Er beginnt seine Reisebeschreibungen nicht mit einem Tableau aus dem sowjetischen Russland, sondern mit einer Beschreibung der anti-bolschewistischen Emigrantinnen und Emigranten, die durch den Zusammenbruch des zaristischen Imperiums vertrieben und dislociert worden sind. Auf diese Erzählfigur wird Roth noch in einem seiner letzten Kurz-Romane Beichte eines Mörders erzählt in einer Nacht zurückkommen. Die Menschen, die sich im Exil-Raum etwa in Frankreich bewegen, leben an den Rändern der Zeit. Es sind Bilder räumlichen Verloren-Seins: Lange bevor man noch daran denken konnte, das neue Rußland aufzusuchen, kam das alte zu uns. Die Emigranten trugen den wilden Duft ihrer 8 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität. Szenerien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths, Tübingen: Francke 2006; Wolfgang Müller-Funk, Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten zwischen Zentren und Peripherien, in: Endre Hárs / Wolfgang Müller-Funk / Ursula Reber / Clemens Ruthner (Hrsg.), Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, Tübingen 2006, S. 17-39. Eine Studie von Daniel Bitouh zu einer postkolonialen Lesart von Joseph Roths Werk ist in Vorbereitung. 9 Aus russischer Perspektive vgl. Aleksandr Etkin, Internal Colonization. The Russian Imperial Experience, Cambridge 2011, S. 61-71. Wolfgang Müller-Funk 48 Heimat, der Verlassenheit, des Bluts, der Armut, des außergewöhnlichen romanhaften Schicksals. (RW 2, S. 591) Und der Text, der das schäbige, überaus zirkusartige Leben der Exilrussen vor allem in Paris festhält, schließt mit den pathetischen Worten: Wir standen vor den Überresten, die ihre eigene Katastrophe nicht begriffen, wir wußten mehr von ihnen, als sie uns erzählen konnten, und Arm in Arm mit der Zeit, gingen wir über die Verlorenen hinweg, grausam und dennoch traurig. (RW 2, S. 593f.) Das ist nun ganz Roth: der Einstieg in das Thema durch die Hintertür aber auch die Mnemosyne an die Opfer der Revolution. In dem „Wir“, das Autor und Leserschaft listig miteinander verbindet, kommt, gegen den „grausamen“ neusachlichen Zeitgeist nicht nur im linken politischen Lager, die Trauer zu ihrem Recht. Neben der Sympathie des Autors für das Marginalisierte wird gleich zu Beginn der Artikelserie eine tiefe Ambivalenz sichtbar, die auch für die nachfolgenden Texte charakteristisch sind. Der zweite Artikel über den unsäglich absurden Grenzort Niegoreloje und sein zentrales Tableau, die proletarischen Zollbeamten mitsamt der ausgestülpten Koffer mit den Kleidern und Ingredienzien der reichen Touristen und Geschäftsleute, bestätigt in dieser hohen Schule der Ironie den durchgängigen Vorbehalt und ist symptomatisch gelesen: Niemals noch sah ich eine so genaue Visitation, auch nicht in den ersten Jahren nach dem Krieg, in der vollen Blütezeit der Revisoren. Es scheint doch, daß hier nicht eine gewöhnliche Grenze ist zwischen Land und Land, sie will eine Grenze sein zwischen Welt und Welt. Der proletarische Zollbeamte - der kundigste der Welt - wie oft hat er selbst verbergen und entkommen müssen! - revisiert zwar Bürger aus neutralen und selbst freundlichen Staaten, aber Menschen einer feindlichen Klasse. Das sind Abgesandte des Kapitals, Händler und Spezialisten. Sie kommen nach Rußland, vom Staat gerufen, vom Proletariat befehdet. (RW 2, S. 595f) Nicht zu übersehen ist indes auch, dass es keinen einzigen Reisebericht in der Artikelserie gibt, der sich etwa eingehend mit Moskau oder Leningrad beschäftigen würde. Nachdem der Verfasser der Leserschaft völlig verblüfft vom westlich-kitschigen Filmprogramm in Moskau und dem offenkundig spießigen Publikumsgeschmack berichtet hat, befindet sich das Lesepublikum am 5. Oktober 1926 virtuell schon auf einem Wolga-Dampfer, der von Nižnij Novgorod nach Astrachan geht. (RW 2, S. 601) Dafür erfährt die Leserschaft ungeheuer viele Details über die an Roths Heimat angrenzende Ukraine und vor allem über den Kaukasus, der für Roth Inbegriff kultureller, sprachlicher und religiöser Vielfalt und Vermischung ist. Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 49 Roths Berichte sind noch in einem ganz anderen Sinn vom Rand und von der Peripherie aus geschrieben. Sie klammern nämlich - und das zu einem Zeitpunkt, an dem sich der Übergang zum Stalinismus bereits abzeichnet - das zentrale Feld des Politischen, wenigstens im engeren Sinn des Wortes, systematisch aus, obwohl wir aus Aufzeichnungen von Roth wissen, dass er sich im Kreml mit Karl Radek (RW 2, S. 1022) getroffen hat. Das mag auch mit dem medialen Format der damals populären Reiseberichte zusammenhängen, entspringt aber auch einer geschickten politischen Vorsicht und Zurückhaltung. Zu groß ist die bis dahin durchaus vorhandene Sympathie in der westlichen Öffentlichkeit für das große soziale Experiment des Sozialismus, zu unsicher und zu unabschätzbar dessen Gelingen oder Misslingen. Dass das bolschewistische Russland ein Imperium sein könnte, stellt aus der marxistischen Eigenbildlichkeit des neuen sozialistischen Gebildes natürlich einen symbolischen Tabubruch dar, ist sie doch bekanntlich aus einer anti-imperialistischen Rhetorik entstanden. 10 Eine Grunderzählung, mit der sie sich legitimiert, ist ja bekanntlich eine anti-imperialistische. Lenin zufolge stellt der Imperialismus das letzte und höchste Stadium des Kapitalismus dar. Maßgeblich daran ist, dass dieser Imperialismus als global betrachtet wird. So bedeutet die Revolution in Russland, dass dieser imperialistische Kapitalismus an der Peripherie, in dem kapitalistisch schwach entwickelten zaristischen Russland zerbricht. Aber andererseits wird wie in den epochalen Werken über die russische Revolution - ich denke an Leo Trotzkis schon im türkischen Exil geschriebenes Werk Geschichte der russischen Revolution 11 oder an John Reeds Zehn Tage, die die Welt erschütterten 12 - kein Zweifel an der exemplarischen Bedeutung des Ereignisses gelassen. Dabei spielt die Tatsache der territorialen und politischen Größe Russlands - ein Sechstel der planetaren Festlandmasse - eine maßgebliche Rolle. Insofern lässt sich Sowjetrussland als ein post-imperiales Gebilde begreifen, das sich unter Stalin zu einem neuen Imperium weiten wird. Die Werke, die Klaus Westermann zufolge Roth über das neue Russland zur Hand genom- 10 Vgl. dazu etwa Vladimir Il’i Lenins Streitschrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916), das in Anschluss an Hobsons Imperialismus (1902) und Hilferdings Studie Das Finanzkapital (1912) entstanden ist. Lenins Definition des Imperialismus lautet im Anschluss an Marx so: „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so würde man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist.“ Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstens Stadium des Kapitalismus, Berlin 1946, S. 94. Münkler plädiert für die Unterscheidung zwischen Imperiums- und Imperialismus-Theorien, Münkler, Imperien (Anm. 2), S. 20f. 11 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, 3 Bände, Frankfurt am Main 1960, 1973. 12 John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Wien 1927. č Wolfgang Müller-Funk 50 men hat, waren Albert Rhys Williams, Die Russische Revolution 13 sowie A. Tschemeriskis Die Kommunistische Partei und die jüdischen Massen (RW 2, Anhang, S. 1007). Während das erste Buch eine journalistische Reportage mit unverkennbarer Sympathie eines amerikanischen fellow traveller darstellt, der die westlichen Leser für das sowjetische Experiment einnehmen will, ist Čeremiskijs Buch im Kontext der Diskussion über die Zukunft des Judentums in Sowjetrussland und den Plänen umfangreicher Umsiedelungsaktionen jüdischer Menschen zu sehen, gegen die Čeremiskijs offenkundig opponierte. 14 Roth hat in Odessa auch eine Versammlung der Ozet, einer jüdischen Massenorganisation zur Ansiedlung jüdischer Proletarier im landwirtschaftlichen Bereich, besucht. Ganz offenkundig hat ihn, den Juden aus den Randbezirken der einstigen Monarchie, dieses Problem ganz besonders interessiert, auf die damaligen inner-russischen Ansiedlungsprojekte gehen weder das Tagebuch noch die Zeitungsartikel ein. Das Bild der Versammlung, und speziell der jüdischen Bevölkerung in Russland, fällt indes wenig schmeichelhaft aus. Dass Roth die Entwicklung des sowjetischen Nachfolgestaats des Zarenreiches kritischer gesehen hat als in der Artikelserie, geht unter anderem aus dem parallel geführten Russlandtagebuch hervor. Hier kommen auch politische und gesellschaftliche Bedenken zur Sprache, etwa sein Zweifel an der Möglichkeit einer sozialistischen Revolution im Westen und seine Distanz zum Marxismus und dessen historischen Prognosen, seine Vermutung, dass das westliche Proletariat den Acht-Stunden-Tag im Kapitalismus dem Sozialismus vorziehen wird. Am 12. Oktober, als er sich in Kiew aufhält und offenkundig ganz besonders miserabel gegessen hat, hält er in der für ihn typischen Apodiktik fest: Ich habe mich endgültig vom Osten losgesagt. Wir haben nichts von ihm zu erwarten, als eine Blutauffrischung, eine Muskelerneuerung, eine Lyrik vielleicht und eine Bereicherung der Traumwelt - keineswegs Gedanken, Tag, geistige Kraft und Helligkeit. Das Licht kommt vielleicht vom Osten, aber Tag ist nur im Westen. Zwischen der französischen und der russischen Revolution ist ein Unterschied wie zwischen Voltaire und Bucharin, zwischen Katholizismus und Byzantinismus, zwischen Paris und Moskau. (RW 2, S. 1019) 13 Albert Rhys Williams, The Russian Revolution, New York 1921. 14 Zur Situation der Juden im Sowjetimperium vgl. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung-Geschichte-Zerfall, München 1992; Walter Kolarz, Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion. Frankfurt am Main 1956; Louis Rapoport, Hammer, Sichel, Davidstern. Judenverfolgung in der Sowjetunion. Deutsch von Peter Zacher, Berlin 1992. Edmund Silberner, Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus. Opladen 1983. Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 51 Wie schon erwähnt, interessiert sich Roth für das neue politische Gebilde aus einem vornehmlich kulturellen Blickwinkel. Was er analysiert, das sind die Situation der Medien, Wissenschaft und Religion, die Stellung der Frau, die Bedeutung der Jugend, die neokapitalistische Kultur der NEP-Leute und die ethnische Vielfalt am Kaukasus. 15 Die Artikelserie über das nach-revolutionäre Russland, dreiundzwanzig an der Zahl, einschließlich eines Vortrags, nehmen in der politischen Wanderbewegung Roths in der Mitte der 1920er Jahre eine Schlüsselrolle ein. Denn die unabsehbare Enttäuschung über das, was man im Diskurs der Zeitgenossenschaft als „sowjetisches Experiment“ bezeichnet hat, beschleunigt seine Zuwendung zu jenem imaginär gewordenen kontinentalen imperialen Raum, der mit dem Herrschaftskomplex Österreich verbunden ist. Auffällig bleibt, dass Roth die marxistischen Kategorien im Hinblick auf die Analyse von Gesellschaft, Politik und Kultur gänzlich fremd sind, gerade in seiner viel beschworenen linken Periode in den frühen 1920er Jahren. 16 Was ihn interessiert, ist der Vergleich zwischen dem zaristischen und dem kommunistischen Russland und die narrative Einbettung der Russischen Revolution in den Gesamtkomplex einer Moderne, der Roth ganz offenkundig zwiespältig, ja zunehmend ablehnend gegenübersteht. Seine eigene Skepsis, die im Tagebuch klare Konturen annimmt, balanciert er in den Zeitungsartikeln geschickt mit einem linken Zeitgeist aus, der dem sozialen Experiment des Sozialismus im postimperialen Russland tendenziell positiv gegenübersteht. Das erklärt unter anderem auch seine Zurückhaltung gegenüber politischen Themen, eine Zurückhaltung, die er kurz nach seiner Rückkehr ein einziges Mal aufgibt, und zwar in einem anrührenden Porträt der russisch-deutschen Revolutionärin Larissa Reißner, deren Schönheit, Klugheit und Mut der Artikel preist. Es heißt da zum Schluss: Es war wahrscheinlich gut und in Ordnung, dachte ich später, als ich das stille verschneite Kreml-Tor verließ, es ist vielleicht gut und in Ordnung, daß sie tot ist, die junge Larissa Reißner. Sie wäre wahrscheinlich heute in der stärksten ‚Opposition‘ - ‚der bürokratische Ring schließt sich‘ - vielleicht in Sibirien es ist nicht viel Platz in der Welt für eine Frau von den Barrikaden, wenn die Barrikaden abgebaut werden. (RW 2, 709) Wie schon zuvor in seiner Reiseprosa über Galizien 1924 präsentiert sich der österreichische Autor gegenüber dem linksliberalen deutschen Lesepublikum der Frankfurter Zeitung als Fachmann und Kenner des osteuropäischen Raums. Selbst in den Artikeln macht Roth kein Hehl aus seiner Ansicht, dass er die russische Revolution kulturell und politisch für gescheitert hält. In 15 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 7), S. 155-177. 16 Ingeborg Sültemeier, Das Frühwerk Joseph Roths 19115-1926. Studien und Texte, Freiburg 1976. Wolfgang Müller-Funk 52 seiner oftmals diplomatisch verhalten vorgetragenen Kritik an dem neuen sozialistischen „Riesenstaat“ (RW 2, S. 629) kreuzen sich dabei sehr unterschiedliche Perspektiven. Eine durchaus konservative, dezidiert alteuropäische Position ist dabei überlagert von einer eher linksrevolutionären Haltung, die einige Ähnlichkeit mit den russischen Slawophilen und ihren linken politischen Erben, den Sozialrevolutionären, aufweist. Die Fabelkonstruktion, der narrative Faden, der die Reiseberichte durchzieht und miteinander verbindet, lautet, wie es auch in der Überschrift zum elften Bericht heißt: „Russland geht nach Amerika“ (RW 2, S. 629): Die Revolution war ein verschwenderischer Aufwand der Geschichte, um die geistige Physiognomie der russischen Masse jener der westeuropäischen wenigstens ähnlich zu machen. Auf materiellen, politischen und sozialen Gebieten war sie eine Revolution. (RW 2, S. 630) An anderer Stelle heißt es „Die Revolution muß gewissermaßen im Namen des Sozialismus ‚kapitalistische Kultur‘ verbreiten.“ (RW 2, S. 644) Das Emplotment im Sinne Hayden Whites 17 , das dieser historischen Konstruktion zunächst zugrunde liegt, sind in dieser Textpassage die Satire und damit verbunden die Ironie. Die Artikelserie gibt sich vordergründig als liberal; in ihrer Argumentationsweise ist sie kontextualistisch und paradox. Aber gleichsam darunter befindet sich, nicht immer versteckt, eine ganz andere ‚hybride‘ Fabelkonstruktion, die eher tragisch als komisch, und zugleich radikal-konservativ ist. Sie wird für das späte Werk Anti-Christ bestimmend sein, in der Roth eine Dämonologie der Moderne entwirft, als deren Spielarten Hitler und Hollywood gelten. 18 Wenn die russische Revolution also im Namen des Sozialismus zur globalen Verbreitung der kapitalistischen Kultur beiträgt, dann gründet diese Lesart, die die moderne liberale Kultur mehr oder minder begrüßt, wiederum auf einer liberalen Erzählung; wenn diese moderne kapitalistische Kultur aber Unbehagen auslöst, kippt das Narrativ in ein Narrativ um, das anarchische und konservative Momente miteinander verbindet. Ausdrücklich wendet sich der Autor hier gegen die westlichen „Romantiker der Revolution“. Den Bolschewismus interpretiert Roth durchaus hellsichtig als eine unkritische nachholende Modernisierung des Landes, als eine Rhetorik, in deren Zentrum Technik, Fortschritt und Hygiene stehen. Im vierten Bericht, über seine Reise auf der Wolga, rückt er nicht nur die neuen sozialen Ungleichheiten, sondern auch archaische Völker wie zum Beispiel die 17 Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986, S. 64-122. 18 Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 7), S. 121-132. Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 53 ‚heidnischen‘ Tschuwaschen in den Mittelpunkt. Roth entwirft ein beinahe klassisches Tableau von Ungleichzeitigkeit: Die Tschuwaschen zum Beispiel sind heute noch heimliche ‚Heiden‘. Sie beten Götzen an und opfern ihnen. Für den naiven Naturmenschen aus dem Wolgadorf ist Kommunismus - Zivilisation. Für den jungen Tschuwaschen ist die städtische Kaserne der Roten Armee ein Palast und der Palast - der ihm auch offensteht - ein siebenhundertster Himmel. Elektrizität, Zeitung, Radio, Buch, Tinte, Schreibmaschine, Kino, Theater - also alles, was uns so ermüdetet (! ), belebt und erneuert den primitiven Menschen. Alles hat ‚die Partei‘ gemacht. Sie hat den Menschen gelehrt, auf sein Volk stolz zu sein, auf seine Kleinheit, seine Armut. (RW 2, S. 605) Das sowjetische Russland ist wie das kapitalistische Amerika eine kulturell naive Massengesellschaft, eine Diktatur des Durchschnitts, die Amerika programmatisch verachtet, aber insgeheim bewundert. Roth interpretiert das Sowjetrussland um die Mitte der 1920er Jahre als eine Version der modernen Massengesellschaft, die beim Berichterstatter Unbehagen auslöst. Roths kulturpessimistisches Unbehagen geht Hand in Hand mit einer linken Kritik am sozialistischen Russland anno 1926. Der Befund, wonach sich Russland auf dem Weg nach Amerika befindet, hat nämlich ein historisches Subjekt. Das in Russland ohnehin spärliche Proletariat wird von dem NĖP-Mann, „dem auferstandenen Bourgeois“ beiseitegeschoben. (RW 2, S. 612). Dieser neue traditionslose Bürger und Antibürger, der dem Berichterstatter der Frankfurter Zeitung mindestens ebenso zuwider ist wie der nicht erwähnten linken Opposition in Russland, verkörpert die Wiederkehr des Kapitalismus, freilich eines Kapitalismus ohne den historischen Bürger, und das Entstehen einer neuen sozialen Ungleichheit. Was sich ankündigt, ist ein neues Imperium, das sich auf eine sekundäre Aufklärung stützt, die eine Karikatur der ersten ist. Dieses neue politische Gebilde ist zunächst raum-zeitlich randständig und peripher, hat aber an der narrativen Rhetorik der politisch-ökonomischen Moderne seinen Anteil: Rationalismus, Wissenschaftsgläubigkeit, Technik, Hygiene, moderne Medien und soziale Ingenieurskunst stehen dabei im Mittelpunkt. Selbst die Bolschewiken sind für ihn westlich orientierte Rationalisten, Vertreter einer zweiten Aufklärung: „Ein zuverlässiger Marxist ist mehr wert als ein kühner Revolutionär.“ (RW 2, S. 631) Und in dem im Jänner 1927 gehaltenen Vortrag heißt es: „Die kühnsten Kommunisten: Trotzki, Radek, Lenin, sehen an der Seite der Sozialrevolutionäre sehr bieder und bürgerlich aus. Sie folgten einem Prinzip, das die Leidenschaft für schrecklich hält, das Temperament für sekundär, die Begeisterung für eine Schwäche […].“ Aus dieser Perspektive erscheint nun der Marxismus als Ausbund moderner Bürgerlichkeit. Dieser Geist mache, so Roth „aus allen Menschen kleine Wolfgang Müller-Funk 54 Bürger“ (RW 2, S. 689ff). Ausdrücklich verweist Roth auf die Denkfigur der „Ironie der Weltgeschichte“, die er im Hinblick auf die Entwicklung in Russland sogar als „höhnisch“ bezeichnet. (RW 2, S. 690) Das konservative Unbehagen an der Entzauberung der Welt wird in den Reiseberichten insbesondere am Beispiel dreier Themen vorgeführt und hervorgehoben, des Wandels der Geschlechterverhältnisse und des neuen programmatisch anti-romantischen Frauenbildes, des feindseligen Verhältnisses zur Religion und der damit verbundenen materialistischen Propaganda sowie der Zerstörung eines humanistischen Geisteslebens. In diesem Sinn ist das neue Russland sowohl antieuropäisch wie antirussisch, eine Art List der Unvernunft. Der heimliche Kapitalismus des sozialistischen Russlands geht Hand in Hand mit Kleinbürgerlichkeit und Spießigkeit (RW 2, S. 652). Zuweilen gerät die sozialkritische Diktion mit dem Kulturkonservativismus in Widerstreit, so etwa im 12. Bericht Die Frau, die neue Geschlechtsmoral und die Prostitution. In den ersten Abschnitten geißelt der Verfasser das Verschwinden des Erotischen, den kruden sozialen Funktionalismus, in dessen Dienst die Sexualität gestellt wird. Roth mokiert sich auch über die Neutralisierung der Frau und die Nivellierung der Geschlechter. In neutralen Ton gefasst, finden auch die radikalen gesetzlichen Veränderungen Erwähnung, die den Frauen Scheidungen ermöglichen und ein ganzes Arsenal von Sozialeinrichtungen und Sozialmaßnahmen zur Verfügung stellen und die im Text gar als beispielhaft für Westeuropa angesehen werden. (RW 2, S. 632-637) Was 1926 noch sozial als durchaus angemessen und vorbildhaft angesehen wird, ist aber schon zugleich Gegenstand einer kompromisslosen kulturellen Abwehr. Die geheimnislose, von Hygienemaßnahmen begleitete neusachlich-sozialistische Sexualität ist ebenso wie ihr neues Subjekt, die emanzipierte Frau, „eine brave soziale Funktion“ (RW 2, S. 636), avanciert zum negativen Stereotyp in Roths Kulturkritik. Ausdrücklich positiv gesehen werden in der Artikelserie die Landzuteilung an die Bauern und das Ende der Feudalordnung im ländlichen Raum 19 und, für das Bild des post- und tendenziell schon neoimperialen Raumes mindestens so bedeutsam im Hinblick auf die Konstruktion des postimperialen sozialistischen Russland, die ethnische, sprachliche und religiöse Vielfalt. Die kulturelle Eigenart des neu-alten Vielvölkerstaates wird insbesondere an dem Völker-Labyrinth im Kaukasus sichtbar, das der Artikelschreiber seinem westlich-deutschen Lesepublikum mit unverkennbarer 19 Die Zivilisierung des russischen Bauern, die Rehabilitierung seiner Menschlichkeit, die Ausrottung des Gutsbesitzers, der privilegierten Nagaikaschwinger, dieses grotesken Sklavenhaltersystems, der ‚patriarchalischen‘ Prügelmeister: das sind bis jetzt die größten menschlichen und historischen Verdienste der großen Revolution.“ (RW 2, S. 643); Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 7), S. 156. Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 55 Begeisterung beschreibt. Insofern ist Baku mit seinem europäischen und seinem asiatischen Teil für das Bild des neuen „Riesenstaates“ viel maßgeblicher als etwa Moskau und Leningrad, die Stadt der Revolution. Liebevoll beschreibt Roth die ethnische, sprachliche, soziale und kulturelle Vielfalt im Kaukasus, dem traditionellen Exerzierfeld des zaristischen Imperialismus. Wiederum wird der Unterschied zwischen dem alten Imperium und dem neuen Russland betont: Alle diese Völker haben heute vollkommen nationale Autonomie - soweit sie auf der Kulturstufe angelangt sind, auf der sie selbst Autonomie fordern. Von allen Postulaten der Demokratie und des Sozialismus ist das der Gleichberechtigung nationaler Minderheiten in Rußland glänzend, vorbildlich erfüllt worden. (RW 2, S. 619) Der sozialistische „Riesenstaat“ wird von Roth, dem Sohn des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn, als ein transnationales Gebilde gepriesen, in dem Platz für das Marginalisierte und Randständige ist, das Vielfalt verbürgt, eine Vielfalt, die übrigens nicht nur im Sinne eines friedlichen Nebeneinanders fest gefügter Kulturen, sondern auch - siehe Roths Schilderung der „Bergjuden“ - ihrer mehr oder minder problemlosen Heterogenisierung beschrieben wird. Aus den vielen Stämmen am Kaukasus werden neue Nationen entstehen. Seltsam und grotesk mutet aus heutiger Sicht Roths Prognose an, dass die Tschetschenen „in den großen Nachbarvölkern“ aufgegangen sein“ werden. Es sei, so schreibt Roth, nicht „anzunehmen, daß die Geschichte im Kaukasus einmal einen verkehrten Weg gehen wird“ (RW 2, S. 620). 20 Wir wissen heute, dass beide positiven Zuschreibungen des sozialistischen Russlands bei Roth, Landzuteilung und kulturelle Gleichberechtigung der kleinen Völker, letztendlich illusionär waren bzw. durch die nachfolgende Entwicklung zunichte gemacht worden sind. Aufschlussreich ist auch Roths Bericht über die Medienlandschaft und die öffentliche Meinung. Roth macht einen feinsinnigen Unterschied zwischen dem italienischen Faschismus und dem russischen Bolschewismus, wenn er meint, dass reaktionäre Diktaturen wie jene Mussolinis in der Hauptsache „verbieten“, die proletarische Diktatur in Russland „mehr diktiert als verbietet“ (RW 2, S. 654). Die neuen Machthaber im Kreml schränken die Meinungsfreiheit der Intellektuellen durchaus ein, sie ermutigen indes die Kritik von unten, sofern sie sich gegen die offenen, aber auch vermeintlichen Opponenten des sozialistischen Regimes wenden. Am Ende des Artikels wird indes klar, dass auch diese vermeintliche Kritik von unten nur Teil einer Herrschaftstechnik ist, die keine freie Presse zulässt und stattdessen gezielt die Herausbildung eines journalistisch dilettantischen Konfor- 20 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 7), S. 163ff. Wolfgang Müller-Funk 56 mismus fördert, der den Journalisten Roth natürlich, trotz aller diplomatischer Wendungen, irritiert: „Die ideologisch gebundene Betrachtung der Welt verursacht provinzielle, kleinliche und außerdem falsche Berichte.“ (RW 2, S. 659) Dieser Artikel ist übrigens der einzige, der en passant die Einschränkung der politischen Freiheiten im russischen „Riesenstaat“ thematisiert. In ihm kommt jenes liberale und ironische Element in Roths narrativer Rhetorik zum Tragen, wie es auch in seinen Invektiven gegen die Figur des proletarischen Spießers und des neureichen NĖP-Bourgeois präsent ist. Dieser rhetorische Strang ist mit der unbestimmt bleibenden Hoffnung verquickt, wonach das russische Experiment noch nicht abgeschlossen ist und deshalb auch nicht endgültig beurteilt werden kann. An diesem Punkt unterscheidet sich der private Tagebuchschreiber abermals vom öffentlichen Intellektuellen. Denn während Roth in seinen persönlichen Aufzeichnungen den Sozialismus schon verabschiedet hat, hält er sich im öffentlichen Raum der politischen Diskussion alle Optionen offen. Unübersehbar scheut der Publizist und Romancier, der Mitarbeiter von Vorwärts, Arbeiterzeitung und Frankfurter Zeitung 1926 (noch) davor zurück, mit dem ‚linken Lager‘ zu brechen. Dieser Bruch wird erst später erfolgen, und er wird vor Hitlers Machtergreifung einen Bruch mit seiner bisherigen publizistischen Heimat, dem linksliberalen Feuilleton der Frankfurter Zeitung, nach sich ziehen. Das wird auch an einer Passage seiner Reiseberichte Das vierte Italien aus dem Jahr 1928 deutlich. Roth macht, in auffälligem Gegensatz zu seinen russischen Reiseberichten, aus seiner Gegnerschaft gegen das Regime Mussolinis, das für ihn unzweifelhaft neoimperial und neoimperialistisch ist, kein Hehl. An einer Stelle geht es expressis verbis auf den Vergleich zwischen den beiden Diktaturen ein: Wenn ich mich an der Grenze Italiens an die Grenze Rußlands erinnere, so geschieht es nur, weil täglich in Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren der Faschismus mit dem Bolschewismus verglichen wird, die Diktatur mit der Diktatur und Mussolini mit Lenin. Ich erliege gewissermaßen einem Wunsch, aber auch dem Einfluß der öffentlichen Meinung, wenn ich vergleiche. Aber ich finde vorläufig nur Unterschiede. Die Sowjetspitzel waren unauffällig und unsichtbar und wußten längst, noch ehe ich sie bemerkt hatte, wer ich sei und was ich wollte. Der Rotgardist an der russischen Grenze war einfach und massiv. Er hatte kein imperatorisches Profil und keine kokette Pistole. Weit und breit kein Bahnhofskommandant mit Schärpe. […] An der Wand hing eine billige Photographie von Lenin, der aussah wie ein Beamter, ohne die Pose Cäsars, mit einer schlechten und schiefen Krawatte für zwei Francs fünfzig, in Zürich gekauft. Ich hatte nicht den Eindruck, von der durchsichtigen Romantik eines Kriminalfilms empfangen zu werden, sondern von einer gefährlichen, schweren Unerbittlichkeit. (RW 2, S. 979f) Joseph Roths Reiseberichte über Russland anno 1926 57 Die imperiale Geste scheint es zu sein, die Bolschewismus und Faschismus unterscheidet. Aber dieser fein ziselierte Unterschied ist hauptsächlich deshalb plausibel, weil noch immer Lenin als Gallionsfigur im Mittelpunkt steht und nicht jener Mann, der seit 1924 immer mehr zur bestimmenden Figur und schließlich zum imperialen Diktatur wird: Stalin. Er findet in Roths Berichten nicht einmal Erwähnung. Insbesondere aus den Tagebuchnotizen wird freilich deutlich, dass Roth, ungeachtet solcher Differenzierungen, dem sozialistischen „Riesenstaat“ seit Mitte der 1920er Jahre zunehmend pessimistisch gegenübersteht und in ihm keine positive Alternative zum westlichen Kapitalismus und Imperialismus sieht. In seinen Tagebucheintragungen spricht er immer wieder von zwei Romanen, die er zu Ende bringen möchte. Man kann darin unschwer die Romane Die Flucht ohne Ende und das posthum erschienene, verschollen geglaubte, fragmentarische Romanfragment Der stumme Prophet 21 erkennen. Beide Helden in den zwei Romanen, Franz Tunda und Friedrich Kargan sind beseelt von der „Sehnsucht nach dem Rande der Welt“. 22 Aber während Kargan den Typus des enttäuschten Revolutionärs verkörpert, steht Tunda innerlich immer schon außerhalb der dramatischen Ereignisse. In die Revolution eingetreten war er durch den Zufall, dass er sich in einem Akt von romantischer Liebe, die auf komische Weise mit der neuen entzauberten sozialistischen Sexualmoral konfligiert, in eine Revolutionärin verliebt hatte. Auf eine durchaus verfremdende und verfremdete Weise ist Tunda eine Spielfigur, die bei aller Ambivalenz und Ironie den wachsenden Abstand des Autors zur neu entstandenen sozialistischen Großmacht deutlich macht. Strandgut des Weltkriegs, Gefühlssozialist und Altösterreicher befindet er sich nicht bloß äußerlich, sondern vor allem innerlich auf der Flucht. Diese Raumbewegung mit wechselndem Ausgangspunkt und ohne Ziel ist ein spezifischer Chronotopos, der keinen auskristallisierten Raum kennt und in dem schließlich das Am-Rand-Stehen zur einzigen, zentralen Ingredienz einer höchst paradoxen Identität wird. In Der stumme Prophet begegnen wir in Gestalt des Altösterreichers von Maerker zum ersten Mal einer Stimme, die der Einsamkeit einen freilich entschwundenen Ort zuweist. Herr von Maerker, der „noch zum letzten Geschlecht der wohlerzogenen Mitteleuropäer gehörte, die nicht sitzen bleiben können, wenn eine Frau vor ihnen steht“, äußert sich zu dem desillusionierten ehemaligen Revolutionär Friedrich Kargan über das untergegangene Habsburgische Imperium: „Ich habe Jahr für Jahr mit eigenen Augen zusehn können, wie der Staat sich auflöst, die Menschen gleichgültiger werden. Aber auch gehässiger, ja gehäs- 21 Zur Edition vgl. Wolfgang Lengning, Nachwort, in: Joseph Roth, Der stumme Prophet, Reinbek 1968, 136-138. 22 Joseph Roth, Der stumme Prophet (Anm. 21), S. 132. Wolfgang Müller-Funk 58 siger […] Wir haben Witze gemacht, wir haben alle dazu gelacht […] ich habe mir selbst ein paar vorzuwerfen. Glauben Sie mir, daß Witze allein genügen, einen Staat zugrunde zu richten. Alle Völker haben gespottet. Und doch war zu meinen Zeiten, als noch der Mensch wichtiger war als seine Nationalität, die Möglichkeit vorhanden, aus der alten Monarchie eine Heimat aller zu machen. Sie hätte das kleinere Vorbild einer großen zukünftigen Welt sein können und zugleich die letzte Erinnerung an eine große Epoche Europas, in der Norden und Süden verbunden gewesen wären.“ 23 So bildet die untergegangene Österreichisch-Ungarische Monarchie in der Besichtigung des sozialistischen „Riesenstaates“ einen wenn auch verdeckten Hintergrund; darüber hinaus wird sie mehr und mehr - als unabgegoltene historische Möglichkeit - zu einer Gegenwelt zur proletarischen Revolution. In jedem Fall besteht zwischen Roths Reise in den Sowjetstaat und seiner Neuentdeckung des österreichischen Kaiserstaates ein innerer, kausaler Zusammenhang. Die Reisen in den Raum und die Reisen in die Zeit sind fortan aufeinander bezogen. Es ist aufschlussreich, dass Roth die politischen Dimensionen des neuen Sowjetreiches vornehmlich im Medium der Literatur, des Romans, thematisiert hat, nicht aber, was doch naheliegender wäre, im Format des Feuilletons. Denn sowohl Franz Tunda als auch Friedrich Kargan, die Protagonisten der beiden Romane, machen unmissverständlich klar, dass ihr Autor, der „rote Joseph“ mit dem historischen Experiment eines marxistischen Sozialismus gebrochen hat. Als Roth Russland bereiste, war es noch kein Imperium im Sinne moderner Imperientheorien, aber jene drei Merkmale, die Münkler erwähnt, sind über Roth hinaus gesprochen, bereits in dem „Riesenstaat“ angelegt: die einseitige Grenzüberschreitung, die asymmetrischen Verhältnisse zu den anderen Völkern und eine Form von politischer Größe, die indes nicht mit der ökonomischen Definition des Imperialismus identisch ist. So lässt sich die imperiale Beschaffenheit des Sowjetreiches gegen jene Imperialismus-Kritiken stellen, die es hervorgebracht hat und die zu seinen Gründungsmythen gehören. 23 Joseph Roth, (Anm. 21), S. 129. Peter Deutschmann Eine „Weltfrage“ und eine Weltreise Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg „[…] God is not an Austrian“ T.G. Masaryk zitiert Lord Byron 1 1. Mythisierte Mobilität Die Aktivitäten von Tomáš Garrigue Masaryk während des Ersten Weltkriegs sind irritierend mythogen: Der Historiker Jaroslav Opat, Charta-77 Unterzeichner und nach der Wende 1990 Neubegründer und Leiter des Masaryk-Instituts in Prag, charakterisiert die vier Jahre, in denen sich Masaryk außerhalb der Grenzen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie um die Organisation einer international aktiven Widerstandsbewegung bemühte und grundlegende Schritte für die Schaffung eines neuen tschechoslowakischen Staates unternahm, als Odyssee. 2 Noch pathetischer fällt der Vergleich aus, den der während der normalizace im katholischen Widerstand aktive Priester und Theologe Dušan Špiner 2005 zieht: Masaryk sei für die Tschechen, was Moses für die Juden war, als er diese aus Ägypten heraus- 1 Lord Byron schreibt 1820 aus Italien an Lord Murray: "[...] but some day or the other they [the Austrians] will pay for all. It may not be very soon because these unhappy Italians have no union, nor consistency among themselves, but I suppose Providence will get tired of them [the Austrians] at last & that God is not an Austrian." - George Gordon (Lord) Byron, Byron's letters and journals: the complete and unexpurgated text of all the letters available in manuscript and the full printed version of all others. Vol. 7: „Between two worlds“ (1820) London 1977, S. 239. - Masaryk greift diese Bemerkung für die Schlusspointe seines englisch geschriebenen Memorandums für den Staatssekretär der USA vom 31. August 1918 auf, in dem er die USA darauf hinweist, dass sie den tschechoslowakischen Unabhängigkeitskampf als konform mit den politischen Prinzipien von Präsident Wilson ansehen sollen, die Habsburgerherrschaft hingehen als degradierte mittelalterliche Dynastie, die sich gotteslästerlich transzendent begründet. - Die tschechische Übersetzung des Memorandums ist enthalten in Edvard Beneš, Světová válka a naše revoluce. Vzpomínky a úvahy z bojů za svobodu národa. Dokumenty, Praha 1928, S. 412-428, hier S. 428. 2 Jaroslav Opat, Průvodce životem a dílem T.G. Masaryka. Česká otázka včera a dnes, Praha 2003, S. 263 u. 298. Peter Deutschmann 60 geführt hatte. 3 Und Alain Soubigou, der Autor einer Masaryk-Biographie jüngeren Datums, räumt ein, dass Masaryk ein Messianismus eigen gewesen sei, andernfalls hätte er sich nicht 1914 auf eine Unternehmung eingelassen, deren Ausgang höchst ungewiss war. 4 Diese Unternehmung, die bald unter der Losung rozbít Rakousko [Österreich zerschlagen ] stehen sollte, war die Konsequenz aus Masaryks vergeblichen Bemühungen, den Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn von innen heraus zu einem Staat gleichberechtigter Nationen zu machen. Masaryks Entscheidung, sich gegen Österreich und für einen tschechoslowakischen Staat zu engagieren, erfolgte […] einfach aus dem Grund, daß Österreich nicht als der multinationale Staat überleben konnte, für welchen Masaryk sein ganzes Leben eingetreten war. Die Aufgabe, einen solchen gerechten Staat aufzubauen, der allen seinen Bürgern zur Heimat werden sollte, kam durch das Scheitern Österreichs dem tschechischen Volk zu. Auf einmal ging es nicht um einen Nationalstaat: es ging um einen guten, gerechten Staat, nur war es jetzt an den Tschechen, einen solchen Staat aufzubauen. 5 Der zu Beginn des Ersten Weltkriegs bereits 64-jährige Masaryk musste für diese Unternehmung eine lange Reise auf sich nehmen, die ihn aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie herausführte. Diese Reise war mehr als eine Bewegung in Raum und Zeit, weil sich während der Reise der Raum selbst - unter entschiedener Mitwirkung Masaryks - veränderte. Der Erste Weltkrieg mobilisierte nicht bloß Millionen von Soldaten, sein Ergebnis war die territoriale Neugestaltung Europas nach der Niederlage und dem Zerfall der großen Imperien. 2. Zur Eigentümlichkeit von Světová revoluce Im Unterschied zu den mythisierenden Vergleichen muten die autobiographischen Aufzeichnungen Masaryks, die dieser 1925 unter dem Titel Světová revoluce. Za války a ve válce veröffentlicht hat, weitgehend sachlich und bescheiden an: Masaryk erklärt, dass er einen „politischen Bericht“ (politická zpráva) von seiner „Tätigkeit im Auslande während der Weltrevolution in 3 Dušan Špiner, Porovnání Mojžíše s T. G. Masarykem s náboženské dimenze, in: T. G. Masaryk a Světová revoluce. Sborník příspěvků z IX. semináře Masarykova muzea v Hodoníně 16. listopadu 2004, Hodonín 2005, S. 78-80. 4 Vgl. Alain Soubigou, Tomáš Garrigue Masaryk, Praha, Litomyšl 2004, S. 219. 5 Erazim Kohák, Masaryk und die Monarchie: Versuch einer Demythisierung, in: Josef Novák (Hrsg.): On Masaryk. Texts in English and German, Amsterdam 1988, S. 363- 390, hier S. 388. Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 61 den Jahren 1914 bis 1918“ erstattet habe. 6 Rhetorisches Pathos ist freilich auch hier zu erkennen, denn Masaryk spricht ja von der „Weltrevolution“, womit er jedoch nicht den bolschewistischen Umsturz in Russland meint, sondern den Untergang der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, des Deutschen Kaiserreichs und der zaristischen Monarchie im Zuge des Ersten Weltkriegs. Erzählt wird aber autodiegetisch ausschließlich von eigenen Unternehmungen während der Kriegszeit, woraus man schließen kann, dass Masaryk sein eigenes Handeln als revolutionär auffasst. Wenngleich er sich niemals selbst explizit als Agenten der Weltrevolution bezeichnet, legt der Bericht doch nahe, dass die erzählten Aktivitäten für die Neugestaltung Europas nach dem Ersten Weltkrieg nicht unwesentlich waren. Und auch eine andere, vom Autor nicht beabsichtigte Lesart von Světová revoluce ist möglich: Der Sturz der Monarchie steht mit den Reisen in Zusammenhang, die Masaryk und seine Mitstreiter bzw. auch die tschechoslowakische Legion - an die 100.000 Mann - während der Jahre 1914 bis 1920 unternommen haben und die tatsächlich Erdumrundungen waren. 7 Masaryk überschreitet den Rahmen der Gattung Bericht dadurch, dass er sich keineswegs auf das Nachzeichnen seiner Reiseroute beschränkt und auch nicht nur die Begegnungen und Besprechungen mit Gesinnungsgenos- 6 „Podávám zprávu o své zahraniční činnosti za světové revoluce v letech 1914 až 1918“ (Tomáš Garrigue Masaryk, Světová revoluce. Za války a ve válce 1914-1918, Praha 2005, S. 9 u. 158. ; in der deutschen Übersetzung Tomáš Garrigue Masaryk, Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914-1918, Berlin 1925 entsprechen den Passagen die Seitenzahlen XVII und 211). In weiterer Folge wird auf die Pagina in dieser deutschen Übersetzung nur kurz mit „dt.“ und der jeweiligen Seitenzahl verwiesen. Zusätzlich wird die Absatznummer angezeigt, damit auch andere Ausgaben als die von mir verwendeten zur Hand genommen werden können. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Formulierung aus dem Vorwort bzw. aus § 61. 7 Die tschechoslowakische Legion, die sich zum militärischen Kampf gegen die Mittelmächte an der Seite der oder unter dem Kommando der Heere der Entente formierte, setzte sich in Russland, Frankreich und Italien aus Kriegsgefangenen, Überläufern, aber auch Freiwilligen zusammen. Die zahlenmäßig stärkste Armee - über 90.000 Mann formierte sich in Russland. Als sich nach den Revolutionen 1917 die Ostfront aufgrund fehlender Kampfesmoral innerhalb der russischen Armee und aufgrund von Friedensangeboten aufweichte, sollte diese große Einheit an die Westfront überstellt werden. Dies gelang aber nur mittels eines langen Umwegs durch das vom Bürgerkrieg gezeichnete Russland: die sogenannte Anabasis (anabaze) führte über Sibirien und auf verschiedenen Schiffsrouten - eine durch den Suezkanal, die andere über Amerika - zurück nach Europa. Die gut lesbare Darstellung von Gerburg Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion in Russland. Ihre Geschichte und Bedeutung bei der Entstehung der 1. Tschechoslowakischen Republik, Wiesbaden 1970 kann für den deutschsprachigen Raum immer noch als Referenzwerk zu dieser Thematik angesehen werden. Peter Deutschmann 62 sen, Diplomaten und Politikern notiert, sondern weit ausgreifende geschichtsphilosophische Erklärungen in seine Erzählung einfließen lässt. In einer kritischen Analyse hat Jan Patočka Masaryks Schrift(en) als Versuch einer tschechischen Nationalphilosophie bezeichnet, der sich von der politischen Philosophie des obrození schon durch die unikale Besonderheit abhebt, dass Masaryk Politik und Ideologie nicht bloß theoretisch dachte, sondern geschichtsmächtig umsetzte, was zuvor noch keinem Philosophen der Menschheitsgeschichte gelungen sei. 8 Der vorliegende Beitrag stellt den Versuch dar, die Praxis des während der Kriegsjahre überaus mobilen Philosophen und Politikers darzustellen, wobei der Komplexität von Masaryks „Berichterstattung“ Rechnung getragen werden soll. Diese Komplexität rührt nicht zuletzt auch daher, dass sich Masaryk mit der Annahme des Präsidentenamts im neu gegründeten Staat zur Gänze seinen staatsmännischen Aufgaben widmen musste und nicht mehr in seinen verschiedenen Funktionen als Philosoph, Soziologe, Universitätsprofessor oder Politiker allein auftreten konnte. Während er in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg philosophische und ideologische Überlegungen als Monographien publizierte, in Zeitungen und Zeitschriften politische Kommentare verfasste oder als Abgeordneter im Wiener Reichsrat vertreten war, so waren die Kriegsjahre dadurch gekennzeichnet, dass Ideologie und politische Praxis eine noch größere Einheit als bisher bildeten. 9 Der als Světová revoluce veröffentlichte Bericht kann demnach als Amalgam der Genres Reisebericht, Essay, Tagebuch und politischer Kommentar gelten, das sich aufgrund seines hybriden Charakters von den anderen Texten unterscheidet, die Masaryk in großen Zahl während der Kriegsjahre verfasst hat - Ansprachen, Vorträge, Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, diplomatische Berichte, Memoranda, Analysen etc. - aus denen aber weniger deutlich die zum Teil durchaus abenteuerlichen Zeit- und Lebensumstände ihres Verfassers ablesbar sind als aus Světová revoluce. In dieser autobiographischen Rückschau verbindet Masaryk die Erzählung von seinen Unternehmungen während des Krieges mit ideologischen und philosophischen Überlegungen, die zum einen die politischen Ereignisse, ihre Vorgeschichte und Interpretation, zum anderen spekulative kulturphilosophische und literarische Reflexionen zum Gegenstand haben. Schon 1925, im Erscheinungsjahr von Světová revoluce, hat F. X. Šalda in einer umfangreichen Rezension kritisch angemerkt, dass Masaryk zwar wiederholt die theoretische Fundierung seines praktischen Handelns hervorhebt, dabei aber Zusammenhänge herstellt, die nicht immer 8 Vgl. Jan Patočka, Pokus o českou národní filosofii a jeho nezdar, in ders.: Češi, Praha 1977, S. 341-365, hier S. 342 u. 343. 9 Alain Soubigou wählte für den Abschnitt über Masaryk in Ersten Weltkrieg den Titel „Filozof v akci“ (Soubigou, Masaryk, Anm. 4, S. 147). Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 63 überzeugend sind. 10 Aus diesem Grund soll in diesem Beitrag zuerst eine gleichsam faktographische Nachzeichnung der „Mobilitätspraxis“ Masaryks erfolgen; erst im zweiten Schritt stelle ich dann einige ideologische Positionen in Světová revoluce vor, die Masaryk selbst als Beweggründe für seine Handlungen ansieht. 3. Der Verlauf der Aktivitäten 1914-1918 Masaryk, der lange für eine Umgestaltung Österreich-Ungarns im Sinne eines konstitutionell verfassten Imperiums mit einer ausgeglichenen Nationalitätenpolitik eingetreten war, 11 wurde in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer mehr zum Skeptiker, was die Reformierbarkeit der Donaumonarchie anging. Erst die Kriegserklärung Österreichs an Serbien dürfte aber den Ausschlag dafür gegeben haben, dass sich Masaryk zum aktiven Kampf gegen die Monarchie entschloss und rasch entsprechende Schritte unternahm, die aus der Gegnerschaft eine international agierende Unternehmung machten, in deren Organisation jedoch nur eine relativ geringe Anzahl von Personen involviert war. 12 Im Juli 1914, nach dem Attentat von Sarajevo, war Masaryk mit seiner Familie im sächsischen Bad Schandau auf Urlaub, aufgrund der allgemeinen Mobilmachung verzögerte sich die Rückreise nach Prag. In Böhmen, wo nach Meinung Masaryks politische Wüste war, 13 traf er sich mit tschechischen Politikern zu Gesprächen, in denen er sondierte, wieviel Rückhalt ein von ihm betriebener propagandistischer Kampf gegen Österreich-Ungarn haben würde. Die Stimmung in Böhmen und Mähren war keineswegs günstig für ein solches Vorhaben; neben den österreichtreuen Parteien gab es eine starke russophile Stimmung, zumal man sich vom Zaren Unterstützung erwartete. Masaryk, der noch 1913 in deutscher Sprache sein Opus magnum Russland und Europa herausgebracht hatte, war gegenüber dieser russophilen Tendenz sehr skeptisch. Bei den Sondierungsgesprächen musste er bereits darauf bedacht sein, nicht allzu viele Informationen weiter zu geben, damit allfällige polizeiliche Verhöre seiner Gesprächspartner nicht ihn selbst bzw. seine Familie gefährdeten. Wirkliche Unterstützung für einen entschlossenen Kampf bekam Masaryk von Josef Scheiner, dem Leiter des So- 10 Vgl. František Xaver Šalda, Na okraj Světové revoluce, in ders.: Soubor díla F.X. Šaldy. Kritické projevy 13. 1925-1928, Praha 1963, S. 62-98, hier S. 62f. 11 Vgl. Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1997, S. 408. 12 Soubigou, Masaryk (Anm. 4), S. 161f. 13 Vgl. Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), §1, S. 15, dt. S. 3. Peter Deutschmann 64 kol, und vor allem aus dem Kreis seiner engeren Vertrauten, mit denen er die tschechische „Maffia“ gründete. 14 Entsprechend vorsichtig war man auch mit Boten und der Informationsweitergabe an Gesinnungsgenossen in Staaten der Entente; es sollte möglichst wenig schriftlich festgehalten werden, um wenig belastendes Material zu produzieren. 15 Im September 1914 fuhr Masaryk für zwei Wochen nach Holland, im Oktober ein weiteres Mal, bei beiden Reisen machte er in deutschen Städten Halt, um die Stimmung im Land einzufangen. Bei der zweiten Hollandreise besprach er sich mit dem englischen Historiker Robert W. Seton-Watson, der im Auftrag Masaryks ein Memorandum verfasste, in welchem erstmals davon die Rede war, dass die Tschechen zusammen mit den Slowaken einen unabhängigen Staat schaffen wollen. 16 In Světová revoluce bemerkt Masaryk, dass ihn das Vorbild von Jan Amos Komenský (Comenius), der 1670 nach langem Exil in Amsterdam starb, während der ganzen Kriegsjahre bestärkt habe. 17 Daher heißt auch das erste Kapitel der Aufzeichnungen in Anlehnung an die von Komenský im polnischen Exil verfasste Schrift „Kšaft Komenského“ (Das Vermächtnis des Comenius) - in dieser verhieß der letzte Bischof der Brüdergemeinde, dass dereinst wieder das tschechische Volk selbst werde regieren können. Das entsprechende Komenský-Zitat fügt Masaryk genau an der Stelle ein, wo er von den Überlegungen hinsichtlich der Chancen berichtet, durch entschlossenes Handeln die folgenschwere Niederlage aus der Schlacht von Bílá hora (1620) rückgängig zu machen und die jahrhundertelange Prägung durch das internalisierte österreichische Element zu überwinden. 18 Im November 1914 reiste Masaryk auch nach Wien, wo Bekannte seine Einschätzung teilten, dass Österreich im Fall eines Sieges im Krieg den Nationa- 14 Offensichtlich hatte der Name Mafia bzw. Maffia damals noch keine so negative Konnotation wie heutzutage. Die Wahl des Namens war vom antistaatlichen und konspirativen Charakter der italienischen Mafia motiviert - zumindest geht dies aus der von mir konsultierten Literatur hervor (vgl. Edvard Beneš, Der Aufstand der Nationen. Der Weltkrieg und die tschechoslowakische Revolution Berlin 1928, S. 24, Soubigou, Masaryk, Anm. 4, S. 168). 15 Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), § 2, S. 16, dt. S. 5. 16 Vgl. Tomáš Garrigue Masaryk, Válka a revoluce. Články memoranda přednášky rozhovory. 1914-1916, Praha 2005, S. 38. 17 Vgl. Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), § 2, S. 18, dt. S. 8. 18 „Odčiníme Bílou horu, a nadobro? - Překonáme v sobě Rakousko a jeho staletou výchovu? ‚Věřím i já Bohu, že po přejití vichřice hněvu vláda věci Tvých k Tobě se zase navratí, ó lide český! ‘“ - „Werden wir den Weißen Berg gutmachen, ein für allemal? Überwinden wir in uns Österreich und seine jahrhundertelange Erziehung? Auch ich glaube Gott, daß, wenn die Stürme des Zornes sich verzogen haben, die Herrschaft Deiner Dinge wieder an Dich zurückgelangt, o tschechisches Volk! “ - Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), § 10, S. 35, dt. S. 34. Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 65 litäten im Reich wohl kaum mehr politische Rechte einräumen werde. 19 Zurück in Prag verkündete Masaryk seinen Vertrauten, ins Ausland zu gehen, um von dort aus gegen Österreich-Ungarn und seine Verbündeten aktiv zu werden. In den geheimen Unterredungen der Maffia wurden folgende Aufgaben festgelegt: 1. die Erlangung des Einverständnisses der Tschechen und Slowaken im Ausland; 2. die Propagandaarbeit bei den Alliierten; 3. die Akquisition von Geldmitteln für den Unabhängigkeitskampf; 4. die Schaffung einer Armee, um den Einsatz für die tschechische bzw. slowakische Unabhängigkeit überzeugender erscheinen zu lassen. 20 Um bei den ausländischen Aktivitäten nicht als Einzelkämpfer ohne eigentlichen Rückhalt in der Heimat zu gelten, musste Masaryk in geheimen Unterredungen mit Politikern das Einverständnis holen, das ihm nicht alle Parteien gaben - so etwa nicht die Alttschechen, die Katholische Volkspartei und auch nicht die Sozialdemokratische Partei, die gleichfalls gegenüber der österreichischen Regierung loyal blieb. Hingegen bestärkten Nachrichten davon, dass Exiltschechen in Paris, Großbritannien und den USA gegen Österreich-Ungarn demonstrierten und Kriegsgefangene und Überläufer in Russland und Frankreich mit der Bereitschaft, gegen die Mittelmächte zu kämpfen, neue Divisionen bildeten, Masaryk in seinem konspirativen Vorhaben. Im Dezember 1914, eine Woche vor Weihnachten, reiste Masaryk in Begleitung seiner damals 23 Jahre zählenden Tochter Olga über Wien nach Italien, das damals noch nicht in den Krieg eingetreten war. Nach Zwischenstopps in Venedig und Florenz erreichte er am 22. Dezember Rom, wo er sich mit Vertretern der südslavischen Nationen und Russlands traf. Bereits am 11. Januar 1915 fuhr Masaryk über Siena, Pisa, Sestri Levante und Genua nach Genf, der Heimat Rousseaus, wie er in der Kapitelüberschrift vermerkt. In der Schweiz erhielt Masaryk die Nachricht vom plötzlichen Tod seines Sohnes Herbert, der in Prag an Flecktyphus gestorben war, mit dem er sich als Pfleger in einem Lazarett infiziert hatte. Von Genf aus baute Masaryk seine internationalen Kontakte aus, er leitete den Aufbau der vom Exilanten Lev Sychrava und von Ernest Denis herausgegebenen Zeitschrift La nation tchèque (1915-1919) ein und kommunizierte chiffriert mit Gesinnungsgenossen in Prag, von denen er erfuhr, dass eine Rückkehr in die Monarchie lebensgefährlich sei. 21 Masaryk reiste im April 1915 nach Paris und London, 19 Beneš beschreibt in seinen Erinnerungen auch die abenteuerliche Spionagearbeit eines Informanten namens Kovanda, der im Dienst des Ministers Heinold stand und heimlich Informationen kopierte und weitergab (vgl. Beneš, Aufstand der Nationen, Anm. 14, S. 13f, Stanislav Polák, T. G. Masaryk. Za ideálem a pravdou. 5. 1915-1918, Praha 2009, S. 31). 20 Vgl. Soubigou, Masaryk (Anm. 4), S. 169. 21 Vgl. Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), § 15, S. 48, dt. S. 49. Peter Deutschmann 66 wo er sich mit den Historikern Ernest Denis und Robert Seton-Watson sowie mit dem Times-Korrespondenten Henry Wickham Steed traf, die als Kenner der Verhältnisse in Österreich-Ungarn Verständnis für Masaryks Position hatten. In einem für das britische Außenministerium verfassten zweiten Memorandum mit dem Titel „Independent Bohemia“ wies Masaryk, der sich bewusst war, wie wenig die Alliierten von den nationalen Verhältnissen in der Donaumonarchie und im Russischen Imperium wussten, auf die historischen Grenzen Böhmens und den Verfall des Habsburgerreichs hin. Dieses müsse ebenso wie das deutsche Kaiserreich besiegt werden, um einer neuen europäischen Ordnung nach dem Nationalitätenprinzip Platz zu machen. Bei Reisen nach Lyon und nach Südfrankreich erkundete Masaryk die Stimmung in der französischen Bevölkerung; er reiste auch zur Kontaktpflege nach Mailand und Sestri Levante. Anfang Juli 1915 gedachte Masaryk mit Vorträgen in Zürich, Schaffhausen und Genf der Hinrichtung von Jan Hus am Konzil zu Konstanz, während in Böhmen solche Gedenkfeiern wegen ihrer politischen Implikationen streng untersagt waren. Diese anläßlich des Hus-Gedenkens verfassten Texte wurden als Propagandatexte verbreitet; Masaryk unterstreicht in diesen, dass der Widerstand gegen Österreich im Geist des Hussitismus erfolge. Im September 1915 verlegte Edvard Beneš seine Aktivitäten endgültig ins Ausland; weil aber in der neutralen Schweiz keine weitere Agitation mehr gegen die Mittelmächte möglich war, wechselten Masaryk und Beneš nach Paris bzw. London, in die Zentren der beiden stärksten Staaten der Entente. Im Vergleich zu anderen slavischen Nationen ohne politische Selbstständigkeit (v.a. den Serben, Kroaten, Polen) war die internationale Sichtbarkeit der tschechischen bzw. slowakischen antiösterreichischen Politik noch nicht ausreichend gegeben. Aus diesem Grund veröffentlichte man am 14. November 1915 in Paris die Proklamation eines „Tschechischen Auslandskomitees“, die auch von Vertretern der Auslandstschechen in den USA, Frankreich, Russland und England unterzeichnet worden war. In der Proklamation wird Österreich-Ungarn die Schuld am Ausbruch des Krieges zugeschrieben, der Donaumonarchie die Unterdrückung der kleinen Nationalitäten vorgeworfen und offiziell verkündet, dass man sich um einen selbstständigen tschechoslowakischen Staat außerhalb der Monarchie bemühen werde. Diese Proklamation gilt der Geschichtsschreibung als Kriegserklärung an Österreich-Ungarn. 22 22 Vgl. Soubigou, Masaryk (Anm. 4), S. 181. Die tschechische Fassung dieser auf französisch, russisch und englisch veröffentlichten Proklamation ist abgedruckt in Masaryk, Válka a revoluce (Anm. 16), S. 137-140. Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 67 In London, wo sich Masaryk im September 1915 ansässig gemacht hatte, um die politischen Kontakte zur britischen Regierung auszubauen und um besser mit den USA kommunizieren zu können, wurde für ihn ein Lehrstuhl für Slavistik am King’s College geschaffen. Masaryks Antrittsvorlesung war mit „The Problem of Small Nations in the European Crisis“ betitelt. Vor einem Publikum, in dem auch hochrangige britische Politiker saßen, sprach Masaryk von den kleinen Völkern zwischen den Deutschen und den Russen, die ihr Recht auf politische und kulturelle Selbstbestimmung hätten, wenn Österreich-Ungarn zerschlagen werde. 23 Einen entsprechenden Plan unterbreitete Masaryk im Februar 1916 auch dem französischen Premierminister Aristide Briand in Paris, was ihm durch Vorarbeit von Edvard Beneš, der aufgrund seines langjährigen Studienaufenthalts in Frankreich gute Kontakte besaß, und Milan Rastislav Štefaník, der bereits seit 1911 französischer Staatsbürger war und sich in der französischen Armee als Fliegeroffizier auszeichnete, möglich gemacht wurde. In London musste Masaryk wegen Vergiftungserscheinungen medizinisch behandelt werden. Nachdem er bereits einmal in Genf Vergiftungssymptome gehabt hatte, verdächtigte er die Österreichisch- Ungarische Geheimpolizei dieser Anschläge. Jedenfalls übte er sich regelmäßig im Schießen in der Meinung, damit Verfolger einschüchtern zu können. Im Februar 1916 wurde in Paris auch der Beschluss über die strategische Einbindung der sich seit 1914 spontan formierenden tschechischen bzw. tschechoslowakischen Legionen gefasst; diese sollten als Teil der französischen Armee militärisch in die Auseinandersetzungen eingreifen. Aus dem tschechischen Auslandskomitee formierte sich im Verlauf des Jahres 1916 ein Nationalrat der tschechischen Länder (Conseil National des Pays Tchèques), als dessen Präsident Masaryk fungierte; Edvard Beneš war der Generalsekretär. Als Stellvertreter Masaryks traten der Slowake Milan Štefaník 24 und Josef Dürich auf, der wegen seiner Sympathien für das zaristische Russland bald Anlass für ideologische Misshelligkeiten gab. 25 23 Vgl. Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), § 28, S. 75, dt. S. 89. 24 Der während der Kriegsjahre noch nicht einmal vierzigjährige Štefaník war international hochaktiv in der Propagierung der Anliegen der Tschechen und Slowaken: Wie ein Pfadfinder soll er sich vorgenommen haben, jeden Tag wenigsten einen Verbündeten zu gewinnen. Eine Druckseite in Masaryks Erinnerungen lässt die große Beweglichkeit Štefaníks deutlich werden, die gleichsam das slowakische Pendant zur Reiseaktivität Masaryks ist (vgl. Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 32, S. 82; dt. S. 99f.). Zu einer genaueren Biographie des am 4. Mai 1919 in der Nähe von Bratislava abgestürzten Fliegeroffiziers vgl. Ján Juríček, Milan Rastislav Štefánik: vedec, politik, diplomat, letec, generál, minister, človek, Bratislava 2006. 25 Josef Dürich gründete sezessionistisch in Russland einen eigenen Nationalrat, der den ersten zur Übergangsregierung und Masaryk zum Diktator erklärte; im Zuge der Revolutionen und des Bürgerkriegs löste sich dieser russophile Nationalrat aber auf. Peter Deutschmann 68 Einen ersten sichtbaren Erfolg gab es im Januar 1917 zu verzeichnen, als die Alliierten gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Wilson erklärten, dass sie als Friedensbedingung die Befreiung der Italiener, Slaven, Rumänen und Tschechoslowaken von der Fremdherrschaft stellen; damit wurden von den Alliierten die Ziele des tschechischen Nationalrats anerkannt. Die explizite Nennung der Tschechoslowaken neben anderen slavischen Völkern zeigte an, dass die intensive zweijährige Überzeugungsarbeit der Gruppe um Masaryk erfolgreich war. 26 Nach der Februarrevolution und der Abdankung von Nikolaus II. reiste Masaryk nach Russland, um mit der neuen Regierung Kontakt aufzunehmen. Da Masaryk dem Zarismus als „theokratischer“ Herrschaft sehr ablehnend gegenüberstand, aber Russland als Kriegsgegner der Mittelmächte benötigt wurde, sah er unter einer neuen Regierung bessere Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Außerdem wollte er die Aktivitäten der in Russland aus seiner Sicht zu eigenmächtig handelnden Vertreter der Auslandstschechen mit der Politik des tschechischen Nationalrats koordinieren. Vorrangig dabei war die Mobilisierung der tschechischen Kriegsgefangenen, die nach Westeuropa gebracht werden sollten, um mit den französischen Truppen zu kämpfen. „Bez bojujícího vojska naš nárok na osvobození zůstane málo povšimnut; celý svět bojoval, tu jsem se nemohli spokojit s historickými a přirozenoprávními traktákty.“ 27 Die Reiseroute führte Masaryk, der nun nicht mehr von seiner Tochter begleitet wurde, weil diese im Londoner Sekretariat des Nationalrats verblieb, von Aberdeen mit dem Schiff nach Bergen; von dort aus ging es auf dem Landweg nach Oslo, Stockholm und ebenso per Eisenbahn weiter nach Petrograd (St. Petersburg), wo er - gleich wie in Italien, Frankreich oder Großbritannien - den Kontakt zu Regierungsvertretern und hochgestellten Beamten suchte. Masaryk pendelte zwischen den Städten Petrograd, Moskau und Kiev, um die zentrale Idee seiner Aktivitäten zu kommunizieren: „rozbít Rakousko“ [Österreich zerschlagen]. 28 Die aus Kriegsgefangenen und Überläufern gebildete tschechisch-slowakische Legion in Russland - immerhin ca. 90.000 Mann - war nach der Oktoberrevolution und der bolschewistischen Antikriegspolitik in einer schwierigen Situation: ihre Versorgung war nicht gesichert und unter den russischen Streitkräften war die Kampfmoral nach drei Jahren Krieg keineswegs 26 Allerdings waren die Vertreter der im Ausland befindlichen Polen und Südslaven - mit diesen haben sich Masaryk und Štefaník immer wieder strategisch besprochen - von diesem Umstand, der ihnen ungerechtfertigt vorkam, irritiert. 27 „Ohne kämpfende Armee bliebe unser Anspruch auf Befreiung wenig beachtet; die ganze Welt kämpfte, da konnten wir uns nicht mit historischen und naturrechtlichen Traktaten begnügen“ (Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 20, S. 57, dt. S. 63). 28 Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), § 43, S. 110, dt. S.138. Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 69 mehr hoch. Die in Russland und der Ukraine schlecht versorgte Legion sollte nach Frankreich überstellt werden, was aufgrund des Frontverlaufs und der Stellungen der Truppen jedoch schwierig war. Mit einer Reise nach Rumänien überzeugte sich Masaryk davon, dass ein Kampf der Legion in diesem Gebiet wenig perspektivenreich war und dass die Legion besser an der Westfront eingesetzt werden sollte. Im März 1918, nach knapp einem Jahr in Russland, reiste Masaryk von Moskau über Saratov und Samara zur Transsibirischen Eisenbahnlinie, die ihn nach Vladivostok brachte. Dieser sibirische Umweg sollte das Eingreifen der vLegion von Frankreich aus ermöglichen. 29 Von Vladivostok aus konnte Masaryk nicht direkt mit dem Schiff in die USA fahren, sondern er musste mit der Eisenbahn über die Mandschurei nach Korea reisen, um von der Hafenstadt Busan nach Japan überzusetzen. Am 8. April 1918 war Masaryk in Tokio, „in Europa“, wie er schreibt, weil er wieder Verbindungen mit den diplomatischen Vertretern der Bündnispartner aufnehmen konnte. Für den amerikanischen Präsidenten Wilson verfasste er in Japan ein Memorandum über die Verhältnisse in Russland nach der Oktoberrevolution. Am 20. April startete Masaryk an Bord des Dampfschiffes „Empress of Asia“ in Yokohama, um über den Pazifischen Ozean nach Vancouver zu fahren. Die Reise von Moskau bis Vancouver dauerte ungefähr acht Wochen; Masaryk schrieb auf ihr seine in Russland begonnene programmatische Abhandlung Nová Evropa zu Ende, in der er die territoriale Neuordnung Europas nach dem Prinzip der Nationalität vorschlägt. 30 Am 30. April reiste er in Begleitung von Karel Pergler, einem Mitarbeiter, der in den USA für die tschechoslowakische Angelegenheit eintrat, per Eisenbahn von Vancouver über Saint-Paul in Minnesota nach Chicago, wo er unter großem Empfang mit tschechischen und slowakischen Immigranten zusammentraf. Immerhin war laut Masaryk Chicago nach Prag die zweitgrößte tschechische Stadt; maßgeblich finanzielle Mittel für den Unabhängigkeitskampf stammten von den tschechischen und slowakischen Emigranten in den Vereinigten Staaten. Während des Aufenthalts in den USA reist Masaryk in viele Städte, in denen eine größere Zahl von Landsleuten ansässig war, so etwa nach New York, Boston, Baltimore, Cleveland, Pittsburgh und Washington. Diese Zusammentreffen waren in der Regel 29 Soubigou erörtert ausführlich die Möglichkeit, dass Masaryk knapp vor seiner Abreise aus Moskau den berüchtigten sozialrevolutionären Terroristen Boris Savinkov beauftragt haben könnte, einen Anschlag auf Lenin zu verüben. Immerhin gibt es eine schriftliche Notiz Masaryks über ein Gespräch mit Savinkov, in dieser ist auch von einer bedeutenden Summe von 200.000 Rubeln die Rede, die Savinkov erhalten haben soll (vgl. Soubigou, Masaryk, Anm. 4, S. 189-197). 30 Tomáš Garrigue Masaryk, Nová Evropa. Stanovisko slovanské, Brno 1994 (dt. Tomáš Garrigue Masaryk, Das neue Europa. Der slavische Standpunkt, Berlin 1991). Peter Deutschmann 70 öffentliche nationalpolitische Kundgebungen, wenngleich es freilich auch unter den Auswanderern Skepsis hinsichtlich einer nationalen Unabhängigkeit und - vornehmlich in katholischen Kreisen - sogar austrophile Stimmungen gab. Mit Umzügen in tschechischen und slowakischen Trachten und mit Fahnen, 31 die von den Migrantenvereinen organisiert wurden, sollten die amerikanische Bevölkerung und in weiterer Folge auch politische Entscheidungsträger auf das Anliegen der Tschechen und Slowaken aufmerksam gemacht werden: Der 1916 in seinem Amt bestätigte Präsident Woodrow Wilson wollte zum einen lange eine neutrale Position der USA beibehalten, zum anderen sah er die von Masaryk und dem tschechoslowakischen Nationalrat angestrebte Zerschlagung Österreich-Ungarns zuerst keineswegs als Kriegsziel an. Im Juni 1918 erklärte der für ausländische Angelegenheiten zuständige Staatssekretär Lansing, dass die USA die Freiheitskämpfe der slawischen Völker unterstützten. Eine explizite Anerkennung des tschechoslowakischen Nationalrats als kriegsführende Partei bzw. als Vertretung der beiden Nationen blieb aber immer noch aus. 32 Eine Änderung des amerikanischen Standpunkts wurde - zumindest ergibt sich dieser Eindruck aus den Ausführungen Soubigous 33 - durch gezieltes Lobbying von Personen erreicht, die sich mit der tschechoslowakischen Sache identifizierten und die Zugang zu amerikanischen Regierungskreisen hatten. Am 30. Mai 1918 34 unterzeichneten Vertreter der amerikanischen Tschechen und Slowaken eine Übereinkunft darüber, dass den Slowaken in einem neugeschaffenen Staat ein eigenes Parlament sowie eine eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit eingeräumt werden solle. 35 Als Reaktion auf das Friedensangebot von Kaiser Karl I., in dem immerhin eine Föderalisierung der Monarchie eingeräumt worden war, beeilte sich Masaryk, dieses Angebot zu diskreditieren, um ein weitergehendes Ziel zu erreichen. Nachdem er erklärte, dass der tschechoslowakische Nationalrat die Übergangsregierung bilde, proklamierte Masaryk am 18. Oktober 1918 31 Masaryk merkt dazu an, er habe selbst zuerst Vorbehalte gegenüber solchen Propagandamaßnahmen gehabt, mit der Zeit aber eingesehen, dass diese ähnlich wichtig sind wie Artikel in großen Zeitungen oder Ansprachen in Parlamenten (Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 64, S. 173, dt. S. 321). 32 Dies erfolgte erst am 3. September 1918, nachdem sowohl die französische wie auch die britische Regierung die Anerkennung ausgesprochen hatten (vgl. Polák, Za ideálem Bd 5, Anm. 19, S. 285f. u. 297f.). 33 Vgl. Soubigou, Masaryk (Anm. 4), S. 203-212. 34 Masaryk ist in seiner Datierung (30. Juni 1918, vgl. Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 64, S. 174, dt. S. 233.) wohl falsch gelegen. 35 Daneben gab es allerdings auch zahlreiche andere Positionen unter den Slowaken und Tschechen, etwa russophile Stimmungen oder die Befürwortung einer Autonomie innerhalb Ungarns. Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 71 die Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken von Österreich-Ungarn, zugleich antwortete Wilson ablehnend auf das Friedensangebot Österreichs mit dem Hinweis auf das Recht der Selbstbestimmung aller Völker. Nach der Kapitulation der Mittelmächte Ende Oktober 1918, der Ausrufung eines tschechoslowakischen Staates durch die tschechische Nationalversammlung am 28. Oktober 1918 und am 30. Oktober durch den Slowakischen Nationalrat in Turz-Sankt Martin / (Turčianský Sv.) Martin rief die Verfassungsgebende Versammlung am 14. November 1918 die freie Republik Tschechoslowakei aus und wählte Tomáš G. Masaryk in absentia zu deren Präsidenten. Masaryk weilte damals noch in den USA; erst am 20. November 1918 fuhr Masaryk unter militärischem Geleit, wie es das Zeremoniell für fremde Staatsoberhäupter vorsah, aus New York ab. In London und eine Woche darauf in Paris wurde er als Staatspräsident der Tschechoslowakei empfangen, und er traf mit den höchsten politischen Vertretern, die er schon als Aktivist im Unabhängigkeitskampf kontaktiert hatte, auf Augenhöhe zusammen. Von Paris aus besuchte Masaryk auch Darney, den Stützpunkt der tschechoslowakischen Legion in Frankreich. Die Heimreise führte Masaryk über Modena und Padua, wo ihn der italienische König Vittore Emanuele empfing. In Begleitung einiger Legionäre fuhr Masaryk mit der Eisenbahn über Brixen, dem Verbannungsort von Karel Havlíček-Borovský in den neugegründeten tschechoslowakischen Staat. 36 Nach einer Übernachtung in Budweis/ České Budějovice ging die Fahrt nach Prag weiter, wo Masaryk am 21. Dezember 1918, also fast genau nach vier Jahren Abwesenheit, als Gründer und Präsident des neu geschaffenen tschechoslowakischen Staates triumphal empfangen wurde. 4. Mobilität, Geschichte und Geographie In Světová revoluce vermerkt Masaryk ein verkehrstechnisches Detail, das von seinen Biographen übergangen wird: „Při jízdě vítající Prahou jsem použil demokratického automobilu, nechtěje jet v starém pozlaceném voze, charakterizujícím dobu minulou.“ 37 36 Über den Grenzübertritt schreibt Masaryk mit einer das Agens verhüllenden Konstruktion „[…] i polibky dostala ta naše česká země.“ („[…] und diese unsere böhmische Erde empfing auch Küsse.“ Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 99, S. 301, dt. S. 384). 37 „Bei der Fahrt durch das mich begrüßende Prag benützte ich ein demokratisches Automobil, denn ich wollte nicht in einem alten vergoldeten Wagen fahren, der die vergangene Zeit kennzeichnet.“ (Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 99, S. 302, dt. S. 384). Peter Deutschmann 72 Nun ist zwar nicht ganz klar, ob mit dem „vergoldeten Wagen“ (pozlacený vůz) ein Waggon der k.u.k. Eisenbahnen, ein für Festlichkeiten ausgerichteter Wagen der Prager Straßenbahnen oder eine Kutsche gemeint ist. Im Zitat ist aber dennoch der für Masaryks Denken charakteristische geschichtsphilosophische Binarismus zu erkennen, der seine Schriften - insbesondere die während des Ersten Weltkriegs entstandenen - durchzieht. Masaryk konnotiert nicht nur die Verkehrsmittel mit den politischen Herrschaftsformen Monarchie oder Demokratie, er interpretiert auch viele andere Erscheinungen der Kultur in Geschichte und Gegenwart nach dem Schema von alt oder neu, progressiv oder konservativ, moralisch hochstehend oder dekadent, gut oder böse. Die Zuschreibung der jeweiligen „Werte“ aus den Oppositionspaaren auf die beobachteten Phänomene erfolgt dabei im Wesentlichen nach einem Freund-Feind-Schema, das in der Regel kaum Nuancierungen aufweist. Dieser Schematismus steht wohl auch mit Masaryks Engagement in den Kriegsjahren in Zusammenhang, das starke Merkmale des Partisanenkampfes hat. 38 Masaryk und seine Mitstreiter der Maffia verstanden sich als Verteidiger ihrer Heimat gegenüber einer Herrschaft, die ihrerseits diesen Feind im eigenen Land nicht als Kriegsgegner, sondern als Verbrecher bzw. Hochverräter ansah: Ein ursprünglich geplanter Kurzbesuch der Familie in Prag musste 1915 unterbleiben, weil zu erwarten war, dass an Masaryk die Todesstrafe wegen Hochverrats vollzogen werden würde. 39 Die verschwörerische Aktivität einer kleinen Gruppe, die 1914 noch überaus riskant erschien, war letztendlich erfolgreich, 40 weil maßgebliche Bündnispartner früher oder später die Legitimität der vertretenen Anliegen 38 Die von Schmitt ausgewiesenen Merkmale des Partisanenkampfs - Irregularität, gesteigerte Mobilität, Intensität des politischen Engagements, tellurischer Charakter - passen allesamt auf Masaryk. Masaryk kämpfte allerdings abseits seiner Heimat, weil er die Anerkennung der Alliierten als „interessierte Dritte“ zu gewinnen suchte, „deren der irregulär kämpfende Partisan bedarf, um nicht, wie der Räuber und der Pirat, ins Unpolitische, das bedeutet hier: ins Kriminelle abzusinken“ (Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 26 u. S. 78). 39 Vgl. Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), § 15, S. 48, dt. S. 49. 40 Zur eingangs angesprochenen Mythenbildung um die Staatsgründung hat bisweilen auch Masaryk selbst mit entsprechenden Vergleichen beigetragen: „Za celou dobu mého zahraničního pobytu nevzniklo žádné nedorozumění. součinnost byla vzorná. Bylo nás málo, ale apoštolů také nebyly legie: jasná hlava, znalost věcí, odhodlaná vůle, žádný strach před smrtí - to je ohromná síla.“ („Während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes im Ausland kam es zu keinem Mißverständnis; das Zusammenwirken war vorbildlich. Wir waren wenige, aber auch der Apostel waren nicht Legion: klarer Kopf, Sachkenntnis, entschlossener Wille, keine Todesfurcht - das ist eine riesige Kraft“; Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 9, S. 32, dt. S. 29). Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 73 akzeptierten. Masaryks Partisanenstrategie bestand dabei aber nicht im terroristischen Kampf - dieses Mittel scheint allenfalls gegen die Bolschewiki erwogen worden zu sein - sondern vor allem in der Propaganda sowie in der Organisation von Soldaten, die gegen die Mittelmächte zu kämpfen bereit waren. Wäre der bewaffnete Kampf der tschechoslowakischen Legionen nicht erfolgt, so hätte der Einsatz Masaryks und seiner Mitstreiter international den Eindruck eines partikulären Unternehmens gemacht und der Tschechoslowakische Nationalrat wäre niemals als Repräsentant zweier Nationen anerkannt worden. Die internationale Mobilität von Masaryk, Štefaník und Beneš, um die wichtigsten Mitglieder der Maffia zu nennen, die außerhalb von Böhmen operierten, musste durch die Mobilisierung militärischer Einheiten ergänzt werden. Dabei kam es allerdings weniger auf die konkreten Erfolge der Legion an, sondern mehr auf ihre schiere Existenz, die dem Kampf um Anerkennung zum Erfolg verhalf. 41 Masaryk schreibt ja davon, dass nach dem Ende der Kämpfe an der russischen Front die Legion deshalb nach Frankreich überstellt werden sollte, um besser zur Geltung zu kommen. 42 Der Partisanenkampf erfolgt nicht allein in der unmittelbaren Gegenwart, vielmehr wird er auf die Geistes- und Kulturgeschichte ausgeweitet, die vom Philosophieprofessor und Kulturhistoriker Masaryk in einer tour de force kurzerhand parteiisch erläutert wird: Besonders deutlich ist dies an den Auslassungen zur deutschen Literatur und Philosophie, die schon von der zeitgenössischen Kritik 43 skeptisch aufgenommen und von Jan Patočka 44 explizit zurückgewiesen wurden. Für Masaryk sind - durchaus nachvollziehbar - Reformation und die Aufklärung Gegenbewegungen zur mittelalterlichen „Theokratie“. Das protestantische Deutschland bzw. Preußen aber unterscheide sich insofern vom europäischen Westen, als sich in ihm ein mi- 41 Vgl. Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion (Anm. 7), S. 70-73. Man ist hier wohl nicht zu Unrecht verleitet, die berühmte Dialektik des Kampfes um Anerkennung aus Hegels Phänomenologie des Geistes auf die Domäne des Völkerrechts zu übertragen: Um als (völkerrechtliches) Subjekt anerkannt zu werden, muss die Gruppe, die um die Anerkennung sich bemüht, den Kampf wagen. „Im Versuch, Anerkennung als Selbstbewußtsein zu gewinnen, beweisen die Menschen, daß sie sich jenseits des bloßen Lebens befinden, denn sie zeigen, daß sie von diesem besonderen lebenden Wesen, das sie selbst sind, nicht abhängen, daß es vielmehr wichtiger ist, Anerkennung als ›Fürsichsein‹ zu gewinnen, und daß sie dafür sogar ihr Leben aufs Spiel setzen“ (Charles Taylor, Hegel, Frankfurt/ M. 1978, S. 210). Das schiere leibliche Überleben der Tschechen und Slowaken wäre innerhalb der Monarchie wohl möglich gewesen, für ihre internationale Anerkennung als politisches Subjekt musste aber tatsächlich gekämpft werden. 42 Vgl. Masaryk, Světová revoluce (Anm. 6), § 59, S. 149, dt. S. 198. 43 Vgl. Šalda, Na okraj Světové revoluce (Anm. 10), S. 68-75. 44 Vgl. Patočka, Pokus o českou národní filosofii a jeho nezdar (Anm. 8), S. 358-365. Peter Deutschmann 74 litaristischer Absolutismus durchgesetzt habe, der die Reformation nur unvollständig verwirkliche und imperialistische, das Naturrecht der Völker auf Selbstbestimmung missachtende Ziele verfolge. Hegel ist dabei für Masaryk die Synthese von Goethe und Kant und die Antizipation Bismarcks, dessen Machtansprüche die deutsche Geistesgeschichte absorbierten. Aber auch Kant sei durch seinen Intellektualismus 45 Wegbereiter für den solipsistischen Egoismus des modernen Menschen und den preußischen Expansionsdrang, dem durch den Weltkrieg ein Ende bereitet worden sei: Jako pruský stát a pruství vůbec, i německá filozofie, německý idealismus je absolutistický, násilnický, nepravdivý, zaměňující velikost svobodné, spojující lidskosti s kolosální a svého rodu grandiozní stavbou babylonské věže. 46 Einer solchen deutschen Kultur und Politik, von der er lediglich Goethe und Beethoven ausnimmt, stellt Masaryk die Idee der Humanität gegenüber, die er mit dem Hussitismus konnotiert: 47 Wie sich die Hussiten gegen die Autorität der Kirche gestellt haben, kämpfe man gegen Österreich und seine Verbündeten, weil die Rechte der „kleinen“ Völker in der Monarchie nicht respektiert werden. Das von den siegreichen Alliierten im Verbund mit Masaryk und anderen mitteleuropäischen Freiheitskämpfern geschaffene „neue Europa“ ist das Europa der Nationalstaaten, welches nach dem Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt hatte. Die neu geschaffene Tschechoslowakei - laut Karl Popper „vielleicht einer der besten und demokratischsten Staaten, die je existiert 45 Die Ablehnung Kants dürfte Masaryk von seinem Lehrer Franz Brentano übernommen haben (vgl. Patočka, Pokus o českou národní filosofii a jeho nezdar, Anm. 8, S. 345 f.). 46 „So wie der preußische Staat und überhaupt das Preußentum ist die deutsche Philosophie, der deutsche Idealismus absolutistisch, gewaltsam, unwahr und verwechselt die Größe der frei verbindenden Menschlichkeit mit dem kolossalen und in seiner Art grandiosen Bau eines babylonischen Turmes.“ (Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 89, S. 282, dt. S. 356). 47 Man vergleiche hierzu die Ansprachen, die Masaryk anlässlich des 500. Jahrestags der Hinrichtung von Jan Hus in Zürich und Genf gehalten hat. Sie sind wiedergegeben in Masaryk, Válka a revoluce (Anm. 16), S. 77-83. In der Monarchie waren Gedenkveranstaltungen untersagt worden, und die Wiener Neue Freie Presse klagte über die „erste Kriegserklärung an Österreich“, der Masaryk eine „erzieherische Bedeutung“ für die Auslandstschechen und Soldaten beimaß - „daß nämlich unser Kampf im Geiste der hussitischen Vorfahren geführt werde und nicht nur eine politische, sondern auch eine sittliche Berechtigung habe“ (Masaryk, Světová revoluce, Anm. 6, § 19, S. 55 , dt. S. 59). Masaryk übernimmt hier im Wesentlichen das ideologische Programm, das er in den 1890er Jahren in den Schriften Česká otázka (1895) und Jan Hus (1896) formuliert hatte, ein wesentlicher Unterschied besteht nur darin, dass die einst nicht so wichtige politische Selbstständigkeit nun als Notwendigkeit angesehen wird. Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 75 haben“ 48 - war faktisch kein Nationalstaat (was schon die zwei Titularnationen im Namen anzeigen), sondern ein Vielvölkerstaat im Kleinen, der allerdings unter der Leitidee von der Selbstbestimmung der Nationen geschaffen wurde. In den Augen Masaryks durfte dieser nicht die Gewaltpolitik gegenüber den „kleinen“ Völkern und den Minderheiten wiederholen, sondern er sollte für das Zusammenleben aller Menschen und Bevölkerungsgruppen förderlich sein. In Nová Evropa fällt auf, dass Masaryk in der Bezeichnung schwankt; er spricht manchmal vom tschechoslowakischen Volk, öfter aber vom tschechischen Volk, das nicht nur ein natürliches und historisches Recht auf einen eigenen Staat, sondern auch ein natürliches und historische Recht auf die Angliederung der von den Ungarn unterdrückten Slowakei habe. 49 Dieser schwankende Umfang des Nationsbegriffs (tschechisch, tschechoslowakisch, tschechisch und slowakisch) sollte zu ständigen realpolitischen Differenzen zwischen den Tschechen und Slowaken in der Tschechoslowakei führen, in der Programmschrift wird er aber vom Optimismus überspielt, dass selbstständige und freie Nationen die neue Organisationsform der Menschheit seien, welche zugleich eine immer engere - aber eben ungezwungene - Zusammenarbeit zwischen den als naturgegebene „organische“ Einheiten gedachten Nationen ermöglichen werde. 50 Dass die tschechische bzw. slowakische Frage eine „Weltfrage“ sein würde, 51 liegt keineswegs in ihrer historischen Besonderheit begründet, denn unterdrückte Völker gab und gibt es in der Geschichte viele. Masaryk hat im Hinblick auf die Universalität des Problems behauptet, dass das Problem von Freiheit und Selbstbestimmung seit Jan Hus in der tschechischen Geschichte virulent sei. Diese Reklamation der eigenen Geschichte in der großen Auseinandersetzung des Ersten Weltkriegs, ein „Tigersprung ins Vergangene“ 52 und damit auch ein Musterbeispiel für die von Halbwachs und Assmann thematisierte Rekonstruktivität des kulturellen Gedächtnisses, 53 wäre nicht als historiographische Aussage, sondern als Argument in einer 48 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II. Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 1992, S. 377, Anm. 62: 53. Popper hält Masaryk für einen Vorkämpfer der offenen Gesellschaft, den Einsatz für den Nationalstaatsgedanken erklärt er als Reaktion auf die nationale Unterdrückung und hält dabei fest, dass Masaryk immer gegen nationalistische Exzesse gekämpft habe. 49 Vgl. Masaryk, Nová Evropa (Anm. 30), S. 143f., dt. S. 130f. . 50 Masaryk, Nová Evropa (Anm. 30), S. 104, dt. S. 73f. 51 Vgl. Masaryk, Světova revoluce (Anm. 6), § 83, S. 268, dt. S. 334. 52 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/ M. 1977, S. 251-261, hier S. 259. 53 Vgl. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/ M. 1988, S. 9-19, hier S. 13. Peter Deutschmann 76 weltweit agierenden und sehr erfolgreichen Propagandakampagne für die tschechoslowakische Souveränität zu verstehen. Die Vergangenheit wird von der Gegenwart aus perspektiviert, um sowohl der Vergangenheit wie der Gegenwart einen Sinn zu verleihen, ohne den das Handeln und die Mobilität Masaryks nicht denkbar ist. Abb. 1 Die von Soubigou (Masaryk, Anm. 4, S. 179) gezeichnete Reiseroute erfasst nur die wichtigsten Stationen von Masaryks Reise während des Ersten Weltkriegs, nicht aber die von den einzelnen Stützpunkten ausgehenden Reisen (so etwa nicht die unmittelbar nach Kriegsbeginn unternommenen Erkundungsreisen nach Holland, Deutschland, Wien, nicht die von Genf nach Frankreich und Italien unternommenen Reisen, nicht das wiederholte Pendeln zwischen London und Paris, die Reisen in Russland im Revolutionsjahr 1917 oder die Besuche der verschiedenen Städte mit einer größeren Zahl an emigrierten Tschechen und Slowaken in den USA). Der Weg von Stockholm nach Petrograd erfolgte per Eisenbahn; Masaryk umfuhr den Bottnischen Meerbusen. Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg 77 Andrea Zink Land in Bewegung Die Imagination Jugoslawiens in der bosnischkroatisch-serbischen Literatur Einleitung Die folgende Untersuchung sieht sich gleich zu Beginn - und im Unterschied zu den meisten Beiträgen in diesem Sammelband - in der Notlage, ihren Gegenstand selbst präzisieren (und legitimieren) zu müssen. Denn was unter Jugoslawien zu verstehen sei, verlangt nach einer Bestimmung. Auf den aktuellen politischen Landkarten ist ein Staat mit der Bezeichnung Jugoslawien nicht mehr zu finden, und Jugoslawien stellt - anders als etwa Dalmatien oder die Bačka - auch keine geographisch fassbare Größe dar. Eine Region Jugoslawien wird auf physisch-geographischen Karten, die das südöstliche Europa darstellen, jedenfalls nicht ausgewiesen. Es bleibt die Frage nach einer nationalen Entität. Man denke nur an Polen, das in den Köpfen und Herzen seiner ‚Angehörigen‘ auch dann noch existierte, als der polnische Staat längst aufgelöst und von seinen imperialen Anrainern einverleibt worden war. Auf eine ähnliche, nationale Geschichte kann Jugoslawien aber nicht zurückblicken, und so scheint auch die Wiederkehr Jugoslawiens durch den nationalen Geist mehr als unsicher, zumal Sprache und Religion - die ‚klassischen‘ Bindemittel von Nationen 1 - die jugoslawische Gemeinschaft nur begrenzt konstituieren: Im Zuge der jüngsten Kriege wurden sie sogar zur gezielten Dissoziation des Jugoslawischen ausgenutzt. 2 Schließlich haben sowohl die Monarchie, die das erste Jugoslawien zusammenhielt, als auch die (sozialistische) Ideologie als kulturell übergreifende und das zweite politische Gebilde legitimierende Verbindung - hier wäre eine Analogie 1 Eine Nation kann sich auch auf andere Parameter, etwa auf eine gemeinsame Geschichte, einen gemeinsamen Siedlungsraum oder wirtschaftliche Faktoren stützen. Zu den häufigsten Legitimationen dieser „imaginierten Gemeinschaft“ (siehe dazu: Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983) dürften aber Sprache und Religion gehören. 2 Siehe hierzu vor allem: Bernhard Gröschel, Das Serbokroatische zwischen Linguistik und Politik. Mit einer Bibliographie zum postjugoslawischen Sprachenstreit, München 2009. Andrea Zink 80 zwischen dem sozialistischen Jugoslawien und der Funktionsweise von Imperien zu erkennen 3 - ausgedient. So flüchtig, ja phantastisch sich die jugoslawische Gemeinschaft im Rückblick aber ausnehmen mag, so wenig dürfte ihr Untergang besiegelt sein. Die trennende Politik der jugoslawischen Nachfolgestaaten konterkariert eine neue, ökonomisch virulente „Jugosphäre“. 4 Der Vertrieb und die Konsumation allseits bekannter und beliebter, der jugoslawischen Ära entstammender Getränke auf einem Gebiet, das ehemals Jugoslawien umfasste, kann dafür als Beispiel stehen. 5 Es gibt ihn offenbar noch, den jugoslawischen Geschmack, und er könnte in Zukunft sogar weiter entwickelt werden. Daneben unterstreichen besonders die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, dass sie von den neuen Grenzen nur wenig halten. Selbst wenn Buchpreise, Verlags- und Medienpolitik große Hindernisse darstellen, 6 so wird das Jugoslawische doch seit dem Zusammenbruch der Volksrepublik in zahlreichen Literaturfestivals - die mit den FAK-JU-Treffen ihren Anfang nahmen - nachdrücklich unterstrichen. 7 3 Herfried Münkler, Imperien, Berlin 2005. Münkler unterstreicht die entscheidende Rolle, die Ideologien (darunter die sozialistische) für die Stabilisierung von Imperien zukommt. Gleichzeitig sieht er Jugoslawien in der Nachfolge der Donaumonarchie, als Land, dem zumindest vorübergehend die Integration seiner multikulturellen Bevölkerung (eine Aufgabe, die üblicherweise Imperien zukommt) gelungen sei (vgl. dazu vor allem die Kapitel 3 und 4 in ebd. S. 80-166). 