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Dialog und (Inter-)Kulturalität

2014
978-3-8233-7906-5
Gunter Narr Verlag 
Simon Meier
Dr. Daniel H. Rellstab
Gesine L. Schiewer

In der globalisierten Welt ist der Dialog über kulturelle Sinngrenzen hinweg zum Alltagsphänomen geworden. Der Sammelband zeigt, wo die sprach- und kommunikationswissenschaftliche Forschung zum Thema der interkulturellen Kommunikation heute steht, wie die Zusammenhänge von Dialog und Kultur konzeptualisiert werden und welche empirischen Erkenntnisse in diesem Rahmen möglich sind.

Dialog und (Inter-)Kulturalität Theorien, Konzepte, empirische Befunde Simon Meier, Daniel H. Rellstab, Gesine L. Schiewer (Hrsg.) Dialog und (Inter-)Kulturalität Simon Meier, Daniel H. Rellstab, Gesine L. Schiewer (Hrsg.) Dialog und (Inter-)Kulturalität Theorien, Konzepte, empirische Befunde Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der UniBern Forschungsstiftung und der Burgergemeinde Bern. © 2014 · Narr Francke At AA tempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Te TT ile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6906-6 Für Ernest W. B. Hess-Lüttich Inhalt Daniel H. Rellstab, Simon Meier, Gesine L. Schiewer Dialog und (Inter-)Kulturalität: Einleitung............................................................ 9 I Dialog und (Inter-)Kulturalität: Theoretische Perspektiven Jens Loenhoff Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens................................................................................................... 25 Helmut Richter Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? ........................................................................................................ 43 Dagmar Schmauks Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken - Das Ausloten der Grenzen von Kommunikation in der Science Fiction......... 59 Christopher M. Schmidt Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung ..................................................................................... 73 Oliver Winkler Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung - Überlegungen am Beispiel von Dramentexten ................................................... 87 II Kulturalität der Dialogforschung: Wissenssoziologische Perspektiven Simon Meier Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? - Zur nationalkulturellen Aufladung von Kommunikationsformen in der Nachkriegszeit ............................................................................................ 105 Werner Nothdurft Kulturelle Transzendenz - Soziokulturelle Voraussetzungen des wissenschaftlichen Nachdenkens über Kommunikation ................................ 125 8 H. Walter Schmitz „In any conversation ...“ - Zum Anspruch der Konversationsanalyse auf Universalität des Redeaustauschsystems ‚conversation‘ .......................... 137 III Kulturelle Dialoge: Empirische Perspektiven Anne Betten Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen ............................................................................. 157 Susanne Günthner & Qiang Zhu Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich - Analysen von Eröffnungssequenzen chinesischer und deutscher Konferenzvorträge ........ 175 Eva Kimminich Dialogizität im Rap................................................................................................ 197 Helga Kotthoff & Daniel Stehle „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy - Die Internet-Komik des Tedros „Teddy“ Teclebrhan ...................................... 217 Heinz L. Kretzenbacher Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen - Zur sprachlichen Inszenierung von Kulturalität und lingua franca-Interkulturalität in der Wissenschaftskommunikation ............. 237 Daniel H. Rellstab Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen - Interkulturalität und Gender im transnationalen Deutsch-als-Fremdsprache-Klassenzimmer.................... 255 Ingo H. Warnke Abkehr vom Dialog - Selbstsegregation im urbanen Sprachraum Berlins ............................................................................................... 275 Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger .................................................. 295 Daniel H. Rellstab, Simon Meier, Gesine L. Schiewer Dialog und (Inter-)Kulturalität: Einleitung 1 Interkulturelle Kommunikation - Probleme und Perspektiven 50 Jahre nach seiner Etablierung hat der Forschungsgegenstand ‚Interkulturelle Kommunikation‘ nichts von seiner Aktualität eingebüßt: In einer zunehmend globalisierten Welt ist der Dialog über kulturelle Sinngrenzen hinweg zum Alltagsphänomen geworden (cf. Hess-Lüttich 2003a). Die Auswirkungen lassen sich noch in den unzähligen Leitfäden interkultureller Kompetenz bis hin zu den hoffnungsvoll erhobenen Forderungen nach einem Dialog der Kulturen (cf. hierzu kritisch Schiewer 2009; Meier 2013: 333-340) beobachten. Die Theorien und Methoden, die zur Erforschung interkultureller Phänomene in den letzten Jahrzehnten etabliert wurden, bedürfen heute indessen einer genaueren Überprüfung. Viele der Ansätze, die zur Analyse interkultureller Kommunikation verwendet werden, sind heute nicht mehr zeitgemäß und können den Anspruch, die normativen Zugriffe auf gelungene interkulturelle Dialoge empirisch zu fundieren, kaum einlösen (cf. Hess-Lüttich 2009). Probleme ergeben sich aus theoretischer Perspektive an drei zentralen Stellen: der Definition von Kultur, der Sprachvergessenheit und der Definition von Kommunikation. Auch heute wird noch oft mit Definitionen von ‚Kultur‘ gearbeitet, wie sie in der Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt und verwendet wurden. Ein gutes Beispiel dafür bieten die Arbeiten von Stella Ting-Toomey. Zwar weist die Kommunikationswissenschaftlerin in ihrer Einführung Communicating Across Cultures darauf hin, dass ‚Kultur‘ ein dynamisches Gebilde, ja gar ein „Rätsel“ sei. Das hindert sie jedoch nicht daran, Kultur Schritt für Schritt zu verdinglichen, um dann zu dem Schluss zu kommen: „While our own culture builds an invisible boundary around us, it also delimits our thoughts and our visions“ (Ting-Toomey 1999: 14; cf. Ting-Toomey 2011). Mit dieser Vorstellung knüpft sie direkt an Edward T. Hall an, der seinerseits in der Nachfolge von Franz Boas, Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf die Vorstellung entwickelte, dass ‚Kultur‘ wie ein Computerprogramm wirke, welches Wahrnehmung und Handeln der Menschen determiniere (cf. Hall 1966). Ting-Toomey ist nicht die einzige, welche ihre interkulturellen Untersuchungen so auf eine problematische Basis stellt. Auch Gert Hofstede definiert ‚Kultur‘ in dieser Weise (cf. Hofstede 2001), und seine Konzeption wird bis heute oft frag- und kritiklos übernommen, so etwa von Edith Broszinksy- Schwabe (2011), William Gudykunst und Carmen Lee (2003) oder Larry Samovar, Richard Porter und Lisa Stefani (2010). Gravierender noch als die Vorstellung von Kultur als Software des Geistes dürfte indes die Gleichsetzung von Kultur mit Nation, Ethnie und Sprache Daniel H. Rellstab, Simon Meier, Gesine L. Schiewer 10 sein, wie sie bei Hall, Hofstede, Ting-Toomey, Gudykunst und anderen sichtbar wird. Hall erweiterte die bei Boas, Sapir und Whorf auf einzelne Sprachgemeinschaften bezogene Vorstellung von ‚Kultur‘ auf ‚Nation‘ und ‚ethnischer Gruppe‘. So konnte er über die „Kultur der Amerikaner“ oder die „Kultur der Araber“ (Hall 1966) schreiben. Dass Gert Hofstede Kultur kurzerhand mit Nation gleichsetzt, ist hinreichend bekannt und wurde schon oft kritisiert, am schärfsten und klügsten wohl von Brendan McSweeney (2002). Nichtsdestotrotz geht auch Ting-Toomey davon aus, dass alle Chinesen, einschließlich der chinesischen Migranten in den USA, sehr ähnlich denken und handeln würden, wie sich etwa in folgender Äußerung zeigt: An implicit understanding generally exists between a speaker and a hearer in Chinese culture that is essential to maintain relational harmony at all costs in everday social interaction. (Ting-Toomey 1999: 105) Eine solche Aussage ist angesichts der räumlichen Ausdehnung Chinas, der kulturellen Vielfalt und der immensen sozialen Stratifizierung zumindest kritisch zu hinterfragen: Gilt dieses „implicit understanding“ auch zwischen dem Fabrikbesitzer in Suizhou City und der Wanderarbeiterin vom Land, zwischen dem Prinzling und der Regierungskritikerin, zwischen dem Banker in Hongkong und dem buddhistischen Mönch in Lhasa? Und was ist mit Kindern chinesischer Immigranten in den USA? Solche Fragen stellen sich Ting-Toomey nicht. China ist für sie ein kultureller und sprachlicher Monolith, schreibt sie doch an anderer Stelle einfach über die „Chinese language“ (Ting-Toomey 1999: 96). Offensichtlich meint sie damit Mandarin; dass es in China neben Mandarin, je nach Zählung, bis zu 297 weitere Sprachen gibt 1 , und man schon nur deshalb differenzieren müsste, scheint ihr irrelevant zu sein. Dieses monolithische, nationalkulturelle Denken, nach dem Sprache, Kultur und Nation eine kohärente Einheit bilden, ist aus dem Alltagsdenken hinlänglich bekannt, von wissenschaftlicher Seite oft als unzureichend kritisiert und in seinen historischen Bedingungen nachgezeichnet worden. Dennoch taucht es in Publikationen zur interkulturellen Kommunikation immer wieder auf. So vergleicht etwa Tae-Sop Lim (2003) sprachliches Handeln der ‚japanischen Kultur‘ mit demjenigen der ‚arabischen Kultur‘, um dann Parallelen zwischen der arabischen, der italienischen Kultur, den slawischen Kulturen, der jüdischen und der afroamerikanischen Kultur zu ziehen: Italian culture, Slavic cultures, Jewish culture, and American black cultures are also very expressive. These cultures value ‚uninhibited emotional expression‘ whether the feelings are good or bad. (Lim 2003: 64) Angesichts solcher Konzeptualisierungen sind Ingrid Pillers (2012) Vorwürfe an die Zunft der interkulturellen Kommunikationsforschung nur allzu berechtigt: Sie moniert, dass die Forschung zur interkulturellen Kommunikation an Aktualität und Relevanz verloren hätte, weil sie sich eines antiquierten, nicht mehr zeitgemäßen theoretischen und methodischen Instrumentariums 1 Cf. https: / / www.ethnologue.com/ region/ EAS [26.02.2014] Dialog und (Inter-)Kulturalität: Einleitung 11 bediene. Und sie bemängelt zurecht, dass oftmals der Sprache kaum hinreichend Beachtung geschenkt werde - obschon Sprache ja das zentrale Medium in interkultureller Kommunikation ist. Piller weist auf die teilweise erstaunlich kruden Vorstellungen des Zusammenhangs von Sprache und Kultur hin, welche sich in populären Publikationen zur ‚interkulturellen Kommunikation‘ finden lassen. Diese gehören leider oft zur Kategorie „weird and wonderful“ (Piller 2012: 31) und sind letztlich unkritische Verballhornungen der Sapir- Whorf-Hypothese. Piller führt ein aus der Perspektive der Germanistischen Linguistik besonders markantes Beispiel an: Chaney und Martin (2004: 96) präsentieren eine Tabelle, in welcher sie „verbal style“ mit „ethnic group“ korrelieren. Für das Deutsche und die Deutschen schreiben sie: „In the German language, the verb often comes at the end of the sentence. In oral communication, Germans do not immediately get to the point.“ Dieses Zitat zeigt erstens, dass die Sachkompetenz der Autorinnen im Bereich der Linguistik generell angezweifelt werden darf, da sie Syntax und Pragmatik vermischen. Zweitens zeigt das Zitat auch, dass die Autorinnen bloß eine vage Vorstellung von der deutschen Syntax haben. Darüber hinaus lässt sich auch hier die Frage stellen, wie umfassend ihre Vorstellung vom ‚Deutschen‘ ist: Würden sie wohl Österreicher und Schweizer ebenfalls als etwas umständliche Kommunikationspartner bezeichnen? Neben unterkomplexen Vorstellungen von Sprache und Kultur bleibt oftmals auch der Kommunikationsbegriff vage. Ting-Toomey etwa bedient sich aus den unterschiedlichsten Quellen, um einzelne Aspekte von Kommunikation zu diskutieren. Sie greift auf die Nachrichtentechnik zurück, die Semiotik, die Transaktionsanalyse, die Informationstheorie und die Gestalttheorie. Eine konsistente Konzeption von Kommunikation gelingt ihr dabei kaum (cf. Ting-Toomey 1999: 16-21). Laut McDaniel, Samovar und Porter (2010) ist gerade dies von besonderer Wichtigkeit. Sie schreiben: When studying the union of culture and communication, […] a succinct, easily understandable definition is in everyone’s best interest. Thus, for us, communication is the management of messages with the objective of creating meaning. (McDaniel/ Samovar/ Porter 2010: 9) Wie sich aber in ihren Ausführungen zeigt, basiert ihre Definition auf einem um die Kompetenten ‚feedback‘ und ‚environment‘ erweiterten Sender- Empfänger-Modell der Kommunikation, das zur Analyse verbaler und nonverbaler Interaktion jedoch nicht geeignet, da zu simpel, ist. Broszinsky- Schwabe (2011) unternimmt den Versucht, Kommunikation auch im Anschluss an Samovar zu definieren. Was Kommunikation aber genau leistet oder eben nicht, geht aus ihren Erörterungen nicht hervor. So schreibt sie zwar, dass Kommunikation ein Prozess sei, „in dem Personen wechselseitig Bedeutungen vermitteln“ (Broszinksy-Schwabe 2011: 27) würden, was als Verdeutschung des zuvor genannten „management of messages“ (McDaniel/ Samovar/ Porter 2010: 9) interpretiert werden kann. Der Versuch, diese Definition zu erläutern, macht sie jedoch kaum präziser, sondern eher ungenauer: Daniel H. Rellstab, Simon Meier, Gesine L. Schiewer 12 Menschliche soziale Kommunikation bezeichnet also den über Zeichen oder Symbole vermittelten Austausch sozialer Informationen zwischen Individuen und Gruppen. (Broszinksy-Schwabe 2011: 28) Zwar schränkt sie den Objektbereich ‚Kommunikation‘ nun auf ‚menschliche soziale Kommunikation‘ ein und greift auf die Semiotik zurück, um diese ‚soziale Kommunikation‘ zu erläutern. Die von ihr verwendete semiotische Terminologie ist jedoch nicht einsichtig: ‚Zeichen‘ fungiert in der Semiotik üblicherweise als Oberbegriff, ‚Symbol‘ benennt eine Subkategorie von Zeichen (cf. de Saussure 1974; Peirce 1982ff.). Zweitens wird nicht klar, wie mit Hilfe von Zeichen oder Symbolen, um ihre Terminologie zu verwenden, der ‚Austausch sozialer Informationen‘ zustande kommt oder eben nicht, da sie es versäumt zu erläutern, wie Zeichen strukturiert sind und was in ihrer Anwendung geschieht. Die genannten sozialpsychologischen, kommunikations- und betriebswissenschaftlichen Ansätze erfreuen sich großer Beliebtheit, was sich nicht zuletzt anhand der Auflagen und Absatzzahlen der entsprechenden Bücher zeigt. Aber auch die Linguistik beschäftigt sich seit Jahren mit Phänomenen interkultureller Kommunikation. Den Vorwurf der Sprachvergessenheit darf man der linguistisch ausgerichteten Forschung sicherlich nicht machen. Was aber angemahnt werden darf, ist, dass auch hier zuweilen unreflektiert Kultur, Sprache und Nation oder Ethnie in eins gesetzt werden. Dies ist insbesondere in denjenigen Ansätzen der Fall, welche davon ausgehen, dass ‚Kultur‘ der Realisierung sprachlicher Äußerungen zu Grunde liege und diese determiniere. Vertreter dieser Vorstellung können mit Dominic Busch (2009) als Primordialisten bezeichnet werden. Zu diesen sind etwa die frühen sprachvergleichenden Untersuchungen zur Höflichkeit zu zählen, wie sie im Kontext des Cross-Cultural Speech Act Realization Project (Blum-Kulka/ House/ Kasper 1989) gefunden werden können, dessen theoretische Basis und dessen Forschungsdesign bis heute Verwendung findet (cf. etwa Barron 2003; kritisch Pulaczewska 2013). Eine weitere prominente Vertreterin dieses Ansatzes ist Anna Wierzbicka (1997, 2003), die sich explizit an Edward T. Halls Definition von Kultur orientiert. Es erstaunt deshalb nicht, dass sie unbekümmert über „core Australian values“ (Wierzbicka 2003: 3) oder das „Polish ear“ (Wierzbicka 2003: 58) schreibt. Von diesen Primordialisten unterscheiden sich in theoretischer, aber auch methodischer Hinsicht Sozialkonstruktivisten jeglicher Couleur. Sozialkonstruktivisten, deren wichtigster theoretischer Bezugspunkt ohne Zweifel das Werk von Alfred Schütz ist (cf. Schütz 2004; Schütz & Luckmann 2003), nehmen Abstand von funktionalistischen und funktionalistisch inspirierten Vorstellungen von Kultur. Sie lokalisieren Kultur vielmehr im Bereich der sozialen Handlungen, in welchen sich Denken und Fühlen manifestieren und in denen gleichzeitig ‚Kultur‘ re-konstruiert wird (cf. Busch 2009). Dialog und Kommunikation haben in dieser Tradition immer herausragende Rollen gespielt: Wie Ervin Goffman programmatisch formuliert, wird hier das „Gebiet der Interaktion von Angesicht zu Angesicht, einstmals ein Nebenschauplatz […] selbst zum Kampfplatz“ (Goffman 1982: 10). Doch werden Dialog und Dialog und (Inter-)Kulturalität: Einleitung 13 Kommunikation nicht nur als Prozesse in den Blick genommen, in welchen Verstehen zumindest approximiert wird (cf. Ungeheuer 1987). Sie bilden vielmehr den locus, in welchem Kultur entsteht und immer wieder neu verhandelt wird: Laut Harold Garfinkel (1967) machen Interagierende in der Interaktion nicht nur Verstehen sichtbar, sondern zeigen sich gegenseitig auch ständig an, was als normal und richtig gilt. Sprache, Dialog und Kultur sind hier zwar eng verknüpft, eine schlichte Gleichsetzung von Sprache, Kultur und Nation oder Ethnie findet sich jedoch nicht mehr. Der Fokus ist vielmehr auf sprachliche und zunehmend auch nichtsprachliche Praktiken in und zwischen spezifischen speech communities (cf. Hymes 1986), auf spezifische communities of practice (cf. Wenger 2006) und small cultures (cf. Holliday 1999) gerichtet. Diese Gemeinschaften werden nur noch bedingt als monolithisch gedacht, und die Forschung interessiert sich zunehmend dafür, wie Interaktion funktioniert, wenn diese Gemeinschaften multikulturell und multilingual sind. Zu den Sozialkonstruktivisten lassen sich einerseits Vertreterinnen und Vertreter der interaktionalen Soziolinguistik zählen, welche als Teilbereich oder Weiterentwicklung der Dell Hymes’schen Ethnografie der Kommunikation verstanden werden kann (cf. Gumperz & Hymes 1986). Zwar wird auch hier davon ausgegangen, dass soziales Wissen die Basis interaktionalen Handelns bildet. Doch liegt der Fokus auf der immer tentativen und kontextualisierten Anwendung dieses Wissens in der Interaktion (cf. etwa Gumperz 1991; Günthner 1993). Stärker der ethnomethodologischen Konversationsanalyse verpflichtete Ansätze - deren Zugehörigkeit zum Sozialkonstruktivismus jedoch strittig ist (cf. etwa Benwell/ Stokoe 2006) - interessieren sich dafür, wie die Verwendung unterschiedlicher Sprachen in der Interaktion organisiert ist (cf. etwa Keim 2007), wie Nationalität und Ethnizität relevant gesetzt werden (cf. etwa Kotthoff 2002; Mori 2003) und zur Abgrenzung gegenüber anderen eingesetzt wird (cf. etwa Hausendorf 2000). Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive wird thematisch ein breites Spektrum abgedeckt, und Themen interkultureller Kommunikation werden auch aus kritischer Perspektive analysiert. Die Verwendung von Stereotypen oder deren negative Zuspitzungen hin zu Rassismus oder Sexismus werden vor allem im Forschungsfeld der kritischen Diskursanalyse untersucht (cf. Caldas-Coulthard 2003; Wodak 2001). Dass aus sozialkonstruktivistischer Perspektive auch der Begriff ‚Kultur‘ selbst als Konstruktion in den Blick kommt, ist nur konsequent (cf. Busch 2009). Das sozialkonstruktivistische Paradigma lässt damit den funktionalistischen Kulturbegriff weit hinter sich, und es scheint, dass sich gerade hier nicht nur neue Ansätze für die Erforschung interkultureller Phänomene ergeben, sondern dass damit auch Anschlüsse zu anderen Forschungsbereichen innerhalb einer kulturwissenschaftlich orientierten Sprach- und Kommunikationswissenschaft geschaffen werden können. An dieser Stelle setzt der vorliegende Band an, der zeigen möchte, wo sprach- und kulturwissenschaftlich orientierte Forschung zum Thema der interkulturellen Kommunikation heute steht, wie die Zusammenhänge von Dialog bzw. dialogischem Sprachgebrauch und Kultur konzeptualisiert werden und welche empirischen Erkenntnisse in diesem theoretischen Rahmen Daniel H. Rellstab, Simon Meier, Gesine L. Schiewer 14 möglich sind. Dabei kommen Vertreterinnen und Vertreter verschiedenster Ansätze auch über das sozialkonstruktivistische Paradigma hinaus zu Wort. Das Bemühen um eine konsistente methodologische Basis jenseits der eingangs kritisierten monolithischen Kulturkonzepte zeigt sich in den theoretischen Klärungen des Begriffs der interkulturellen Kommunikation ebenso wie in den empirischen Beiträgen - und auch der wissenschaftliche Kommunikationsbegriff selbst wird auf seine Kulturalität hin reflektiert. 2 Übersicht über den Band Die Beiträge im ersten Teil Dialog und (Inter-)Kulturalität widmen sich der Frage nach angemessenen theoretischen Modellierungen des Zusammenhangs von dialogischer Kommunikation und Kultur. Denn obgleich die linguistische Dialogforschung ebenso wie kommunikationswissenschaftlich orientierte Forschungsansätze darin übereingehen, dass der Kulturbegriff in jeder Kommunikationstheorie eine wesentliche Rolle spielen soll, bleibt die Frage relevant, welchen Stellenwert etwa Mehrsprachigkeit oder Aspekte der Fremdheit in Dialogtheorien einnehmen, die sich mit Interkulturalität befassen. Dabei sind solche theoretischen Ansätze gefordert, welche die Komplexität ihres Gegenstandsbereichs nicht durch vermeintlich objektive, dabei aber stets simplifizierende Zuschreibungen auflösen. Jens Loenhoff nimmt in seinem Beitrag „Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens“ theoretische Unzulänglichkeiten etablierter Ansätze einer mit kultureller Differenz befassten Kommunikationsforschung in den Blick, die aus der einseitigen Konzeptualisierung von Wissen als propositionalem Wissen erwachsen. Als Korrektiv wird ein Begriff des impliziten Wissens systematisch entfaltet, der die Ressourcen für kreative und flexible Situationsbewältigung auch über kulturelle Sinngrenzen hinweg in der vorreflexiven Teilhabe an sozialen Praktiken bestimmter kultureller Milieus verortet. Ein solches Verständnis impliziten Wissens ermöglicht mithin einen realistischeren Blick auf die vielfältigen Probleme interkultureller Kommunikation, die sich nicht durch Explikation etwa in Form von landeskundlichen ‚Kultur-Knigges‘ angemessen abbilden lassen. Helmut Richter unternimmt in seinem Aufsatz „Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? “ den Versuch einer Klärung, was die aus dem antiken Griechenland überlieferten Fragetechniken der Sophistik und der Maieutik unterscheidet und was sie gemeinsam haben. Richter weist nach, dass beide Techniken, gleichwohl sie in der Forschung gemeinhin als konträre Entwürfe bezeichnet werden, ein gemeinsames gesprächsorganisatorisches Interesse eint, welches auf die Ermöglichung von nicht-direktivem Handeln abzielt. Sophistik und Maieutik erscheinen so als frühe, erst durch moderne sprach- und kommunikationswissenschaftliche Erkenntnisse eingeholte Ansätze einer systematischen und zugleich ethisch bedeutsamen Diskurstheorie. Dagmar Schmauks wiederum untersucht in ihrem Beitrag „Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken: Dialog und (Inter-)Kulturalität: Einleitung 15 Das Ausloten der Grenzen von Kommunikation in der Science Fiction“ ein Szenario, das als Extremfall von interkultureller Kommunikation beschrieben werden kann, nämlich die zumindest gegenwärtig noch hypothetische Kommunikation mit Außerirdischen. Die anhand von vier klassischen Science- Fiction-Romanen erörterte Frage, wie mit dem vermutlich völlig Anderen zu kommunizieren sei, wirft Licht auf die kognitiven und semiotischen Voraussetzungen von Kommunikation überhaupt und liefert Außenansichten der irdischen Zivilisation, die im Zeichen des Fremden auch das Verständnis des Eigenen vertiefen können. Christopher M. Schmidt stellt in seinem Beitrag „Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung“ die Frage nach der Vergleichbarkeit von Ergebnissen interkultureller Kommunikationsforschung, die wie jede wissenschaftliche Forschung stets methoden- und kulturbedingt perspektiviert sind. Den einander ausschließenden Annahmen eines radikalen Relativismus einerseits und eines Universalismus andererseits stellt er in Auseinandersetzung mit einschlägigen Theorien interkultureller Kommunikation einen dritten Weg gegenüber, der die relationale Aussagegültigkeit interkultureller Forschungsergebnisse systematisch reflektiert und dadurch nachvollziehbar macht. Die konkrete Umsetzung dieses dritten Weges wird anhand einer Fallstudie zur kulturkontrastiven Textsortenforschung aus dem Bereich der Wirtschaftskommunikation vorgeführt. Oliver Winkler zeigt in seinem Beitrag „Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung“, dass eine sprachwissenschaftliche Analyse von literarischen Dialogen kommunikatives Handlungswissen zutage fördert, welches für die Frage nach der Kulturalität dialogischer Handlungsformen relevant ist. In Auseinandersetzung mit etablierten Ansätzen der historischen Dialogforschung und ihren theoretischen Grundlagen wird deutlich, dass die Beschränkung auf einzelsprachliche Perspektiven zu kurz greift, wenn die untersuchten Texte Gegenstand kultureller Transfers sind. Dies wird anhand einer exemplarischen Analyse eines Dialogs aus Schnitzlers Reigen verdeutlicht, der u. a. auf Schwedisch adaptiert wurde und so die historisch-kulturellen Kontexte der Dialogsorte Ehekonflikt deutlich macht. Im zweiten Teil, überschrieben mit Kulturalität der Dialogforschung: Wissenssoziologische Perspektiven, wird nach der Kulturalität von Dialogkonzepten selbst gefragt. Denn trotz der Etabliertheit interkultureller Kommunikationsforschung wird die wissenssoziologische Dimension der Kulturspezifik und auch Historizität der Theorien einschließlich der darauf aufbauenden Forschungsmethoden bisher kaum reflektiert (cf. Kincaid 1987; Linke 2008; Meier 2013). Es bedarf der Erinnerung, dass die linguistische Dialogforschung nur eine von mehreren traditionsreichen und auch kulturell situierten Ansichten vom Dialog ist (cf. Hess-Lüttich 1996; 2001). Die Beiträge dieses Themenblocks gehen somit der bisher vernachlässigten Frage nach, worin kulturspezifische Prägungen dialoglinguistischer Denkstile (cf. Fleck 1980) bestehen. Simon Meier geht in seinem Beitrag „Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? Zur nationalkulturellen Aufladung von Kommunikationsformen in der Nachkriegszeit“ der Frage nach, welche wissenssoziologischen Gegebenheiten die Thematisierung von Kommunikation in der Zeit Daniel H. Rellstab, Simon Meier, Gesine L. Schiewer 16 nach 1945 prägten und auch in die linguistische Konzeptualisierung des Gesprächs fortwirken. Anhand einer Vielzahl gesprächsreflexiver Texte der Nachkriegszeit wird herausgearbeitet, wie der im Zuge der alliierten Demokratisierungspolitik propagierten und daher oft als fremd bezeichneten Diskussion das vermeintlich typisch deutsche Gespräch gegenübergestellt wurde. Es zeigt sich, dass auch die für die Sprachwissenschaft so zentralen Konzepte wie „Gespräch“ und „Dialog“ auf spezifische kulturelle Kontexte verweisen und ideologisch vereinnahmt werden können. Werner Nothdurft diskutiert in seinem Beitrag „Kulturelle Transzendenz. Soziokulturelle Voraussetzungen des wissenschaftlichen Nachdenkens über Kommunikation“ Grundzüge des modernen Selbstverständnisses westlicher Gesellschaften, die auch die wissenschaftliche Reflexion über Kommunikation im Rahmen der Gesprächsanalyse weithin unbemerkt prägen. In Auseinandersetzung mit einigen gesprächsanalytischen Grundannahmen wird gezeigt, dass hier kulturelle Dominanzen wie Individualität, Instrumentalität, Rationalismus und Optimismus am Werke sind, die es für eine epistemologisch wohlbegründete Gesprächsanalyse zu reflektieren gilt. H. Walter Schmitz arbeitet in einer sorgfältigen Neulektüre und Analyse des berühmten Aufsatzes von Harvey Sacks, Emanuel Schegloff und Gail Jefferson mit dem Titel „A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation“ (1974), der als einer der programmatischen Grundlagentexte der ‚conversation analysis‘ zu bezeichnen ist, erstens den darin vertretenen conversation-Begriff heraus. Zweitens weist er den von Sacks, Schegloff und Jefferson vertretenen Anspruch, dass „conversation“ eine über alle Kulturgrenzen hinweg sinnvolle Kategorie sei, gestützt auf empirische Beispiele zurück. Schmitz argumentiert, drittens, dass die extrakommunikative Bestimmung von „conversation“ als Redeaustauschsystem sowohl den kulturspezifischen Ausprägungen von Kommunikationsformen als auch den Erwartungen und Zielen von Kommunikatoren fremd und äußerlich bleiben muss. Im dritten Teil, überschrieben mit Kulturelle Dialoge: Empirische Perspektiven, versammelt der Band empirische Untersuchungen dialogischer Sprachgebrauchsweisen in spezifischen (inter)kulturellen Kontexten, die zeigen, wie und wo Kulturalität von den Kommunikationsteilnehmern selbst inszeniert und metakommunikativ thematisiert wird (cf. Hinnenkamp 2009: 190) - bis hin zur ästhetischen Stilisierung in Medien und Kunst (vgl. Hess-Lüttich 2003b). Dabei werden verschiedene Kommunikationsmodi und -bereiche in den Blick genommen. Auch der Gebrauch einer vordergründig kulturelle und sprachliche Differenzen einebnenden ‚lingua franca‘ (vgl. Danesi & Rocci 2009) und Bewältigungsstrategien interkultureller Missverständnisse bilden wiederkehrende Bezugspunkte. Die Beiträge des empirischen Themenblocks zielen somit auch darauf, die in den theoretischen Beiträgen diskutierten Konzepte und Sichtweisen auf ihre empirische Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Anne Betten präsentiert in ihrem Beitrag „Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen“ Ausschnitte aus narrativen Interviews mit Angehörigen der 2. Generation deutschsprachiger Dialog und (Inter-)Kulturalität: Einleitung 17 Emigranten in Israel. Die Analysen machen deutlich, wie Interkulturalität hier auf verschiedenen Ebenen zum Tragen kommt, die nicht nur die spezielle Gesprächskonstellation des Interviews auf der Sach- und Beziehungsebene, sondern auch die Identitätsentwürfe der Interviewten umfassen. Die in den Interviews zu beobachtenden vielfältigen Formen und Funktionen des Code- Switching werden so als Wechsel zwischen verschiedenen Epochen, Sinn- und Lebenswelten interpretierbar. Susanne Günthner und Qiang Zhu nehmen in ihrem Beitrag „Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich - Analysen chinesischer und deutscher Konferenzvorträge“ die in dem hochgradig internationalisierten Kommunikationsraum der Wissenschaft gleichwohl nachweisbare Kulturspezifik der kommunikativen Praktik der Vortragseröffnung in den Blick. Die zwischen Gattungsanalyse und kulturanalytischer Linguistik angesiedelte Untersuchung zeigt etwa, dass in den deutschen Eröffnungen einleitende Diskurspartikel üblich sind, die im chinesischen als Ausdruck von Nervosität gedeutet würden. Dagegen reden die chinesischen ReferentInnen sämtliche im Publikum vertretene Statusgruppen explizit an. Der Beitrag zeigt auch, dass erst die Kooperation von WissenschaftlerInnen unterschiedlicher kultureller Herkunft das in der interkulturellen Forschung virulente Problem der Nostrifizierung fremder Kulturen umgehen kann. Eva Kimminich geht in ihrem Beitrag „Dialogizität im Rap“ von Bachtins Dialogizitätskonzept aus, um vor dem Hintergrund des soziokulturellen Kontexts der Hip Hop-Kultur die appellative, rekonstruktive und konative Kraft des Rapsongs offenzulegen. Sie zeigt, wie in Rapsongs mit Hilfe von Reim und Rhythmus ein ‚third space‘ konstituiert wird, in dem sich Sprecher und Hörer ‚einfinden‘ können. In diesem Raum wird die Glaubwürdigkeit der Äußerungen anhand von externen und internen Fokalisierungssubjekten hergestellt und verhandelt. Eine besondere Rolle spielen dabei Fokalisierungsvorgänge, die auf eine persönliche sinnliche Wahrnehmung zurückgeführt werden. Sie dienen dem Beweis der ‚here-and-nowness‘ des fokalisierenden Subjekts in der ‚textual actual world‘. Der ‚third space‘ des Rap erweist sich insofern nicht nur als eine mentale Konstruktion, sondern auch als ein Handlungsspielraum. Helga Kotthoff und Daniel Stehle diskutieren in ihrem Beitrag „‚Wasch labersch du? ‘ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy“ ein überaus erfolgreiches youtube- Video des Schauspielers Tedros Teclebrhan, in dem der Hypertypus des bildungsfernen, jungen und männlichen Migranten gezeichnet wird. Die Analyse zeigt, wie in dem Video kulturelle Wissensbestände auf eine Weise relevant gesetzt und evaluiert werden, die sich wegen ihrer gezielten Überzeichnungsverfahren als „overdoing culture“ beschreiben lässt. Die Analyse u. a. der Nutzerkommentare zu dem Video gibt zudem Aufschluss über die Rezeption und Bewertung solcher transkultureller Comedy. Heinz L. Kretzenbacher stellt in seinem Beitrag „Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen“ die Ergebnisse einer quantitativen Erhebung zum Anrede- und Vorstellungsverhalten in der hochgradig internationalisierten Wissenschaftskommunikation vor. Dabei zeigen sich nicht nur nationale Unterschiede innerhalb der beiden plurizentrischen Sprachen Deutsch und Englisch, sondern bei den deutschsprachigen InformantInnen Daniel H. Rellstab, Simon Meier, Gesine L. Schiewer 18 auch deutliche Unterschiede in ihrem deutschen und englischen Vorstellungsverhalten. Die Kommentare der Befragten machen zudem deutlich, wie gerade dieser Bereich der akademischen Kommunikation von den Beteiligten als Ort der Inszenierung und auch Problematisierung von Kulturalität erfahren wird. Daniel Rellstab illustriert in seinem Beitrag „Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen“ anhand einer um konversationsanalytische Instrumente erweiterten Kategorisierungsanalyse, wie Lehrperson und Schülerinnen und Schüler die Kategorisierung ‚Kind mit Migrationshintergrund‘ im als interkulturell gerahmten ‚Deutsch als Fremdspracheunterricht‘ interaktiv bearbeiten. Seine Analyse weist nach, dass weder ein problematisches Kulturverständnis noch überkommene Gendervorstellungen aus Lehrmitteln und Klassenzimmer verschwunden sind. Gleichzeitig führt sie vor Augen, dass auch im transnationalen Klassenzimmer ‚interkulturelle Kompetenz‘ und eine reflexive Haltung bezüglich kultureller Vielfalt nicht einfach dadurch entsteht, dass Kinder mit unterschiedlichen Migrationshintergründen gemeinsam unterrichtet werden. Ingo H. Warnke zeigt in seinem Beitrag „Abkehr vom Dialog. Selbstsegregation im urbanen Sprachraum Berlins“, dass die in vielen empirischen Untersuchungen zu interkultureller Kommunikation unterstellte Bereitschaft zum Dialog keineswegs grundsätzlich angenommen werden kann. Seine Analyse von Beschriftungen urbaner Oberflächen im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg macht deutlich, dass hier vielmehr Tendenzen der Selbstsegregation zu beobachten sind, die monologisch konstituierte Orte der sprachlichen Gleichgerichtetheit hervorbringen. Weit entfernt von ausgelassenen Multikulturalitätskontexten entstehen so Kommunikationsräume, die sich einem Bemühen um dialogisch-interkulturellen Austausch gezielt verweigern. Die Publikation des vorliegenden Bandes wurde ermöglicht durch großzügige Druckkostenzuschüsse der UniBern Forschungsstiftung und der Burgergemeinde Bern. Michael Stolz und Elke Hentschel (Bern) haben das Publikationsvorhaben und die Fördergesuche unterstützt. Maria Fritzsche (Berlin) hat bei der Einrichtung der Grafiken geholfen. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Der vorliegende Band ist angeregt durch die Arbeiten von Ernest W. B. Hess-Lüttich, der das Thema „Dialog und (Inter-)Kultulturalität“ in seinem ganzen Facettenreichtum ausgeleuchtet hat und dabei vor vermeintlichen Fachgrenzen nie Halt gemacht hat. Ihm ist dieser Band gewidmet. Literatur Auer, Peter 1999: Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern, Tübingen: Niemeyer Barron, Anne 2003: Acquisition in Interlanguage Pragmatics. How to Do Things with Words in a Study Abroad Context, Amsterdam: Benjamins Benwell, Bethan & Elisabeth Stokoe 2006: Discourse and Identity, Edinburgh: Edinburgh University Press Blum-Kulka, Shoshana / House, Juliane / Kasper, Gabriele 1989: Cross-Cultural Pragmatics: Requests and Apologies, Norwood: Ablex Dialog und (Inter-)Kulturalität: Einleitung 19 Broszinksy-Schwabe, Edith 2011: Interkulturelle Kommunikation. 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Nach einer kurzen Bemerkungen zu meinem konzeptionellen Vorverständnis interkultureller Kommunikation werde ich den Begriff des impliziten Wissens anhand eines Systematisierungsvorschlages klären, um dann anschließend zu plausibilisieren, warum ein solcher Begriff eine geeignete Formulierungsmöglichkeit für Probleme einer mit kultureller Differenz befassten Kommunikationsforschung darstellt und damit zur Behebung einiger Einseitigkeiten beitragen kann. Unter „interkultureller Kommunikation“ verstehe ich zunächst eine Praxis der Handlungskoordination über kulturelle Sinngrenzen hinweg. Sprachliche Kommunikation fällt exemplarisch unter diese Kategorie; nicht alle Formen der Handlungskoordination jedoch sind über den Gebrauch von Sprachzeichen gesteuert. Im Fall interkultureller Kommunikation dürfte es sich mittlerweile nicht nur um einen ubiquitären Vollzugsmodus multikultureller Gesellschaften und einer im Kontakt mit fremden kulturellen Lebensformen außerhalb der eigenen Gesellschaft zu beobachtenden Kommunikationspraxis handeln, sondern zugleich um einen Indikator kultureller Differenzierung, die sich jenseits interpersonaler Kommunikation als anonymer Transformationsprozess vollzieht. Die sich im Kontext einer solchen Differenzierung einstellenden reflexiven Haltungen gegenüber den normativ-kulturellen Grundlagen sozialer Praktiken, die sich zu Differenz- und Alteritätsdiskursen verdichten und als spezifisch modernes „Kontingenzbewusstsein“ die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften prägen, machen zugleich deutlich, inwiefern Praktiken der Koordination des Handelns nicht nur von den Fähigkeiten der Perspektivenübernahme abhängen, sondern auch von Geltungsfragen, denen im Hinblick auf die Voraussetzungen von Anerkennung oder Toleranz gegenüber fremden kulturellen Praktiken im Kontext der jeweiligen epistemologischen und theoretischen Vorentscheidungen freilich ein recht heterogener Status zukommt. Allenthalben genannte Dissensquellen wie Kopftuch und Moscheebau, Mohammed-Karikaturen oder die Beschneidung von Säuglingen und Knaben deuten nämlich an, dass diesbezügliche Positionen nicht allein durch ein Mehr oder Weniger an interkultureller Kompetenz Jens Loenhoff 26 bestimmt werden, sondern durch normative Diskurse, deren Legitimationsressourcen sich bekanntlich nicht im gut Gemeinten erschöpfen. Angesichts dieser diffusen und uneinheitlichen Begriffslage ist eine weitere gegenstandstheoretische Vorbemerkung angezeigt. Die Rede von interkultureller Kommunikation ist nur trennscharf, wenn sie voraussetzt, dass Akteure die im Kontext ihrer sozialen Praktiken gemachten Kontrasterfahrungen auf kulturelle Differenz zurückführen oder auf das, was sie dafür halten, zumal die vielfältigen Erwartungsenttäuschungen schließlich auch Unterschieden in Alter, Geschlecht, Bildung, Lebensstil etc. zugeschrieben werden können. Ohne eine solche Bestimmung bleibt der Gegenstandsbezug des Terminus „Interkulturelle Kommunikation“ einigermaßen unklar. Damit ist zugleich angedeutet, dass die Zurechnung auf kulturelle Differenz selbst eine kultur- und kontextspezifische Zuschreibung ist, insofern die Schwelle dessen, was als das kulturell Fremde erfahren wird, in verschiedenen Gesellschaften oder Handlungskontexten bekanntlich unterschiedlich situiert ist. Kommen wir aber zunächst zum Begriff des impliziten Wissens. 2 Zum Begriff des impliziten Wissens Wissen, so jedenfalls der breite Konsens innerhalb der Humanwissenschaften, gilt als Schlüsselbegriff menschlicher Praxis. Was man tut, scheint auf einem Wissen zu beruhen, und wer etwas kann, verfügt offenbar über ein Wissen, das demjenigen, dessen Handeln scheitert, wenigstens zum Zeitpunkt seines Handelns unzugänglich ist. Unser abendländischer Wissensbegriff hat dabei seit der griechischen Antike einen notorisch epistemischen Charakter. Als Wissen gilt nämlich nicht irgendeine Eingebung oder ungeprüfte Behauptung, sondern nur eine gesicherte, methodisch gewonnene und darüber hinaus kommunizierbare Erkenntnis. Zu diesem epistemischen Begriff des Wissens will freilich nicht passen, dass wir auch dort auf erfolgreiche Praktiken stoßen, wo ein solches gesichertes und kritisierbares Wissen nicht so recht identifizierbar ist. Unbestreitbar zeigen selbst im Reich subhumaner Natur zahllose Organismen eine Vielfalt von Verhaltensformen, die ihre Existenz sichern, ohne dabei in unserem Sinn über ein Wissen zu verfügen. Offenbar ist Wissen also „ein Gradphänomen zwischen der Untergrenze des technischen Könnens und der Obergrenze des epistemisch-deklarativen Erklären- und Begründen-Könnens, das wir normalerweise ‚Wissenschaft‘ nennen“ (Knobloch 2012: 198). Trotz der starken Aufladung des Wissensbegriffs mit der Vision wissenschaftlich gesicherten Wissens ist der Verdacht, dass ein solches propositionales Wissen nicht alles umfasst, was wir den menschlichen Fertigkeiten und Vermögen zurechnen, im Prinzip so alt, wie der Wissensbegriff selbst. So fordert die sich bereits von der platonischen Philosophie absetzende Nikomachische Ethik des Aristoteles von einem Handeln, das tugendhaft sein will, nicht die Kenntnis von Regeln und die Beherrschung formaler Verfahren, sondern vielmehr ein auf die Spezifik der jeweiligen Situation abgestimmtes Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens 27 „Gespür“ für das angemessene Handeln. Aristoteles nennt diesen Schlüsselbegriff seiner Ethik („phrónesis“), der als „prudentia“ ins Lateinische übertragen wurde und letztendlich so viel bedeutet wie ein taktvoller Umgang miteinander, eine für die Staatskunst notwendige praktische Klugkeit, schließlich auch eine angemessene Deutung eingelebter Praktiken (cf. Günther 1988: 216ff.). In diesem aristotelischen Kontextualismus, der dem späteren Formalismus Kants und dessen Regelkonzept diametral entgegen steht, benennt der Begriff der ein gleichsam prä-epistemisches Problem, das der praktischen Philosophie zu Grunde liegt und als eine Art Selektionsprinzip den Prozess des Abwägens hinsichtlich der kontingenten Momente der Situation auf den Begriff bringen soll. Die mit einer solchen verbundene Frage nach der Klugheit des Handelns und dessen Voraussetzungen hat Gadamer (1960: 261) in seiner Interpretation des Begriffs in die Forderung nach der Angemessenheit des Verstehens transformiert und dies zunächst auf das historische Verstehen bezogen. Dies kommt besonders prägnant in seiner Bemerkung zum Ausdruck, in Wahrheit gehöre die Geschichte nicht uns, sondern wir gehörten ihr, weil wir noch vor jeder Reflexion immer schon in diese Geschichte verstrickt seien. Selbst wenn Gadamer zu seiner Zeit die Sicherheit des Überlieferungsgeschehens noch ungeniert unterstellen mochte, lässt sich die Relevanz und die Aktualität des hier angesprochenen Problems für den Begriff des impliziten Wissens bereits deutlich erkennen. Auch Autoren wie Heidegger, dessen Fundamentalontologie bekanntlich keinen geringen Einfluss auf die Philosophie Gadamers hatte, oder Merleau-Ponty, dessen Phänomenologie der Wahrnehmung die leibliche Verankerung der Akteure in der Welt hervorhebt, artikulieren ebenso eine Skepsis bezüglich des Primats expliziten Wissens wie der Pragmatismus Deweys oder Wittgensteins Begriff des Sprachspiels, dessen Verschränkung mit der Praxis einer Lebensform die Quelle primordialer Gewissheit bildet. Andere Ansätze wie etwa die Wissenssoziologie Mannheims (1980), die die Bedeutung vorreflexiver Weltverhältnisse im Kontext eines geteilten Erfahrungsraumes erschließt, oder die von Ryle (1949) vor dem Hintergrund antidualistischer Motive entwickelte Unterscheidung von knowing how und knowing that, schließlich Polanyis Schlüsseltext Tacit Knowledge (1966) und vor allem Bourdieus (1980) prominenter Begriff des „habitus“ und des „sens pratique“ stimmen trotz ihrer Verankerung in heterogenen Traditionen darin überein, dass Welt- und Selbstverhältnisse primär praktische, leibliche, sensomotorisch fundierte, emotionale und existentielle Verhältnisse sind, die erst sekundär mental prägnante, reflexive und begriffliche Formen annehmen. Ihr gemeinsames Credo ist ein Anticartesianismus und ein Antimentalismus, der darauf besteht, dass wir längst schon handeln, bevor wir nachdenken, dass wir die Welt erst einmal unreflektiert erfahren und dass wir nicht mit Skepsis, sondern mit praktischen Gewissheiten beginnen. Und es sind diese Gewissheiten und die durch sie gestützten sozialen Praktiken, die unsere kulturellen Lebensformen und die ihnen zugehörenden Sprachspiele zusammenhalten und reproduzieren. 1 1 Zur Rekonstruktion der genannten Autoren hinsichtlich ihres Beitrages zu einer Theorie Jens Loenhoff 28 Unter „implizitem Wissen“ - so könnte eine erste Formulierung lauten - sollen diejenigen Fertigkeiten und Fähigkeiten verstanden werden, die es uns ermöglichen, an dieser primären und vorreflexiven Sozialität teilzuhaben und sie zu reproduzieren. Ich werde im Folgenden einige Merkmale impliziten Wissens spezifizieren, an denen seine Relevanz für das Verständnis und die Analyse kultureller Differenzerfahrungen in den Blick kommen dürfte. 3 Merkmale impliziten Wissens Implizites Wissen ist im Gegensatz zu explizitem Wissen fundamental, weil es propositionalem Wissen zu Grunde liegt und zu seinen Voraussetzungen gehört. Es wird nicht durch Besuche in Bibliotheken und dem Nachschlagen in Fachbüchern erworben, sondern in primären und direkten Umgangserfahrungen mit anderen Akteuren. Diese fundamentalpragmatische These vom Vorrang impliziten Wissens bedeutet, dass explizite Überzeugungen stets auf einen Hintergrund implizit bleibender praktischer Fertigkeiten angewiesen sind. Zu wissen, was der Fall ist, erwächst aus der Fähigkeit, sich an Praktiken zu beteiligen, und das heißt: zu wissen, wie etwas zu tun ist. Gegenüber diesen vorbegrifflichen, in sozialer Praxis erworbenen Primärerfahrungen haben die reflexiven Einstellungen einen epiphänomenalen Status. Etwas zum Thema machen, erwägen, erklären oder wissenschaftlich zu durchdringen setzt immer schon die Fähigkeiten der Akteure zu adäquaten Situationsdefinitionen und zu elementaren kommunikativen Praktiken voraus. Unser primärer Zugang zur Welt erfolgt im Modus der „Zuhandenheit“ (Heidegger 1986: 66ff.) und hat den Charakter eines praktischen Könnens. Er liegt jenseits bewusster Zwecksetzung, denn noch bevor wir überhaupt Pläne haben, Ziele definieren oder den Einsatz von Mitteln erwägen, sind wir bereits in diese Welt verstrickt. In diesem Sinne meint „Verstehen“ nicht die kontemplative oder reflektierende Einsicht in Sachzusammenhänge oder Motive von Personen, sondern die Fähigkeit zum praktischen Handeln im Sinne eines „Sichauf-etwas-Verstehens“. Struktur, Anschließbarkeit und Verständlichkeit sozialen Handelns verdankten sich nämlich nicht kognitiv manifesten Überzeugungen, der Komplementarität von Interessen und Werten oder eines diskursiv erzielten Konsenses über Geltungsansprüche, weil wir uns längst vorher schon in immer bereits erschlossenen lebensweltlichen Sinnhorizonten bewegen. Die vorintentionale und vorprädikative Einbettung von Akteuren in eine intersubjektive soziale Praxis stützt sich folglich nicht auf explizites Wissen und bestimmte Einstellungen hinsichtlich ihrer Wahrheitsansprüche, sondern auf präreflexive praktische Gewissheiten, die sich als Tiefenschicht unhinterfragter lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten als das bestimmen lassen, was hier „implizites Wissen“ heißen soll. 2 impliziten Wissens cf. Loenhoff (2012c). 2 Cf. dazu vor allem Wittgensteins Überlegungen in Über Gewißheit (1984b) und Heideggers Analyse der innerweltlichen Erschlossenheit des Daseins in Sein und Zeit (1986). Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens 29 Mit dieser Nichtexplizitheit eng zusammen hängt der Befund, dass implizites Wissen inkorporiert ist, insofern es als eine Form des Wissens sprachlich oder sprachanalog nicht dargestellt werden kann. Noch bevor Akteure über Sprache und Begriffe verfügen, sind sie schon längst leiblich, das heißt wahrnehmend und sich bewegend, in der Welt verankert. 3 Und sie sind es auch beim Sprechen als einem sensomotorischen Vollzug. Orientierung im Raum, Eigenbewegung, Abstand zu Dingen und Personen, Ausdrucksdeutung, Geschmack oder Körperschema lassen erkennen, was man sich unter einer inkorporierten und habitualisierten Urteilskraft vorzustellen hat. Selbst wenn der Erwerb einer solchen ästhetischen Urteilskraft durch sprachliche Ausdrücke gestützt und strukturiert wird, ist die dazu notwendig sprachliche Kreativität selbst auf implizites Wissen als ihre ermöglichende Bedingung angewiesen. Wenn man sich die expressiven, multimodalen und multisensorischen Dimensionen eines lebendigen Gesprächs vor Augen führt, dürfte schnell klar werden, inwiefern die kommunikative Kompetenz einschließlich der Sprachkompetenz ein leibliches praktisches Können darstellt. Insofern nicht nur der hantierende Umgang, sondern auch das kommunikative Handeln durch implizites Wissen gestützt ist, sind Explikationen auch nicht per se mit den Akten der Versprachlichung identisch. Implizites Wissen ist holistisch, weil die Praktiken, die es ermöglicht, keine singulären und isolierbaren Praktiken sind. Vielmehr sind sie untrennbar mit anderen und weiteren Handlungszusammenhängen verwoben, denen Verweisungshorizonte entsprechen, die aufgrund ihrer Ganzheitlichkeit nicht repräsentierbar bzw. infolge der Totalität dieser Sinnhorizonte nur selektiv thematisierbar sind. 4 Mit dem Prädikat „holistisch“ ist mithin die Kritik an bedeutungs- und wahrheitstheoretischen Positionen verbunden, die glauben, dass sich elementare Einheiten oder abgrenzbare Zustände angeben lassen, die als Wissen auftreten könnten, ohne in einem verzweigten Verweisungszusammenhang mit anderem Wissen und anderen Praktiken zu stehen. Wenn einzelne Handlungen und einzelne Akte der Prädikation nur vor dem Hintergrund von sozialen Praktiken und ihrer Verschränkung mit einer kulturellen Lebensform verstanden werden können, dann wird klar, dass der stets hochselektiven Thematisierung und dem daraus resultierenden expliziten Wissen keine primäre Funktion für die situierte Koordination des Handelns zukommen kann. Nur ein Wissen, das sich einer erschöpfenden Explikation entzieht, kann eine solche pragmatische Funktion überhaupt erfüllen (cf. Renn 2006: 261). Gerade in Bezug auf Sprache und Kommunikation ist ein 3 Merleau-Ponty (1945: 168) hat dies in umfangreichen Studien am alltäglichen Wahrnehmen und Handeln gezeigt und treffend auf die folgende Formulierung gebracht: „Il s’agit d’un savoir qui est dans les mains, qui ne se livre qu’à l’effort corporel et ne peut se traduire par une désignation objective.“ 4 Heidegger (1986: 76) hatte programmatisch ein solches „In-der-Welt-sein“ als das „unthematische, umsichtige Aufgehen in den für die Zuhandenheit des Zeugganzen konstitutiven Verweisungen“ begriffen. Zu den bedeutungstheoretischen Konsequenzen cf. Dreyfus (1980). Inwiefern sich die §§ 31-33 von Sein und Zeit (1927) als eine Theorie impliziten Wissens interpretieren lassen, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht (cf. Loenhoff 2012b). Jens Loenhoff 30 solcher Holismus und die sich auf ihn berufende Kritik an repräsentationistischen und elementaristischen Bedeutungstheorien überzeugend. 5 Von hier aus dürfte auch klar werden, warum implizites Wissen notwendig ein kollektives Wissen ist. Es ist im Kern ein sozial geteiltes Wissen, weil es selbst Ergebnis bereits gelungener Handlungskoordination und damit der Koproduktion der Akteure ist. Dass ein im kommunikativen Handeln wirksames Wissens stets auch ein kollektives Wissen sein muss, wird insbesondere im Umgang der Handelnden mit der Indexikalität der Kommunikationssituation deutlich, die der ganzen semantischen Streubreite symbolischer Äußerungen und den damit verwobenen konnotativen Verweisungen ausgesetzt ist, durch die die kommunikativen Anschlüsse organisiert werden. Anders formuliert: wäre dieses Wissen nicht aus den kontextspezifischen Formen der Verhaltensabstimmung hervorgegangen, dann wäre es für die Koordination des Handelns auch nicht funktional. Aus diesem Grund ist das den eigenen Umgang mit Sprachzeichen stützende implizite Wissen in fremden kulturellen Lebensformen nicht oder nur unzureichend selektiv. Die Akteure wissen nicht, als was sie die Äußerungen zu nehmen haben, weil sie alles Mögliche bedeuten können. Explizites Wissen muss demgegenüber nicht kollektiv geteilt sein, weil die praktische Intersubjektivität des Handelns und Sprechens von ihm nicht abhängt. Jeder, der eine Sprache spricht, ohne die jeweiligen grammatischen Regeln angeben zu können, kann dies wissen. Wenn also Sprecher und Hörer eine „semantische Zugewinngemeinschaft“ (Feilke 1996: 102f.) bilden und sich der Handlungssinn einer Ko-Autorschaft verdankt, wird auch schnell deutlich, dass ein Wissen um diesen Sinn nur in der direkten Interaktion und durch Teilnahme an kulturellen Praktiken und ihren Sprachspielen erworben werden kann. Dass mit dieser Perspektive zugleich auch verengte Modelle individueller Wissensträgerschaft verabschiedet werden und einer Kritik an einem epistemischen Individualismus und kognitivistischen Internalismus Nachdruck verliehen wird, der behauptet, selbstreflexive Subjekte seien als autonome epistemische Akteure „Träger“ eines bzw. ihres Wissens, dürfte in diesem Zusammenhang ebenfalls deutlich werden. 6 Dies übersehen auch die im Diskurs über implizites Wissen zirkulierenden Verweise auf Praktiken des Radfahrens, Schwimmens, Geige- 5 Die von Malinowski (1966) längst schon vor Wittgenstein entwickelte Idee der Gebrauchsbedeutung und die damit verbundene Kritik einer Abbildtheorie der Sprache verdankt sich einer solchen Einsicht in die holistische Struktur der Bedeutung, die Malinowski interessanterweise gerade bei Übersetzungsproblemen auf den Trobriand-Inseln nachgerade am eigenen Leibe erfahren musse. Weil er für einzelne Worte in der indigenen Sprache Kilivila keine auch nur annähernd passenden Ausdrücke im Englischen fand und es Lexika austronesischer Sprachen noch nicht gab, beschrieb er zunächst sehr sorgfältig den ganzen nichtsprachlichen Kontext des Sprachgebrauchs. Die Idee, Bedeutung ginge ganz in einer Praxis auf und Sprechen sei eine Form des Handelns im Gewebe zahlreicher Verweisungen auf weiteres Handeln und Sprechen, verdankt sich hier einer Kontrasterfahrung, die in der eigenen vertrauten Sprache vermutlich nicht ohne Weiteres möglich gewesen wäre. 6 Zum Potential externalistischer Positionen in der Sozialtheorie und der Theorie impliziten Wissens cf. etwa Schützeichel (2012). Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens 31 spielens etc., weil sie zwar ein nichtartikulierbares, transdiskursives Können verdeutlichen, aber den entscheidenden Punkt verpassen, dass nämlich das kulturspezifische Hintergrundwissen ein kollektives Wissen ist. Rad fahren im Straßenverkehr, ein Mannschaftsspiel spielen oder gemeinsam musizieren sind mithin die sachadäquateren Analogien. Implizites Wissen geht nicht in körperlichen Fertigkeiten oder präreflexiven Deutungskompetenzen auf, sondern umfasst vor allem das, was Bourdieu (1980: 46) „sens du jeu social“ genannt hat. 7 In engem Zusammenhang mit seinem kollektiven Charakter steht schließlich auch die normative Struktur des impliziten Wissens. Normative Orientierungen von Akteuren und die damit verbundene Fähigkeit, sich im je kontextspezifischen Angemessenheitsspektrum des Handeln zu bewegen und dies auch von anderen zu erwarten, setzen keine reflexive Haltung im engeren Sinne oder gar die Prüfung von Geltungsansprüchen voraus. Die die Alltagskommunikation begleitenden Formulierungen „Das macht man so.“, „Es gehört sich nicht.“ etc. beziehen ihre soziale Geltung ja gerade nicht aus Diskursen, sondern aus eingelebten und positiv sanktionierten Praktiken, deren Vollzug keiner expliziten Rechtfertigung oder Problematisierung bedürfen, sehr wohl aber sozial geteilter und unausgesprochener Kriterien für ihre angemessene Durchführung. Sanktionen, an denen sich die implizite Normativität verrät, bedürfen keiner ausdrücklichen Stellungnahme zu Handlungen oder Sprechakten. Eine „zurückweisende Folgehandlung“ reicht aus, um das Scheitern einer Handlung und um eine Erwartung als eine Erwartung auffällig werden zu lassen (cf. Renn 2006: 287). Deshalb besteht ein Unterschied zwischen einer Regelhaftigkeit im Sinne einer Reaktionsgleichheit oder statistischen Regelmäßigkeit und einer durch implizite Normativität strukturierten Regelkonformität. 8 Implizite Normativität, deren Funktion in der Sicherung der Anschlussfähigkeit des Handelns liegt, wird weniger am Problem der treffsicheren Erwartung eines Verhaltens deutlich, als an der Erwartung von Erwartungen, und es ist das Verpassen dieser Erwartungserwartungen, das einen großen Teil interkultureller Kommunikationskonflikte ausmacht. 9 Mit andere Worten: wer sich in einer fremden kulturellen Lebensform ange- 7 Zu diesem zunächst auf Wittgenstein zurückgehenden Postulat cf. insbesondere Collins (2010, 2012). 8 Besonders deutlich wird dieses grundsätzliche Problem innerhalb der mit kultureller Differenz befassten Ratgeberliteratur sowie im Bereich der interkulturellen Trainings, aber auch im Kontext maschineller Übersetzung, denn die dazu entwickelten Algorithmen können nur mit Regelmäßigkeit umgehen, nicht aber mit den situativ hochgradig flexibel zu handhabenden stillschweigenden Kriterien der Regelanwendung, selbst wenn manche Informatiker das damit verbundene Regressproblem als eine Frage von Rechenkapazitäten missverstehen. 9 Dass und inwiefern die jeweils auf die kommunikativen Praktiken bezogenen disparaten Inhalte impliziten Wissen innerhalb von Asylverfahren wirksam werden, in denen stillschweigende Kriterien für die praktizierten kommunikativen und rhetorischen Verfahren etwa der Erzeugung von Kohärenz und Glaubwürdigkeit aufeinander treffen, zeigt eine Studie von Blommaert (2001). Zur Relevanz und Wirksamkeit entsprechender Differenzen in Gerichtsverhandlungen cf. Hess-Lüttich (2008). Jens Loenhoff 32 messen äußern, entschuldigen oder rechtfertigen kann, wer situationsgerecht gratulieren, kondolieren und dafür den passenden Zeitpunkt zu wählen in der Lage ist, hat das dazu notwendige implizite Wissen erworben. Wenn implizites Wissen eine Form des Wissens ist und zugleich als Merkmal allen Wissens seine Fehlbarkeit angenommen wird, dann ist auch das implizite Wissen rationalitätsfähig. 10 Die Provokation, praktisches Können als eine Wissensform zu bezeichnen, hat vor allem damit zu tun, dass das Gelingen und Misslingen von sozialen Praktiken von der Qualität impliziten Wissens kaum entkoppelt werden kann. Deshalb lässt sich das Scheitern von Praktiken mit guten Gründen als Wirkungslosigkeit impliziten Wissens und als dessen Rationalitätsdefizit interpretieren. Aus diesem Befund ergibt sich schließlich auch der Hauptunterschied zwischen der Rationalität des impliziten und der des expliziten Wissens. Die Rationalität expliziten Wissens unterliegt nämlich vollkommen anderen Geltungskriterien, weil sie sich unter Bezug auf artikulierbare und ggf. formale Standards und gemäß den Spielregeln öffentlicher Rationalitätsdiskurse rechtfertigen lassen muss. Implizites Wissen ist innerhalb kultureller Lebensformen in dem Maße rational, in dem es deren Angehörigen ermöglicht, Praktiken so zu vollziehen, dass sie die gewünschten Effekte haben. 11 Innerhalb komplexer Gesellschaften ist implizites Wissen über die genannten Merkmale hinaus schließlich auch differenziert, weil es entlang sozialer und kultureller Milieus ungleich verteilt ist. Moderne Gesellschaften sind nicht nur funktional, sondern auch kulturell differenziert. Sie gehören längst schon nicht mehr zu denjenigen sozialen Systemen, in denen Handlungslogiken nur schichtspezifischen Kriterien gefolgt sind und Sozialisationsprozesse im Prinzip noch sicherzustellen vermochten, dass jeder der ist, der er sein soll. Bemerkbar macht sich die in allen modernen und insbesondere multikulturellen Gesellschaften zu beobachtende Differenzierung impliziten Wissens vor allem als Schwund geteilter Selbstverständlichkeiten und Hintergrundannahmen. Eine ihrer Folgen für die praktische Handlungskoordination besteht in der zunehmenden Kontingenz einer zwanglosen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen. So fällt die Differenzierung impliziten Wissens durch Regelverstöße auf der performativen Ebene auf, z. B. in Form nichtidentischer Situationsdefinitionen, unterschiedlicher Zurechnungspraktiken oder divergierender Angemessenheitsstandards. 12 10 Die These von der Rationalitätsfähigkeit impliziten Wissens wird insbesondere von Renn (2012, 2013) im Kontext seiner Studien zur pragmatistischen Gesellschaftstheorie vertreten. 11 Auch aus diesem Grund bildet der Begriff des impliziten Wissens ein Korrektiv gegenüber entfesselten Konstruktivismen, deren epistemologische Attraktivität aufgrund ihrer notorischen Probleme mit der Widerständigkeit der Welt, dem Scheitern sozialer Praktiken und den ungelösten Fragen der Geltungsrechtfertigung in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten sind und die Suche nach einer postkonstruktivistischen Perspektive angestoßen haben (cf. z. B. Vogel/ Wingert 2003, Renn/ Ernst/ Isenböck 2012). 