4 Vgl. zu diesem Begriff und seinen Implikationen: Tim Judah, Yugoslavia is dead, long live the Yugosphere. LSSE Papers on South Eastern Europe, London 2009. Judah umschreibt die Jugosphäre wie folgt: „It is an area of mostly like minded people with a lot in common who are increasingly coming to cooperate, and work together for mutual advantage, as much as they can, given their recent history“ (S. 21). 5 Eine glänzende Illustration der ökonomisch fundierten Jugosphäre bietet die Übernahme der slowenischen Firma Droga Kolinska durch die kroatische Atlantic Grupa. Zu den berühmtesten Produkten von Droga Kolinska gehörte Cockta, ein Getränk, das in sozialistischen Zeiten gegen Cola und Pepsi angetreten war und den Kampf auf dem Westbalkan souverän gewonnen hatte. Es hatte und hat noch immer Kultstatus. Von seinem neuen Besitzer, der Atlantic Grupa, wird Cockta nun zusammen mit anderen jugo-nostalgischen Produkten auf einem Territorium verbreitet, das in etwa dem untergegangenen Staat Jugoslawien entspricht (Thomas Fuster, Die Jugosphäre lebt, in: Neue Zürcher Zeitung, 27.11.2010). 6 Siehe hierzu den Artikel: Martin Sander, Kroatiens Reinheit, in: Neue Zürcher Zeitung vom 21. 1. 2012, der die Querelen rund um die Untertitelung einer beliebten serbischen Serie im kroatischen Fernsehen und um die Thesen der Linguistin Snježana Kordić, die das Bosnisch-Kroatisch-Serbische gerne als plurizentrische Sprache verstanden haben möchte, thematisiert. 7 Eine Faktografie der Festivals findet sich in Kruno Lokotar / Vladimir Arsenijević (Hrsg.), FAK-JU! Antologija, Beograd 2001, S. 279-281. Gleichzeitig gibt die Anthologie einen Überblick über die wichtigsten Autoren der Gegenwart, die sich, in ironischer Brechung der jugoslawischen Vergangenheit (markiert durch die im Festivalti- Land in Bewegung 81 Nicht nur in Nahrungsmitteln, sondern auch in der Gegenwartsliteratur lässt sich also ein ‚jugosphärischer Geist‘ ausfindig machen, und während sich das politische Gebilde verflüchtigt hat, kristallisiert sich - zum Ärger so mancher Politiker - ein gemeinsamer Kulturraum heraus. Auf den fehlgeschlagenen Staat und die fehlgeschlagene Nationsbildung folgt offenbar der räumliche Zusammenhalt, eine durch Lesen, Schreiben und Fernsehschauen, durch Essen, Trinken oder auch andere Gewohnheiten und Erfahrungen kulturell abgesicherte Heimat. Diese Diagnose der Gegenwart - Jugoslawien als Raumerfahrung, die sich im literarischen Text niederschlägt - liegt meiner folgenden kurzen Untersuchung zugrunde. Ich werde den literarischen Entwürfen Jugoslawiens, so wie sie sich von Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum heutigen Tage abzeichnen, exemplarisch nachspüren. Dabei betrachte ich den Jugoslawientext - mit Michail Bachtin - als Chronotopos, das heißt als künstlerisches Raum-Zeit-Gebilde, das seinerseits auf eine bestimmte historische Zeit reagiert. 8 Eine erste, nähere Charakteristik dieses Chronotopos, die auch die folgenden Argumentationsschritte bestimmt, lässt sich Miljenko Jergovićs Erzählsammlung Mama Leone entnehmen. 9 Mama Leone wurde kurz nach Zusammenbruch des jugoslawischen Staates verfasst; der Text hinterfragt, begründet und beklagt den Kollaps in vielfältiger Form. Jergović greift vor allem auf indirekte Darstellungsmittel zurück, auf ein beachtliches Arsenal an Metaphern und auf die allegorische Form des Erzählens: Wenn der kindliche Ich-Erzähler aus seinem glücklichen und ebenso grausamen Alltag der 1960er und 70er Jahre berichtet, wenn er die Herkunft, die Verfehlungen und die Abenteuer der Familienmitglieder zur Sprache bringt, so ist die Verweisfunktion dieser naiv-verfremdenden Erzählung auf die labile Existenz des jugoslawischen Staates nicht zu verkennen. Mit Mama Leone schreibt Jergović zweifellos einen Jugoslawientext. Er skizziert die neuralgischen Punkte der politischen Einheit, verweist auf Vorgeschichten und Krisen und benennt schließlich die Vorzüge einer jugoslawischen Gemeinschaft. Drei wesentliche historische Momente kristallisieren sich heraus, in deren Kontext die Familie des kleinen Miljenko samt Jugoslawien auf die Probe gestellt werden: Zum einen der Erste Weltkrieg, gefolgt von der Ent- tel mitschwingende lautliche Assoziation des englischen „fuck you“), zu einer neuen jugoslawischen Literaturszene bekennen (denn FAK-JU steht kurz für Festival alternativne književnosti Jugoslavije, deutsch: Festival der alternativen Literatur Jugoslawiens). 8 Siehe die jüngst in deutscher Übersetzung erneut aufgelegte, ausführliche Studie: Michail Bachtin, Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008. 9 Miljenko Jergović, Mama Leone, Wien-Bozen 2000; Original: Miljenko Jergović, Mama Leone, Zagreb 1999. Andrea Zink 82 stehung des Königreiches mitsamt seinem imperialen Gepäck, 10 zum anderen der Zweite Weltkrieg, gefolgt von einem sozialistischen Staat, der den Partisanenmythos kultiviert und eine lose Verbindung zur Sowjetunion, aber auch zu anderen europäischen Staaten aufrecht erhält, 11 und schließlich der Zusammenbruch des Landes mitsamt seiner Sprengkraft, gefolgt von nationalistischen Separationsbewegungen, Umsiedlungen und Auswanderungen. 12 Der Chronotopos Jugoslawien zeigt sich als Chronotopos der Krise, wobei sich die historischen Ereignisse mit einer Raumerfahrung verbinden, die sich in Flucht, Versteck und Exil, aber auch in überraschenden Manövern, etwa der Partisanen-Taktik, und in ungeahnten Nischen der Freiheit, kurz: in unregelmäßigen, ungeordneten Bewegungen niederschlägt. Will man diesem Raum mit Hilfe eines theoretischen Konzepts beikommen, so bietet sich die ebenfalls unsystematische, ‚nomadisch‘ verfahrende und das Nomadentum eigens thematisierende Wissenschaft von Gilles Deleuze und Felix Guattari an. Mit Deleuze/ Guattari lässt sich der jugoslawische Raum als „glatter“ Raum beschreiben, als Raum, der seiner „Kerbung“, etwa seiner politischen Zuordnung, noch harrt. Im glatten Raum ist die Linie ein Vektor, die Bewegung geht ohne klares Ziel, aber mit großer Energie vonstatten. Die idealen ‚Bewohner‘ dieses Raumes siedeln nicht an einem Ort, sondern ziehen umher. 13 10 So gehört auch ein Russe, der vor der bolschewistischen Revolution geflohen war und in Jugoslawien ansässig wurde, zu Miljenkos unmittelbarer Gesellschaft. Er teilt dem Jungen seine Erfahrungen mit, die Miljenko seinerseits zu schätzen weiß. Siehe hierzu die Erzählung „Wenn der Mensch einmal sehr erschrickt“, in: Jergović, Mama Leone, 2000 (Anm. 9), S. 87-96; „Kad se čovjek jako uplaši“, in: Jergović, Mama Leone, 1999 (Anm. 9), S. 90-100. 11 Die Partisanenbewegung und das sozialistische Jugoslawien gehören nach der offiziellen Lesart wesentlich zusammen. Allerdings entdeckt Miljenko eines Tages, dass die Gleichung trügerisch ist, ja dass sie Lügen und Heimlichkeiten mit sich führt. Der Onkel, so stellt sich heraus, hat gar nicht mit den Partisanen gekämpft, sondern gegen dieselben und verstarb deshalb als „Feind“. Die Großmutter hält die ‚beschämenden‘ Dokumente über den Tod ihres Sohnes und also die Geschichte der Familie (respektive die Geschichte des Landes) in einer Schatulle versteckt (vgl. besonders die Erzählung „Du bist dieser Engel“, in: Jergović, Mama Leone, 2000 (Anm. 9), S. 9-17; „Ti si taj anđeo“, in: Jergović, Mama Leone, 1999 (Anm. 9), S. 7-16). 12 Dieser Aspekt wird besonders im zweiten Teil des Erzählbandes, der neue, von Miljenko unabhängige Figuren einführt und die postjugoslawische Lage in den Blick nimmt, offensichtlich. 13 Siehe dazu vor allem die Kapitel „1227 - Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine“ und „1440 - Das Glatte und das Gekerbte“, in: Gilles Deleuze/ Felix Guatari, Tausend Plateaus, Berlin 2005, S. 481-586 und S. 657-694. Land in Bewegung 83 Diese in den literarischen Text eingeschriebene und von demselben mitunter initiierte Dynamik soll im Folgenden entlang der entscheidenden historischen Krisenpunkte aufgezeigt werden. Jugoslawien I: Ausbruch aus der k. u. k. Monarchie Als einer der ersten offen jugoslawisch argumentierenden Dichter darf Miroslav Krleža gelten, dessen literarisches Debüt mit dem Niedergang der Donaumonarchie zusammenfällt. Am Rand des maroden Imperiums, im Kontext des Ersten Weltkrieges, evoziert Krleža eine neue, nach wie vor multi-nationale Gemeinschaft, die sich allerdings zunehmend von den alten Autoritäten befreit. Zur Keimzelle Jugoslawiens wird u. a. das Lazarett, der Verbund von Invaliden, der trotz der gegenteiligen Anstrengungen von Feldherrn und Sanitätsleitern planlos durch Galizien zieht. Das Heer rückte hundert Kilometer nach Osten vor und zog sich dann zweihundert Kilometer nach Westen zurück, marschierte dann wieder nach Osten, von einem Feldzug zum andern, und das war der Krieg. Und so wanderte auch Graf Maximilian Axelrode mit seinem Malteserzirkus von Osten nach Westen und umgekehrt, von Stanislau nach Krakau und umgekehrt, zwei volle Jahre. 14 Folgt man Krleža in das Lazarett des Grafen Axelrode, das den Schauplatz der Erzählung Baracke 5 b (Baraka Pet Be) aus dem Zyklus Der kroatische Gott Mars (Hrvatski Bog Mars) abgibt, so lässt sich der imperiale Zerfall genauer beschreiben und begründen. Im dritten Jahr des Krieges verkommt das österreichisch-ungarische Imperium - so könnte man unter Bezugnahme auf Herfried Münklers Imperienforschung formulieren - zum Staat. 15 Die typisch imperiale Asymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie, das Machtgefälle und die Amoral, mit der imperiale Ansprüche, darunter die Grenzsicherung, durchgesetzt werden können, steht nach Münkler den ubiquitären, gleichmäßigen Ordnungen und Gerechtigkeitsprinzipien von Staaten gegenüber. 16 Schon der Titel der kurzen Erzählung Baracke 5 b 14 Miroslav Krleža, Der kroatische Gott Mars, Königstein 1984, S. 264; Miroslav Krleža, Hrvatski Bog Mars, Sarajevo 1988, S. 216: „Armade su se gibale sto kilometara na istok, pa onda dvije stotine kilometara na zapad, i onda opet na istok, od ratne sezone do sezone, i to je bio rat, i tako grof Axelrode putuje sa svojim malteškim cirkusom s istoka na zapad od Stanislavova do Krakova i obratno dvije pune godine.“ 15 Auch wenn Münkler die Donaumonarchie nicht zu den Imperien rechnet, im Gegensatz etwa zu Jane Burbank und Frederick Cooper: Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton 2010, S. 365, lassen sich seine Thesen in vielerlei Hinsicht für Österreich-Ungarn fruchtbar machen. 16 Siehe das Kapitel „Was ist ein Imperium? “, in: Münkler, Imperien (Anm. 2), S. 11-34. Andrea Zink 84 symbolisiert die Ordnung, mit der Maximilian Axelrode, seines Zeichens Komtur des souveränen Malteserordens, die verletzten, invaliden oder sterbenden Insassen seines Lazaretts zu beherrschen gedenkt. Baracken wie auch Betten sind mittels Buchstaben und Zahlen streng geregelt. Diese souveränen Regelungen im souveränen Malteserorden imitiert der Autor auf unüberhörbar ironische Weise. Krležas Stil passt sich streckenweise der erlauchten Herkunft des Grafen Axelrode, seinen vielzähligen Rangabzeichen und seiner geradezu blinden Autoritätsgläubigkeit an. Mit komplizierten Schachtelsätzen oder auch parataktisch arrangierten Listen von Ahnen, Ehrungen und illustren Weihen begleitet er Axelrodes Auftritte. 17 Doch dabei bleibt es nicht. Im Verlauf der Erzählung Baracke 5 b lässt Krleža dem „Malteser-Zirkus“ freien Lauf. Hatte die Zirkus-Metapher zunächst noch einen ironisch-sarkastischen Beigeschmack - sie zielt auf die wandernden Zelte des Herrn Grafen und pointiert den Ersatz athletischer Artisten durch invalide Soldaten -, so ergibt sich bald Gelegenheit, den Text selbst in einen Zirkus zu verwandeln. Nachdem Axelrodes Lazarett zwischen die Fronten geraten ist, nutzen die Insassen freudig das Machtvakuum, um eine Orgie zu veranstalten. Sie plündern den Alkoholvorrat, singen, tanzen, spielen, vergewaltigen ganz nebenbei auch zwei Krankenschwestern. Das Lazarett gerät in einen wahrhaft dionysischen Rausch, und der Autor, der bekanntermaßen ein Nietzsche-Anhänger war, 18 ersetzt Axelrodes optisch realisierte Ordnung, das starre apollinisch-sokratische System, durch den dionysischen Chor der Invaliden. Den Verwundeten, die sich nicht bewegen konnten, wurde der Wein in Töpfen ans Bett gebracht, und all die Knochenbrüche und die amputierten Beine, die in der Baracke 5 b wie in der Auslage eines Fleischerladens unter dem Tüll dorrten, betranken sich ganz schön; und mitten auf Vidovićs Bett begannen irgendwelche Ungarn „Siebzehn und Vier“ zu spielen. „Bank! Bank! “ schrien sie, mischten die Karten und tranken (…). Aus der Baracke C hörte man Harmonika, Okarina und Gusla. Dort waren Männer aus Syrmien, die im Chor sangen: „I mama i tata! “ (…) Und ein Italiener sang die Irredenta, und sein Tenor widerhallte herrlich: „Amore, Amore, Amore! “ 19 17 Noch deutlicher wird diese ironisch-kritische Wiederholung österreichisch-ungarischer Ahnentafeln und Titelhörigkeit in Krležas Erzählung Beisetzung in Theresienburg (Sprovod u Teresienburgu). 18 Siehe hierzu umfassend: Frank Lindemann, Die Philosophie Friedrich Nietzsches im Werk Miroslav Krležas, Wiesbaden 1991. 19 Krleža, Der kroatische Gott Mars (Anm. 14), S. 276; Krleža, Hrvatski Bog Mars (Anm. 14), S. 223f: „U baraku Pet Be nosili su onim ranjenim bokcima vino na škafove, i one polomljene kosti, i one odrezane noge što se suše pod tilom kao suhomesnata roba, sve se to bogme napilo, pa su na Vidovićevoj postelji neki Madžari Land in Bewegung 85 Das trunkene Lazarett lässt sich nicht nur mit Friedrich Nietzsche als Zeichen dionysischer Weltanschauung und eines zu erwartenden, kulturellen Umbruchs lesen, sondern auch, mit Michel Foucault, als Heterotopie der Donaumonarchie, 20 als heimliche Alternative und reale Gegenwelt, die den Zusammenbruch des Imperiums zu beschleunigen sich anschickt und auf bessere, zukünftige Welten verweist. Dieser Heterotopie hatte Krleža bereits wenige Jahre zuvor, in der expressionistisch gefärbten Erzählung Kroatische Rhapsodie (Hrvatska rapsodija) Konturen verliehen. 21 Die Rhapsodie führt uns ein kriegsversehrtes, in Aufruhr geratenes Volk vor Augen, das im Zug durch die Lande fährt, ohne dass die Leserschaft wüsste, wohin die Reise eigentlich geht. Krleža lässt seine Leser schon 1917 am Rausch der Randexistenzen teilhaben, die nicht nur am imperialen Rand siedeln, sondern auch den sozialen Rand der Gesellschaft ausmachen. Unter Krležas Regie gerät vor allem die Eisenbahn, das ureigenste Kontrollinstrument aller Imperien, völlig außer Kontrolle. Der Zug, in dem der Mob, bestehend aus Krüppeln, Bettlern und Debilen, Bauern, Witwen und Studenten, Kroaten, Ungarn und Serben unterwegs ist, setzt sich am Textende von seinem irdischen Untergrund ab (eine Fixierung, die mit dem alten imperialen Verbund gleichgesetzt werden dürfte) und fährt jubelnd in die Sonne. Diese pathetische Vision, die den Eroberungen einer Bande, den Aktionen einer „Kriegsmaschine“ im „glatten Raum“ ähnlich sieht, gibt eine Ahnung von der zukünftigen jugoslawischen Gemeinschaft, zumal im phantastischen Flug des Zuges auch so genannte „luxuriöse kroatische Lügen“ entlarvt werden. In den Städten wehen die Fahnen, Spitäler stürzen ein, Gräber öffnen sich, die Toten singen Psalmen, und der Zug rast über sie hinweg, zertrümmert und zerstört. Rasend geworden, bohrt er sich in Glockentürme, Gebäude, Bauten, wirft sie nieder, zermalmt sie und hinterläßt eine rote Spur von Flammen und Blut. Wie ein Erdbeben stürzt er auf die Länder, er rüttelt und vernichtet Kathedralen, Theater, Akademien, Kasernen, Paläste, Schlösser, Redaktionen, Ateliers, Büros, Kirchen, Parlamente, Lügen, luxuriöse kroati- zaigrali ‚ajnc‘. Banka, resto! Resto, banka, tako padaju povici, mješaju se karte, i pije se (…). A iz C-barake čuje se harmonika i okarina i gusle, tamo su Sremci, pa se sve ori od pjesme: ‚I mama i tata‘ […]. A jedan Talijan pjeva iredentu, ječi njegov tenor čuvstveno - ‚amor, amor, amor‘! “ 20 Zu diesem Konzept siehe: Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 317-329. 21 Krležas Verhältnis zum Expressionismus ist komplex und schließt auch eine problematische Beziehung zu seiner eigenen Rhapsodie mit ein. Vgl. dazu vor allem: Reinhard Lauer, Krleža und der deutsche Expressionismus, Göttingen 1984. Andrea Zink 86 sche Lügen - das ist kein Zug mehr (…), das ist der Zorn, das ist die Feuersbrunst, das ist der jubelnde Schrei nach der Sonne. 22 Greift man das Stichwort von den „kroatischen Lügen“ auf und zieht als Interpretationshilfe das Gedicht Auf dem Platz des Heiligen Markus (Na Trgu Svetoga Marka) 23 heran, so zeigt sich, dass der Aufruhr des geschundenen Volkes nach dem Dafürhalten Krležas zum Kollaps des Imperiums, nicht aber zu einem neuen Nationalstaat führen sollte. Auch in Auf dem Platz des Heiligen Markus kommt Krleža auf die „kroatischen Lügen“ zu sprechen. Er rügt die Halbherzigkeit der Koalitionsbestrebungen zwischen Serben und Kroaten, die in end- und ziellosen Reden der Mitglieder des kroatischen Landtages zum Ausdruck komme und nach drei Jahren Krieg grausam anmuteten. 24 Dabei arbeitet er die These vor allem lautlich heraus und zieht eine Verbindung zu seiner persönlichen Herkunft. Das „Schiff der kroatischen Lüge“ versinkt in einer „Flut aus Blut“ - „lađa Hvatske laži u krvavom potopu tone“ -, und die aufmerksamen Leser können erkennen, dass im blutigen Untergang der kroatischen Lüge auch anagrammatisch der Familienname Krleža enthalten ist. Damit nicht genug: Der Familienname des Autors entstammt selbst einer Verballhornung, seine Herkunft ist mehr als unsicher. 25 22 Krleža, Der kroatische Gott Mars (Anm.14), S. 412f; Krleža, Hrvatski Bog Mars (Anm. 14), S. 332f: „U gradovima vijore se stjegovi, ruše se bolnice, otvaraju se grobovi i mrtvaci pjevaju psalme, a voz juri preko njih te razvaljuje i ništi. Kao pomaman zabija se u zvonike, zgrade, građevine, obara ih, mrvi i ostavlja za sobom crveni trag plamena i krvi. Kao potres se ruši na pokrajine i trese i ništi katedrale, kazališta, akademije, kasarne, palače, dvorove, redakcije, atelijere, urede, crkve, sabore, kapelice, laži, luksuriozne hrvatske laži - to već nije vlak, (…) to je bijes, to je požar, to je poklič sa Suncem.“ Die deutsche Übersetzung kann nicht wiedergeben, dass Krleža hier sehr bewusst sowohl das serbische Wort „voz“ als auch das kroatische „vlak“ für „Zug“ einsetzt und damit einer serbokroatischen Sprache zuarbeitet. 23 Siehe das Gedicht im Original: Miroslav Krleža, Na Trgu Svetoga Marka, in: Ders., Pan. Ulica u jesenje jutro. Pjesme. Balade Petrice Kerempuha (Pet stoljeća hrvatske književnosti, 91), Zagreb 1973, S. 117f. 24 Viele Vertreter des Landtages gingen davon aus, dass in einem neuen Staat nur die Südslaven aus der Donaumonarchie vereint werden könnten, also nur die Serben aus der Vojvodina, die Slowenen und die Kroaten. 25 Mit Blick auf die Figur des Kyriales aus Krležas Roman Die Rückkehr des Filip Latinovicz (Povratak Filipa Latinovicza) schreibt Zoran Konstantinović: „Nur so viel wissen wir inzwischen, Krleža war kein echter Krleža. Der Großvater, der wie so manche andere bei kirchlichen Festlichkeiten das ‚Kyrie eleison‘ singend durch die Dörfer Zagoriens zog, (gelangte) auf diese Weise zu seinem kroatisch verballhornten Namen.“ Zoran Konstantinović, Die Rückkehr des Filip Latinovicz. Zum Palimpsest einer pannonischen Identitätssuche, in: Lauer, Reinhard (Hrsg.), Künstlerische Dialektik und Identitätssuche. Literaturwissenschaftliche Studien zu Miroslav Krleža, Wiesbaden 1990, S. 123-142, hier S.130. Land in Bewegung 87 Krleža geht mit seiner aus monarchistischen Zeiten ererbten unklaren Identität, gewissermaßen mit einer persönlichen Lüge gegen die offiziellen kroatischen Lügen vor und trägt somit auf subtile Weise zum Untergang des alten Reiches bei. Dass sich die unklare Identität, das imperiale multinationale Gepäck nicht nur nachteilig auswirken, sondern dem politischen Neuanfang nutzen könnte, ist dabei durchaus mitgedacht. Die anvisierte politische Gemeinschaft wird Ethnien, Klassen, Bastarde aller Art enthalten - die Invaliden des Krieges, die Insassen des Waggons dritter Klasse -; ein kroatischer Nationalstaat oder ein Staat, der allein auf den südslavischen Ruinen der Donaumonarchie aufgebaut wäre, ist definitiv nicht erwünscht. Jugoslawien II: Versteck und Unordnung im Hinterland (1941-45) Wie Krleža, so erkennt auch Ivo Andrić die Vorzüge der imperialen Peripherie. Eine Grenzregion ist zwar immer der Gefahr der Verwahrlosung und des Vergessens ausgesetzt, sie dient aber gleichzeitig als subversives Versteck und Refugium für Sonderlinge. Die historischen Romane, die Andrić zwischen 1942 und 1945 verfasst hat, können zumindest in Ansätzen als allegorisch formulierte Handlungsanleitung für die Zeitgenossen und damit als politische Diagnose für das besetzte Jugoslawien gelesen werden. Besonders in Wesire und Konsuln (Travnička hronika) zeigt sich der jugoslawische Raum als Unterschlupf, in dem phantastische Menschen mit phantastischen Ideen heranreifen, in dem aber auch explosive Handlungen, darunter kollektive Strafaktionen möglich sind. Ivo Andrić siedelt seinen Roman in der bosnischen Provinz zu Beginn des 19. Jahrhunderts und damit am äußersten Rand des Osmanischen Reiches an. Trotz der Historizität der erzählten Ereignisse ist Andrićs Bezugnahme auf die Zeit der Textabfassung und damit auf die Einnahme und Besetzung Serbiens durch die deutsche Wehrmacht sowie die Intergration Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas in den faschistischen kroatischen Ustascha-Staat offenkundig. Besonders das Romanende legt diese These nahe, denn der jüdische Lederhändler Salomon Atijas bittet den aus Travnik abziehenden französischen Konsul eindringlich um seine Unterstützung. Die westliche Welt, so der Händler, möge sich bewusst werden, dass die Juden in Bosnien bedroht sind: „Wir wollen, daß man drüben von uns weiß. Daß unser Name nicht verschwindet in der helleren und höheren Welt, die sich ständig verdunkelt und einstürzt, sich bewegt und wandelt, aber nie untergeht (…). Jene Welt möge wissen, daß wir sie in unserer Seele tragen (…). Das ist keine Eitelkeit und Andrea Zink 88 kein leerer Wunsch, sondern ein wirkliches Bedürfnis und eine aufrichtige Bitte.“ 26 Andrić nimmt jedoch nicht nur durch die Schlusssequenz Bezug auf den Faschismus. In seinem umfangreichsten Roman macht er - nicht zuletzt durch eben diesen Umfang - auf Räume und Existenzen aufmerksam, die von den Zentren der Macht, seien sie nun in Istanbul, Berlin oder Zagreb, nicht beherrscht werden können. Er gestaltet eine ausufernde, sich heimlich und ständig vergrößernde, subversive Grenzregion, über die jedes Imperium respektive jede Okkupationsmacht die Kontrolle verlieren muss. Nicht von ungefähr überbringt eine Randfigur, Salomon Atijas, die entscheidende Protestnote. Die „Travniker Chronik“ ist von unnützen Sonderlingen geradezu übervölkert. Ihre Existenz am Textrand entspricht ihrer sozialen Stellung am Rand der Gesellschaft und schließlich auch der Situation Travniks am Rand des osmanischen Imperiums. Aus dieser Peripherie, die von widerspenstigen Eigenbrötlern besiedelt ist, aus ihren geheimen Verstecken und geheimnisvollen Taten könnte sich - so scheint der Text anzudeuten - auch eine neue jugoslawische Gemeinschaft entwickeln. Als Beispiel für die Randexistenzen kann Agathe von Mitterer dienen; sie ist die Tochter des österreichischen Konsuls und eine vollkommen isolierte Figur. Agathe pflegt keine sozialen Beziehungen. Auch ihre Familie bleibt ihr gänzlich fremd, besonders unfreundlich ist die Beziehung zu ihrer exzentrischen Mutter. Die Peripherie des Osmanischen Reiches garantiert Agathe dagegen besondere Entfaltungsmöglichkeiten. Nur ein einziges Mal bekommen wir die Konsulstochter zu Gesicht, und zwar aus der Perspektive des Barbierlehrlings Salko Maluhija. Salko, der Sohn einer armen Witwe, schleicht sich in seiner Mittagspause regelmäßig in den benachbarten Garten, um von dort durch einen Zaun heimlich und verstohlen Agathe zu beobachten. Verborgen vor den Augen der Menschen, lugte Salko in hockender Stellung, heimlich, mit halbgeöffnetem Mund und verhaltenem Atem durch die Zaunlatten. Überzeugt, allein zu sein, trat das Mädchen zu den Blumen, schaute sich die Rinden der Bäume an und sprang von einem Wegrand zum anderen. Dann wiederum hielt es inne, schaute zum Himmel, bald auf die Hände. (…) Und nun begann Agathe von einem Ende des Gartens zum andern zu schlendern, sie schwenkte die Arme und klatschte rhythmisch in die Hände, einmal vorn, einmal hinter dem Rücken. Ihre Gestalt, angetan mit 26 Ivo Andrić, Wesire und Konsuln, Zürich 1968, S. 578; Ivo Andrić, Travnička hronika (Izabrana dela 5), Beograd 2004, S. 532: „To bismo, eto, hteli, da se zna tamo. Da naše ime ne ugine u tom svetlijem i višem svetu koji se stalno zamračuje i ruši, stalno pomera i menja, ali nikad ne propada (…), da taj svet zna da ga u duši nosimo (…). I to nije sujeta ni prazna želja, nego stvarna potreba i iskrena molba.“ Land in Bewegung 89 einem hellen Kleid, brach sich, zusammen mit dem Himmel und dem Grün des Gartens, seltsam verzerrt in den leuchtenden bunten Zierkugeln. 27 Im Sinne der russischen Formalisten liegt hier die Bremsung eines Wahrnehmungsvorgangs vor. 28 Mit neuen, gewissermaßen orientalischen Augen lässt uns Andrić hinter den Zaun in einen fremden Garten blicken, in dem sich zauberhafte, geheimnisvolle und unerklärliche Dinge abspielen. 29 Wir sehen Agathe nicht nur zum ersten Mal, sondern auch wie zum ersten Mal. Ihr Verhalten wirft Fragen auf: Was mag ihre Bewegung wohl bedeuten, woran mag sie denken, welche musikalische Begleitung hat sie vielleicht im Sinn? Salkos Versuch, den Zaun zu überwinden und das fremde Mädchen zu beobachten, lässt die Leser auf einen künftigen Dialog zwischen den Figuren und auf eine Lösung der offenen Fragen hoffen. Doch der Auftritt beider Figuren ist schon kurz nach dieser Szene beendet, die Handlung wird nicht weiter entwickelt, sie bleibt ohne Ergebnis. Andrić setzt nur ein Zeichen: Die bosnische Provinz birgt Momente des Glücks und hat auch das Potenzial für einen transkulturellen Dialog. Mehr können die Leser nicht erkennen. Die Szene hat aber paradigmatische Bedeutung, denn wie Agathe und Salko ergeht es den meisten Figuren des Romans. Andrić konstruiert einen Grenzraum, einen Raum jenseits der Zäune und der großen Handlungsstränge, in dem wundersame Menschen unterschiedlicher Herkunft siedeln. Dieser Rand dehnt sich aus, er wuchert in den Haupttext hinein, ohne sich um denselben zu kümmern. Vom politischen 27 Andrić, Wesire und Konsuln (Anm. 25), S. 271; Andrić, Travnička hronika (Anm. 25), S. 214f: „Sakriven od ljudskih pogleda, Salko je, čučeći, poluotvorenih usta, pritajen i uzdržavajući dah, virio kroz tarabe. A devojka je, uverena da je potpuno sama, obilazila cveće, zagleda koru po drveću, preskakala s jednog kraja puteljka na drugi. Pa bi onda zastajkivla i pogledala čas u nebo čas u svoje ruke. […] Pa bi i opet počela da šeta s jednog kraja na drugi, mašući rukama i pljeskajući dlanovima; jednom pred sobom, jednom za sobom. A u onim sjanim baštenskim kuglama raznih boja smešno se lomio, zajedno s nebom i zelenilom, njen lik u svetloj haljini.“ 28 Siehe dazu vor allem: Viktor Šklovskij, Die Kunst als Verfahren, in: Jurij Striedter (Hrsg.), Russischer Formalimus, München 1971, S. 3-35. Eine Untersuchung des Romans mit Blick auf den russischen Formalismus bietet Miroslav Beker, Travnička hronika u svjetlu kriterija ruskih formalista, in: Zadužbina Ive Andrića u Beogradu (Hrsg.), Delo Ive Andrića u kontekstu evropske književnosti i kulture, Beograd 1981, S. 299-306. 29 In der Tat ‚orientalisiert‘ der Autor hier den Okzident, und da sich sein Erzähler, wie nur sehr selten, der Perspektive einer Figur annähert, nämlich der Perspektive des muslimischen Barbierlehrlings, gibt die Textstelle ein Beispiel für Andrićs positive Wertung der muslimischen Bevölkerung ab. Zum postjugoslawischen, besonders in Bosnien ausgebrochenen Streit um Andrićs Haltung gegenüber der muslimischen Kultur siehe: Wolfgang Eismann, Keine Brücke über die Drina. Vom Streit über einen jugoslawischen Schriftsteller, in: Osteuropa 2/ 2005, S. 96-110. Andrea Zink 90 Geschehen, dem die Hauptfiguren, der französische Konsul Jean Daville und die osmanischen Wesire, unterworfen sind, zeigen sich die peripheren Figuren und Szenen ganz unabhängig. Am Textrand aber spielen sich geheimnisvolle, in ihrer Bedeutung noch offene Ereignisse ab. Es scheint, als habe Andrić im besetzten Belgrad, in dem er seinen Roman verfasst hat, auf eine typisch imperiale Grenzregion aufmerksam machen wollen, auf ein Land weit entfernt von den Hauptstädten, das sich der politisch-militärischen Ordnung entzieht. Die bosnische Peripherie hält Rückzugsmöglichkeiten für die Unangepassten bereit, Nischen, in denen die Bewohner wortlos auf bessere Zeiten warten können. Agathes Auftritt gleicht einer Stummfilmszene, wobei das Schweigen - wie Radivoje Konstantinović gezeigt hat 30 - zu den wichtigsten stilistischen Merkmalen von Travnička hronika gehört. Die großzügige Ausstattung des Romans mit Nebenfiguren, Nebenschauplätzen und Nebenhandlungen, seine ‚unproportionale‘ Komposition bringt mithin die heimliche, verschwiegene Macht der Peripherie über das Zentrum zum Ausdruck. Dabei hat Andrić nicht zuletzt seine Zeit, die Zeit der Textabfassung im Blick. Aus der bosnischen Provinz könnte den Herrschenden in Zagreb und in Belgrad Gefahr drohen, wird doch gerade hier, im Hinterland, eine Auferstehung des kulturell vielfältigen Jugoslawiens als möglich erachtet. Noch deutlicher inszeniert Andrić die Wiederauferstehung Jugoslawiens in seinem berühmtesten Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija), der wie Wesire und Konsuln zwischen 1941 und 1945 verfasst wurde und über weite Strecken die osmanische Epoche in Bosnien zum Thema hat. Auch in diesem Falle operiert der Autor mit einer Randfigur. Während sich in Wesire und Konsuln aber die Textränder ausdehnen und das Zentrum der Handlung (sowie der Politik) zusehends in die Enge treiben, setzt Andrić in der Brücke über die Drina eine andere Technik ein: Er zitiert sich selbst in unauffälliger Form und lässt eine seiner sympathischsten Figuren, den Zigeuner Ćorkan, aus seinem Frühwerk wieder auferstehen. Ćorkan, der in der Erzählung Mila und Prelac (Mila i Prelac) bereits zu Grabe getragen worden war, tanzt im 15. Kapitel der Brücke über die Drina betrunken über das glatte Geländer der Višegrader Brücke. Dieses realistisch und metapoetisch zu verstehende Nomadentum zeigt die Unzerstörbarkeit (und Wiederbelebbarkeit) der gesellschaftlichen Randgruppen, mithin einer multinationalen Gemeinschaft und auch der Dichtung unter schwierigsten politischen Bedingungen an. Die fehlende Kontrolle der imperialen Peripherie durch das weit entfernte Zentrum bringt allerdings nicht nur positive Phänomene zum Vor- 30 Radivoje Konstantinović, Stilska funkcija tišine u Travničkoj hronici, in: Zadužbina Ive Andrića, Delo Ive Andrića (Anm. 27), S. 293-297. Land in Bewegung 91 schein. Das gilt für die Brücke über die Drina ebenso wie für Wesire und Konsuln. Andrić ist auch ein Skeptiker, und er hat einen überraschenden Weitblick. In Wesire und Konsuln werden wir mit der meisterhaften Darstellung nationalistisch motivierter Racheakte und Pogrome konfroniert. Andrić zeichnet die Umstände, den Verlauf, und die Sinnlosigkeit dieser Aktionen unmissverständlich nach. Sie werden motiviert durch ein Machtvakuum in Travnik. Der Wesir hat seinen Posten vorübergehend verlassen: Er ist zum alljährlichen Sommerfeldzug gegen die aufständischen Serben jenseits der Grenze abberufen worden. Sobald sich die Machthaber aus dem Staub gemacht haben, kommen die Aggressionen der Bevölkerungsmasse ungehindert zum Vorschein; sie richten sich in plötzlichen, unvorhersehbaren Aktionen gegen ausgewählte Volksgruppen und münden mitunter sogar in Selbstzerstörung. Die Abwesenheit des Wesirs ist für die muslimischen Kaufleute jedenfalls Grund genug, den Markt zu schließen und ihre Rechnung mit den Serben selbst zu begleichen. Man kennt Andrićs auktorial-distanzierte Erzählweise, die er auch dann anwendet, wenn Mitleid, Abscheu oder Entsetzen angebracht wären. In Wesire und Konsuln werden uns die blinden Aktionen der Masse in sachlichster Weise vor Augen geführt. Begeistert jagen Muslime zur Richtstätte, um sich an der Folter von gefangenen Serben zu ergötzen. 31 Aber als die Zuckungen des Gewürgten sich in Todeskrämpfe verwandelten und seine Bewegungen unglaublich entsetzliche und phantastische Formen annahmen, wollten die zunächst stehenden Zuschauer dem Schauspiel den Rücken kehren und sich davonmachen. […] Aber jener Teil der Masse, der das Schauspiel nicht zu sehen bekam, drängte, stieß die Leute aus den ersten Reihen immer näher an die Richtstätte heran. Die wiederum kehrten, entsetzt von der Nähe der unerwarteten Martern, der Stätte den Rücken und gaben sich verzweifelte Mühe, durch die Menge zu dringen und zu entfliehen, wobei sie besinnungslos mit den Fäusten um sich schlugen, als flüchteten sie vor einer Feuersbrunst. […] Parallel zu der langsamen Erdrosselung und der grausigen Zappelei des Opfers kam es so ringsum zu einem regelrechten Handgemenge, zu einer ganzen Kette örtlicher Zusammenstöße, Auseinandersetzungen und wahrer Schlägereien. 32 31 Die Folter führten die muslimischen Machthabenden traditionellerweise nicht selbst durch, sondern sie delegierten dieses unschöne Geschäft an Zigeuner, so auch in Wesire und Konsuln und in der Brücke über die Drina. 32 Andrić, Wesire und Konsuln (Anm. 25), S. 393f; Andrić, Travnička hronika (Anm. 25), S. 339: „Ali kad trzanje davljenika postade samrtničko i njegovi pokreti neverovatno strašni i fantastični, oni koji su bili najbliži stadoše da se okreću i da uzmiču. […] Ali masa koja prizor nije mogla da vidi navaljivala je i gurala one koji su bili u prvim redovima sve bliže. Ovi opet, užasnuti blizinom neočekivanih muka, okretali Andrea Zink 92 So unvermittelt und energiegeladen sich die Masse auf ihren vermeintlichen Gegner gestürzt hat, so verliert ihre Bewegung doch schon bald jede Richtung und Orientierung. Schließlich wird aus dem Versuch, die Serben zu lynchen, ein Handgemenge unter den Muslimen selbst. An anderer Stelle spricht Andrić, ganz ähnlich wie Krleža, von einem „blutigen Karneval“. 33 Das gegenseitige Morden wird zum Rausch, eine Motivation ist nicht mehr zu erkennen. Angesichts dieser Ausgangslage scheint die Wiederherstellung eines multinationalen jugoslawischen Staates in Frage gestellt, denn die Gefahren drohen gerade auch von innen. Schon während des Zweiten Weltkrieges macht Andrić damit auf die problematische Zukunft eines neuen Jugoslawiens aufmerksam. Nicht Stabilität, sondern eine schwer zu kontrollierende Dynamik kennzeichnet den bosnisch-jugoslawischen Raum. Die imperiale Grenzzone mag manchen Quergeistern und Randgruppen Schutz bieten, sie erweist sich aber auch als guter Nährboden für nationalistische Gesinnungen und schürt Missgunst, Wut und Hass. Kommt die imperiale Kontrolle abhanden, so sieht Bosnien nicht mehr nur dem Grenzraum eines Großreichs ähnlich, sondern dem unüberschaubaren glatten Raum, so wie er von Deleuze/ Guattari charakterisiert wurde: Die vorwärtsdrängende, ziellose Bewegung von Banden ist für einen solchen Raum typisch. Jugoslawien III: Während und nach den Kriegen der 1990er Jahre Die bosnisch-kroatisch-serbische Literatur - und, wie noch zu zeigen sein wird, auch die amerikanische -, die während und nach dem Kollaps des jugoslawischen Staates entstanden ist, greift die Dynamik des Krieges und der Nachkriegszeit, darunter die Bevölkerungsbewegungen in vielfältiger Weise auf. Sie setzt Krieg, Heimatlosigkeit und Identitätsverlust thematisch und poetisch - mit Hilfe spezifischer Erzählstrategien - um. Zwei Möglichkeiten seien hier kurz skizziert, bevor ein konkretes Beispiel, in dem sich die Verfahren kreuzen, den Schlusspunkt dieser kurzen Abhandlung bildet. Für die Belletristik, die noch zur Zeit der Kriegshandlungen geschrieben wird, ist die poetische Gestaltung der Attacke kennzeichnend. Dies gelingt u.a. durch die Gattungswahl. Wie Karl-Heinz Bohrer in seinem Aufsatz „Stil su leđa gubilištu i očajnim naporom nastojali da se probiju i pobegnu, tukući izbezumljeno pesnicama oko sebe kao da beže od požara. […] Tako se, pored laganog davljenja i jezivog poigravanja gubljenika, razvijala svuda uokolo gužva i šakanje, čitav niz pojedinačkih sukoba, svađa i pravih tuča.“ 33 Andrić, Wesire und Konsuln (Anm. 25), S. 400; Andrić, Travnička hronika (Anm. 25), S. 346. Land in Bewegung 93 ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren“ 34 darlegt, kann vor allem die - für die Novelle typische - Kunst der Pointierung zur Verletzung der Leser führen und auch auf reale Verletzungen reagieren. Diese Form der Kriegsdarstellung findet sich besonders in Miljenko Jergovićs 1994 publiziertem Novellenzyklus Sarajevski Marlboro, 35 wobei der pointierte Einsatz eines jugoslawischen Kulturphänomens nur in einem einzigen Fall, in der Erzählung Kondor, zur überraschenden Rettung des Helden führt. 36 In allen anderen Erzählungen gehen die Handlungsumschwünge und Pointen auf die überraschenden Wandlungen der Bewohner Sarajevos in nationalistische Akteure zurück. Für eine zweite Strategie der Kriegsverarbeitung, die sich besonders nach 1995 durchsetzt, kann Vladimir Arsenijevićs Prosa als Beispiel stehen. Obwohl der Autor seine zunächst geplante Kriegstrilogie mit dem bezeichnenden Titel Cloaca maxima unvollendet beließ, 37 lässt er viele seiner Helden von einem Text zum anderen wandern und unterstreicht durch diese beständige Präsenz nicht nur die Fluchtbewegungen, sondern - da die Figuren nach wie vor mit Aggressionen konfrontiert werden - auch die Beharrlichkeit von Konflikten. Auf diese Weise kann Arsenijević - etwa in der Erzählung Wurzellosigkeit (Neukorenjenost) 38 - die alljährlichen Mai-Krawalle der Berliner autonomen Szene mit dem Kosovo-Krieg, die heimatlosen serbischen Intellektuellen mit dem Irak-Konflikt in Verbindung bringen. 39 Die 34 Karl Heinz Bohrer, Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren, in: Rolf Grimminger (Hrsg.), Kunst - Macht - Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggression, München 2000, S. 25-42. 35 Miljenko Jergović, Sarajevo Marlboro, Frankfurt a. M. 2009; Miljenko Jergović, Sarajevski Marlboro, in: Ders., Sarajevski Marlboro. Karivani. Druge priče 1992-96, Zagreb 1999, S. 7-123. 36 Seine Rettung aus der Gefangenschaft gelingt dem Helden, indem er sich als „Kondor von Treskavica“ ausgibt. Mit diesem Namen rekurriert er auf die jugoslawische Fernsehgemeinschaft, die sich an Partisanenfilmen, in denen der Deckname Kondor gängig ist, und auch am amerikanische Spionagefilm, etwa Sidney Pollacks Three Days of a Condor, ergötzt hatte. Als „Kondor“ tauschen die serbischen Tschetniks ihren Gefangenen gegen eigene Leute aus, an einem „Kondor“ aus den eigenen Reihen sind auch die Muslime interessiert. 37 Es existieren nur die ersten beiden Bände: Vladimir Arsenijević, Cloaca maxima. Eine Seifenoper, Berlin 1996; Vladimir Arsenijević, Cloaca maxima I. U potpalublju, Beograd 1994 und Vladimir Arsenijević, Anđela. Cloaca maxima II, Beograd 1997, das noch keine deutsche Übersetzung gefunden hat. 38 Vladimir Arsenijević, Wurzellosigkeit, in: Richard Swartz (Hrsg.), Der andere nebenan. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas, Frankfurt a. M. 2007, S. 25-46; Vladimir Arsenijević, Neukorenjenost, in: Ričard Švarc (Hrsg.), Drugi pored mene. Antologija priča i eseja pisaca jugoistočne Evrope, Lazarevac 2007, S. 22-39. 39 Für ein detailliertes Porträt von Autor und Werk siehe: Andrea Zink, Von den Vorzügen der Kanalisation oder Aufzeichnungen aus dem jugoslawischen Untergrund, Andrea Zink 94 Bewegung der Texte und Textelemente, die Reinkarnation von Figuren und Szenen in immer neuen Kontexten dürfte zu den produktivsten Verfahren in der jüngsten bosnisch-kroatisch-serbischen Jugoslawienliteratur gehören. Diese Spurenlegung, ebenso wie die novellistische Technik der Pointierung lässt sich auch in Aleksandar Hemons kurzer Erzählung Islands 40 nachweisen. Dabei zeigt schon der souverän vollzogene Sprachwechsel, der dem Autor großes Lob von Seiten der Rezensenten einbrachte, 41 wie man sich die neue jugoslawische Dynamik vorzustellen hat. Sie beinhaltet das Phänomen der Migration und führt zu einem Blick auf die Heimat, der aus der Ferne kommt: Hemons Jugoslawientexte sind auf Englisch verfasst und thematisieren doch gleichzeitig den Balkan respektive Osteuropa. Die Bewegung der Auswanderung schwingt, obwohl sie nicht eigens thematisiert sein muss, immer mit. Mit gutem Recht lässt sich Hemons Werk deshalb der Migrationsliteratur zuordnen, einer Literatur, die sich zwischen den Kulturen situiert. 42 Abgesehen von der Dynamik, die durch die ‚Fremdsprache‘ mitgeliefert wird, macht Islands aber auch eine typisch jugoslawische Bevölkerungsbewegung zum Thema: die Ferien, die ein Großteil der Jugoslawen - zu Zeiten Jugoslawiens - an der kroatischen Adriaküste verbringt. 43 Auf eine solche Sommerreise geht auch das Handlungsgerüst der Erzählung Islands zurück. Der Ich-Erzähler, ein kleiner Junge von neun Jahren, fährt mit seinen Eltern aus Sarajevo auf die Insel Mljet. Die Erzählung setzt mit dem vollbepackten Auto der Marke Austin ein, in dem sich die Familie auf dem schnellsten unter http: / / www.novinki.de/ html/ vorgestellt/ Portrait_Arsenijevic.html (Zugriff 11. 2. 2013). 40 Aleksandar Hemon, Islands, in: Ders., The Question of Bruno, London 2000, S. 1-20. Da das Original in Englisch geschrieben wurde (zuerst erschienen in der amerikanischen Literaturzeitschrift Ploughshares 1998) und Aleksandar Hemon die bosnische Version nicht selbst besorgt hat, habe ich auf die Zitation dieser Übersetzung verzichtet. Die erste deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Mljet in der Erzählsammlung von Dragoslav Dedović (Hrsg.), Das Kind. Die Frau. Der Soldat. Die Stadt, Klagenfurt 1999, S. 31-50 erschienen. 41 Siehe die Reaktionen auf die Veröffentlichung von The Question of Bruno in der englischsprachigen, besonders der amerikanischen Presse, unter http: / / www. aleksandarhemon.com/ bruno/ bruno/ press.html (Zugriff 12. 2. 2013). 42 Für nähere Bestimmungen der Migrationsliteratur siehe den Beitrag von Eva Hausbacher in diesem Band. 43 Wie sehr die Ferien zur jugoslawischen Identität beigetragen haben, lässt sich nachlesen in: Igor Duda, Adriatic for All. Summer Holidays in Croatia, in: Breda Luther / Maruša Pušnik (Hrsg.), Remembering Utopia. The Culture of Every Day Life in Socialist Yugoslavia, Washington 2010, S. 289-311. Duda hat seinen Text auch mit den Titelblättern der Zeitschrift Vikend illustriert (ebd. S. 301f). Diese Titelblätter demonstrieren unmissverständlich, wie das „Vikend“ am besten verbracht werden kann, nämlich im Wasser. Land in Bewegung 95 Wege an die Küste begibt; der Aufenthalt bei Onkel Julius und Tante Lyudmila auf Mljet dauert etwa eine Woche, am Textende fährt man wieder nach Hause. Bei ihrer Ankunft in Sarajevo erlebt die Familie allerdings eine unangenehme Überraschung: Der Nachbar, der die Blumen hätte gießen und die Katze füttern sollen, ist an einem Herzschlag gestorben, so dass die Blumen nun vertrocknet sind und die Katze voll „unheilbarem Hass“ auf die Rückkehrer blickt. „I would call her, but she wouldn’t come to me, she would just look at me with irreversible hatred“. Die Pointe der Erzählung - die unerwartete Übertragung des familiären Ferienglücks in eine Atmosphäre der Aggression - spielt deutlich auf die vergangenen Kriegsereignisse an. In Jugoslawien, zumal in Sarajevo, ist man vor bösen Überraschungen offenbar nicht sicher. Dass die plötzlichen Handlungsumschläge und Aggressionen keineswegs einmalig sind, sondern nachgerade den Jugoslawiendiskurs ausmachen - der seinerseits auf die Geschichte des Landes rekurriert -, zeigt Hemon durch intertextuelle Spuren an. Schon durch die Wahl der Kindersperspektive schreibt sich der Autor in die dynamische jugoslawische Erzähltradition ein, er wird zum Nachfolger von Danilo Kiš, der in kindlicher Manier den glücklichen und doch gleichzeitig bedrohten Alltag seiner halbjüdischen Familie in den frühen 1940er Jahren eingefangen hat. 44 Und naturgemäß zieht die kindliche Perspektive besondere Verfremdungseffekte nach sich, sie stellt eine ausgezeichnete Möglichkeit der Gesellschaftskritik dar, die von Kiš und von Hemon vielfach eingesetzt wird. Obwohl die heitere Ferienstimmung in Islands nicht unbedacht bleibt, macht Hemon durch subtile Vergleiche und Metaphern auf die Abgründe seines Landes, insbesondere auf die Kehrseite des Sozialismus aufmerksam. Zu Beginn des Textes, steht das erzählende Ich am Kai und wartet auf ein Schiff, das die Familie nach Mljet bringen soll. Dabei beobachtet und kommentiert der Junge folgende Szene: One of the Germans, an old, bony man, got down on his knees and then puked over the pier edge. The vomit hit the surface and dispersed in differrent directions, like children running away to hide from the seeker. Under 44 Was für den Bosnientext gilt - wie Miranda Jakiša überzeugend dargelegt hat (Miranda Jakiša, Bosnientexte. Ivo Andrić, Meša Selimović, Dževad Karahasan, Frankfurt a. M. 2009) -, kann auch für den Jugoslawientext nachgewiesen werden: Ein Jugoslawientext macht sich als solcher kenntlich, indem er sich auf frühere Jugoslawientexte bezieht. Dabei zeichnen sich einige zentrale Bezugstexte, sozusagen die ‚Klassiker‘ ab. Danilo Kišs autobiographische Trilogie gehört zu diesem Kreis. Neben Hemon unterstreicht Miljenko Jergović diese These, indem er sich im ersten Teil seines Erzählbands Mama Leone mittels Kinderperspektive und Motivik deutlich auf Kiš bezieht. Siehe dazu auch: Andrea Zink, Aggressiv gegen den Krieg. Der Zerfall Jugoslawiens im Spiegel der schönen Literatur, in: Osteuropa 3/ 2008, S. 85-94. Andrea Zink 96 the wave-throbbing, ochre and maroon island of vomit, a school of aluminium fish gathered and nibbled it peevishly. 45 In Tolstojscher Manier fokussiert und vergrößert Hemons Erzähler die negativen Details des Alltags, darüber hinaus ist die Textstelle mit Vergleichen und Metaphern durchsetzt, die den Spielraum der Deutungen beachtlich erweitern. Das kindliche Versteckspiel, mit dem die zentrifugale Bewegung des Erbrochenen verglichen wird, weckt nicht nur heitere Assoziationen, geht es doch hauptsächlich darum, eine ‚Gefangennahme‘ zu vermeiden, mithin einer Bedrohung auszuweichen, die die anstürmenden, waffengleichen Aluminium-Fische noch verstärken. Da der gesamte Vergleich von einem schwimmenden, nach außen beförderten Mageninhalt ausgeht, ergibt sich ein überaus ungemütliches Gesamtbild, das schließlich auf die Insel selbst übertragen wird: Für kurze Zeit wird die Fahrt nach Mljet zu einer Fahrt auf die „isle of vomit“. Von diesem hässlichen Flecken, der „Insel des Erbrochenen“, ist es nicht weit zur Gefängnisinsel Goli otok, dem jugoslawischen Pendant zum sowjetischen GULag. Diese Spur, die den negativen Auswirkungen des Sozialismus nachgeht und den problematischen Gründungsmythos des Staates Jugoslawien aufgreift, 46 wird durch Onkel Julius’ Erinnerungen bestätigt und verdichtet. Der Onkel hat nämlich, wie der Ich-Erzähler heimlich mit anhört, eine geraume Zeit im sowjetischen Lager zugebracht. Nicht nur schaden diese Geschichten dem guten Image des Sozialismus, mit dem der Junge aufgewachsen ist und dem er sich zu Beginn der Erzählung auch noch vorbehaltlos verpflichtet sieht - mit großer Begeisterung und bis zur Heiserkeit singt er Revolutionslieder auf der Fahrt ans Meer -, sondern sie rufen einen zweiten jugoslawischen Text auf, der sich dem sowjetischen GULag widmet. Onkel Julius erzählt u.a. von einem brutalen GULag-Insassen mit Namen Vanyka. Vankya verschafft sich Respekt durch einen Mord, nachdem er im Kartenspiel verloren hat. „He won acclaim when he killed a marked person, some Jew, after losing a card game.“ 47 Dieser Satz, eine Bemerkung am Rande, greift Danilo Kišs Erzählung Der magische Kreislauf der Karten (Magijsko kruženje karata) aus dem Zyklus Ein Grabmal für Boris Dawidovitsch (Grobnica za Borisa Davidoviča) 48 auf. Bei Kiš geht es, viel deutlicher noch 45 Hemon, The Question of Bruno (Anm. 39), S. 3f. 46 Der Zweite Weltkrieg mitsamt der faschistischen Vergangenheit großer Teile der jugoslawischen Bevölkerung scheint schon allein deshalb aufgerufen, weil sich ein Deutscher erbricht. 47 Hemon, The Question of Bruno (Anm. 39), S. 11. 48 Danilo Kiš, Der magische Kreislauf der Karten, in: Ders., Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch, Frankfurt a. M. 1986, S. 63-86; Danilo Kiš, Magijsko kruženje karata, in: Ders., Grobnica za Borisa Davidoviča (Sabrana dela 5), Beograd 1995, S. 61-82. Land in Bewegung 97 als bei Hemon, um eine ungewöhnliche Wette im GULag: Wer beim Spiel verliert, muss töten. Zieht man darüber hinaus in Betracht, dass Danilo Kiš anlässlich der Publikation von Ein Grabmal für Boris Dawidovitsch mit dem Vorwurf des Plagiats konfrontiert wurde und sich gezwungen sah, ins Exil zu gehen, 49 und dass Hemons jugoslawische Erzählung ebenfalls im amerikanischen Ausland geschrieben wurde, so ist der Bezug zwischen beiden Texten und beiden Autoren kaum zu übersehen. Mit dem unauffällig angebrachten Zitat unterstreicht Hemon, dass die jugoslawischen Schriftsteller, in deren Ahnengalerie er selbst einen Platz reklamiert, ein politisch begründetes, nomadisches Dasein führen. Neben vielfältigen Formen der Dynamik, die der problematischen Geschichte Jugoslawiens Ausdruck verleihen, gibt es in der Erzählung allerdings auch den angenehmen Stillstand zu entdecken, das schläfrig wohlgeordnete und äußerst sinnlich präsentierte Strandleben der Jugoslawen. Mitunter werden die Leser, wie der kleine Junge von seinen Eltern, zum Innehalten gezwungen und dem regelmäßigen Atmen der Nachbarn, markiert in den Bewegungen ihrer Bäuche, ausgesetzt. We’d get to the shingle beach, near the dam dividing the two lakes. I’d have to sit on the towel for a while before I was allowed to swim. On the left, there would usually be an old man, his skin puckered here and there, a spy novel over his face, white hair meekly bristling on his chest, his belly nearly imperceptibly ascending and descending, with a large metallic-green fly on the brim of his navel. On our right, two symmetrical old man, wearing straw hats and baggy trunks, would play chess in serene silence, their doughy breasts overlooking the board. 50 Mit Blick auf den pointierten Schluss der Erzählung und die subtilen intertextuellen Bezüge, in denen die Bewegungen der Texte und die Wanderungen der Dichter zum Vorschein kommen, wirkt die Stabiliät des jugoslawischen Ferienparadieses - es dürfte sich gerade in der regelmäßigen organischen Bewegung des Atmens im Gegensatz zu den kriegsbedingten Überraschungen oder den unregelmäßigen Spuren sozialistischer Verfehlungen kenntlich machen - jedoch mehr als trügerisch. Die Inseln legen vielmehr nahe: Jugoslawien ist zuerst und vor allem eine dynamische Größe, diese Dynamik kann mit einigem Gespür auch schon in der vermeintlich heilen sozia- 49 Man wirft Danilo Kiš vor, er habe sich das Werk des jugoslawischen Kommunisten österreichischer Herkunft Karlo Štajner, 7000 Tage in Sibirien, Wien 1975 (Karlo Štajner, 7000 danu u Sibiru, Zagreb 1971) unmarkiert zunutze gemacht und außerdem bei Borges abgeschrieben. Gegen diese Vorwürfe nimmt Kiš in seiner Streitschrift Danilo Kiš, Anatomiestunde, München 1998 (Danilo Kiš, Čas anatomije. Sabrana dela 8, Beograd 1995) Stellung. 50 Hemon, The Question of Bruno (Anm. 39), S. 13. Andrea Zink 98 listischen Welt entdeckt werden. Mit seinem poetisch dichten Jugoslawiendiskurs bestätigt Hemon damit die Thesen seiner längst verstorbenen Vorgänger. Schluss Die bosnisch-kroatisch-serbische Literatur, wozu hier auch die amerikanisch-bosnische Migrationsliteratur von Aleksandar Hemon gezählt werden soll, entwirft Jugoslawien als Land in Bewegung. Diese Dynamik ist nicht zuletzt der Historie geschuldet, denn Jugoslawien drängt sich als literarisches Thema gerade dann auf, wenn die politischen Verhältnisse in Unordnung geraten sind: am Ende des Ersten Weltkrieges, während des Zweiten Weltkrieges und mit den Jugoslawienkriegen der 90er Jahre. Von einem Ruhepol, einem idyllischen Ort oder einer gesicherten Heimat kann unter diesen Bedingungen nicht die Rede sein. Der Chronotopos der Krise kennzeichnet alle Jugoslawientexte. Dynamische Figuren, gleichsam typische Wanderer rücken in den Vordergrund: Soldaten, Diplomaten, Vagabunden oder Reisende - um hier nur einige Beispiele aus den zitierten Werken zu nennen. Explosive Handlungen oder auch ungewöhnliche Formen eines langsamen Vorwärtskommens (wie das Wuchern der Textränder in Andrićs Travnička hronika) verstärken den Eindruck von einer unkalkulierbaren Region mit ebenfalls undurchschaubaren Akteuren. Mit einem Wort: Jugoslawien wird als „glatter Raum“ entworfen, als Raum, der viele Freiheiten, aber nur wenig Schutz bietet und von politischen Mächten schwer zu kontrollieren ist. Diese Dynamik unterstreicht die postjugoslawische Literatur, in der sich die literarischen Texte selbst auf den Weg machen, in der die Erinnerung dominiert und Zitate, Allusionen, Stilisierungen aller Art zu entdecken sind. Jugoslawien wird nun als intertextuelles Netzwerk inszeniert, in dem vorzugsweise literarische Ahnen zur Sprache kommen, die selbst ein nomadisches Dasein geführt oder von diesem erzählt haben. In auffallender Weise beruft sich die Jugoslawienliteratur auf die imperiale Vergangenheit des Landes. Die jugoslawische Dynamik wird besonders mit der peripheren Lage in Verbindung gebracht, die Kroatien in der Donaumonarchie, Bosnien im Osmanischen Reich, und die SFRJ im sozialistischen Verbund eingenommen hatten. Dabei profitieren die Peripherien von den zivilisatorischen Leistungen der Zentren, wozu die religiöse, ethnische und sprachliche Vielfalt gehört, sie können sich aber auch zu unkontrollierbaren „glatten Räumen“ wandeln und die zivilisatorischen Errungenschaften plötzlich über Bord werfen. So deutlich sich die Jugoslawienliteratur „jenseits des Nationalen“ situiert und ein transnationales Bewusstsein vermittelt, Land in Bewegung 99 so unverkennbar zeigt sie auch die Möglichkeit an, wie unter sozialistischen Brüdern und in Vielvölkerstaaten der blanke Nationalismus ausbrechen könnte. Die hungrige, hasserfüllte, in Sarajevo verlassene Katze, mit der Hemons Erzählung Islands schließt, bringt diese Möglichkeit metaphorisch zum Ausdruck. Kati Brunner Erzählte Peripherie Raum und Bewegung in Ol’ha Kobyl’ans’kas Roman Zeml’a (Erde) Die Zugehörigkeit Galiziens und der Bukowina zu Österreich-Ungarn zwischen 1772 bzw. 1775 und 1918 sowie die historisch gewachsene multinationale Beschaffenheit ihrer Bevölkerung rückt diese Regionen ins Blickfeld verschiedener sich über-, neben- und gegenlagernder Diskurse. Nicht selten sind die historischen Regionen als Bausteine verschiedener Argumentationsansätze für eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union instrumentalisiert und sowohl in literarischen und publizistischen, als auch in wissenschaftlichen Texten zu (verlorenen) Prototypen eines multikulturellen Miteinanders stilisiert worden. Es wird ihnen eine Scharnierfunktion zwischen (west)europäischer und ukrainischer Kultur zugeschrieben. Gleichzeitig figuriert das habsburgische Erbe als Merkmal des Anderen im ukrainisch-nationalen Diskurs. Aus dem Impuls einer Neudefinition europäischer Gemeinschaft nach den sich aus den Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelten Katastrophen der beiden Weltkriege und des Holocaust heraus sind Galizien und die Bukowina im deutschsprachigen Raum zu - teilweise mythologisierten - Forschungsobjekten und Projektionsflächen des Multikulturellen geworden. Maßgeblich dazu beigetragen hat die Vielzahl an deutschsprachigen literarischen und publizistischen Texten, in denen diese beiden Regionen einerseits zu einem ambivalent „halb-asiatischen“ „Europa im Kleinen“, andererseits zu einem Erinnerungsort des Holocaust verdichtet sind. Im Kontext des neuen Interesses für imperiale Räume, für die Vielvölkerstruktur der Habsburgermonarchie und die Determinanten ihres Werdens, Bestehens und Zerfalls galt und gilt vor allem den Werken von Joseph Roth (1894-1939), Karl Emil Franzos (1848-1904) sowie Leopold von Sacher-Masoch (1836-1895) große Aufmerksamkeit. Trotz der spannenden Befunde gerade zu den Raumsemantiken der drei genannten Autoren erweist sich die Forschungslage zu einer Geopoetik Galiziens und der Bukowina als einseitig, da sie vorwiegend an in deutscher Sprache zugängliche Texte gekoppelt ist. Zwar haben sich mit Jurij Andruchovyč und Taras Prochas ko, deren Texte in deutscher Übersetzung vorliegen, zwei Vertreter der ukrainischen Gegenwartsliteratur in den Galizien-Kanon eingeschrieben. Dennoch bestehen in Bezug auf eine differenzierte Perspektivierung Lücken, die sich nicht zu- Kati Brunner 102 letzt aus dem fehlenden sprachlichen Zugang ergeben. Dies gilt für den gegenwärtigen ukrainischen Nationalwie für den Europa-Diskurs, der vielfach auf die transkulturellen Biographien und Motive im national aufgefassten literarischen Kanon verweist. Erst langsam, im Zuge einer größeren Übersetzungsförderung, aber auch kleinerer Liebhaberprojekte rücken Texte u.a. von Roth, Franzos, und Sacher-Masoch einerseits und Paul Celan, Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger etc. andererseits auch ins Blickfeld ukrainischer Galizien- und Bukowinadiskurse. In jüngeren ukrainischen Arbeiten zu diesen Diskursen wie auch im Kontext ukrainischer Genderforschung erscheint immer wieder der Name der in der Bukowina beheimateten deutsch-ukrainischen Autorin Ol ha Kobyl anska (1863-1942), der eine Vorreiterrolle für die ukrainische Moderne zugeschrieben wird. Untrennbares Attribut ist dabei eine nimec kist (Deutschheit), die einmal als Marginalisierungsstrategie des dominierenden zeitgenössischen Diskurses ukrainischer narodnyky (Volkstümler) aufgedeckt, zum anderen aber auch als impulsgebend für eine neue Semantik und Ästhetik in der ukrainischen Literatur des Fin de Siècle verstanden wird. 1 Kobyl ans kas deutschsprachige Texte wurden kaum publiziert und rezipiert. Doch bietet ihre Prosa als Baustein einer transnationalen Bukowina- Literatur und im Sinne einer Literatur zwischen den Welten 2 interessante Anknüpfungspunkte. Dies umso mehr, als in Kobyl ans kas Werk Aspekte des Nationalen und des Imperialen mit Fragen weiblicher Emanzipation verknüpft werden. Ihre Texte können als Versuchsanordnungen gelesen werden, in denen die Autorin dominierende zeitgenössische Diskurse aufgreift, variiert, fortführt oder subvertiert. Die Bukowina wird darin zum Verhandlungsraum sozialer wie nationaler Identitäten und Ordnungen. Die Inszenierung bukowinisch-ukrainisch konnotierter Lebenswelten funktioniert vielfach über die Rückkoppelung von Raum- und Identitäts-Erfahrungen an Praktiken habsburgisch-imperialer Integration bzw. Kolonisation, an einen die imperialen Grenzen überschreitenden Ukrainediskurs und an Imaginationen von Ost und West, die auf die Bukowina als Grenzraum projiziert werden. 1 Віра Агеєва, Жіночий простір. Феміністичний дискурс українського модернізму, Київ 2003. Тамара Гундорова, Femina melancholica: Стать і культура в гендерні утопії Ольги Кобилянської, Київ 2002. Соломія Павличко, Дискурс модернізму в українській літературі, in: dies., 426. 2 Begriff siehe Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005. Teorija literatury, Kyïv 2009, S . 21- Raum und Bewegung in Ol’ha Kobyl’ans’kas Roman Zeml’a (Erde) 103 Im Folgenden sollen exemplarische Aspekte der ambivalenten Raummetaphorik Kobyl’ans’kas in ihrem Roman Zeml’a (Erde, 1901) 3 aufgezeigt werden. Als Vergleichsfolie dienen Texte von Karl Emil Franzos und Leopold von Sacher-Masoch, die die deutschsprachige Galizien- und Bukowinarezeption in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt haben. Der jüdischstämmige Franzos, geboren im galizischen Čortkiv, war überzeugter Chronist deutsch-österreichischer Mission in den als rückständig wahrgenommenen Randregionen der Habsburger Monarchie. 4 Insbesondere in der Hauptstadt des Kronlandes Bukowina, in Czernowitz, sah er diese Mission verwirklicht. Signifikantes Textbeispiel dafür ist der Abschnitt „Von Wien nach Czernowitz“ im ersten Band seiner „Culturbilder aus Galizien, Südrußland, der Bukowina und Rumänien“ 5 . In einer fiktiven Zugreise reiht der Erzähler Beobachtungen, Erlebnisse und Gespräche mit Mitreisenden aneinander, die einerseits den Weg vom Zentrum an die Peripherie des Habsburgerreiches, zum anderen die vagen Vorstellungen über den Osten im Allgemeinen sowie Galizien und die Bukowina im Besonderen illustrieren. So entspinnt sich zu Beginn folgender Dialog: „Bitte, mein Herr, ist die asiatische Grenze schon passiert? “ […] „Wo denken Sie hin - erst am Ural ...“ „Ja - wie diese Geographen sagen. Aber blicken Sie doch hinaus ...“ Das that ich. Es war hinter Lemberg. Der Zug wand sich durch ödes, ödes Haideland. Zuweilen war ein abscheuliches Hüttchen zu sehen; das modrige Strohdach stand dicht über der Erde auf: eine rechte Troglodyten-Höhle. Zuweilen ein Ochs vor einem Karren oder ein Haufe halbnackter Kinder. Und wieder die unendliche Oede der Haide, und der graue Himmel hing trostlos darüber. (C, S. 93) Es folgt die Belehrung durch den Erzähler, der Asien mit der Steppe zwischen Don und Wolga konnotiert (C, S. 94). Die ‚Steppe‘ steht demzufolge gleichermaßen für Ödnis, Rückständigkeit und mangelnde Zivilisation wie 3 1962, S. 7-298. Im Folgenden zitiert mit der Sigle E. 4 Hans-Christian Maner, Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München 2007, S. 230f. Alois Woldan, Die Huzulen in der Literatur, in: V. Plöckinger, M. Beitl, U. Göttke-Krogmann (Hrsg.), Galizien. Ethnographische Erkundung bei den Bojken und Huzulen in den Karpaten. Begleitbuch zur Jahresausstellung 1998 des Ethnographischen Museums Schloß Kittsee, Wien 1998, S. 151-166, hier S. 159. 5 Karl Emil Franzos, Von Wien nach Czernowitz, in: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, Südrußland, der Bukowina und Rumänien, Leipzig 1876, S. 91-113. Im Folgenden zitiert mit der Sigle C. Ol’ha Kobyljans’ka, Tvory v 5 tomach / II. Kyïv: Kati Brunner 104 auch für das aus westlicher Perspektive Andere im Osten, das Russländische Reich. Dies wird umso deutlicher, als Franzos’ Text mehr und mehr eine gedankliche Verschiebung der östlichen Grenze Europas inszeniert. So verweist der Erzähler auf Alexander Herzen, der angeblich meinte, es sei „Zeit, der geschichtlichen Lüge des Czars Peter ein Ende zu machen“ und den „Grenzpfahl Europas“ weiter nach Westen zu verschieben (C, S. 94). Seinem polnischen Schullehrer schreibt der Erzähler gar die Verortung Moskaus in Asien zu (C, S. 95), womit er die Arbitrarität des Europa-Asien-Diskurses untermauert. Während der Reise durch Galizien muss er sich immer wieder vergegenwärtigen: Trotz der Unannehmlichkeiten, Strapazen und exotischen Bilder „sind wir in Europa“ und „bleiben es auch“ ( C, S. 100). Schließlich erreicht der Zug Czernowitz: Prächtig liegt die freundliche Stadt auf ragender Höhe. Wer da einfährt, dem ist seltsam zu Muthe: er ist plötzlich wieder im Westen, wo Bildung, Gesittung und weißes Tischzeug zu finden. Und will er wissen, wer dies Wunder vollbracht, so lausche er der Sprache der Bewohner: sie ist die deutsche! […] Der deutsche Geist, dieser gütigste und mächtigste Zauberer unter der Sonne, er - und er allein! - hat dies blühende Stücklein Europa hingestellt, mitten in die halbasiatische Culturwüste. […] (C, S. 113) Die Hauptstadt der Bukowina wird zur Insel, zur Oase der Kultur und der Zivilisation. Die deutsch-österreichische Mission hat sich hier erfüllt, dem deutschen Geist werden, einem Regenten gleich, Güte und Macht zugeschrieben, ja er wird zum Zauberer erhöht, der die Ödnis der Steppe überwindet. Auch Leopold von Sacher-Masoch inszeniert in seinen Galizientexten die habsburgisch-österreichische Macht als positive Ordnung, der er vielfach Negativbeispiele vorheriger polnischer Herrschaft gegenüberstellt. So wird in dem Roman Der neue Hiob (1878) unter anderem die Abschaffung einer von Willkür geprägten Leibeigenschaft hervorgehoben. Es wird berichtet, dass der Schlüssel der griechisch-katholischen Dorfkirche zu polnischer Zeit von den Verwaltungsorganen an einen Juden verpachtet wurde. Diesem musste die griechisch-katholische, also ukrainische Gemeinde jeweils eine Schlüsselgebühr entrichten, um ihre Kirche für Gottesdienste und Andachten öffnen zu können. Diese als Willkürakt gegenüber den Ukrainern verstandene Praxis wird von den Habsburgern nicht übernommen. 6 Sacher-Masochs Figurationen zielen auf die Idealisierung einer multinationalen österreichischen Monarchie, in der sich die einzelnen Nationen frei entfalten können, die Identifizierung des Einzelnen mit einer Nation aber 6 Leopold von Sacher-Masoch, Der neue Hiob, Stuttgart 1878. Raum und Bewegung in Ol’ha Kobyl’ans’kas Roman Zeml’a (Erde) 105 unmöglich ist. 7 Die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen stehen einer solchen Vorstellung entgegen. Deshalb werden in den Masochschen Texten den Polen vorwiegend schlechte oder zumindest eigentümliche Eigenschaften zugeschrieben, ihre nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen in ironisierenden Texten der Lächerlichkeit preisgegeben. 8 Im Gegensatz dazu hegen Sacher-Masochs Erzählerfiguren Sympathie für die ukrainischen Bauern, die er, anders als die Polen, als loyale Untertanen der Monarchie zeichnet 9 und dabei überzeichnet. So auch im Neuen Hiob. Der Roman erzählt entlang den historischen Ereignissen des 19. Jahrhunderts die Lebensgeschichte des Bauern Teofil Pisarenko. Dieser erträgt, dem in die galizische Welt des 19. Jahrhunderts versetzten biblischen Hiob-Sujet gemäß, duldsam jegliche Schicksalsschläge, angefangen vom Militär über die Willkür der Leibeigenschaft bis zu Cholera, Heuschreckenplage, Flut und Feuer. Schließlich wird er von Gott für seinen Glauben und seine Geduld belohnt. Er kommt zu Wohlstand, gründet eine Schule in seinem Dorf und wird letztendlich sogar galizischer Abgeordneter in Wien. Der Einberufung ins Militär begegnet Teofil gefasst und bereitwillig: „Braucht Ihr einen Soldaten? Da bin ich, nehmt mich mit.“ 10 Leidensbereit erträgt er die fremde Sprache, die er erlernt, die Einsamkeit der Kaserne wie auch einen Spießrutenlauf. Statt an der Härte des Militärs zu zerbrechen, wächst er an der neuen Situation. Ganz im Sinne des Sacher-Masochschen Österreichdiskurses nimmt Teofil die zivilisatorische Mission an und wird zu ihrem ukrainischen Multiplikator. Kobyl’ans’kas Erde ist eine Bearbeitung des Brudermordsujets. Mychajlo, der ältere und arbeitsame Sohn des Bauern Ivonyka, wird zum Militärdienst eingezogen. Wenige Monate vor Ende der Dienstpflicht wird er, als er auf Urlaub zu Hause weilt, erschossen im Wald aufgefunden. Man verdächtigt Mychajlos jüngeren Bruder Sava, ihn aus Eifersucht auf die Gunst der Eltern und aus Neid um das bessere Stück Land, das Mychajlo zuteilwerden soll, getötet zu haben. Doch bereits die Tatsache, dass die Schuld Savas durch eine eigens einbestellte Untersuchungskommission nicht nachgewiesen 7 Alexandra Strohmaier, Der „Columbus des Ostens“ - Leopold von Sacher-Masoch als literarischer Ethnograph der Habsburgermonarchie. in: Karl Acham (Hrsg.): Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz. Werk und Wirken überregional bedeutsamer Künstler und Gelehrter vom 15. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende, Wien u.a. 2009, S. 315-328, hier S. 318. 8 Vgl. Strohmaier 2009. 9 Maria Klańska, Von Don Juan von Kolomea bis zu Dem neuen Hiob. Zum Bild der Ukrainer bei Leopold von Sacher-Masoch, in: Wolfgang Kraus / Dmytro Zatons’kyj (Hrsg.): Von Taras Ševčenko zu Joseph Roth. Ukrainisch-Österreichische Literaturbeziehungen, Bern u.a. 1995, S. 173-189, hier S. 184. 10 Sacher-Masoch, Hiob (Anm. 6), S. 84. Kati Brunner 106 werden kann, deutet darauf hin, dass der Brudermord in Kobyl’ans’kas Roman zwar das Sujet generiert, jedoch nicht das eigentliche Thema ist. 11 Vielmehr spürt Erde der Beschaffenheit und den kulturellen wie sozialen Praktiken einer Dorfgemeinschaft an der östlichen Peripherie der Habsburgermonarchie nach. Der Roman setzt ein mit der Verortung des Dorfes „D.“ in der Bukowina, zwei Stunden vom Fluss Sereth entfernt (E, S. 7). Ein Blick auf eine Karte von 1910 12 zeigt die Nähe des Flusses, hier rumänisch ‚Siretiu‘, zur Außengrenze des Habsburgerreichs. Abgesehen von den geographischen Markern wirkt Kobyl’ans’kas Beschreibung der Landschaft wie die Zeichnung einer Zwischenwelt, eines Ortes, an dem gegensätzliche Prinzipien aufeinandertreffen: Seine [des Dorfes] flachen Felder würden der Steppe ähneln, fielen sie nicht stellenweise ab, so als wären sie unzufrieden mit ihrer Lage, und bildeten kleine, seichte Becken. Und wäre nicht der große Wald, der sich an der Westseite des Dorfes entlang erstreckte, um, einer grünen Mauer gleich, den weiten Raum zu begrenzen. (E, S. 7) 13 Die Horizontale der Steppe und die Vertikale des Waldes werden gegeneinander gesetzt. Dabei bildet ‚Steppe‘ eine doppelte Leerstelle, denn hier ist zum einen gar keine Steppe vorhanden, zum anderen wird die zunächst angesprochene Ähnlichkeit der Fläche zur Steppe umgehend negiert: Die Fläche ist durch eine Vertikale gebrochen. Ohne die eurozentrische, plakative Formel eines ‚Halb-Asien ‘ explizit zu wiederholen, schreibt Kobyl’ans’ka den Bukowina- und Galiziendiskurs ihres Zeitgenossen Karl Emil Franzos zunächst fort. Jedoch erweist sich Kobyl’ans’kas Motiv der Steppe in Zeml’a als mehrdimensional. Es integriert zugleich die Bedeutung der Steppe als grenzenlosen Raum, der Bestandteil des russischen bzw. russländischen Selbstverständnisses ist. Dieser Weite ist im Westen eine Grenze gesetzt, ein Wald. Ist die Steppe mit dem Russländischen Reich konnotiert, so steht der Wald, folgt man Elias Canetti, für eine deutsche Raumerfahrung. Canetti verweist in Masse und Macht auf eine in der deutschen Dichtung vielfach tradierte Waldromantik. Erfahrungen von „Dichte“, „Parallelität“, „Zahl“, „Betonung der Vertikalen“, „Abgegrenzt- 11 12 Ion Nistor, Ethnographische Landkarte der Bukowina nach der Volkszählung von 1910, http: / / www.bukovinasociety.org/ map1910.html (27.06.2012). 13 „Його рівні поля пригадували б степ, якби не те, що місцями вони западають, мов знеохочені своїм полoженням, творячи плиткі невеликі кітли, і якби не той великий ліс, що тягнеться по західній стороні села і творить зелений мур поперек широкої площини, щоб обмежити її розмах.“ Vgl. Marko Pavlyšyn, „Zemlja“ bez bratobyvstva, in: Ders., Ol’ha Kobyljans’ka. Pročytannja. Charkiv 2008., S. 143-169. Raum und Bewegung in Ol’ha Kobyl’ans’kas Roman Zeml’a (Erde) 107 heit“, „Sauberkeit“ und „Standhaftigkeit“ konnotiert er im Bild des „marschierenden Waldes“ mit dem „Heer“ als „Massensymbol der Deutschen“. 14 In Kobyl ans kas Zeml a verdichtet sich der Wald, auch vor dem Hintergrund der Franzos’schen Dialektik, zum Gegenprinzip der Steppe, zur habsburgisch-deutschen Macht. Der Wald ist „groß“, ein „üppiger, fast unendlicher Riese“. Kleine Ausläufer, Baumgruppen bilden „Oasen“, „kleine Kolonien“ in den Feldern. Der mächtige ‚deutsche Wald‘, die deutsche Kulturlandschaft dringt vor und bildet neue Inseln. Der Wald westwärts des Dorfes heißt „herrschaftlicher Wald“ (ebd.). Habsburgerreich und Russländisches Reich berühren sich hier als mit nationaler Symbolik aufgeladene Bäume: „dünne, zarte Birken haben sich verwoben mit würdevollen Eichen“ (E, S. 7). Die Beschreibung der Felder in Kobyl’ans’kas Erde verweist auf eine weitere Dimension des Motivs der Steppe. Hier wiegen sich „goldener Weizen“ und „gelb-raschelnder Mais“, daneben steht „hoher, goldener Roggen“ (E, S. 31), erstrecken sich „grüne Reihen mit Klee“ (ebd.) und weiße Flächen „zarten Buchweizens“ (E, S. 8). Hier klingt die Fruchtbarkeit der Schwarzerdeböden, die einen weiten Teil der ukrainischen Steppen bedecken und der Ukraine das Stereotyp einer „Kornkammer Europas“ eingebracht haben, mit. Zugleich konnotiert das Bild der Steppe einen Raum ständiger Grenzüberschreitung und Grenzenlosigkeit. Als Sehnsuchtsort der „vol’ja“, des freien Willens sind die fruchtbaren Steppen der Ukraine sowohl in der russischen als auch in der polnischen und ukrainischen Literatur tradiert und Element des jeweiligen Ukrainediskurses. Die Weite des Raumes und die individuelle Freiheit sind gebündelt in den Mythen kosakischer Abenteuer, die sowohl im 19. Jahrhundert, als auch in der Gegenwart fester Bestandteil ukrainischer Identitätsdiskurse sind. Die Felder in Zeml’a erstrecken sich ins Unendliche. Die Weite „verschwimmt“ in der Horizontale mit dem Himmel, die Gedanken entfalten sich hier „frei“ (E, S. 8). Dennoch ist hier nicht Steppe; die Ebene fällt, wie der eingangs angeführte Textauszug zeigt, ab, „als sei sie unzufrieden mit ihrer Lage“ (E, S. 7). Die Landschaft markiert sowohl eine Grenze zwischen Steppe und Wald als auch einen Zwischenraum, der gegenüber beiden abgesetzt wird und eine eigene Qualität besitzt. Kobyl’ans’ka inszeniert diese Dorflandschaft als Idylle, als kleines Paradies. In der Farbenpracht aus Grün, Rot, Weiß sticht das Gold immer wieder hervor: „goldener Weizen“, „goldener Roggen“, ein „goldenes Meer“ (E, S. 13) aus Getreide. Die Birken glänzen im Sonnenlicht silbern, „Nixen gleich“ (E, S. 7). In dieser idyllischen Landschaft leben die Menschen von der Erde und für sie. Zwei Gruppen von Dorfbewohnern werden unterschieden: Diejenigen, die zum Broterwerb das Dorf verlassen, und dieje- 14 Elias Canetti, Massensymbole der Nationen, in: Ders., Masse und Macht [1960], Frankfurt a.M. 1980, S. 190f. Kati Brunner 108 nigen, die von der eigenen Erde leben. Das Eigene wird durch einen kurzen, isolierten Satz aufgewertet: „Und es ging ihnen nicht schlecht damit“ (E, S. 8). Die Figur des Mychajlo ist in dieser Welt zu Hause. Hier kennt er sich aus und agiert sicher: Der junge Mann bewältigte alles mit Leichtigkeit. Er ging mit einem Lächeln aus dem Haus und kehrte mit einem Lächeln zurück. Im Frühling sprang er wie ein Hirsch über die tiefen Gräben auf den Feldern, durch die sich das wilde Wasser seinen Weg bahnte. Im Herbst sah er, wie ein Vogel aus der Luft, selbst bei dichtem Nebel alle Dinge im weiten Raum. (E, S. 47) 15 Mit Mychajlos kindlichem Gesicht setzt sich die Motivik einer paradiesischen Lebenswelt fort. Unberührtheit und Unschuld, aber auch Zurückgebliebenheit schwingen darin mit. In das romantische Bild eines ukrainischen Dorfes, das dem Kunst- und Literaturverständnis der ukrainischen narodnyky (Volkstümler) entspricht, schiebt sich die Skepsis einer von westlichem Fortschrittsdenken geprägten Sicht. Der periodische Wechsel der Jahreszeiten, der sich durch den gesamten Roman zieht, enthebt den Raum des Dorfes gleichsam einer kalendarischen Zeit. Die „Welt“ findet außerhalb dieses Raumes statt. Wer daran teilhat, verlässt das Dorf, um aber auch immer wieder zurückzukehren. Der Eisenbahnbau, bei dem die Eltern Mychajlos, Ivonyka und Marija, als Hilfsarbeiter das nötige Geld für den Erwerb von Land verdienten, war durch das Nachbardorf verlaufen (E, S. 24f.). Ein Teil der Dorfbewohner geht regelmäßig als Saisonarbeiter in das benachbarte Fürstentum Moldau (E, S. 33) und überquert damit nicht nur die Grenze des Dorfes, sondern auch des Habsburgischen Reiches. Der Weg über die Grenze ist geknüpft an eine Vorstellung von „Weltwissen“ und dient als Baustein für die Herleitung von Klugheit: „Hrihorij ist nicht dumm. Er hat die Welt gesehen. Er geht fast jedes Jahr nach Moldau zur Arbeit, und wenn er zurückkehrt, hat er nicht wenig zu erzählen darüber, was er gehört, gesehen und selbst erlebt hat.“ (E, S. 33) 16 Die Dichotomie zwischen Dorf- und Weltwissen drückt sich schließlich aus in einem Diskurs, der das Militär als Quelle von Wissenserwerb aufwertet. „In den drei Jahren wird der Junge die Welt sehen und was lernen, was 15 „Молодий хлопець опирався всьому завзято. Сміючись виходив із дому і сміючись вертався назад. Мов олень, перескакував весною глибокі шанці в полях, якими гнала розбурхана вода, а восени, як птах із висоти, розрізняв і в найгустішій мряці всі предмети на пустих просторах.“ 16 „І Грігорій не був дурний. Бачив світа. Ходив майже щороку до Молдави на роботу і, як вертався відти, знав не одно розказувати, що чув, видів, а що й сам утнув.“ Raum und Bewegung in Ol’ha Kobyl’ans’kas Roman Zeml’a (Erde) 109 ihm sicherlich im Leben nützlich sein wird (E, S. 26), 17 beruhigt der Gutsbesitzer den Vater Mychajlos. „Dort siehst und lernst du das eine oder andere! “ (E, S. 99), 18 sagt auch der Nachbar Petro zum Abschied zu Mychajlo. Doch die integrative Rolle und Bildungsfunktion, die Sacher-Masoch im Neuen Hiob dem Militär noch zuschreibt, bleibt hier lediglich diskursive Strategie. Dies wird anhand der Figur des alten Onufrij, der selbst zwölf Jahre beim Militär gedient hat, deutlich. Er benutzt allerdings die Militärzeit als Argument für einen Bildungsstand, der ihn gegenüber den anderen Dorfbewohnern auszeichnet: War jemand aus dem Herrenhaus bei ihm zu Gast, sprang er wie ein Sperling um ihn herum (er war schrecklich mager und dürr), wiederholte ein ums andere Mal: „Greifen Sie zu; ich weiß mit den Herren umzugehen; ich war in Wien, in Italien und in Jassy. Ich bin nicht so ein hiesiger Dorftölpel.“ Zu den Bauern sagte er: „Essen Sie, essen Sie, nicht so bescheiden! Ich weiß, dass Sie ein dummer Bauer sind und nicht gesehen haben, was ich gesehen habe. Ich war in Wien, in Italien und in Jassy.“ (E, S. 52f.) 19 Die Abschiedsurkunde vom Militär ist Onufrijs ganzer Stolz. Sie zeigt er jedem, der sein Haus betritt (E, S. 52). Mit Abenteuern aus seiner Militärzeit unterhält er die Dorfbewohner. Jedoch werden die Fiktionalität seiner Geschichten wie auch die nachträgliche Umdeutung der Militärerlebnisse unmittelbar entlarvt: [Er] erzählte […] jedem, auch dem kleinsten Kind, von den Abenteuern aus seinen Heldentagen. Dabei warf er hier und da italienische Wörter ein, die in Wirklichkeit in keinem Zusammenhang zum Erzählten standen, aber der Verschönerung der Erzählung dienten. Er nannte lebhaft die Namen berühmter Militärhelden jenes Feldzuges und kam damit denjenigen zuvor, die gedachten, Zweifel an seinen Abenteuern zu äußern. Die Erinnerung an seine Militärzeit veränderte ihn vollkommen und es schien, als sähe er die ganze Größe, die ganze Schönheit und Herrlichkeit dieser Zeit erst jetzt, und das riss ihn mit. (E, S. 51) 20 17 „Ті три роки покажуть хлопцеві світ і подадуть науку, що йому, певно, в житті придасться.“ 18 „Там щось побачиш і навчишся денещо! “ 19 „Коли мав у себе гостем когось із панського дому, надскакував коло нього, мов воробець (був страшно худий і тонкий), раз по раз промоляючи: ‚Прошу їсти; я знаю, як з панами обходитися; я був у Відні, в Італії і в Яссах. Я не тутуйший сільський дурбас‘. До селян говорив: ‚Їжте, їжте, не стидайтеся! Я знаю, що ви дурний мужик, що не бачив того, що я. Я був у Відні, в Італії, у Яссах‘.“ 20 „[…] й оповідав кожному, наймолодшій дитині, свої пригоди з того його героїчного часу. Притім закидав тут і там італійськими словами, що вправді не Kati Brunner 110 Onufrij bleibt ein Außenseiter, dessen Erfahrungen im Militär und verklärende Erzählungen keine neue, habsburgische Identität innerhalb der Dorfgemeinschaft stiften können. Vielmehr bedeutet die Einberufung Mychajlos einen Eingriff in das Raum-Zeit-Gefüge des Dorfes, der nicht nur Mychajlo und seine Familie betrifft, sondern auch für das „Über-Lebens-Wissen“ 21 anderer Dorfbewohner eine Rolle spielt. Ihre Problematik wird eingeführt mit den Überlegungen der Bäuerin Dokija über die potentiellen Bräutigame ihrer Tochter. Mychajlo, eine vermeintlich gute Partie, da wohlhabend, arbeitsam und Nachbarssohn der Bäuerin, kommt nicht in Frage. Die Einberufung ist „das reinste Unglück“ (E, S. 13) 22 und konnotiert mit ‚Verlust‘. Ivonyka, Mychajlos Vater, fragt: „Warum soll ich auch noch mein Kind verlieren? “ (E, S. 26) 23 Nach der Musterung sagt er zu seiner Frau: „Wir haben unseren Jungen verloren, Marija! “ (E, S. 42) 24 Auch wenn die Angst vor den Gefahren des Soldatenlebens und des Umgangs mit Waffen thematisiert werden (E, S. 100f.), so definiert ‚Verlust‘ doch in erster Linie die Metamorphose des ukrainischen Bauernsohns in einen österreichischen Soldaten. Mit dem Ankleiden der Uniform, der „kaiserlichen Tracht“ (цісарський стрій; E, S. 23), wird der Bauer Mychajlo sein Feld sowie die zukünftige Frau und die Kinder immer wieder verlassen müssen, um als Soldat dem Kaiser zu dienen (ebd.). Während es der oben erwähnten Bäuerin Dokija um die privatwirtschaftliche Dimension von Mychajlos bevorstehender Einberufung geht, sieht der Vater Ivonyka schmerzhaft eine Veränderung von Identität voraus: „Nun sollte er ihn verlieren! Drei Jahre sollte er ihn nicht mehr in seinem Haus sehen, höchstens ab und zu an Feiertagen, in fremder Kleidung, kurzgeschoren und durchtränkt von fremden Bräuchen wird er zurückkehren und schon nicht mehr sein alleiniger Schatz sein! “ (E, S. 47) 25 Die integrative Rolle des Militärdienstes wird aus der Perspektive Ivonykas zur Vereinnahmung und zur Bedrohung. In die kindlichen Züge стояли з оповіданнями в жодній зв’язі, але мали на цілі прикрасити оповідання. Говорив живо імена значних військових героїв з того походу й зачиняв тим уста слухачам, котрі важиливя часом висловити чудні сумніви щодо його пригод. Спомини про його при війську перебуте життя зміняли його цілковито, і здавалося, він бачив усю велич, усю красу і знеслість того часу аж тепер, і се поривало його.“ 21 Zum Begriff s. Ottmar Ette, ÜberLebensWissen I-III, Berlin 2004. 22 „Чиста недоля! “ 23 „Чого маю ще й я тратити свою дитину? “ 24 „Ми стратили нашого хлопця, Маріє! “ 25 „Тепер мав його втратити! Три роки мав його втратити! Три роки не мав бачити його в своїй хаті, хіба що деколи в свята, в чужі одежі, обстриженого, пересяклого чижими свичаями - він вере вже не виключно його скарбом! “ Raum und Bewegung in Ol’ha Kobyl’ans’kas Roman Zeml’a (Erde) 111 seines gerade erwachsen gewordenen Sohnes werden, unter Umständen mit Gewalt, neue kulturelle Muster eingeschrieben, die ihn, den ursprünglich Eigenen, zu einem Fremden werden lassen. Die Einberufung kommt einer Vertreibung aus dem Paradies bzw. einer Zerstörung des Paradieses gleich. Mychajlos Weg in die Kaserne wird zur liminalen Bewegung. Die Stadt, Wahrzeichen menschlicher Zivilisationskraft, ist eine für den im Einklang mit der Natur aufgewachsenen Dorfmenschen Mychajlo unverständliche Maschinerie aus Geschwindigkeit und Menschenmassen (E, S. 104). Angesichts der Kaserne und in der Uniform schwindet jegliches Selbstwertgefühl: Er trat zögernd und plump auf, denn er konnte nicht wie gewohnt gehen. Seine Bewegungen waren ungelenk und unsicher, denn es waren nicht seine Bewegungen. Die Kleidung, die er jetzt trug, nahm ihm alle Sicherheit. Woher sollte er sie auch nehmen? Von der Minute an, da er seine Felder verließ, verließ ihn auch sein Selbstbewusstsein. Er war hierhergekommen, um etwas anderes zu werden. (E, S. 106) 26 Der Eintritt ins Militär geht einher mit einer Neuverortung des „Ichs“ im sozialen Raum. Mit Bourdieu kann die Verwandlung Mychajlos auch als ein an die liminale Bewegung geknüpfter Verlust symbolischen Kapitals gelesen werden. 27 Während Mychajlo im Dorf reich an symbolischem Kapital ist, wie die „Bräutigamschau“ der Bäuerin Dokija zeigt, muss er erkennen, dass ihm dieses außerhalb der geschlossenen Dorfwelt nichts nützt. Der Bauer, der mužyk (E, S. 121), steht an unterster Stelle im Machtgefüge. Er wird beim Militär nicht „jemand anderes“ (кимось іншим), sondern „etwas anderes“ (чимось іншим) (E, S. 106). Um am imperialen Prestige des Militärs - „[…] und dienst dem Kaiser … das … ist eine Ehre …“ (E, S. 116) 28 - teilzuhaben, fehlt es Mychajlo am notwendigen sozialen Kapital. Er ist „unzivilisiert“ (некультурний) (E, S. 104), er versteht die Sprache, in der die Befehle erteilt werden, das Deutsche, nicht (E, S. 107). Zu desertieren erscheint Mychajlo als einziger Ausweg. Allerdings haftet diesen Fluchtgedanken nicht die opryšky (Räuber)-Romantik des Dovbuž-Sujets an. Nicht in die Berge soll es gehen, sondern in das Fürstentum Moldau oder Bessarabien (E, S. 111), hinter die Grenze des 26 „Він ступав боязко й незугарно, бо не смів ступати своєю ходою, а його рухи були неповоротні й несміливі, бо не були його рухами. Одіж, яку носив тепер, відібрала йому всю певність. І звідки мав би її відтак узяти? З хвилею, як покинув свою землю, покинула його і свідомість своєї вартості. Він прийшов сюди, аби стати чимось іншим.“ 27 Pierre Bourdieu, Die Ökonomie der symbolischen Güter, in: Ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1998, S. 163-197. 28 „[…] і служиш цісареві .... се ... гонор ...“. Kati Brunner 112 Habsburgerreiches. Im Gegensatz zum Diskurs der herrschenden Sozialschichten erfüllt der Militärdienst keine integrative Funktion und vermag weder beim Einzelnen, noch bei der bukowinischen Dorfgemeinschaft eine neue, habsburgische Identität zu stiften. Andererseits geht die Geschlossenheit des kulturellen Raumes, wie sie von den ukrainischen narodnyky propagiert wird, 29 , mit dem Verlust symbolischen Kapitals innerhalb des imperialen Sozialgefüges einher. Tatsächliche Integration und Partizipation ist nur über den Erwerb sozialen Kapitals, insbesondere Bildung, möglich. Darum endet Kobyl’ans’kas Zeml’a auch mit den Bemühungen Annas, der einstigen Verlobten Mychajlos, Geld für die Bildung ihres Sohnes zu sparen (E, S. 297f.). Kobyl’ans’ka inszeniert den Raum an der Peripherie der Habsburgermonarchie mittels landschaftlicher Markierungen sowohl als Grenze als auch als Zwischenraum, dem sie in idyllischer Überspitzung eine eigene raumzeitliche Dimension und Qualität einschreibt. Die kontrastierende Motivik von Steppe und Wald, Horizontale und Vertikale sowie Innen und Außen mündet allerdings weder in ein die habsburgisch-deutsche Kulturmission idealisierendes und den Osten exotisierendes Pathos wie in Franzos Cultur- Bildern oder Sacher-Masochs Der neue Hiob, noch in eine nationale Romantisierung ukrainischer Dorflandschaften, wie sie von den ukrainischen Volkstümlern propagiert wurde. Vielmehr spürt Kobyl ans ka in Zeml a sozialen Praktiken und Subjektverortungen nach und stellt sowohl die Strategie der habsburgisch-imperialen Integration durch den Militärdienst wie diejenige der ukrainisch-nationalen Abgrenzung in Frage. Dem setzt sie Bildung als Strategie entgegen, soziales Kapital zu erwerben und damit an den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen zu partizipieren. 29 Pavlyčko 2009 (Anm. 1), S. 77. Alexis Hofmeister Erfahrungsraum Antishtetl Paradies und Hölle der großen Stadt in der jüdischen Autobiographik aus dem Russischen Reich When I was a little girl, the world was divided into two parts; namely, Polotzk, the place where I lived, and a strange land called Russia. All the little girls I knew lived in Polotzk, with their fathers and mothers and friends. Russia was the place where one’s father went on business. It was so far off, and so many bad things happened there, that one’s mother and grandmother and grown-up aunts cried at the railroad station, and one was expected to be sad and quiet for the rest of the day, when the father departed for Russia. 1 Diese charakteristische räumliche Markierung des Russischen Reichs, mit der die 1912 erschienene Autobiographie der Mary [Maryashe] Antin (1881- 1949) beginnt, belegt einen narrativen Umgang mit der alten Heimat, der unter jüdischen Amerikanern verbreitet war und von dem auch die nordamerikanische Historiographie des osteuropäischen Judentums nicht unbeeinflusst blieb. 2 Es überrascht nicht, dass sich die topographische Mobilität der jüdischen Bevölkerung im Russischen Reich auf die Schilderung imperialer Räume und ihrer inneren Hierarchien auswirkte. Dies gilt - wie Mary Antins prominente Einwandererautobiographie verdeutlicht - in mehrfacher Hinsicht: Die holzschnittartige Gegenüberstellung der Heimat der Verfasserin mit dem scheinbar weit entfernten Russland legt zwischen dem Imperium als Ort der wirtschaftlichen Aktivität der jüdischen Bevölkerung und den realen Orten jüdischen Lebens eine Distanz. Hier scheint der imperiale Möglichkeitsraum jüdischen Lebens und Wirtschaftens auf. Doch verschwindet gleichsam die Heimatstadt der Verfasserin aus dem imperialen Raum, zu dem Polock als weißrussische Kleinstadt im Gouvernement Vi- 1 Mary Antin, The Promised Land, Boston 1912, S. 1. Antins Erinnerungen erschienen nahezu zeitgleich in deutscher Sprache: Mary Antin, Vom Ghetto ins Land der Verheißung, Stuttgart 1913. 2 Steven J. Zipperstein, Shtetl There and Here. Imagining Russia in America, in: ders., Imagining Russian Jewry. Memory, History, Identity, Seattle, London 1999, S. 15-39; Olga Litvak, You Can Take the Historian Out of the Pale but Can You Take the Pale Out of the Historian? New Trends in the Study of Russian Jewry, in: AJS Review 27 (2003), S. 301-311. Alexis Hofmeister 114 tebsk gehörte. 3 Unterschiedliche jüdische Erfahrungsräume, hier bedingt durch die getrennten Wege männlicher und weiblicher Erwerbstätigkeit, mögen diese Wahrnehmung nahegelegt haben. 4 Nicht nur der retrospektive Blick von der anderen Seite des Atlantiks aus, sondern auch die weibliche Sicht der früheren Polocker Jüdin legt die Betonung essentieller Differenzen zwischen einst und jetzt, zwischen hier und dort nahe. Aus dieser Perspektive schrumpfen die mannigfaltigen Widersprüche jüdischen Lebens zusammen, und das Russische Reich erscheint als ein Ort, an den Juden nur schweren Herzens reisten. Dies gilt für jüdische Nordamerika-Auswanderer mit osteuropäischen Wurzeln in besonderer Weise; ihr Bild von Russland hatte ohne Zweifel unter den antijüdischen Gewaltausbrüchen im Zarenreich in besonderer Weise gelitten. Nicht zufällig war pogrom neben vodka und car das zweifellos bekannteste russische Wort. In dieser Perspektive galt das zarische Russland im 19. Jahrhundert als unjüdischer bzw. unmenschlicher Ort, während shtetl wie Polock gleichsam zum verlorenen Paradies avancieren. 5 Mary Antin, die aus der zeitlichen und räumlichen Distanz des geglückten sozialen Aufstiegs in der nordamerikanischen Gesellschaft auf das Russische Reich blickt, spricht immerhin von einem Zwischenraum, der zwischen dem jüdischen shtetl und dem eigentlichen Russland gelegen habe: 3 Polock, in: Evrejskaja Ėnciklopedia [Jüdische Enzyklopädie], Sankt Peterburg 1913 [Reprint: Moskau 1991], Bd. 12, S. 696-698; Stefan Rohdewald, „Vom Polocker Venedig“. Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914), Stuttgart 2005, S. 361-371. 4 Die weibliche Sicht auf den Unterschied zwischen jüdischer Kleinstadt und russländischer Metropole unterlag nicht nur historischem Wandel, sie war auch von der sozialen Position der Verfasserin abhängig. Während Pauline Wengeroffs Erinnerungen in dieser Frage eher der dichotomischen Sicht von Mary Antin ähnelten, erlebten Frauen wie Anna P. Vygodskaja (1868-1943) und Deborah Baron (1887-1956) den Gang in die Großstadt als Emanzipation. Siehe: Pauline Wengeroff, Memoiren einer Grossmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert, 2 Bde., 2. Aufl., Berlin 1913, Pauline Wengeroff, Memoirs of a Grandmother. Scenes from the Cultural History of the Jews of Russia in the Nineteenth Century, herausgegeben von Shulamit S. Magnus, Bd. 1, Stanford 2010, Anna P. Vygodskaja, Istorija odnoj žizni. Vospominanija [Geschichte eines Lebens. Erinnerungen], Riga 1938, Anna Pavlovna Vygodskaia, Story of a Life. Memoirs of a Young Jewish Woman in the Russian Empire, herausgegeben von Eugene M. Avrutin und Robert H. Greene, DeKalb 2012. 5 Dazu trugen fraglos die historischen Umstände bei. Das Ende jüdischen Lebens in Osteuropa durch deutschen Völkermord und die Abschottung der Sowjetunion im Kalten Krieg wirkten verstärkend. Tendenzen unhistorischer shtetl-Verklärung finden sich etwa bei: Mark Zborowski, Elizabeth Herzog, Life is With People. The Jewish Littletown of Eastern Europe, New York 1952. Zur Historisierung dieses Klassikers der shtetl-Literatur siehe die Einleitung von Barbara Kirshenblatt-Gimblett in der Neuausgabe New York 1995. Erfahrungsraum Anti-shtetl 115 After a while there came to my knowledge the existence of another division, a region intermediate between Polotzk and Russia. It seemed there was a place called Vitebsk, and one called Vilna, and Riga, and some others. From those places came photographs of uncles and cousins one had never seen, and letters, and sometimes the uncles themselves. These uncles were just like people in Polotzk; the people in Russia, one understood, were very different. […] How I wanted to see Russia! But very few people went there. When people went to Russia it was a sign of trouble; either they could not make a living at home, or they were drafted for the army, or they had a lawsuit. No, nobody went to Russia for pleasure. Why, in Russia lived the Czar, and a great many cruel people; and in Russia were the dreadful prisons from which people never came back. […] It seemed there were certain places in Russia - St. Petersburg, and Moscow, and Kiev - where my father or my uncle or my neighbour must never come at all, no matter what important things invited them. The police would seize them and send them back to Polotzk, like wicked criminals, although they had never done any wrong. […] So there was a fence around Polotzk, after all. The world was divided into Jews and Gentiles. 6 Dieses ahistorische Bild der Verhältnisse im Siedlungsgebiet der jüdischen Bevölkerung im Russischen Reich verdankt sich laut Israel Bartal vor allem drei Faktoren: der Leugnung oder Minimierung des Einflusses der polnischen Adelskultur, der Verwischung der Unterschiede zwischen Metropole und Kleinstadt sowie der Überzeichnung des Gegensatzes zwischen jüdischer (klein)städtischer Siedlung und nichtjüdischer Umwelt. 7 Freilich passte ein nostalgisches Bild jener „versunkenen“ jüdischen Welt in die Verlusterzählung vom Untergang jüdischen Lebens in Osteuropa in der Shoa. Als Gegenentwurf dazu kann der Versuch gelten, die bemerkenswerte Mobilität der jüdischen Bevölkerung im 19. und 20. Jahrhundert, die dem shtetl entfloh, grosso modo als Erfolgsstory darzustellen. Mit einer inhärenten Befähigung der jüdischen Gesellschaft für die Umgangs- und Denkformen der sich ins Bürgerliche verwandelnden modernen Welt wollte man ihren erstaunlichen Erfolg begründen. Das 20. Jahrhundert wurde in dieser Sicht zu einem Jewish Century gerade auch für die aus dem Russischen Reich stammenden Juden und ihre Nachkommen. 8 Ob nun die jüdische Moder- 6 Antin, The Promised Land, S. 1-5. 7 Israel Bartal, Imagined Geography. The Shtetl, Myth, and Reality, in: Stephen T. Katz (Hrsg.), The Shtetl. New Evaluations, New York, London, S. 179-192, hier S. 186. Ironischerweise erschien die Migrationserzählung Mary Antins unter dem Titel „From Plotzk to Boston“, ihre Verfasserin wurde kurzerhand „polonisiert“. Mary Antin, Preface to the Second Edition, in: dies., From Plotzk to Boston, 2. Auflage, Boston 1899, S. 16-17. 8 Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton (NJ) 2004. Alexis Hofmeister 116 neerfahrung im 20. Jahrhundert eher als Katastrophe oder als sozialer Aufstieg zu charakterisieren ist - beiden Narrativen ist gemeinsam, dass sie von einem beinahe totalen Wandel jüdischer wie nichtjüdischer Gesellschaften im Zeichen der Moderne ausgehen. Dieser wird mit prozessualen Begriffen wie Emanzipation, Modernisierung, Differenzierung, Demokratisierung und Nationalisierung erklärt. In einen solchen Kontext gehören auch die Begriffe von Mobilität und Urbanität. Ein vergleichsweise schnelles demographisches Wachstum, das einherging mit zunehmender sozialer sowie topographischer Mobilität, aber auch eine selektive Urbanisierung waren in der Tat spezifische Charakteristika der Geschichte der jüdischen Bevölkerung des Zarenreiches im 19. Jahrhundert. Der jüdischen Überseewanderung, deren Dimension durch die Zahl von insgesamt etwa zwei Millionen Migranten nur angedeutet werden kann, wird eine auf territoriale oder sprachliche Einheiten fixierte Geschichtsschreibung bis heute nicht recht Herr. 9 Die - wie oft betont wird - traumatische Begegnung des Judentums mit der Moderne ist vor allem als Folge räumlicher Bewegung und nicht zuletzt im Kontext einer stetig zunehmenden und schließlich dominierenden Urbanisierung zu verstehen. Der Vektor der individuellen räumlichen Mobilität der jüdischen Bevölkerung ergab sich aus dem Einfluss widersprüchlicher sozialer, politischer und kultureller Kräfte. Ihre kollektive Bewegungsrichtung drückte sich in der jüdischen Wanderung in die nächste größere Stadt, von dort in Metropolen wie Warschau, Odessa und Kiew oder sogar nach Petersburg und Moskau und zuletzt über die Landesgrenzen hinweg aus. Im Russischen Reich vollzog sich die Migration innerhalb des den Juden zugewiesenen Ansiedlungsgebiets von Nordwest nach Südost. 10 Die Kombination der rasanten demographischen Entwicklung der jüdischen Bevölkerung und der beschriebenen Wanderung führte zu einer globalen Verlagerung des jüdischen Siedlungsschwerpunkts. Lebten zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch etwa 80% der aschkenasischen Juden in Zentral- und Osteuropa, so 9 (Ost)europäische und (nord)amerikanische Perspektive werden erst zaghaft miteinander verbunden. Das Phänomen der Rückwanderung bleibt mangels Dokumentation untererforscht. Aus transnationaler Sicht gelang immerhin ein neuer Ansatz: Veronika Lipphardt, Vilne - Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Beziehungsgeschichte, Paderborn 2010. Autobiographische Quellen zur jüdischen Migrationsgeschichte bieten: Joyceline Cohen, Daniel Soyer (Hrsg.), My Future is in America. Autobiographies of Eastern European Jewish Immigrants, New York [u.a.] 2006; Gur Alroey, Bread to Eat and Clothes to Wear. Letters From Jewish Immigrants in the Early Twentieth Century, Detroit 2011. 10 Shaul Stampfer, Patterns of Internal Jewish Migration in the Russian Empire, in: Jews and Jewish Life in Russia and the Soviet Union, 1995, S. 28-47; Yvonne Kleinmann, Zur Genese jüdischer Gemeinden in russischen Großstädten 1840-1900. Innovative Entwürfe und beharrliche Tradition, in: Aschkenas 17 (2007), S. 55-74. Erfahrungsraum Anti-shtetl 117 sank diese Zahl bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf etwa 50%. Um 1900 lebten bereits 10% in Westeuropa und etwa ein Viertel in den USA. Beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, begünstigt durch die Aufhebung jeglicher räumlicher Ansiedlungsbeschränkungen durch die Februarrevolution und verstärkt durch die Aufstiegsmöglichkeiten in der frühen Sowjetunion, setzte eine jüdische Wanderung in das Innere Russlands ein, deren kulturelle Bedeutung für die jüdische Bevölkerung sich symbolisch im Gruß »Nächstes Jahr in Moskau! «, der an Stelle des traditionellen Pessachgrußes »Nächstes Jahr in Jerusalem! « trat, ausdrückte. 11 Im Folgenden begebe ich mich auf die Spur der jüdischen Mobilität im Russischen Reich, die in den nüchternen Zahlen der Statistiken nur schemenhaft zur Sprache kommt. Ich gehe dabei davon aus, dass sich die Erfahrung zunehmender Mobilität auch in der jüdischen Literatur, genauer: in der jüdischen Autobiographik, niederschlug. 12 Mein Beitrag bringt die Lebenswirklichkeit jüdischer Urbanität im Russischen Reich, die im Gegensatz zum shtetl allzu oft ignoriert wird, zur Sprache. 13 Bereits bei einem oberflächlichen Blick fällt auf, dass die Frage der Mobilität mit einem räumlichen Topos verbunden war, der auch für die Sozialgeschichte der jüdischen Bevölkerung signifikante Bedeutung besaß, dem Topos der Stadt und des Städtischen bzw. der Großstadt und des Großstädtischen. 14 Das Bild der großen Stadt erschöpfte sich nicht in der räumlichen bzw. topographischen Differenz zum nichtstädtischen, sondern wurde normativ aufgeladen. 15 In 11 Gabriele Freitag, Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917-1932, Göttingen 2004. 12 Es fand im Rahmen des am Slavischen Seminar der Universität Basel angesiedelten Forschungsvorhabens „Erzählen jenseits des Nationalen. (Post-)Imperiale Raumstrukturen in der Literatur Osteuropas“ am 11. und 12. November 2011 statt. Ich danke für die anregende Diskussion meines Beitrags, auf dem dieser Text beruht. 13 John Klier, A Port, Not a Shtetl. Reflections on the Distinctiveness of Odessa, in: David Cesarani (Hrsg.), Port Jews. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres 1550-1800, London, Portland (Or.) 2002, S. 173-178. Eine jüdische Stadtgeschichte im imperialen Kontext bietet: Natan Meir, Kiev - Jewish Metropolis, Princeton (NJ) 2011. 14 Zuletzt dazu: Ezra Mendelsohn (Hrsg.), People of the City. Jews and the Urban Challenge, New York 2000. 15 Dies traf freilich nicht allein für die jüdische Wahrnehmung zu, vgl. Heiko Haumann, „Ich habe gedacht, dass die Arbeiter in den Städten besser leben“. Arbeiter bäuerlicher Herkunft in der Industrialisierung des Zarenreiches und der frühen Sowjetunion, in: ders., Schicksale. Menschen in der Geschichte. Ein Lesebuch, Wien 2012, S. 95-113 [zuerst in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 43 (1993), Heft 1, 42-60]; Heiko Haumann, Konfliktlagen und Konflikte zwischen Stadt und Land. Ein Vergleich von vier Regionen im östlichen Europa (1850 bis 1917), in: ders., Lebenswelten und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Forschung, Wien 2012, S. 181- 201 [zuerst in: in: Wolfgang Hardtwig, Klaus Tenfelde (Hrsg.), Soziale Räume in der Alexis Hofmeister 118 der Polarität zwischen Stadt und shtetl spiegelte sich der Konflikt um die Bedeutung der Moderne an sich wieder. Die Deutungshoheit wurde dabei lange von der haskalah, der jüdischen Aufklärung, bzw. ihren Jüngern, den maskilim, beansprucht, bevor es von Seiten der Tradition seit dem späten 19. Jahrhundert zu einer Gegenbewegung kam. Dabei dienten positive wie negative Bilder der Stadt als zukünftigem Ort der jüdischen wie nichtjüdischen Moderne sowohl Aufklärern als auch Traditionalisten als Folie ihrer jeweiligen Zukunftsentwürfe. Darin sehe ich mit Blick auf die jüdische Mobilität im 19. Jahrhundert eine Illustration des von Reinhart Koselleck erhellten Zusammenhangs zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. 16 Dies lässt sich bereits an entsprechenden Titeln ablesen, die die eigene Lebensreise mit der Bewegung vom Ghetto in die ‚Zivilisation‘ gleichsetzen. 17 Dagegen galt den Frommen die Stadt als sündiger und für Juden gefährlicher Ort, wie die im Volksmund überlieferte Verdammung Odessas belegt: „Zibn mayl arum odes brent der gihenum“ („Im Umkreis von sieben Meilen um Odessa brennen die Feuer der Hölle“). 18 Im Folgenden wird der Zusammenhang zwischen Migration und Autobiographik beispielhaft anhand von Auszügen aus autobiographischen Texten mehrerer Generationen russländischer Juden diskutiert. Es handelt sich dabei um folgende Verfasser: Chaim Aronson (1825-1889), Solomon (Šolem) M. Abramovič [Mendele Moicher Sforim] (1836-1917), Moses Leib Lilienblum [Moše Lejb Lilienbljum] (1843-1910), Sholem Aleichem [Solomon N. Rabinovič] (1859-1916) sowie Harry E. Burroughs [Herš Baraznik] (1890-1946). Ihr Lebensweg führte sie aus der Kleinstadt in russländische und nordamerikanische Großstädte. Sie waren Männer, die der traditionellen Erziehung gemäß eine jüdische Elementarschule - den chädär - besucht hatten, aber auch nach weltlicher Bildung strebten und deswegen in die Großstädte aufgebrochen waren. Sie schauten aus der Perspektive des zugewanderten Stadtbewohners auf ihren Lebensweg zurück und reflektierten Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933, München 1990, 17-35]. Vgl. Daniel R. Brower, The Russian City Between Tradition and Modernity. 1850-1900, Berkeley (Calif.) 1990. 16 Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘. Zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349-375. 17 Etwa: Jakob Fromer, Vom Ghetto zur modernen Kultur. Eine Lebensgeschichte, Berlin 1906; Mary Antin, Vom Ghetto ins Land der Verheißung, Stuttgart 1913; Schmarja Levin, Kindheit im Exil, Berlin 1931. Dazu: Maria Klanska, Die Flucht aus dem Schtetl als das tragende Moment ostjüdischer Autobiographien in deutscher Sprache, in: Arno Dusini, Karl Wagner (Hrsg.), Metropole und Provinz in der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Wien 1994, S. 11-28. 18 Steven J. Zipperstein, The Jews of Odessa. A Cultural History, 1794-1881, Stanford (Calif.) 1986, S. 1. Erfahrungsraum Anti-shtetl 119 die Bedeutung ihrer Migration. Auf ihre autobiographischen Texte wird mit Ausnahme des ersten in der Reihenfolge ihres Erscheinens eingegangen. Neben der Autobiographik bekannter und populärer Schriftsteller wie Abramovič und Rabinovič, deren Texte auf eine breite Leserschaft innerwie außerhalb des Russischen Reiches rechnen durften, wird als Auftakt die nur für den familiären Kreis gedachte Lebensgeschichte des 1825 geborenen Erfinders, Uhrmachers und Fototechnikers Chaim Aronson berücksichtigt. Sie steht trotz der bescheidenen Herkunft ihres Verfassers keineswegs außerhalb des von der aufgeklärten jüdischen Gegenelite produzierten Kanons maskilischer Autobiographik, wie sich an den Motiven und Topoi zeigen lässt. Aronson kam in Srednik (Seredžius), einer Kleinstadt in der Nähe des heutigen Kaunas, zur Welt. Nur gegen den Willen seines Vaters - so Aronson - habe er sich säkulares Wissen aneignen können. Aronson zog es vom shtetl in die Großstadt Vilna (Vilnius), weil er nach Bildung strebte - er träumte von Gymnasialbesuch und Medizinstudium. Aber auch eine Rabbinerlaufbahn sowie eine handwerkliche Ausbildung hätten sich in der Stadt verwirklichen lassen. Doch nach Studien an der Talmudhochschule in Vilna musste sich Aronson mit wechselndem Erfolg als Elementarschullehrer [melamed] durchschlagen. Ab 1848 erwarb er im kurländischen Mitau (Jelgava) Fähigkeiten und Kenntnisse der Uhrmacherei. Aronson, der als Erfinder auf Gebieten wie Tabakverarbeitung, Mikrophotographie und Chronometrie tätig war, ließ sich zu Beginn der 1870er Jahre in St. Petersburg nieder. Er experimentierte mit dem Bau von Fahrkartenautomaten sowie von Maschinen zur Korken- und Zigarettenproduktion. Eine maßgeblich von Aronson entwickelte Maschine, die pro Stunde etwa 2500 Zigaretten produzierte und verpackte, sorgte auf der Moskauer Industrieausstellung 1882 für Aufsehen. 19 Nachdem vier seiner fünf Söhne mit ihren Familien nach Nordamerika ausgewandert waren, emigrierte auch Aronson selbst nach New York, wo er noch 1888 ein Uhrenpatent anmeldete. Dort starb er kurz darauf im April 1889. Aronson will seine Erinnerungen seit 1872 schriftlich festgehalten haben. Die Begegnung mit der Großstadt St. Petersburg und ihrer Geschäftswelt mag dazu beigetragen haben, dass sich Aronson daran machte, die eigene Lebensgeschichte aufzuzeichnen. Aronson schreibt, er habe den Großteil des Textes kurz vor seiner Emigration verfasst, weil sein Alltag ihm vorher kaum Zeit fürs Schreiben gelassen habe. Seine ersten Schreibversuche, die er im Alter von sieben Jahren unternommen haben will, sah er als Beginn einer lebenslangen engen Beziehung zur 19 Allerdings brachte man Aronsons Namen mit dieser allseits bestaunten Neuheit nicht in Verbindung, weil sein Geldgeber ihn darum betrogen hatte. Carl O. Cech, Russlands Industrie auf der nationalen Ausstellung in Moskau 1882. Kritische Betrachtungen über wichtigsten Industriezweige Russlands, Moskau 1885, S. 381-382. Alexis Hofmeister 120 Schriftlichkeit. Schönschreibübungen mit einer selbst gefertigten Schreibfeder sowie eine eigenständige philosophische Abhandlung im Knabenalter lieferten entsprechende Proben. Das Alltagsleben des shtetl beschrieb Aronson nüchtern, aber detailliert. Aronson romantisiert eher die von ihm mit menschlichen Eigenschaften ausgestatteten Maschinen als die alles in allem beklagenswerten Lebensverhältnisse seiner jüdischen und nichtjüdischen Umwelt. Bemerkenswert ist der Vergleich, den er für die Armut seines Geburtsortes unter dem Eindruck einer Rückkehr aus Vilna anstellte: This is how these inhabitants of small towns and villages lived and carried on their lives - and so they will go on living for ever, like the primitive dwellers of Kamchatka and Samoyed. When, therefore, I returned from the big city of Vilna I realised how poorly we had lived - although before I had ever left my father’s home I had always considered it a veritable paradise. 20 Aronsons autobiographischer Text erlaubt hier einen Einblick in eine vorgestellte imperiale Hierarchie der Völker und Orte des Russischen Reiches, deren Prägekraft offensichtlich noch bis in die provinzielle Peripherie reichte. Dieser Einblick ist ungewöhnlich, stammt er doch von einem Angehörigen einer in den Fokus der Zivilisierungsmission geratenen Gruppe selbst. Es mag Aronson nicht bewusst gewesen sein, dass die imperiale Gesetzgebung die nichtslawische Bevölkerung Kamtschatkas wie auch die sibirischen Samojeden eben jener Gruppe der inorodcy [Fremdstämmigen] zurechnete, der formalrechtlich der größte Teil der jüdischen Bevölkerung des Russischen Reiches angehörte. 21 Aronson blickte auf die eigene Jugend im shtetl mit den Augen des aufgeklärten Städters zurück. Topographische Abgeschiedenheit setzte er mit kultureller wie technischer Rückständigkeit gleich. Ein Vergleich der Beschreibung des litauischen shtetl einerseits und der russländischen Metropole andererseits offenbart naheliegende chronotopische Unterschiede. Während allgegenwärtige Rhythmen der Natur, die nur von Ereignissen wie etwa dem Polnischen Aufstand von 1863 in Frage gestellt werden konnten, die Zeit des shtetl regierten, bestimmte Aronson als Großstädter selbst über seine Zeit. Sein Selbst erscheint im zweiten Teil seiner Lebensgeschichte als treibender Akteur. Nicht ethnische Gruppen oder historische Persönlichkeiten bevölkerten die Bühne der Aronsonschen Lebensgeschichte; allein die Erfolgsgeschichte eigenen Lebens und Schaffens scheint ihn beharrlich angetrieben haben. Bereits dies erscheint in der Differenz zur Jugend im shtetl 20 Chaim Aronson, A Jewish Life Under the Tsars. The Autobiography of Chaim Aronson, 1825-1888, herausgegeben von Norman Marsden, Totowa (NJ) 1983, S. 99. 21 Vgl. dazu Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1993, S. 39-41, S. 220-224. Erfahrungsraum Anti-shtetl 121 als Fortschritt. Bewusst erlebte er den Schritt von der Zeit des Kindes zur Zeit des Erwachsenen. Der zweite Teil seiner Lebensgeschichte wird folgendermaßen eröffnet: I now stood on the line bordering the periods of my life. Hitherho, I had been bonded like a slave to teaching - a teacher of Jewish children and a servant of boors whom I feared because they had the power to cut off my staff of life. I was not trained in a manual trade which would enable me to stand free and firm. Thus, from the time that I was competent enough to earn a living from my craft, I entertained the hope that I might be liberated from the bondage I endured during the first part of my life, so that I could walk firmly and freely into the second part, and earn my living by the labour of my own hands wherever I wished, be it in city or village or any human habitation. 22 Der Unterschied zwischen Stadt und Land, zwischen Stadt und shtetl wird hier mit der Opposition von Freiheit und Knechtschaft gleichgesetzt. Die Bindung an die soziale Zeit der Kindheit, die vorwiegend zirkuläre Rhythmen kannte, wird im zweiten Teil der Lebensgeschichte völlig aufgegeben. Es dominiert nun die Orientierung am linearen Zeitfluss. Vergleichende Überlegungen zur Beschleunigung des Lebens sowie zum technischen Fortschritt fallen nicht zugunsten des Russischen Reiches aus. Die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung Westeuropas, die Aronson sowohl aus Lehrbüchern aber auch als serielle Importware wahrnahm, blieb für ihn Prüfstein und Maß der Dinge. Sich selbst bescheinigt Aronson an mehreren Stellen seiner Lebensgeschichte, zu spät gekommen zu sein. In dieser Hinsicht setzt er sich mit dem Zarenreich gleich: „I went around the shops in search of an article which was in common use but was not yet made by machine. I found nothing, for we were behind the times, both Russia and I.“ 23 Aronson erweist sich hier als Vertreter eines Fortschrittsbegriffs, für den Historie und Progress noch nicht auseinandergefallen sind, sondern in einer gewissen Spannung zueinander existierten. Im idealisierten Bild der sozialen und kulturellen Verwandlung jüdischer wie nichtjüdischer Welt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts liegt das Leitmotiv von Chaim Aronsons Erfolgsgeschichte seines eigenen Lebens. Der aus Kaidan (Keidany) bei Kovno (Kaunas) stammende Moses Leib Lilienblum [Moše Lejb Lilienbljum] (1843-1910) hatte zunächst im litauischen Vilkomir im Haushalt seiner Schwiegereltern gelebt, bevor er sich von dort ins aufgeklärte Odessa aufmachte. Er floh vor dem Zorn der Frommen, die er mit seinem öffentlichen Plädoyer für einen historisch-kritischen Umgang mit dem Talmud gegen sich aufgebracht hatte. 1871 kam Lilienblum 22 Aronson, A Jewish Life Under the Tsars (Anm. 20), S. 175. 23 Aronson, A Jewish Life Under the Tsars (Anm. 20), S. 187. Alexis Hofmeister 122 nach Odessa, zunächst ohne Wissen seiner Familie; hier brachte er 1873 seine Erinnerungen zu Papier, die unter dem Titel „Jugendsünden“ [hatot ne’urim] 1876 anonym in Wien erschienen. Die Lebenserzählung Lilienblums tritt nach Rousseauschem Vorbild als wahrhaftige und schmerzliche Selbstauskunft auf und gibt vor, Dokument der größten Lebenskrise des Verfassers zu sein, der sich unter dem Druck des Diktats der Übereinstimmung von Leben und Schreiben dafür entschuldigt, sich nach der Niederschrift nicht umgebracht zu haben. Lilienblums kritischer Umgang mit dem eigenen aufklärerisch motivierten Aufbruch aus dem sthetl, den er in der Schwarzmeermetropole niederschrieb, machte Lilienblums Erzählung von Auszug und Umkehr zum locus classicus für die Enttäuschung, die sich angesichts der unerfüllten Versprechungen der Aufklärung unter jungen Jüdinnen und Juden im Zarenreich Bahn brach. 24 Auch die literarische Figur des fahrenden Buchhändlers Mendele Moicher Sforim, geschaffen von Solomon (Šolem) M. Abramovič (1836-1917), nahm eine ironisch-skeptische Haltung gegenüber den Visionen und Versprechen der Haskala sowie der russländischen „Aufklärung von oben“ ein. Der Unterschied zwischen shtetl und Stadt wurde von Abramovič bereits in seinem jiddischen Bettlerroman Fischke der Lahme (1869/ 1888) am Beispiel der Qualität der Bäder plastisch vor Augen geführt. 25 Ein auswärtiger Bettler spricht darüber mit einem Odessaer Kollegen: Der Dampf riecht nicht wie in unserem gemauerten Bad. Ihr rituelles Tauchbad - ein einziges Gelächter! Unser Tauchwasser fühlt man, es hat einen Geschmack, und eine Farbe, es ist dichter als irgendein anderes Wasser. Man spürt, es ist jüdisch. Dort aber ist das Tauchbad-Wasser klar, einfach Wasser, so wie Wasser gewöhnlich sein muss, dass man es trinken kann. […] Dein Odessa ist kein Ort für mich. 26 24 Als prominenter Beleg mag die Autobiographie des Historikers Simon Dubnow (1860-1941) gelten, der sich in den 1930er Jahren an seine Lektüre der „Jugendsünden“ erinnert: „Mit bebendem Herzen las ich von seiner Flucht aus der alten Welt in eine neue, in die große Stadt (Odessa), wo er sich einem Kreis ‚neuer Menschen‘ anschloss, der gebildeten jüdischen Jugend [...]. Für mich [...] war dies eine wirkliche Entdeckung, die großen Einfluss auf meinen weiteren Lebensweg haben sollte.“ Simon Dubnow, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken - Materialien zur Geschichte meiner Zeit, hrsg. v. Verena Dohrn, Bd. 1, Göttingen 2004, S. 120. 25 Zur Kompositionsgeschichte des Bettlerromans Fishke der Krumer: Jeremy Dauber, Looking at the Yiddish Landscape. Representation in Nineteenth-Century Hasidic and Mascilic Literature, in: Stephen T. Katz (Hrsg.), The Shtetl. New Evaluations, New York, London, S. 140-178, hier S. 163-173. 26 Mendele Mojcher Sforim, Fischke der Lahme. Ein Bettlerroman, a. d. Jidd. v. Hubert Witt, Leipzig 1994, S. 190. Erfahrungsraum Anti-shtetl 123 Der Hinweis auf die Qualität des jüdischen Tauchbades als Markierung des Unterschiedes zwischen Stadt und Land bzw. zwischen Odessa und dem shtetl spielt auch in Abramovičs in den 1890er Jahren veröffentlichten Autobiographie shloime reb khaims eine Rolle. 27 In dieser begegnet Abramovič als gealterter, an das Großstadtleben gewöhnter Greis einem heimatlosen jungen Mann, in dem er sich schmerzvoll selbst erkennen muss. Über diese Begegnung wird aus der Sicht von Mendele, dem literarischen alter ego Abramovičs, berichtet. 28 Die in der kurzen Spanne des eigenen Lebens erfahrene rapide Transition vom Leben im shtetl zum Leben in der Großstadt erschien als kultureller Verlust und schicksalhafter Eingriff in individuelle wie kollektive Lebensentwürfe. Hierin hatte auch der ethnographische Blick auf das shtetl bzw. das jüdische Leben im Russischen Reich seine Wurzel. Der 1859 geborene Šlomo (oder Solomon) N. Rabinovič, einer der Gründerväter der modernen jiddischen Literatur, rief Abramovič zum „Großvater [zeyde] der jiddischen Literatur“ aus, nicht ohne sich als dessen Nachkomme zu inszenieren. Er wurde in einer Holzhändlerfamilie im ukrainischen Pereyaslav geboren und verbrachte seine Kindheit in Voronkov, einem Ort, der als shtetl Kasrilevke in die jiddische Literatur einging. Sholem Aleichem (umgangssprachlich für „Hallo! “ oder „Wie geht’s? “) nannte sich der junge Mann, der als vermögender Erbe 1887 nach Kiew kam und dort seine Karriere als jiddischer Schriftsteller verfolgte. Nachdem er 1914 über Berlin und Kopenhagen nach New York geflohen war, erschien seine Autobiographie „Funem yorid“ [„Vom Jahrmarkt“] dort in Fortsetzungslieferungen in der jiddischen Tagespresse. Von Amerika aus zurückblickend beschrieb Rabinovič die Großstadt Kiew und ihre Bedeutung für die jüdische Bevölkerung des Russischen Reiches mit folgenden Worten: Where does a homeless young man who wants to accomplish something in life go? To the big city. The big city is the center for everyone who seeks work, a calling, a profession, or a job. Where does a young man go who lost his dowry, was tired of his wife, fought with in-laws or parents, or broke up with his partners? To the big city. What does a provincial do who hears that in the stock market people turn snow into farmer cheese and gather up bags full of money? He heads for the big city to seek his fortune. The metropolitan center has a magnetic force that attracts you and does not let you go. It sucks you like a swamp. There you hope to find what you seek. In Sholom’s region, the metropolis was the famous holy city of Kiev. That’s what he set his sights 27 Mendale Moicher Sfurim ‹Schulem Jaankew Abramowitsch›, Schloimale, a. d. Jidd. v. Salomo Birnbaum, Berlin 1924. Die Autobiographie Abramovičs erschien unter dem Titel shloyme reb khayims [Schloime Chaims Sohn] ab 1894 in hebräischer und 1899 in jiddischer Sprache. 28 Allison Schachter, The Shtetl and the City. The Origins of Nostalgia in Ba-yamim hahem and Shloyme reb khayims, in: Jewish Social Studies 12 (2006), S. 73-94. Alexis Hofmeister 124 on and that’s where he arrived. Actually, what did he set his sights on and what was he looking for? He couldn’t rightly say, because he himself didn’t precisely know what his soul was yearning for. He was drawn to the big city, like a child attracted to the light of the moon. For a great town contained great people - the bright stars that shone down on us here on earth with the clear light of vast and endless skies. I refer to the great writers and divinely graced poets of the Haskala whose names made such a great impression upon - what shall I call them? - well, the young maskilim, the naive, innocent youth. 29 Deutlich zeigt sich die ironische, ja oft ins Sarkastische gehende Haltung des autobiographischen Erzählers, der seine eigenen Erfahrungen in der dritten Person durch seinen Helden Sholom wiedergibt. Der verehrte jüdische Schriftsteller Jehuda Leib Levin (Jehalel), den persönlich zu besuchen der junge Sholom aufgebrochen war, erweist sich als unnahbarer Büroangestellter des jüdischen Zuckerbarons Brodsky. Der Kronrabbiner, der gelehrte Jude - ein Amt beim Generalgouverneur - sowie ein berühmter jüdischer Anwalt mit Beziehungen zum Zarenhof entpuppen sich im besten Falle als mediokre Zeitgenossen, wenn nicht als geschäftsmäßige Schwindler und Betrüger. Sholom verlässt die Stadt und versucht sein Glück als Kronrabbiner in einer kleineren Stadt. Bestimmend blieb das Gefühl der Vereinzelung und Einsamkeit in der großen Stadt. Dies ist im Übrigen ein überindividueller Befund in Bezug auf die Haltung zur Großstadt, der sich zuerst bei Lilienblum fand. 30 Der Unterschied zwischen der Person Lilienblums und seiner autobiographischen Selbstdarstellung konnte zu dieser Enttäuschung beitragen, wie es die Autobiographie des zionistischen Politikers Shmarya Levin (1867-1935) nahe legt: Ich war wie vom Donner gerührt, als ich einen Mann in mittleren Jahren vor mir sah, dessen Gesicht mich eher an einen kleinstädtischen Rabbi, einen hilflosen, unpraktischen Batlen 31 , als an einen enthusiastischen Verfechter der nationalen Idee gemahnte. […] Es war aber nicht allein seine äußere Erscheinung, die mich so enttäuschte; weder sein Wesen noch seine Rede hatte 29 Curt Leviant (Hrsg.), From the Fair. The Autobiography of Sholom Aleichem, New York 1986, S. 254-255. 30 [Moses Leib Lilienblum], Hatot ne’urim [Jugendsünden], Wien 1876. Übersetzungen von kurzen Abschnitten finden sich in mehreren Anthologien, etwa in: Lucy Dawidowicz (Hrsg.), The Golden Tradition, S. 119-129. Zu Lilienblums Autobiographie und ihrer Bedeutung: Shulamit S. Magnus, Sins of Youth, Guilt of a Grandmother. M.L.Lilienblum, Pauline Wengeroff, and the Telling of Jewish Modernity in Eastern Europe, in: Polin 18 (2005), S. 87-120, Benjamin Nathans, A “Hebrew Drama“. Lilienblum, Dubnow, and the Idea of Crisis in East European Jewish History, in: Simon Dubnow Institute Yearbook 5 (2006), S. 211-227. 31 „Unpraktischer Müssiggänger“. Erfahrungsraum Anti-shtetl 125 etwas mit dem Bilde Lilienblums gemein, das ich so viele Jahre im Herzen getragen hatte. […] Seine erste Frage an mich war einfach, direkt, aller hohen Ideale bar: „Wieviel Geld haben Sie mit? “ Diese Frage genügte, mir die Flügel zu stutzen. Ich stürzte aus den höchsten himmlischen Regionen in die Tiefen der Menschheit herab. Von Moses Leib Lilienblum hatte ich eine solche nüchterne Frage nicht erwartet. […] Ich wurde in eine noch tiefere Niedergeschlagenheit versetzt, als einige Juden uns unterbrachen und in meinem Beisein mit Lilienblum um Begräbniskosten und den Preis von Leichengewändern zu feilschen begannen. […] Ich hatte fast das Gefühl, als wäre mir eine persönliche Beleidigung widerfahren: einerseits der Erwecker eines Volkes, andererseits ein Büroangestellter, der sich über den Preis für Gräber und Leichentücher herumstritt - die beiden Tätigkeiten wollten nicht harmonieren. Später erlitt ich einen ähnlichen Schock durch Jizchak Leib Perez, als ich ihn in der Chewra Kaddischa 32 - Abteilung der Warschauer Gemeinde besuchte, wo er die gleiche Stellung einnahm wie Lilienblum in Odessa. 33 In der Autobiographik der Generation Sholom Aleichems deutet sich eine Abwendung vom positiven Großstadtbild der Generation ihrer aufgeklärten Väter an. Zwar wird die Stadt-Land-Dichotomie durchaus reflektiert und ironisch gebrochen. Doch es bleibt bei einer normativen Aufladung dieser Differenz, die die Frage umkreist, ob jüdische Urbanitätserfahrungen positiv oder negativ zu bewerten seien. Andererseits war den in die Städte gewanderten Gebildeten schmerzlich bewusst, dass das shtetl und seine Welt nicht nur in ihren individuellen Biographien eine Lebensform der Vergangenheit darstellte. Die Erschütterungen der russländischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der massenhaften antijüdischen Gewalt auf den Straßen von Städten wie Kiew, Odessa und Kišinev resultierten in einer deutlich pessimistischeren jüdischen Haltung gegenüber moderner Urbanität. Dafür werden im Folgenden die Erinnerungen des nach Boston ausgewanderten Harry E. Burroughs [Herš Baraznik] herangezogen, weil sie in exemplarischer Weise für die durch die negative Erfahrung der Großstadt ausgelöste Erschütterung stehen. Mit größten Erwartungen war der junge Herš zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem wolhynischen shtetl Kashoffka [Kašivka] in die Hafenstadt Odessa gereist. In seinen etwa 25 Jahre später in Boston erschienenen Erinnerungen beschreibt er, was er dort als Zehnjähriger erleben musste: My visions of what Odessa must be were so extravagant that when we entered the suburbs and I saw real houses and streets I was disappointed for a 32 Eigentlich „Heilige Gesellschaft“ („Beerdigungsbruderschaft“). 33 Shmarya Levin, Ernüchterung in Odessa, in: ders., Jugend in Aufruhr, Berlin 1933, S. 219-223. Alexis Hofmeister 126 moment, but not for long. […] The domes and pillars of the cathedrals were, indeed, vermilion and blue and gold. Naval officers more resplendent than the army officers or the Cossacks strode through the streets, which were unbelievably broad and swept as clean as a floor on the eve of Passover. […] Among the crowds I kept seeing men who looked like pictures of the Tsar and only with difficulty restrained myself from asking if the Tsar were really there. The streets were shaded by magnificent trees and the parks filled with shrubs and flowers. Every one was busy and happy as we drove from the station toward the hotel. […] As the cab turned, I caught a glimpse of a sidestreet and saw a crowd of men, evidently Jews, running in a body toward a goal I could not see. They were all dressed in blood-stained aprons and had long knives in their hands. Wikos said at once that they were butchers. From another direction came a mob of Russian laborers with long hair and canvas blouses, bearing spades, clubs and guns in their hand. The Jewish butchers, cornered in an alley, turned around to fight and I saw the knives gleam, the clubs swinging, men fall and bleed, others run. The police stood calmly at their posts, as if the affair was none of their business. 34 Ein Moment brutaler Gewalt auf offener Straße zerstörte Barazniks idealisiertes Odessabild: During the few days I remained in Odessa this new knowledge pressed upon me like a weight. I lost for the time my inquisitiveness, for it seemed as if always there was a storm in the air. […] Odessa no longer was a Paradise. 35 Die „city of God“, wie Baraznik Odessa zunächst bezeichnet hatte, gönnte ihm nach dem Schrecken des Pogroms keinen ruhigen Moment. Die Toilette des Hotels wurde dem jungen Mann vom Lande zum Verhängnis. Er verlor dort seinen geliebten Ledergürtel und setzte die Etage unter Wasser. Odessa - Sinnbild der Moderne und ihrer zivilisatorischen Errungenschaften - erwies sich nicht nur nicht als Paradies, es zog nun als Sinnbild der Moderne den Hass des Verfassers auf sich. Baraznik unterschied nun nicht mehr zwischen Russland und Amerika: „I began to hate Odessa thoroughly and to feel a twinge of that distaste for modern conveniences which Schloime Gimbel, the Framingham junk man, has retained through thirty-five years in America“. 36 Deutlich sprechen die betrachteten autobiographischen Texte vom rapiden Wandel des jüdischen Großstadtbildes. Bemerkenswert ist, das die romantische Hoffnung auf die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung sowie die Bildung eines modernen großstädtischen Judentums innerhalb einer 34 Harry E. Burroughs, Tale of a Vanished Land. Memories of a Childhood in Old Russia, Boston 1930, S. 253-254. 35 Burroughs, Tale of a Vanished Land, S. 256. 36 Burroughs, Tale of a Vanished Land, S. 257. Erfahrungsraum Anti-shtetl 127 Generation in tiefe Enttäuschung umschlug. Die russländischen Großstädte, Sehnsuchtsorte vieler russischer Maskilim, wurden zu Orten antijüdischer Gewalt und urbaner Vereinzelung. Dabei nehmen die tatsächlich vorhandenen, sozial abgestuften und topographisch fixierten imperialen Ordnungen der Exklusion oder Integration der jüdischen Bevölkerung retrospektiv Züge einer dichotomischen Ordnung jüdischen und nichtjüdischen Raums an. Das narrative Muster polarer Differenz verweist auf den generellen Stadt- Land-Unterschied, der im späten Zarenreich eine besondere Schärfe besaß. 37 Es klingen in den autobiographischen Texten aber auch Narrative einer prinzipiellen Opposition zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, zwischen Tradition und Moderne an, die über den Rahmen des russisch-imperialen Kommunikationsraumes hinausweisen. Ob die Verfasser von Autobiographien im Zarenreich schrieben oder als Migranten zu neuen Horizonten aufbrachen, schlug sich auch in ihren Texten nieder. Als imperiale Diasporagruppe lebten die russländischen Juden in einem Reich mannigfaltiger und widersprüchlicher räumlicher Hierarchien. Ihre Erfahrung bei der Bewegung im imperialen Raum trat im Rückblick hinter die vereinfachenden topographischen Scheidungen zwischen jüdischem und nichtjüdischem Raum einerseits sowie modernem urbanem Raum und vormodernem ländlichen Raum andererseits zurück. Diese von der transatlantischen Wanderungsbewegung begünstigte Verschiebung erleichterte ihrerseits die Rezeption autobiographischer Texte in postimperialen Kommunikationsräumen. Die jüdische Großstadterfahrung blieb damit auch im postimperialen Zeitalter kommunizierbar. Freilich um den Preis eines unhistorischen Russlandbildes. 37 Haumann, „Ich habe gedacht […]“ (Anm. 15) sowie Haumann, Konfliktlagen und Konflikte zwischen Stadt und Land (Anm. 15). Maurus Reinkowski Der rasende Reichsdiener Beschleunigung und Verlangsamung im späten Osmanischen Reich Wie umstritten auch die Begriffe des ‚Kranken Mannes am Bosporus‘ und der ‚Orientalischen Frage‘ sein mögen, 1 so bilden sie doch recht anschaulich die Pattsituation zwischen den wichtigsten europäischen Mächten ab, von denen wohl jede einzelne seit dem 19. Jahrhundert das Osmanische Reich militärisch hätte bezwingen können: „Im Kern war die ‚Orientalische Frage‘ des neunzehnten Jahrhunderts daher das schwierige Problem, wieviel vom Osmanischen Reich in welcher Form im Interesse der europäischen Mächte unbedingt erhalten werden mußte.“ 2 Das Osmanische Reich war als Eckstein in das internationale Mächtegleichgewicht eingemauert worden, seine Ränder und seine inneren Strukturen konnten aber dennoch usurpiert werden bzw. große Teile wurden einer informellen Kolonisierung unterworfen. 3 Ein orientalisierender Blick auf das Osmanische Reich, wie er in der europäischen Geschichtsschau auch noch im 20. Jahrhundert üblich war, legt eine lange Periode des Verdämmerns, der Stagnation nahe. Der Wirklichkeit 1 Nach Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, München 1984, wirkten sich die inhärenten Probleme des Osmanischen Reiches destabilisierend auf das europäische Mächtegleichgewicht aus. Im Gegensatz dazu charakterisiert M.E. Yapp, The Making of the Modern Near East 1792-1923, London u.a. 1987, das Osmanische Reich als eine Art Bank im gemeineuropäischen Besitz, bei der jede europäische Macht ‚Sonderziehungsrechte‘ hatte. Innereuropäische Konflikte seien also externalisiert worden und die Funktion des Osmanischen Reiches sei es gewesen, als Resonanzkörper externalisierter europäischer Konflikte zu dienen und damit das europäische Mächtegleichgewicht zu stabilisieren. 2 Alexander Schölch, Der arabische Osten im neunzehnten Jahrhundert (1800-1914), in: Ulrich Haarmann (Hrsg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1987, S. 365-431, hier S. 383. 3 Feroz Ahmad, The Late Ottoman Empire, in: Marian Kent (Hrsg.), The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London u.a. 1984, S. 5-30, hier S. 22; Rashid Ismail Khalidi, The Economic Partition of the Arab Provinces of the Ottoman Empire before the First World War, Review. A Journal of the Fernand Braudel Center 11.2. (1998), S. 251-264. Maurus Reinkowski 130 näher ist die Annahme, dass die ‚Osmanen‘ 4 in der Tat das 19. Jahrhundert als das längste 5 und wohl auch als das quälendste erlebten. In ihrem lang anhaltenden Kampf um den Erhalt des Reiches waren die Osmanen „zweifelsfrei zur Welt der Opfer gehörig“, 6 zugleich aber hielten sie - im Großen und Ganzen mit Erfolg - den imperialen Gestus aufrecht. Die These dieses Beitrags ist, dass dieser Zeitraum innerhalb der osmanischen Elite von einem Zeitgefühl der Beschleunigung und Retardation zugleich geprägt gewesen sein muss. Verdichtung und Teleologie Die Geschichte der Republik Türkei im 20. Jahrhundert muss unverständlich bleiben, wenn man nicht den fundamentalen osmanisch-türkischen Umwälzungsprozess im frühen 20. Jahrhundert berücksichtigt. Eine neue Generation von ‚Jungtürken‘ kommt im Jahr 1908 an die Macht und beginnt kurz vor dem Ersten Weltkrieg, nach einem Prozess der internen Radikalisierung und ideologischen Fokussierung, das Projekt eines türkischen Nationalstaates (genauer gesagt: eines nationalen Staates in Kleinasien für die Türken muslimischer Konfession) umzusetzen. 1908 zwang die jungtürkische Bewegung Sultan Abdülhamid II. (reg. 1878-1909), die kurzlebige konstitutionelle Monarchie der Jahre 1876-1877 wieder in Kraft zu setzen. Der Euphorie eines politischen Pluralismus, gekennzeichnet unter anderem durch einen enormen Aufschwung des Pressewesens, folgte recht rasch die Ernüchterung. Das Jahr 1912 war ein dramatisches Jahr der Wende; der Großteil der europäischen Kernprovinzen ging im Ersten Balkankrieg verloren. Unter dem Eindruck dieser für das Osmanische Reich verheerenden Niederlage konnten jungtürkische Intellektuelle wie Naci İsmail nur noch in Anatolien das unbedingte (und unbedingt zu verteidigende) Kern- und Heimatland der Türken sehen. 7 Geradezu explosionsartig entwickelte sich innerhalb weniger Jahre aus einem osmanischtürkischen Protonationalismus ein offensiv bis aggressiv gestimmter territorial-ethnischer türkischer Nationalismus. Ab dem Jahr 1913 verengt sich zudem die jungtürkische Herrschaft in eine oligarchische Herrschaft, die 4 Im Folgenden wird unter ‚Osmanen‘ nicht nur die Dynastie der Osmanen verstanden, sondern der gesamte bürokratisch-kulturell-militärische Komplex des Osmanischen Reiches, der sich durch eine verbindliche Orientierung an der osmanischen ‚Leitkultur‘ auszeichnete. 5 İlber Ortaylı, İmparatorluğunun en uzun yüzyılı [Das längste Jahrhundert des Reiches], Istanbul 1983. 6 Eric Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter. 1875-1914, Frankfurt a.M. u.a. 1989, S. 38. 7 Mustafa Aksakal, The Ottoman Road to War in 1914. The Ottoman Empire and the First World War, Cambridge 2008, S. 25. Der rasende Reichsdiener 131 - zu ungleichen Anteilen - von einem aus Cemal, Enver und Talat gebildeten Triumvirat getragen wird. Die spätosmanische und die Vorgeschichte der 1923 gegründeten Republik Türkei kulminiert in den Jahren 1912-1922: Die beiden Balkankriege, der Erste Weltkrieg und der folgende türkische Unabhängigkeitskrieg sind eine zentrale Periode, in der die historischen Ereignisse sich verdichten und geradezu überschlagen - und in der die Gewalt sich in neue qualitative und quantitative Dimensionen steigert. Niemals war das spätosmanische Reich so ‚modern‘ wie in den Jahren seit 1912, indem es die bereits im 19. Jahrhunderte eingeübten Muster ethnischer Säuberung weitertrieb und damit eine der ersten unter den „extrem gewalttätigen Gesellschaften“ des 20. Jahrhunderts war. 8 Die spätosmanische Geschichte kann also gelesen werden als eine Periode, die im enorm beschleunigten, hoch komprimierten und außerordentlich gewalttätigen Zeitraum der Jahre 1912-1922 kulminiert. Ob man nun die zunehmende Gewalt eher als ungeplanten, sich selbst speisenden Radikalisierungsprozess sieht oder doch eine kalkulierte Politik vermutet, 9 es stellt sich jedenfalls die Frage: Wie müssen die vorangehenden Jahrzehnte in diesem Zusammenhang verstanden werden? Als Zeiträume, in denen sich die in der Dekade 1912-1922 entladende Gewalt gewissermaßen aufstaut? Justin McCarthy zieht eine lange Linie muslimisch-türkischer Traumatisierungen: von den Vertreibungen der Muslime aus dem Kaukasus und aus anderen Regionen des expandierenden russischen Reiches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert über den russisch-osmanischen Krieg von 1877-1878 bis zu den Balkankriegen 1912-1913, die notgedrungen sich in der Gewalt des Ersten Weltkrieges entladen sollten. 10 Es ist jedoch allzu offensichtlich, dass einer solchen, im Grunde berechtigten Rekonstruktion der Leidensgeschich- 8 Der Begriff verdankt sich Christian Gerlach, Extremely Violent Societies. Mass Violence in the Twentieth-Century World, Cambridge u.a. 2010, der auf den S. 92-102 auch auf die Armeniermassaker eingeht, allerdings hier mit einer spezifischen Untersuchung dazu, wie staatliche Organe und Individuen von genozidalen „Maßnahmen“ profitieren können. 9 Donald Bloxham, The Armenian Genocide of 1915-1916. Cumulative Radicalization and the Development of a Destruction Policy, Past & Present 181 (2003), S. 141-191, hier S. 143: „There was no a priori blueprint for genocide, and (..) it emerged from a series of more limited regional measures in a process of cumulative policy radicalization.“ Im Gegensatz dazu argumentiert Taner Akçam, Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 1996, S. 43, dass mit der Vertreibung der und den Massakern unter den kleinasiatischen Griechen im Jahr 1914 bereits die Muster der späteren jungtürkischen ethnischen Vernichtungspolitik angelegt waren. 10 Justin McCarthy, Death and Exile. The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821- 1922, Princeton, New Jersey 1995. Maurus Reinkowski 132 te muslimischer Bevölkerungen des 19. Jahrhunderts zugleich der Versuch einer exkulpatorischen Deutung von ‚Unvermeidlichkeit‘ und einer gewissermaßen ‚mechanischen Entladung‘ von Gewaltpotentialen während des Ersten Weltkriegs innewohnt. Moralische Verantwortung wird damit neutralisiert oder alleinig europäischen Akteuren angelastet. 11 Einer solchen Deutung, die die spätosmanische Geschichte unweigerlich in der Periode 1912-1922 münden lässt, wohnt nicht nur die eben beschriebene Gefahr von politisch motivierten ‚Moralumschuldungsplänen‘ inne, sondern auch die der historischen Verkürzung. Diesen Verkürzungen kann entgangen werden, indem die vielfältigen und oft widersprüchlichen Erfahrungen, die die osmanische imperiale Elite des 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts in Fragen von Ethnizität, Konfessionalismus, Nationalismus und Imperialismus, aber auch bei ihrem Versuch der Selbstbehauptung gegenüber den europäischen Mächten machte, in den Blick genommen werden. Historikerinnen und Historiker, die die große Karawane der osmanischen Geschichte hin zum Ersten Weltkrieg, die Auflösung der multi-ethnischen osmanischen Bevölkerungsstruktur und die Entstehung der modernen Türkei verstehen wollen, sollten die Unterschiedlichkeit von Konstellationen und die Möglichkeit von dann doch nicht gegangenen Wegen in den Blick nehmen. 12 Imperialität und Semi-Kolonisiertheit Die Osmanen waren - nicht nur durch ihre Langlebigkeit 13 - eine Ausnahme unter den großen postmongolischen islamischen Reichen, 14 sie wa- 11 So wird auch in einer recht einflussreichen apologetischen Strömung der türkischen Historiographie argumentiert, dass die imperialistischen Staaten Europas durch ihre Usurpationspolitik das harmonische und stabile Gesellschaftsgefüge des Nahen Ostens, das über Jahrhunderte hinweg vom Osmanischen Reich gehegt worden sei, zerstört hätten und an seine Stelle die zerrissenen und immer wieder von Konflikten heimgesuchten Gesellschaften der arabischen Welt und Südosteuropas getreten seien. Siehe als ein Beispiel unter vielen anderen für diese Argumentation, Mim Kemal Öke, Ermeni Meselesi 1914-1923 [Die armenische Frage, 1914-1923]. Istanbul 1986, S. 283. 12 Cem Emrence, Remapping the Ottoman Middle East. Modernity, Imperial Bureaucracy, and the Islamic State. London u.a. 2012, S. 2: „to understand the variation in the Ottoman world“. In diesem Sinne ist auch der Obertitel von Hans-Lukas Kieser, Der verpasste Friede: Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei, 1839-1938, Zürich 2000, zu verstehen. 13 In den späteren Jahrhunderten begründeten die Osmanen ihre Legimität unter anderem mit der erstaunlichen Langlebigkeit ihres Reiches. Zu osmanischen Strategien, die Legimititätsansprüche der eigenen Herrscherdynastie zu stärken, siehe Hakan Karateke, Legitimizing the Ottoman Sultanate: A Framework for Historical Analysis, Der rasende Reichsdiener 133 ren zudem dasjenige muslimische Reich, das am meisten mit einem seit dem 18. Jahrhundert - auf eine für die Osmanen zuerst wenig erklärliche Weise - machtvoll expandierenden Europa konfrontiert wurde. Imperien errangen ab dem 19. Jahrhundert - mit der Einführung moderner Waffensysteme (wie dem Maschinengewehr) und neuer Kommunikationswege (wie der Telegraphie und der Eisenbahn) - eine bisher unbekannte Fülle an Macht. Vom 18. Jahrhundert an konnten die zentralasiatischen Nomaden, die über Jahrhunderte hinweg allen sesshaften Gesellschaften militärisch überlegen gewesen waren, den Armeen Russlands und Chinas nichts mehr entgegensetzen und wurden in die imperialen Systeme integriert. 15 Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die europäischen imperialen Staaten in ihren eigenen Herrschaftsbereichen, innerhalb und außerhalb Europas, mit keinem ernsthaften Gegner mehr zu rechnen und konnten sich dem Gefühl unbegrenzter Kraft und Macht hingeben. Das Osmanische Reich nahm - im Prinzip - an diesen grundsätzlichen Veränderungen teil. Dem Beispiel der erfolgreichen national-imperialen Staaten, vor allem Großbritanniens und Frankreichs folgend, entwickelte das Osmanische Reich im späten 19. Jahrhundert seine eigenen Ambitionen eine imperiale Nation zu sein. Als der Jemen, die weitab liegende und bereits im 17. Jahrhundert verloren gegangene Provinz, in den 1870er Jahren (übrigens vor allem dank des Suez-Kanals) wieder unter osmanische Kontrolle gebracht wurde, diskutierten hohe osmanische Beamte und Militärs, ob man ihn nicht eher als Kolonie verwalten und hier britischen oder französischen Vorbildern folgen solle. Die traditionellen osmanischen „repertoires of power“ 16 wurden durch neue imperialistische Modelle und Vorstellungswelten, wie dem Auftrag, andere Völkerschaften zivilisieren zu müssen, ergänzt. 17 in: Hakan Karateke et al. (Hrsg.), Legitimizing the Order. The Ottoman Rhetoric of State Power. Leiden u.a. 2005, S. 13-52. 14 Das Osmanische Reich (1300-1923) zählt zusammen mit den Großmoguln in Südasien (1526-1858, faktische Herrschaft bis 1739) und den Safawiden in Iran (1501- 1722) zu den bedeutenden ‚post-mongolischen patrimonial-bürokratischen-militärischen Reichen‘. Siehe als Einführung in diese Thematik Stephen Frederic Dale, The Muslim Empires of the Ottomans, Safavids, and Mughals. Cambridge / Mass. u.a. 2010. 15 Michael Khodarkovsky, Russia‘s Steppe Frontier. The Making of a Colonial Empire, 1500-1800. Bloomington / Indiana 2002, S. 21. 16 Jane Burbank, Frederick Cooper, Empires in World History. Power and the Politics of Difference. Princeton / New Jersey u.a. 2010, S. 3 und S. 16 bzw. S. 2 und S. 13. 17 Thomas Kuehn, Empire, Islam and Politics of Difference. Ottoman Rule in Yemen, 1849-1919. Leiden u.a. 2011, S. 2 und S. 13, verwendet den treffenden Begriff „colonial Ottomanism“, um die Hybridität osmanischer kolonialer Dominanzansprüche und einer imperialen Zentralisierungs- und Nationalisierungspolitik zu charakterisieren. Maurus Reinkowski 134 Auf der anderen Seite wurde das Osmanische Reich zunehmend selbst Objekt des expansionistisch und usurpierend veranlagten europäischen Imperialismus. Der gefährlichste Gegner der Osmanen war Russland: Nach der russischen Eroberung des Kaukasus, die in 1860er Jahren abgeschlossen wurde, verließen mehr als eine Million Einwohner die Region; mehr als 800.000 ließen sich auf osmanischem Gebiet nieder. Nach dem Krieg gegen Russland 1877-1878 verlor das Osmanische Reich rund 200.000 Quadratkilometer seines Territoriums, auf denen mehr als 5,5 Millionen Menschen, die Mehrheit unter ihnen Nicht-Muslime, lebten. Hunderttausende von Muslimen, die in diesen verloren gegangenen Gebieten gelebt hatten, flohen in die osmanischen Kerngebiete, vor allem nach Kleinasien. Der gewaltige Bevölkerungsverlust und die zugleich stattfindenden massiven Bevölkerungsverschiebungen veränderten das demographische Verhältnis zwischen Muslimen und Christen: Die Muslime waren nun die überwiegende Mehrheit im Osmanischen Reich. 18 Es kann nicht verwundern, dass die ‚Vertragsbedingungen‘ dieses multikonfessionellen und multiethnischen Reiches zunehmend von allen Beteiligten in Frage gestellt wurden. Annäherung und Abstoßung Die osmanische imperiale Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung war vom 18. Jahrhundert an von einer fundamentalen Ambivalenz geprägt, einerseits auf imperialer Machtentfaltung zu beharren und andererseits doch die Wirklichkeit eines - im Verhältnis zu den europäischen Mächten - immer schwächer werdenden Reiches akzeptieren zu lernen. Spätestens mit dem 19. Jahrhundert muss diese Ambivalenz verinnerlicht gewesen sein. Die osmanische imperiale Elite hatte sich darin perfektioniert, „to convince itself of its own legitimate right to existence“. 19 Das osmanische Herrschaftsrepertoire wurde mit der verhältnismäßigen Schwächung des Reiches nicht verringert, sondern erweiterte sich eher. Das osmanische 19. Jahrhundert war eine Art von Laboratorium, in dem verschiedene politische, ökonomische und soziale Konzepte, Einrichtungen, 18 Zudem war das Osmanische Reich gegenüber seinen europäischen Kontrahenten nachhaltig demographisch geschwächt: Die Bevölkerung Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches war um 1850 mit jeweils rund 30 Millionen Einwohnern weitgehend gleich, während die Zahlen um 1901 sich deutlich voneinander schieden: Österreich-Ungarn wies eine Bevölkerungszahl von 45,2 Millionen auf, das Osmanische Reich zählte nur noch 26 Millionen Einwohner; Erik J. Zürcher, The Young Turk Legacy and Nation Building. From the Ottoman Empire to Atatürk’s Turkey, London u.a. 2010, S. 64. 19 Selim Deringil, The Well-Protected Domains. Ideology and the Legimitation of Power in the Ottoman Empire 1876-1909, London u.a. 1998, S. 42 Der rasende Reichsdiener 135 Techniken europäischen Ursprungs übernommen wurden, dann aber dank der osmanischen Technik der ‚Anverwandlung‘ umgeformt wurden. 20 Der Versuch, mit Europa gleichzuziehen, führte zu Übertreibungen und einem bisweilen bizarren Eklektizismus. Die Osmanen übernahmen in zahlreichen, wenig aufeinander abgestimmten Anläufen und mit dem Wunsch, sich nicht von einem europäischen Staat allzu abhängig zu machen, allzu unterschiedliche Dinge aus Europa. Es entstand, wie Helmuth von Moltke maliziös anmerkte, zwar ein Heer nach europäischem Muster, aber „mit russischen Jacken, französischem Reglement, belgischen Gewehren, türkischen Mützen, ungarischen Sätteln, englischen Säbeln und Instrukteurs aus allen Nationen“. 21 Während auf materieller Ebene die eher ungeordneten Formen der Übernahme ins Auge stachen, so war auf intellektuell-konzeptioneller Ebene die osmanische Transferleistung weitaus eindrücklicher, als dies zuerst scheinen mag. In den konstitutionellen und administrativen osmanischen Texten des 19. Jahrhundert wurde nicht der gesamte politische Kanon Europas angeeignet. Die Konzepte von Freiheit und von selbstgesetzter Verfassung fehlen in der politischen Terminologie der osmanischen Verwaltungselite in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch völlig. Begriffe wurden eben nicht willkürlich übernommen, sondern nur dann, wenn sie innerhalb des osmanischen Idioms verträglich waren bzw. sinnvoll umgeformt werden konnten: Liberté wurde vorerst abgestoßen, fraternité und égalité konnten absorbiert werden. Die Begrifflichkeiten wurden nicht nur dem osmanischen Begriffsuniversum anverwandelt, sondern einer ‚produktiven Fehldeutung‘ unterworfen. So wurde liberté ins Osmanische als tesavi oder müsavat übersetzt und - das spezifische Bedeutungsspektrum von tesavi und müsavat produktiv nutzend - als unparteiische Äquidistanz des Staates gegenüber seinen unterschiedlichen Bevölkerungen gedeutet. Die Umdeutung des Begriffes égalité war also eine osmanische Fehlinterpretation der zugrunde liegenden philosophischen Konzepte; sie war aber auch zugleich mehr, nämlich die produktive Umdeutung und Aneignung eines mittlerweile international verbindlichen Begriffes an die eigene politische Praxis. Damit gab sich die osmanische Elite die Instrumente in die Hand, in der Auseinandersetzung mit europäischen Mächten scheinbar dieselben Begriff- 20 In diesem Sinne plädiert Benjamin Fortna, The Imperial Classroom. Islam, the State, and Education in the Late Ottoman Empire. Oxford 2002, S. 9, dafür, statt des Begriffes adoption, der eine passive Übernahme nahelegt, eher den der adaptation zu verwenden, der einen eigenständigen osmanischen Handlungs- und Gestaltungsanteil geltend macht. 21 Helmuth von Moltke, Unter dem Halbmond. Erlebnisse in der alten Türkei 1835- 1839, Tübingen 1981, S. 352. Maurus Reinkowski 136 lichkeiten zu verwenden und doch gezielt an europäischen Erwartungen vorbeireden zu können. Diese immer weitere verfeinerte osmanische Praxis, den imperialen Status aufrechtzuerhalten, kann mit dem Begriff ‚Imperialismus‘ kaum angemessen wiedergegeben werden. Weitaus besser wird der Sachverhalt getroffen durch einen Begriff wie ‚Imperialität‘, der den Selbstentwurf des osmanischen Staates als Reich herausstellt und dem Aspekt eines expansionistischen Imperialismus eine nur ergänzende Bedeutung zumisst. Beschleunigung und Innehalten Das osmanische 19. Jahrhundert steht unter dem Vorzeichen von Reformen, die den Abstand zu den europäischen Staaten verringern sollten. Mit einem Reformedikt aus dem Jahre 1839, das nachdrücklich die Achtung des Lebens, Besitzes und der Ehre allen osmanischen Untertanen zusichert, beginnen die Reformjahrzehnte der Tanzimat (wörtlich: „Anordnungen“). Ein 1856 erneut erlassenes Edikt bekräftigt diese Zusicherungen. Das Ziel der Tanzimat war, das Heeres- und Erziehungswesen auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu steigern und in allen Provinzen ein einheitliches Verwaltungssystem durchzusetzen. Die Tanzimat gipfeln 1876 in der Ausrufung einer osmanischen Verfassung und im Abschluss der mecelle, einem Gesetzeswerk, das Regelungen des islamischen religiösen Rechts, der Scharia, in verbindlicher Form zusammenfasste. Auch der oft als ‚Despot‘ gehandelte Sultan Abdülhamid II. setzte diese Reform- und Zentralisierungspolitik fort. Die hohen Bürokraten, die die Tanzimat-Reformen in Gang brachten, Sultan Abdülhamid und die Jungtürken (1908-1918) waren - bei aller Unterschiedlichkeit - durch das Anliegen, den Erhalt des Reiches zu sichern, miteinander verbunden; es lässt sich sogar ein Bogen bis zu Mustafa Kemal Atatürk und seiner tiefgehenden Umgestaltung der Türkei in den 1920er und 1930er Jahren schlagen. Man könnte annehmen, dass das Projekt einer grundlegenden Umformung des osmanischen Staates - in Verbindung mit einem zunehmenden Krisenbewusstsein - sich durch eine höhere Frequenz von Ämterwechseln ausdrückte. In der Tat: Während im Zeitraum von 1810 bis 1843 (also vor Einführung der Tanzimat) mit insgesamt 19 Großwesiraten ein Wechsel seltener als alle zwei Jahre stattfand, konnte sich in der Regierungszeit von Abdülhamid II. (1876-1909) mit 28 Großwesiraten jeder Großwesir im Durchschnitt nur wenig mehr als ein Jahr halten. Solche Vergleiche führen aber in die Irre: So fällt in den Jahren 1843-1876 mit insgesamt 37 Großwesiraten die Verweildauer mit unter einem Jahr noch deutlich geringer aus. In der Tanzimatzeit errang die Bürokratie und damit das Großwesirat größere Der rasende Reichsdiener 137 Eigenständigkeit gegenüber dem Sultan und seinem Haushalt, so dass es vermutlich als entscheidendes politisches Amt einer stärkeren Rotation innerhalb der hohen bürokratischen Elite unterlag. Darüber hinaus waren die recht häufigen Wechsel in der hamidischen Zeit ab 1876 mit einer erstaunlichen Konstanz des in Frage kommenden Personals verbunden: Großwesir Küçük Mehmed Said Pascha (1838-1914) war unter Abdülhamid II. sieben Mal Großwesir (und zwei weitere Male in jungtürkischer Zeit), Kıbrıslı Mehmed Kamil Pascha (1833-1913) dreimal (und ein viertes Mal wiederum in jungtürkischer Zeit). Die häufige Rotation von Ämtern und zum Teil nur sehr kurzen Verweilzeiten an den einzelnen Dienstorten waren schon seit jeher ein bleibendes Merkmal der osmanischen Reichsbürokratie gewesen. Das Ziel war natürlich, die Bildung von lokalen Machtzentren zu vermeiden und Machtmissbrauch einzuschränken. Einfache Eskalationsszenarien, dokumentiert etwa durch eine Beschleunigung des Ämterwechsels, 22 funktionieren also nicht. Die letzten 150 Jahre des Osmanischen Reiches sind kein Zeitraum einer ständig sich beschleunigenden und verdichtenden Geschichte; eher wechseln sich Perioden von Beschleunigung und Entschleunigung ab. Krise als beschleunigte Zeit Ägypten und das Osmanische Reich durchliefen im 19. Jahrhundert eine in vielerlei Hinsicht derart parallele Entwicklung, dass man von Ägypten als dem alter ego des Osmanischen Reiches sprechen kann. Ägypten war zu Beginn des 16. Jahrhunderts in den osmanischen Herrschaftsbereich eingegliedert worden, konnte sich aber bereits ab dem 18. Jahrhundert weitgehend aus den osmanischen Herrschaftsstrukturen lösen. 23 Die osmanische Herrschaft über Ägypten endet jedenfalls deutlich früher als im Jahr 1914, als die Briten mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs die osmanische Suzeränität über Ägypten offiziell aufkündigten und das Land zu einem britischen Protektorat erklärten. Ägypten tritt zweimal prominent in den Vordergrund der Geschichte des Nahen Ostens im 19. Jahrhundert, nämlich in den Jahren 1831-1841 und 22 Wollte man zu belastbaren Aussagen kommen, wären große biographische Kompendien, die auch weniger hochgestellte Beamte berücksichtigen, wie das von Mehmed Süreyya, Sicill-i Osmani yahud tezkire-i meşahir-i osmaniyye. 4 Bände, Istanbul 1890-1898, statistisch auszuwerten - und hätte dann vermutlich immer noch unklare Werte in der Hand, da die administrativen Strukturen ständig im Fluss waren. 23 Siehe Jane Hathaway, The Arab Lands under Ottoman Rule, 1516-1800, Harlow u.a. 2008, zur Einführung in das osmanische Ägypten vor der französischen Expedition 1798. Maurus Reinkowski 138 wiederum 1876-1882. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wird Ägypten von Mehmed Ali (1769-1849) dominiert, der in den Wirren nach der französischen Expedition unter Bonaparte als osmanischer Offizier nach Ägypten gelangt, sich als ‚starker Mann‘ durchsetzen kann und von der osmanischen Zentrale - mit Widerwillen - als osmanischer Gouverneur über Ägypten anerkannt wird. Zusammen mit seinem Sohn İbrahim Pascha (1789-1848) geht Mehmed Ali daran, ‚sein‘ Land Ägypten in einen zentralistischen Staat umzuformen, gestützt auf eine von ihm selbst kontrollierte Staatsökonomie und eine nach europäischem Vorbild gerüstete und ausgebildete Armee. Mehmed Alis imperiale Bestrebungen gipfeln in den 1830er Jahren darin, das Osmanische Reich von innen heraus erobern zu wollen. Die europäischen Großmächte, allen voran Großbritannien, haben kein Interesse an dem Aufkommen eines unliebsamen Konkurrenten, kommen den Osmanen zu Hilfe und drücken Ägypten wieder auf den Status eines kleineren regionalen Akteurs herab. Immerhin gelingt es Mehmed Ali, sich und seinen Nachkommen den Status einer eigenen Dynastie (später bekannt geworden als die ‚Khediven-Dynastie‘) zu sichern und eine nur nominelle Unterordnung unter das Osmanische Reich zuzugestehen. Zu Beginn der zweiten Verdichtungsperiode strebt İsmail (reg. 1863- 1879) wiederum danach, Ägypten als einen modernen Staat mit eigenen imperialen Ambitionen (diesmal aber ausschließlich in Richtung Süden, also des heutigen Sudans) zu positionieren. Durch eine übermäßig verschwenderische Ausgabenpolitik und die Übervorteilung durch die europäischen Gläubigerbanken muss Ägypten 1876 den Staatsbankrott erklären. „Nominell herrschte Ismail weiterhin im Namen des Sultans souverän; faktisch aber befand sich Ägypten in einer Art von Zwangsschuldenverwaltung durch England und Frankreich, die ihre Macht zugunsten der europäischen Gläubiger eingesetzt hatten.“ 24 Eine nationale ägyptische Bewegung formiert sich, die rasch mit den Interessen der imperialen europäischen Staaten zusammenstößt und schließlich in der britischen Besetzung Ägyptens 1882 gipfelt. Ägypten im 19. Jahrhundert zeigt also zwei dramatische Wendungen seiner Geschichte: vom Versuch einer autarken ‚Modernisierung‘ und imperialen Expansion in den 1830er Jahren hin zu einem Objekt des europäischen Imperialismus ab den 1850er Jahren und von den imperialen afrikanischen Unternehmungen Ägyptens der frühen 1870er Jahre hin zum Staatsruin und zur britischen Besatzung ab 1882. Das Osmanische Reich zeigt eine ähnliche Krisenkonjunktur wie Äypten: Es muss sich nach seinem Bankrott im Jahr 1875 einer internationalen Schuldenverwaltung (Administration de la Dette 24 Wolfgang Mommsen, Imperialismus in Ägypten. Der Aufstieg der ägyptischen nationalen Bewegung 1805-1956, München, Wien 1961, S. 38. Der rasende Reichsdiener 139 Publique Ottomane, Düyun-i Umumiye) unterwerfen. Der Berliner Kongress von 1878 führt zu einer noch weiter gehenden europäischen Dominanz über das Osmanische Reich. Politische Stagnation als verlangsamte Zeit Mit der Konsolidierung der britischen Okkupation Ägyptens ab der Mitte der 1880er Jahre, als die anderen europäischen Großmächte den Verbleib Großbritanniens in Ägypten mehr oder weniger hinzunehmen beginnen, entschleunigt sich die ägyptische Geschichte. Die folgenden Jahrzehnte werden dominiert von Sir Evelyn Baring, ab 1892 Lord Cromer, der von 1882 bis 1907 als britischer Generalkonsul in Ägypten residiert. Relativem wirtschaftlichem Erfolg steht soziale und politische Stagnation gegenüber. Die Cromerschen Jahre in Ägypten entsprechen weitgehend der Regierungszeit Abdülhamid II., die durch eine weitgehend erfolgreiche Außenpolitik, aber einen autoritären Regierungsstil gekennzeichnet ist. In diesem Sinne hat Cromers ‚Prokonsulat‘ in Ägypten durchaus Ähnlichkeiten zum ‚aufgeklärten Spätabsolutismus‘ Abdülhamids II. Die Erfahrung verlangsamter, ja erstarrender Zeit lässt sich an einzelnen Akteuren anschaulich zeigen, etwa an Gazi Ahmed Muhtar Pascha, dessen Karriere eine enge Beziehung zu Ägypten aufweist. Gazi Ahmed Muhtar Pascha, ein ranghoher osmanischer Militär wird 1885 als ‚außerordentlicher Kommissar‘ (fevkalade komiser) nach Ägypten entsandt, um die diplomatischen Verwicklungen nach der britischen Intervention von 1882 zu klären, mit der sicheren Aussicht nach wenigen Monaten wiederum eine andere verantwortungs- und ehrenvolle Aufgabe übertragen zu bekommen. Es kommt aber ganz anders: Bis zum Jahr 1908 wird Ahmed Muhtar in Ägypten bleiben. Sultan Abdülhamid II. hoffte offensichtlich, über Ahmed Muhtar einen gewissen Einfluss in Ägypten zu wahren und gleichzeitig ihn als eine politisch unliebsame Person im Exil zu halten. 25 Ahmed Muhtar, 1839 in Bursa in Westanatolien geboren, entstammt einer türkischen Familie. Nach einer militärischen Ausbildung in Bursa und Istanbul und einer kurzen Tätigkeit als Lehrer an der Militärakademie in Istanbul ergibt sich für ihn eine geradezu atemberaubende Folge von Ernennungen und Aufgaben. Dem ersten Einsatz in Bosnien, bei dem Ahmed Muhtar osmanische Außenposten entlang des Flusses Drina sichern und den Bau einer Straße zwischen Višegrad und Sarajevo überwachen muss, folgt 1865 die Entsendung nach Kozan in der Provinz Adana, um den Aufstand von Halbnomaden beizulegen. Im selben Jahr noch wird er mit der Erzie- 25 Mahmud Muhtar, Evénements d’Orient, [Paris] 1908, S. 192f. Maurus Reinkowski 140 hung zweier osmanischer Prinzen, Nureddin Efendi and Yusuf İzzeddin Efendi, beauftragt. Mit diesen beiden und im Gefolge des Sultan Abdülaziz (reg. 1861-1876) besucht er 1867 die Weltausstellung in Paris. Um 1868 vertritt er die osmanische Seite bei Grenzverhandlungen mit Montenegro. 1869 wird er in den Jemen abgeordnet. Nachdem der dortige Befehlshaber erkrankt, übernimmt Ahmed Muhtar den Oberbefehl. 1872, im Alter von 33 Jahren, wird er, in Anerkennung seiner Verdienste um die Wiedereingliederung Jemens in den osmanischen Herrschaftsbereich, Feldmarschall und Befehlshaber der Siebten Armee im Jemen. 1873 wird er Befehlshaber der Zweiten Armee in Schumen (heutiges Bulgarien). Nach einer Position als Generalgouverneur in Erzurum in den Jahren 1874-1875 wird Ahmed Muhtar 1875 mit der Niederschlagung eines Aufstandes in Bosnien-Herzegowina betreut. Um 1876 wird er Generalgouverneur von Kreta - eine Position, die als Exilierung verstanden wird. Sehr rasch wird er jedoch in das Zentrum der Macht zurückgeholt und 1877 mit dem Oberbefehl über die anatolischen Armeen beauftragt. Ahmed Muhtar ist damit der oberste militärische Befehlshaber im Krieg von 1877-1878 gegen Russland an der ostanatolischen Front. Nach seinem Sieg über die zahlenmäßig weit überlegene russische Armee unter Melikoff am 20. August 1877 erhält er den äußerst seltenen Ehrentitel Gazi. Zurückberufen wegen des Vorwurfs, dass er während des osmanisch-russischen Krieges mit der Räumung der ostanatolischen Stadt Kars Hochverrat begangen habe, wird er bereits im Februar 1878 mit der Verteidigung Istanbuls gegenüber den herannahenden russischen Truppen beauftragt. Den Belastungen einer politischen Karriere als Mitglied des Kabinetts weicht er aus, indem er das Generalgouverneursamt von Kreta annimmt. Noch im selben Jahr, im Dezember 1878, wird er mit der Führung der osmanisch-griechischen Grenzverhandlungen in Folge der vom Berliner Kongress beschlossenen osmanischen Gebietsabtretungen an Griechenland betraut. 1879 folgt die Ernennung zum Oberbefehlshaber der Dritten Armee und in Personalunion zum Generalgouverneur der Provinz Monastir. 1883 reist er als osmanischer Sonderbotschafter nach Berlin, um hohe osmanische Auszeichnungen und Orden dem Prinzen Wilhelm, dem späteren Wilhelm II., und seiner Großmutter, Kaiserin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach, zu überbringen. 26 Ganz im Gegensatz zu dieser schnellen Abfolge von ehrenvollen Aufgaben und mit wirklicher Macht verbundenen Ämtern von der Mitte der 26 Zur Abfolge dieser zahlreichen Positionen siehe Emine F. Tugay, Three Centuries: Family Chronicles of Turkey and Egypt, London 1963, S. 9-26. Die dort angegebenen Jahreszahlen, die die Nichte von Ahmed Muhtar offensichtlich aufgrund von mündlichen Berichten zusammengestellt hat, sind - zu urteilen nach krassen Fehlangaben zu Ahmed Muhtars Entsendung nach Ägypten - nicht immer zuverlässig. Der rasende Reichsdiener 141 1860er Jahre an sind die Jahre 1885-1908, also weit mehr als zwei Jahrzehnte, die Ahmet Muhtar in Äypten bleiben muss, eine bleierne Zeit für ihn. Wenn Cromer in Ägypten etwas „somewhere between a long-serving viceroy, a provincial governor, an international banker, and an ambassador“ war, 27 dann war Ahmed Muhtar in seinen ägyptischen Jahren eine Mischung aus Gesandtem, Exiliertem, unterbeschäftigtem Bürokrat und Gespenst. Nach Ahmed Muhtars Rückkehr nach Istanbul findet seine Karriere im Juli 1912 ihren Höhepunkt: Er wird zum Großwesir ernannt. Bereits im Oktober desselben Jahres muss er aber nach der desaströsen Niederlage im Ersten Balkankrieg zurücktreten. Ahmed Muhtar zieht sich aus der Politik zurück und stirbt 1917. Die Verbindungen Ahmed Muhtars nach Ägypten hielten über seine Rückkehr nach Istanbul hin an. 1896 heiratet sein Sohn Mahmud Muhtar (1867-1935) Prinzession Nimet, die jüngste Tochter des Khediven İsmail. Die aus dieser Ehe hervorgegangene Tochter Emine schildert in ihren Erinnerungen ausführlich die zahlreichen engen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen der Khedivendynastie und dem ‚osmanischen Hochadel‘. 28 Trotz dieser in vielen Punkten so glänzenden Karriere sah Ahmed Muhtar offensichtlich nicht nur seine Jahre in Ägypten, sondern seine gesamte militärische und diplomatische Laufbahn als Geschichte eines Scheiterns. Sein Sohn Mahmud Muhtar fasst den deprimierenden Befund zusammen: Si l’on examine donc le bilan de la longue et intelligente activité de ce maréchal, n’y voit-on que perte et déficit. L’Yémen qu’il pacifia, il y a trente ans, et incorpora dans l’Empire est aujourd’hui plus secoué que jamais. L’Herzégovine, qu’il défendit contre l’ambition des Monténégrins, a fini par passer sous la domination autrichienne. Le coin d’Anatolie qu’il disputa si glorieusement aux Russes, est aujourd’hui une province moscovite. La Crète dont le Ghazi avait assuré le maintien et la sécurité, n’appartient plus à la Turquie. La Macédoine, qu’il gouverna jadis et pour laquelle il avait préconisé de sérieuses réformes, s’est trouvée soumise à la surveillance de l’étranger. L’armée, dont la réorganisation lui était confiée, en a aujourd’hui plus besoin que jamais. Enfin l’Egypte, qu’il tâcha de défendre de tout son patriotisme, est restée aux Anglais. 29 27 Roger Owen, Lord Cromer. Victorian Imperialist, Edwardian Proconsul, Oxford u.a. 2004, S. 393. 28 Tugay, Three Centuries; siehe als eine weitere Familiengeschichte der Khediven- Dynastie Hassan Hassan, In the House of Muhammad Ali: A Family Album, 1805- 1952, Kairo 2000. 29 Mahmud Muhtar, Evénements, S. 203. Maurus Reinkowski 142 Vom Verlöschen und Verglühen Weitere Beispiele für frustrierte Äußerungen hoher osmanischer Bürokraten und Militärs anzuführen fiele nicht schwer. So berichtet der Rechtsgelehrte, Hofgeschichtsschreiber und Beamte Ahmed Cevdet Efendi (später Pascha, 1823-1895), 30 nachdem ihn 1861 eine Inspektionsreise nach Skutari in Nordalbanien geführt hat, erbost über die einseitige diplomatische Hilfestellung der europäischen Mächte für das militärisch den Osmanen nicht gewachsene, aber im 19. Jahrhundert schon de facto unabhängige Montenegro: Wenn man mir Bosnien gäbe und mich mit den gleichen Rechten ausstattete wie die Montenegriner, dann würde ich ganz Europa erobern. Die Montenegriner können zuschlagen, wo sie wollen, und sich bei drohender Gegenwehr sofort hinter ihre Grenzen zurückziehen. Wir können unmöglich die Montenegriner rundum mit Militär abschotten. In der jetzigen Lage ist gegen Montenegro nicht anzukommen. 31 Kann es also so etwas wie ‚imperiale Frustration‘ gegeben haben, die in der verdichteten Periode 1912-1922 sich endgültig in einer Abwendung von der bisherigen imperialen Politik entladen sollte? Es wäre schwierig und geradezu vermessen, eine direkte Linie von den frustrierten Kommentaren Ahmed Cevdets oder Mahmud Muhtars zur den Gewalteruptionen des Ersten Weltkriegs, in denen das Osmanische Reich verglüht, zu ziehen. Jedoch ist nicht zu bestreiten, dass das ambivalente Unternehmen, einerseits imperiale Ansprüche verteidigen und zugleich die weitere semi-koloniale Durchdringung des Reiches abwehren zu müssen, eine erhebliche Belastung für die Psyche der osmanischen bürokratisch-militärischen Elite dargestellt haben muss. Die Lebenswege Ahmed Muhtars und seines Sohnes Mahmud Muhtars zeigen, dass das Osmanische Reich nicht nur den Weg der Radikalisierung ging, sondern dass es auch den Pfad eines allmählichen imperialen Verdämmerns gab. Ahmed Muhtar gehörte nicht zum engeren Kreis der Jungtürken. Als er das Amt des Großwesirs aufgeben musste, zog er sich in das Privatleben zurück. Mahmud Muhtar, der unter dem Großwesirat seines Vaters Minister für Marineangelegenheiten gewesen war, wurde 1913 als Botschafter nach Berlin entsandt und emigrierte endgültig 1917 nach Ägypten. Wir sehen hier ein Reich, das einfach erlischt. Und zugleich gab es gänzlich andere Wege: Während sich Mahmud Muhtar in die alte und etab- 30 Für biographische Details siehe Harold Bowen, s.v. Ahmad Djewdet Pasha, in: P. Bearman et al. (Hrsg.), Encyclopaedia of Islam, vol. 1 (Leiden u.a. 1956), S. 284- 286; Yusuf Halaçoğlu, M.A. Aydın, s.v. Cevdet Paşa, Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi, vol. 7 (Istanbul 1993), S. 443-450. 31 Ahmed Cevdet, Tezâkir, ed. Cavid Baysun (Ankara, 1986-1991), vol. 2, S. 190. Der rasende Reichsdiener 143 lierte ägyptisch-türkische Elite einfügte, ging Mehmed Said Halim Pascha (1864-1921), ein Abkömmling der Dynastie Mehmed Alis, den entgegengesetzten Weg: Er wurde zu einem radikalen Proponenten der jungtürkischen Bewegung und fungierte als Großwesir in den Jahren 1913-1917, jenen Jahren unumschränkter und zugleich schonungsloser jungtürkischer Herrschaft. Nicht nur Talaat (1921 in Berlin) und Cemal (1922 in Tiflis), sondern auch Mehmed Said Halim Pascha wurde (1921 in Rom) von einem armenischen Attentäter getötet. 32 Die über Jahrhunderte hinweg eingeübte osmanische imperiale Routine wurde im 19. Jahrhundert immer brüchiger, auch durch interne ideologische Veränderungen wie die durch die Tanzimat ausgelöste verminderte Toleranz gegenüber lokalen Eigenarten. Zudem wurde es immer schwieriger, den Spagat zwischen imperialen Ansprüchen und den Wirklichkeit eines semi-kolonialen Status zu halten. Die immer wiederkehrende Erfahrung des ‚Niedergangs‘, die objektiv vor allem das Erlebnis eines immer größeren Machtgefälles zu den großen europäischen Mächten war, mag zu einer Art imperialer Frustration geführt haben, sie musste aber, wie das Beispiel Ägypten zeigt, nicht zwangsläufig in einer radikalen ‚Entladung‘ münden. Die osmanische Präsenz im Ägypten des 19. Jahrhunderts war vernachlässigbar, überschattet von weitaus bedeutenderen Entwicklungen wie etwa den demographischen Verschiebungen in Südosteuropa. Dennoch: Ägypten war immer ein Eckstein des Osmanischen Reiches gewesen, und trotz seiner zunehmenden Loslösung blieb Ägypten einer der hauptsächlichen Schauplätze, um osmanische Imperialität auch unter schwierigen Bedingungen zu behaupten und auszustellen. Daher wäre es ein Fehler, wenn wir die Vielfältigkeit der Entwicklung und der möglichen Entwicklungswege des spätosmanischen Reiches nicht berücksichtigen würden. Der rasende und der rostende Reichsdiener sind sich nicht so fern, manchmal waren sie, wie im Falle Gazi Ahmed Muhtar Paschas, in derselben Person vereinigt. Die Geschichte des Osmanischen Reiches ist mit dem verlorenen Krieg und der Kapitulation am 30. Oktober 1918 so gut wie zu Ende. Aus der Perspektive der späteren Türkischen Republik jedoch ist der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe Europas“, nur ein Teil des umfassenden osmanisch-türkischen „Kataklysmus“, der mit dem ersten Balkankrieg im Oktober 1912 beginnt und mit der Evakuation der griechischen Truppen aus Smyrna im September 1922 endet. In dieser Hinsicht stehen die Lebensläufe Ahmed Muhtars und seines Sohnes Mahmud Muhtar für die verdorrten 32 Siehe als ein Beispiel für die recht umfangreiche Literatur zu dieser Person Ahmet Şeyhun, Said Halim Pasha. Ottoman Statesman - Islamist Thinker, 1865-1912, Istanbul 2003. Maurus Reinkowski 144 Zweige des absterbenden osmanischen Stammes. Aber auch Cemal, Enver und Talat Pascha, das jungtürkische Triumvirat und die unbestrittenen Herrscher über das Osmanische Reich in den Jahren 1913-1918, die nach der Kapitulation ins Ausland fliehen und in den frühen 1920er Jahren getötet werden, enden in der Sackgasse der radikalen Gewalt, die sie selbst mit gesät haben. Kemal Mustafa (der spätere „Atatürk“, 1881-1938) dagegen sticht durch seine Rolle als Gründungsvater der neuen Türkei heraus. Er steht aber zugleich stellvertretend für die gesamte Generation der spätosmanischen Reichsdiener, die die - in ihren Augen -„tragische“ Zeit der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs (1912-1918) und die „heroische“ des türkischen Unabhängigkeitskriegs (1919-1922) durchstehen, um mit der Aufgabe und dem Glück belohnt zu werden, die niemals rastenden Erbauer der modernen Türkei zu werden. Milanka Matić „Mobilität“ eines Renegaten am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem „Imperialen“ wird zunehmend Bezug auf Repräsentanten der imperialen Eliten genommen. Biografien elitärer Funktionsträger eines Imperiums weisen eine hohe räumliche und soziale Mobilität auf, die im 19. Jahrhundert, bedingt durch die nun weitaus ambitionierteren Ziele einer neuartigen „Zentralisierungs-“, „Nationalisierungs-“ und „Modernisierungs-“ Politik, in geradezu „hektische Lebensgeschichten“ übergehen. Die privaten und öffentlichen Lebensläufe dieser Elitevertreter bzw. Elitebeauftragten veranschaulichen beispielhaft die Komplexität imperial verklammerter Regionen. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel im Kontext der imperialen Umstrukturierung bietet Ömer Lütfi Pascha (1806-1871), vor allem in seiner Rolle als Vermittler zwischen dem Zentrum und der Peripherie des Osmanischen Reiches. In der Zeit der sogenannten Tanzimat-Reformen (1839-1876) 1 im Osmanischen Reich entsprach Ömer Lütfi Pascha gerade in seiner ungewöhnlichen Rolle als Renegat 2 den neu auferlegten Anforderungen im Militärapparat, indem er sich als Experte in diesem Bereich erwies und zu einem mobilen Akteur entwickelte, welcher vielerorts am Wandel der imperialen Lebensumstände mitzuwirken versuchte. Die vielschichtige Identität des Renegaten Ömer Lütfi Pascha ermöglichte ihm den Aufstieg bis in die höchsten Ränge des osmanischen Militärs. Seine Biografie legt seine hybride Rolle in der Phase gesellschaftlichen und politischen Wandels im Osmanenreich besonders anschaulich dar. In der historiografischen Literatur findet Ömer Lütfi Pascha - immerhin eine Leitfigur der Reformprozesse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1 In dieser Periode (1839-1876) wurden im Osmanischen Reich tief gehende Reformmaßnahmen unternommen, um den Zerfall des Reiches zu verhindern und seine innere Struktur nach westlichem Muster zu modernisieren. Siehe dazu: Roderic H. Davison, Tanzimat, in: Peri J. Bearman (Hrsg.), The Encyclopaedia of Islam, Leiden 2 2000, S. 201-209. 