12 Hier wäre im Zusammenhang mit der vor allem von Stichweh (1997, 2005) diskutierten Genese von Fremdheit durch die Anonymisierungseffekte der Funktionssysteme zu klä- Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens 33 4 Implizites Wissen in interkultureller Kommunikation Eine über alle kulturellen Grenzen hinweg geteilte Überzeugung besteht offenbar darin, dass man über eine andere kulturelle Lebensform etwas wissen muss, um deren Angehörige verstehen und selbst an ihren Sprachspielen teilnehmen zu können. Für die Bestimmung kultureller Differenz und der Koordination des Handelns über die Grenzen kultureller Lebensformen hinweg sind diese Grenzen jedoch nicht primär als Differenz expliziten Wissens zu begreifen, sondern als die eines nichtidentischen impliziten Wissens und praktischen Könnens, das die spezifischen Formen der Interaktion und Kommunikation zwar koordiniert, die Anschlussfähigkeit sozialer Praktiken über die Grenzen dieser Lebensformen hinaus aber keineswegs oder nur fallweise sichert. Innerhalb moderner, nur noch partiell normativ integrierter Gesellschaften sind solche Grenzen nicht nur einer funktionalen, sondern vor allem einer kulturellen Differenzierung geschuldet. Die Hoffnung auf Abarbeitung der damit einhergehenden Rechtfertigungspraxen, die je nach epistemologischen oder gesellschaftspolitischen Vorlieben kulturelle Grenzen transzendieren oder aber jede Dekontextualisierung verweigern, ruht dann auf vielfältigen Anerkennungsdiskursen, die die jeweiligen Geltungsansprüche hinsichtlich der Wahrheit und Wahrhaftigkeit kultureller Selbstexplikationen erläutern sollen. Doch geht es wie z. B. in der Beschneidungsfrage im Grunde weniger um religiöse, hygienische oder strafrechtliche Detailfragen, sondern um den Eingriff in die von unhinterfragten Vorverständnissen getragenen Praktiken kultureller Milieus, die um die Aufzehrung der Ressourcen ihrer verbindlichen Selbstverhältnisse fürchten, solange keine anderen in Sicht sind. Zugleich offenbaren derartige Fälle die Nichtidentität von sprachlicher Übersetzung und interkultureller Verständigung, da es sich weniger um Missverständnisse oder falsche Übersetzungen handelt, sondern um nichtkompatible Sprachspiele innerhalb heterogener kultureller Lebensformen. Zweifellos können komplexe Gesellschaften einen Teil dieser Dissensquellen partiell einhegen, weil funktionsspezifisch formatierte Kommunikationsprozesse mit ihren Steuerungsmedien Geld oder Macht die Integration kultureller Milieus von anderen Modi gesellschaftlicher Integration entkoppeln. Eine durch die Analyse impliziten Wissens informierte Differenzierungstheorie kann aber ebenso deutlich machen, inwiefern vertragstheoretisch inspirierte Integrationsmodelle, die nach der Konvergenz von Interessen oder der Idee des Marktes gedacht sind, analytisch in dem Maße scheitern müssen, wie die im Interkulturalitätsdiskurs mitunter geforderte pauschale Anerkennung jedweder Praktiken kultureller Milieus aufgrund ihrer normativen Gehaltlosigkeit nicht auf Dauer gestellt werden kann. Dies zeigt sich u. a. auch an spezifischen Äußerungskonflikten, die innerhalb pluralistischer und demokratischer Gesellschaften Gegenstand öffentlicher Debatten werden. Sie treten in Gestalt eines manifesten Dissenses über ren, ob damit die von der kulturellen Differenzierung ausgehenden Effekte hinreichend mitbestimmt sind. Jens Loenhoff 34 die Frage in Erscheinung, was über bestimmte Gruppen gesagt, geschrieben, gezeichnet oder auf andere Weise symbolisch geäußert werden darf. Beispiele etwa wären die in den 1990er Jahren plakatierte Benetton-Werbung oder das bekannte Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“, schließlich die Mohammed-Karikaturen, mit denen libertäre Äußerungsregime aus der Sicht Betroffener über die Grenzen einzelner Gesellschaften hinaus in die Kritik geraten. Einerseits soll das Grundrecht auf Äußerungsfreiheit im Interesse einer zukunftsoffenen Gesellschaftsentwicklung unangetastet bleiben, andererseits bestehen kulturelle und religiöse Gruppen auf der Abwehr von Angriffen auf die ihre Identitäten verbürgenden Semantiken, weil diesen eine milieustabilisierende und folglich zu schützende Funktion zuerkannt wird. 13 Indessen macht die Suche nach verbindlichen Standards semantischer Verantwortung insbesondere in der Kommunikation zwischen Personen und Gruppen, die keine kulturellen Identitäten teilen (cf. Niesen 2002: 239), die Behandlung von Äußerungskonflikten vor allem deshalb problematisch, weil eine Grenzziehung durch ein institutionalisiertes Äußerungsregime die Explikation impliziter normativer Standards voraussetzen würde, was in einen infiniten Regress münden muss, weil diese selbst dem Problem einer nichtexplizierbaren Angemessenheitsrationalität nicht entkommt. 14 Im Gegensatz zu reflexiv anspruchsvollen Diskursen, die kulturelle Werte, Identitäten oder Glaubensformen verhandeln, ist demgegenüber das Verhältnis von Eigenem und Fremden vor seiner Thematisierung pragmatisch ziemlich uneindeutig. Kontrasterfahrungen auf der performativen Ebene und fallweise auftretende Differenzen stoßen nämlich die Explikationen und Vergewisserungspraxen erst an, denen schließlich die Vergegenständlichungen und manifesten Bilder des Fremden und des Eigenen in Gestalt deutlich konturierter Selbstbeschreibungen oder stereotyper Heimat- und Zugehörigkeitskonzepte erwachsen. 15 Gewissheiten und stillschweigende Übereinstimmungen fungieren als unthematische Ressourcen gesellschaftlicher Kooperation, die sich erst dann in resonanzfähige Themen verwandeln, wenn die routinierten Handlungsvollzüge nicht mehr störungsfrei vollzogen werden können. Die für alle grenzüberschreitenden Begegungen notwendige situative Kreativität und ergebnisoffene Kommunikation wird gerade durch den Rückgriff auf Explikationen im Stile von „Kulturstandards“ und der aus diesen subsumtionslogisch gewonnenen Zuschreibungen behindert, weil die Akteure der mit solchen Zuschreibungen verbundenen Suggestion einer gelungenen Verstehensleistung erliegen, die sie praktisch erst noch zu erbringen hätten. Hier eröffnet sich ein weites Feld empirischer Forschung, die zunächst in „kalten“ Begriffen 13 Siehe dazu vor allem die Überlegungen und Fallanalysen von Niesen (2002). 14 Solche und zahlreiche andere Fälle (Fahnenverbrennungen, Holocaustleugnung, Äußerungen über Genozide etc.) zeigen nicht nur, dass und inwiefern eine vorreflexiv antizipierte Übersetzbarkeit fremder Äußerungen unter Rechtfertigungsdruck gerät, die Regeln der Äußerungsverwendung als geteilt unterstellt, sondern auch die bemerkenswerte Kulturspezifik der Äußerungsregime selbst (cf. Niesen 2002: 239f.). 15 Zur Genese solcher Konzepte aus einem Prozess der Explikation und der Rückversicherung der von Kontingenz bedrohten Praktiken cf. auch Loenhoff (2013). Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens 35 (Gehlen), also ohne die Vernebelung durch Kooperations- oder Machtmetaphern, eine sorgfältige Deskription praktischer Intersubjektivität und der Suche der Akteure nach pragmatisch belastbaren Gegenstandsbezügen zu erbringen hätte. Insofern bildet das implizite Wissen den Hintergrund sowohl der Differenzerfahrungen als auch der ihnen folgenden Selbsttransformation sozialer Praktiken. Wenn praktische Vollzüge zum Thema gemacht werden, dann bleiben diese Explikationen natürlich nicht ohne Rückwirkungen auf die durch Auslegung thematisch gewordenen Praktiken. Eine gängige und unsere Kommunikation stets begleitende Form des Explizitmachens betrifft etwa die inferentiellen Bedeutungen, z. B. mit der Frage „Wie meinst Du das? “ / „Was soll das heißen? “ etc. 16 Diese Rückversicherungspraxis endet scheinbar erst bei der lexikographischen Semantik und markiert das Kontinuum von der „Ursuppe“ alltäglichen Sprechens bis zur „letzten Instanz“ linguistischer Modellbildung. 17 Dass diese Modelle, obgleich sie aus der Sprachpraxis gewonnen sind, die komplexe Kommunikation praktisch nicht anleiten können, liegt darin begründet, dass sich mit der notwendig selektiven Transformation impliziten Wissens zu Formen expliziten Wissen die Praktiken der Bezugnahme auf die Gegenstände und damit auch die Bezugsgegenstände selbst ändern. Der Vollzug des Handelns vor einem Hintergrund unbefragter Selbstverständlichkeiten wird daher auch nicht in der Artikulation und der Thematisierung dieses Handelns abgebildet, sondern in einen vollkommen anderen Bezugsgegenstand verwandelt. Gesellschaftspolitische oder wissenschaftliche Diskurse über kulturelle Differenz sagen deshalb zunächst nur etwas über die selektiven Praktiken der Bezugnahme aus, nicht aber über die durch implizites Wissen gestützte performative Dichte einer Praxis, deren primäre Gewissheiten nicht durch propositionales Wissen der Diskursteilnehmer bestimmt werden. Damit soll die Funktion von Explikationen natürlich nicht abgewertet, sondern zunächst ihre Selektivität und Kontingenz gegenüber dem stets holistischen und auf praktische Wirksamkeit verpflichteten impliziten Wissen hervorgehoben und zu einem realistischeren Blick auf die vom Vertrauen in die handlungsleitende Potenz expliziter Regelformulierungen genährte Hoffnung auf ein Gelingen der Handlungskoordination verholfen werden. 18 Sicher jedenfalls ist, dass die Akteure selbst ihrem Handeln keine entsprechenden Modelle zugrunde legen und sie noch viel weniger als mentale Repräsentationen zu begreifen sind, weil solche Modelle nicht zu leisten vermögen, was ihnen die auf Unschärfen und flexible Handhabung angewiesene praktische 16 Zum Verhältnis von Explikation und extrakommunikativer Betrachtungsweise von Kommunikationsmitteln cf. Loenhoff/ Schmitz (2012). 17 Zu dieser Formulierung und der damit verbundenen Gegenstandskonstitution der Linguistik cf. Knobloch (2003). 18 Ein Blick in das kürzlich bei Sage erschienene Handbook of Intercultural Competence (Deardorff 2009), das in einem Delirium der Tabellen, Flussdiagramme und Ablaufschemata versinkt, von denen die Autoren selbst überhaupt nicht sagen können, welche Außenvalidität und welchen epistemischen Status diese Schemata eigentlich haben, bestätigt einmal mehr die Notwendigkeit entsprechender Korrekturen. Jens Loenhoff 36 Logik ermöglicht - auch und gerade weil das Handeln durch seine Explikation einen Sinn erhält, der eben alles andere als praktisch ist. 5 Schlussfolgerungen Was folgt aus nun diesen Überlegungen für die mit kultureller Differenz befasste Kommunikationsforschung? Die in epistemologischen Diskursen verhandelten Standardkonzeptionen des Wissens werden vor allem durch Bezugnahme auf propositionales Wissens dominiert. Dies gilt selbst noch für prominente Positionen innerhalb der zeitgenössischen Wissenssoziologie, deren Verweise auf ein potentiell explizierbares Gebrauchs- und Gewohnheitswissen die Funktion kollektiven impliziten Wissens im praktischen Handeln nur unzureichend erfasst. 19 Im Kontext pragmatistisch inspirierter Analysen zeigt sich demgegenüber, inwiefern implizites Wissen als Ressource für die kreative und flexible Situationsbewältigung fungiert. Aus einer solchen Perspektive gehen kulturelle Differenzerfahrungen und die damit verbundenen Kontrasterlebnisse nicht auf Unterschiede in den Beständen expliziten Wissens, sondern vor allem auf disparate Gehalte impliziten Wissens zurück, die in den zu Routinen gewordenen Praktiken und inkorporierten Deutungskompetenzen wirksam werden. Deshalb bietet die Rekonstruktion der Funktion impliziten Wissens für Kommunikation und Handlung im Kontext kultureller Differenz Gelegenheit zur Korrektur einiger Verzerrungen, die sich im wenig theoriefreundlichen Milieu interkultureller Kommunikationsforschung eingestellt haben. Zunächst widerspricht der hier zur Diskussion gestellte Begriff impliziten Wissens der Suggestion, es läge schon wissensförmig vor, was nur noch nicht die Form propositionaler Sätze hätte und lediglich durch Akte der Explikation sprachlich artikuliert und kommuniziert werden müsse. Wäre dies so, könnte man tatsächlich vollständig auf landeskundliche Benimm-Bücher vertrauen. Entgegen seiner schwachen Version, die dies zulässt, widerspricht ein starker Begriff impliziten Wissens der These, beliebige Inhalte impliziten Wissens könnten durch Thematisierung in explizites Wissen überführt werden, um auf diesem Wege das Handeln mit praktischen Gewissheiten zu versorgen und so den Erwerb kultureller Kompetenzen zu sichern. Vielmehr ist darauf zu bestehen, dass ein implizites Wissen grundsätzlich nicht „bedeutungsäquivalent“ expliziert werden kann. Zwischen explizitem und implizitem Wissen besteht kein Abbildungs- und Repräsentationsverhältnis, weil mit der Veränderung der Form des Wissens durch seine Explikation eine unhintergehbare Differenz ihrer Geltungsmodi einhergeht. Wenn man etwa in einem „Kultur-Knigge“ liest, im Lande x würde dreimal täglich y praktiziert, indem Handlung z ausgeführt wird, mag das eine wahrheitsfähige Behauptung sein. Die erfolgreiche Teilnahme an dieser Praxis, die voraussetzt, dass man den Vollzug von y als eine Realisierung von z unter 19 Zur Bestimmung der Probleme, die insbesondere im Kontext einer phänomenologisch inspirierten Soziologie bei der Gewinnung eines Begriffs impliziten Wissens auftreten, cf. Loenhoff (2012a). Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens 37 anderen, ebenfalls akzeptablen Realisierungsmöglichkeiten überhaupt identifizieren kann, ist damit keineswegs gesichert. Denn „[...] die ‚angemessene‘ Umsetzung expliziter (rationaler) Regeln in konkreten Handlungssituationen [kommt] ohne den Durchgang durch implizite Regelanwendungskompetenzen“ (Renn 2013: 17), über die man eben nicht oder noch nicht verfügt, unmöglich aus. 20 Dies hat vor allem damit zu tun, dass kulturelle Normen hinsichtlich der Fälle, in denen sie gelten, unbestimmt sind. Ihr Gehalt liegt gerade nicht in ihrer expliziten Formulierung, sondern in der unscharfen Gesamtheit inferentiell angemessener Folgerungen aus solchen Formulierungen (cf. Renn 2012: 17). Das Prädikat „angemessen“ signalisiert dabei die unhintergehbare Rückbindung an die Indexikalität der Situation, in der erst die Frage beantwortet werden kann, was es überhaupt heißt, hier und jetzt einer Regel zu folgen, ihr nicht zu folgen, sie flexibel auszulegen, abzuändern etc. 21 Die analytische Reichweite eines Begriffs impliziten Wissens kann zudem einsichtig machen, warum die Angehörigen kultureller Lebensformen zwar aufgrund ihres impliziten Wissens über ein praktisches Können verfügen, das Außenstehenden fehlt, dass sie deshalb aber noch längst nicht in der Lage sein müssen, ein propositionales Wissen über diese Praktiken in Form gehaltvoller Sätze formulieren zu können. Sie unter Verweis auf eine Explikationskompetenz als Experten für ihre Kultur zu adressieren führt folglich ebenso in die Irre, wie die Erwartung an einen Muttersprachler, er möge den indogermanischen Kasus erklären. In dieser Hinsicht können sich Akteure über ihr diesbezügliches Verhältnis zu ihrer eigenen kulturellen Lebensform durchaus täuschen. Weil implizites Wissen die Handelnden mit einem Sinn versorgt, der nicht intentional vorliegen bzw. der nicht subjektiv gemeint sein muss, um performativ wirksam zu sein, ist es keineswegs ausgemacht, ob sie anderen bei ihrem Bemühen, die ihnen fremden Praktiken zu verstehen, erfolgreich zur Hand gehen können. 22 Auf Fragen, wie es sei, ein Angehöriger der 20 Die Einsicht in die inferentielle Unbestimmtheit der Regelanwendung, die darin gründet, dass Regeln ihre Anwendung nicht determinieren können, ohne in einen infiniten Regress zu geraten, hatte bereits Wittgenstein (1984a) deutlich gemacht. Cf. dazu auch die Rekonstruktion von Kripke (1982). 21 Vor diesem Hintergrund kann ein Begriff impliziten Wissens und das Bewusstsein von der Nichtidentität der Logik der Modelle und der Logik der Praxis z. B. dazu beitragen, die fehlgehende Umsetzung oder unvorhergesehene Transformation von Regeln, Leitlinien, Diversity-Programmen oder Maßnahmen der Entwicklungshilfe zu analysieren. Einem ähnlichen Missverständnis unterliegt die omnipräsente Rede vom „Kulturtransfer“. 22 Dies aber behaupten mentalistische, intentionalistische und rationalistische Theorien des Handelns, die diesem unterstellen, es sei stets an Absichten, Zwecken und Mitteln orientiert, verlaufe gemäß vorher entworfener Pläne und orientiere sich an den jederzeit identifizierbaren und artikulierbaren Verkehrsregeln des Sozialen. Bourdieu hat diese Position eines dem juristischen Regelverständnis unterliegenden Vorurteils treffend zurückgewiesen: „[…] l’interrogation savante l’incline à prendre sur sa propre pratique un point de vue qui n’est plus celui de l’action sans être celui de la science, l’incitant à engager dans les explications qu’il propose de sa pratique une théorie de la pratique qui Jens Loenhoff 38 Kultur x oder dem Milieu y zu sein und wie man sich dort zurechtfände, reagieren die meisten Personen denn auch eher hilflos und nicht selten mit den gesellschaftlich zirkulationsfähigen, performativ aber nichtssagenden Selbststereotypisierungen. Dies ist im Übrigen auch einer der Gründe, warum sich Forderungen nach Selbstexplikation, wie sie z. T. an Migrantengruppen gerichtet werden, zu stereotypen Fehldeutungen aufschaukeln können, um das Ziel der Herstellung von Transparenz und wechselseitiger Verständigung systematisch zu verfehlen. 23 Auch dieser Befund macht die Defizite eines Internalismus und eines individualistischen Wissensbegriffs deutlich, der beobachtbare Fertigkeiten oder Unvermögen als Bestände richtigen oder falschen expliziten Wissens zuschreibt, obgleich es sich um ein praktisches Können handelt, das von kollektiv geborgten Gewissheiten zehrt. Dass internalistische Erklärungen und die ihr folgende Psychologisierung sozialer Praktiken diese Dimension kultureller Lebensformen nicht einholen können, weil die Quellen einer solchen Gewissheit stets gemeinsame und geteilte Praktiken sind, kann man aus dem antimentalistisch gesinnten Begriff impliziten Wissens mindestens lernen. Kulturelle Differenz als performatives Scheitern und als Intransparenz der Bedeutung von Praktiken lässt sich folglich nicht als mangelnder Zugang zu propositional verfügbaren Informationen über kulturelle Lebensformen, sondern als Insuffizienz impliziten Wissens begreifen. Es zeigt sich in Krisen, Brüchen und Differenzerfahrungen, übrigens nicht nur in unseren Weltsondern auch in unseren Selbstverhältnissen, die gleichermaßen von eingeschliffenen Gewohnheiten getragen werden, sich selbst auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen und zu beurteilen. Lebenskrisen, Altern oder Formen körperlicher Versehrtheit zeigen dies ebenso wie z. B. ungeklärte bikulturelle Identitäten oder der Wandel sexueller Orientierungen. Solche, auf die Nichtidentität impliziten Wissens zurückgehenden Kontrasterfahrungen können in der Tat a posteriori durch rationale Diskurse reflexiv gemacht, performativ aber nicht umgangen werden, weil sie diesen Diskursen, deren Explikationen im Gegensatz zum Gelingen praktischer Handlungen vollkommen heterogene Geltungskriterien entsprechen, notwendig vorausgehen. 24 Deshalb muss das intellektualistisch formulierte Problem, wie man überhaupt fremde kulturelle Praktiken verstehen kann, als pragmatisches Problem der Teilnahme an solchen Praktiken reformuliert werden. Denn nur die interaktive Teilnahme und die damit verbundene praktische Intersubjektivität ermöglicht die Teilhabe am kollektiven impliziten Wissen und an der inferentiellen Semantik einer Lebensform und ihrer Sprachspiele. Dass Gewissheiten epistemisch unzugänglich bleiben, weil sie nicht in letzte Geltung überführt werden können, vient au-devant du légalisme juridique, éthique ou grammatical auquel incline la situation d’observateur.“ (Bourdieu 1980: 152) 23 Zu einer solchen, in Prozesse der „desperaten Vergemeinschaftung“ mündenden Spirale cf. Renn (2007). 24 Welche Konsequenzen dies für Translationsprozesse hat, denen im Hinblick auf die Bearbeitung von kultureller Differenz eine kaum zu unterschätzende Rolle zukommt, zeigt die Studie von Heller (2013). Kulturelle Differenz, interkulturelle Kommunikation und die Funktion impliziten Wissens 39 mag das Handeln fallweise beruhigen. Im Kontext kultureller Differenz bleibt diese Unzugänglichkeit eine Quelle der Beunruhigung, der unter den Bedingungen komplexer Gesellschaften zwangsläufig gesellschaftliche Transformationsprozesse folgen, zu denen die Veränderung kommunikativer Praktiken allemal gehören wird. 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Erkenntnistheoretische Kontroversen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 23-54 Wittgenstein, Ludwig 1984a: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Wittgenstein, Ludwig 1984b: Über Gewißheit, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a.M: Suhrkamp Helmut Richter Helmut Richter † Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? * Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? Fast alle glauben wir zu wissen, dass die Sophistik (‚Weisheitslehre‘) im Griechenland des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts die trickreiche Kunst war, alles und von allem das Gegenteil zu beweisen, während wir in der etwa gleichzeitigen Maieutik (‚Hebammenkunst‘) eine diskrete nichtdirektive Technik sehen, eine Person zu veranlassen, ihr latentes Wissen ans Licht treten zu lassen. Trotz dieses Gegensatzes weisen die Künste oder Techniken der Sophistik und Maieutik gemeinsame Züge auf: Beide sind sie dialogischer Natur, auf Frage und Antwort konzentriert, scheinen auf Argumentation und Änderung der wissensmäßigen Situation eines Adressaten auszugehen. Nicht zu vergessen: Als Erfinder und Meister der Maieutik, seiner, der ‚Sokratischen Methode‘, wurde Sokrates (470-399 v.Chr.) von maßgeblichen Athener Mitbürgern als Sophist angesehen, und diese Wahrnehmung scheint dazu beigetragen zu haben, dass er als Verführer der Jugend und Götterleugner angeklagt und hingerichtet wurde. So bedarf es der Klärung, was Sophistik und Maieutik wirklich unterscheidet und was sie trotzdem gemeinsam haben. Ich will den Versuch einer solchen Klärung mit dem Ziel, ein gemeinsames gesprächsorganisatorisches Interesse nachzuweisen, unternehmen, indem ich die antiken Techniken unter Gesichtspunkten der modernen Gesprächsanalyse untersuche. Leider scheint man, was die Philosophiegeschichtsschreibung betrifft, aus dieser nicht allzu viel über die relevanten konzeptionellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede lernen zu können. Eine Forschergruppe an der Universität Bonn 1 musste das vor einigen Jahren zur Kenntnis nehmen, als sie das Projekt über maieutische Dialoge vorbereitete, auf dessen Ergebnisse ich mich im gegenwärtigen Text beziehen werde. Doch wir sollten uns einige historische Tatsachen und die Quellenlage vor Augen führen. * [ Editorische Notiz: Helmut Richter hatte diesen Aufsatz für eine eventuelle Festschrift für E. W. B. Hess-Lüttich vorgesehen, verstarb jedoch, noch bevor man sich gegen ein solches Projekt entschieden und statt dessen zu Beiträgen für den vorliegenden Band eingeladen hatte. Brigitte Richter und mir, die wir davon wussten, war es ein Anliegen, den Text seinem ursprünglichen Zweck entsprechend E. W. B. Hess-Lüttich zu widmen und ihn nun in diesem thematisch passenden Rahmen publiziert zu sehen; die Herausgeber haben uns darin bestärkt und dankenswerterweise unterstützt. Helmut Richters abgeschlossene Textfassung habe ich für die Publikation durchgesehen und ergänzt um ein Literaturverzeichnis, um die vergessene Regel R3 und um zwei von ihm vorgesehene Abbildungen, die früheren Publikationen zu diesem Themenkomplex (Richter 1991; 1997) entnommen werden konnten. - H. Walter Schmitz, Universität Duisburg-Essen.] 1 Neben Gerold Ungeheuer und mir als Projektleitern gehörten als Mitarbeiter Michael Böttner, Jürgen Goetze, Michael Hanke und Olga Zoller zu der Gruppe. Helmut Richter 44 1 Historischer Hintergrund; Platons Dialoge als Quellen Man bringt die Sophistik wohl auf einen richtigen und nicht von vornherein abwertenden Nenner, wenn man als ihr Thema die Relativität des Wissens herausstellt. Anders als in der älteren griechischen Philosophie richtete sich philosophische Reflexion im Zusammenhang mit der Entwicklung der Demokratie in der Polis zunehmend statt auf die Natur auf die Gesellschaft - eine Gesellschaft, in der Meinungskonkurrenz bestand, Konflikte ausgetragen wurden, keiner die Wahrheit „gepachtet hatte“. Hand in Hand mit dieser inhaltlichen Orientierung ging eine technische: der Versuch, wenn schon nicht auf der Evidenz feststehender Wahrheiten beruhende, so doch als legitime Redezüge anzuerkennende Argumentationen zu bestimmen. Für so etwas bestand praxisbezogene Nachfrage, und so verband sich die relativistische Philosophie von vornherein mit Rhetorik, und zwar nicht allein als einer Kunst der Planung und Fertigung von Werken, sondern daneben und mit zunehmendem Gewicht auch des dialektischen Streitgesprächs aus dem Stegreif. Herumreisende Meister kamen in ganz Griechenland zu Ruhm und ansehnlichen Honoraren mit öffentlichen Demonstrationen ihrer polemischen Kunst, bei denen sie sich nicht selten anheischig machten, jedermann in sie einweihen zu können. Vor allem in Athen, der Polis mit der entwickeltsten Demokratie, war sophistische Rhetorik nachgefragt. Von den vier wohl bedeutendsten Sophisten stammte keiner aus Athen, doch drei davon wirkten dort für längere Zeit als auf der Durchreise, wobei einer, Protagoras, dem Schicksal des Sokrates nur knapp entging. Dieser Protagoras (480-410 v. Chr.) gilt neben Gorgias (ca. 485-380 v. Chr.) als Hauptvertreter der Sophistik. Bei Protagoras steht der philosophische Relativismus im Vordergrund („Der Mensch ist das Maß aller Dinge“), bei Gorgias die Rhetorik nicht nur mit ihrer argumentativen, sondern auch ihrer wirkungsästhetischen Seite; er steht früh in einer Tradition, die sich über Isokrates und Aristoteles bis zu Cicero und Quintilian fortsetzt. Doch bei beiden Gelehrten kommen in sophistiktypischer Weise auch die je anderen Orientierungen vor. Gorgias soll versucht haben, den Satz zu beweisen, dass nichts ist. Wenn nämlich etwas wäre, wäre es nicht erkennbar, und wenn es erkennbar wäre, nicht mitteilbar. Protagoras andererseits forderte von der Rhetorik, sie solle imstande sein, eine schwache Sache zur starken zu machen. Als bedeutende etwas spätere Sophisten zu nennen sind Hippias und Prodikos (beide um 400 v. Chr.). Hippias, als Redner berühmt, doch auch mathematisch und in dem beschlagen, was wir heute Naturwissenschaften nennen, arbeitete den Unterschied zwischen Natur- und menschlichem Gesetz heraus mit Parteinahme für das Natürliche, Prodikos entwickelte eine Personifikationstheorie der Götter und gab der Rhetorik einen linguistischsemantischen Akzent in Form seiner Synonymelehre. Überhaupt ist bei den Sophisten ein durchgängiges Interesse an sprachwissenschaftlichen Problemstellungen zu finden. So manche frühen Errungenschaften der griechischen Grammatik und Sprachtheorie gehen auf sie zurück. Es mag hier genügen, den Namen des Sophisten Kratylos zu nennen, Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? 45 den Platon mit einem in jeder Geschichte der Sprachwissenschaft berücksichtigten Dialog verewigt hat. Die Dialoge Platons (427-347 v. Chr.) bilden die wohl wichtigste Quelle unseres Wissens von der Sophistik und von der Philosophie des Sokrates. Sie dokumentieren zugleich mit Platons eigener Auseinandersetzung mit den Sophisten die des Sokrates, seines Lehrers. Neben Kratylos sind den Genannten Protagoras, Gorgias und Hippias je eigene Dialoge gewidmet; dazu treten andere wie der wenig bekannte „Euthydemos“, mit dem sich mein Text im Hauptteil beschäftigen wird. Auch wenn wir im Licht der historischen Fakten ein differenzierteres Bild von der Sophistik gewannen - die verkürzende Wahrnehmung als Wortverdreherei ist, wie angedeutet, bereits eine Sache der Zeitgenossen gewesen. Welche politischen Gegenkräfte eine sophistische „Aufklärung“ herausfordern musste, ergibt sich aus dem Gehalt ihrer Lehren und aus der Begründung der Sanktionen gegen ihre Verfechter wie auch gegen Sokrates (‚Asebie‘). Doch auch im philosophischen Diskurs konnte Widerspruch nicht ausbleiben; damals wie heute konnte der Relativismus nicht das letzte Wort behalten. Wenn also Sokrates die Sophistik durch Platon in einer Weise präsentiert, die häufig überzeichnet wirkt, so darf man Sokrates, den zum Tode Verurteilten, und auch den „aristokratischen“ Platon nicht einfach als Agenten der politischen Gegner der Sophistik betrachten, sondern muss sie als Teilnehmer an einem philosophischen Diskurs würdigen, dessen polemische Meta-Form von den Sophisten geprägt war. Auf einen groben Klotz gehörte bei der Relativierung des Relativismus ein grober Keil. Nicht auf die ganze Philosophie des Sokrates und Platon soll und könnte in diesem historischen Vorspann eingegangen werden, doch müssen wir im Licht der Quellenlage einen Blick auf das Maieutik-Gegenstück zur Sophistik werfen. Dass die ‚Sokratische Methode‘ in der philosophiegeschichtlichen Literatur einigermaßen unbestimmt ist, hat objektive Gründe in des Sokrates Auffassung vom Philosophieren, dessen Gehalt nicht in Traktaten niederzulegen, sondern sich im öffentlichen Diskurs lebendig zu entfalten hatte, dessen Methode vorgeführt und nicht als Rezept formuliert wurde. Auf gleicher Linie hat Platon nicht nur seine Auseinandersetzung mit den Sophisten und seinem Lehrer Sokrates, sondern auch die eigene Philosophie ganz überwiegend in Dialogform aufgezeichnet, so dass es zu den Dauerrätseln der Philosophiehistoriker gehört herauszufinden, welche - wenn überhaupt eine - von gleichermaßen argumentationsmächtigen Dialogfiguren jeweils das „Sprachrohr“ von Platons Auffassung ist. Insofern hat sich der dialektisch-demonstrative (statt: deklarative) Zug, den die Sophisten in die Philosophie gebracht hatten, erst nach Platon, mit dessen Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.), einschneidend abgeschwächt. Die besondere Note der Authentizitätsfrage beim Auftreten von Sokrates und von Sophisten als Dialogfiguren Platons besteht darin, dass man im zweiten Fall mit Karikierungen rechnen muss, von denen man nicht weiß, ob sie von Sokrates oder vom „berichtenden“ Platon stammen, im ersten Fall mit Überhöhungen oder Vereinnahmungen des Lehrers durch einen wahrlich Helmut Richter 46 eigenständigen Schüler. (Der anderen wichtigen Dokumentation der Lehrtätigkeit des Sokrates wiederum, Xenophons „Erinnerungen“, mangelt es an philosophischer Subtilität.) Trotz allem scheint der obigen globalen Charakteristik der Maieutik so viel an Allgemeinem hinzuzufügen zu sein: Sokrates kehrt den Relativismus und Wahrheitsskeptizismus vor allem gegen sich selbst bzw. den „Lehrenden“ („Ich weiß, dass ich nichts weiß“). Eben deshalb beansprucht er keine Elternschaft für Wissen, sondern kann allenfalls Geburtshilfe leisten, dabei noch lernend. Nicht selbst im Vorbesitz des vollen beim „Lernenden“ unterstellten Wissens, kann er dieses nur aktivieren, indem er den Lernenden durch Fragen auf Widersprüche hinweist, in denen sich manifestiert, dass dessen als potentiell widerspruchsfrei unterstelltes Wissen noch nicht adäquat aktiviert ist. Technisch geht das nicht anders als durch Verwickeln des Schülers in Widersprüche und rückt derart naturgemäß in die Nähe sophistischer Spitzfindigkeit. Und schließlich, die Authentizität von Platons Wiedergabe von Positionen und Aktionen der Sophisten betreffend: Mir ist zumindest ein Ansatz aus der modernen analytischen Philosophie bekannt, den Sophisten die Entdeckung des schematischen Operierens mit bloßen Zeichenformen zuzuschreiben (wofür das Interesse dieser Denker und Rhetoriker an Grammatik ja durchaus spricht), Platon aber Verständnis dafür und ein Signalisierungsmuster für die Unterscheidung zwischen in seiner Sicht legitimen und nicht-legitimen schematischen Operationen. Dort, wo er „Sprachrohre“ im Ganzen satirisch karikiert, halte Platon die sophistischen Argumentationszüge für wortverdreherisch-illegitim, wo die „Sprachrohre“ als vernünftige Menschen gezeichnet sind, lasse er die schematischen Operationen gelten. Eine Art Test ihrer Heuristik bildet für die betreffende Autorin (Sprague 1962) das Gelingen einer konsistenten Systematisierung der in den verschiedensten Dialogen demonstrierten Argumentationsweisen, die sich als schematische auffassen lassen. 2 Zwei überlappende Regelmengen: Sophistik und Maieutik Mit dem vorausgehenden Referat eines für uns scheinbar peripheren Ansatzes zur Lösung von Problemen der Platon-Interpretation sind wir ins gegenständliche Zentrum der eigenen Überlegungen gelangt: den Dialog „Euthydemos“. Dieser frühe Dialog Platons hat stark komödiantische Züge. Kennt man den „Euthydemos“, erscheint es plausibel, dass von seinem Verfasser berichtet wird, er habe sich mit dem Gedanken getragen, eine „Karriere“ als Komödienschreiber anzustreben. Das Komödiantische des Dialogs beinhaltet einerseits jene Karikaturen sophistischer Argumentation, die Sprague als Indizien dafür wertet, dass Platon sie nicht als gültig anerkennt; in der Tat gründet sie ihre Heuristik maßgeblich auf den „Euthydemos“. Andererseits, und das ist für unsere Fragestellung günstig, erzielt Platon komische Effekte dadurch, dass er seine Figuren immer wieder aus der inhaltlichen Diskussion ausbrechen und darüber streiten lässt, Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? 47 welche Züge im Gespräch zulässig sind und welche nicht. Der objektbezogene Diskurs kann sich nicht glatt entfalten, weil die Protagonisten immer wieder auf die Metaebene wechseln und die Organisation des Gesprächs anstelle seines Gegenstandes zum Objekt machen. Was ereignet sich im Dialog „Euthydemos“? Zwei Sophisten, Euthydemos und sein Bruder Dionysodoros, sind in Athen angereist und wollen vor Publikum im Wettstreit mit Sokrates ihre Kunst demonstrieren. Das Publikum besteht außer einer an den sophistischen Künsten interessierten Claque aus homoerotischen Verehrern des schönen Knaben Kleinias, darunter ein für Kleinias besonders engagierter, recht selbstbewusster junger Mann namens Ktesippos. In dem Maße, wie die Argumentation der Sophisten im Gespräch mit Sokrates und Kleinias den Ktesippos dadurch provoziert, dass die persönliche Würde seines „Lieblings“ verletzt wird, beginnt er sich mit den Sophisten anzulegen. Sokrates sekundiert ihm dabei, dies aber nicht direkt, sondern indem er seine Aufmerksamkeit auf die Technik von Euthydemos und Dionysodoros lenkt. Ktesippos sieht die Chance, vor dem Liebling Kleinias zu glänzen, wenn er sich besagte Technik zu eigen macht und die Sophisten auf ihrem eigenen Feld mit ihren eigenen Waffen schlägt. Das gelingt ihm auch, zumal Dionysodoros „patzt“. Den Sophisten ist der Sieg des Ktesippos gar nicht unlieb, denn mit ihm wurde demonstriert, dass ihre Kunst transparent und lehrbar ist. Sokrates weist sie allerdings darauf hin, dass sie sich so die Erfolgsgrundlage entziehen, verhilft ihnen abschließend aber zu dem Triumph eines Sieges über ihn selbst, was das Publikum mit stürmischer Heiterkeit quittiert. 2.1 Sophistische Regeln Ich konnte in dem Dialogtext (in der verbreiteten Schleiermacher- Übersetzung) ca. 50 Stellen identifizieren, an denen „metakommunikativ“ von den Sophisten propagierte Regeln mehr oder weniger deutlich expliziert werden oder auf den Missbrauch von Regeln verwiesen wird; die Hinweise auf Missbräuche konnten zu Stützung der anzusetzenden Regeln herangezogen werden. Zu Einzelheiten meines Vorgehens und der Belegung aus dem Text verweise ich auf Richter (1991). Die gesprächsorganisatorischen Regeln der Sophisten, wie aus den metakommunikativen Äußerungen im „Euthydemos“ abgeleitet, lassen sich in drei Komplexe - ‚limitierte Akzeptanz‘, ‚Aktualität‘ und ‚verbale Konstanz‘ - gliedern und wie folgt formulieren: I. Komplex der limitierten Akzeptanz R0: EIN SOPHIST KANN IMMER FRAGEN STELLEN. R1: EINE FRAGE MUSS IMMER BEANTWORTET WERDEN. R2: GEGENFRAGEN SIND UNZULÄSSIG. R3: ZUSÄTZE ZU ANTWORTEN SIND UNZULÄSSIG. Mit dem Ausdruck „Akzeptanz“ spiele ich auf die Terminologie G. Ungeheuers (1974) an, in der „Initiant“ den üblicherweise Sprecher, „Akzeptant“ den Helmut Richter 48 üblicherweise Hörer genannten Part bezeichnet. Der Sophist ist unlimitiert Initiant von Fragen (R0); die Möglichkeiten des Befragten, als Akzeptant auf sie einzugehen (sie zu „akzeptieren“), sind dagegen limitiert. Er muss antworten (R1) und darf nicht selbst Fragen initiieren (R2). Hieraus ergibt sich, dass zwar die Frage des Sophisten und die folgende Antwort seines Gesprächspartners ‚adjazent‘ im Sinne der Konversationsanalyse sind, nicht aber die Antwort und eine folgende Frage. Der Sophist unterliegt keinen Beschränkungen bei einer allfälligen Vorbereitung seiner Frage durch Kommentare. Wir können das Gesamtbild der limitierten Akzeptanz bei nicht-limitierter Initianz in einem sequentiellen Grundmuster der Sophistik wie folgt veranschaulichen: << ( < > s , < ) ( ,) Frage > I , < Antwort > A > i Fig. 1: Sequentielles Grundmuster der Sophistik Hier bezeichnen spitze Klammern geordnete Tupel; in runde Klammern wären fakultative Elemente in der Art von Kommentaren einzusetzen; es ist I = Initiant, A = Akzeptant, S = Sekundant. Die Sekundantenrolle reflektiert eine Besonderheit des Dialogs, in dem nicht selten der nicht-fragende Sophist seinem Bruder mit Kommentaren beispringt - wohl ein weiterer komödiantischer Einfall Platons zur satirischen Charakterisierung der Sophistik mit ihrem In-die-Zange-Nehmen des Akzeptanten - durch verdoppelnde Personifizierung nämlich des Übergewichts ihrer Initianz. II. Komplex der Aktualität R4: EINE FRAGE DARF NICHT HINTER EINE FRÜHER GEWONNENE POSITION ZURÜCKFÜHREN. R5: EINE AKTUELLE FRAGE DARF VERSTÄNDNISSICHERND WIE- DERHOLT WERDEN. R6: EINE ANTWORT DARF NUR AUF EINE AKTUELLE FRAGE EINGE- HEN. VA: ZUSÄTZE ZU ANTWORTEN BRAUCHEN NICHT ZURÜCKGE- NOMMEN ZU WERDEN. R4 und R5 betreffen den Initianten, R6 und die vermutete Regel (V) A den Akzeptanten. Der Sophist unterwirft sich dem Zwang, von aktueller Verobligatorische Frage-Antwort-Relation, notwendig adjazent Initiation, ggf. mit Sekundierung oder Eigenkommentar Akzeptation Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? 49 ständnissicherung abgesehen (R5), nichts (scheinbar) Abgegoltenes wieder aufzutischen (R4), dies aber wohl nur, damit nicht der Akzeptant auf frühere Positionen zurückgreift (R6), womöglich um (scheinbar) Gesichertes in Frage zu stellen. Der Effekt von R6, Aktualität der Antwort, scheint zentrale Bedeutung zu haben, denn er wird eigens explizit gefordert, obgleich er sich aus R1 (Antwortpflicht) mit R3 (Unzulässigkeit von Zusätzen) auch ableiten lässt. VA steht unter dem Vorbehalt, vielleicht nicht gesprächsorganisatorisch oder im Sinne Searles ‚konstitutiv‘ zu sein. Man kann die Belegformulierungen auch so verstehen, dass sophistische Gesprächsmeister sich überlegen genug fühlen, um auch mit Verstößen des Akzeptanten gegen das Aktualitätsgebot fertig zu werden. III. Komplex der verbalen Konstanz R7: DIE FORMULIERUNGEN DER FRAGEINITIATIONEN UND DER ANTWORTEN MÜSSEN WOHLGESETZT SEIN. VB: IN FRAGEN UND ANTWORTEN DARF KEIN NEBENSINN ZUM AUSDRUCK KOMMEN. MÖGLICHKEITEN DES AUSDRUCKS VON NEBENSINN IN DEN FAKULTATIVEN BESTANDTEILEN DER FRA- GEINITIATION SIND ENG BEGRENZT. Die Belegstellen für R7 machen deutlich, dass die Sophisten von sich und den Befragten eine unpathetische, von Schwulst freie und gleichzeitig doch gewählte Ausdrucksweise verlangen. Als Mitte zwischen den zu meidenden Verfehlungen rhetorischer Tugend nach oben und unten ist nur ein sachlichpräziser, sozusagen objektiver Stil denkbar, ein elaborierter Kode ohne Ornat. (Das Wort „Genauigkeit“ fällt in der Tat.) Derart darf man bei meinem beschreibenden Ausdruck „wohlgesetzt“ durchaus an den modernen sprachanalytischen Ausdruck „wohlgeformt“ und an den von Sprague den Sophisten zugeschriebenen Sinn für schematisches Operieren mit Zeichenhüllen denken. R7 würde so auf Konstanz im Sprachgebrauch durch terminologische Invarianz abzielen. „Wechsel im Ausdruck“ gehört zum Ornat und macht es unmöglich, schematische Gleichungen der Form a=a aufzustellen. Doch diese Gleichungsform wäre andererseits auch in Frage gestellt, wenn sich hinter gleichen Zeichenhüllen verschiedene Gehalte verbergen könnten. Diese Überlegung - wie übrigens auch die (im Dialog mehrfach thematisch werdende) Tatsache, dass die sophistischen Meister als Reisende nur sehr mäßig auf geteiltes Wissen bauen konnten und auf Sinzerität im Frage- Antwort-Spiel angewiesen waren - macht VB plausibel. Allerdings sind die Belegstellen offen hinsichtlich der Distribution der Sinzeritätsverpflichtung auf Initiant und Akzeptant und auf die Komponenten des sequentiellen Grundmusters. Helmut Richter 50 2.2 Maieutische Regeln Es ist nicht ohne weiteres sicher, dass auf Seiten der Maieutik ein gesprächsorganisatorisches Regelwesen unterstellt werden kann wie auf Seiten der Sophistik. Im Dialog „Euthydemos“ wird um Regeln der Sophisten gestritten. Sokrates „gibt zu Protokoll“, dass er bei diesen ein Regelwesen am Werk sieht, dem sie nicht nur die Adressaten ihrer Fragen, sondern auch sich selbst unterwerfen: Auch dies ist noch etwas recht Leutseliges und Gutmütiges in euren Reden, daß, wenn ihr nun behauptet, es sei überall gar nichts schön oder gut oder auch weiß und was irgend von der Art, oder auch, es sei überall nichts vom andern verschieden, ihr dann freilich recht ordentlich den Leuten den Mund zusammennäht, wie ihr auch selbst sagt; aber nicht nur anderer ihrem scheint ihr dies anzutun, sondern auch eurem eignen, das ist eben das Hübsche dabei und benimmt diesen Reden alles Verhaßte. (Otto et al. [eds.] 1975: „Euthydemos“, 303d) Heißt dies aber nicht gerade, dass die ‚Sokratische Methode‘ von ihrem Schöpfer regel-los verstanden wurde? Der bei aller einzurechnenden Ironie wohlwollende Tenor des Sokrates-Zitats gegenüber den regelbewussten Sophisten spricht nicht unbedingt für diese Sicht der Dinge. Und wenn sich der Sokrates des „Euthydemos“ auf das Spiel der Sophisten nicht zuletzt auch eingelassen haben mag, um sie „vorzuführen“: seine Rügen von manipulativen Gesprächszügen wirken ausgesprochen moderat im Verhältnis zum anfänglichen Protest des Ktesippos; es wäre sonst kaum sinnvoll gewesen, im Text nach Indizien für ‚Regelmissbräuche‘ zu suchen. Die Situation klärt sich, wenn man die auf einer anderen Platonschen Quelle, dem Dialog „Menon“, beruhenden Postulate zur (ergänzungsfähigen) Definition des Begriffs ‚Maieutik‘ hinzuzieht, die der Projektarbeit in Bonn zugrunde gelegt wurden. Ein Mitarbeiter des Projekts, Michael Böttner, hatte zur Gewinnung einer solchen begrifflichen Grundlage des Sokrates im „Menon“ präsentierte maieutische Hinführung eines „Knaben“ (und Sklaven) zur Findung eines mathematischen Beweises analysiert (Böttner 1982) - wohlverstanden, ohne sich auf metakommunikative Information stützen zu können. Wir brauchen lediglich anzunehmen, dass die (virtuell-dialogische? ) Existenz eines durch die Postulate definierten Objekts Maieutik bzw. die empirische Sättigung des Begriffs ‚Maieutik‘ durch (virtuell angenommene? ) Geltung und Befolgung entsprechender Regeln gewährleistet wurde, um einen Vergleich der Maieutik-Postulate mit den sophistischen Regeln riskieren zu können. Führt ein solcher Vergleich zu kompatiblen Ergebnissen, insbesondere zur Zuordenbarkeit von Elementen oder Teilen der sophistischen Regelmenge zu Elementen oder Teilen der Menge der Maieutik-Postulate, wird umgekehrt die Annahme einer Interpretierbarkeit der Postulate als Regeln gestützt. Dieser Effekt hat sich mit meiner im Nachhinein durchgeführten „Euthydemos“-Studie eingestellt, ohne dass ich ihn erwartet oder forciert hätte. Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? 51 Auch die Projektpostulate lassen sich in drei Komplexe - ‚limitierte Initianz und Akzeptanz‘, ‚Historizität‘, ‚sachgemäße Verbalisierung‘ - gruppieren: 2 I. Komplex der limitierten Initianz und Akzeptanz M1: Die Rollen Initiant und Akzeptant sind den Dialogpartnern während des ganzen Dialogs fest zugeordnet, d.h. es finden keine Initiantenwechsel statt. M2: Der Initiant stellt nur Fragen, der Akzeptant gibt Antworten auf diese Fragen bzw. er versucht, Antworten zu geben. Der Initiant hat Frageprivileg, das z. B. auch bei einem gegenfrageförmigen „Versuch“ des Akzeptanten, „eine Antwort zu geben“ (M2), nicht gebrochen wird (M1). Ist die Akzeptanz derart limitiert, so andererseits auch die Initianz. („Der Initiant stellt nur Fragen.“). Dies hat deutliche Auswirkungen auf ein sequentielles Grundmuster der Maieutik: << Frage > I , < ( ,) Antwort (, ) > A > i Fig. 2: Sequentielles Grundmuster der Maieutik Weder das Paar <Frage, folgende Antwort> noch das Paar <Antwort, folgende Frage> ist notwendig adjazent, und zwar aus Gründen des Freiraums für den Akzeptanten, der lediglich „versucht, Antworten zu geben“. II. Komplex der Historizität 2 Bei den Postulaten M1 - M7 folge ich dem Wortlaut von Böttner (1982: 20 f.). Böttners hier nicht wiedergegebene Bedingungen 3 und 6 besagten: „3. Es gibt ein Problem, dessen Lösung der Akzeptant unter Anleitung (Führung) des Initianten im Verlauf des Dialogs finden soll. Dieses Problem ist das Thema des Dialogs.“ „6. Der Akzeptant lernt im Verlauf des Dialogs.“ Sie wurden weggelassen, weil sie nicht auf die Gesprächsorganisation bezogen sind. Hinzugefügt wurden aus dem von Böttner mit vertretenen Antragstext für die Projektförderung („Maieutische Dialoge“) das besonders von G. Ungeheuer favorisierte Postulat M8 und der zu seinem Wortlaut parallele Zusatz „bzw. er versucht, Antworten zu geben“ (stützbar auch auf die Erläuterung „Ich verstehe hier ‚Antwort‘ in einem allgemeinen Sinn, der Reaktionen wie ‚ich weiß nicht‘ einschließt.“ in Böttner (1982)). obligatorische Frage-Antwort-Relation, nicht notwendig adjazent Initiation Akzeptation mit (tentativer) Antwort, ggf. auch mit Kommentaren Helmut Richter 52 M4: Es gibt eine Ausgangssituation, in der der Akzeptant die Lösung des Problems nicht hat, aber in der der Initiant die Lösung hat. M5: Es gibt eine Zielsituation, in der der Akzeptant die Lösung des Problems hat (und auch der Initiant). Die Postulate M4 und M5 dürften insofern auf eine Deontik der Gesprächsorganisation hinweisen, als sie für die herzustellenden Bedingungen der Konstitution eines Gesprächs als maieutisches transparent sind (DER INITIANT MUSS WISSENSDIFFERENZ ZUM AKZEPTANTEN BEACHTEN / DER INITIANT MUSS DIFFERENZ ZUM ZIEL BEACHTEN / ...). Ganz offensichtlich „reibt sich“ M4 am Sokratischen „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, und Gerold Ungeheuer hat sich deshalb auch mit diesem aus Platons „Menon“ gewonnenen Postulat nicht anfreunden können, das sich vielleicht durch die Postulierung abnehmender Wissensdifferenz zwischen Initiant und Akzeptant bei für beide abnehmender Differenz zum Ziel ersetzen ließe 3 . Es bleibe dahingestellt, wie realistisch eine solche Setzung wäre. Gerade die denkbare Modifikation von M4 illustriert jedoch eine zentrale Bedeutung der Gesprächsgeschichte in der Maieutik als eines Entwicklungsprozesses, dessen Etappen aufeinander aufbauen und in dem jeder einzelne Zug indexikalisch kontextualisiert ist. III. Komplex der sachgemäßen Verbalisierung M7: Der Akzeptant täuscht nicht, d.h., der Akzeptant antwortet nach dem Wissensstand, den er zum Zeitpunkt seiner Antwort hat. M8: Der Initiant versucht, in maieutischen Dialogen explizit zu argumentieren. M8 hat besonderes Gewicht im Zusammenhang mit der limitierten Initianz (M2). Man vergegenwärtige sich die erhebliche Leistung expliziten Argumentierens eingedenk der Gesprächshistorie von jemandem, der im sequentiellen Grundmuster der Maieutik nur Fragen stellen darf. 2.3 Vergleich der Regelmengen; Folgerungen Die Regelmengen von Sophistik und Maieutik sind nicht disjunkt. Die hinter M7 anzusetzende Maieutik-Regel deckt sich mit VB, soweit akzeptantenbezogen, und ließe sich auch auf den Initianten ausdehnen; hinter M1 ließen sich einzelne Regeln ansetzen, die gleich R0 und gleich R1 sind. 3 Dies wäre ein intermediärer Ansatz zwischen M4 und Böttners tentativer Konzession: „4'. Es gibt eine Ausgangssituation, in der weder der Akzeptant noch der Initiant die Lösung des Problems hat, in der aber der Initiant von jedem vorgelegten Lösungsvorschlag entscheiden kann, ob er eine Lösung ist.“ (1982: 21) An gleicher Stelle erklärt Böttner jedoch im Hinblick auf sein „Menon“-Beispiel Bedingung 4 für angemessen, wie sie auch in den Projektantrag „Maieutische Dialoge“ übernommen wurde. Zur initialen Unwissenheit des maieutischen Lehrers cf. Ungeheuer (1990). Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? 53 Auf der „höheren“ Ebene von Teilmengen entsprechen sich die beiden ersten und dritten Komplexe, in denen zum einen Gesprächsrollen bzw. Sequenzmuster, zum anderen verbale Elaboriertheit und Sinzerität festgelegt werden. Einzelheiten betreffend, beachte man hierbei die Verwandtschaft zwischen Wohlgesetztheit/ Wohlgeformtheit (R7) und Explizitheit (M8). Die einschneidende Differenz zwischen Sophistik und Maieutik besteht im Gegensatz von Aktualität dort und Historizität hier. Lässt sich auch konstatieren, dass beiden „mittleren“ Komplexen gemeinsam ist, etwas wie die Progressionsform oder genauer: den Progressionsbezug der Gespräche zu regeln, so sind die derart etablierten Progressionsbezüge einander doch diametral entgegengesetzt. Fragen wir zunächst nach den Konsequenzen, die sich aus diesen Befunden im Hinblick auf unser Vorverständnis von Sophistik und Maieutik ergeben! Die diskurstheoretische Frage nach der Bedeutung des Vorliegens zweier formal weitgehend übereinstimmender und zugleich inhaltlich weitgehend divergenter Regelsätze soll im Schlussabschnitt 3 dieses Beitrags untersucht werden. In der zentralen Rolle der Historizität des Gesprächs kommen Elemente der Philosophie von Sokrates und wahrscheinlich auch Platon zum Tragen. Der Sokrates des „Euthydemos“ setzt die Historizität des Gesprächs sophistischer Polemik entgegen, die, ziemlich wörtlich als beutemachende Kriegskunst metaphorisiert, nur ansammeln, nicht aber anwenden könne. Hiermit ist - nachweisbar im Text - die Problematik von organon und ergon, von Herstellungs- und Gebrauchswissen aufgeworfen, wie wir sie aus dem „Kratylos“ kennen. Bei Platon scheint mit der Historizität des Gesprächs das Motiv der ‚Wiedererinnerung‘ verbunden zu sein, wie es später in seiner Ideenlehre prominent wurde. Doch auch das konträre Aktualitätsgebot der Sophisten dürfte über den von den Kritikern herausgestellten manipulativen Gebrauch hinaus philosophiegeschichtlich eine nicht-triviale Bedeutung haben - als Experiment der Dekontextualisierung und Eliminierung von Indexikalität, der Ideale jeder formalen Wissenschaft. Tatsächlich hat Historizität in einem kommutativen algebraischen Ausdruck keinen Sinn, ist die Historie einer einmal etablierten Prämisse für weitere Derivationen belanglos. 3. Nicht-Direktivität und die mögliche Bedeutung der Grammatikalisierung von Diskursen In einem Handbuchartikel über Psychotherapie fand ich den Hinweis, der Athener Komödienautor Aristophanes (ca. 445-386 v. Chr.) habe in seinem Stück „Die Wolken“ dem Sokrates eine therapeutische Methode zugeschrieben, die „überraschende Ähnlichkeit“ mit dem Verfahren der Psychoanalyse aufweise (Hofstätter 1957: 254). Nun waren mir die „Wolken“ zwar als antisophistische Satire mit geradezu hetzerischen Attacken gegen den als Sophist Helmut Richter 54 schlechthin porträtierten Sokrates bekannt; dass es in der Komödie um Therapie geht, konnte ich aber nicht erinnern. Beim Nachlesen brauchte ich mich in diesem Punkte auch nicht zu korrigieren, doch wurde klar, was den rationalen Kern hinter der etwas leichtfertigen Angabe des Handbuchartikels bildet: Die Sokratische Methode als philosophische beinhaltet in der Karikierung durch Aristophanes das freie Assoziieren bei zeitweiser kognitiver Blockierung des Schülers: Sokrates: [...] nimm deine Sinne / Zusammen, haarscharf denk der Sache nach, / Recht kritisch, logisch und exakt! / [...] Und verwirrt dich ein Gedanke, / Dann laß ihn fahren! Später lenkst du wieder / Den Geist darauf und wiegst ihn hin und her. / [...] Sokrates: Dreh nicht so eingeschrumpft dich um dich selbst, / Laß die Gedanken in die Lüfte fliegen, / Wie Maienkäfer, an dem Fuß den Faden! / (Aristophanes o.J.: 95f.) Wie die Reaktionen des Schülers zeigen, ist dabei auch etwas involviert wie ein Aha-Erlebnis im Sinne der Berliner Gestaltpsychologie: Unmittelbar nach beiden Zitatstücken wartet der Schüler mit einer „perfekten“ Lösung des - im ersten Fall von ihm selbst, im zweiten Fall von Sokrates gestellten - Problems ohne jede Derivation auf, bezeichnenderweise beim ersten Mal nach einem „Ha, bester Sokrates! “. Ein drittes Problem wird vom Schüler ohne methodische Belehrung als „lump’ge Kleinigkeit“ angegangen - mit freilich so enttäuschendem Ergebnis, dass Sokrates auf weiteren Unterricht verzichtet. Die Szene aus den „Wolken“ kommt mir ungeachtet des verzerrenden Kontextes, der die Interpretation als Rüge eines Mangels intellektueller Disziplin nahelegt, sehr authentisch vor - soll ich sagen: wegen des Ineinanderfließens sophistischer und maieutischer Züge? Sophistisch ist die zeitweise Dispensierung der Historizität, die Aufforderung, sich assoziativer Aktualität hinzugeben. Sokratisch-maieutisch ist ein Bezug zur Aporie: Wenn der Widerspruch konkret-psychologisch keine unaufhebbare Blockade bedeuten soll, muss Gelassenheit, Entspannung jenes Neuarrangement der Gedanken ermöglichen, das eine konfliktträchtige Negation in erweiterter Historizität negiert. Natürlich setzt unser neu gewonnener Aspekt die aus den Platonschen Quellen gewonnenen Aufschlüsse nicht außer Kraft. Dass in diesen als philosophischen Texten auf psychologische Mechanismen kaum eingegangen wird, nimmt nicht wunder, und ich glaube soeben gezeigt zu haben, wie sich die philosophischen Gehalte mit den konkret-psychologischen zusammenreimen. Von ihren therapieartigen Aspekten ausgehend, möchte ich es riskieren, als einen gemeinsamen Zug von Sophistik-Maieutik Nicht-Direktivität zu behaupten. Um zunächst wieder einen Blick auf die Sophistik im engeren Sinne zu werfen: Sie ist sicher manipulativ gewesen, doch nicht dogmatisch oder direktiv-indoktrinierend. Im Gegenteil: Die zu so früher Stunde der Philosophiegeschichte unerhört schockierende Demonstration der Möglichkeit, alles in Frage zu stellen, ist die antidogmatische und antidirektive Demonstration Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? 55 schlechthin. Zumindest der Fiktion nach war der von einem Sophisten Befragte ein mündiger, der Überzeugung fähiger, freilich bedürftiger Widerpart; der empörte Ktesippos im „Euthydemos“ findet es besonders schlimm, dass die Sophisten nicht einfach Lügen verkünden, sondern sie als Produkte autonomer Erkenntnis der Objekte ihrer Kunst hinzustellen verstehen (cf. Richter 1991: 96-98). Wieder droht die Grenze zur Maieutik zu verschwimmen, denn auch der Hebammenkünstler zeigt Effekte seines Handwerks als Produkte autonomer Erkenntnis vor. Was garantiert, dass es keine „Lügen“ sind? Um die Modifikation des Sokrates der Gefährdung durch diese Frage zu entziehen, wird Ethik beschworen, die ja als Inhalt seines Philosophierens eine große Rolle spielt. Was aber ist Ethik in der Rhetorik der griechischen Antike? Bei dem der hohen Zeit von Maieutik und Sophistik nicht allzu fernstehenden Aristoteles jedenfalls ist ‚Rednerethos‘ (cf. Wörner 1984) téchne - Handwerk, Technik, Kunst (cf. Wörner 1990). Greifen wir nun das nächstliegende technische Moment aus den erarbeiteten Regelkomplexen heraus, Historizität, so stellt dieses gewiss auch eine technisch-praktische Barriere gegen die manipulative Nutzung des sophistischen Aktualitätsgebots derart, dass banal auf Vergesslichkeit spekuliert wird, dar, gewinnt philosophische Wirkungsmacht aber erst durch seine Verbindung mit der Platonschen, jetzt dürfen wir endlich sagen: platonischen - Wiedererinnerung (‚Anamnesis‘), was heißt Wiedererinnerung der Ideen als nicht eben diskursgezeugten Erkenntnisvoraussetzungen. 4 Auf das technischmoralische Korrektiv einer Hintanstellung eigener Erkenntnis („Ich weiß, dass ich nichts weiß“) mag sich der historische Sokrates verpflichtet haben, doch wie die Diskussion des Maieutikpostulats M4 zeigt, ließ sich seine Praktizierung aus Platons „Menon“ nicht herausanalysieren. Rückbindung der Gesprächshistorie an Ideen schließt Nicht-Direktivität nicht aus oder, in säkularisiert-praxisbezogener Redeweise: Deutungen vermeidende Bezugnahme auf vorauszusetzende biographierelevante Dispositionen des Patienten kann eine nicht-direktive Therapie in die Nähe der Maieutik versetzen. Es geht dann freilich weniger um Wissensfindung. Diese maieutisch zu befördern kann, wie unsere Empirie ‚maieutikartiger‘ Hochschulkommunikation zeigte, von heutigen Studierenden als „klippschülerhafte“ Entmündigung empfunden werden, als Vorenthalten von Information, deren Besitz erst die Entfaltung des eigenen Potentials zur Wirklichkeitsverarbeitung zu ermöglichen scheint. Anders verhält es sich demgegenüber wohl bei Beeinträchtigungen eben des Potentials zur Wirklichkeitsverarbeitung. Dieses von der biographisch-historischen Entstellung zu befreien ist wohl vor 4 Der von Böttner herangezogene Dialog „Menon“ gilt als grundlegend für Platons Ideenlehre. Doch schon in früheren Dialogen kündigt sich diese an, so auch - mit leicht kokett wirkender Markierung als Diskussionsbeitrag eines Anonymus - im „Euthydemos“ (cf. Richter 1991: Anmerkungen 7 und 9 zu S. 102-105). Natürlich ist Wiedererinnerung nicht bloß durch Retrospektive auf ideenferne-faktische Vorzustände, sondern auch als Vorwegnahme der Kongruenz von Idee und Faktizität gekennzeichnet. Helmut Richter 56 allem eine Eigenleistung des Patienten, vor dessen historischer Individualität der Therapeut wohl immer ein „unwissender Sokrates“ bleiben muss. Um in Bezug auf Sophistik und Maieutik von einer Verbindung zwischen Ethik und Technik reden zu können, hätte es nicht unbedingt des Verweises auf das Aristotelessche Rednerethos bedurft. Sie ist mit den aufgewiesenen Regelmengen schon gegeben; es wäre lohnend, im einzelnen der Frage nachzugehen, inwieweit die Systematik des Aristoteles - viel umfassender und auch bei weitem nicht ausschließlich in der Form von Regeln daherkommend - sie voraussetzt. Technizität von Regeln der Gesprächsorganisation ist gleichsam analytisch, steht für mich außer Frage. Dass unsere Regeln ethische Implikationen haben, scheint mir nun engstens mit der Nicht-Direktivität des Handelns zusammenzuhängen, für das die Regeln den Rahmen aufspannen. Abschließend also die These: Es ist die Grammatikalisierung des Diskurses, die in der Sophistik-Maieutik Regeln von solcher Art beinhaltet, dass nichtdirektives Handeln möglich erschien. Unter Grammatikalisierung sei eine alternative Formalisierung von kommunikativen Verhaltenszügen verstanden. Dass dies mit deontischen Positionen einhergeht, 5 kann nach allen vorgetragenen Befunden für Sophistik und Maieutik als gegeben angesehen werden. Formalisierung bedeute dabei Unabhängigkeit von Themen, so wie Grammatik als syntaktische Kodifizierung von Nationalsprachen auf die eine oder andere Art gegenüber der Semantik verselbständigt ist. 6 Keine der von uns betrachteten Regelmengen legt ein Thema oder einen Gesprächsinhalt fest - notwendige, allerdings nicht hinreichende Bedingung für Nicht-Direktivität des so geregelten Handelns. Zur hinreichenden Bedingung eines bestimmten Ethos wird die Grammatikalisierung erst durch Festlegung von Organisationsprinzipien, in der, wenn man so will, paradoxen Kompensation der inhaltlichen Beliebigkeit durch formale Limitation: Rollenverteilung, Progressionsbezug und sprachliche Varietät in unserem Fall, mit freilich erheblichem Verallgemeinerungspotential. Alternativität der Formalisierung bedeute, dass deren Art und Weise offen ist für die Realisierung von alternativen Festlegungen 7 in je gleichen Rahmen, so wie die Kodifizierung von Nationalsprachen einerseits nach außen, wenn man sie als Festlegung auf alternative Werte universaler oder typologischer Parameter beschreibt, und andererseits nach innen, da eine Sprache kompositionelle Alternativen zur satzförmigen Vermittlung von Äußerungsbedeutun- 5 Diese Verbindung fasst mein Begriff des ‚Limitationsnetzes‘ zusammen (cf. z. B. Richter/ Richter 1982). 6 Sei es in der bekannten Form einer zentralen Komponente von Chomsky-Grammatiken, sei es als selbständiges Relat für die Fundierung von Semantik bei Lieb (cf. z. B. Lieb 1992), sei es als analytische Operationen ermöglichende ‚surplus-structure‘ oberhalb einer immanenten logischen-semantischen Protosyntax nach Richter (1996). 7 Solche Alternativität ist nach Lewis (1975) grundlegend für Konventionen, die mehr darstellen als bloße Bräuche oder Gewohnheiten, sondern mit deontischer Geltung verbindbar sind. Sophistik und Maieutik - Ansätze zur Grammatikalisierung von Diskursen? 57 gen zur Verfügung stellt. Die zweite Parallele lässt sich in unseren Befunden nicht direkt nachvollziehen, ist freilich denkbar. 8 Die erste Parallele hat sich im philosophiegeschichtlichen Diskurs der Antike verwirklicht: Im Lichte des im Abschnitt 2.3 durchgeführten Vergleichs erscheinen Sophistik und Maieutik als unterschiedliche „Parametrisierungen“ eines umfassenderen Diskurstyps. Der metakommunikative Disput im „Euthydemos“ lässt sich förmlich als Austestung der Werte jener Parameter lesen, die den Diskurstyp konstituieren. Motiviert war dessen Konstruktion von einer Ethik des Nicht-Direktiven. Wie viel ideologische Selbsttäuschung damit verbunden war, wie viel Scharlatanerie zum Zweck einer vorschnell für Aufklärung gehaltenen bloßen „Verunsicherung“, wie sehr sich erkenntnistheoretische Problematisierungen in dialogischer Lehrdichtung verselbständigten, das alles muss dahingestellt bleiben. Bewundernswert bleibt die diskurstheoretische Leistung der Sophistik-Maieutik, für die erst die Sprach- und Kommunikationswissenschaft unserer Zeit einen vergleichbaren Zugriff entwickelt hat. Literatur Aristophanes o. J.: Die Komödien des Aristophanes, übersetzt und erläutert von Ludwig Seeger, Bd. 1, Berlin: Lambert Schneider Böttner, Michael 1982: „Problemtheoretische Rekonstruktion eines maieutischen Dialogs“, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 1(1), 20-34 Hofstätter, Peter R. (ed.) 1957: Das Fischer Lexikon. Psychologie. Frankfurt/ M.: Fischer Lewis, David K. 1975: Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung. Berlin, New York: de Gruyter Lieb, Hans-Heinrich 1992: „Integrational Linguistics: Outline of a Theory of Language“, in: Lieb, Hans-Heinrich (ed.): Prospects for a New Structuralism, Amsterdam, Philadelphia: Benjamins, 127-182 Otto, Walter F. / Grassi, Ernesto / Plamböck, Gert (eds.) 1975: Platon. Sämtliche Werke. 2: Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos, Kratylos, Lysis, Symposion, Hamburg: Rowohlt Richter, Helmut 1991: „Regelmißbrauch und Regelexplikation in einem Platonschen Dialog“, in: Flader, Dieter (ed.): Verbale Interaktion. Studien zur Empirie und Methodologie der Pragmatik, Stuttgart: Metzler, 92-123 Richter, Helmut 1996: „Semantics and Grammar: A Relationship of Mutual Foundations? “ in: Sackmann, Robin (ed.): Theoretical Linguistics and Grammatical Description. Papers in Honour of Hans-Heinrich Lieb on the Occasion of His 60th Birthday, Amsterdam, Philadelphia: Benjamins, 233-255 Richter, Helmut 1997: „Sofistyka i majeutyka: w poszukiwaniu regul dyskursu“, in: Rosinska, Zofia / Olender-Dmowska, Eslzbieta (eds.): Psychoterapia i kultura, Warszawa: Wydzial Filozofiii Socjologii Uniwersytetu Warszawskiego, 197-215 Richter, Helmut i. Vorb.: Kommunikation und Sprache, unveröffentlichtes Buchmanuskript 8 Z. B. in Form von wechselnden „Gesprächsverfassungen“ nach Maßgabe unterschiedlicher Personenkonstellationen (‚Kommunikationsverhältnis‘) bei gleichbleibender Zweckrationalität (‚Medium‘) (cf. Richter i. Vorb.). Helmut Richter 58 Richter, Helmut / Richter, Brigitte 1982: „Some Formal Properties of Sign Occurrences“, in: Hess-Lüttich, Ernest W. B. (ed.): Multimedial Communication. Vol. 1: Semiotic Problems of Its Notation, Tübingen: Narr, 140-149 Sprague, Rosamond Kent 1962: Plato's Use of Fallacy: A Study of the Euthydemus and Some Other Dialogues, London: Routledge and Kegan Paul Ungeheuer, Gerold 1974: „Kommunikationssemantik: Skizze eines Problemfeldes“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 2(1), 1-24 Ungeheuer, Gerold 1990: „Platons maieutischer Logos des unwissenden Sokrates“, in: Ungeheuer, Gerold: Kommunikationstheoretische Schriften II: Symbolische Erkenntnis und Kommunikation, herausgeg. u. eingel. von H. Walter Schmitz, Aachen: Alano/ Rader Publikationen, 446-492 Wörner, Markus H. 1984: „Selbstpräsentation im ‚Ethos des Redners‘. Ein Beitrag der aristotelischen Rhetorik zur Untersuchung der Grundlagen sprachlichen Handelns“, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 3(1), 43-64 Wörner, Markus H. 1990: Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, Freiburg/ Br., München: Alber Dagmar Schmauks Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken Das Ausloten der Grenzen von Kommunikation in der Science Fiction 1 Einführung Seit Jahrhunderten grübeln Menschen darüber nach, ob es irgendwo im Weltall andere Lebewesen und insbesondere intelligente Außerirdische gibt. Akerma (2002) sichtet die abendländische Philosophiegeschichte unter der Leitfrage, welche Denker die Existenz von Außerirdischen angenommen haben und welche Rolle diese in ihrem Gedankengebäude spielen. Schon Epikur vermutete eine Vielzahl bewohnter Welten, ebenso wie später Cusanus, Bruno, Descartes, Leibniz, Kant und Schopenhauer. Jedoch wird diese Annahme höchst unterschiedlich bewertet. Während sie für Leibniz beweise, Gott habe alle Möglichkeiten auch verwirklicht (cf. Akerma 2002: 135ff.), würde Schopenhauer sie bedauern, weil es nun noch mehr leidende Wesen gäbe (cf. Akerma 2002: 210). Giordano Bruno hält einen Kontakt für eher schädlich, weil schon auf der Erde einzelne Völker einander oft bekämpfen (cf. Akerma 2002: 64f.). Seine Annahme unendlich vieler bewohnter Welten wurde von der Kirche abgelehnt, da sie in Widerspruch zur Sonderstellung des Menschen als Gottes Ebenbild stehe. Descartes vermutet daher viel vorsichtiger, Jesu Tod am Kreuz habe außer den Menschen auch alle anderen intelligenten Wesen erlöst (cf. Akerma 2002: 70f.). Da es bisher keinerlei Kontakte mit Außerirdischen gab, empfiehlt sich ein Blick in die Visionen der Science Fiction (im Folgenden SF), um die prinzipiellen Probleme der Verständigung mit fremden Lebensformen theoretisch auszuloten. Der vorliegende Beitrag analysiert vier klassische Romane, die sich gezielt mit Problemen kosmischer Verständigung auseinandersetzen. Jeder Autor stellt sich also den beiden verzahnten Aufgaben, eine möglichst fremdartige Lebensform zu konstruieren und schlüssige Möglichkeiten der Kommunikation mit ihr vorzuschlagen. Die nur vorgestellte Kommunikation mit Außerirdischen hat ein weit realeres Gegenstück auf der Erde, nämlich den Versuch, als Mensch mit Tieren zu kommunizieren. Da er unter Beachtung der artspezifischen Möglichkeiten zumindest bei Haus- und Nutztieren gelingt, wird im Folgenden auch immer diese biologische Perspektive einbezogen. Ausgeklammert bleiben also außerirdische Roboter und andere Maschinenwesen, aus denen wir nur indirekt Informationen über ihre Erbauer erschließen könnten. Dagmar Schmauks 60 Zunächst wird skizziert, mit welchen kognitiven Strategien man sich fremdartige Lebensformen ausdenkt und was die Voraussetzungen, Methoden und Inhalte kosmischer Verständigung sein könnten. Die analysierten Romane behandeln eine Stufenfolge möglicher Kontakte, nämlich das Empfangen einer vermutlichen Nachricht (Abschnitt 4), das Auftauchen fremder Artefakte (Abschnitt 5), eine unbegreifliche Interaktion (Abschnitt 6) und die erfolgreiche Kommunikation mit einer äußerst fremden Lebensform (Abschnitt 7). Abschließend fasst Abschnitt 8 die möglichen Folgen kosmischer Kontakte zusammen. 2 Die Konstruktion des Fremdartigen Unsere Vorfahren erfuhren über „fremde“ Menschen meist nur vom Hörensagen und begegneten ihnen nur dann, wenn sie selbst oder diese als Händler, Pilger oder Krieger unterwegs waren. Heute kennen wir alle Kulturen zumindest durch die Medien und unterhalten uns weltweit via Internet. Wer sich Außerirdische oder fiktionale Objekte ausdenkt, benutzt mehr oder weniger anspruchsvolle kognitive Strategien. Angesichts antiker Fabelwesen wie Sphinx und Zentaur nimmt man am einfachsten an, deren Erfinder habe lediglich bekannte Körperteile neu zusammengesetzt. Der Arzt Virchow hingegen vermutete, solche Erfindungen seien durch reale Missbildungen inspiriert worden, etwa Neugeborene mit zwei Gesichtern (Janus) oder nur einem Auge (Zyklop). Auf der Erde kennen wir so viele Lebewesen, Landschaften und Artefakte, dass man sich durch Variation und Neukombination aller Eigenschaften mühelos grüne Männchen mit Stielaugen und Tentakeln ausdenken kann, die in kugelrunden Häusern unter einer blauen Sonne leben (zur Bandbreite entworfener Lebensformen cf. Schlobinski/ Siebold 2008: 177ff.). Viel schwieriger ist es hingegen, beim Verhalten vom Gewohnten wegzudenken. So sehen im Roman Sohn der Sterne einige Außerirdische zwar recht fremdartig aus wie schreitende Kraken, essen aber zum Abendbrot gemischten Salat - immerhin mit einem „besonderen Öl“ (Jones 1957: 96). Umgekehrt werden dieselben schlichten Phantasien auch den Außerirdischen zugeschrieben. Bei Bradbury haben die Marsbewohner rotbraune Haare und gelbe Augen. Als die Marsfrau Ylla in telepathischen Kontakt mit gelandeten Erdmenschen tritt und von einem Mann mit blauen Augen erzählt, ergänzt ihr Gatte spöttisch (aber sachlich richtig), der Fremde habe wohl auch schwarze Haare. Auf Yllas erstaunte Nachfrage hin erläutert er abwertend: „Ich habe nur die unwahrscheinlichste Farbe genannt“ (Bradbury 1981: 14). Eine unerschöpfliche Inspirationsquelle ist die moderne Biologie, die auf der Erde immer mehr Lebewesen mit erstaunlichen Sinnesorganen, Ernährungsweisen und Vermehrungsstrategien entdeckt. Manche leben sogar an Orten, die man früher für äußerst lebensfeindlich hielt, wie Höhlen, Eiswüsten, Geysire und heiße Quellen auf dem Meeresboden. Bereits 1976 untersuchten Jonas und Jonas etliche irdische Lebensformen unter der Leitfrage, ob Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken 61 ähnliche Wesen auf anderen Planeten eine komplexe Kultur schaffen könnten. In der Tradition Uexkülls zeigen sie an vielen Beispielen, wie insbesondere die Sinnesausstattung das Weltbild beeinflusst. So leben die „Olfaktoren“ (Jonas/ Jonas 1979: 41ff.) in trüber Atmosphäre, erkennen einander am individuellen Geruch, errichten riechbare Landmarken und erfinden Duftkünste. Für sie sind Vergangenheit und Gegenwart weniger scharf getrennt, denn während für sehende Menschen ein Gast schnell aus dem Blickfeld entschwindet, nehmen Olfaktoren noch länger seinen langsam verfliegenden Geruch wahr (ganz ähnlich wie Wesen mit gutem Infrarotsinn seine „Wärmespuren“). Ferner endet unser Sehen an der Oberfläche von Objekten, während Wesen mit Echoortung auch deren Inneres wahrnehmen. Folglich erkennen sie den Ärger ihres Gegenübers nicht an dessen Mimik, sondern am gereizten Geblubber seines Magens. Insgesamt beklagen Jonas und Jonas, dass sich viele SF-Autoren kaum in der Biologie auskennen und daher Wesen entwerfen, die anatomisch oder physiologisch unwahrscheinlich sind (cf. Jonas/ Jonas 1979: 102, 134 und passim). Ganz ähnlich hielt schon Lukrez die Zentauren für unmöglich, da die Lebenserwartung von Mensch und Pferd zu unterschiedlich ist (cf. Akerma 2002: 30). Durch Übertragung irdischer Erkenntnisse lassen sich einige eng verzahnte Universalien aller Lebewesen annehmen, die im Kosmos auftreten. Alle Lebensformen haben einen Stoffwechsel, wachsen und altern, vermehren sich und nehmen ihre Umwelt wahr. Um eine materielle Kultur zu entwickeln, müssen sie darüber hinaus fähig sein, sich fortzubewegen und Objekte zu manipulieren. Vermutlich sind sie achsensymmetrisch, gleichwarm und betreiben Brutfürsorge, weil dies die Lernphase verlängert. Da ähnliche Anforderungen der Umwelt zu ähnlichen Bauplänen führen, würden wir zumindest auf erdähnlichen Planeten bei aller Fremdheit doch manche Problemlösungen der Evolution wiedererkennen. 3 Voraussetzungen, Methoden und Inhalte kosmischer Verständigung Die beiden grundlegenden Szenarien kosmischer Verständigung sind direkte Kontakte und Telekommunikation. Das Aussenden von Sonden kann als Zwischenform gelten, da es eine Nachricht der Erde in den möglichen Einzugsbereich von Außerirdischen trägt. 3.1 Direkte Kontakte mit Außerirdischen Falls Außerirdische irgendwann auf der Erde landen oder Menschen auf einem bewohnten Planeten, wäre eine direkte Verständigung nötig. Um mögliche Probleme solcher Dialoge abzuschätzen, empfiehlt sich ein kurzer Blick auf unsere Kommunikation mit Tieren (cf. Schmauks 2009). Sie setzt überlappende Wahrnehmungs- und Sendemöglichkeiten voraus, so dass ein gemeinsames Zeichenrepertoire entstehen kann. Die Bandbreite vokaler Beispiele reicht von einfachen Lockrufen für Herdentiere bis zu anspruchsvollen An- Dagmar Schmauks 62 weisungen an Blindenhunde wie „Such Ampel! “, die für den Hund selbst nicht in seiner Lebenspraxis verankert sind. Von den nonverbalen Zeichen sind vor allem Mimik und Gestik wichtig, aber auch Körperhaltung und -spannung werden von manchen Tieren so fein wahrgenommen, dass der sog. „Kluge-Hans-Effekt“ eintritt. Hierbei scheint das Tier komplexe Äußerungen zu verstehen oder Rechnungen auszuführen, während es tatsächlich nur außerordentlich sensibel auf Haltung und Stimme des Menschen reagiert. Umgekehrt verstehen wir das Zeichenverhalten von Tieren bisher nur begrenzt. Sogar das Ausdrucksverhalten von Haustieren wird immer wieder missverstanden, was oft zu Verletzungen durch Hunde führt. Diese Probleme verschärfen sich umso mehr, je weiter wir uns von eng verwandten Säugetieren entfernen. Dennoch können Tierhalter im Idealfall, wenn sich ethologisches Wissen mit artübergreifender Empathie paart, auch Echsen, Spinnen oder Kraken teilweise „verstehen“. Wer verinnerlicht hat, dass eine begrenzte Kommunikation auch mit fern stehenden irdischen Arten möglich ist, vermag sich im Gedankenexperiment vermutlich auch eine Kommunikation mit Außerirdischen vorzustellen. Diese hätten zwar einerseits vielleicht eine gänzlich andere Anatomie und Physiologie, andererseits als Gründer einer technischen Zivilisation auch viele Gemeinsamkeiten mit uns (s. Abschnitt 2). In den letzten Jahrzehnten wurden hohe kognitive Leistungen nicht nur bei Primaten, sondern auch bei vielen anderen Arten wie Rabenvögeln, Walen oder Elefanten nachgewiesen. So ist Werkzeugintelligenz nicht auf Wirbeltiere begrenzt, denn Kraken bauen sich Verstecke aus Kokosnusshälften und können Schraubgläser öffnen. Folglich sollten wir damit rechnen, dass intelligente Außerirdische keineswegs menschenähnlich aussehen müssen. Allerdings können wir voraussetzen, dass organische Lebensformen mit ähnlicher Evolution auch ähnliche Freuden und Ängste haben. Oft wird das Wissen um die eigene Sterblichkeit als Zeichen eines hoch entwickelten Selbstbewusstseins und als wichtige Wurzel einer materiellen Kultur gesehen. Wer als Autor den Bereich organischer Einzelwesen ganz verlassen will, nimmt „ganz andere“ Außerirdische an, etwa handlungsfähige Gallertozeane (Abschnitt 6) oder intelligente Dunkelwolken (Abschnitt 7). SF-Autoren, die es sich leicht machen wollen oder nicht an semiotischen Problemen interessiert sind, beschreiben Außerirdische oft als Telepathen, die auch die Gedanken von Erdmenschen lesen können. Diese Vision speist sich vielleicht aus der religiösen Vorstellung eines allwissenden Gottes oder dem Wunsch nach geistiger „Verschmelzung“ mit einem Anderen. Für den Leser hingegen ist sie eher langweilig, da eine von Anfang an mühelose Verständigung ohne Lernprozesse auf beiden Seiten seine Phantasie nicht anregt. In ähnlich schlichten Erzählungen lernen Außerirdische leicht und gründlich unsere Laut- und Körpersprache. Ein optimistischer technologischer Ansatz schließlich nimmt an, interstellar Reisende besäßen gewiss auch leistungsfähige Übersetzungscomputer für die Sprachen aller intelligenten Wesen. Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken 63 3.2 Telekommunikation mit Außerirdischen Das Senden und Empfangen interstellarer Nachrichten wurde erst im 20. Jahrhundert technisch möglich. Unter dem Sammelnamen SETI (= Search for Extraterrestrial Intelligence) suchen seit 1960 verschiedene Projekte bestimmte Frequenzbereiche des elektromagnetischen Spektrums nach Auffälligkeiten hin ab, die künstliche Signale von Außerirdischen sein könnten. Umgekehrt hat sich auch die Menschheit schon als Sender kosmischer Nachrichten betätigt. Ein vergleichsweise aufwändiger Versuch sind Bilder, Filme und Tonaufzeichnungen, die man interstellaren Sonden in der Hoffnung mitgibt, Außerirdische würden sie irgendwann finden und daraus manches über uns erfahren. So enthält die Bildplakette von Pioneer 10 (1971) die Umrisszeichnung eines nackten Menschenpaars vor der Raumsonde. Drei schematische Skizzen zeigen ein Wasserstoffmolekül als Maßstab, unser Sonnensystem und die Lage der Sonne relativ zu einigen systemnahen Pulsaren. Semiotisch gesehen sind solche Nachrichten optimistisch, denn unsere fernen Adressaten müssen nicht nur Bildkonventionen wie Maßstab, Perspektive und Kontur verstehen, sondern auch irdische Zufälligkeiten wie die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und die freundliche Bedeutung der erhobenen Hand des Mannes. Preiswerter und räumlich breiter gestreut lassen sich interstellare Nachrichten durch elektromagnetische Wellen senden. Da Zahlen als universelle Zeichen gelten, hieße das Senden von Primzahlen oder pythagoreischen Zahlentripeln zunächst nur: „Hier ist eine intelligente Rasse, die mit anderen intelligenten Wesen Kontakt aufnehmen möchte“. Nachfolgende komplexere Botschaften bedürften anderer Zeichensysteme. Konstruierte „kosmische Sprachen“ wie LINCOS (cf. Freudenthal 1960) basieren auf dem Binärsystem. Sie führen zunächst einfache Begriffe wie „gleich“, „größer“ und „später“ ein und bauen darauf immer komplexere Aussagen auf. Bilder gelten oft als besonders leicht verständliches Mittel der Kommunikation, da sie nicht von Einzelsprachen abhängen. Allerdings beruhen auch Bilder auf Konventionen und stellen oft Kulturspezifisches dar. Dies gilt schon für irdische Zeichensysteme, denn wir verstehen etwa die „Songlines“ der australischen Aborigines nicht ohne Erläuterungen und können lediglich mutmaßen, was die megalithischen Spiralen und Gitter bedeuten, die nur 5.000 Jahre alt sind. Diese Probleme würden sich bei außerirdischen Empfängern erheblich verschärfen, da wir ihre Sinnesausstattung, Umwelt und Sozialstruktur nicht kennen. So wären für Wesen, die sich ohne Paarbindung vermehren, große Teile unserer Kultur vom Liebesgedicht bis zum Mord aus Eifersucht inhaltlich unbegreiflich. Allerdings ist das Senden digitalisierter Bilder und Filme technisch vergleichsweise einfach und erscheint aussichtsreich, da Wesen, die eine Radioastronomie entwickelt haben, wohl auch irgendeine Form visueller Wahrnehmung besitzen (cf. Berendzen/ Oliver 2004: 3638ff.). Als Fernziel soll die mühsame Kontaktaufnahme in einen „echten Dialog“ münden, in dem die Bewohner verschiedener Sonnensysteme über Lichtjahre hinweg Informationen austauschen. Dies ist nur möglich, wenn die eigenen Dagmar Schmauks 64 Gesprächsbeiträge über Jahrhunderte archiviert werden, um die erhaltenen Antworten ihnen zuordnen zu können - was praktisch gesehen ungewöhnlich langlebige Forschungsprojekte voraussetzt... 4 Lem: Die Stimme des Herrn Jede Zeicheninterpretation beginnt mit einigen nur scheinbar banalen Fragen, die aufeinander aufbauen: - Ist das Phänomen künstlich? - Handelt es sich um ein Zeichen? - Welches Zeichensystem hat der Absender benutzt? Im irdischen Alltag lassen sie sich meist ohne nachzudenken beantworten, denn wir kennen nicht nur die Sender (und durch Analogieschlüsse deren Einstellungen und Absichten), sondern auch viele Materialien, Bearbeitungsverfahren und Zeichensysteme. Wie schwierig die Entscheidung bei außerirdischen Phänomenen sein kann, illustriert der polnische Philosoph und Schriftsteller Stanislaw Lem geistreich und ironisch in seinem Roman Die Stimme des Herrn (1968). 1 Ein pulsierender Neutrinostrahl, dessen Signalfolge sich alle 416 Stunden wiederholt, wird unter größter Geheimhaltung von einer Gruppe hochrangiger Wissenschaftler untersucht, da man ihn für eine außerirdische Botschaft hält. In diesem Projekt mit dem Decknamen „Master’s Voice“ entwickeln die Beteiligten so viele konkurrierende Theorien, dass der Strahl sich als „besonders komplizierter Rorschach-Test“ erweist, der mögliche Grundeinstellungen des Menschen spiegelt (51). Einige interpretieren ihn als natürliches Phänomen, etwa als Echo der Neutrinowelle beim Urknall. Aber selbst bei einem an die Menschheit gerichteten „Sternenbrief“ bliebe unklar, ob er Text, Bild, Produktionsanleitung oder etwas ganz anderes ist. Je nach persönlicher Überzeugung vermuten die Forscher, die Sender wollten der Menschheit fürsorglich bei der Technikentwicklung helfen oder sie heimtückisch durch eine getarnte Waffe vernichten. Bescheidenere Deutungen nehmen an, der Strahl sei nur ein automatisches Signal oder man habe zufällig ein interstellares Gespräch belauscht. Auch die durchgeführten Experimente ergeben widersprüchliche Ergebnisse, denn einerseits erhöht der Strahl die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Leben (139, 183 und passim), andererseits versucht man zunächst, aus ihm eine vernichtende Waffe zu gewinnen. Der Ich-Erzähler Peter Hogarth ist überzeugt, die unbekannten Absender hätten ihre Botschaft so gesichert, dass selbst ihre bruchstückhafte oder falsche Entschlüsselung keinerlei Schaden anrichten könnte (272). Dies wertet er als Beleg dafür, dass weit überlegene Wesen einkalkulieren, dass manche „Psychozoika“ die Tendenz zur Selbstzerstörung haben. Ferner hält er die Absender für grundsätzlich wohlwol- 1 Zit. n. der deutschen Ausgabe 1983. Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken 65 lend, denn der „biophile“ Strahl wird schon seit Millionen Jahren gesendet und erfordert eine der Sonne vergleichbare Leistung (152). In vielen philosophischen Reflexionen zeigt sich, dass Lem die gegenwärtige Menschheit für viel zu unreif hält, als dass selbst eine gezielte Kontaktaufnahme der „Anderen“ zu einem Dialog führen würde. Hogarth zufolge wäre bei korrekter Entschlüsselung des „Sternenbriefs“ zugleich dessen Empfang bestätigt worden, während die Menschen ihn nur auf die denkbar primitivste Art nutzen: „Die Ameisen, die auf ihrer Wanderschaft an einen toten Philosophen geraten, ziehen daraus auch ihren Gewinn“ (37). Lem zufolge ist also nicht auszuschließen, dass wir außerirdische Artefakte gar nicht als solche erkennen. In seiner „Metatheorie der Wunder“ (Lem 1981: 92ff.) weist er darauf hin, dass gerade perfekte Artefakte, etwa künstliche Fixsterne, von ihren natürlichen Vorbilder nicht zu unterscheiden wären. Ferner belegt schon der Beginn des Romans Lems subversiven Humor, denn der „Sternenbrief“ wird keineswegs von Wissenschaftlern entdeckt, die das Weltall systematisch nach Signalen absuchen, sondern erst dann, als ein zwielichtiger Händler die Aufzeichnungen des Neutrinostrahls als Zufallszahlentabelle verkauft und ein Käufer sie als „nicht zufällig“ reklamiert. Diese Szene ist eine witzige Illustration der Tatsache, dass entscheidende wissenschaftliche Entdeckungen oft zufällig gemacht wurden. 5 Strugatzki: Picknick am Wegesrand Der Roman Picknick am Wegesrand der russischen Autoren Arkadi und Boris Strugatzki (1972) 2 untersucht die weitaus folgenreichere Situation, Artefakte einer außerirdischen Zivilisation seien - sozusagen ohne „Gebrauchsanweisung“ - auf die Erde gelangt. An Stelle eines Dialogs tritt also der Versuch, diese Artefakte zu verstehen und aus ihnen auf ihre Hersteller zu schließen. Diese Aufgabe ähnelt zwar der eines Ethnologen oder Archäologen, ist jedoch weitaus schwieriger, da im Gegensatz zu exotischen oder prähistorischen Funden die körperliche Beschaffenheit und Lebenswelt der „Anderen“ völlig unbekannt ist. In sechs scharf begrenzten Gebieten wie der Stadt Harmont hat ein unerklärlicher „Besuch“ stattgefunden. Weil die Bewohner erkrankten, erblindeten oder auf rätselhafte Weise in Unfälle verwickelt wurden, evakuierte die Regierung die Gebiete und riegelte sie als militärische Sperrzonen ab. Nur „Schatzgräber“ wie der Erzähler Roderic Schuchart trauen sich auf mühsam erprobten Routen hinein, um besonders begehrte Objekte zu sammeln und später auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Viele Objekttypen werden praktisch verwendet, ohne ihre Funktion zu verstehen. Ein sprachlicher Beleg für das Nichtbegreifen sind die umgangssprachlichen Namen, die von Aussehen oder Wirkung der Artefakte ausgehen. Besonders beliebt sind „Attacks“ als unerschöpfliche Energiequellen (136) und „schwarze Spritzer“ als Schmuck (87). Anderes bleibt völlig unverständlich wie die „Stecknadeln“, deren farbig 2 Zit. n. der deutschen Ausgabe 1981. Dagmar Schmauks 66 blinkende Lichtpunkte als unbekannte Nachrichten gelten (80). Ferner drohen zahlreiche unsichtbare Gefahren, die im Schnittbereich zur Horror-Literatur anzusiedeln sind wie die „Hexensülze“, die sogar menschliche Knochen und härteste Materialien auflöst (72 und 143f.), eine „Fliegenklatsche“, die Menschen zerquetscht (134) sowie ein „Fleischwolf“, der sie auswringt wie Wäschestücke (168). Das geheimnisvollste Artefakt ist die immer wieder erwähnte „goldene Kugel“, die angeblich alle Wünsche erfüllt. Der Romantitel lehnt sich an eine Vermutung des Gelehrten Pillman an, Außerirdische seien nur kurz auf der Erde gelandet und hätten beim Abflug ihren Müll liegenlassen (131ff.). Er hält die Artefakte für „vom Himmel gefallene Antworten auf Fragen, die wir zu stellen überhaupt noch nicht imstande sind“ (137) und vermutet, die Menschen würden nur „Nägel mit dem Mikroskop einschlagen“ (136), weil sie den vorgesehenen Zweck der Artefakte nicht erkennen. Diese Formulierung erinnert nicht nur an Lems Ameisen, die einen toten Philosophen nutzen (Abschnitt 4), sondern auch an die deutsche Redensart „Aus dem Stein der Weisen macht ein Dummer Schotter“. In seinem Nachwort des Romans lobt Stanislaw Lem vor allem, dass die Autoren das Geheimnis der „Anderen“ wahren (196ff.) und den „Besuch“ nicht als Wendepunkt der Geschichte darstellen (200f.). Vielmehr bleibt das Auftauchen fremder Artefakte für die meisten Menschen folgenlos und die heimliche Aktivität der „Schatzgräber“ belegt nur die vorherrschende Konsumgesellschaft. Lem lehnt jedoch die Annahme eines Picknicks ab, da sie eine völlige Gleichgültigkeit der Außerirdischen gegenüber den Menschen voraussetzen würde, denen ihr „Müll“ gefährlich werden könnte. Aufgrund von Indizien wie der linearen Anordnung der Zonen, der handlichen Größe der Artefakte und ihrer chaotischen Lage in den Zonen plädiert Lem für die alternative Hypothese eines Unfalls (207ff.). Eine unbemannte Sonde, die den Menschen vielerlei Muster einer außerirdischen Zivilisation bringen sollte, sei in Erdnähe in sechs Teile zerbrochen, deren Absturz eine „wohldurchdachte Sendung in Schrott verwandelte“ (210). 6 Lem: Solaris In Stanislaw Lems mehrmals verfilmtem und daher bekanntestem Roman Solaris (Lem 1968) 3 landen Astronauten auf dem gleichnamigen Planeten, der zwei Sonnen umkreist. Er ist fast ganz von einem gallertartigen Ozean bedeckt, der seine komplizierte Planetenbahn stabilisieren und Duplikate beliebiger Objekte herstellen kann. Sobald die Menschen diese Handlungsfähigkeit entdecken, versuchen sie auf vielfältige Weise in Kontakt mit Solaris zu treten. Das Ausbleiben einer Antwort wird als „Schweigen“ und folglich oft als absichtliche Ablehnung eines Dialogs gedeutet. Allerdings kennt Solaris auf rätselhafte Weise die besonders tief eingeprägten Erinnerungen und Phantasien der Menschen und schickt ihnen „Gäste“, die genau diese „psychischen Abkapselungen“ (358) materialisieren. Einer wird von einem geheimnisvollen 3 Zit. n. der deutschen Ausgabe 1973. Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken 67 Strohhütchen besucht, das auf niemals aufgeklärte Weise mit kindlichem Lachen und dem Trippeln kleiner Füße gekoppelt ist. Den Erzähler Kris Kelvin besucht seine frühere Geliebte Harey, die sich auf der Erde seinetwegen umgebracht hat. Zwar ist die „neue“ Harey nicht identisch mit ihrem Urbild - sie hat andere Erinnerungen, eine nicht-menschliche subatomare Struktur und einen fast unzerstörbaren Körper -, aber Kelvin verliebt sich dennoch in sie. Warum der Ozean die quasi-organischen Erinnerungsdubletten schickt, bleibt offen. Sind sie Testmaterialien? Folterinstrumente? Geschenke? Oder lallt der Ozean wie ein Kleinkind, das nur die am deutlichsten gehörten Wörter nachspricht? Kris glaubt schließlich, Menschen könnten niemals gemeinsame Erfahrungen mit einem intelligenten Gallertozean haben (436 und 466). Sein einziger direkter Kontakt ist ebenso bescheiden wie unbegreiflich. Als er die Hand nach dem Ozean ausstreckt, umschließt dieser sie „neugierig“ mit einer Welle, und für Augenblicke entsteht ein wortloses Einssein, das Kris mit mystischen Ausdrücken beschreibt: Noch nie hatte ich so seine riesenhafte Anwesenheit verspürt, wie sein starkes, unbedingtes Schweigen, das regelmäßig im Wellenschlag atmete. Vertieft, entgeistert, sank ich in unzugänglich erscheinende Bereiche der Unbeweglichkeit hinab, und in wachsender Intensität des Selbstvergessens verband ich mich mit diesem flüssigen, blinden Koloß, als hätte ich ihm ohne die mindeste Anstrengung, ohne Worte, ohne einen einzigen Gedanken alles verziehen. (Lem 1973: 500) Obwohl die gallertartige Konsistenz des Ozeans für eine organische Lebensform spricht, bleibt seine Handlungsweise also völlig fremdartig und der Dialog beschränkt sich auf schaurige „Gäste“ und einen rätselhaften „Händedruck“. Der Leser denkt vielleicht ebenso wie der Erzähler darüber nach, welche Inhalte ein Dialog mit einem weitgehend strukturlosen „Wesen“ haben könnte, das einen ganzen Planeten bedeckt und weder Sinnesnoch Manipulationsorgane besitzt. Ausgehend von den Universalien intelligenten Lebens (s. Abschnitt 2) könnte man etwa fragen, wie ein isolierter Ozean sich vermehrt, wie lange er schon existiert, ob er einen Schlaf-/ Wachrhythmus hat oder sich vor Einschlägen von Asteroiden fürchtet. Manche Leser werden den Roman (ähnlich wie Die Stimme des Herren) auch als wissenschaftssoziologische Parodie genießen, da Lem hier am Beispiel der fiktiven „Solaristik“ vorführt, wie sich die Erforscher eines neuen Phänomens schnell in Schulen aufspalten, die verbissen ihre Dogmen formulieren und einander erbittert bekämpfen. Das Fenster, aus dem heraus wir vermeintlich auf die „ganz Anderen“ blicken, ist also immer auch ein Spiegel. Dagmar Schmauks 68 7 Hoyle: Die Schwarze Wolke Im Roman Die Schwarze Wolke des britischen Astronomen und Astrophysikers Fred Hoyle (1957) 4 nähert sich eine kosmische Dunkelwolke auf direktem Weg der Erde, bis sie den ganzen Himmel verdeckt. Durch Aufheizung der Erdoberfläche und gewaltige Unwetter sterben zahllose Lebewesen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern soll die Wolke untersuchen und ist immer wieder verblüfft durch unvorhergesehene Geschehnisse. Insbesondere durchquert die Wolke das Sonnensystem nicht wie berechnet, sondern bremst durch Abschleudern von Massebrocken und bildet einen Ring um die Sonne. Nach vielen Irrtümern schlussfolgern die Forscher schließlich, die Wolke sei handlungsfähig (151) und wolle in Sonnennähe ihre Energiereserven ergänzen. Sie kontaktieren sie erfolgreich (165) und können sie veranlassen, das irdische Leben zu verschonen. Während man sich Lems handelnden Gallertozean Solaris noch wie eine gigantische Qualle vorstellen kann, bleibt uns die körperliche Beschaffenheit einer Dunkelwolke vollständig fremd. Sich selbst beschreibt sie als Ergebnis einer natürlichen, aber nicht organischen Evolution (178ff.). Sie vermehrt sich durch eine Art „Stecklinge“, indem sie einfache neurologische Strukturen in geeigneten Wolken ansiedelt und ihnen als „Brutfürsorge“ eine elektromagnetische Abschirmung mitgibt. Bei Bedarf kann sie ihr eigenes Gehirn erweitern und bei Versagen von Organen auf Reserveorgane umschalten. Witzigerweise nutzt Hoyle die kenntnisreiche Wolke auch, um seine eigenen kosmologischen Thesen zu verbreiten, insbesondere dass sich das Weltall zwar ausdehnt, es aber keinen Urknall gegeben habe („Steady-State- Theorie“). Die Verständigungsprobleme kosmischer Dialoge löst Hoyle sehr geschickt, indem er alle Deutungsprobleme der Wolke als dem weit überlegenen Gesprächspartner überlässt. Rührend ist es zu lesen, wie mühelos die Wolke nicht nur Englisch, sondern auch die Regeln einer gepflegten Unterhaltung lernt. So kommentiert sie den Übergang zum Senden von Fernsehbildern spontan mit „Gratuliere zur technischen Verbesserung“ (168) - immerhin eine Höflichkeitsformel, wie man sie Menschenkindern erst mühsam beibringen muss. Besonders aufschlussreich sind die Ausführungen der Wolke, in denen sie die Geschichte des Lebens und der Menschheit gewissermaßen „von außen“ beschreibt. So hält sie die Oberflächen von Planeten für sehr ungünstige Lebensräume, da sie starker Gravitation ausgesetzt sind und wenig Sonnenenergie erhalten (171). Bei den Menschen findet sie viele „drollige Eigenschaften“ (172), vor allem die starke Ähnlichkeit aller Individuen untereinander sowie das irrationale Verhalten, sich auch angesichts begrenzter Ressourcen zu stark zu vermehren (177f.). Ein einziges Mal findet sie etwas „sehr interessant“, nämlich als man ihr Beethovens Opus 106 vorspielt. Aber auch hier erweist sie sich als deutlich überlegene Daseinsform, indem sie eine unge- 4 Zit. n. der deutschen Ausgabe 1977. Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken 69 wöhnliche Bitte äußert: „Bitte, wiederholen Sie den ersten Teil in einem etwa dreißig Prozent schnelleren Tempo“ (174). 8 Mögliche Folgen kosmischer Kontakte Jede Art der Kontaktaufnahme hat auch moralische Aspekte. Auf der materiellen Ebene ist die sog. „Vorwärtskontamination“ zu vermeiden, da das Einschleppen fremder Lebensformen eine andere Evolution stören oder gar vernichten könnte (man erinnere sich an das Auslöschen indigener Kulturen durch die Krankheitskeime ihrer Eroberer). Kulturell gesehen könnte der Kontakt mit einer viel höher entwickelten Kultur unser Selbstwertgefühl stark schädigen, denn wir würden die fremde Technologie immer mit dem Wissen benutzen, sie in absehbarer Zukunft nicht selbst herstellen zu können (wie ein steinzeitlicher Jäger, dem man eine stählerne Axt schenkt). Viele Romane wie der SF-Klassiker Krieg der Welten von H.G. Wells nehmen an, Außerirdische würden die Erde nur besuchen, um sie zu erobern. Wäre dies eine allgemeine Überzeugung, so sollte die Menschheit klugerweise nicht aktiv Kontakt suchen, sondern im Gegenteil alle Anzeichen ihrer Existenz sorgsam verbergen. Tröstlich hier ist Lems spöttische Äußerung angesichts der riesigen Entfernungen, interstellare Eroberungen seien ungefähr so sinnvoll wie der Einsatz einer Armee, um einen Laden zu überfallen (cf. Lem, in Strugatzki/ Strugatzki 1981: 191). Angesichts sehr dringlicher Probleme auf der Erde lässt sich fragen, warum man überhaupt soviel Zeit, Geld und Kreativität in die Suche nach interstellaren Kontakten steckt. So erhofft man sich ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl aller Menschen oder einen Beweis dafür, dass man die eigene „technologische Jugend“ durchleben kann, ohne sich selbst zu zerstören (cf. Berendzen/ Oliver 2004: 3637). Man erinnere sich, dass die gezielte Suche nach intelligenten Außerirdischen während des Kalten Krieges begann, als die Gefahr eines dritten Weltkriegs mit Atomwaffen eine realistische Schreckensvision war. Und schließlich würden wir uns nicht mehr „allein im All“ fühlen, was als spezifisch nachreligiöse Vorstellung gelten kann. Der Ausdruck „Fermi-Paradoxon“ bezeichnet den Widerspruch zwischen der Hochrechnung, in unserer Galaxis seien zahlreiche Planeten belebt, und der empirischen Tatsache, dass wir bislang kein Anzeichen einer außerirdischen Lebensform entdeckt haben. Der verwandte Terminus „Silentium universi“ (= Schweigen des Universums) ist nicht nur anthropozentrisch gedacht, sondern scheint auch dem Kosmos insgesamt eine zwar vorhandene, aber nicht eingesetzte Redefähigkeit zuzuschreiben. Lem trug bereits in seiner Summa technologiae im Kapitel „Kosmische Zivilisationen“ (Lem 1981: 71-130) etliche mögliche Erklärungen zusammen, etwa dass (a) Intelligenz lediglich in rasch wechselnden Umwelten eine evolutionäre Erfolgsstrategie ist, (b) nicht jede hoch entwickelte Zivilisation auch expansiv sein muss, (c) ausgesendete Signale im Hintergrundrauschen untergehen können oder (d) eine weit fortgeschrittene „Sterntechnologie“ nicht mehr von natürlichen Phänomenen zu Dagmar Schmauks 70 unterscheiden ist (cf. Schmauks 2007). Auch könnte es sein, „daß die Vernunft, die wir eines Tages entdecken, sich dermaßen von unseren Vorstellungen unterscheidet, daß wir keine Lust haben, sie Vernunft zu nennen“ (Lem 1981: 117). Schließlich ist nicht auszuschließen, dass intelligente Außerirdische aus unterschiedlichen Gründen jeden Kontakt zu ihren „galaktischen Nachbarn“ ausdrücklich vermeiden. Vielleicht verbietet ihre Ethik grundsätzlich das Eingreifen in eine andere Evolution und Geschichte, oder sie halten den Kontakt zu erheblich weniger entwickelten Lebensformen für unergiebig (Menschen reden auch nicht mit Ratten). Dämpfender für unser Selbstbewusstsein wäre es, wenn Außerirdische gezielt (nur? ) den Kontakt zur Menschheit ablehnen, vielleicht weil sie unsere widersprüchliche Einstellung gegenüber anderen Lebewesen kennen. So sprechen wir zwar Primaten und Walen durchaus kognitive Fähigkeiten zu, jagen sie aber dennoch und zerstören ihre Lebensräume. Ein einschlägiges Bonmot schillert zwischen Scherz und hellsichtiger Selbsterkenntnis: „Es muss intelligente Außerirdische geben, denn sie nehmen keinen Kontakt zu uns auf“. Als Fazit lässt sich festhalten, dass der wichtigste Gewinn aller SF- Visionen kognitiver Art ist, denn sie liefern Außenansichten der irdischen Zivilisation, die sich der Fremdheit der Anderen entsprechend anordnen lassen. Unabhängig vom Erfolg unserer Suche nach Freunden im All lernen wir immer klarer, wie begrenzt in vielfacher Hinsicht alle menschlichen Weltbilder sind: Sie sind gebunden an das Leben auf der Erde, an unsere lange Phylogenese als biologische Art sowie an Kultur und Epoche. Gängige Kommunikationsmodelle sind also dahingehend zu erweitern, dass sie auf Seiten von Sender und Empfänger die vorhandenen Organe zur Rezeption und Produktion von Zeichen einbeziehen. Kommunikation gelingt nur dann, wenn sich die Möglichkeiten hinreichend überlappen oder wenn Instrumente die gesendeten Zeichen empfangen und in empfängerseitig wahrnehmbare übersetzen. Folglich sollten wir stärker Nutzen daraus ziehen, dass wir auch die Erde mit vielen intelligenten Arten teilen. Je besser wir mit diesen zu kommunizieren lernen, desto leichter würde uns auch ein künftiger Dialog mit Außerirdischen fallen (Berendzen/ Oliver 2004: 3635). Vielleicht ist ja der erkennbar sorgsame Umgang mit anderen Lebewesen sogar eine notwendige Bedingung für den Eintritt in eine interstellare Gemeinschaft. Literatur Akerma, Karim 2002: Außerirdische. Einleitung in die Philosophie. Extraterrestrier von Epikur bis Jonas. Münster: Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat Berendzen, Richard / Oliver, Bernard M. 2004: „Extraterrestrial Communication“, in: Roland Posner / Robering, Klaus / Sebeok, Thomas A. (eds.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 4. Teilband. Berlin/ New York: de Gruyter, 3634-3643 Bradbury, Ray 1981: Die Mars-Chroniken. Übers. v. A. Barth, Zürich: Diogenes Freudenthal, Hans 1960: LINCOS. Design of a Language for Cosmic Intercourse. Amsterdam: North-Holland Verständigung mit grünen Männchen und schwarzen Wolken 71 Hoyle, Fred 1977: Die schwarze Wolke. Übers. v. H. Degner, Frankfurt a.M.: Ullstein Jonas, Doris / Jonas, David 1979: Die Außerirdischen. Leben und Intelligenz auf fremden Sternen. Übers. v. R. Grabowski, Frankfurt a.M.: Fischer Jones, Raymond 1957: Sohn der Sterne. Übers. v. W. Gronwald, München: AWA-Verlag. Lem, Stanislaw 1981: Summa technologiae. Übers. v. F. Griese, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Lem, Stanislaw 1973: Solaris. Übers. v. I. Zimmermann-Gröllheim, Stuttgart: Deutscher Bücherbund Lem, Stanislaw 1983: Die Stimme des Herrn, Übers. v. R. Buschmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Schlobinski, Peter / Siebold, Oliver 2008: Wörterbuch der Science-Fiction. Frankfurt a.M.: Peter Lang Schmauks, Dagmar 2007: „In memoriam Stanislaw Lem (12.9.1921-27.3.2006)“, in: Zeitschrift für Semiotik 29, 277-282 Schmauks, Dagmar 2009: „Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier“, in: Kodikas/ Code 32: 47-62 Strugatzki, Arkadi / Strugatzki, Boris 1981: Picknick am Wegesrand. Übers. v. A. Möckel. Mit einem Nachwort von Stanislaw Lem (Deutsch von F. Griese). Frankfurt a.M. Christopher M. Schmidt Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung 1 Einleitung Es kann als Gemeinplatz im Bereich der Sozial- und Humanwissenschaften betrachtet werden, dass Erkenntnisgewinnung nicht unabhängig von der Frage der Methodenwahl ist. Dies gilt ebenso für den Bereich interkultureller Kommunikationsforschung. Betrachtet man die methodenbedingten Reflexionen interkultureller Forschung, so wird schnell klar, dass eine bereichsspezifische Theorienentwicklung zwar in Ansätzen verschiedener Provenienz unternommen worden ist (cf. Schmidt 2010a, Bolten 2007a, Lüsebrink 2005, Thomas et al. 2003, Thomas 1996), jedoch selten versucht worden ist, aufgrund integrativer Auswertung von verschiedenen - z. T. auch sich gegenseitig ausschließenden - Ansätzen zur Theorienbildung interkultureller Kommunikation eine fachübergreifende Theorienentwicklung als Fundament interkultureller Forschung voranzutreiben (cf. in Ansätzen Schmidt 2010a und 2008). Dies kann methodologisch durch den ‚Ergänzungscharakter‘ interkultureller Problemstellung in den einzelnen Teildisziplinen erklärt werden. So wird das interkulturelle Primat in der Regel als eine zusätzliche Untersuchungsperspektive überkommener Forschungsbereiche gesehen, weniger jedoch als eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin. Dies ist sicherlich verständlich; bedingt durch die z. T. sehr unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, mit denen sich verschiedene Wissenschaftsdisziplinen auch der interkulturellen Herausforderung in ihren Bereichen stellen möchten. Folglich ergibt sich die Frage, ob interkulturelle Kommunikationsforschung als eine Erweiterung herkömmlicher Wissenschaftsdisziplinen (verwirklicht als ‚interdisziplinäre‘ Streuung derselben) oder als eigenständiger Wissenschaftsbereich aufzufassen ist. Diese doppelte Problematik ist letztlich schon in der begriffslogischen Entwicklung interkultureller Terminologien und ihren erkenntnislogischen Zielsetzungen verankert, die von Anfang an disziplinintern innerhalb einzelner Wissenschaftsbereiche ausgerichtet waren, ohne dies gebührlich metatheoretisch reflektiert zu haben. Christopher M. Schmidt 74 2 Die Dynamik in der begriffslogischen Entwicklung interkultureller Termini Durch den Anthropologen George P. Murdock wurde das Verfahren kulturübergreifender Datensammlung zum ersten Mal systematisch als crosskulturelles Verfahren in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts geprägt. Interessant aus methodologischer Perspektive ist hierbei die konzeptuelle Prägung des Begriffs ‚cross-cultural‘ in den sehr empirisch ausgerichteten Forschungen Murdocks. So diente dieser Begriff ursprünglich einem dezidiert universalistischen Erkenntnisinteresse: Phänomene aus der einen Kultur sollten auch in anderen Kulturen in ihrer kulturinternen Relevanz nachgewiesen werden (cf. in Übersicht Murdock 1969). Im Bereich psychologischer Forschungen argumentieren Inkeles und Levinson ähnlich, wenn sie die Frage nationaler Identitäten anhand von Vergleichskriterien untersuchen wollen, die dann im Sinne von „cross-societal comparison“ fungieren sollen (cf. Inkeles/ Levinson 1969: 448). Die crosskulturelle Dimension wird hier im ganzheitlich erfassenden Sinn zur Charakterisierung von Kulturen verwendet, wobei der Fokus von einem empirischen auf einen eher erkenntnislogischen Schwerpunkt verlagert wird. Inkeles selbst nimmt später Abstand von diesem methodologischen Anspruch, indem er zugibt, dass das Fehlen universaler Vergleichs- und Beschreibungskategorien bei diesem Ansatz ein zentrales methodologisches Problem darstelle (cf. Inkeles 1997: 37). Beeinflusst durch die kulturrelativistische Forschung macht der Terminus „cross-cultural“ spätestens bis zum Beginn der 70er Jahre eine Bedeutungsveränderung durch. Jetzt legt die cross-kulturelle Forschung den Schwerpunkt auf das Erfassen mehr oder weniger deutlicher Unterschiede zwischen Kulturen (cf. u. a. Brislin et al. 1973: 29f. sowie Triandis 1972). In diese Zeit fällt auch der erste Versuch einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den methodologischen Grundlagen interkultureller Forschung, die bis heute nachgewirkt haben. Sowohl diese frühen cross-kulturellen Forschungen als auch die durch Kenneth L. Pike seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführte Unterscheidung zwischen den Emic- und Etic-Dimensionen 1 sind vom Erkenntnisinteresse her auf ganzheitliche Aussagen über Kulturen ausgerichtet, unabhängig von den Modi ihrer Manifestationsformen (cf. Pike 1971). Von Pike wurden ursprünglich diese beiden Untersuchungsperspektiven als alternative 1 In Anlehnung an sprachwissenschaftliche Begriffsbildungen bezieht sich Emic auf das Suffix des Wortes ‚phonemic‘ und Etic auf ‚phonetics. Während die erstere Kategorie auf Phänomene abzielt, die aus der subjektiven Eigenlogik einer jeweilig gegebenen Kultur entstehen, bildet die letztere Kategorie das methodologische Ideal eines kulturübergreifend anwendbaren und von jeweiligen Kulturen unabhängigen Analyseinstrumentariums (cf. Triandis 1972). Die Emic/ Etic-Unterscheidung wurde von Pike zuerst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlicht und erreichte in den 70er Jahren ihre größte Verbreitung. Cf. dazu auch Headland 1990. Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung 75 Herangehensweisen an einen Objektbereich verstanden, der in seinen verbalen und nonverbalen Manifestationsformen als jeweils einheitlich greifbar aufgefasst wird (cf. Pike 1990: 31). Je nach Erkenntnisinteresse des Forschers führen diese Herangehensweisen dann auch zu epistemologisch unterschiedlichen Aussagen: Während der Emic-Ansatz auf die internen Gesetzmäßigkeiten kulturbedingten Handelns abzielt, soll der Etic-Ansatz zu kulturübergreifenden Universalien führen, die Grundaussagen über Kulturen schlechthin erlauben sowie auch eine kulturunabhängige universale Vergleichsgrundlage zwischen Kulturen bieten. Vor allem der letztere Aspekt ist in dem von Berry (1969, 1980) eingeführten Begriff des derived etic enthalten, der als Weiterentwicklung von Pikes Begrifflichkeiten zu verstehen ist. Ausgehend von kulturspezifischen (Emic-)Untersuchungen sollten tentativ Ergebnisse aus der einen Kultur in ihrer Erscheinungsweise bei einer anderen Kultur hinterfragt werden, bis dann schließlich universale Aussagen auf n Kulturen in Form von abgeleiteten Aussagen (‚derived‘ etics) formuliert werden können, die dann wiederum als methodologische Grundlage für weitere Untersuchungen fungieren können. Augenfällig ist die dyadische Logik bei diesem von Berry eingeführten methodologischen Kontinuum von der Emic-Dimension bis zur universalen Etic- Dimension zwischen den als methodologische Pole aufgefassten Emics und Etics. 2 Aus heutiger Pespektive hat sich die von G. Jahoda (1980) vorgeschlagene alternative begriffliche Unterscheidung zwischen Kulturspezifik und Universalität zwar als beständig erwiesen, jedoch geht auch diese Begrifflichkeit von zwei Grundprämissen aus, die im Laufe der begriffslogischen Entwicklung zur interkulturellen Methodologie beibehalten worden sind und auch heute noch nachwirken, die jedoch einer fruchtbaren Weiterentwicklung des Theorienfundaments zur interkulturellen Kommunikation eher hinderlich gewesen sind: 1. die dyadische Grundlogik, mit der zwischen einerseits kulturspezifischen Phänomenen und andererseits ‚kulturunabhängigen‘ Taxonomien unterschieden wird, 2. der bisher in keiner Form empirisch bewiesene Anspruch der Allgemeingültigkeit sog. ‚universal‘ gültiger Untersuchungskriterien für kulturelle Phänomene jeglicher Art. Die Unhaltbarkeit der zwei oben beschriebenen Grundannahmen zeigt sich in den unterschiedlichen ‚Kulturdimensionen‘ solcher Forscher wie Hofstede (1980, 2001), Hall (1981), Trompenaars (1993), Demorgon (1989), Douglas (1987) oder auch Mole (2003). Die von diesen Forschern eingeführten Taxonomien interkulturell vergleichender Forschung beinhalten zwar z. T. rudimentäre gegenseitige Anknüpfungspunkte (wie z. B. der Aspekt der Individualismus/ Kollektivismus-Dimension bei Hofstede und Trompenaars). Die jeweilige Erkenntnisgewinnung zu kulturspezifischen Aussagen ist jedoch auf einer sich gegenseitig ausschließenden taxonomischen Einteilung von ausgewählten Untersuchungskriterien zur Erklärung kulturbezogener Phänomene 2 Cf. die Darstellung in Berry (1969: 122-125). Christopher M. Schmidt 76 basiert. Damit können diese Taxonomien unter wissenschaftstheoretischer Perspektive keinen zwingenden, sondern lediglich einen kontingenten Anspruch erheben (cf. dazu im Einzelnen die Diskussion in Schmidt 2008). Zwar wird in der interkulturellen Forschung gern auf das Problem des ‚Cultural Bias‘ hingewiesen (cf. Douglas 1982), jedoch wird selten dargestellt, welche Konsequenzen sich daraus für die interkulturelle empirische Forschung ergeben. Das Problem des ‚Cultural Bias‘ ist jedoch im Grunde kein spezifisch interkulturelles theorienfundierendes Problem, sondern implizit in den Sozial- und Humanwissenschaften wie Wirtschaftswissenschaften, Psychologie, Anthropologie oder auch Soziologie systembildend inhärent. Im Bereich interkultureller Forschung ist es vor allem die Nichtübereinstimmbarkeit der sich gegenseitig ausschließenden Untersuchungskategorien, die die Frage aufwerfen lässt, ob es sich wirklich um kulturbedingte Einschränkungen handelt oder ob es sich nicht eher um methodenbedingte unterschiedliche Taxonomien handelt. So hat Hofstede seine Erhebung auf der axiomatischen Grundannahme von vier Parametern menschlichen Verhaltens aufgebaut, die durch Befragungen letztlich nur untermauert wurden. Allein die spätere Erweiterung um die Dimension der Kurzbzw. Langzeitorientierung durch die aufgetretene Kritik von Seiten asiatischer Kulturen zeigt die Willkürlichkeit dieser Methode. Augenfällig ist, dass selbst bei gleicher Erhebungsmethode (in diesem Fall unternehmensinterne Befragungen anhand von als kulturell ‚relevant‘ erachteten Fragen) völlig andere Ergebnisse erstellt werden als im Vergleich dazu bei Trompenaars, der mit einer siebenstelligen Taxonomielogik arbeitet. Wenig verwunderlich ist daher, dass bei entsprechend anders gelagerten axiomatischen Annahmen a priori nicht nur die jeweils verwendete Taxonomie, sondern auch ihre Erkenntnislogik sich ändert, wie z. B. im Fall des Kulturwissenschaftlers Jaques Demorgon. Interkulturelle Forschung wird bei Letzterem als interkulturelle Pädagogik verstanden, die gerade dem Überwinden inter-kultureller (in diesem Fall begrifflich verstanden als zwischen zwei Kulturen erfahrener) Antinomien dienen soll (cf. Demorgon 1989). Dabei ist in diesem Fall die antinomische Ausrichtung seiner unendlich erweiterbaren Taxonomie durch die Erfahrungen in der deutschfranzösischen Geschichte geprägt. Wie die bisherigen Ausführungen schon zeigen, ist es unmöglich, eine Allgemeingültigkeit eingeführter Untersuchungskriterien (oft fälschlicherweise als ‚Kulturdimensionen‘ bezeichnet) zu kulturvergleichenden Untersuchungen einzufordern. Daher zeigt sich die oben formulierte Grundannahme 2 auch als eine im Grunde scheinbare Objektivität eines solchen Kriterienverständnisses. Weitaus diffiziler sind die Implikationen, die sich aus der Grundannahme 1 ergeben. Im Folgenden soll eine Alternative zum dyadischen Verständnis von Untersuchungskriterien im Bereich interkultureller Forschung aufgezeigt werden, woraus sich dann auch methodische Konsequenzen für die Erstellung von Untersuchungskriterien im Einzelnen ergeben. Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung 77 3 Der ‚dritte Weg‘ interkultureller Methodenverankerung Aus dem bisher Dargestellten ergibt sich unweigerlich die Frage, was als methodologische Alternative für interkulturelle Untersuchungen übrig bleibt? Gibt es überhaupt so etwas wie eine universale Basis interkultureller Methodologie? Und wie sollte dann das Phänomen interkultureller Kommunikation mit allen seinen Schwierigkeitsaspekten systematisch erfasst und in einem weiteren Schritt für ein interkulturelles Lernen umgesetzt werden können? Bevor solche Fragen beantwortet werden können, muss auf die erkennnistheoretische Verankerung des Begriffs der interkulturellen Kommunikation eingegangen werden. Dies soll anhand ausgewählter kommunikationstheoretischer Fundierungen zur interkulturellen Kommunikation geschehen, um daran anschließend die methodologischen Konsequenzen ziehen zu können. Dabei kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags keine flächendeckende Darstellung gängiger kommunikationstheoretischer Konzepte geliefert werden (für eine Grundsatzdiskussion cf. Schmidt 2010a, Kap. 5). Stattdessen werden die hier zu diskutierenden Konzepte exemplarisch für vorherrschende Grundannahmen im Bereich interkultureller Theorienbildung diskutiert. Die Auswahl der hier im Folgenden darzustellenden Beispiele orientiert sich dabei an der theorienübergreifenden Vergleichbarkeit der zu diskutierenden Probleme. Zunächst muss auf ein grundsätzliches wissenschaftstheoretisches ‚Problem‘ hingewiesen werden, das zwar an sich kein Problem darstellt, sondern eher eine Grundvoraussetzung für Theorienbildung schlechthin. Wenn dies jedoch nicht in die Theorienbildung integrativ eingeht, kann hieraus ein Problem für den systematischen - sprich wissenschaftlichen - Umgang mit einem Phänomenbereich (hier die interkulturelle Kommunikation) entstehen. Es handelt sich dabei um die Frage der Perspektivität, mit der eine Theorie zu einem Phänomenbereich erstellt wird. Zwar ist es mittlerweile ein Gemeinplatz in der wissenschaftstheoretischen Diskussion nicht nur in den Sozialwissenschaften (cf. Groeben 1999), sondern auch im Bereich naturwissenschaftlicher Theorienbildung (cf. hierzu Hübner 1986; ähnlich auch Janich 1981), dass es den wissenschaftlich zu beschreibenden Objektbereich als ‚Ding an sich‘ nicht gibt, sondern vielmehr Theorienbildung aufgrund von erfahrungsbedingter Perspektivität als „Erscheinungen für uns“ (Breuer 1999: 196) gefasst werden kann. Damit ist jedoch die Frage der methodenbedingten Erkenntnisgewinnung nicht beantwortet, allenfalls lediglich in den Raum gestellt, denn der Erfahrungsbegriff wird in der Wissenschaft recht unterschiedlich gehandhabt (cf. Breuer 1999: 196-202). Im Bereich interkultureller Theorienbildung zeigt sich die Erfahrungsdependenz vor allem in der jeweiligen wissenschaftlichen Tradition von fachbedingter und -historischer Erkenntnisgewinnung. Dies zeigt sich nicht nur in den unterschiedlichen begrifflichen Verständnisweisen der zentralen interkulturellen Terminologien, wie weiter oben veranschaulicht wurde. Es zeigt sich vor allem auch in den verschiedenen methodischen Analyseverfahren, die nicht nur in jeweils unterschiedliche Begrifflichkeiten interkultureller Katego- Christopher M. Schmidt 78 rienbildung münden, sondern mit den jeweiligen Begrifflichkeiten auch eine jeweils anders gelagerte ‚Erfahrung‘ von zu beschreibenden Phänomenen implizieren. Letztlich bedeutet dies eine nur bedingt mögliche Vergleichbarkeit von Ergebnissen, die auf unterschiedlichen methodischen Analyseverfahren basieren - bestenfalls eine letztlich immer anwendungsorientierte (d. h. situationsabhängige) gegenseitige Ergänzbarkeit von methodisch unterschiedlicher ‚Datengewinnung‘ in interkulturellen Untersuchungen. Wenn daher - wie oben im Vergleich unterschiedlicher Kategorienbildungen interkultureller Forschung gezeigt wurde - eine universale methodologische Basis interkultureller Forschung nicht vorhanden ist, so muss gefragt werden, ob es in einem anderen Bereich interkultureller Theorienbildung ein allgemein verbindliches universales Fundament interkultureller Methodologie gibt. Betrachtet man den ‚Kernbereich‘ interkultureller Theorienbildung - nämlich das spezifisch interkulturelle Kommunikationsverständnis - so fällt unweigerlich eine stillschweigend von Face-to-Face-Situationen ausgehende Erfahrungsorientierung auf. Dies sei exemplarisch anhand zweier Kommunikationskonzepte interkultureller Interaktionssituationen aus zwei unterschiedlichen Fachbereichen veranschaulicht. Aus dem Bereich der interkulturellen Wirtschaftskommunikation kommend ist von Bolten das Konzept einer ‚Interkultur‘ als eine aufgrund von Interaktionssituationen zweier Kommunikanten aus zwei verschiedenen Kulturen entstehende neue, jeweils situationsgebundene, kommunikative Orientierungsgröße eingeführt worden (cf. Bolten 2007a: 138f., Bolten 2007b: 22, Bolten 1999a und Bolten 1999b; cf. auch Lüsebrink 2005: 45). Entscheidend ist in diesem Fall das auf einer in Ort und Zeit gemeinsam geteilten Interaktionssituation basierende Kommunikationsverständnis: Vor dem Hintergrund eines interaktionstheoretischen Kommunikationsbegriffs steht dagegen die Perspektivierung gerade der Prozessualität der Beziehung A B selbst im Mittelpunkt. Das ‚Dazwischen‘ ist dabei der Prozess oder die ‚Interkultur‘. (Bolten 1999b: 30f.) Wie aus dem Zitat deutlich wird, versteht sich ‚Interkultur‘ hier 1. als etwas, das in Abhängigkeit der jeweiligen Interaktionssituation zwischen A und B entsteht und 2. als etwas Eigenständiges, ein eigener situationsgebundener - wenn auch reduzierter - Kulturraum im Sinne einer „Interkultur“. Dieser Kulturraum ist damit jeweils auf die auf die Konstellation von A und B ausgerichtet. Entscheidend für dieses Kommunikationsverständnis ist, dass es an ein gemeinsam geteiltes hic et nunc zwischen A und B gebunden ist, da Kommunikationen hier interaktionsabhängig als „Aushandlungsprozesse“ (Bolten 2007a: 138) aufgefasst werden kann. Dies schließt sämtliche Kommunikationssituationen aus, die in den Dimensionen Zeit und/ oder Raum getrennt sind. Hierzu gehören solche Situationen, die schriftlich oder mündlich, verbal oder nonverbal geprägt sein können; oder auch online oder offline über die verschiedensten Kommunikationskanäle ohne gleichzeitige Einbindung von A und B in den Kommunikationsprozess gekennzeichnet sind, und die unter kontrastiver Perspektive aufeinander bezogen untersucht werden können. Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung 79 Die Orientierung an konkreten Interaktionssituationen für die Bestimmung dessen, was interkulturelle Kommunikation und die sich daraus ableitbaren methodischen Untersuchungskriterien sein könnten, ist auch in einer anderen Fachrichtung ein Kriterium. Thomas (2002, 1996) - aus der interkulturellen Psychologie kommend - geht ähnlich wie Bolten von einem generativen Verständnis interkultureller Kommunikation aus, auch hier als Resultat der konkreten Interaktion in der Auseinandersetzung bzw. Konfrontation mit Vertretern/ Phänomenen aus einer anderen Kultur. Als ‚Resultat‘ auch dieses sozialen Interpretationsprozesses wird eine dritte - scheinbar von den beiden Ausgangskulturen unterscheidbare - epistemologische Dimension gesehen; hier bezeichnet als „das Interkulturelle“: Fig. 1: Dynamische Einflussfaktoren des Arbeitens in kulturellen Überschneidungssituationen (Thomas 2002: 34). Die scheinbar deutliche Trennbarkeit der kulturbedingten Phänomene von ihren eigenen kulturellen Entstehungsräumen, sei es als ‚die Interkultur‘ oder ‚das Interkulturelle‘ bezeichnet, geht erkenntnistheoretisch von der Möglichkeit einer dritten Dimension interkultureller Kommunikation aus, nämlich dem Aufstellen fallübergreifender Wesensmerkmale kultureller Interaktionssituationen. Erkenntnistheoretisch steht diese methodologische Logik in der Tradition der Emic/ Etic- Unterscheidung, die aufgrund von kulturspezifischen Phänomenen (Emics) eine Dimension der „derived Etic“-Kategorienbildung für machbar hielt (cf. Berry 1969). Sobald diese - von den jeweils zu untersuchenden Kulturen methodisch unterscheidbaren - Wesensmerkmale interkultureller Interaktionen unabhängig von den Bedingungen ihrer Erstellbarkeit systematisiert werden sollen (als Etics), sind wir wieder beim Ideal universal Christopher M. Schmidt 80 gültiger ‚Kulturdimensionen‘ angelangt, die sich gerade im kritischen Vergleich der vorhandenen methodischen Begrifflichkeiten bisher nicht bestätigt haben. Dabei befindet sich die interkulturelle Methodologie vor ein Dilemma gestellt: Einerseits sollen zu untersuchende kulturdependente Fragen interkultureller Kommunikation im weitesten Sinne möglichst auf einer kulturübergreifenden Ebene einsichtig gemacht werden. Andererseits haben sich als universal gültig gesetzte Analysekriterien als hochgradig theoriendependent erwiesen, ohne dass eine universale epistemologische Deckungsgleichheit der verschiedenen Ansätze nachvollziehbar wäre, wie die Diskussion weiter oben zeigte. In diesem Zusammenhang kann die Kritik von Harris - die er im Unterschied zu vielen gängigen Auffassungen in der Emic/ Etic-Diskussion der früheren Methodologie-Diskussion angebracht hat - als programmatisch angesehen werden: „If the verifiability of an ethnographic statement involves a confrontation with cognitive adequacy or appropriateness, then we are dealing with emic categories, no matter how many cultures contribute to that confrontation. Identification of similar emic categories merely establishes such categories as cross-culturally valid logico-empirical abstractions; it does not transform them into etically derived phenomena.“ (Harris 1969: 577; Hervorh. Ch.M.S.) Interessant ist in diesem Zitat das Zugeständnis über die Möglichkeit der wissenschaftlichen Beschreibung kulturübergreifender, vergleichbarer und sogar mehr oder weniger identischer Phänomene, ohne dass diese gleichzeitig notgedrungen einen universalen Status beanspruchen müssen. Diese weder als rein kulturspezifisch noch als universal einzustufende Dimension interkultureller Erkenntnis wird von Harris selbst nicht weiter diskutiert, kann jedoch m. E. in der Tradition interkultureller Methodologie-Diskussion schon als früher Hinweis auf die Notwendigkeit einer dritten Dimension interkultureller Methodologie - sozusagen als ‚dritter Weg‘ - zwischen Kulturspezifik und Universalität gewertet werden. 4 Erste Ansätze empirischer Belege für den ‚dritten Weg‘ interkultureller Methodologie Inwieweit dieser ‚dritte Weg‘ für eine interkulturelle Methodologie überzeugend ist und vor allem auch wissenschaftlich nachvollziehbar, kann letztlich nur über systematische empirische Untersuchungen getestet werden, die sowohl bereichsübergreifend (d.h. verschiedene Handlungsbereiche menschlicher Interaktionen umfassend) als auch - und dies ist besonders wichtig vor dem Hintergrund bisheriger kommunikationstheoretischer Darstellungen - nicht nur mündliche Face-to-Face-Interaktionssituationen, sondern ebenso den weiten Bereich schriftlich vermittelter Kommunikation im Spektrum interkulturellen Handelns umfassen. An dieser Stelle kann vor allem auf die Notwendigkeit eines textuell verankerten Konzepts interkultureller Methodologie hingewiesen werden, das besonders im Fall multimodaler Textgestaltung, Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung 81 z. B. im Bereich des interkulturellen Marketings, noch immer ein Desiderat darstellt (cf. Schmidt 2010a, 2010b). Für die weitere Entwicklungsmöglichkeit in der Methodologie interkultureller Forschung kann dann gefragt werden, welches die charakteristischen Merkmale der interkulturell relevanten Aussagen über die zu analysierenden Phänomene sind, und in welcher Form sowohl mündliche als auch schriftliche Manifestationen interkultureller Phänomene von dieser Methodologie betroffen sind. Als erstes kann hier darauf hingewiesen werden, dass aus methodologischer Sicht die Frage interkulturell relevanter Phänomene sich weit über den Bereich direkter und indirekter Kommunikationssituationen als solche erstreckt. Interkulturell relevant sind in erster Linie alle die Situationstypen, die auf unterschiedliche Verhaltensweisen im Vergleich zwischen Kulturen hinweisen. So kann die interkulturelle Methodik sich sowohl auf interkulturelle Interaktionssituationen im Sinne von Bolten oben beziehen, aber sie kann auch anhand von jeweils kulturintern durchgeführten und trotzdem kulturübergreifend vergleichbaren Typen von Interaktionssituationen betrieben werden. Letztere Untersuchungsform kann methodologisch besonders ergiebig sein, da sie sowohl mündliche als auch schriftlich basierte Kommunikationssituationen umfassen kann. So ist z. B. von Schmidt/ Neuendorff (2011) eine kulturkontrastive Untersuchung zur handlungstreibenden Konzeptualisierung im Spektrum privater und öffentlicher Kategorisierung am Beispiel finnischen und deutschen Anredeverhaltens durchgeführt worden. Das Anredeverhalten mit dem Wechseln zwischen Du- und Sie-Anrede bildet hier nur den Rahmen der Untersuchung. Eigentlicher Gegenstand der Analysen in Schmidt/ Neuendorff (2011) sind die Kategorisierungsleistungen, die den sozialen Interaktionssituationen in den beiden Kulturen auch geschichtlich bedingt zu Grunde liegen. Es konnte gezeigt werden, dass sozialisationsbedingt der Wechsel zwischen einem Du und einem Sie in Finnland - im Unterschied zum Anredeverhalten in Deutschland - nicht im Übergang von der privaten zur öffentlichen Sphäre stattfindet, sondern im Übergang zwischen der öffentlichen und der offiziellen Sozialisationssphäre. Während demnach das deutsche Anredeverhalten sich bezüglich des Du/ Sie anhand der dyadischen Aufteilung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit orientiert, so geschieht dies in der finnischen Kultur anhand der triadischen Logik im Übergang zwischen Privatheit/ Öffentlichkeit für das Duzen und das Offizielle für das Siezen. Ein adäquates Erfassen unterschiedlicher Anredeverhalten in beiden Kulturräumen kann nur durch den hier vollzogenen kulturkontrastiven (und historischen) Vergleich erstellt werden, nicht jedoch durch die Applikation universal gültiger Einteilungslogiken. Dadurch erlangen in diesem Fall die geschichtlich bedingten unterschiedlichen Anredekategorisierungen eine Aussagerelevanz weit über den Bereich des eigentlichen Anredeverhaltens hinaus. Aus der Sicht interkultureller Methodologie ist in diesem Untersuchungsbeispiel interessant, dass die Art der Ergebnisse zu den untersuchten Kulturräumen jeweils aus der Sicht der in diesem Fall relevanten Fragestellungen aussagekräftig sind. Somit sind die Ergebnisse dieser Untersuchung für den Christopher M. Schmidt 82 finnisch-deutschen Vergleich konstitutiv. Einzelaspekte wie privaten, öffentlichen, offiziellen Anredeverhaltens mögen zwar in Einzelfällen auch auf andere Kulturräume zutreffen können und entziehen sich damit einer rein kulturspezifischen Aussagerelevanz. Die Art der funktionalen Abgrenzbarkeit dieser Untersuchungskriterien für das Interaktionsverhalten ist jedoch in keiner Weise universal zwingend - und doch ist sie für die beiden untersuchten Kulturen als systembildend anzusehen, wie sich in Schmidt/ Neuendorff (2011) gezeigt hat. Methodologisch gelten die Ergebnisse aus dem direkten Interaktionsverhalten zu beiden Kulturräumen relativ zu diesen Kulturen. Auch ist die Relevanz der Unterscheidbarkeit zwischen den kommunikativen Funktionen im Gebrauch des Du/ Sie relativ zu diesen beiden Kulturen, obwohl das Duzen/ Siezen als globales Orientierungsschema im Anredeverhalten gelten kann. Dies ist methodologisch ein äußerst wichtiger Aspekt im Bereich interkultureller Forschung, will man aussagekräftige Ergebnisse unter gleichzeitigem Ausschluss von verallgemeinerndem Spekulationscharakter erreichen. Das hier dargestellte Beispiel bezog sich auf systemische Verhaltensweisen im direkten Interaktionskontakt innerhalb der untersuchten Kulturen. Das Prinzip der relationalen Aussagegültigkeit interkultureller Untersuchungsergebnisse muss ebenso bezüglich Kommunikationssituationen gelten, die nicht durch ein gemeinsam geteiltes hic et nunc der Kommunikationsteilnehmer gekennzeichnet sind, wenn diesem methodologischen Ansatz ubiquitäre Relevanz in der interkulturellen Forschung zugesprochen werden soll. Wie dieses Desiderat verwirklicht werden kann, soll an einem Untersuchungsbeispiel aus der kulturkontrastiven Textforschung veranschaulicht werden. In diesem Zusammenhang wird nicht näher auf die Notwendigkeit eines holistischen Textbegriffs und dem damit verbundenen Nachholbedarf in der Weiterentwicklung der Texttheorie eingegangen. Dies ist schon ausgiebig an anderer Stelle getan worden (cf. Schmidt 2010b, Hess-Lüttich 2008, Fix et al. 2000). Stattdessen sollen die methodologisch relevanten Aspekte aus einer für die hier aktuelle Fragestellung exemplarischen Untersuchung kurz skizziert werden. Die Frage der landeskulturellen textkonstitutiven Kommunikationsstrategien sind in einer branchenübergreifenden Untersuchung zu deutschen und finnischen Geschäftsberichten aus den Jahren 2006-2010 durchgeführt worden (cf. Schmidt 2013). Der universale Aspekt methodologischer Verankerung lässt sich in diesem textbezogenen Fall lediglich auf prototypische textsortenspezifische Funktionen festlegen (nicht jedoch auf kulturbezogene Aspekte welcher Art auch immer). Sind diese zentralen Textfunktionen einmal festgelegt, 3 dann kann das Untersuchungsmaterial nach der Art der Verwirklichung eben dieser Textfunktionen untersucht werden. Da Texte immer ganzheitlich als Kommunikate erstellt werden, müssen alle textinternen Kommunikationsdimensionen (verbale, para-, nonverbale) in die Analyse eingehen. 