2 Der Begriff Renegat bezeichnet ursprünglich eine Person, die ihre bisherige religiöse oder politische Überzeugung wechselt. Im Allgemeinen wird heutzutage von diesem Begriff bei der Abwendung von einem bestimmten Wertesystem Gebrauch gemacht. Obwohl eigentlich Synonym für negative Bezeichnungen wie Abtrünniger, Apostat oder Abweichler, wird Renegat in der Forschung als Fachbegriff verwendet. Milanka Matić 146 während der Umbruchszeit im Osmanischen Reich - keinen entsprechenden Niederschlag. Eine erste, allerdings sehr knappe Auskunft über seine biografischen Daten sind den allgemeinen Nachschlagewerken, beispielsweise İslam Ansiklopedisi, Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas oder Narodna Enciklopedija Srpsko-hrvatsko-slovenačka zu entnehmen. 3 Dagegen stellt das Werk von Josef Koetschet, dem Leibarzt Ömer Lütfi Paschas, eine informative und ausführliche historische Quelle dar. 4 Die persönlichen Erinnerungen ergänzt Koetschet durch weitere Angaben aus nahezu allen Lebensstationen Ömer Lütfi Paschas und formt sie zu einer Art Biografie. Einen deutlich kürzeren Lebensüberblick bietet unter den osmanischen bzw. türkischen Autoren Hamdi Ertuna. Der ehemalige Brigadegeneral Ertuna widmete sich in seinem Werk einigen wenigen Militärgrössen der osmanischen Geschichte, darunter auch Ömer Lütfi Pascha. Laut Ertuna wurde Ömer Lütfi Pascha 1806 unter dem Namen Michael (Mićo) Latas 5 in der Provinz Plaški in Kroatien geboren. 6 Als Sohn einer aus Bosnien eingewanderten serbisch-orthodoxen Offiziersfamilie trat er in die Fussstapfen seines Vaters und besuchte die Militärschule. Bereits zur Schulzeiten ragte er mit seiner raschen Auffassungsgabe in der Militärkunde heraus. 7 Aus nicht genau geklärten Gründen verließ er im Alter von einundzwanzig Jahren seine Heimat und desertierte aus dem österreichischen Militär, wo er den Posten eines Kadett-Feldwebels innehatte. 8 Seinen Zufluchtsort fand er direkt auf der anderen Seite der Militärgrenze in Bosnien, wo er unmittelbar 3 Abdullah Saydam, Ömer Lutfi Paşa (1806-1871). Osmanlı Kumandanı ve Devlet Adamı, in: Bekir Topaloğlu (Hrsg.), İslam Ansiklopedisi, İstanbul 34/ 2007, S. 74-76. Smail Balić, Ömer Lütfi Pascha, in: Mathias Bernath (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, München 3/ 1979, S. 351-352. Vladimir Ćorović, Omer-Paša Latas, in: Stanoje Stanojević (Hrsg.), Narodna Enciklopedija Srpskohrvatsko-slovenačka, Zagreb 3/ 1928, S. 229. 4 Josef Koetschet, Erinnerungen aus dem Leben des Serdar Ekrem Omer Pascha (Michael Lattas), Sarajevo 1885, S. 9. 5 In der südosteuropäischen Literatur und Forschung ist er bekannt unter dem Namen Omer Efendi oder Omer Latas. Siehe: Koetschet, Erinnerungen (Anm. 4), S. 7. Ahmed Muradbegović, Omer-Paša Latas u Bosni 1850-1852, Zagreb 1944, S. 37. In der türkischen Forschung heißt er Ömer Lütfi, außerdem wird er Frenk Ömer genannt (Frenk: türk. Europäer bzw. ehemaliger Europäer). Siehe: Hamdi Ertuna, Çağrı Bey, Sultan Alparslan, Cezzar Ahmet Paşa, Serdar-ı Ekrem Ömer Lütfü Paşa, Ankara 1981, S. 60. Ein weiterer bekannter Namenszusatz war Macar (türk. Ungar). Siehe: Roderic H. Davison, Reform in the Ottoman Empire 1856-1876, Princeton 1963, S. 77. 6 Vgl. Ertuna, Çağrı Bey (Anm. 5), S. 60. 7 Vgl. Koetschet, Erinnerungen (Anm. 4), S. 5. 8 Vgl. Šljivo Galib, Omer-Paša Latas u Bosni i Hercegovini 1850-1852, Sarajevo 1977, S. 60. „Mobilität“ eines Renegaten am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha 147 nach seiner Ankunft zum Islam übertrat und den Namen Ömer Efendi annahm. 9 Dieser Wechsel war der entscheidende Wendepunkt in Ömer Lütfi Paschas Leben und er eröffnete ihm die Möglichkeit, zum osmanischen Machtzentrum zu gelangen. Auf dem Weg nach Istanbul, der ihn über Bosnien, Serbien und Bulgarien führte, übte er mehrere Tätigkeiten aus, er arbeitete darunter auch als Lehrer für technisches Zeichnen, zuletzt auf einer neu gegründeten Militärschule in Istanbul. 10 Nach der Thronbesteigung seines Schülers Abdülmecid I im Jahre 1839 erhielt er den Titel eines Paschas und den Rang eines Brigadiers, womit seine politische Karriere offiziell begann. 11 Einen besonderen Eindruck scheint Ömer Lütfi Paschas Karrierelaufbahn auf die Zeitgenossen hinterlassen zu haben, wobei sie ihren Fokus größtenteils auf seine militärischen Einsätze richten. 12 Viele Darstellungen gehen seinen imperialen Aktivitäten hauptsächlich in Südosteuropa nach. 13 Ömer Lütfi Paschas militärische Aktionen in Bosnien und Herzegowina sowie in Montenegro zählen zu seinen prominentesten und zugleich herausforderndsten Unternehmungen im Laufe seiner Karriere. Insgesamt umfasste Ömer Lütfi Paschas Aufgabenbereich im osmanischen Militär die Bekämpfung von Aufständischen verschiedener Reichsprovinzen, die lokale Vermittlung der Notwendigkeit der Reformen und die Stärkung der Loyalität zum Sultan. Das dynamische Eingreifen osmanischer Truppen unter seiner Führung war von Erfolg gekrönt und verschaffte ihm internationales Ansehen. Seine Triumphe schlagen sich z.B. in der Niederwerfung der Albanerrebellion, der Unterdrückung des Drusen-Aufstands im Libanon, der Stabilisierung Kurdistans und der Besitznahme der Donaufürstentümer in Kooperation mit Russland nieder. 14 In Zusammenarbeit mit Großbritannien und Frankreich ging er auch gegen Russland vor, dabei zeigten sich in der Beteiligung am Krimkrieg seine hervorragenden strategischen und takti- 9 Vgl. Saydam, Ömer Lutfi Paşa (Anm. 3), S. 74. 10 Vgl. Koetschet, Erinnerungen (Anm. 4), S. 8f. Galib, Omer-Paša Latas (Anm. 8), S. 62. 11 Vgl. Balić, Ömer Lütfi Pascha (Anm. 3), S. 351. Die Bezeichnung Pascha war im Osmanischen Reich der höchste Titel ziviler und militärischer Würdenträger. 12 Fredo Šišić (Hrsg.), Zbornik za istoriju, jezik i književnost srpskoga naroda. Bosna i Hercegovina za vreme vezirovanja Omer-Paše Latasa (1850-1852), Subotica 1938. Berislav Gavranović (Hrsg.), Građa. Bosna i Hercegovina od 1853-1870 godine, Sarajevo IV/ 1956. 13 Galib, Omer-Paša Latas (Anm. 8). Muradbegović, Omer-Paša Latas (Anm. 5). 14 Vgl. Balić, Ömer Lütfi Pascha (Anm. 3), S. 3. Milanka Matić 148 schen Fähigkeiten. 15 Anfangs nur Brigadier, stieg er bis zum Oberbefehlshaber auf (1853) und hatte sogar die Position des Stadthalters (Gouverneurs) von Bagdad (1857) sowie die des Kriegsministers (1868) inne. 16 Ein Jahr nach seiner letzten, erfolglosen Mission auf der griechischen Insel Kreta 1867 zog sich Ömer Lütfi Pascha auf eigenen Wunsch aus der aktiven Militärkarriere zurück. 17 Der Anfang der rasanten und eindrucksvollen privaten wie auch beruflichen Laufbahn des Ömer Lütfi Pascha lässt sich auf den Moment der Konversion zurückführen. Der Konversion zum Islam wurde im Osmanischen Reich große Bedeutung beigemessen, und sie hatte auch große Folgen: Wohl bedeutete der Übertritt zur Religion des Propheten das Einrücken in die bevorrechtete Herrenschicht des Reiches mit allen ihren Vorteilen: wirtschaftliche Besserstellung, volle Rechtsfähigkeit, Steuerfreiheit und alle Aufstiegsmöglichkeiten. Andererseits aber gab es niemals wieder ein Zurück [...], denn der Abfall vom Islam war mit der Todesstrafe bedroht. 18 Der Übergang zum Islam ermöglichte Ömer Lütfi Pascha den Zugang zu der osmanischen Gesellschaft sowie die Eingliederung in den politischen und militärischen Staatsapparat. Damit erfolgte ein vollständiger Übergang von Österreich-Ungarn zum Osmanischen Reich, von Christentum zum Islam, vom christlich-slavischen zum islamisch-osmanischen Wertesystem und zu den darin enthaltenen Verhaltensnormen. Durch die Annahme des Islams, gefolgt vom politischen und militärischen Systemübertritt, änderte Ömer Lütfi Pascha in gewisser Weise seine Identität. Die Namensänderung, der Verzicht auf seine bisherigen kulturellen und religiösen Werte, das Verlassen der eigenen Familie und das anfängliche Schweigen über die eigene Abstammung deuten stark auf einen Wechsel der nationalen und kulturellen Loyalität hin, 19 die Ayoub im engen Zusammenhang mit der Konversion sieht: „Conversion is never a simple exchange of one set of beliefs and rituals for another. It often involves a complete change of national and cultural loyalty.“ 20 Der Übertritt zum Islam war das prägende Merkmal eines 15 Vgl. Fikret Adanır, Der Krimkrieg von 1853-1856, in: Klaus Zernack, Fikret Adanır und Manfred Hellmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands 1189-1250, Stuttgart 2001, S. 1202. 16 Vgl. Koetschet, Erinnerungen (Anm. 4), S. 47. 17 Vgl. Koetschet, Erinnerungen (Anm. 4), S. 238. 18 Vgl. Hans-Joachim Kissling, Das Renegatentum in der Glanzzeit des Osmanischen Reiches, in: Paolo Bonetti (Hrsg.), Scientia: Rivista internazionale di sintesi scientifica, Como 55/ 1961, S. 18-26, hier S. 22. 19 Vgl. Koetschet, Erinnerungen (Anm. 4), S. 11. 20 Vgl. Mahmoud M. Ayoub, The Islamic Context of Muslim-Christian Relations, in: Michael Gervers und Ramzi Jibran Bikhazi (Hrsg.),Conversion and Continuity: In- „Mobilität“ eines Renegaten am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha 149 Renegaten im Osmanischen Reich; er erlaubte den Konvertiten gesellschaftlichen Aufstieg, höhere Lebensqualität und rechtliche Gleichstellung. 21 Innerhalb des Osmanischen Reiches galten Kroaten, Bosnier und Griechen als die bereitwilligsten Volksgruppen für die Konversion zum Islam. 22 Für Ömer Lütfi Pascha - aus heutiger Sicht ein ehemaliger Kroate mit serbisch-bosnischen Wurzeln - öffnete sich mit der Glaubensänderung ebenfalls die Möglichkeit zum beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg. Zum tatsächlichen beruflichen Erfolg führte ihn seine Renegatenrolle. Seit dem 16. Jahrhundert stellten Renegaten für das Osmanische Reich zunehmend die Fachkräfte aus dem nicht-muslimischen Lager der neu eroberten Gebiete dar. Die Vielfalt dieser Elite trug mit ihrem individuellen Können erfolgreich zur Reform und zum Fortschritt verschiedener Bereiche des Reiches bei. 23 Das Osmanische Reich baute ein ausgeprägtes Informationssystem auf, in dem die Renegaten als Informationssammler in den jeweiligen Provinzen des Reiches eingesetzt wurden. 24 Durch die Verbesserung der internationalen Beziehungen in der Vermittlung zwischen Europa und dem Osmanischen Reich reichten ihre Aufgaben auch über die Reichsgrenzen hinaus. 25 Die Renegatenschicht eignete sich mit ihren Eigenschaften besser für die Erfüllung bestimmter Aufgaben als die muslimische Elite. Besonders im Militärbzw. Kriegswesen schienen die ‚Fremdlinge‘ die Kontrolle über die aufständischen Gebiete bzw. Völker besser im Griff zu haben. 26 Durch die Möglichkeit, ihrer persönlichen Stärke Ausdruck zu verleihen, profitierten die Renegaten gleichermaßen vom Osmanischen Reich. Vom 18. Jahrhundert an nahm ihre Anzahl rapide ab und es wurden nur noch wenige Renegaten als politische Flüchtlinge, Abenteurer oder Apostaten bekannt. 27 digenous Christian Communities in Islamic Lands, Eighth to Eighteenth Centuries, Toronto1990, S. 461-477, hier S. 475. 21 Vgl. Gottfried Liedl, Manfred Pittioni und Thomas Kolnberger, Im Zeichen der Kanone. Islamisch-christlicher Kulturtransfer am Beginn der Neuzeit, Wien 2002, S. 176. 22 Vgl. Moritz Friedrich Gmelin, Christensklaverei und Renegatentum unter den Völkern des Islam, in: Rudolf Virchow und Fr v. Holtzendorff (Hrsg.), Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, Berlin 8/ 1873, S. 839-868, hier S. 858. 23 Vgl. Thomas Philipp, Der aufhaltsame Abstieg des Osmanischen Reiches, in: Helmut Altrichter und Helmut Neuhaus (Hrsg.), Das Ende von Großreichen, Erlangen und Jena 1996, S. 211-223, hier S. 213 f. 24 Vgl. Virginia H Aksan und Daniel Goffman (Hrsg.), The Early Modern Ottomans. Remapping the Empire, Cambridge 2007, S. 80. 25 Vgl. Bernard Lewis, The Muslim Discovery of Europe, New York 1982, S. 107. 26 Vgl. Kissling, Das Renegatentum (Anm. 18), S. 20. 27 Vgl. Liedl, Pittioni und Kolnberger, Im Zeichen der Kanone (Anm. 21), S. 160. Milanka Matić 150 Obwohl anfangs zahlreiche Renegaten den Weg in die osmanische Elite fanden, ist das Phänomen des Renegatentums noch nicht systematisch untersucht worden. Der Wissensstand zum Renegatenthema beschränkt sich hauptsächlich auf die Untersuchungen von Hans-Joachim Kissling zum 16. bzw. 17. Jahrhundert. 28 Da das letzte Jahrhundert des Osmanischen Reiches besonders lang und ereignisreich war, stand in erster Linie die Hohe-Pforte im Mittelpunkt der türkischen Forschung. Vorrang wurde den bürokratischen und intellektuellen Reformern dieser Zeit eingeräumt; für den Militärapparat wie für die peripheren Reichsregionen interessierte man sich weniger. 29 Dabei eignet sich die Erscheinungsform der Renegaten oder auch der Kryptoreligiosität sehr gut, um die grenzüberschreitenden imperialen Räume zu konkretisieren; hingegen dominiert die rege Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Grenzgängers. Das Renegatentum wird des Öfteren auf die Konversion reduziert oder sogar mit ihr gleichgesetzt und verliert dadurch an Vielseitigkeit und Originalität. Wie man dem zweiten Teil des oben angeführten Zitates von Kissling entnehmen kann, hatte das Renegatentum nicht nur seine positiven Seiten. Obwohl sie einen bedeutenden Anteil an der Expansion und der Macht des Osmanischen Staates hatten, waren die Renegaten in der muslimischen Gesellschaft nicht immer willkommen. 30 In ihren Heimatländern wurden sie sogar als Verräter bezeichnet. Besonders empfindlich reagierten auf dieses Phänomen diejenigen Bevölkerungsgruppen, die sich hauptsächlich über die Religion identifizierten, beispielsweise in Südosteuropa. Dennoch prägte die Renegatenschicht, die aktiv am muslimischen Staat beteiligt und fest in ihn eingebunden war, durch ihre Wirkung und ihre Fähigkeiten das öffentliche Leben des Osmanischen Reiches. Der Einfluss einzelner Renegaten auf das christlich gebliebene Raja-Volk 31 durch die individuell noch stark erhaltene Verwandtschafts- oder Heimatbindung war ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Obwohl sich viele Familienmitglieder durch die Konversion eher voneinander entfernten, war das Gefühl der Nähe umso spürbarer bei den Begünstigungen, welche einige der Renegaten der Raja zukommen ließen. Dass damit wiederum ein Misstrauen in der islamischen Gesellschaft geweckt wurde, ist nicht verwunderlich. Häufig brachte die professionelle Eliteschicht bezüglich des Übertritts anderer konfessioneller Gruppen zum Islam 28 Vgl. Kissling, Das Renegatentum (Anm. 18), S. 18-26. 29 Siehe dazu: Şerif Mardin, The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkish Political Ideas, Syracuse 2000. İlber Ortaylı, Imparatorluğun En Uzun Yüzyılı, İstanbul 1983. 30 Vgl. Gmelin, Christensklaverei und Renegatentum (Anm. 22), S. 859. 31 Die niedere Schicht wurde mit dem Begriff Raja bezeichnet, welcher in der Regel die nicht-muslimischen Untertanen des Osmanischen Reiches umfasste. Zu der oberen Schicht gehörten die „professionellen Osmanen“. „Mobilität“ eines Renegaten am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha 151 den Vorwurf des Opportunismus oder aber der politischen Tarnung bzw. Spionage auf. Letztlich gingen jedoch aus den Reihen der „verlorenen Söhne des Christentums“ die treuesten Diener, Ratgeber, Wesire und Paschas des Sultans hervor. 32 Die Kehrseite des Renegatenlebens musste Ömer Lütfi Pascha ebenfalls kennenlernen - und zwar während seines Feldzuges zwischen 1850 und 1852 in Bosnien und in der Herzegowina. Dort wurde er mit seiner früheren Identität und seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, wodurch besonders seine Persönlichkeit und weniger seine Militäraktion in den gesellschaftlichen und politischen Mittelpunkt rückte. Angesichts seiner slavischen Herkunft und seiner Sprach- und Landeskenntnisse, die ihm den Umgang mit der einheimischen Bevölkerung erleichterten, sowie seiner zahlreichen Erfahrungen schien Ömer Lütfi Pascha für diesen Feldzug besonders geeignet zu sein. 33 Aufgrund des großen lokalen Widerstandes in der Bevölkerung gegen die Reformmaßnahmen gestaltete sich dieser Feldzug jedoch schwieriger als gedacht und forderte hartes militärisches Eingreifen. Aus Ömer Lütfi Paschas Vorhaben, den politischen Einfluss der bosnisch-muslimischen Obrigkeit zu unterbinden, resultierte eine brutale und blutige Vorgehensweise. Es gelang ihm nicht nur, die regional verankerten, z. T. willkürlichen Machtstrukturen zu durchbrechen, sondern auch den bosnischen Adel gesellschaftlich und ökonomisch zu entmachten. 34 Obwohl er weitere administrative und gesellschaftliche Umgestaltungen vornahm, konnten nicht alle geplanten Maßnahmen vollständig umgesetzt werden, sodass die Bevölkerung letztlich keine Verbesserung ihrer Lage verspürte. 35 Im Zeitalter der Nationalbewegungen auf dem Balkan erhöhten diese Reformpolitik und die militärische Strategie Ömer Lütfi Paschas die konfessionellen Spannungen zwischen den Mitgliedern christlicher und muslimischer Religionsgemeinschaften. Die Reformdurchführung unter Ömer Lütfi Pascha wirkte daher eher in die entgegengesetzte Richtung und vergrößerte nur die Feindseligkeiten zwischen Christen und Muslimen. Somit schlägt sich sein Bosnien-Feldzug sowohl in der südosteuropäischen Historiografie als auch in der Belletristik primär als eine Aktion gegen die aufständischen Muslime und gegen die bei der Hohen Pforte klagenden Christen, 36 weniger dagegen als eine Befriedungsmission mittels Reformmaßnahmen nieder. 32 Vgl. Liedl, Pittioni und Kolnberger, Im Zeichen der Kanone (Anm. 21), S. 161. 33 Vgl. Galib, Omer-Paša Latas (Anm. 8), S. 59. 34 Vgl. Galib, Omer-Paša Latas (Anm. 8), S. 58. 35 Vgl. Vladimir Stojančević, Južnoslovenski narodi u osmanskom carstvu od Jedrenskog Mira 1829. do Pariskog Kongresa 1856. godine, Beograd 1971, S. 282 36 Ömer Lütfi Pascha richtete in Bosnien provisorische „Kanzleien” ein, in welchen die nicht-muslimische Bevölkerung Klagen sowie Bitten und Wünsche aller Art an die . Milanka Matić 152 In der südosteuropäischen Forschung zu Bosnien und Herzegowina, die die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen, teilweise auch agrarischen Verhältnisse dieser beiden Provinzen zum zentralen Anliegen hat, nimmt Ömer Lütfi Pascha einen festen Platz ein. Zum einen wird sein direktes Eingreifen als Repräsentant der Zentralmacht, zum andern der indirekte Einfluss seiner Renegatenrolle auf die Geschehnisse in Bosnien und Herzegowina thematisiert. 37 Die Historiografie stützt sich auf das Archivmaterial aus dem österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv oder aus den Archiven der ehemaligen osmanischen Provinzen auf dem Balkan. Fredo Šišić und Berislav Gavranović sammelten dabei wertvolle Korrespondenzschreiben zwischen verschiedenen Diplomaten, deren Inhalt Informationen über Ömer Lütfi Paschas Aufenthalt in Bosnien und Herzegowina enthält. Ihre Sammlung verglich Hans-Jürgen Kornrumpf bei der Analyse von Ömer Lütfi Paschas Aufenthalt in Bosnien und Herzegowina direkt mit Materialen aus den Istanbuler Archiven. 38 Im energischen Wirken gegen die Neuregelungen der osmanischen Politik und somit gegen die vielseitige Homogenisierung im ausgelösten Regionalisierungs- und Nationalisierungsprozess richtete sich die bosnische Bevölkerung gegen den aus Istanbul angereisten Sultanvertreter Ömer Lütfi Pascha. In diesem Zusammenstoß des Oberbefehlshabers aber auch des Renegaten Ömer Lütfi Pascha mit den Mitgliedern christlicher und muslimischer Religionsgemeinschaften erzeugte sein Militärlager voller Söldner oder Offiziere anderer Herkunft zusätzliche Spannung. Obwohl sich Renegaten in der Regel als Einzelphänomene manifestieren, fand Ömer Lütfi Paschas Offizierslager eine Erweiterung um ein „Apostaten-Regiment“ vor allem polnischer und ungarischer 1848er Revolutionsflüchtlinge. 39 Viele von ihnen Pforte richten konnte. Die meisten Schreiben enthielten jedoch Beschwerden über die schlechten wirtschaftlichen Zustände in der Bevölkerung. Darüber hinaus äußerte die Raja ihre Unzufriedenheit bezüglich des Schulwesens, der Bildung, der Religionsausübung usw., weshalb sich das Bild von den „klagenden Christen“ bei Ömer Lütfi Pascha einprägte. Siehe: Stojančević, Južnoslovenski narodi (Anm. 35), S. 275. 37 Siehe dazu: Vasilj Popović, Agrarno pitanje u Bosni i turski neredi. Za vreme reformnog režima Abdul-Medžida (1839-1861), Beograd 1949. 38 Šišić, Zbornik za Istoriju, Jezik i Književnost srpskoga naroda (Anm. 12). Es handelt sich um folgende Archive: Državni arhiv u Zadru (kroatisches Staatsarchiv in Zadar) und Kućni arhiv obitelji Brlića u Slavnonskom Brodu (Hausarchiv der Familie Brliš in Slavonski Brod). Gavranović, Građa (Anm. 12). Hans-Jürgen Kornrumpf, Osmanische Dokumente zum Aufenthalt von Ömer Lütfi Pascha (Latas) in Bosnien 1850-1852, in: Südost-Forschungen, 49/ 1990, S. 193-226. Hans-Jürgen Kornrumpf, Bosnien nach Ömer Pascha 1852-1861, in: Südost-Forschungen, 58/ 1999, S. 169-202. 39 Vgl. Koetschet, Erinnerungen (Anm. 4), S. 20. Galib, Omer-Paša Latas (Anm. 8), S. 64. „Mobilität“ eines Renegaten am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha 153 gehörten gar nicht zur islamischen Gemeinde; sie lebten und dienten nur dem osmanischen Staat, wovon die zeitgenössischen Zeitungen, beispielsweise die kroatischen Ilirske Narodne Novine oder Glasnik Dalmatinski, ebenfalls wie folgt berichteten: Unter den neu angekommenen Militärs befindet sich manch ein Pole und über 800 Ungarn, einige davon einfache Soldaten, einige Offiziere und andere Würdenträger, die einigermaßen gut türkisch sprechen, aber viele nicht einmal konvertiert, sondern nur türkische Namen angenommen haben. 40 In Bezug auf die akzentuierte Darstellung der exemplarischen militärischen Figur Ömer Lütfi Pascha aus dem Regiment der europäischen „Überläufer“ überschneidet sich der historiografische Quellenfundus mit der südosteuropäischen Belletristik. 41 Konkret greift die südslavische Literatur gezielt das Konversionsproblem und die damit verbundene Auseinandersetzung mit eigenen religiösen und kulturellen Wertvorstellungen auf. Angesichts dessen präsentiert Ivo Andrić in seinem Roman Omer Paša Latas die gleichnamige historische Figur als Vertreter der Konvertiten und zugleich als Renegaten in einer bestimmten Periode der bosnischen Geschichte. Historische Dokumente, Mythen und Legenden sind für viele Romane Andrićs grundlegend und werden auch in Omer Paša Latas ästhetisiert. 42 Zudem stellt Andrić Bosnien als ein Land dar, in welchem die spezifische Verwendung historischer Fakten die Tendenz aufweist, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zu verwischen. Diese Grenze zeigt sich im Verhältnis zwischen Geschichte und mündlicher Tradition, an welche sich der Erzähler bei seinen Beschreibungen anlehnt. Die feine Auflösung dieses Verhältnisses wird in der Verflechtung von Strukturen zwischen authentischen Ereignissen, Dokumenten und ihrer Interpretation in der Volkstradition sichtbar. 43 Auch Andrić nimmt Ömer Lütfi Paschas Bosnieneinsatz genauer unter die Lupe, geht eingehend auf das Renegatenkollektiv ein und widmet ihm sogar ein eigenes Kapitel in Omer Paša Latas. Im Kontext der lokalen Geschichte wird das kollektive Schicksal der Renegaten mit dem öffentlichen und privaten Leben des Ömer Lütfi Paschas zusammengeführt. Auch die 40 „Medju novo-došavšim vojništvom nalazi se i po gdikoi Poljak, i priko 800 Madjarah, koje prostih vojnikah, koje, oficirah i drugih činovnikah, koji prilično turski govore, a mnogi se ni poturčili nisu, nego su samo ime turski prominili.“ Glasnik Dalmatinski, Turska, 10.09., S. 153. 41 Ivo Andrić, Omer paša Latas. Sabrana dela Ive Andrića, Beograd 1977. Petar Zec, Otrovani Balkanom. Omaž Ivi Andiću, Beograd 2010. 42 Vgl. Michael Müller, Die Selbst- und Fremdwahrnehmung der bosnischen Völker in der historischen Prosa von Ivi Andriću und Isak Samokovlija, Köln 2005, S. 79. 43 Vgl. Nada Milošević-Đorđević, Funkcija kulturno-istorijskih predanja u Andrićevom delu, in: Naučni sastanak u Vukove dane 22(1)/ 1994, S. 13-20, hier S. 13. Milanka Matić 154 individuellen Lebensgeschichten betont Andrić bei der Beschreibung anderer Figuren aus dem Renegatenregiment. Die negative Auswirkung dieses Regiments, genannt murtad-tabor, 44 auf das Leben und Wirken von Ömer Lütfi Pascha in der multireligiösen und multiethnischen osmanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist in zahlreichen Zeitzeugnissen, beispielsweise von Jukić dokumentiert. 45 Laut Penčić bildet murtad-tabor den negativen Kern des Romans. 46 Durch die negative Projektion des angesprochenen Regiments auf die Persönlichkeit des Paschas lässt der Autor seine Hauptfigur an Einzigartigkeit verlieren, so dass er an Respekt und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung einbüßt. Im ständigen Vergleich mit seinem „Apostaten- Regiment“ beschreibt Andrić Ömer Lütfi Paschas wahre Stärken als Renegat, 47 welche die bosnische Gesellschaft jedoch nicht identifizieren und anerkennen kann. Ömer Lütfi Paschas uneingeschränkte Loyalität, seine Treue sowie sein Respekt gegenüber dem Sultan und seinem Dienst zeichnet ihn als Vorzeigebeispiel eines Renegaten nicht nur in den wissenschaftlichen Untersuchungen aus. Im Zentrum der osmanischen Reformprozesse zeigten sich Ömer Lütfi Paschas subjektive Erfahrungen in den sich überlagernden Loyalitäten zum Sultan und osmanischen Staat einerseits und zwischen Religion und eigenen Ambitionen andererseits. Dieses Loyalitätsnetz wird in der südslavischen schönen Literatur oft kritisiert. Zerrissen zwischen staatlichen Ansprüchen und lokalen Gegebenheiten sah sich der Oberbefehlshaber Ömer Lütfi Pascha geradezu gezwungen, eigene militärische Konzepte und Handlungspraktiken zu entwickeln, die besonders in Südosteuropa großes Aufsehen erregten und sich tief in die nationale Erinnerung der einheimischen Bevölkerung einprägten. Seine Rolle als Renegat hat dabei das religiöse und soziokulturelle Selbstbewusstsein der südslavischen Völker erschüttert. Gerade im Laufe des 19. Jahrhunderts, im aufziehenden Zeitalter des Nationalismus, war im Osmanischen Reich die Aufkündigung der eigenen 44 Als Murtad wird ein Abtrünniger einer Religion bezeichnet und kann mit der Bezeichnung Apostat gleichgesetzt werden. Siehe: W. Heffening, Murtadd, in: The Encyclopaedia of Islam, Leiden 2 1993, S. 635-636, hier S. 635. 45 Ivan Franjo Jukić (1818-1857) war ein bosnischer Franziskaner, Dichter, Reiseberichterstatter und Publizist, welcher sich vor allem für Gesellschaft und Kultur in Bosnien einsetzte. Sein Engagement betraf die Bildung, den Druck von Büchern und Zeitschriften, die Förderung von Bibliotheken und Museen. Siehe dazu: Marko Lukenda, Ivan Franjo Jukić. Seine literarische und aufklärerische Tätigkeit, Zagreb 2007. Ivan Franjo Jukić, Sabrana djela, Sarajevo 1973. 46 Sava Penčić, Fenomenološki aspekt „murtad-tabora“ u „Omer-Paši Latasu“, in: Naučni sastanak u Vukove dane 22(1)/ 1994, S. 83-90, hier S. 84. 47 Vgl. Ivo Andrić, Omer-Pascha Latas. Der Marschall des Sultans, München 2002, S. 192. „Mobilität“ eines Renegaten am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha 155 Religion (und damit im südosteuropäischen Kontext auch der nationalen Zugehörigkeit) besonders konfliktbehaftet. Darum ist Ömer Lütfi Pascha noch heute eine bekannte Person in der Region. Besonders zu politischen und religiösen Zwecken wird er instrumentalisiert und z.B. mit dem Kriegsverbrecher Karadzić verglichen. 48 Damit löste und löst er nicht nur ein weltweites Interesse für die Balkanregion aus, sondern verdeutlicht die Komplexität zwischen konfessionellen Wertesystemen und imperialen Mobilitätsmustern. Einige Besonderheiten des Renegatentums lassen sich ebenso am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha demonstrieren. Als Mitglied der osmanischen Elite erlaubte er einen Einblick in das osmanische Elitesystem und damit in die höchste Machtinstanz des Reiches. Mit der uneingeschränkten Vollmacht des Sultans, für die Reichspolitik in verschiedenen Provinzen einzutreten, konnte er ebenso von den dortigen Verhältnissen Bericht erstatten. Somit spiegelte das Renegatentum die staatliche und die gesellschaftliche Struktur des Osmanischen Reiches sowohl im Reichsinneren als auch im Reichsäußeren. Diese Verbindung zwischen Ömer Lütfi Paschas Expertenposition in der Staatselite und seiner staatlichen Vertreterfunkton an der Peripherie ist die entscheidende Basis für seine fast uneingeschränkten Mobilitätsmöglichkeiten. Der Pragmatismus der osmanischen Minderheitenpolitik, insbesondere die darin enthaltene Toleranz gegenüber der christlichen Bevölkerung und gegenüber anderen Religionsgemeinschaften, ermöglichte die Aufnahme auch nichtmuslimischer Würdenträger in die osmanische Elite und stellte somit die essenzielle Grundlage für die Herausbildung einer Renegatenschicht. 49 In der sowohl konfessionell als auch ethnisch heterogenen osmanischen Gesellschaft konnte jeder „Neuankömmling“ - unter Voraussetzung der Konversion zum Islam - seinen festen Platz einnehmen und damit als Abbild dieser Gesellschaft figurieren. Die soziale Elastizität des Osmanischen Reiches ging mit der Bereitstellung militärischer, folglich auch räumlicher und sozialer Mobilität für Ömer Lütfi Pascha einher. Diese Art von Beweglichkeit gewährleistete in vielen Fällen die freie Entfaltung und uneingeschränkte Handlungsmöglichkeit der Renegaten, welche unverzichtbar für den osmanischen Staat wurden. Davison zitiert in diesem Zusammenhang einen polnischen Emigranten, der von einer großen Freiheit spricht: „Here in Turkey we enjoy the greatest freedom that a political emigrant can have, 48 http: / / www.vesti-online.com/ Vesti/ Ex-YU/ 55963/ Muslimani-Karadzica-zvali-Latas (letzter Zugriff: 26. Januar 2013). 49 Béatrice Hendrich, Milla-millet-Nation? Von der Religionsgemeinschaft zur Nation? Von der Veränderung eines Wortes und der Wandlung eines Staates, Frankfurt am Main 2003. Milanka Matić 156 and at the same time we have access to everything. We are valued here as useful and superior beings.“ 50 Die Größe des Osmanischen Reiches wie seine spezifische Innenpolitik ermöglichten Ömer Lütfi Pascha eine breite fachliche Mobilität im Staatsdienst. Dem Militär wurde eine dominante Rolle in der Staatsführung eingeräumt und Ömer Lütfi Pascha wurden verantwortungsvolle Aufgaben anvertraut. Sein Aufgabengebiet lag daher an der Schnittstelle bürokratischer und militärischer Tätigkeiten, die nicht genau voneinander zu trennen waren. Die Vielseitigkeit seiner Verpflichtungen reflektiert die Vielzahl seiner fachlichen sowie sozialen Kompetenzen, welche das Osmanische Reich nicht zuerst fördern musste. Um verschiedenartige politische Ziele zu erreichen, waren Renegaten als Machtinstrumente besonders gut geeignet, da sie meistens wertvolles Fachwissen aus ihren Heimatländern mitbrachten. Diverse Einsätze Ömer Lütfi Paschas zeugen von der Nützlichkeit seines militärischen Könnens. Mitte des 19. Jahrhunderts war er, […] der Mann mit dem höchsten militärischen Rang im osmanischen Staat, der Mann, der in dieser Zeit einzig mithilfe seiner Militärerfolge das brüchige Osmanische Reich innerhalb seines Zerfalls unterstützt hatte. Araber, Kurden, Arnauten, Bulgaren und Rumänen, und auch jetzt die bosnischen Muslime hat er zugunsten des Sultans und seiner Reformen befriedet. 51 Auf diplomatischer Ebene fungierte er als osmanischer Repräsentant für militärische Angelegenheiten. Auf der Grundlage seiner umfangreichen Erfahrungen übernahm er die Rolle eines Beraters bei den Verhandlungen verschiedener Militärkommissionen. 52 Bedingt durch die Zentralisierungspolitik des 19. Jahrhunderts wurden vor allem die Randgebiete des Reiches zu den Konfliktzonen, in denen lokale Würdenträger mit der Zentralregierung zusammenstießen. Als zirkulierender Vertreter der Zentralmacht band Ömer Lütfi Pascha mit seiner militärischen Flexibilität kurzzeitig erfolgreich verschiedene Provinzen an das osmanische Zentrum. Damit waren seine Aufstiegsvoraussetzungen innerhalb des militärischen Sektors erfüllt und ließen Ömer Lütfi Pascha Stufe für Stufe die höchstmögliche Machtposition erreichen. Der Staat förderte seine soziale Mobilität, indem er Paschas Aufgaben nach ihrer Erfüllung immer höher wertschätzte und gewichtete. Während Ömer Lütfi Pascha mit seinen 50 Vgl. Davison, Reform in the Ottoman Empire (Anm. 5), S. 77. 51 „[…] čovjek sa najvećim vojnim činom u osmanlijskoj državi, i čovjek, koji je u to vrieme jedini svojim vojnim uspjesima podržavao oronulo osmanlijsko carstvo unutar njegova raspadanja. Arape, Kurde, Arnaute, Bugare, pa i Rumunje, a evo sada i bosanske muslimane je on pacificirao na korist sultana i njegovih reforama.“ Muradbegović, Omer-Paša Latas (Anm. 5), S. 141. 52 Abdurrahman Şeref, Tarih Musahabeleri, Ankara 1985, S. 190. „Mobilität“ eines Renegaten am Beispiel von Ömer Lütfi Pascha 157 erfolgreichen Missionen die Existenz des Osmanischen Reiches immer wieder zu sichern versuchte, stieg er von einer niedrigen militärischen Position als Brigadier bis zur höchsten als Oberbefehlshaber und Kriegsminister auf. Denn laut Majer beruhte der Aufstieg des Osmanischen Reiches „nicht zuletzt auch auf dem Beitrag, den die nichtmuslimische Bevölkerung dem Staat leistete, angefangen vom Bauern, der Steuern und Produkte lieferte und Spanndienste leistete, bis zum Heerführer oder Großwesir aus christlicher Familie, der an der Spitze von Armee und Politik stand.“ 53 Ömer Lütfi Paschas erfolgreiche Elitekarriere ist jedoch lediglich zum Teil der staatlich-gesellschaftlichen Offenheit des Osmanischen Staates gegenüber den Konvertiten und Renegaten zu verdanken. Die persönliche Flexibilität und Bereitschaft, sich einem radikalen Wechsel zu unterziehen und dabei hingebungsvoll die neu angenommene Renegatenrolle auszuüben, prägten maßgeblich Ömer Lütfi Paschas Lebensweg. Der Loyalitätsbruch mit seiner ursprünglichen Religion und den damit in Verbindung stehenden kulturellen Werten zogen einen sozialen und politischen Systemwechsel nach sich. Die Aufkündigung der Verwandtschafts- und Heimatbindungen erleichterten sein Leben als Renegat und seine gehorsame Unterordnung unter den Willen des Sultans. Eine besondere Affinität Ömer Lütfi Paschas zur Religion - unabhängig davon, ob es sich dabei um den Islam oder das Christentum handelt, geht aus den wissenschaftlichen Quellen nicht hervor. Umso mehr wird die berufliche Leidenschaft - in uneingeschränkte Loyalität zum neuen politischen und militärischen System der Osmanen mündend - ersichtlich, die für ihn letztlich identitätsstiftend war. Mit der Fähigkeit persönlichen Wandelbarkeit und erfolgreicher Assimilation genoss Ömer Lütfi Pascha die Freiheit, sich in jeder Hinsicht entfalten und sich sogar an die Spitze eines dem Staate untergeordneten Machtzirkels positionieren zu können. 54 Obwohl er meistens im eigenen Interesse handelte, d.h. indem er seine militärischen Kompetenzen unter Beweis stellte, überschnitten sich viele der staatlichen Anordnungen mit seinen eigenen Zielen und Ambitionen. Im Spannungsfeld der Interessens- und Religionskonflikte stellt Ömer Lütfi Pascha letztlich ein Beispiel in der muslimischen Elite dar, die ihr Potenzial nicht nur aus den eigenen Reihen, sondern auch aus den ehemaligen Christen schöpfte. In einer für das Osmanische Reich sehr dynamischen, aber auch schwierigen Zeit befand sich somit Ömer Lütfi Pascha Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl beruflich als auch privat in fortlaufender Entwick- 53 Vgl. Hans G. Majer, Aufstieg, Ende und Hinterlassenschaft einer Großmacht. Eine einleitende Skizze, in: Hans G. Majer (Hrsg.), Die Staaten Südosteuropas und die Osmanen, München 19/ 1989, S. 13-22, hier S. 16f. 54 Vgl. Davison, Reform in the Ottoman Empire (Anm. 5), S. 77. Milanka Matić 158 lung und Veränderung durch großzügige räumliche und soziale Mobilität. Bedingt durch die Modernisierungs- und Zentralisierungspolitik des 19. Jahrhunderts, aber auch durch die Konversion wurde aus einem österreichischen Kadetten in scheinbarem Schnelldurchlauf der Karriereetappen einer der höchsten militärischen Funktionsträger des Osmanischen Reiches. Gleichzeitig verkörpert er einen Sonderfall - nahezu einen Idealfall - unter den Renegaten, deren Eigenschaften seine Karriere nicht verblassen ließen. In den Augen seiner Kritiker hat er vielleicht seine Herkunftsreligion, Heimat und Familie verraten, doch nicht seine eigenen Ambitionen. Die Überwindung der inneren Gegensätze der osmanischen Gesellschaft gehörte zu seinen größten Verdiensten, indem er sich über die Verschmähungen als Renegat hinwegsetzte und sich wie ein wahrer, professioneller Osmane verhielt. Alexander Honold Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern Die Eisenbahn als Agentur innerer Kolonialisierung 1. Die Eisenbahn als koloniale Schrift Die Schrift, mit der das koloniale Zeitalter den Globus überzog, ist noch immer deutlich zu erkennen. 1 Die Herrschaft des Nordens und Westens hat sich den Gebieten des Südens und Ostens als Definitionsmacht in die elementare Gliederung des Raumes eingeschrieben: Staatsgrenzen wie mit dem Lineal gezogen oder aberwitzig um die Ecke geführt; Städtegründungen, die schon durch ihre Lage verraten, dem schnellen Abtransport von Rohstoffen Vorschub zu leisten; 2 die Linienführungen von Eisenbahntrassen und Straßenrouten, deren Schneisen durch Wälder und Gebirgszüge führen; die Anlage von Brücken, Staudämmen oder Hafenanlagen - all dies kann, wie etwa Karl Schlögel in seinem Plädoyer für die Wiederkehr des Raumes als methodischer Kategorie der Kulturforschung gefordert und an zahlreichen Beispielen auch gezeigt hat, 3 als politische Kartographie gelesen werden, denn es trägt die Handschrift kolonialer und neokolonialer Erschließungskonzepte. Die Beobachtung nämlich, dass sich imperiale und koloniale Herrschaftsformen im Raum und in seinen Repräsentationssystemen manifestieren, soll hier am Beispiel der Eisenbahn näher untersucht werden, die mit ihren Gleisen und Schwellen, mit ihren Trassen und Weichen ein graphisches System eigener Art in der Landschaft etabliert. Der Bau der Eisenbahn, die binnen eines halben Jahrhunderts Europa, fast parallel hierzu auch Nordamerika, mit einem Liniengeflecht von weiträumigen Schienenverbindungen überzieht, ist ein Kernphänomen der industriellen Moderne. Die Eisenbahn steht, wie Wolfgang Schivelbusch in 1 Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte - Formen - Folgen. 6. Aufl. München 2009. Die in den Raum ausgreifende, raumerschließende Funktion des Kolonialen ist für den deutschen Kontext verschiedentlich betont worden; vgl. u.a. Russell Berman, Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture, Lincoln, London 1998. 2 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S.131-154, S. 1012-1028. 3 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. Alexander Honold 160 einem einflussreichen Essay gezeigt hat, 4 paradigmatisch für die im 19. Jahrhundert rapide vollzogene „Industrialisierung von Raum und Zeit“ und die oft schockartigen Erfahrungen und tiefgreifenden Irritationen, die sich mit dem Vordringen der neuen Technik aus Kohle und Stahl und ihrer Bewegungsformen einstellen. Die Lokomotive wurde zum Sinnbild der Dynamik des Industriezeitalters, ihre Fabrikation zu einer Schlüsselbranche. Die Eisenbahn (im Singular) ist von Beginn an ein „System“, in dem ein kontinuierliches Streckennetz, ein bürokratischer Apparat von Bediensteten, Tarifen und Reglementen sowie die Koordination und Standardisierung der zuvor uneinheitlichen Uhrzeiten zusammenwirken. Im Deutschen Reich war die Eisenbahn der bei weitem größte zivile Arbeitgeber; Ende 1919, kurz vor Gründung der Reichsbahn, arbeiteten mehr als 1,1 Millionen Menschen bei der Bahn, rund vier Prozent aller Erwerbstätigen. 5 Ihre Streckenführungen und Tarife bestimmten über die Verfügbarkeit und den Preis des Hauptenergieträgers, der Kohle; Holzindustrie und Maschinenbau wurden weitgehend abhängig von den Investitionen aus dem Eisenbahnbau. Dass die Bahn eine kohärente organisatorische Einheit mit einem entsprechenden esprit de corps ausbilden konnte, lag nicht zuletzt an ihren quasi-militärischen Rängen und Dienstgraden. Sinnfälliger Ausdruck dieses Staats im Staate waren vor allem die beeindruckenden Uniformen mit ihrem ausgefeilten hierarchischen Code von Sternen, Kragenborten, Epauletten und Quasten; allein das Uniformreglement der Königlich Sächsischen Eisenbahndirektion beispielsweise kannte nicht weniger als neun Uniformklassen. 6 Tatsächlich wurde das Eisenbahnwesen immer stärker strategischen Kriterien und einer militärischen Oberaufsicht unterstellt, in Preußen schon kurz nach der gescheiterten 1848er Revolution, als beim Generalstab eine Zentralstelle für Eisenbahn und Telegraphie geschaffen wurde. Dank ihres soldatischen Gepräges und ihrer bürokratischen Rationalität wurde die Eisenbahn zum Paradigma des staatsförmigen Administrationswesens schlechthin; sie galt, so Lothar Gall und Manfred Pohl in ihrer Geschichte der Eisenbahn in Deutschland, als „ein Modell für die wirtschaftliche und soziale Organisationsform und Gemeinschaft der Zukunft“. 7 Sie war dies nicht nur im Hinblick auf ihre Verwaltungsstrukturen und die formalisierte Sprache von Dienstreglements und Fahrplänen. Vor allem der hohe Vernetzungsgrad der schienengebundenen Infrastruktur faszinierte in der 4 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München, Wien 1977. 5 Lothar Gall / Manfred Pohl (Hrsg.), Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 38f. 6 Gall/ Pohl, Eisenbahn in Deutschland (Anm. 5), S. 44. 7 Gall/ Pohl, Eisenbahn in Deutschland (Anm. 5), S. 55. Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 161 Moderne zeitgenössische Beobachter wie beispielsweise Robert Musil, der dem satirisch überzeichneten Ordnungsbegehren seiner Romanfiguren das organisatorische Vorbild der Eisenbahn an die Hand gibt. So lässt General Stumm von Bordwehr in Musils Mann ohne Eigenschaften Lageskizzen des kulturellen Feldes erstellen, die erkennbar aus der quasi-militärischen Logik eines kartographierten Streckennetzes hervorgehen; „bedeckt mit Aufmarschplänen, Bahnlinien, Straßennetzen“ 8 erfassen sie das Gebiet des Geistigen als ein Netzwerk von Haltepunkten, Rangierbahnhöfen und Verbindungsstrecken. Die Lesbarkeit von Kultur wird gekoppelt an das Zeichensystem der Bahn. Vieles spricht dafür, selbst noch den im zwanzigsten Jahrhundert dominant werdenden mobilisierten Individualverkehr des Automobilzeitalters, also den scheinbar größten und siegreichen Konkurrenten des Eisenbahn- Prinzips, als ein dem ästhetischen Muster der Schienenbahn folgendes, durch die Geschwindigkeit und Geradlinigkeit der Eisenbahnfahrt präfiguriertes Reise- und Fahrerlebnis aufzufassen. Die wie ein endloser Strang die Landschaft durchschneidende, sich am Horizont mit perspektivischer Sogkraft verjüngende Streckenführung, die nur das schnelle, direkte Fortkommen zu ihrem Existenzgrund hat und nicht mehr, wie die Straßen früherer Zeiten, die anschmiegsame Nachmodellierung des Landschaftsreliefs und der regionalen Bedeutsamkeiten, diese rationale, abstrakte Streckenführung des Eisenbahnzeitalters gibt auch den Existenzgrund ab des Designs der Autobahnen und Fernstraßen für den Kraftwagen-Verkehr der Moderne. Kühne Brücken über tiefe Täler, scheinbar rücksichtlos und unbedenklich in die Hügel und Berge sich hineinfräsende Tunnelröhren - das sind Behelfe, wie sie analog zu den ingenieurstechnischen Leistungen bei der Bahnstrecken-Führung später auch im Straßenbau zum Einsatz kommen. Ähnliches gilt für die Prinzipien der weiträumigen Umfahrung von Verdichtungszonen und der Anlehnung an ökotropische Grenzlinien wie etwa Halbhanglagen, Fluss- und Seeuferbefestigungen. In alledem gibt die Eisenbahn des 19. Jahrhunderts mit ihren aus Holz und Eisen montierten Schienensträngen eine Ästhetik der Spur vor, um möglichst flüssige, verdichtete Transportaufkommen bei hoher Geschwindigkeit, geringer Verzögerungsanfälligkeit und Unfallgefährdung zu erzielen. Die gebahnte Spur zieht eine Schneise durch die Landschaft, in deren Linienführung sich die schon zurückgelegten und die noch kommenden Fahrvorgänge strukturell übereinanderlegen wie in einer photographischen Langzeitbelichtung nächtlichen Straßenverkehrs. Potentiell ist die eiserne Bahn in ihrer starren Montierung zugleich immer schon eine rasante Fahrt; 8 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek 1978, S. 374. Alexander Honold 162 sie enthält diese Fahrt als Möglichkeit und Bestimmung und bringt dies durch die ihr eigene Gestalt zum Ausdruck. Stabile Infrastruktur fungiert als virtuelle Anweisung auf Bewegungs- und Veränderungsfähigkeit; insofern arbeiten in der sich industrialisierenden Moderne Hardware und Software, die starre Dinglichkeit stahlharter Gehäuse und der Wunsch nach flexibler Akzeleration auf neue, innige Weise zusammen. Gemäß dem Selbstbild der kolonialen Akteure, die hierin das Erbe des Zeitalters der Entdeckungen anzutreten vermeinten, war der Ausgriff europäischer Nationen auf überseeische Weltregionen durch ein Zusammenspiel von Bewegungsenergie und scheinbar unausgeschöpften Reserven an Raum gekennzeichnet. Der geographisch erfasste Raum als solcher wurde zu einer primären Ressource. Über Land und Meer findet alle Bewegung ihre Begrenzung in der Horizontlinie als einer Schwelle, die zwar jederzeit angepeilt, aber niemals erreicht, und die zwar niemals erreicht, aber perspektivisch wiederum jederzeit überschritten werden kann. Es sind demnach vor allem zwei mediale Errungenschaften, die in der Konzeptualisierung des leeren (zu erobernden) Raumes ästhetisch zusammenwirken. Erstens die Perspektive (das Hindurchschauen auf etwas Drittes) als Transgressionsraum und Projektionseffekt, zum zweiten die vor allem an literarischen Darstellungen zu beobachtende Kongruenz von Handlungslinie und durchmessener Raumstrecke. Eine solche Isomorphie von Schrift und Weg leitet sich von den Wanderer-Mythen der Antike und des Mittelalters her und hat in der Figur des Gottsuchers, des Pilgers, des Reisenden schließlich textinterne Funktionen gefunden, mit welchen sich der Vorgang der Raumerschließung einem Protagonisten zuordnen lässt, der im Cooperschen Sinne sich als „pathfinder“ durch die Widrigkeiten der Außenwelt, aber auch durch das Gewebe des Textes selbst hindurchschlägt. 9 Indem dieses Text-Ich seinen Weg macht, markiert es zugleich den durchquerten Raum, 10 und zwar nicht allein durch performative Akte des Benennens und Beschreibens, sondern bereits durch die Bewegung selbst. Und damit kommen wir nun zum Zug als einer immer schon mehrdeutigen Darstellungsfigur vektorieller Bewegungs- und Transportabläufe. Der Zug durch die Wüste oder durch das Rote Meer - lange vor der Eisenbahn formuliert sich da etwas, was erst mit den Möglichkeiten des technisch-indust- 9 Vgl. Alexander Honold, Pfadfinder. Zur Kolonialisierung des geographischen Raumes, in: Alexander C. T. Geppert et al. (Hrsg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 137-156. 10 „One of the most enigmatic ways in which writing functions in colonizing is the marking of the earth through the very presence of Europeans moving through the landscape“ (John Noyes, Colonial Space. Spatiality in the discourse of German South West Africa 1884-1915, Chur etc. 1992, S. 109). Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 163 riellen Trajekts sich auf der Höhe seiner ästhetischen und sachlichen Implikationen befinden wird. Die Dynamik des Zuges bildet eines der wichtigsten Szenarien der Raumerschließung und der Landnahme. Denn der scheinbar naturwüchsige Effekt der Horizontflucht hilft, die prekäre Frage nach den Auftraggebern und Adressaten imperialen und kolonialen Raumgewinns auf unverfängliche, elementar-ästhetische Weise zu beantworten. Wenn man einen Weg vor sich hat oder eine Trasse, einen Flusslauf oder eine Schneise durch den Wald, dann verlangen diese Wege mit ihren zum Horizont laufenden Fluchtlinien auch, gegangen respektive befahren zu werden; anders als in dieser unpersönlichen Form kann man es tatsächlich nicht ausdrücken. Raumgewinn ist, unterhalb des damit meistens verbundenen politisch-strategischen Kalküls, ein kinetisches und ästhetisches Ereignis: die zurückgelegte Strecke, die erlebte Geschwindigkeit, die fortgesetzte Teilung der Landschaft in fragmentierte, beidseits der Bahn vorbeiziehende Bildeindrücke, all dies tritt zusammen in der ‚Erfahrung‘, fortwährend sich selbst einen Weg zu bahnen. Der mit festen Gleiskörpern geschiente Weg der Eisenbahn übernimmt es sodann, dieses kraftvolle, intensive Moment der Bahnung seinerseits auf Dauer zu stellen und in eine feste Form zu überführen. In der eisernen Bahn materialisieren sich Vorgänge des Schreibens, Grabens und Zeichnens, die wiederum den Konnex einerseits zur Kartographie, andererseits zur Grammatologie und zur medialen Ästhetik der Schriftkulturen stiften: Eine Spur ziehen, heißt, Markierungen eintragen in Flächen, die zuvor leer, amorph oder unwegsam erschienen. Die Zeile als Zurichtungsform der Schrift ist ein zwiefach codierter Zeitpfeil; sie ist einerseits Spur im Hinblick auf den vorausgegangenen Schreibakt, andererseits Bahnung für den einsinnigen Lektüreweg, der dieser Spur zu folgen hat. Derridas Konzeption von Schrift und Spur in der Grammatologie verweist auf einen genuin ethnologischen Kontext, der durch die Schnittstelle von Oralität und Literalität markiert ist. 11 Im Gegensatz zu jener abwertenden Einschätzung der Zickzacklinien und Kritzeleien vermeintlich schriftloser Kulturen, wie Derrida sie an den Tristes Tropiques, dem Brasilien-Reisebuch von Claude Lévi-Strauss, kritisiert, insistiert Derrida selbst auf einem alle graphischen Kulturtechniken umfassenden Schriftbegriff, verbunden mit dem geradezu utopischen Impetus, „endlich das zu lesen, was in den 11 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967. Dt: Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/ Main 1983. Derrida verweist zur Etablierung des Begriffes „Grammatologie“ auf I. J. Gelb, A Study of Writing. The foundation of Grammatology, London 1952, der den Begriff im anthropologischen Kontext einführt (Derrida, Grammatologie, S. 13). Alexander Honold 164 vorhandenen Bänden schon immer zwischen den Zeilen geschrieben stand“. 12 Im hier diskutierten Zusammenhang ist allerdings nicht die Zukunftsvision der „Grammatologie“ von primärem Interesse, sondern die historische Rekonstruktion dessen, was Derrida als Dominanz des linearen oder epischen Modells attackiert. Mit Verweis auf die Forschungen des Anthropologen Leroi-Gourhan bewegt sich Derrida in eine geschichtliche Zone zurück, in der Ideographie und Piktographie noch nicht voneinander geschiedene graphische Praxisformen darstellten; in ihrem komplexen Zeichenverbund sieht Derrida eine „Einheit“ verwirklicht, „welche durch die lineare Schrift aufgebrochen wurde. Um aber den Zugang zu dieser Einheit, zu dieser ganz andersartigen Einheitsstruktur wiederaufzufinden, müssen [wie er mit Leroi-Gourhan fordert] ‚viertausend Jahre linearer Schrift‘ Schicht für Schicht abgetragen werden.“ Es geht Derrida um die Befreiung der graphischen Bildlichkeit in ihrer sinnlichen Evidenz von der abstrakten Herrschaft der Linie. Das Programm der Grammatologie ist an diesem Punkt eminent politisch. Wie Lévi-Strauss eine Geschichte vom Verschwinden der Indianervölker Brasiliens und vom Ende der Feldforschung erzählt, so skizziert Derrida eine Entstellungsgeschichte der Schrift. Die „Vergangenheit einer nicht-linearen Schrift“ 13 muss als Kontrastfolie erst wieder präsent gemacht werden, will man verstehen, wie die abendländische Reduktion auf Linie, Buch und Zeile das graphische Paradigma transformiert, eingeengt und dynamisiert hat. In der Technik des Schreibens hielt ein lineares Ablaufschema Einzug, das sowohl konkrete Phänomene betrifft, etwa in der Motorik der Hand, aber auch abstrakte Vorstellungen des menschlichen Seins und der Geschichte. Aus Heideggers Metaphysik-Kritik bringt Derrida hierfür den Aspekt der linearen, geradlinigen Zeitlichkeit in Anschlag, der „die ganze Ontologie von Aristoteles bis Hegel im Innersten“ determiniere. 14 „Linearisierung“ 15 der Schrift, das bedeutet die Temporalisierung, Vektorisierung und Teleologisierung dieses Mediums; sie ‚verkürzt‘ gleichsam die Partitur eines komplexen graphischen Ganzen auf die strikte, von links nach rechts führende Zeilenanweisung des einen zurückzulegenden Weges. Sprache und Schrift der Bahn, das sind ihre intrinsischen Strukturen und Verfahren einerseits, ihre äußerlichen Spuren, An- und Abzeichen andererseits. Mit dem Begriff der Schrift verbinden sich nicht allein Notationssys- 12 Derrida, Grammatologie (Anm. 11), S. 155; das folgende Zitat ebd. 13 Derrida, Grammatologie (Anm. 11), S. 155, S. 151. 14 Derrida, Grammatologie (Anm. 11), S. 153. 15 „Der Begriff der Linearisierung ist weitaus wirksamer, genauer und inhärenter als alle anderen, welche man gewöhnlich für die Klassifikation der Schriften und zur Beschreibung ihrer Strukturen heranzieht“ (Derrida, Grammatologie, Anm. 11, S. 152). Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 165 teme oder ein bestimmtes kommunikatives Medium, sondern zuvörderst die graphischen Phänomene der Linie oder eben des Zuges. Von Schrift ist hier die Rede als von jener graphischen Signatur, die sich mit der Entstehung und Ausbreitung des Schienennetzes zwischen der Mitte des 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts über weite Teile Europas und Nordamerikas legte, aber auch in Teilen Asiens und in den Küstengebieten Afrikas auf dem Vormarsch war. 2. Literarische Szenarien der Raumerschließung Das Eisenbahnzeitalter, die Hochphase der europäischen Imperialstaaten und die Etablierung des modernen Kolonialismus sind nicht nur chronologisch weitgehend kongruent, sie haben auch etliche Wirkungskräfte und Erscheinungsformen gemeinsam. Skizzenhaft möchte ich den Zusammenhang von Eisenbahn und kolonialer Raumerschließung an einigen wenigen literarischen Beispielen verdeutlichen. Robert Musil etwa hat seine Beschreibung der Eisenbahn-Spur deutlich auf den Weg in den Osten ausgerichtet. Der Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß beginnt mit einer Art Szenenanweisung: „Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führte.“ 16 Noch ehe sich die Frage stellt, ob und wie die Eisenbahn sich eigentlich in dem weiteren Romangeschehen überhaupt als bedeutend herausstellen wird, sind wir schon auf sie fixiert, und zwar durch eine Art perspektivische Sogwirkung, die von der Geometrie der Bahngeleise selbst auszugehen scheint. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich. Hinter dem niederen, ölgestrichenen Stationsgebäude führte eine breite, ausgefahrene Straße zur Bahnhofsrampe herauf. Ihre Ränder verloren sich in dem ringsum zertretenen Boden und waren nur an zwei Reihen Akazienbäumen kenntlich, die traurig mit verdursteten, von Staub und Ruß erdrosselten Blättern zu beiden Seiten standen. 17 Der Strich über den Boden, die Eisenstränge: sie markieren, zerschneiden die Landschaft und verlängern sie als Bahn in den endlosen Horizont. Während sich der Schienenweg scharf und fest über die staubige Erde legt, droht außerhalb seines Einzugsbereiches das Ungebahnte, die Ödnis rasch verwe- 16 Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906). Gesammelte Werke. Prosa und Stücke, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek 1978, S. 7. 17 Musil, Verwirrungen des Zöglings Törleß (Anm. 16), S. 7; das folgende Zitat ebd. Alexander Honold 166 hender Spuren. Wo selbst die Vegetation derart zu kämpfen hat gegen Dürre und Tristesse, scheint bald die Steppe zu beginnen. Der träge vor sich hindämmernde Bahnabschnitt, über den sich die Schmutz- und Staubschichten jahrelangen Wartens gelegt haben, führt in eine Welt, die von der Zivilisation aus zwar erreicht werden kann, aber nur der Möglichkeit nach mit ihr verbunden ist. Die Landstriche ringsum wären ohne die Bahn nichts als Verlassenheiten, deserta. Für die Abfertigung der wenigen Passagiere und die Arbeitsräume der Bahnbediensteten hat man eine Bahnhofshalle errichten lassen, um die sich bald einige weitere Gebäude gruppieren: Lagerhallen, Läden, vielleicht ein Droschkenplatz, eine Polizeistation und ein Wirtshaus - Vorkehrungen und Hilfsmittel gegen die schier endlose Länge der Zeit, in der die Bahn nicht kommt. Von Zeit zu Zeit, in gleichen Intervallen, trat der Bahnhofsvorstand aus seinem Amtszimmer heraus, sah mit der gleichen Wendung des Kopfes die weite Strecke hinauf nach den Signalen der Wächterhäuschen, die immer noch nicht das Nahen des Eilzuges anzeigen wollten, der an der Grenze große Verspätung erlitten hatte. Nichts war aufregender als die Ankunft der Eisenbahn, sowohl des Schienennetzes selbst als auch der mit Sehnsucht erwarteten Züge, die wie Botschafter der Metropole empfangen wurden. Durch die dürftigen Kulissen verschlafener Provinzbahnhöfe wehten, für ein paar kurze Momente am Tag, die glanzvollen Namen weitentfernter Bestimmungsorte: Paris oder Moskau, Venedig, Triest und Konstantinopel. Die Verlorenheit eines weit in den Osten vorgeschobenen Streckenpostens, die der Ingenieur Robert Musil aus der Erinnerung an seine Internatszeit in Mährisch-Weißkirchen (Hranice) formt, 18 wird in ähnlicher Weise auch von anderen Eisenbahnschilderungen der k.u.k.-Zeit in Szene gesetzt. Aus größerem Abstand hat Joseph Roth der überkommenen Institution des Bahnhofsvorstehers ein Denkmal gesetzt, das den skurrilen Habitus der auf Abruf bereitstehenden, passiven Pflichterfüllung mit der Aura des Entschwundenen umhüllt. Roths Stationschef Fallmerayer ist ein Bild für viele seines Schlages; Jahre verbringt er damit, an einem unbedeutenden Haltepunkt der Wiener Südbahn den vorbeibrausenden Nachtzügen Richtung Triest und Venedig nachzuschauen - bis sich eines Nachts im Frühjahr 1914 18 Während Musil 1902 tagsüber für die Materialprüfungsanstalt der Technischen Universität in Stuttgart arbeitete, schrieb er abends an den Verwirrungen des Zöglings Törleß. Der Weg zurück in die Schulzeit (vgl. Karl Corino, Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek 2003, S. 101) verläuft entlang des Schienenstrangs der Bahnlinie von Brünn nach Ostrau, die zur Erschließung von Kohle- und Eisenvorkommen im Zuge der Industrialisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte errichtet worden war. Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 167 eine jener Katastrophen ereignet, die im Rückblick zu Vorzeichen des Weltkriegs werden. Die Bahn gehört zu jenen in ihrer steifen Bürokratie unerschütterlichen Institutionen, die das Alte Reich, die Welt von Ehemals, repräsentieren. In die Einöde, in die verlassenen und vergessenen Zonen, schiebt sich die Zivilisation im Gewande einer starren, geometrischen Form hinein, nämlich mithilfe der, wie es heißt, „endlos gerade“ laufenden parallelen Schienenstränge. Da sie unterschiedslos sich nach beiden Seiten hin erstrecken, ist gar nicht klar, warum nun gerade an diesem Punkt ein Innehalten stattfinden soll - es gibt hier nichts, um dessentwillen sich das Anhalten verlohnte. Indem der Text als erstes räumliches Bild diese Schienen verlegt, spricht er gleichzeitig über mehr als nur über diese Situation. Er spricht über das Zusammentreffen einer geometrischen Konstruktion mit dem Unkonstruierbaren; zwischen dem schematisch und technisch gebahnten Weg einerseits und der amorphen Landschaft andererseits besteht ein Verhältnis der grundsätzlichen Unangemessenheit. Wo auch immer die Schienen verlaufen, sie durchschneiden das Gebiet gewaltsam, welches sie erschließen. Und, so lässt sich dann die Übertragung auf die sich hier formierende Art von Literatur herstellen: Wo auch immer diese bestimmte Erzählstrecke beginnen mag, ist ihr Einsatzpunkt einigermaßen beliebig, er könnte auf demselben Gleis auch etwas früher oder später liegen. Es ist also die Willkürlichkeit einer solchen artifiziellen Konstruktion, die der Romananfang des Törleß damit selber thematisiert. Eine Zeitschiene, die an ein komplexes, lebendiges Ganzes angelegt wird, „spurt“ gleichsam alles in einer bestimmten Richtung, lässt links und rechts davon die Dinge beiseite und gibt dem, was dann in der Mitte markiert ist, einen eindeutigen Richtungssinn, mit dem es auf der einen Seite in die Vergangenheit, in die andre Richtung zur Zukunft geht. Am schwersten unter Kontrolle zu bringen in dieser perspektivischen Zurichtung ist offenbar die Zwischenphase der Gegenwart, hier droht das Geschehen unkontrollierbar auszufransen. Die Ränder der Zufahrtsstraße, so heißt es wörtlich, „verloren sich in den ringsum zertretenen Boden“. 19 Inszeniert wird mit diesem klug durchkalkulierten Erzählbeginn das Zusammentreffen zweier Welten: einer geordneten Welt mathematisch-geometrischer Konstruktionen, die ihre Existenzberechtigung darin sieht, möglichst nicht mit anderen, ihrer Geometrie nicht subsumierbaren Formen der Wirklichkeit in Berührung zu geraten. Das Gleispaar kann nur auf dem Schienennetz: mit anderen Gleiskörpern, mit durch Eisen gebahnten Spuren in Kontakt treten, es kann aber nicht beispielsweise mit den Schotterstraßen und dem staubigen Boden kommunizieren, der sich links und rechts vom 19 Musil, Verwirrungen des Zöglings Törleß (Anm. 16), S. 7. Alexander Honold 168 Bahndamm befindet. Ist der Gleiskörper erst einmal verlegt, so ist klar, dass nicht mehr überall und in jede Richtung gefahren werden kann, sondern nur auf der vorgegebenen Spur. Damit wird evident, dass das Eisenbahnfahren nur eingeschränkt als Metapher des menschlichen Lebens in seiner Abhängigkeit von Situationen und Zufällen taugt; sehr wohl aber taugen die Schienenstränge als Bild für die gewaltsame oder institutionelle Zurichtung des Lebens durch ihm auferlegte Zwangsformen. Als sich Törleß’ Eltern verabschieden, um zurückzufahren, gleicht diese Szene einem Bild der starren, gebauten Unerbittlichkeit. Übrigens ließen die elementaren Verkehrsmittel der Moderne sich in aufschlussreicher Weise danach unterscheiden, welche Art von Abschiedszeremonie sie ermöglichen bzw. verlangen. Dann fuhr der Zug ein. Hofrat Törleß umarmte seinen Sohn, Frau von Törleß drückte den Schleier fester ins Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen, die Freunde bedankten sich der Reihe nach, dann schloß der Schaffner die Wagentür. Noch einmal sah das Ehepaar die hohe, kahle Rückfront des Institutsgebäudes, - die mächtige, langgestreckte Mauer, welche den Park umschloß, dann kamen rechts und links nur mehr graubraune Felder und vereinzelte Obstbäume. 20 Weniger konkret lokalisierbar, dafür aber sachlich und zeitlich näher dem historischen Kontext ihres Geschehens waren Franz Kafkas Erinnerungen an die Kaldabahn, ein Erzählfragment über den Eisenbahnbau durch menschenverlassene Weiten. „Eine Zeit meines Lebens“, so beginnt die Erzählung, die in Kafkas Tagebuch auf die Eintragung vom 15. August 1914 folgt, „hat [sic] ich eine Anstellung bei einer kleinen Bahn im Innern Rußlands. So verlassen wie dort bin ich niemals gewesen.“ Es ist, als würde erst die Absurdität des für große Menschenmengen ausgelegten Transportmittels das wirkliche Ausmaß dieser Einsamkeit sichtbar machen. Die kleine Bahn war ursprünglich vielleicht aus irgendwelchen wirtschaftlichen Absichten angelegt worden, das Kapital hatte aber nicht ausgereicht, der Bau kam ins Stocken und statt nach mit dem Wagen entfernten größern Ort zu führen machte die Bahn bei einer kleinen Ansiedlung geradezu in einer Einöde halt. 21 Die freudlose Ereignisarmut aller Streckenwärter, deren Posten in dünnbesiedeltem Gelände liegt, findet hier ihren objektiven Widerhall im geschäftlichen Debakel der ins Stocken geratenen Bahntrasse, die ohne Grund und Ziel am unsinnigsten aller möglichen Endpunkte einfach abbricht - ein Fragment. Der Schauplatz Rußland ist eine ins Ungefähre gesprochene Chiffre 20 Musil, Verwirrungen des Zöglings Törleß (Anm. 16), S. 15. 21 Franz Kafka, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt/ Main 1994. Bd. 10, S. 169. Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 169 für unerschlossene Weite und unwirtliche Lebensumstände. Ihr ist anzumerken, dass Kafka nicht nur mit dem europäischen Eisenbahnwesen vertraut war (dies durch ausgedehnte Bahnreisen u.a. nach Paris und mehrfach nach Oberitalien), sondern auch mit den Verhältnissen beim Bahnbau unter kolonialen Bedingungen. Den Bau der Kongobahn kannte er aus Erzählungen seines Onkels mütterlicherseits, Joseph Loewy, der mehr als zehn Jahre für die Compagnie du Chemin de fer du Congo in Zentralafrika gearbeitet hatte. In Übereinstimmung zu der Geschichte Kafkas hatte man im Kongo, der „schwierigen Terrainverhältnisse“ wegen, zunächst nur eine „kleine Schmalspurbahn“ bauen können, von der die erhofften Transportleistungen kaum erbracht werden konnten. Der Bau kam mehrfach ins Stocken; der Kapitalzufluß war zu gewissen Zeiten ganz unterbrochen, und man mußte vor 1895 mehrmals versuchen, neue Gelder für den Bau aufzutreiben. Die Schienen endeten buchstäblich im Leeren der kongolesischen Einöde. 22 Wie zuvor sein Bruder Alfred war Joseph Loewy in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Frankreich übersiedelt und danach für verschiedene technische Großprojekte, auch in überseeischen Ländern, im Einsatz. Alfred wurde 1895 Direktor einer Madrider Eisenbahngesellschaft, die den Bahnbetrieb im gesamten Westen Spaniens und nach Portugal innehatte. Joseph war seit 1891 als „agent commercial“ im belgischen Kongo mit dem Eisenbahnbau befasst. Zunächst war er zuständig für die Rekrutierung von Arbeitskräften und die Beschaffung von Nahrungsmitteln; später wurde er Chefbuchhalter der Bahngesellschaft. Ein weiteres Fragment Kafkas von Anfang 1917, erkennbar in Afrika lokalisiert, nimmt die Perspektive des leitenden Angestellten beim Eisenbahnbau ein. Ich saß in meiner Holzhütte auf der überdeckten Veranda. Anstatt einer Längswand war ein außerordentlich feinmaschiges Mosquitonetz ausgespannt, das ich von einem der Arbeiterführer, dem Häuptling eines Stammes durch dessen Gebiet unsre Bahn gehen sollte, erstanden hatte. Ein Hanfnetz so fest und zart zugleich, wie man es in Europa gar nicht herstellen könnte. […] Ohne dieses Netz wäre es gar nicht möglich gewesen, friedlich am Abend auf der Veranda zu sitzen, das Licht aufzudrehn wie ich es jetzt tat, eine alte europäische Zeitung zum Studium vorzunehmen und mächtig dazu die Pfeife zu rauchen. 23 Die frühe sommerliche Dunkelheit, welche die Stechmücken herbeilockt; die Bedeutung des Moskitonetzes, selbst das Alter der aus weiter Ferne herangebrachten Zeitungen - diese Details sind Spuren eines pragmatischen, erfah- 22 Anthony Northey, Kafkas Mischpoche, Berlin 1988, S. 41. 23 Kafka, Gesammelte Werke (Anm. 21), Bd. 6, S. 61. Alexander Honold 170 rungsgesättigten Blicks auf die Fremde, wie ihn Kafka nur aus den im Familienkreis beliebten Erzählungen seines Onkels gewonnen haben konnte. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten war die Arbeit Joseph Loewys im Kongo von Erfolg gekrönt; im Juni 1898 konnte die Trasse von Matadi (an dem noch schiffbaren Teil der Kongomündung) bis zu den Stanley Falls am Oberlauf des Stroms offiziell eingeweiht werden. Die Aktien der Compagnie, die 1894 aufgrund bautechnischer Verzögerungen einen Tiefststand von 320 belgischen Francs erlebt hatten, stiegen 1898 auf 1500, zwei Jahre später sogar auf 2820 Francs. 1903 wechselte Loewy zum chinesischen Eisenbahnbau, da eine belgische Gesellschaft die Konzession für den Bau und Betrieb der Strecke Peking-Shanghai erhalten hatte. - Anders stehen die Aktien im Falle der Kaldabahn, deren Planungen aus Sicht des Streckenpostens als „verfehlt“ zu gelten haben: „das Land brauchte Straßen aber keine Eisenbahnen“. 24 Auf Kafkas Bahn verkehren nur zwei Züge täglich; sie „führten Lasten mit sich, die ein leichter Wagen hätte transportieren können, und Passagiere waren nur ein paar Feldarbeiter im Sommer“. 25 Die einem Buchhalter wohlanstehende Kosten-Nutzen-Kalkulation pocht strikte auf die ökonomische Rentabilität des Bahnbaus, die sich im Falle der Kolonialgebiete freilich unter anderen Vorzeichen stellte. 3. Der Rhythmus der Bahn: Warten und Ereignis als Erzählformen Das Vordringen des Eisenbahnzeitalters stellt sich aus kulturtopographischer Sicht nicht nur in Übersee, sondern ebenso für viele Bereiche etwa Südosteuropas und die Peripherie der Habsburgermonarchie, aber auch schon für das weitere Umland der preußischen Metropole Berlin als ein Vorgang der Kolonialisierung, in diesem Falle der inneren Kolonialisierung, dar. Die Landnahme durch das Vordringen der Schienenstränge formt neue Wahrnehmungsmuster, lässt eine neue Siedlungs- und Verkehrsdynamik entstehen. Mit der Infrastruktur hält eine quasi-militärisch gestufte Rangordnung von funktional mit der Bahn und ihrer Administration verbundenen Ämtern und Rollen Einzug. Die Stationen, als Stützpunkte der Ungleichzeitigkeit fremd in ihre Umgebung implantiert, stellen Ableger des fernen imperialen Machtzentrums und seiner symbolischen Ordnung dar. Die Erzählmuster des Vordringens der Eisenbahn beleuchten deren Sozialordnung und Ästhetik kritisch, als dramatische Formen kultureller Zurichtung, oder heroisch, als vorgeschobene Posten zivilisatorisch-disziplinärer Pflichterfüllung. Die emphatisch zustimmende Haltung zur gebahnten Ordnung des Raums konnte dabei rasch in Befremden und Entsetzen um- 24 Kafka, Gesammelte Werke (Anm. 21), Bd. 10, S. 169. 25 Kafka, Gesammelte Werke (Anm. 21), Bd. 10, S. 170. Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 171 schlagen, oder mit ihm auf widersprüchliche Weise verflochten sein, wie dies in einem novellistischen Meisterstück der naturalistischen Literatur der Fall ist, das bislang mehr auf seine Psychodynamik als auf sein topographisches Gewaltpotential hin befragt wurde. Gerhart Hauptmanns Erzählung Bahnwärter Thiel von 1887 26 ist eine dramaturgisch zugespitzte Milieustudie aus einem sozialen wie geographischen Randbereich der im Deutschen Reich der 1880er und 1890er Jahre vehement vorangetriebenen industriellen Modernisierung. 27 Die Geschichte schildert Situation und Leben des subalternen Bahnbediensteten Thiel, der im südöstlichen Berliner Umland als Streckenposten für die Instandhaltung seines Abschnittes und vor allem für die Überwachung und Sicherung eines wenig frequentierten Überganges am Schienenstrang der die Spree entlang führenden Strecke nach Fürstenwalde zuständig ist. In ihrem deskriptiven Gehalt, eben als Milieustudie gelesen, gibt die Erzählung ein gleichsam phänotypisches Präparat der an vielen dieser Strecken entstandenen Arbeitssituation solcher Streckenwärter; insoweit erweist sich der Text einerseits als literarischer Reflex einer sozialhistorischen Situation und bietet andererseits zugleich darüber hinausgehend auch einen gewissen mentalitätsgeschichtlichen Aufschluss über die Wahrnehmungs- und Gefühlsmuster, die dem in die Fläche vordringenden Vehikel der Eisenbahn in den ersten Jahrzehnten nach seiner Etablierung von der durch die Streckenführung und den alltäglichen Betrieb tangierten Provinz-Bevölkerung entgegengebracht wurden. Die historisch gewachsene kulturelle und politische Vielfalt der deutschen Regionen beginnt sich unter dem Schrittmacher-Tempo des Eisenbahnzeitalters rapide zu wandeln. Obwohl die ersten Bahnstrecken in Nürnberg, Frankfurt, Leipzig entstehen, wird bald Berlin zum Motor und Zentrum der Entwicklung; 28 hier finden Geld, Industrie und Politik als entscheidende Schubkräfte zusammen. Dass die Regionen um Elbe und Oder relativ schwach besiedelt sind und überwiegend aus tiefem, flachem Schwemmland 26 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel, in: Ders., Sämtliche Werke (Centenar-Ausgabe, Berlin 1962-1974), hrsg. von Hans-Egon Hass, Bd. VI. Erzählungen. Theoretische Prosa, Berlin 1996, S. 35-68. 27 Vgl. zum biographischen und sozialgeschichtlichen Kontext Peter Sprengel, Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie, München 2012, bes. S. 135f. Die Nähe zum neurologischen und psychiatrischen Diskurs der Zeit, insbesondere zu den Forschungen des an der Berliner Charité lehrenden Psychiaters Carl Wernicke, behandelt Yvonne Wübben, Die Poesie der Schizophrenie. Nosographie und literarische Form (1835-1914), Habilitationsschrift FU Berlin 2011 (Masch.), S. 214-289 (vgl. auch Sprengel, Gerhart Hauptmann, S. 751, Anm. 99). 28 Vgl. Karlheinz Hartung / Erich Preuß, Deutsche Eisenbahn 1835-1995, Stuttgart 1996; Gerhard Krienitz, Daten, Bilder, Ereignisse aus der Geschichte der deutschen Eisenbahnen, Berlin 1986. Alexander Honold 172 und Sandsteppen bestehen, zeigt sich für Einrichtung der Bahntrassen und die Vormachtstellung ihres Betriebes in diesen Gebieten als immenser Vorteil. Erst mit der Eisenbahn gelingt es Preußens Hauptstadt, sich zu einem starken industriellen Verdichtungsraum und zugleich zum Kern eines weiträumigen Schienennetzes heranzubilden. Von der kulturellen Schwerpunktverlagerung innerhalb der geographischen Verhältnisse Deutschlands gibt Hauptmanns Bahnwärter Thiel nur indirekt Zeugnis; deutlicher ist sie an der Biographie des Autors abzulesen, der seinen Wohnsitz aus Schlesien nach Berlin verlegt hatte. Hauptmanns Bahnwärter Thiel hat seinen Posten einige Kilometer südöstlich von Friedrichshagen und dem zu mehreren beschaulichen Seen erweiterten Flusstal der Spree bezogen; auf die ländlich zurückgezogene Atmosphäre des Schauplatzes weist der im Manuskript noch vorgesehene Novellentitel Im Waldwinkel hin. 29 Das im Text als lokaler Anhaltspunkt genannte Straßendorf „Neu-Zittau“ befindet sich als nächstgelegener Kirchensitz eine gewisse Wegstrecke entfernt von der Siedlungskolonie „Schön- Schornstein“, in welcher der Bahnwärter wohnt und von der aus er seiner Arbeit nachgeht. Alles atmet den Siedlergeist eines in neuem Boden sich einrichtenden Betriebes. Im Namen jener „Kolonie an der Spree“ 30 ist überdies die idyllische Verniedlichung des wichtigsten fossilen Brennstoffs der frühen Industriezeit Programm geworden. Bahnwärter Thiel, „allsonntäglich“ ein braver Kirchgänger zu Neu-Zittau, verrichtet seinen werktäglichen Dienst an der in Flussnähe verlaufenden Bahnstrecke, die von Berlin und seinem sogenannt „Schlesischen Bahnhof“ nach Fürstenwalde, Frankfurt/ Oder und Breslau führt. Diese Bahnstrecke war von der zunächst als privatwirtschaftliche Unternehmung gegründeten Niederschlesisch-Märkischen Bahn in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts errichtet worden; seit 1847 bestand eine durchgehende Verbindung über Liegnitz bis nach Breslau, der zweitgrößten Stadt unter preußischer Gebietshoheit. Auf dieser Linie wurde 1853 auch ein nächtlich verkehrender Schnellzug nach Breslau eingerichtet; bereits ein Jahr zuvor waren die Strecke selbst und ihre Betreibergesellschaft in preußischen Staatsbesitz übergegangen. Was alles hängt an diesem Schienenstrang, zur Zeit seiner Gründung und dann im Jahr der erzählten Geschichte? Relativ früh und zügig wurde von Berlin und auch von Sachsen aus die eisenbahntechnische Erschließung des Odergebiets in Angriff genommen; von Frankfurt und von Görlitz aus wurden in den 1840er Jahren Teilstrecken errichtet und dadurch Nieder- und Oberschlesien näher an die modernen Großstädte Leipzig und Berlin 29 Brief Marie Hauptmanns an Carl und Martha Hauptmann, 28. 10. 2887; zitiert nach Sprengel, Gerhart Hauptmann (Anm. 27), S. 135. 30 Hauptmann, Bahnwärter Thiel (Anm. 26), S. 37. Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 173 herangeführt. In Görlitz trafen sich die Strecke der Sächsisch-Schlesischen Bahn von Reichenbach (Oberlausitz) und diejenige der Niederschlesischen Bahn aus Kohlfurt, wodurch 1847 bereits eine durchgehende Verbindung von Breslau über Dresden, Leipzig, Magdeburg, Braunschweig, Hannover bis Deutz gegenüber Köln bestand, wo jenseits des Rheins der Anschluss ans westeuropäische Schienennetz bereitstand (aber noch keine Rheinbrücke für die Bahn vorhanden war). Ergänzt wurde diese Trasse durch den 1862 begonnenen Bau der Schlesischen Gebirgsbahn von Kohlfurt nach Waldenburg, die als Gesamtstrecke 1867 fertiggestellt wurde. Diese war der Transportweg für die im Waldenburger Revier geförderte Steinkohle, später auch bedeutsam für den Fremdenverkehr ins schlesische Riesengebirge, etwa mit dem Bäderzug nach Bad Kudowa. Nachdem auch das zwischen Breslauer Bahnhöfen noch fehlende Verbindungsstück fertiggestellt war, reichte die durchgehende Linie der Oberschlesischen Bahn bis nach Krakau, der südliche Strang der oberschlesischen Wilhelmsbahn führte 1848 zum damals österreichischen Oderberg (Bohumin), das seit April 1847 Endpunkt der von Wien aus geführten Kaiser-Ferdinands-Nordbahn war. Von diesen Zusammenhängen ist in der kleinen Welt, die uns Hauptmanns Novelle aufblättert, nicht die Rede; die enorm weit, über Tausende von Kilometern reichenden Erstreckungen dieses Bahnnetzes, das bis zu den Fernpunkten Köln, Krakau, Wien reichte und ja auch an diesen Destinationen durchaus nicht haltmachte, werden in Hauptmanns Bahnwärtergeschichte nicht in das alltägliche Vorstellungsvermögen der handelnden Figuren aufgenommen. Immerhin weiß der Bahnwärter, der über eine routinierte Praxis im Umgang mit den Rhythmen der Streckennutzung und den sich auf diese beziehenden Signalen anderer Stationen verfügt, dass er an seinem Abschnitt auf die Kooperation mit den etliche Kilometer entfernten, längst außer Sichtweite liegenden benachbarten Streckenposten und Stationen angewiesen ist. Wenn es beispielsweise dreimal an der Glocke läutet in seinem Bahnwärterhäuschen, dann besagt ihm dieses codierte Signal, dass soeben „ein Zug in der Richtung von Breslau her aus der nächstgelegenen Station“ 31 abgelassen sei, so die umständlich formulierte Logik jener Ansage, die den Bahnwärter darüber informiert, dass es Zeit ist, zur Verrichtung seiner Pflicht, genauer: seines Schrankendienstes, zu schreiten. Hört er also dieses Signal aus dem nächstangrenzenden, in südöstlicher Richtung gelegenen Bahnhaltepunkt seiner Streckenwelt, so nimmt er, mit gemessener Ruhe, die fälligen Arbeitsschritte in Angriff. Ohne die mindeste Hast zu zeigen, blieb Thiel noch eine gute Weile im Innern der Bude, trat endlich, Fahne und Patronentasche in der Hand, lang- 31 Hauptmann, Bahnwärter Thiel (Anm. 26), S. 48. Alexander Honold 174 sam ins Freie und bewegte sich trägen und schlürfenden Ganges über den schmalen Sandpfad, dem etwa zwanzig Schritt entfernten Bahnübergang zu. Seine Barrieren schloß und öffnete Thiel vor und nach jedem Zug gewissenhaft, obgleich der Weg nur selten von jemand passiert wurde. Er hatte seine Arbeit beendet und lehnte jetzt wartend an der schwarzweißen Sperrstange. 32 Warum, so könnte man fragen, braucht es an dieser Stelle den Bahnwärter und seine tagtägliche Anwesenheit eigentlich? Eine Gefahrenlage ist an dem kaum frequentierten Übergang kaum gegeben, mehrfach wird die Abgelegenheit seines Streckenpostens betont, welcher sich mitten in einem wenig genutzten Kiefernwald befindet. Doch auch ein selten begangener Überweg bedarf der jederzeitigen Sicherung und ordnungsgemäßen Wartung, um eine möglichst lückenlose Kontrolle und ebenso reibungslose Abwicklung des Fahrbetriebs zu gewährleisten. Das oberste Bahnprinzip ist die Kontinuität des friktionsarmen Fahrweges, jene bruch- und nahtlose, nirgends abreißende Verbindungslinie, als welche sich die Schienengleise präsentieren. Lückenlos soll auch die Kette derer sein, die längs der Bahn für die Sicherheit des Betriebsablaufs zu sorgen haben; die Eisenbahn ist schließlich eine Offizial-Einrichtung von herausragender Bedeutung. Ihrer Störanfälligkeit hinsichtlich räumlicher oder zeitlicher Unterbrechungen kann nur durch eine geschlossene amtliche Kette der kontinuierlichen Kompetenz- Abdeckung begegnet werden. Im Zeitmanagement der einander den Betrieb übergebenden Tag- und Nachtschichten an der Strecke ist dieses Prinzip der Lückenlosigkeit gleichsam auf die temporale Achse übertragen worden. Der endlose Präsenzdienst in repetitiver, rhythmischer Ordnung - dies, und eben nicht die heroische Kommandostellung im Führerstand und ihrer Abenteuer auf großer Fahrt, ist es, was die Bahn ihren beamteten Betriebsangestellten längs der Strecke verheißt. Für Bahnwärter Thiel ist die Erfüllung eines monotonen, spannungsarmen Pflichtenheftes genau das Richtige. Ein „jeder Handgriff“ seiner tagtäglichen Verrichtungen ist „seit Jahren geregelt“. 33 Doch bringen Schicksalsschläge und harte Lebensumstände das seelische Gleichgewicht des Bahnbediensteten zusehends ins Wanken. Auf die erste Ehe mit einer gutherzigen, aber kränklichen Frau folgt nach deren Tod, schon um des Sohnes Tobias willen, bald eine zweite Verheiratung Thiels. Die zweite Frau, Lene, stellt das Gegenteil der ersten dar, sie ist von unverwüstlicher Konstitution und hat eine „herrschsüchtige Gemütsart“, mit welcher sie den Mann durch ihre „brutale Leidenschaftlichkeit“ immer unheilvoller an sich zu fesseln weiß. 34 So bewegt sich der subalterne Bahnbedienstete in seiner männlichen Schwä- 32 Hauptmann, Bahnwärter Thiel (Anm. 26), S. 48. 33 Hauptmann, Bahnwärter Thiel (Anm. 26), S. 59. 34 Hauptmann, Bahnwärter Thiel (Anm. 26), S. 38. Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 175 che von der ihm anfänglich eingewurzelten Frömmigkeit mehr und mehr zum Durchbruch triebhaft gesteuerter Verhaltensweisen. Mit entschiedener Beschleunigung läuft der novellistische Handlungsgang gegen Ende auf eine dramatische Entladung des basalen Konflikts zu. Diese findet er im gewaltsamen Doppelschlag eines tödlichen Unfalls und mehrfachen Totschlags im Affekt, begangen von der bereits irrsinnig gewordenen Hauptfigur an der zweiten Ehefrau und dem mit ihr gezeugten Nachwuchs, nachdem Thiels Sohn aus erster Ehe wegen einer Unachtsamkeit der Stiefmutter von einem Schnellzug überfahren und tödlich verletzt worden war. Zur Schlüsselepisode gerät eine ungeplante Rückkehr Thiels von der Arbeit nach Hause, wo er das Kinderweinen im eigenen Hause miterleben muss, aber partout nicht wahrhaben will. Mit beiden Kindern begibt sich die Stiefmutter hernach - gleichsam im Gegenzug zu seinem Eindringen in die häusliche Sphäre - demonstrativ in die gefährliche Nähe des Bahndamms, um auf einem ihnen neu zugewiesenen Stückchen Ackerlandes Kartoffeln auszubringen. Hierbei kommt es zum handlungsentscheidenden, grässlichen Unfall. Thiel muss in Ausübung seines Berufs die Vorbeifahrt eines Zuges abfertigen, während just derselbe Schnellzug wenige hundert Meter weiter ein Kind überfährt, das sich auf den Bahngleisen befindet. Der schlesische Schnellzug war gemeldet, und Thiel mußte auf seinen Posten. Kaum stand er dienstfertig an der Barriere, so hörte er ihn auch schon heranbrausen. Der Zug wurde sichtbar - er kam näher - in unzählbaren, sich überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen Maschinenschlote. Da: ein - zwei - drei milchweiße Dampfstrahlen quollen kerzengerade empor, und gleich darauf brachte die Luft den Pfiff der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell, beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? 35 Die Perspektive des am Streckenrand wartenden, beobachtenden Postens ist diejenige eines nur eingeschränkt des Geschehens teilhaftig werdenden Augen- und Ohrenzeugen. Auf die Entfernung dieser stellvertretend wahrnehmenden Person vom bewegten Objekt sind die erzähltechnisch raffiniert eingebauten Zeitdifferenzen der optischen und akustischen Sinnesdaten berechnet, die zunächst von den drei aufsteigenden Dampfstrahlen der pfeifenden Lok, dann erst vom Klang der Pfiffe selber berichten. Wiederum mit merklicher Verzögerung zieht der kundige Betrachter aus beiden Sinnesdaten den interpretierenden Schluss, hier werde ein Bremsvorgang eingeleitet. Immer noch aber weiß der Beobachter nicht (im Gegensatz zum längst schon mehr ahnenden Leser), dass er Beobachter der ersten Phase eines Unfallhergangs geworden ist. 35 Hauptmann, Bahnwärter Thiel (Anm. 25), S. 58. Alexander Honold 176 Nach und nach setzt sich dem nach außen hin völlig paralysierten Beobachter die schreckliche Wahrheit des Geschehens zusammen: die in Jammer aufgelösten Beteuerungen seiner Frau, nicht schuld zu sein; der zerschmetterte, in den Gliedmaßen verdrehte Kinderleib; die Gesichter der Reisenden, die ratlos, irritiert, aus den Zugfenstern suchen, ob es denn wahr ist und sich mit eigenen Augen beobachten lässt, was sie als Gerücht über die Ursache des außerplanmäßigen, abrupten Stillstands auf freier Strecke gehört haben. Eine junge Frau schaut heraus, ein Handlungsreisender im Fez, ein junges Paar, anscheinend auf der Hochzeitsreise. Was geht’s ihn an? Er hat sich nie um den Inhalt dieser Polterkasten gekümmert; - sein Ohr füllt das Geheul Lenens. Vor seinen Augen schwimmt es durcheinander, gelbe Punkte, Glühwürmchen gleich, unzählig. Er schrickt zurück - er steht. Aus dem Tanze der Glühwürmchen tritt es hervor, blaß, schlaff, blutrünstig. Eine Stirn, braun und blau geschlagen, blaue Lippe, über die schwarzes Blut tröpfelt. Er ist es. 36 In diesen Passagen kommt der naturalistische „Sekundenstil“, also die Angleichung des Erzähltempos an kleinste Handlungsschritte und bruchstückhafte Wahrnehmungen, mustergültig zur Wirkung. In der Schilderung des Eisenbahnunglücks, bei dem der kleine Tobias auf den Schienen vom Schnellzug erfasst und zerschmettert wird, fokussiert der Erzählvorgang nicht auf das entsetzliche Geschehen selbst, sondern auf die subjektiv verzerrten, zunächst unvollständigen Beobachtungakte des von dem tödlichen Unfall am stärksten betroffenen Anverwandten, des leiblichen Vaters. Stockend, stoßweise, bruchstückhaft setzt sich diesem das Vorgegangene zu einem verständlichen Bild zusammen, obwohl, nein: gerade weil er aus nächster Nähe alles miterlebt hat. Ohr und Auge haften zu nahe an den Einzelheiten, um nicht dem Taumel isolierter und rasch wechselnder Eindrücke zu erliegen. Dann aber, als Thiel an dem Personenzug entlanghastet, um nach vorn zur Unfallstelle zu gelangen, wird klar, dass nicht erst seit gerade eben, mit dem nur durch unglückliche Umstände herbeigeführten Unglücksfall, ein tiefer Riss klafft zwischen ihm selbst, dem Bahnwärter, und der Welt jener Passagiere, die da unbekannt, flüchtig und folgenlos tagtäglich an ihm vorbeirauschen. Der „Polterkasten“ mit seinen fremden, zusammengewürfelten Fahrgästen zieht eine verächtliche Schmähung auf sich, in die Thiel die ganze, offenbar jahrelang aufgestaute Frustration des am Rande Stehenden hineinlegt und damit eine Geringschätzung jenes Fernreisebetriebs erken- 36 Hauptmann, Bahnwärter Thiel (Anm. 25), S. 59. Leeres Land mit Schienensträngen und Bahnhofsvorstehern 177 nen lässt, an dem er zeitlebens nur als untergeordneter Erfüllungsgehilfe partizipieren konnte. Die Erzählung Hauptmanns vereinigt in sich, wie es ihre zweiteilige Gattungsbezeichnung als „novellistische Studie“ bekundet, sowohl diagnostische wie dramatisierende Funktionselemente. Ausgebreitete Schilderungen der kargen Bahnwärter-Existenz verleihen dem Text die Anmutung einer sozialen Milieustudie; diese wird ausgefüllt mit detaillierten Beschreibungen der Arbeitswelt des Eisenbahnbediensteten und der ihn betreffenden Betriebsabläufe. Die Eisenbahn als Gesamteinrichtung und System kommt dabei nur insoweit in den Blick, als sie ereignishaft in die Handlung einzuwirken vermag oder die Handlung ihrerseits auf strukturelle Gegebenheiten des Bahnbetriebs Rücksicht nehmen muss, etwa auf den Umstand, dass der schnellstmögliche Weg zur Rettung des Schwerverletzten in Richtung Berlin unter Umständen damit beginnen kann, sich eines auch die kleinen Haltepunkte bedienenden Zugs in die Gegenrichtung zu bedienen, also auf Breslau zu, weil dort eine nähergelegene Möglichkeit besteht, auf den Schnellzug zu wechseln. 