3 Für die Textsorte Geschäftsbericht/ Jahresbericht führt z. B. Bextermöller (2001) in Anlehnung an frühere Forschungen die fünf Kommunikationsfunktionen informieren, überzeugen, Image prägen, Beziehung pflegen und unterhalten auf. Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung 83 Für den Fall der landeskulturellen Spezifika - hier unter Ausschluss unternehmens- oder markenspezifischer Aspekte - konnten für den finnischdeutschen Vergleich deutliche Unterschiede, zum Teil sogar diametral entgegengesetzte Ergebnisse bezüglich der den Texten zugrunde liegenden Kommunikationsstrategien nachgewiesen werden (cf. Schmidt 2013). Dies gilt sowohl für die verbale als auch für die nonverbale Dimension. Das Ergebnis kann an sich schon auf deutliche landeskulturelle Unterschiede hinweisen. So wird z. B. das Vorwort der finnischen Jahresberichte nicht als Briefform konzeptualisiert, sondern steht in der Art seiner Verwirklichung in der Tradition der Zeitungsartikel-Texte, mit allen Konsequenzen für die textuell unterschiedliche Verwirklichung der in diesem Fall fünf Textfunktionen. 4 Die Folgerungen aus den Ergebnissen dieser Analyse sind für den Handlungsbereich der unternehmensexternen Kommunikationstätigkeit besonders relevant. Aufgrund der Ergebnisse kann nachgewiesen werden, dass die immer noch weitgehend in der internationalen Wirtschaft praktizierte Strategie des Übersetzens von unternehmensspezifischem Textmaterial - für verschiedene nationale Zielgruppen - an die Grenzen seiner Funktionalität angelangt ist. Will ein Unternehmen sich auch im Ausland optimal positionieren, wird es von solchen Strategien im Kommunikationsmanagement Abstand nehmen müssen und sich statt dessen landesspezifischen Texttraditionen gegenüber öffnen müssen. Bisher gibt es jedoch noch nicht genügend Forschungsresultate in diesem Bereich, weshalb die interkulturell ausgerichtete Textforschung hier einen Nachholbedarf hat. Unter methodologischem Aspekt ist bezüglich des oben dargestellten Untersuchungsbeispiels wichtig festzuhalten, dass es sich auch in diesem Fall um eine relationale Aussagekraft der Untersuchungsergebnisse handelt, diesmal bezüglich der funktionalen Eigenschaften der hier untersuchten Textsorte. Hier darf nicht der Fehler einer Übergeneralisierung der einzelnen Ergebnisse gemacht werden, indem die Ergebnisse als systembildend auch für andere Kulturräume beansprucht werden. Dieser Aspekt der Überstrapazierung aufgrund eines universalen Anspruchs ist unbedingt zu vermeiden, will eine interkulturelle Methodologie auch praxisrelevant bleiben. 5 Schlusskommentar Übrig bleibt nicht ein methodologisches ‚anything goes‘, sondern im Gegenteil gerade eine Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse aufgrund ihrer relationalen Verankerung in Material und Methode. Der interkulturellen Theorienbildung ist es dienlich, wenn dieser Aspekt untersuchungsspezifisch klar herausgestellt wird. Im Gegenzug muss der allumfassende Anspruch des eigenen methodischen Verfahrens auf so etwas Vielschichtiges und Weitreichendes wie eine Landeskultur aufgegeben werden. Allein schon die unzähligen sich mehr oder weniger unterscheidenden Definitionen des Phänomens ‚Kultur‘ sollten 4 Für eine genaue Darstellung der Analysen auch der übrigen Bestandteile in den nonobligatorischen Teilen finnischer und deutscher Jahresberichte cf. Schmidt 2013. Christopher M. Schmidt 84 hier zur methodologischen Vorsicht mahnen. Und am Ende sind wir dann wieder - allerdings hoffentlich mit anderen Augen - bei der Frage angelangt, ob wir es in der interkulturellen Forschung und Methodenentwicklung wirklich lediglich mit einem ‚Cultural Bias‘ zu tun haben. Sofern diese Frage spezifisch nur für die interkulturelle Theorienentwicklung gestellt wird, muss sie verneint werden, weil sie vom eigentlichen Problem ablenkt. Kulturell vorgeprägt (im Sinne eines ‚Cultural Bias‘) sind auch andere Forschungstraditionen in anderen Forschungsbereichen. Die Möglichkeit eines ‚Cultural Bias‘ ist somit immer gegeben, auch in anderen als den interkulturell ausgerichteten Forschungsbereichen. Spezifisch in Bezug auf den Nachholbedarf im Bereich der interkulturellen Theorienbildung haben wir es stattdessen - in der gleichen Begriffslogik gesprochen - vielmehr mit einem ‚Methodological Bias‘ zu tun. Dies wird jedoch allzu oft gerade in der interkulturellen Forschung nicht angesprochen. Eine Weiterentwicklung der m. E. vor allem theoriebezogenen Stagnierung im interkulturellen Bereich kann erst dann ermöglicht werden, wenn das Phänomen des ‚Methodological Bias‘ - die Grundfrage aller wissenschaftlichen Erkenntnis - auch in der interkulturellen Forschung offen diskutiert und in der praktischen Durchführung empirischer Untersuchungen nachvollziehbar gemacht wird. Literatur Berry, John W. 1969: „On cross-cultural comparability“, in: International Journal of Psychology 4(2), 119-128 Berrry, John W. 1980: „Introduction to methodology“, in: Triandis, Harry C. / Berry, John W. (eds.): Handbook of cross-cultural psychology, Bd. 2: Methodology, Boston etc.: Allyn & Bacon, 1-28 Bextermöller, Matthias 2001: Empirisch-linguistische Analyse des Geschäftsberichts, Dortmund: Ewers Bolten, Jürgen 1999a: „Interkulturelle Wirtschaftskommunikation. 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Metatheoretische Perspektiven, Münster: Aschendorff, 193-309 Brislin, Richard W. / Lonner, Walter J. / Thorndike, Robert M. 1973: Cross-cultural research methods, New York: Wiley & Sons Demorgon, Jaques 1989: L’exploration interculturelle. Pour une pédagogie international, Paris: Armand Colin Kommunikationsmodi als Grundlage der Methodenentwicklung interkultureller Forschung 85 Douglas, Mary 1982: „Cultural bias“, in: Douglas, Mary (ed.): In the active voice, London: Routledge & Kegan, 183-254 Douglas, Mary 1987: How institutions think, Syracuse: Routledge & Kegan Fix, Ulla / Adamzik, Kirsten / Antos, Gerd & Klemm, Michael (eds.) 2002: Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage, Frankfurt a.M./ Berlin: Lang Groeben, Norbert (eds.) 1999: Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie. Band I. Metatheoretische Perspektiven, Münster: Aschendorff. Hall, Edward T. 3 1981: Beyond Culture, New York: Anchor Harris, Marvin 1969: The rise of anthropological theory. A history of theories of culture, London: Routledge & Kegan Headland, Thomas N. 1990: „Introduction: A dialogue between Kenneth Pike and Marvin Harris on emics and etics“, in: Headland, Thomas N. / Pike, Kenneth L. / Harris, Marvin (eds.): Emics and etics. The insider/ outsider debate, Newbury Park: Sage, 13-27 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2008: „Textbegriffe der Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften im Zeichen technischer Umbrüche“, in: Riedner, Renate / Steinmann, Siegfried (eds.): Alexandrinische Gespräche. Forschungsbeiträge ägyptischer und deutscher Germanist/ inn/ en, München: iudicum, 154-168 Hofstede, Geert 1980: Culture’s consequences: international differences in work-related values, Beverly Hills: Sage Hofstede, Geert 2 2001: Culture’s consequences. 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Bd. 1: Grundlagen und Praxisfelder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 60-73 Lüsebrink, Hans-Jürgen 2005: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, Stuttgart/ Weimar: Metzler Mole, John 3 2003: Mind your manners: managing business cultures in the new global Europe, London: Nicholas Brealey Murdock, George P. 2 1969: Culture and Society, Pittsburg: University Pittsburg Pike, Kenneth L. 2 1971: Language in relation to a unified theory of the structure of human behaviour, The Hague/ Paris: Mouton Pike, Kenneth L. 1990: „On the emics and etics of Pike and Harris“, in: Headland, Thomas N. / Pike, Kenneth L. / Harris, Marvin (eds.): Emics and etics. The insider/ outsider debate, Newbury Park: Sage, 28-47 Schmidt, Christopher M. 2008: „Kulturtheoretische Dimensionen: Überwindung eines überkommenen Paradigmas“, in: Szurawitzki, Michael / Schmidt, Christopher M. (eds.): Interdisziplinäre Germanistik im Schnittpunkt der Kulturen. 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Werbende Kommunikation im Spannungsfeld von Kulturen und Stakeholder-Interessen, Wiesbaden: VS-Research, 13-58 Schmidt, Christopher M. / Neuendorff, Dagmar 2011: „Das Eigene im Fremden: Zum Universalitätspostulat interkultureller Kategorienbildung aus historischer Sicht am Beispiel des deutsch-finnischen Anredeverhaltens“, in: Neuphilologische Mitteilungen 1/ 2011, 77-84 Thomas, Alexander (ed.) 1996: Psychologie interkulturellen Handelns, Göttingen: Hogrefe Thomas, Alexander 2002: „Interkulturelle Kompetenzen im internationalen Management“, in: Schmidt, Christopher M. (ed.): Wirtschaftsalltag und Interkulturalität. Fachkommunikation als interdisziplinäre Herausforderung, Wiesbaden: DUV, 23-39 Thomas, Alexander / Kinast, Eva-Ulrike / Schroll-Machl, Sylvia (eds.) 2003: Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Bd. 1: Grundlagen und Praxisfelder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Triandis, Harry C. 1972: The analysis of subjective culture, in association with V. Vassiliou, G. Vassiliou, Y. Tanaka and V. Shanmugam, New York: Wiley Trompenaars, Fons 1993: Handbuch globales Managen. Wie man kulturelle Unterschiede im Geschäftsleben versteht, Düsseldorf: Eco Oliver Winkler Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung Überlegungen am Beispiel von Dramentexten 1 Grundfragen der historischen Dialogforschung Seit den frühen 1980er Jahren wird innerhalb der Linguistik und Literaturwissenschaft darüber diskutiert, wie die beiden Disziplinen, die sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts getrennt haben, wieder eine gemeinsame und für beiden Seiten fruchtbare Basis der Zusammenarbeit finden können. Aus diesen Anstrengungen eines Aufbaus inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit 1 ist u. a. der Bereich der historischen Dialogforschung entstanden, für den mittlerweile auch ein erstes Überblickswerk (cf. Kilian 2005) vorliegt. In Anlehnung an Kilian (2005: 59-135) lassen sich drei Hauptrichtungen innerhalb der historischen Dialogforschung unterscheiden: Erstens die ‚historische Gesprächsanalyse’, die Formen und Funktionen von Gesprächsstrukturen (Makro-, Meso- und Mikrostrukturen) im Wandel der Zeit zu erforschen sucht, zweitens die Dialoggrammatik, die sich von den (universellen) Zwecken und Zielen einer Sprechergemeinschaft leiten lässt und davon ausgehend nach der diachronen Entwicklung von Form und Funktion von Dialogtypen fragt, und drittens die Mentalitätsgeschichte, die ihren Fokus weniger auf die konkreten Strukturen von Gesprächen als vielmehr auf die historischen und soziokulturellen Bedingungen und Normen bzw. Dispositionen von Gesprächen legt. Von diesen drei Perspektiven ist es vor allem die mentalitätsgeschichtliche, die jenseits einzelsprachlicher Phänomene Gespräche als „Objekte kultureller Zurichtung und sozialsemiotischer Prägung“ (Linke 2008: 118) betrachtet und damit in Richtung einer „Kulturgeschichte des Gesprächs“ (Linke 2008: 124f.) zielt. Auf Seiten der stärker interaktional ausgerichteten Ansätze hingegen macht sich eine Konzentration auf historisch-einzelsprachliche Phänomene bemerkbar. So sieht auch Kilian (2005) das Ziel der historischen Dialogforschung in erster Linie darin, die „[...] Entwicklung und Geschichte des Dialogs im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte zu beschreiben und einen Aspekt dieser Sprachgeschichte als Dialoggeschichte des Deutschen darzustellen“ (Kilian 2005: 23). Zwar spricht er sich für ein integratives Modell aus, das sowohl pragmatische, einzelsprachlich-strukturelle als auch soziokulturelle Blickwinkel verbindet, jedoch sind die Vorbehalte gegenüber einer sprachwissenschaftlichen Perspektive jenseits der Einzelsprache unübersehbar: 1 Cf. Hess-Lüttich (1980; 1981; 1984) Oliver Winkler 88 Eine große Gefahr für die sprachwissenschaftliche mentalitätsgeschichtliche Dialogforschung besteht im Überschreiten der (einzel)sprachlichen Grenzen und im Verzicht auf die Fokussierung des sprachwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses. In diesem Fall entfernt sie sich nämlich zunehmend von der Sprachgeschichte und tendiert zu einer Ideengeschichte […]. (Kilian 2002: 51) Der insgesamt eher kritische Standpunkt Kilians gegenüber der mentalitätsgeschichtlichen Dialogforschung ist insofern berechtigt, als die Erforschung von Struktur, Aufbau und Ablauf von Gesprächen, für die sich die historische Gesprächsanalyse interessiert, nicht im Zentrum mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen steht. Vielmehr zielen diese darauf ab, zu untersuchen, „wie Menschen in verschiedenen historischen Epochen und verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich denken, fühlen, wollen; und wie umgekehrt der Sprachgebrauch ihr Denken wie ihr Fühlen und ihr Wollen mitprägt, kurz: ihre Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte“ (Hermanns 2012: 7). Damit wird klar, dass der mentalitätsgeschichtliche Fokus weniger auf den sprachlichen Formen und Funktionen selbst als vielmehr auf deren zugrundliegenden Dispositionen liegt. In seiner Diskussion der mentalitätsgeschichtlichen Ansätze kommt Kilian daher zum Schluss: „Das Gespräch erscheint hier weniger als primär linguistische Kategorie denn als anthropologische Kategorie in historisch je bestimmten sozialen, ethnischen, kulturellen Gewändern“ (Kilian 2002: 47). Das grundsätzlich begrüßenswerte Vorhaben einer Dialoggeschichte des Deutschen im Sinne einer historischen Rekonstruktion gesprochener Sprache ist mit nicht geringen Problemen verbunden. Für jede historische Gesprächsanalyse, die nach historischen Mustern und Strukturen von Gesprächen und deren Veränderungen im Wandel der Geschichte fragt, stellt sich das Problem der Quellen. Gespräche, die zeitlich vor der technischen Innovation der audio-visuellen Aufnahme stattgefunden haben, sind uns entweder gar nicht oder nur über schriftliche Quellen in Form von Protokollen, erinnerten Gesprächen, Notizen, Kommentaren usw. überliefert. Es sind also nie die in ‚Wirklichkeit’ stattgefundenen mündlichen Gespräche selbst, die als Untersuchungsgegenstand vorliegen, sondern stets schriftlich überlieferte Quellen, die auch nur in ausgesprochen seltenen Fällen ein tatsächlich stattgefundenes, geschweige denn vollständiges Gespräch dokumentieren. 2 Nicht selten greift man deshalb in der historischen Dialogforschung auf fiktionale Quellen zurück, wobei Kilian in seiner quellenkritischen Diskussion literarische Dialoge gar der Kategorie der „Primärquellen“ (cf. Kilian 2005: 43-46) zuordnet. Allerdings bleibt es, auch mehr als 30 Jahre nach der kritischen Diskussion von Henne (1980) über die „Probleme einer historischen Gesprächsanalyse“ fraglich, ob auf der Grundlage literarischer Dialoge eine „rekonstruierende ‚Annäherung’ an die historische gesprochene Sprache im natürlichen und spontanen Gespräch“ (Kilian 2005: 43) möglich ist. Ich möchte daher in diesem Aufsatz die Frage des Stellenwerts literarischer Dialoge als Quellentyp historischer Dialogforschung erneut aufgreifen 2 Cf. hierzu die Quellen-Diskussion Kilians (2002: 90-113). Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung 89 und aus einem neuen Blickwinkel diskutieren. Die folgenden Überlegungen zielen nicht in erster Linie auf die Möglichkeit einer historischen Rekonstruktion gesprochener Mündlichkeit auf der Basis fiktionaler Dialoge. Vielmehr soll gezeigt werden, dass in literarischen Dialogen kommunikatives Handlungswissen offenbar wird, welches für eine historische Dialogforschung, die nach der Kulturalität von dialogischen Handlungsformen fragt, relevant sein kann. 2 Zum Quellenstatus von Dramendialogen Aus Gründen der Komplexität, die sich im oben dargelegten Fragespektrum zwangsläufig ergibt, soll im Folgenden nicht generell von literarischen Dialogen, sondern spezifisch von schriftlichen Dramendialogen bzw. Dramentexten ausgegangen werden. In Anknüpfung an das bekannte Schema von Koch/ Oesterreicher (1985: 23) können Dramendialoge als im Medium der Schrift fixierte Gespräche verstanden werden, die tendenziell am Pol konzeptioneller Mündlichkeit lokalisierbar sind. Allerdings hängen die für konzeptionelle Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit charakteristischen „Kommunikationsbedigungen“ (Vertrautheit vs. Fremdheit der Partner, Spontanität vs. Reflektiertheit usw.) und „Versprachlichungsstrategien“ (Informationsdichte, Integration, Elaboriertheit usw.) in hohem Maße von den jeweiligen literaturästhetischen Rahmenbedingungen sowie individuellen Absichten des Autors als Schöpfer des Figurendialogs ab. Damit ist auch gleich das entscheidende quellentheoretische Problem angesprochen, das beim Rückgriff auf Dramendialoge als empirischer Gegenstand historischer Dialoganalyse stets berücksichtigt werden muss, nämlich die Tatsache, dass die Figurenrede im Dramendialog eine vom Autor geplante und gesteuerte ist. Das bedeutet, dass der Dramendialog, selbst wenn ein Autor auf wirklichkeitsgetreue Abbildung von Gesprächen abzielen sollte, den Status der Fiktionalität nie verliert. Allein deshalb scheint es für eine historische Dialoganalyse wenig sinnvoll, den Quellenstatus des Dramendialoges daran zu beurteilen, ob einzelsprachliche Oberflächenphänomene wirklichkeitsgetreu dargestellt werden, zumal wir als Sprecher der Gegenwart gar keinen Zugriff auf konkrete historisch-authentische Gesprächspraktiken haben und damit von dieser Perspektive aus gesehen den Wert der Quelle gar nicht angemessen beurteilen können. Es scheint daher sinnvoller, von einem Ansatz auszugehen, bei dem der Dramendialog nicht als Spiegelfläche gesprochener (Einzel)Sprache, sondern ganzheitlicher als eine sowohl literaturästhetisch als auch historisch und kulturell geprägte kommunikative Gattung betrachtet wird. Theoretisch verankern lässt sich dies zunächst durch Rückgriff auf das von Coseriu (1988) sprachtheoretisch begründete, von Koch (1997) dann ausdifferenzierte Konzept der Diskurstraditionen. Ausgehend von der von Cose- Oliver Winkler 90 riu entwickelten Hierarchie sprachlicher Ebenen 3 (universal, historisch, individuell) schlägt Koch (1997) vor, neben den auf der historischen Ebene angesetzten Normen einer Einzelsprache (Grammatik, Semantik, Syntax, Phonetik) eine weitere historische Ebene anzusetzen, auf der sich die Diskurstraditionen bzw. Diskursnormen befinden. Dabei exemplifiziert er den Unterschied zwischen einzelsprachlichen und diskurstraditionellen Phänomenen wie folgt: Der Unterschied zwischen dem einzelsprachlichen und dem diskurstraditionellen Bereich liegt klar auf der Hand: unter einzelsprachlichem Aspekt beschäftigen wir uns mit historischen Sprachen und ihren Varietäten wie z. B. Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Moselfränkisch, Cockney, Argot usw.; unter diskurstraditionellem Aspekt beschäftigen wir uns mit Textsorten, Gattungen, Stilen, rhetorischen Genera, Gesprächsformen, Sprechakten usw. wie z. B. Beipackzettel, Sonett, Manierismus, Prunkrede, Talkshow, Lehnseid usw. (Koch 1997: 45) Der entscheidende Punkt ist, dass Diskurstraditionen in ihrer Erscheinung zwar einzelsprachlicher Prägung unterliegen können, aber durchaus nicht nur in der Domäne einer Einzelsprache, sondern vielmehr übereinzelsprachlich vorkommen und funktionieren. Das führt dazu, dass die Geschichte einer Einzelsprache nicht gleichzusetzen ist mit der Geschichte von Diskurstraditionen, sondern dass hier von verschiedenen Geltungsbereichen auszugehen ist, deren Hervorbringungen letztlich eine eigene historische Variation und Entwicklung aufweisen. Nach Koch handelt es sich bei Diskurstraditionen nicht nur um historisch wandelbare Phänomene, sondern auch um Typen von „kulturellen Traditionen“ (Koch 1997: 61). Dies bedeutet zugleich, dass Diskurstraditionen nicht „ex nihilo“ (Koch 1997: 62) entstehen, sondern immer an etwas bereits Vorhandenes anknüpfen. Dies gilt freilich auch für Dramentexte, die als Formen von Diskurstraditionen stets im Spannungsfeld von „Konvention und Innovation“ (Koch 1997: 61) stehen. Wenn Koch auf die Nützlichkeit des Konzepts der Diskurstraditionen für die Literaturwissenschaft hinweist, dann bezieht er sich hier vor allem auf literarische Traditionen im Sinne von Themen, Motiven und Stoffen (z. B. anhand der Minnelyrik). Nicht beachtet wird dabei, dass literarische Texte aus diskurstraditioneller Sicht auch für eine historisch-kulturwissenschaftliche Dialogforschung interessantes und relevantes Material zur Verfügung stellen. Allerdings lässt sich dies unter dem Begriff der Diskurstraditionen bzw. der kulturellen Traditionen nicht genügend differenziert herausarbeiten. Es muss nun genauer überlegt werden, von welchem Konzept von Kultur auszugehen ist, um innerhalb des Fragenspektrums der historischen Dialoganalyse Dramendialoge als Träger und Vermittler von Kultur betrachten und untersuchen zu können. 3 Coseriu (1988) unterscheidet im Rahmen seines Sprachkompetenzmodells drei Ebenen des Sprachlichen, denen jeweils unterschiedliche Stufen sprachlichen Wissens und sprachlicher Normen entsprechen. Auf der universellen Ebene liegt die Sprechertätigkeit im allgemeinen (elokutionelles Wissen), auf der historischen Ebene liegt das Wissen und somit auch die Normen und Regeln einer Einzelsprache (idiomatisches Wissen), während auf der individuelle Ebene Diskurse bzw. Texte (expressives Wissen) zu verorten sind. Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung 91 3 Kultur als kommunikatives Konstrukt Als theoretischer Ausgangspunkt soll der häufig diskutierte Kulturbegriff des Ethnologen Clifford Geertz dienen. Geertz versteht Kultur als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1999: 9), bestehend aus einem jeweiligen Haushalt an sinnstiftenden Mustern, deren sich ein Kollektiv im gemeinsamen symbolischen Austausch bedient. Kultur bezeichnet damit nicht in erster Linie die Dinge der Welt oder Verhaltensweisen von Individuen 4 , sondern vielmehr, wie die Individuen ihre jeweilige Realität deuten und ihre Sicht auf die Realität im interaktiven Austausch aushandeln. Aufgabe des Ethnologen ist es, dieses komplexe, vielschichtige und widersprüchliche Bedeutungsgewebe durch einen hermeneutisch-interpretativen Zugang zu entschlüsseln. Am berühmten Beispiel des ‚balinesischen Hahnenkampfes‘ zeigt Geertz das von ihm entwickelte interpretative Verfahren im Detail auf und stellt dabei fest, dass die kulturanalytische Beschreibung ihre Analogie nicht „[...] im Sezieren eines Organismus, im Diagnostizieren eines Symptoms, in der Dechiffrierung eines Codes oder im Anordnen eines Systems“ findet, sondern vielmehr im „Durchdringen eines literarischen Textes“ (Geertz 1999: 253). Die daraus abgeleitete ‚Kultur-als-Text‘-Metapher stieß indes auf breite Kritik 5 , wobei weniger die Erweiterung des Textbegriffs als problematisch erachtet wurde als vielmehr die Tatsache, dass sich der Ethnograph als beschreibende Instanz ‚Kultur’ unter der Einheit eines Textes zu erschließen anmaßt: Zwar spricht Geertz auch von einem „Ensemble“ und von einer „Montage“ von Texten, die eine Kultur ausmachten [...], so dass man anzunehmen geneigt ist, er wolle damit der Vielfalt von Kulturen nach innen gerecht werden. Tatsächlich aber behandelt er die den ‚Texten‘, d. h. den sich in sozialem Handeln zu erkennen gebenden Symbolen und Symbolsystemen, zugrunde liegenden Bedeutungsstrukturen als Einheiten und unterschlägt damit die sozialen Differenzen und Konflikte zwischen den eine Gesellschaft ausmachenden Individuen und Gruppen, die sich immer auch in Konflikten um die ‚richtige‘ Deutung von Wirklichkeit niederschlagen. (Altmayer 2004: 134) Sieht man einmal ab von der Kritik, die mit Blick auf das konkrete Beschreibungsverfahren des Hahnenkampfes sicher berechtigt scheint, kann die Innovation des Kulturbegriffs von Geertz darin gesehen werden, dass er Kultur nicht als statische Größe behandelt (im Sinne etwa einer Nationalkultur), sondern an das Individuum im sozialen Austausch bindet. Kultur wird erst durch das Aushandeln, d.h. Verwenden und Deuten von Symbolen durch die Teilnehmer einer Gemeinschaft konstituiert. Da nun symbolisches Handeln zu einem großen Teil aus sprachlich-kommunikativem Handeln besteht, kann Kultur diesem Verständnis nach als kommunikatives Konstrukt verstanden werden. Es ist daher verständlich, dass gerade die Gesprächsanalyse, die auf 4 Cf. auch die folgende Definition, die Geertz an anderer Stelle liefert: „Culture ist best seen not as concrete behavior patterns [...] but as a set of control mechanisms - plans, recipes, rules, instructions (what computer engineers call ,programs‘) - for the governing of behavior.“ (Geertz 1973: 44) 5 Cf. hierzu den Überblick von Schößler (2006: 174f.). Oliver Winkler 92 den unmittelbar-spontanen Austausch kommunikativer Handlungen fokussiert, sich häufig auf diesen Kulturbegriff bezieht (cf. Kotthoff 2002). Da wir es im hier interessierenden Fall nicht mit mündlicher Alltagskommunikation zu tun haben, sondern mit medial schriftlich fixierten und darüber hinaus künstlich gesteuerten Gesprächen, stellt sich die Frage, inwiefern sich ein solches Konzept von Kultur auf schriftliche Texte applizieren lässt. Mit dieser Frage setzt sich u. a. Altmayer (2004) im Rahmen seiner Entwicklung eines kulturwissenschaftlich-textanalytischen Ansatzes für den DaF- Bereich auseinander. Altmayer geht von Geertz’ Ansatz aus, entwickelt diesen aber durch Rückgriff auf das Lebenswelt-Konzept von Alfred Schütz und die kommunikationstheoretisch orientierte Präzisierung durch Habermas weiter. Er kommt auf dieser Grundlage letztlich zum Schluss, dass es sich beim Begriff Kultur um implizite kollektive Wissensbestände handelt, die Teilnehmer innerhalb einer Gemeinschaft im kommunikativen Austausch teilen. Im Folgenden stellt er dann auf der Grundlage einer Diskussion des Begriffs des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses fest, dass sich kollektives bzw. kulturelles Wissen letztlich nur ermitteln lässt, wenn man die innerhalb einer Gemeinschaft zirkulierenden Texte analysiert, in denen dieses Wissen gespeichert ist (cf. Altmayer 2004: 166f.). Hierbei ist unter „Text“ nicht ein abgeschlossenes Produkt oder Gefäß von Bedeutung zu verstehen, sondern vielmehr textuell angelegte kulturelle Deutungsmuster, die mit dem Wissen eines potenziellen Rezipienten korrespondieren bzw., im Sinne der Rezeptionsästhetik Isers (1976), an den Rezipienten ‚appelliere‘. Der Sinn der kulturwissenschaftlichen Textanalyse liegt daher nicht darin: [...] Texte im Hinblick auf ihre kulturelle ‚Bedeutung‘ hin zu untersuchen, sondern allein darin, die in Texten angelegten virtuellen und in der Regel eher impliziten als expliziten kulturellen Deutungsmuster als potenzielle Ankerpunkte für empirische Bedeutungszuschreibungen möglichst umfassend und vollständig herauszuarbeiten. (Altmayer 2004: 190) Während Altmayer das von ihm entwickelte Modell einer kulturwissenschaftlichen Textanalyse primär an Texten der ‚Gegenwart‘ appliziert, stellt sich aus der historischen Perspektive in besonderem Maße die Frage, wie die in Texten angelegten Deutungsmuster überhaupt identifiziert werden sollen, wenn uns als Rezipienten der Gegenwart der historische Wissens- und Erfahrungshorizont sowie zumindest teilweise die kommunikative Kompetenz fehlt, um präsupponiertes kulturgebundenes Erfahrungs- und kommunikatives Handlungswissen überhaupt als solches zu identifizieren. Der historische Dialogforscher steht somit prinzipiell vor einem ähnlichen Problem wie der Ethnologe, da in beiden Fällen das historisch bzw. kulturell präsupponierte Wissen nicht als bekanntes Wissen vorausgesetzt werden kann. 6 Das Verfahren der Rekonstruktion, auf das freilich auch die Textanalyse gegenwartsbezogener ‚eigenkultureller‘ Texte angewiesen ist 7 , findet daher aus der historischen Perspektive stets unter gewissermaßen erschwerten Be- 6 Cf. hierzu auch die Überlegungen von Neuendorff/ Raitaniemi (2011: 37) 7 Cf. Altmayer (2004: 245f.) Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung 93 dingungen statt. Im Folgenden soll jedoch dargelegt werden, dass gerade Dramendialoge als Quellentyp eine sinnvolle Basis für den Versuch einer Rekonstruktion von historisch-kulturellem Erfahrungs- und kommunikativem Handlungswissen bieten können. 4 Rekonstruktion interaktionaler Sinnkonstitution im Figurendialog Wenn dem oben formulierten Verständnis nach Kultur als geteiltes Erfahrungs- und Handlungswissen in kommunikativen Prozessen sichtbar wird, dann gilt es nun den Begriff der Kommunikation für die Quelle der Dramendialoge zu präzisieren. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Kommunikation im Dramendialog einerseits verstanden werden kann als Kommunikation zwischen den Figuren in einem Drama, andererseits als ‚Verständigung‘ zwischen Autor und Publikum (cf. Betten 1995: 520). Allerdings sind diese beiden Kommunikationsebenen verzahnt, da der Autor über die Ebene der Figurenrede Dialogsinn entwickelt, der „[...] durch die handelnden Personen hindurch auf den (zeitgenössischen) Rezipienten zielt“ (Neuendorff/ Raitaniemi 2011: 36). Dieser Dialogsinn, der durch die vom Autor gesteuerte Interaktion der Figuren konstituiert wird, basiert auf einem geteilten kommunikativen Handlungswissen, welches sowohl dem Autor als auch dem von ihm eingeplanten zeitgenössischen Publikum unterstellt werden kann. In den bisherigen kommunikationstheoretisch orientierten Analysen an literarischen Dialogen wurde dieses Handlungswissen häufig unter dem Konzept der Basisregeln beschrieben: Die Sprecher oder Charaktere müssen bestimmten Regeln folgen, soll das Gespräch dem Leser und dem Auditorium im Theater als ‚Dialog‘ erkennbar und verstanden werden. Diese Grund- oder Basisregeln sind kommunikationstheoretisch explizierbar und linguistisch beschreibbar. (Hess-Lüttich 2005: 85) Basisregeln gelten als grundlegende Bedingungen von Kommunikation und haben somit universalen Charakter (cf. u. a. Cicourel 1981: 165-188). Da jedoch Sinnaushandlungsprozesse nicht im universalen Raum stattfinden, sondern stets an Kontexte gebunden sind, ist auch die Realisierung von Basisregeln immer schon eine durch diese Kontexte geprägte, weshalb der Begriff der Konventionen im Kontext der historischen Dialogforschung dem Begriff der Basisregeln grundsätzlich vorzuziehen ist. 8 Denn von Interesse ist weniger die Frage, ob sich beispielsweise die wechselseitige Unterstellung von Perspektiven und praktische Idealisierung von Standpunkten im historischfiktionalen Figurendialog nachweisen lässt, als vielmehr, wie diese Basisregel im gegebenen Kontext realisiert wird. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass der kommunikative Erfahrungshorizont des Autors sich im interpretativen Aushandeln kommunikati- 8 Eine vertiefende Diskussion zum Verhältnis zwischen Basisregeln und Konventionen findet sich in Winkler (2012: 17-20) Oliver Winkler 94 ver Handlungen zwischen den Figuren spiegelt, dann scheint hier auch die Ebene zu liegen, auf der Kulturalität potentiell wirksam und analytisch ermittelbar wird. Praktisch gesehen verlangt dies den Vollzug einer Analyse der Sinnaushandlung der Figuren, die durch den Einsatz eines interaktional orientierten ‚gesprächsanalytischen‘ Ansatzes realisiert werden kann. Was nun die Wahl und Applizierung gesprächsanalytischer Kategorien auf Dramentexte angeht, ist besondere Behutsamkeit gefragt, zumal das gesprächsanalytische Instrumentarium ein an der ‚Gesprächsgegenwart‘ entwickeltes und getestetes ist, mit der Folge, dass sich die Begriffe und Kategorien nicht unmittelbar auf historische Textsorten übertragen lassen (cf. Kilian 2005: 52-85). Zentral für die Erfassung interaktiver Sinnkonstitution sind die Kategorien der mittleren Ebene, wobei ich mich im vorliegenden Rahmen auf die Kategorien des Dialogschritts und der Dialogschrittverknüpfung (cf. Kilian 2005: 65, Winkler 2012: 47f.) beschränke. Es handelt sich um Kategorien, die einerseits als universal-panchronisch betrachtet werden können, in ihrer Ausformung jedoch historischer und kultureller Variation unterliegen (cf. Kilian 2005: 69f.). Unter dem Dialogschritt kann in Anlehnung an die Turn- Definition von Goffman all das verstanden werden, „was ein Individuum tut und sagt, während es jeweils an der Reihe ist“ (Goffman 1974: 201). Da uns als Sprecher der Gegenwart die Kompetenzen fehlen, um Illokutionen und dahinter liegende Sprecherabsichten zu bestimmen, ist der Aspekt der Dialogschrittverknüpfung und das damit verbundene Element der Responsivität von zentraler Bedeutung. 9 Erst eine nicht allein auf den Sprecher fokussierte, sondern interaktional orientierte Analyse lässt erkennen, wie die Sprecher wechselseitig ihre Handlungen auslegen, welches kommunikative und kontextuelle Wissen sie sich im Dialog wechselseitig unterstellen und welche Handlungspläne 10 sie im interaktionalen Prozess allenfalls verfolgen. 5 Exemplarische Dialoganalyse anhand einer Dialogpassage aus Arthur Schnitzlers Drama Reigen (1896/ 97) Die oben dargelegten theoretischen Überlegungen sollen im Folgenden anhand eines empirischen Beispiels konkretisiert werden. Hierfür wurde eine kurze Dialogpassage aus der fünften Szene von Arthur Schnitzlers Reigen (1896/ 97), dem ehelichen Gespräch zwischen dem Gatten und der jungen Frau, gewählt. 11 Hinsichtlich der Redekonstellation kann das vorliegende Gespräch vorgängig als fiktionales, interpersonal-dyadisches face-to-face-Gespräch eingeordnet werden, das im Milieu des gehobenen Bürgertums in Wien gegen Ende des 19. Jhs. spielt. Die Rollenbezeichnung „junge Frau“ und „Gatte“ weist auf das konventionelle eheliche Beziehungsgefüge zwischen der blut- 9 Cf. Schwitalla (1979) 10 Zum Aspekt des Handlungsplans in historischen Dialogen cf. Neuendorff/ Raitaniemi (2011: 37) sowie Winkler (2012: 49) 11 Eine Analyse des gesamten Gesprächs findet sich in Winkler (2012: 119-138) Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung 95 jungen, meist aus elterlicher Obhut direkt in die Ehe geschickten Frau und dem schon älteren, gesellschaftlich gestandenen Ehemann hin. Das Gespräch findet im Schlafzimmer des Ehepaares statt und wird damit in einen der intimsten Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft verlegt (cf. Koch 1985: 438ff.). Als ebenso tabuisiert wie der Raum, in dem das Gespräch stattfindet, kann das Gesprächsthema angesehen werden, da gerade im vorliegenden Ausschnitt die Frage außerehelicher Liebesbeziehungen, Sexualität und Prostitution ausgehandelt wird, ein im Kontext der bürgerlich-traditionellen Ehebeziehung gefährliches Thema. Der folgende kurze Dialogausschnitt (Schnitzler 1972: 349f.) folgt auf eine Phase des Gesprächs, in der die beiden Ehepartner Emma und Karl vordergründig über die gemeinsame Beziehung, implizit über die Sexualität in der Ehe sprechen, worauf dann der Themenfokus auf die vorehelichen Liebesabenteuer des Mannes hin verschoben wird: 1 DER GATTE: [...] Denn wir sind ganz verwirrt und unsicher geworden durch die vielfachen Erlebnisse, die wir notgedrungen vor der Ehe durchzumachen haben. Ihr hört ja viel und wisst zuviel und lest ja wohl eigentlich auch zuviel, aber einen rechten Begriff von dem, was wir Männer in der Tat erleben, habt ihr ja doch nicht. Uns wird das, was man so gemeinhin die Liebe nennt, recht gründlich widerwärtig gemacht; denn was sind das schließlich für Geschöpfe, auf die wir angewiesen sind! 2 DIE JUNGE FRAU: Ja, was sind das für Geschöpfe? 3 DER GATTE: (küsst sie auf die Stirn) Sei froh, mein Kind, dass du nie einen Einblick in diese Verhältnisse erhalten hast. Es sind übrigens meist recht bedauernswerte Wesen - werfen wir keinen Stein auf sie. 4 DIE JUNGE FRAU: Bitt dich - dieses Mitleid. - Das kommt mir da gar nicht recht angebracht vor. 5 DER GATTE: (Mit schöner Milde) Sie verdienen es. Ihr, die ihr junge Mädchen aus guter Familie wart, die ruhig unter Obhut eurer Eltern auf den Ehrenmann warten konntet, der euch zur Ehe begehrte; - ihr kennt ja das Elend nicht, das die meisten von diesen armen Geschöpfen der Sünde in die Arme treibt. 6 DIE JUNGE FRAU: So verkaufen sich denn alle? 7 DER GATTE: Das möchte ich nicht sagen. Ich mein ja auch nicht nur das materielle Elend. Aber es gibt auch - ich möchte sagen - ein sittliches Elend; eine mangelhafte Auffassung für das, was erlaubt, und insbesondere für das, was edel ist. 8 DIE JUNGE FRAU: Aber warum sind die zu bedauern? - Denen geht’s ja ganz gut? 9 DER GATTE: Du hast sonderbare Ansichten, mein Kind. Du darfst nicht vergessen, daß solche Wesen von Natur aus bestimmt sind, immer tiefer und tiefer zu fallen. Da gibt es kein Aufhalten. 10 DIE JUNGE FRAU: (sich an ihn schmiegend) Offenbar fällt es sich ganz angenehm. Oliver Winkler 96 11 DER GATTE: (peinlich berührt) Wie kannst du so reden, Emma. Ich denke doch, daß es gerade für euch anständige Frauen nichts Widerwärtigeres geben kann als alle diejenigen, die es nicht sind. 12 DIE JUNGE FRAU: Freilich, Karl, freilich. Ich habs ja auch nur so gesagt. Geh, erzähl weiter. Es ist so nett, wenn du so redst. Erzähl mir was. Makrostrukturell kann festgestellt werden, dass ab Dialogschritt 12 4 ein zunächst inhaltlicher Dissens vorliegt, der sich dann ab DS 9 (bis DS12) allmählich zu einer Form von Konflikt entwickelt. Auslöser des inhaltlichen Dissens ab DS4 ist der Standpunkt des Gatten (im Folgenden Karl) in DS3, es handele sich bei den fraglichen Frauen um bedauernswerte Wesen - wobei nur implizit und in Relation zu den vorangegangen Umschreibungen aus DS1 (vielfachen Erlebnissen, Geschöpfen) erkennbar wird, dass er hier über Prostituierte spricht. Das vom Gatten ausgedrückte Mitleid gegenüber den Frauen weist Emma in DS4 im Folgenden zurück (Bitt dich - dieses Mitleid. - Das kommt mir da gar nicht recht angebracht vor), wobei bezogen auf den Inhalt hier das textinterne Vorwissen, das der Rezipient aus der vorangegangenen Szene des Reigen (Szene 4) mitbringt, berücksichtigt werden sollte. Denn dort erfährt man von der geheimen Liebesbeziehung zwischen Emma und einem anderen Mann, wovon Karl freilich nichts weiß. Wenn Emma also den Standpunkt ihres Mannes zurückweist, dann wohl deshalb, weil sie Karls Äußerung auf ihre Person bezieht. Dass hier eine Deutungsdiskrepanz im Objektbezug vorliegt, bei der Karl von Prostituierten spricht, Emma von Frauen wie sie, die ‚verbotene‘ Beziehungen eingehen, zeigt der weitere Verlauf der Interaktion. So fährt Karl in DS5 den Dialog fort, indem er auf seinem Standunkt insistierend auf das Elend, in das sich diese Frauen begeben, hinweist und zugleich seiner Frau (fälschlicherweise, wie der Rezipient weiß) mangelndes Erfahrungswissen in Bezug auf diesen Bereich unterstellt. Emma reagiert mit einer Rückfrage in DS6 (So verkaufen sich denn alle? ), die wiederum auf der impliziten Ebene ihre diskrepante Auslegung des Sachverhalts anzeigt. Darauf folgt eine Reparaturhandlung von Seiten Karls (DS7) mit dem Hinweis, dass es nicht nur um das materielle, sondern auch das sittlich-moralische Verfehlen der Frauen gehe. Da Karl, ohne es zu wissen, seine Frau damit direkt anspricht, folgt in DS8 ein erneuter nur indirekt in Form von Fragen formulierter Widerspruch von Seiten Emmas: Aber warum sind die zu bedauern? - Denen geht’s ja ganz gut? Dem dissentischen Standpunkt seiner Frau entgegnet Karl in DS9 nun mit einer Form des Tadels (Du hast sonderbare Ansichten, mein Kind), worauf eine weitere mahnende Erklärung folgt (Du darfst nicht vergessen, daß solche Wesen von Natur aus bestimmt sind, immer tiefer und tiefer zu fallen. Da gibt es kein Aufhalten.) Den vom Gatten in DS9 verwendete metaphorische Ausdruck fallen, der sich auf das unausweichlich schlimme Ende für die fraglichen Frauen bezieht, deutet Emma in DS10 mittels des Kommentars Offenbar fällt es sich ganz angenehm in ihrem Sinne um. Gleichzeitig wird im Nebentext eine körperliche Annäherung an ihren Mann (sich an ihn schmiegend) markiert. Dass hiermit aus der Sicht Karls ein Regelverstoß vorliegt, beweist der unmittelbar 12 Hierfür wird im Folgenden das Kürzel DS verwendet. Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung 97 darauffolgende Tadel in DS11 (wie kannst Du so reden Emma), der in seiner Funktion durch den Nebentext (peinlich berührt) verstärkt wird. Auf diese Sanktionierung reagiert Emma in DS12 nun mit einem Rückzieher, indem sie nicht nur die von Karl in DS11 explizierte Norm bestätigt (Freilich, Karl, freilich), sondern zugleich ihrer eigenen Aussage die Validität entzieht (Ich habs ja auch nur so gesagt), worauf sie das Gespräch durch einen unspezifischen Wunsch weg vom heiklen Gegenstand steuert: Geh, erzähl weiter. Es ist so nett, wenn du so redst. Erzähl mir was. Allein an diesem kurzen Dialogausschnitt wird ersichtlich, dass die kommunikativen Ereignisse auf der Figurenrede sowohl einen Einblick geben in gesellschaftliche Sichtweisen und zugrundeliegende Normen, welche die Figuren als typisierte Vertreter des gegebenen soziokulturellen Milieus repräsentieren, als auch einen Zugang zu typisierten Formen von Gesprächsverhalten. Beide Perspektiven sind eng miteinander verknüpft. Wenn Karl in seinem Tadel (DS11) eine Trennung macht zwischen den „anständigen Frauen“ und „de[n]jenigen, die es nicht sind“, dann wird hier ein Bild der Frau vermittelt, das mit der zeittypischen, von Männern dominierten Geschlechterauffassung korrespondiert und sich auch in anderen zeitgenössischen Quellen nachweisen lässt. Es entspricht einer dichotomen Konstruktion der Frau als entweder ‚anständige‘ bürgerliche Ehefrau und Mutter oder aber als eine von Sünden getriebene ‚Geliebte‘ (cf. Koch 1985: 440ff.). 13 Zieht man nun in Betracht, dass der bürgerlichen Ehefrau in ihrer Rolle als Gegenpart zur ‚Geliebten‘ jeglicher Anspruch auf sexuelles Verlangen aberkannt wurde, wird letztlich der Normverstoß Emmas in DS10 erst nachvollziehbar. Denn Emma deutet diesen Anspruch nicht nur indirekt verbal an, sondern realisiert ihn gewissermaßen auch, indem sie sich nonverbal ihrem Mann annähert. Sie verlässt demnach für einen kurzen Moment die ihr konventionell zugewiesene Rolle der ‚anständigen’ und zurückhaltenden Partnerin, mit der Konsequenz, dass sie von Karl umgehend zurechtgewiesen wird. Des Weitern lässt sich feststellen, dass das soziokulturell bedingte asymmetrische Beziehungsgefüge, von dem hier ausgegangen werden muss, im Gesprächsverhalten beider Figuren seine Spuren hinterlässt. Auf der Seite Karls fallen besonders die verwendeten Sprechhandlungen mit der Funktion der Belehrung, Ermahnung und des Tadels auf, die ein insgesamt dominantes Verhalten anzeigen. Dass es sich hier teilweise um eine Mischung von Dominanz und Güte handelt, zeigt sich etwa durch die Form der Adressierung (mein Kind) sowie die in den Nebentexten angezeigten non- (küßt sie auf die Stirn) bzw. paraverbalen Handlungskanäle (Mit schöner Milde). Weiter fällt auf, dass er seine Frau durch partnerbezogen-generalisierende Darstellungen nicht als Person, sondern als Typ anspricht und darüber hinaus die gesellschaftliche Rollenzuweisung durch Hinweise auf ihren mangelnden Wissens- und Erfahrungshorizont zementiert. Dieses Verfahren der Ausgrenzung ma- 13 In seiner radikalsten Form vertreten und pseudotheoretisch fundiert wurde dieses dichotome Frauenbild in Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter” (1903). Oliver Winkler 98 nifestiert sich ebenfalls auf lexikalischer Ebene, indem Karl ausschließlich durch Verwendung unspezifisch-generalisierender Ausdrücke und Phrasen wie vielfachen Erlebnisse, Einblick in diese Verhältnisse, armen Geschöpfe der Sünde (DS1) bedauernswerte Wesen (DS3), tiefer und tiefer zu fallen (DS10) auf das heikle Thema der Prostitution Bezug nimmt. Mit Blick auf das Gesprächsverhalten Emmas fällt auf, dass sie ihren dissentischen Standpunkt hauptsächlich indirekt, nämlich durch Formen des Fragens (DS6, DS8) oder Andeutens (DS10) markiert. Gleichzeitig zeigt sich eine geschickte Form der Gesprächssteuerung, mit der Emma die heikle Situation in DS12 abwenden kann. Es macht sich hier also eine Form indirekten und unauffälligen Gesprächsverhaltens bemerkbar, wie sie im bürgerlichen Anstandsdiskurs als Idealvorstellung vorherrscht und als solche z. B. auf der Basis von Anstandsbüchern nachzuweisen ist (cf. Linke 1996: 212-218). Dass Emma, wie oben gezeigt, nicht nur Konventionen befolgt, sondern auch gegen sie verstößt, dass dabei der Rezipient gegenüber Karl einen ‚Wissensvorsprung‘ hat und deshalb die Doppelbödigkeit der Sinnaushandlung erkennen kann, macht letztlich den unverkennbar literarisch-stilisierten Charakter dieses Dialogs aus. 6 Fazit und Ausblick Die obigen Beobachtungen zeigen, dass sich in Dramentexten Erfahrungs- und kommunikatives Handlungswissen verbirgt, das in der historischen Dialogforschung bisher zu wenig erkannt worden ist. Das oben untersuchte Beispiel eines Ehegesprächs über Sexualität und Prostitution im bürgerlichen Schlafzimmer macht deutlich, dass die Literatur mitunter Gesprächsbereiche repräsentiert, die historisch als terra incognita gelten und allein dadurch der Kommunikationsgeschichte interessantes „gesprächsreflexives“ (Linke 2008: 125) Wissen zur Verfügung stellt. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass es sich bei der Untersuchung von historisch-kulturell bedingten Gesprächsformen auf der Basis fiktionaler Dialoge um eine sehr schwierige und komplexe Aufgabe handelt. Das ausgewählte Analysebeispiel zeigt, dass die in der Figurenrede ermittelte Sinnkonstitution ein differenziertes Gewebe an Wissen bildet, das zum einen aus lebensweltlichem und kommunikativem Handlungswissen besteht, das sich die fiktiven Interaktanten wechselseitig ‚unterstellen‘, zum anderen aber auch aus präsupponierten textinternen Wissensbeständen, die das Verstehen der Sinnstruktur beeinflussen. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Vernetzung von Wissensbezügen innerhalb der fiktionalen Figurenrede wird klar, dass ein theoretisch-deduktives Verfahren, das von vordefinierten Funktionen oder abstrakten strukturellen Merkmalen ausgeht, im Hinblick auf die Quelle literarischer Dialoge kaum Erfolg versprechen dürfte. Gefragt sind eher induktive Verfahren, mit denen interaktionale Sinnaushandlungsprozesse nachvollzogen werden können. Dabei kann nicht unterschlagen werden, dass solche Versuche der Rekonstruktion von (kommunikativen) Wissensbeständen gefiltert sind, einerseits durch den Autor, der als Schöpfer des Dialogs Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung 99 einen bestimmten bzw. begrenzten Erfahrungs- und Handlungsbereich auswählt und ihn abhängig von literaturästhetischen Rahmenbedingungen und individuellen Absichten stilisiert, andererseits durch das forschende Subjekt selbst, dessen Analyse, auch dann, wenn sie methodengeleitet ist, freilich Raum für andere Interpretationen lässt. Weiter gilt es zu bedenken, dass eine historisch-kulturwissenschaftliche Dialoganalyse nicht auf einen Autor und ein Textexemplar beschränkt bleiben darf, da ja gerade nicht das einzelne Textexemplar, sondern vielmehr die Dialogsorte in ihrer historischen Entwicklung interessiert. Ebenfalls kann eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung von Dialogsorten nicht nur auf einzelsprachliche Phänomene ausgerichtet sein, da Dialogsorten nicht nur in verschiedenen kulturellen Kontexten vorkommen, sondern häufig auch durch fremdkulturelle Einflüsse geprägt sind und damit stets im Spannungsfeld von Intra- und Interkulturalität stehen (cf. Warnke 2001: 247-253). Dies gilt gerade für literarische Texte, die einerseits an vorhandene kulturelle Traditionen anknüpfen, andererseits auch häufig zum Objekt kulturellen Transfers werden und damit auf entsprechende fremdkulturelle Traditionen einwirken. Dabei sind gerade diese Fälle aus Sicht der kulturwissenschaftlichen Dialoganalyse interessant, weil hier mit der Diachronizität und der Kontrastivität zwei Perspektiven zusammenfallen, die bisher im Kontext von Dialogsorten mehrheitlich getrennt untersucht wurden. Die Untersuchung zur Dialogsorte Ehekonflikt (cf. Winkler 2012) zeigt, wie eine historisch-kontrastive Dialoganalyse konkret aussehen und praktisch durchgeführt werden kann. Das zugrundeliegende Materialcorpus besteht aus einer je deutsch- und schwedischsprachigen Reihe von Dialogexemplaren der Dialogsorte Ehekonflikt (innerhalb der Gattung Drama), wobei die beiden Dialogreihen jeweils durch Einbezug fremdkultureller Textadaptionen verzahnt sind. Durch die komplementär zueinander liegenden diachronen und kontrastiven Betrachtungen unter Berücksichtigung der intertextuellen Verschränkungen der Dialogreihen entsteht so eine konsistente Materialbasis, die sowohl den Nachvollzug historischer Entwicklungslinien als auch kontrastiver Parallelen und Differenzen zulässt. Von Seiten der Linguistik kann jedoch eingewendet werden, dass mit diesem Verfahren womöglich literaturwissenschaftlichen Interessen gedient ist, aber noch wenig über die Kulturalität kommunikativen Handelns gesagt ist, da es schwierig ist zu beurteilen, ob die in den Texten ermittelten Strukturen tatsächlich einer jeweiligen ‚Kultur‘ angerechnet werden können oder vielmehr auf spezifisch literarische Rahmenbedingungen und Traditionen zurückzuführen sind. Dieses Problem kann nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden, aber es lässt sich entschärfen, wenn bei einer literarischen Dialogsortenbeschreibung neben dem literarischen Textcorpus auch nichtliterarische Quellentypen beigezogen werden, die mit dem zu untersuchenden Gesprächsbereich korrespondieren und somit als Vergleichsgröße dienen können. Im oben behandelten Fall eines Beziehungsgesprächs können z. B. Anstandsbücher und Tagebücher, obwohl freilich auch sie selektiver Wahrnehmung und normativen Wertungen unterliegen, Einblicke in zeittypische Oliver Winkler 100 Sichtweisen, Haltungen, Wertvorstellungen bis hin zu Reflektionen über konkrete kommunikative Handlungsformen geben und somit als Spiegelfläche für die in den literarischen Texten ermittelten Strukturen fungieren. 14 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Beschreibung historischer Dialogsorten eine genuin interdisziplinäre und grenzüberschreitende Angelegenheit ist, weshalb es sinnvoll und wünschenswert ist, dass historische Dialogsorten, -typen und -bereiche künftig vermehrt in Form interdisziplinärer Zusammenarbeit untersucht werden. Nur auf diesem Weg scheint das Fernziel einer Geschichte des literarischen Dialogs als Teil einer Kulturgeschichte der Kommunikation realisierbar. Literatur Quellen: Schnitzler, Arthur 1972: Reigen, in: Die Dramatischen Werke. Erster Band, Frankfurt a.M.: Fischer, 347-353 Sekundärliteratur: Altmayer, Claus 2004: Kultur als Hypertext. Zu Theorie und Praxis der Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache, München: Iudicium Coseriu, Eugenio 1988: Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens, Tübingen: Francke Geertz, Clifford 1973: The interpretation of cultures, New York: Basic Books Geertz, Clifford 6 1999: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Henne, Helmut 1980: „Probleme einer historischen Gesprächsanalyse. Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache im 18. Jahrhundert“, in: Sitta, Horst (ed.): Ansätze zu einer pragmatischen Sprachgeschichte. Zürcher Kolloquium 1978, Tübingen: Niemeyer, 89-102 Henne, Helmut / Rehbock, Helmut 4 2001: Einführung in die Gesprächsanalyse, Berlin/ New York: de Gruyter Hermanns, Fritz 1995: „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik“, in: Gardt, Andreas / Mattheier, Klaus J. / Reichmann, Oskar (eds.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien, Tübingen: Niemeyer, 69-101 Hermanns, Fritz 2012: Der Sitz der Sprache im Leben. Beiträge zu einer kulturanalytischen Linguistik, hrsg. v. Heidrun Kämper, Angelika Linke u. Martin Wengeler, Berlin/ Boston: de Gruyter Hess-Lüttich, Ernest W. B. (ed.) 1980: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1981: Soziale Interaktion und literarischer Dialog. I. Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1984: Kommunikation als ästhetisches Problem. Vorlesungen zur Angewandten Textwissenschaft, Tübingen: Narr Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2005: „Literarische Gesprächsformen als Thema der Dialogforschung“, in: Betten, Anne / Dannerer, Monika. (eds.): Dialogue Analysis IX: Dialogue in literature and the media. Selected papers from the 9th IADA conference, Salzburg 2003. Part 1: Literature, Tübingen, Niemeyer, 85-98 14 Cf. hierzu Winkler (2012: 315-125). Dialog und Kulturalität in der historischen Dialogforschung 101 Iser, Wolfgang 1976: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink Kilian, Jörg 2002: Lehrgespräch und Sprachgeschichte. Untersuchungen zur historischen Dialogforschung, Tübingen: Niemeyer Kilian, Jörg 2005: Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen: Niemeyer Koch, Christiane 1985: Wenn die Hochzeitsglocken läuten .... Glanz und Elend der Bürgerfrauen im 19. Jahrhundert, Diss. Marburg: o.V. Koch, Peter / Österreicher, Wulf 1985: „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“, in: Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43 Koch, Peter 1997: „Diskurstraditionen: zu ihrem sprachtheoretischen Status und ihrer Dynamik“, in: Frank, Barbara / Haye, Thomas / Tophinke, Doris (eds.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen: Narr, 43-80 Kotthoff, Helga (ed.) 2002: Kultur(en) im Gespräch, Tübingen: Narr Linke, Angelika 1996: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/ Weimar: Metzler Linke, Angelika 2008: „Zur Kulturalität und Historizität von Gesprächen und Gesprächsforschung“, in: Gesprächsforschung 9, 115-128 Neuendorff, Dagmar / Raitaniemi, Mia 2011: „Über die Schwierigkeiten sich zu streiten. Dialoganalyse einer Streitszene aus dem Nibelungenlied und dem Kalevala“, in: Unzeitig, Monika / Miedema, Nine / Hundsnurscher, Franz (eds.): Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven, Berlin: Akademie Verlag, 35-59 Neuendorff, Dagmar / Winkler, Oliver 2012: „Die Interaktionalität verbaler Konflikte. Eine Fallstudie anhand eines Einakters von Arthur Schnitzler“, in: Keinästö, Kari / Wagner, Doris / Raitaniemi, Mia / Fonsén, Tuomo (eds.): Herausforderung Sprache und Kultur. Festschrift für Matti Luukkainen zum 75. Geburtstag, Helsinki: o.V., 171- 193 Schößler, Franziska 2006: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen/ Basel: Francke Schwitalla, Johannes 1979: „Nonresponsive Antworten“, in: Deutsche Sprache 7, 193-211 Warnke, Ingo 2001: „Intrakulturell vs. interkulturell. Zur kulturellen Bedingtheit von Textmustern“, in: Fix, Ulla / Habscheid, Stephan / Klein, Josef (eds.): Zur Kulturspezifik von Textsorten, Tübingen: Stauffenburg, 241-254 Weininger, Otto 1903: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien: Braumüller Winkler, Oliver 2012: Konfliktaushandlung zwischen Ehepartnern in deutsch- und schwedischsprachigen Dramen. Eine historisch-kontrastive linguistische Dialoganalyse, Diss. Åbo Akademi University und Universität Bern, im Internet unter: http: / / www.doria.fi/ bitstream/ handle/ 10024/ 78656/ winkler_oliver.php.pdf? seq uence=2 [03.06.2013] II Kulturalität der Dialogforschung: Wissenssoziologische Perspektiven Simon Meier Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? Zur nationalkulturellen Aufladung von Kommunikationsformen in der Nachkriegszeit 1 Einleitung Im Jahr 1953 erscheint in der Zeitschrift Die neueren Sprachen ein bemerkenswerter Aufsatz des Bonner Anglisten Wolfgang Schmidt-Hidding mit dem Titel „Das Gespräch im Englischen und im Deutschen“, der auf einen in der kurz zuvor gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Gesprächsforschung (cf. Kuhlmann 2003: 193ff.; Hanke 2000: 511-514) gehaltenen Vortrag zurückgeht. Dem Ziel der Arbeitsgemeinschaft, eine „allgemeine Typologie des Gesprächs“ (Schmidt-Hidding 1953: 377) zu entwickeln, versucht der Autor näherzukommen, indem er exemplarisch die Wortfelder des Gesprächs in diesen beiden Sprachen, wie er sie auf Grundlage von zahlreichen Wörterbüchern rekonstruiert, miteinander vergleicht. Die Befunde dieser Untersuchung, die etwa die höhere Ausdifferenzierung der Typologie öffentlicher Gesprächsformen im Englischen betreffen, haben dem Autor zufolge durchaus praktische Relevanz, würden doch „die konkreten Gesprächssituationen durch die in einer Sprachgemeinschaft vorherrschenden Gesprächstypen und durch die allgemeine Einstellung zum Gespräch bestimmt“ (Schmidt-Hidding 1953: 377). In unausgesprochener, aber unverkennbarer Anlehnung an die inhaltsbezogene Grammatik Leo Weisgerbers (auch er ein Mitglied der besagten Arbeitsgemeinschaft, cf. Kuhlmann 2003: 194) werden die in einer Einzelsprache zur Verfügung stehenden Ausdrucks- und Bezeichnungsmittel als prägende Faktoren von Weltbildern und somit auch von Handlungsdispositionen aufgefasst. Nicht nur der Kontakt mit Angehörigen des englischen Kulturkreises, die „Verständigung von Volk zu Volk“ (Schmidt-Hidding 1953: 396), sondern auch die ‚intrakulturellen‘ Gespräche können Schmidt- Hidding zufolge von den Erkenntnissen über die vielfältigen Gesprächstypen und -einstellungen nur profitieren. Der von philologischer Akribie geprägte Aufsatz, der neben etymologischen und morphologischen Analysen auch einen Exkurs zur kulturkontrastiven Anredeforschung enthält, kann durchaus als früher Beitrag zur interbzw. crosskulturellen Kommunikationsforschung (cf. hierzu Schmidt 2014, in diesem Band) gelesen werden, in der es um vergleichende Charakterisierung von Kulturen und ihrer Kommunikationsweisen geht. Hier soll es jedoch um etwas anderes gehen: Mit Blick auf andere wissenschaftliche wie auch eher Simon Meier 106 anwendungsorientierte Texte über das Gespräch aus dieser Zeit zeigt sich, dass Schmidt-Hiddings Fragestellung einem auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen nachweisbaren Interesse am Gespräch und seiner etwaigen kulturellen Prägung entspringt. Dieses Interesse, so meine These, kann mit der politischen Situation im Deutschland der Nachkriegszeit und insbesondere mit der Demokratisierungspolitik der Alliierten und deren Rezeption von deutscher Seite in Verbindung gebracht werden. Im gesprächsreflexiven Diskurs dieser Zeit, für den Schmidt-Hiddings Aufsatz ein besonders aussagekräftiges Beispiel darstellt, spiegelt sich ein häufig nationalkonservativ motiviertes Bemühen um eine kollektive ‚deutsche‘ Identität. Der Ausdruck Gespräch trägt in dieser Zeit entsprechende Assoziationen mit sich, die auch in seinen wissenschaftlichen Verwendungsweisen noch durchscheint. Die „Kulturalität und Historizität von Gesprächen und Gesprächsforschung“ (Linke 2008b: 115), deren Reflexion in jüngerer Zeit der linguistischen Gesprächsforschung anempfohlen wird, zeigt sich hier auf eindrückliche Weise. 1 Auch der empirisch-linguistische Zugriff auf Gespräche, der in dieser Zeit zu entstehen beginnt, ist historisch und kulturell situiert und daher, wie bereits Hess- Lüttich (1980: 6) gefordert hat, in einen weiteren wissenshistorischen Kontext zu stellen, als dies mit dem Hinweis auf die amerikanische Alltagssoziologie und die pragmatische Wende (cf. etwa Brinker/ Sager 2010: 15) für gewöhnlich geschieht. Im Folgenden möchte ich anhand einer Rekonstruktion des transdisziplinären kommunikationsreflexiven Diskurses der Nachkriegszeit aufzeigen, welche wissens- und sozialgeschichtlichen Gegebenheiten die Thematisierung von Kommunikation prägten und nachhaltig beeinflussten. Nach kurzen Bemerkungen zur Methode (2) werde ich die deutsche Rezeption angelsächsischer Diskussionskonzepte nachzeichnen (3), die in einer Abgrenzungsbewegung zur ideologisch geprägten Stilisierung des Gesprächs als deutsches Bedürfnis führte (4). Vor diesem Hintergrund werden die Motivationen der frühen Ansätze zur Gesprächsforschung einer Neueinschätzung unterzogen (5) und schließlich die möglichen Konsequenzen dieser Befunde für die aktuelle Gesprächslinguistik diskutiert (6). 1 Damit ist die hier verfolgte Fragestellung etwas anders akzentuiert als die von Luckmann (1986) vorgeschlagene Frage nach kommunikativen Gattungen. Zwar werden diese als tradierte und verfestigte Lösungen wiederkehrender kommunikativer Aufgaben und mithin in ihrer gesellschaftlichen Formung und historischen Wandelbarkeit in den Blick genommen. Hier geht es mir jedoch weniger um die Gattung des Gesprächs selbst (cf. hierzu Luckmann 1984), die im Rahmen einer historischen Ethnographie der Kommunikation beschrieben werden müsste, als um die sich wandelnde Konzeptualisierung des Gesprächs im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs. Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? 107 2 Methodisches: Wissenssoziologie und Sprachbewusstseinsgeschichte Wissenschaftsgeschichtsschreibung neigt dazu, die Entstehung und Entwicklung von Theorien und Methoden erkenntnislogisch zu rekonstruieren. Zumeist wird auf Probleme und Widersprüche hingewiesen, die sich im überkommenen Theorierahmen nicht lösen lassen und daher die Suche nach neuen Erklärungsmodellen notwendig machen. In gutgläubiger Übernahme der Selbstdarstellungen in wissenschaftlichen Texten, in denen außerwissenschaftliche Beweggründe meist verschwiegen werden (cf. Kretzenbacher 1995: 30ff.), tendiert denn auch die Wissenschaftsgeschichtsschreibung (wenigstens dort, wo sie en passant betrieben wird, wie etwa in den forschungsgeschichtlichen Überblicken in Lehrbüchern) dazu, die Historizität von Wissenschaft allein in ausdrücklichen Weiterentwicklungen, Widerlegungen usw. zu suchen und allenfalls Vorläufertheorien zu benennen (cf. kritisch hierzu Brekle 1985: 2). 2 Eine andere Sichtweise auf die historische Entwicklung von Wissenschaft findet sich dagegen in Ludwik Flecks Studie über Denkstile und -kollektive, wo Wissenschaftsgeschichte zur „Wissensgeschichte“ (Fleck 1980: 31) ausgeweitet wird. In dieser werden neben den argumentativ gestützten wissenschaftlichen Kernaussagen auch die in einem soziokulturell situierten Kollektiv als gültig vorausgesetzten Vorannahmen wissenschaftlicher wie alltäglicher Provenienz bis hin zu moralischen und ästhetischen Normvorstellungen systematisch einbezogen. Auch die sozialen Konstellationen und Bedingungen des „Denkverkehrs“ (Fleck 1980: 144) werden berücksichtigt. Dieses Programm kennzeichnet auch die Wissenssoziologie Karl Mannheims und ihre Grundannahme von der „Seinsverbundenheit des Wissens“ (Mannheim 1978: 229), welche die sozialen, politischen, ökonomischen etc. Faktoren zu rekonstruieren sucht, die einzelne Denkrichtungen aufkommen lassen und in ihrer Entwicklung bestimmen. In der Historiographie der Sprachwissenschaft finden sich solche Bestrebungen am ehesten in der Sprachbewusstseinsgeschichte. In diesem Forschungsprogramm wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprac h e g em ein s am mit d e n e h er unsystematischen „kommunikativen Mentalitäten“ (Mattheier 1995: 15) als Ausdruck eines Sprachbewusstseins einer Gesellschaft aufgefasst, welches mit der jeweiligen kommunikativen Wirklichkeit in Wechselwirkung steht (cf. Gardt/ Lemberg/ Reichmann/ Roelcke 1991: 17). In jüngerer Zeit ist dieses Programm vermehrt auf kommunikations- und dialogorientierte Sprachtheorien ausgeweitet und mit dem Namen „Kommunikationsbewusstseinsgeschichte“ (Linke 2008a: 36) belegt worden, der auch für den vorliegenden Aufsatz eine treffende Bezeichnung darstellt. Auch hier sollen die (sprach-)wissenschaftlichen Auseinandersetzungen als 2 Freilich besteht gerade in der Sprachwissenschaft an differenzierten wissenschaftshistorischen Arbeiten kein Mangel. Gleichwohl sind es die teilweise stark vereinfachenden Darstellungen in Lehrbüchern usw., welche den Mainstream des wissenschaftsgeschichtlichen Diskurses einer Disziplin prägen. Simon Meier 108 historisch und soziokulturell situierte und entsprechend durch unausgesprochene Werte und Einstellungen geprägte Sichtweisen kommunikativer Wirklichkeit aufgefasst werden. Sprachbewusstseinsgeschichtliche Untersuchungen gehen für gewöhnlich diskursanalytisch vor und finden etwa in der Begriffs- und Diskursgeschichte (im Sinne Dietrich Busses und Fritz Hermanns´) ihr methodisches Fundament. Gerade hier liegt nun eine mögliche Verbindung zu den erwähnten wissenssoziologischen Ansätzen Flecks und Mannheims, die ganz im Sinne diskursanalytischer Arbeiten die Bedeutungsanalyse von zentralen Termini als methodisches Instrument vorschlagen (cf. Fleck 1980: 143; Mannheim 1978: 234) - Termini, die je nach Denkkollektiv in unterschiedlichen Wertehorizonten stehen, entsprechende evaluative Bedeutungskomponenten aufweisen und für das Denkkollektiv identitätsstiftende Funktion erfüllen. Dies gibt den Rahmen für die folgenden Analysen vor, welche die wissenschaftlichen gesprächsreflexiven Texte in einen weiten diskursiven Kontext stellen und insbesondere die nationalkulturellen und mithin ideologischen Aufladungen zentraler Termini und ihr identifikatorisches Potential in den Blick nehmen. Sozialhistorische Zusatzinformationen etwa über die politischen Rahmenbedingungen sind hierfür freilich unverzichtbar. 3 Demokratie durch Diskussion Wie die Historikerin Verheyen (2010) in ihrer „Kulturgeschichte des ‚besseren Arguments‘ in Westdeutschland“ herausgearbeitet hat, war die Demokratisierungspolitik der Alliierten in Deutschland nach 1945 auch durch den Versuch geprägt, die Diskussion als demokratische Praxis im kommunikativen Haushalt der postdiktatorischen Gesellschaft zu verankern. Ausgehend von der Überlegung, dass eine funktionierende demokratische Gesellschaftsordnung auf Partizipation der Bürger am Prozess öffentlicher Meinungsbildung angewiesen sei, die sich vornehmlich als Diskussion vollziehe, zählten Diskussionen zu den grundlegenden Methoden und Lernzielen der politischen Erwachsenenbildung. Ein frühes Zeugnis hierfür ist ein 1948 erschienener Aufsatz Diskussion über das Diskutieren, in dem von einer bürgerkundlichen Unterrichtsstunde in der Berufsschule berichtet wird, in der folgendes Thema zur Diskussion gestellt wurde: „Ist es richtig, so wie es von der englischen Besatzungsmacht gewünscht wird, über viele Fragen Diskussionen durchzuführen […]? “ (Meißner 1948: 362). Das pädagogische Potential dieser Unterrichtsmethode sieht der Autor in der darin beschlossenen Möglichkeit, durch „Diskussionen das Diskutieren zu erlernen und damit Persönlichkeit zu werden“ (Meißner 1948: 363). Die Gelingensbedingungen guter Diskussionen seien von den Schülern vor allem ex negativo aus der Diskussionsfeindlichkeit des Nationalsozialismus wie auch des Kommunismus hergeleitet worden (cf. Meißner 1948: 363). Auf diese Weise wird die Werthaftigkeit der Diskussion gerade für eine demokratische Gesellschaft indirekt bestätigt. Auch in der 1949 erschie- Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? 109 nenen Broschüre Diskussion als Unterrichtsmethode, einer Adaption dreier amerikanischer Diskussionsleitfäden, schreibt der Herausgeber im Vorwort ausdrücklich: „Die Diskussion ist Ausdruck wahrer Demokratie“ (Damaske 1949: 8). In höchsten Tönen lobt Damaske die Diskussionsfreudigkeit der Amerikaner, an welcher sich die Deutschen orientieren sollten. Im 1952 erschienenen Lexikon der Pädagogik heißt es im Artikel zur Diskussion in ähnlicher Weise, dass sich die Idee einer nur durch Diskussion zu erreichenden Wahrheit 3 sich eng berühre „mit der demokratischen Lebensauffassung, in der die D.[iskussion] als nützlich, ja notwendig gepflegt wird“ (Reiring 1952: 783). Unter „starker angelsächsischer Prägung“ (Reiring 1952: 784) setze sich daher auch in Deutschland das Wissen um den „Bildungs- und Erziehungswert“ (Reiring 1952: 784) der Diskussion zunehmend durch. Eine entscheidende Implikation der Auszeichnung der Diskussion als demokratische Praxis ist die schon bei Meißner angedeutete Abgrenzung vom Nationalsozialismus, die als diskussionsfeindliche Gesellschaftsordnung schlechthin dargestellt wird. Das neu erwachende Interesse an der Diskussion wird so als Symptom des Bemühens um Vergangenheitsbewältigung stilisiert. Schon 1946 hatte Karl Jaspers in seiner einflussreichen Schrift Die Schuldfrage formuliert: „Vor 1933 durften wir und jetzt dürfen wie wieder frei reden“ (Jaspers 1986: 118), so dass gerade jetzt nach dem Ende der Diktatur das „Miteinanderreden und Aufeinanderhören“ (Jaspers 1986: 130) gesucht werden müsse. Damaske weist darauf hin, dass man aus der „jüngsten Vergangenheit [weiß], wozu es führen kann, wenn Meinungsäußerung unterdrückt und einem Volk ein Wille aufgedrängt wird“ (Damaske 1949: 8). 4 Deutlicher noch wird Theodor Wilhelm. Im postdiktatorischen Deutschland, so schreibt er in seinem unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger publizierten Buch Wendepunkt der politischen Erziehung, seien die von den Alliierten etablierten Diskussionsveranstaltungen eine Notwendigkeit und den Deutschen selbst auch ein Bedürfnis: Von innen gesehen macht sich in unserer Diskutierfreudigkeit die jahrelange Gängelung unserer Meinungen durch die staatliche Inquisition Luft; in den 3 Habermas, der in den späten vierziger Jahren als Schüler direkter Abnehmer der auf die Methode der Diskussion gestützten politischen Bildungsmaßnahmen war und sich rückblickend selbst als „Produkt der ‚reeducation‘“ (Habermas 1981: 513) charakterisiert hat, wird später eben diese Idee der wahrheitsstiftenden Diskussion als demokratisches Prinzip aufgreifen. Diese Inspirationsquelle wird in der philosophischen Diskussion um Habermas’ Theorie, die vor allem innerphilosophische Einflüsse etwa seitens des amerikanischen Pragmatismus betont, m. E. viel zu wenig gewürdigt. 4 Man beachte, dass sich durch die Formulierung „man weiß, wozu…“ die explizite Benennung des in dieser Zeit tabuisierten Gegenstands erübrigt, indem er dem vermeintlich ohnehin Bekannten zugeschlagen wird. Zu dieser Figur des argumentum an populum cf. Walton 1999: 202-205). Die Darstellung, dass die nationalsozialistische Diktatur in der Unterdrückung von freiem Meinungsaustausch bestanden hätte, ist zudem eine gewaltige Verharmlosung, die zudem eine bloße Opferrolle der deutschen Bevölkerung suggeriert. Symptomatisch ist etwa Schorers Formulierung von der „heute immer noch schwer faßbare[n] Tatsache, daß ein 80-Millionen-Volk, ein ‚Volk von Denkern‘ sich sein Mitspracherecht bei der Staatsführung nehmen ließ“ (Schorer 1957: 4). Simon Meier 110 Augen der Besatzungsmacht ist die Diskussion die Patentempfehlung an Menschen, die erst wieder daran gewöhnt werden müssen, daß in der Demokratie jeder einzelne die Politik der Regierung mitträgt. Aus England und USA werden uns die Praktiken und Erfahrungen der Diskussion als Mittel der öffentlichen Meinungsbildung freigebig und wohlmeinend zur Verfügung gestellt. Vieles ist dankbar aufgegriffen worden und hat bereits Früchte getragen. (Oetinger 1951: 231) Zugleich moniert Wilhelm jedoch, dass „wir [d. h. wir Deutschen; S.M.] aus einer eigenartigen Haltung heraus diskutieren, welche die Diskussion in das Gegenteil von dem verkehrt, was sie eigentlich sein soll. Sie ist mehr Deklamation als wirkliches Gespräch“ (Oetinger 1951: 232). Die Diskussion werde in Deutschland zu unrecht und in unheilvoller Kontinuität totalitärer Denkweisen als autoritative Praxis aufgefasst, der die kooperative Diskussion angelsächsischer Provenienz entgegenzusetzen sei. Das als typisch deutsch ausgewiesene Diskussionsdefizit gelte es daher durch eine stärkere Orientierung an angelsächsischen Diskussionsformaten zu beheben, welche einen über bloßen „Zwang der Majorität“ (Oetinger 1951: 232) hinausgehenden Konsens ermöglichen. Unter kundiger Anleitung der Besatzungsmächte soll also die bundesdeutsche Gesellschaft die Diskussion erlernen und gerade hierdurch die von Diktatur und Totalitarismus geprägte Vergangenheit endgültig hinter sich lassen. Noch 1957 heißt es im Sprechlexikon des Sprechwissenschaftlers Maximilian Weller: „‚Die Deutschen können nicht diskutieren‘, ist ein nach 1945 oft erhobener Vorwurf von ausländischer, insbesondere angelsächsischer Seite, dem leider die Berechtigung nicht abzusprechen ist“ (Weller 1957: 49). Dabei können Weller zufolge gerade die als amerikanisch apostrophierten Techniken der Podiums- und Panel-Diskussion, denen im Lexikon eigene Lemmata gewidmet sind, als Vorbild dienen. 5 Die in all diesen Texten zum Ausdruck kommende Hochschätzung der Diskussion als demokratische Praxis dient also nicht zuletzt der Selbstvergewisserung einer Gesellschaft, welche die Erfahrung von Diktatur und Totalitarismus oder gar, wie im Fall Wilhelms, die eigene Komplizenschaft verarbeiten muss. 6 Das Sprechen bzw. Schreiben über die Diskussion fügt sich in den - aus sprachwissenschaftlicher Sicht von Heidrun Kämper rekonstruierten - nachkriegsdeutschen Identitätsdiskurs ein, in dem Intellektuelle „deutsches Wesen der Vergangenheit als eine der Voraussetzungen, die den Nationalsozialismus bewirkten“ (Kämper 2003: 340), analysieren und „eine deutsche Identität für die Zukunft [projektieren], um eine Wiederholung zu verhindern“ (Kämper 2003: 340). 5 Tatsächlich sind in der frühen Bundesrepublik vielerorts Bildungsstätten und sogenannte Akademien entstanden, in denen gerade diese Gesprächstypen ausgiebig praktiziert und die entsprechenden Techniken als Lernziele vermittelt wurden (cf. Schildt 1999: 111-119; van Laak 2002: 42-52). Die Unterrichtsmaterialien wurden häufig in Form von Leitfäden publiziert, deren Autorinnen und Autoren zumeist ausdrücklich den demokratischen Gehalt der Diskussion als Motiv anführen (cf. etwa Kelber 1958). 6 Wilhelm war u. a. Mitglied der SA und verteidigte in seiner publizistischen Tätigkeit die Judenverfolgung (cf. Keim 1988: 23). Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? 111 Vor diesem Hintergrund erscheint nun der in der Einleitung angesprochene Aufsatz Wolfgang Schmidt-Hiddings als Reflex einer auch in anderen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen stattfindenden Diskussion über die Diskussion und ihren Bedeutung für die Gesellschaft der Nachkriegszeit. Gerade ein Vergleich deutscher und englischer Gesprächsformen ist in dieser Perspektive ein naheliegendes Unterfangen. Dabei kehren viele der bisher genannten Motive auch bei Schmidt-Hidding wieder und werden durch die begriffsgeschichtlichen Studien gewissermaßen wissenschaftlich verbürgt. Besonders die Erläuterungen zu den (im Englischen angeblich besonders ausdifferenzierten) öffentlichen Formen des Gesprächs sind hier aufschlussreich. Denn die discussion, neben der debate die wichtigste Form, sei dadurch gekennzeichnet, dass es hier „nicht um ein einfaches Für und Wider, um Schwarz-Weiß-Kontraste“ (Schmidt-Hidding 1953: 389) gehe und die Diskussionspartner, welche „nicht parteiisch festgelegt“ (Schmidt-Hidding 1953: 389) sein dürfen, „Mitarbeiter an einer gemeinsamen Sache“ (Schmidt- Hidding 1953: 389) statt Gegner seien. Dies entspricht nicht nur der von Wilhelm als typisch angelsächsisch ausgewiesenen und den Deutschen anempfohlenen kooperativen Diskussion. Der Erläuterungsaufwand, mit dem Schmidt-Hidding seinen deutschen Lesern diesen Diskussionsbegriff nahezubringen versucht, zeigt zudem, dass er es ganz im Sinne Wilhelms für ein noch nicht hinreichend bekanntes, geschweige denn praktisch etabliertes Diskussionsverständnis hält. Im gleichen Text deutet sich jedoch auch eine vorsichtige Skepsis gegenüber den englischen Gesprächsformen an. Denn im englischen Wortfeld des Gesprächs mit seinen Elementen wie chat, discussion, conversation usw. fehle „der direkte Ausdruck für Gespräch im Sinne des Sichaussprechens […]; ein Wort für das Gespräch, das beide Gesprächspartner ‚innerlich weiterbringt‘, wie wir gern sagen“ (Schmidt-Hidding 1953: 387). Nun sei aber gerade diese Gesprächsform ein typisch deutsches Bedürfnis, das durch die angelsächsischen Diskussionsformate nicht befriedigt werden könne: Disput, Diskussion, Debatte wurden von der deutschen Sprache zwar absorbiert, dennoch haftet den mit ihnen bezeichneten Gesprächsformen etwas Fremdes, nicht ganz zu uns Gehöriges an. […] So freimütig wir die Überlegenheit der englischen Gesprächshaltung in den praktischen und politischen Bereichen anerkennen, so dürfen wir hoffen, daß sich das „Gespräch“, wie es die kontinentale und deutsche Tradition entwickelte, und wie es dem Angelsachsen weitgehend fehlt, zum geistigen Kontakt und zur Erörterung von Fragen, welche die menschliche Existenz betreffen, besonders eignet. (Schmidt- Hidding 1953: 395; 397) In diesem sprachpuristisch anmutenden Argument, in dem in Weisgerber’scher Manier Sach- und Bezeichnungsebene tendenziell verschwimmen, wird also von der Fremdheit des Ausdrucks Diskussion auf die Fremdheit der damit bezeichneten Praxis selbst geschlossen. Die Reflexion über das persönliche Gespräch, das hier von der sachlichen Diskussion abgehoben wird, wird auf Grundlage der nationalkulturellen Aufladung dieser Begriffe zur Besinnung auf das Eigene im Zeichen des Fremden. Eben diese Nebenfunktion der Simon Meier 112 Gesprächsreflexion, die mitunter sogar nationalistische Tendenzen zeitigt, tritt in der Folge im wissenschaftlichen Diskurs über das Gespräch deutlich zutage. 4 Gespräch statt Diskussion als ‚deutsches‘ Bedürfnis Nach geradezu euphorischer Aufwertung der Diskussion in der frühen Nachkriegszeit mehren sich ab den frühen fünfziger Jahren die kritischen Stimmen, die vor einer vollständigen Übernahme angelsächsischer Diskussionsformate warnen und stattdessen die Vorzüge des nun als ‚deutsch‘ apostrophierten persönlichen Gesprächs betonen. Vor allem von Pädagoginnen und Pädagogen, die die von den Alliierten angestoßenen Diskussionsschulungen unter dem Stichwort „Gesprächserziehung“ wissenschaftlich reflektierten und theoretisch fundieren, wird häufig auf Eigenschaften und Leistungen verwiesen, die angeblich dem persönlichen Gespräch vorbehalten seien. Zwar wird die These vom demokratischen Wert des Gesprächs weiterhin bekräftigt, doch wird zugleich auf die Unzulänglichkeit der angelsächsischen Formate hingewiesen. In einem 1956 an einer Tagung über Sprechkunde und Sprecherziehung gehaltenen Vortrag betont etwa Willy Kramp, dass die „Fähigkeit zu innerer Anteilnahme“ (Kramp 1956: 583), welche die entscheidende Voraussetzung für das Gespräch darstelle, „die besondere Gabe und Möglichkeit gerade deutschen Wesens“ (Kramp 1956: 583) sei. Dabei stellt er klar, dass er das Gespräch „bewußt nicht ‚Diskussion‘ nennen möchte, weil es in vielen Fällen durchaus auch die menschlichen Tiefen, ja die Hoffnungen, Schicksale, Werthaltungen der im Gespräch befindlichen mit umfassen kann“ (Kramp 1956: 587). Das „gewollte, geplante, geleitete Gespräch“ (Kramp 1956: 587) - hiermit sind offenkundig die angelsächsischen Diskussionsformate gemeint - bleibe demgegenüber stets künstlich und abstrakt. In ähnlicher Weise warnt Franz Pöggeler in seinem Aufsatz Über das Gespräch in der Erwachsenenbildung davor, „die Methodik des Gesprächs in eine bloße Technik aufzulösen, abseits der Einsicht, daß in jedem echten Gespräch Werte wirksam sind, deren Würde es nicht entspricht, daß man mit ihnen leichtfertig jongliert wie mit Bällen“ (Pöggeler 1955: 15). Für den Umstand, dass Gespräche gegenwärtig allzu oft „zu Inflation und Betrieb ausarten“ (Pöggeler 1955: 15), macht Pöggeler ausdrücklich die „einseitige Übertreibung des ‚Gruppengesprächs‘ und ‚Gruppendenkens‘ nach amerikanischem Vorbild“ (Pöggeler 1955: 24) verantwortlich. Mit Blick auf die zeitgenössische Pädagogik beklagt er, „wie sehr wir in ‚Anglomanie‘ und ‚Amerikomanie‘ verfallen sind“ (Pöggeler 1955: 24), weshalb sich durch die allerorten praktizierte Gesprächserziehung „nicht Persönlichkeiten, sondern nur Diskutanten, Redevirtuosen ‚Gesprächs-Techniker entwickeln“ (Pöggeler 1955: 24) könnten. Dabei habe gerade die deutsche Tradition - Pöggeler nennt Namen wie Martin Buber, Leonard Nelson und Albrecht Goes - bereits eine „gültige Sinnlehre des Gesprächs“ (Pöggeler 1955: 24) hervorgebracht. Die hier aufscheinende Opposition von ‚echtem Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? 113 Gespräch‘ und ‚bloßer Diskussion‘ wird auf diese Weise in die zeittypische, auch in anderen Bereichen nachweisbare Gegensatzkonstruktion von angelsächsischen und deutschen Traditions- und Wertehorizonten (cf. hierzu Schildt 1999: 24-38) eingepasst. Auch in der Reflexion über das Gespräch werden die Zeichen eines zunehmenden deutschen Behauptungswillens angesichts des politischen und kulturellen Einflusses der Besatzungsmächte offenbar. Dass diese Sichtweise mit offenem Nationalismus einhergehen kann, zeigt etwa Maximilian Wellers Buch der Redekunst (1954), in dem der Autor auf die angelsächsischen Diskussionstechniken zu sprechen kommt und in diesem Zusammenhang auf das schon von Pöggeler bemühte Stereotyp der spielerisch-virtuosen, aber oberflächlichen angelsächsischen Kultur (cf. hierzu Gerhard/ Link 1991: 44f.) zurückgreift: Die oben genannten Sport- und Spielformen der Redekunst werden bei uns kaum ein längeres Dasein fristen. Schließlich hat die deutsche Wertschätzung des Fachlichen, Zünftigen und Ordentlichen einen berechtigten Kern. (Weller 1954: 340f.) Hans-Rudolf Müller-Schwefe beklagt ebenfalls, dass die allzu enge Orientierung an den angelsächsischen Vorbildern dazu geführt habe, dass die öffentlichen Diskussionen zu einem „Jonglieren mit Problemen“ (Müller-Schwefe 1956: 9) geworden seien, denen der für ein ‚echtes Gespräch‘ notwendige „Ernst, sich vom Letzten her in Frage gestellt sein zu lassen“ (Müller-Schwefe 1956: 8), vollständig abgehe. Gerade dieser Ernst sei den Deutschen infolge der existentiellen Bedrohungen des Krieges aber ein Bedürfnis (cf. auch Dahmen 1956: 95f.). In überaus kondensierter Weise hält Müller-Schwefe schließlich fest: „Aber unsere eigentliche Aufgabe ist, wenn wir unseren Erfahrungen treu bleiben wollen, nicht die Diskussion, sondern das Gespräch“ (Müller-Schwefe 1956: 10). Durch die adversative Konjunktion nicht - sondern werden Diskussion und Gespräch als einander ausschließend markiert (cf. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997: 9); durch die Possessivkonstruktion unsere Aufgabe, welche das Bestehen einer homogenen Wir-Gruppe suggeriert, wird zugleich nationale Identität inszeniert (cf. hierzu Müller 2009), für die das Gespräch als geradezu konstitutiv ausgewiesen wird. Noch in einem auf der Germanisten-Tagung 1958 in Hamburg gehaltenen Vortrag vertritt Lucie Sandrock eine ähnliche Sichtweise, wenn sie der „angelsächsischen Diskussion“ (Sandrock 1960: 51), die mit dem Grundwert der Kompromissbereitschaft „zur pragmatischen Verständigung führt“ (Sandrock 1960: 51), das Gespräch gegenüberstellt. Dieses beruhe auf der „Hinwendung zum Du“ (Sandrock 1960: 49) und habe „Gewinnung einer neuen Sicht, Aufschließung von Wirklichkeit“ (Sandrock 1960: 49) und darauf aufbauend schließlich die Stiftung von Gemeinschaft als Ziel. Dementsprechend rücken in Sandrocks Darstellung als Bildungsziele der Gesprächserziehung die unmittelbar für politisches Handeln relevanten Aspekte in den Hintergrund. Betont wird vielmehr die existentiell-anthropologisch bedeutsame Selbsterkenntnis des Menschen „in seiner dialogischen Anlage als ein Wesen der Simon Meier 114 Spannung“ (Sandrock 1960: 59), von der ausgehend erst echte Gemeinschaft entstehen könne - Gemeinschaft, die über kompromissorientiertes Zusammenleben hinausgehe. 7 Wie schon Pöggeler verweist auch Sandrock ausdrücklich auf die deutschsprachige dialogphilosophische Tradition und ihren Protagonisten Martin Buber, der seit den frühen zwanziger Jahren eine Gesprächstheorie entworfen hatte, welche eben diese existentiell-anthropologischen Aspekte des Gesprächs in den Vordergrund stellt und ebenfalls das gemeinschaftsstiftende Potential des Gesprächs betont (cf. etwa Buber 1962: 171-214). Auch in anderen Texten der Zeit ist die Konstruktion deutscher Traditionslinien der Reflexion über das Gespräch ein Weg, sich von den angelsächsischen Diskussionsformaten abzugrenzen und sich somit gegen den politischen und kulturellen Einfluss der alliierten Besatzungsmächte zu behaupten. Auch hierin erweist sich die Gesprächsreflexion dieser Zeit als identitätsstiftende Praxis, denn „die Imagination nationaler Gemeinschaft ist angewiesen auf die Imagination einer in die Tiefe der Zeit zurückreichenden Kontinuität“ (Assmann 1992: 130). Otto Haase (1953: 170) etwa empfiehlt, dem für die Gegenwart symptomatischen Abgleiten des Gesprächs in Streit und Diskussion durch eine Besinnung auf das auf Selbstentfaltung abzielende Goethe’sche Gespräch zu begegnen. Hans Schorer, der in seinem Buch Das Gespräch in der Schule mit Nachdruck die Unverzichtbarkeit des Gesprächs für eine demokratische Gesellschaft betont, vermeidet gleichwohl jeden Bezug auf angelsächsische Vorbilder und führt stattdessen das Hildebrandslied und deutschsprachige Autoren wie Adam Müller und Wilhelm von Humboldt als Inspirationsquellen an (cf. Schorer 1957: 5-10). Von Wolfram von Eschenbach über Matthias Claudius bis hin zum völkisch-nationalistisch orientierten Schriftsteller Walter Flex reicht die Traditionslinie, in die Heinrich Dietz (1960) das typisch deutsche Gespräch gestellt sehen will, und der Philosoph Friedrich Kaulbach führt Friedrich Schleiermacher als geistigen Ahnherren einer „Gesprächsgesinnung“ (Kaulbach 1959: 16), die der politischen Propaganda in diktatorischen Gesellschaften entgegengesetzt sei. Schließlich fügt sich auch Schmidt- Hiddings begriffsgeschichtlich gestützte Konstruktion des Gegensatzes zwischen deutschen und englischen Gesprächsformen in diese Bemühungen um die Auffindung deutscher Traditionslinien ein. Denn in seiner bereits angesprochenen Auszeichnung des für die Erörterung existentieller Belange besonders geeigneten Gesprächs verweist er ausdrücklich auf die „deutsche Tradition“ (Schmidt-Hidding 1953: 397) um Autoren wie Leibniz und Kotze- 7 Überhaupt fällt auf, dass die sozialen Funktionen des Gesprächs, auf die sich die Gesprächstheorien dieser Zeit gerade in der Betonung des demokratischen Gehalts des Gesprächs so häufig berufen, zumeist auf den Begriff der Gemeinschaft (und nicht den der Gesellschaft) bezogen werden. Das v. a. von Ferdinand Tönnies (1912) prominent gemachte Begriffspaar Gemeinschaft - Gesellschaft kann als Grundfigur des gesprächsreflexiven Diskurses der Nachkriegszeit beschrieben werden, die etwa durch die vielfach nachweisbare Metaphorik des natürlich-urwüchsigen Gesprächs und der mechanischkünstlichen Diskussion das Reden über Kommunikation grundlegend strukturiert. Cf. hierzu Meier (2013: 207-216). Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? 115 bue. Mit großem argumentativem Aufwand wird die Einsicht in die zentrale Bedeutung des Gesprächs für das menschliche Zusammenleben als deutsche Errungenschaft dargestellt, der gegenüber die angelsächsischen Ideen von Diskussion als demokratische Praxis eigentümlich traditionslos erscheinen müssen. Tatsächlich zeigt sich, dass die Reflexion über das Gespräch als anthropologisch-existentielle und zugleich gemeinschaftsstiftende Praxis im deutschsprachigen Raum eine längere Tradition hat; und zwar entgegen der üblichen Etikettierung des Nationalsozialismus als gesprächsfeindliche Diktatur durch die Zeit des Dritten Reichs hindurch. In gesprächsreflexiven Texten aus dieser Zeit wird die Diskussion zwar tatsächlich als bürgerliche und parlamentarische Praxis rigoros abgelehnt (cf. etwa Günther 1933: 440; Geißler 1940: 49). Doch noch in einem 1937 erschienenen, ganz in nationalsozialistischer Deutschtumsideologie gehaltenen Handbuch für den Deutschunterricht gilt das Gespräch als herausragendes „sittliches Verhältnis“ (Murtfeld 1937: 34), welches „Jasagen zum andern, das Sicheinordnen in ein Überpersönliches“ (Murtfeld 1937: 34) erfordere und somit „Gemeinschaft des Volkes zum Ziele der Volkwerdung“ (Murtfeld 1937: 34) hervorbringe. Die in den fünfziger Jahren so häufig formulierte Gegenüberstellung von persönlichem und gemeinschaftsstiftendem Gespräch und lediglich kompromissorientierter Diskussion ist hier bereits angedeutet. Wenn sie in der Nachkriegszeit wieder aufgegriffen wird, so ermöglicht dies unter dem Deckmantel einer vermeintlich demokratischen Neuausrichtung die Fortsetzung gemeinschaftsideologischen und häufig auch völkischen Gedankenguts, ohne auf die Stilisierung des Gesprächs als antidiktatorische Praxis verzichten zu müssen. Die auf die beschriebenen Weisen vorgenommene Gegensatzkonstruktion von Diskussion und Gespräch hat sich jedenfalls als außerordentlich wirksam erwiesen. In dem überaus einflussreichen und bis Mitte der achtziger Jahre neu aufgelegten Buch Neuzeitliche Unterrichtsgestaltung wird die Diskussion nur noch zu den „gesprächsähnliche[n] Formen“ (Stöcker 1954: 121) gezählt. Auch in anderen Didaktiken (cf. etwa Netzer 1959: 88ff.) sowie eher philosophisch orientierten Texten (cf. etwa Bollnow 1966: 50ff.) wird dem persönlichintimen Gespräch klar der Vorzug vor der als bloß sachlich abgewerteten Diskussion gegeben. Dass diese Diskussionsskepsis wesentlich durch die Skepsis gegenüber den vermeintlich fremden Konzepten und Praktiken angelsächsischer Provenienz bedingt ist, vermutet aus zeitgenössischer Perspektive auch Alfons Hilgers, ein Schüler Wolfgang Schmidt-Hiddings, in seiner Bonner Dissertation zur Begriffsgeschichte von Termini des öffentlichen Gesprächs. Den Versuch der Alliierten, die Diskussion in Deutschland anzusiedeln, erklärt Hilgers für gescheitert: Wen aber wundert es da, daß die Diskussion im Laufe der Zeit ebenso abgewertet wurde wie die Debatte? Zu dem Gefühl, daß es sich letztlich doch um erfolgloses Gerede handele, gesellte sich nämlich nun noch der nicht ganz unbegründete Verdacht, die Diskussion stehe in enger Beziehung zu den nicht sehr populären Bemühungen der westlichen Siegermächte um die ‚re- Simon Meier 116 education‘, die Umerziehung des Volkes zu der so lange beschimpften und nun suspekten Demokratie. (Hilgers 1960: 186f.) Der Ausdruck Gespräch erweist sich vor diesem Hintergrund mitnichten als neutrale Bezeichnung zwischenmenschlicher Kommunikation, sondern vielmehr als wertsetzende Zielformel, welche durch die vermeintliche Abgrenzung von Diskussion die Privatsphäre auf- und Öffentlichkeit abwertet. Durch die Konstruktion einer vermeintlich typisch deutschen Tradition solcher Gesprächsauffassung dient diese Zielformel letztlich auch der nationalen Selbstvergewisserung. In diesem diskussionsskeptischen und häufig auch nationalkonservativ geprägten Klima, das vor allem in pädagogisch orientierten Disziplinen wissenschaftlich fundiert wird und später etwa Dahrendorf zu scharfer Kritik antreibt, 8 entstehen nun auch die ersten Ansätze einer linguistischen Gesprächsforschung. Es ist daher zu vermuten, dass die beschriebenen identitätsstiftenden Funktionen der Reflexion über das Gespräch auch hier am Werke sind. 5 Motivationen der frühen Gesprächsforschung Schon die Arbeiten Schmidt-Hiddings und Hilgers’ machen deutlich, dass die durchgehend normativ ausgerichtete Gesprächsreflexion, wie sie in der Nachkriegszeit insbesondere in pädagogischen Disziplinen stattfand, auch die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Gespräch“ beeinflusst hat. Es ist mitnichten so, dass die Hinwendung der Sprachwissenschaft zu diesem Thema rein innerwissenschaftlich motiviert war, etwa durch die Erkenntnis der mangelnden Erklärungskraft rein strukturbasierter Ansätze. 9 Die Linguistik griff vielmehr ein Thema auf, das für die politisch-sittliche Standortbestimmung der nachkriegsdeutschen Gesellschaft von großer Relevanz war. Dementsprechend nahm sie weniger die Strukturmerkmale gesprächsförmiger Kommunikation als vielmehr deren moralische und sozialpolitische Implikationen in den Blick. Die angewandte Sprachwissenschaft, wie sie in den frühen fünfziger Jahren an der Universität Bonn begründet wurde (cf. Kandler 1953) und in deren Rahmen sich auch die Arbeitsgemeinschaft für Gesprächsforschung formierte, hat sich denn auch bevorzugt pädagogisch relevanter Themen angenommen. Weitere Impulse für die wissen- 8 In seinem Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland diagnostiziert Dahrendorf ein schwerwiegendes Demokratiedefizit und macht hierfür insbesondere die Unbeliebtheit der Diskussion verantwortlich. Die Diskussionsskepsis sieht er dabei als Nachwirkung der im Nationalsozialismus verheerenden Folgen zeitigenden Autoritätsgläubigkeit an (cf. Dahrendorf 1965: 472). 9 Diese sprachwissenschaftshistorische Sichtweise wird unter dem Stichwort der pragmatischen Wende in neueren gesprächslinguistischen Arbeiten gerne vertreten (cf. etwa Henne/ Rehbock 2001: 9f.). Umso überraschender ist folgendes Zitat aus Walter Porzigs Aufsatz Die Methoden der wissenschaftlichen Grammatik aus dem Jahr 1957: „Es ist nichts Geringes, daß sich die Sprachwissenschaft aller Richtungen heute darüber einig ist, daß die Wirklichkeit der Sprache, also die Situation, in der sie uns unmittelbar in Raum und Zeit zugänglich ist, das Gespräch ist“ (Porzig 1957: 5). Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? 117 schaftliche Erforschung des Gesprächs kamen aus der sogenannten Sprechkunde, die schon früh mit Tonbandaufnahmen und Transkripten experimentierte, aber ausdrücklich der als demokratisch wertvoll ausgewiesenen Sprecherziehung als Grundlage dienen sollte (cf. etwa Winkler 1954). 10 Vor dem Hintergrund der in den vorigen Abschnitten aufgezeigten Konzeptualisierung des Gesprächs als von der Diskussion vermeintlich grundverschiedene Praxis überrascht nun kaum, dass auch die frühen Ansätze zur Gesprächsforschung sich an eben diesem Gesprächsbegriff orientieren. Walter Kröber, einer der Hauptinitiatoren der Arbeitsgemeinschaft für Gesprächsforschung, bestimmt in einem programmatischen Aufsatz ausdrücklich das „Gespräch als Begegnung […] zwischen zwei Menschen“ (Kröber 1955: 62), in dem im Idealfall „die gemeinsam besprochenen Gegenstände selber vorwärts treiben“ (Kröber 1955: 64) und das sich hierin vom „methodisch geplante[n] und geregelte[n] Gespräch“ (Kröber 1955: 64) unterscheide. Der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gespräch empfiehlt Kröber darum die Anknüpfung an die dialogphilosophische Tradition um Autoren wie Martin Buber, Romano Guardini und Albrecht Goes. Hans Glinz schreibt in einem für die Weisgerber-Festschrift verfassten Aufsatz, dass das Gespräch „eine höhere, gemeinsame geistige Welt bildet, in der zwei oder mehr Menschen gleichermaßen zu Hause sind“ (Glinz 1959: 104), so dass gerade das Gespräch „Träger und Ausdruck einer gemeinsamen, ererbten und weiter zu vererbenden Ordnung“ (Glinz 1959: 104) sei. In ähnlicher Weise schreibt Walter Porzig, der ebenfalls in engem Kontakt mit den Bonner Protagonisten der Angewandten Sprachwissenschaft steht und die Sprachwissenschaft ausdrücklich in der „Betrachtung von Gesprächen“ (Porzig 1961: 321) fundiert sehen möchte: Jedes Gespräch ist eingebettet in das Leben einer Gemeinschaft. Es setzt Gemeinschaft voraus, aber diese selbst ist begründet auf die Möglichkeit von Gesprächen. Die ursprüngliche Leistung der Sprache ist also unter den Leistungen innerhalb einer Gemeinschaft und für eine Gemeinschaft zu suchen. (Porzig 1961: 322) Ausdrücklich betont Porzig, dass alle einzelnen Gespräche vermittels der Gemeinschaft, der die Gesprächspartner angehören, „in einem geschichtlichen Zusammenhang stehen“ (Porzig 1961: 322), und sieht deshalb - ähnlich wie Hans-Georg Gadamer (1960: 422) - die Einordnung in einen Überlieferungszusammenhang einer lebendigen Gemeinschaft als wichtigsten Ertrag des Gesprächs an. Zweckhafte Verständigung, aber auch schon sachliches Einverständnis gerät dagegen in diesen moralisch überhöhten Gesprächskonzepten als mögliches Gesprächsziel und somit auch als Maßstab für die analytische Betrachtung völlig aus dem Blick. 10 In Winklers Buch findet sich auch das meines Wissens früheste auf Grund von Tonbandaufnahmen erstellte Transkript, das gesprochensprachliche Merkmale wie Anakoluthe und auch prosodische Informationen detailgetreu abzubilden versucht (cf. Winkler 1954: 35). Schon Zwirner (1951) hatte auf Tonbandaufnahmen von Gesprächen beruhende Beobachtungen publiziert, allerdings keine Transkriptionen abgedruckt. Simon Meier 118 Auch in der Sprechkunde, dem weiteren entscheidenden Motor für die Entwicklung einer empirisch-wissenschaftlichen Gesprächsforschung, ist die enge Orientierung am Leitbild des persönlich-intimen Gesprächs sichtbar. Winkler etwa, der das Gespräch als „Brücke zwischen Mensch und Mensch“ (Winkler 1954: 33) definiert, formuliert geradezu schwelgerisch, „daß die Partner in einer Gesprächsgemeinschaft aufgehen und sich dann im Idealfall ein fortlaufender Denkvorgang auf zwei oder mehr Sprecher verteilt“ (Winkler 1954: 37). Nicht die besprochene Sache sei entscheidend, sondern der ausdruckshafte Gehalt des Gesagten, mittels dessen sich der Sprecher an den „Kern der Persönlichkeit“ (Winkler 1954: 37) seines Gegenübers wende. 11 Gleichsam unter der Hand wird das persönliche, von äußeren Zwecken entbundene Gespräch in Muße als normativer Richtwert eingeführt und bestimmt entsprechend die im weiteren Verlauf des Buchs entwickelten Gesprächstypologien und sprecherzieherischen Methoden. Schließlich schreibt auch Friedrich Kainz 12 in seiner Psychologie der Sprache, die dem Gespräch großen Raum widmet: Die soziale Struktur des Gesprächs ist also Begegnung von Personen. Daraus entsteht nicht nur als Ertrag Erkenntnis, sondern die Einsicht begründet zugleich die Gemeinschaft dieser Personen; die Identität des gemeinten Sinnes bewirkt ein gemeinschaftliches Verhalten im Rahmen eines gegebenen Lebenszusammenhanges, eine sinnvolle Vereinigung von personaler Partnerschaft. (Kainz 1954: 509) Diese Formulierung findet sich im Kapitel „Soziologie des Gesprächs“ (Kainz 1954: 503), doch wird hier Sozialität ganz auf die personale Gemeinschaft beschränkt. Gesellschaftliche Prägungen des Gesprächs wie etwa verschiedene Grade der Institutionalisierung bleiben demgegenüber gänzlich unerwähnt. Die seitens von Pädagoginnen und Pädagogen teilweise unverblümt vorgetragenen nationalkulturellen Aufladungen des Ausdrucks Gespräch finden sich in diesen sprachwissenschaftlichen Texten freilich nicht. Allein, die normativ unterlegte Gegensatzkonstruktion zwischen methodisch geleiteter, öffentlicher und sachlicher Diskussion auf der einen und sich der Planung entziehendem, persönlichen Gespräch auf der anderen Seite mag erklären, weshalb gerade das persönlich-intime Gespräch den Bezugspunkt der wissenschaftlichen Konzeptualisierungsversuche abgibt. Eine klar normative Grundausrichtung ist diesen frühen Ansätzen der Gesprächsforschung ebenso zu eigen wie eine tendenzielle Abwertung öffentlicher, institutionalisierter sowie agonaler Gesprächsformen, die als eingeschränkt und überfremdet 11 Bereits in seinem 1951 in der Zeitschrift „Der Deutschunterricht“ veröffentlichten Essay Über das Gespräch hatte Winkler in ähnlicher Weise formuliert: „Das Wort des Gesprächs hingegen bleibt ganz persongebunden, strömt aus dem Kern der Sprecherpersönlichkeit und erfüllt sich erst, wenn es den Kern des Hörers auch anrührt. […] Im Gespräch erleben wir nicht nur den Gegenstand der Rede als solchen, sondern gleicherweise seine Spiegelung in der Sprecherpersönlichkeit“ (Winkler 1951: 30). 12 Als Herausgeber der Zeitschrift Sprachforum war Friedrich Kainz ebenfalls eine prägende Figur innerhalb der Angewandten Sprachwissenschaft Bonner Prägung. Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? 119 erscheinen. Die später von Dahrendorf als „deutsche Ideologie sozialer Harmonie“ (Dahrendorf 1965: 156) gescholtene Öffentlichkeits- und Diskussionsskepsis scheint hier deutlich durch. 6 Konsequenzen für die heutige Gesprächslinguistik Die Gesprächslinguistik in ihrer noch heute etablierten Form als empirische, mit Aufzeichnung und Transkriptionen von Gesprächen arbeitende Disziplin etabliert sich vollumfänglich erst in den siebziger Jahren und lässt viele der für die oben beschriebenen Ansätze typischen Vorentscheidungen hinter sich. Die ausdrücklich normative Unterlegung von Gesprächstypologien wird gezielt vermieden und konfliktäre Gesprächsformen wie auch institutionalisierte Kommunikation gehören nunmehr zu den bevorzugten Untersuchungsgegenständen. Die Entgegensetzung von Diskussion und Gespräch und erst recht deren Apostrophierung als ‚deutsch‘ oder ‚angelsächsisch‘ mag man aus heutiger Sicht nicht mehr so recht nachvollziehen. Der wissensgeschichtliche Befund einer ideologischen Vereinnahmung des Gesprächsbegriffs in der Nachkriegszeit ist jedoch mehr als nur eine Notiz über eine vergangene und längst überwundene Frühphase der linguistischen Erforschung des Gesprächs. Denn er kann, so meine Hoffnung, den Blick dafür schärfen, dass sich auch in jüngeren Ansätzen Bestimmungen des Gesprächs finden, die auf eine - wenigstens implizite - Bevorzugung arbeitsentlasteter Formen des persönlichen Gesprächs hindeuten. 13 Dies gilt etwa für Ungeheuers (1987: 321) Begriff der kruzialen Kommunikation oder das von Nothdurft und Schwitalla vorgeschlagene Leitbild des gemeinsamen Musizierens als Rahmenkonzept für die empirisch angemessene Beschreibung des Gesprächs als eines Geschehens, das sich der „Planung, Steuerung und systematische[m] Vorgehen“ (Nothdurft/ Schwitalla 1995: 34) entzieht. Adamzik macht die Bevorzugung privat-intimer und nicht-institutionalisierter Kommunikationsformen sogar explizit, wenn sie vorschlägt, „als Dialog nicht jedes beliebige geordnet ablaufende und einem vorgegebenen Muster folgende Gespräch“ (Adamzik 1995: 72) zu verstehen, sondern den Begriff für jene Fälle zu reservieren, in denen „es gelingt, einander die Perspektiven zu verdeutlichen, sie gegenseitig verstehbar zu machen“ (Adamzik 1995: 72). Stillschweigend wird in solchen Konzeptualisierungen das persönliche Gespräch als Idealnorm eingebracht (cf. hierzu kritisch Bendel 2004: 76). Eine ideologische Verstellung des Blicks soll den genannten Autorinnen und Autoren freilich nicht unterstellt werden. Die angestellten Überlegungen sind vielmehr als Einladung gedacht, die möglichen normativen Prägungen linguistischer Gesprächskonzepte zu bedenken, die sich wohl nicht zuletzt 13 Ausdrücklich beschränke ich mich in den folgenden Ausführungen auf deutschsprachige linguistische Ansätze, welche meist unter der Bezeichnung „Gesprächsanalyse“ firmieren. Insbesondere in der neueren englischsprachigen conversation analysis werden egalitäre Konzeptionen ausdrücklich zurückgewiesen (cf. etwa Sharrock/ Button 2007: 34f.). Simon Meier 120 durch die historisch-kulturelle Tradiertheit der schließlich auch außerwissenschaftlich verwendeten Termini ergeben. 14 Davon ausgehend müsste auch der - häufig radikale - Deskriptivitätsanspruch der Gesprächslinguistik überdacht werden. Gewiss, der Verzicht auf normative Vorannahmen und moralisch-postulatorische Prämissen, um die „Komplexität des Faktischen“ (Hess- Lüttich 2000: 147) nicht von vornherein zu reduzieren, ist eine Grundvoraussetzung für wissenschaftliche Aussagen über das Gespräch, die einer empirischen Überprüfung standhalten können. Ob reine Deskription bei einem historisch-kulturell situierten Gegenstand wie dem Gespräch sinnvoll und möglich ist, ist gleichwohl fraglich. Dies führt zurück auf eine wissenssoziologische Einsicht Karl Mannheims, der hinsichtlich des für die Soziologie geltend gemachten Anspruchs der Wertfreiheit festhält: Die Wertfreiheit ist in der Soziologie und gesellschaftlichen Erkenntnis in dem Sinne möglich, daß man die zu beschreibenden Phänomene nicht tadeln oder loben, daß man sich jeder Wertung enthalten soll; die Wertung ist aber in einer viel tieferen Schicht unausschaltbar, nämlich in der Perspektivität, die in die Begriffsbildung eingegangen ist. (Mannheim 1980: 275) Gerade der überaus traditionsreiche Begriff des Gesprächs liefert hierfür ein herausragendes Beispiel. Literatur Adamzik, Kirsten 1995: „Dialoganalyse: eine Disziplin auf der Suche nach ihrer Identität“, in: Hundsnurscher, Franz / Weigand, Edda (eds.): Future Perspectives of Dialogue Analysis, Tübingen: Niemeyer, 35-77 Assmann, Jan 1992: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck Bendel, Sylvia 2004: „Gesprächskompetenz vermitteln - Angewandte Forschung? “, in: Becker-Mrotzek, Michael / Brünner, Gisela (eds.): Analyse und Vermittlung von Gesprächskompetenz, Frankfurt a.M.: Lang, 67-85 Bollnow, Otto Friedrich 1966: Sprache und Erziehung, Stuttgart etc.: Kohlhammer Brekle, Herbert Ernst 1985: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Sprachwissenschaftsgeschichte“, in: Brekle, Herbert Ernst: Einführung in die Geschichte der Sprachwissenschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1-26 Brinker, Klaus / Sager, Sven F. 5 2010: Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung, Berlin: Schmidt Buber, Martin 1962: Werke. Erster Band: Schriften zur Philosophie, München: Kösel Dahmen, Hans 1956: Das Zeitalter des Gesprächs und der Begegnung, Nürnberg: Glock und Lutz Dahrendorf, Ralf 1965: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper. Damaske, Hans Ernst 1949: Diskussion als Unterrichtsmethode. Anregungen für die Behandlung von Streitfragen und Problemen des Tages in der Schule, Stuttgart: Müller 14 Dies gilt umso mehr, als gerade in den durch die conversation analysis geprägten Ansätzen häufig ein - programmatisch gewolltes - Theoriedefizit festzustellen ist. Definitorische Festlegungen der frühen Untersuchungen werden häufig ungeprüft übernommen und mit den Alltagverständnissen von Ausdrücken wie Gespräch, Konversation usw. auf kaum reflektierte Weise vermischt (cf. Schmitz, in diesem Band). Angelsächsische Diskussion und deutsches Gespräch? 121 Dietz, Heinrich 1960: „Gespräch und Tradition. Zur Verinnerlichung unserer Beziehungen auch in der Erziehung“, in: Pädagogische Provinz 14(3), 132-143 Fleck, Ludwik 1980: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, mit einer Einleitung hrsg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Gadamer, Hans-Georg 1960: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Gardt, Andreas / Lemberg, Ingrid / Reichmann, Oskar / Roelcke, Thorsten 1991: „Sprachkonzeptionen in Barock und Aufklärung. Ein Vorschlag für ihre Beschreibung, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 44(1), 17-33 Geißler, Ewald 1940: „Das Kampfgespräch“, in: Das gesprochene Wort 3(4-6), 49-57, 65- 73, 81-89 Gerhard, Ute / Link, Jürgen 1991: „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen“, in: Link, Jürgen / Wülfing, Wulf (eds.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart: Klett-Cotta, 16-52 Glinz, Hans 1959: „Die Leistung der Sprache für zwei Menschen“, in: Gipper, Helmut (ed.): Sprache. Schlüssel zur Welt. 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Beitrag zur Theorie der Sprache und der universitas litterarum“, in: Studium Generale 4(4), 213-227 Werner Nothdurft Kulturelle Transzendenz Soziokulturelle Voraussetzungen des wissenschaftlichen Nachdenkens über Kommunikation 1 1 Kulturelle Selbstverständigung als Rahmenbedingung wissenschaftlichen Arbeitens Jedes Nachdenken über Kommunikation ist an den kulturellen Zusammenhang, aus dem heraus es entwickelt worden ist, gebunden. Dies gilt für alltagsweltliche Kommunikationsvorstellungen über Angemessenheit, Richtigkeit, Funktionsweise etc. von Kommunikation 2 wie auch für wissenschaftliche Studien und Darstellungen von Kommunikation. Während jedoch für den Bereich alltagsweltlicher Vorstellungen die Frage der Gültigkeit bzw. der Begründetheit der Erkenntnisse keine wesentliche Rolle spielt, ist für den Bereich wissenschaftlicher Erkenntnisse die Qualität der Reflexion eigenen Nachdenkens über Kommunikation und des Vorgehens bei der Gewinnung von Kenntnissen über Kommunikation ein entscheidendes Kriterium für die Qualität kommunikationswissenschaftlichen Wissens. Umso erstaunlicher ist es, dass innerhalb des Bereichs gesprächsanalytischer Forschung, auf die ich mich im folgenden konzentriere, methodologische Fragen - etwa solche der Datenrepräsentation - zwar einen gewissen Raum einnehmen, dass aber Fragen nach den Denkvoraussetzungen zentraler Konzeptionen und Kategorien so gut wie gar nicht diskutiert werden. Diese Einschätzung teilt Lannamann in bezug auf die Kommunikationswissenschaft generell: „What has been noticeably absent in the metatheoretical debates about interpersonal research has been the investigation of how epistemological decisions are shaped by latent ideological commitments“ (Lannamann 1991: 183). Damit läuft gesprächsanalytisches Arbeiten Gefahr, sozial-kulturelle Basisannahmen unreflektiert zu reproduzieren, sich eines kritischen Erkenntnispotentials zu begeben und ideologisch zu wirken. „To the extend that this trend mirrors the ideology of our everyday cultural experience, the discipline is at risk of reifying what are essentially cultural forms of thought and treating them as if they 1 Ich danke den Herausgebern dieses Bandes für eine Reihe inspirierender und kenntnisreicher Hinweise. 2 Cf. dazu das Forschungsprogramm der „Metapragmatik“ (Lucy 1992); eigene Überlegungen finden sich in Nothdurft (2013). Werner Nothdurft 126 represent natural facts“ (Lannamann 1991: 87). 3 Für eine epistemologisch reflektierte Gesprächsanalyse ist es daher erforderlich, sich ihrer soziokulturellen Denkvoraussetzungen bewusst zu werden und diese konzeptionell zu reflektieren. Solche sozio-kulturellen Denkvoraussetzungen lassen sich mit Cleve (1996) als „Verständigungszusammenhang“ begreifen. Cleve nutzt diesen Begriff, um zu rekonstruieren, wie sich im 19. Jahrhundert neue gesellschaftliche Leitvorstellungen über „Geschmack“ herausgebildet haben, welche die durch feudale Gesellschaftsordnung fundierten Leitvorstellungen ablösten bzw. ersetzten. Sie zeigt, daß unterschiedliche gesellschaftliche Akteure einen solchen „Verständigungszusammenhang“ schufen („eine gemeinsame Basis der Verständigung zwischen Personen und Orten [...], Gemeinsamkeiten des Wissens, des Fühlens und des ästhetischen Urteilens“ (Cleve, 1996, 347)), der Ordnungsprinzipien zur Beurteilung der ästhetischen Qualität von Gebrauchsgegenständen lieferte (Möbel, Kleidung, Haushalt, Accessoires). Zu den relevanten Akteuren gehörten Institutionen ästhetischer Bildung („Kunstgewerbeanstalten“), neue Formen von Öffentlichkeit, Vorstellungen von „Bürgerlichkeit“, Akzentuierungen zwischen „Hauptstadt“ und „Provinz“, Musterbücher, Industrie und, vor allem, Museen. Es ist gerade das Zusammenspiel verschiedener Akteure in unterschiedlichen gesellschaftlichen Segmenten, das einem solchen Verständigungszusammenhang seine Wirksamkeit verleiht. Inoue beschreibt, wie sich in Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bestimmte Vorstellung davon „what language is and how language works“ (Inoue 2002: 395) im Zuge eines Modernisierungsprozesses durchsetzt, der Entwicklungen in so unterschiedlichen Bereichen wie Massenmedien, literarischen Genres, Konsumindustrie und politischer Herrschaftssicherung umfasst. „A new metalinguistic vocabulary […] came to frame the public debate on language reform: Modern Japanese language should be simple, accessible and efficient“ (Inoue 2002: 398). Solche soziokulturellen Momente bilden gleichzeitig die Rahmenbedingungen, unter denen sich eine Kommunikationsmentalität durchsetzt - im oben genannten Fall gehört dazu zum Beispiel die Entwicklung des Zeitungswesens, das die massenweise Propagierung des „neuen“ Kommunikationsideals ermöglicht, die ökonomische Entwicklung der Arbeitsteilung und Schaffung von „Freizeit“, die zum Lesen entsprechender Texte genutzt werden kann, und eine Haltung von Modernität als neuem Lebensstil. Ein solcher Verständigungszusammenhang führt zu fraglosen Gewißheiten - „wie sollte es auch anders sein? “. Er bildet einen Vorstellungsrahmen, der bestimmte Gedanken und Kategorien selbstverständlich erscheinen läßt und andere Denkkategorien ausschließt. Es gilt, was Charles Taylor in bezug auf moderne Identitätsvorstellungen geschrieben hat, daß die „Ideale und 3 Ich verzichte in diesem Beitrag auf eine Diskussion der hier angestellten Überlegungen im Kontext des Forschungsprogramms einer „linguistic ideology“ (cf. Joseph 1990, Kroskrity 20000, Schieffelin et al. 1998) oder in einem ideologiekritischen Ansatz insgesamt (cf. dazu Lannamann 1991). Kulturelle Transzendenz 127 Verbote dieser Identitätsvorstellung - also was sie hervortreten lässt und was sie in den Schatten rückt - unser philosophisches Denken, unsere Erkenntnistheorie und unsere Sprachphilosophie prägen, ohne dass uns das meistens zum Bewusstsein käme“ (Taylor 1994: 7, Hervorh. W.N.). In Analogie dazu geht es mir darum, wie bestimmte Momente gesellschaftlicher Selbstverständigung gesprächsanalytisches Denken und Arbeiten prägen, ohne dass das meistens zum Bewusstsein käme und, wenn vielleicht auch nicht zu Denkverboten, so doch zu Denkfixierungen führen. Für methodologisch durchdachtes Nachdenken über Kommunikation ist es daher unerlässlich, diesen Verständigungszusammenhang mit zu berücksichtigen. Im Folgenden sollen einige der sozio-kulturellen Denkvoraussetzungen gesprächsanalytischen Arbeitens aufgezeigt werden. 2 Kulturelle Dominanz - pragmatische Fixierung - korrektive Momente In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass Momente des Diskurses der Moderne wesentliche Vorstellungen von Kommunikation geprägt haben und sich ihnen als Strukturen eingeschrieben haben (wenngleich es immer auch Gegenentwürfe gegeben hat, die ebenfalls ihre Wirkungen gehabt haben). Es sind insbesondere die folgenden Momente, die die Kontur westlichen Nachdenkens über (und damit vermittelt auch die Praxis von) Kommunikation geprägt haben: - Individualismus - Instrumentalität - Rationalismus - Optimismus Es handelt sich bei ihnen um Momente des Diskurses der Moderne, das heißt um Momente, die sich besonders intensiv in die Selbstverständigung moderner Gesellschaften eingeschrieben haben. Sie werden im Folgenden als „kulturelle Dominanzen“ beschrieben. Es soll gezeigt werden, dass diese kulturellen Dominanzen zu Fixierungen führen, die gesprächsanalytisches Nachdenken und Arbeiten prägen. Außerdem sollen Ansätze skizziert werden, die diese Fixierungen zu korrigieren vermögen. Abb. 1: Kulturelle Dominanzen Kulturelle Dominanzen Pragmatischen Fixierungen Korrektiver Momente führen zu bedürfen Werner Nothdurft 128 2.1 Individualismus Für die Moderne zentral ist das Denken in Kategorien freier, autonomer, handlungsentscheidender Individuen. Charles Taylor (1988, 1994) hat dieses zentrale Moment westlicher, neuzeitlicher Selbstverständigung in seinem Zustandekommen und in seinen Konsequenzen ausführlich beschrieben. Dieses Moment westlicher Selbstverständigung hat auch den Ansatz kommunikationswissenschaftlicher Studien geprägt. Es hat dazu geführt, dass Kommunikation in Kategorien der Kommunikationsbeteiligten gedacht wird (Sprecher-Hörer, Sender-Empfänger) und aus der Beteiligung einzelner Individuen heraus entwickelt wird. Kommunikation wird verstanden als etwas, was durch die Präsenz von Individuen zustande kommt und sich zwischen ihnen ereignet. Das Geschehen in der Kommunikation wird entsprechend handlungsorientiert beschrieben: Handlungen werden unter dem Gesichtspunkt individueller Zielerreichung betrachtet. Die individuumsbezogene Kategorie der Intention spielt eine wesentliche Rolle. Aber auch Ansätze, die eine intentionalistische Beschreibung von Kommunikationsereignissen ablehnen, bleiben auf eine individuenbezogene Betrachtung von Kommunikation fixiert. Nichts macht dies deutlicher als das Design im Transkript, in dem das kommunikative Geschehen individuumbezogen dargestellt und behandelt wird: A: B: Es herrscht die Haltung: „Der Sprecher spricht“. 4 Dieser individualistischen Orientierung hat sich zwar eine Haltung entgegengestellt, die das kommunikative Geschehen selbst in den Mittelpunkt stellt und das individuelle Handeln als Bestandteil eines übergeordneten Ganzen betrachtet. Birdwhistell schrieb bereits 1970: Eine Person erzeugt nicht Kommunikation - sie nimmt an ihr teil. Kommunikation als System betrachtet ist nicht der Zusammenhang individueller Aktion und Reaktion, wie komplex auch immer diese betrachtet werden mögen. Als System betrachtet muss Kommunikation auf der Ebene interaktiver Beziehungen betrachtet werden. (Birdwhistell 1970: 104, meine Übersetzung) Gleichwohl ist eine solche Haltung über programmatische Deklarationen nicht hinausgekommen und es fehlt an einer interaktionstheoretisch fundierten Beziehungstheorie. 5 Gesprächsanalytische Praxis wird jedenfalls weiterhin von einer individuenbezogenen Arbeitsweise dominiert. Programmatischen 4 Ob sich diese Fixierung durch eine andere Form von Transkription lösen lässt, bleibt eine offene Frage. Zu ersten Überlegungen einer anderen forschungslogischen Verortung von Transkriptionen cf. Nothdurft 2006. 5 Überlegungen zu einer solchen Beziehungstheorie ließen sich etwa bei Simmel, Buber, aber auch in der modernen Psychoanalyse finden, z. B. Benjamin 2004, Boston Change Process Study Group 2010, sind aber in der Gesprächsanalyse nicht systematisch ausgearbeitet worden. Kulturelle Transzendenz 129 Erklärungen von Autoren, Gegenstand der Forschung sei die Organisation der Interaktion, steht die Praxis entgegen, kommunikatives Geschehen in Termini der Handelnden zu beschreiben, so z. B. Günthner (1996), die in einer Studie zum „Frotzeln“ dieses zum einen aus der „Teilnehmerkonstellation“ heraus bestimmt (Frotzelsubjekt, Frotzelobjekt, Publikum) und zum anderen aus der „kommunikativen Struktur der Frotzelsequenz“, die aus Äußerungen besteht, die wiederum den Akteuren zugeordnet werden. 2.2 Instrumentalität Eine zweite kulturelle Dominanz moderner westlicher Gesellschaften lässt sich als Instrumentalität bezeichnen. Charakteristisch für diese Haltung ist die Vorstellung der Effektivität und Wirksamkeit von Instrumenten, Geräten und Mitteln. Diese Vorstellung ist wesentlich durch ingenieurswissenschaftliches Denken bestimmt und wird kulturell dominant in dem Maße, in dem sich ein solches Denken im westlich-europäischen Denkzusammenhang durchgesetzt hat. Dass ein solches Denken im Zusammenspiel mit der Veränderung gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse und „Rationalität als Lebensform“ (Gellner 1995: 159) die westliche neuzeitliche Selbstverständigung dominiert, ist evident. Ich verweise nur auf die Untersuchungen McIntyres (1995), der moderne westliche Gesellschaften unter anderem durch den Typus des „Ingenieurs“ geprägt sieht (die zwei anderen Typen sind der „Beamte“ und der „Offizier“). Zur Erläuterung des Moments der Instrumentalität beziehe ich mich im folgenden auf Texte von Ingenieurwissenschaftlern, in denen diese die Standards ihrer eigenen Profession festschreiben (cf. Davis 1998, Koen 1991). Demzufolge sind Leitgesichtspunkte der ingenieurwissenschaftlichen Methode: - Effektivität der entwickelten Technik: Erfolgskontrolle, Optimierbarkeit, Messbarkeit von Wirkung und Erfolg - Systemkontrolle der entwickelten Technik: Effektivität liegt im Verfahren, nicht in der Durchführung - Generelle Anwendbarkeit der entwickelten Technik: einsetzbar für beliebige Fälle - Verlässlichkeit der entwickelten Technik: systematische Prüfung. Dass eine solche instrumentalistische Haltung im gesellschaftlichen Diskurs über Kommunikation dominiert, lehrt allein schon eine Betrachtung sogenannter praktischer Ratgeber zum Themenfeld Kommunikation: „Erfolgreich führen durch gelungene Kommunikation: die vier Grundregeln für perfekte Gesprächsführung“, „Effektives Führungstraining“, „Erfolgreich führen durch überzeugen“, „Handbuch Führung: Der Werkzeugkasten für Vorgesetzte“ (Beispiele aus Sternberg 2011). Eine solche instrumentalistische Haltung ist aber auch im wissenschaftlichen Diskurs über Kommunikation festzustellen, und zwar immer dann, wenn von „sprachlichen Mitteln“ oder „Verfahren“ die Rede ist und damit Werner Nothdurft 130 Momenten des kommunikativen Geschehens Instrumentalität bzw. Wirksamkeit qua Gegenstand zugeschrieben wird - losgelöst von den Kontingenzen (dem Kontext) des je konkreten Geschehens. Klassischen Ausdruck findet diese Haltung im sog. Organon-Modell des Gebrauchs sprachlicher Mittel von Karl Bühler (1934), der sich dort - autoritätsheischend - auf Platon beruft. Eine andere Sichtweise auf Kommunikation bieten Ansätze, die auf den Ereignischarakter von Kommunikation abheben, z. B. emergenztheoretische Konzepte. In ihnen liegt das analytische Augenmerk allerdings nicht mehr auf Momenten des Sprachlichen, sondern diese werden als Momente eines multimodalen Geschehens betrachtet (cf. etwa Deppermann/ Mondada/ Schmitt 2010). 2.3 Rationalismus Für das Selbstverständnis der europäischen Moderne ist der Diskurs der Aufklärung wesentlich. Im Zuge der gesellschaftlichen Durchsetzung dieses Diskurses kommt es auch zu einer Veränderung der Wertigkeit von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Während Mündlichkeit als Medium von Eloquenz und Esprit als Ausdrucksform aristokratisch-höfischer Kommunikation diskreditiert wird, wird Schriftlichkeit als Medium von Vernunft, Sachlichkeit und Inhaltlichkeit propagiert. Zeitungen und damit Texte werden zum Prototyp der Kommunikationskultur des aufgeklärten Bürgertums (cf. z. B. Schivelbusch 1990). Diese Dominanz von Schriftlichkeit ist ein Moment von Rationalität als zentraler Struktur westlichen modernen Selbstverständnisses. Diese Dominanz ist Bedingung und Ergebnis dieser Rationalität zugleich. Gellner charakterisiert moderne Gesellschaft im Anschluss an Weber als „rationalitätsdurchdrungen“ (Gellner 1995: 161) und spricht zu Recht von „Rationalität als Lebensform“ (Gellner 1995: 159). Rationalität prägt auch die wissenschaftliche Herangehensweise an Phänomene zwischenmenschlicher Kommunikation. Insbesondere das Zusammenspiel von Schriftlichkeit als dominantem Kommunikationsmedium und Sachlichkeit/ Inhaltlichkeit als dominantem Fokus der Betrachtung von Kommunikation bildet eine wesentliche Basis gegenwärtigen gesprächsanalytischen Arbeitens. Dies zeigt sich in der vorherrschenden Arbeitsgrundlage gesprächsanalytischen Arbeitens - der Textform „Transkript“. Allen editorialen Beteuerungen, man würde eigene Analysen primär über die Auseinandersetzung mit der Ton- oder Videoaufnahme gewinnen, zum Trotz erfolgen gesprächsanalytische Untersuchungen praktisch im Wesentlichen auf der Grundlage von textuellen Daten-Repräsentationen, den Transkripten. 6 Diese Textform ermöglicht dem Gesprächsanalytiker eine zeitlich unbegrenzte Verfügbarkeit über diese Repräsentation eines Kommunikationsereignisses und 6 Zwar bedienen sich Veröffentlichungen zunehmend anderer Medien (Fotos, Zeichnungen, Videos), aber bezeichnenderweise, ohne deren spezifischen Erkenntnischarakter zu reflektieren. Eine methodologische Grundlage des Sehens von Interaktion existiert nicht; cf. dazu Nothdurft (2012). Kulturelle Transzendenz 131 blendet gleichzeitig das für Kommunikation konstitutive Moment seiner Flüchtigkeit aus (cf. Franck 1989). Die Textform verführt im Zusammenspiel mit der kulturellen Orientierung auf Inhalt außerdem zu einer Fixierung auf Inhalts-, Sinn- und Bedeutungsaspekte kommunikativer Ereignisse. Affektive, sinnliche und körperliche Aspekte werden weitgehend ausgeblendet. Exemplarisch lässt sich dies auch an der erwähnten Studie von Günthner (1996) über das Frotzeln zeigen. Frotzeln wird als eine wissensbasierte Aktivität dargestellt, während Gesichtspunkte des Lustgewinns in dem Text nur in Gestalt von Freud-Zitaten marginale Erwähnung finden. Insgesamt läßt sich im Bereich der Bezugstheorien gesprächsanalytischen Arbeitens eine Dominanz kognitiver oder - häufiger noch - wissenssoziologischer Ansätze im Anschluss an Luckmann (1986) 7 feststellen. Betrachtungen von Kommunikation erfolgen heutzutage im Wesentlichen aus einer Haltung heraus, die stark von Momenten der Vernunft und Kognition, von Wissen und Begriffen bestimmt ist. Dies betrifft nicht nur die Herangehensweise an Kommunikation, sondern auch die Bestimmung des Gegenstandes Kommunikation selbst: diese Bestimmung fokussiert auf Aspekte des bewussten Handelns (Entscheidungen, Intentionen, Bedeutungen, Inhalte) sowie auf primär kognitiv bestimmbare Anteile von Kommunikation und damit auf die verbalen Anteile (im Gegensatz zu nonverbalen Aspekten). Kognitive Konzepte (Interpretation, Repräsentation) spielen in westlichen Kommunikationstheorien eine wesentlich größere Rolle als affektive Konzepte (cf. Lannamann 1991). Die Dominanz von Rationalität findet sich auch im Verständnis einer der Schlüsselbegriffe gesprächsanalytischen Arbeitens, dem Begriff des Verstehens. „Verstehen“ wird in einer hermeneutisch verpflichteten Vorstellung als „Interpretation“ konzeptualisiert (cf. z. B. Gumperz 1989). Dieses Konzept hat in dem Maße an Relevanz gewonnen, in dem sich Forschungsprogramme etablieren konnten, die sich selbst methodologisch als interpretativ verstehen. Kommunikationsteilnehmer werden als zeichen-, äußerungs-, handlungs- oder textinterpretierende Akteure konzeptualisiert, die ihre Verstehensleistungen auf der Grundlage situativer, sozialer, biographischer und kultureller Interpretationsressourcen vornehmen. 8 Korrektive Momente zu dieser Fixierung bilden zum einen beziehungsdynamische Ansätze, die Kommunikation primär unter dem Gesichtspunkt ihrer Affektlogik und emotionalen Beziehungsqualitäten betrachten (cf. etwa Boston Change Process Study Group 2010), zum anderen Ansätze aus dem Bereich der „Materialität der Kommunikation“ (cf. etwa Zumthor 1994) und Arbeiten aus dem Forschungsprogramm „embodiment“ (cf. etwa Streeck et al. 2011; Nothdurft 2002). 7 Demgegenüber könnte ein Bezug zu dem wissenssoziologischen Entwurf Mannheims (1952) zu einer anderen, reflektierteren Fundierung führen. 8 Ich lasse an dieser Stelle die Frage offen, ob sich ein nichtrationalitätsfundierter Begriff von Interpretation sinnvoll entwickeln ließe; cf. zu dieser Frage Scholz (1999). Werner Nothdurft 132 2.4 Optimismus Für modernes westliches Selbstverständnis ist der Gedanke des Fortschritts wesentlich. Dieser Zusammenhang erschließt sich aus der historischen Situation seines Zustandekommens: Modernes Selbstverständnis entstand wesentlich in einer sozio-ökonomischen Umbruchsituation in der Auseinandersetzung zwischen dem sich emanzipierenden Bürgertum und sozioökonomischen Beharrungstendenzen feudal-aristokratisch geprägter Machtverhältnisse. Die vom Bürgertum ausgehenden gesellschaftlichen Impulse, z. B. zur Standardisierung von Maßeinheiten und der Entgrenzung von Wirtschaftsverhältnissen und der Verbesserung der Infrastruktur (Straßen, Brücken, Kanäle), waren mit der Hoffnung auf gesellschaftliche Verbesserung (und der Vergrößerung individueller Freiheit, s. oben) verbunden. „[...] the belief in progress itself is perhaps, as Robert Nisbet has argued, one of the most persistent and salitary beliefs in the history of Western culture“ (Rue 1994: 74). 