37 Dies ist systemisches Eisenbahnwissen, wie es sich aus der Koordination der Verteilung von Halte-Frequenzen und Fahrplanrhythmen ermitteln lässt. Ergänzt werden derartige Kenntnisse der Eisenbahn-Logistik durch das Erfahrungswissen des täglich mit den Zügen befassten Beobachters. Etwa die - physikalisch unzutreffende - Gesetzmäßigkeit, dass beim Nahen eines Zuges die gefühlte Geschwindigkeit des bewegten Objekts sich proportional zur Verringerung der Distanz exponentiell noch zu steigern scheint; richtig daran und für das eigene Verhalten durchaus beherzigenswert ist die Einsicht, dass man die Geschwindigkeit des Zuges und die daraus erwachsende Gefahr keineswegs unterschätzen sollte. Man muss die heranbrausende Fahrt des Zuges antizipieren, bevor sein Nahen tatsächlich zu sehen ist; ein alter Eisenbahner weiß dies, ein kleines, unaufmerksames Kind hingegen nicht. In dieser Zweischneidigkeit von abstrakter Eisenbahnlogistik und sinnlich nachvollziehbarem Erfahrungswissen ist kompositorisch die Stelle jenes Unfalls schon angelegt, auf den Hauptmanns Novelle unweigerlich, doch in der Art des Verlaufes dann durchaus überraschend, zusteuert. Der Text erfüllt damit die für Novellen spezifische Gattungsvorgabe einer „unerhörten Begebenheit“ auf zweifache Weise, denn das unerhört Neue erscheint in der Psychodramatik des Schicksalsschlages nur erzählerisch ummäntelt und liegt letztlich in der strukturellen Gewalt des Transportvehikels selbst. 37 „Die Männer beraten sich leise. Man muß, um auf dem schnellsten Wege nach Friedrichshagen zu kommen, nach der Station zurück, die nach der Richtung Breslau liegt, da der nächste Zug, ein beschleunigter Personenzug, auf der Friedrichshagen näher gelegenen nicht anhält“ (Hauptmann, Bahnwärter Thiel, Anm. 26, S. 60). Alexander Honold 178 Spannungsvolle Narration ist im Kern auf Sensation angewiesen, und die Eisenbahn verspricht solche außergewöhnlichen Ereignisse und Erlebnisse. Fast ordnungsgemäß ist ihr, um es paradox zu sagen, der Ausnahmezustand eingesenkt. Als charakteristisch für die Bahn ist festzuhalten, dass selbst noch die Szenarien möglicher Ausnahmevorfälle ganz stark an ihre alltägliche Funktionsweise und an die konnotativen Vorstellungen von Ordnung und Regelhaftigkeit geknüpft sind. Die Dynamik der Raumerschliessung, die im Wachstum und in der Verdichtung des Schienennetzes wie auch in der enormen Verkürzung der Reisewege sinnfällig wird, erweist sich in den skizzierten literarischen Episoden als ein höchst zweischneidiges Phänomen. Denn die ehedem stabile Hierarchie von Zentrum und Peripherie wird durch die operative Kontrolle und Rhythmisierung des Raumes in ein planes logistisches Gefüge verwandelt, bei dem die Außengrenzen des Systems nicht mehr mit den tradierten Vorstellungen entfernter Randlagen übereinstimmen, sondern sich jeweils links und rechts der bedienten Bahnungen überall befinden können (etwa dort, wo im Umland Berlins dicht am Bahndamm riskanter Weise Kartoffeln gepflanzt worden sind). Die Grenze eines durch die Eisenbahn kolonisierten Gebietes wird nicht mehr territorial markiert, sie wird jederzeit durch den Betrieb selber vollzogen, der prozessual nur mehr den einen Unterschied macht zwischen dem System Schiene und allem, was diesem nicht zugehört. Frithjof Benjamin Schenk „Asien gibt sich langsam, aber immer deutlicher zu erkennen“ Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 1 Die Transsibirische Eisenbahn zählte zu den grossen Attraktionen der Weltausstellung von Paris im Jahr 1900. Mit dem gewaltigen Infrastrukturprojekt präsentierte sich Russland der Weltöffentlichkeit als Land der Zukunft und der technischen Moderne. Besucher wurden auf dem Trocadero zu einer imaginären Reise durch Raum und Zeit eingeladen: In Waggons des Luxuszuges der Internationalen Schlafwagengesellschaft (CIWL), die seit 1898 Fahrten auf der Strecke ins sibirische Krasnojarsk anbot, konnte eine Reise von Moskau nach Peking in weniger als einer Stunde nachvollzogen werden. Während die „Passagiere“ im Restaurantwagen mit Tee und Piroggen bewirtet wurden, zog an den Fenstern auf einem mehrere hundert Meter langen Panoramagemälde die Landschaft Sibiriens vorbei. Am Ende der „Reise“ wurden die Gäste von Schaffnern in chinesischer Tracht im „Reich der Mitte“ begrüsst. 2 1 Teile dieses Aufsatzes basieren auf dem Text meiner Habilitationsschrift „Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter“, München (LMU) 2010 (Publikation in Vorbereitung). 2 Zur Selbstdarstellung Russlands auf den Weltausstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Mirjam Voerkelius, Russland und die Sowjetunion auf Weltausstellungen, in: Martin Aust (Hrsg.), Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851-1991, Frankfurt/ M. 2013, S. 207-224; zur Präsentation der Transsibirischen Eisenbahn in Paris 1900 vgl. u.a. Frithjof Benjamin Schenk, Russlands „stählernes Band“. Die Transsibirische Eisenbahn, in: Ost-West. Europäische Perspektiven 7(3)/ 2006, S. 219-226; Dietmar Neutatz, Der Traum von der Transsib: Visionen, Wünsche, Präsentationen und Wahrnehmungen 1857-1914, in: Sibirienbilder. Konzeptualisierungen des russischen Nord-Ostens in den Kulturwissenschaften, Irkutsk 2005, S. 179-203; Claudia Weiß, Representing the Empire: The Meaning of Siberia for Russian Imperial Identity, in: Nationalities Papers 35/ 2007, S. 439-456. Zur Weltausstellung als Leistungsschau der Moderne: Jakob Vogel, Mythos Moderne. Die Technik in der nationalen Selbstdarstellung in Europa, in: Detlef Altenburg (u.a.) (Hrsg.), Im Herzen Europas. Nationale Identitäten und Erinnerungskulturen, Köln 2008, S. 105-120. Frithjof Benjamin Schenk 180 Mit dem Bau des „Grossen Sibirischen Weges (Velikij Sibirskij Put’)“ 3 verfolgte das Zarenreich mehrere Ziele. Zum einen sollte mit dem Verkehrsprojekt der Ferne Osten strategisch näher an das russische Mutterland angebunden werden. Zum zweiten galt es, mit der neuen Bahnlinie ein groß angelegtes Projekt der bäuerlichen Kolonisierung Sibiriens zu unterstützen. Und schliesslich plante die Reichsregierung, die heimische Wirtschaft mit Hilfe dieses staatlichen Großauftrags endgültig ins industrielle Zeitalter zu katapultieren. 4 Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn lässt sich vor diesem Hintergrund als Teil jenes umfangreichen Prozesses der „Territorialisierung“ konzeptionalisieren, den der US-amerikanische Historiker Charles Maier mit Blick auf vergleichbare Entwicklungen in anderen Ländern als ein Signum des modernen Zeitalters (1860-1970) beschrieben hat. 5 Maiers These stützt sich dabei unter anderem auf die Annahme, dass moderne Infrastrukturnetze dazu beitrugen, vormals parzellierte Territorien in ökonomisch, politisch und gedanklich integrierte geographische Räume zu verwandeln. Mit Blick auf die Hoffnungen und Visionen, die Verkehrsplaner, Ingenieure und politische Eliten mit dem Bau moderner Infrastrukturnetze im 19. Jahrhundert verknüpften, ist Maiers Argumentation äußerst überzeugend. Auch in Russland träumten die Propheten der technischen Moderne davon, mit Hilfe eines ehernen Schienennetzes das gewaltige Vielvölkerreich zu einem „großen und unteilbaren Ganzen“ zusammenzuschmieden. 6 Die- 3 Während im Zarenreich um die Jahrhundertwende das transkontinentale Verkehrsprojekt meist als Velikij Sibirskij Put’ (Großer Sibirischer Weg) gepriesen wurde, setzte sich in Westeuropa bald die Bezeichnung „Transsibirische Eisenbahn“ (bzw. „transsiberian railroad“) - abgeleitet vom Namen des Luxuszuges der CIWL „le Transsibérien“ durch. 4 Geschichte von Bau und Planung des „Grossen Sibrischen Weges“ sind relativ gut erforscht. Vgl. exemplarisch: Jean de Cars, Jean-Paul Caracalla, Die Transsibirische Bahn. Geschichte der längsten Bahn der Welt, Zürich 1987 (urspr. Paris 1986); Steven Marks, Road to Power. The Trans-Siberian Railway and the Colonization of Asian Russia, 1850-1917, Ithaca 1991; Valentin F. Borzunov, Transsibirskaja magistral' v mirovoj politike velikich deržav, 2 Bde., Moskva 2001. 5 Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History, Alternative Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review 105/ 2000, S. 807-831, insbes. S. 819-821, bzw. ders., Transformations of Territoriality. 1600-2000, in: Gunilla Budde, u.a. (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen, Theorien, Göttingen 2006, S. 32-55, insbes. S. 45-47. 6 Vgl. dazu u.a. Frithjof Benjamin Schenk, Die Neuvermessung des Russländischen Reiches im Eisenbahnzeitalter, in: Jörn Happel / Christophe von Werdt (Hrsg.), Osteuropa kartiert - Mapping Eastern Europe, Berlin 2010, S. 13-35; ders., Mastering Imperial Space? The Ambivalent Impact of Railway Building in Tsarist Russia, in: Jörn Leonard / Ulrike von Hirschhausen (Hrsg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, 1, Göttingen 2011 (= 1), S. 60-77. Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 181 ses Zukunftsbild wurde nicht nur mantra-artig seit dem frühen Eisenbahnzeitalter in politischen Debatten beschworen. Auch Streckennetzkarten, Reiseführer oder Kursbücher für das ganze Russische Reich können als Versuche gelesen werden, diese Vision der territorial-räumlichen Integration des Landes an ein möglichst breites Publikum zu vermitteln. Es ist jedoch eine offene Frage, inwiefern es tatsächlich gelang, dieses Bild Russlands als konsolidierte räumliche Einheit in den Köpfen der eigenen Bevölkerung zu verankern. An diesem Punkt setzen die Überlegungen dieses Aufsatzes an. Anhand einer Auswahl von Sibirienberichten russischer Zugpassagiere aus dem frühen 20. Jahrhundert soll im Folgenden nach der Wahrnehmung räumlicher Einheit und bzw. der Perzeption räumlicher Grenzen zwischen Russland und Sibirien gefragt werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob die Eisenbahn (bzw. die Nutzung derselben) hinsichtlich der Wahrnehmung des Territoriums des Russischen Reiches auf den mental maps von Zugreisenden eher einen integrierenden oder desintegrierenden Effekt hatte. 7 *** Zum Zeitpunkt der Weltausstellung in Paris im Jahr 1900 stand das Projekt einer durchgehenden Schienenverbindung von Moskau nach Vladivostok bereits kurz vor dem Abschluss. Während Zugpassagiere in diesem Jahr auf ihrer Reise aus Zentralrussland an die Pazifikküste nur noch an zwei Punkten auf ein Dampfschiff umsteigen mussten, um den Baikalsee und einen Flussabschnitt im Fernen Osten zu passieren, verkündete die russische Regierung im Oktober 1901 voller Stolz das Ende der Bauarbeiten auf der Ostchinesischen Eisenbahn und damit die Vollendung des ehernen Schienenstrangs „vom Atlantik zum Pazifik“. 8 Obwohl die regierungstreuen Zeitungen der Hauptstadt, wie zum Beispiel die konservative Novoe vremja (Neue Zeit), den 21. Oktober 1901 als Tag von großer historischer Bedeutung priesen, nahm die breitere Öffentlichkeit des Landes von diesem Ereig- Zum Paradigma der staatlichen (auch territorialen) „Einheit (celost’) im Denken und Handeln der politischen Eliten des Russländischen Reiches seit dem frühen 18. Jahrhundert vgl. jüngst: Richard Wortman, The „Integrity“ (Tselost’) of the State in Imperial Russian Representation, in: Ab Imperio 2/ 2011, S. 20-45. 7 Zum Konzept der mental map vgl. u.a. Frithjof Benjamin Schenk, Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung. Literaturbericht, in: Geschichte und Gesellschaft 28/ 2002, S. 493-514. 8 Bis zum Abschluss der Bauarbeiten auf der Circum-Baikal-Bahn Anfang 1905, deren Fertigstellung während des russisch-japanischen Krieges forciert worden war, musste der Baikalsee noch mit einem Dampfschiff bzw. im Winter mit Schlitten überquert werden. Frithjof Benjamin Schenk 182 nis kaum Notiz. 9 Während patriotische Journalisten jubelten, dass Russland nun im Fernen Osten „mit festem Fuß“ auf asiatischem Boden stehe und dass das Reich jetzt als einzige Großmacht über eine durchgehende Schienenverbindung in diese strategisch so wichtige Weltregion verfüge, sahen viele russische Beobachter die Vollendung des „Großen Sibirischen Weges“ mit Skepsis und Sorge. So beklagte der Journalist der Novoe vremja am 29. Oktober 1901 die „Zurückhaltung“, mit der die russische Öffentlichkeit die Nachricht von der „Eröffnung dieser von uns gebauten Weltverkehrsstraße“ aufgenommen habe. 10 Der Autor konstatierte, dass der Ferne Osten, der „so weit von uns entfernt ist“, die Menschen in den Hauptstädten nicht interessiere und dass die Diskussion über die Sibirische Bahn von der Frage dominiert werde, wie viel das Vorhaben gekostet habe und wie viel Geld bei den Bauarbeiten veruntreut worden sei. 11 Schon im Mai 1901, als in Russland an den zehnten Jahrestag der Grundsteinlegung auf dem ersten Teilstück der Transkontinentalbahn erinnert wurde, war die Diskrepanz zwischen den machtpolitischen Phantasien, die die zarische Regierung mit diesem Infrastrukturprojekt verband, und der Zurückhaltung, mit der die russische Öffentlichkeit diesem Vorhaben begegnete, deutlich geworden. In seiner Analyse von zwanzig russischen Zeitungen, die über das Jubliäum des ersten Spatenstichs von Carevič Nikolaj Aleksandrovič (dem späteren Kaiser Nikolaus II.) am 19. Mai 1891 in Vladivostok berichteten, kam D. Destrem 1902 zu dem Schluss, dass die russische „Presse und Öffentlichkeit“ mit großer Gleichgültigkeit auf den Beginn und Fortgang dieses „wahrhaft nationalen Projekts“ geblickt habe. 12 Diese Diagnose, so Destrem, treffe nicht für die offiziellen und regierungsnahen Zeitungen des Reiches zu. Diese hätten zum Beispiel das Tempo, mit dem Russland die längste Schienenverbindung der Welt errichtete, hinreichend gewürdigt. Zudem habe man hier lesen können, dass der Bau der Transkontinentalbahn schon vor deren Fertigstellung zu einer deutlichen Belebung des Handels zwischen „Russland“ und seinen östlichen Randprovinzen (okraina) beigetragen habe und dass die russische Bevölkerung in einigen Regionen des Fernen Ostens dank des Zuzugs bäuerlicher Kolonisten seit 1891 um bis zu 240% gewachsen sei. 13 Die Birževyja vedomosti (Börsennach- 9 Na poroge novago mira, in: Novoe vremja, Nr. 9215, 29.10.1901, S. 2. Vgl. auch Glückwunsch-Telegramm von Finanzminister Vitte an Nikolaus II., zit. bei Platon Nikolaevič Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem rel’sovogo puti, Sankt Peterburg 1902, S. 16f. 10 Novoe vremja, 29.10.1901, S. 2. 11 Novoe vremja, 29.10.1901, S. 2. 12 D. Destrem, Obzor otzyvov pečati po povodu desjatiletija Velikago Sibirskago rel’sovago puti, in: Železnodorožnoe delo 21/ 1902, Nr. 2-3, 5-6, 7, S. 27-29, 64-67, 79-80, hier S. 27. 13 Destrem, Obzor (Anm. 12), S. 27f. Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 183 richten), so Destrem, hätten den Bau der Sibirischen Bahn beispielsweise als einen „Meilenstein auf dem Weg einer russischen Weltpolitik“ gewürdigt. Der Schienenstrang, so die Zeitung, würde nicht nur „Russland“ mit „Sibirien“, sondern zugleich Europa mit dem Pazifik verbinden und so den „Eisenbahngürtel um den Erdball“ schließen. Da Russland das Bauvorhaben aus eigener Kraft gestemmt habe - eine Anspielung darauf, dass vorwiegend einheimische Ingenieure und russisches Baumaterial zum Einsatz kamen - könne man das Projekt als „nationale Leistung“ feiern und darauf setzen, dass es das „internationale Prestige Russlands auf eine bislang ungekannte Höhe heben [werde].“ 14 Ungeachtet dieser bisweilen hymnischen Berichterstattung in der offiziellen Presse fiel das Fazit der übrigen Presseanalyse Destrems relativ nüchtern aus. Im Unterschied zu den regierungsnahen Organen habe sich die breitere russische Öffentlichkeit im Mai 1901 kaum für das Jubiläum der Grundsteinlegung dieses „nationalen“ Infrastrukturprojekts im Jahr 1891 interessiert. Destrem schloss sich in diesem Punkt der Diagnose sibirischer Journalisten an, die sich bitter über das fehlende Interesse der Öffentlichkeit an der verkehrstechnischen Erschließung der östlichen Reichshälfte beklagt hatten. Wie könne es sein, so heißt es zum Beispiel im Sibirskij vestnik (Sibirischer Bote) vom 5. Juni 1901, dass man den zehnten Jahrestag der Grundsteinlegung der Sibirischen Bahn nirgendwo in Russland gebührend gefeiert habe? 15 Warum, so der Journalist, nähmen die meisten russischen Zeitungen nicht zur Kenntnis, dass mit dem Bau der Transkontinentalbahn eine neue Ära der Geschichte Sibiriens angebrochen sei, was sich unter anderem an der Zahl von einer Million bäuerlicher Kolonisten ablesen lasse, die seit dem Baubeginn aus ihrer „Heimat“ (rodina) in die Randregion (okraina) gekommen seien. Zahlreiche Autoren interpretierten die gleichgültige Haltung der Öffentlichkeit an der Erschließung Sibiriens als Zeichen dafür, dass die mentale Aneignung der östlichen Reichshälfte bei der Gesellschaft des Mutterlandes offenbar noch nicht abgeschlossen sei. 16 Sowohl in der Zeitung Novoe vremja 14 Desjatiletie velikago načinanija, in: Birževyja Vedomosti [Ende Mai 1901], zit. nach: Destrem, Obzor (Anm. 12), S. 28. 15 Vgl. Destrem, Obzor (Anm. 12), S. 28. 16 Zur Ambivalenz und zum Wandel des Sibirienbildes in russischen Raumdiskursen seit dem 16. Jahrhundert vgl. exemplarisch: Galya Diment / Yuri Slezkine (Hrsg.), Between Heaven and Hell. The Myth of Siberia in Russian Culture, New York 1993; Susi Frank, Sibirien: Peripherie und Anderes der russischen Kultur, in: Aage Hansen- Löve (Hrsg.), Mein Russland, München 1997 (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 44), S. 357-383; dies., Reisen nach Sibirien. Zwischen Heterotopie und Topographie, in: KEA. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 12/ 1999, S. 113-136; Mark Bassin, Imperial Visions. Nationalist Imagination and Geographical Expansion Frithjof Benjamin Schenk 184 als auch in den Moskovskie vedomosti (Moskauer Nachrichten) wurde zum Beipiel die Aufgabe, den Fernen Osten (gedanklich und praktisch) in den Reichsverband zu integrieren, mit der Integration der Ostseeprovinzen unter Peter dem Großen bzw. der Krim unter Katharina II. verglichen. So, wie man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr vorstellen könne, dass Estland, Livland, Kurland oder Taurien früher außerhalb der Reichsgrenzen lagen, so werde die Fertigstellung der Sibirischen Bahn dazu beitragen, dass in naher Zukunft auch der Ferne Osten von der russischen Bevölkerung als ein fester Bestandteil des Reichsterritoriums angesehen werde. 17 Implizit hoffte man dabei offenbar, dass auch der künftige Personenverkehr auf dieser Strecke einen Beitrag zur gedanklichen Vereinigung von „Russland“ und „Sibirien“ auf den kognitiven Karten der Bewohner des Zarenreiches leisten werde. *** Ungeachtet dessen, dass sich nach der Präsentation der Großen Sibirischen Eisenbahn auf der Weltausstellung von Paris viele westliche Ausländer auf die Reise nach Russland machten, um die neue „Weltverkehrsader“ persönlich zu bestaunen, und dass ab dem späten 19. Jahrhundert immer mehr bäuerliche Kolonisten aus den west- und zentralrussischen Gebieten die Transportdienste der Eisenbahn für ihre Fahrten in ihre neue Heimat in Sibirien und im Fernen Osten nutzten, übte die neue Schienenverbindung an den Pazifik auf russische „Touristen“ offenbar keine vergleichbare Anziehungskraft aus. 18 Dass sich nur wenige russische Passagiere in den Zügen der Sibirischen Bahn auf die Reise machten, um die östliche Hälfte des Zarenreiches persönlich zu erkunden und im Anschluss die eigenen Eindrücke in einem Reisebericht zu schildern, hat mehrere Gründe. Zum einen war eine Reise aus Zentralrussland nach Sibirien für die meisten Untertanen des Zaren eine zeitintensive und (selbst in der dritten Klasse) eine (zu) teure Un- in the Russian Far East, 1840-1865, Cambridge 1999; Weiß, Representing the Empire (Anm. 2), dies., Wie Sibirien „unser“ wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007. 17 Novoe vremja, 29.10.1901, S. 2; Moskovskie vedomosti, 19.5.1901, vgl. Destrem, Obzor (Anm. 12), S. 27. 18 Zur Wahrnehmung der Transsibirischen Eisenbahn in westlichen Reiseberichten vgl. u.a. die Anthologien: Deborah Manley (Hrsg.), The Trans-Siberian Railway: A Traveller's Anthology, London 1988; Hans Engberding / Bodo Thöns (Hrsg.), Transsib- Lesebuch, Berlin 2002. Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 185 ternehmung. 19 Zum zweiten, das ließ sich bereits an der Presseberichterstattung des Jahres 1901 erkennen, genoss Sibirien bei vielen Menschen in den russischen Kernländern noch Anfang des 20. Jahrhunderts keinen besonders guten Ruf. Viele Menschen betrachteten Sibirien nach wie vor als von „Russland“ abgetrennte geografische Großregion und nahmen das Land östlich des Ural primär als vom „Mutterland“ getrennte „Kolonie“, als „Reich der Kälte“ oder als Ort der Verbannung und der Arbeitslager für Schwerverbrecher wahr. 20 Zwar nahm die Zahl der russischen „Reisenden“, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ohne zwingenden Grund den Ural in östlicher Richtung überquerten, deutlich zu. 21 Im Vergleich zu anderen Randgebieten im Westen und Süden des Reiches blieb die östliche Peripherie jedoch auch nach 1901 ein relativ exotisches „Reiseland“. Schließlich war auch die geografische Lage Sibiriens dafür verantwortlich, warum sich nur wenige russische Reisende hierher verirrten. Während die westliche Peripherie gleichsam „auf dem Weg“ aus Zentralrussland nach Mitteleuropa lag und der Kaukasus russische Touristen mit seinen Kurbädern im Norden sowie seinen Berglandschaften und warmen Provinzen im Süden lockte, lag Sibirien fernab von traditionellen Reiserouten und konnte auf Erholungssuchende keinen mit Westeuropa und den südlichen Provinzen vergleichbaren Reiz ausüben. Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, dass zahlreiche Berichte über Fahrten mit der Sibirischen Eisenbahn, die Anfang des 20. Jahrhunderts in russischen Publikationen erschienen und die die Quellengrundlage für die folgende Betrachtung bilden, aus der Feder von Auto- 19 Für eine zehntägige Fahrt von Moskau nach Irkutsk musste z.B. ein Passagier im Sommer 1902 in der ersten Klasse 71,00, in der zweiten 42,60 und in der dritten Klasse 28,40 Rubel bezahlen. Im Expresszug (skoryj poezd), der knapp acht Tage benötigte, kostete ein Ticket erster Klasse 104 Rubel und ein Fahrschein zweiter Klasse 63 Rubel. Vgl. Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem (Anm. 8), S. 94, 97. 20 Zur Geschichte der Verbannungspraxis nach Sibirien vgl. Markus Ackeret, In der Welt der Katorga. Die Zwangsarbeitsstrafe für politische Delinquenten im ausgehenden Zarenreich (Ostsibirien und Sachalin), München 2007, S. 35-44. Das „Gesetz vom 12. Juni 1900“, das die Praxis der gerichtlichen und administrativen Verbannung für allgemeine Straftatbestände stark einschränkte, wurde von manchen Zeitgenossen als Indiz für die Geburt des „neuen Sibiriens (novyj Sibir’)“ gefeiert. Schwerverbrecher und „politische“ Delinquenten konnten jedoch auch nach 1900 zur „Ansetzung“ bzw. „Ansiedlung (ssylka na poselenie/ vodvorenie)“ oder zur Zwangsarbeit (katorga) nach Sibirien verbannt werden. Vgl. ebd., S. 37. 21 Frank betont, dass die meisten Reiseberichte über Sibirien aus russischer Feder von Menschen stammten, die in die östliche Reichshälfte verbannt wurden. Die ersten russischen „Reiseberichte“ (im engeren Sinne) über Sibirien stammen aus dem späten 19. Jahrhundert. Vgl. Frank, Reisen nach Sibirien (Anm. 16), S. 119. - Zur Entwicklung des Personenverkehrs nach Sibirien zwischen 1891 und 1901 im Allgemeinen: Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem (Anm. 9), S. 92-108. Frithjof Benjamin Schenk 186 ren stammen, die aus beruflichen Gründen in der östlichen Reichshälfte unterwegs waren. Unter diesen schreibenden Passagieren waren hohe Militärs ebenso verteten, wie Wissenschaftler, Ärzte oder Journalisten. 22 In vielen Punkten erinnern die räumlichen Wahrnehmungsmuster der Passagiere, die auf der Sibirischen Bahn unterwegs waren, an jene, die auch Schilderungen von Fahrten durch andere periphere Regionen des Reiches prägten. 23 Eine wichtige Orientierungsfunktion in den Weiten Sibiriens hatten beispielsweise die monumentalen Eisenbahnbrücken. So nimmt die Schilderung der Passage über die „Alexanderbrücke“ - eine Eisenkonstruktion, die seit 1880 bei Syzran’ die Wolga überspannte - einen prominenten Platz in vielen der hier betrachteten Berichten ein. Häufig wird dieser Moment als eine Art rite de passage beschrieben, der den Reisenden auf den Grenzübertritt aus „Russland“ nach „Sibirien“ vorbereitete und bei dem der Passagier mit Blick auf das „Mütterchen“ bzw. die „Schöne (krasavica) Wolga“ Abschied vom „Mütterchen Russland“ nahm, bzw. der Passagier auf der Reise in umgekehrter Richtung von „der Mutter der russischen Flüsse“ in der Heimat empfangen wurde. 24 So wie Passagiere, die beispielsweise die westlichen Regionen des Reiches mit dem Zug durchquerten, machten auch die Reisenden auf der Sibirischen Bahn die Überquerung kultureller Grenzen innerhalb des eigenen Landes an der Wahrnehmung von Menschen mit einer exotisch erscheinen Physiognomie oder Tracht auf den Bahnhöfen der Strecke fest. Auch das Weichbild von Städten und Siedlungen entlang der Bahnlinie, aus dem sich zum Beispiel in muslimisch geprägten Regionen 22 Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf folgende Quellen: Metrofan Il’ič Grekov, Na Dal’nyj Vostok. Pochodnye pis’ma, Sankt Peterburg 1901; Aleksandr Vasil’evič Vereščagin, Po Mančžurii (1900-1901). Vospominanija i rasskazy, Sankt Peterburg 1903, insbes. S. 1-7; Maksim Leonidovič Leonov, Po Sibiri ot Moskvy do Sretenska. Putevye zametki, Moskva 1903; Ėduard Romanovič Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj doroge, in: Vestnik Evropy 38/ 1903, Bd. 1, S. 107-137, Bd. 2, S. 486-512; S. P. Alisov, Kraj buduščego: Iz vpečatlenij poezdki v Sibir’, in: Vestnik Znanija, 1903, N. 12, S. 9-34; 1904, N. 1, S. 96-116; Spolitak, Ot Charbina do Cholma; V. Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego vo Vladivostok, in: Michajlovec, 1910, Nr. 1, S. 212-219; Adol’f Kljuge, Ot Eniseja v Moskvu, in: Sibirskij nabljudatel’ 5/ 1903, Nr. 1, S. 20-26, Nr. 2, S. 33-42, Nr. 3, S. 1-11, Nr. 4, S. 11-19, Nr. 5, S. 13-24, Nr. 6, S. 81-91, H. Z. Kovalevskij, Po Sibiri. Putevye vpečatlenija (ijun’-sent. 1908g.), Char’kov 1909. 23 Zu einer Analyse russischer Reiseberichte über Fahrten durch die westlichen Randprovinzen des Russischen Reiches vgl. Frithjof Benjamin Schenk, „Hier eröffnete sich vor unseren Augen ein neues, schillerndes, von uns noch nirgendwo gesehenes Bild...“ Die gedankliche Neuvermessung des Zarenreiches im Eisenbahnzeitalter, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung (im Erscheinen). 24 Vgl. z.B. Grekov, Na Dal’nyj Vostok (Anm. 22), S. 6; Leonov, Po Sibiri (Anm. 22), S. 7; Spolitak, Ot Charbina do Cholma (Anm. 22), Nr. 147, S. 679. Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 187 Minarette abhoben, wurde von den Augen der Reisenden nach Erkennungszeichen des „Eigenen“ und des „Fremden“ abgesucht. 25 Auch in Sibirien führten Reisende bei ihren Fahrten häufig Reiseführer und geografische Handbücher mit sich, denen sie Informationen über die durchquerten Gegenden entnahmen. 26 Nicht zuletzt an der Art und Weise, wie russische Reisende das Äußere sowie Kultur und Wirtschaftsweise von Burjaten, Kalmücken oder anderer „Typen“ bzw. „Rassen“ Sibiriens beschrieben, lässt sich der Einfluss entsprechender Werke der Sekundärliteratur gut festmachen. 27 Wie in anderen Reiseberichten, überlagern sich somit auch in den hier betrachteten Zeugnissen die Schilderungen persönlicher Erlebnisse mit Informationen und Eindrücken, die die Autoren (vor oder nach ihrer Fahrt) anderen (Reise-) Texten entnommen hatten. Eine Ausnahme stellt in dieser Beziehung ein Reisebericht dar, der 1910 in der von Studenten der Artillerie-Hochschule in St. Petersburg (Michajlovskoe artillerijskoe učilišče) herausgegebenen Zeitschrift Michajlovec erschien. 28 Anders als die meisten Reiseautoren, machte sich der Verfasser dieses Textes nach seiner Rückkehr nicht die Mühe, seine eigenen Erlebnisse mit Informationen aus anderen Quellen zu einem ausführlichen Reisebericht zu kompilieren. Sein Text mit dem bescheidenen Titel Dies und das über meine Reise nach Vladivostok gibt, nach Angaben des Autors, ausschließlich jene Eindrücke wider, die er während seiner Reise in seinem Tagebuch festgehalten hat. 29 Da in dem Text ergänzende Informationen aus „zweiter Hand“ (über Bevölkerungszahlen, Wirtschaftsstruktur oder Geschichte der durchfahrenen Regionen) gänzlich fehlen, lässt sich diese Quelle besonders gut nach individuellen Wahrnehmungsmustern des Autors/ Reisenden befragen. Warum sich V. Z...skij, der im September 1909 in einem Waggon zweiter Klasse von St. Petersburg über Čeljabinsk nach Vladivostik reiste, d.h. ob er in dienstlichem Auftrag oder aus persönlicher 25 Moscheen als räumliche „Marker“ eines fremden Kulturraums werden z.B. erwähnt in: Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22), S. 214; Leonov, Po Sibiri (Anm. 22), S. 10. 26 Explizit beschreibt z.B. Grekov, Na Dal’nyj Vostok (Anm. 22), S. 7f. den Gebrauch des Reiseführers für die Große Sibirische Bahn und der entsprechenden Streckenkarte auf seiner Fahrt in den Fernen Osten: Ot Volgi do Velikago okeana. Putevoditel’ po Velikoj Sibirskoj železnoj doroge s opisaniem Šilko-Amurskago vodnago puti i Mančžurii, Hrsg. vom Ministerstvo Putej Soobščenija, zusammengestellt von A. I. Dmitriev-Mamonov, Sankt Peterburg 1900. 27 Vgl. z.B. ethnographische „Studie“ zur Kultur der Burjaten in: Alisov, Kraj buduščago (Anm. 21), S. 101-103, bzw. die Ausführungen über diese „Söhne der Steppe“ und deren Vergleich mit Europäern und Menschen „mongolischer Rasse (mongol’skaja rasa)“ bei Spolitak, Ot Charbina do Cholma (Anm. 22), Nr. 136, S. 509. 28 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22). 29 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22), S. 212. Frithjof Benjamin Schenk 188 Neugier unterwegs war, lässt sich dem Bericht nicht entnehmen. Insgesamt schien der Autor, offenbar ein junger russischer Offizier, seine Reise jedoch nicht bereut zu haben. Eine solche Fahrt sei „weniger beschwerlich, als erwartet“ und „wirklich ganz interessant“. Sie vermittle „viele neue Eindrücke und Impressionen“, und solche, so sein Fazit, „können [bekanntlich] nie schaden.“ 30 Diese nüchterne Bemerkung am Ende des Textes deutet darauf hin, dass der Reisende der Sibirischen Bahn offenbar nicht jene große symbolische Bedeutung zumaß, die ihr Anfang des 20. Jahrhunderts von offizieller Seite zugeschrieben wurde. Zwar betrachtete auch dieser Passagier Sibirien als eine von „Russland“ getrennte räumliche Einheit. In zahlreichen Punkten deuten seine Reiseeindrücke jedoch darauf hin, dass er die Grenze zwischen den beiden Reichsteilen als nicht (mehr) so bedeutsam wahrnahm, wie noch viele russische Reisende im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zu dieser „Vereinigung“ der beiden räumlichen Einheiten auf seinen mental maps trug offensichtlich auch die Erfahrung der eigenen Zugreise durch Sibirien bei. Wie in nahezu allen Reiseberichten von russischen (und westlichen) Passagieren, die mit der Eisenbahn durch Sibirien fuhren, wird auch in diesem Text die Überquerung des Ural als Moment der Überschreitung der Grenze zwischen dem (europäischen) „Russland“ und dem (asiatischen) „Sibirien“ definiert. 31 Auch die Erwähnung der Pyramide, die 1892 im Zuge der Bauarbeiten an der Sibirischen Bahn in der Nähe der Station Uržumka aufgestellt wurde und auf deren westlicher Seite das Wort „Europa“ und auf deren östlicher Seite „Asien“ eingemeißelt war, fehlt in diesem Reisebericht nicht. 32 Dass sich der Autor jenseits des Ural in einer von Russland kulturell 30 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22), S. 219. 31 Zur Entstehung der imaginierten Grenze zwischen „Europa“ und „Asien“ im 18. Jahrhundert: Mark Bassin, Russia between Europe and Asia: The Ideological Construction of Geographical Space, in: Slavic Review 50(1)/ 1991, S. 1-17. - Zur Wahrnehmung des Ural als Grenze Europas in westlichen Reiseberichten der Zeit vgl. exemplarisch: Henry Lansdell, Through Siberia, London 5 1883, S. 18; Harry De Windt, Siberia as it is, London 1892, S. 114; Robert L. Jefferson, Roughing it in Siberia. With Some Account of the Trans-Siberian Railway, and the Gold-Mining Industry of Asiatic Russia, London 1897, S. 1; Michael Myers Shoemaker, The Great Siberian Railway. From St. Petersburg to Pekin, New York, London 1903, S. 33; Eugen Zabel, Transsibirien. Mit der Bahn durch Rußland und China, 1903, [Reprint: Hrsg. von Bodo Thöns], Darmstadt 2003, S. 84. 32 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22), S. 214. Zur Erwähnung dieser Landmarke in anderen Reiseberichten vgl. z.B. Spolitak, Ot Charbina do Cholma (Anm. 22), Nr. 145, S. 644; Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge (Anm. 22), S. 110; Leonov, Po Sibiri (Anm. 22), S. 16. - Neben diesem Denkmal existierte bereits seit den 1830er Jahren am Scheitelpunkt der Straße („Trakt“) durch das Uralgebirge ein Monument, das bei nach Sibirien verbannten Untertanen des Zaren als „Säule der Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 189 verschiedenen Region bewegte, machte er nicht zuletzt an der Beobachtung der Menschen an den Bahnhöfen fest, die sein Zug passierte. Ein Fremdheitsgefühl vermittelten ihm dabei sowohl die Repräsentanten ethnischer Minderheiten als auch die Vielzahl russischer Kolonisten an den sibirischen Stationen. Unfähig einen „Kirgisen“ von einem „Baschkiren“ zu unterscheiden, fühlte sich der Reisende aus St. Petersburg von dem „wilden Äußeren“ der autochtonen Bevölkerung ebenso abgestoßen wie von den „wie auf Bestellung dummen [russischen] Bauersfrauen“ auf dem Bahnhof von Čeljabinsk und den „tierähnlichen, hungrigen und verwahrlosten Kolonisten“. 33 Dieses als „fremd“ empfundene soziale Tableau vermittelte dem Reisenden auf seinem Weg gen Osten den Eindruck, dass „Asien sich langsam, aber immer deutlicher zu erkennen gibt“. 34 Endgültig in „Asien“ angekommen fühlte sich der russische Offizier, als in der Nähe der russisch-mandschurischen Grenze immer mehr Chinesen die Bahnsteige bevölkerten. Entsprechend gängiger rassistischer Klischees seiner Zeit verweist der Autor dabei ebenso auf das verwahrloste Äußere dieser Menschen wie auf deren unangenehmen Geruch: „Es tauchten immer mehr Chinesen auf, die auf mich sogleich einen äußerst negativen Eindruck machten: Visagen mit breiten Backenknochen, Gestalten, die Affen ähnlicher waren als Menschen, Dreck, Zöpfe und ein eigenartiger, sehr spezifischer Geruch.“ 35 Schließlich machte der reisende Z...skoj sein Gefühl, mit der Überquerung des Ural einen „fremden“ Raum betreten zu haben, auch an spezifischen Landschaftsbildern fest, die er bei seiner Fahrt gen Osten durch sein Waggonfenster wahrnahm. Insbesondere das Bild der „grenzenlosen asiatischen Steppen“ war dabei dem Katalog althergebrachter Raumstereotype entlehnt und weckte beim Leser die Erinnerung an die bekannte Dichotomie von (russischem) Wald und (asiatischer) Steppe, die seit dem Mittelalter identitätsstiftende Raumdiskurse in Russland prägte. 36 Neben diesen Zeichen, die auf eine Wahrnehmung Sibiriens als von Russland verschiedener Kulturraum hindeuten, finden sich in dem Reisebe- Tränen“ bekannt war. Vgl. Jaroslav Michaljak, Proščanie u „mogil’nogo kamnja nadeždy“. Ural’skaja granica v vospominanijach poljakov, soslannych v Sibir’, in: Sibir’ v istorii i kul’ture pol’skogo naroda, Moskva 2002, S. 108-113. 33 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22), S. 214f. 34 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22), S. 214. 35 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22), S. 217f. 36 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22), S. 216. - Das Bild der grenzenlosen asiatischen Steppe korrespondierte dabei in vielen Berichten mit dem Raumstereotyp der unermesslichen territorialen Größe Sibiriens. Vgl. z.B. Kovalevskij, Po Sibiri (Anm. 22), S. 4. Zur Eroberung und zum Stellenwert der „Steppe“ in der russischen Kultur vgl. insbesondere: Willard Sunderland, Taming the Wild Field. Colonization and Empire on the Russian Steppe, Ithaca, London 2004. Frithjof Benjamin Schenk 190 richt jedoch auch Anhaltspunkte, an denen sich ablesen lässt, dass der Autor auch jenseits des Ural das Gefühl hatte, sich innerhalb der Grenzen eines integrierten politischen und kulturellen Raumes zu bewegen. Heimatliche Gefühle vermittelten ihm dabei äußerst profane Dinge, wie zum Beipiel die Tatsache, dass an vielen Stationen der über knapp 6.000 Werst langen Bahnstrecke zwischen Čeljabinsk und Vladivostok Bauersfrauen auf den Bahnsteigen Lebensmittel und kochendes Wasser zur Zubereitung von Tee zum Verkauf anboten. 37 Auch das dreimalige Läuten der Stationsglocke, das an allen Bahnhöfen des Zarenreiches die Abfahrt des Zuges signalisierte, machte dem Autor deutlich, dass er sich in einem einheitlich strukturierten Verkehrs- und Machtraum befand. 38 Erwähnenswert fand er auch, dass an den meisten Bahnhofsbuffets die Reisenden ein ähnliches Angebot an Speisen und Getränken erwartete und dass man fast überall russische Nationalgerichte wie die Krautsuppe šči und die Rotebeetesuppe boršč bestellen konnte. 39 Schließlich notierte der Autor in seinem Reisetagebuch, an welchen Bahnhöfen es welche regionalen und überregionalen Zeitungen zu kaufen gab. 40 Die Tatsache, dass er sich fernab von den Hauptstädten in der eigenen Sprache über das politische Geschehen im In- und Ausland informieren konnte, machte ihm deutlich, dass er sich auch mehrere tausend Werst von Petersburg entfernt innerhalb der Grenzen eines politischen Kommunikationsraumes bewegte. 41 Von ähnlich ambivalenten Raumwahrnehmungen, die zwischen der Erfahrung des „Bekannten“ und dem Gefühl der „Fremde“ changierten, legen auch andere russische Reiseberichte über Sibirien aus dem frühen 20. Jahrhundert Zeugnis ab. Vertraute Gefühle vermittelten den Passagieren zum Beispiel auch die einheitlich gestalteten Bahnhofsgebäude entlang des trans- 37 Ähnliche Beobachtungen findet sich auch bei Grekov, Na Dal’nyj Vostok (Anm. 22), S. 11; Kljuge, Ot r. Eniseja v Moskvu (Anm. 22), Nr. 2, S. 20; Leonov, Po Sibiri (Anm. 22), S. 12; Vereščagin, Po Mančžurii (Anm. 22), S. 3 und Aleksandr Fedorovič Koppe, Pis’ma s Dal’nego Vostoka, in: Oficerskaja žizn’, 1910, Nr. 221, S. 1809-1810; Nr. 222/ 223, S. 1832-1834, hier S. 1809. 38 Dass auch in Charbin, wie in Russland, die Stationsglocke bei der Abfahrt eines Zuges dreimal geläutet wurde, fand z.B. Spolitak erwähnenswert. Ders. Ot Charbina do Cholma (Anm. 22), S. 445. 39 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm. 22),. Ähnliche Beobachtungen bei: Koppe, Pis’ma s Dal’nego Vostoka (Anm. 37), S. 1809. 40 Zum Zeitungsangebot an Bahnhöfen entlang der Sibirischen Bahn vgl. auch: Kljuge, Ot r. Eniseja v Moskvu (Anm. 22), Nr. 3, S. 3, Nr. 4, S. 11, Nr. 5, S. 13, Nr. 5, S. 15; Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge (Anm. 22), S. 494. Vereščagin weist in seinem Reisebericht Po Mančžurii, (Anm. 22), S. 3 darauf hin, dass es 1900 immer schwieriger wurde, eine aktuelle Zeitung auf der Sibirischen Bahn zu erhalten, je weiter man sich vom europäischen Russland entfernte. 41 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego (Anm.22), S. 215-219. Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 191 kontinentalen Schienenstrangs. 42 Die Tatsache, dass auf der gesamten Strecke alle Bahnhofsuhren nach der Uhrzeit des Petersburger Observatoriums gestellt waren, wird dagegen interessanterweise in keinem einzigen Reisebericht erwähnt. Von der Tatsache, dass man bereits im Jahr 1900 mit der Eisenbahn über 6.000 Werst von Moskau nach Irkutsk reisen konnte, ohne ein einziges Mal umsteigen zu müssen, zeigten sich indes zahlreiche Passagiere beeindruckt. 43 Wie eng „Sibirien“ mit „Russland“ verbunden war, machten gelehrte Reisende auch an entsprechenden Wirtschaftsdaten, wie zum Beispiel der Getreidemenge fest, die von einem bestimmten Bahnhof in Sibirien jährlich ins russische Kernland exportiert wurden. 44 Um die Verortung der östlichen Reichshälfte auf den kognitiven Karten globaler Wirtschafts- und Verkehrsströme waren indes nur wenige Reisende bemüht. 45 Hier zeigt sich, dass das Bild von der Sibirischen Bahn als Weltverkehrsader der Zukunft, das den Besuchern der Weltausstellung von Paris vermittelt werden sollte, vor allem auf ein internationales Publikum abzielte und auf das Sibirienbild gewöhnlicher russischer Reisender offenbar keinen nennenswerten Einfluss hatte. Trotz der neuen Möglichkeiten, Sibirien im Zeitalter der Dampfmaschine vergleichsweise bequem zu bereisen und die östliche Reichshälfte als integralen Bestandteil eines einheitlichen Verkehrsraumes zu erfahren, blieb die Großregion jenseits des Ural für die meisten russischen Reisenden ein fremdes Land. Dies hatte zum einen damit zu tun, dass den meisten Menschen im russischen Mutterland Sibirien auch noch zu Beginn dess 20. Jahrhunderts vor allem als Ort der Verbannung von Schwerverbrechern und politisch missliebiger Personen ein Begriff war. Reiseberichte, in denen auch über den Transport von Sträflingen in Waggons der Sibirischen Eisenbahn berichtet wurde, waren nicht dazu angetan, an diesem Bild der östlichen Reichshälfte etwas substantiell zu verändern. 46 Andere Reisende berichteten darüber, dass sie in Sibirien auch jene Orte besucht hätten, an denen die Verantwortlichen des Dekabristenaufstandes von 1825 mit ihren Familien 42 Z.B. Leonov, Po Sibiri (Anm. 22), S. 25; Grekov, Na Dal’nyj Vostok (Anm. 22), S. 11. 43 Z.B. Vereščagin, Po Mančžurii (Anm. 22), S. 1, 4. 44 Z.B. Leonov, Po Sibiri (Anm. 22), S. 25, 30; Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge (Anm. 22), S. 510f. 45 Z.B. Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge (Anm. 22), S. 511. 46 Vgl. z.B. Leonov, Po Sibiri (Anm. 22), S. 39, 43-45, 56; Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge (Anm. 22), S. 495; Vereščagin, Po Mančžurii (Anm. 22), S. 6. Irritiert berichtet Spolitak darüber, dass die Konzentration von Verbannten und Sträflingen unterschiedlicher Nationalität bei Nižneudinsk (nordwestlich von Irkutsk) in dieser sibirischen Region zur Ausprägung eines ethnographischen „Typs“ geführt habe, den Anthropologen keiner „bekannten Rasse“ mehr zuordnen könnten. Spolitak, Ot Charbina do Cholma (Anm. 22), Nr. 143, S. 613. Frithjof Benjamin Schenk 192 oder der Schriftsteller Fedor Dostoevskij in den 1850er Jahren in Verbannung gelebt hatten. 47 Auch durch solche Hinweise wurde in den Köpfen der russischen Leserschaft das Bild Sibiriens als Ort der Verbannung konserviert. 48 Zum anderen trugen Berichte russischer Reisender über den Transport bäuerlicher Kolonisten aus den west- und zentralrussischen Gebieten nach Sibirien nur bedingt zur Verbesserung des Bildes der östlichen Reichshälfte in der russischen Öffentlichkeit bei. Zwar konnten sich die meisten Reisenden, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Schienen der Sibirischen Eisenbahn fortbewegten, der Faszination nicht entziehen, die von der Dimension und Dynamik der Kolonisationsbewegung in die asiatischen Provinzen des Reiches ausging. 49 Es gab kaum einen Reisenden, der nach seiner Rückkehr aus Sibirien nicht von einer Begegnung mit bäuerlichen Übersiedlern berichtet hätte, die sich an Sammelpunkten und den Sanitärstationen entlang der Bahnline konzentrierten und die jährlich zu Hunderttausenden in umgerüsteten Güterwaggons dem „Zukunftsland“ Sibirien entgegen fuhren. 50 Anders als in der offiziösen und optimistischen Darstellung der Kolonisation Sibiriens, die auf der Weltausstellung von Paris verbreitet wurde und die auch Eingang in die Reiseführer für die Große Sibirische Bahn fand, zeichneten viele Autoren, die nach ihrer Fahrt durch Sibirien von ihren persönlichen Beobachtungen berichteten, ein vergleichsweise düsteres Bild dieses Vorgangs. Während in offiziellen Darstellungen der Erschließung Sibiriens als große Erfolgsgeschichte gezeichnet wurde, in der die Sibirische Eisenbahn eine Schlüsselrolle spielte, schlugen die meisten Reiseautoren kritischere Töne an. In diesen Schilderungen liest man selten von blühenden Kolonistendörfern, die als „Inseln europäischer Kultur“ zur Festigung des „russischen Elements“ im Osten des Reiches beitrugen. Der typische russische Kolonist, von dem hier die Rede ist, gleicht nicht jenem Fackelträger der russischen mission civilizatrice, von dem Bürokraten in St. 47 Vgl. z.B. Leonov, Po Sibiri (Anm. 22), S. 28, 46; Alisov, Kraj buduščago (Anm. 22), S. 99f. 48 Andererseits trug die Erinnerung an die Verbannung der Dekabristen nach Sibirien maßgeblich dazu bei, dass viele Menschen die östliche Peripherie des Reiches gedanklich als integralen Teil bzw. als mit „Russland“ eng verbundenen Raum imaginierten. Für diesen Hinweis danke ich Thomas Grob. 49 Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge (Anm. 22), S. 109-113, 122-124, 506; Alisov, Kraj buduščago (Anm. 22), S. 106f.; Spolitak, Ot Charbina do Cholma (Anm. 22), Nr. 145, S. 643; Kljuge, Ot r. Eniseja v Moskvu (Anm. 22), Nr. 2, S. 38, Nr. 3, S. 10, Nr. 5, S. 18. 50 Vereinzelt wird auch in russischen Reiseberichten Sibirien „Zukunftsland“ genannt. Z.B. Alisov, Kraj buduščego (Anm. 22); Vinogradov, V dal’nych krajach (Anm. 22), S. 86. Häufiger trifft man dieses Bild jedoch in westlichen Sibirienberichten, so zum Beispiel in dem berühmten Werk von Fridtjof Nansen, Sibirien. Ein Zukunftsland, Leipzig 1914. Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 193 Petersburg träumten. Vielmehr tritt er dem Leser dieser Berichte als ein veramter und mitunter äußerst „unzivilisierter“ Bauer entgegen, der aus purer Verzweiflung den Weg mit seiner Familie nach Sibirien angetreten hatte und der in der frontier-Gesellschaft des Fernen Ostens keine Hemmung hatte, sich mit Vertretern fremder Völkerschaften zu „vermischen“. 51 Irritiert stellten Beobachter auch fest, dass sich in den Güterwaggons der Kolonistenzüge Zigeuner, Ukrainerinnen, Großrussen, Moldauerinnen, Polinnen, Weißrussen und viele andere „Nationalitäten“ dicht an dicht drängten und der Anblick Assoziationen an eine wahre Völkerwanderung weckte. 52 Viele Reiseautoren fühlten sich beim Anblick des Völkergemischs auf den sibirischen Bahnhöfen an den „Menschenandrang und das Stimmengewirr [des Turmbaus, F.B.S.] zu Babel“ erinnert. 53 Bilder dieser Art waren nicht dazu angetan, bei russischen Lesern die Vorstellung des Zarenreiches als „große und unteilbare Einheit“ zu festigen. Vielmehr haben die Reiseberichte jener russischer Passagiere, die sich im frühen 20. Jahrhundert mit dem Zug auf den Weg ins östliche Sibirien machten, die Wahrnehmung der östlichen Reichshälfte als eine vom „Mutterland“ getrennte „Kolonie“ mit einer eigenen, von Russland verschiedenen Entwicklungsdynamik vermutlich eher verstärkt als geschwächt. 54 *** Das Projekt der verkehrstechnischen Erschließung des größten Kontinentalreiches der Erde übte auf viele Untertanen des Zaren eine große Faszination aus. An zahlreichen Reiseberichten aus der zweiten Hälfte des 19. und aus dem frühen 20. Jahrhundert lässt sich ablesen, wie stark die Vernetzung des Landes beim mobilen Teil der Bevölkerung (und vermutlich auch bei Lesern von Reiseberichten) Vorstellungen von der territorialen Gestalt des Imperiums nachhaltig verändert hat. So trug zum Beispiel die Entwicklung der Stadt Moskau zum Verkehrsknotenpunkt des Streckennetzes im europäischen Teil des Reiches zur Festigung der Überzeugung bei, die alte Haupt- 51 Vgl. z.B. Leonov, Po Sibiri, S. 6; Grekov, Na Dal’nyj Vostok, S. 8. Zu diesem Phänomen ausführlicher: Willard Sunderland, The “Colonization Question”: Visions of Colonization in Late Imperial Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48/ 2000, S. 210-232. 52 Spolitak, Ot Charbina do Cholma (Anm. 22), Nr. 145, S. 643; Kljuge, Ot r. Eniseja v Moskvu (Anm. 22), Nr. 2, S. 38. 53 Alisov, Kraj buduščago (Anm. 22), S. 105. 54 In diesen Prozess spielte auch die Berichterstattung über die außenpolitischen Entwicklungen im Fernen Osten zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Stichworte: „Boxer“- Aufstand, russisch-japanischer Krieg) mit hinein. Frithjof Benjamin Schenk 194 stadt sei das „wahre Zentrum“ und das „Herz“ des Landes. 55 Als beispielsweise der Tourist Al’fonosov aus Kazan’ im Jahr 1902 den Turm Ivan Velikij im Moskauer Kreml’ bestieg und seinen Blick über die Häuser schweifen ließ, sah er vor seinem inneren Auge, dass zehn Eisenbahnlinien wie „Radialachsen“ diese im „Mittelpunkt gelegene Stadt“ „mit den Randgebieten Russlands“ verbinden. 56 Von seinem erhöhten Aussichtspunkt konnte der Besucher diese Verkehrsachsen natürlich nicht ausmachen. Es war das vorgestellte Bild von Moskaus Position auf der Streckennetzkarte des Reiches, das ihm in dieser Situation half, die alte Hauptstadt (und sich selbst) auf seinen kognitiven Karten zu verorten. Auch die kommunikativen und gedachten Verbindungen zwischen der Peripherie des Reiches und der Hauptstadt St. Petersburg konnten durch den Bau des Schienennetzes gestärkt werden. So rief zum Beispiel eine Inschrift am Bahnhofsgebäude von Vladivostok den Reisenden ins Bewusstsein, dass dieser Ort mit einem 9.877 Werst (ca. 10.568 km) langen Schienenstrang mit der imperialen Metropole an der Neva verbunden ist, ein Raumbild, das bei Betrachtern seine Wirkung nicht verfehlte. 57 Auch mit Blick auf die Beschwerdepraxis von Reisenden, die auf dem weitläufigen Schienennetzes des Zarenreiches unterwegs waren, lässt sich die prominente Stellung St. Petersburgs auf den kognitiven Karten russischer Zugpassagiere deutlich ablesen. So zeugen Akten des Verkehrsministeriums aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert davon, dass sich unzufriedene Fahrgäste - deren Zug zum Beispiel in der winterlichen Steppe in einer Schneewehe steckengeblieben war - häufig per Eisenbahn-Telegraf direkt an das Verkehrsministerium (MPS) im fernen St. Petersburg wandten. 58 Einem solchen Schritt lag die (räumliche) Vorstellung zugrunde, dass die konkreten Probleme des alltäglichen Schienenverkehrs in der Provinz nicht dezentral, d.h. von der Leitung der entsprechenden Bahngesellschaft zu lösen waren, sondern dass für die Beseitigung solcher Missstände die zentrale Reichsbehörde 55 Zum Motiv des „Herzens“ und der „Zentrums“ in der symbolischen Geographie des Zarenreiches: Leonid Gorizontov, The „Great Circle“ of Interior Russia: Representations of the Imperial Center in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Jane Burbank / Mark von Hagen / Anatolyi Remnev (Hrsg.), Russian Empire. Space, People, Power, 1700-1930, Bloomington 2007, S. 67-93. 56 Al’fonosov, Ot Kazani do Berlina (Anm. 22), S. 655. 57 Vgl. z.B. Anton Teofilovič Snarskij, Na Dal’nyj Vostok i obratno: Putevye očerki, in: ders., Moi dosugi. Putevye očerki i rasskazy, Sankt Peterburg 1907, S. 90-113, hier S. 100; Cimmerman, Po Velikoj Sibirskoj doroge (Anm. 22), S. 109. 58 Vgl. z.B. Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv, f. 273, op. 10, ed. chr. 267, 352, 413, 498, 554 (Beschwerden an die Upravlenie železnych dorog des MPS aus den Jahren 1909-1913). Reisen auf der Transsib als Grenz-Erfahrung im späten Zarenreich 195 in St. Petersburg Verantwortung trage. 59 Aufschlussreich ist dabei, dass die Beschwerdeführer selbst durch den von ihnen gewählten Kommunikationsweg die hierarchische Struktur der politisch-räumlichen Ordnung des Zarenreiches reproduzierten und dabei die imaginierte räumliche Position der Reichshauptstadt als Zentrum aller gesellschaftlich und politisch relevanten Entscheidungen weiter festigten. Die Analyse der Berichte russischer Passagiere, die Anfang des 20. Jahrhunderts Sibirien bereisten, macht auf der anderen Seite jedoch deutlich, dass die persönliche Erfahrung der geografischen und kulturellen Vielfalt des Landes nur bedingt mit dem offiziellen Wunschbild des Zarenreiches als „großes und unteilbares Ganzes“ korrespondierte. Das kollektive Erlebnis (kultureller) Differenz, das in dieser Dimension erst durch den erhöhten Grad geografischer Mobilität des Eisenbahnzeitalters möglich wurde, gehörte in Russland zu einer Schlüsselerfahrung des modernen Zeitalters. 60 Die Eisenbahnreise revolutionierte im Zarenreich somit nicht nur Vorstellungen von Zeit und (geografischem) Raum in einem allgemeinen und abstrakten Sinn. Die persönliche Begegnung einer wachsenden Anzahl von Untertanen des Zaren mit dem Phänomen kultureller Differenz im eigenen Land trug zudem dazu bei, dass sich immer mehr Menschen mit den kohäsiven Kräften und den zentrifugalen Strömungen innerhalb des Landes auseinandersetzen. So waren die kollektive Erfahrung kultureller Differenz und die Genese nationaler Diskurse und entsprechender politischer Bewegungen zwei eng miteinander verbundene Prozesse. Reisende auf dem Schienennetz des Russländischen Reiches, die sich mit der ethnischen und sozialen Vielfalt ihres Reiches konfrontiert sahen, waren so nicht nur Beobachter der kulturellen und politischen Umbrüche ihrer Zeit, sondern selbst Akteure in einem komplizierten und zum Teil widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess mit offenem Ausgang. 59 Interessant an dieser Kommunikationspraxis ist nicht nur, dass die Beamten des MPS in der Regel tatsächlich auf die Klagen der Zugreisenden reagierten und den Leitungen der Bahngesellschaften vor Ort per Telegramm die Beseitigung der angesprochenen Missstände befahlen. 60 Ausführlicher dazu Schenk, „Hier eröffnete sich vor unseren Augen...“ (Anm. 23). Susi K. Frank Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland In der älteren westlichen Geschichtsforschung waren Imperien mit dem Ruf des Archaischen, des Prämodernen und der Rückständigkeit gegenüber Nationalstaaten behaftet. 1 „Vom Imperium“, schreibt Jürgen Osterhammel, „geht eine archaische Faszination aus. Es weckt Assoziationen von herrscherlicher Willkür und roher militärischer Gewalt, von oberster Autorität, die keine Gleichberechtigten anerkennt, von kommandierender Verfügung über riesige Räume, schließlich über den Erdball an sich.“ 2 Diese Perspektive ergab sich aus der typologischen Gegenüberstellung von Imperium und Nationalstaat als archaische vs. moderne Form der Staatenbildung und daraus, dass der Nationalstaat als einzige moderne Staatsform angesehen wurde, die das Imperium ablösen sollte. Die heutige Sicht der Historiker zeigt die Dinge etwas anders: Weder hat der Nationalstaat das Imperium als Typus ein für alle Mal überwunden, 3 noch kann er als moderner „Normalfall“ angesehen werden. Vielmehr ist „das Imperium […] der weltgeschichtliche Normalfall, der Nationalstaat die spätneuzeitliche Ausnahme.“ 4 Dies und die Beobachtung imperialer oder quasi-imperialer Strukturen und Mechanismen in bestimmten kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen und aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen (Stichwort „informal empire“) bildet den Ausgangspunkt des aktuellen wissenschaftlichen Interesse an Imperien und Imperialgeschichte. Das Augenmerk der Forschung richtet sich in diesem Zusammenhang vor allem auf folgende Aspekte: Erstens werden Imperien als transnationale Gebilde fokussiert, die flächenmäßig riesige Räume mit vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen kulturell und sozial integrierten und dabei Differenzen nicht aufhoben, sondern strategisch nutzten, und die verhältnismäßig lange Zeiträume friedli- 1 Vgl. Dietrich Geyer, Der russische Imperialismus, Göttingen 1977; dazu Jürgen Osterhammel, Imperien im 20. Jahrhundert. Eine Einführung, in: Zeithistorische Forschungen, 2006. online: http: / / www.zeithistorische-forschungen.de/ site/ 40208575/ default.aspx [Zugriff am 5.1.2013] und ders., Imperien, in: Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2010, S. 56-67 sowie Jane Burbank, Frederick Cooper, Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton, Oxford 2010. 2 Jürgen Osterhammel, Imperien im 20. Jahrhundert (Anm. 1), Abschn. 1. 3 Vgl. Osterhammel, Imperien (Anm. 1), S. 56. 4 Vgl. Osterhammel, Imperien (Anm. 1), S. 56. Susi K. Frank 198 chen Zusammenlebens erzielten. Auf der Suche nach Antworten auf die Frage nach der relativen Dauerhaftigkeit und Stabilität der kulturell heterogenen imperialen Herrschaftsverbände sprechen Historiker aktuell von „politics of difference“ 5 als Grundprinzip imperialer Innenpolitik. Literatur- und Kulturwissenschaftler interessieren sich dafür, mithilfe welcher symbolischen Strategien der imperiale Raum konstruiert und die kulturelle Heterogenität bewältigt werden konnte. Für Geschichte wie Literaturwissenschaft sind der diachrone Vergleich, der nach Phasen der Imperialität fragt, und der synchrone Vergleich paralleler Imperien wichtige analytische Instrumente. Zweitens gilt das Interesse ähnlich wie in den Postcolonial Studies den Ergebnissen, Konsequenzen und Spuren jahrhundertelanger Imperialpolitik, wobei aus imperialhistorischer Perspektive es nicht wie im Fall der Postcolonial Studies ausschließlich darum geht, Emanzipationsnarrative zu entwerfen (und dabei z.T. wieder in das Muster des Nationalen zu geraten), sondern darum, imperiale Prägungen - v.a. diejenigen, die durch multikulturelles Zusammenleben entstanden sind - als kulturelles Faktum zu erforschen und auch als Potential für die Praxis einer transnationalen Gegenwart zu erkennen. Herfried Münkler hat eine auch im Hinblick auf den Gegenwartsbezug sehr prägnante typologische Position formuliert, deren Perspektive vom Römischen Reich der Antike als Paradigma bis zur Europäischen Union der Gegenwart reicht, wobei letztere nicht einfach als neoimperiales Gebilde, sondern - gegenüber der imperialen politischen Praxis der USA - als alternative Option eines weniger hegemonialen als vielmehr föderalen Umgangs mit der historischer Erfahrung imperialer Praxis verstanden wird. 6 Drittens: Gleichfalls von historischen und systematischen imperialgeschichtlichen Untersuchungen profitieren aktuelle Ansätze, die das Funktionieren politischer und kultureller Dynamik jenseits von Dirigismus und zentraler Steuerung erforschen und sich für Zonen politischer und kultureller Unbestimmtheit interessieren, die sie als wichtigen Hort kultureller, sozialer und politischer Dynamik erkennen. Als Paradigma solcher Zonen identifizieren sie imperiale Peripherien, für deren strukturelle Analyse die Kultursemiotik Jurij Lotmans, die jetzt in dieser Hinsicht neu gelesen wird, 7 ein geeignetes Instrumentarium an die Hand gibt. Bei Lotman bildete die Imperienanalyse zwar keinen zentralen Schwerpunkt, aber mit wichtigen Beispielen aus der Geschichte Russlands bezog er sich immer wieder explizit 5 Burbank/ Cooper, Empires (Anm. 1). 6 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005. 7 Vgl. z.B. Albrecht Koschorke, Zur Funktionsweise kultureller Peripherien, in: Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Kultursemiotik revisited, Bielefeld 2011, S. 27-40. Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 199 auf das imperiale Kontexte. Auf dieses aktuelle, mehr systematisch-strukturelle als historische Interesse an Imperien bzw. imperialen Räumen möchte ich am Schluss meines Beitrags zurückkommen. Russland ist einer jener Fälle, die Osterhammel als „besonders schwierig fassbares und theoretisch noch nicht zureichend analysiertes“ Phänomen der „imperialen Nationalstaaten“ bezeichnet, „d.h. sehr große[r] Länder, die auf der internationalen Bühne als Weltmächte agieren, über kein formales Kolonialreich verfügen, aber zum einen im Inneren ethnisch stark diversifiziert sind, zum anderen einen gewissen moralischen Universalismus propagieren (ein Erbe der homogenen Elitekultur klassischer Reiche) oder zumindest einem solchen Universalitätsanspruch anderer abwehrend gegenübertreten“. 8 Osterhammel selbst subsumiert darunter nur die „beiden großen weltpolitischen Kontrahenten USA und China“. 9 Meines Erachtens gehört Russland unbedingt auch in diese Reihe. Unter Historikern ist man sich nicht ganz einig, ab wann und bis wann Russland als Imperium anzusehen ist. Der Begriff „Imperium“ wurde jedenfalls ab Peter dem Großen - der selbst auch als erster mit dem lateinischen Begriff „imperator“ bezeichnet wurde - zur Selbstbezeichnung angewendet, was damals auch als Indiz und Symbol der neuen Westorientierung, d.h. der Orientierung am imperialen Erbe Roms (nicht an Byzanz) und am Heiligen Römischen Reich diente. Aber schon im vorhergehenden Moskauer Reich des 16.-17. Jh.s kann z.B. in dem mit der Devise von Moskau als „drittem Rom“ erhobenen Anspruch auf das Erbe von Byzanz eine imperiale Dimension festgestellt werden. 10 Und auch die erklärtermaßen postimperiale und anti-imperialistische sowjetische Epoche wird heute in der Forschung mehrheitlich als spezifische Fortsetzung des Imperiums eingestuft: als „affirmative action empire“ 11 oder „empire of nations“. 12 Ich möchte nun anhand Russlands, das ich als Fall eines sich sukzessive in einen imperialen Nationalstaat verwandelnden Imperiums verstehe, einige zentrale Aspekte imperialer symbolischer Raumkonstruktion, in der sich z.T. Strategien imperialer Politik und z.T. deren Effekte manifestieren, aufzeigen. Aufgrund der Tatsache, dass auch Imperien Herrschaft begründen und legitimieren, möchte ich dabei in Analogie zur Bezeichnung der 8 Osterhammel, Imperien im 20. Jahrhundert (Anm. 1), S. 5. 9 Osterhammel, Imperien im 20. Jahrhundert (Anm. 1), S. 5. 10 Vgl. N. V. Sinicyna, Tretij Rim. Istoki i ėvolucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XV-XVI vv.), Moskva 1998. 11 Terry Martin, Affirmative Action Empire, Cambridge/ Mass. 2001. 12 Francine Hirsch, Empire of Nations, Ithaca 2005. Susi K. Frank 200 Strategien der symbolischen Konstruktion des Nationalen von symbolischen Strategien des „empire building“ sprechen. 13 Im Fall von Nationalstaaten ist seit dem frühen 19. Jahrhundert das Territorium als ursprünglicher Ort der Nation und diese als eine autochthone und daher mit diesem Ort ursprünglich verbundene Einheit gedacht. Dementsprechend kann die aus dem Territorium ‚abgeleitete‘ symbolische Konstruktion der Nation auch „geokulturologisch“ genannt werden. In einem Zirkelschluss wird das Wesen der Nation aus dem Territorium, das ihr zugeschrieben wird, begründet. Im Zeitalter des Nationalstaats wurden und werden Nation und Territorium als unauflösliche Einheit gedacht. Genau deswegen wurden nationale Grenzen als feststehende kulturelle Grenzen zur symbolischen Abgrenzung zwischen verschiedenen nationalen Zugehörigkeiten genutzt. Nationen wurden also in der abgrenzenden Nachbarschaft von als äquivalent anerkannten anderen Nationen verstanden und nicht als inkommensurabel gegenüber einem als prinzipiell anders gedachten Außen. Schließlich wurde im Zusammenhang der Konstruktion des nationalen Raums die Hauptstadt der Nation zwar als ihr „Herz“ konzipiert, aber nicht durch eine grundsätzliche symbolische Differenz zwischen Zentrum und Peripherie definiert, da der nationale Raum insgesamt als homogene Einheit galt. Zu allen drei Merkmalen - Territorialität, Grenze, Zentrum - sowie in Hinsicht auf die für Nation konstitutive Homogenität stehen imperiale Raumkonstruktionen im Gegensatz. Gehen wir von den Aspekten aus, die Historiker als auffälligste Merkmale imperialer Staaten nennen: räumliche Expansivität und kulturelle Heterogenität. Ganz offensichtlich ist imperiales Raumverständnis weniger (oder anders) territorial gebunden und ganz offensichtlich werden Imperien symbolisch durch etwas anderes als nationale Einheitskonzepte zusammengehalten. Wodurch aber? Fünf Aspekte scheinen hier zentral: 1. Symbolische Zusammenbindung durch eine universale Idee und missionarisches Bewusstsein, 2. Beziehung zum Außen, zu den anderen: Selbstverabsolutierung, Rivalität und imperiale Genealogie, 3. Integration und Affirmation von Heterogenität - „politics of difference“, 14 13 Dabei grenze ich mich von Osterhammels Rede von „empire-formation“ als Komplement zu „nation-building“ ab. „Empire-buildung“ soll hier gerade als Summe der integrativen Raumstrategien eines imperialen Nationalstaats verstanden werden. Vgl. Jürgen Osterhammel, Imperien im 20. Jahrhundert (Anm. 1), S. 5. 14 In diesem Zusammenhang wäre in einer imperialhistorisch orientierten Literaturwissenschaft nach entsprechenden poetologischen Strategien, nach einer „poetics of difference“ zu fragen. Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 201 4. De-Territorialisierung: räumliche Dynamik bzw. Mobilität, 5. Imperiale Grenze: Expansivität und Peripherie. Im Blick auf Russland lassen sich alle diese idealtypischen Momente einer imperialen Raumkonstruktion gut erkennen. Aber es muss vorweg auch darauf hingewiesen werden, dass speziell im 19. Jh. ein imperialer und ein nationaler Diskurs Hand in Hand gingen; für das gesamte lange 19. Jh. bis zur Revolution und z.T. darüber hinaus - das betrifft einige wichtige Exilautoren - kann nicht von einer dem Nationalen entgegenstehenden Imperiumskonstruktion gesprochen werden, sondern eher von einer Konstruktion Russlands als imperiale Nation. 1. Symbolische Zusammenbindung durch eine universale Idee und missionarisches Bewusstsein Ein entscheidender Ausgangspunkt scheint zu sein, dass die Konstruktion von Imperien einer Idee folgt, die als universal und universell anwendbar gedacht wird, und daher mit dem Potential und der Mission einer „weltweiten“ Verbreitung verbunden wird. Was Russland betrifft, so waren es seit dem 16. Jh., in dem die imperiale Expansion Russlands begann, insgesamt drei Ideen bzw. Missionen, die die Expansion in aufeinanderfolgenden Epochen legitimierten: das orthodoxe Christentum, welches ab dem Moskauerreich des 16. und 17. Jahrhunderts unter der Formel „Moskau, das dritte Rom“ als Legitimierung zunächst der „Sammlung der russischen Länder“ („собирание русских земель“), d.h. der Zurückdrängung der Mongolen und der Expansion in den eurasischen Osten diente; 15 die europäische Zivilisation (dominant ab der petrinischen Zeit im 18. und 19. Jh.), welche gleichfalls zur Legitimierung der russischen Herrschaft über den gesamten nordöstlichen eurasischen Kontinent diente, und die Weltrevolution bzw. die Sowjetzivilisation, welche im globalen Horizont errichtet wurde. Aus derartigen Ideen, die Expansion legitimieren, folgt das Moment der im Prinzip unbegrenzten Expansivität in der symbolischen Konstruktion des imperialen Raums. 2. Beziehung zu den anderen: Selbstverabsolutierung, Rivalität und imperiale Genealogie Typisch für Imperien scheint eine spezifische Selbstabsolutsetzung zu sein, die sich in der Verwendung von „Welt“ als Selbstbeschreibungsbegriff manifestiert, 16 im Ersetzen von Nachbarschaft durch ein Rivalitätsverhältnis zu 15 Vgl. Sinicyna, Tretij Rim (Anm. 10). 16 Vgl. Münkler, Imperien (Anm. 6). Susi K. Frank 202 Nachbarimperien bzw. -staaten sowie in einer spezifischen imperialen Genealogie (wanderndes Zentrum, translatio). „Orbis terrarum“ als Begriff für das antike Römische Imperiums liefert das Paradigma für zahlreiche im Kontext der Geschichte der europäischen Imperien gebildeten „Welt“-Begriffe, die stets von einem konkreten geographischen Raum ausgehen, aber durch eine implizierte universale Idee und die durch den Weltbegriff unterstrichene Transnationalität einen globalen Horizont (und Anspruch) haben. Der im Kontext der imperialen Ideologie des 19. Jh. entstandene Begriff „Russkij mir“ (Russische Welt), der sich in der neoimperial dominierten Gegenwart des russischen Staates wieder einer besonderen Konjunktur erfreut, ist hier ein symptomatisches Beispiel. Zumeist wird mit ihm weniger auf die Russischsprachigkeit als auf die Einheit aller Russisch-Orthodoxen abgehoben. Aber auch an Begriffen wie „frankophone Welt“ wurde bereits in der Forschung die imperiale Dimension hervorgehoben. 17 Ebenfalls in diesem Kontext zu diskutieren wäre die Begriffsbildung des britischen Empire als „commonwealth“, die zwar nicht den Weltbegriff enthält, aber analog zu diesem einen transnationalen und globalen Horizont impliziert. Ähnlich wie „Russkij mir“ enthalten auch andere imperiale „Welt“-Begriffe des 19. und 20. Jahrhunderts Spuren des Konzepts von Nation. Sie können mit diesem vermischt und daher partikularer sein, wie in der russischen Kulturosophie die Begriffe „slavische“ oder „germano-romanische Welt“, wo Welt mit „Zivilisation“ oder „Kultur“ gleichgesetzt ist, oder, bereits im 20. Jh., die Konzeptualisierung Eurasiens als „besondere Welt“ („особый мир“). 18 Dieses russozentrische Konzept von Eurasien, das Nikolaj Trubeckoj und besonders Petr Savickij in den 1920ern definiert haben, ist in seinem Kern widersprüchlich: Auf der einen Seite verstand man Eurasien als transnationalen Raum, dessen heterogene Kulturen und Sprachen sich durch die gemeinsamen Umweltbedingungen konvergent entwickelt hätten. Auf der anderen Seite hielt man die russische Orthodoxie für die einende Kraft, die das Territorium des russischen Imperiums auch weiterhin zusammenhalten sollte. Wenn Savickij in seinem Artikel „Historisch-geographische Bemerkungen über die neueste russische Literatur. Anmerkungen eines Eurasianers“ (1925/ 26; publ. 2011) eine „poetische Kolonisierung“ als wichtigste Strategie der zeitgenössischen russischen Literatur ansieht, entwirft er damit ein imperiales Konzept der russischen Nation. Als intellektuelle Erben des europäischen Geodeterminismus entwickelten die Eurasianer ein Raumkonzept, das die Territorialisierung kultureller Identität sowie die klar definierten, festen Grenzen mit dem Nationenkonzept teilt, zugleich 17 Vgl. Emily Apter, The Translation Zone. A New Comparative Literature, Princeton 2006. 18 Petr Savickij, Rossija - osobyj geografičeskij mir, Paris 1927. Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 203 aber durch die Betonung der internen Differenzen, der ethnischen Heterogenität sowie durch die Idee der Orthodoxie als einender und potentiell expansionsfähiger Kraft imperiale Züge trägt. Ein ganz anderer expansionistischer - und dabei tatsächlich globaler - „Welt“-Begriff kommt im Zusammenhang der Sowjetideologie auf: Mit Welt ist die sozialistische Hälfte des politisch zweigeteilten Globus gemeint, die sich idealerweise auf den gesamten Globus ausdehnen sollte. Es fällt nicht schwer, in diesem Expansionismus eine Analogie zur imperialen Haltung zu entdecken. Und das sowjetische Wappen, das an die Stelle des zaristischen imperialen Doppeladlers trat, legt diesen Vergleich umso mehr nahe: In einer Perspektive quasi aus dem Weltraum zeigt es die Sowjetunion als Teil des Globus, welcher somit als Horizont einer globalen Expansion eben nicht nur der Weltrevolution, sondern, dank diesem Mapping, der Sowjetunion erscheint (Abb. 1). Abb 1: Das Wappen der Sowjetunion Insbesondere im sowjetischen Dokumentarfilm, dessen Geschichte Dziga Vertov begründet und entscheidend geprägt hat, steht die Konzeptualisierung der Sowjetunion im Bezug auf die ganze Welt und als (potentiell ganze) Welt im Zentrum. 19 „Der sechste Teil der Welt“ (Шестая часть мира, 1926) 19 Dies sowie die Weiterentwicklung der von Vertov entwickelten ‚imperialen Formeln‘ hat jüngst Irina Sandomirskaja in einem wichtigen Aufsatz herausgearbeitet; vgl. Irina Sandomirskaja, Ot avgusta k avgustu. Dokumental’noe kino kak archiv . Susi K. Frank 204 heißt einer der berühmtesten Dokumentarfilme Vertovs, in welchem er eine „imperiale Formel“, die schon in der panegyrischen Odendichtung des 18. Jh.s bei Lomonosov, Deržavin u.a. zum Einsatz kam, aufgreift und visuell entfaltet: die Formel „von … bis“, mit deren Hilfe zugleich äußerste Vielfalt erfasst und als komplexe und umfassende Einheit (indiziert durch die Auffüllung der Formel mit ein oder mehreren Gegensätzen, die in der Kombination das Allumfassende der Einheit anzeigen) symbolisch zusammengeschnürt werden soll. 20 Mit der Verabsolutierung von Imperien hängt die spezifische Konzeptualisierung des imperialen Zentrums, der Hauptstadt zusammen: Auch das Zentrum wird als Weltzentrum, als einziges Zentrum verstanden. In der symbolischen Konstruktion des Zentrums als Fixpunkt wird die kompetitive Relation zwischen Imperien ein weiteres Mal offensichtlich: Imperiale Zentren anerkennen einander nicht, sondern stehen zueinander in Konkurrenz, wollen einander ausschließen, da es dem Konzept nach nicht mehr als ein imperiales Weltzentrum geben kann. Um ihren Anspruch zu begründen, werden sie durch ein Modell der Nachfolge, bzw. der Übertragung oder Versetzung, der translatio, legitimiert. Mithilfe des Konzepts der translatio wird das imperiale Zentrum in einer Nachfolgeordnung in der Zeit und im Raum bewegt und der Ausschließlichkeitsanspruch legitimiert. So wurde (und wird) die russische Imperialgeschichte seit dem frühen 16. Jahrhundert, seit dem Aufkommen der Selbstbeschreibungsformel „Moskau, das dritte Rom“ 21 kurz nach dem sog. „Fall Konstantinopels“ und damit dem Ende des zweiten Rom, Byzanz, mithilfe der translatio Rom-Byzanz-Moskau(-Petersburg) konzipiert und legitimiert. Man hat im Zusammenhang der Diskussion um die Verfahren des nation building viel über Gründungsnarrative gesprochen. Die translatio kann als eines der zentralen imperialen Gründungsnarrative angesehen werden. Im russischen Fall ist hier neben Moskau insbesondere Petersburg interessant, wo zwei imperiale Gründungsnarrative zusammenkommen, und wir es außerdem mit einer doppelten translatio zu tun haben - derjenigen des Dritten und derjenigen des Ersten Rom. 22 pochiščennych revoljucii, in: Novoe literaturnoe obozrenie 117 (2012); online: http: / / magazines.russ.ru/ nlo/ 2012/ 117/ s23.html [Zugriff am 4.1.2013]. 20 Sandomirskaja weist bei Vertov auf zwei konkrete Beispiele bzw. Varianten dieser Formel hin: „Ot kraja … do kraja“ und „s južnych gor do severnych morej“ (Sandomirskaja, Ot avgusta k avgustu, Anm. 19). 21 Vgl. Sinicyna, Tretij Rim (Anm. 10). 22 Zur Verwendung des Konzepts „Moskau als drittes Rom“ im Petersburgdiskurs der petrinischen Epoche vgl. den Aufsatz von Jurij Lotman, Boris Uspenskij, Otzvuki koncepcii „Moskva - tretij Rim“ v ideologii Petra Pervogo. K problem srednevekovoj Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 205 3. Integration und Affirmation von Heterogenität - „politics of difference“ Die Unterordnung unter eine als universal verstandene Idee ermöglichte, kulturelle Differenzen zu überbrücken, und bedingte spezifische symbolische Strategien, heterogene Bevölkerungsgruppen in einem politischen Ganzen zusammenzufassen. Burbank/ Cooper sprechen von „politics of difference“ als einem Grundmerkmal imperialer Politik. 23 Als symptomatisch auf symbolischer Ebene kann die Konstruktion von „eigenen Anderen“ angesehen werden, d.h. von Differenzen, die aufrecht erhalten werden können, indem sie einem übergeordneten Gemeinsamen (Idee, Religion) unterstellt werden, und aufrecht erhalten werden müssen, da ethnisch-kulturelle Vielfalt und damit Differenz für das imperiale Selbstverständnis konstitutiv sind. Imperiale Ideologien sind Ideologien der exklusiven Inklusion. Imperien operierten stets mit einer inneren - v.a. ethnischterritorialen - Differenzierung. In imperialgeschichtlichem Kontext interessant sind neben dem Begriff „Imperium“ und den verbundenen „Welt“-Konzepten auch andere Begriffe, die einen globalen Horizont bzw. unbeschränkte Inklusionsfähigkeit implizieren und historisch eng mit der Imperialgeschichte verbunden sind, wie „oikumene“ oder „commonwealth“. Während „oikumene“ heute v.a. im kirchlichen Kontext, für Initiativen über die Grenzen der einzelnen christlichen Kirchen hinweg gebräuchlich ist, bezeichnete der griechische Begriff ursprünglich die Totalität der menschlich bewohnten Welt. Im Neuen Testament wird „oikumene“ gleichermaßen als Bezeichnung der gesamten Welt und des Römischen Reichs verwendet, in dessen Kontext „orbis terrarum“ als lateinische Übersetzung von „oikumene“ fungierte, so dass in beiden Fälle die politisch-imperiale Bedeutung unübersehbar ist. Analoges gilt für den Begriff „commonwealth“, dessen imperialgeschichtliche Verflechtung noch offensichtlicher ist. Dem Wortlaut nach bezeichnet commonwealth zwar immer einen Verbund unabhängiger Staaten, in den meisten Einzelfällen der Anwendung ist jedoch ein hegemoniales Verhältnis zwischen dem Zentrum und den es umgebenden Staaten als Peripherien unverkennbar. Es ist kein Zufall, dass der Begriff commonwealth - wie im Fall des Britischen tradicii v kul’ture barokko, in: Kul’turnoe nasledie Drevnej Rusi. Istoki, stanovlenie, tradicii, Moskva 1976, S. 236-249. 23 Vgl. zum Konzept insbesondere das Kapitel 1, „Trajectories“ (Burbank/ Cooper, Empires, Anm. 1, S. 1-22). Sehr konsequent wird diese Hauptthese in den nachfolgenden Kapiteln wieder aufgegriffen und bestätigt. Zu Russland vgl. insbesondere das Kap. 7 (S. 185-218), in dem Russland als Steppenimperium mit der Expansion des chinesischen Imperiums verglichen wird, und das Kap. 9 (S. 251-286), in dem Russland den USA in Hinblick auf die Verbindung des imperialen mit dem nationalen Modell gegenübergestellt wird. Susi K. Frank 206 Empire - als Bezeichnung der interstaatlichen Beziehung im Gefolge des ehemaligen Imperiums fungiert. Auch im Fall der GUS, was auf Deutsch bekanntlich „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ heißt und ins Englische mit „Commonwealth“ übersetzt wird, wäre nach strukturellen und/ oder intendierten symbolischen imperialen Erbschaften zu fragen. Konzeptionell ist auch hier der räumlich-territoriale Aspekt zentral: Beide Begriffe implizieren eine prinzipiell uneingeschränkte räumlich-territoriale Erweiterbarkeit. Mit dieser äußeren Erweiterbarkeit korrespondieren im Inneren von Imperien Strategien der von Burbank/ Cooper angemerkten „politics of difference“, welche zur mehr oder weniger hierarchischen Ordnung und Zuordnung von differenten Ethnien oder Bevölkerungsgruppen zueinander entwickelt wurden: sei es in einer quasi-historischen Ordnung, durch welche die einem Imperium untergebenen Bevölkerungsgruppen verschiedenen zivilisationsgeschichtlichen Niveaus zugeordnet wurden, die in ihrer Gesamtheit dann die Welt in toto darstellten - oder sei es in einer Ordnung nach Sprachen, Religionen oder einfach Funktionen und sozialem Status. Für Russland lassen sich viele Etappen und Varianten einer solchen Zuordnung der Bevölkerungsgruppen ausmachen: Im 18. Jh. dominierte die Figur der ornamentalen Fülle und der ein umfassendes Ganzes repräsentierenden Vielfalt, und insbesondere in der Epoche Katharinas II. wurde dieses Bild zum wichtigen imperialen Topos, der sich u.a. auch in der Kartographie manifestiert (Abb. 2). Im späten 19. und dann auch im sowjetischen 20. Jh. ging es dagegen eher um eine räumliche Repräsentation der Menschheits- und Zivilisationsgeschichte, die für das Verständnis des imperialen Raums als in sich heterogene, differenzierte symbolische Einheit konstitutiv wurde: Das von heterogenen und unterschiedlich entwickelten Kulturen besiedelte imperiale Territorium wurde als verräumlichtes Abbild der gesamten Menschheitsgeschichte wahrgenommen. Für Sibirien wären dies etwa die Relation zwischen den indigenen Gruppen sowie die zwischen diesen und den in sich wiederum differenzierten Verbannten oder aber auch den zahlreichen, in sich ebenfalls heterogenen freiwilligen Siedlern (Beamte, Sektierer u.a.). Wichtig ist, dass Differenzen symbolisch aufrechterhalten und nie endgültig getilgt werden, da sie für eine imperiale Einheitskonstruktion geradezu konstitutiv sind, dass dabei aber diese horizontalen Differenzen zwischen Bevölkerungsgruppen stets der vertikalen Differenz zwischen Zentrum und Peripherie untergeordnet werden. Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 207 Abb. 2: Ethnographische Karte Sibiriens aus dem frühen 18. Jahrhundert 4. De-territorialisierung: Räumliche Dynamik und Mobilität Eine gewisse De-Territorialisierung bzw. territoriale Ungebundenheit von Imperien manifestiert sich symbolisch darin, dass imperiale Identitäten nicht oder nicht nur aus den territorialen Umweltbedingungen abgeleitet werden (oder darin, dass räumliche Bedingungen als kontingent für die Ausprägung der kulturellen Spezifik des Imperiums erachtet werden). Dies steht der Tendenz der nationalen Diskurse des 19. und zum Teil auch des 20. Jahrhunderts zum Geodeterminismus, zu einer Ableitung und Begründung nationaler Zuschreibungen aus den Qualitäten und Eigenschaften des als „Grund“, als kulturell konstitutiv beanspruchten Territoriums gegenüber. Eine praktische Konsequenz aus dieser Haltung, die aus dem Verzicht auf die (geo)kulturelle Begründung des territorialen Herrschaftsanspruchs resultiert, ist die für Imperien charakteristische demographische Mobilität oder, besser gesagt, eine Herrschaftspraxis, die die willkürliche, sei es erzwungene, sei es durch Anreize geförderte Versetzung ganzer Bevölkerungsgruppen beinhaltet. Imperien sind durch eine erhöhte innere Mobilität gekennzeichnet, die einerseits eine für das Zusammenhalten erforderliche Herrschaftspraxis darstellt, andererseits eine subversive Praxis der Beherrschten, die sich durch räumliche Mobilität (auch Flucht) der Beherrschung und Kontrolle entziehen und so ihrerseits zur demographischen Integration des imperialen Ganzen mit beitragen. „Moving entire groups of Susi K. Frank 208 people was an ordinary imperial tactic“, schreiben Burbank/ Cooper, 24 die für die russische Bevölkerungspolitik eine Taktik als entscheidend erachten, die nicht mit dem Ganzen, sondern mit Teilen agiert: Russian rulers did not break with inherited imperial practices of ruling different people. Russian czars accepted as a given the multiplicity of the populations. Ruling different people differently enabled them to reconfigure the rights of subjects according to the demands of the moment. […] The parts, though, were in motion, and a stable alignment of peoples, spaces, and confessions could not be had. Migrations, resettlements, and long-distance contacts continued to mix people up, and most important, it was not in the interests of the government to draw up eternal territorial boundaries and to fix power forever in tribal, ethnic, or clerical hands. […] rights and groups were kept in play by Russia’s imperial leaders. 25 Das in der Geschichte immer wieder zu beobachtende Ziel russischer Politik war es, Land und Menschen in produktiver Weise im imperialen Raum zu platzieren. Auch in sowjetischer Zeit änderte sich daran nichts, wurden doch bekanntlich gerade dann Versetzungen (Deportationen) wieder zu einem wichtigen demographischen, und dabei zumeist auch politischen Instrument. Verschiedenste Formen von Binnenmobilität kennzeichneten Russland über Jahrhunderte hinweg: Verbannung, Versetzung (einzeln oder in Gruppen) und Neuansiedlung auf der einen Seite, Flucht und Migration, Formen von kolonisierendem Nomadismus auf der anderen. Symbolisch wurde diese Dynamisierung des imperialen Raums durch Modellierungen von Mobilitätskonzepten überhöht. So etwa gewann das „Wandern“, das als asketische Praxis allgemein im Christentum verankert war, in der russischen Geschichte neben der religiösen auch eine kulturelle Bedeutung. Die altgläubige Sekte der „Wanderer“ (wechselweise „stranniki“ und „beguny“ genannt) 26 konnte den imperialen Raum aufgrund seiner Größe und Unkontrollierbarkeit als Fluchtraum vor der Kirche und den demographischen Behörden nutzen; sie fungierte zugleich, zusammen mit vielen anderen mehr oder weniger illegalen Gruppen innerer Migranten, als Teil einer äußerst vielfältigen Siedlungsbewegung, die den imperialen Raum erschloss und integrierte. In der Historiographie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in deren Fokus zum einen eine imperiale Konzeptualisierung der russischen Nation stand und zum anderen die Konzeptualisierung der Beziehung zwischen Staat und Volk, wurde das Wandern als konstitutive Ei- 24 Burbank/ Cooper, Empires (Anm. 1), S. 281. 25 Burbank/ Cooper, Empires (Anm. 1), S. 273. 26 Vgl. A. I. Mal'cev, Starovery-stranniki v XVIII pervoj polovine XIX v., Novosibirsk 1996. Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 209 genschaft der russischen Nation entworfen, als spezifisch russische Lebensform dem russischen Volk als Träger der Nation zugeschrieben und dieses so als wichtigster - und aus der Perspektive der imperialen Nationalgeschichtsschreibung verdienstvollster - Akteur der russischen expansiven Imperialgeschichte dargestellt. Dabei ist ein interessanter Wandel von der westlich-nationalstaatlich ausgerichteten Historiographie Sergej Solov’evs hin zu Vasilij Ključevskij zu beobachten: Während Sergej Solov’ev in seiner Geschichte Russlands 27 die räumliche Dynamik als Charakteristikum russischer (Volks-)geschichte kritisch konstatierte und über die Möglichkeiten der Abschaffung dieser Praxis nachdachte, stellte Vasilij Ključevskij sie in seinen Vorlesungen zur russischen Geschichte positiv ins Zentrum seiner Konzeptualisierung Russlands. 28 Erschlossen und symbolisch integriert wurde der imperiale Raum auch durch Biographien bzw. biographische Narrative, deren Kern die Mobilität im imperialen Raum bildet. Mobilität zwischen Zentrum und Peripherie fungierte als Karriereschrittmacher nicht nur für Staatsdiener. In der Literatur, die hier freilich nicht auf ein simples politisch-strategisches Instrument reduziert werden soll, wurden verschiedene narrative Muster zur symbolischen Modellierung und Wertung entwickelt. Für das 19. Jh. besonders wichtig erscheint zum einen die nationale Wertung von räumlicher Mobilität generell als konstitutives Element des als imperial charakterisierten Nationalcharakters. 29 Zum zweiten lässt sich als Basissujet des russischen Romans im 19. Jh. die räumliche Veranschaulichung der moralischen Transformation des Helden (von einem Bösewicht in einen Retter) als Passage in der Abfolge von „Verbrechen - Verbannung nach Sibirien - Transformation = Auferstehung“ ausmachen. Mithilfe dieses Sibirien-Verbannungssujets, das Jurij Lotman als Kernbestandteil des nationalen Sujets des russischen Romans im 19. Jh. bezeichnet hat, 30 wurde der imperiale Raum narrativ funk- 27 Sergej Solov’ev, Istorija Rossii s drevnejšich vremen (1851-1879). 28 Vasilij Ključevskij, Kurs russkoj istorii v 5-i častjach, Peterburg 1904-1922. 29 Dies als literarisches Analogon der These V. Ključevskijs zur Geschichte der russischen Kultur. 30 Vgl. Jurij Lotman, Sjužetnoe prostranstvo russkogo romana XIX-ogo v., in: Ders., Izbrannye stat’i v 3-x tomach, Tallinn 1993, Bd. 3, S. 91-106. Lotman entwickelt dort die These einer Differenz im Hinblick auf ein Basissujet zwischen dem europäischen und dem russischen Roman des 19. Jhs. Während im europäischen Roman das Narrativ darin bestehe, dass der Held von einem Ort des Unglücks an einen Ort des Glücks versetzt werde, bestehe das Sujet des russischen Romans in einer Veränderung des Helden selbst, der sich oft von einem „bösen“ Helden in einen „guten“, in einen „Retter“ transformiere, indem er bis an die äußersten Grenzen des Bösen gehe, um dort eine Transformation zu erfahren. Dieses Sujet werde oft in räumlichen Parametern entfaltet, so dass das, was symbolisch eine Geschichte von „Tod - Hölle - Auferstehung“ meine, als Abfolge von „Verbrechen - Verbannung nach Sibirien - Susi K. Frank 210 tionalisiert und symbolisch zusammengebunden. Analog dazu findet sich im sowjetischen 20. Jh. insbesondere in den Literaturen der nichtrussischen Republiken und Gebiete ein als Reise ins Zentrum und zurück inszeniertes Bildungsnarrativ, mit dem der sowjetische Vielvölkerstaat, die „sovetskaja mnogonacional’naja kul’tura“ narrativ integriert und zugleich das Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie festgeschrieben wurde. 