9 Dieser gesellschaftliche Optimismus ist mit dem sprachlichen Ausdruck „Kommunikation“ auf sehr unmittelbare Weise verknüpft - bezeichnete der Ausdruck „Kommunikation“ im 18. Jahrhundert doch jene Verkehrsinfrastruktur, durch die man sich Fortschritt und die Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse erwartete bzw. erhoffte (cf. Mattelart 1996, Mattelart/ Mattelart 1998, Peters 1999). In diesem Sinne hat der Ausdruck „Kommunikation“ selbst mit zu dem kulturellen Selbstverständnis beigetragen, das sich wiederum im heutigen Gebrauch des Ausdrucks und in seinem Verständnis reproduziert. Dass Kommunikation heutzutage mit einem Gelingens-Optimismus verbunden ist, findet eine Erklärung also in der historischen Kontinuität des Fortschrittgedankens, zu dem der Begriff selbst beigetragen hat. Kein Wunder daher, dass Kommunikation als „Leitbegriff der Moderne“ bezeichnet worden ist (cf. Merten 1993). Die Dominanz des Fortschrittgedankens in unserer Kultur findet sich im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs über Kommunikation in einer Hochschätzung von Kommunikation. Erfolgreiche zwischenmenschliche Kommunikation wird zur regulativen Idee, auf die die Chance zu gesellschaftlichem Zusammenleben gegründet wird. Diese anspruchsvolle Erwartung der gesellschaftsfundierenden Funktion von Kommunikation ist nicht auf gesellschaftstheoretische Diskurse beschränkt. Vielmehr zeigt sie sich auch - nicht unbeeinflusst von diesen Diskursen - zum Beispiel in Lehrplanformulierungen des Deutschunterrichts, in denen deutlich wird, was man sich alles als Ergebnis der Förderung von kommunikativer Kompetenz erwartet: Mündigkeit, Solidarität, Demokratisierung der Gesellschaft, Toleranz, Emanzipation (cf. Vogt 2002). Stets wird von Kommunikation als gelingendem Projekt ausgegangen. Wie auch immer im einzelnen definiert, wird das Gelingen von Kommunikation als Standard betrachtet, dem gegenüber „abweichende“ Fälle als „Kommunikationsstörung“, als „Missverstehen“ oder anderer Form von Abwei- 9 Den ideologischen Charakter der Fortschrittsidee hat Georges Sorel bereits 1908 analysiert. Kulturelle Transzendenz 133 chung abgegrenzt werden oder kommunikative „Mittel“ (siehe oben) zur „Lösung“ oder „Bewältigung“ solcher Störungen ermittelt und angeboten werden. Dieses Verständnis prägt auch gesprächsanalytisches Verständnis ihres Untersuchungsbereichs insgesamt und die konzeptionelle Bestimmung ihrer Empirie im einzelnen: Gespräche werden bestimmt über gesellschaftliche Zwecksetzungen (cf. Ehlich 1986) oder über Handlungsschemata, die aus gelingenden Zielen abgeleitet sind (cf. Kallmeyer 1985). Dabei ist es nicht so, dass Fälle des Scheitern von Missverständnissen etc. nicht wahrgenommen werden - im Gegenteil wird über deren Aufdeckung die eigene Legitimation als praktisch nützliche Wissenschaft gerade nachzuweisen versucht. Fälle des Scheitern können als solche aber nur konstatiert werden auf dem Hintergrund einer Normalformvorstellung gelingender Kommunikation. Talbot Taylor (1992) hat gezeigt, dass man vorliegende linguistische Theorien als Versuche interpretieren kann, die Vorstellung bzw. Sehnsucht des Verstehens gegen die zugleich dominante Leitvorstellung der Individualität (siehe oben) aufrecht zu erhalten. Der Gedanke, dass Kommunikation grundsätzlich zu wechselseitigem Unverständnis führt, ist - jedenfalls in unserer Kultur - auch im wissenschaftlichen Denken zu aversiv besetzt als dass er auch nur versuchsweise als erkenntnisproduktiv ausgetestet würde. Ansätze zu einer „skeptischen Kommunikationstheorie“ existieren zwar in bemerkenswerter historischer Kontinuität seit Beginn westlicher Moderne - angefangen mit Gracians Handorakel oder die Kunst der Weltklugheit (2004) über die Maximen und Reflexionen La Rochefoucaulds (2012), Schopenhauers Aphorismen (1986), Hofmannsthal (2000) bis hin zu „skeptischen“ Zügen bei Watzlawick, Beavin und Jackson (1969) (nicht auflösbare Paradoxa der Kommunikation), durchtriebenen Momenten bei Austin (cf. Krämer/ Stalhut 2001) und der Kommunikationstheorie Ungeheuers (2010), ohne dass diese Überlegungen aufgegriffen oder gar zur Grundlage systematisch-konzeptioneller Überlegungen gemacht worden wären. Im Bereich literarischer Sprach- und Kommunikationsreflexion findet sich eine skeptizistische Haltung wesentlich deutlicher als im Bereich akademischer Kommunikationsbetrachtung. Dass man sie durchaus zur Grundlage einer produktiven Haltung Kommunikation gegenüber machen kann, läßt sich im Bereich der Literatur in den Werken Thomas Bernhards oder Elfriede Jelineks besichtigen. 3 Ausblick: Reflexive Gesprächsanalyse Eine methodologisch anspruchsvolle Gesprächsanalyse müsste kulturelle Dominanzen als Bestandteile ihrer Denkvoraussetzungen in Rechnung stellen und reflektieren. Sie wäre dann eine reflexive Gesprächsanalyse und würde damit die Gefahr, kulturelle Selbstverständlichkeiten unreflektiert zu reproduzieren, minimieren. Schon allein damit wäre viel gewonnen. Es geht jedoch nicht nur um methodologische Korrektheit, sondern auch um epistemologischen Gewinn. Eine solche reflexive Gesprächsanalyse würde nämlich durch Werner Nothdurft 134 eine Transzendierung kultureller Denkvoraussetzungen den analytischen Blick auf Kommunikationsereignisse erweitern können und damit Aspekte zwischenmenschlicher Kommunikation beleuchten können, die ein reichhaltigeres Bild von Kommunikation ergeben würden. Literatur Benjamin, Jessica 2004: Die Fesseln der Liebe, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/ Nexus Birdwhistell, Ray 1970: Kinesics and context, Philadelphia: University of Pennsylvania Press Boston Change Process Study Group 2010: Change in Psychotherapy. A unifying paradigm, New York, London: Norton Bühler, Karl 1934: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Fischer Cleve, Ingeborg 1996: Geschmack, Kunst und Konsum, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Davis, Michael 1998: Thinking like an engineer: studies in the ethics of a profession, New York: Oxford University Press Deppermann, Arnulf / Mondada, Lorenza / Schmitt, Reinhold 2010: „Agenda and emergence: Contingent and planned activities in a meeting”, in: Journal of Pragmatics 42, 1700-1712 Ehlich, Konrad 1986: „Die Entwicklung von Kommunikationstypologien und die Formbestimmtheit sprachlichen Handelns“, in: Kallmeyer, Werner (ed.) Kommunikationstypologie, Düsseldorf: Schwann, 47-72 Franck, Dorothea 1989: „Zweimal in den gleichen Fluß steigen? Überlegungen zu einer reflexiven, prozeßorientierten Gesprächsanalyse“, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 42(2), 160-167 Gellner, Ernest 1995: Descartes & Co. Von der Vernunft und ihren Feinden, Hamburg: Junius Gracian, Balthasar 2004: Handorakel oder die Kunst der Weltklugheit, Stuttgart: Reclam Günthner, Susanne 1996: „Zwischen Scherz und Schmerz - Frotzelaktivitäten in Alltagsinteraktionen“, in: Kotthoff, Helga (ed.) Scherzkommunikation. Beiträge aus der empirischen Forschung, Wiesbaden: Verlag für Sozialforschung, 81-108 Gumperz, John J. 1989: „Contextualization and understanding”, in: Duranti, Alessandro / Goodwin, Charles (eds.): Rethinking context, New York: Cambridge University Press, 229-252 Hofmannsthal, Hugo von 2000: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte, Stuttgart: Reclam Inoue, Miyako 2002: „Gender, language and modernity: Toward an effective history of Japanese women’s language”, in: American Ethnologist 29, 392-422. Joseph, John (ed.) 1990: Ideologies of language, New York: Routledge Kallmeyer, Werner 1985: „Handlungskonstitution im Gespräch. Dupont und sein Experte führen ein Beratungsgespräch“ in: Gülich, Elisabeth / Kotschi, Thomas (eds.): Grammatik, Konversation, Interaktion, Tübingen: Niemeyer, 81-122 Kincaid, Lawrence (ed.) 1987: Communication Theory. 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Reported speech and metapragmatics, Cambridge: Cambridge University Press Mannheim, Karl 1952: Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M.: Schulte-Bulmke Mattelart, Armand 1996: The invention of communication, Minneapolis: University of Minnesota Press Mattelart, Armand / Mattelart, Michelle 1998: Theories of communication. A Short Introduction, London: Sage McIntyre, Alasdair 1995: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Merten, Klaus 1993: „Die Entbehrlichkeit des Kommunikationsbegriffs oder: systemische Konstruktion von Kommunikation“, in: Bentele, Günter / Rühl, Manfred (eds.): Theorien öffentlicher Kommunikation, München: UVK, 188-201 Nothdurft, Werner 2002: „Embodiment und Stabilisierung. Prinzipien interaktiver Bedeutungskonstitution“, in: Deppermann, Arnulf / Spranz-Fogasy, Thomas (eds.): be-deuten. 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Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a.M.: Klostermann Schopenhauer, Arthur 1986: Aphorismen zur Lebensweisheit, Ditzingen: Reclam Sorel, Georges 1969: The illusion of progress, Berkeley: University of California Press Sternberg, Lars 2011: Führungskommunikation zwischen Konsens und Dissens, Frankfurt a.M.: Lang Streeck, Jürgen / Goodwin, Charles / LeBaron, Curtis 2011: Embodied interaction: Language and body in the material world, Cambridge: Cambridge University Press Taylor, Charles 1988: Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Werner Nothdurft 136 Taylor, Charles 1994: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taylor, Talbot 1992: Mutual misunderstanding. 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Schegloff (* 1937) und Gail Jefferson (1938-2008) im Jahre 1974 einen Aufsatz, der als zentraler Grundlagentext der ethnomethodologisch geprägten „Conversation Analysis“ (CA) einzustufen ist und an dessen programmatischen Thesen und Fragestellungen sich bis heute Mitarbeiter, Schüler, Nachfolger und Kritiker abarbeiten. Ungeachtet der Tatsache, daß die Autoren ausdrücklich darauf hinweisen, daß sie in ihrer (jahrelangen) Beschäftigung mit in ‚conversation‘ wirksamen Typen sequenzieller Organisation von einem soziologischen Erkenntnisinteresse geleitet werden (S/ S/ J 1974: 700) und die CA begreifen und betreiben als […] a naturalistic observational discipline that could deal with the details of social action(s) rigorously, empirically, and formally (Schegloff/ Sacks 1973: 293 f.), hat „A Simplest Systematics“ in alle nur irgendwie an Gesprächs- und Kommunikationsforschung beteiligte Disziplinen - insbesondere die linguistischen 2 - z. T. sehr nachhaltig hineingewirkt und in vielen Kreisen den Status eines klassischen Textes erreicht, aus dem man dem einen oder anderen Einwand zum Trotz theoretische und methodologische Orientierung bezieht. Immer wieder angezweifelt und kritisiert, aber ebenso engagiert verteidigt und durch ergänzende und modifizierende Überlegungen Schegloffs und anderer Konversationsanalytiker unterstützt wurde der Anspruch der Autoren von „A Simplest Systematics“ auf Universalität des Redeaustauschsy- 1 Vorbild für diesen Titel war die ebenfalls mit dem Superlativ anhebende Überschrift des zweiten Kapitels in Harvey Sacks‘ sogenanntem „‘little turn-taking paper‘“ (Sacks 2004: 42): „A simplest systematics for the organization of turn-taking in [sic! ] conversation“ (Sacks 2004: 37). 2 Dazu mag auch beigetragen haben, dass die drei Soziologen ihre „Simplest Systematics“ ausgerechnet in Language publizierten. H. Walter Schmitz 138 stems ‚conversation‘ in der Form, wie es von ihnen vorgestellt wird. 3 Während Kritiker wie Unterstützer des Universalitätsanspruchs sich nahezu ausschließlich mit einzelnen der für ‚conversation‘ als charakteristisch geltenden Merkmale, vor allem mit „Overwhelmingly, one party talks at a time“ (S/ S/ J 1974: 700) befassen, nicht aber ‚conversation‘ selbst als eine über Kulturgrenzen hinweg sinnvolle Kategorie bestreiten, soll hier in einer Analyse von „A Simplest Systematics“ a) der darin vertretene ‚conversation‘-Begriff herausgearbeitet, b) der darin erhobene Universalitätsanspruch begründet zurückgewiesen und c) gezeigt werden, wie die extrakommunikative Bestimmung von ‚conversation‘ (aber auch ‚debate‘, ‚ceremony‘, ‚meeting‘, ‚trial‘ etc.) als Redeaustauschsystem sowohl den kulturspezifischen Ausprägungen von Kommunikationsformen als auch den Erwartungen und Zielen von Kommunikatoren fremd und äußerlich bleiben muß. Für meine Analyse beziehe ich mich vornehmlich auf die Originalpublikation (S/ S/ J 1974), von der vorher allerdings schon Vortragsversionen kursierten und diskutiert wurden, und daneben auch erläuternd auf den erst posthum veröffentlichten Vorläufertext von Sacks (2004). Der erste Nachdruck des 1974er Artikels, drei Jahre nach Sacks‘ Tod publiziert und von den (verbliebenen) Autoren wegen seiner zahlreichen meist kleineren, auch inhaltlichen Abänderungen zu Recht „[…] a variant version of ‚A Simplest Systematics […]“ (S/ S/ J 1978: 7) genannt, kann dagegen nach eingehender Prüfung hier unberücksichtigt gelassen werden. 2 „In any conversation…“ - Definition statt Deskription ‚Turn-Taking‘ im Sinne von „sich bei etwas abwechseln“, „einander folgen“, „eine Reihenfolge herstellen und berücksichtigen“ wird von S/ S/ J (1974: 696) gleich einleitend als ein prominenter Typ sozialer Organisation identifiziert, der verwendet wird zum Zwecke des Ordnens, Regelns, Zuteilens, aber auch eben des Redens in „interviews, meetings, debates, ceremonies, conversations etc.“, die alle zur Menge sogenannter „speech exchange systems“ gezählt werden. Die bis dato vorliegenden Untersuchungen von Turn-Taking- Phänomenen bestätigen zwar die Bedeutsamkeit dieses Organisationstyps, gelten den Autoren jedoch als unzulänglich, weil sie entweder nur Interesse an den Effekten, nicht aber an Organisation und Operieren des Systems zeigten, oder sich dem Turn-Taking zu programmatisch und zu wenig empirisch zuwendeten: „in any case, no systematic account is available“ (S/ S/ J 1974: 698). Ausgenommen von diesem Urteil wird in einem knappen und bis heute - so scheint es - nirgendwo gewürdigten Literaturverweis allein eine recht dunkle Erzählung von Beckett (1972), in der für das Hinauf- und Hinuntersteigen von Leitern zwischen zwei Ebenen ein Regelwerk formuliert wird, das „A Simplest Systematics“ teilweise vorwegzunehmen scheint und damit den folgenden Auszug rechtfertigen mag: 3 Es sollte nicht unterschätzt werden, in welchem Maße die stillschweigende oder implizite Akzeptanz des Universalitätsanspruchs die internationale Rezeption der Arbeiten von Sacks, Schegloff und Jefferson befördert hat. „In any conversation …“ 139 The use of the ladders is regulated by conventions of obscure origin which in their precision and the submission they exact from the climbers resemble laws. […] All rests on the rule against mounting the ladder more than one at a time. It remains taboo therefore to the climber waiting at its foot until such time as his predecessor has regained the ground. Idle to imagine the confusion that would result from the absence of such a rule or from its non-observance. […] It is therefore understood that after a certain interval difficult to assess but unerringly timed by all the ladder is again available meaning at the disposal in the same conditions of him due next to climb easily recognizable by his position at the head of the queue and so much the worst for the abuser. […] Happily sooner or later he succeeds in doing so [returning to the ground; H.W.S.] thanks to a further provision giving priority at all times to descent over ascent. He has therefore merely to watch at the mouth of his niche for a ladder to present itself and immediately start down quite easy in his mind knowing full well that whoever below is on the point of mounting if not already on his way up will give way in his favour. (Beckett 1972: 21-24) Im Unterschied zur bisherigen Forschung stützen S/ S/ J (1974: 699f.) nach eigenem Bekunden ihre Beschäftigung mit der Organisation von Turn-Taking in ‚conversations‘ zum einen auf empirische Fakten zum Turn-Taking selbst und nicht nur zu seinen Anwendungen und Folgen in besonderen Kontexten; zum anderen auf ihre Überzeugung, daß die Turn-Taking-Organisation für ‚conversations‘ als ein sowohl kontextfreier als auch besonders kontextsensitiver formaler Apparat bestimmbar sei, „for, of course, conversation is a vehicle for interaction between parties with any potential identities, and with any potential familiarity“ (S/ S/ J 1974: 700). Dafür, warum sie gerade nach einem solchen kontextfreien und kontextsensitiven Organisationstyp Ausschau halten, geben die Autoren folgenden aufschlußreichen Grund als ersten an: To begin with, a problem for research on actual conversation is that it is always ‘situated’ - always comes out of, and is part of, some real sets of circumstances of its participants. But there are various reasons why it is undesirable to have to know or characterize such situations for particular conversations in order to investigate them. And the question then becomes: What might be extracted as ordered phenomena from our conversational materials which would not turn out to require reference to one or another aspect of situatedness, identities, particularities of content or context? (S/ S/ J 1974: 699) Da man nun in der Organisation des Turn-Taking für ‚conversations‘ genau einen solchen Organisationstyp gefunden zu haben glaubt, der die „appropriate sort of general abstractness and local particularization potential“ (S/ S/ J 1974: 700) aufweist, ist die Untersuchung dieser Turn-Taking-Organisation folglich auch jeder relativierenden Bezugnahme auf Situation, Sprache, Gesellschaft oder Kultur enthoben, denen gegenüber allenfalls der hier interessierende formale Apparat lokal operierend seine Sensitivität beweist. - Hier liegt, wie wir weiter unten noch sehen werden, eine Wurzel des durch die Autoren erhobenen Universalitätsanspruchs. Im nun entscheidenden nächsten Schritt formulieren die Autoren die Mindestanforderungen an ein Modell der Turn-Taking-Organisation; es müs- H. Walter Schmitz 140 se nämlich den folgenden „grossly apparent facts“ als einer Menge empirischer Beschränkungen gerecht werden (1974: 700-701): In any conversation, we observe the following: (1) Speaker-change recurs, or at least occurs […]. (2) Overwhelmingly, one party talks at a time […]. (3) Occurrences of more than one speaker at a time are common, but brief […]. (4) Transitions (from one turn to a next) with no gap and no overlap are common. Together with transitions characterized by slight gap or slight overlap, they make up the vast majority of transitions […]. (5) Turn order is not fixed, but varies […]. (6) Turn size is not fixed, but varies […]. (7) Length of conversation is not specified in advance […]. (8) What parties say is not specified in advance […]. (9) Relative distribution of turns is not specified in advance […]. (10) Number of parties can vary […]. (11) Talk can be continuous or discontinuous […]. (12) Turn-allocation techniques are obviously used. A current speaker may select a next speaker (as when he addresses a question to another party); or parties may self-select in starting to talk […]. (13) Various ‘turn-constructional units’ are employed; e.g., turns can be projectedly ‘one word long’, or they can be sentential in length […]. (14) Repair mechanisms exist for dealing with turn-taking errors and violations; e.g., if two parties find themselves talking at the same time, one of them will stop prematurely, thus repairing the trouble […]. (1974: 700-701) Die hier gelisteten Beobachtungen sind nun keineswegs an der Menge all der kommunikativen Interaktionen zu machen, die üblicherweise von Gesellschaftsmitgliedern oder in Konversationslexika als „conversation“ (etwa: „the informal exchange of ideas, information, etc. by spoken words“) bezeichnet werden. 4 Anders als die Auftaktformulierung „In any conversation, …“ vielleicht nahelegt, geht es hier nämlich nicht um eine erste Deskription der Turn- Taking-Organisation in solchen sprachlichen Interaktionen, die man gemeinhin „conversation“ zu nennen pflegt, sondern um die Aufzählung definierender Merkmale einer Teilmenge dessen, nämlich des Typs von ‚speechexchange system‘, den die Autoren hier mit dem Terminus „conversation“ belegen, in anderen Publikationen aber daneben mit den unterschiedlichsten Kennzeichnungen. 5 Daß es sich um eine Liste von definientes handelt, bestätigen die Autoren ausdrücklich: One evidence of the crucial character of at least some of the points is that, when other than the observed feature is the case, the turn-taking system that it 4 Eine systematischere Bestimmung der konstitutiven Merkmale von „conversation“ anhand des amerikanischen Sprachgebrauchs unternimmt Donaldson (1979). 5 Z. B.: „’conversation‘ in the sense of informal small-talk“ (Schegloff et al., zit. n. Wolfartsberger 2012: 3); „informal verbal interaction“, „ordinary conversation“, „informal conversation“, „maximally informal, spontaneous, naturally occurring conversations“ (Stivers et al. 2009: 10587, 10591). „In any conversation …“ 141 becomes correct for is not one for conversation, but for some other speechexchange system. (S/ S/ J 1974: 701) Die bei S/ S/ J implizit bleibende Definition ließe sich folglich explizieren als: ‚Conversation‘ heiße ein Redeaustauschsystem und jede seiner Realisierungen, in dem das Turn-Taking ausschließlich einem System folgt, das (wenigstens) die angeführten 14 Merkmale aufweist. Damit sind aus der Kategorie der ‚conversation‘ nicht nur die Gespräche/ Conversations ausgeschlossen, in denen längeres gleichzeitiges Sprechen, Phasen chorischen Sprechens oder längere Redepausen vorkommen und toleriert werden, sondern vor allem auch solche, in denen Statusunterschiede, institutionelle Rollenverteilungen (Arzt - Patient, Mutter - Tochter - Vater) oder allgemein Ungleichheiten der Rechte, des Wissens, des Könnens der Kommunikationsteilnehmer Einfluss auf die Sprecherreihenfolge, die Turn-Länge, die relative Verteilung von Turns etc. ausüben (könnten). Das aber heißt umgekehrt, daß für Fälle von ‚conversation‘ Gleichheit und gleiche (Sprecher)Rechte der Teilnehmer angenommen werden müssen, was von Vertretern der CA allerdings im Einzelnen kaum jemals nachgewiesen wird - man denke z. B. an die sowohl von Sacks als auch von Schegloff untersuchten Anrufe von Bürgern bei verschiedensten Institutionen -, sondern sich allein auf die Annahme eines gemeinsam geteilten Turn-Taking- Systems („for conversation“) stützt (cf. Billig 1999: 543, 550). Es ist allerdings sehr fraglich, ob solcherart unterstellte Gleichheit des Wissens und Könnens etwa überhaupt zu Kommunikation führen würde und ob nicht Ungleichheiten auf diesen Gebieten wirkungsvollere Voraussetzungen für Kommunikation sind, während Gleichheiten oder Gemeinsamkeiten eher als Ergebnisse von Kommunikation anzunehmen wären. 3 Conversation als Redeaustauschsystem Schon vor der soeben behandelten Definition von ‚conversation‘ ist durch die Bestimmung von Conversation 6 als einem „speech exchange system“ (S/ S/ J 1974: 696) neben anderen indirekt festgelegt worden: Conversation ist ein Mittel bzw. Verfahren des geordneten Austauschs von Redebeiträgen, i.e. sprachlichen Handlungen, zwischen auf diese Weise interagierenden Parteien oder Teilnehmern; 7 in gleicher Bedeutung kann „talk in interaction“ verwendet werden. 8 Entsprechend geht es beim Turn-Taking in Conversations um 6 Zur Kennzeichnung des spezifischen terminologischen Gebrauchs von „conversation“ durch S/ S/ J habe ich den Ausdruck außerhalb von Zitaten in einfache Anführungszeichen eingeschlossen (‚conversation‘), um ihn vom alltagssprachlichen Gebrauch mit erheblich abweichender Bedeutung abzusetzen. Nun, nach Behandlung der Definition des Ausdrucks durch S/ S/ J und der damit verbunden Sprachklärung verwende ich der Einfachheit halber den englischen Ausdruck in Großschreibung (Conversation) als Namen des zuvor bestimmten Redeaustauschsystems und seiner Realisierungen. 7 Cf. dazu bei S/ S/ J (1974: 700) die Formulierung: „conversation is a vehicle for interaction between parties“. 8 Dazu S/ S/ J (1974: 720): „The turn-taking system we are describing is one for conversation, i.e. for talk in interaction.“ Und Schegloff (1995: 31): „[…] talk-in-interaction (the H. Walter Schmitz 142 Sprecherwechsel, um „taking of turns at talking“ (Sacks 2004: 35), um „distribution of talk among parties“ (Schegloff 1995: 40), also um die Organisation der Abfolge ausschließlich sprachlicher Handlungen. Und es ist nicht so, dass die CA - zumindest in den 60er und 70er Jahren und darüber hinaus in der von Schegloff vertretenen Version eigentlich bis heute - nur das sprachliche Geschehen als Untersuchungsgegenstand zuließe, alles Nonverbale (Paralinguistik, Gestik, Blick, Mimik etc.) dagegen schlicht übersähe oder ausdrücklich ausschlösse, sondern sie begreift Conversation ausschließlich als ein Redeaustauschsystem und hält die jeweilige Organisation der Redebeiträge als sprachliche Handlungen aus sich heraus und aus den Details des rein sprachlichen Interaktionsgeschehens für hinreichend verstehbar und erklärbar. Es verwundert daher nicht, dass in der „Simplest Systematics“ lediglich einmal, und das nur nebenbei, ein nonverbales Mittel, nämlich „gaze direction“, genannt wird, das in der Organisation des Sprecherwechsels eine Rolle spielen könnte als Alternative zur sprachlichen Adressierung bei der Auswahl des nächsten Sprechers (cf. S/ S/ J 1974: 717). Diesem Conversation-Begriff entsprechen sowohl die Auffassung von einer angemessenen Dokumentation empirischer Fallbeispiele als auch der Transkriptionsbegriff in der „Simplest Systematics“ und allen folgenden Publikationen der drei Autoren. Wie in den Anfängen der linguistischen Gesprächsanalyse, die sich aus verständlichen Gründen zunächst allein für das sprachliche Gesprächsgeschehen interessierte, werden „audio recordings of naturally occurring conversations“ (S/ S/ J 1974: 697) als für die Analysezwecke ausreichende Dokumente angesehen, während die Transkription, in der besondere Sorgfalt auf die Erfassung sequenzieller Merkmale verwandt wird, auf ein vergleichsweise einfaches Verbaltranskript 9 als Datenmenge abzielt (cf. S/ S/ J 1974: 731-734). Beide, Aufzeichnungsverfahren und Transkription, sind schon recht früh kritisiert worden (cf. Philips 1976: 83-86; West/ Zimmerman 1982: 507, 533ff.; Power/ Dal Martello 1986: 31), allerdings trifft diese Kritik zugleich das konversationsanalytische Verständnis der sprachlichen Handlung und den darauf einseitig zugeschnittenen Begriff der Conversation. Denn letztlich läuft sie auf den Vorwurf hinaus, Conversations insgesamt oder bestimmte Aspekte ihrer internen Organisation - z. B. die Technik der Auswahl des nächsten Sprechers (cf. Philips 1976: 93; Power/ Dal Martello 1986: 34; Schmitz 1998b: 42ff.), die Bestimmung der Turnkonstruktionseinheit oder der für die Turnübergabe relevanten Stelle (cf. Denny 1985: 51, 56; Selting 2000: 511f.; Schmitt 2005) - seien ohne Berücksichtigung von Blicken, Körperbewegungen, prosodischen oder paralinguistischen Phänomenen, und damit auch ohne Berücksichtigung der Beiträge der Hörer zur Regulation und Gestaltung der Interak- more general term which I will prefer to „conversation“).“ - Zu Schegloffs späterer Neubestimmung von „talk in interaction“ (Schegloff 2006: 90, Anm. 1) siehe weiter unten. 9 „[…] we have simply tried to get as much of the actual sound as possible into our transcripts, while still making them accessible to linguistically unsophisticated readers; […]” (S/ S/ J 1974: 734) „In any conversation …“ 143 tion (cf. Philips 1976: 83-86; Goodwin 1979; Schmitz 1998c: 64-70), konversationsanalytisch nicht hinreichend zu erklären. Anfänglich bestätigen Schegloff und Sacks (1973: 323) gegenüber solcher Kritik zwar die mögliche Relevanz nonverbalen Verhaltens, etwa für die Conversation-Beendigung in Face-to-Face-Begegnungen, halten aber gleichzeitig fest an ihren ausschließlich auf Transkripten von Telefongesprächen beruhenden Ergebnissen und wenden - allerdings ohne die etablierte Unterscheidung zwischen verbalem und nonverbalem Verhalten zu akzeptieren - ein: Still, it should be pointed out that ‘purely verbal means’ do work for at least one class of conversations, i.e., those on the telephone. (Schegloff/ Sacks 1973: 323) Das aber impliziert, dass die Autoren paralinguistische und prosodische Phänomene zu den „purely verbal means“ zählen, von denen sie jedoch bis heute nur sehr wenige überhaupt in ihre Transkripte aufnehmen und in Analysen berücksichtigen. Seit „Opening up Closings“ von 1973 und der „Simplest Systematics“ von 1974 zeigt sich, nachdem Charles Goodwin und andere weniger orthodoxe Vertreter der CA in ihren Analysen von mit Video aufgezeichneten Conversations z. B. die Turn-Taking-Relevanz von Blickbewegungen herausgearbeitet hatten, über Schegloff (1995: 35) und Schegloff (2000: 8ff.) bis hin zu Schegloff (2006: 90, Anm. 1) eine wachsende Bereitschaft, die Relevanz des Nonverbalen in und für Conversations programmatisch anzuerkennen und schließlich umfassend seinem „talk in interaction“-Begriff zu subsumieren: It should go without saying (although the contemporary use of the term multimodal interaction suggests otherwise) that “talk in interaction” should be understood as “talk and other conduct in interaction,” that is, as including posture, gesture, facial expression, ongoing other activities with which the talk may be cotemporal and potentially coordinated, and any other features of the setting by which the talk may be informed and on which it may draw. (Schegloff 2006: 90, Anm. 1) In Schegloffs empirischen Arbeiten jedoch findet diese Programmatik keinen Niederschlag; das teils alte Audiomaterial und die gewohnt dünnen Verbaltranskripte würden dies auch gar nicht erlauben; und vor allem: Es ist überhaupt nicht zu sehen, wie welche nonverbalen Phänomene neben und mit sprachlichen Handlungen in der Sequenzanalyse, wie sie in der CA klassischerweise verstanden und begründet worden ist (cf. z. B. S/ S/ J 1974: 729), berücksichtigt und behandelt werden sollen. Im Verständnis von Conversation als Redeaustauschsystem und von Sprechern und Hörern als „participants“ oder „parties“ darin spielt für S/ S/ J eine Ökonomie-Analogie eine weithin übersehene Rolle: 10 10 Ausgenommen Edelsky (1981: 398), Schmitt (2005: 24-25) und vor allem Cecil (2010: 9), bei dem es immerhin heißt: „They viewed the negotiation of taking turns in conversations (and other forms of talk-in-interaction) as a kind of economy, in which a turn at H. Walter Schmitz 144 For socially organized activities, the presence of ‘turns’ suggests an economy, with turns for something being valued - and with means for allocating them, which affect their relative distribution, as in economies. (S/ S/ J 1974: 696) Aus dieser anfänglichen Vermutung wird schließlich eine empirische Feststellung: Turns are valued, sought, or avoided. The social organization of turn-taking distributes turns among parties. It must, at least partially, be shaped as an economy. (S/ S/ J 1974: 701) Dafür, dass der Turn, das Als-Sprecher-an-der-Reihe-Sein, ein erstrebenswertes, aber knappes Gut ist, das zu erlangen sich die Parteien konkurrierend bemühen, werden keine Motive oder damit verbundene und verfolgte Zwecke der interagierenden Parteien als Erklärung angeführt, sondern es wird neben der empirischen Feststellung 11 allein auf das Redeaustauschsystem selbst und seine Ökonomie verwiesen, die ein knappes begehrtes Gut ebenso bedingen, wie dieses ein Austauschsystem verlangt. Hiermit hängen eng die definierend aufgeführten 14 Merkmale der Conversation (S/ S/ J 1974: 700- 701) zusammen, ja, sie wurzeln in dem unterstellten Austauschsystem und seiner Ökonomie. Und ebenso ergibt sich daraus die wohl eher als modellbasiertes Postulat einzuordnende Folgerung, dass es zu jedem Zeitpunkt neben einem aktuellen Sprecher wenigstens einen „willing or potentially intending next speaker“ (S/ S/ J 1974: 728) mit einer intrinsischen Motivation, dem aktuellen Sprecher zuzuhören (S/ S/ J 1974: 727), geben müsse: By maximizing the set of potential next speakers for any next turn […], the system translates a willingness or potential desire to speak into a corollary obligation to listen. (S/ S/ J 1974: 728) Insgesamt wird uns das zur Conversation als Redeaustauschsystem gehörende Turn-Takingbzw. Distributionssystem präsentiert als eine autonom arbeitende „machinery“ (S/ S/ J 1974: 725), deren Beeinflussung oder gar Steuerung den Intentionen der einzelnen Parteien entzogen ist. 4 Der Universalitätsanspruch Ursprünglich hatte Harvey Sacks (2004: 35) einen Universalitätsanspruch lediglich für ein - allerdings zentrales Merkmal - von Conversation erhoben, das dieses Redeaustauschsystem seiner Auffassung nach mit anderen „speech-exchange systems“ teile, nämlich „one party talks at a time“: speaking is a commodity which speakers work to gain for themselves, while abiding by rules for distributing turns-at-talk (Sacks, Schegloff, & Jefferson, 1974).“ 11 Kritisch demgegenüber Murray (1985: 31): „To contend […] that ‘someone’s turn must always and exclusively be in progress,’ obviously does not apply to cultures in which speech is less highly valued than among U.S. academics and in which copresence does not require continuous verbal display (…).“ „In any conversation …“ 145 That talk proceeds in a one party at a time fashion while speaker change recurs is not unique to conversation: It is massively present as well for debates, meetings, press conferences, plays, therapy sessions, interviews, trials, etcetera, although these latter differ from conversation in how the feature is preserved. Nor is the feature unique to a particular linguistic or social community. It is evidently exhibited in conversation, meetings, etcetera for e.g., societies whose languages and systems of social organization quite drastically differ. (Sacks 2004: 35; Hervorh. H.W.S.) In der „Simplest Systematics“ jedoch wird dann durch die Wahl der Formulierung „In any conversation, we observe the following […]” zunächst eher implizit der Anspruch erhoben, das hiermit zugleich definierte Redeaustauschsystem „Conversation“ stelle eine Universalie dar. 12 So jedenfalls ist die keineswegs zufällige Wortwahl offenbar schon vor der Publikation des Aufsatzes von anderen verstanden worden, 13 und die Autoren bestätigen dieses Verständnis indirekt, indem sie sich sogleich der nach ihrer Meinung nur empirisch zu klärenden „question of cross-cultural validity“ (S/ S/ J 1974: 700, Fn. 10) stellen und einerseits ihren Anspruch stützende empirische Untersuchungen anführen, andererseits die Implikationen dieser Frage theoretisch angreifen. Was die empirische Klärung der Frage angeht, so sehen sie die Validität ihrer Behauptungen bezüglich Conversation bestätigt in ihrem eigenen Material, in Thai- und Tok Pisin-Materialien „and for an undetermined number of languages in the competence of a substantial number of linguists (at the Linguistic Institute in Ann Arbor, Summer 1973, and elsewhere)“ (S/ S/ J 1974: 700, Fn. 10); und damit lassen sie es bewenden. Die Frage nach transkultureller Validität ihrer Feststellungen zu Conversation überhaupt zu stellen, also nachzufragen, wie denn die Conversation kennzeichnenden Strukturen über Sprachen, Sprachgemeinschaften oder soziale Organisationen hinweg variieren, impliziert für S/ S/ J, dass man letztere zu den basaleren Strukturen erklärt. Die Autoren kommentieren dies so: That ordering is not at all clear to us. We do find that aspects of turn-taking organization may vary in terms of other aspects of the sequential organization of conversation. And, as we suggest in the final section of this paper, there are various turn-taking systems for various speech-exchange systems, e.g. conversation, debate etc. (S/ S/ J 1974: 700, Fn. 10) Diese Argumentation schließt einerseits an die weiter oben thematisierte Auffassung von S/ S/ J an, in der Organisation des Turn-Taking für Conversations genau einen solchen Organisationstyp gefunden zu haben, der die „appro- 12 Im letzten Absatz der „Simplest Systematics“ findet diese Behauptung ihr inhaltliches und formales Echo: „Similarly, all the data in all our other papers can be inspected for their bearing on the points made in this one. And any materials of natural conversation (transcribed to an appropriate level of detail and precision) collected by others may be examined as well. All this, of course, is appropriate if, indeed, what is proposed in the paper is so ‘for any conversation’.“ (S/ S/ J 1974: 734; Hervorh. H.W.S) 13 „The heading ‘in any conversation’ has raised, for several readers of this paper in manuscript, the question of cross-cultural validity.“ (S/ S/ J 1974: 700, Fn. 10) H. Walter Schmitz 146 priate sort of general abstractness and local particularization potential“ (S/ S/ J 1974: 700) aufweise, um die Untersuchung dieser Turn-Taking-Organisation auch jeder relativierenden Bezugnahme auf Situation, Sprache, Gesellschaft oder Kultur zu entheben, denen gegenüber allenfalls der hier interessierende formale Apparat lokal operierend seine Sensitivität beweise. Andererseits erklärt Schegloff (1991: 67, Fn. 3) diese Textpassage zusammen mit einer anderen (cf. Schegloff/ Sacks 1973: 291-292, Fn. 4) als durch „[r]easons both of relevance and of procedural consequentiality“ motivierte Weigerungen, von Seiten der Kulturanthropologie oder auch der Soziologie ins Feld geführte Kontextualisierungen oder Kontextmerkmale 14 zu akzeptieren, ohne dass diese sich für die Erklärung der sprachlichen Handlungen und der Conversation-Struktur in dem Sinne als relevant erwiesen, dass sie systematische Konsequenzen für die Organisation der Conversation hätten. Vor allem Schegloff hat die Kontextfreiheit des Redeaustauschsystems „Conversation“ und damit auch dessen postulierte Universalität immer wieder verteidigt, insbesondere in „Overlapping Talk and the Organization of Turn-Taking for Conversation“ (2000), einer Art Ergänzung und Korrektur der „Simplest Systematics“, sowie in „Interaction: The Infrastructure for Social Institution […]“ (2006), worin Schegloff über das schon bekannte Postulat hinaus fünf weitere „candidate universals in human interaction“ (2006: 83-87) präsentiert. Seine Entgegnungen gelten, wie er selbst feststellt (Schegloff 2000: 47, Fn. 1), fast ausschließlich Kollegen aus der Anthropologie und konzentrieren sich auf deren Einwände gegen „the treatment of ‘one at a time’ as a central point of reference for the organization of turn-taking“ (Schegloff 2000: 47, Fn. 1). Allerdings bleibt die Auseinandersetzung mit den Kritikern recht fruchtlos, entweder weil diese keine Transkripte als überzeugende Belege vorgelegt haben, sondern nur ihre ethnographischen Beobachtungen (cf. Reisman 1974; Philips 1976) berichten, oder weil Schegloff (2000: 47, Fn. 1) bezweifelt, dass es sich bei dem als Transkript präsentierten Material tatsächlich um eine einzige Interaktion handelt und nicht um mehrere gleichzeitige (cf. Edelsky 1981). Wieder andere Kritiker, die auch ihre Daten vorlegen (cf. Coates 1988), werden zwar erwähnt (cf. Schegloff 2000: 48, Fn. 3), aber keiner Entgegnung würdig gefunden, obwohl Coates (1988) wie Edelsky (1981) private Mehrpersonengespräche untersucht hat, wie sie im Korpus von Sacks, Schegloff und Jefferson nicht vorkommen und daher auch nicht näher untersucht wurden. 15 Und dann heißt es 2006 allen Diskussionen zum Trotz wieder: „So far it seems to be the case that wherever investigators have looked carefully, talk in interaction is organized to be done one speaker at a 14 „Ethnic, national or language identifications differ from many others only in their prima facie plausibility, especially to those in the tradition of anthropological linguistics“ (Schegloff/ Sacks 1973: 292, Fn. 4). 15 Egberts (1997) von Schegloff betreute Untersuchung des „schisming“, der Gesprächsfragmentierung, anhand von Videoaufzeichnungen deutscher Mehrpersonengespräche verstellt sich durch ihre Anlage den Blick auf Phasen gleichzeitigen Sprechens. „In any conversation …“ 147 time“ (Schegloff 2006: 71). Von einer gründlichen sachbezogenen Fachdiskussion ist dies alles weit entfernt. 16 Von Anfang an hat es nicht an Unterstützern des von S/ S/ J erhobenen Universalitätsanspruchs gefehlt. Der Anthropologe Moerman (1988) zählte zu den ersten, einige Soziologen folgten und mit ihnen zahlreiche Gesprächsanalytiker unterschiedlichster disziplinärer Provenienz, die oft genug in ihrer Rezeption der CA deren „Conversation“ unzulässigerweise mit ihrem (Alltags)verständnis von „Gespräch“ gleichgesetzt haben. 17 In jüngerer Zeit nun gehen die Unterstützer des Universalitätspostulats noch über Schegloffs Position hinaus, indem sie ausgehend von einer sehr engen und fragwürdigen Basis empirischer Daten über eine biologische Verankerung vermeintlicher Universalien spekulieren (cf. Sidnell 2007: 237; Stivers et al. 2009: 10587, 10591) oder sogar der Phylogenese von Turn-Taking-Ordnungen durch Experimente mit Affen (Cercopithecus campbelli campbelli) auf die Spur zu kommen suchen (cf. Lemasson et al. 2011). Stark kontrastierend mit solchen schon Ideologieverdacht erregenden Spekulationen hat sich parallel dazu gegen den Universalitätsanspruch von S/ S/ J eine Kritik neuer Qualität entwickelt. Sie nimmt die schon immer bekannte Multimodalität von Vis-à-vis-Kommunikation (cf. Loenhoff 2013: 3) ernst, lässt sich zur Überwindung des Dyaden-Bias der CA auf Mehrpersonenkommunikationen ein und stützt ihre Analysen sowohl auf Transkripte von Videoaufzeichnungen als auch auf Daten aus gründlichen ethnographischen Studien (cf. z. B. Schmitt 2005; Mondada 2007; Meyer 2010). Als besonders einschlägig und gewichtig sei hier die Studie von Meyer (2010) über Dorfplatz-‚Conversations‘ bei den Wolof (Senegal) hervorgehoben, da ihr Autor sich nicht nur um eine Aufarbeitung der Grundlagen und Hintergründe der Auseinandersetzung zwischen Vertretern der CA und der Ethnography of Speaking über die postulierte Universalität der Conversation bemüht, sondern sowohl konversationsanalytisch als auch anthropologisch bestens instruiert mit einem theoretisch weiten Blick und einer großen methodischen Sorgfalt zu Werke gegangen ist. Als Schlussstein einer damit vorerst hinreichend begründeten Zurückweisung des Universalitätsanspruchs von S/ S/ J seien hier drei zentrale Resultate aus Meyers Wolof-Studie vorgestellt und kurz kommentiert: Thus, it has become evident, that for one, due to ecological and other factors, the footing of Wolof multiparty conversations is differently organized than those conversations which served as a standard for the canonical models of Conversation Analysis so far. In particular, the boundaries of dyads, triads, or 16 Eine solche Fachdiskussion hätte heute denn auch über die - teils beiläufig - schon genannten Kritiker der „Simplest Systematics“ hinaus einige mehr noch zu berücksichtigen, z. B. Cecil (2010), Duranti (1997), Hayden (1987), Ingenhoff (1998), Khymalo (2005), Köktürk/ Öztürk (2012), Meyer (2008, 2010, 2011), Smith-Lovin/ Brody (1989), Wolfartsberger (2012: 8) etc. 17 So etwa zu beobachten in den deutschsprachigen Einführungen in die Gesprächsanalyse; kritisch dazu Schmitz (1998a: VII ff.; 1998b: 42-49). H. Walter Schmitz 148 interaction systems in general are often undefined, so that systemic effects are generated which lead to more frequent and unproblematic overlaps than presumed by canonical Conversation Analysis. Secondly, the Wolof cointeractants, as it appears, use their senses (as semiotic resources) in a different way than assumed by canonical Conversation Analysis as well as Goffmanian interactionist sociology. Thirdly, the notion of the social persona at play in the Wolof multiparty conversations equally seems to vary fundamentally from the default notion assumed by Conversation Analysis. For example, in moments of first starter overlap immediate fission which demonstrates strength of character appears to be preferred over withdrawal which would demonstrate an overly submissive stance. (Meyer 2010: 328) Meyers zweite Feststellung bezieht sich auf die Nutzung von Blicken und Hören/ Zuhören in der Kommunikation (cf. Meyer 2010: 332 f.); hier reiche uns Näheres zum Blicken. 18 Anblicken wird von den Wolof keineswegs immer als Adressierungssignal genutzt, man pflegt vielmehr während der Kommunikation vor sich auf den Boden oder einen Gegenstand zu blicken. Wenn überhaupt jemand angeblickt wird, dann häufig eine dritte, als Zeuge oder Verbündeter dienende Person, nicht aber der Angesprochene. Kommt es jedoch zu gegenseitigem Anblicken zwischen einem Sprecher und seinem Adressaten, so blickt der Sprecher häufiger und länger seinen Hörer an (als eine Art Konfrontationssignal) als umgekehrt, ja, das Anblicken des Sprechers durch den Hörer bleibt häufig ganz aus. - Ein in den wichtigsten Punkten ähnliches Blickverhalten ist u. a. bei den Tzeltal-Sprechern in Tenejapa (Mexiko) beobachtet worden (cf. Sidnell 2007: 237), ebenfalls bei den spanischund/ oder quichuasprachigen Saraguro-Indianern Südekuadors (cf. Knuf/ Schmitz 1980: 56, 79, 322). Diese Praxis des Blickens in Vis-à-vis-Kommunikation ist nicht in Einklang zu bringen mit den Annahmen und Regeln von Goodwin (1979), und sie erlaubt darüber hinaus keine formale Unterscheidung mehr zwischen echtem Overlapping innerhalb einer Conversation und gleichzeitigem Sprechen in zwei verschiedenen Conversations - und damit auch keine klare Bestimmung mehr der Grenzen oder der Teilnehmerschaft einer Conversation! Denn dazu müsste nach Schegloff (1995: 37 f.; 2000: 5-10) und Egbert (1997: 3, 15) festgestellt werden, ob „[…] the overlapping talk continues to be oriented to recipients treated as members of the same single conversation […]“ (Schegloff 2000: 5; Hervorh. H.W.S). Das aber wollen und können Goodwin, Schegloff und Egbert nur festmachen am Blickverhalten der Interaktionspartner, wie auch beim Konkurrieren zweier Sprecher um einen Hörer dessen Anblicken des einen Sprechers zum Ablassen des anderen führen soll. So sehr das auch Gültigkeit beanspruchen dürfte für viele Vis-à-vis-Kommunikationen in den 18 Zu Hören und Zuhören hat Coates (1988: 119) schließlich schon Ähnliches als Resultat ihrer Analyse von Mehrpersonengesprächen unter amerikanischen Frauen der CA entgegengehalten: „Participants in conversation can absorb more than one message at a time; simultaneous speech doesn’t threaten comprehension. On the contrary, it allows for a more multilayered development of themes.“ - Dazu auch Edelsky (1981: 397). „In any conversation …“ 149 USA oder in Deutschland, es kommt den Mitteln und Formen der Interaktion der Wolof und vieler anderer nicht bei. Erneut bestätigt in unserer Position, können wir uns daher der (nahezu) abschließenden Feststellung Meyers (2010: 381) anschließen: We have seen that, indeed, the turn-taking system in its details provided in the classical text (Sacks, Schegloff & Jefferson 1974) as well as in its precise structures defended in the more recent literature is not universal. 5 Der fremde Mechanismus Mit der Zurückweisung des für das Redeaustauschsystem „Conversation“ erhobenen Universalitätsanspruchs wird letztlich auch der Conversation- Begriff selbst problematisch, in dessen Konstitution als kontextfreies System schließlich jener Anspruch wurzelt. Für die Verwerfung des Begriffs der Conversation, wie er von S/ S/ J 1974 konzipiert und in der Folge vor allem von Schegloff verteidigt, modifiziert und gehandhabt worden ist, sprechen jedoch noch mehr Argumente, die sich der genauen Lektüre der programmatischen Texte der CA und der Weiterentwicklung der empirischen Gesprächsforschung verdanken (cf. dazu u. a. Schmitt 2005), die ihrerseits wichtige (belebende) Impulse aus der CA erhalten hat. Die Grundlagen des Conversation-Begriffs sind in Praktizierung einer extrakommunikativen Betrachtungsweise (cf. Loenhoff/ Schmitz 2012) und unter Anwendung formaler Analyseprozeduren auf Verbaltranskripte von ausschließlich Audioaufzeichnungen gewonnen worden. Das mit dem von Gail Jefferson entwickelten, aber nie hergeleiteten und theoretisch rechtfertigten Transkriptionssystem analysierte und präsentierte empirische Material besteht anfänglich vornehmlich aus Aufzeichnungen von Telefongesprächen, zeigt aber auch später noch einen deutlichen Dyaden-Bias. 19 Die durch Betrachtungsweise und Transkriptform gestützte ausschließliche Sprach- und Sprecherbezogenheit der Beobachtungen und Analysen lässt lediglich Sprecher als Handelnde und nur Sprechen als Handeln in den Blick geraten, so dass es weder (gleichzeitiges) nonverbales Handeln noch Hörerhandeln geben kann, der Hörer also - im Zweiergespräch sicher, im Mehrpersonengespräch vielleicht - nur als (nächster) Sprecher handelnd in Erscheinung tritt. 20 Vor dem Hintergrund des von Anfang an leitenden handlungstheoretischen Interesses werden die kommunikativen Prozesse dabei allein unter dem Gesichtspunkt der formalen Organisation und geregelten Abfolge von Sprecherhandlungen betrachtet, die sich im Transkript immerhin als augenscheinlich eindeutig abgegrenzte Handlungen und damit als leicht identifizierbare Einheiten darbieten. Dies rückt den komplexen Turn-Begriff in den Mittelpunkt 19 Kerbrat-Orecchioni (zit. n. Wolfartsberger 2012: 9) spricht sogar von einem „‚dyadic diktat‘“. 20 Im Dyaden-Bias und in dieser Sprach- und Sprecherbezogenheit hat die Methode der Sequenzanalyse ihre Wurzeln und ihre alleinige Rechtfertigung (zur Kritik cf. Schmitz 1998b: 33-34; 1998c: 67). H. Walter Schmitz 150 eines durch eine Ökonomie-Analogie eingefärbten formalen Redeaustauschsystems, dessen konstitutive Regel „one at a time“ mit unexplizierten minimalen anthropologischen Grundannahmen (bezüglich Sinnesphysiologie, kognitiver Leisungsfähigkeit o.ä.) in enger Verbindung zu stehen scheint und als Voraussetzung für die Entstehung sozialer Ordnung für unabdingbar gehalten wird. 21 Deswegen und wegen der formalen Abstraktheit des Austauschsystems wird es für kontextfrei und schließlich für universal gehalten. Ein solcher Conversation-Begriff wird der Komplexität und Ganzheitlichkeit der kommunikativen Prozesse nicht gerecht, die er nach Absicht der Autoren erfassen soll. Neben den aufgeführten Einseitigkeiten fällt vor allem die fehlende Berücksichtigung der Fundierung aller Kommunikation in Prozessen (vermittelter) gegenseitiger Wahrnehmung ins Gewicht, die ihrerseits unterschiedlichen kulturellen Ordnungen mit je speziellen Konsequenzen für Möglichkeiten und Präferenzen der Gestaltung des Kommunikationsgeschehens unterworfen sein können. Der Conversation-Begriff alleine taugt aber auch nicht als Mittel zur Ordnung der Vielfalt kommunikativer Interaktionen, da er lediglich ein Extrem auf der Achse der hinsichtlich ihrer Zuteilungsarten linear angeordneten Turn-Taking-Systeme (cf. Sacks 2004: 36) erfasst und von Interview, Debatte, Meeting, Zeremonie etc. unterscheidet, für die die Begriffskonstruktion ebenso noch aussteht wie für alle die Fälle und Formen kommunikativer Interaktion, die im Alltag als conversation oder Gespräch bezeichnet werden, aber nach dem Willen von S/ S/ J nicht unter den Begriff der Conversation fallen. Schließlich ist der Conversation-Begriff aufgrund seiner extrakommunikativen Bestimmung auch ungeeignet, die Perspektiven der Kommunizierenden, also der sog. „participants“ bzw. „parties“, zu berücksichtigen und einzufangen; was im Mittelpunkt des Conversation-Begriffs steht, das bleibt den Kommunizierenden, ihren Plänen und Erwartungen im Wesentlichen fremd und äußerlich. Dies lässt sich am ehesten an den Begriffen des Turns, der Turnkonstruktionseinheit und des „possible completion point“ erläutern (cf. Schmitz 1998b: 43-44). Häufig gerät nämlich die Bewältigung des Rederechtverteilungsproblems nach den bekannten Turn-Taking-Regeln in einen Widerspruch zu den Ansprüchen der Teilnehmer, „ausreden zu dürfen“, also das, was sie insgesamt hier und jetzt mitzuteilen beabsichtigen, auch vollständig und hintereinander vortragen zu können, ohne dass sie einer „unterbricht“. In diesen Fällen werden nämlich selbst solche Selbstwahlen nächster Sprecher als „Unterbrechungen“ erlebt und bezeichnet, die ‚korrekt‘ am Ende einer Einheit der Turnkonstruktion (S/ S/ J 1974: 720 ff.), also an einer für die Turnübergabe relevanten Stelle, erfolgen. Dies belegt einerseits „[…] that a participant’s sense of what counts as a turn is not necessarily the same as a research definition of a turn as ending with the speech of another participant or the end of a unit type“ 21 Man beachte die Emotionalität, mit der Schegloff (2000: 47, Fn. 1) auf die Infragestellung dieser Regel reagiert hat: „If not one-at-a-time, is it ALL-at-a-time? Some other limited number? Or are there no constraints or describable practices at all, as apparently claimed by Reisman (1974: 113-14)? “ „In any conversation …“ 151 (Edelsky 1981: 390). Andererseits gibt es Gründe anzunehmen, dass der dem Ziel gegenseitiger Verständigung meist dienlichere Anspruch darauf, ausreden zu dürfen, abgeleitet ist aus kultur- oder sogar subkulturspezifischen Kommunikationsregeln, die ihrerseits als Bestandteile der sozialisierten Bereiche alltagsweltlicher Kommunikationstheorien betrachtet werden können. Entsprechendes gilt für den Begriff des „possible completion point“ (S/ S/ J 1974: 721), von dem im Modell angenommen wird, dass sich Sprecher, eine mögliche Vollendung eines Satzes, einer Phrase, also einer Turnkonstruktionseinheit, antizipierend, an solchen Punkten für einen schnellen und reibungslosen Sprecherwechsel orientieren. Aus dieser extrakommunikativen Perspektive bleibt dann jedoch unbemerkt, dass solche Stellen nicht immer zusammenfallen mit dem, was aus Sprechersicht seine Vollendung der Mitteilung (gewesen) wäre. Und dieser Unterschied ist nicht ohne Belang. Denn: „Felt completion has consequences for social meaning, if not for syntax or timing“ (Edelsky 1981: 399). 22 Literatur Albert, Ethel M. 1964: „‚Rhetoric,‘ ‚logic,‘ and ‚poetics‘ in Burundi: Culture patterning of speech behavior“, in: American Anthropologist, N.S., 66(6,2): The ethnography of communication, 35-54 Beckett, Samuel 1972: The lost ones. Translated from the original French by the author, London: Calder & Boyars Beach, Wayne A. 1990/ 1991: „Searching for universal features of conversation“, in: Research on Language and Social Interaction 24, 351-368 Billig, Michael 1999: „Whose terms? Whose ordinariness? 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Walter Schmitz 152 Goodwin, Charles 1979: „The interactive construction of a sentence in natural conversation“, in: Psathas, George (ed.): Everyday language. Studies in ethnomethodology, New York: Irvington Publishers, 97-121 Hayden, Robert M. 1987: „Turn-taking, overlap, and the task at hand: Ordering speaking turns in legal settings“, in: American Ethnologist 14(2), 251-270 Ingenhoff, Diana 1998: „Der Kampf ums Rederecht I. Formen und Strategien der Gesprächsbeitragskoordination“, in: Schmitz, H. Walter (ed.): Vom Sprecher zum Hörer. Kommunikationswissenschaftliche Beiträge zur Gesprächsanalyse, Münster: Nodus Publikationen, 125-200 Knuf, Joachim / Schmitz, H. Walter 1980: Ritualisierte Kommunikation und Sozialstruktur. 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Die meisten von ihnen hatten sich durch Vermittlung ihrer Eltern dazu bereit erklärt, die in einem größeren Interviewprojekt mit der 1. Generation bereits zu Beginn der 1990er Jahre von mir und einigen Mitarbeiterinnen interviewt worden waren und zu denen dadurch freundschaftliche und lang andauernde Beziehungen geknüpft worden waren. 1 Während sich die Interviewpartner der 1. Generation (in Israel bis heute „Jeckes“ genannt) 2 großenteils auf Annoncen in deutschsprachigen Zeitungen in Israel für diese Gespräche über den Bruch in ihrem Leben durch die erzwungene Emigration und die daraus entstandenen Umorientierungen in Lebensführung, Sprache und Kultur selbst gemeldet hatten, war es noch vor wenigen Jahren schwer möglich, Zugang zur 2. Generation zu finden: Vielfach aufgrund von traumatisierenden Erfahrungen als „Jeckes-Kinder“ in ihrer Jugend und Verdrängung der ihnen in der Familie oft noch mitgegebenen deutschen Sprache und Kultur in späteren Lebensjahren, 3 haben diese meist lange Zeit keine Kontakte zu deutschsprachigen Organisationen u. ä. unterhalten. 4 1 Cf. die Text- und Analysebände Betten (1995), Betten/ Dunour (2000) und (2004), Majer (2012) sowie die Informationen über alle drei Projekte in der Datenbank für Gesprochene Sprache (DGD 2) am Institut für Deutsche Sprache (IDS) Mannheim (s. Ende des Literaturverzeichnisses). Mit neueren Auswertungen cf. u. v. a. Betten (2011a), (2011b), (2013); Thüne/ Leonardi (2011). 2 Zur Bedeutung dieser ursprünglich abwertend, heute eher positiv konnotierten Bezeichnung cf. Diner (2005). 3 Cf. dazu ausführlich Betten (2010) und (2011c). 4 Erst in den letzten 10 Jahren ist ein wachsendes Interesse der 2. Generation an ihrem „jeckischen“ Erbe zu verzeichnen, manifestiert z. B. durch die 2004 von Wissenschaftlern der 2. Generation in Jerusalem organisierte, unerwartet zahlreich besuchte Jeckes- Konferenz (cf. die Beiträge in Zimmermann / Hotam 2005), oder die Umbenennung und -orientierung des seit 1932 erschienen „Mitteilungsblatts der Einwanderer aus Mitteleuropa“ zu „MB Yakinton“, nun hauptsächlich in hebräischer Sprache (cf. dazu das Interview von Bach (2012) mit dem der 2. Generation angehörenden Chefredakteur Michael Limor über sein erst in den letzten Jahren erwachtes Interesse). Aufmerksamkeit weit über Israel hinaus erregte im Herbst 2012 der Erfolg des „Wörterbuchs des gesprochenen Deutsch in Israel“ [so der hebr. Titel], auf Deutsch „Sabre Deutsch - Das Lexikon der Jeckes“ betitelt, für das ein Team von Jeckes der 1. und v. a. 2. Generation 3 Jahre lang „charakteristische Jeckes-Ausdrücke“ sammeln ließ, die auch denen noch im Ohr sind, die kein flüssiges Deutsch mehr beherrschen. Das umfangreiche, mit viel Werbe- Anne Betten 158 Mit einigen dieser „Kinder“ war ich schon vorher zusammengekommen, z. T. mit ihren Eltern oder in deren Auftrag; die meisten traf ich jedoch beim Interviewtermin zum ersten Mal persönlich, mit wenigen Informationen vonseiten der Eltern ausgestattet, die sich überwiegend auf die Deutschkenntnisse bezogen (und von den Kindern dann oft korrigiert wurden). Das bedeutete u. a., dass zu Beginn jedes Interviews die Interviewsprache erst ausgehandelt werden musste; da die Interviewerin nicht Hebräisch spricht, kam nur Englisch als Ausweichsprache in Frage (und auch kein Code-Switching ins Hebräische, wie es bei den Interviews mit der Elterngeneration bei zwei hebräischsprachigen Interviewerinnen häufiger vorgekommen war). Während die 1. Generation den Interviews großenteils zugestimmt hatte, um zu berichten und gleichzeitig durch ihr Sprechen zu dokumentieren, wie viel ihnen trotz allem, was geschehen ist, die deutsche Sprache und Kultur noch bedeuten, so schreckte die 2. Generation meist vor einer Demonstration ihrer Deutschkenntnisse zurück, sei es, weil sie sich wegen ihrer Fehler genierten, 5 sei es aus Sorge, sich mit ihrem „verrosteten“ Deutsch inhaltlich nicht differenziert genug ausdrücken zu können. Daher kam es z. B. bei einigen sehr guten Sprechern plötzlich zum vollkommenen (s. Bsp. 4) oder teilweisen längeren Wechsel ins Englische (z. B. bei beruflichen Themen), bei einigen „schwächeren“ Sprechern mit zunehmender Ermüdung zu häufigeren Rückgriffen auf das Englische - allerdings auch umgekehrt bei zunächst vorwiegend Englisch Sprechenden mit zunehmender Gewöhnung zu häufigeren kleinen Einschüben auf Deutsch. Außer der Einstiegsfrage nach den Gefühlen als „Jeckes-Kind“ mussten auch alle weiteren Themen immer wieder ausgehandelt (rückgefragt/ akzeptiert/ modifiziert/ evtl. zurückgewiesen) werden. Im Folgenden konzentriere ich mich inhaltlich auf Beispiele über das „Leben in zwei Kulturen“ als (Jugend-)Erfahrung der 2. Generation, aber auch deren Rückblick auf die Elterngeneration, und dabei besonders auf die Behandlung von Sprach- und Kommunikationsproblemen: sowohl als Bericht, aber auch ganz konkret in ihrer Manifestation im Interview selbst. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Präsentation und Analyse der Textbeispiele aus diesem sehr speziellen Migrantenmilieu, und nicht auf theoretischen Erörterungen zu Mehrsprachigkeit und Multikulturalität. grafik der 1930er und 1940er Jahre bebilderte Buch, das sich nicht als „wissenschaftlichphilologisches Wörterbuch“ versteht, sondern den „sprachlich-kulturellen Aspekt“ einer „spannenden historisch-kulturellen Phase im jüdischen Jischuw“ in den Vordergrund stellen will (cf. Carmel 2012: 234), schaffte es in kürzester Zeit auf Platz 1 der israelischen Bestsellerliste und erlebte schon in den ersten Wochen mehrere Neuauflagen, tausende von Nachfahren der Jeckes waren begeistert. 5 Mehrere Interviewpartner erzählten, dass sie wegen der ständigen grammatischen Korrekturen ihrer Eltern kein Deutsch mehr sprechen können - und ich hörte auch mehrmals von den Eltern, dass sie das schlechte Deutsch ihrer Kinder nur schwer ertragen, was sich natürlich negativ auf die Sprachbewahrung auswirkt. Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen 159 2 Aushandeln und Wechsel der Interviewsprache (und einige Hintergründe für die Sprachwahl) Beispiel 1: Versuch, die Interviewte vom Englischen ins Deutsche überzuleiten 6 AB: […] what does it mean to you, or did it mean and does it mean for you to be a child of a Yekke, also in America nowadays […] Esther, ich sag mal spaßeshalber was auf Deutsch, wenn du dich erinnerst, deine ersten Erinnerungen an deine Eltern, was fällt dir da ein? ES: Soll ich das in Englisch sagen? AB: Wie Du willst, kannst es, versuch mal in Deutsch zu sprechen. ES: Versuchen in Deutsch. (I) switch +++ English (…) AB: Yes ++ ES: I try to remember what is really, what I can remember as a young girl (from) my parents. In den ersten Minuten dieses Interviews mit Esther S. (aufgenommen während eines längeren Besuchs, so dass schon gemischtsprachige Unterhaltungen vorangegangen waren), wurde von beiden Interviewpartnerinnen (ES, AB) Englisch gesprochen, AB versucht jedoch nun beim Thema Jeckes/ Jugenderinnerungen ES ins Deutsche überzuleiten, da sie weiß, dass ES sich auf Deutsch ausdrücken kann. Dies gelingt jedoch nur einen Moment in der Metakommunikation (Z. 5), ES beharrt für die folgende Erzählung auf ihrer nach Hebräisch zweitbesten Sprache Englisch (sie lebt seit Jahrzehnten in den USA, besucht aber häufig ihre Schwestern in Israel und den Kibbuz, in dem sie aufgewachsen ist). Erst an einem beträchtlich späteren Punkt des Interviews gelingt es, wiederum bei Erinnerungen an die Kindheit, die Sprecherin zu längeren Passagen auf Deutsch zu verleiten, und zwar speziell bei Erzählungen von ihren Großeltern, die weiterhin Deutsch miteinander und natürlich auch mit den Enkelkindern sprachen - während die Eltern als Kibbuzniks aus ideologischen Gründen ganz aufs Hebräische überzugehen hatten. Während dieser Erzählung versucht AB durch eine Frage wieder ins Deutsche zu wechseln: Beispiel 2: Deutsch bei Erinnerungen an die Deutsch sprechenden Großeltern AB: Also in der Kindheit erinnerst du dich sehr stark an die Großeltern (…), ja? 6 Aus Gründen der Platzersparnis und besseren Lesbarkeit wurde eine weitgehend literarische Umschrift mit Normalinterpunktion gewählt, in die jedoch folgende Transkriptionszeichen integriert wurden: […] für Auslassungen, (…) für Unverständliches bzw. vermuteten Wortlaut, (LACHT) für nicht verbalisierte Äußerungen, Unterstreichungen für simultan Gesprochenes, / für Wortabbrüche, + für (allerdings nur grob geschätzte) Pausen ab 1 Sekunde. Es sei darauf hingewiesen, dass die Gesprächswörter (Gliederungs-, Kontakt-, turn-taking-Signale, hesitation phenomena) häufig nicht in der Matrixsprache des Interviews, sondern bevorzugt in der hebräischen Lautform, oder auch (in englischen Redepartien) in Anlehnung an das Deutsch der Interviewerin bzw. die ehemalige deutsche Familiensprache realisiert werden. Anne Betten 160 ES: Ja. Ich habe nicht meine Eltern so viel gesehen, weil beide haben gearbeitet. Okay, Vater hat in diesen Zeit, er hat in (…) das war + okay, I am switching back, nineteenfortyone. AB: Mach ruhig ein bisschen weiter, das war ganz nett (BEIDE LACHEN) ES: Mein Vater hat mit junge Leute, das war interessant im Kibbuz, sie hat immer junge Leute, mit junge Leute zusammengearbeitet, nachher diese group of junge Leute (die machen) andere Kibbuz anfangen. Mein Vater hat ein group of ++ Männer, sie haben in die ++ factory AB: Fabrik ES: Fabrik, in diese Fabrik, wo sie haben früher auch + Marmeladen gemacht, sie haben auch in + Essenz, konzentriert menta, Medizin medik/ medicina und Zahnpasta später gemacht. Sie haben eine sehr gute +++ chemists AB: Chemiker ES: Chemiker. Sie haben ein herrliches, herrliches laboratory, Laboratorium, und da haben sie das gemacht, für die Engländer, nicht für die, nicht für + das war zwischen der Krieg und da haben sie das gemacht. Und das (war), was mein Vater hat gemacht. Also er hat sehr äh + früh in der Morgen äh (LACHT) AB: Ja, morgens früh ES: Morgen früh er hat gegangen aus. Und das war nicht in Givat Brenner, das war (…), das war sehr weit und sie haben, ich weiß nicht (…), wie sagt man, horses? AB: Pferde? ES: Mit Pferden gefahren und er hat sehr spät bei Nacht gekommen und mein Mutti hat in die Küche gearbeitet oder sehr früh (sind sie) früh am Morgen oder sehr spät am Nacht AB: Hatte die Mutti schon in Deutschland schon einen Beruf oder war die ganz jung wie sie raus ist? ES: Die hat, die hat in, das war nicht, wie sagt man? (LACHT) AB: Sie war sechsundzwanzig wie sie raus ist, wenn sie 1912 geboren ist? ES: Sie hat mit einer Familie in in Hamburg, die Familie heißt (Zunz), das ist die einzige, die einzige Name das ich weiß von meiner Mutti. Sie hat da + gebleiben bei dieser Familie und sie hat gearbeitet da, Hilfe ein bisschen, und sie hat (…) ES im Deutschen zu „halten“, ist nur mit ständiger Beziehungs- und Gesprächsarbeit möglich: Schon nach der ersten Antwort auf Deutsch kündigt ES ihr „switching back“ an, was AB mit einem Lob dieses Versuchs im Deutschen kontert. Als am Ende des nächsten Turns das zweite englische Insert 7 bei einer Wortlücke auftritt (factory), versucht AB durch die deutsche Form Fabrik Deutsch als Matrixsprache weiter zu stabilisieren und ES geht durch die Wiederholung des deutschen Ausdrucks darauf ein. Dasselbe passiert bei den nächsten Turns (chemists / Chemiker; morgens früh / Morgen früh). ES gewöhnt sich offenbar daran, mit ABs Einhilfen weiterfahren zu können: bei der nächsten Wortlücke fragt sie mit der metakommunikativen Floskel wie sagt man? nach der ihr fehlenden deutschen Entsprechung von horses und fährt 7 Ich zähle derartige Ad-hoc-Entlehnungen (in der englischsprachigen Forschung, z. B. von Poplack, auch nonce borrowing genannt) entgegen anderen Auffassungen zum Code- Switching (cf. Riehl ²2009: 21). Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen 161 nach der Auskunft flüssig fort, wendet bei der nächsten Lücke wieder eine Fragetechnik an - und so geht es noch eine Weile (über den zitierten Ausschnitt hinaus) auf Deutsch fort, bis die Interviewerin selbst wieder auf Englisch umschaltet - ohne ersichtlichen Grund: vielleicht weil ihr (mir) das Gespräch in dieser Form zu anstrengend wurde. Nicht alle Interviewpartner/ innen sind im Englischen so kompetent wie ES. Das Gespräch musste dann zwangsläufig, und oft etwas mühsam, in der Matrixsprache Deutsch geführt werden, wie im folgenden Beispiel mit Doron C., der selten mehr als 1-2 Sätze antwortet, was vonseiten der Interviewerin immer neue Frageanstöße erfordert. Dabei kann die Klärung falscher deutscher Wortformen, die eben nicht durch englische zu ersetzen versucht werden (obwohl sie, wie im Folgenden, eventuell von gewissen Englischkenntnissen des Sprechers beeinflusst sein mögen), auch zu manchmal unfreiwillig „amüsanten“ Missverständnissen führen. DC hat AB mitgeteilt, dass er als Kind gern Geschichten seiner Eltern gehört habe. AB, die die z. T. traumatischen Geschichten seiner Eltern aus deren Interviews kennt, möchte wissen, ob DC heute darüber nachdenke, ob er seinerzeit die Tragik des Schicksals seiner Eltern schon begriffen habe und ob er als Vater bei der Erziehung seiner eigenen Kinder Parallelen zu den Eltern damals hergestellt habe. DC bezieht diese wohl zu kompliziert gestellte Frage am Ende eines (gewiss zu) langen Beitrags von AB zunächst noch einmal darauf, ob seine Eltern mit ihm und seinem Bruder vom Holocaust gesprochen hätten, und die Anschlussfrage, ob er im Vergleich zu seinen Kindern darüber nachdenke, dass er keine Großeltern gehabt habe, bezieht er darauf, ob auch seine Kinder die Großeltern gefragt hätten, wozu er anschließend kommentieren will, dass diese aber kein so großes Interesse am Thema hätten: Beispiel 3: Missverständnisse aufgrund begrenzter Deutschkenntnisse DC: (Ja schon), wenn sie fragen, was was ist passiert, man erzählt es. (So ist das.) AB: Ja aber jetzt, also wenn Sie in der Elternrolle selbst verglichen haben, also Ihre Kinder hatten jetzt Großeltern und so, hat man das dann noch mal bedacht? DC: Sie haben gefragt, haben gefragt und äh meine Mutter hat (…) erzählt. Sie haben erzählt, was was passiert. Ähm, ich glaube, sie sind nicht so so interessant. AB: Interessiert. DC: Interessiert. AB: Interessant (ist es) (LACHT). DC: Interessant ist das ja (LACHT). Es wird auch im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht ganz klar, ob die Interviewerin ihren Gesprächspartner durch ihre ihm eventuell etwas fremden psychologisierenden Gedankengänge oder (bzw. eher: und) ihre häufig sprachlich zu komplexen Fragestellungen überfordert, oder ob er (ein Elektrotechniker) von seinem Naturell her grundsätzlich eher kurze, mehr faktische Gesprächsbeiträge macht. Trotz des etwas zähen Gesprächsflusses erlahmt Anne Betten 162 der Interviewte nämlich nicht in seiner Auskunftsbereitschaft, so dass das Interview immerhin fast 1 ½ Stunden Länge erreicht, bis die Interviewerin es mit dem Hinweis zum Abschluss bringt, dass sie eventuell später noch einmal ein Zusatzinterview „mit ein paar besseren Fragen“ machen würde. Ganz anders verlief fünf Jahre später das Gespräch mit DCs älterem Bruder Oded C. Die Mutter hatte vorher stolz auf seine sehr guten Deutschkenntnisse hingewiesen, und das Interview begann auch in den ersten Minuten in flüssigem, auch phonetisch sehr gutem Deutsch. Als OC jedoch erläutert, dass in seiner Firma (er ist Direktor von IBM Israel) bei allen international besetzten Besprechungen nur Englisch gesprochen werde, wechselt er mitten im Satz ins Englische und bleibt von nun an ganz konsequent dabei, auch wenn er später viel und nuanciert über das Deutsch zu Hause, seine Eltern, sein Verhältnis zu Deutschland u. a. m. erzählt. Anders als sein Bruder übernimmt er viel mehr die thematische Steuerung, auch wenn er sich auf die Fragen der Interviewerin einlässt: Beispiel 4: Verweigerung des Deutschen zugunsten einer besser beherrschten Zweitsprache OC: Aber normalerweise wir sind, es gibt Leute, die sprechen kein, kein Deutsch, ich ich finde (what I would call relationship …) AB: Ja, ja, ja, den Vater meinen Sie damit. OC: Okay. Das ist nicht nur Deutsche, (die Leute come von USA), so the conversation is always in English. There is another phenomenon. It is easy for me to speak German with someone who doesn’t speak English, so we talk German, with someone who speaks no English or hardly (…) colleagues, if he speaks good, good English, (I just speak with) a broken German, I prefer to speak in English (…). AB: Ja, ja. I can imagine. Well, may be that we come later a little bit back to German, it is not as your mother always assumed that it is a test how good her sons speak German, and she said, of course the first one had more German at home than the second OC: So ja. I believe it’s pretty general in many houses that the first kids or (…) when the parents spoke their native language (at home…). When the kids go to kindergarten, the kids always speak, catch the language of the (…) and so on […] Kein Wort Deutsch will oder kann hingegen die AB zum Zeitpunkt des Interviews privat bereits recht gut bekannte Aya H. sprechen, die aber dennoch versichert, fast alles zu verstehen. Die Eltern haben, wie bei OC und vielen anderen, untereinander meist Deutsch gesprochen, und sie, obgleich im Kinderhaus eines Kibbuz ganz in hebräischer Sprache aufgewachsen, hat sogar eine Zeitlang mit ihrer geliebten Großmutter väterlicherseits etwas Deutsch gesprochen, als diese im Alter in den Kibbuz kam und kaum Hebräisch konnte: Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen 163 Beispiel 5: Kein Deutsch aufgrund sprachlicher und psychologischer Barrieren AH: For me it is very difficult (…) this language. I had to talk to my grandmother because she didn’t talk Hebrew, I talk a little bit, I understand her Germany, äh, but äh I can’t talk it, I can’t. An anderer Stelle sagt AH, sie verstehe fast alles, könne aber kein Wort „ausspucken“ (spit out), was aufschlussreiche Assoziationen zulässt. Zu diesem Zeitpunkt war AH noch nie in Deutschland gewesen und erklärt auch zu Beginn des Interviews, dass sie, obgleich ihre Eltern in späteren Jahren wieder jährlich dort Urlaub machten, kein Bedürfnis habe, dort hinzufahren, und dass sie auch das Angebot ihrer Eltern abgelehnt habe, sich einen deutschen Pass ausstellen zu lassen (obwohl ihre Kinder ihn, wie heute viele junge Israelis mit deutschen Großeltern, zu Reise-, Studien- und Arbeitszwecken in der EU beantragt haben): „I cannot see myself show somebody a passport written on as I am a German citizen. I feel not good of it.“ Als AHs Mutter zwei Jahre nach dem Interview starb, ließ sie über deren Grabstein auch eine Gedenktafel für die in der Shoah ermordeten Eltern und die Schwester ihrer Mutter setzen. Die Barriere AHs zu Deutsch und Deutschland ist zweifellos durch diese Familiengeschichte (und nicht nur ihre eigene) bedingt. Obgleich in vielen Familien meiner Interviewpartner enge Angehörige, sehr häufig auch die Großeltern, ermordet wurden, ist nicht bei allen dieselbe Reaktion vorauszusetzen wie bei AH (s. direkt dazu auch Bsp. 3) - sonst wären die Interviews mit der 2. Generation ja gar nicht zustande gekommen. Abwendungen von der deutschen Sprache und von Deutschland bzw. Österreich sind jedoch auch bei jenen Angehörigen der 2. Generation zu finden, die Deutsch als Familiensprache hatten und heute noch auf sehr gutem Niveau sprechen, wie etwa die Psychologin Rina L. Sie beschreibt die typische Sprachbiographie von Kindern in der Stadt (mit Stadtvierteln, in denen hauptsächlich deutschsprachige Neueinwanderer lebten) oder in den von Deutschsprachigen gegründeten Dörfern (Moshavim, nicht Kibbuzim! ): Beispiel 6: Deutsch als Erstsprache („von Geburt an“) RL: Mit circa zwei Jahren bin ich zum ersten Kindergarten gegangen, da waren so ein paar (Kinder) und mit drei bin ich in den, einen größeren Kindergarten gegangen und in Wirklichkeit habe ich Hebräisch er/ erst gelernt im Kindergarten. Meine Eltern haben mit mir überhaupt nicht Hebräisch gesprochen. Und mit meiner Mutter habe ich dann ++ mehr + mehr Deutsch als Hebräisch gesprochen in den ersten Jahren, und dann ist langsam Deutsch und Hebräisch in in äh ein mixture ++, aber mein mein Deutsch ist wirklich äh ein Deutsch von Geburt an. RL lernte als kleines Kind auch noch Deutsch lesen (nicht schreiben), weist aber nachdrücklich darauf hin, dass sie das bei Eintritt in die Schule sofort eingestellt habe: Beispiel 7: Bewusster Übergang zum Hebräischen bei Schuleintritt Anne Betten 164 RL: In der Sekunde, wo ich selbst lesen konnte, und das war seitdem ich äh sechs Jahre alt war, das heißt in in der ersten Klasse von der Schule, in der Sekunde wo ich + Hebräisch gele/ gelernt hatte lesen, habe ich nur Iwrit gemacht. 8 Obgleich RL mit ihrer Mutter bis zuletzt meist Deutsch gesprochen hat, betont sie, dass sie und auch ihr als Universitätsdozent tätiger, perfekt Deutsch sprechender Ehemann die deutschen Bücher aus den Bibliotheken ihrer Eltern, die sie geerbt haben, sofort weggegeben hätten und dass sie beide Deutschland nie besucht haben. Derartige, zwar indirekte, doch unmissverständliche Hinweise auf die Einstellung zu Deutschland und zum deutschen „Kulturerbe“ bedürfen keines weiteren Kommentars. Schamvolle Abwendung von der bis dahin u. U. unbeschwert benutzten Familiensprache Deutsch stellte sich bei fast allen spätestens dann ein, wenn sie in mittleren Schuljahren Genaueres über Nazi-Deutschland und den Holocaust erfuhren (worüber in vielen Familien kaum gesprochen worden war). Die Jüngeren der Interviewpartner hatten auch bereits Klassenkameraden, die Kinder von Holocaust-Überlebenden waren, was meist die vollständige Ablehnung der im Elternhaus gepflegten deutschen Kultur zur Folge hatte. Besonders der im ganzen Land intensiv verfolgte Eichmann-Prozess (1961/ 62) war für die 2. Generation ein einschneidendes Erlebnis, für die etwas Älteren auch bereits die in den 1950er Jahren sehr emotional geführten Debatten um die Annahme deutscher Zahlungen im Rahmen der „Wiedergutmachungspolitik“. Dazu die Sportlehrerin Tamar B., die in einem von deutschen Einwanderern gegründeten Moshav groß wurde, in dem in den ersten 20 Jahren fast nur Deutsch gesprochen wurde; nur die Kinder untereinander sprachen Hebräisch: 9 Beispiel 8: Scham, außerhalb der Familie Deutsch zu sprechen TB: Ja, (wir) Kinder untereinander haben uns Hebräisch (dann), ja, nur Hebräisch. Es war dann auch eine Zeit, um sechsundfünfzig rum, wo wo über die + gesprochen wurde, ob man doch nimmt oder nicht nimmt das Geld aus Deutschland, da war ich ungefähr elf, da hab ich mich, außer dem Ort hab ich mich geschämt Deutsch zu sprechen. War irgendwo eine Hemmung, ich konnte kein Deutsch sprechen + nur zu Hause. Und auch mit meinen Eltern fast nur Hebräisch gesprochen. Dann, in dieser Zeit ist mein Großvater auch gestorben, 8 Cf. zu dieser Stelle auch Betten (2010: 49f.). 9 Mit vielen ähnlichen Berichten, über die plötzliche Scham, Deutsch zu sprechen, cf. Betten (2010) und (2011, cf. bes. den Bericht von Ariella S., S. 59ff.). - Im Moshav von Tamar B. (Sde Warburg) habe ich mehrere Interviews auch mit der 2. Generation gemacht, alle in (z. T. sehr) gutem Deutsch. So erzählt TBs Schwester, die Englischlehrerin Ruth T., genauer, wie wichtig den Eltern die Vermittlung deutscher Kultur, z. B. durch Vorlesen war (cf. Betten 2011c: 57f.), und der Arzt Chanan T., der auf eigenen Wunsch als Kind Deutsch lesen und schreiben gelernt hat, und aus seiner Jugendzeit sehr belesen in klassischer deutscher Literatur ist (womit er allerdings ein große Ausnahme darstellt), beschreibt sehr differenziert, dass er sich des deutschen Sprach- und Kulturerbes nie geschämt habe, aber sehr genau zwischen den kulturellen Traditionen seines Elternhauses und Nazi-Deutschland unterschieden habe (cf. Betten 2011b: 223f.). Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen 165 und die Großmutter ist dann umgezogen nach Haifa in ein Altersheim, da war dann auch nicht mehr die Pflicht Deutsch zu sprechen. Nur solange die Großeltern zusammen waren, zum Tisch oder so, da wurde nur Deutsch gesprochen. 3 Code-Switching als Folge der Sprachbiographien der 2. Generation und als psychologische Reaktion Unabhängig von der Verarbeitung der „deutschen“ Herkunft der Familie kamen spätestens mit Verlassen des Elternhauses für die meisten Angehörigen der 2. Generation Jahrzehnte, in denen sie die deutsche Sprache - außer vielleicht sporadisch, mit oft nur einem Elternteil - nicht mehr benutzten. Auch die noch recht gut Sprechenden hatten daher das Gefühl, ihr Deutsch sei „verrostet“, so etwa die Leiterin eines Pflegeheims, Judith G., die als älteste von drei auf Deutsch interviewten Geschwistern am besten sprach (s. dazu Bsp. 4). Am Ende des sehr flüssigen Interviews berichtet sie über den in den USA lebenden Bruder ihres Vaters und kommentiert dabei ihre Wortsuche: Beispiel 9: Wortsuche wegen mangelnder Übung, Müdigkeit, heiklen Themen (hier: Scheitern der Einwanderung des Onkels) JG: Er war immer ein ++ es kommt mir so schwer, Ausdrücke in Deutsch zu finden, er war immer ++ er hat sehr gelitten hier, in Israel, er hat sich nie hier + eingesetzt, oder wie man sagt AB: Eingewöhnt JG: Eingewöhnt, nie. Während hier bei dem gewählten deutschen Ausdruck eingesetzt (statt verwurzelt o. ä.) eine Interferenz aus dem Hebräischen oder Englischen (evtl. settled? ) vorliegen könnte, fällt an (wenigen) anderen Stellen auf, dass JG scheinbar unvermittelt ein englisches Wort einsetzt, und zwar bezeichnenderweise mehrmals beim Thema der Deportation ihrer Tante, über die der sonst so beredte Vater nie gesprochen hat - ebenso wenig wie darüber, was die Vertreibung aus Deutschland für ihn, der sich immer noch als alten Preußen und sogar „stolzen Deutschen“ (Zitat der Tochter aus der vorausgehenden Äußerung) bezeichnet, persönlich bedeutet hat: Beispiel 10: Code-Switching zur Präzisierung der Ausdrucksweise (Thema: Trauma- Verdrängung des Vaters) AB: […] Aber äh bei deinem Vater ist es sehr schwer da durchzukratzen, also wo liegen seine Verwundungen und warum sagt er das äh so plakativ, dass es jedem anderen hier weh tut. JG: Weil er nie sich den Privilegium gegeben hat, um das zu verarbeiten. Um sein + privat ++ äh, äh wie sagt man, loss zu verarbeiten. AB: Seinen Verlust. JG: Sein, sein, was er da dagelassen hat oder verloren hat. Er hat es nie, er hat es nie überarbeitet. AB: Glaubst du das so? Anne Betten 166 JG: Sicher. Die vorgeschlagene Übersetzung von loss mit Verlust ist JG wohl nicht ausreichend, sie versucht eine eigene Umschreibung. Von dem häufig zu beobachtenden situationell, konversationell und/ oder psychologisch motivierten Code-Switching 10 im Korpus, das Einwort-Inserts wie auch längere Passagen umfasst, seien hier noch drei Stellen aus dem durch ständiges Code-Switching aller Formen und Funktionen charakterisierten Interview mit dem Diplomaten Gideon M. angeführt. Er erzählt auf Deutsch von seinem ersten Besuch in der Heimatstadt seines Großvaters, Fulda, im Jahr 1981. Als er die Gefühle schildert, die ihn überkamen, als er an die Tür des Hauses seines Großvaters klopfen wollte, wechselt er ins Englische: Beispiel 11: Code-Switching beim Ausdruck von (negativen) Emotionen (Funktion: Selbstschonung; Thema: Besuch des früheren Hauses des Großvaters) GM: […] und da habe ich gesehen wo mein Großvater, das Vogel/ äh äh das Bäckerei ist und da bin ich die Judengassen gegangen und ich war sehr + shame, I would say, to knock on the door to (…) AB: (…) geniert, ja, ja. In der Fortsetzung - GM spricht wieder Deutsch - kommentiert die Interviewerin, dass ihr viele berichtet haben, dass sie speziell in der Stadt, aus der ihre Eltern stammen, eine große Bedrückung empfinden. GM bestätigt dies (auf Deutsch) mit dem Zusatz, dass er keinen Hass empfinde. Als er aber mit den Erinnerungen an die negative Einstellung seiner Großmutter gegenüber Deutschland und v. a. Österreich fortfährt, wechselt er ins Englische - eine Erfahrung, die ich im Gespräch oft gemacht habe: Mit Rücksicht auf die Gesprächspartnerin und das gute Gesprächsklima wird Negatives über deren Sprache und Herkunftsland sozusagen in eine andere Sprache „ausgelagert“: 11 Beispiel 12: Code-Switching bei der Wiedergabe negativer Einstellungen (Funktion: Schonung der Gesprächspartnerin; Thema: Haltung von Mutter und Großmutter zu Österreich und Deutschland) AB: […] aber die Stadt, wo die Eltern her sind, da war dann eine große Bedrückung. 10 Riehl (²2009: 23ff.) fasst diese in Anlehnung an verschiedene Bezeichnungen in der Forschung (Gumperz, Franceschini u. a.) unter funktionales bzw. soziolinguistisch motiviertes Code-Switching zusammen, im Unterschied zu dem (u. a. von Clyne so genannten) nicht-funktionalen, psycholinguistisch motivierten Code-Switching. 11 Cf. Betten (2013: 180f.) zu einer Stelle, an der der Schulrat Ze’ev W. in seinem im Wesentlichen in (gebrochenem) Deutsch geführten Interview auf Englisch einfügt, dass er die deutsche Sprache nicht liebe (I don’t love the Germany language), was er nach mehreren Häsitationsphänomenen (Husten, Lachen) mit dem soz. entschuldigenden metakommunikativen Kommentar einleitet: it is not so simple to say, und mit dem Nachsatz versieht, dass er nicht die Sprache der Interviewerin meine, sondern das Deutsch im Radio oder von Touristen auf der Straße. Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen 167 GM: Ja, ja, das ist wahr, das ist wahr, aber ich habe, ich hab keinen Hass auf die Deutschen, I mean, meine Mutter, meine Großmutter, I remember when I was a child she always said, our account is an open account, with the Austrians more than with Germany. She always said it to me. I remember as a child (…) because she said, Hitler was Austrian and he was not German, and she always said to me, I am not sure whether it was unconscious(ly) that she didn’t want to blame the Germans because she came from there. Weniger „markiert“, sondern bei allen Untersuchungen zum Code-Switching beobachtet, ist der Sprachenwechsel (in unserem Fall immer ins Englische) bei Berichten über Lebensbereiche, die sich vollständig in einer anderen Sprache abgespielt haben (sog. situationelles Code-Switching), so auch bei sehr guten Sprecher/ inne/ n Erzählungen von Schule und Studium, Militärzeit, Beruf, aber auch Erläuterungen zur Religion u. ä. m. Hier dürfte das einschlägige Vokabular nie auf Deutsch erworben worden sein: Deutsch ist/ war eben für die meisten „nur“ Familien- und Alltagssprache. Nochmals Zitate von Gideon M., gleich zu Beginn des Interviews: Beispiel 13: Code-Switching beim Bericht über spezielle, mit dem Deutschen nicht verbundene Lebens- und Themenbereiche (hier: Religion, Militär) GM: […] Ich komme aus einem religiösischen Haus, aber meine Mutter hat, die war more religiös, und mein Vater + seine Familie war war nicht so religiös. Mein mein Großpapa Ludwig Mayer 12 war kommt kommt von einer very liberal äh orthodox Richtung und + mein Vater wollte nicht das light + AB: Licht GM: Die die Lichtanzündung am Shabbat oder das Radio machen. Ich kann mich erinnern, wenn wir vom Schul/ , vom Synagog am Shabbat zurückgekommen sind, Ludwig (…) hat always the radio, das Radio geöffnet, und ich war ein Kind, kann ich, kann ich mich erinnern, mit dem Radio am Shabbat, das ist some, das is + something for a religious family, very + different. Und ich bin in, zum religiösische Schule gegangen, und nach dem bin ich zum Militär gegangen wie ich achtzehn war, wie jeder hier in Israel geht. AB: In was für einer Einheit waren Sie? GM: Äh + to armed forces, armed forces, which is tanks, the tanks. And äh ++ äh during the army (…) finished, habe ich das religiös/ äh meine, meine AB: Haben Sie die kippa abgelegt GM: Abgelegt, und mein(e) zizit 13 abgelegt […] Als GM beruflich nach Washington ging, trat die deutsche Sprache für ihn endgültig in den Hintergrund; an allen Stellen, wo er darüber spricht, switcht 12 Der Großvater Ludwig Mayer hatte 1908 in Jerusalem die erste europäische Buchhandlung (u. a. mit deutschen Schulbüchern) eröffnet, bei Kriegsausbruch 1914 wurde er nach Deutschland zurückgerufen und kehrte nach den Erfahrungen des Boykott-Tags am 1.4.1933 mit seiner Familie nach Palästina zurück; cf. dazu den Interviewausschnitt seines Sohnes und Nachfolgers in der Buchhandlung Hermann Joseph Mayer (GMs Vater) in Betten (1995: 131-133) sowie weitere Interviewbeiträge von H. J. Mayer in Dachs (2005: 150-154) und Zabel (2006: 22, 214). 13 Hebr. ‚Schaufäden‘, von religiösen Juden an vier Ecken ihres Hemds oder Gebetsschals getragen. Anne Betten 168 er ins Englische, und natürlich auch, als er erklärt, warum er, der selbst in die deutsche Kultur nicht tiefer eingedrungen ist, diese erst recht nicht mehr an seine Kinder, die 3. Generation, weitergeben konnte: Beispiel 14: Code-Switching beim Bericht über andere sprachliche und kulturelle Vorlieben/ Entscheidungen (hier: Bevorzugung des Englischen in der 3. Generation) GM: […] (Wann ich ein] Diplomat war, meine Kinder waren Kanada und in Amerika und meine junge Tochter war auch in England, das englische und amerikanische Kultur ist ein integral part + of their life, not the German. AB: Ja, sicher. Mhm. Und die Großeltern haben sie ja dann eben auch nur noch sozusagen in + in Hebräisch GM: Hebräisch und (sie waren) zu jung zum zum äh + das das deutsche Kultur, und ich bin nicht, I was not strong enough with the German Kultur to pass it to my children. AB: Naja, das wäre ja auch sehr ungewöhnlich. Es ist (…) die dritte Generation (…) GM: Impossible. Because they always used to say: Abba 14 , ich spreche kein Deutsch. Sie haben, not nicht because of ideological or political reasons, because they wanted to understand, und auch auch meine Frau, sie kann kein Deutsch sprechen, niemand versteht, dass ich mit meinen Eltern Deutsch gesprochen habe, sie hat das nicht gern gehabt, weil sie hat sich gefühlt + AB: Außenstehend? GM: Außenstehend. Und + ich wollte nie meinen Kindern das deutsche Kulturgut, because I knew it is impossible. GM ist ein schon fast extremes Beispiel für ständiges Code-Switching: manchmal scheint es unmotiviert zu sein, einer langen Gewohnheit zu entsprechen, wegen Vokabellücken keine Unterbrechungen des Gesprächs entstehen zu lassen. Häufiger jedoch dürfte der Switch doch motiviert sein. Sicher aber ist der jeweilige Sprachgebrauch - Hebräisch, Englisch, Deutsch - für GM nicht so bewusst mit seinen verschiedenen Lebenswelten verbunden wie bei der sehr perfekt Deutsch sprechenden Ballettlehrerin Cyla R., die bei den deutschsprachigen Großeltern auf dem seinerzeit weitgehend deutschsprachigen Karmel 15 in Haifa aufwuchs, dann lange Zeit in England lebte, und nach der Rückkehr nach Israel, nun in Tel Aviv ansässig, (wieder) überwiegend Hebräisch spricht: Beispiel 15: Sprachwechsel ausgelöst durch die Sprache der jeweiligen Bezugsperson 16 AB: Jetzt, heute ist Identität so ein großes, großes Wort und im Grunde leben ja heute viele Menschen mit verschiedenen Identitäten, kulturellen und so. Finden Sie das in sich jetzt, diese drei Bereiche, Hebräisch, der deutsche background und der englische, eigentlich als Bereicherung, dass die zusammen- 14 Hebr. ‚Vater‘. 15 Hochgelegener Stadtteil von Haifa, der von den deutschen Einwanderern bevorzugt wurde. 16 In etwa vergleichbar mit den Definitionen für situationelles Code-Switching (cf. Riehl ²2009: 23f.), wenngleich psychoanalytisch gewiss spezieller zu deuten. Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen 169 kommen, oder sind das so getrenntere Welten, zwischen denen man hin und her schlupft (…)? CR: Nein, nein, sie sind ziemlich + ziemlich gemischt, + doch. Ich weiß (…) wie die Kinder klein waren, ja, habe ich ihnen vor dem Schlafengehen äh deutsche Lieder gesungen, ja, und heute geht’s weiter + heute erzählen sie ihren Kindern ähm englische, englische Geschichten, die sie als Kinder gehört haben, also das ist, nein, das ist, das ist eine Welt AB: Ja. CR: Gemischte Welt ++ Und ich weiß, das ist eine Sache, wenn ich, wenn ich träume, man sagt doch immer, man träumt, man träumt in einer Sprache, ja, in der Muttersprache, und bei mir, ich träume in drei Sprachen. Ich weiß, ich weiß, ja, sehr oft, es kommt drauf an von wem ich träume + in drei Sprachen. AB: Wenn Sie von Ihrem Großvater träumen, dann nur CR: Deutsch, nur deutsch (…) AB: Nur deutsch CR: Ja, ich träume, wenn ich von meiner Mutter träume, träume ich auch deutsch. 4 Einige vertiefende Schlussgedanken Obgleich die Texte inhaltlich sowie in ihrer sprachlichen Präsentation schon für sich aussagekräftig sind, seien einige Aspekte nochmals mit Bezug auf die derzeitigen kultur- und sprachwissenschaftlichen Diskurse vertieft. Interessant ist z. B., dass zwar alle Interviewten grob gesehen über ein vergleichbares linguistisches Repertoire verfügen, nämlich Deutsch als eigentliche „Muttersprache“ und Erstsprache, die aber nicht die beste Sprache blieb, sondern bald von der Zweitsprache Hebräisch überlagert und dominiert wurde, die für alle zu ihrer eigentlichen Sprachheimat (d. h. mehr als Haupt- oder Vollsprache) wurde. 17 Bei den meisten wurde das Deutsche später noch durch das in der Regel als dritte Sprache erworbene Englisch weiter marginalisiert. Für die Älteren war Englisch bis 1948 noch die offizielle Sprache der britischen Mandatsmacht, die ihre Eltern oft besser erlernten als das Hebräische; für die Jüngeren war Englisch dann zwar nur Schulfach, aber auch die Sprache der zu Studien-, Berufs- und touristischen Zwecken meist besuchten Länder mit großer jüdischer Diaspora, nämlich Nordamerika und England. Wer als Kind nicht oder kaum Deutsch gesprochen hatte und nur eine gewisse passive (Hör-)Kompetenz besitzt (wie Aya H.), hat selbst ohne intensiveren Englischunterricht (wie anfangs in den Kibbuzschulen) zwar keine grammatische Sicherheit, aber doch so viel Sprechkompetenz „aufgesaugt“, dass Unterhal- 17 Nur ganz wenige Interviewpartner, die sich intensiv mit ihrer Identität beschäftigen, berichteten, dass sie eine kleine Einfärbung oder aber eine nicht lokalisierbare Aussprache in Iwrit hätten, was sie auf psychologische Faktoren wie das Fremdheitsgefühl in ihrer Jugend und bis heute andauernde eigene Identitätsprobleme oder Identifikationsprobleme mit ihrem Land zurückführen (cf. Betten 2010: 41ff. zu Tom L. und 52 zu Ariella S.). Anne Betten 170 tungen auf Englisch möglich sind. 18 Im Gegensatz zur psychologischen Barriere gegen eine Weiterverwendung der Erstsprache Deutsch, die in der Umgebungsgesellschaft geächtet war, genoss das Englische - ungeachtet der politischen Konflikte mit der Mandatsmacht - großes Prestige und war - nach Bourdieu 19 - auf dem „sprachlichen Markt“ wesentlich höher bewertetes „Kapital“ als die nicht nur niedriger bewertete, sondern völlig abgewertete Familiensprache Deutsch, die daher nur unter besonderen Umständen (v. a. bei sehr vertrauensvoller, affirmativer Beziehung zu den Eltern) noch einen persönlichen Wert behielt. Die Interviewerin hingegen hat Deutsch als Mutter-, Erst- und Vollsprache und gar keine Hebräischkenntnisse, so dass in den auf Deutsch geführten Interviews am wenigsten sprachliches „Gleichgewicht“ vorhanden war. Dass vonseiten der Interviewten, für die die Gespräche daher in jedem Fall viel mühevoller waren, dennoch meist große und auch lang andauernde Gesprächsbereitschaft vorhanden war und sich teilweise lebhaftere Interaktionen entwickelten als in den Interviews mit englischer Matrixsprache, die für beide Sprecher Fremdsprache mit eher vergleichbarem Niveau war, woraus sich eine größere Ausgewogenheit im kommunikativen Rollenspiel ergab, bedarf daher einer Erklärung. Möglicherweise war ein Grund, dass in den ganz oder überwiegend auf Englisch geführten Interviews beide Gesprächspartner, wenngleich sprachlich etwa „auf Augenhöhe“, einiges Überlegen in die Formulierung ihrer Beiträge investieren müssen. Diese Konzentration auf die Versprachlichung der Themen zieht eventuell etwas Energie von der „Beziehungsarbeit“ (oder besser -pflege) ab, zumindest seitens der Interviewerin, während diese in den auf Deutsch geführten Interviews ihre volle Aufmerksamkeit auf die Beiträge des/ der Interviewten richten kann und diese bei ihrer Formulierungsarbeit zu unterstützen sucht, was von den Interviewten u. a. als Bemühen um Einfühlung in ihre Mitteilungsinhalte und -absichten honoriert wird. Dadurch entsteht auf der Interaktions- und Beziehungsebene ein positives „Zusammenarbeitsgefühl“ und ein Vertrauensverhältnis, was sich u. a. in häufigem gemeinsamem Lachen manifestiert. 20 Dass dies so gut gelingt und nicht doch als Bevormundung bzw. Dominanzverhalten empfunden wird, dürfte ganz wesentlich mit der besonderen Konstellation dieser Interviews zusammenhängen, dass nämlich die schlecht beherrschte Sprache 18 Da aber biographische Faktoren recht unterschiedlich zusammenspielen und dann ganz konträre Wirkungen haben können, kam es auch vor, dass Interviewpartner, die Deutsch nur eine kurze Zeit als Kind gesprochen, aber das Englische auch nicht flüssig erlernt haben (Typ: „ich bin ein Sprachidiot“), für das Interview die deutsche Sprache wählten - nicht, weil sie tatsächlich besser beherrscht wurde, sondern weil sie als ehemalige Familiensprache vertrauter war (cf. z. B. Betten 2013: 174ff. zu den Töchtern von Prof. Walk). 19 Cf. etwa die Einführung von Thompson und das 2. Kapitel in Bourdieu (²2005: 37ff., 99ff.). 20 Cf. etwa Textbsp. 2. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diesen als positives Gesprächsresultat empfundenen Aufbau einer gemeinsamen Interaktionsebene trotz sehr schlechter Sprachkompetenz der Interviewten im Deutschen wie auch im Englischen gibt das Interview mit Shulamit M. (cf. Betten 2013: 174ff.). Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen 171 Familiensprache war und somit bei vielen (zumal mit dem heutigen Abstand und schon leicht nostalgischem Rückblick) die Merkmale „vertraut“, ja sogar „warm“ besaß. 21 Wer allerdings bis heute diese positive Konnotation zu Deutsch als Familiensprache nicht (wiedergewonnen) hat (z. B. da von den Eltern ständig korrigiert), hat sich, trotz eventuell für ein Gespräch ausreichender Deutsch- Kompetenz, meist für das Englische als Interviewsprache entschieden (ca. 15 von 62 Interviewten). Aufschlussreich ist ferner der Vergleich von Fällen wie Oded C. (Bsp. 4) und Gideon M. (Bsp. 11-14). Beide beherrschen Deutsch gut, Englisch aber aufgrund ihrer Berufe (IBM-Direktor, Diplomat) auf höherem Niveau. Gideon M. lässt sich trotz häufigen Formulierungsschwierigkeiten sofort auf Deutsch als Matrixsprache im Interview ein, hat also offensichtlich kein Problem mit der sprachlichen „Überlegenheit“ seiner Interviewerin. Er löst seine Formulierungsprobleme durch ständigen, meist ganz „glatten“, unmarkierten Wechsel ins Englische (und zurück) mit Code-Switching aller Größenordnungen, so dass Partien des Interviews auch als Code-Mixing bezeichnet werden könnten. 22 Ich habe das oben so interpretiert, dass ihm das rasche Wechseln und Mischen der Sprachen wohl aus seiner ehemaligen Familiensituation geläufig ist (statt Deutsch-Englisch damals Deutsch-Hebräisch): Auch damals sprachen Eltern und Großeltern perfekt Deutsch (wie die Interviewerin) und zunehmend wohl auch etwas Hebräisch, und GM fügte sich vermutlich in dieses pattern, so gut es möglich war, mit routinierten sprachlichen Ersatzstrategien ein. Daher dürfte ihn ein vergleichbares Kommunikationsverhalten mit der Interviewerin nicht weiter gestört haben (er entschuldigt sich auch nicht für sein mangelhaftes Sprechen, wie viele andere) - zumal er sich wohl, sozial gesehen, mit einer Professorin mindestens auf gleicher Höhe sieht. All das könnte auch für Oded C. zutreffen, doch entscheidet sich dieser anders, für seine bessere Sprache - und das, obwohl er weiß, dass er der Interviewerin (und auch seiner Mutter! ) damit eine gewisse Enttäuschung bereitet. Er gibt zwar explizit Gründe für seine Umentscheidung an (er spreche nicht in gebrochenem Deutsch, wenn er mit seinem Gegenüber eine seiner besseren Sprachen verwenden kann), doch Gideon M. hätte dasselbe Argument anführen können. Es bleibt nur zu mutmaßen, was die wirklichen Gründe für OC sind: Schätzte er die Situation als „offizieller“ ein als GM, befürchtete er, sonst nicht „auf Augenhöhe“ mit der Interviewerin und damit in einer schwächeren Position zu sein (was in seinem Beruf eventuell ein wichtiges Prinzip ist) oder wollte er einer Deutschen gegenüber, die immerhin Material erhob, das veröffentlich werden sollte, bei einem Thema, das mit großen Verwundungen (auch unmittelbar in seiner Familie) verbunden ist, keine Schwächen zeigen und durch Verwendung seiner Kinder- und Familiensprache die Situation 21 Cf. die Bezeichnung von Deutsch als ihrer „wärmsten Sprache“ von Gila F., was sie anschließend erläuterte mit: „das ist Heimat, das ist […] Oma, das ist Opa, das ist die ganze Familie“ (Betten 2011b: 227). 22 Mit Auer oder Muysken verstanden als (meist häufiges) Sprachwechseln, bei dem keine Matrixsprache festgestellt werden kann (s. Riehl ²2009: 23). Anne Betten 172 nicht zu vertraulich und privat werden lassen? Auf jeden Fall ist der plötzliche und dann konsequent durchgehaltene Sprachwechsel als Kontextualisierungshinweis (im Gumperzschen Sinne) zu verstehen, und es blieb dann auch etwas mehr Distanz zwischen den Gesprächspartnern bestehen als bei dem sehr herzlichen Verhältnis, das die Interviewerin zu den schon 15 Jahre vorher interviewten Eltern hatte, zu vermuten gewesen wäre. Auf die vielfältigen Formen und Funktionen des Code-Switching in fast allen Interviews soll hier nicht weiter eingegangen werden: Ziel dieses Beitrags ist ja keine Verfeinerung und Modifizierung der zahlreichen Forschungsergebnisse zu diesem Thema, 23 sondern eher ein auf die spezielle Gesprächskonstellation bezogenes Aufzeigen, welch wichtige Rolle es in diesen Interviews spielt, in denen nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen, sondern auch verschiedenen Epochen, Sinn- und Lebenswelten hin und her gewechselt wird. Auf diese Weise ist Code-Switching hier zum einen Indikator der interkulturellen Interaktion zwischen Gesprächspartnern aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen im Dienst der „Möglichkeit des Fremdverstehens und der Kommunikation“. 24 Desweiteren ist Code- Switching eng mit der Identität der 2. Generation der Migranten verbunden, die sich oft als Kinder und Jugendliche persönlich überfordert fühlten, ihre Identität zwischen sehr verschiedenen kulturellen Traditionen, die für sie oft unverständlich feindselig und unvereinbar aufeinanderprallten (cultural clash), neu konstruieren zu müssen. Selbst im Alter, bei der bewussten Auseinandersetzung mit den persönlichen „Wurzeln“ und den Einflussfaktoren auf die eigene Identität, spüren manche der Betroffenen noch eine Verunsicherung. Zunehmend aber wird heute, nach der Konsolidierungsphase des jungen, von Einwanderern aus den heterogensten Kulturkreisen gegründeten israelischen Staats, die anfangs wohl nötige Ideologie des „melting pot“ von einem bewussten Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt der Gesellschaft (Konzept der „salad bowl“) und auch zur kulturellen Mehrfachorientierung und -prägung des Individuums abgelöst. 25 Sprecherin Cyla R. (Bsp. 15), die nachhaltig von drei Kulturkreisen geprägt wurde (dem deutsch-jüdischen Großelternhaus, ihrem langen Aufenthalt in England mit einem englischen Ehepartner und Kindern, und ihrer Rückkehr nach Israel mit Beruf im Kultursektor), hat das harmonische und sie persönlich bereichernde Miteinander und Ineinander der verschiedenen Bestandteile ihrer Identität gut zum Ausdruck gebracht. Die „Fremdheit“ im Sinne von „Nichtzugehörigkeit“ oder „Andersheit“, Differenz, 26 die die Elterngeneration, aber auch die Kinder in ihrer Jugend oft empfunden haben, ist einerseits individuell, andererseits aber auch unter dem weltweiten Einfluss neuer, der Multikulturalität (post-)moderner 23 Cf. zusammenfassend z. B. Riehl (²2009: 20ff.). 24 Zitat aus dem Vorwort zu Srubar/ Renn/ Wenzel (2005: 9). 25 Cf. Betten (2011c: 83f.). 26 Zu Semantik und Konzepten von „Fremdheit“, die für viele der hier untersuchten Angehörigen der 1. und 2. Migrantengeneration zutreffen, cf. die differenzierte Darstellung von Hermanns (1996). Interkulturelle Verständigungs- und Beziehungsarbeit in deutsch-israelischen Dialogen 173 Staaten Rechnung tragender Identitätskonzepte der Akzeptanz der Heterogenität und Hybridität kultureller Lebensformen gewichen. 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Wie u. a. in Auer/ Baßler (2007a) ausgeführt, weisen Wissenschaftsdiskurse spezifische Routinen, Muster und Gattungen auf, an denen sich die jeweilige scientific community orientiert: Hierzu zählen sowohl mündliche Gattungen wie Vorträge, Diskussionen, Prüfungs- oder Sprechstundengespräche als auch schriftliche wie wissenschaftliche Artikel, Abstracts, Rezensionen, Laborberichte, Projektanträge etc. 2 Da wissenschaftliche Gattungen weitgehend soziokulturell abgeleitet sind und einen wesentlichen Bestandteil des „kommunikativen Haushalts“ (Luckmann 1988) der jeweiligen scientific community bilden, ist es nahe liegend, dass unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen kommunikativen Aufgaben betraut sind bzw. vergleichbare kommunikative Aufgaben teilweise unterschiedlich lösen: 3 Beispielsweise existieren kommunikative Gattungen, die fester Bestandteil der deutschen Universitätskultur sind - wie Sprechstundengespräche - in einigen Hochschulkulturen nicht (cf. Günthner 1993, 2001a; Günthner/ Luckmann 2002), und scheinbar gleiche Gattungen (wie wissenschaftliche Vorträge, Referate, Rezensionen etc.) weisen je nach kulturellen Konventionen unterschiedliche Ausprägungen, Funktionen und Verwendungskontexte auf. 4 Das jeweilige Repertoire an 1 Wir danken Larissa Böhringer sowie den HerausgeberInnen des Sammelbandes für ihre Kommentare zu einer früheren Fassung. 2 Die Begriffe „Gattungen“ und „Genres“ werden im vorliegenden Text sowohl für mündliche als auch schriftliche Muster verwendet, während sich der Begriff „Textsorten“ lediglich auf schriftliche Texte bezieht. 3 Cf. hierzu detaillierter Günthner (2001a, b, c) und Günthner/ Luckmann (2002). 4 Cf. hierzu u. a. Galtung (1985); Liang (1991); Günthner (1993, 2001a, b, c); Eßer (1997); Di Luzio et al. (2001); Kotthoff (2001, 2010); Günthner/ Knoblauch (2007); Auer/ Baßler (2007a, b); Fandrych et al. (2012); Szurawitzki (2012). Susanne Günthner & Qiang Zhu 176 Gattungen stellt folglich eine Ressource dar, die sowohl zur Konstruktion als auch Abgrenzung unterschiedlicher scientific communities eingesetzt werden kann (cf. Günthner/ Knoblauch 2007). In diesem Beitrag wollen wir uns - basierend auf einer Untersuchung von Eröffnungssequenzen chinesischer und deutscher Konferenzvorträge - kulturspezifischen Ausprägungen wissenschaftlicher Gattungen widmen. 2 Eine kulturkontrastive Perspektive auf Eröffnungssequenzen wissenschaftlicher Vorträge In den letzten Jahren ist eine berechtigte Kritik an starren Kulturkonzepten aufgekommen, die auch sprachwissenschaftliche Arbeiten zur Inter- und Transkulturalität beeinflusst hat (cf. u. a. Günthner/ Linke 2006): So besteht bei interkulturellen und kulturkontrastiven Analysen nicht nur die Gefahr, von festen kulturellen Entitäten auszugehen und Interagierenden stereotype Verhaltensweisen zuzuschreiben, sondern auch die Tendenz der „Nostrifizierung“ fremder Kulturen und damit der Überführung des unvertrauten Anderen ins vertraute Eigene mit der Konsequenz, dass die Authentizität des Fremden durch Eigenkonstrukte (bzw. Kategorien, die der westlichen Wissenschaftssemantik entspringen) ersetzt wird (cf. Srubar et al. 2005: 8). Wie Srubar (2005: 151) zu Recht konstatiert, mündet der Vorwurf der Nostrifizierung in seiner Konsequenz wiederum „in einen radikalen Relativismus ein, der eine sinnvolle theoretische Möglichkeit eines Kulturvergleichs negieren möchte. Will man jedoch aus nachvollziehbaren Gründen auf Kulturvergleiche trotzdem nicht verzichten, muss man versuchen, die aufgezeigte Zirkularität zu unterbrechen.“ Dies gelingt sicherlich nur durch ein radikales Hinterfragen der verwendeten Kategorien und Interpretationen sowie durch enge Kooperation zwischen WissenschaftlerInnen unterschiedlicher kultureller Herkunft, die sich gegenseitig ermutigen, die eigenen Blickwinkel zu hinterfragen. Wissenschaftliche Konferenzen bilden soziale Veranstaltungen (cf. Luckmann 1988), die sich durch „a system of interlinked component genres“ (Ventola et al. 2002b: 11) auszeichnen; zu diesen Gattungen zählen u. a. wissenschaftliche Vorträge (Plenarvorträge, Sektionsvorträge etc.), Vortragsdiskussionen, Podiumsdiskussionen, Eröffnungsreden, Datensitzungen, Kaffeepausen-Gespräche, Abschlussdiskussionen etc. Im Vergleich zur mittlerweile großen Anzahl an Studien zu schriftlichen Wissenschaftsgenres liegen bislang nur wenige Analysen mündlicher Wissenschaftskommunikation vor, 5 und noch weniger Studien zu mündlichen Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich. 6 Einige dieser Arbeiten behandeln Konferenzvorträge unter 5 Cf. u. a. Meer (1998); Guckelsberger (2005); Limberg (2009). 6 Cf. u. a. Günthner (1993); Ehlich (1999); Kotthoff (2001); Auer/ Baßler (2007b); Günthner/ Knoblauch (2007); Jandock (2010); Fandrych et al. (2012). Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich 177 einer sprach- und kulturvergleichenden Perspektive. 7 Kontrastive Studien zu chinesischen und deutschen Vorträgen liegen bislang jedoch nicht vor. In diesem Beitrag werden wir uns aus einer sprach- und kulturkontrastiven Perspektive Eröffnungssequenzen chinesischer und deutscher wissenschaftlicher Vorträge widmen. Sprache und Kultur werden in der vorliegenden Studie, die an der Schnittstelle von Gattungsanalysen 8 und kulturanalytischer Linguistik 9 angesiedelt ist, nicht als zwei voneinander getrennte, homogene Entitäten betrachtet: Kultur gilt nicht etwa als ein der Sprache bzw. dem Interaktionsprozess aufgepfropftes „Anderes“, sondern als genuines Moment jeder sprachlichen Äußerung bzw. menschlicher Interaktion (cf. Günthner 2011). Wir gehen somit davon aus, dass kulturelle Zugehörigkeiten, Konzeptualisierungen und Werte durch zwischenmenschliche Interaktionen konstruiert und sedimentiert werden. Dieser grundlegenden Annahme der kulturanalytischen Linguistik folgend sollen Eröffnungssequenzen, mit denen ReferentInnen (nach der Anmoderation) in ihren wissenschaftlichen Vortrag einsteigen, näher beleuchtet werden. Eröffnungssequenzen stellen „Situationseröffnungen“ (Mondada/ Schmitt 2010) dar, die einerseits die folgende Kernaktivität (den wissenschaftlichen Vortrag) projizieren, zum anderen aber „selbst wiederum Endpunkt eines vorausgegangenen, vorbereitenden Interaktionsgeschehens“ (Hausendorf/ Schmitt 2010: 53) - hier der Anmoderation - sind. Die Analyse wird folgende Fragen angehen: Wie kontextualisieren ReferentInnen den Beginn des Vortrags? Welche sprachlichen Handlungen werden in den Eröffnungssequenzen vollzogen? Inwiefern zeichnen sich kulturell unterschiedliche Handhabungen bei der Eröffnung dieser wissenschaftlichen Gattung ab? Unser Datenkorpus umfasst 20 chinesische (Mandarin) und 20 deutsche Vorträge, die in den Jahren 2008 bis 2010 bei sprachwissenschaftlichen und soziologischen Konferenzen in der VR China und in Deutschland gehalten wurden. Von den 40 Vortragenden sind 32 Männer und acht Frauen. Die Vorträge wurden aufgezeichnet und nach GAT 2 (cf. Selting et al. 2009) transkribiert. 10 7 Cf. u. a. die Arbeiten von Vassileva (2003) und Ventola (2007) zu kommunikativen Stilen in deutschen und englischen Vorträgen, Kotthoff (2001), Debes (2007) und Breitkopf (2007) zu russischen im Vergleich zu deutschen Vortragsstilen, Carobbio (2010, 2011) zu kommentierenden Handlungen in wissenschaftlichen Vorträgen im Deutschen und Italienischen sowie Hohenstein (2006) zum Handlungsmuster des Erklärens in deutschen und japanischen Konferenzvorträgen. 8 Zur Gattungsanalyse cf. u. a. Luckmann (1988); Günthner/ Luckmann (2002); Günthner/ Knoblauch (2007). 9 Cf. u. a. Gumperz (1982); Günthner (1993); Hess-Lüttich (1994); Hess-Lüttich et al. (2009); Di Luzio et al. (2001); Fix (2002); Günthner/ Linke (2006); Kotthoff/ Spencer-Oatey (2007); Jandok (2010); Jandok/ Zhu (2011); Linke (2011). 10 Leider stehen uns keine Videoaufzeichnungen zur Verfügung, so dass wir auf gestische und mimische Aspekte von Vortragseröffnungen nicht eingehen können. Cf. Mondada/ Schmitt (2010) zur multimodalen Konstitution von Situationseröffnungen. Susanne Günthner & Qiang Zhu 178 3 Eröffnungssequenzen chinesischer und deutscher Konferenzvorträge Sowohl die chinesischen als auch die deutschen Konferenzvorträge sind dadurch gekennzeichnet, dass die ReferentInnen, die unmittelbar nach der Anmoderation das Wort ergreifen, nicht etwa sofort in den inhaltlichen Teil ihrer Präsentation einsteigen, sondern Eröffnungssequenzen vorschalten. 11 Diese lassen sich wiederum in zwei Phasen einteilen: (a) „warming-up-Phase“ (Carobbio 2011: 121) und „Erläuterungs-Phase“. 12 3.1 Eröffnungssequenzen chinesischer Konferenzvorträge (a) „warming-up-Phase“ In der „warming-up-Phase“ (Carobbio 2011: 121) bauen die Vortragenden den Kontakt zum Publikum auf, initiieren ein „Sich-aufeinander-Einstimmen“ (Schütz 1972: 132) und führen teilweise auch Selbst- und Fremdpositionierungen (cf. Lucius-Hoehne/ Deppermann 2004) durch. In den chinesischen Eröffnungssequenzen weist diese Phase primär folgende Aktivitäten auf: - direkte nominale Anrede des Publikums (in acht der 20 Vorträge); - Begrüßung des Publikums durch Grußformeln (in zehn der 20 Vorträge); - Danksagung (in acht Fällen); - Bekundung der „Freude“, an der Veranstaltung teilnehmen zu können (in drei Fällen); - Bescheidenheitsfloskeln (in zwei Fällen). (b) „Erläuterungs-Phase“ Diese Phase enthält kommentierende Handlungen (cf. Graefen 2000; Fandrych 2002; Fandrych/ Graefen 2002; Heller 2008), die auf den folgenden wissenschaftlichen Vortrag und damit auf die Kernaktivität verweisen. Diese Phase umfasst folgende Aktivitäten: - Angaben zu den Vortragsmodalitäten (zu Folien, Handouts bzw. zu sonstigen technischen Aspekten etc.) (in zwei der 20 Vorträge); - Bezugnahme auf vorausgegangene Vorträge von KollegInnen (in drei Fällen); - Nennung des Vortragstitels (in 14 Fällen); - Begründungen für die Wahl des Themas (in sechs Fällen); - Gliederung des Vortrags bzw. Skizzierung des Vortragablaufs (in zwölf Fällen). 11 Sicherlich repräsentieren bereits die den Eröffnungssequenzen durch die ReferentInnen vorgeschalteten Anmoderationen eine Präsequenz, die den folgenden Vortrag projiziert (hierzu Zhu i.V.). 12 Carobbio (2011: 121) spricht hierbei vom „Beginn der Umsetzung des vorgeplanten Handlungsplans“. Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich 179 Im Folgenden werden wir uns auf zwei Aktivitäten konzentrieren, durch die sich die chinesischen von den deutschen Eröffnungssequenzen unterscheiden: (i) die direkte nominale Anrede des Publikums und (ii) Bescheidenheitsfloskeln. 3.1.1 Direkte nominale Anreden des Publikums Im Unterschied zu den Eröffnungssequenzen deutscher Vortragender initiieren chinesische ReferentInnen ihren Redebeitrag oftmals mittels einer nominalen Anrede der ZuhörerInnen. Der folgende Ausschnitt beleuchtet exemplarisch eine solche konventionalisierte Anredepraxis, mit der sich chinesische ReferentInnen explizit an ihr Publikum wenden. UMWELTMIGRATION (Chinesischer Vortrag 01) 13 01 Ref: ^ . gewei zhuanjia gewei laoshi gewei tongxue jeder Experte jeder Lehrer jeder Kommilitone Experten, Lehrer und Kommilitonen 02 ^ , name wo de zhege timu ne DM mein dieses Thema PAR mein Vortragstitel 03 ^ . shi jiaozuo huanjing yimin tantao COP heißen Umwelt Einwanderung Diskussion lautet Diskussion über Umweltmigration 04 ^ - yinwei dajia dou zhidao weil alle all wissen weil alle wissen 05 ^ - wo zhuyao shi zuo yimin zhe yikuai ich hauptsächlich COP machen Einwanderung dieser Bereich dass ich mich hauptsächlich mit der Migration beschäftige 06 ! " ^ ! # $ , na jiu zhuyao lai tan ziji zuiju zuiyou xingqu de yige timu DM hauptsächlich sprechen über mein interessantestes Thema spreche ich deswegen über dieses Thema, das mich am meisten interessiert 07 % & ^ ' . 13 Die Transkripte der chinesischen Ausschnitte enthalten zunächst eine in chinesischen Zeichen präsentierte Intonationseinheit, darunter steht die Umschrift in Pinyin (lateinische Umschrift), dann folgt eine Wort-für-Wort-Übersetzung ins Deutsche und schließlich eine freie Übersetzung. Alle Namennennungen (Personen-, Ort- und Institutionsnamen) sind anonymisiert. „^” markiert den Hauptakzent der betreffenden Intonationseinheit. Susanne Günthner & Qiang Zhu 180 na zhe ye shi yige bijiao xin de huati DM das auch COP ein CL ziemlich neues Thema das ist auch ein ziemlich aktuelles Thema 08 () 6 * (.) +^, - na jinnian de liu yuefen women hui zai DM dieses Jahr ASSOC Juni wir werden in Im Juni dieses Jahres werden wir in 09 &- ./ 01 ^ 2 bilishi zhege jiaozuo zhege di shi er jie de guoji yimin Belgien DM heißen DM ORD zwölf Mal ASSOC internationale Migration Belgien auf der zwölften internationalen Konferenz über Migration 10 =^ +34 # , yimin de zhege hu dang zhong women you yige zhuanti Migration ASSOC diese Konferenz innerhalb wir haben eine Sektion eine Sektion haben 11 enviroment and migration 12 5 # 6 7 . iiushi zhuanmen you ge zhuanti taolun zhege shengtai he huanjing yimin wenti DM speziell haben CL Sektion diskutieren die Ökologie und Umweltmigration Frage in der es sich speziell um die Frage der Ökologie und Umweltmigration handelt Im Zuge seiner Turnübernahme stellt der Referent mit der nominalen Anrede „gewei zhuanjia gewei laoshi gewei tongxue“ (Experten, Lehrer und Kommilitonen; Z. 01) zunächst einmal den Kontakt zu seinem Publikum her und konstituiert damit zugleich einen gemeinsamen Orientierungsrahmen für die folgende Kernaktivität (den Vortrag). Diese Anredeeinheit folgt einem konventionalisierten Muster: In der chinesischen Sprechgemeinschaft gilt, dass statushohe Personen bzw. Personen höheren Alters zuerst angesprochen werden (cf. Wu 2006: 39). An dieser kulturellen Norm orientiert sich auch der Referent, der die ZuhörerInnen hierarchisch geordnet - in Form einer Dreierliste - anspricht: Zunächst nennt er die sozial höchststehende Gruppe der „zhuanjia“ (ExpertInnen), denen dann die „laoshi“ (LehrerInnen) folgen, bevor schließlich die anwesenden StudentInnen mit „tongxue“ (KommilitonInnen) angesprochen werden (Z. 01). 14 Mit dieser Anredeform identifiziert der Redner also nicht nur die unterschiedlichen Statusgruppen im Publikum, sondern er weist ihnen zugleich soziale Kategorisierungen zu. Die nominalen Anredeformen treten hier in Kombination mit dem „partitive quantifier“ (Chen 2009: 14 Im Chinesischen zeigen Nomen (in der Regel) weder Genusnoch Numerus- Markierungen, so dass „zhuanjia“ sowohl auf eine/ n Experten bzw. eine Expertin als auch auf ExpertInnen referieren kann. Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich 181 1660) „gewei“ (jeder) auf: „gewei zhuanjia, gewei laoshi, gewei tongxue“, wodurch „jeder“ Anwesende angesprochen ist. Unter die in der Dreierliste zuerst genannte Kategorie der „zhuanjia“ (ExpertInnen) fallen in der Regel politische Funktionäre, Dekane aber auch ältere und renommierte WissenschaftlerInnen. In der VR China ist es üblich, dass HochschulprofessorInnen und -dozentInnen sich gegenseitig mit „laoshi“ (LehrerIn) anreden; die Gruppe der „laoshi“ umfasst somit in der Regel diejenigen KollegInnen, die statusmäßig derselben Ebene zugeordnet werden wie der Referent selbst. Beim letzten Element der Dreierliste „tongxue“ (KommilitonInnen) handelt es sich um eine Anredeform, die einerseits StudentInnen untereinander verwenden, andererseits adressieren ProfessorInnen und DozentInnen auch Studierende als „tongxue“ (cf. Wu 2006: 10; Ma 2009). Mit der Aufteilung des Publikums in die vorliegenden „membership category devices“ (Sacks 1972: 332) werden den Anwesenden soziale Rollen zugewiesen, die wiederum in habitualisierten Beziehungen zueinander stehen. Neben der somit gleich zum Einstieg in den Redebeitrag vollzogenen Attribuierung des Publikums positioniert sich der Referent mit dieser Kategorienliste aber auch selbst, nämlich als „laoshi“. Da es in der VR China üblich ist, dass HochschullehrerInnen sich gegenseitig mit „laoshi“ (LehrerIn) anreden, indiziert der Referent mit dieser Anrede seiner KollegInnen, dass er sich statusmäßig auf derselben Ebene ansiedelt. Unmittelbar im Anschluss an diese Form der Kontaktherstellung verkündet der Referent seinen Vortragstitel (Z. 02 und 03). Dieser Aktivitätenwechsel von der Anrede des Publikums zur Nennung des Vortragstitels wird durch den Diskursmarker „name“ (Z. 02) (cf. Miracle 1991: 114ff.; Liu 2009: 363) mit anschließender „shi cleft-construction“ (Li 2008: 772) „name wo de zhege timu ne shi jiaozuo…“ (mein Vortragstitel lautet) vollzogen. Eine der Hauptfunktionen dieser Cleft-Konstruktion liegt darin, bestimmte Äußerungselemente als neu und zentral hervorzuheben und die Aufmerksamkeit der GesprächspartnerInnen daraufhin auszurichten (cf. Tang 1980: 3). Auch die Partikel „ne“ in Zeile 02 trägt zur Spannungserhöhung bei. Der Referent verwendet somit eine Kombination an syntaktischen, lexiko-semantischen und prosodischen Mitteln, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu bündeln und auf seine Titelankündigung zu lenken, die wiederum die eigentliche Kernaktivität (den wissenschaftlichen Vortrag) projiziert. Da der Moderator im Zuge der Anmoderation kurz zuvor bereits den Vortragstitel des Referenten angekündigt hat, mag diese erneute Nennung des Vortragsthemas (Z. 03f.) redundant erscheinen (cf. Zhu i.V.). Informationell betrachtet ist sie dies auch, doch als Bestandteil der Eröffnungssequenz ist diese kommunikative Aktivität insofern relevant, als der Referent nun einen Kontextwechsel in Richtung „anchor position“ (Schegloff 1986: 116) vollzieht und somit die Aufmerksamkeit des Publikums vom „opening up“ zum inhaltlichen Beitrag und damit auf seine folgende längere Redeeinheit lenkt. Im Anschluss an die Nennung des Vortragstitels begründet der Referent seine Themenwahl (Z. 05) mit Verweis auf dessen Aktualität. Als Beleg hierfür erwähnt er eine internationale Konferenz, die im Juni in Belgien stattfinden wird (Z. 08 bis 12). Mit dieser positiven Bewertung seines eigenen Vortragsthemas und dem Hinweis Susanne Günthner & Qiang Zhu 182 auf die anstehende Konferenz in Europa positioniert er sich als „Vorreiter“ im Kontext der internationalen „scientific community“, wodurch er wiederum die Relevanz seiner Teilnahme an der Konferenz erhöht. Wie die vorliegende Eröffnungssequenz verdeutlicht, steigen ReferentInnen nicht medias in res in ihre inhaltliche Ausführungen ein, sondern führen zuvor unterschiedliche Aktivitäten durch, die einerseits der Kontaktherstellung („warming-up-Phase“) und andererseits der Vorbereitung auf den eigentlichen Vortrag („Erläuterungs-Phase“) dienen. Im Kontext der Eröffnungssequenz werden ferner oftmals - wie im vorliegenden Ausschnitt durch Anredeaktivitäten bzw. Verortungen der Vortragsthematik innerhalb der scientific community - Selbst- und Fremdpositionierungen (cf. Lucius- Hoehne/ Deppermann 2004) vorgenommen. Während der Referent im vorangehenden Ausschnitt das Publikum mittels nominaler Anredeformen in hierarchisch strukturierte Gruppen einteilt, redet der Referent im folgenden Datenausschnitt das gesamte Publikum mit „tongzhi“ (Genosse/ Genossin) an: SOZIOLOGISCHE THEORIE (Chinesischer Vortrag 02) 01 REF: 5 8 , gewei tongzhi jeder Genosse Genossen 02 9 . dajia hao alle gut ich grüße Sie alle 03 : . ; 04 < 5 - wo fayan de timu shi mein Vortragstitel COP mein Vortragstitel lautet 05 42=+ > ? =+ 5' @ . zhongguo shehuixue lilun yu shehuixue de xinfazhan China soziologische Theorie und soziologische neue Entwicklung Theorien und neue Entwicklungen in der chinesischen Soziologie Auch hier eröffnet der Referent seinen Redebeitrag mittels direkter Anrede des Publikums: „gewei tongzhi“ (wörtlich: jeder Genosse/ jede Genossin). Die geschlechtsneutrale, alle sozialen Schichten und Statusgruppen umfassende Anredeform „tongzhi“ (wörtlich: „having the same will or interest“ (Scotton/ Zhu 1983: 479) stellte nach der „Befreiung“ (d. h. nach 1949 bis Mitte der 1980er Jahre) die in der Volksrepublik China übliche Anredeform für Erwachsene dar. Im Zuge der chinesischen Öffnungspolitik und dem wirtschaftlichen Aufschwung seit Ende der 1980er Jahren wurde „tongzhi“ allerdings immer stärker zurückgedrängt (cf. Wang 2001; Zheng 2009: 19). Heutzutage wird diese ideologisch gefärbte Anredeform fast nur noch in offiziellen Parteikontexten bzw. als Anredeform für Parteikader, Polizisten und Soldaten ge- Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich 183 braucht (cf. Yang/ Wang 2005: 38; Wu 2006: 9). 15 Im Hochschulbereich wird „tongzhi“ nahezu ausschließlich in politischen Kontexten (wie bei politischen Schulungen und Tagungen) von Parteimitgliedern verwendet. Mit dieser politisch markierten Anredeform vollzieht der Referent im vorliegenden Ausschnitt jedoch nicht nur eine Fremdpositionierung, indem er die unterschiedlichen Statusgruppen im Publikum egalisiert und damit eine Einebnung möglicher hierarchischer Strukturen vornimmt, sondern er positioniert sich selbst als politisch engagierter Wissenschaftler (er gehört zum politischen Kader seiner Hochschule) und somit als Teil der „institutionellen Macht“ (Bourdieu 1998: 31). Wie sprachwissenschaftliche Studien verdeutlichen, fungieren Anredeformen als konventionalisierte Ressourcen zur Bewältigung recht unterschiedlicher kommunikativer Aufgaben (cf. Hess-Lüttich 1994; Vorderwülbecke 1997; Hartung 2001): Sie markieren einerseits oftmals eine Gesprächseröffnung bzw. den Beginn eines neuen Interaktionskontextes (Hartung 2001: 1349); zum anderen fungiert gerade die Anrede des Gegenübers als zentrale Praktik der sozialen Positionierung der GesprächspartnerInnen (cf. Kretzenbacher 2010: 2) und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Beziehungsgestaltung der Interagierenden (cf. Adamzik 1984: 68). Auch in den präsentierten Datenausschnitten wird die Publikumsanrede als Ressource zur Bewältigung unterschiedlicher kommunikativer Aufgaben eingesetzt: Mit dieser Aktivität übernehmen die SprecherInnen das Rederecht für einen längeren Beitrag und markieren den Kontextwechsel von der Anmoderation zum Vortrag. Darüber hinaus richten sie mit der alle Anwesenden einbeziehenden Anrede die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich und konstruieren die Interaktionsrollen (cf. Goffman 1967/ 71), die für die Dauer des Vortrags Gültigkeit besitzen: Sie weisen sich selbst die Rolle des Vortragenden und den Angesprochenen die der ZuhörerInnen zu. Aber auch soziale Kategorien und Beziehungen der Anwesenden untereinander werden durch die nominalen Anredeformen aufgebaut, im Dienste der Selbst- und Fremdpositionierung. Die Publikumsanrede kann somit als Teil der „rituellen Klammer“ (Goffman 1967/ 71) des Vortrags betrachtet werden, da sie durch „habituell eingeschliffene Zeichen“ wesentlich zur Konstitution des sozialen Rahmens beiträgt (cf. Hess-Lüttich 1994: 150). Dieser gemeinsame soziale Rahmen macht aus der vorliegenden Raum-Zeit-Situation „ein sozialsymbolisches Ereignis (…), das die Anwesenden wie in einen Strudel mit hineinzieht - ob sie dies wollen oder nicht“ (Hausendorf/ Schmitt 2010: 54). Im vorliegenden Ausschnitt SOZIOLOGISCHE THEORIE folgt der Publikumsanrede die ebenfalls ans Publikum gerichtete Grußformel „dajia hao“ 15 Seit der in den 1990er Jahren (vor allem in Hongkong und Taiwan) aufgekommenen Bewegung für die Gleichberechtigung von sexuellen Minderheiten wird „tongzhi“ auch als Bezeichnung für Homosexuelle verwendet. Mit dem der Arbeiterbewegung entstammenden und Solidarität markierenden Anredeform wollte man eine positiv konnotierte und Gemeinschaft suggerierende Anredeform unter sexuellen Minderheiten schaffen und Gleichgesinnte ermutigen, gemeinsam für soziale Gleichberechtigung zu kämpfen. Susanne Günthner & Qiang Zhu 184 (ich grüße Sie alle; Z. 02). Mit diesem Ritual (cf. Goffman 1971: 97) wird das Verhältnis der Beteiligten „im Rahmen einer sozialen Ordnung“ definiert (Hess-Lüttich 1994: 150) und der „Übergang zu einem Zustand […] erhöhter Zugänglichkeit“ hergestellt (Goffman 1971: 118). 