31 Diese narrativen Konstruktionen erfüllten eine symbolische Doppelfunktion - Integration des Ganzen einerseits und innere Grenzziehung und Differenzierung andererseits -, die als typisches Moment von empire building angesehen werden kann. 5. Imperiale Grenze: Expansion, Binnengrenzen und Peripherie Das für Imperien charakteristische Grenzkonzept besteht aus mehreren Typen von Grenzen: einer absoluten und zugleich expansiven, diversen Binnengrenzen und einer spezifischen Peripherie bzw. einem Grenzraum. Die imperiale Außengrenze ist - idealtypischerweise - absolut, d.h. sie wird verstanden als äußerste Grenze, als Weltgrenze, als prinzipielle Grenze der menschlichen Kultur, als „Barbarengrenze“, um Jürgen Osterhammels typologischen Begriff aufzugreifen 32 . Sie unterscheidet sich damit grundlegend von der Grenze des Nationalstaats, die eine Nachbarschaftsgrenze ist. Imperien werden nicht wie Nationalstaaten mithilfe ‚horizontaler‘ Differenzierung zwischen einander prinzipiell als gleichartig anerkennenden Staaten modelliert - ein Prinzip, das sich aus der Territorialität, der Raumgebundenheit von Nationalstaaten herleitet -, sondern durch Entgegensetzung auf einer ‚vertikalen‘ Achse, auf der weder Staaten, noch plurale Welten, sondern ‚Seinszustände‘ unterschieden werden. Mithilfe einer Entgegensetzung entlang dieser Vertikale wird die äußerste Weltgrenze als Grenze zwischen Kosmos und Chaos oder Kultur und Nicht-Kultur oder - als Variante - Diesseits und Jenseits konzeptualisiert. Zugleich wird - wiederum idealtypi- Auferstehung“ erzählt werde. „Die Auferstehung“ - so Lotman - „vollzieht sich gerade in Sibirien“ („voskresenie proischodit imenno v Sibiri“). Als wichtige kanonische Beispiele nennt Lotman Dostoevskijs Prestuplenie i nakazanie (Schuld und Sühne) und Tolstojs Voskresenie (Auferstehung). 31 Jurij Slezkine (Arctic mirrors. Russia and the small peoples of the North, Ithaca 1994) hat in diesem Zusammenhang von einem in Analogie zum masterplot des Sozrealismus entwickelten Masternarrativ der „long journey“ gesprochen, mithilfe dessen die Sowjetisierung bzw. „Umschmiedung“ der nichtrussischen Ethnien narrativ inszeniert wurde. Ein wichtiges Beispiel für Slezkine ist hier Afanasij Koptelov. 32 Vgl. Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, Kap. 9, S. 210, und Ulrich Leitner, Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems, Innsbruck 2011, S. 89. Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 211 scherweise - die imperiale Außengrenze als Expansions- oder Überschreitungsgrenze bzw. frontier im Weltbzw. globalen Horizont modelliert. Generell kann man in Bezug auf die imperiale Expansionsgrenze von einem - neben der Hauptstadtgründung - zweiten zentralen imperialen Gründungsnarrativ sprechen: Die expansive Überschreitung oder das Voranbzw. Wegschieben der Außengrenze wird in imperialgeschichtlichen Selbstdarstellungen stets als Gründungsakt erzählt. Als Paradigma der imperialen Grenze war schon der limes der römischen Antike in erster Linie als Keil oder Furt in feindliches Land hinein und nicht als Abgrenzungsgrenze gedacht, die das Imperium durch ihre expansive Dynamik konstituierte. Insofern stellt der limes ein Äquivalent bzw. eine Präfiguration der frontier dar, und beide können typologisch als Varianten einer imperialen Expansionsgrenze angesehen werden. Die letztere konzeptualisierte Frederick J. Turner in für das späte 19. und frühe 20. Jh. - d.h. für jene Zeit, als imperiale Konzepte immer mehr als nationale Ideen maskiert wurden - typischer Weise als nationales Spezifikum der amerikanischen Kultur. 33 Semantisch und strukturell stellte die frontier in der Definition Turners eine imperiale Expansionsgrenze dar. Entsprechend lässt sich in der Geschichte der amerikanischen Selbstbeschreibung weniger ein Wandel im Inhalt als ein Wandel in der Terminologie beobachten: Während konzeptionell und strukturell ein und dasselbe Raumverhältnis ausgebaut wird, lässt sich terminologisch eine Verdrängung des Begriffs „empire“ durch den Begriff „nation“ beobachten. So blickte Jefferson noch einem „Empire of Liberty“ entgegen und George Washington forderte „the formation and establishment of an empire“. 34 Aber nach dem Bürgerkrieg etablierte sich zunehmend eine neue Rhetorik der „Nation“, die die Begriffe „Union“ und „Imperium“ ersetzte. 35 Sowohl in der inneren Selbststilisierung als Zivilisierungsmacht wie auch in seiner Außenorientierung war und blieb das Selbstverständnis der USA (implizit) stets imperial. Außenpolitisch manifestierte sich dies in der Ausrichtung als Weltmacht auf Konkurrenz mit anderen Imperien. 36 Innenpolitisch ging es insbesondere nach dem Bürgerkrieg darum, „ein kontinentales Imperium in eine weiße, christliche Nation“ umzumünzen. 37 33 F. J. Turner, The Significance of the Frontier in American History, in: Proceedings of the State Historical Society of Wisconsin for 1893. 34 Burbank/ Cooper, Empires (Anm. 1), S. 260. 35 Burbank/ Cooper, Empires (Anm. 1), S. 270. 36 „The US was ready to take its place as a major power in a world largely composed of or claimed by other empires.“ Burbank/ Cooper, Empires (Anm. 1), S. 271. 37 Burbank/ Cooper, Empires (Anm. 1), S. 324. Kolonien waren zu jeder Zeit der Schwachpunkt des amerikanischen Imperiums: Die Vermittler, d.h. die gebildeten lokalen Eliten waren sich des drohenden inneren Ausschlusses bewusst und ver- Susi K. Frank 212 Sehr ähnlich wurde in der russischen Historiographie die Eroberung Sibiriens als imperialer Gründungsakt inszeniert (so z.B. im 9. Buch von Nikolaj Karamzins Geschichte des russländischen Staates) 38 und generell Sibirien als Expansionsgrenze bzw. frontier modelliert; ein gutes Beispiel hierfür ist der letzte, nachgeschobene Teil von Ivan Gončarovs Weltreisetext Fregat Pallada, in welchem die russischen Siedler in Sibirien als typische frontiersmen gezeichnet werden, die mit titanischer Energie das Land urbar machen und, wenn sie ein Stück kultiviert haben, gleich zum nächsten weiterziehen. Symptomatisch für das „nationale Zeitalter“ scheint es, dass man in der russischen Historiographie und Kulturosophie im späten 19. und frühen 20. Jh. ähnliche Verflechtungen von nationalen und imperialen Konzepten wie in den USA findet. 39 „Both Russians and Americans were convinced of their ‚manifest destiny‘ to rule huge territories […] but their strategies of expansion and their ways of ruling developed from different imperial experiences.“ 40 In den nationalen Historiographien wurden Russland und Amerika in ähnlicher Weise als imperiale Nationen entworfen. Das berühmteste Beispiel hierfür ist die Definition der russischen Nation als „kolonisierende“, als Nation, die sich durch Kolonisierung erschafft („strana, kotoraja kolonizuetsja“), 41 in den Vorlesungen des bereits erwähnten Vasilij Ključevskij, der Ende des 19., Anfang des 20. Jh.s den Lehrstuhl für Russische Geschichte an der Moskauer Universität innehatte. Diese Definition kann - auch wenn die wischten die Grenzen, die koloniale Regimes zu errichten versuchten (vgl. Burbank/ Cooper, Empires, Anm. 1, S. 326). 38 Nikolaj Karamzin, Istorija gosudarstva rossijskogo, Bd. 9, Sankt Peterburg 1825. Darüber hinaus wird hier die Eroberung Sibiriens für eine symbolische Europäisierung Russlands genutzt, wenn es heißt, dass mit Sibirien „eine zweite neue Welt für Europa“ gewonnen werden konnte: Sibirien wird hier erstmals als riesiger neuer Ansiedlungsraum für europäische Migranten konzeptualisiert. 39 Gleichwohl gab es auch gravierende Unterschiede zwischen den Raum- und Grenzkonzeptualisierungen in Russland und den USA. Sie hat Mark Bassin in einem vergleichenden Aufsatz über Frederick J. Turner einerseits und Sergej Solov’ev andererseits herausgearbeitet (Turner, Solov‘ev and the Frontier Hypothesis. The National Siginification of Open Spaces, in: Journal of Modern History 65, Sept. 1993, S. 473- 511). Wenngleich ich den Ergebnissen dieser Studie zustimmen kann, unterscheiden sich meine Befunde aufgrund einer anderen Perspektivierung doch etwas von denen Bassins. Allerdings würde ich nicht so weit gehen wie Eva-Maria Stolberg, die sich in ihrer immer wieder den Vergleich mit Amerika heranziehenden Geschichte Sibiriens zumeist auf die These der einfachen Parallele beschränkt (vgl. Eva-Maria Stolberg, Sibirien - Russlands Wilder Osten. Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert. Habilitationsschrift Universität Bonn. Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte, Stuttgart 2009). 40 Burbank/ Cooper, Empires (Anm. 1), S. 251. 41 Vgl. Vasilij Ključevskij, Sočinenija v vos’mi tomach, Bd. 1, Kurs russkoj istorii, Teil 1, Moskva 1956. Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 213 Realität der Kolonisation durchaus verschieden aussah 42 - als russisches Pendant zu Turners frontier-Konzept verstanden werden. 43 In beiden Fällen handelt es sich zugleich um eine expansive Raumkonstruktion und um eine Territorialisierung und Nationalisierung des Imperialen. Und auch in dem Sinn, dass beide Länder Herrschaft über heterogene Bevölkerungen beanspruchten und diesen Anspruch jeweils mithilfe einer Universalität behauptenden Ideologie legitimierten, entsprachen sie dem imperialen Muster. Neben der Außengrenze und entsprechenden Transgressionsnarrativen sind es vor allem Innengrenzen, mit deren Hilfe der imperiale Raum symbolisch konstruiert wird. Oft sind das mehrere und von historischer Epoche zu Epoche wechselnde Binnengrenzen. Im russischen Fall handelt es sich erstens um die Grenze bzw. den Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie (durch die Verschiebung zwischen Moskau und Petersburg entstand so etwas wie eine kleine, innere imperiale Genealogie des imperialen Zentrums, die als solche im imperialen Muster der translatio blieb), sowie zweitens um die Anfang des 18. Jh.s von westeuropäischen und russischen Historikern in Übereinkunft gesetzte Kontinentalgrenze zwischen Europa und Asien, die als wichtige innere Grenze zwischen Kern- und Kolonialraum fungierte und eine Identifikation Russlands als europäisches Kolonialimperium ermöglichte (Abb. 3). Zugleich werden die imperialen Binnengrenzen in paradigmatischen Narrativen symbolisch genutzt, indem ihre Überschreitung als Passage konzeptualisiert wird. Auch im Fall der imperialen Binnengrenzen erweist sich das durch Überschreitung zustande kommende dynamische Moment als entscheidend. Wie oben bereits angedeutet, lassen sich in grober Vereinfachung je nach Richtung in diesem Fall zwei Basisnarrative ausmachen, die durch den regionalen Bezug variiert werden: Einmal das vom Zentrum in die Peripherie (und zurück) gerichtete und einmal das ins Zentrum gerichtete Narrativ. Metaphorisch gesprochen, schnüren solche Narrative Imperien symbolisch zusammen. 42 Sowohl in der russischen Geschichtsschreibung des 19. Jhs., als auch in der sowjetischen Historiographie wurde aus der Betonung der faktischen Differenzen (Unterwerfung zur Tributpflicht vs. Dezimierung der indigenen Bevölkerung in genozidalem Ausmaß) ideologischer Nutzen zur kontrastiven Modellierung eines positiven nationalen Selbstbildes gezogen. Eine frühe derartige Gegenüberstellung findet sich bereits bei Karamzin. 43 Ključevskij vertrat hier einen Solov’ev entgegengesetzten und in einem Kern dem amerikanischen frontier-Konzept viel näheren Standpunkt. Zur Differenz zwischen F. J. Turner und S. Solov’ev vgl. Bassin, Turner, (Anm. 39). Susi K. Frank 214 Abb. 3: Nicolaes Witsen: Tartaria, sive magni Chami Imperium ex credendis amplissimi viri, Amsterdam 1705 Schließlich scheint für Imperien ein dritter Grenztypus besonders zentral, nämlich die imperiale Peripherie als durchlässiger, unterdeterminierter Grenz- und Integrationsraum. Dies manifestiert sich symbolisch in einer nicht eindeutigen, ambivalenten Semantisierung, sowie darin, dass periphere Räume bzw. Regionen je nach Bedarf, Perspektive und Situation umsemantisiert werden und sich keine bestimmte Semantik durchsetzen und festigen kann. Im russischen Fall lässt sich das besonders deutlich anhand von Sibirien und des Kaukasus 44 verfolgen, die nicht nur als Schauplätze, sondern als besonders sujetrelevante, mythopoetische Orte für die russische Literatur insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung waren. 44 Zur Konstruktion des Kaukasus als Grenzraum im genannten Sinn einer semiotischen Instabilität bzw. Ambivalenz vgl. Zaal Andronikashvilis Analyse zum Kaukasus in der russischen Literatur der Romantik (Der Kaukasus als Grenzraum. Ein atopos der russischen Literatur, in: Esther Kilchman / Andreas Pflitsch / Franziska Thun- Hohenstein (Hrsg.), Topographie pluraler Kulturen. Europa vom Osten her gesehen, Berlin 2011, S. 41-74; vgl. zu Boris Pasternaks Kaukasusdichtung Zaal Andronikashvilis Beitrag in diesem Band). Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 215 Während sie politisch und gesellschaftlich Zonen der Aneignung, Kolonisation und Integration waren, modellierten ihre literarischen Verhandlungen sie symbolisch nachhaltig als liminale Zonen, als Grenzräume, deren mythopoetische Relevanz im imperialen Kontext gerade in ihrer semantischen Instabilität und Ambivalenz bestand. Nicht zufällig arbeiten aktuelle Forschungen zur symbolischen Konzeptualisierung beider Regionen voneinander unabhängig mit ähnlichen Begrifflichkeiten: In Bezug auf die Kaukasusliteratur spricht Zaal Andronikashvili 45 von einem „a-topos“, den er mit Victor Turner als liminalen, d.h. semantisch ambivalenten, unbestimmten Ort charakterisiert. In Bezug auf Sibirien verwendet Valerij Tjupa 46 denselben Begriff der Liminalität und konkretisiert damit Jurij Lotmans (implizite) These zu Sibirien im russischen Roman des 19. Jahrhunderts als Passagenraum im ritualtheoretischen Sinn. Am Anfang seines Artikels verweist Tjupa selbst - der hier die Paradigmatik Sibiriens für andere Grenzzonen herausstellen will - auf die Analogie zwischen Sibirien und dem Kaukasus, wenn er Zitate anführt, die diesen Vergleich vornehmen. 47 Generell finden wir eine ziemlich analoge Topik in den literarischen Entwürfen beider Regionen, die in beiden Fällen der Modellierung einer liminalen oder Grenzzone dient. Dem in Bezug auf den Kaukasus geprägten Topos des in der Fremde Gefangenen, der sich zwischen einer doppelten Entfremdung (fremd in der Fremde und entfremdet von der Heimat) und einer doppelten Attraktion (Exotik der Fremde, Sehnsucht nach der verlorenden Heimat) hin und hergerissen fühlt, entsprach im Fall Sibiriens der Topos des Verbannten. Vorsichtig könnte man die These formulieren, dass im Fall des Kaukasus die Modellierung als Grenzzone tendenziell metapoetisch interpretiert und zur Konzeptualisierung eines Schreibortes, des Ortes des Dichters/ Autors im Imperium genutzt wurde, 48 während im Fall Sibiriens eine ethisch-moralische Semantisierung des Liminalen - von den Dekabristen (Ryleev) über Dostoevskij und Tolstoj bis zur Lagerliteratur des 20. Jahrhunderts (Solženicyn, Šalamov) - überwog. Die russische Literatur ist voll von Reisen an die Peripherien, für deren Semantisierung zum einen eine gewisse Nichtüberschreitbarkeit der imperialen Außengrenze entscheidend ist, weil das Außen ständig, dem imperia- 45 Andronikashvili, Der Kaukasus als Grenzraum (Anm. 44). 46 Valerij Tjupa, Mifologema Sibiri. K voprosu o sibirskom tekste russkoj literatury, in: Sibirskij filologičeskij žurnal 1/ 2002, S. 27-35. 47 „Kavkaz u nas slyvet chuže Sibiri“ zitiert Tjupa eine publizistische Quelle aus dem Staatlichen Archiv der Altajregion, Barnaul. Tjupa, Mifologema Sibiri (Anm. 46), S. 27. 48 Vgl. Andronikashvili, Der Kaukasus als Grenzraum und ders, Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise (Anm. 44). Susi K. Frank 216 len Mechanismus entsprechend, narrativ angeeignet und integriert wird, 49 zum anderen wird gerade dadurch ein spezifisch liminaler Raum erzeugt, dessen Grundmerkmal seine semantische Ambivalenz ist. So wird, wie Andronikashvili zeigt, die imperiale Peripherie zu einem paradigmatischen Ort der dichterischen und imperialen Selbstreflexion. So gesehen verwundert die über Jahrhunderte intensive und erfolgreiche symbolische und insbesondere literarische Nutzung der Grenzzonen zu stabilisierenden Zwecken kaum. Aber gerade die symbolisch nicht eindeutige Festlegung bedingte, dass diese Peripherien immer wieder für politische wie symbolische Destabilisierung und Umkodierung genutzt werden konnten, dass sie als Peripherien auch Orte der (politischen, ästhetischen und sozialen) Innovation waren, deren Vorbild ins Zentrum zurückwirkte bzw. ins Zentrum vordrang. Die (Re)Positionierung bzw. (Wieder)Geburt des Dichters im Kaukasus einerseits und die moralische Auferstehung in Sibirien sind paradigmatisch, aber bilden sicherlich nur einen Teil einer noch zu erstellenden Reihe im symbolischen Mechanismus der imperialen Peripherie. Nachspann: Die imperiale Peripherie als in der aktuellen kulturtheoretischen Debatte virulentester Aspekt des Imperiums Abschließend möchte ich nun noch einmal zu jenem eingangs genannten Aspekt des aktuellen kulturtheoretischen Interesses an Imperien zurückkommen, der mit dem Ansatz der Kultursemiotik Jurij Lotmans verbunden ist. Interessanterweise hat nämlich Lotman genau diese Art von Peripherie in seinen Überlegungen zum Konzept der Semiosphäre beschrieben, in dem es um eine generelle Theorie der Kultur als Zeichenraum geht und nicht um die Spezifik des Imperiums als politisches und kulturelles Gebilde. Lotman, der in seinem Spätwerk - wie Christa Ebert ausgeführt hat 50 - nicht an Kultur als statischem Gebilde, sondern v.a. an kultureller Dynamik interessiert 49 Paradigmatisch führt diesen Mechanismus Puškins Reise nach Erzerum (Putešestvie v Arzrum) vor Augen (vgl. Susanne Frank, Gefangen in der russischen Kultur. Zur Spezifik der Aneignung des Kaukasus in der russischen Literatur, in: Welt der Slaven XLIII, 1998, S. 61-84), der in gattungshistorischer Perspektive von Thomas Grob (Das Ende der [romantischen] Er-Fahrung. A. S. Puškins „Putešestvie v Arzrum“ als Bericht vom Ende des Reisens, in: Die Welt der Slaven LII, 2007, S. 223-244) - nicht zuletzt aufgrund des genannten Spiels mit der Grenze - als Dekonstruktion der Gattung des Reiseberichts interpretiert wurde. 50 Christa Ebert, Kultursemiotik am Scheideweg. Leistungen und Grenzen des dualistischen Kulturmodells von Lotman/ Uspenskij, 2002. S. 66; online: http: / / www. ku.de/ forschungseinr/ zimos/ publikationen/ forum/ ideengeschichte/ christa-ebertkultursemiotik-am-scheideweg/ . Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 217 war, definiert in Die Innenwelt des Denkens, 51 der „Summa“ seiner Kultursemiotik, die Semiosphäre als Raum der Kultur, der stets heterogen und hochgradig dynamisch ist und durch die Spannung von Zentrum und Peripherie strukturiert wird. Das Zentrum ist danach die Zone der höchsten Homogenisierung, während die Heterogenität und Dynamik an der Peripherie am größten sind. Ebenso offensichtlich wie implizit korrespondiert diese Konzeptualisierung des Raums der Kultur mit der räumlichen Struktur von Imperien eher als mit derjenigen von Nationalstaaten; die Spannung zwischen Zentrum und Peripherie und die Qualität der Peripherie als Grenzzone, Zone des Kulturkontakts, als Pufferzone und Zone partieller Anpassung sind basale strukturelle Merkmale imperialer und nicht nationaler Grenzen. Peripherie ist die Zone der beschleunigten Semiose. Semiotische Prozesse finden immer an den Peripherien der kulturellen Ökumene 52 statt, um vom Rand her ins Zentrum vorzudringen und dieses zu unterwandern. Auch bei Lotman dient ein Beispiel aus der Geschichte des alten Rom zur Demonstration des generellen, hier nicht als imperiales explizierten, Prinzips: Ein sich ausdehnender Kulturraum zieht äußere, angrenzende Gruppen in seine Einflusssphäre hinein und transformiert sie in seine Peripherie. Dabei wird ein schwunghafter semiotischer und ökonomischer Wachstumsprozess angestoßen, der auch das Zentrum affiziert und schließlich direkt die führende Position im Zentrum übernehmen kann. 53 Wenn Lotman zwischen zwei Typen von Grenze differenziert und zwei Typen des äußeren Raums unterscheidet, korrespondiert dies ganz offensichtlich mit der Differenz zwischen nationalem und imperialem Raum: Während der nationale Raum - welcher in seiner idealen Konstruktion als homogener Raum am besten dem Lotmanschen Verständnis vom Zentrum 51 Dt. Jurij Lotman, Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, hrsg. v. Susi K. Frank, Cornelia Ruhe u. Alexander Schmitz, übers. v. Gabriele Leupold u. Olga Radetzkaja, Berlin 2010. 52 Interessanterweise verwendet Lotman diesen Begriff, auf dessen imperiale Karriere weiter oben bereits hingewiesen wurde. 53 Vgl. Jurij Lotman, Über die Semiosphäre. Übers. v. Wolfgang Eismann u. Roland Posner, in: Zeitschrift für Semiotik 12.4, S. 287-305, 1990, hier S. 293: „Die Grenze hat noch eine andere Funktion in der Semiosphäre: Sie ist der Bereich beschleunigter semiotischer Prozesse, die immer aktiver an der Peripherie der kulturellen Ökumene verlaufen, um von dort aus in die Kernstrukturen einzudringen und diese zu verdrängen. Am Beispiel der Geschichte des Alten Rom läßt sich gut eine allgemeinere Gesetzmäßigkeit illustrieren: Ein bestimmter Kulturraum, der sich stürmisch erweitert, zieht äußere Kollektive (Strukturen) in seinen Einflußbereich und verwandelt sie zu seiner Peripherie. Das löst einen stürmischen kultursemiotischen und ökonomischen Wuchs der Peripherie aus, die ihre semiotischen Strukturen ans Zentrum weitergibt, die kulturellen Führungspersönlichkeiten stellt und schließlich die Sphäre des kulturellen Zentrums im direkten Sinne erobert. [...].“ Susi K. Frank 218 der Semiosphäre entspricht - durch Grenzen definiert ist, die von einem äußeren Raum abgrenzen, der als kultureller verstanden wird, als anderer nationaler Raum, d.h. als different, aber gleich, wird imperialer Raum aus der imperialen Innenperspektive verstanden als Raum, dessen Grenze als absolut gedacht ist und daher ein asymmetrisches Verhältnis zwischen außen und innen unterstellt. Manchmal weisen Lotmans Beispiele auch explizit auf imperiale Kontexte hin, so z.B. wenn er schreibt: Alle großen Reiche, die an Nomaden grenzten, an die ‚Steppe‘ oder an die ‚Barbaren‘, siedelten an ihren Grenzen Stämme eben dieser Nomaden oder ‚Barbaren‘ an, die sie zum Schutz der Grenze in Dienst genommen hatten. Diese Siedlungen bildeten Zonen kultureller Zweisprachigkeit, die semiotische Kontakte zwischen den beiden Welten ermöglichten. 54 Einige aktuelle Studien zu Lotman wie die von Michael Frank 55 oder Albrecht Koschorke 56 haben - auf Herfried Münklers Imperientheorie 57 und der Theorie politischer Macht von Michael Mann 58 aufbauend - die imperientheoretische Dimension des Lotmanschen Ansatzes herausgearbeitet. Für sie gewinnt die Kultursemiotik gerade durch ihre produktive Anwendbarkeit auf imperiale Kontexte neue Aktualität. Warum Lotman selbst keinen systematischen Punkt aus dem Imperialen gemacht hat, bleibt unklar. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass das einer dem sowjetischen Kontext geschuldeten Vorsicht zu verdanken ist. Aus offizieller sowjetischer Perspektive war der Begriff „Imperium“ eindeutig besetzt und ausschließlich der Bezeichnung vorsowjetischer Reichsbildung oder hegemonialen Herrschaftsverhältnissen im Kontext des feindlichen Kapitalismus vorbehalten. Wie dem auch sei - Lotmans kultursemiotische Analyse kultureller Peripherie korrespondiert hervorragend mit den Ergebnissen der neuen Imperienforschung, die die Peripherie einhellig als kulturell komplexeste und flexibelste Zone von Imperien beschreiben, die einerseits als Herrschaftsinstrument zu Zwecken von Integration und Exklusion genutzt wird, andererseits aber als Zone relativer Freiheit und Unbestimmtheit für das Aufkommen und Erstarken von Kräften, die das Imperium unterminieren und seine Stabilität bedrohen, prädestiniert scheint. Bislang ist Lotmans Konzept der 54 Lotman, Über die Semiosphäre (Anm. 53), S. 292. 55 Michael C. Frank, Sphären, Grenzen und Kontaktzonen. Jurij Lotmans räumliche Kultursemiotik am Beispiel von Rudyard Kiplings Plain Tales from the Hills, in: Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Kultursemiotik revisited, Bielefeld 2011, S. 217-246. 56 Koschorke, Zur Funktionsweise kultureller Peripherien (Anm. 7). 57 Münkler, Imperien (Anm. 6). 58 Michael Mann, The Sources of Social Power. Bd. I: A history of power from the beginning to A.D. 1760, Cambridge u.a. 1986. Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland 219 „Semiosphäre“ das einzige Modell der kulturellen Dynamik des imperialen Raums, das zum einen auf die Spannung zwischen Zentrum und Peripherie fokussiert ist, das zum zweiten die entscheidende Rolle der Peripherie im Prozess kultureller und politischer Dynamik in imperialen Kontexten herausgearbeitet hat, und dessen Begrifflichkeit, drittens, eine adäquate Beschreibung der symbolischen Konstruktion und des semiotischen Funktionierens imperialer Räume erlaubt. Lotmans Konzept hat ebenfalls gezeigt, dass Peripherien als Zonen von Unbestimmtheit generell äußerst wichtige - und am wenigsten kontrollierte - Zonen von Innovation und Wandel darstellen. Diese vielfältige Anwendbarkeit macht das Konzept auch für Analysen kultureller und politischer Dynamik in Kulturen der Gegenwart auch jenseits imperialer Kontexte besonders produktiv. Denn es ist vielleicht das größte Verdienst des Lotmanschen Konzepts der „Semiosphäre“, dass es erlaubt, Kultur jenseits des Modells gleichartiger und entgegengesetzter nationaler Einheiten zu diskutieren: als vielschichtig, prinzipiell heterogen und durch viele verschiedene Oppositionen, Grenzen und Hierarchien strukturiert. In historischer Perspektive verdankt es sich das Konzept der Semiosphäre vor allem auch der Analyse imperialer Strukturen. Seine kultursemiotische Generalisierung durch Lotman, die von den Theoretikern der Gegenwart aufgegriffen wird, zeigt seine weit über die Grenzen der Imperialgeschichte hinausreichende Relevanz. Wir haben es also mit einer doppelten Relevanz aktueller Imperienforschung zu tun: In kulturhistorischer Perspektive steht die Herausarbeitung der politischen, sozialen und kulturellen Spezifik von Imperien gegenüber anderen staatlichen und suprastaatlichen Gebilden im Fokus. In kulturtheoretischer Perspektive sind es einzelne Aspekte imperialer Staatenbildung - wie z.B. die Dynamik imperialer Peripherie, die als Paradigma einer Zone der Unbestimmtheit aufgefasst wird -, aus denen Rückschlüsse von allgemeiner Relevanz für die politische, soziale und kulturelle Dynamik gezogen werden. Thomas Grob Orientalismus jenseits des Nationalen Ivan Bunins Reiseerzählungen als Spur imperialer Raumerfahrung „Ach, ich habe ihm [Russland] gegenüber noch nie Liebe empfunden und werde wohl nie verstehen, was Liebe zum Vaterland sein soll, die scheinbar jedem menschlichen Herzen eigen ist. […] Wahrhaft gesegnet ist jeder Augenblick, in dem wir uns als Bürger des Weltalls fühlen! Und dreifach gesegnet das Meer, auf dem du nur eine Macht fühlst - die Macht Neptuns! “ 1 I. Spuren imperialer Erfahrung und a(nti)nationales Denken Zum nationalen Denken in den ‚östlichen‘ Regionen Europas und seiner Zuspitzung im späteren 19. Jh. existiert mittlerweile eine breite theoretische, aber auch eine lokal wie überregional materialorientierte Forschung. Diese Forschungen sind allerdings eher politisch-historisch als ästhetisch ausgerichtet, und Phänomene, die sich dem nationalen Denken entziehen, wurden weit weniger systematisch beachtet. Dies gilt auch im Bereich der Literatur, sieht man von Ausnahmeerscheinungen wie etwa Lev Tolstoj und seinem antinationalen Pazifismus ab. Nicht einmal in diesem Falle aber wird gefragt, wie Erzählungen und Schreibweisen Formen von Zugehörigkeiten jenseits nationaler Paradigmen konstruieren bzw. transportieren, geschweige denn, wo solche sich bei AutorInnen finden, bei denen gar keine antinationale Ideologie festzustellen ist. Für die russische Kultur, für die eine stark auf Europa bezogene Entwicklung nationalen Denkens charakteristisch ist, 2 liegt die Vermutung 1 „Ах, никогда-то я не чувствовал любви к ней [d.h. к России, Th.G.] и, верно, так и не пойму, что такое любовь к родине, которая будто бы присуща всякому человеческому сердцу! […] И воистину благословенно каждое мгновение, когда мы чувствуем себя гражданами вселенной! И трижды благословенно море, в котором чувствуешь только одну власть - власть Нептуна! “ (Ivan Bunin, Sobranie sočinenij v 9-i tomach, Moskva 1965-1967, Bd. 3, S. 428). Die Passage stammt aus der ersten Fassung zu Ten’ pticy / Der Schatten des Vogels. 2 Nicht alle Darstellungen zum nationalen Denken in Russland berücksichtigen das gleichermaßen. Expliziter als etwa Frank Golczewski und Gertrud Pickhan (Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jh. […], Göttingen 1998) thematisiert Vera Tolz (Russia. Inventing the Nation, Oxford 2001) den Sachverhalt, Thomas Grob 222 nahe, dass vornational begründete, in diesem Sinne imperiale Erfahrungen von Raum und kultureller Differenz ihre Spuren im Denken kultureller Räume hinterlassen haben. Solche Spuren sind schwer genug nachzuweisen, doch sind sie überhaupt nicht mehr zu erkennen, wenn man ‚Imperium‘ ausschließlich als paradigmatisches Machtgefälle versteht und Analysen dem Nachweis dienen, dass das Imperiale sich als Ideologie trübend über die Wahrnehmung des ‚Anderen‘ legte. 3 Macht-Asymmetrien können in imperialen Kontexten nicht ignoriert werden, doch sind sie - ganz besonders außerhalb der militärisch-ökonomischen Machtpolitik - wesentlich komplexer und vielfältiger als häufig angenommen. Bevor es im Folgenden um Ivan Bunins Reisetexte geht, soll vorweggenommen werden, dass als Resultat einer Analyse seines ‚Orientalismus‘ nicht zu erwarten ist, dass hier die präzise Bestimmung eines ‚Imperialen‘ im Unterschied zu anderen Formen des Nicht-Nationalen freigelegt wird. Bunin fehlt in den auf imperiale Aspekte fokussierten Darstellungen des russischen Orientalismus. Doch kann sein Beispiel zeigen, dass russische Raumerfahrungen jenseits nationaler Paradigmen sogar auf dem bevorzugten Feld postkolonialer Ansätze, dem Exotismus oder Orientalismus, keineswegs nur als Verlängerung eines imperialen Machtstrebens oder in einer ‚kolonialen‘ bzw. ‚selbstkolonisierenden‘ 4 Perspektive gesehen werden können. Die literarische Reise ist wohl das anschaulichste Genre, übernationale Raumkonstruktionen und -erfahrungen zu untersuchen, und es ist dasjenige, das die Frage der Faszination des Fremden - eine der größten Blindheiten postkolonialer Ansätze - ebenso in den Blick nehmen lässt wie die abgrenzenden Konstruktionen des Fremden. Denn nirgendwo verbinden sich die Erfahrungen von Grenze und Alterität so sehr mit Schreibweisen, die den eigenen Blick und das ‚fremde‘ Objekt konstituieren und legitimieren. Dabei gilt es, das Genre nicht ideologisch zu domestizieren. So wichtig es ist herauszuarbeiten, wie das Reisegenre Codes zur Legitimierung ökonomi- dass intellektuelle Selbstbilder und Zukunftsvorstellungen in Russland „have been shaped more than anything else by a comparison with the West“ (S. 130). 3 Die Kritik der Germanistin Andrea Polaschegg (Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin-New York 2005) an der „Grundannahme, die besagt, dass zwischen dem imaginären Charakter des Orientbildes in Europa und den herrschenden politischen, militärischen und ökonomischen Machtverhältnissen eine kausale Beziehung bestand“ (S. 17), gilt für den slavischen Breich nicht weniger; vgl. mit Blick auf die russische Romantik: Th. Grob, Eroberung und Repräsentation. Orientalismus in der russischen Romantik. In: W. S. Kissel (Hrsg.), Der Osten des Ostens. Orientalismus in slavischen Kulturen und Literaturen, Frankfurt a.M. 2012, S. 45-70. 4 Vgl. Alexander Etkind, Internal colonization. The Russian imperial experience, Cambridge 2011. Orientalismus jenseits des Nationalen 223 scher Expansion und imperial(istisch)er Herrschaft lieferte, 5 so sehr lohnt es sich zu individualisieren und, vor allem, das dem Genre eigene Potential zur Grenzüberschreitung in veschiedenstem Sinne nicht zu übersehen. So wären etwa der anthropologisch fundierte, kulturell aber sehr unterschiedlich wirkende Impetus der Neugier 6 und sein Begegnungspotential mit der Geschichte hegemonialer und phantasiegeleiteter Repräsentationspraktiken 7 zu verbinden. Für Russland hieße das insbesondere, die im 19. Jh. (und, so ist zu vermuten, darüber hinaus) so wirksame byronistisch-romantische Tradition aufzuarbeiten, in der es Formen der Beschreibungen des ‚Orients‘ gibt, die man auch als echte kulturelle Begegnung und als Grundlegung nichtkolonialer Kontaktformen verstehen muss. 8 Ivan Bunin ist im Feld orientalistisch geprägter Fremdheitserfahrung im frühen 20. Jh. vielleicht kein typischer Fall. Doch lässt sich gerade bei ihm ein literarisches Reisen beobachten, das ganz eigene Formen der Raumerschließung und der Begegnung mit dem Fremden - das, wie wir sehen werden, nur bedingt fremd ist - hervorbringt. In übliche koloniale oder ‚imperialistische‘ Schemata will dies ebenso wenig passen wie in eurozentrische und nationale. Eine Hypothese dabei lautet, dass gerade diese Raumerschließung auf eigene Weise mit imperialen Prägungen der Wahrnehmung korrespondiert. II. Ivan Bunin und das (Schreiben über) Reisen Ivan Bunin war sicher kein ‚imperial‘ denkender Autor. Vor allem aber hatte er kein Verständnis für nationsgebundenes - oder, wie oben zitiert, ‚patriotisches‘ - Denken. Sein ‚Nichtverstehen‘ einer nationalen Raumzugehörigkeit wäre zu unterscheiden von einem ideologischen Antinationalismus, der bei Bunin nicht im Vordergrund steht. Letzterer wäre eher die Position des späten Lev Tolstoj, und tatsächlich hängt auch Bunins Haltung wohl mit seiner Bewunderung für Tolstoj zusammen, 9 die in seinen frühen Jahren 5 So der Ansatz von Mary Louise Pratt, Imperial eyes. Travel writing and transculturation. 2nd edition, New York 2008, hier S. 4. 6 Vgl. Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Wien u.a. 2002. 7 Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. Aus d. Engl. v. R. Cackett, Berlin 1994. 8 S. z.B. für die englische Literatur Mohammed Sharaffuddin, Islam and romantic orientalism. Literary encounters with the Orient, London, New York 1996. 9 Häufiger zitiert wird in diesem Zusammenhang der Satz aus einem Brief an P. Nilus vom 11. November 1910, Tolstoj - gemeint ist dessen Weggang aus Jasnaja Poljana - habe ihn erschüttert wie nichts sonst in seinem Leben (Ivan Bunin, Pis’ma 1905-1919 godov, Moskva 2007, S. 155, vgl. die Anm. S. 555). Thomas Grob 224 sogar enthusiastisch gewesen war. Ganz im Gegensatz aber zu seinem Vorbild war Bunin seit seiner Jugend ein leidenschaftlicher Reisender. 10 In den Jahren zwischen dem Verlassen des Elternhauses mit achtzehn Jahren und der Emigration lebte Bunin meist ohne längerfristigen festen Wohnsitz. Er pendelte gleichsam zwischen den Städten, der Familie auf dem Dorf, dem Süden und Besuchen im Ausland: er war in Deutschland, Italien und Frankreich und mehrmals länger auf Capri, wo Maksim Gor’kij lebte. Valentin Kataev berichtet, Bunin habe „immer wie im Biwak“ gelebt und davon geträumt, nur mit einem Koffer reisend in den schönen Hotels der Welt zu leben; 11 offenbar wäre er auch gerne für mehrere Jahre verreist. 12 Anders als Tolstoj, der oft wandernd unterwegs war - in der weiteren Umgebung von Jasnaja Poljana, wobei er sich gerne als einfacher Bauer ausgab -, galt die Leidenschaft Bunins Schiffen und Hotels, und vor allem den Reisen, die das Eigene transzendieren. Die Ziele, die literarische Spuren hinterlassen haben, waren ‚exotisch‘ markiert. Dies war bereits bei der ersten Reise 1890 in die Ukraine und v.a. an den Dnepr der Fall, die er ganz offensichtlich in romantischer Tradition sah; 13 nicht zufällig wollte er dort das Grab Taras Ševčenkos besuchen. 14 Die Kreise von Bunins Reisen erweiterten sich beständig. 1903 fand ein prägender Besuch in Istanbul bzw. Konstantinopel statt, wofür Bunin nach Angaben seiner späteren Frau den Koran, der ihn schon vorher faszinierte, in einem Stück durchlas; 15 insgesamt 13 Mal besuchte Bunin nach eigenen Angaben die Stadt. Im Frühjahr 1907 folgte eine Reise mit seiner späteren Frau Vera Muromceva von Odessa aus nach Konstantinopel, dann über Athen und Alexandria nach Palästina; diese Reisen liegen größtenteils dem 10 Einen guten Überblick über die biographischen Daten zu Bunins Reisen findet sich bei David J. Richards, Comprehending the beauty of the world. Bunin’s philosophy of travel, in: Slavonic and East European Review 52 (1974), S. 514-532. 11 „Как-то Бунин сказал мне, что если бы он был очень богат, то не стал бы жить на одном месте, заводить хозяйство, […] а путешествовал бы по всему земному шару, останавливаясь в хороших, комфортабельных гостиницах и живя там столько, сколько живется […]: один-два чемодана с самым необходимым“ (V. Kataev, Trava zabvenija. Zit. nach: Ders., Almanaznyj moj venec. Povesti, Moskva 1981, S. 401f.). 12 Vera Muromceva-Bunina, Žizn’ Bunina. Besedy s pamat’ju, Moskvа 1989, S. 311. 13 Vermutlich war die romantische Entdeckung des Reisens als „intellektuelles Vergnügen“ mit dem Ziel der Selbsterkenntnis (so Eric J. Leed, Die Erfahrung der Ferne. Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage. Aus d. Engl. v. H. H. Harbort, Frankfurt-New York 1993, S. 28, der offenbar den Sentimentalismus der Romantik zuschlägt) im russischen Kontext besonders nachhaltig. 14 Vgl. zu dieser Reise Aleksandr Baboreko, Bunin. Žizneopisanie, Moskva 2009, S. 26. 15 Muromceva-Bunina, Žizn’ Bunina (Anm. 12), S. 219. Vgl. die Materialien zu dieser frühen Reise bei Baboreko, Bunin (Anm. 14), S. 85ff. Orientalismus jenseits des Nationalen 225 Erzählzyklus Chram solnca / Der Sonnentempel bzw. Ten’ pticy / Der Schatten des Vogels zugrunde. 16 Im Dezember 1910 reiste das Paar vier Monate, diesmal über Odessa nach Beirut und Port Said, Kairo, Luxor und Assuan, dann durch den Suezkanal bis nach Ceylon. Reisetexte im hier zugrundeliegenden, noch zu diskutierenden Sinne gibt es zuerst zur Ukraine (Na Donce / Am Donez, Kazackim chodom / Auf Kosakenart), dann zu den ‚orientalischen‘ Regionen; 17 das vostočnoe (d.h. Östliche oder auch Orientalische) 18 spielt in letzteren eine explizite und zentrale Rolle. Die Bewegung über den ‚Süden‘ der Ukraine zum ‚Osten‘ und ‚Orient‘ reflektiert nicht nur Bunins sich erweiternde Reisemöglichkeiten, sondern vollzieht auch die Bewegung des exotischen Anderen des russischen Orientalismus nach, wie man sie auch in der Malerei beobachten kann: Dieser schloss in gewissen Aspekten durchaus die Ukraine ein und verstand auch den Kaukasus noch als exotischen ‚Süden‘, 19 richtete sich später jedoch zunehmend auf einen außerrussischen ‚Osten‘ aus. Die programmatische romantische Bindung des poetischen Orients an die russischen Landesgrenzen fällt für Bunin weg. Ex negativo wird Bunins Reisebegeisterung 20 deutlich, als nach der Emigration seine Staatenlosigkeit eine größere Reisetätigkeit verunmöglicht; 1933 bezeichnete er diese Unmöglichkeit, als Emigrant zu reisen, als „einen 16 Der Zyklus war in der Gesamtausgabe von 1915, in der Einzelausgabe Petrograd 1917 wie auch in der Berliner Petropolis-Werkausgabe (1934-1936) mit Chram solnca (Der Sonnentempel) betitelt. Dazwischen erschien er 1931 in Paris unter dem Titel Ten’ pticy (Der Schatten des Vogels). Da Bunin kurz vor seinem Tod diesen Titel auf eine Druckfahne schrieb, verwenden ihn alle postumen russischen Ausgaben. Die bisher einzige deutsche Übersetzung (Iwan Bunin, Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder. Aus d. Russ. v. D. Trottenberg, hrsg. v. Th. Grob, Zürich 2008) gibt die Petropolis-Fassung wieder. Der Band versammelt neben dem Zyklus Der Sonnentempel die Texte, die in einer analogen Erzählstruktur das (eigene) Reisen thematisieren. 17 In Einzelfällen thematisieren sie das Gebirge (V al’pach / In den Alpen; S vysoty / Von der Höhe), die Verbindung von Berg, Wandern und Steppe (Pereval / Der Gebirgspass) oder den Genfer See (Tišina / Die Stille); ein Text gilt dem Erleben einer neuen Eisenbahnlinie (Novaja doroga / Die neue Strecke). 18 Ich werde im Folgenden das russische vostok / vostočnyj (Osten, östlich) meist als ‚Orient‘ bzw. ‚orientalisch‘ wiedergeben, wenn nicht die östliche Himmelsrichtung gemeint ist. Dennoch bleibt zu bedenken, dass die assoziative Aura des russischen Begriffs vom deutschen differiert. 19 Für Bunin scheint der Kaukasus keinen Reiz als Reiseziel darzustellen. Gelegentlich greift er auf den ‚romantischen‘ Kaukasus zurück, etwa im Gedicht Ėl’brus (Iranskij mif, 1905) oder, eher ironisch, in der späten Erzählung Kavkaz (1937). 20 Diese manifestert sich auch in den zwischen 1915 und 1918 verfassten Gedichten, die Bunin 1919 als Zyklus Putevaja kniga veröffentlichte (vgl. Andrea Meyer-Fraatz, Putevaja kniga - ein vergessener Gedichtzyklus Ivan Bunins, in: Zeitschrift für Slavistik 40, 1995/ 3, S. 268-280). Dieser Zyklus weist jedoch weder in der Form, noch in Auswahl und Beschreibung der Räume die Kohärenz der Prosa-Reisetexte auf. Thomas Grob 226 seiner größten Verluste“. 21 Tatsächlich konnte Bunin in den Jahren des Exils höchstens noch kleinere europäische Reisen unternehmen; auf einer Rückreise aus der Tschechoslowakei im Jahr 1936 kam es zudem zu einem traumatisierenden Skandal an der Grenze in Lindau, als er von deutschen Grenzbeamten verhaftet und äußerst rüde behandelt wurde. 22 In der frühen Zeit des Exils repräsentiert sich dafür literarisch ein nostalgischer Rückblick auf die früheren Reisen - und auf die Möglichkeit des Reisens -, dies vor allem in poetisierenden Prosaminiaturen, die in ihrer Ich-Struktur den Reisetexten analog sind. Der vielleicht späteste ist Roza Ierichona / Die Rose von Jericho (1924); hier wird die Rose von Jericho, die mit dem (Toten) Meer und der Wüste verbunden ist und riesige Strecken und Zeiträume überwinden kann, „wenn ein Pilger sie ausreißt“, in Beziehung gebracht zu seiner eigenen „Pilgerfahrt“ in „jenen gesegneten Tagen“ zu den „lichtdurchfluteten, uralten Ländern“, die auch „Hochzeitsreise“ war und wo „die gleichen Anemonen, der gleiche Mohn wie schon zu Rahels Tagen“ geblüht hätten (alles dt. S. 378f.). 23 III. Bunins putevye poėmy als eigenes Genre Bunin nimmt 1913 in seiner Erzählung Lirnik Rodion (Der Lyraspieler Rodion) die Ukraine-Begeisterung seiner Jugend auf: In jenen Jahren war ich verliebt in Kleinrussland, in seine Dörfer und Steppen, suchte begierig die Nähe zu seinen Menschen, lauschte begierig ihren Liedern, ihrer Seele. Meistens sangen sie melancholisch, wie es einem Sohn der Steppe gebührt; sie sangen auf kirchliche Weise […]. (dt. S. 290) 24 Zugrunde liegen diesem Text nicht nur die Reminiszenz an das ‚exotische‘ Ukraineerlebnis aus der Jugend, sondern implizit, worauf ich noch zurückkomme, auch diejenige an dazwischen liegende fernere Reisen: Letzteren ist es geschuldet, wenn sich die Vergangenheit, der „Anklang an einen mittelalterlichen Choral“, in einer spezifisch „östlichen“ bzw. „orientalischen“ (vostočnaja) Schwermut zeigt (dt. S. 293). Die hier zur Diskussion stehenden Reisetexte bilden bei Bunin ein strukturell abgegrenztes Genre, und die ‚östlichen‘ Reisen bilden ihren Kern. In dem aus solchen orientalischen Reise- 21 Bunin, Sobranie sočinenij (Anm. 1), Bd. 9, S. 325. 22 Vgl. Baboreko, Bunin (Anm. 14), S. 308. 23 Alle im Folgenden mit „dt.“ gekennzeichneten Zitate stammen aus der Ausgabe Bunin, Der Sonnentempel (Anm. 16). 24 „Я в те годы был влюблен в Малороссию, в ее села и степи, жадно искал сближения с ее народом, жадно слушал песни, душу его. Пел он чаще всего меланхолически, как и подобает сыну степей; пел на церковный лад, […]“ (Bunin, Sobranie sočinenij, Anm. 1, Bd. 4., S. 157f.). Orientalismus jenseits des Nationalen 227 texten bestehenden Erzählzyklus Chram solnca bzw. Ten’ pticy nennt er diese „Reisepoeme“ (putevye poėmy), und vieles spricht dafür, dass gerade die Reisetexte bei Bunin einerseits einem lyrischen Prinzip nahestehen, andererseits gleichsam für Thematiken der Begegnung mit dem Fremden zuständig sind. 25 Zur narrativen Form dieser meist recht kurzen Erzähltexte gehört ihre innere perspektivische Ambivalenz, um nicht von einer Paradoxalität zu sprechen. Der diegetische 26 und bezüglich der anderen Figuren extern fokalisierende Erzähler, 27 der als „Ich“ immer wieder explizit wird, begründet zusammen mit der Evozierung einer realen Reisesituation und der Identifizierung des Reisenden mit dem Autor Bunin eine Form des ‚autobiographischen Pakts‘. 28 Die Lektüre dieser Texte kann nur erfolgreich sein, wenn sie von der Auseinandersetzung mit beobachteten Realia ausgeht; die Annahme, die Authentizität der Texte stamme nicht aus der eigenen Anschauung, würde als Verletzung des Genres empfunden. 29 Dass diese Erzählhaltung mit Reflexionen des beobachtenden Erzählers durchsetzt ist und dessen Blick eine gewisse Subjektivität aufweist, ist noch genretypisch. Doch die Radikalität, mit der sich diese Texte von der Tradition des sentimental journey ebenso abheben wie von der Reportage, ist doch ungewöhnlich; 25 Erstaunlicherweise trifft die Feststellung von Nadine Natov (Nadežda Natova, Vody mnogija. ‚Putevye poėmy‘ I. A. Bunina, in: Zapiski russkoj akademičeskoj gruppy v SŠA / Transactions of the Association of russian-american scholars in the USA. XXVII / 1995, S. 135-162) immer noch zu, dass diese Erzählungen wenig Beachtung in der Forschung gefunden haben. In der Sowjetzeit wurde der Zyklus als Schatten des Vogels zwar in Werkausgaben publiziert, doch war er wegen der religiösen Bezüge mit einem gewissen Tabu belegt; ins Deutsche wurde er vor der Ausgabe 2008 (Anm. 16) nie übersetzt. 26 Dies nach Wolf Schmid, Elemente der Narratologie. 2. Ausgabe, Berlin-New York 2008, S. 86ff. 27 Im Sinne von Wolf Schmid (Anm. 26) wäre dies ein Erzählen, in dem ein ‚primärer‘ und ein ‚sekundärer‘ Erzähler, oder aber der Erzähler und eine Reflektorfigur, ungetrennt bleiben. Es macht die späteren Reminiszenztexte aus, dass sie den Erzählrahmen explizit machen und ein erzählendes bzw. erinnerndes Ich vom erlebenden unterscheiden. 28 Zur Frage des Begriffs von Philippe Lejeune im Zusammenhang mit der Reiseliteratur vgl. etwa David Chirico, The travel narrative as a (literary) genre, in: W. Bracewell, A. Drace-Francis (Hrsg.), Under eastern eyes. A comparative introduction to East European travel writing on Europe, Budapest, New York 2008, S. 27-59, hier S. 37ff. 29 Auf die Problematik des Gedächtnisses sei hier nur hingewiesen - zumindest die erhaltenen Notizbücher sind ungleich weniger ausführlich als der Text. Bunin ordnete wohl die Erfahrungen gelegentlich auch textlichen Kriterien unter; dies ist etwa in der Schweiz-Skizze V al’pach / In den Alpen der Fall, deren geographische Beschreibungen seltsam inkorrekt sind. Thomas Grob 228 auch geht den Texten weitgehend der didaktische Erklärungsgestus ab, in dem ein ‚kundiger‘ Reisender dem Leser die fremde Welt erklärt. Der Gestus hier ist einer der Selbstvergewisserung und des Zeigens. In den Reiseskizzen werden die detaillierte Beobachtung und deren bildliche wie olfaktorische Evozierung so intensiv betrieben wie die reflexive Perspektivierung. Letztere hebt jedoch keineswegs auf einen subjektiven Gefühlseindruck ab, sondern auf ein objektivierendes Verstehen, das Bunin wohl als Form von ‚Wahrheit‘ charakterisiert hätte. Dieses Verfahren bezieht prismatisch Texte in die Beobachtung ein, die durchwegs weit in die Vorgeschichte einer Region verweisen: den Koran, die Bibel und biblische Apokryphen, Legenden, historische Berichte und, eher implizit, wissenschaftliche Darstellungen. 30 Diese Texte sind eingearbeitet in den Blick des Erzählers, als Deutungsmuster und Lenkung des Verstehensinteresses, aber auch als zitierte Stimmen im Text. So bleiben Bibelzitate in den Palästina-Texten nicht nur undeklariert, sondern meist auch unkommentiert, und dies gilt auch, wenn solche Zitate, wie etwa bei der Cheopspyramide in Das Licht des Zodiak / Svet Zodiaka, keineswegs als bekannt vorausgesetzt werden können. Das häufig wiederkehrende Motiv, dass der Erzähler eine Stadt oder eine Landschaft, die er erstmals besucht, wiedererkennen will - dies gibt es in den frühen Ukraine-Reisen ebenso wie in den ‚fremden‘ Ländern -, ist wohl auch, wenn auch nicht ausschließlich eine Referenz auf diese Texte. 31 Damit ergibt sich eine mehrfache Brechung der durchaus betonten, einem lyrischen Gestus ähnlichen Beobachteroptik. Dieser Gestus zeigt sich auch darin, dass Bunin die Mitreisenden zugunsten der bipolaren Konfrontation von „Ich“ und fremder Welt ausblendet; nur gelegentlich wird das „Ich“ in alltäglichen Dingen durch ein allgemeines „Wir“ ersetzt, und nur höchst vereinzelt gibt es einen Hinweis auf andere Reisende. 32 Die betonte ‚Objektivität‘ ist von einer hoch poetisierten Beschreibungssprache begleitet, die gelegentlich in einer eigentlichen Rhetorik der Begeisterung, ja des Glücks des Reisens gipfelt. 30 S. Baboreko, Bunin (Anm. 14), S. 102f. 31 Später wird Bunin dies buddhistisch eingefärbt mystifizieren. In Žizn’ Arseneva / Das Leben Arsenevs glaubt der Erzähler sich an seine „früheren Existenzen“ zu erinnern, was ihn in Ägypten und Nubien habe sagen lassen, alles sei so, wie er sich längst daran erinnere (Bunin, Sobranie sočinenij, Anm. 1, Bd. 6, S. 37). 32 Erwähnt wird außer dem Reiseführer in Istanbul nur „mein Reisegefährte, ein russischer Jude“ (dt. 93). Gemeint ist der Pianist David Šor, der mit seinem Vater in Palästina unterwegs war. Aufgrund seiner nationalen, d.h. zionistischen Einstellung, die derjenigen Bunins zuwiderlief, sind Andeutungen in Šors Erinnerungen zu Bunins vermeintlichem latentem Antisemitismus mit Vorsicht zu lesen; trotz gewisser Spannungen war, folgt man den Erinnerungen Muromcevas (Anm. 12), der Kontakt recht intensiv (vgl. http: / / bunin.niv.ru/ bunin/ mesta/ puteshestvie-palestina.htm, 15.1.2013). Orientalismus jenseits des Nationalen 229 IV. Faszination und Aneignung: Istanbul Istanbul oder Konstantinopel, dem sich der erste Text des Sonnentempels bzw. Schatten des Vogels widmet - letzteres ist auch der Titel dieser ersten Skizze -, war sicher der wichtigste Bezugsort Bunins außerhalb Russlands. Vielleicht war es überhaupt die einzige Stadt, die für Bunin als solche literarisch relevant war. Seine Frau behauptet, er habe sie nicht schlechter gekannt als Moskau; 33 der Erzähler erwähnt, einen Fremdenführer brauche er nur dazu, jederzeit die Stadt betreten zu dürfen (dt. 22). Bunin, der eher vermeidet, der Stadt Namen zu geben, sucht nicht die Kaiserstadt Byzanz, das alte russische Car’grad; so nennt er die Stadt in Briefen 34 und im Gedicht Stambul aus dem Jahr 1905, 35 wo er auf die eroberte Stadt der Gärten und Paläste anspricht. Doch sogar das dort genannte Attribut des „Halbwilden“, das der Stadt anhafte, ist keineswegs als These des Verfalls vom Vorislamischen zum Islamischen zu werten, wie es dem orientalistischen Muster entsprechen würde. 36 Seiner Begleiterin stößt sogar auf, dass Bunin von allem Türkischen begeistert sei, während ihn das Byzantinische eher störe. 37 Solche Aussagen sind mit Reserve aufzunehmen, umso mehr, als sie sich nicht ganz mit dem Text decken; 38 doch meint der Erzähler beispielsweise, die Übermalungen der Mosaike und Bilder in der Hagia Sophia, die alle beklagen würden, würden den Betrachter immerhin zum „Ursprung des Islam, der in der Wüste geboren wurde“, zurückführen und den Bau mit der „ursprünglichen Schlichtheit“ der barfüßigen Betenden verbinden (dt. 38). Dass wir uns hier in der Hauptstadt des noch existierenden Osmanischen Reiches befinden, wird nicht direkt angesprochen. Im Gegenteil scheinen die vektorialen Kräfte aus der Stadt hinauszuführen, etwa wenn „das geheime Flehen und die Lobpreisungen“ in die heilige Stadt Mekka weisen (dt. 38f.), oder wenn der Wind wie im Tanz der Derwische „in die Unendlichkeit“ zu ziehen scheint (dt. 46), in die östliche Ferne der „Mysterien“. Für den kom- 33 Muromceva, Žizn’ Bunina (Anm. 12), S. 305. 34 So z.B. Bunin, Pis’ma (Anm. 9), S. 50. 35 Bunin, Sobranie sočinenij (Anm. 1), Bd. 1, S. 216. 36 Vgl. dazu zugespitzt Ziauddin Sardar, Orientalism, Buckingham-Philadelphia 1999, hier S. 7. Auch die anderen dort aufgeführten Merkmale treffen auf Bunin kaum zu; ganz besonders gilt das für das Bild der Türkei (ebd. S. 30f.). 37 Muromceva, Žizn’ Bunina (Anm. 12), S. 305. 38 Eine übergreifende Sympathie für das Islamische ist in den Texten sowenig auszumachen wie das Gegenteil. Wendungen wie „die strenge, wilde Macht des Islam“ (dt. S. 72) oder Sätze wie „Hebron aber ist ein wildes mohammedanisches Nest“ (dt. S. 103) sind in ihren Kontexten zu lesen. Auf die letzte Aussage folgt die Szene, in der Jungen mit Steinen nach „nicht-mohammedanischen Pilgern“ werfen, was David Šor und Vera Muromceva mehr entsetzt zu haben scheint als Bunin (vgl. Muromceva, Žizn’ Bunina, Anm. 12, S. 324). Thomas Grob 230 mentierenden Schluss des Istanbul-Texts wird der Dichter Saadi herangezogen (dt. 46f.), ein Lieblingsdichter Bunins, den er auf den Reisen immer bei sich getragen haben soll 39 und der immer wieder auftritt; aus Saadi wird, mit Bezug auf Istanbul, die „Verzückung“ zitiert, die nur ein Esel oder ein Holzscheit nicht empfinden könne (dt. 47). Istanbul ist in gewisser Weise die Stadt der Städte. Die griechischen Chronisten hätten sie „das Lied der Lieder, das Wunder der Wunder, die Hauptstadt der Erde“ genannt (dt. 43), und ihr Basar biete alles, „was es auf den Basaren des Orients gibt“ (dt. S. 42). Wie stets in diesen Reiseskizzen erfolgt die Begründung für das Wesen eines Raums aus ihm selbst. Der nah am Derwischkloster gelegene Galata-Turm mit seiner schwindelerregenden Aussicht bietet Anlass, den „Schatten des Vogels“ einzuführen, der dem Text und zeitweise dem Zyklus den Namen gibt: Der Vogel Huma soll seinen Schatten auf den „Bergrücken der Gebirgszüge Kleinasiens“ geworfen haben, was mit der Legende der Gründung der Stadt Byzanz durch Zeus’ Adler und mit einer Kreuzerscheinung in Verbindung gebracht wird. Schon Saadi habe gemeint, der Schatten des Vogels Huma würde „Königswürde und Unsterblichkeit“ verleihen (dt. S. 43). Die wahren heiligen Städte jedoch, so muss man vermuten, sind nicht in der Gegenwart zu suchen: „es gab sie einst, diese heiligen Städte“ (dt. S. 18), und auch sie gehören nun zu den Ländern „der Ruinen und Friedhöfe“ (dt. S. 17) - was, wie wir noch sehen werden, das eigentliche Leitmotiv dieser Reisen ist. Die Wahrnehmung von Istanbuls Bedeutung ist frei von nationalen oder religiösen Hierarchisierungen. Die Bedeutung der Stadt scheint sich nicht zuletzt in ihrer Vielfalt auszudrücken, die ebenso horizontal-ethnisch wie vertikal-historisch angeordnet ist. Letzteres bringt den „Serail“ (dt. S. 34) mit dem christlichen Turm und dem mystischen Derwischkloster in Analogie. Einen internen Ost-West-Vektor gibt es jedoch nicht. So scheinen die Aufzählungen, die in ‚orientalistischer‘ Tradition stehen, für diese Stadt die angemessene Beschreibungsform zu sein. Die Straße biete sich dar „wie eine Maskerade“, und diese mischt […] Wiener Gehröcke und rote Kamelhaarjacken, Panamahüte und hohe kaukasische Schaffellmützen, einen helläugigen Engländer und graublaue Beduinen, einen hünenhaften Montenegriner in weißer, goldbestickter Wolltracht, […] einen abgezehrten polnischen Juden, die braune Kutte eines Franziskaners und einen Neger, eine Karmeliter-Nonne und einen Chinesen mit starrem Kopf, schwarzem, fersenlangem Zopf und lilafarbener Jacke (dt. S. 32f.). 39 Muromceva, Žizn’ Bunina (Anm. 12), S. 223. Orientalismus jenseits des Nationalen 231 Analog wird im carsi „türkisch, armenisch, griechisch, französisch“ geschrien. Die zeitgenössische Türkei findet dabei jedoch wenig Beachtung. Hätten wir nicht das zitierte widersprechende Zeugnis der Begleiterin, ließe sich darin ein ‚orientalistisches‘ Element sehen, so wie seine Begrüßung Gerasims russisch, griechisch und arabisch war. Bunin ist im „Osten“, auch diesbezüglich in orientalistischer Tradition, primär in islamischem - und idealtypisch arabischem -, nicht türkischem Gebiet. Damit liegen aber der scheinbaren Missachtung der politischen Gegenwart keine religiösen Kriterien zugrunde, sondern Bunins Suche nach einer Vorzeit. Die Eigenschaft Istanbuls allerdings, dass Würde und Charakter der Stadt nicht von einer bestimmten Sprache abhängt, wäre selbst ein imperiales Element. Bleibt die ‚postkoloniale‘ Frage nach der Aneignung, nach Eigenem und Fremdem. Letzteres taucht explizit an der überraschendsten aller möglichen Stellen auf - in Bezug auf die Hagia Sophia. Es wird ohne Quelle eine alte Beschreibung zitiert, in der die Hagia Sophia sich wie ein Schiff über der Stadt erhebe. Dies wird sogleich in die Vergangenheit versetzt: Heute ist sie abgesunken, verschwindet zwischen den neuen Moscheen. Aus der Ferne sieht sie sogar klein aus. Auch der Palast ist nicht groß. Er ist aus grauem Stein, einfach, klobig wie ein Festungsgefängnis, das Dach ohne Gesims, schmale, kleine Fenster, hoch angesetzt... Und wie fremd er allem ist - er und die Hagia Sophia - selbst hier, im alten Stambul! (dt. S. 21) Fremdheit gehört per se zu dieser Stadt, nicht weil sie sich fremd geworden wäre oder weil ihre Geschichte usurpiert wurde - dieser Gedanke klingt in Bunins Gedicht Stambul an, nicht aber im Reisetext -, sondern weil alles hier eigen und fremd sein kann. Auch der Beobachter selbst steht keineswegs über der Stadt, er kennt sie, sie ist ihm gleichsam zu eigen geworden wie vielen anderen. In glücklichen Momenten kann er durch ihre Texte gleichsam ihre Sprache sprechen: „Ihre Gesichter“, denke ich mit den Worten des Korans, „gleichen im Sand bewahrten Straußeneiern.“ (dt. S. 30) Doch bleibt der Gestus des Reiseberichtes derjenige der Neugierde, des Kennenlernens, der intensiven Wahrnehmung von Bildern, Lauten, Gerüchen. Diese Intensität kommt aus der Fremdheit: „meine Sehkraft, mein Gehör waren, so scheint es, noch nie so geschärft“, notiert Bunin in Jericho (dt. S. 143). Wenn Saadi, der Bunin auch biographisch faszinierte, 40 nach eigener Aussage „sein Leben darauf verwendet hat, die Schönheit der Welt zu schauen“ (dt. S. 46), wenn die Saadische „Verzückung“ am Ende des Istan- 40 Vgl. Muromceva, Žizn’ Bunina (Anm. 12), S. 223. Thomas Grob 232 bul-Bildes steht, dann kann das nur heißen, dass Bunins Modell von ‚Aneignung‘ dem Gegenstand das Fremde belässt, ja belassen muss. Dieses Modell des Eigenen im Fremden geht auf die russische Romantik zurück, auch wenn Bunins Texte keinerlei Romantizismen zeigen; nur die Genrebezeichnung des Poems legt hier eine explizite Spur. 41 Anders als dort aber, und das zeigt sich in den folgenden Texten noch deutlicher, ist bei Bunin die wahre Macht hinter dem Fremden nicht der Ort, die Ethnie oder Kultur - sondern die Zeit. V. Reise in die Urzeit der Zivilisation: Ägypten und Palästina Im Istanbul-Bild sind die großen Paradigmen dieser Reisebilder bereits angelegt, auch wenn sie an jedem folgenden Ort - vornehmlich Alexandria und dann Kairo einerseits und Palästina andererseits - neue Akzente erfahren; vom außerhalb des Zyklus liegenden Ceylon wird später noch die Rede sein. Der zweite Text, More bogov / Meer der Götter, zeigt die Weiterfahrt auf dem Schiff aus „Stambul“ unter anderem mit einem letzten Blick auf Byzanz, konkret auf die Theodosianischen Mauern. Das Schiff selbst mit seinen verschleierten Frauen, Hadjis und Juden ist einer der bunt gemischten Orte. Der Blick des beobachtenden Erzählers gilt zunehmend dem „Altertum“, das er „zum ersten Mal im Leben mit meinem ganzen Wesen“ zu fühlen glaubt (dt. S. 52). So passiert er auf dem Weg nach Athen, bei anhaltend präziser Beschreibung des Gesehenen, gleichzeitig Phrygien, Troja oder die Ebene des Skamander. Dabei rücken die Dinge teilweise zusammen, und der Parthenon gleicht in gewisser Weise der Hagia Sophia: „Mein Gott, wie schlicht das alles ist, wie alt und wunderschön! “ (dt. S. 54). Wiederum mischen sich Erkennen und Wiedererkennen: „Auch ich gehe und schaue… Doch ich habe alles schon gesehen! “ (ebd.; vgl. dt. S. 21); eine Verbindung stiftet auch die hellenische Religion der Schönheit aus dem „Mund der Dichter“ (dt. S. 55). Die Lage zwischen den Regionen des Altertums bringt einen Diskurs um die wahre Religion hervor. Alexander der Große soll mit Bezug auf Judäa und Ägypten gesagt habe, Gott habe tausend Antlitze, er habe sie alle angebetet, doch das wahre sei nicht bekannt (dt. 56). Ebenso ohne Quelle lässt Bunin Gott selbst sprechen: „Ich bin Ägypter, Judäer und Hellene. […] Der Geist erweckt und verbindet alles Seiende“ (dt. S. 57). Dies steht scheinbar im Kontrast zur Christusfigur, die am Ende dieser Skizze evoziert wird, wenn der blaue Rauch über dem „Meer, das an seinen Ufern alle Arten von Gottesverehrung gesehen hat“, als „Weihrauch für ihn“ gesehen wird (dt. 41 Dies wird ausführlicher thematisiert in Thomas Grob, Eroberung (wie Anm. 3). Orientalismus jenseits des Nationalen 233 S.60); doch geht das Licht des Sonnenkultes nur bedingt im Christlichen auf, das hier nicht explizit genannt wird. Die kurze Skizze Del’ta / Das Delta handelt von der Ankunft im ebenso bunten Alexandria und beinhaltet die Begegnung mit „Afrika“; ein Fellache im Zug wird zum „direkten Nachfahren des alten ägyptischen Menschen“ (dt. S. 70). Kairo selbst - „geräuschvoll, reich, voller Menschen“ - ist dann Das Licht des Zodiak / Svet Zodiaka gewidmet. Wiederum verflechten sich die sinnlichen Beschreibungen mit der Reflexion auf historische Schichten: das Neue Babylon, die „strenge, wilde Macht des Islam“ und überhaupt das „Altertum“ (dt. S. 73). Das Bild dieser Zivilisation ist nicht zuletzt geprägt von der Nähe zum „ewigen Schweigen des Sandes“ (ebd.), zur libyschen Wüste und den sich bereits abzeichnenden Pyramiden. Immer deutlicher wird die Betonung des Verfalls, der die Grabmoscheen der Kalifen zeichnet und sich in den verschwundenen Orten wie der Stadt „On-Heliopolis“, „die ruhmreicher und älter als Memphis war“ (dt. S. 76), erfüllt. Weiteste historische Bezüge werden über die Betrachtung eines Ortes prismatisch zusammengeführt. Bunins Lektüren und Kenntnisse müssen ausführlich und breit gewesen sein, was er allerdings zunehmend verwischte. Die Paradoxalität dieses Verstehensprozesses zeigt sich in den „Schriftzeichen, die keinem Sterblichen verständlich waren,“ (dt. S. 79) dem Reisenden aber dennoch einen unmittelbaren Bezug zum Altertum ermöglichen, so wie der Besuch einer Pyramide die Berührung der „vielleicht ältesten Steine, die je von Menschenhand behauen wurden“ mit sich bringt. Doch holt der Erzähler den Leser immer wieder in die Gegenwart zurück, sei es mit einem Theaterbesuch (dt. S. 79f.), der die Selbstorientalisierung auf der Bühne in ein ironisches Licht setzt, oder durch die Mücken, die allzu andachtsvolle Momente stören. Der „Morgen in Kairo“ (dt. S. 81) wiederum und dann die Pyramiden - erneut „vorgeschichtlich grob und einfach“ - versetzen den Erzähler wieder in den erwähnten Gestus der Begeisterung. Dieser gipfelt in einer Anrede Cheops’ durch einen Untertanen: „Ehre sei dir, Greis, vielgesichtiger Herrscher, der die Strahlen aussendet, die Finsternis vertreibt! “ - gefolgt vom Erlebnis des rätselhaften „Licht des Zodiak“, das es nur in „heißen Ländern“ gebe (dt. S.86). In Judäa ändern sich weder Ton noch Perspektive grundsätzlich; Jaffa wirkt sogar „älter, orientalischer“ (dt. S. 91). Fünf Texte (Judäa, Der Stein, Scheol, Die Wüste des Teufels, Das Land von Sodom, Genezareth) sind diesem Teil der Reise gewidmet, die etwa die Hälfte des Zyklus umfassen. Bunin thematisiert jeden besuchten oder durchreisten Ort aus den zugehörigen Texten, und keineswegs nur aus der Bibel. Wiederum verbindet sich die präzise Wiedergabe von Sinneseindrücken mit dem Element des Wiedererkennens, da hier „so viele, dem menschlichen Herzen teure Erinnerungen“ zusammenkommen (dt. S. 132). Einen roten Faden bildet die Figur von Thomas Grob 234 Jesus durch ihre gleichsam körperliche Präsenz an Orten, 42 die gleichzeitig für eine unerreichbare Vergangenheit stehen. Das Interesse gilt so den Spuren oder ihrem Fehlen, wie etwa bei Kanaan, „das spurlos vom Antlitz der Erde verschwand“ (dt. S. 124). Sie verbinden die Regionen, werden doch hinter Caesarea „Spuren von Ägypten und Phönizien“ sichtbar. Es bildet sich ein großer, ‚orientalischer‘ Raum, über dessen Archäologie, die Lesen und Begegnung verbindet, längst verschwundene Zeiten fühlbar gemacht werden. 43 Andererseits verstärkt sich auch der Eindruck der Vergänglichkeit - wie beim wasserreichen „Garten des Herrn“ im Jordantal, deren legendäre Fruchtbarkeit der völligen Verödung gewichen ist (dt. S. 141). „Judäa ist das brennende Tote Meer, Ägypten das Grab in der Wüste“ (dt. S. 56), heißt es in More bogov, und so ist auch Judäa verfallenes Grab (dt. S. 100), Wüste und „verheißenes Land“ zugleich (dt. S. 101); ein Rückgang „in alttestamentarische Blüte“ ist unmöglich (dt. S. 114). In der Jesusfigur wird diese Spannung zum Paradox ausgereizt: „Dieses Land hat keinerlei sichtbare Spuren von Ihm bewahrt. Und doch gibt es kein schöneres Land, und nirgends sonst spürt man Ihn so sehr“ (dt. S. 174). Die biblischen Episoden oder Legenden werden zitierend oder nacherzählend eingebracht wie das historische Wissen auch. In der Erzählung Strana sodomskaja / Im Land von Sodom, die sich um die Versuchungen Jesu in der Wüste gruppiert, wird von Fledermäusen erzählt, die Jesus in seinen vierzig Tagen in der Wüste erschaffen habe, um die Dämmerstunde anzuzeigen (dt. S. 147); erst dann ist beiläufig davon die Rede, dass es sich dabei um eine „damaszenische Legende“ handle. Auch hier, wo Bunins eigene religiöse Ansichten durchschimmern, 44 steht keineswegs die Frage des richtigen Glaubensinhaltes im Zentrum, und die „alten Bücher und Legenden“ (dt. 120), sei es die Bibel, der Koran oder die Kabbala (ebd.), stehen nebeneinander, so wie die Kraft des geheimnisvollen Steins des Tempels erst auf Jesus, dann auf den Propheten übergehen kann (dt. S. 121). 42 Auch Vera Muromceva berichtet, Bunin habe Jesus an gewissen Orten „lebend gefühlt“ (Muromceva, Žizn’ Bunina, Anm. 12, S. 318). 43 Bunins Reisen als Überwindung der Zeit betont Nadežda Natova, Vody mnogija (Anm. 25). Vgl. auch die Zeilen „Тот миг воскрес. И на пять тысяч лет / Умножил жизнь, мне данную судьбою“ („Diese Welt erstand. Und um 5000 Jahre habe ich das Leben vermehrt, das mir das Schicksal gegeben“) aus dem Gedicht „Могила в скале“ (Gedicht auf dem Felsen; Bunin, Sobranie sočinenij, Anm. 1, Bd. 1, S. 320). Ferne Reisen, so Bunin, seien ein Geheimnis und verliehen der Seele Unendlichkeit in Zeit und Raum (ebd., Bd. 3, S. 450). 44 Dies gilt ganz besonders für den Schluss des Zyklus, wenn in Genezareth der Ort von Kindheit und Jugend Jesu behandelt und dem Erzähler eine der glücklichsten Nächte seines Lebens beschert wird (dt. S. 176). Sogar dies bleibt von bestimmten Glaubenselementen unabhängig. Orientalismus jenseits des Nationalen 235 Bunins Palästina ist lokal differenziert und keineswegs weniger gemischt als die anderen Räume: es finden sich Europäer, russische Bauern und polnische Juden (dt. S. 108), und „in den engen Marktreihen des alten Orients“ fließt ein „Strom - Esel, Pater, Imame, Kamele, Frauen, türkische Soldaten, Beduinen und Pilger“ (dt. S. 109). Die Gesichter lassen einen die „Nähe zu einem fernen, freudigen Morgen in den Tagen Jesu“ spüren (ebd.), doch vom Toten Meer aus sieht man die Omar-Moschee und „das geheimnisvolle, helleuchtende Arabien“ (dt. S. 115) - so nah kommen sich die Formen östlichen Altertums, in dem sich Ursprünge des Eigenen wie des Fremden überlagern. VI. Unfreiwillige Kolonialität: Ceylon Es gehört zu den russischen Autostereotypen, dass die Machtpraktiken des russischen Imperiums mit denjenigen der westlichen Kolonialmächte nicht zu vergleichen seien. Der ideologische Charakter dieser Annahme zeigt sich (wie derjenige ihrer Umkehrung) schon darin, dass sie ausblendet, dass diese Praktiken zeitlich wie räumlich höchst unterschiedlich waren. Anton Čechov spielt ironisch auf das Autostereotyp an, wenn er während seines Ceylon-Besuchs auf der Rückeise von Sachalin seinen russischen Mitreisenden, die die englische Kolonialmacht kritisieren, entgegenhalten möchte, die Engländer würden ihren Kolonien wenigstens „Straßen, Wasserleitungen, Museen, das Christentum“ schenken. 45 Auch Bunin nimmt in seinem Text über die Reise durch den Suez-Kanal nach Ceylon auf das Koloniale Bezug, und er zitiert ebenfalls die auch Čechov begeisternden Legenden darüber, dass in Ceylon das Paradies lokalisiert gewesen sei. Bunins Verarbeitung dieser Themen ist jedoch ganz anders angelegt als diejenige Čechovs, der sie ausschließlich in einem privaten Diskurs verwendet. 46 Einer der Reisetexte Bunins außerhalb des Zyklus ist eine Miniatur mit dem Titel Tretij klass / Dritte Klasse. Sie erschien erstmals 1921, also bereits in der Emigration, und unter diesem Titel redigiert 1926. An der Grenze der Selbstironie wird hier wiedergegeben, wie der reisende Erzähler versucht, in Colombo eine Zugfahrkarte 3. Klasse zu lösen, wie ihm das vom englischen Schalterbeamten zuerst verweigert wird, weil sich das für einen Europäer nicht zieme, wie er dann doch eine ersteht, sich aber allein im Abteil befindet, da jemand ein Schild anbrachte, das Abteil sei reserviert. Der Text endet 45 Anton Čechov, Polnoe sobranie sočinenij i pisem v tridcati tomach, Moskva 1974- 1983, Pis’ma, t. 4, S. 139. 46 Vg. dazu Thomas Grob, Der Autor auf der Flucht. Anton Čechovs Reise auf die Insel Sachalin und an die Ränder der Literatur. In: W. Kissel (Hrsg.), Flüchtige Blicke. Relektüren russischer Reisetexte des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2009, S. 45-69. Thomas Grob 236 kommentarlos mit einer keineswegs positiven Begegnung mit den halbnackten „sitzenden und stehenden schwarzen und schokoladebraunen Körpern“ (dt. S. 317), zu denen sich kein Kontakt ergibt. Dem Schalterbeamten wird vom wütenden Erzähler, der hier in seltener Klarheit als Figur agiert, seine koloniale Haltung vorgeworfen: „Ich will alle Besonderheiten des Landes erfahren, sein ganzes Leben, alle seine Bewohner, bis hin zu den letzten ‚Minderwertigen‘, wie Sie die Farbigen zu nennen belieben, die natürlich nicht erster oder zweiter Klasse fahren können“ (dt. 314). Der Befreiungsversuch aus den kolonialen Bezügen wird scheitern, doch darüber, dass hier Bunin sich selbst sprechen lässt, gibt es keinen Zweifel. In der definitiven Fassung findet dies nur noch im Dialog am Schalter Erwähnung. Die erste Fassung jedoch, die in einer Emigrationszeitung in Finnland erschien, war an dieser Stelle ausführlicher. Der Text beginnt mit der Karikatur ‚des‘ nicht zu erschütternden Engländers, wie der Erzähler ihn immer wieder angetroffen habe und der auch den Nil oder die Pyramiden mit gar keinem oder höchstens einem „noch lebloseren und beleidigenderen“ Blick würdige. 47 Über die Erwähnung von Ägypten, Nazareth oder Jericho verknüpft Bunin diesen Text mit den früheren Reisenbildern. Was er dort nie thematisiert hatte - die Konfrontation der Kolonialmacht mit den Bewohnern - wird hier zum Thema, wenn erzählt wird, wie englische Polizisten in Ägypten brutal die Araber geschlagen hätten, die ihre Dienste den Touristen aufdrängten. In Ceylon würden sich Engländer verhalten, als ob sie „fürchteten, sich durch eine versehentliche Berührung mit einem Tamilen“ oder einem anderen „verachteten Wilden“ zu „beschmutzen“. 48 Im anderen Reisetext zu Ceylon, Gorod Carja Carej / Die Stadt des Königs aller Könige, geschrieben 1924, steht das erwähnte Motiv des Paradieses im Zentrum; es wird mit alten Legenden begründet. 49 Der nostalgische Gestus des Anfangs zeigt bereits den Rückblick auf die Zeit der großen Reisen aus der Perspektive des Emigranten. Der Erzähler betrachtet, „noch immer begierig“, eine alte Weltkarte, und sein Blick bleibt am „Sehnsuchtsort“ Ceylon hängen (dt. S. 318). War in den früheren Texten die Erinnerung Teil der Wahrnehmung, gilt sie nun der Reiseerfahrung. Die erinnerte Stadt Anuradhapura war „das größte Heiligtum der buddhistischen Welt, die 47 Die beiden gestrichenen Passagen sind publiziert in I. Bunin, Sobranie sočinenij (Anm. 1), Bd. 5, S. 481-483, hier S. 481. 48 Ebd., S. 482. 49 Eine der Quellen Bunins war offenbar Konrad Günther, Einführung in die Tropenwelt. Erlebnisse, Beobachtungen und Betrachtungen eines Naturforschers auf Ceylon, Leipzig 1911 (s. Bunin, Sobranie sočinenij, Anm. 1, Bd. 5, S. 517). Die russische Ausgabe erschien 1914, also drei Jahre nach der Reise. Orientalismus jenseits des Nationalen 237 uralte Hauptstadt Ceylons“, über Jahrtausende Objekt des Staunens „des gesamten Orients“, ist heute aber „vom Dschungel überwuchert“ und „einer der verlassensten Orte Ceylons“ (ebd). Die Legenden über das Paradies Ceylon und dessen Zerstörung, über Adam und Eva werden wie ein Bericht erzählt: „Was wir über Ceylon wissen, stimmt im wesentlichen mit dieser ceylonesischen Sage überein“ (dt. S. 319). Dann erst folgt die Beschreibung der eigenen Anschauung, gebrochen durch das Prisma des Wissens über Geschichte und Legenden. Von ethnographischer Literatur inspiriert, evoziert Bunin die mentale Begegnung mit einem der noch existierenden Urmenschen ohne Religion, Moral und Familie, der als „leiblicher Bruder“ bezeichnet wird - womit Bunins scheinbarer Primitivismus aber auch schon wieder endet. Heute sei von der Pracht nichts geblieben als eine Stätte der Ruinen, die im Schluss als „totes, geheiligtes Land“ bezeichnet wird (dt. S. 332). Auch hier, wo Bunin den europäischen, monotheistischen Kontext verlässt, bleibt der Gestus der Begeisterung grundlegend; dies ist kaum nur mit der Faszination zu erklären, die der Buddhismus auf Bunin ausübte. 50 Doch wird die Begegnung mit einem „eigenen‘ Alterum möglich, die sich dem verstehenden Beobachten und damit dem ‚richtigen‘ Reisen eröffnet. 51 VII. Das Imperium von Licht, Wasser und Tod. Übernationale Ordnung und anthropologische Erfahrung In einer später gestrichenen, Bunin wohl zu expliziten Passage zu Galata, der „Kloake Europas“ (dt. S. 25), hieß es: „Die Zeit zerstört Mauern, Moscheen, Friedhöfe. […] Das Leben aber schafft unaufhörlich, und es gibt auf der Erde zuwenig Orte wie das Goldene Horn oder den Bosporus. […] Doch Galata geht nicht zugrunde: Das Gesindel, das es bewohnt, brodelt in Arbeit. Es ist arm und ist gierig nach Leben. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schafft es einen neuen Turm von Babylon, und fürchtet sich vor keiner Sprachmischung […] - es entsteht eine beispiellose Toleranz gegenüber allen Sprachen, allen Gebräuchen, allen Glaubensformen.“ 52 50 Zu Bunins Faszination für den Buddhismus s. Richards, Comprehending (Anm. 10), S. 526ff. sowie Thomas G. Marullo, If You see the Buddha. Studies in the fiction of Ivan Bunin, Evanston 1998, S. 4ff. 51 Dass Bunin den Tourismus dezidiert als falsches Reisen betrachtet, zeigt sich plastisch in einer Begegnung mit einem Reisedampfer auf dem Suezkanal (dt. S. 343f.). 52 „Время разрушает стены, мечети, кладбища, нищета разрушает кварталы Скутари, Стамбула, Галаты […]. Но жизнь творит неустанно, а на земле слишком мало мест, подобныхъ Золотому Рогу и Босфору. […] Но Галата не погибнетъ: сброд, населяющий ее, кипит в работе. Он нищ и бешено жаждет Thomas Grob 238 Diese Aussage zu armen Vierteln Istanbuls betrifft im Grunde fast alle Räume, die Bunin im Sinne dieser Reiseskizzen bereist. Bunin sucht das Altertum, die Ursprünge, Spuren des Heiligen, und er sucht sie nicht zuletzt in Stätten, die mit dem Tod verbunden sind: „Mich ziehen alle Nekropolen an, die Friedhöfe der Welt“, soll er geantwortet haben, als man ihn fragte, warum er so „wilde“ und marginale Reiseziele ausgesucht habe. 53 Schon die Anfahrt nach Istanbul kündigt ein „Land der Ruinen und Friedhöfe“ an, was seine Bezeichnung als „Tor zum Glück“ nicht ausschließt (dt. S. 17). Die Orte der Vergänglichkeit sind für Bunins Reisenden oft diejenigen des Lebens - Eden und die Wüste liegen nah zusammen, so wie Bunin selbst, obwohl vom Tod fasziniert, „mit Vergnügen zweitausend Jahre lang leben würde.“ 54 Bunin reist im Raum in die Zeit, und das ‚Exotische‘ ist bei ihm sehr oft ein unwiederbringlich Vergangenes, das momenthaft zu sehen, zu fühlen oder zu erahnen ist. Die Vergänglichkeit und die Fühlbarkeit des Altertums verbinden die besuchten Orte. Die „Toleranz“ Galatas steht weniger für eine Moral als für eine nicht-exklusive kulturelle Seinsweise, die geschichteten Räumen - der Text selbst spricht von einem Palimpsest (dt. S. 172) - eigen ist. Zeitliche Diversifikation wird zum räumlichen Element, das im Falle Galatas mit „Leben“ konnotiert wird. Die durch Bunins Reisetexte verbundenen Räume des Vorderen Orients transzendieren einzelne Religionen. Dieses Transzendierende zeigt sich im Motiv der „Schönheit“, 55 mehr noch aber im Licht, das die konkrete Beobachtung ebenso prägt wie die religiöse Symbolik von den alten Ägyptern bis hin zur Christusfigur. Die Lichtthematik kulminiert im Besuch des geheimnisvollen Sonnentempels von Baalbek (Chram solnca), der dem Zyklus lange den Namen gab. Das „Tal der Sonne“, durch das der Erzähler nach Baalbek kommt, liegt wiederum an einem „Eden“ (dt. S. 158), und Baalbek trägt die Sonne ebenso im Namen wie Syrien (dt. S. 159). Das zur Ruine gewordene Wunderwerk des Altertums war einem einzigen Gott gewidmet (dt. S. 160), seinen Ursprung, seine Baumeister kenne niemand, Araber, Mongolen und Erdbeben hätten es zerstört (dt. S. 162). Die Beschreibung des Besuchs der Ruine endet für einmal nicht in der hellen, heißen Sonne, sondern im Sonnenuntergang, dem Eintreten der Dämmerung: жизни. Сам того не сознавая, он созидает новую вавилонскую башню - и не боится смешения языков: […] безпримерная терпимость ко всем языкам, ко всем обычаям, ко всем верам“ (Bunin, Sobranie sočinenij, Anm. 1, Bd. 3, S. 431). 53 „[…] меня влекли все Некрополи, кладбищ мира! “ (Bunin mündlich zu Galina Kuznecova, zit. nach Baboreko, Bunin, Anm. 14, S. 102). 54 Bunin, Sobranie sočinenij, Anm. 1, Bd. 9, S. 541. 55 Vgl. zum Buninschen Motiv der „Schönheit der Welt“ bes. Richards, Anm. 10 (passim). Orientalismus jenseits des Nationalen 239 „Die Sonne war untergegangen, und es wurde, wie immer im Orient, für einen Moment besonders hell“ (dt. S. 170) - der Osten bzw. Orient wird zum „Reich der Sonne“. 56 Schon in Istanbul wurde die Säule erwähnt, die früher „den Eingang zum Sonnentempel in Heliopolis bewachte“ (dt. S. 40) und die darin Ägypten, Byzanz und das islamische Istanbul verbindet. Im Licht des Zodiak wird „On-Heliopolis“ näher beschrieben, und hier kommt über die Bezeichnung „Beit Schemesch“, „auf jüdisch Haus der Sonne“ (dt. S. 76), das jüdische Element hinzu, zudem das christliche durch Moses, der in On geheiratet habe (dt. S. 77). Auch die letztgenannte Passage endet mit einem Sonnenuntergang, der hier in eine Betrachtung der „schwülen afrikanischen Nacht“ Kairos und der Zelte der „geheimnisvollen asiatischen Nomaden“ (dt. S. 77) mündet. Doch ist das Licht nicht das einzige „Reich“, das diese Reisen verbindet. Man sollte im obigen Zitat zu Galata auch den metonymischen Verweis auf das Goldene Horn und den Bosporus ernst nehmen. Wie die Wüste verbindet die Motivik des Meeres fast alle Reisetexte untereinander; in einigen Texten des steht sie gar im Zentrum. Die oben als Motto zitierte Aussage über die ihm fehlende Vaterlandsliebe endet nicht zufällig in der Lobpreisung der Macht Neptuns, die als einzige über dem Meer herrsche. Das Meer ist der Ort, der die Reiseziele verbindet, doch repräsentiert es auch eine eigene, übergreifende Ordnung. Nicht einmal der Himmel wird in Bunins Reisetexten so intensiv und facettenreich beschrieben wie das Meer, für das er immer neue Farb- und Bewegungsbilder findet, in denen sich objektivierte und subjektive Beschreibungsmodi verbinden. Neptuns Reich ist ein Imperium, das kaum Unterschiede zwischen seinen ‚Untertanen‘ macht. Es ist der Ort der Freiheit per se, der Ort, an dem alle anderen Gesetze außer Kraft gesetzt werden. Seine Erfahrungswelt hat anthropologische Dimensionen, und so ist es auch Begegnungsort mit dem Tod. Der mit dem 10. November 1913 datierte Text Kop’e gospodne / Die Lanze des Herrn handelt von der Cholera und der Pest, die in Arabien „die Wunde von der Lanze“ genannt würde (dt. S. 303). Der Erzähler befindet sich auf einem Schiff auf dem Roten Meer, und zwei schwarze Aasgeier lassen sich darauf nieder, die allseits als schlechtes Omen genommen werden, denn in den Hafenstädten wüten die tödlichen Seuchen. Hier kippen die Orientbilder ins Düstere, der Erzähler denkt an das „Alte, Mystische, mit dem uns der Orient vergiftet - die Tropen, Indien, China“ (dt. S. 302) und an Arabien als ein „uns bis heute unbekanntes, alttestamentarisches Land“ (ebd.) mit „Hitze und Schmutz“ an seinen Rändern und „ewig von Sand 56 „Восток - царство солнца! “ Der Satz stammt aus der Erstfassung von Der Schatten des Vogels und steht in direkter Nähe zum „Feld der Toten“ (pole mertvych), der ersten Titelidee für den Zyklus (Bunin, Sobranie sočinenij, Anm. 1, Bd. 3, S. 484). Thomas Grob 240 verschütteten Wegen aus Syrien, Persien und Mittelasien nach Mekka und Medina“ (ebd.). Die beiden angsteinflößenden Vögel, „Boten Seiner schwarzen Lanze“ (dt. S. 305), werden als großartige „Araber“ bezeichnet (dt. S. 304). Doch im Kern dieser Orientalismen liegt eine viel allgemeinere Erfahrung: „Der ewige Kampf mit allem Lebendigen“ (dt. S. 305), den die Geier verkörpern. Einerseits lässt sich die „Poesie des früheren Lebens auf See“ noch fühlen - dieser ‚archäologische‘ Gestus existiert sogar hier -, andererseits sind auch große Dampfer nur „kümmerliche Zeichen“, umgeben von „Meer und Wüste, von Ungewissheit und Tod“ (dt., S. 309). In der Begegnungszone des Meeres treffen sich der „Osten“ und die conditio humana, und alle anderen Grenzziehungen erscheinen im Vergleich zum Imperium Neptuns als etwas Lächerliches. So ist die vielleicht einzige bemerkenswerte Grenzüberschreitung in diesen Texten diejenige des Äquators (Große Wasser / Vody mnogie). Es ist der „Eintritt in die Tropen“, die „ersehnte Linie“ (dt. S. 346), die alles verändert im „lichtdurchfluteten Sommer einer für mich vollkommen neuen Welt, der von einem von uns längst vergessenen, paradiesischen, glückseligen Leben spricht“ (ebd.). Meist ist es der Aufenthalt auf dem Meer, der Momente des Glücks mit sich bringt: „Ich kann nicht einschlafen - so glücklich fühle ich mich“ (dt. S. 348). Das Reich Neptuns und der Orient sind in ihrer Urtümlichkeit unter sich wie mit dem Glück verbunden. Auch wenn Bunin die Araber „faszinieren“ („Es gibt zu unserem Glück auf Erden noch Menschen aus anderen, fernen, in ihrer kargen Schlichtheit seligen Zeiten! “; dt. S. 356), ist Bunin alles andere als ein zivilisationsfeindlicher Anhänger reiner Natürlichkeit. Er wirft seine gelesenen Bücher mit Begeisterung in den Suezkanal (dt. S. 357), doch liegt darin keine Verachtung gegenüber der Kultur - gerade diese wird später zu seinem Hauptvorwurf gegen die Bolschewiken. Für Bunin kann nur die Kultur den Zerfall aufhalten, wie er ihn um diese Zeit in Derevnja / Das Dorf bzw. Suchodol beschreibt, wo die Steppe die russischen Siedlungen zu verwehen droht, wie die Wüste das Altertum überdeckt. Hier jedoch geht es vielmehr um das Gefühl der „vollkommenen Ungewissheit und Zufälligkeit jedes irdischen Schicksals“ (ebd.); dieses Gefühl verbindet das Bewusstsein des Todes - „Ich gehöre zu denen, die, wenn sie eine Wiege sehen, unausweichlich ans Grab denken müssen“ (dt. S. 357) - mit demjenigen des Glücks. Auch dafür ist die Erfahrung eines Anderen konstitutiv. Sie wird ermöglicht durch eine Bewegung im Raum, in der die Begegnung mit Fremdheit zur Begegnung mit der conditio humana und mit einem übergreifenden religiösen Gefühl wird. Die Räume des verschütteten Altertums, der Wurzeln der Zivilisation werden zu Trägern einer ‚Wahrheit‘, die nur subjektiv und in konkreter Berührung erfahrbar ist. Sie ist es, die sich in der besonderen Erzählform von Bunins Reisetexten niederschlägt. Orientalismus jenseits des Nationalen 241 VIII. Schluss Ivan Bunin missachtet nicht die nationale Bindung, weil er ein Vertreter des ‚Imperialen‘ wäre. Seine Beobachtungen von imperialer Realität sind beiläufig, und es ist typisch für seinen Gestus, wenn er im Reisebild Krik / Der Schrei die imperial geprägte Biographie eines türkischen Wächters, der seinen Sohn in einem Militäreinsatz in Arabien verloren hat (dt. S. 272), in eine allgemeine Dimension der Erfahrung von Tod und Verlust zurückführt (dt. S. 277ff.). Dennoch ist Bunins Form des literarischen Reisens durchgehend imperial imprägniert, so wie der Schmerz dieses Wächters ein imperialer ist, er ihn aber „annimmt“ wie ein „echter Muslim“, während der „kleine Türke“ neben ihm betrunken ist und „zu viele griechische Lieder gesungen hatte“ (dt. S. 278). Die imperiale Imprägnierung minimiert Grenzerfahrungen und rückt kulturelle Überlappungen und Schichtungen - die dem nationalen Denken immer Schwierigkeiten bereiten - in den Fokus der Wahrnehmung. Bunin entzieht sich kolonialen Paradigmen, ja er kritisiert diskret koloniale Haltungen. 57 Auch bei ihm würden sich Einzelheiten in Denk- und Beschreibungsformen finden, die man in unserer auf correctness bedachten Zeit - der ja ein Teil der postcolonial studies unübersehbar verpflichtet ist - dazu rechnen könnte. Doch gibt sich ausgerechnet der als eleganter Hotelreisender bekannte Bunin nicht einmal da, wo er Armut oder die „Kloake Europas“ (dt. S. 25) beschreibt, als Vertreter einer überlegenen europäischen Zivilisation. Seine Poetik der Begeisterung, welche die detailreichen Beschreibungen bestimmt, interessiert sich weder besonders für „Rückständigkeit“, noch für das romantisierende Pittoreske. Die Beschreibungspassagen bilden das Herz seiner Reisetexte, und sie verhindern, dass das Interesse an der Vergangenheit die Herabwürdigung oder Missachtung des Gegenwärtigen bedeutet. Eher lässt sich bei Bunin eine gewisse Herabsetzung des Eigenen beobachten, das weitgehend russisch konnotiert ist. Den alten Texten und Denkmälern des ‚Orients‘ und der Begeisterung der Wahrnehmung steht zeitlich parallel die melancholische Haltung angesichts des russischen Geschichts- und Kulturverlustes am Rand der Steppe in Derevnja und Suchodol gegenüber; der Niedergang des russischen Dorfes ist begleitet von einer Sinnlosigkeit von Macht und Gewalt, die so auf den Reisen nicht auftritt. Der von Bunin beschriebene Raum des vostok gewinnt trotz, vielleicht sogar wegen seiner Suche nach den wahren „Reichen“ eine hohe innere Differenziertheit. Der zitierte Spruch Saadis, man müsse „für jeden neuen Frühling […] eine neue Liebe erwählen“ (dt. S. 14) - den Bunin offenbar 57 Vgl. am Ende von Kop’e gospodne / Die Lanze des Herrn das kurze Portrait des Dritten Offiziers, der nicht allzu klug sei, in den Tropen nur eine Sauna sehe und alle Farbigen Äthiopier nenne (dt. S. 310). Thomas Grob 242 auch seiner etwas irritierten Begleiterin gegenüber äußerte -, 58 hat eine metatextuelle Bedeutung: alle Räume, denen meist auch gesonderte Texte gewidmet sind, werden in eigenen Bezügen gesehen. In diesen Spezifika findet man jedoch keine, die national besetzt werden könnten; sogar Sprache oder Religion gehören nicht dazu. Reisen im Sinne Bunins ist keine abgrenzende Identitätserfahrung; eher ist es eine Ausweitung des Ichs. Es ist aber auch eine Erfahrung höherer Mächte, und so gehört gerade zu einem der hellsten Erfahrungsmomente die Einsicht: „Aber habe ich denn noch Macht über mich? “ (dt. S. 144). Die Reiche, von denen scheinbar metaphorisch die Rede ist, haben imperiale Strukturen: Sie sind übergreifend, vielfältig, sie sind aber auch weniger eine aus den Individuen extrapolierte Totalität als eine übergeordnete Kraft, die das Individuum durchaus zum „Pygmäen“ (37) machen kann. Bunins Reisebegegnungen zwischen Exotik, Fremdheit und eigener Vorzeitigkeit waren nicht auf Orte außerhalb Russlands beschränkt, doch prägte die ‚Orienterfahrung‘ das literarische Genre. Nur achtzehn Tage nach Die Lanze des Herrn (nämlich am 28.11.1913) schließt Bunin die bereits erwähnte Erzählung Lirnik Rodion / Der Lyra-Spieler Rodion ab (die zuerst Psal’ma hieß) ab. In ihr verbinden sich in der ukrainischen Steppe die gleichsam natürliche Poesie von Natur und Mensch mit dem Religiösen zu einer „orientalischen“ (vostočnaja) Melancholie (dt. S.293); die singenden Frauen auf dem Dnepr-Schiff und der junge Lyraspieler, der sich nicht für einen echten Sänger hält (dt. S. 291), sind Figuren, die sehr ähnlich auch in Orienttexten auftreten. Bunins orientalische Reisetexte werden umgekehrt in den frühen ‚exotischen‘ Ukrainereisen begründet: Das ‚Fremde‘ benötigt bei Bunin einen Bezug zum Ich, zum Eigenen, um textrelevant werden zu können - sogar in Ceylon, wo dies möglich wird über die Legende von Adam und Eva (dt. S. 319). Der Lyra-Spieler Rodion stellt wie die anderen Reisetexte eine Hommage an die Fortbewegung an sich und an das ‚Wandern‘ als Existenzform dar. Dieses ist ein Element der Selbstdarstellung des Erzählers (stranstvoval, dt. S. 287), der die Menschen bewundert, die „von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zur Arbeit zogen“ (dt. S. 290), oder die umherziehenden Bandura- und Lyra- Spieler, die „die Männer an die frühere Ungebundenheit, an die Feldzüge der Kosaken erinnerten“: „Gott hat mich mit dem Glück gesegnet, viele dieser Wandersleute (stranniki) zu sehen und zu hören“ (dt. S. 290f.). Analog zur Sakralisierung des Sängerdaseins - Rodion singt auch Psalmen und von den „Schönheiten der Kathedrale“ (dt. S. 293) - wird öfter auf das Pilgerwesen angespielt. Gerade das „Steppenvolk“ (dt. S. 293) verbindet sich durch das Unterwegssein mit den zahlreichen Pilgern „aller Länder und 58 Muromceva, Žizn’ Bunina (Anm. 12), S. 304. Orientalismus jenseits des Nationalen 243 Völker“ (dt. S. 116) mit den Nomaden und Beduinen der Orienttexte. Bunin stellt sich hier auch als Reisender völlig untheoretisch in die Tradition des stranničestvo und choženie und seine Bedeutung im imperialen Russland. 59 Auch darin wird ein Religionsbegriff sichtbar, der nicht als Abgrenzung des Raums fungiert und eine Monopolisierung nicht zulässt. Nichts kommt diesem über- und vornationalen Raumverständnis näher als das Reisen. Sollte diese Raumkonzeption, wie zu vermuten ist, eine Spur des russisch-imperialen Erbes sein und deswegen eine gewisse Repräsentanz aufweisen, dann ließe sich hier die Hypothese anschließen, dass die imperiale Struktur Russlands als konservierende Kraft vornationaler Mobilitäts- und Begegnungsmodelle wirkte. Doch sind diese vielleicht älter als das neuzeitliche Imperium selbst. Einer der Reiseberichte zu Palästina, der Bunins Skizze am nächsten kommt, ist ausgerechnet das choženie des Mönchs Daniil aus dem frühen 12. Jahrhundert, 60 der ebenfalls über Byzanz reiste. Sein Bericht orientiert sich auffallenderweise nicht am zeitgleichen ersten Kreuzzug, sondern am Staunen, im Heiligen Land sein zu dürfen, und am Bedürfnis, mit genauen Beschreibungen den üblichen Lügen des Genres mit präzisen Beschreibungen entgegenzuwirken. Wenn Bunin, der den Text gekannt haben musste, sich in diese Tradition stellt, dann sprechen aus der Form seiner Reisetexte längst vergangene Raumordnungen. 59 Susi K. Frank, „Wandern“ als nationale Praxis des „mastering space“. Die Entwicklung des semantischen Feldes um „бродяжничество“ und „странничество" zwischen 1836 und 1918. In: Karl Schlögel (Hrsg.), Mastering Russian spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte, München 2011, S. 65-90. Vgl. Ingrid Kleespies, Nomadism and national identity in russian literature, deKalb 2012; Kleespies arbeitet mit einem sehr weiten Verständnis des nomadism und übergeht sonderbarerweise den Nomadismus-Diskurs in der russischen Geschichtsschreibung. 60 Auf die Parallelen zwischen Bunins Reisezklus Ten’ pticy / Chram solnca und Daniils Pilgerbericht weist, m.W. in der Buninforschung unbeachtet, N. I. Prokof’ev in seinem Sammelband russischer Reisberichte aus dem 11.-15. Jh. hin (Kniga choženij. Zapiski russkich putešestvennikov XI-XV vv., Moskva 1984, S. 7ff.). Zaal Andronikashvili Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise Geographische Orte sind in den beiden autobiographischen Werken Boris Pasternaks Der Schutzbrief (Ochrannaja Gramota, 1930) und Menschen und Situationen (Ljudi i položenija, 1959) weit mehr als eine einfache Kulisse biographischer Ereignisse. Sie spielen eher die Rolle eines biographischen und poetischen Schlüssels, kartieren und tragen das ins Poetische verschobene biographische Sujet. 1 Am 30. 7. 1932 schreibt Pasternak seinem Freund, dem georgischen Dichter Paolo Iašvili (1894-1937), nach Tbilisi: „Diese Stadt […] wird für mich zu dem werden, was Chopin, Skrjabin, Marburg, Venedig und Rilke für mich geworden sind: es wird zu einem der Kapitel des ‚Geleitbriefs‘ werden, der mein ganzes Leben stützt. Eines von diesen, wie Sie wissen, wenigen Kapiteln.“ 2 Dieses fehlende Georgienkapitel hat Pasternak in seiner Autobiographie von 1959 nachgetragen. „Damals“, schreibt er, „waren der Kaukasus, Georgien, einzelne Menschen dort und das Leben seines Volkes für mich eine völlige Offenbarung“. 3 Die Offenbarungskraft des Ortes speist sich aus dessen Semantik(en), die einen historischen Index haben: Der Ort wird zu einem historischen Symbol, dessen „lebendigen Kern“ [sut’] es zu entziffern gilt. 4 Als ein historisches Symbol wurzelt der Ort einerseits in der Vergangenheit: Das Gewesene wirft sein Licht auf das Gegenwärtige, das nur in diesem Licht in Erscheinung tritt, zu sprechen und zu bedeuten beginnt. 5 1 „Eingestellt auf eine Wirklichkeit, die vom Gefühl verschoben wurde, ist die Kunst das Notat dieser Verschiebung.“ Boris Pasternak, Der Schutzbrief. Deutsch von Elke Erb, in: ders., Prosa und Essays, Berlin 1991, S. 288. 2 Boris Pasternak, Briefe nach Georgien. Aus dem Russisschen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Heddy Pross-Werth, Frankfurt am Main 1989, S. 21. Vgl. das Original: Iza Ordžonikidze (Hrsg.), Boris Pasternak. Materialy fonda gosudarstvennogo muzeja gruzinskoj literatury im. G. Leonidze, Tbilisi 1999, S. 96f. Zu Paolo Iašvili vgl.: Donald Rayfield, The Literature of Georgia. A History, London 2 2000. 3 Boris Pasternak, Menschen und Standorte, in: ders., Prosa und Essays (Anm. 1), S. 546. Zur georgisch-russischen literarischen Kontaktzone vgl. den profunden Aufsatz von Harsha Ram, Towards a Cross-cultural Poetics of the Contact-Zone. Romantic, Modernist, and Soviet Interetextualities in Boris Pasternak’s Translations of T’itsian T’abidze, in: Comparative Literature, 59/ 1 (2007), S. 63-89. 4 Pasternak, Der Schutzbrief, (Anm. 1), S. 318. 5 Ebd. Zaal Andronikashvili 246 Ich verstand, daß die Kulturgeschichte eine Kette von Gleichungen in Gestalten ist, die paarweise das in der Reihe nächste Unbekannte mit dem Bekannten verbinden, wobei als dieses Bekannte, Ständige der ganzen Reihe die Legende erscheint, die der Tradition zugrunde gelegt ist, als das Unbekannte aber und jedes Mal Neue - der aktuelle Moment der gegenwärtigen Kultur. 6 Andererseits aber ist dieses Symbol auch eine Figur der Zukunft: Das „hier wird es alles geben“ 7 (zdes’ budet vse; I,1), mit dem das erste Gedicht des Gedichtzyklus Die Wellen (Volny, 1932) deklarativ eröffnet wird, ist keine einfache Zukunft, sondern das bereits Gewordene, das die Kraft eines zukunftsprägenden Gründungsaktes hat: Ich sage „wird“, denn ich bin Schriftsteller, alles muß sich umsetzen und seinen Ausdruck finden; ich sage „wird“, denn all das [Tiflis - ZA] hat in mir schon begonnen. […] Es ist zu etwas Selbstständigem geworden, ähnlich einer blühenden Pflanze, d.h. fähig, sich selbst zu ernähren von all dem, was ich erlebe und noch erleben werde; und solange dieser Seelenzustand nicht abgelöst wird von einem neuen Zentrum gleicher Intensität - Skrjabin, Rilke, Venedig, Tiflis entsprechen, werden alle Säfte im Laufe der Zeit sich ausbreiten und ihn nähren. 8 Boris Pasternak reiste im Sommer 1931 für drei Monate nach Georgien. Dort entstand der Zyklus Die Wellen, mit dem der Gedichtband Die zweite Geburt (Vtoroe roždenie, 1932) eröffnet wird. In dessen Zentrum steht die philosophisch und lyrisch inspirierte Beschreibung der Reise von Vladikavkaz über die Kaukasische Heeresstrasse. 9 Pasternaks Text ist mehr als eine poetische Reisebeschreibung - es ist eine auf die kaukasische Topographie übertragene Lebens- und poetische Erfahrung, die mit Imaginationen einer zweiten Heimat oder zweiten Geburt verbunden ist. Hier folgt Pasternak dem von russischen Dichtern, insbesondere von Puškin und Lermontov, vorgezeichneten Weg. Ihre Kaukasusreisen begründeten eine Tradition, die Pasternaks Erfahrungen eine Form vorgibt und ein Sujet vor-schreibt, in das er sich (modifizierend) ein-schreibt. Nachfolgend werde ich Die Wellen und einige Gedichte aus der Zweiten Geburt, einerseits als eine poetische Version des Schutzbriefes, andererseits als ein Reenactment der Kaukausreise russischer Dichter im 19. Jahrhundert le- 6 Ebd., S. 317. 7 Im Folgenden verwende ich, wenn nicht anders vermerkt, die Interlinearübersetzung von Johanna Renate Döring, in: dies., Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928-1934, München 1973, S. 337 ff. 8 Pasternak an Iašvili, (Anm. 2), S. 6f. 9 Vgl. ebd., S. 282. Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise 247 sen. 10 Eine Lektüre als Reenactment ist möglich, weil Pasternak nicht nur das „bildlich gebrochene“ Symbolische, sondern auch die real-biographische Erfahrung betont: „Ich wußte nicht, daß sein [des Genies - ZA] Wesen in der Erfahrung der realen Biographie ruht und nicht in der bildlich gebrochenen Symbolik“. 11 Pasternaks Georgienreise war nicht explizit als ein Reenactment geplant, sondern wurde erst im Nachhinein als ein solches reflektiert. Versteht man unter Reenactment die Erlangung von Wissen durch das Wiederholen einer Erfahrung, so impliziert diese Wiederholung ein bestimmtes Sujet - eine sinnhafte Organisation eines Geschehens, das von einer oder mehreren Figuren in einem (fiktionalen) Raumzeitkontinuum getragen wird. Die Figur, die mich beschäftigen wird, ist daher der Dichter, der Raum ist der Kaukasus. Als Metasujet bezeichne ich im Folgenden die Gesamtheit der Sujets eines oder verschiedener Autoren mit gleicher Raumbzw. Handlungsordnung. 12 In Pasternaks Gedichtzyklus führt der Raum verschiedene Zeiten - die imperiale Vergangenheit, die Erfahrungen russischer Dichter im Kaukasus im 19. Jahrhundert, die Gegenwart Pasternaks und die eigene sowie die sozialistische Zukunft - zusammen und wird dadurch zu einem vielschichtigen Chronotopos. I. Die Reise nach Georgien Die Handlungsordnung der Wellen, die aus zwölf Gedichten bestehen, beginnt in der georgischen Schwarzmeerstadt Kobuleti. 13 Hier spielen, zeitlich nach der Reise aus Vladikavkaz nach Georgien, die Gedichte I-II und XI-XII, wobei das III. Gedicht die Rückkehr des Dichters aus Georgien ins winterliche Moskau vorwegnimmt. 14 Der „Standort“ des Dichters in den Gedichten I-II und XI-XII am Strand indiziert einen Grenzort bzw. Grenz- 10 Zum Begriff siehe Vanessa Agnew, Introduction. What is Reenactment, in: Criticism, 46/ 3 (2004), S. 327-339. 11 Pasternak, Der Schutzbrief (Anm. 1), S. 318; Vgl. Guy de Mallac, Estetičeskie vozzrenija Pasternaka, in: Boris Pasternak 1890-1960. Colloque de Cerisy-La-Salle (11-14 septembre 1975). Paris, 1979, S. 63-80, hier: S. 67f. 12 Vgl. Zaal Andronikashvili: Der Kaukasus als Grenzraum. Ein atopos russischer Literatur, in: Esther Kilchmann, Andreas Pflitsch, Franziska Thun-Hohenstein (Hg.), Topographien pluraler Kulturen Europas. Europa von Osten her gesehen, Berlin 2012, S. 41-74. 13 Zum Sujet bei Pasternak vgl.: Dmitri Segal, Zametki o sjužetnosti v liričeskoj poėzii Pasternaka, in: Boris Pasternak 1890-1960, (Anm. 10) S. 155-176. 14 Die ursprünglich enthaltenen realbiographischen Angaben zur Reise (sie begann im Juli 1931) sind aus den späteren Redaktionen entfernt. Die Gedichte X-XII spielen im Spätherbst und entsprechen dem tatsächlichen Reiseverlauf. Die Abreise aus Vladikavkaz ist zugleich der früheste Punkt in der Zeitordnung des Wellen-Sujets. Zaal Andronikashvili 248 raum, der explizit im X. Gedicht benannt wird: Der Dichter ist der „Mensch an der Grenze“ („čelovek u predela“; X, 15). Die Grenze hat hier eine plurale Semantik. Die räumliche Grenze zwischen Land und Meer ist ebenfalls eine zeitliche Grenze zwischen dem Alten und Neuen. Die Bedeutung der Handlungen und des Erlebten, der „Wellenkämme des Erfahrenen“ („ispytannogo grebeški“; I, 16), „[…] ist bis jetzt noch nicht vollständig“ („ich smysl dosel’ ešče ne poln“; I, 18). Diese Unklarheit leiten eine Wende an: „alles ist von ihrem Wechsel bedeckt“ („vse ich smenoju odeto“; I, 19). Dieses Neue ist auch die ‚vita nova‘ - wenn man den Titel des Bandes Die zweite Geburt bedenkt. Die Grenze wird auch als Grenze zwischen Leben und Tod verstanden. Sie ist schließlich eine Grenze zwischen (historischen) Zeiten: zwischen der alten und der neuen (politischen) Ordnung. Die Grenzsituation wird bereits während der Reise von Vladikavkaz nach Georgien vorweggenommen. Der „Ausgang nach Georgien“ zeigt die Semantik der Grenzüberschreitung an. An diese Reise denkt der Dichter „an der Grenze“ zurück. Sie ist der Gegenstand der Gedichte IV-X der Wellen. Der räumliche Fortschritt der Reise ist zugleich eine Zeitreise: Ein expliziter Hinweis auf die „großen Dichter“ Tolstoj und Lermontov, die das „bestialische Antlitz“ der Kaukasuseroberung gezeigt haben, taucht zwar nur in der 1934-er Ausgabe der Zweiten Geburt auf. An ihrer statt übernimmt im V. Gedicht der Wald die Rolle des Erzählers: Er weiß „etwas“ und „berichtet“ darüber. Der Wald erzählt aber kein „Märchen über Ivan“, 15 er ist kein fiktionaler Erzähler, sondern Zeuge und Berichterstatter der Geschichte. Als solcher antizipiert er einerseits den Wald als Metapher der Geschichte in Doktor Živago (1958), andererseits verweist er auf Pasternaks früheres Gedicht Als das Todesknistern der knarrenden Fichte (Kogda smertel’nyj tresk sosny skripučej, 1927) in dem die Geschichte als „ungeschlagener dichter Wald“ erscheint. Als solcher zeigt sie sich im Moment eines Ereignisses, der ein Gewaltakt ist. 16 Die Faszination, die dieser Gewaltakt auslöst, ist schrecklich und bedrohlich. Das Bedrohliche wird aber von den Beobachtern ignoriert, die den Schrei der in der ersten Zeile genannten sterbenden Fichte vor Freude und Faszination überhören. Das Holzfällen aktualisiert nicht nur Tolstojs frühe kolonisierungskritische Kaukasuserzählungen Die Kosaken (Kazaki, 1863) und insbesondere Der Holzschlag (Rubka lesa, 1855), in denen u.a. die Entwurzelung der autochthonen Bevölkerung, die dem Fortschreiten des Imperiums zu Opfer fällt, thematisiert wird. Sie aktualisiert 15 Die vier Zeilen, die mit dem Vers „Война не сказка об Иване“ beginnen, kommen nur in der 1934-er Ausgabe der Zweiten Geburt vor. 16 Ju. I. Levin, Razbor odnogo malopopuljarnogo stichotvorenija Pasternaka, in: Michail Gasparov, Irina Podgaečkaja, Konstantin Polivanov (Hrsg.), Pasternakovskie čtenija. 2 Vypusk, Moskva 1998. Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise 249 ebenso Tolstojs 1912 postum publizierte Großerzählung Hadži Murat. Das Leben des gleichnamigen Protagonisten vergleicht der Erzähler mit einer blühenden „Tatarendistel“, die er für seinen Strauß pflücken möchte, die sich aber „hartnäckig […] gewehrt“ und ihr Leben „teuer verkauft“ hat (so dass sie für den Strauss unbrauchbar geworden ist). 17 Die Verwendung der floralen Metapher im Zusammenhang mit dem imperialen Projekt geht auf den Prolog von Puškins Der Gefangene im Kaukasus zurück (in dessen Epilog er die „Ausrottung“ der „Stämme“ affirmativ „besang“). Dort pflückt die Muse „kaukasische Blumen“, die in den „toten Schmuck ihres Blumenkranzes“ (Puškin) verwandelt werden. 18 Der Lermontovsche Mcyri, als ein „vom Sturm weggerissenes Blatt“ schreibt die Geschichte der durch das imperiale Projekt entwurzelter Kaukasier fort. Die imperiale Vergangenheit wird nicht nur in die Natur eingeschrieben, in den Wellen wirft sie auch ihr Licht auf die Gegenwart. Der ganze Kaukasus lag wie auf der Hand da […] Und auf diese Schönheit starrend / mit den Augen der das Land erobernden Brigaden, / welch einen Neid fühlte ich / auf die Anschaulichkeit solcher Hindernisse. / Oh wenn es für uns eine ähnliche Gelegenheit gäbe, / und aus den Zeiten wie durch den Nebel / auf uns wie dieser Gipfel / unser Tag, unser Generalplan blickte! 19 Der Vergleich der imperialen Eroberung (des Kaukasus) mit den Eroberungen des Sozialismus ist in mehrerer Hinsicht prekär. Er deutet nicht nur auf das „bestialische Antlitz“ der Epoche und deren politische Ethik, die im Stalin zugeschriebenen Sprichwort „Wo Holz gefällt wird, fallen Späne“ zum Ausdruck kommt. 20 Er betrifft ebenso die Stellung des Menschen und des Dichters in der neuen Ordnung. Die Gleichsetzung mit dem entwurzelten 17 Lew Tolstoi, Hadschi Murat, in: ders., Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13, S. 6. 18 Vgl. Susanne Frank, Gefangen in der russischen Kultur: Zur Spezifik der Aneignung des Kaukasus in der russischen Literatur, in: Welt der Slaven, 43/ 1998, S. 61-84, hier: S. 74. 19 Döring, Die Lyrik Pasternaks (Anm. 7), S. 343. Boris Pasternak, Sobranie sočinenij v pjati tomach, Bd. 1, Moskva 1989, S. 380: „И, в эту красоту уставясь / Глазами бравших край бригад, / Какую ощутил я зависть / К наглядности таких преград! / О, если б нам подобный случай, / И из времен, как сквозь туман, / На нас смотрел такой же кручей / Наш день, наш генеральный план! “ 20 Vgl. das deutsche Sprichwort: „Wo gehobelt wird, fallen Späne.“ Der ehemalige Generalsekretär der KPdSU Nikita Chruščev bezeichnete in seinen Erinnerungen an den XV. Parteitag der KPdSU (1927) die damalige Denkweise als die eines Holzfällers: „[…] damals dachte man sozusagen auf Holzfällerweise: wo Holz gefällt wird, fallen Späne.“ Vgl. im Original: „тогда, как говорится, рассуждали по-дровосецки: лес рубят, щепки летят“. Nikita Sergeevič Chruščev, Vremja. Ljudi. Vlast’. (Vospominanija), Bd. 1, Moskva 1999, S. 30 Zaal Andronikashvili 250 Kaukasier ist in der Zweiten Geburt metonymisch: So wie der Kaukasier durch das imperiale Projekt entwurzelt wurde, wird der ‚alte Mensch’ durch den ‚neuen Menschen’ des sozialistischen Projektes entwurzelt. 21 Der Chronotopos der Reise - Sujetausdruck seiner ‚Nichtverwurzelung‘ - bündelt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Raum. Wenn die Vergangenheit, die durch das räumliche Voranschreiten der Reise evoziert wird, ihr Licht auf die Gegenwart wirft, dann wird die Gegenwart pluralisiert und verräumlicht. 22 Einerseits ist sie (vom Standpunkt des ‚alten‘ Menschen) eine „unerhörte, unmögliche“ Zukunft des ‚neuen‘ Menschen (gegenwärtige Zukunft), andererseits die immer noch nicht beendete Vergangenheit der ‚alten‘ Menschen, die in dieser gegenwärtigen Zukunft keine ‚Autochthonen‘, sondern ‚auf Bewährung‘ sind (gegenwärtige Vergangenheit). Die gegenwärtige Zukunft ist in der Gegenwart nicht (oder nicht nur) als Antizipation oder Versprechen präsent. Dieses Versprechen hätte eingelöst werden und Form annehmen können. 23 Bleibt es aber uneingelöst bzw. ambivalent, wie im Fall der Revolution, so wird die gegenwärtige Zukunft zum Gegenteil des „es wird“ vom Anfang der Wellen (der bereits in der Gegenwart erfüllten Zukunft): Prägt hier das traditiosbegründende Ereignis insofern die Zukunft, als es seine Aktualität nicht verliert und immer, in jedem Moment, wieder erlebbar bleibt, wird dort die Ordnung im Namen der Zukunft gestiftet, die jedoch formlos ist. Die Gegenwart wird ‚futuri- 21 In den Wellen greift Pasternak das Thema der Verwurzelung in der neuen Ordnung, das am Ende des Schutzbriefes erscheint, wieder auf. Dort wird Majakovskij zum einzigen indigenen bzw. autochthonen Bürger „unseres unerhörten, unmöglichen Staates“: „[…] dieser Mensch [war] eigentlich der einzige Bürger dieser Bürgerschaft […]. Die übrigen kämpften, opferten sich und wirkten mit oder duldeten und begriffen nicht, doch alle waren Eingeborene der vergangenen Epoche, und trotz des Unterschiedes, einander durch sie als Landsleute verwandt.“ Pasternak, Schutzbrief (Fn. 1), S. 361. 22 Dieselbe Idee von der Gleichzeitigkeit mehrerer Zeiten in einem geographischen Raum wird Pasternak in seiner Rede zur ersten Allsowjetischen Übersetzerkonferenz 1936 für die Beschreibung unterschiedlicher Entwicklungsstufen der Sowjetrepubliken äußern („odnovremenno v prostranstve, no raznovremenno po stepeni zrelosti“). Zitiert nach: Georgij Margvelašvili, Kogda na nas gljadit poėt. Stat’i, Moskva 1990, S. 80. Zum Doppelbegriff der Zeit siehe: Döring, Die Lyrik Pasternaks (Anm. 7), S. 34. 23 Wie z. B. im Fall Majakovskijs: „Er war von Kindheit an von der Zukunft verwöhnt worden, die sich ihm recht früh ergeben hatte, und, augenscheinlich, ohne große Mühe“. Pasternak, Der Schutzbrief (Anm. 1), S. 361. Vgl. in: Themen und Variationen (Temy i variačii, 1918): „[…] v ego ustach zvučalo ‚zavtra‘ / Kak na ustach inych ‚včera‘“, Pasternak, Sobranie sočinenij, Bd. 1 (Anm. 19), S. 185. Zu den Formen der Zeit bei Pasternak siehe Aleksandr Žolkovskij, Bessmertnye na vremja: K poėzii grammatičeskogo vremeni u Pasternaka, in: ders, Poėtika Pasternaka. Invarianty, Struktury, Interteksty, Moskau 2001, S. 151-160. Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise 251 siert‘, mit dem Abstraktionsindex der Zukunft versehen, sie ist Gegenwart als nichterfüllte Zukunft. Die vergangene Gegenwart ist gewissermaßen ‚Mitläuferin‘ 24 der gegenwärtigen, unerfüllten Zukunft: Diese ist die Ferne des Sozialismus, die im X. Gedicht der Wellen „neben“ dem Protagonisten steht. Die gegenwärtige Vergangenheit und die nichterfüllte Zukunft stehen „nebeneinander“ und teilen einen Raum „Mitten in der Enge […] des Lebens“ (X,2), der jedoch durch unterschiedliche Ordnungen kodiert werden kann. Der Chronotopos der Gegenwart ist als ein Zwischenraum imaginiert, aus dem mehrere Auswege möglich sind. Die ambiguen Qualitäten des Zwischenraumes werden auf Georgien übertragen: In den Wellen wird Georgien als eine Mischung zwischen Hölle und Paradies, Gletscher und Treibhaus, Zärtlichkeit und Armut beschrieben: „Wir waren in Georgien. Multipliziere man / die Armut mal Zärtlichkeit, die Hölle mal Paradies, / nehme man das Treibhaus als ein Fundament für die Gletscher, / dann bekomme man dieses Land.“ 25 Georgien erhält sowohl eine politische als auch eine poetische Dimension, die wiederum aufeinander bezogen werden. Das räumliche Voranschreiten der Reise bekommt in der Zweiten Geburt nicht nur die Konnotation einer Geschichtsreise, sondern auch des Abstiegs ins Totenreich. 26 Das Heraustreten aus dem Totenreich wird dagegen durch die biblische Metapher des Durchgangs durch ein Nadelöhr verglichen (Mat. 19: 24). 27 Georgien, das der Dichter nun erreicht, wird mit der Metaphorik des Himmelreichs aufgeladen. 28 Dieses Heraustreten „aus der Dunkelheit“, „aus der Hölle in die Weite“ („из преисподней на простор“) entspricht einerseits dem „Ausgang aus 24 Der Begriff „Mitläufer“ wurde von Lev Trockij (Leo Trotzki) für bürgerliche Schriftsteller eingeführt, die zwar keine proletarischen Künstler waren, aber die Revolution akzeptiert und mit der Sowjetmacht zusammengearbeitet haben. 25 „Мы были в Грузии. Помножим / нужду на нежность, ад на рай / теплицу льдам возьмем подножьем / и мы получим этот край.“, Pasternak, Sobranie sočinenij, Bd. 1, (Anm. 19), S. 379. (Übers. - ZA) 26 „So wie die Seelen der Toten am jüngsten Gericht / Waren alle Gletscher anwesend. Die Sonne führte das Register der Toten mit der japanischen Tusche“ (Übers. - ZA) „Как усопших представшие души, / Были все лединки налицо. / Солнце тут же японскою тушью / Переписывало мертвецов.“ Boris Pasternak, „Večerelo“ in: ders., Sobranie sočinenij Bd. 1, (Anm. 19), S. 409. 27 „А в их толпе у парапета / Из-за угла, как пешеход, / Прошедший на рассвете млеты, / Показывался небосвод. / Он дальше шел. Он шел отселе, / Как всякий шел. Он шел из мглы / Удушливых ушей ущелья / Верблюдом сквозь ушко иглы.“ Pasternak, Sobranie sočinenij, Bd. 1 (Anm. 19), S. 378f. 28 „Он шел породой, бьющей настежь / Из преисподней на простор, / А эхо, как шоссейный мастер, / Сгребало в пропасть этот сор.“ Ebd. Zaal Andronikashvili 252 dem Möglichen“ (bzw. aus der Relativität) „ins Wahre“ („выход / из вероятья в правоту“) aus Wieder sucht Chopin keinen Nutzen (Opjat’ Šopen ne iščet vygod, 1931), einem weiteren Gedicht aus der Zweiten Geburt. Аndererseits wird das Heraustreten mit der Vision vom widerspruchsfreien „Land außerhalb von Klatsch und Verleumdungen“ (Die Wellen X, 6, Übersetzung: Döring) des fernen Sozialismus verbunden, das in denselben Metaphern des Übergangs von der Dunkelheit in die Helligkeit beschrieben wird: „Wie der Ausgang zum Licht, und der Ausgang zum Meer / Wie das Ankommen nach Georgien aus Mleti“ 29 (Die Wellen X, 7-8). Auf diese metaphysisch angehauchte politische Vision 30 wird das poetische Programm bezogen. Wenn „unser Generalplan“ so klar wäre wie die Hindernisse, die die imperialen Truppen im Kaukasus zu überwinden hatten, dann würde der Dichter seine untergeordnete Rolle im „Land ohne Klatsch und Verleumdungen“ akzeptieren. Im widerspruchsfreien Land der sozialistischen Zukunft würde er im Leben aufgehen und „statt des Lebens eines Knittelverseschreibers […] das Leben der Gedichte selbst führen“. (Die Wellen, IX, 23-24). Allerdings, deutet das „Dampfen“ dieses Staates „durch den Rauch der Theorien“ darauf hin, dass der Dichter eher dem Bereich des „Wahrscheinlichen“ als des „Wahren“ angehört und den Übergang „ins Licht“ nicht geschafft hat. Die Versprechen der „Ferne des Sozialismus“ betonen gerade all das, was in der Gegenwart gegeben ist: ein Staat des Klatsches, der Verleumdungen, des Gezänks, des Leids, in dem der Poet ein „Knittelverseschreiber“ ist. II. Georgien Diesem ‚unerfüllten‘ Land dient in den Wellen Georgien, mit seiner pluralen Semantik des Zwischenraumes, der sprechenden Topographie und Kultur, als eine Kontrastfolie. Der „hiesige Mensch“ („čelovek kak zdes’“), eine feine Mischung aus Natur, Kultur und Geschichte, hat sich durch Hunger, Verluste und Unfreiheit zu einer Prägeform (obrazčik) kristallisiert. 31 Im bereits zitierten Brief an Paolo Iašvili greift Pasternak das Thema „Georgien als Form“ auf. Georgien habe ungeachtet seiner märchenhaften Eigenart (sa- 29 „Как выход в свет и выход к морю / И выход в Грузию из Млет“. Pasternak, Sobranie sočinenij, 1. 1 (Anm. 18), S. 380. 30 Dazu siehe: Lazar’ Flejšman, Boris Pasternak v tridcatye gody, Jerusalem 1984, S. V; und Aleksandr Žolkovskij, Poėtika Pasternaka (Anm. 23). 31 „И мы поймем в сколь тонких дозах / С землей и небом входят в смесь / Успех и труд, и долг, и воздух, / Чтоб вышел человек, как здесь. / Чтобы, сложившись средь бескормиц, / И поражений, и неволь, / Он стал образчиком, оформясь / Во что-то прочное, как соль“. Pasternak, Sobranie Sočinenij, Bd. 1 (Anm. 19), S. 379. Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise 253 mobytnost’) - merkwürdigerweise keine „Unterbrechung“ (pereryv) in seiner Existenz erlitten. Es sei, trotz der Größe seines jetzigen Leids, ein Land, das heute noch „auf der Erde steht“ und nicht in die Sphäre der vollkommenen Abstraktion entführt worden sei, ein Land der unverfälschten Farbe und einer immerwährenden Realität. 32 Ob Georgien tatsächlich keinen Bruch in seiner historischen Entwicklung erlitten hat, mag dahingestellt sein. Es geht hier um die „Unmöglichkeit“ und „Legende“, zu der Georgien für Pasternak geworden ist. Als ein „fest auf der Erde“ stehendes Land ist es der Abstraktion des Sozialismus gegenübergestellt, so wie es auch später in der zweiten biographischen Skizze Pasternaks Menschen und Situationen charakterisiert wird. 33 Die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart beschreibt die Zeitordnung Georgiens und markiert den Kontrast zur Absenz der Vergangenheit in der UdSSR. 34 Das zeitliche Attribut der Bruchlosigkeit und die räumliche Metapher aus dem Umfeld der Autochthonie deuten darauf hin, daß Georgien, in Pasternakscher Lesart, von der neuen Ordnung zwar berührt, aber darin seine historisch kristallisierte Form, „etwas Festes wie Salz“ bewahren konnte. Trotz diesem Kontrast wäre es falsch, Georgien als realisierte „Ferne des Sozialismus“ oder als ihr Gegenteil zu verstehen. Georgien nimmt in der Gegenwart einen Platz ein, der zu einem Muster (obrazčik) für den Platz des Dichters wird. In dem Gedicht (Borisu Pilnjaku, 1931), das dem 1937 verhafteten und erschossenen Nachbarn und Freund Pasternaks, Boris Pil’njak (1894-1937), gewidmet ist, bekennt sich der Dichter zwar zur Gegenwart, allerdings wird dieses Bekenntnis gleich wieder zurückgenommen: „Doch was mache ich mit meinem Brustkorb / und damit, was starrer denn jede Starrheit ist? “ („vsjakoj kosnosti kosnej“). 35 Es geht um das Bruchlose, das Formbewahrende in der Welt der Abstraktion - um das Selbstverständnis als Dichter. Gerade dieses Selbstverständnis wird in der Gegenwart aber verweigert: „Die Vakanz des Dichters“ ist in den „Tagen des großen Sowjets“ umsonst frei gelassen. Die Starrheit (kosnost’), die es erlaubt, eine Form zu bewahren, haben Georgien und der Dichter gemeinsam. Die Ähnlichkeit geht aber auch über die kosnost’ hinaus. Die kosnost’ sowie das Autochthone haben eine Konnotation der Unfreiheit, die Pasternak ebenfalls aufgreift: Im Reiseabschnitt der Wellen wird die 32 Pasternak an Iašvili. in: ders., Briefe nach Georgien (Anm. 2), S. 21. 33 Pasternak, Menschen und Standorte, in: ders., Prosa und Essays (Anm. 1), S. 549 f. 34 Im Gedicht Es wurde Abend (Večerelo) aus der Zweiten Geburt wird Tiflis zu einer Jenseitsstadt, in der die Zeit (die Geschichte) andauert, auch wenn das Leben zum Stillstand kommt. Pasternak, Sobranie Sočinenij, Bd. 1 (Anm. 19), S. 409. 35 Pasternak, Sobranie Sočinenij, Bd. 1 (Anm. 19), S. 226: „И разве я не мерюсь пятилеткой, / Не падаю, не поднимаюсь с ней? / Но как мне быть с моей грудной клеткой, / И с тем, что всякой косности косней? “ (5-8). Zaal Andronikashvili 254 Eroberung des Kaukasus bzw. Georgiens umgedeutet: In die „unvermeidbare Gewalt“ wird ein „Zug“ eingeführt, der im Krieg „unerhört“ ist. „Was trieb ihren Strom [der Kolonnen - ZA] an? Etwa / Dass sie jemand in den Kampf schickte? / Oder, verliebt in dieses Land / Trieb er sich selber weiter vor sich selbst voran? “ 36 Diese Liebe „zum Land“ ist ambivalent: Einerseits bleibt sie Gewalt bzw. Vergewaltigung: man „nimmt es [das Land - ZA] wie eine Frau“. 37 Andererseits emanzipiert die Liebe „die Kolonnen“ von der imperialen Eroberungslust und schafft im Endeffekt die Möglichkeit der Identifikation mit dem Land (zemlja). Die Inkorporation des Landes ins Imperium geschieht hier mit Hilfe einer Familiemetaphorik: „Das Land“ (Georgien bzw. der Kaukasus) ist ‚angeheiratet‘, es ist eine „Schwiegertochter“, die jedoch erst die Möglichkeit der Entfremdung des Sohnes von der „Mutter“ schafft. 38 Die weibliche Imaginierung Georgiens ist ein Topos des kolonialen Diskurses. 39 Die Pasternaksche Innovation betrifft die Umdeutung der Unfreiheit des Landes. So können wir Georgien als eine „Inkarnation des für Pasternak invarianten Bildes der ,gefangenen Schönheit‘, 40 aber auch als eine Inkarnation des Gefangenen im Kaukasus verstehen, mit dem der Dichter sich identifiziert. Neben Kultur und Geschichte wird auch die Topographie verhandelt: Für Pasternak wird die kaukasische und georgische Topographie zur Offenbarung des Programms der Dichtung. Den „Widerstreit kämpfender Eigenschaften“ gewinnt wegen seiner „übernatürlichen Scharfsichtigkeit“ der „Riesige Strand von Kobuleti“, der zu einer Figur des dichterischen Sehens wird: Er vermag zu sehen, „was im Leben zwei Menschen getrennt sehen können“. Der Dichter wird zu einem „allsehenden“ Propheten, „der alles unverschleiert sieht“, der das Zeitliche, Temporäre, in seiner prophetischen Vision überwinden kann bzw. ‚das Ewige‘ sieht (Die Wellen, II). Dieses 36 „Чем движим был поток их? Тем ли, / Что кто-то посылал их в бой? / Или, влюбляясь в эту землю, / Он дальше влекся сам собой? “ Pasternak, Sobranie Sočinenij, Bd. 1 (Anm. 19), S. 378. 37 „Она вселяла гнев в отчизне, / Как ревность в матери, но тут / Овладевали ей, как жизнью, / Или как женщину берут“. Pasternak, Sobranie Sočinenij, Bd. 1 (Anm. 19), S. 378. 38 „Страны не знали в петербурге, / И злясь, как на сноху свекровь, / Жалели сына в глупой бурке / За чертову его любовь“. Ebd. „Das Land kannte man in Petersburg nicht / und verärgert, wie die Schwiegermutter über die Schwiegertochter / tat ihnen der Sohn in der dummen Burka leid / für seine verdammte Liebe“. 39 Susan Layton, Russian Literature and Empire. Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy, Cambridge 1994. 40 Laut Aleksandr Žolkovskij war Mary Stuart eine Inkarnation des für Pasternak invarianten Bildes der „gefangenen Schönheit“, einer außergewöhnlichen gefallenen Frau, die mit Lara aus Doktor Živago verwandt sei. Žolkovskij, Poėtika Pasternaka (Anm. 23). Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise 255 „Ewige“ korrespondiert sowohl mit der „Gefangenschaft der Dinge / die nicht für eine Stunde eingeführt werden“ aus dem V. Gedicht, von denen der Wald (als Träger und Erzähler der Geschichte) berichtet, als auch mit der „unerhörten Einfachheit“, mit der klaren Sprache des Propheten aus dem XI. Gedicht. III. Die Rückkehr Der Abschied, den Pasternak von Kobuleti nimmt erinnert an Puškins Abschied vom Meer in Odessa im Gedicht Zum Meer (K morju, 1824). Im Unterschied zu Puškin internalisiert Pasternak das Meer: es sind „meine Taten“ (moi postupki) und „Wellenkämme des Erfahrenen“ (ispytannogo grebeški). Die Semantik des Meeres als eines freien Elements wird nur latent beibehalten, da das Ufer für eine Grenze steht, deren Überschreitung zur Freiheit führt. Der Dichter in Wellen ist aber der „Mensch an der Grenze“, der sie nicht überschreiten kann. Er kehrt um. Diese Rückkehr wird in Ich möchte nach Haus, in den Riesenraum (Mne chočetsja domoj, v ogromnost’), dem III. Gedicht der Wellen vorweggenommen. Der Dichter sehnt sich nach der Rückkehr nach Hause, in die winterliche Stadt, die mit dem sommerlichen Herbst der Schwarzmeerküste kontrastiert. Die Rückkehr wird als ein graduelles „Hineinwachsen“ zunächst in die „Riesenhaftigkeit“ der Wohnung und dann in die Stadt beschrieben und kulminiert in den letzten Zeilen, das Bedrohliche, Beängstigende, Demoralisierende der Gegenwart „wie Zaumzeug“ zu akzeptieren und das über seine Gegenwart Gehörte (nicht Gesehene! ) in Worte zu fassen, aber im Austausch gegen den künftigen Ruhm. 41 Die Hauptelemente des Metasujets des russischen Dichters im Kaukasus (Grenzüberschreitung, Tod, Geburt zum neuen Leben) werden hier aufgegriffen und umgedeutet. Zentral ist der Übergang „von der Fliege zum Elefanten“, um eine weitere Metapher des Schutzbriefes aufzugreifen, bzw. vom „Wahrscheinlichen ins Wahre“. Dieser Übergang ist die Essenz der „Wiedergeburt des Herzens“ bzw. der Zweiten Geburt als „großer Dichter“, als Prophet, der „verwandt ist mit allem und die Zukunft wie seinen Alltag kennt“ (Die Wellen; XI, 21-22), die dem Tod gleichkommt, aber kein Tod ist. Bei Majakovskij fällt dieser Tod mit dem tatsächlichen Tod zusammen. Der „aktive“ Selbstmord à la Majakovskij wie auch der „passive“ Selbstmord, von dem im Schutzbrief die Rede ist, kommen für Pasternak nicht in Frage. 42 Die 41 Pasternak, Sobranie Sočinenij, Bd. 1 (Anm. 19), S. 376. Das Heimweh-Motiv geht auf Lermontov zurück, das der Unfreiheit der Heimat auf Puškin. 42 Vgl. die Bemerkung Lazar’ Flejšmans, Majakovskijs Lebensweg sei eine Option für den Autors des Schutzbriefes gewesen, die er verworfen habe. Vgl. Lazar Fleishman, Boris Pasternak in the Twenties, München 1980, S. 301. Zaal Andronikashvili 256 Verwerfung des Todes bzw. des Selbstmordes würde die Sujet-Option des prophetischen Sprechens, der „Häresie, der unerhörten Einfachheit“ (Die Wellen, XI, 23-24) offen lassen. Diese ist wiederum mit der Todesgefahr verbunden, sie ist ebenfalls „ein Akt des Selbstmordes“. 43 Es bleibt eine Option am Ende des III. Gedichts der Wellen: die Rückkehr und die Akzeptanz der (auch politischen) Gegenwart. Diese hat aber ihren Preis. Aleksandr Žolkovskij hat Pasternaks Zweite Geburt als „redliches Hineinwachsen des Weggefährten in den Sozialismus“ bezeichnet. 44 Auch Lazar’ Flejšman sieht die „Ferne des Sozialismus“ als Formel der Akzeptanz, die am vollständigsten in der Zweiten Geburt zum Ausdruck gekommen sei. 45 Im Kontext des Wellen-Sujets stellt sich die Adaptationsstrategie Pasternaks differenzierter dar. Sie hat, wieder einmal, eine poetische und eine politische Dimension. Beide sind mit der positiven Umdeutung des Autochthonie- Prinzips verbunden. Wenn die semantischen (raumzeitlichen) Synonyme Wohnung-Moskau-Heimat-Epoche eine feste Konnotation der Unfreiheit bzw. Gefangenschaft erhalten, so wird die Unfreiheit im poetischen und im politischen Aspekt unterschiedlich behandelt. Pasternak geht es um das unmittelbare, ‚bodenständige‘ Erleben der Kunst, das einem Aufgehen in Gedichten gleichkomme. Dieses ist nur möglich, wenn der Dichter raumzeitlich konkret lokalisiert werde bzw., wie es später in Doktor Živago heißen wird, „in der Geschichte“ lebe. Diese „Verwurzelung“ in der (verräumlichten) Gegenwart bindet ihn einerseits, wird andererseits zur notwendigen Voraussetzung für die Verbindung mit der Ewigkeit. 46 Die politische Dimension der Beziehung des Dichters zum Staat verhandelt Pasternak in den Venedigkapiteln des Schutzbriefes. Dort stellte er dem „Nomadischen“ des Imperiums das „Bodenständige“ der Kunst entgegen. 47 Das Unfeste des Staates korreliert mit dem „Rauchigen“ von Moskau (Die Wellen, III) und dem „brennenden“ der sozialistischen Utopie (Die Wellen, X). Der „Druck“ des „peini[genden]“ und „unterjoch[enden]“ Staates wird, „wie in einem Paar verbundener Gefäße, vom Ufer“ durch „etwas erwidernd 43 Als Mandel’štam 1934 Pasternak sein Stalin-Gedicht vorlas, reagierte Pasternak befremdlich: Das Gedicht sei kein Faktum der Literatur, sondern Selbstmord, er könne das nicht billigen und bitte das Gedicht niemanden mehr vorzutragen. 44 Aleksandr Žolkovskij, Poėtika Pasternaka (Anm. 23), S. 301. 45 Lazar’ Flejšman, Pasternak v tridcatye gody, (Anm. 31), S. 47. 46 Das Modell, das Pasternak im Balzac-Gedicht erprobt und in der Zweiten Geburt (als Tausch der Unfreiheit gegen die Ewigkeit) weiterführt, entwickelt sich in einem Gedicht aus dem Jahre 1956 zu einer Formel des Künstlers: „Ty večnosti založnik u vremeni v plenu“ („Du bist eine Geisel der Ewigkeit, den die Zeit gefangen hält“. (Die Nacht, 1956). 47 Pasternak, Der Schutzbrief, (Anm. 1) S. 313). Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise 257 Sühnendes“ kompensiert. 48 Das Bodenständige dieses Sühnenden - der Kunst - korrespondiert sowohl mit der kosnost’ des Dichters, als auch mit seiner Verwurzelung an seinem Ort, seiner Unbeweglichkeit am Schreibtisch (Die Wellen, III), die später in die Unbeweglichkeit (und Ewigkeit) des Denkmals verwandelt wird. Die Kunst, auch wenn sie augenscheinlich für den Auftraggeber arbeitet, täuscht denselben, und zwar so, das ihr Dienst am Staat (Imperium) vom Auftraggeber ernst genommen wird, jedoch die imperialen Ziele überdauert. 49 Die Verheißung der Ewigkeit befreit den Dichter nicht von den Widersprüchen der Gegenwart. Er gehört zwar nicht mehr dieser Zeit an bzw. wird nicht mit und durch seine Gegenwart, sondern an der Erfahrung der anderen gemessen, die diesen Weg gegangen sind, an der Erfahrung der „großen Dichter", die Pasternak im XI. Gedicht der Wellen beschwört. Kraft der sie alle verbindenden Poesie, aber auch der gesellschaftlichen Position gehört er zwar zu ihnen (mehr als zu seinem eigenen Jahrhundert). Er ist ihnen aber (noch) nicht gewachsen und ist, obwohl er „Geisel“ der Zeit ist, noch kein Teil der Ewigkeit. Dieser Unterschied wird unter anderem in der Divergenz zwischen dem prophetischen Sehen und dem prophetischen Sprechen deutlich. „In der Erfahrung der Großen Dichter / Gibt es Züge einer Natürlichkeit / wenn man sie einmal erfahren hat / ist es unmöglich, nicht ganz zu verstummen. […].“ (Die Wellen, XI, 17-20) Deren Erfahrung, so wie wir sie aus dem kaukasischen Metasujet kennen, ist einerseits mit dem prophetischen Sprechen, der „Häresie der unerhörten Einfachheit“, andererseits mit der Todesgefahr verbunden. Der am Ufer des Meeres stehende Protagonist der Wellen, der gedanklich bereits im winterlichen Moskau ist, verharrt in einem Zwischenraum, ohne eine der beiden Möglichkeiten der Sujetauflösung wählen zu wollen oder zu können. Das Pasternaksche Reenactment kombiniert gewissermaßen beide Möglichkeiten des Metasujets, einerseits erlangt der Dichter an einem anderen Ort die prophetische Kraft des Sehens, andererseits wird das Aussprechen des prophetischen Wissens von der Todesgefahr und dem Verbot zu sprechen überschattet. Diese Todesgefahr lässt den Dichter „an den Grenzen“ halt machen, und die Grenze, die zum Tod führen kann, nicht überschreiten. 50 Diese Situation, die Erfahrung der großen russischen Dichter, 48 Ebenda. 49 Insofern steht im Horizont der Wellen Puškins Gedicht Denkmal, ein Manifest des über den Staat triumphierenden Künstlers. 50 „Hier wird es alles geben […] / auch die, deren ich nicht wert bin / und das, weswegen ich unter ihnen gelte“. Döring, Die Lyrik Pasternaks, (Anm. 7), S. 344, modifiziert von ZA. Zaal Andronikashvili 258 die sowohl zum Tod als auch zum prophetischen Sprechen führen kann, zwar zu kennen, aber nicht wiederholen zu können, lässt ihn resigniert feststellen, dass er der Größe seiner Vorgänger (noch) nicht gewachsen ist, und sein prophetisches Sehen nur verschlüsselt weitergeben könne bzw. verstummen müsse. 51 IV. Zusammenfassung und Ausblick Pasternaks Reenactment wird als solches nur post factum, erst an der Grenze gedacht, wo er seine eigene Erfahrung mit der Erfahrung der „großen Dichter“ vergleicht und seine Erfahrung, wie auch seine Gegenwart im Lichte dieser Vergangenheit versteht. Pasternak behält sowohl den topologischen Vektor und die Handlungsordnung des Metasujets (Heimat - Grenze - Heimat) als auch die gescheiterte Transgression bei. Er amalgamiert die Südreisen seiner Vorgänger: Als biographische Folie für sein Reenactment dienen sowohl die Kaukasus- und Georgienreisen (insbesondere Puškins Der Gefangene im Kaukasus und Die Reise nach Arzrum), als auch die Reise zum Meer (Puškins, Zum Meer). Das weiblich kodierte Georgien bekommt die Funktion des pluralen Grenzraums (der bei Pasternaks Vorgängern noch als ein leerer Raum imaginiert war). Es steht (im Sinne der kulturellen Semantik) sowohl für das Prinzip der Autochthonie (kosnost’, Bodenständigkeit) als auch für Gefangenschaft bzw. Unfreiheit oder für das Bewahren der Form trotz Unfreiheit(en). In dieser Hinsicht wird Georgien zum Modell (obrazčik) für den Dichter selbst. Topographisch steht es (bzw. der Strand von Kobuleti als pars pro toto für den Zwischenraum) unmittelbar für die seherischen Qualitäten des Propheten- Dichters. Zeitlich steht Georgien für „das Leben in der Geschichte“ (Doktor Živago), das für späteren Pasternak programmatisch wird. Sehen und Schweigen - die Formel des Pasternakschen Reenactments - bedeutet das Verbleiben im Zwischenraum. Topographisch steht für diesen Zwischenraum sowohl Georgien, wo sich die Wege des Dichters und die „Ferne des Sozialismus“ (endgültig) trennen, als auch Moskau, wohin der Dichter aus Georgien zurückkehrt. Symbolisch steht Georgien aber eher für den ‚gefangenen Dichter‘, Moskau für den „peinig[enden] und unterjoch[enden]“ Staat, den der Dichter als „Zaumzeug“ akzeptieren muss. Diese Akzeptanz bedeutet zwar eine Verwurzelung, aber nicht in der verräum- 51 Die Enttäuschung über diese Zwischenlösung klingt in den Endzeilen des Bandes an: „Die Krone der Schöpfung erschütterte nicht / die Beteiligten und blieb stecken / Im Dunkel der Verheimlichungen und Beschönigungen“.Pasternak, „In der Frühlingszeit des Eises“, Döring, Die Lyrik Pasternaks, (Anm. 7), S. 376. Pasternaks Reenactment der Kaukasusreise 259 lichten Zukunft der sozialistischen Gegenwart, der der Dichter fremd bleibt, sondern an einem polychronen Ort, der neben dieser zur Gegenwart gewordenen verräumlichten Zukunft auch die Ewigkeit als Horizont kennt und mit ihrem Maß gemessen wird. Die beiden teilen einen geographischen Raum, gehören aber unterschiedlichen Ordnungen (der temporären Ordnung und der Ewigkeitsordnung) an. Der Zwischenraum bekommt den zeitlichen Index der Gegenwart, die für den Dichter, anders als für den Staat, nicht der Zukunft, sondern der Ewigkeit gegenübergestellt wird und Jahre später zur Formel „eine Geisel der Ewigkeit, den die Zeit gefangen hält“, Die Nacht, 1956) gerinnt. Anders als seine Vorgänger wendet Pasternak das Prinzip der Autochthonie ins Positive und erklärt es zum Element der Kunst, die dem Flottierenden des Staates bzw. Imperiums gegenübergestellt wird. Pasternaks Antwort auf die Frage des Metasujets ist paradox: Erst die Bejahung der Unfreiheit im Sinne des autochthonen Prinzips führt zur Erlösung des Dichters, dessen Arbeit gleichzeitig die Unfreiheit in der Gegenwart ist, die ihn aber mit der Ewigkeit verbindet. Seine Unfreiheit ist das Unterpfand für den Triumph des Dichters in der Ewigkeit. Den Ausgang aus dem Zwischenraum (der Gefangenschaft des Angehörigen der Ewigkeit in der Zeit) wird Pasternak erst mit Doktor Živago wagen. Franziska Thun-Hohenstein ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium Evfrosinija Kersnovskaja Imperien bedürfen einer inneren Mobilität ihrer Bevölkerung. Bei all ihrer Verschiedenheit eint sie die Aufgabe, große Territorien zu beherrschen und zu verwalten. Die ordnungspolitische Aufgabe, der sich die Macht gegenübersieht, produziert eine Durchlässigkeit, ein Überschreiten nationaler und gegebenenfalls auch sozialer Grenzen innerhalb eines Imperiums. Dabei beruhen solche Praktiken bei der Erschließung und Verwaltung imperialer Räume wie etwa Migrationen, Umsiedlungen oder die Verlegung von Einheiten der Armee bzw. von Verwaltungsinstitutionen keineswegs ausschließlich auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. 1 Biographien transnationaler Grenzgänger in Imperien können demzufolge sehr unterschiedliche Konfigurationen aufweisen. Die Bevölkerungspolitik im Sowjetimperium hatte zwar generell insofern einen restriktiven Charakter, als die Mobilität der Bevölkerung eingeschränkt war, dennoch zeichneten sich insbesondere in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens deutliche Akzentverschiebungen ab. In bestimmten Regionen ging die Sowjetisierung von Anfang an mit Deportationen einher (etwa 1919-1920 im Falle der Kosaken). Pavel Poljan, der die Geschichte und die Geographie von Zwangsmigrationen in der Sowjetunion untersucht hat, vermerkt, dass sich die Sowjetmacht in den zwanziger Jahren vor allem durch geplante Migrationen eine bessere Ausnutzung ihrer natürlichen und demographischen Ressourcen innerhalb des riesigen Territoriums erhofft habe. 2 Diese Politik planmäßiger - teilweise mit ökonomischen Anreizen verbundener - Umsiedlungen in schwach besiedelte Randregionen (insbesondere des Fernen Ostens und Sibiriens) zeitigte allerdings - aus der Sicht der politischen Führung - keine befriedigenden Ergebnisse. Es gelang der Sowjetmacht letztlich nicht, die ursprünglich anvisierten biopolitischen Zielsetzungen in die Praxis umzusetzen. Ende der zwanziger Jahre, im Zuge des Übergangs zu einer in vielen Bereichen auf Repressionen basierenden Politik, änderte sich auch die Ideologie der Umsiedlungspolitik (etwa im 1 Zu Raumordnungen in Imperien vgl.: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 5 2010, S. 168f. 2 Vgl. Pavel Poljan, Ne po svoej vole… Istorija i geografija prinuditel’nych migracij v SSSR (Nicht aus eigenem Willen… Geschichte und Geographie der Zwangsmigrationen in der UdSSR), Moskva 2001, insbesondere S. 53-95; hier S. 57-58. Franziska Thun-Hohenstein 262 Falle von Zwangskollektivierung und Entkulakisierung). An die Stelle des Prinzips einer kontrollierten Freiwilligkeit trat die Praxis von Zwangsumsiedlungen. Diese nahmen vor allem in den 1930er und 1940er Jahren andere Dimensionen an und waren eng mit Praktiken der Zwangsarbeit verknüpft - wie insbesondere der Ausbau des GULag-Systems zu einem Wirtschaftsimperium belegt. Neben sozialen und wirtschaftlichen Faktoren waren im Sowjetimperium auch ethnische bzw. nationale Kriterien ausschlaggebend für Zwangsmigrationen. Dem ‚Nationalen‘ kam die Funktion einer zentralen Ordnungskategorie zu, um den sowjetischen Vielvölkerstaat zu strukturieren, verwaltungstechnisch zu kontrollieren und die sehr heterogene Bevölkerung (vor allem hinsichtlich ihrer religionskulturellen Traditionen, Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens) in das Projekt der Schaffung einer ‚Sowjetzivilisation‘ einzubinden. Zu diesem Ziel favorisierte die Sowjetmacht zunächst in den zwanziger Jahren - in erklärter Abgrenzung zu einer im Russischen Reich gegenüber der nichtrussischen Bevölkerung praktizierten Politik der Assimilierung und Russifizierung - eine Strategie, die die Schaffung einer föderalistischen Verwaltungsstruktur auf der Basis sprachnational definierter territorialer Einheiten mit der Förderung national-kultureller Selbstbestimmung verband. 3 Diese Politik der nationalen Selbstbestimmung, die de facto mit Momenten einer nationalen Abgrenzung einherging, führte in vielen Regionen (vor allem in Mittelasien, wo die territorialen Grenzziehungen zumeist willkürlich erfolgten) zu wachsenden nationalen Spannungen und Konflikten, und trieb, im Gegensatz zur erklärten Zielsetzung das Erstarken eines nationalen Selbstbewußtseins (in der stalinschen Terminologie - eines „nationalen Inhalts“) erst hervor. Vor diesem Hintergrund kam es seit Ende der zwanziger Jahre immer wieder zu „antinationalistischen“ Kampagnen und Säuberungen, die in den Jahren des Massenterrors 1936-1938 ihren Höhepunkt erreichten und zu einer Eliminierung eines Großteils der nichtrussischen politischen und kulturellen Eliten führten. In dieser repressiven sowjetischen Nationalitätenpolitik schienen Hierarchien im 3 Terry Martin prägte vor dem Hintergrund dieser Phase sowjetischer Nationalitätenpolitik den Begriff „affirmative action empire“, der sich in der Forschung weitgehend durchgesetzt hat (Terry Martin, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923-1939, Ithaca 2001; zur Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion vgl. auch Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic knowledge and the making of the Soviet Union, Ithaca, London, 2005; einen Ausblick auf die Nationalitätenpolitik in der frühen Sowjetunion gibt auch Andreas Kappeler in: Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München, 2001). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 263 Umgang mit einzelnen Nationen bzw. Nationalitäten wieder aufzuleben, die für die Nationalitätenpolitik des Russischen Reiches charakteristisch waren. 4 Das zeigte sich insbesondere in den sowjetischen Zwangsdeportationen im Vorfeld bzw. im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Ab 1939 gab es massenhafte Verhaftungen und Deportationen angeblicher „Nationalisten“ und ihrer Familien zunächst aus den westlichen Grenzregionen (Polen, Ukrainern, Weissrussen, Juden u. a.) und von 1940 an auch aus Litauen, Lettland, Estland, Bessarabien. Aus dem nordrussischen Gebiet um Murmansk wurden im Sommer 1940 alle „fremdnationalen Bürger“ (graždan inonacional’nostej) 5 wie Finnen, Norweger, Schweden, Deutsche oder Chinesen ins Altajgebiet umgesiedelt. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion kam es aus rein ethnischen Gründen - als angebliche Präventivmassnahme - zu totalen Deportationen bestimmter Völkerschaften aus ihren angestammten Territorien in entlegene, meist sibirische Regionen (etwa der Deutschen, Kalmyken, Tschetschenen, Inguschen oder der Krimtataren). 6 Wer von diesen Deportationen betroffen war, hatte kaum eine Chance, seinen beruflichen oder privaten Lebensweg selbst zu bestimmen. Allgemein gesprochen, lassen sich biographische Lebenswege transnationaler Grenzgänger in Imperien durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren (staatliche Verordnungen, Karrierezwänge, familiäre Gründe u. a.) oftmals nur schwer strikt nach dem Kriterium von Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit unterscheiden. Bezogen auf das Sowjetimperium unter Stalin ist aber festzustellen, dass es sich bei Biographien transnationaler Grenzgänger vielfach gerade nicht um eine den individuellen Lebensweg prägende Verquickung von Karrierezwängen mit einer Entdeckung neuer kultureller Räume handelt, sondern um Lebenswege, die den Menschen durch repressive Maßnahmen aufgezwungen wurden und die den ‚Wanderern wider Willen‘ an den Orten ihrer Verbannung keinerlei neue biographische Chancen und Perspektiven eröffneten. In einer solchen Situation musste jeder selbstbestimmte Schritt den Umständen mühsam abgerungen werden. Im Vergleich zu verschiedenen Formen und Praktiken interkultureller Mobilität im Sowjetimperium müssen daher die aufgezwungenen Wege zu den Lager- und Verbannungsorten ebenfalls in den Blick genommen wer- 4 Poljan verweist auf russische Militärstatistiken vom Ende des 19. Jhs., denen zufolge nur jene Regionen als loyal gegenüber dem Staat bewertet wurden, in denen mehr als 50% der Bevölkerung ethnische Russen waren. In derartigen geographischen Modellen der Bevölkerung nahm der Grad der "Zuverlässigkeit" der Bevölkerung mit der Entfernung vom politischen Machtzentrum ab. Vgl.: Poljan, Ne po svoej vole... (Anm. 2), S. 26-31. 5 Poljan, Ne po svoej vole… (Anm. 2). S. 99. 6 Ausführlicher zu den Plänen wie den tatsächlichen Aktionen vgl. Poljan, Ne po svoej vole… (Anm. 2), S. 95-130. Franziska Thun-Hohenstein 264 den, in deren Ergebnis jegliche Möglichkeit einer künftigen Mobilität unterbunden wurde und eine "auf ewig" gedachte Stillstellung an verschiedenen Orten einer inneren Exklusion trat (von den Lagerorten des GULag-Systems über die Verbannungsorte bis zu den Orten, an die die sogenannten „specpereselency“, die unterschiedlichen Gruppen der „Spezialumsiedler“ verbracht wurden). 7 Bislang kaum erforscht ist darüber hinaus das Phänomen unterschiedlicher (oft überstürzter und mehrfacher) Fluchtbewegungen, der - mitunter auch gelingenden - Suche nach einem Versteck vor dem Zugriff des Machtapparates in den Weiten des imperialen Raumes. Vor diesem Hintergrund wären beispielsweise autobiographische Texte von Ethnographen, die zu Sowjetzeiten inhaftiert und verbannt waren, im Hinblick auf die Frage neu zu lesen, welchen Einfluss der geschulte ethnographische Blick auf die Darstellung der unter den Bedingungen von Deportation, Lagerhaft und Verbannung zustande gekommenen interkulturellen Begegnungen innerhalb des Sowjetimperiums hat. Stellt man sich die Aufgabe, die Konzeptualisierung von Wegen durch das sowjetische Vielvölkerreich zu untersuchen, so müssen zumindest zwei verschiedene Dimensionen des Umgangs mit Raum bzw. der Bewegung im Raum im Zusammenhang betrachtet werden - erstens die offizielle Rhetorik und Praxis des sowjetischen Modernisierungsprogramms (vor allem der ersten Fünfjahrpläne), d.h. die Emphase des Aufbruchs in die Weite des Sowjetraumes und der proklamierten ungeahnten neuen Mobilität der Menschen bei der Erschließung und Industrialisierung bestimmter Regionen (u.a. im Zusammenhang mit dem Ausbau des Straßen- und Eisenbahnnetzes), und zweitens deren Kehrseite, die verschiedenen Maßnahmen der Stillstellung und Exklusion der Menschen, wie die Einführung des Pass- und Meldesystems, die Zuzugsbeschränkungen für bestimmte Städte, und vor allem die genannten Terror- und Gewaltpraktiken (Zwangsdeportationen, das GULag- System). 8 7 Vgl. dazu: Franziska Thun-Hohenstein, Auszug aus der ‚Lagerzivilisation‘. Russische Lagerliteratur im europäischen Kontext, in: Ludger Schwarte (Hrsg.), Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie, Berlin, Bielefeld 2007, S. 180-200; dies.: Chronotopoi der ‚Lagerzivilisation‘ in russischen Erinnerungstexten, in: Franziska Thun-Hohenstein / Wolfgang Stephan Kissel (Hrsg.), Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 181-200. 8 Hans Günther hat den Mythos von den „stalinschen Falken“, den Flieger-Helden, in dieser Hinsicht als Kompensation für die in der Realität beschnittenen Bewegungsmöglichkeiten der Menschen interpretiert (vgl. Hans Günther, Der sozialistische Übermensch: Maxim Gor'kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart, Weimar 1993). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 265 Nicht zuletzt aufgrund der enormen Weiten kam (und kommt) dem Raum im russischen kulturellen Selbstbild ein großer symbolischer Wert zu. 9 Die Kehrseite eines solchen ‚Imperativs des Raumes‘ war ein riesiges Territorium mit historisch wechselnden Grenzverläufen, das vom politischen Machtzentrum aus nur schwer zu besiedeln und zu beherrschen war. Das Ziel, eine neue Sowjetzivilisation zu schaffen, radikalisierte das Problem der Beherrschbarkeit des Raumes und gab zugleich den ideologischen und symbolischen Rahmen vor für das Projekt der Konstruktion eines gesonderten, abgeschlossenen „Sowjetraumes“. Der russische Geograph Vladimir Kaganskij hat die Spannung zwischen symbolischer Aufladung des Raumes und realer Landschaft als heuristisches Instrument genutzt, um das Projekt des „Sowjetraumes“ als ein spezifisches Raummodell zu beschreiben, das zwar nicht synonymisch für die UdSSR stehe, dennoch aber die konkrete Landschaft organisiert habe. Der „Sowjetraum“, so Kaganskij, zeichne sich einerseits durch die „Universalität und Totalität von Machtverhältnissen“ aus, andererseits durch eine Fragmentierung des Raumes, verbunden mit einer Setzung innerer Grenzen. Als „Einheit“ (edinica) des „Sowjetraumes“ bezeichnet er die „Zone“ (zona), die sowohl ihrem Status nach, als auch physisch von der sie umgebenden Landschaft isoliert sei. 10 Infolge der intendierten Isoliertheit der „Zonen“ sei das Modell des „Sowjetraumes“ letztlich agoraphobisch. Einsehbar für den einzelnen sollte nur der Raum der eigenen Einheit sein; den Gesamtraum zu überblicken oder zu kennen, käme demzufolge einem Privileg gleich: „Die Logik des Sowjetraumes verlangt die zeitweise Erblindung der Menschen beim Verlassen der ‚eigenen‘ Einheit.“ 11 Innerhalb des „Sowjetraumes“ sei der Mensch letztlich nirgends verwurzelt: „niemand lebt nirgendwo.“ 12 Im Raum der Utopie, lautet aber Kaganskijs Fazit, könne man nicht leben, weil dieser weder eine innere Heterogenität noch eine äußere Welt kenne. Überlebt hätten die Menschen in den „Ritzen zwischen den Machtstrukturen“, 13 9 Zum Raum in der symbolischen Ökonomie der russischen Kultur vgl. Susi Frank, Raum und Ökonomie. Zwei Kernelemente der russischen Geokulturosophie, in: Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband 54 (2001), S. 427-445. 10 Vladimir Kaganskij, Kul’turnyj landšaft i sovetskoe obitaemoe prostranstvo, Moskva 2001, S. 141. Kaganskij geht an dieser Stelle nicht explizit auf die GULag-Lager als Beispiel für solcherart „exterritoriale Zonen“ ein, zählt aber die Fabrik-, Lager- und Garnisonssiedlungen zu den gleichsam unsichtbaren sowjetischen „Spezialstädten“ (specgoroda), die er als Materialisierung eines „militärisch-industriellen Urbanismus“ versteht. 11 Ebd., S. 148. 12 Ebd., S. 143. Die grammatikalische Struktur der doppelten Negation im Russischen (nikto nigde ne živet) verstärkt noch die Semantik einer Verunmöglichung jeglicher Verwurzelung. 13 Ebd., S. 154. Franziska Thun-Hohenstein 266 d.h. in der konkreten Landschaft, in der sie sich ihre eigenen Kommunikationssysteme geschaffen hätten. Kaganskijs Unterscheidung zwischen dem Projekt des „Sowjetraumes“ und der realen, besiedelten Landschaft bietet produktive Ansätze für eine Typologie von „Zonen“ sozialer Inklusion (z.B. der Großstädte) bzw. Exklusion (der Lager-, der Zwangsumsiedlungs- oder der Verbannungs-Orte) sowie für die Frage nach der Durchlässigkeit der Grenzen im Sowjetimperium, nach Schließung bzw. Öffnung der jeweiligen „Zone“. Diese Frage gewinnt an Brisanz, da die Grenzen zwischen den verschiedenen „Zonen“ (selbst im Falle des GULag) auf der Ebene der politischen Diskurse zwar klar gezogen wurden, in der Realität angesichts der konkreten Lebensbedingungen aber durchaus porös sein konnten. Der Entlassung aus einer Zone - etwa dem Lager - wird im Rückblick vielfach als Eintritt in eine andere, ebenso von Gewalt und Beschränkungen dominierte Zone markiert (auf die Entlassung folgte meist eine Ansiedlung [poselenie] „auf ewig“, wie es offiziell hieß, an einem entlegenen Ort in Sibirien oder dem Fernen Osten). 14 So gab es für die Mehrzahl der aus ethnischen oder anderen Gründen Deportierten keinerlei Aussicht auf Rückkehr in die Heimatregion. Ihnen wurde die Bewegungsfreiheit im Land nicht nur eingeschränkt (wie in der Praxis der sogenannten „Minus“-Regelungen, die die Anzahl der verbotenen Großstädte festlegten), sondern generell verwehrt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in Rußland seit Jahrhunderten unterschiedliche „räumlich dynamische, wandernde Lebensformen“ (Susanne Frank) Kontinuität hatten, die im Kern eine Flucht vor dem Staat bedeuteten. Im russischen Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts wurden diese „Wanderer“ (stranniki) - die das Phänomen einer mangelnden Bereitschaft zur Verwurzelung repräsentierten - entweder als eine der Hauptursachen für Rußlands zivilisatorische Rückständigkeit gewertet, oder, im Gegenteil, als letztlich verdienstvolle Akteure einer expandierenden Kolonisierung des russischen Raumes. 15 14 Einen solchen Vergleich zieht beispielsweise Oleg Volkov in seinen Erinnerungen Versinken in Finsternis (Pogruženie vo t’mu, 1977-79; russische Erstpublikation 1987 in Paris), als er die Entlassung aus dem Lager an einer Stelle als Wechsel von einer „eingegrenzten Zone“ in eine „geräumigere“ bezeichnet („iz ograničennoj zony v bolee prostornuju“) (Oleg Volkov, Pogruženie vo t’mu, Moskva 2000, S. 55). 15 Vgl. Susanne Frank, Die (Un)bedingtheit der Wanderer-Gastfreundschaft. Konzeptualisierungen von „stranničestvo“ und „strannopriimstvo“ im späten 19. Jahrhundert und in den 1930er Jahren, in: Freundschaft: Konzepte und Praktiken in der Sowjetunion und im kulturellen Vergleich. Texte des Gemeinsamen Workshops des ZfL und der Staatlichen Ilia-Universität Tbilissi, Interjekte 2 (www.zfl-berlin.org/ interjekte.html). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 267 Insbesondere in den Jahren unter Stalin entzog die Sowjetmacht dem Menschen die Verfügbarkeit über den Raum. Reflexionen über diesen Verlust gehören zu den gängigen Topoi in Erinnerungen von Überlebenden der Terror- und Gewaltpraktiken. Die Ethnographin Nina Hagen-Torn konstatiert in ihren Erinnerungen: „Die Menschheit arbeitet das gesamte 20. Jahrhundert hindurch an der Lösung der Aufgabe, Raum und Zeit zu beherrschen, und beschleunigt dabei enorm die Bewegungsmöglichkeiten im Raum. Zugleich nimmt sie Millionen Menschen jeglichen Raum, indem sie sie in Gefängnisse und Lager einsperrt.“ 16 Was bedeutete dieser prinzipielle Entzug der Bewegungsmöglichkeit im Raum in einer Kultur, in der, wie Felix Philipp Ingold betont, das „Unterwegssein als Daseinsmetapher“ 17 (bezogen auf den individuellen Lebensweg oder auf den kollektiven Weg durch die Geschichte) nicht zuletzt aufgrund der Weite des Raumes, bis in die Sowjetzeit hinein als eine Art metaphorischer Entsprechung zum Begriff der Freiheit funktionierte? 18 Welche Folgen haben die Prinzipien sowjetischer Raumordnung für die symbolischen und affektiven Aufladungen des Raumes und der Wege im russischen kulturellen Bewusstsein? Vor diesem Hintergrund soll nachfolgend an einigen symptomatischen Beispielen untersucht werden, mit welchen sprachlichen und ikonographischen Figuren Evfrosinija Kersnovskaja, die aus Bessarabien nach Sibirien deportiert wurde, in ihren Erinnerungen aufgezwungene und selbstbestimmte Wege durch das Sowjetimperium codiert. 19 Evfrosinija Kersnovskaja (1907-1994) wurde als Tochter eines Juristen in Odessa geboren. Beide Eltern stammten aus adligen Familien mit internationalen (rumänischen, polnischen, griechischen, österreichischen) Wurzeln. Die Familie war, wie traditionell üblich, mehrsprachig, zudem unterrichtete die Mutter Fremdsprachen. Ihr Großvater väterlicherseits hatte in Bessarabien Ländereien erworben. Bessarabien, die östliche Provinz des 16 „Весь ХХ век человечество разрешает задачу овладения пространством и временем, невероятно ускоряя возможности передвижения в пространстве. И - лишает миллионы людей всякого пространства, заключая их в тюрьмы и лагеря" (Nina Gagen-Torn, Memoria, Moskva 1994, S. 107; Übers.: FTH). 17 Felix Philipp Ingold, Russische Wege. Geschichte. Kultur. Weltbild, München 2007, S. 180. 18 Hans Günther hat gezeigt, in welch starkem Maße das Motiv eines „breiten“ („širokaja“) und „weiten“ („dal'naja“) Weges, der Sehnsucht nach dem Erreichen eines fernen Zieles in den sowjetischen Massenliedern der 1930er Jahre verbreitet war. Vgl. Chans Gjunter [Hans Günther], Archetipy sovetskoj kul'tury, in: Chans Gjunter / Evgenij Dobrenko (Hrsg.), Socrealističeskij kanon, Sankt-Peterburg 2000, S. 743-784. 19 Zum autobiographischen Projekt Evfrosinija Kersnovskajas vgl. das entsprechende Kapitel in: Franziska Thun-Hohenstein, Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation, Berlin 2007, S. 181-223. Franziska Thun-Hohenstein 268 früheren Fürstentums Moldau mit überwiegend rumänischer Bevölkerung, wurde 1812 dem russischen Zarenreich zugesprochen (Gouvernement Bessarabien; Hauptstadt: Chişinäiu, russ.: Kišinev). Im Dezember 1917 erklärte sich Bessarabien zunächst für unabhängig, schloss sich aber vor dem Hintergrund von Revolution und Krieg im November 1918 Rumänien an. Am 28. Juni 1940 besetzte die Sowjetunion Bessarabien und gliederte es in die Moldauische Sowjetrepublik ein. Tausende männliche Einwohner wurden als aktive Konterrevolutionäre verhaftet und in Lager des GULag-Systems abtransportiert, ihre Familienangehörigen nach Sibirien deportiert. 20 Die Familie war 1919 vor dem roten Terror auf einem französischen Schiff aus Odessa nach Bessarabien geflohen, auf das Landgut des Vaters in Cepilovo im Kreis Soroca, wo der Vater 1936 verstarb. Der ältere Bruder Anton studierte in Wien und Paris und blieb nach dem Studium in Frankreich. 21 Evfrosinija Kersnovskaja schloss das Gymnasium ab, besuchte anschließend veterinärmedizinische Kurse und richtete auf dem Gut eine Farm ein. Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee wurden ihre Mutter und sie aus dem Haus vertrieben, ihre gesamte Habe beschlagnahmt. Es gelang ihr, die Mutter über die Grenze nach Rumänien zu schleusen und sich selbst mit physischer Arbeit (in den Weinbergen, als Waldarbeiterin) durchzuschlagen. Im Juni 1941 wurde sie mit Tausenden ihrer Landsleute in die ‚ewige Verbannung‘ nach Sibirien deportiert (nach Sujga, eine Siedlung östlich von Tomsk). Dort begehrte sie gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf, floh und ‚wanderte‘ von März bis August 1942 durch Sibirien, wobei sie etwa 1’500 km zurücklegte. Immer darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden, konnte sie einer Denunziation dennoch nicht entgehen, wurde verhaftet und als angebliche Spionin zum Tode verurteilt. Dann wurde das Todesurteil in zehn Jahre Haft in den ‚Arbeitsbesserungslagern‘ des GULag umgewandelt. 22 1947 ließ sie sich auf eigenen Wunsch für die Arbeit unter Tage im Bergwerk einteilen. Nach der 1952 erfolgten Entlassung aus dem Lager besuchte sie eine Bergwerksschule und arbeitete danach als Sprengmeisterin. Ihren Urlaub im Sommer 1957 nutzte sie für eine ausgedehnte Wanderung zu Fuß durch den Kaukasus. Bei einem Besuch des Heimatortes Cepilovo erhielt sie die Nachricht, dass die Mutter den Krieg in Rumänien überlebt 20 Konkrete Angaben zu den Deportationen aus Bessarabien bzw. Moldawien gibt u. a. Pavel Pol’jan, Ne po svoej vole... (Anm. 2); vgl. auch das Vorwort von Valeriu Pasat zur Gesamtausgabe der Erinnerungen von Evfrosinija Kersnovskaja (Valeriu Pasat, „Predislovie“, in: Evfrosinija Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek, Moskva 2006, S. 7- 10). 21 Anton Kersnovskij (1905-1944) machte sich als Militärhistoriker einen Namen. 22 In ihren Erinnerungen beschreibt sie die verschiedenen sibirischen Lager und Lagerpunkte. ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 269 hatte. Zum Wiedersehen mit der Mutter kam es erst im Sommer des darauffolgenden Jahres in Odessa. 1960 wurde sie Rentnerin und zog nach Essentuki am nördlichen Rand des Kaukasus (Stavropoler Kreis), wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Es gelang ihr, die Mutter aus Rumänien zu sich zu holen. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre schrieb und zeichnete Evfrosinija Kersnovskaja ihre Lebensgeschichte in zwölf Schulhefte, wobei sie diese aus Angst vor möglicher Entdeckung und Beschlagnahmung mehrfach abschrieb und dabei auch die Zeichnungen neu anfertigte. Dabei war sie sich des nichtprofessionellen Charakters ihrer Zeichnungen bewusst und bezeichnete sie als „Felszeichnungen“ („naskal'naja živopis’“). 23 Der Begriff markiert nicht nur den laienhaften Charakter, sondern impliziert einen zeitlichen Index - die Zeichnungen erscheinen als materielle Zeichen aus einer längst vergangenen Epoche, als manifeste Erinnerungen, die präsent sind und dennoch in der Sowjetunion im Verborgenen bleiben mussten. In den Jahren der Perestrojka gab es erste Teilveröffentlichungen in sowjetischen Zeitschriften. Erst seit einigen Jahren ist das eigenwillige Gesamtprojekt, das durch die Einbeziehung der Zeichnungen das traditionelle Medium autobiographischer Selbstthematisierung - das Wort - überschreitet, unter dem Titel Was ein Mensch wert ist (Skol'ko stoit čelovek) publiziert und auch im Internet zugänglich. 24 Der retrospektive Blick auf das eigene Leben wird für Evfrosinija Kersnovskaja zu einer Art Lebensbeichte vor Gott. Am Ende konstatiert sie, dass sie - gemessen an den Lebensmaximen und moralischen Wertmaßstäben der Familie - die Prüfung des Lebens bestanden habe. Im Text selbst wird die Geste der Adressierung an zwei Instanzen explizit, vor denen sie über ihr Leben Rechenschaft ablegt: einerseits sind es die Eltern, in erster Linie die Mutter, an die sie sich mit ihrem erzählten und gezeichneten Lebensbericht wendet; und andererseits setzt sie Gott als höchste Instanz ein, mit dem sie fortwährend eine innere Zwiesprache führt, die den gesamten Text durchzieht und sich ebenfalls in Zeichnungen niederschlägt. Für eine parallele Untersuchung von innerer Mobilität im Sowjetimperium und transnationalen Narrativen ist Evfrosinija Kersnovskajas autobiographisches Projekt insofern von besonderem Interesse, als ihre Perspektive 23 Jefrosinija Kersnowskaja: „Ach Herr, wenn unsre Sünden uns verklagen“. Eine Bildchronik aus dem Gulag, übers. v. Iwan N. Tscherepow, mit einem Geleitwort von Lew Kopelew und einem Vorwort von Wladimir Wigiljanskij, Kiel 1991, S. 5. 24 Im Internet zu finden unter: www.gulag.su. Die Zeichnungen der Hefte stehen fortlaufend in der Reihenfolge der Hefte unter der Adresse: www.gulag.su/ images/ index.phb? eng=&page=0&list=1&foto=1. Nachfolgend wird in Klammern die Internetadresse angegeben, unter der die jeweilige Zeichnung aufgerufen werden kann (Stand 23.08.2012). Franziska Thun-Hohenstein 270 auf das Sowjetimperium eine von außen war. Die Okkupation Bessarabiens im Sommer 1940 war nicht ihre erste Begegnung (während der Ereignisse in Odessa 1919, als der Vater wie durch ein Wunder der Erschießung entkam, war sie noch ein Kind) mit einer russisch dominierten Sowjetmacht, die sie selbst und ihre Familie unmittelbar Gewalt und Terror aussetzte. Vor diesem Hintergrund sind ihre nachträglichen Reflexionen über kulturelle Differenzen zwischen Russland und Bessarabien, ihre Beobachtungen über unterschiedliche Lebensweisen und Kulturen, denen sie auf ihren aufgezwungenen oder freiwilligen Wegen begegnete, immer auch als eine implizite oder explizite Auseinandersetzung mit dem Sowjetsystem zu lesen. Unverblümt spricht sie von den Zwangsdeportationen aus ethnischen Gründen: Allmählich bin ich davon überzeugt, dass in diesem Land, in dem ich zu leben hatte und das für sich den Namen einer „klassenlosen Gesellschaft“ beansprucht, nicht nur strikt voneinander unterschiedene Klassen bestehen, sondern dass zwischen diesen Klassen, genauer gesagt, Kasten, eine undurchdringliche Wand aus Feindschaft und Mißtrauen steht. Irgendwo oben ist die herrschende Klasse, die Klasse der Unterdrücker. Ich habe sie mir noch nicht genau angesehen und bin erst zweimal mit ihr in Berührung gekommen: als meine Mutter und ich unter ihrer Führung aus unserem eigenem Haus vertrieben wurden, als sie die „große Völkerwanderung“ in Viehwagons aus Bessarabien leiteten (und, wie ich später erfuhr, aus Lettland, Litauen und Estland). 25 In den Text der Erinnerungen sind zahlreiche Kurzporträts von Leidensgefährten unterschiedlichster Nationalitäten eingeflochten, die sie nicht nur zu Reflexionen über deren individuelles Schicksal, sondern auch über das Schicksal der verschiedenen kulturellen und religiösen Traditionen unter den Bedingungen der Sowjetmacht veranlasst. Obgleich diese Gedanken bisweilen nicht frei von Klischees sind (die Esten arbeiteten auch unter Zwang gewissenhaft, während jüdische polnische Verbannte - bereits im 25 „Постепенно я убеждаюсь, что в этой стране, в которой мне суждено было жить и которая претендует на звание ‚бесклассового общества‘, не только существуют резко разграниченные классы, но и между этими классами, верней кастами, глухая стена враждебности и недоверия. Где-то наверху - господствующий класс, класс угнетателей. К ним я еще не успела присмотреться и соприкоснулась с ним и лишь дважды: когда они руководили изгнанием нас с мамой из родного дома и во второй раз, когда они руководили ‚великим переселением народов‘ в телячьих вагонах из Бессарабии (и, как я впоследствии узнала, из Литвы, Латвии и Эстонии)“ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 165f.). Bei der Schilderung ihrer Wanderung durch den Kaukasus kommt sie auf das Schicksal jener nordkaukasischen Völker zu sprechen, die nach dem Krieg zwangsdeportiert wurden. ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 271 Krieg - eher auf Versorgungsleistungen des Auslands setzten), 26 schildert sie viele einprägsame Szenen und Details. So trifft sie auf ihrer ‚Wanderung‘ auf ein bereits seit dem 19. Jahrhundert bestehendes ukrainisches Dorf, dessen Anblick ihr wie ein Stückchen Ukraine im Herzen Sibiriens vorkommt, da hier die Holzhäuser weiß getüncht sind und in den Gärten Himbeeren wachsen. Auch verbirgt sie nicht ihre Erschütterung darüber, dass sich die eigenen Landsleute unter den Bedingungen des Lebens in einem „russischen, genauer gesagt, sowjetischen russischen Dorf, das auch noch mitten im Herzen der nördlichen Tajga liegt“, 27 veränderten, dass sie ihre traditionelle Gastfreundschaft und die ihnen eigene Lebensfreude einbüßten. Das vielfach explizit benannte Gefühl von Fremdheit in der Sowjetunion bedeutet für das erinnerte Ich, im doppelten Sinne fremd zu sein - einerseits im Sowjetsystem mit seinen Alltagslogiken, andererseits in der ideologisch aufgeladenen und daher entfremdeten russischen Sprache. Russisch war nicht die Muttersprache Evfrosinija Kersnovskajas, aber sie hatte eine russische Bildung erhalten und fühlte sich daher in der klassischen Kultur, vor allem in der russischen klassischen Literatur, ebenso zu Hause wie in der rumänisch geprägten Kultur Bessarabiens, in der sich über Jahrhunderte verschiedene Einflüsse aus dem Osmanischen, dem Habsburger und dem Russischen Reich kreuzten. Daher spricht sie im Rückblick von Russland als ihrer Heimat (rodina) 28 und setzt sich im Text immer wieder mit dem Charakter des Sowjetsystems auseinander: Warum verstehe ich das Wesen dieses Regimes immer noch so schlecht? Warum stellt sich die Frage: Wofür? ... Vielleicht deswegen, weil die UdSSR Russland ist, Russland aber - das ist meine Heimat, die Heimat aber - das ist die Mutter... Jeder möchte seine Mutter als gütig, klug, gerecht sehen. Man möchte vertrauensvoll dorthin gehen, wohin Deine Mutter Dich führt. Plötzlich aber wird sie zum Vampir und führt Dich ins Moor! 29 26 Ebd., S. 231. 27 „[...] русской, именно советской русской деревне, да еще расположенной в сердце северной тайги“ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 160). 28 Das weibliche russische Wort rodina (Heimat) ist abgeleitet von rod (Stamm) und impliziert somit den Hinweis auf eine genealogische Abstammung. Durch ein Plakat des Georgiers Irakli Toije „Mutter-Heimat ruft! “ wurde die Wortverbindung „Mutter-Heimat“ (rodina-mat') zu einem festen Topos der Sowjetideologie. 29 „Отчего же я так еще плохо разбираюсь в сущности этого режима? Отчего встает вопрос: за что? ... Оттого ли, что СССР - это Россия, а Россия - это моя родина, а родина - это мать... Каждому хочется видеть свою мать доброй, умной, справедливой. Хочется доверчиво идти туда, куда тебя ведет твоя мать. И вдруг она оказывается вурдалаком и ведет тебя в трясину! “ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 137). Franziska Thun-Hohenstein 272 Der Verrat der Mutter-Heimat (rodina-mat') wird von ihr auch als Verrat an der russischen Kultur und Sprache gewertet. Daher ist sie stets bestrebt, zwischen dem sowjetischen System und der russischen Kultur zu unterscheiden. Ihre Schreibsprache ist russisch. Immer wieder fließen in ihre Erinnerungen deutsche, französische, rumänische (moldauische) 30 oder auch lateinische Redewendungen und Sätze ein. Bezogen auf einen späteren Zeitpunkt, da die Ich-Erzählerin das sowjetische System, in dem sie lebte (präziser gesagt: leben musste), bereits ironisch als „unser System“ („naša sistema“) 31 bezeichnete, wird die Sprachkritik präzise formuliert: Aber bei uns hat jedes Wort außer einem offiziellen auch noch einen inoffiziellen Sinn. Versuche doch einmal mit eigenen Worten die Bedeutung solcher Worte wie „Freiheit“, „Glück“, „Liebe zur Heimat“ zu erklären. Ach, was soll’s! Jedes von Kindheit an bekannte Wort erscheint gleichsam maskiert. Was aber ist unter der Maske? Das errät man nicht so leicht. 32 Kersnovskajas Herkunft und Vorgeschichte erklären, warum sie gegen die Sowjetrhetorik nicht auf Kirchenslawismen (wie etwa Oleg Volkov in seinen Erinnerungen) oder auf traditionelle Muster der revolutionär-demokratischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zurückgreifen konnte. Eine Umkodierung von Denkfiguren des Dekabristenmythos (wie bei Evgenija Ginzburg), 33 in die z. B. Aleksandr Puškins Gedicht „Umfinstert von Sibiriens Erz“ („Vo glubine sibir'skich rud“) einbezogen wird, weist die Ich-Erzählerin entschieden zurück. 34 Kersnovskajas Anliegen ist es, den scheinbar 30 Nach der Besetzung Bessarabiens wurde für die dort gesprochene rumänische Sprache in Abgrenzung zu Rumänien die Bezeichnung „moldauische Sprache“ eingeführt. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist die Existenz einer eigenständigen moldauischen Sprache umstritten. Der Terminus wird heute als offizielle Bezeichnung für die Amtssprache Moldawiens, verwendet. 31 Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek (Anm. 20), S. 308. 32 „Но у нас каждое слово имеет, кроме официального, еще неофициальное значение. Поди-ка попробуй своими словами растолковать значение таких слов, как ‚свобода‘, ‚счастье‘, ‚любовь к родине‘. Э, да что там! Каждое с детства знакомое слово вдруг оказывается как бы в маске. А что под маской? Это нелегко угадать“ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 335). 33 Zu den Erinnerungen von Oleg Volkov und Evgenija Ginzburg vgl. Thun-Hohenstein, Gebrochene Linien (Anm. 19), S. 19. 34 „Ihr Ehefrauen der Dekabristen, was hättet Ihr gesagt, wäre Berija an der Stelle von Benckendorff gewesen und Stalin an der Stelle von Nikolaj I.? Übrigens ist das eine unsinnige Frage: Eure Männer wären erschossen, Eure Kinder in Kinderheime gesteckt worden und Ihr selbst hättet Euch ‚in den Tiefen der sibirischen Erze‘ wiedergefunden...“ Orig.: „Жены декабристов, что бы сказали вы, будь на месте Бенкендорфа - Берия, а на месте Николая Первого - Сталин? Впрочем, это нелепый вопрос: ваши мужья были бы расстреляны, ваши дети - отправлены в ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 273 vertrauten, ideologisch aber missbrauchten, d.h. von ihrer eigentlichen Bedeutung entfremdeten Worten „die Maske“ herunterzureißen. 35 Die Visualisierung des Erlebten in den Zeichnungen wird vor diesem Kontext zu einem zusätzlichen Instrument, um die Diskrepanz zwischen Wort (offizieller Sprachregelung) und Realität (eigenen Erfahrungen) möglichst anschaulich zu vermitteln. Auffallend ist der Kontrast zwischen Bildästhetik und Text. Die meisten Zeichnungen sind lebendig, farbenfroh, abwechslungsreich, meist ohne Rahmen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Charakter der Bilder, die ein nahezu idyllisches Leben auf dem Gutshof in Bessarabien vor der Vertreibung zeigen, 36 wenig von denen, die dem weiteren Lebensweg in Verbannung und Lagerhaft gewidmet sind. Oft sind bunte Farben bewußt gegen die eintönige, farblose Lagerrealität gesetzt. Kersnovskaja bestimmte ihre eigene Methode als Versuch zu „fotografieren“ 37 , was sie selbst als „Augenzeugin“ gesehen habe. Ihr Wort-Bild-Projekt ist letztlich als Intervention gegen die staatlich verordnete Geschichtsfälschung zu verstehen. 38 Auch die in Wort und Bild vorgenommene Konzeptualisierung von Wegen innerhalb des von Zwang und Verboten markierten Sowjetraumes hat den Charakter einer derartigen Intervention. Das systemkritische Moment wird dabei von Anfang an mit einer existentiellen Deutung des Geschehens zusammengeführt, wobei die Erlebnisse in einen anderen Deutungshorizont eingeschrieben werden: Die expliziten biblischen Vergleiche und Assoziationen deuten ihren gesamten Lebensweg innerhalb der Sowjetunion als „Stationen des Leidenswegs“ („ėtapy krestnogo puti“). 39 Zugleich bezieht sie diese Deutung nicht nur auf ihren individuellen Lebensweg, sondern weitet sie, insbesondere im zweiten Heft, auf das Schicksal ihrer Landsleute aus Bessarabien aus. Die Deportation, den wochenlangen Transport nach Sibirien in Viehwagons bezeichnet sie als „Auszug“ („ischod“), 40 wobei sie dieses Wort (ebenso wie das Wort „Lei- детдома, а сами вы очутились бы ‚во глубине сибирских руд‘...“ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 319). 35 Sie nimmt die neue Macht buchstäblich beim Wort und tut das bisweilen auch sehr direkt, wenn sie z.B. nach der Enteignung von den neuen Machthabern verlangt, ihr elementare Arbeitsinstrumente auszuhändigen, damit sie - wie verlangt - durch physische Arbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten könnte. Ihre präzisen und bisweilen sarkastischen Beobachtungen lassen sich symptomatisch als ein Lernprozeß in Sachen sowjetischer Lagerzivilisation lesen. 36 S. das Bild unter: gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=1&list=1&foto=1 (23.8. 2012). 37 „[...] мы, последние очевидцы [...]. Поэтому я и пытаюсь ‚сфотографировать‘ то, чему я была очевидцем“ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 487. 38 Die vielschichtigen Beziehungen zwischen Bild und Text können im Rahmen dieses Beitrages nicht detailliert untersucht werden. 39 Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek (Anm. 20), S. 148. 40 Ebd., S. 144. Franziska Thun-Hohenstein 274 densweg“), um es von der eigentlichen biblischen Semantik zu unterscheiden, in Anführungszeichen setzt. Dass der Bericht über die Deportation im zweiten Heft ihrer Erinnerungen steht, verleiht dem Vergleich mit dem zweiten Buch Mose (Exodus) eine zusätzliche Nuance. Verstärkt wird diese Deutung durch den ebenfalls im zweiten Heft enthaltenen Vergleich der Ausweisung aus Bessarabien mit dem christlichen Ritual der „Weihe“ („velikij postrig“) 41 zu einer Ordensschwester, gleichbedeutend der Selbstverpflichtung, dem weltlichen Leben zu entsagen und ein Leben in Demut und Enthaltsamkeit zu führen. Die Selbstverpflichtung zu einem „tätigen Christentum“ (Vladimir Vigiljanskij) prägt ihre Grundhaltung zum Leben und bildet die Basis eines für Erinnerungen von Überlebenden des GULag einzigartigen, fast optimistisch zu nennenden Grundgestus. Charakteristisch ist ihr Versuch, selbst den schwierigsten Augenblicken, meist wider besseres Wissen, ein Moment der Freiheit, des selbstbestimmten Handelns abzugewinnen. So versucht sie, die (ohnehin nicht zu vermeidende) Deportation als ein „Wegfahren“ zu deklarieren, indem sie sich freiwillig beim NKWD meldet, ohne darauf zu warten, dass sie abgeholt werde: „Ist es nicht besser, wegzugehen? Nicht zu fliehen, sondern wegzufahren. Man braucht weder zu lügen, noch sich zu verstecken. Sollen sie mich doch abtransportieren! “ 42 Die Unmöglichkeit einer derartigen Umdeutung ist ihr - wie der letzte Satz belegt - wohl bewusst. 43 Und dennoch wiederholt sich dieses Verfahren wie eine Geste der Selbstsuggestion im Text mehrfach - beispielsweise, wenn sie zu Beginn der Deportation, noch auf der Fahrt durch das vertraute Bessarabien, den Gedanken an eine Flucht aus dem fahrenden Viehwagon verwirft. Evfrosinija Kerskovskaja hatte eine russische Bildung genossen. Die russische Literatur prägte den kulturellen Horizont, in den sie ihren Lebensbericht einträgt. 44 „Verbannung“, heißt es an einer Stelle, „dieses Wort weckte viele Erinnerungen an Gelesenes: Radiščev, die Dekabristen, Šamil'. Schließlich die verbannten Zwangsarbeiter. Irgendein Verbrechen, eine Revolte und 41 Vgl. z.B. Ebd., S. 127. Es bleibt offen, ob diese Enthaltsamkeit nicht auch mit dem Verlust ihrer Cousine Irina zu tun hatte, mit der sie in ihrer Jugend eine sehr innige Beziehung verband. Obgleich sie unzertrennlich bleiben wollten, trennten sich ihre Wege. Irina heiratete, starb aber bald darauf. Für Kersnovskaja blieb sie die Freundin, der sie sich vor allem in seltenen Momenten des Glücks (wie während der Wanderung durch den Kaukasus) in Gedanken zuwandte. 42 „Разве не лучше удалиться? Не бежать, а именно уехать. Не надо ни лгать, ни скрываться. Пусть уж увозят! “ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 127). 43 In Sibirien musste sie unterschreiben, dass sie „eine auf Lebenszeit Verbannte“ (požiznenno ssyl'naja) sei (ebd., S. 151). 44 Bild unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=2&list=1&foto=11 (23.8. 2012). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 275 die Schuldigen werden - gewöhnlich nach einer Gerichtsverhandlung und dem Gefängnis - in fremde Gebiete verbannt.“ 45 Allerdings weist sie diese Option sofort wieder zurück, da das Erlebte alle aus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts bekannten Bilder von Verbannung außer Kraft setzt. Felix Philipp Ingold verweist in seiner Arbeit über Russische Wege darauf, dass der Sträflingstrakt, auf dem die Gefangenen Tausende von Kilometern von West nach Ost zu Fuß zurücklegen mussten (eine Art ritueller Passage in die Unfreiheit), oft als letztes Stück persönlicher Freiheit empfunden wurde. 46 Dieser Gedanke findet sich beispielsweise in Anton Čechovs Die Insel Sachalin (Ostrov Sachalin; 1893-94). Im Gegensatz zum Gefängnis, schreibt Čechov, habe der lange Fußmarsch durch Sibirien in die Katorga (der russische Ausdruck für Zwangsarbeit), verbunden mit den häufigen Wechseln der Leidensgefährten wie der Wachmannschaften, den Zwischenfällen unterwegs für die Betroffenen „eine eigene, besondere Poesie“ und „trotz allem mehr Ähnlichkeit mit Freiheit“ („bol’še pochožego na svobodu“) als das Gefängnis oder Straßenbauarbeiten. 47 Die Verzweiflung über die endgültige Abgeschnittenheit von zu Hause veranlasse viele zur Flucht: „Die einen fliehen in der Absicht, einen Monat, eine Woche lang frei herumzulaufen, anderen genügt schon ein Tag. Sei’s auch nur ein Tag, aber er gehört mir.“ 48 Manche überfalle diese Sehnsucht in periodischen Abständen, wie Trunksucht oder Epilepsie. Überhaupt sei der Drang nach Freiheit selbst durch alle Androhung von Strafmaßnahmen nicht zu unterdrücken. Evfrosinija Kersnovskaja vermochte dem Unterwegssein in die Verbannung keine „besondere Poesie“ (Čechov) abzugewinnen. Eine derartige Konzeptualisierung des Weges nach Sibirien war ihr angesichts der Realität des Erlebten nicht möglich. Voll bitterem Sarkasmus spricht sie mehrfach von den „Reisenden“ („putešestvenniki“), 49 wobei sie diese Bezeichnung in 45 „Ссылка... Это слово пробуждало много воспоминаний о прочитанном: Радищев, декабристы, Шамиль. Наконец, ссыльнокаторжные. Какое-либо преступление, мятеж, и виновных - обычно после суда и тюрьмы - отправляют в чужие края“ (ebd., S. 133). Dieser Vergleich ist ein gängiger Topos in russischen Erinnerungen von Überlebenden des GULag. Evgenija Ginzburg beispielsweise schreibt in ihren Erinnerungen Marschroute eines Lebens (Krutoj maršrut, 1967), sie habe, während sie auf das Urteil wartete, Verse aus Boris Pasternaks Versdichtung Leutnant Schmidt (Lejtenant Šmidt, 1926) rezitiert, in denen sibirische Verbannungsorte aufgerufen werden. 46 Ingold, Russische Wege (Anm. 17), S. 182. 47 Anton Tschechow, Die Insel Sachalin, Berlin 1982, S. 447; Orig.: Anton Čechov, Iz Sibiri. Ostrov Sachalin, Moskva 1985, S. 347. 48 Ebd.; vgl. im Original: „Одни бегут в рассчете погулять на свободе месяц, неделю, другим бывает достаточно и одного дня. Хоть день, да мой“ (Čechov, Iz Sibiri. Ostrov Sachalin [Anm. 43), S. 348). 49 Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek (Anm. 20), S. 153. Franziska Thun-Hohenstein 276 Anführungszeichen setzt. Zu ihrem Entsetzen über die realen Umstände, unter denen Familien auseinandergerissen und die Menschen - Alte, Kinder, selbst Schwerkranke - wie Vieh zusammengepfercht und abtransportiert wurden, kam die quälende Unwissenheit über das Ziel: 50 Unser Zug bewegt sich langsam. Wir fahren... Nein, ich habe mich falsch ausgedrückt: wir werden transportiert. Transportiert an einen unbekannten Ort. Transportiert wie etwas Gestohlenes, das man vor den Menschen verbergen muss: Unser Zug wird auf den Abzweigstellen angehalten, und zwar so, dass wir nicht erfahren, wo wir sind. 51 Vor diesem Hintergrund verkehrt sich die traditionell positiv konnotierte Weite und Endlosigkeit der russischen Wege, bei der das Unterwegssein einen Wert an sich darstellt, ins Gegenteil. Kersnovskaja rekapituliert im Rückblick die einzelnen Stationen auf dem Weg durch Bessarabien und die Ukraine bis nach Sibirien. Die Wolga wird dabei zum Ort des eigentlichen symbolischen Abschieds von Europa, zur Grenze zwischen Vertrautem und Unbekanntem, 52 obgleich der Zug den steinernen Grenzstein zwischen Europa und Asien erst später passiert. 53 Sie habe sich früher nie für die Geographie Sibiriens interessiert, konstatiert Kersnovskaja an einer Stelle, 54 daher sei es ihr besonders schwer gefallen, sich an den Namen zu orientieren: Novosibirsk, weiter südlich in die Kuzbass-Region, Stalinsk, Kuzedeevo, Kondomy, Benžarep, auf einen relativ kurzen Aufenthalt dort folgte der erneute Transport in Viehwagons nach Novosibirsk, schließlich wurden sie mit einem Schiff den Fluss Ob’ hinauf, gen Norden transportiert; dann wurden die Arbeitsfähigen ausgesondert und mussten zu Fuss weitergehen, buchstäblich „durch eine völlige Wegelosigkeit“ („po polnomu bezdorož'ju“), 55 bis sie in einem Boot einen kleinen Fluss entlang bei einer Holzbaracke ankamen, dem eigentlichen Zielort, an dem sie bleiben sollten, um Holzfällerarbeiten zu verrichten. 56 50 S. das Bild unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=2&list=1&foto=4 (23.8.2012). 51 „Медленно движется наш поезд. Мы едем... Нет, я неправильно выразилась: нас везут. И везут неизвестно куда. Везут, как нечто ворованное, что надо скрывать от людей: наш эшелон останавливают на разъездах, и во всяком случае так, чтобы мы не знали, где мы“ (ebd., S. 137). 52 Ebd., S. 142. 53 S. das Bild unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=2&list=1&foto=8 (23.8.2012). 54 Ebd., S. 148. 55 Ebd., S. 152. 56 S. das Bild unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=3&list=1&foto=4 (23.8.2012). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 277 Der agoraphobische Charakter des sowjetischen utopischen Raumodells, von dem Kaganskij spricht, scheint sich zu bestätigen. Der durch den Staat intendierten Undurchschaubarkeit stellt Evfrosinija Kersnovskaja aber ein eigenes (literarisch geprägtes) Raummodell entgegen, das in seinem Kern darauf gerichtet ist, den von ihr real durchquerten Raum in einer Art mentaler Gegenbewegung zu erschließen und sprachlich wie ikonographisch zu erfassen. Es geht ihr darum, im Nachhinein die zumindest ansatzweise gemachten Beobachtungen der enormen geographischen und kulturellen Vielfalt des Sowjetimperiums (ob während des Transports nach Sibirien oder auf ihren späteren unterschiedlichen ‚Wanderungen‘) zu fixieren. Retrospektiv hält sie die gravierenden Unterschiede zwischen ihren Erwartungen und der Realität fest, derer sie jeweils gewahr wird, für die sie aber aufgrund mangelnder Informiertheit erst im Nachhinein Erklärungen findet: Das betrifft beispielsweise ihre Verwunderung, ja ihr Erschrecken beim Anblick ungepflegter Gärten in der Ukraine, der traditionellen Kornkammer des Russischen Imperiums, oder des Ungeziefers in russischen Dorfhütten. Immer wieder wird die Schilderung präzise beobachteter Alltagsdetails durch die Frage nach dem Warum unterbrochen. Sie ahnte, schreibt sie, zunächst weder etwas vom Ausmaß der Hungerkatastrophe in der Ukraine noch von den gravierenden Folgen der Kollektivierung für die Lebensbedingungen der Menschen. Die Sehnsucht nach der abgeschnittenen Vergangenheit, nach dem Heimatort in Bessarabien wurde größer. Der Gedanke an Flucht sei von Anfang da gewesen, vermerkt sie. Angesichts der Kriegssituation habe sie früher diesen Gedanken verworfen, denn sie habe sich nicht auf die Seite des Feindes begeben wollen. Angesichts der Alternative - „Tod in der Sklaverei“ oder „Tod in der Freiheit“ („na vole“) - habe sie sich eines Tages dann entschieden. 57 In Erinnerungen von Überlebenden des GULag wird jedes Hinaustreten, jedes wie auch immer geartete ‚Wandern‘, sobald ein selbstbestimmtes Verlassen der Zone (des Eingesperrt-Seins) möglich ist - und sei es in dem ohnehin durch die geographischen und klimatischen Bedingungen abgeschlossenen Raum der Tajga oder der Kolyma -, immer wieder als Bruchstück persönlicher Freiheit konzeptualisiert. 58 Das aufkommende und artikulierte Gefühl einer Bewegungsfreiheit blieb indes trügerisch, da es aus dem Raum der sibirischen Tajga kein Entkommen gab. Mit dem Gedanken an Flucht verband auch Evrosinija Kersnovskaja die Option einer selbstbestimmten Fortbewegung, obgleich der gesamte Sowjet- 57 Ebd., S. 210. 58 Beispiele dafür finden sich etwa in den Erinnerungen Oleg Volkovs oder in Varlam Šalamovs Erzählungen aus Kolyma (Kolymskie rasskazy; 1954-Anfang der 1970er Jahre). Franziska Thun-Hohenstein 278 raum, darüber machte sie sich keine Illusionen, von Terror und Gewalt beherrscht war. Sie floh, wie bereits erwähnt, im Februar 1942 aus dem sibirischen Verbannungsort Sujga (nördlich von Tomsk) und „wanderte“ wochenlang durch die Tajga. Eine Zeichnung zeigt eine Szene vom Beginn der Flucht. 59 Sie stellt sich auf Knien im Schnee zu Gott betend dar, am Rande eines Abgrunds, über ihr, einem schützenden Dach gleich, der grüne Zweig eines Nadelbaumes. In der Ferne, hinter dem Fluss, sieht man Holzhäuser, in einem brennt Licht. Über allem leuchtet ein fahles Mondlicht. Ohne den Text zu kennen, könnte der Bildaufbau ebenso Erleichterung nach einem beschwerlichen Weg durch die winterliche Tajga signalisieren. Erst aus dem Text erfährt der Betrachter, dass von dem Haus, in dem Licht brennt, für die Person auf der Zeichnung keine Geborgenheit ausgeht, sondern eine Bedrohung - hier (in Sujga) wohnt derjenige, dessen Schikanen die Verbannten schutzlos ausgeliefert waren. Sie ging nach Westen, überquerte den Ob’ und wandte sich dann gen Süden. Bei aller emphatischen Gleichsetzung von Wanderschaft und Freiheit notiert sie im Rückblick, auch das Dasein als Landstreicher wolle gelernt sein. 60 Wobei sie das Wort Landstreicher (brodjaga) an dieser Stelle nicht in Anführungszeichen setzt, was als Identifikation mit dem durchaus subversiv deutbaren Charakter eines nomadischen, umherziehenden Wandererlebens lesbar ist. Zugleich verweist sie im Rückblick mit Bezug auf Lermontov auf die Beschwerlichkeit einer solchen Existenzweise: „Lermontov hatte recht: ‚ein langer Weg ohne Ziel‘ - ist ein ermüdendes Unterfangen.‘ 61 Auf ihrer Wanderschaft durch die spärlich besiedelte sibirische Landschaft musste sie mehrfach die ernüchternde Erfahrung machen, dass ihr niemand die Tür öffnete. Traditionelle Regeln der Gastfreundschaft schienen nicht mehr zu gelten. Dennoch setzte sie ihren Weg fort, traf auch auf Menschen (Landsleute aus Bessarabien, Litauer), die das wenige, was sie hatten, mit ihr teilten (bezeichnenderweise sind das meist keine Russen, sondern Landsleute aus 59 S. die Zeichnung unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=4&list=1&foto=3 (23.8.2012). 60 „Быть бродягой тоже нужно уметь! “ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 220). 61 „Лермонтов был прав: ‚долгий путь без цели‘ - утомительное предприятие“ (ebd., S. 231). Dies ist eine ungenaue Anspielung auf eine Verszeile aus dem Gedicht „Duma“ (1838): „И жизнь уж нас томит, как ровный путь без цели“; in der deutschen Nachdichtung von Werner Grüning unter dem Titel „Betrachtung“ ist die Charakterisierung des Weges als „lang“ bzw. im Original bei Lermontov als „rovnyj“ („gleichförmig“, „eben“) weggefallen: „Das Leben quält uns: Weg, der uns kein Ziel verheißt“, (Michail Lermontow, Gedichte und Poeme, Berlin 1987, S. 117). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 279 Bessarabien oder Litauer). Ein alter Mann wies ihr den Weg zu einer Einsiedelei russischer Altgläubiger, von denen er erwartete, sie zeigten ihr den Weg von einer Einsiedelei zur anderen. Die Altgläubigen waren von je her bekannt für ihre Unbeugsamkeit gegenüber der fernen Macht in Moskau und für ihre Fähigkeit, sich dieser zu entziehen, indem sie sich in den unübersichtlichen Weiten Sibiriens versteckten. Dieses subversive Programm zur Erschließung des von seinen natürlichen Gegebenheiten her ohnehin undurchdringlichen sibirischen Raumes weckte bei ihr die Hoffnung, ihre Wanderschaft könnte einer Pilgerreise gleichkommen. Doch die Realität sah anders aus: die Behausungen der Altgläubigen waren verlassen. 62 Obgleich sie die Momente der Verzweiflung ebenso ins Bild setzt, 63 bekräftigt sie, dass sie selbst als Landstreicherin Herrin über ihr Schicksal bleibe. 64 Im Rückblick - im Wissen um das Scheitern der Flucht - betont sie mehrfach, dass ihr Selbstbewusstsein sie nicht verlassen habe. Das manifestiert sich beispielsweise in einer Zeichnung, in der sie sich als unverzagten, unbeirrbaren Götterboten Hermes darstellt 65 - mit Andeutungen an die bekannten Attribute: der Stock verweist auf seine Schnelligkeit (Hermes gilt als verschlagen, als schnell), auch meint man fast die kleinen Flügel am Helm zu erkennen. Bei aller Emphase, mit der sie von der Selbstbestimmtheit ihrer Fluchtwege spricht, ist die Darstellung der monatelangen Wanderschaft durch die Tajga vom Wissen dominiert, dass sie sich in einem Raum bewegt hatte, der von Terror und Gewalt bestimmt war. Zu einer wirklichen Emphase der selbstbestimmten freien Bewegung kam es erst, nachdem sie den GULag überlebt hatte. Im Sommer 1956 reiste sie von Noril'sk aus zunächst nach Moskau und dann durch den Kaukasus. Im vorletzten Heft ihrer Erinnerungen, „Auf dem Gipfel“ („Na veršine“), berichtet sie über diese Wanderung. In den Schilderungen, vor allem in den Zeichnungen, beschwört sie die romantischen Topoi und Metaphern des russischen Kaukasusdiskurses. Ihr Kaukasus ist primär ein literarischer Ort. Mit einer derartigen Rückkoppelung an literarische Muster der Romantik ist Evfrosinija Kersnovskaja kein Einzelfall. In einigen Texten der russischen Literatur in der Sowjetzeit (von Boris Pasternak, Konstantin Paustovskij, Andrej Bitov u. a.) werden die traditionellen russischen Sehnsuchtsorte symbolisch neu aufgeladen, was ihnen im Kontrast zu den sowjetischen 62 Vgl. die zwei Zeichnungen unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page= 4&list=13&foto=20 bzw. 22 (23.8.2012). 63 Vgl. die Zeichnung unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=4&list=13&foto=23 (23.8.2012). 64 „Даже в амплуа бродяги остаюсь хозяиным“ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek (Anm. 20), S. 237. 65 S. das Bild unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=4&list=25&foto=30 (23.8.2012). Franziska Thun-Hohenstein 280 Zwangspraktiken der Raumerschließung eine zusätzliche emotionale Dimension verleiht. Man kann von einer sekundären affektiven Überhöhung romantischer Topoi sprechen. Solche Textstellen lassen sich symptomatisch als Versuch lesen, den romantischen Diskurs fortzuschreiben und ihn somit gleichsam in die Sowjetzeit hinein zu verlängern. Ob eine solche Reaktivierung des romantischen Reisediskurses in den georgischen Süden überhaupt gelingen konnte, wäre unter Einbeziehung anderer Texte zu diskutieren. 66 Die Zeichnungen Evfrosinija Kersnovskajas über die Wanderung durch den Kaukasus weisen scheinbare Anlehnungen an bekannte Motive und ikonographische Muster des romantischen Bildprogramms auf, insbesondere an die Zeichnungen und Bilder Michail Lermontovs. 67 Das zeigt beispielsweise ein vergleichender Blick auf Lermontovs Bild Die georgische Heerstraße bei Mccheta, der alten Hauptstadt Georgiens, aus dem Jahre 1837 und Evfrosinija Kersnovskajas Zeichnung der Ruinen eines Klosters am Zusammenfluss der Aragva und Kura, 68 desjenigen Klosters, in dem der Novize Mcyri aus Lermontovs gleichnamiger Versdichtung lebte und starb. 66 Vgl. zu dieser Frage den Beitrag von Zaal Andronikashvili über Boris Pasternaks poetische Reaktionen auf seine Georgien-Reise im vorliegenden Band. 67 Da Michail Lermontovs Zeichnungen und Bilder seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Illustrationen in den russischen Werkausgaben dienten, liegt die Vermutung nahe, dass Evrosinija Kersnovskaja sie gekannt haben wird. Zu den Zeichnungen Lermontovs vgl. N. Pachomov, Živopisnoe nasledstvo Lermontova, in: M.Ju. Lermontov, Kn. II., Moskva 1948, S. 55-222 (Literaturnoe nasledstvo, t. 45/ 46). 68 S. das Bild unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=11&list=25&foto=33 (23.8.2012). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 281 Abb. 1: Lermontow - Die georgische Heerstraße bei Mccheta (1837) Kersnovskaja beruft sich in ihrem Text mehrfach explizit auf Aleksandr Puškin und Michail Lermontov. Beide waren für sie in zweifacher Hinsicht gleichsam wegweisend - einerseits in topographischer Hinsicht, bei der Auswahl jener Orte, die sie unbedingt sehen wollte, andererseits - und das vor allem - im Hinblick auf die Stimmung, die die eigene physische Anwesenheit an den von den Dichtern einst besungenen Orten bei ihr auslösen sollte: Wer von uns Verehrern von Puškin und Lermontov träumte nicht davon, eben diese Georgische Heerstraße mit eigenen Augen zu sehen, und hoffte unbewusst, dort Spuren der Räder des Reisewagens oder der Hufe des Pferdes jener geliebten Dichter zu finden, die den Kaukasus besungen haben? In der Kindheit träumte auch ich davon. Und dann? Die Jahre vergingen. Leiden, Enttäuschungen, Prüfungen haben einen dichten grauen Schleier auf Franziska Thun-Hohenstein 282 alle unerfüllten Jugendträume gelegt. Und doch - ich bin im Kaukasus. [...] Und ich werde zu Fuß die Georgische Heerstraße entlang laufen. 69 Von Moskau fuhr sie mit dem Zug gen Süden, nach Minvody (vollständiger Name: Mineral'nye vody), Essentuki an den nördlichen Rand des Kaukasus, unternahm einen Ausflug zu Fuß in die Berge, sah den Elbrus. Die Sehnsucht nach dem Kaukasus, notiert sie, wurde größer. Von Kislovodsk fuhr sie mit einem kleinen Autobus über die Heerstrasse und den Kreuzpass nach Tbilisi, sah die wilden Wasser des Flusses Terek, die Schlucht von Ur’jalsk. Tbilisi aber empfand sie als unfreundlich 70 und reiste mit der Bahn weiter nach Armenien, nach Kirovokan. Von dort aus wanderte sie - sie nennt das eine Fortbewegung „nach Art der Apostel“ („apostol’skij vid transporta“) 71 - über den Semenovpass nach Diližan, an den Sevan-See. Dort fasste sie den Entschluss, nach Tbilisi zurückzufahren und zu Fuß über die Georgische Heerstrasse zu wandern. Diesmal fuhr sie von Tbilisi aus mit dem Bus zum Kreuzpass und begann von dort aus ihre Wanderung. Diese Wanderung schildert sie mit durchweg gehobenem emotionalem Pathos: „Wie leicht ist es, die Georgische Heerstrasse entlangzulaufen! Du spürst weder die Schwere des Rucksacks, noch das eigene Gewicht. Ich singe aus vollem Halse, und obwohl das Brüllen des Terek meine Stimme übertönt, bereitet mir das Singen an sich Freude.“ 72 Die letzte Strecke fuhr sie erneut mit einem LKW bis Essentuki, an den nördlichen Rand des Kaukasus. Von dort setzte sie ihre Reise und Wanderung fort - über Čerkessk und Karačaevsk nach Teberda, ins Dombai-Gebiet. Ihr Plan, zu Fuß über den Kluchor-Pass zu wandern, konfrontierte sie jedoch unverhofft mit Begrenzungen, die sofort die Assoziation mit den aufgezwungenen Fußmärschen 69 „Кто из нас, поклонников Пушкина и Лермонтова, не мечтал увидеть своими глазами эту самую Военно-Грузинскую дорогу, бессознательно надеясь отыскать на ней следы колес брички или подков верхового коня любимых поэтов, воспевших Кавказ? В детстве мечтала об этом и я. Что же? Годы прошли. Страдания, разочарования, испытания набросили густую серую пелену на все несбывшиеся юношеские мечты. Но вот я на Кавказе. [...] И я пройдусь пешком по Военно-Грузинской дороге“ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 670). 70 Erst im Rückblick findet sich eine Erklärung für die Unfreundlichkeit in der im März 1956 erfolgten blutigen Niederschlagung der Massenproteste in Tbilisi gegen die Verurteilung Stalins durch Chruščev in dessen sogenannter Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU in Moskau. 71 Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek (Anm. 20), S. 663. 72 „Как легко шагать по Военно-Грузинской дороге! Не чувствуешь ни тяжести рюкзака, ни собственного веса. Я пою во все горло, и хотя рев Терека заглушает мой голос, но само пение доставляет мне радость“ (Kersnovskaja, Skol'ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 675-676). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 283 unter Bewachung in sibirischer Kälte weckten. Es stellte sich heraus, dass der individuelle Zugang zum Kluchor-Pass, d.h. ohne Begleitung und ohne eine Registrierung als Tourist, untersagt war: Vom Dombai bis zum Kluchor-Pass ging die Gruppe unter Bewachung: vorne - ein Milizionär und ein bewaffneter Begleiter; hinten - wieder ein Milizionär und ein Maultier. Zwischen ihnen die Kette der Touristen. Nein, ich bin genug unter Bewachung gelaufen. Mir reicht’s! Und ich beschloss, mich auf eigene Gefahr und eigenes Risiko durchzuschlagen. 73 Im Nachhinein vermerkt Kersnovskaja unter Hinweis auf die Deportation der Tschetschenen und Inguschen, es sei in dieser Region möglicherweise wirklich nicht ungefährlich gewesen, da einige vor der Deportation in die Berge flüchten konnten. Es war für sie jedoch nur konsequent, dass sie sich jeglicher Bewachung entzog. Sie setzte ihre Wanderung alleine fort - bis zu den Kluchor-Seen, von dort begann sie auch den Abstieg nach Abchasien, ans Ufer des Schwarzen Meeres (wo sie sich fast wie zu Hause gefühlt habe), und weiter über Picunda, Gagra, an den Rica-See nach Soči, von wo sie über Leningrad nach Noril'sk flog. Bis sie endgültig Sibirien verlassen und nach Essentuki ziehen konnte, sollten noch vier Jahr vergehen. Im Nachhinein zieht sie Bilanz und bekräftigt ihre literarisch motivierte Grundstimmung, von der sie sich auf ihrer gesamten Wanderung durch die Bergwelt des Kaukasus leiten ließ: Jetzt, nachdem ich so viele wunderschöne Kaukasuswege abgelaufen bin, muss ich sagen, dass sie alle die Georgische Heerstraße an Schönheit übertreffen, damals aber war ich mit meiner romantischen Seele darauf eingestellt, von ihr begeistert zu sein. Und während der gesamten Strecke war ich begeistert! Berge, Höhlen, Felsen, der Terek... Scheinbar immer ein und dasselbe, ich aber war die gesamte Zeit in gehobener Stimmung. 74 73 „От Домбая до Клухорского перевала группа шла под конвоем: впереди - милиционер и вооруженный проводник; сзади - опять милиционер и ишак. Между ними цепочка туристов. Нет уж, походила я под конвоем. С меня хватит! И я решила пробираться на свой страх и риск“ (ebd., S. 685). Vgl. die Zeichnung unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=11&list=61&foto=62 (23.8.2012). 74 „Теперь, после того как я прошла столько красивейших кавказских маршрутов, должна признать, что по красоте они все превосходят Военно-Грузинскую дорогу, но тогда я всей романтической душой была настроена на то, чтобы прийти от нее в восторг. И на всем протяжении пути я приходила в восторг! Горы, пещеры, скалы, Терек... Казалось бы, одно и то же, но я все время была в приподнятом настроении“ (ebd., S. 676). Franziska Thun-Hohenstein 284 Für Evfrosinija Kersnovskajas in Wort und Bild gleichermaßen pathetische Darstellung der Reise bzw. der Wanderung durch den Kaukasus ist fast nebensächlich, ob ihre Erinnerungen und Deutungsmuster immer mit der realen Topographie übereinstimmen. So bindet sie z.B. das Steinkreuz auf dem Kreuzpass 75 fälschlicherweise an Aleksandr Puškins Begegnung mit dem Sarg von Aleksandr Griboedov, wobei sie selbst ihre Verwunderung über diese seltsame Geographie zum Ausdruck bringt. 76 Je weiter sie sich von Tbilisi auf der Heerstraße gen Norden entfernt, desto stärker, so scheint es, wird die Wirkung des romantischen Bildprogramms. 77 Auch in diesen Illustrationen vermischen sich romantische literarische Topoi mit realen historischen Orten: So setzt sie beispielsweise das Schloss, an dem Lermontovs Dämon versuchte, Tamara zu verführen, mit einem Schloss der georgischen Königin Tamar gleich. 78 Abb. 2: Ju. Lermontov, „Darjal-Tal mit dem Schloss von Tamar“, 1837 75 Das Holzkreuz auf der Passhöhe wurde erstmals 1803 errichtet und 1829 auf Anordnung General Ermolovs durch ein Steinkreuz ersetzt. 76 Vgl. die Zeichnung des Steinkreuzes unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=& page=11&list=37&foto=38 (23.8.2012). 77 Vgl. die Zeichnung der Festung in der Darjal-Schlucht unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=11&list=37&foto=47 78 Vgl. die Zeichnung unter: www.gulag.su/ images/ index.php? eng=&page=11&list=37& foto=41 (23.8.2012). ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium 285 Es geht Evfrosinija Kersnovskaja, lässt sich zusammenfassend sagen, um eine emotionale Teilhabe am Pathos des romantischen, mit dem Freiheitsmythos verbundenen Kaukasusdiskurses, um dessen nochmalige emphatische Beschwörung. Der poetische wie der visuelle romantische Kaukasusdiskurs geben ihr nicht nur das reale Reiseziel vor, sondern liefern das entsprechende Arsenal an Metaphern und Bildermustern, um den Verlust der ursprünglichen Heimat abzufedern. Es ist ein in Wort und Bild inszeniertes Aufsuchen von affektiv aufgeladenen Orten, wobei das Wissen um den bloßen Inszenierungscharakter nicht den Bildern, aber dem Text eingeschrieben ist. Das wäre insofern detaillierter zu untersuchen, als doch im Text vielfach darauf verwiesen wird, dass die Ursprünglichkeit der Landschaft - wie sie von Puškin und Lermontov erlebt wurde - allein schon durch die verschiedenen Baumaßnahmen zur Sicherung der Georgischen Heerstraße nicht mehr vorhanden sei. Eva Hausbacher Unterwegs-Literatur Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume Eine der zentralen Fragen dieses Sammelbandes, die Frage nach dem Zusammenspiel von Mobilität und Erzählen, schließt eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Migrationsliteratur ein. Schreiben im Kontext von Migration entsteht in der Bewegung zwischen Kulturen und tritt heraus aus traditionellen nationalen Bindungen. Lange Zeit dominierten in der Forschung zur Migrationsliteratur thematisch-inhaltliche und biographische Aspekte; erst in den letzten Jahren rücken Fragen nach der Spezifik migratorischen Schreibens und seine narrativen Strategien in den Blickpunkt. Diese Forschungen 1 beschränken migratorisches Schreiben nicht mehr auf das inhaltliche Erzählen von Migration, sondern loten sein Potential zur „Vektorisierung“ traditioneller Erzählformen aus. Migratorisches Schreiben, so Ottmar Ette, 2 vektorisiert die zur Verfügung stehenden kulturellen Elemente so, dass eine wahre Choreographie der Bewegungen zwischen unterschiedlichen Kulturen und ihren „Aufführungspraktiken“ 3 entsteht. Schreiben im Kontext von Migration produziert keine Migrantenliteratur im Sinne einer Betroffenheits- oder Aufarbeitungsliteratur mehr, 4 sondern bringt gewohnte, von nationalen Institutionen geschützte und in binärer Dichotomisierung gesetzte Grenzziehungen in Bewegung. 5 Damit sei nach der Moderne mit ihrer zeitlich dominierten und nach der Postmoderne mit ihrer räumlich dominierten Erzählstruktur ein neues (Erzähl-)Paradigma im Ent- 1 Vgl. Elke Sturm-Trigonakis, Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur, Würzburg 2007; Eva Hausbacher, Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur, Tübingen 2009; Dirk Uffelmann, Konzilianz und Asianismus. Paradoxe Strategien der jüngsten deutschsprachigen Literatur slavischer Migranten, in: Zeitschrift für Slavische Philologie 62(2)/ 2003, S. 277-309; Eva Binder / Birgit Mertz-Baumgartner (Hrsg.), Migrationsliteraturen in Europa, Innsbruck 2012. 2 Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004. 3 Ette, ÜberLebenswissen (Anm. 2), S. 245. 4 Zur Fragen der Terminologie siehe u.a. Heidi Rösch, Migrationsliteratur als neue Weltliteratur? , in: Sprachkunst XXXV(1)/ 2004, S. 89-109. 5 Vgl. Ette, ÜberLebenswissen (Anm. 2), S. 251. Eva Hausbacher 288 stehen, in dem die Vektorisierung der Raum-Zeit-Dominanten die Oberhand gewinne. 6 Wie ich in meiner Studie „Poetik der Migration“ nachgewiesen habe, 7 lässt sich das innovative ästhetische Potential der neuen transnationalen Migrationsliteratur besonders offensichtlich vor dem Hintergrund einer Differenzierung von Emigration und Migration feststellen. Migration, so meine dort entwickelte These, bringt eine andere „Erzählqualität“ mit sich als Emigration. Beide Erzählparadigmen sind mit vielfältigen Raum-, Zeit- und Erinnerungsbrüchen, ausgelöst durch Displacement und Migration, konfrontiert. Die Transformierung dieser Erfahrungen in ein positives Verständnis transkultureller Kondition fehlt der Emigrationsliteratur allerdings, die Entwurzelung wird hier als schmerzvoller Prozess und traumatische Erfahrung beschrieben, mit zwei Kulturen zu leben nicht als Bereicherung empfunden: „Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, wähle ich das Nagelbrett“, heißt es beispielsweise in Spaltkopf, dem Romandebüt von Julya Rabinowich. 8 Die Differenzen zwischen Emigration und Migration beruhen nur zum Teil auf außerliterarischen Faktoren: politische Motiviertheit und Unfreiwilligkeit des Kulturwechsels bei den Emigrationsbzw. Exilautoren im Unterschied zur freiwilligen und nicht primär politisch motivierten Migration. Unterschiede lassen sich auch in der ästhetischen Gestaltung dieser Literaturen festmachen. Die klassische Emigrationsliteratur bleibt weitgehend einem nostalgischen Opferdiskurs verhaftet, sie strebt entweder die Angliederung an die kanonische Nationalliteratur bzw. Herkunftsliteratur an oder passt sich - im Gegensatz dazu - stark an die kulturellen Verhältnisse des Gastlandes bis hin zum Sprachwechsel an. Die neuere Migrationsliteratur hingegen entwickelt neue, im Zeichen von Mobilität und Transkulturalität stehende ästhetische Paradigmen und bleibt im Umgang mit kultureller Differenz nicht einer binären Codierung verhaftet. Junge Autoren und Autorinnen in der Migration - als Beispiele für den osteuropäischen kulturellen Kontext können u.a. Marija Rybakova, Ol ga Martynova oder Ol ga Grjasnova angeführt werden - befinden sich ganz selbstverständlich und nostalgiefrei in einer Topographie des „Dazwischen“, die sich in einer innovativen Formensprache ihrer Texte niederschlägt. 9 Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht mit Marjana Gaponenkos Roman Annuschka Blume 10 das in diesem Kontext noch weitgehend unbe- 6 Vgl. Ette, ÜberLebenswissen (Anm. 2), S. 251. 7 Hausbacher, Poetik der Migration (Anm. 1). 8 Julya Rabinowich, Spaltkopf, Wien 2009, S. 10. 9 Siehe dazu Hausbacher, Poetik der Migration (Anm. 1). 10 Marjana Gaponenko, Annuschka Blume. Roman, St. Pölten, Salzburg 2010. Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume 289 rücksichtigte Genre des Briefromans. 11 Dieser besitzt durch seine Verschränkung von Epistolarik und Mobilität, durch die genre- und sujetgenerierende Funktion räumlicher Transgression und durch einen hohen Grad an Dialogizität ein besonderes Potential für die textuelle Ausgestaltung transkultureller Paradigmen. Im Anschluss an Erika Grebers Thesen zum interkulturellen Briefroman 12 wird im folgenden aufgezeigt, wie Gaponenko die dem Briefroman inhärenten Möglichkeiten transkulturellen Sprechens nutzt, um grenzüberschreitende, transitorische Identitäts-, Zeit- und Raummodelle zu etablieren, binäre Erzählstrukturen aufzubrechen und sich im Erzählen jenseits nationalkultureller Verortungen zu bewegen. Marjana Gaponenko wird 1981 in Odessa geboren, studiert dort Germanistik und lebt nach Aufenthalten in Krakau und Dublin in Mainz. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr schreibt sie nicht mehr in ihrer russischen Muttersprache, sondern ausschließlich auf Deutsch. Gaponenko tritt zunächst als Lyrikerin hervor und wird dafür mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. 13 Mit Annuschka Blume legt sie 2010 im Residenz Verlag ihr Romandebüt vor, mit ihrem zweiten Roman Wer ist Martha (2012) wechselt sie zu Suhrkamp und wird im deutschsprachigen Feuilleton einhellig positiv wahrgenommen. Hervorgehoben wird in den Rezensionen die Sprachartistik einer Autorin, die nicht in ihrer Muttersprache schreibt, sich in der Tradition affirmativen Schreibens verortet und mit ihrem Mut zu Pathos, zu opulentem und plastischem Ausdruck und zur Metaphorik eine ganz eigenwillige und mit vielen Lyrismen angereicherte Prosasprache entwickelt. 14 Im Interview spricht Gaponenko von ihrem „Drang zum Gesang, zum Lied- 11 Teil des intertextuellen Echo-Raumes, der im Roman explizit (Briefwechsel zwischen Vladimir Majakovskij und Lilja Brik sowie der zwischen Paul Éluard und Elena Djakonova) oder implizit (Briefwechsel zwischen Marina Cvetaeva und Rainer Maria Rilke) evoziert wird, ist jene über den Titel hergestellte intertextuelle Referenz zu Kurt Schwitters Gedicht An Anna Blume, welches aufgrund der parodistischen Verwendung von Elementen aus der Liebeslyrik - das Ansingen der geliebten Person, poetische Lobpreisungen der geliebten Person - auf eine Ironisierung des literarischen Genres des Liebesbriefes selbst abzielt; eine solche Intention dementiert Gaponenko im Interview allerdings mehrfach (vgl. Anm. 15). Gaponenko „preist“ den Brief als Liebessprache par excellence, greift bewusst Topoi aus der Epoche der Empfindsamkeit auf und setzt lyrisches Pathos in der Ausgestaltung der „poetisch-creativen Briefe“ (vgl. Reinhard Nickisch, Brief, Stuttgart 1991, S. 318) ihrer Helden ein. 12 Erika Greber, The Epistolary Novel as a space of cross-cultural dialogue. Vortragsmanuskript zur Tagung „Beyond Binarism: Discontinuities and Displacements in Comparative Literature”, XVIIIth ICLA Congress in Rio de Janeiro, 2007. 13 „Autorin des Jahres“ 2001, Preisträgerin des Frau Ava Literaturpreises 2009, Adelbert-von-Chamisso-Preis 2013. 14 Alexander Glück, Das Werk Marjana Gaponenkos, in: Buchhändler heute 3/ 2010, S. 84. Eva Hausbacher 290 und Singhaften“, sie wolle „das Lied mit all seinen Attributen im Korsett oder im Gewand der deutschen Sprache sehen.“ 15 Dabei böte ihr der Wechsel in die deutsche Sprache eine im Vergleich zum muttersprachlichen Schreiben wesentlich größere Offenheit für einen spielerisch-innovativen Sprachgebrauch: „Yes - I have a lot of fun with the language and feel good when I speak it. I find it fantastic that when you re not born into a language, you contemplate it while you re speaking. That s because you don’t take the elements of a language for granted as a non-native speaker.“ 16 Ein weiterer produktiver Aspekt, den der Sprachwechsel für Gaponenko unterstützt, ist die damit einhergehende spielerische Inszenierung von Identität(swechseln): „And I still find it fascinating that I can become some other person when I speak a foreign language - I have a complete different sense of myself.“ 17 Und an anderer Stelle merkt Gaponenko an: Es macht einfach ewig viel Spaß, sich selbst von der Seite zu sehen oder der Illusion zu verfallen, dass ich mich selbst von der Seite höre oder sehe, weil ich jetzt dieses Denken erkämpfe, wie ich überhaupt ticke, wie sie alle zustande kommen, diese Prozesse. Und wie ich zur Sprache komme. Das kann ich in meiner Muttersprache gar nicht realisieren, weil sie mir gegeben wurde. 18 Auch in der Forschung 19 etablieren sich zunehmend Ansätze, Sprachwechsel nicht als Frage nach der Sprachkompetenz der Autoren zu betrachten, 20 sondern als eine gezielte Textstrategie, die die Performanz von Sprachen und Identitäten aufzeigt. Plurilinguales Schreiben mache - so Sturm-Trigonakis - mittels diverser Verfahren der Sprachmischung, des Code-Switchings und der Sprachlatenz Alterität nicht nur passiv wahrnehmbar, sondern produziere diese aktiv mit. 21 Die durch den Sprachwechsel ausgelöste Performativität wird hier verstärkt durch die Prozesshaftigkeit erzählenden Schreibens, wie sie insbesondere im Briefroman entsteht, in dem die ästhetische Gestaltbildung im Modus ihrer allmählichen Verfertigung miterlebt und mit geschaffen werden kann. 15 Marjana Gaponenko im unpublizierten Interview mit Eva Hausbacher vom 14. November 2012. 16 Gaponenko im Interview mit Greg Wiser vom 09.12.2009 (http: / / www.dw.de/ ukrainian-born-poet-says-writing-in-german-is-like-carpentry/ a-4995007; abgerufen am 20.02.2013). 17 Gaponenko im Interview mit Greg Wiser (Anm. 16). 18 Gaponenko im ORF-Interview vom 26.08.2012 (http: / / oe1.orf.at/ artikel/ 313544; abgerufen am 20.02.2013) 19 Vgl. Sturm-Trigonakis, Global Playing in der Literatur (Anm. 1). 20 Gaponenko unterstützt diese Position: „I don’t have to strive for perfection with German“ (Gaponenko im Interview mit Greg Wiser, Anm. 16). 21 Sturm-Trigonakis, Global playing in der Literatur (Anm. 1), S. 163. . Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume 291 Eine der Schreibeuphorie Gaponenkos vergleichbare Erzähllust erleben auch die Protagonisten ihres Romans, und zwar nicht nur beim Schreiben der Briefe, in denen gemäß der Genretradition der Schreibvorgang selbst in ein Sujet verwandelt wird. 22 Erzählen wird hier als lebenserhaltende Aktivität ständig thematisiert und als sinnstiftende Tätigkeit dargestellt, deren Kraft auch angesichts und gewahr seiner eingeschränkten Möglichkeiten nicht erlischt: Wissen Sie, lieber Piotr Michailowitsch, ich habe schon als Mädchen gerne Geschichten erzählt, für mich selbst, unseren Hund Tschernisch oder für unsere Hühner: Ich erzählte Geschichten, weil ich Freude am Erzählen hatte und weil ich gerne zusah, wie sich alles vor meinen Augen entfaltete. […] Im Erzählen liegt eine Botschaft für jeden von uns, auch für mich. […] Die Botschaft, keine Sekunde an der Möglichkeit des Unmöglichen zu zweifeln, der Geschichte zu vertrauen, sich ihr anzuvertrauen […] Die Botschaft lautet: Die Geschichte ist immer offen, offen wie die große weite Welt, und wir sind eins mit der Welt. […] Wir können eben nicht alles benennen. 23 Annuschka Blume kann der sog. „non-German German Literature“ - ein von Leslie Adelson 24 geprägter Terminus - zugerechnet werden, welche ein Bewusstsein für kulturelle Differenz erzeugt, ohne diese einer dominierenden (deutschen) Perspektive unterzuordnen, ohne Fremde als Exoten, Andere oder Feinde (der deutschen Gesellschaft) darzustellen. „Gaponenko introduces German readers to an autonomous Ukrainian culture which in her novel operates as a central point to discuss cultural difference on the one hand and human sameness on the other.” 25 Der Roman ist komponiert in vierzehn Briefen, die sich Anna Konstantinowna - eine alternde ukrainische Dorfschullehrerin - und Piotr Michailowitsch - ein im Auftrag des „Ressorts für Visionen“ ständig im fernen Ausland weilender Journalist und Weltenbummler - im Wechsel schreiben. Die beiden Protagonisten, die sich nie treffen und nur von Ferne kommunizieren, entwerfen sich selbst durch das Schreiben; die Schilderung konkreter Erlebnisse oder handlungsgenerierender Ereignisse tritt dagegen in den 22 Heike Winkel, Ėpistoljarnyj žanr ustarel. Zum Anachronismus eines Genres und seiner modernen Inszenierung im Stalinismus, in: Petra Becker / Katrin Mundt / Dagmar Steinweg (Hrsg.), Zwischen Anachronismus und Fortschritt. Modernisierungsprozesse und ihre Interferenzen in der russischen und sowjetischen Kultur des 20. Jahrhunderts, Bochum 2001, S. 179-197, hier S. 186. 23 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 47. 24 Leslie Adelson, Migrant s Literature or German Literature? Torkan s Tufan: Brief an einen islamischen Bruder, in: Gisela Brinker / Sidonie Smith (Hrsg.). Writing New Identities, Minneapolis 1997, S. 218-229. 25 Natalia Dudnik, Writing against Dualisms: Marjana Gaponenko´s Annuschka Blume. Vortragsmanuskript, o.J., o.S. Eva Hausbacher 292 Hintergrund. So materialisiert sich für Anna der abwesende Piotr nur in seinen Briefen: „Mein lieber Piotr Michailowitsch, ich zweifle, dass es Sie gibt. Ich bekomme Briefe von Ihnen, kostbare, herrliche Briefe mit Stempel, mit Briefmarke, Briefe aus einem fernen Land. Es muss Sie also geben.“ 26 Gaponenko selbst betont diese identitätsstiftende Dimension des Schreibens im Interview: „Meine Helden leben nur in ihren Briefen. Alles andere, was sie tun, scheint ihnen schattenhaft zu sein. Wenn sie aber schreiben, fühlen sie etwas Bleibendes, etwas Echtes und Ausgezeichnetes in sich.“ 27 Piotr Michailowitsch ist mit sonderbaren Aufträgen für eine Zeitung unterwegs, zuerst in den Alpen, in die er reist, um zu beweisen, dass es keinen Unterschied zwischen Steppe und Bergen gibt. Nach einem Zwischenbericht über diese „Forschungen“ an seinen Vorgesetzten führt ihn seine Abenteuerlust weiter in die irakische Wüste, um dort (vergeblich) nach dem Schatz des Gilgamesch zu suchen. Anna Konstantinowna hingegen ist sesshaft und bleibt zeitlebens in ihrem ukrainischen Provinzdorf. Wenn sie nicht gerade mit dem Schreiben der Briefe an Piotr beschäftigt ist, geht sie Pilze sammeln, unterrichtet in der Dorfschule nach ihrem Konzept einer Schule der Phantasie und arbeitet gemeinsam mit ihrer dicklichen Nachbarin Goriunowa - auch hier ganz unkonventionell - im Kohlebergwerk des Dorfes. In ihren herzzerreißenden Briefen, in denen beide Briefhelden die Welt neu erfinden, beschwören sie ganz in der Tradition des sentimentalen Briefromans und „altmodische“ Klischees bedienend ihre Liebe, die als Geschichte einer wechselseitigen Idealisierung dort endet, wo sie beginnt, nämlich in der Phantasie. Ihr von manchen Rezensenten moniertes Zuviel an Pathos und Sentiment 28 schätzt Gaponenko als Problem einer orientalisierenden Lektüre aus westlicher Perspektive ein: Meine beiden Helden wissen, dass sie unwahrscheinlich pathetisch sind. Sie wissen es und sie amüsieren sich über sich selbst. Was sie jedoch nicht ahnen können, ist, dass ihre ehrliche Romantik etwas weiter westlich hartnäckig belächelt und zu einem osteuropäischen Klischee reduziert wird. […] Das Buch ist ein Versuch zu zeigen, dass das Romantische dem Intellektuellen keinesfalls im Wege steht […]. 29 Auch Natalia Dudnik, 30 die Gaponenkos Text mit Merlau-Ponty als ein Anschreiben gegen in abendländischer Denktradition eingemeißelte Dualismen 26 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 33. 27 Gaponenko im Interview mit Hans-Jürgen Hilbig vom 24.10.2010 (http: / / www. fixpoetry.com/ feuilleton/ rezensionen/ 891.html; abgerufen am 19.02.2013). 28 Vgl. o.A., Im prallen Leben, in: Frontal 01.12.2010, S. 36. 29 Gaponenko im Interview mit Hans-Jürgen Hilbig (Anm. 27). 30 Dudnik, Writing against Dualisms (Anm. 25). Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume 293 interpretiert, unterstreicht den Aspekt der Kritik am westlichen Individualismus und Gaponenkos Emphase einer östlichen Gemeinschaftlichkeit und Empathie. So behauptet Anna, dass man „[n]icht für sich, für den anderen lebt [...], denn nur so besteht die Welt.“ 31 Oder an anderer Stelle im Roman heißt es: „Nur durch das Mitfühlen können wir verstehen“. 32 Marjana Gaponenko bedient sich in Annuschka Blume - und auch hier schreibt sie eine lange Tradition des Genres fort - des Verfahrens der Rahmung. Beginn- und Schlusspassage des Romans sind nämlich keine Briefe, sondern Gaponenko lädt mit der Stimme eines Erzähler-Ichs, das sich zwischen Traum, Imagination und Realiät befindet und sich als „betrunkener Kapitän mit unsicherem Gang“ 33 jenseits räumlicher und zeitlicher Fixierung bewegt, die Leser in ihre narrative Welt ein, in der es keine Grenzen gibt und Reales und Imaginäres ununterscheidbar sind. Allerdings bleibt diese Erzählstimme aufgrund ihrer Verortung in einem traum- und schlafähnlichen Zustand ebenso unzuverlässig, wie die Briefhelden selbst, sodass aus dem Rahmen keine Regieanweisung für die Lektüre des Briefwechsels ableitbar wird. Die Figuren changieren zwischen Authentizität und Projektion, und ihre Welt bleibt das Reich zwischen Traum und Wirklichkeit. Der (interkulturelle) Briefroman als Medium der Transkulturalität Erika Greber weist in ihrem Beitrag „The Epistolary Novel as a space of cross-cultural dialogue“ 34 mit Verweis auf die in Deutschland sehr erfolgreich rezipierten Brieftexte von Barbara Honigmann Alles, alles Liebe! (2000), Feridun Zaimoglu Liebesmale, scharlachrot (2000) und Marija Rybakova Die Reise der Anna Grom (2001) nach, dass das beinahe vergessene Genre des Briefromans 35 in seiner interkulturellen Spielart seit einiger Zeit 31 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 87. 32 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 235. 33 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 7. 34 Greber, The Epistolary Novel as a space of cross-cultural dialogue (Anm. 12). 35 In Analogie zum Verschwinden des Briefes als Medium der Kommunikation ließe sich vermuten, dass auch der Briefroman heute ein obsoletes Genre ist, das teilweise ersetzt wird durch andere, die auf die aktuelle Medienentwicklung reagieren, wie z.B. telephone-novel, e-mail-novel, SMS-novel. Heike Winkel geht in ihrem Aufsatz „Ėpistoljarnyj žanr ustarel“ der Frage nach, „warum genau im frühen 20. Jahrhundert vielen Korrespondenten ihre Briefe problematisch werden, und inwiefern diese Skepsis an den Glauben geknüpft ist, Briefe seien unzeitgemäß. Es wird zu zeigen sein, dass der letzte bzw. tiefste Grund für die Zweifel immer das Gefühl ist, Briefe könnten keine befriedigende Kommunikation gewährleisten. […] Anachronistisch sind Briefe demnach dann, wenn sie den Korrespondenten in ihrer Tradition für die aktuelle Kommunikation ungenügend scheinen. Der Befund ist also ein subjektiver […]“ (Winkel, Ėpistoljarnyj žanr ustarel, Anm. 22, S.180). Eva Hausbacher 294 eine Renaissance erlebt. Aus der interkulturellen Konstellation dieser Romane (jüdisch-deutsch bei Honigmann, türkisch-deutsch bei Zaimoglu und russisch-deutsch bei Rybakova) ergebe sich das Potential zur Erneuerung des klassischen, auf die Epoche der Empfindsamkeit und der Aufklärung zurückgehenden Modells, in dem sich der Kulturwechsel als Briefwechsel (fiktional) darstellt. Damit - so die zentrale These Erika Grebers - eröffnet das Genre neue Optionen für die im Kontext postkolonialer Theoreme zentral diskutierte Formel der „negotiation“, der Aus- und Verhandlung kultureller Differenz. Dabei wird die liminale Bewegung, die in der intimen Kommunikation des Liebes(brief)diskurses tragend ist - ein Streben, eine Spur, der Versuch, eine Grenze zu überschreiten, die sich immer wieder entzieht -, nutzbar gemacht für die liminale Ausrichtung des interkulturellen Diskurses. „Um diese Grenzüberschreitung zu vollbringen, um sich dem anderen zu nähern, da zu sein, wo man nicht ist, braucht man den Text - der Text wird über die Grenze gereicht, geschenkt, gegeben“, formuliert Schamma Schahadat 36 für den Liebesdiskurs. Das hat - so der Ausgangspunkt dieses Beitrags - auch für den interkulturellen Diskurs Gültigkeit. Briefromane mit interkulturellem Plot zielen darauf ab, den Austausch zwischen Kulturen als einen Status des in-between zu problematisieren. Indem sie mit Mitteln der Literatur Grenzexperimente im Überschreiten und Übersetzen thematisieren, werden sie selbst zu Vermittlern zwischen Kulturen. Somit funktioniert der doppel- und mehrstimmige Diskurs des bibzw. interkulturellen Briefromans selbst als ein Medium der Transkulturalität. Eine erste Bestätigung für Erika Grebers These vom Briefroman als dem privilegierten Ort des transkulturellen Dialogs bietet das anhaltende Interesse für das Genre in der aktuellen (Migrations)Literatur; neben Marjana Gaponeknos Annuschka Blume kann Michail Šiškins Der Briefsteller (2012) 37 als weiteres Beispiel angeführt werden. Dabei fällt auf, dass die oben genannten Autoren und Autorinnen selbst sog. Bindestrich-Biographien haben und ihre Literatur im Kontext von Inter- und Transkulturalität sowie Migration verhandelt wird. Diese seit etwa zehn Jahren beobachtbare Aktualität des Briefromans im Kontext von Migrations(literatur)diskursen kann wohl auch auf das dem Genre inhärente Element des Dialogischen zurückgeführt werden. Dabei korrespondiert die Differenzierung von äußerer und innerer 36 Schamma Schahadat, Allein, zu zweit, zu dritt. Gaben und Gegengaben im Briefwechsel, in: Nadezhda Grigor eva / Schamma Schahadat / Igor P. Smirnov (Hrsg.), Nähe schaffen, Abstand halten. Zur Geschichte der Intimität in der russischen Kultur. Wien, München 2005, S. 149-182, hier S. 171. 37 Im russischen Original erschien der Roman unter dem Titel „Pis’movnik“ 2011 (Moskau). Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume 295 Dialogizität von Michail Bachtin, 38 der sein Konzept der Dialogizität wohl nicht zufällig zuerst an Dostoevskijs Briefroman Bednye ljudi entwickelt hat, nicht zwangsweise mit den beiden Grundformen des Briefromans - der einseitig-monologischen Korrespondenz und der zwei-, mehr- oder polyperspektivischen Form. Im ersten Fall sind die Briefe eines Schreibers ohne Antwortbriefe aneinandergereiht, im zweiten, der von Vosskamp aufgrund der in der wechselseitigen Korrespondenz dialogisch vorantreibenden Handlung als Idealtypus des Briefromans bezeichnet wird, ist eine große Nähe zum dramatischen Ablauf gegeben. 39 Nicht jeder polyperspektivische Briefroman ist dialogisch, wohingegen auch der monoperspektivische Typ diese Qualität aufweisen kann, wenn in seinem Wort das Wort des Adressaten antizipiert wird. Tendenziell ist der Brief immer mehrperspektivisch, denn der Schreibende reflektiert darin den Empfänger mit, „richtet sein Schreiben intentional an ein Gegenüber, mit dessen Antwort gerechnet wird. Neben die Selbststilisierung als Schreibender tritt also die Kalkulation mit dem schreibenden Gegenüber und/ oder dem Gegenüber als Schreibenden.“ 40 Im romantischen Brief tritt diese „doppelte Schreibintention“ 41 zurück und macht einer monologischen Ich-Schau Platz. „Diese Besonderheit des romantischen Briefes besteht darin, dass sich das Subjekt in ihm ausdrücklich als nicht sozial anschließbares/ kompatibles konstituiert, sondern seine Subjektivität als endgültig und nicht generalisierbar setzt.“ 42 Der Briefadressat hat hier letztendlich nur mehr die Funktion eines Spiegelbildes, das der selbstreferentiellen Ichbetrachtung und Ichauslegung dient. Ein prominentes Beispiel aus der russischen Literaturgeschichte für eine monologische Briefkunst, die den aus der Antike (Artemon) herrührenden Anspruch, 43 Teil eines Gesprächs zu sein, nicht mehr einlöst und den Partnerdialog zugunsten eines Selbstdialogs in den Vordergrund rückt, stellt der Briefwechsel zwischen Marina Cvetaeva und Rainer Maria Rilke dar. 44 38 Mikhail Bahktin, Problems of Dostoevsky’s Poetics, ed. and transl. by Caryl Emerson, Manchester 1984. 39 Wilhelm Vosskamp, Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen: Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45(1)/ 1971, S. 80-116, hier S. 96. 40 Winkel, Ėpistoljarnyj žanr ustarel (Anm. 22), S. 193. 41 Winkel, Ėpistoljarnyj žanr ustarel (Anm. 22), S. 193. 42 Winkel, Ėpistoljarnyj žanr ustarel (Anm. 22), S. 183. 43 Der Brief hält das Gespräch zwischen getrennten Freunden und durch die Illusion des Beieinanderseins die Freundschaft selbst aufrecht. (Vosskamp, Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen, Anm. 38, hier S. 81) 44 Siehe dazu Winkel, Ėpistoljarnyj žanr ustarel (Anm. 22) sowie Schahadat, Allein, zu zweit, zu dritt (Anm. 36). Eva Hausbacher 296 In Annuschka Blume entwerfen beide Protagonisten ihre Selbstbilder entweder in der Spiegelung im anderen oder als das vom anderen gezeichnete Bild des eigenen Ich, das so immer als mehrfach geschichtetes erkennbar wird. Auch wenn sowohl Annas als auch Piotrs Briefe über weite Strecken mehr Selbst-, denn Zwiegespräch sind, ist das Andere, welches in mannigfachen Hypostasierungen auftritt, 45 nicht nur mitreflektiert, sondern wird Teil einer Gegensätze überwindenden neuen Daseinsweise. Insofern wird die den Briefen innewohnende Dialogizität zu einem analytischen Instrument im Umgang mit sog. identitärer und kultureller Hybridität, weil die Briefform sichtbar macht, dass Hybridisierung immer zwei Stimmen, zwei Akzente innerhalb einer Äußerung braucht. Im Unterschied zu den von Erika Greber untersuchten Briefromanen, in denen die Partner aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten kommen, stammen in Gaponenkos Roman beide Protagonisten aus nur einer, der ukrainischen Kultur. Der Aspekt des kulturell anderen wird allerdings durch Piotrs Reisen eingeschleust, der als „Globetrotter“ nie zu Hause ist und verschiedenste andere Kulturen durchmisst; insofern lässt sich auch Annuschka Blume mit Erika Grebers These vom Briefroman als Ort transkulturellen Dialogs konfrontieren. Greber verfolgt in ihrer Analyse des (interkulturellen) Briefromans eine weitere Eigenheit, die dieses Genre in Bezug auf den Diskurs kultureller Hybridisierung besonders interessant macht, nämlich die insbesondere in der russischen Literatur vielfach ausgestaltete Variante der die Grenzen zwischen Dies- und Jenseits überschreitenden Briefkommunikation, in der die jenseitige Welt als radikales Bild kultureller Andersheit entworfen wird. Es liegt auf der Hand, dass wir es in diesem Fall mit monoperspektivischen Brieftexten zu tun haben, deren innere Dialogizität in den vorgestellten und antizipierten Antworten des Adressaten besonders intensiv ausgeprägt ist. Grebers Beispiele sind Marina Cvetaevas posthum an Rilke adressierter Neujahrsbrief Novogodnee (1926/ 27) und Marija Rybakovas Anna Grom i ee prizrak (1999), in dem die bereits verstorbene russische Protagonistin Anna auf ihrer vierzigtägigen Reise ins Jenseits aus diesem Briefe an ihren deutschen Geliebten Ulrich schreibt. In dieser poetischen Imagination, die es ermöglicht, unüberbrückbare Grenzen zu überwinden, wird der grenzgenerierende Binarismus durch die bzw. in der literarische(n) Form suspendiert - es ist ein „binarism beyond binarism“ 46 am Werk. Die Grenzüberschreitung zwischen Dies- und Jenseits in diesen Texten ist auch ein Bild für die Grenzöffnung zwischen Russland und dem Westen, die in der russischen 45 Beispielsweise als fremde Landschaft, fremde Kultur, anderes Geschlecht, in Form der Tier- und Pflanzenwelt. 46 Greber, The Epistolary Novel as a space of cross-cultural dialogue (Anm. 12). Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume 297 Briefliteratur - ein ebenfalls häufig diskutiertes Beispiel ist Viktor Šklovskijs Zoo, ili pis ma ne o ljubvi (1924) - auch im Kontext von Exil und Emigration ausgestaltet ist. Auch hier ist das Übertreten der Grenzen mittels Brief zu erwirken, im Briefwechsel funktioniert das Herbeiholen des Anderen, der anderen Welt, der anderen Stimme. Dieses grenzüberschreitende Moment, welches den Status „beyond binarism“ bzw. „za predelami“ erzeugt und sowohl die Brief-, als auch die Exilpoetik bestimmt, wohnt auch Annas und Piotrs Briefwechsel inne: in ihrem Fall sind es zum einen die konkreten Ländergrenzen, die Piotr, der sich auch als „alpiner Exilforscher“ bezeichnet, 47 auf seinen Reisen überschreitet, und über die sich die Briefpartner in ihren Nähe und Intimität erzeugenden Briefkontakten hinwegsetzen; zum anderen ersetzt hier der Traum die bei Greber verhandelte Jenseitskategorie. Diese Traumwelt, in die sowohl die Figuren, als auch die Erzählstimme des Rahmens immer wieder abgleiten, hat bei Gaponenko nicht die Funktion eines, dem realen Raum entgegengesetzten Gegenraumes, sondern fusioniert Welt und Gegenwelt zu einer neuen Einheit. Es entsteht ein über die binäre Entgegensetzung von Räumen hinausreichender, Traum und Realität mischender „third space“. Der Brief(roman) wird dabei als das Medium des Dazwischen erkennbar: So wie unser Leben nicht unseres ist, ist unser Schicksal niemals eindeutig, es ist immer mit seinem Gegenteil verbunden. Sich selbst zu lieben, heißt darum auch, seinen Feind zu lieben. Alles ist ein Netz, alles wird von allem berührt, aufgeladen, und so besteht die Welt aus funkelnder Liebe. Das Böse ist gut. Das Gute ist nichts als das gezügelte Böse. 48 Die Parallelen von Liebes- und Heimatsehnsucht hat Anja Tippner in ihrem Aufsatz „Adressat (unbekannt): Intimität, Perigraphie und Selbstreflexion in Viktor Šklovskijs Briefroman Zoo, ili pis ma ne o ljubvi“ überzeugend dargestellt und gezeigt, wie Šklovskij den Liebesbrief als Übertragungsmodell für die Darstellung des Verhältnisses des emigrierten Autors zur Heimat nutzt. 49 Ähnlich wie der Liebesdiskurs, der als fortlaufende Verschiebung lebendig bleibt, und den geliebten Menschen als eine Metapher für die Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem und Entrücktem lesbar macht, funktioniert auch der nostalgisch geprägte Emigrationsdiskurs - beides gehört demsel- 47 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 63. 48 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 76. 49 Anja Tippner, Adressat (unbekannt): Intimität, Perigraphie und Selbstreflexion in Viktor Šklovskijs Briefroman Zoo, ili Pis'ma ne o ljubvi, in: Nadezhda Grigor'eva / Schamma Schahadat / Igor' P. Smirnov (Hrsg.), Nähe schaffen, Abstand halten. Zur Geschichte der Intimität in der russischen Kultur. Wien, München 2005, S. 227-244, hier S. 234. Eva Hausbacher 298 ben „Stromkreis“ 50 an, um einen Terminus aus Anja Tippners Aufsatz zu übernehmen. Dieser doppelt gerichtete „Motor“ des Begehrens, der bei Šklovskij nicht nur thematisch, sondern auch als literarisches Verfahren präsentiert wird, 51 zeigt den Brief nicht nur als Medium der Liebes-, sondern auch der Exilkommunikation par excellence. 52 Auch Gaponenko nutzt hier die Briefe, um schreibend, diskursiv ein neues Ich zu entwerfen, aber - und dabei geht sie über Šklovskijs „Stromkreis“ hinaus - nicht (nur) eines des aufgrund von Liebes- und Heimatsehnsucht Leidenden, sondern eines, das seine Positionsbestimmung zwischen Fremde und Heimat in einen dritten Raum verschiebt, für den der Begriff des „Universums“ im Sinne einer entgegengesetzte Welten umschließenden Vorstellung treffend ist. Während also bei Šklovskij die Liebesgeschichte zur Metapher für eine unerfüllte Liebe zur Heimat wird und damit Epistolarik und Exilthematik aufs engste verschränkt werden, 53 läßt sich für Gaponenko ein drittes Glied an diese Bilderkette hängen, Liebes- und Heimatsehnsucht stehen hier als Metapher für das Fehlen einer neuen, gerechteren Ordnung des Miteinander-Seins: „Sterben Sie nicht… Ich bringe Sie um, wenn Sie sterben. Nicht für mich bitte ich. Ich bitte für alle. Für die Welt. Für die Liebe, für die Wahrheit und die Poesie. Sie sagten ja selbst: ‚Wer schreibt, der bleibt.‘ Oder sagte ich das? “ 54 Schamma Schahadat, die die Briefkultur im Kontext des Intimitätsdiskurses verhandelt, bezeichnet das „Briefgeschenk“ als ein „Medium der Gabe aus Distanz“ 55 und als eine Möglichkeit, „den Schritt von der Ordnung der Dinge - einer Ordnung der Distanz - zur intimen Ordnung - einer Ord- 50 Tippner, Adressat (unbekannt) (Anm. 49), S. 234. 51 An dieser Stelle muss konstatiert werden, dass Gaponenkos Roman hinsichtlich der Produktivität der eingesetzten literarischen Verfahren hinter den Vorgängertext zurückfällt. Šklovskijs Roman repräsentiert in seiner Montage- und Fragmenthaftigkeit die Basiskonflikte der Migration und der Liebe, verbindet Theorie und Literatur in einem sehr elaboriert ausgestalteten metaliterarischen Spiel und überwindet die Grenzen zwischen dokumentarischem und poetischem Schreiben. Das bei Šklovskij so tragende formalistische Spiel mit der Verfremdung auf der Ebene des Sprachmaterials und der Gattungskonventionen klingt in folgendem Zitat aus dem Gaponenko- Roman an: „Aber solange wir können, müssen wir Worte verlieren, liebste Anna Konstantinowna. Solange wir noch bei uns sind, so lange müssen wir noch Worte verlieren, denn in Worten erkennen und begreifen wir die Welt, soweit wir es eben können. Die Welt wird buchstabiert. Die Welt wird in Worten auseinandergefaltet und zusammengelegt. […] Ich denke gerne nach über eine Welt der wahren Wortsubstanz und der kargen Semantik, die der Welt hinter den Augenlidern der Blinden nicht unähnlich ist“ (Gaponenko, Annuschka Blume, Anm. 10, S. 101-103). 52 Tippner, Adressat (unbekannt) (Anm. 49), S. 229. 53 Tippner, Adressat (unbekannt) (Anm. 49), S. 242. 54 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 224. 55 Schahadat, Allein, zu zweit, zu dritt (Anm. 36), hier S. 149. Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume 299 nung der Nähe und Unterschiedslosigkeit - zu machen“. 56 Diese paradoxe Funktionsweise einer Anwesenheit in der Abwesenheit als wesentliches Element des (intimen) Briefwechsels, dieses Bestreben, die körperliche Abwesenheit des Anderen durch das beschwörende Insistieren auf seine Nähe zu kompensieren und den Brief selbst zu einem Fetisch im Sinne eines materiellen Ersatzkörpers zu machen, ist auch in Gaponenkos Annuschka Blume feststellbar: Annuschka, milaja, Ihr Brief war so schön, so unwahrscheinlich schön, dass mein Gesicht in Tränen badete..[…] Der weiße Umschlag Ihres Briefes war die zarte Zauberfeder aus einem Märchen. So streichelte ich ihn auch. 57 Liebe Anna Konstantinowna, zur Beruhigung las ich noch einmal Ihren Brief. Ich werde es immer tun. Wenn mein Herz rast, wenn ich schweißgebadet in einer dunklen Ecke liege oder halberfroren in einer Gosse, wenn mir Gefahr droht, wenn mein Leben an einem Faden hängt, werde ich Ihren Brief aus meiner Brusttasche ziehen (denn da ist sein Platz) und ihn noch einmal und noch einmal durchlesen, bis alles wieder gut ist. So ist das. 58 Stärker als in anderen Briefromanen ist allerdings bei Gaponenko die von Schahadat postulierte Idee einer Ordnung der Nähe wirksam, denn die Intention der Briefe von Anna und Piotr geht auch in dieser Hinsicht über die Ebene der Kommunikation und der Liebesbekundung hinaus. Ihre Briefe sind nicht nur Ersatz für die persönliche Begegnung und Sublimierung der körperlichen Liebe durch die Schrift - insbesondere Anna zweifelt ja immer wieder, ob ihr ferner, geliebter Mensch überhaupt real existiert. 59 Letztendlich bleibt diese Frage nachrangig, zentral geht es darum, dass dieser Andere als eine Projektionsfläche dient, nicht nur um auf ihr das eigene Ichbild zu schärfen, sondern ein neues Weltbild zu bauen, welches ein Denken in binä- 56 Schahadat, Allein, zu zweit, zu dritt (Anm. 36), hier S. 150. 57 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 58f. 58 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 66f. 59 „Mein lieber Piotr Michailowitsch, ich zweifle, dass es Sie gibt. Ich bekomme Briefe von Ihnen, kostbare, herrliche Briefe mit Stempel, mit Briefmarke, Briefe aus einem fernen Land. Es muss Sie also geben. Heute ist mir jedoch, als wäre ich Sie. Heute komme ich mir einsam vor und doch so erfüllt, als wären wir zu Tausenden da, ein Schmetterlingsschwarm. Ich möchte Ihnen danken für Ihre Zeilen“ (Gaponenko, Annuschka Blume, Anm. 10, S. 33). „Ob ich Sie tatsächlich schon einmal zu Gesicht bekommen habe? Oder traten Sie aus mir hervor, aus meinen heißen Gebeten, aus meinem guten Glauben? So nah sind Sie mir, dass ich Sie nicht mehr sehen kann“ (ebd., S. 224). „Jedes Mal, bevor ich zu schreiben beginne, lege ich mir mein Lieblingstuch um die Schultern, färbe meinen Mund dunkelrot und besprühe mich mit Parfüm. Mein Herz pocht dann wie verrückt […]. Ich weiß, solange ich Ihnen schreibe, werde ich leben. Höre ich auf, an Sie zu glauben und Ihnen zu schreiben, höre ich auch auf zu sein“ (ebd., S. 47). Eva Hausbacher 300 rer Differenzsetzung zugunsten einer Ordnung der Unterschiedslosigkeit und Gleichheit ablöst. 60 Erzählen jenseits dualistischer Konstruktionen Neben diesen Optionen, die das Genre Briefroman in seinem dialogischen Modus für die Aushandlung kultureller Differenz eröffnet, ermöglicht die multiperspektivische Darstellungsweise eine besondere Spielart der epischen Präsentation, die eine differenzierende Reflexion und eine relativierende Sehweise begünstigt. 61 Diese beruht auf dem gattungstypischen Fehlen eines Erzählers, was zunächst eine Stärkung der Authentizität des Dargestellten durch die Aufhebung der Fiktionsdistanz bewirkt. 62 Gleichzeitig impliziert diese Vergegenwärtigungstechnik auch einen dem polyphonen Sprechen inhärenten kritischen Effekt, der in der Terminologie des sog. „führungslosen Erzählens“ zum Ausdruck kommt. Auch in dem hier analysierten Text begünstigt das Fehlen einer unifizierenden Erzählstimme das der Erzählintention von Gaponenko eingeschriebene Aufbrechen von Dualismen. Das Verständnis des Romans stellt sich für uns Leser als eine Abfolge distinkter, weil durch die Briefeinheiten voneinander getrennter Erkenntnisversuche dar, die uns ganz unmittelbar im Schreibaugenblick vorgeführt werden und im mitvollziehenden Rezipieren des Schreibaktes in einem Entwurfcharakter belassen werden. Die vorgestellten Bilder, Ideen oder Themen lassen als shiftings jeweils andere Aspekte desselben Erzählgegenstandes aufleuchten. Ulrich Stadler 63 vergleicht diese Funktionsweise des Erzählens im Modus des Briefwechsels mit dem Modell der Kippfigur, bei der dasselbe Objekt je nach Wahrnehmungsperspektive völlig unterschiedlich gesehen werden kann. Der vexierende Aspekt, den Kippbilder haben, lässt sich auch als Beschreibungsmodell für Piotrs Forschungsmethode verwenden, denn Ziel all seiner Reisen ist es ja, eigentlich völlig unterschiedliche Landschaftsbilder (Steppe - Alpen, arabische Wüste - ukrainisches Feld) in ihrer Ähnlichkeit, ja sogar Gleichheit darzustellen: 60 Auch im Briefwechsel zwischen Marina Cvetaeva und Rainer Maria Rilke ist die Realität weniger wichtig als die Imagination; der Brief erscheint als wahrer, gleichwertiger oder gar höherwertiger Ort der Begegnung. Der aus der Ferne geliebte Mensch ist eine Projektionsfläche, kein realer Mensch (vgl. Winkel, Ėpistoljarnyj žanr ustarel, Anm. 22, S. 170). 61 Vgl. Nickisch, Brief (Anm. 11), S. 189. 62 Vgl. Vosskamp, Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen (Anm. 38), S. 97. 63 Ulrich Stadler, Überforderte Entzifferer. Über den nachgelassenen Briefroman Die neue Cecilia von Karl Philipp Moritz, in: Figurationen 02/ 2012, S. 47-64. Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume 301 Irgendetwas zwingt mich dazu, Vergleiche anzustellen, Unterschiede, so gravierend sie sein mögen, zu einer vollkommenen Ähnlichkeit zu verschmelzen, in den Bergen die Steppe zu sehen. 64 […] Dass die Wüsten und Dornsteppen, die hier die Stadt umspülen wie ein brandendes Meer, sich von den Bergen in keiner Weise unterscheiden, wurde mir beim Korkenzieheranflug auf Bagdad sofort klar […] also ist alles flach, flach und unendlich. Wüste, Steppe, Berg. Morgen ist heute, und gestern war morgen. 65 Eine weitere Verbindungslinie, die Gaponenkos Roman eröffnet, führt zur Tradition des religiösen Erbauungsbriefes, der auf die praktische Belehrung eines breiten Publikums ausgerichtet war. Ähnlich wie Schamma Schahdat dies für die „Philosophischen Briefe“ Piotr Čaadaevs nachweist, 66 kann auch für Gaponenkos Umgang mit Brieftraditionen festgestellt werden, dass sie in der Zusammenführung von intimem Liebes- und religiösem Erbauungsbrief eine Intimisierung des belehrenden Briefes herstellt. Piotr und Anna beschwören in ihren Briefen nicht nur ihre gegenseitige Liebe, sondern ihre Liebesbriefe haben auch eine geistig-mystische Dimension, beide Briefeschreiber geben sich als Seelenkundler und quasi-sakrale Lehrer zu erkennen. Zentrale Stoßrichtung ihrer religiös-philosophischen Welthaltung ist die Subversion und Auflösung der binären Struktur des abendländischen Denkens, wie sie insbesondere in der Entgegensetzung von Wissenschaft und Poesie, Mensch und Tier, Mann und Frau, Geist und Körper, Leben und Tod zum Ausdruck gebracht wird. 67 Bereits in den Tätigkeitsfeldern, denen Piotr und Anna nachgehen, wird diese Subversionsstrategie sichtbar: Piotr sieht sich als Wissenschaftler im Dienste der Poesie und beschreibt die ukrainischen Bauern als „Dichter der Erde“, 68 deren Poesie sich in den Namen, die sie Kartoffelsorten und Blumen geben, spiegelt. Anna versucht als Lehrerin nicht, die Schüler auf klassischen Wissenserwerb zu konditionieren, sondern forciert ihre Fähigkeiten zu träumen und fordert sie auf, in den Schulaufsätzen ihre Phantasie auszuleben: Ich korrigiere die Hausarbeiten meiner Schüler: Achtzehn Aufsätze zum Thema „Sterne“ lagen auf meinem Schreibtisch. Ich wähle nun schon seit fast dreißig Jahren solche Aufsatzthemen, um den Kindern eine Gelegenheit zu geben, ein bisschen zu träumen. Je unglaubwürdiger die Tatsache, je absurder der Inhalt, umso besser die Note. Da wird auch auf die Grammatik keine Rücksicht genommen. 69 64 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 9. 65 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 70. 66 Schahadat, Allein, zu zweit, zu dritt (Anm. 36), hier S. 151-161. 67 Dazu ausführlich in Natalia Dudnik, Writing against Dualisms (Anm. 25). 68 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 16. 69 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 39. Eva Hausbacher 302 Auch für sie selbst sind Traum und Imagination leitende Aspekte ihres Schreibens und Lebens. So imaginiert sie ihr Zimmer als Seekarte und ihren Schreibtisch als Schiff, auf dem sie in alle Ecken der Welt segeln kann, und bricht damit die dem Text nur auf den ersten Blick eingeschriebene klassische Dichotomie von weiblicher Sesshaftigkeit und männlicher Mobilität auf: Dann setze ich mich für gewöhnlich in den tiefen Sessel, sodass ich das ganze Zimmer vor mir habe wie eine Seekarte. […] Fünf Schritte nach Westen der Schallplattenspieler […] Zwei Schritte nach Süden befindet sich der Esstisch […] In der Mitte der Insel ist der Schreibtisch, mein Schiff, das von diesem Punkt aus in jeden beliebigen Winkel des Universums gelangen kann, in Sekundenschnelle. 70 Insgesamt werden die traditionellen Geschlechternormen durch die beiden Hauptfiguren des Romans unterlaufen. Anna ist als Frau gezeichnet, die nicht in die konventionellen Bilder von Weiblichkeit passt, sie kann nicht kochen, raucht Zigarren und verrichtet im Kohlebergwerk harte körperliche Arbeit. Piotr hingegen agiert sehr emotionsgeleitet und gefühlsbestimmt. Auf seiner Fahrt durch die Wüste ist er als Frau in eine Burka gekleidet. „Ich bin eigentlich froh, hier eine Frau zu sein. Unter dem Schleier fühlt man sich etwas aufgehoben. Ich lese das Märchen dieser Welt mit meiner Nase, und es riecht mitnichten nach der romantischen Exotik des 19. Jahrhunderts.“ 71 Natalia Dudnik weist darauf hin, dass für beide Protagonisten die Positionen von Subjekt und Objekt vertauschbar sind. Wie Anna die sie umgebenden gewohnten Gegenstände belebt, ist auch aus Piotrs Sicht die ganze Dingwelt lebendig: „Wenn ich nachdenke, glaube ich mir Dinge vorzustellen. Dabei stellen sich die Dinge selbst vor, bei mir, stellen sich vor mich hin, umschwirren mich.” 72 Sowohl für die Tierals auch die Pflanzenwelt, die als beseelt vorgestellt werden, 73 wird ein respektvoller und den Menschen gleichgestellter Umgang eingefordert. Die Absurdität der Werthierarchie vom niedrigen Lebewesen hinauf zum Menschen als Krone der Schöpfung wird durch einen verfremdenden Perspektivenwechsel - Tiere sprechen über Menschen - vorgeführt. Als zentralen Dualismus, den der 70 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 48f. 71 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 69. 72 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 104. 73 „Könnte es sein, dass der liebe Gott auch Pflanzen und Mineralien mit der Fähigkeit zu Traum und Ahnung ausgestattet hat? Vielleicht hat ein Körnchen Steinkohle mehr Ahnung vom Universum als wir, die wir glauben, dass wir alles wissen“ (Gaponenko, Annuschka Blume, Anm. 10, S. 115). „Ja, liebe Anna Konstantinowna, Sie haben Recht, man darf Tiere nicht unterschätzen, und jeder Wurm könnte die Krone der Schöpfung sein […].“ (ebd., S. 136). Aspekte zwischenkulturellen Schreibens in Marjana Gaponenkos Annuschka Blume 303 Roman infrage stellt, bezeichnet Dudnik jenen von Geist und Körper, der - wie Elizabeth Grosz 74 nachgewiesen hat - im öffentlichen Diskurs in die Gegenüberstellung von Männlichkeit vs. Weiblichkeit sowie Kultur vs. Natur übersetzt wird und damit politische Implikationen besitzt. Dudnik greift hier auf die Leibesphilosophie Merleau-Pontys zurück, der einem geistigrationalen Weltverstehen die körperlich-sinnliche Erfahrung von Welt entgegenstellt. Auch Piotr und Anna praktizieren letztere. Wie bereits erwähnt, beschreibt Piotr seine Reiseerfahrung als die Lektüre des „Märchen[s] dieser Welt mit [der] Nase”, 75 obwohl oder gerade weil sie in ihrer eigenen Beziehung auf den körperlosen Schriftverkehr angewiesen sind. Gleichzeitig wird die sinnliche Wahrnehmungsweise nicht als alleiniges Ideal gesetzt, sondern durchaus als begrenzt und mangelhaft, wenn einerseits behauptet wird, man müsse mit dem Körper leben, 76 gleichzeitig aber alles Wahre als unsichtbar bezeichnet wird. 77 Heimweh könne man nicht haben, meint Piotr an einer Stelle des Romans und setzt folgend fort: „Unser Heim sind wir selbst, und unser Weh sind wir selbst, die wir viel gehört und viel gesehen haben.“ 78 Diese Verbindung von Heim und Weh im Selbst ist ein weiteres Beispiel für das Übertreten binärer Codierungen in Gaponenkos Text. Das Wortspiel lässt sich in Verbindung setzen zu jenem, ebenso auf ein Wortspiel gründenden Konzept des Unheimlichen von Sigmund Freud, in dem das Andere/ Fremde im Eigenen sichtbar wird. Julia Kristeva und Homi Bhabha haben dies später in der Formel der „unhomliness of home“ auf den interkulturellen Kontext übertragen. 79 So gesehen lässt sich der Satz auch als Quintessenz der trans- 74 Elizabeth Grosz, Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington, Indianapolis 1994. 75 Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 69. 76 Vgl. Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 101. 77 Vgl. Gaponenko, Annuschka Blume (Anm. 10), S. 98. 78 Gaponenko, Annuschka Blume, (Anm. 10), S. 200f. 79 Sigmund Freud prägt in seinem 1919 veröffentlichten Aufsatz „Das Unheimliche“ diesen Begriff, um darauf hinzuweisen, dass ein Erlebnis des Unbehagens, das den Betroffenen wiederholt an den Ursprungsort (Familie, Heim, Heimat) zurückführt, gerade nicht auf eine ursprüngliche Intaktheit zurückgreifen kann, sondern vielmehr immer wieder den ursprünglichen Bruch in der vertrauten Lebenswelt zum Ausdruck bringt. Das Unheimliche ist „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“ (Sigmund, Das Unheimliche, in: Ders. Gesammelte Werke Bd. XII, Frankfurt a.M. 1947, S. 229-268). Das Andere ist nie außerhalb oder jenseits von uns verortet, sondern ist eine Stelle inmitten des psychischen Apparates, ein beunruhigender „interspace“. Es geht um jene psychische Situation, in der das Subjekt sich mit seiner eigenen internen Differenz konfrontieren muss (vgl. Elisabeth Bronfen, Ein Gefühl des Unheimlichen. Geschlechterdifferenz und kulturelle Identität in Bharati Mukherjees Roman „Jasmine“, in: Michael Kessler / Jürgen Wertheimer Eva Hausbacher 304 kulturellen Ästhetik dieses Romans lesen, der ein Erzählen jenseits nationaler Paradigmen erprobt. Unterstützt durch Genreeigenheiten des Briefromans bietet Marjana Gaponenko damit ein weiteres Beispiel für das innovative Potential der zwischenkulturell situierten Migrationsliteratur. Diese versteht sich im durchaus konfliktiven Aushandeln von Wirklichkeitskonzeptionen nicht (mehr) - wie in Zeiten der Nationalliteraturen - als Bollwerk gegen das Fremde und als exkludierendes Narrativ des Eigenen. (Hrsg.) Multikulturalität: Tendenzen, Probleme, Perspektiven im europäischen und internationalen Horziont, Tübingen 1995, S. 9-30, hier S. 16). Homi Bhabha nimmt bei seiner Übertragung der Freudschen Konzeption des Unheimlichen auf die kulturelle Ebene Freuds metaphorische Dialektik beim Wort. Er wendet sie ganz konkret auf die Erfahrung an, die für den (inter-)kulturellen Diskurs kennzeichnend ist. Seine „unhomeliness of home“ weist auf die Stelle innerhalb jeden kulturellen Systems, in dem sich kulturell Anderes verortet (vgl. Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 13ff). Ähnlich verfährt auch Julia Kristeva in ihrer Studie „Fremde sind wir uns selbst“ (Frankfurt a.M. 1990), in der sie kulturelle Fremdheit mit psychischer Alterität parallelisiert und Freuds Entdeckung des gespaltenen Subjekts politisiert. Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren Zaal Andronikashvili ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin) und Associate Professor an der Staatlichen Ilia-Universität Tbilisi. Er forscht zur Theorie des Sujets, zu Theorie und Figuren des Raumes wie zur Kulturgeschichte Georgiens, der Sowjetunion, des Kaukasus und des Schwarzmeerraumes. Dissertation Die Erzeugung des dramatischen Textes. Ein Beitrag zur Theorie des Sujets (Berlin 2008), Mitherausgeber der Bände Grundordnungen. Geographie, Religion und Gesetz (mit Sigrid Weigel, Berlin 2013) und Ordnung pluraler Kulturen. Figurationen europäischer Kulturgeschichte, von Osten her gesehen (Berlin, noch nicht erschienen). Kati Brunner hat in Dresden Slavistik und Germanistik studiert und arbeitet gegenwärtig als Lektorin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) an der Universität Tscherniwzi, einst Czernowitz. Sie promoviert bei Prof. Susanne Frank (HU Berlin) zu den deutsch- und ukrainischsprachigen Prosatexten Ol’ha Kobyl’ans’kas und engagiert sich als literarische Übersetzerin aus dem Ukrainischen und Kulturmanagerin im gemeinnützigen Verein translit e.V. Peter Deutschmann ist Professor für slavische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg. Seine Schwerpunkte liegen in russischer und westslavischer (v.a. tschechischer) Literatur- und Kulturwissenschaft. Dissertation Intersubjektivität und Narration. Gogol’, Erofeev, Sorokin, Mamleev (Peter Lang 2003), Habilitation zu Allegorien des Politischen. Zeitgeschichtliche Implikationen des tschechischen historischen Dramas (Graz 2012). Er ist (Mit-)Herausgeber von zwei Bänden zum Vergleich der Habsburgermonarchie und des Russischen Imperiums um 1900. Susi K. Frank ist als Professorin Leiterin des Fachgebiets für Ostslawische Literaturen und Kulturen an der Humboldt Universität zu Berlin. Dissertation Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die longinsche Tradition (München 1999); Habilitation Imperiale Aneignung. Diskursive Strategien der Kolonisation Sibiriens durch die russische Kultur (München 2010). Herausgeberschaft verschiedener Schriften von Jurij Lotman, u.a. Kultur und Explosion (Frankfurt am Main 2010); Mitherausgeberschaft beispielsweise von Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative in den Literaturen des Erzählte Mobilität im östlichen Europa 306 20. und 21. Jahrhunderts (Bielefeld 2009). Forschungsschwerpunkte sind russische Literatur, kulturhistorische Imperienforschung, Kultursemiotik, Geopoetik, Literatur und Gedächtnispolitik, literarischer Dokumentarismus. Thomas Grob ist Ordinarius für Slavische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Promotion 1993 in Zürich über Daniil Charms und die russische Spätavantgarde, Habilitation 2003 in Konstanz über Russische Postromantik der 1830er Jahre. Publikationen insbes. zu russischen und polnischen Autoren; Mitherausgeber des Bandes Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Schwerpunkte in Romantik- und Avantgardeforschung, literarischer Phantastik, postsozialistischer Literatur, postcolonial studies bzw. literarische Imperiumsforschung, kulturelle Narratologie. Herausgeber einer deutschen Werkausgabe von Ivan Bunin; Leiter des Forschungsprojekts „Erzählen jenseits des Nationalen. (Post-)Imperiale Raumstrukturen in der Literatur Osteuropas“ (SNF). Eva Hausbacher ist Professorin für Slawistische Literatur- und Kulturwissenschaft am Fachbereich Slawistik der Universität Salzburg. Dissertation zur frühfuturistischen Dichtermalerin Elena Guro (Peter Lang 1996) und Habilitation zu transnationalen Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur (Stauffenburg 2009). Forschungsschwerpunkte im Bereich von Migrationsliteratur und Gender Studies. Derzeit Leiterin eines FWF- Projekts zu Sowjetischer Mode und Konsumkultur am Fachbereich Slawistik der Universität Salzburg. Alexis Hofmeister ist Osteuropahistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Geschichte der Universität Basel (Lehrstuhl Schenk). Dissertation zum jüdischen Vereinswesen in Odessa um 1900 (Vandenhoeck & Ruprecht 2007) und Habilitationsprojekt zur jüdischen Autobiographik in transimperialer Perspektive. Weiterer Forschungsschwerpunkt im Bereich der Erinnerungsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Gegenwärtig Koordinator des SNF-Projekts „Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken und Historischer Wandel in den Imperien der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Ende 19. - Anfang 20. Jahrhundert)“. Alexander Honold ist Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Promotion 1994 an der Freien Universität Berlin zu Robert Musil und den Ersten Weltkrieg; Habilitation 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin zur Astronomie im Werk Hölderlins. Zahlreiche Buchpublikationen, Aufsätze, Zeitungsartikel und Literaturkritiken gerade auch im Bereich der postcolonial studies, Interkulturalität und Narratologie, Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren 307 so z.B. als Mitherausgeber von Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit (Metzler 2004) oder als Mitautor von Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges (Wagenbach 2011). Milanka Matić hat in Freiburg im Breisgau Islamwissenschaft und Slavistik studiert und die Magisterarbeit zum Renegatentum im Osmanischen Reich (19. Jhd.) verfasst. Sie ist freiberufliche Übersetzerin für serbische Sprache und wissenschaftliche Mitarbeiterin am SNF-Projekt „Postosmanische Städte im Visier. Visuelle Zugänge zur vergleichenden Lebensweltforschung in Jugoslawien und in der Türkei, 1920er und 1930er Jahre“ am Seminar für Nahoststudien in Basel. In ihrer Dissertationsarbeit beschäftigt sie sich mit der visuellen Darstellung der Frauen in den Städten Belgrad, Istanbul und Ankara. Wolfgang Müller-Funk ist Professor für Kulturwissenschaften am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien. Forschungskoordinator der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. 1981 Promotion an der Universität München zu Lion Feuchtwangers zeitgeschichtlichem Werk. 1993 Habilitation an der Universität Klagenfurt über Theorie und Geschichte des Essayismus. Zahlreiche Gastprofessuren und Scholarships. Schwerpunkte: Kulturtheorie, Theorie des Narrativen, Klassische Moderne, Romantik und Avantgarde. Zuletzt u.a. erschienen: Die Dichter der Philosophen (2013), The Architecture of Modern Culture (2012), Joseph Roth (1989/ 2012), Komplex Österreich (2009) Kulturtheorie (2006/ 2010), Die Kultur und ihre Narrative (2002/ 2008). Boris Previšić ist Musiker mit langjährigem Engagement im Kaukasus und Balkan (www.pre-art.ch) und Privatdozent für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel. Dissertation zu Hölderlins Rhythmus (Frankfurt am Main 2008) und Habilitation zur literarischen Rezeption der postjugoslawischen Kriege. Forschungsschwerpunkte im Bereich der Literatur- und Raumtheorien, der Intermedialität und Interkulturalität. Gegenwärtig wissenschaftlicher Mitarbeiter und Mitkoordinator im SNF-Projekt „Jenseits des Nationalen. (Post-) Imperiale Raumstrukturen in der Literatur Osteuropas“ am Slavischen Seminar der Universität Basel. Maurus Reinkowski ist Professor für Islamwissenschaft am Seminar für Nahoststudien der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der neueren und neuesten Geschichte des Nahen Ostens und des östlichen Mittelmeerraums. Zu seinen rezenten Publikationen zählen u.a. Erzählte Mobilität im östlichen Europa 308 Conspiracy Theories in the United States and the Middle East. A Comparative Approach (gemeinsam hrsg. mit Michael Butter, Universität Wuppertal) sowie Helpless Imperialists. Imperial Failure, Fear and Radicalization (gemeinsam hrsg. mit Gregor Thum, University of Pittsburg). Franziska Thun-Hohenstein ist Slawistin; Leiterin des Forschungsbereiches „Europa/ Osten“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Russische Literatur- und Kulturgeschichte; kulturelles Gedächtnis und Autobiographik; nationale Narrative in der sowjetischen und postsowjetischen Kultur; Publikationen (Auswahl): Mithg. mit E. Kilchmann, A. Pflitsch: Topographien pluraler Kulturen. Europa von Osten her gesehen. Berlin 2011; Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation. Kadmos Berlin 2007. Sie ist Herausgeberin der Werkausgabe Warlam Schalamows im Verlag Matthes & Seitz Berlin. Frithjof Benjamin Schenk ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Dissertation an der FU Berlin zur Erinnerungsgeschichte Alexander Nevskijs im russischen kulturellen Gedächtnis (1263- 2000). Thema der Habilitationsschrift an der LMU München zu Russlands Aufbruch in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter. Weitere Forschungsschwerpunkte: Geschichte kognitiver Landkarten in Europa, Autobiografik und Biografik in imperialen Kontexten, Geschichte politischer Gewalt. Andrea Zink ist Professorin für Slawische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck; Dissertation zu Andrej Belyjs Rezeption der Philosophie Kants, Nietzsches und der Neukantianer (München 1998), Habilitationsschrift Wie aus Bauern Russen wurden (Zürich 2009); Forschungsschwerpunkte im Bereich der russischen und bosnisch-kroatisch-serbischen Literatur, Literatur- und Kulturtheorie, Gender Studies; Epochenschwerpunkte im Realismus des 19. und 20. Jahrhunderts, im Symbolismus, in der Avantgarde und in der Gegenwart; inhaltliche Schwerpunkte: Nationsbildung und Nationszerfall, Raumkonstruktionen, Interferenz von Literatur und Philosophie, Literatur und Geschichte. Der Band befasst sich mit Narrativierungen von Mobilität in übernationalen Raumparadigmen, wie sie für das verschüttete imperiale Erbe des östlichen Europas charakteristisch sind. Wie spiegelt sich diese Mobilität in Erzählungen? Wie konstituieren sich Begegnungen, Austausch, Grenzen, aber auch Biographien und Reiseerfahrungen? Welche Erkenntnisse bieten sich für das Erzählen, welche für einen Begriff des ‚Imperialen‘, verstanden als kulturelle und kommunikative Struktur? Die Fallbeispiele betreffen die Habsburger Monarchie und den jugoslawischen Raum ebenso wie Russland und die Sowjetunion.