3.1.2 Bescheidenheitsbekundung ( „qianxu biaoji yu“) Explizite Markierungen von Bescheidenheit ( 虚; „qianxu“) repräsentieren ebenfalls routinisierte Bestandteile chinesischer Vortragseröffnungen. Zum Einstieg in seinen Vortrag bedankt sich der folgende Referent zunächst einmal bei der Gastgeber-Hochschule sowie dem Organisator der Konferenz: LERNEN (Chinesischer Vortrag 03) 01 Ref: 5ABC D EF G wo feichang ganxie zhege zanmen de zhuren nanfangdaxue ich sehr danken DM unser Gastgeber Nanfang Universität ich danke sehr unserem Gastgeber der Universität Nanfang 02 # ^ HI ; haiyou youqi shi zhege auch insbesondere DM insbesondere auch 03 (1.5) 04 (.) a zhege PAR DM 05 ^ sun laoshi a Sun Lehrer PAR Herrn Sun 06 JK (.)^ L MN + ; reqing de yaoqing wo lai canjia zhege huiyi herzlich einladen ich kommen beteiligen diese konferenz (Sie) haben mich eingeladen, an der Konferenz teilzunehmen 07 ! O " ^ P+Q # . gei le wo zheyang yige jihui xiang dajia xuexi geben PAR ich diese chance von allen lernen und mir eine Chance gegeben, von anderen Konferenzteilnehmern zu lernen Nach der Danksagung formuliert der Vortragende die im Chinesischen routinisierte Bescheidenheitsformel „gei le wo zheyang yige jihui xiang dajia xuexi“ (und mir eine Chance gegeben, von anderen Konferenzteilnehmern zu lernen; Z. 07), mit der er die Rolle eines Schülers einnimmt. Nach Gu (1990: 246) ist die „Self-Denigration Maxime“ ( $%&' , „bianji zunren“) ein wichtiger Bestand- Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich 185 teil des chinesischen Kommunikationsethos. 16 Sie beinhaltet zwei wesentliche Komponenten: „(a) denigrate self and (b) elevate other. This maxim absorbs the notions of respectfulness and modesty“ (Gu 1990: 248). In der vorliegenden Sequenz folgt die Bescheidenheitsfloskel der Danksagung für die Einladung zur Konferenz, die dem Vortragenden die Chance gibt, von den anderen TeilnehmerInnen „zu lernen“. Mit dieser Formel konstituiert der Referent somit eine asymmetrische Beziehung zwischen den Anderen (als Lehrern) und sich selbst (als Schüler) - im Sinne einer „Erhöhung der Anderen“ ( &' “zunren“) mit gleichzeitiger „Selbstherabsetzung“ ( $% “bianji“). Solche Bescheidenheitsfloskeln werden bezeichnenderweise nur von statushohen ReferentInnen verwendet; bei LehrerInnen, DoktorandInnen oder Studierenden würde diese Äußerung nicht als Bescheidenheitsfloskel funktionieren, da ohnehin davon ausgegangen wird, dass sie von den anderen Teilnehmenden etwas lernen können. Mit dem Ritual der Selbstherabsetzung wird einerseits Vertrautheit im Umgang mit der kulturell geschätzten Kommunikationsetikette demonstriert, zum anderen indiziert der Sprecher seinen eigenen hohen Status, denn nur dieser macht die Selbstherabsetzung zu einem effektvollen rhetorischen Stilmittel. Darüber hinaus wird durch diese Floskel auch das „mianzi“ (面子; „Gesicht“) 17 des Gegenübers geehrt, da die Anwesenden rituell zu „Lehrern“ eines geschätzten Professors erhöht werden. 3.2 Eröffnungssequenzen deutscher Konferenzvorträge Auch die Eröffnungssequenzen der deutschen Vorträge zeichnen sich durch Aktivitäten aus, die einer „warming-up-“ und einer „Erläuterungs-Phase“ zuzuordnen sind. (a) „warming-up-Phase“ - Einstieg mit einer Diskurspartikel (in 15 der 20 Vorträge; davon „ja“ in 13 Fällen, „so“ und „okay also“ in je einem Fall); - Begrüßung des Publikums durch Grußformel (in drei der 20 Vorträge); - Danksagung (in zehn Fällen); - Bekundung der „Freude“, an der Tagung teilnehmen zu können (in drei Fällen) (b) „Erläuterungs-Phase“ - Angaben zu den Vortragsmodalitäten (zu Folien, Handouts bzw. zu sonstigen technischen Aspekten etc.) (in sechs der 20 Vorträge); - Bezugnahme auf vorausgegangene Vorträge von KollegInnen (in 3 Fällen); - Nennung des Vortragstitels (in 5 Fällen); - Begründungen für die Wahl des Themas (in 4 Fällen) 16 Ausführlich hierzu Günthner (1993: 81ff.) sowie Günthner (2001b). 17 Zum chinesischen Konzept des „Gesichts“ („lian“ bzw. „mianzi“) cf. Günthner (1993: 69-77) und Zhu (Kap. 7, i.V.). Susanne Günthner & Qiang Zhu 186 - Gliederung des Vortrags bzw. Skizzierung des Vortragablaufs (in 16 Fällen) Im Gegensatz zu den chinesischen Eröffnungssequenzen finden sich in den deutschen keine direkten nominalen Anredeformen des Publikums und auch keine konventionalisierten Bescheidenheitsfloskeln. Da bei deutschen Vortragenden der Gebrauch von Diskurspartikeln (insbesondere der Partikel „ja“) eine weit verbreitete Einstiegspraktik darstellt, 18 soll diese im Folgenden näher beleuchtet werden. Diskurspartikel mit anschließender Danksagung: KUNST (deutscher Vortrag 05) 01 Ref: JA↑ 02 ich bedanke MICH °h eh? 03 für die MÖGlichkeit, 04 unsere FORschungsergebnisse hier (-vorzuSTELLen, 05 ich bin pOsitiv überRASCHT über die ehengen beZIEHungen, 06 zwischen den einzelnen refeRAten die bisher eigentlich hergestellt wUrden, 07 und auch WIR werden ein- (.) einige anschlÜsse (.) haben, 08 an bereits gestellte refeRAte, Der Referent initiiert seinen Redebeitrag und damit die Eröffnung seines Vortrags mit der Partikel „JA “, die stark akzentuiert und mit steigender Intonationskontur artikuliert wird (Z. 01). Partikeln als „Eröffnungssignale“ (Schwitalla 1976: 83) haben bei Konferenzvorträgen - wie Carobbio (2011: 119) ausführt - die Aufgabe, „die Hörerrezeption auf die unmittelbar nachfolgende Handlung“ zu lenken. Diese Funktion der Aufmerksamkeitslenkung und Kontaktanbahnung zum Publikum teilen sie mit den nominalen Anreden in den chinesischen Eröffnungssequenzen. Doch im Unterschied zu Letzteren werden mit der Partikelverwendung weder soziale Kategorisierungen und damit verwobene Erwartungshaltungen an das Publikum vorgenommen, noch werden Aktivitäten der Selbst- und Fremdpositionierung durchgeführt. Unmittelbar im Anschluss an die Kontaktaufnahme bedankt sich der Referent im vorliegenden Ausschnitt für die Möglichkeit, seine Ergebnisse im Rahmen der Tagung vorstellen zu können (Z. 02ff.). Wie im vorliegenden Ausschnitt stellen sowohl deutsche als auch chinesische Vortragende in der Eröffnungssequenz oftmals Bezüge zu vorausgehenden Vorträgen her. Mit seinen Ausführungen ab Zeile 05 „ich bin pOsitiv überRASCHT über die ehengen beZIEHungen, zwischen den einzelnen refeRAten die bisher eigentlich hergestellt wUrden, und auch WIR werden ein- (.) einige anschlÜsse (.) haben, an bereits gestellte refeRAte,“ nimmt der 18 Cf. auch Carobbio (2011: 115ff.) zu „Eröffnungssignalen“ wie „ja“, „also“ und „gut“ bei deutschen wissenschaftlichen Vorträgen. Die Partikel „gut“ findet sich in unseren Daten allerdings nicht. Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich 187 Referent responsiv Bezug auf bereits gehaltene Vorträge und kontextualisiert somit seinen eigenen folgenden Beitrag als Teil einer thematisch vernetzten Vortragskette („einige anschlÜsse“ Z. 07). Die folgende Eröffnungssequenz wird ebenfalls durch die Partikel „ JA↓ “ (Z. 02) plus anschließender Danksagung eingeleitet: DISSERTATIONSPROJEKT (deutscher Vortrag 16) 01 Mod: bitte SCHÖn. 02 Ref: JA↓ DANke. 03 und DANke dass ich hier mein proJEKT vorstellen, 04 ehm DARF, Nachdem die Moderatorin (Mod) mit der Aufforderungsformel „ bitte SCHÖn “ (Z. 01) die kommunikative Aktivität der Anmoderation abschließt, um das Rederecht an den Referenten abzugeben, setzt dieser mit der Partikel „ JA “ (Z. 02) ein. Diese fungiert auch hier als „Kontaktsignal“ zur Herstellung der Aufmerksamkeit des Publikums. In beiden Ausschnitten KUNST und DISSERTATIONSPROJEKT folgt den Eröffnungspartikeln das „positive Ritual“ (Goffman 1971: 97) der Danksagung, mit dem die Vortragenden den ModeratorInnen bzw. OrganisatorInnen Respekt bekunden. Wie bei den chinesischen Vorträgen können sich die Danksagungen sowohl auf die Anmoderation und Einladung zur Konferenz 19 als auch auf die Möglichkeit der Präsentation eigener Untersuchungsergebnisse im Rahmen der Tagung beziehen. Letzteres kommt bei Vorträgen von DoktorandInnen vor, die Ergebnisse aus ihren Dissertationsprojekten bei einer Tagung präsentieren. 20 Diskurspartikel mit anschließender Kundgabe der „Freude“, dabei zu sein: Im vorliegenden Korpus folgt den Eröffnungspartikeln („ja“, „so“, „also“) gelegentlich auch die Bekundung von „Freude“, an der Tagung teilnehmen zu können. Im folgenden Ausschnitt initiiert der Referent die Eröffnungssequenz mit der Partikel „so“ (Z. 01): EMPIRISCHE DATEN (deutscher Vortrag 02) 01 Ref: SO ich: (-) 02 freue mich HIER zu sein, 03 und EINgeladen worden zu sein, 04 hier bei Ihnen zu SPRECHen,(.) 05 ond ich werde verSUCHen,(-) 06 Ihnen klar zu MACHen, 19 Dies kommt vor allem dann vor, wenn die Reise- und Unterkunftskosten von Seiten der Tagungsorganisation bezahlt werden. 20 Die für den Vollzug der Danksagung verwendeten Formeln repräsentieren sowohl im chinesischen als auch deutschen Kontext „performative Ausdrücke des Dankes“ (Gülich 1997: 153) wie Danke, vielen Dank, danke schön, herzlichen Dank und ich bedanke mich bzw. „wo feichang ganxie“ (ich danke sehr) und „feichang ganxie“ (herzlichen Dank) in den chinesischen Vorträgen. Susanne Günthner & Qiang Zhu 188 07 oderoderzu erÖrtern, 08 wie kann man eigentlich (.) fotografIen als 09 emPIRische daten eh auffassen, 10 das soll auch heißen, Vergleichbar mit der Partikel „ja“ fungiert auch hier das betonte „SO“ (Z. 01) als Kontakt- und zugleich Eröffnungssignal, mit dem der Referent den Redezug übernimmt und seinen Einstieg in den Vortrag organisiert. Statt einer Dankesformel thematisiert er seine „Freude“ bei der Tagung „sprechen“ zu können und bringt mit diesem „Interaktionsritual“ (Goffman 1967/ 71) - ähnlich wie bei den Danksagungen - seine Ehrerbietung gegenüber den OrganisatorInnen und Anwesenden zum Ausdruck. In der folgenden Erläuterungsphase kommentiert der Referent sein Vorhaben und Ziel „ond ich werde verSUCHen,(-) Ihnen klar zu MACHen, oderoderzu erÖrtern, wie kann man eigentlich (.) fotografIen als emPIRische daten eh auffassen,“ (Z. 05ff.) und präsentiert damit „eine nach-vorne-blickende Perspektive in seiner Handlungssequenz zugunsten der Adressaten, die somit am nur von ihm okkupierten Sprech-Zeit-Raum beteiligt werden und den gesamten Redeverlauf besser nachvollziehen können“ (Carobbio 2010: 444; Hervorhebung im Original). 21 Mit der Proform „Ihnen“ (Z. 04) redet der Referent zwar auch sein Publikum an, doch im Gegensatz zu den nominalen Anreden in den chinesischen Vorträgen handelt es sich hierbei um keine eigenständige Anredeaktivität (zum „warming-up“). Mit dem Pronomen „Ihnen“ werden die ZuhörerInnen insofern egalisiert, als keine Differenzierung nach Statusgruppen etc. vorgenommen wird. Allerdings wird bei deutschen Eröffnungssequenzen gelegentlich auch eine Aufteilung der Anwesenden nach sozialer „Nähe“ und „Distanz“ markiert. So teilt die Referentin im folgenden Ausschnitt (PFLEGEKRÄFTE) die Anwesenden durch die Beidnennung von Distanz- („Sie“) und Nähe-Anredeform („Euch“) in zwei Gruppen ein. Diskurspartikel mit anschließender Begrüßungsformel: Nach der betonten Kontaktbzw. Eröffnungspartikel „JA.“ (Z. 01) erfolgt im nächsten Segment die Begrüßung des Publikums mittels der Routineformel „ich begRÜsse ehm SIE (.) EUCH, Alle ganz HERZlich,“ (Z. 02-03): PFLEGEKRÄFTE (deutscher Vortrag 13) 01 Ref: JA. 02 ich begRÜsse ehm SIE (.) EUCH, 03 Alle ganz HERZlich, 21 Wie Kotthoff (2001: 329) in Zusammenhang mit ihrer kontrastiven Analyse zu deutschen und russischen Vortragsstilen ausführt, liefern deutsche Vortragende oftmals genaue Angaben zum Aufbau und thematischen Verlauf ihres Vortrags. Dies wird in unseren Daten bestätigt: von den 20 Vortragenden liefern 16 genauere Angaben zum weiteren Vorgehen; allerdings verweisen auch die chinesischen Referenten in zwölf der 20 Eröffnungssequenzen auf das weitere Vorgehen in Zusammenhang mit der Kernaktivität (des eigentlichen Vortrags) hin. Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich 189 04 (-) 05 <<all> diskursanalytisch motivierte fortbildung 06 für im krankenhaus dolmetsch (.) dolmetschende 07 pflegekräfte> 08 =das ist HEUte mein THEma, Auffällig ist hier die pronominale Zweiteilung der Anwesenden in eine „SIE-“ und eine „EUCH-Gruppe“. Mit dieser Aufteilung des Publikums in VertreterInnen, mit denen die Referentin in engem sozialen Kontakt steht und jenen, die in einer eher distanzierteren Beziehung zu ihr stehen, werden sowohl Fremdals auch Selbstpositionierungen vorgenommen. 3.3 Zusammenfassende Darlegung der kommunikativen Aktivitäten in den Eröffnungssequenzen Auch wenn keine der beschriebenen A ktivitäten obligatorischer Bestandteil von Eröffnungssequenzen wissenschaftlicher Vorträge ist und sich auch kein festgelegtes Abfolgemuster abzeichnet, so bilden diese Handlungen dennoch konventionalisierte Praktiken, die ReferentInnen zum Einstieg in ihren Konferenzvortrag anwenden: Eröffnungssequenzen wissenschaftlicher Konferenzvorträge Chinesisch Deutsch „warming-up-Phase“ • Anredesequenz (nominale Anrede des Publikums) • Begrüßung des Publikums durch Grußformeln • Danksagung • Bekundung der „Freude“, an der Tagung teilnehmen zu können • Bescheidenheitsfloskeln • Einstieg mit einer Diskurspartikel • Begrüßung des Publikums durch Grußformel • Danksagung • Bekundung der „Freude“, an der Tagung teilnehmen zu können Susanne Günthner & Qiang Zhu 190 „Erläuterungs-Phase“ • Angaben zu den Vortragsmodalitäten (zu Folien, Handouts bzw. zu sonstigen technischen Aspekten etc.) • Bezugnahme auf vorausgegangene Vorträge von KollegInnen • Nennung des Vortragstitels • Begründungen der Themenwahl • Gliederung des Vortrags bzw. detailliertere Skizzierung des Vortragablaufs • Angaben zu den Vortragsmodalitäten (zu Folien, Handouts bzw. zu sonstigen technischen Aspekten etc.) • Bezugnahme auf vorausgegangene Vorträge von KollegInnen • Nennung des Vortragstitels • Begründungen der Themenwahl • Gliederung des Vortrags bzw. detailliertere Skizzierung des Vortragablaufs 4 Schlussfolgerungen Die vorliegende Analyse chinesischer und deutscher Eröffnungsphasen bei Konferenzvorträgen verdeutlicht, dass diese als „opening“-Sequenzen (cf. Schegloff 1968/ 72: 379) vielfältige Funktionen innehaben: Sie stellen den Kontakt zum Publikum her, kontextualisieren den Aktivitätenwechsel von der Anmoderation zum Vortrag, initiieren die damit verbundenen neuen Interaktionsrollen und sichern somit die Voraussetzung für die folgende Aktivität, den eigentlichen wissenschaftlichen Vortrag. Mit ihrer „warming-up-“ und „Erläuterungs-Phase“ kann die Eröffnungssequenz als „dynamische Vorverweispraxis“ (Hausendorf/ Schmitt 2010: 97) betrachtet werden, die sowohl als Vorbereitung auf die Kernaktivität fungiert, als auch „selbst bereits ein untrennbarer Bestandteil der Praxis, auf die sie (anscheinend doch nur) vorverweist“ (Hausendorf/ Schmitt 2010: 97), ist. Auch wenn die Eröffnungssequenz weder obligatorische Elemente noch einen festgelegten Aktivitätenverlauf aufweist, verfügen die chinesischen und deutschen ReferentInnen über konventionalisierte Praktiken zur Bewältigung der genannten Aufgaben: Sowohl die nominale Anrede des Publikums (in den chinesischen Vorträgen) als auch die Eröffnungspartikeln (in den deutschen Vorträgen) stellen den Kontakt zum Publikum her und kontextualisieren den Wechsel der Aktivitäten und der Interaktionsrollen. Ein weiterer (immer wieder anzutreffender) Bestandteil der Eröffnungssequenz stellt sowohl bei chinesischen als auch deutschen Vorträgen die Danksagung an die ModeratorInnen und/ oder die Einladenden dar sowie die Bekundung der „Freude“, an der Konferenz teilnehmen zu dürfen. Mit diesen formelhaft verfestigten „positiven Ritualen“ (Goffman 1971/ 82: 97) bringen die ReferentInnen ihre Ehrerbietung zum Ausdruck. Der Aktivitätenwechsel zum eigentlichen wissenschaftlichen Vortrag wird oftmals durch eine erneute Nennung des Titels, eine Skizzierung des Ablaufs oder Angaben zu technischen Aspekten des Vortrags kontextualisiert. Wissenschaftsgattungen im Kulturvergleich 191 Neben den skizzierten Parallelen in den Einstiegsequenzen zeigen sich aber auch Unterschiede zwischen den chinesischen und deutschen Eröffnungssequenzen: Keiner der deutschen ReferentInnen beginnt den Vortrag mit einer nominalen Anrede des Publikums, während dies ein standardisiertes Verfahren der chinesischen Vortragseröffnung darstellt. Anredeaktivitäten wie „liebe Frau Dekanin, liebe Kollegen, liebe Studierende“ mögen bei deutschen Festreden, Antritts- oder Abschiedsvorlesungen üblich sein, doch bei wissenschaftlichen Konferenzen sind sie eher ungebräuchlich. Auch Eröffnungen mit „sehr geehrte Damen und Herren“ kommen in unseren Daten nicht vor. Die Anrede des Publikums mit expliziter Nennung der vertretenen Statusgruppen „zhuanjia“ (ExpertInnen), „laoshi“ (LehrerInnen) und „tongxue“ (KommilitonInnen) gilt bei chinesischen Konferenzen dagegen als höflich und angemessen, während die bis in die 1980er Jahre gängige egalitäre Anredeform „tongzhi“ (GenossInnen) mittlerweile als markiert gilt. Der Einstieg in den wissenschaftlichen Vortrag mittels einer Diskurspartikel könnte bei chinesischen Vorträgen dagegen den Eindruck erwecken, dass der Redner schlecht vorbereitet, wenig eloquent oder nervös ist. Literatur: Adamzik, Kirsten 1984: Sprachliches Handeln und sozialer Kontakt. 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Bachtin 1979: 173) Rapsongs sind komplexe Äußerungsgebilde, die zum einen in Form eines Dialogs stattfinden (Battle-Rap und Freestyling) und von den Reaktionen des Publikums leben. Zum anderen richtet sich der Rap-Song in Form eines Monologs fast ausnahmslos an einen im Wortlaut mehr oder weniger manifesten Adressaten. Der Sprecher teilt diesem etwas mit, wirft ihm etwas vor oder fordert ihn zu etwas auf, ohne dass dieser Adressat als seinsautonomer Dialogpartner selbst zu Wort kommen könnte. Dennoch sind dessen Ansichten oder Vorstellungen präsent, als Voraussetzung oder als Vorwegnahme. Der Beitrag geht von Bachtins Dialogizitätskonzept aus, um vor dem Hintergrund des soziokulturellen Kontexts der Hip Hop-Kultur die appellative, rekonstruktive und konative Kraft des Rapsongs offenzulegen. Diese entsteht in einem über Reim und Rhythmus erzeugten third space, in dem sich Sprecher und Hörer ‚einfinden‘ können. 1 Dialogizität Michail M. Bachtin entwickelte das Konzept der ursprünglichen Dialogizität des Wortes in engem Zusammenhang mit den Begriffen der Polyphonie und der Redevielfalt und hob seine Möglichkeiten hervor, in einem Geflecht fremder Wörter kreativ zu wirken, denn das Wort steht immer in einer Wechselwirkung mit einer Sphäre von vielfältigen Wertungen, Akzentsetzungen und Interpretationen: Doch das lebendige Wort steht seinem Gegenstand keineswegs identisch gegenüber: zwischen Wort und Gegenstand, zwischen Wort und sprechender Person liegt die elastische und meist schwer zu durchdringende Sphäre der anderen, fremden Wörter zu demselben Gegenstand, zum gleichen Thema. (Bachtin 1979: 169) Im Rahmen einer diachronen Sprachauffassung verweist Bachtin daher auf das Zusammenklingen verschiedener soziohistorischer Diskurse: Eine lebendige Äußerung, die sinnvoll aus einem bestimmten historischen Augenblick, aus einer sozial festgelegten Sphäre hervorgeht, muss notwendig Tausende lebendiger Dialogstränge berühren, die vom sozioideologischen Bewusstsein um den Gegenstand der Äußerung geflochten sind, muß not- Eva Kimminich 198 wendig zum aktiven Teilnehmer am sozialen Dialog werden. (Bachtin 1979: 170) Das heißt, ein Sprecher nimmt in seiner Rede immer Bezug auf diese Sphäre, um seine eigene Sichtweise einzubringen oder aufzuwerten. Die verschiedenen Sichtweisen und Wertungen werden im Hinblick auf einen bestimmten Aussagegenstand und auf einen bestimmten Gesprächspartner gewählt, zusammengestellt und verhandelt. Die Sprache als diejenige lebendige, konkrete Sphäre, in der das Bewusstsein des Wortkünstlers 1 lebt, ist niemals einheitlich. Einheitlich ist sie nur als ein abstraktes grammatikalisches System normativer Formen, abgelöst von den es erfüllenden konkreten ideologischen Sinnzuweisungen und vom ununterbrochenen historischen Werden der lebendigen Sprache. Das soziale Leben und der geschichtliche Prozeß erzeugen im Rahmen der abstrakt einheitlichen Nationalsprachen eine Vielfalt konkreter Welten, in sich geschlossener verbalideologischer und sozialer Horizonte; identische abstrakte Sprachelemente füllen sich innerhalb dieser verschiedenen Horizonte mit unterschiedlichen Sinn- und Wertungsinhalten und unterscheiden sich in ihrem Klang. (Bachtin 1979: 180) Bachtin bezeichnet mit seinem Begriff des Dialogischen also nicht ein Zwiegespräch verschiedener Sprecher, sondern die Gleichzeitigkeit verschiedener „verbal-ideologischer Sprachen“ lasse Dialogizität entstehen. Es handelt sich dabei um eine Spannung zwischen den durch diese Sprachen repräsentierten Weltsichten. Sprachliche Kommunikationen sind daher als Szenarien einer Auseinandersetzung mit verschiedenen einander widersprechenden Sichtweisen und Wertungen zu betrachten. Im Rapsong geht es folglich um die Konfrontation und Verschiebung von den eine Gesellschaft konstituierenden Wirklichkeitsbildern und ihr Verhältnis zum realen Gesellschaftsleben. Um diese semiotische Operation theoretisch fassbar zu machen, kann von einer Verknüpfung von Raum- und semiotischer Theorie ausgegangen werden. Kann mit Edward Sojas third space der historisch verankerten soziopolitischen Dimension des Rapsongs Rechnung getragen werden, so wird mit Jurij M. Lotmans Konzept der Semiosphäre deutlich, dass es sich bei Bachtins ‚elastischer und meist schwer zu durchdringenden Sphäre‘ um einen Raum handelt, in dem semantische Operationen vollzogen werden (siehe dazu Kimminich 2013). 2 Soziokultureller Kontext der Hip Hop-Bewegung Rap entwickelte sich Anfang der 1970er Jahre zusammen mit der Kunst des DJing, B-Boying, Beatboxing und Writing als die verbale Komponente der 1 Nach Bachtin wird jede sprachliche Äußerung vom „verbal-ideologischen“ Standpunkt ihres Sprechers geprägt, das gilt für mündliche wie schriftliche Kommunikationen jeder Art. Dieser sprecherbezogene Standpunkt ist nicht als ein subjektiv-privater zu betrachten, sondern geht auf ein kollektives Subjekt zurück. Es repräsentiert eine soziologisch festlegbare Gruppe und spricht deren ‚Sprache‘. Dialogizität im Rap 199 Hip Hop-Kultur. Es handelt sich dabei um eine mehr oder weniger gereimte, rhythmisierte, mit einem spezifischen Sound abgestimmte Sprechtechnik, die die jeweilige Sprache auf lexikalischer, syntaktischer und semantischer Ebene verändert, Neologismen bildet oder verschiedene Sprachen, Rituale und Codes kombiniert (Code-switching und Code-mixing). Rap entstand in den schwarzen Ghettos der South Bronx New Yorks aus dem Erbe subkultureller musikalischer Ausdrucks- und Protestformen afroamerikanischer Bevölkerungsgruppen und Latino-Minderheiten. Im selben Jahrzehnt entstand in den Ghettos von Los Angeles und San Francisco der sogenannte Gangsta-Rap. Er griff die Ängste und Projektionen der Weißen auf und verkörperte sie mit seinen Ghettoheroen und Pimps. Die Gewalt inszenierenden und sexistisch frauenfeindlichen Subgenres ließen sich auf dem sich globalisierenden Musikmarkt gut verkaufen und prägten das Bild dieses Musikgenres. Jenseits der medialen Inszenierung wurde Rap mit Rassenkampf und spezifischen Lebensphilosophien bzw. Ideologien verbunden. Louis Farrakhan vereinnahmte ihn in seiner Nation of Islam, Afrika Bambaataa nutze ihn zur Gründung seiner durch den Rastafarianismus geprägten Universal Zulu Nation und KRS-One (Knowledge Rules Supreme over Everyone) setzte ihn für seine Stop-the-Violence-Bewegung ein, mit der der Rap zum Edutainement erhoben wurde. Die 1974 von Bambaata gegründete Zulu Nation sollte mit seiner 21 ethische Verhaltensregeln umfassenden Charta den zum damaligen Zeitpunkt den Höhepunkt der Selbstzerstörung erreichenden Bandenkriegen in den Metropolen der Ostküste entgegenwirken. Damit hatte Bambaataa eine ethnische wie nationale Barrieren überschreitende Bewegung ins Leben gerufen, die sich seit Mitte der 1980er Jahre weltweit zu verbreiten und weiter zu entwickeln begann. Der darauf aufbauende sogenannte Message- oder Conscious-Rap zeichnet sich durch eine kreative Arbeit mit und an der Sprache aus, durch die das Selbst- und das politische Bewusstsein ethnischer Minderheiten oder anderer soziökonomisch benachteiligter Bevölkerungsgruppen gestärkt werden kann. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Songs, die der Kategorie des Conscious-Rap angehören. Sie sind anders strukturiert als der auf der afro-amerikanischen Tradition der dirty dozens und des boasting aufbauende, Sex, Kriminalität und Drogen fokussierende Gangsta-Rap (siehe dazu Sokol 2004). 3 Rap in Frankreich Sich vom US-amerikanischen Gangsta-Rap distanzierend, griff die französische Rap-Szene in ihren Anfängen vor allem den Conscious-Rap auf. Später wurden auch die Sprachmuster des Gangsta-Rap übernommen, die hier jedoch keine Berücksichtigung finden. Der gesellschaftspolitische Hintergrund der französischen Rap-Szene ist eng mit der französischen Integrationspolitik verbunden (siehe dazu Hüser 2004). Waren die nach dem Krieg am Wiederaufbau beteiligten Immigranten bis etwa 1980 zwar nicht kulturell, aber sozial und politisch integriert, so wurden sie durch die Folgen der Desindustrialisie- Eva Kimminich 200 rung ab Ende der 1980er Jahre in den sozialen Abstieg getrieben. Diese Entwicklung betraf besonders die in Frankreich geborenen Söhne und Töchter der Immigranten. Im Gegensatz zu ihren Eltern waren sie zwar kulturell integriert, aber ihre ökonomische und soziale Integration blieb mangels Ausbildungs- und Arbeitsplätzen aus. Mit den steigenden Zuwanderungswellen und der in den Vorstädten durch die Jugendarbeitslosigkeit auf fast das Dreifache angestiegenen Kriminalität wuchs die Gefahr der Ghettoisierung. Die Politik der 1980er Jahre begegnete diesen Problemen noch mit gezielten Maßnahmen, die jedoch, wie verschiedene Studien zeigen (Dubet 1994, Belhadj 2004), einerseits an der wachsenden Xenophobie des zuständigen Personals scheiterten, anderseits daran, dass die soziokulturellen Programme der „démocratisation culturelle“ Jack Langs durch den Einspruch der sich konsolidierenden rechtskonservativen Parteien blockiert wurden. Mit ihrem Einzug in die Rathäuser wurden zahlreiche Initiativen ersatzlos gestrichen. Als Folge der gescheiterten Maßnahmen entstanden vielerorts kleine Ghettos innerhalb der Vorstädte. Dort versammelten sich gescheiterte Existenzen jeder Couleur, auch sozial abgestiegene Frankofranzosen (poor whites). Bei ihnen stieß der Nationalpopulismus des Front National auf offene Ohren, so dass mit wachsendem Nationalismus auch der Alltagsrassismus zunahm. Für die in Frankreich geborenen und zur Schule gegangenen Immigrantenkinder bedeutete das eine zunehmende Diskriminierung. Ihre Wohnungs- und Arbeitssuche blieb erfolglos. Es kam zu strengeren Polizeikontrollen mit rassistischen Übergriffen, die sich vor allem „au faciès“, also an der Hautfarbe oder an der Wohnadresse, dem „délit d’adresse“, orientier(t)en. Damit stiegen Aggressionen und Gewaltbereitschaft an und die Ghettoisierung nahm zu (siehe dazu Kimminich 2006). 2005 entlud sich das Spannungspotential in heftigen Unruhen. Die Regierung Sarkozy verstärkte daraufhin Kontrollen und Repressionsmaßnahmen; Perspektiven und Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Anerkennung wurden kaum geschaffen. Vor diesem gesellschaftspolitischen Hintergrund haben sich mit der Hip Hop-Kultur Interaktionsräume entwickelt, in denen eine Vielzahl vorwiegend jugendlicher Individuen (aber auch mittleren Alters) nicht nur ihre verbal artikulierten Fähigkeiten messen, sondern v. a. die ihnen in der französischen Gesellschaft nicht zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume schaffen, in denen sie Fähigkeiten wie das DJing, das B-Boying oder künstlerische Tätigkeiten wie das Graffiti entfalten konnten. Als Rapper werden sie im Sinne Bachtins, der den Sprecher in seiner Rede als Repräsentanten soziologisch fixierbarer Gruppen betrachtet, zum Sprachrohr dieser Bevölkerungsgruppe. 4 Sprache, Form und Subjekt Der Conscious-Rap greift die diskursiv verfestigten dominanten Sichtweisen auf und konfrontiert sie mit den Erfahrungen und dem Lebensalltag dieser Gruppe. Der seit jeher den Mächtigen eignende, gegen jeden Widerspruch immunisierte Monolog wird auf diese Weise durch jene dem Wort ursprüng- Dialogizität im Rap 201 lich eignende Dialogizität aufgebrochen. So können erzählte Objekte zu erzählenden Subjekten werden. Verschiedene Erfahrungen, Wertungen, Sichtweisen, Soziotypen und Geschichtsbilder werden einander gegenübergestellt, um die stigmatisierende Wahrnehmung dieser Bevölkerungsgruppe durch die jeweils andere Gesellschaftsgruppe zu thematisieren, die eigene Sichtweise zu entwerfen, dagegenzuhalten und zu legitimieren. In der Sprache der Rapperinnen und Rapper manifestieren sich daher nicht nur die unterschiedlichen verbal-ideologischen und sozialen Horizonte, sie erfährt auch eine spezifische Formung, denn, so Bachtin: Das Wort, das durch eine Sphäre fremder Wörter und unterschiedlicher Akzente zu seinem Sinn und seiner Expression hindurch dringt, indem es mit deren verschiedenen Momenten harmoniert und dissoniert, kann in diesem dialogisierten Prozeß sein stilistisches Erscheinungsbild und seinen Ton ausformen. (Bachtin 1979: 170) So hebt sich Rap zunächst durch seine rhythmische und klangliche Ausgestaltung ab. Henri Meschonnic versteht Rhythmus als eine Poetik, die dem Subjekt Zugriff auf die Organisation von Sprache und damit auf seine eigene Lebenswirklichkeit eröffnet. Diese „Poetik des Rhythmus“ geht vom Subjekt aus, das sich im Gedicht gleichzeitig selbst erzeugt. So bewirkt das Subjekt des Gedichts, daß die Organisation von Sprache eine allgemeine und maximale Subjektivierung der Rede ist, in der Weise, wie die Rede durch das Subjekt verwandelt wird und erst durch diese Verwandlung erscheint das Subjekt. (Meschonnic 1997: 613) Durch die Organisation von Sprache kann sich das Subjekt also (neu) erfinden, sich seine Geschichte und seine Gegenwart erschaffen. 5 Rhythmus und Selbsterfindung Dies geschieht vermittels einer seriellen Semantik, „mit einer rhythmischen und prosodischen Paradigmatik und Syntagmatik - die Organisation der konsonantisch-vokalischen Signifikanten in thematischen Ketten, die eine Signifikanz in Gang setzt“ (Meschonnic 1997: 614). Ein evidentes Beispiel liefert der dem Troubamuffin zuzuordnende Song „Disem - Fasem“ (Massilia Sound System: Chourmo 1993). Repic (Refrain): Siam fòus, fòus de faire ço que fasèm dins la nóstra dance-hall si passa totjorn quaucaren Nous sommes fous, fous de faire ce que nous faisons, dans notre dance-hall il se passe toujours quelque chose Siam fòus, fòus de dire ço que disèm ame lei bònas ideias à toei lei cónós respondèm. Nous sommes fous, fous de dire ce que nous disons, avec les idées appropriées à tous les cónós nous répondons. Eva Kimminich 202 I. Strophe I a plan de cavas que si deu pas far Il y a plein de choses que l’on ne doit pas faire I a plan de luechs monte si deu anar Il y plein d’endroits où l’on devrait aller I a molon de perfums, molon de sensations Il y a beaucoup de parfums, beaucoup de sensations D’avanturas volèm viure, d’avanturas vivèm D’aventures nous voulons vivre, d’aventures nous vivons Anti-centralista es la filosofia Anti-centraliste c’est la philosophie Accion, Accion aquò’s l’estrategia Action, action, c’est la stratégie L’aventura la vaqui per naturei Marsihès L’aventure la voici pour nous autres Marseillais La conselhi à tot lo monde de Strasbourg au Carcassès Je la conseille à tout le monde de Strasbourg à Carcasson II. Strophe Avèm pas tant d’aquò mai fasèm ribon-ribanha Sans trop de moyens nous faisons quand même Es pas l’alen que manca, mai lo temps que nos entrina C’est pas le souffle qui nous manque mais le temps qui nous entraine Sus tant de camins siam totjorn d’esquina sur tant de chemins on est toujours sur la brèche Tira-buta un còp per Szuissa, un còp per Italia Tire-pousse un coup pour la Suisse, un coup pour l’Italie Tre còp per França e zo mai en Occitania Un autre coup en France et à nouveau en Occitanie Sempre cantant la beutat dei vielhas e la dei joinas Toujours chantant la beautés des vieilles et celle des jeunes Parlam de realitat die cavas dau quotidian Nous parlons des réalités, des choses du quotidien Lei mots lei mastegam pas per aquò siam pas die feniants Les mots on ne les mâche pas, pour cela nous ne sommes pas des fainéants. III. Strophe Mai la ràbia nos pren quora vesèm lei franchimands Mais on se met en colère quand on voit les franchimands Voler nos impausar lo modèle dominant Vouloir nous imposer le modèle dominant Integrar lei gens d’aqui, leis emigrants Intégrer, intégrer les gens d’ici, les immigrants Tot lo monde d’un còp dins sa propra nacion Tout le monde d’un coup dans leur propre nation Mai nosautrei volèm veire differentas populations Mais nous autres nous voulons voir différentes populations Sarà pas un menistre que farà l’integration Ce n’est pas un ministre qui fera l’intégration Nòstr’identitat si vetz dins la creacion Dialogizität im Rap 203 Notre identité se voit à travers notre création Es la cultura terradorenca que fa si semblar lei gens C’est la culture du terroir qui fait que les gens se ressemblent IV. Strophe Lo centralisme parisenc nos fa cagar ara n’i a pron Le centralisme parisien nous emmerde, y’en a assez Cadun sa maniera, cadun sa façon Chacun sa manière, chacun sa façon Per bolegar lo païs d’en promier bolega lo canton Pour faire bouger tout le pays, d’abbord fais bouger ton quartier Per parlar de ta ciutat escriu una bela canson Pour parler de ta ville écris une belle chanson I a totjorn quaucaren de dire de rimas i en a dei molons Il y a toujours quelque chose à dire pour ça il y a plein de rimes Escota ben, raggamuffin, que siguès grand o ben pichon Ecoute bien, raggamuffin que tu sois grand ou bien petit T’arriva encara lo Papet J. cavaucant per una version Arrive encore Papet J. à cheval sur une version Esperi que m’agues compres, me prengues pas per un colhon. J’espère que tu m’as compris ne me prends pas pour un couillon. Es handelt sich um drei acht- und eine neunzeilige Strophe, die die für den Rap im Allgemeinen typischen paarweisen oder mehrzeilig gleichreimenden, mit Parechesen angereicherten heteronometrischen Versbündel aufweisen. So zeichnen sich die ersten beiden Strophen vor allem durch Paarreime aus, die sich über die 3. Strophe mit einer jeweils dreibzw. vierzeiligen gleichreimenden Versgruppe zur letzten, insgesamt auf -on auslautenden Strophe steigert. Auffallend ist die Verdichtung der in den Reimwörtern dominierenden Tonvokale -a, -ia, -ina, ion bzw. -ian, die sich in der 3. Strophe ballen und die mit Marseiller Akzent gesprochenen Schlüsselbegriffe des Lyrics konstituieren: franchimands - dominant - emigrants bzw. accion (1. Strophe) - nacion, populations, integration und creacion. Rhythmus, Klangfarbe und Sinn werden auf diese Weise eng miteinander verknüpft. So verweist die erste Strophe auf die grenzenlose, allen Menschen offen stehende Vielfalt des Lebens und seiner Wahrnehmungen: „plein d’endroits où l’on devrait aller und beaucoup de sensations“. Die Philosophie des Massilia Sound Systems, die sich am okzitanischen Theoretiker Felix Castan orientiert, ist antizentralistisch und aktivistisch. Daher durchziehen die liebeslustigen Troubadoure der Gegenwart, wie die 2. Strophe beschreibt, die Lande, besingen die Schönheit der Frauen, aber auch die Alltagsrealität: So richtig in Wut geraten sie, wie die 3. Strophe besingt, wenn sie sich vom Assimilationsmodell des französischen Staates in ihrer ethnischen, kulturellen Identität und Originalität bedroht fühlen: „Mais on se met en colère quand on voit les franchimands vouloir nous imposer le modèl dominant.“ Ihm setzten sie die Vielfalt an Kulturen, ihre eigenen Traditionen und ihre Kreativität entgegen. Eva Kimminich 204 Strikt lehnen sie den Pariser Zentralismus ab und fordern Multikulturalität. Zu erreichen sind diese Ziele über die Lieddichtung, denn, wie Claude Sicre, der Gründer des Massilia Sound Systems, formuliert: „La chanson peut être le porte-parole et le producteur de solutions différentes“. - Sicre hat deshalb das Konzept der „Linha Imaginot“ entwickelt, d.h. der „autoroute de l’imagination“, auf der sich Menschen unterschiedlichster sozialer Klassen und Ethnien zusammenfinden können. Erreicht werden soll dies v. a. mittels Musik, sie hauche den Menschen im Rahmen einer festiven Popularkultur einen „souffle collectif“ ein, den er als Voraussetzung einer multikulturellen Gesellschaft betrachtet. Immer wieder wird deshalb die zentrale Bedeutung des riddim, des Rhythmus, hervorgehoben. Er aktiviert die sprachliche Inventionskraft und setzt Geist und Körper in Bewegung, wie das Lyric „Chronique“ (Aïollywood 1997) erklärt: Reggae,/ c’est le rythme qui me fait danser / Certains s’en servent aussi bien / pour mieux méditer / a moi c’est le rub a dub / qui me fait vibrer / c’est un son pénétrant, / pour tout dire entrainant / Tu peux toaster en dansant ou / bien danser en toastant. Durch die Verschränkung der durch Parechese betonten Gerundien im Chiasmus „toaster en dansant ou / bien danser en toastant“ wird die Konnektion von Wort und Rhythmus unterstrichen. Mit Hilfe des Rhythmus wird der Wortsinn registriert und memoriert. Auf gemeinsames Tanzen 2 legt deshalb nicht nur das Massilia Sound System großen Wert: „De la danse c’est l’apopo, l’apopologie, / c’est bon pour tous les popo, tous les posse,/ Car quand le corps est sein, les idées le sont aussi“. Daher wird das aus dem Provenzalischen stammende Verb bouléguer oder bolegar, bouger zum mot magique: „Action, action, c’est la stratégie / Anti-centraliste c’est notre philosophie“. Sprechen und Handeln liegen also eng beieinander, wie der Titel „Disem - fasem“ bereits nahelegt. 6 Reim und Gegenwart Der gereimte Text bzw. das Gedicht wird von Giorgio Agamben (2006: 72- 100) als eine besondere sprachliche Form betrachtet. Sie ist mit der Aura göttlichen Wissens versehen und ermöglicht eine räumliche Darstellung der messianischen Zeit, die nicht als Endzeit, sondern als eine Zeitverdichtung vor dem Ende zu begreifen ist. Es geht Agamben also um eine Verkürzung der Zeit als einzig reale Zeit (Agamben 2006: 16). Die messianische wird insofern als eine operative Zeit verstanden, d.h. als eine Zeit, in der wir aus der chronologischen Zeit, die uns zu passiven Zuschauern unserer selbst macht, heraustreten und „in der wir unsere Zeitdarstellung ergreifen und vollenden, die Zeit, die wir selbst sind - und daher die einzig reale Zeit, die einzige Zeit, die wir haben.“ (Agamben 2006: 81) Agamben bezeichnet das Gedicht deshalb 2 Der legendäre DJ Deenasty definiert den DJ als denjenigen, der die Leute zum Tanzen animiert; alle tanzen zu sehen, ist sein größter Lohn. Dialogizität im Rap 205 als ein zeitliches Gebilde, das, auf Endlichkeit hin angelegt, eine spezifische und unverwechselbare eigene Zeit entfaltet. Ein Moment, den er mit dem Kairos gleichsetzt. In diesem Zeitraum kann das Abgeschlossene, die Vergangenheit, rekapituliert und abgeschlossen werden und das Unabgeschlossene, die Gegenwart kann eine Art des Abschlusses erfahren; man könnte auch sagen, den Taten vergangener Zeiten wird die Möglichkeit eines Ausgleichs geboten. Dies geschieht, wie er an der Sestine als Miniaturmodell der messianischen Zeit zeigt, […] durch eine ausgeklügelte m chan von Ankündigungen und Wiederaufnahmen der Reimwörter - die den typologischen Beziehungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem entsprechen - die chronologische in messianische Zeit verwandelt. (Agamben 2006: 96) Agamben bezeichnet den Reim daher als das messianische Erbe an die moderne Dichtung. Diese beginnt in dem Moment auf den Reim zu verzichten, als sie sich vom Göttlichen verabschiedet. Conscious-Rapper treten mit ihren von zahlreichen Parechesen, Binnenreime und Assonanzen durchzogenen Songs somit mehr oder weniger bewusst eine theologische Hinterlassenschaft an und folglich als Bevollmächtigte einer göttlichen Instanz auf. Das wird an ihren Gruppennamen, beispielsweise „prophètes de la rue“, oder auch in ihren Songtexten immer wieder explizit formuliert; sie verstehen sich als Missionare, Abgesandte Mohammeds oder wie die Gruppe La Brigade aus Paris als Apostel. Das, was sie verkünden, ist sozusagen ihr ureigenstes Evangelium. Das Gedicht bzw. der Rapsong eröffnet ihnen eine Lebensraum spendende und mit der Erfahrung des Kairos verbundene Zeitstruktur. 3 Sie verleiht ihnen Gegenwart und ihren Worten einen hohen Grad an Authentizität und Autorität. Zum anderen ermöglichen ihnen diese (Ver)Dichtungen die Vergegenwärtigung von Ereignissen aus Gegenwart und Vergangenheit, die mit verschiedenen Weltansichten oder Geschichtsbildern verknüpft werden; d.h. es wird an den die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmenden Semiosphären gearbeitet, Geschichte(n) werden umerzählt. 7 Storytelling und Dialogizität Erzählend kann sich ein Individuum Zugriff auf die Semiosphäre seiner Gesellschaft verschaffen, auf die ästhetische Inszenierung von Wahrnehmungsinhalten und -strukturen, mit denen dominantwie sub- oder spezialkulturelle, aktuelle wie historische Konstruktionen modelliert werden. Der Rapper kann mit seinen Geschichten folglich - bewusst gezielt wie unbewusst zufällig - alternative Wirklichkeitsentwürfe in einen mehr oder weniger öffentlichen Raum einbringen. Dort stehen sie den Rezipienten als eine von vielen 3 Auch bei den anderen Ausdrucksformen der Hip Hop-Kultur spielt der Kairos eine tragende Rolle, insbesondere beim B-Boying, siehe dazu Kimminich 2008. Eva Kimminich 206 parallelen Wirklichkeitsdarstellungen und damit auch als mögliche Welten zur Verfügung. Vor dem Hintergrund der von Carola Surkamp in die Narratologie übertragenen possible-worlds theory lässt sich dieses Spiel mit verschiedenen Modalitäten (cf. Ryan 1991, Surkamp 2002 und Kimminich 2004) beobachten. Surkamp versteht Wirklichkeit als ein modales System, das aus einer tatsächlichen Welt, der actual world, und einer Vielzahl an nicht aktualisierten alternativen Welten (possible worlds) besteht. Ihre Möglichkeit wird an ihren Zugangsrelationen (accessibility relations) zur tatsächlichen Welt gemessen; sie wird im Rahmen der narrativ erzeugten textual actual world ermittelt, d.h. im Kontext eines neuen Systems von Möglichkeiten und Aktualisierungen, auf das sich der Leser/ Hörer für die Dauer der Rezeption einlässt. Zur Bestimmung des Wahrheitswertes einer Geschichte sind für den Rezipienten deshalb zunächst die Autorität und Glaubwürdigkeit des Erzählers bzw. der Erzählerinstanz(en) ausschlaggebend. Auktoriale Erzähleraussagen werden daher als world-creating utterances eingestuft, die „als notwendig-wahr oder als sachverhalts-erzeugendperformativ zu gelten haben“ (Surkamp 2002: 161). Die Ich-Erzählung wird hingegen dem Bereich der world-reflecting utterances zugeordnet, d.h. den Reflexionen der Erzählenden über eine Welt, der diese Person selbst angehört und deren Rahmenbedingungen sie unterliegt. Die Ich-Erzählung steht daher a priori unter höherem Legitimations- und Argumentationsdruck als eine auktoriale. Das vierstimmige multiperspektivische Lyric „Code Noir“ (Rage de Dire 2000) des in einem Pariser Vorort lebenden Rappers Fabe kombiniert die Ich- Erzählung (mit Akzentuierung einer Intention und des Ausdrucks) mit der auktorialen Erzählung (kontrastive Darstellung und Setzung einer alternativen ‚Geschichte‘) und der Apostrophierung (Appell und Provokation durch Fragen) des fiktiven Dialogpartners. Fabes Rapsongs thematisieren in verstärktem Maße die zum damaligen Zeitpunkt (vor 2005) aus dem französischen Schulunterricht ausgeblendete Kolonialgeschichte Frankreichs, in Zusammenhang mit der französischen Integrationspolitik. Dabei hinterfragt er die gegenwärtige Situation anhand der (verschwiegenen) Vergangenheit. 4 A: Fabe 1 J’arrive fort, souffle, comme le vent de l’indépendance, c’est Fabe „ou sav ça! “ 2 Y ka fouté un sacré souk en France! Correspondance, assurée pour la jonction. 3 Ma fonction ne bouge pas, j’t’envoie ma version, ma vision des choses. 4 Moi j’y crois pas à l’abolition, j’suis là en mission, scred comme la connexion. 5 La complexion d’nos peaux les fait hésiter. C’est dur à camoufler comme un crime contre 4 Der Song „Questions“ inszeniert Dialogizität durch eine zweite Stimme, die die rhetorischen Fragen der rappenden Stimme verneint (ebenfalls auf: Rage de Dire, 2000). Dialogizität im Rap 207 6 l’humanité. La réalité est qu’ils flippent de la vérité, sans hésiter à méditer 7 sur ça t’es invité. 8 Est-ce que t’as l’impression que l’esclavage a disparu? 9 Est-ce que t’as l’impression qu’il n’y a plus de pression quand t’es dans la rue? 10 Est-ce que t’as l’impression qu’on marche tous dans le même sens? 11 Mes 5 sens sentent mes frères en effervescence ... 12 J’ai dépassé l’adolescence maintenant, j’veux du concret, 13 du noir sur blanc, un nouveau nom à ton plan. Personne ne demande pardon, 14 dis-moi comment tu veux qu’on excuse? 15 C’est du passé, t’étais pas là? C’est pas une excuse! 16 Bouges! 17 Jusqu’à c’que l’O.N.U. dédommage, on voit rouge ... 18 Dommages et intérêts, y’a intérêt à pas réitérer les plaies d’histoire, ça cicatrise quand on les 19 soigne. Un homme à poigne. Faut qu’j’prenne l’avion et que j’rejoigne 20 Les frères Outre-Mer, genre Maire-Jeanne 21 Faire la mosère à Jean-Marie 5 comme si j’étais le maire de Saint-Anne Refrain: Code noir, crime contre l’humanité! Esclavage, crime contre l’humanité! Déportation, crime contre l’humanité! Exploitation dans les plantations, demandes aux békés 6 ... B: Neg’Lyrical 1 Le nègre brille et son esprit scintille, regarde-le illuminer l’Afrique et les Antilles. 2 Depuis des siècles et des siècles il resplendit, malgré sueur, sang et pleurs, sans cesse grandit. 3 Par de nouvelles générations fidèles à la cause. Traîtrise, bêtise mais le combat n’connaît pas de pause. 4 S’il faut un magnum 7 pour être traité d’homme à homme, on s’en sert par tous les moyens 5 nécessaires comme Malcolm. Fiers et forts du passé, plus qu’avant, de l’image qui est 6 donnée, comme quoi on n’a jamais rayonné ou raisonné. Leur histoire faut s’y fier, pour raisons 7 racistes leurs écrivains l’ont falsifié. C’est jamais à l’école française que j’aurais appris que les 8 premiers hommes sur terre venaient d’Ethiopie ou que les Egyptiens étaient aussi noirs que Cham, 9 Abraham, Isaac, Jacob, Moïse ou Jésus-Christ... 10 Ils apprennent aux Noirs à être Blancs et jamais l’inverse, ask yourself „Why is that? “ Comme 5 Le Pen. 6 Le béké (kreol): weißer Plantagenbesitzer. 7 Magnum: Revolver der Marke Magnum. Eva Kimminich 208 11 KRS. Est-ce parce dans leurs messes, ils nous ont oubliés? ou qu’ils veulent encore nous 12 aliéner pour régner. Paix à l’âme de tous nos leaders systématiquement 13 assassinés et à toutes les populations décimées. 14 Rien à battre des nations et leurs belles déclarations. 15 Aujourd’hui la diaspora réclame réparation ... (Refrain) C: Rachid 1 Métis, mais fils de Cham. Les tam-tams de l’Afrique, la foi d’Abraham sont emblèmes de mon âme et 2 d’came 8 . 3 J’entame les jours de ma chair dans un temps propice au vice, tout va trop vite, so peace! ! ! 4 L’homme au Calice au pays des merveilles s’émerveille, s’éveille. 5 Ma réflexion suit toujours celle de la veille. Je veille à satisfaire sœurs, frères, bien sûr fier. Mon rap 6 a germé sous terre pas sous serre. Sincère, mon art est nécessaire, c’est sûr, 7 c’est pour ma masse populaire, o.k. Césaire? 8 Plus d’élite intellectuelle virtuelle, 9 l’élite actuelle se consacre à l’éternel et fuit Babel. 10 Car belle est la 11 vie où je m’élève, rien ne m’y enlève et les anges ont fait de moi leur élève. 12 Brèves sont les joies d’en bas là où le vice même. 13 Rétablissons le rapport divin entre le père et le fils même. Change de système, l’élévation d’l’esprit 14 s’impose. Frère ose, bouge ton cul, gars prend pas la pose ... (Refrain) D: Neg’ Madnik 1 Le nègre est béni, même si le colon nie 2 Parce qu’ici-bas il a sué pour n’avoir pas plus qu’un penny. 3 Mais comme l’argent, ici, mène la foi à l’agonie, 4 Ebony 9 n’veut pas finir comme Clyde et Bonnie 10 . 5 Mystiques comme les Boni 11 dans la jungle et Maroni 12 , 6 les nègr’marrons 13 ont assez d’esprit pour ne pas finir soumis. 7 Dans leurs têtes mettent manières et manies 8 Afin que richesse et sagesse sous leur bannière s’allient. 9 C’est fini, le temps où le maître crie et te punit 8 Came: Stoff (Droge). 9 Ebony: Anspielung auf eines Liebesliedes von Paul Mc Cartney mit dem Titel Ebony und Ivory. 10 Clyde et Bonnie: Bonny und Clyde, Protagonisten eines amerikanischen Kultfilms und Titel eines Chansons von Serge Gainsbourg. 11 Boni: in der Region St.Laurent-du-Maroni in Guayana lebende Volksgemeinschaft. 12 Maroni: St.Laurent-du-Maroni, Region in Guyana. 13 Nègr’marron (gebr. auf den Antillen): Das aus dem spanischen cimarron abgeleitete Wort stammt aus der amerikanischen Kolonialzeit und bezeichnete einen flüchtenden Sklaven. Dialogizität im Rap 209 10 Pour un meilleur avenir, la communauté doit être unie ... Der erste Erzähler, Fabe, verweist ausdrücklich auf die Kongruenz von textinternem mit -externem Erzähler (A 1). Damit wird implizit auch die Wesenseinheit von Handlung und Kommunikation herausgestellt. Seine lyrische Subjektivität (A 2 moi, je) wird durch Unabhängigkeit und Stärke charakterisiert (A 1; „j’arrive fort“) und durch seine Zugehörigkeit zu den Gleichgesinnten seines Labels („assurée pour la jonction“) sowie die eigene visuelle Wahrnehmung (A3: „ma version“, „ma vision des choses“) abgesichert. Dies ermöglicht ihm explizit Stellung zu einer durch hegemoniales historisches Erzählen untermauerten (im Refrain enunzierten) Handlungskette (Sklaverei, Ausbeutung, Unterdrückung, Menschenrechtsverletzung 14 ) zu beziehen. Letztere wird, wie der Erzähler postuliert, in der actual world diskursiv negiert. Sie wird elliptisch in dieser diskursiven Negierung („abolition“) aufgerufen, die im Rahmen der world-reflecting utterance des Ich-Erzählers durch Negierung der Negation in Frage gestellt wird (A 4: „Moi j’y crois pas à l’abolition“). Der Urheber dieses Diskurses wird nebenbei als unbestimmtes Objekt „les“ (A 5) eingeführt und in A 6 präzisiert: „La réalité est qu’ils flippent de la vérité“. An hervorgehobener Stellung, nämlich zu Beginn der Sprecheinheit, finden wir das zentrale, den zu entkräftenden Diskurs motivierende Argument: die andere, nämlich dunkle Hautfarbe (A 5). Deshalb wird der fiktive Gesprächspartner gezielt dazu aufgefordert, genau darüber nachzudenken: „sur ça t’es invité à méditer“ (A 7) bzw. zu handeln (A 16: „bouges“). Der Sprecher apostrophiert ihn dazu mit rhetorischen Fragen (8-10) und fordert ihn zur kritischen Gegenüberstellung seiner Wahrnehmung der actual world bzw. der dominant diskursiven Darstellung auf. Die Antwort wird über die (sinnliche) Wahrnehmung des Ich-Erzählers in der textual actual world zunächst über eine affektive Befindlichkeit ihm nahestehender Figuren (A 11 ‚mes frères‘) signalisiert. Er nimmt ihren aus dieser Gegenüberstellung resultierenden Unmut wahr, der den seinen rechtfertigt. Seine gleich durch alle fünf Sinne abgesicherte Wahrnehmung verleiht dem Fokalisierungsvorgang Wahrheitswert und Bedrohlichkeit. Um seine Autorität zu untermauern und seine Forderungen nach Konkretem (A 13 „du noir sur blanc“) zu legitimieren, weist der Erzähler auf sein nicht mehr jugendliches Alter hin: „Ich habe das Alter der Jugend jetzt überschritten, ich will Konkretes sehen, schwarz auf weiß (12-13)“. So kann die Erzählerinstanz seine Forderungen nach Handlungsbedarf direkt an den Adressaten richten (A 13), seinen Ausflüchten zuvorkommen (A 15) und ein bedrohliches Szenario entwerfen, vor dessen Hintergrund er eine Warnung aussprechen kann, nämlich die, dass die Wunden der Geschichte nicht erneuert werden dürfen. Die Anspielungen auf den fremdenfeindlichen Front National machen deutlich, worum es sich handelt. Eine andere, ausgeblendete und daher auch unabgeschlossene Geschichte wird von der 2. Stimme, Neg’ Lyrical, auktorial erzählt. Es ist die Geschichte 14 Ihr Wahrheitswert wird durch Angabe von Zeugen überprüfbar gemacht; Refrain: „demande aux békés“). Eva Kimminich 210 eines Kampfes, der sich unter Rückbezug auf die Leitfigur Malcolm X mit allen notwendigen (auch gewalttätigen) Mitteln in der Zukunft fortsetzt, bis er gewonnen ist (B 3, 4, 5). Diese Geschichte vermittelt Stolz und Stärke, heilt die Wunden, die jene andere Geschichte der Unterdrückung (B 6: „l’image qu’on a jamais rayonné ou raisonné“) geschlagen hat. Vor der Geschichte der Weißen muss man sich folglich in Acht nehmen, sie wurde mit rassistischen Intentionen verfälscht (B 6, 7: „pour raisons racistes leurs écrivains l’ont falsifié“). Um dieser Behauptung Glaubwürdigkeit zu verleihen, wird die Fokalisierungsinstanz gewechselt. Als Ich-Erzähler berichtet Neg’ Lyrical aus seiner Schulzeit in Frankreich, dass er nicht in Kenntnis über die andere Geschichte der Schwarzen gesetzt worden sei (B 30-31). Daraus wird der nun wieder auktorial vermittelte Schluss gezogen, dass den Schwarzen gelehrt werde weiß zu sein, nicht aber den Weißen schwarz zu sein. An diesem Punkt apostrophiert der Erzähler wie die 1. Stimme einen außertextuellen Adressaten, fordert diesen auf, nicht nur Fragen zu stellen, sondern ermächtigt ihn dazu durch wiederholten Rückbezug auf eine, dieses Mal hip hop-spezifische Leitfigur (KRS-One). Die in Englisch formulierte Frage Why is That? ist gleichzeitig Titel eines Songs von KRS-One 15 , der die Antwort ebenso nahe legt wie die rhetorischen Fragen (B 10-12). Das durch einen Segensspruch auf die getöteten Führer- und Vorbildfiguren eingeleitete Fazit stimmt in die Forderungen des 1. Erzählers und seiner Negation des Negierten ein (B 15 vergl. A 17-18). Der 3. Erzähler, Rachid, wird als Mestize und Sohn Chams eingeführt. Er ist ein Nachkomme jener aus der offiziellen Geschichte der Weißen ausgeklammerten „race brillante et scintillante“, deren Größe und Leidensweg der 2. Erzähler skizziert hatte. Indem diese Erzählerinstanz die Rolle des vom 1. Erzähler evozierten, den Leidensweg seiner Vorfahren fortsetzenden „schwarzen Bruders“ übernimmt, gewinnt sie an Autorität und Authentizität. Seine Geschichte wird auf diese Weise aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineingeholt, denn sein Geist erwacht und keimt im Wunderland Frankreich (C 4: „au pays des merveilles“), und zwar im Untergrund, aber nicht im Gewächshaus (C 6: „sous terre et pas sous serre“); d.h. er entfaltet sich nicht, um sich in ‚einen intellektuellen Elfenbeinturm‘ zurückzuziehen („plus d’élite intellectuelle virtuelle“), sondern um für „ma masse populaire“ zu sprechen (C 7-9). Damit stimmt die 3. Erzählerinstanz in die von der ersten verkündete Intentionalität und Mission des Erzählten ein. Autorität und Möglichkeit wird ihr abschließend durch die Rückbindung an den Vater und die vergangene, im dominanten Diskurs ausgeblendete Geschichte jenes als resistent und moralisch integer (C 1: „la foi d’Abraham sont emblèmes de mon âme“) entworfenen Schwarzen verliehen, über die dem Adressaten Geschichte, Identität und (vermittels Aufforderung) Handlungsfähigkeit zugesprochen werden. Der letzte, ebenfalls auktoriale Erzähler ,Neg’ Madnik, kann den einst ausgebeuteten Schwarzen, trotz (post)kolonialistischer Verleumdung, heilig 15 Er greift darin die hegemoniale Geschichtsschreibung, die Medien und ihre Stereotypen an. Dialogizität im Rap 211 sprechen (D 1: „Le nègre est béni, même si le colon nie“) und seine moralische Integrität auf diese Weise als ethnisch verankerte ethische Eigenschaft auch für die Nachfahren beanspruchen. Diese lassen sich selbst im ‚vom Geld regierten kapitalistischen Zeitalter des Atheismus nicht korrumpieren und unterwerfen‘. An dieser Stelle verweist der Erzähler auf fiktive Handlungsanleitungen, die abzulehnen sind (D 4), denn den Neg’ Marrons, d.h. den in diesem Falle der ‚postkolonialen diskursiven Sklaverei entkommenen‘ Schwarzen, wird genügend Intellekt zugeschrieben, sich der diskursiven Domination zu entledigen (D 6, 7). Abschließend wird nun die vom 1. Erzähler in Frage gestellte Abschaffung der Sklaverei als eine mentale Befreiung der Diasporagemeinschaft bestätigt. Das vierstimmige Lyric (re)konstruiert das schwarze Individuum anhand einer Inszenierung verschiedener einander gegenübergestellter Geschicht(en) sowie über verschiedene Fokalisierungsinstanzen und -vorgänge (v. a. Perzeption, Erinnerung). Durch Oralisierung historiografischer Festschreibungen in textual actual worlds können reflektierende und reflektierte Figuren als Dialogpartner einander gegenübertreten. Die virtuelle Bühne der narrativen Welten inszeniert daher nicht nur den jeder diskursiven Einschreibung zugrundeliegenden Kontext gesellschaftspolitischer Machtausübung, sondern auch dessen Deskription. Aus dem durch Festschreibung determinierten stummen Objekt der Geschichte wird auf diese Weise ein sprechendes, fragendes, sich und Welt selbst wahrnehmendes und darstellendes Subjekt. Es eröffnet sich durch seine sprachlichen Relativierungen mögliche (Handlungs-)Spielräume im Geflecht der es determinierenden Geschichten und Diskurse. 8 Gegensätzliche Gegenwärtigkeiten Wie die unterschiedliche Wahrnehmung und Wertung einer gemeinsamen Lebenswelt im Hinblick auf einen bestimmten Aussagegegenstand und auf einen bestimmten Gesprächspartner präsentiert wird, soll an einem Lyric der Rapperin Diam’s (Mélanie Georgiades) mit griechisch-zypriotischem Migrationshintergrund beobachtet werden. Sie war wegen ihrer aussagekräftigen politischen, für Freiheit und Gleichheit eintretenden Texte Ikone der Vorstadtjugend Frankreichs, bevor sie im September 2009 zur Enttäuschung vieler Fans zum Islam übertrat. In „Ma France est à moi“ (Dans ma Bulle 2006) entwirft sie ein Bild des Vorstadtalltags, das dem durch die Medien allgemein verbreiteten Darstellungen über die in der Banlieue lebenden Menschen mit Migrationshintergrund entgegengestellt wird. Das personifizierte Frankreich des lyrischen Ichs hat trotz seiner kleinen Schwächen und Fehler Werte, Regeln und Träume und es schäumt vor Lebenslust über: Ma France à moi elle parle fort, elle vit à bout de rêves, / Elle vit en groupe, parle de bled et déteste les règles, / … / C’est le hiphop qui la fait danser sur les pistes, / Parfois elle kiffe un peu d’rock, ouais, si la mélodie est triste, / Elle fume des clopes et un peu d’shit, mais jamais de drogues dures, / …/ Elle a des valeurs, des principes et des codes, / Elle se couche à l’heure du coq, car Eva Kimminich 212 elle passe toutes ses nuits au phone. / Elle parait faignante mais dans le fond, elle perd pas d’temps, / Certains la craignent car les médias s’acharnent à faire d’elle un cancre … In der zweiten Strophe wird erklärt, wer genau zu ‚ihrem‘ Frankreich gehört: Elle, c’est des p’tits mecs qui jouent au basket à pas d’heure, / …/ Elle, c’est des p’tites femmes qui se débrouillent entre l’amour, les cours et les embrouilles, / Qui écoutent du Raï, Rnb et du Zouk. / Ma France à moi se mélange, ouais, c’est un arc en ciel, / Elle te dérange, je le sais, car elle ne te veut pas pour modèle. Mit diesen Versen wird der interkulturelle Lebensalltag in den Vorstädten beschrieben und idealisiert; Menschen, die sich durchschlagen, die ohne Vorurteile aufeinander zugehen, die Spaß miteinander haben. Das Frankreich des lyrischen Ichs ist ein junges und lebenshungriges Frankreich, das sich nicht assimilieren lassen möchte. Es speist sich aus der Lebensphilosophie des Hip Hop und wird einem anderen, von Xenophobie, Rassismus und Nationalismus geprägten Frankreich des fiktiven Adressaten entgegengestellt; ein Kontrast, der durch die den Text rhythmisierende anaphorische Wiederholung von „elle“ und „celle qui“ sowie der betonten Verneinung „Non, c’est pas ma France à moi“ bzw. „Non, ma France à moi, c’est pas la leur“ verstärkt wird: Ma France à moi, c’est pas la leur, celle qui vote extrême, / Celle qui bannit les jeunes, / …/ Celle qui s’croit au Texas, celle qui à peur de nos bandes, / Celle qui vénère Sarko, intolérante et gênante. / …/ Non, ma France à moi c’est pas la leur qui fête le Beaujolais, / Et qui prétend s’être fait baisé par l’arrivée des immigrés, / Celle qui pue le racisme mais qui fait semblant d’être ouverte, / …/ Es geht also um gängige Vorurteile gegen Menschen, vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich wie alle Franzosen als Staatsbürger fühlen und für ihre Werte kämpfen. Dabei werden gleichzeitig stereotype Merkmale des „typischen Franzosen“ eingesetzt, die die bourgeoise Mittelschicht als konservativ und rassistisch erscheinen lässt. Die vom Sprecher propagierte Sichtweise wird anschließend durch eine politisch-ethische Motivation gestützt. Bei diesen Werten handelt es sich, wie Dietmar Hüser (2004) unter Berücksichtigung zahlreicher Interviews und Raptexte zeigt, um die in Frankreich seit der Revolution verklärten republikanischen Werte, deren Verwirklichung in vielen Songs hinterfragt und kommentiert wird. Erst im letzten Refrain wird schließlich der fiktive Gesprächspartner manifest, zunächst in Form eines anonymen, aber vereinnahmenden ‚on‘, dann erst wird ‚la jeunesse‘ mit einem Appell direkt angesprochen: Non, c’est pas ma France à moi, cette France profonde / Alors peut être qu'on dérange mais nos valeurs vaincront / Et si on est des citoyens, alors aux armes la jeunesse, / Ma France à moi leur tiendra tête, jusqu’à ce qu’ils nous respectent. Der Song nutzt also den inszenierten Kontrast der sowohl der Sprecherin als auch dem fiktiven Dialogpartner bekannten Darstellung zweier gesellschaftli- Dialogizität im Rap 213 cher Lebensräume und Lebenswirklichkeiten einerseits, um dem positiv inszenierten Bild vorstädtischen Lebensalltags Nachdruck zu verleihen. Dazu wird seinerseits ein mit Stereotypisierung durchsetztes imaginatives Bild der bürgerlichen Lebenswirklichkeit eines konservativen Frankreichs entworfen, um schließlich einen politischen und moralischen Anspruch auf den von der Sprecherin als ihr Frankreich dargestellten Lebensraum zu erheben. Indem die 1. Person Singular vermieden wird, tritt die Ich-Erzählerin in den Hintergrund. Ihre Vision von Frankreich wird auktorial erzählt, daher kann sie sachlicher erscheinen. Anderseits wird nebenbei ein solidarisierendes ‚on‘ und ein appellatives ‚ihr‘ erzeugt, das nicht nur den Anspruch auf Authentizität des Gesagten verstärkt, sondern auch auf Rechtmäßigkeit des beschriebenen Lebensraumes. Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Situation können Songs dieser Art auch als verbale Reaktion auf einen gescheiterten Dialog zweier seinsautonomer Gesellschaftsgruppen gesehen werden; als dialogische Monologe einer marginalisierten und ungehörten Gesellschaftsgruppe, die sich ihres Lebensraums, ihrer Ansprüche und Rechte sprachlichimaginativ zumindest zu versichern versucht. 9 Autobiographie und Authentizität - Sehen und Zeigen In der Dialogizität angelegt ist nicht nur die Darstellung der eigenen Wahrnehmung und Wertung, sondern auch das Aufzeigen ihrer Berechtigung. Dem fiktiven Gesprächspartner muss etwas im gemeinsamen Wahrnehmungshorizont vor Augen geführt werden, damit er die Sichtweise und/ oder Bewertung des Dargestellten überhaupt nachvollziehen kann. Im Rap geschieht dies häufig durch die Verknüpfung des Erzählten mit der (fiktiv) persönlichen Lebensgeschichte. Ob es sich dabei tatsächlich um Erfahrungen handelt, die der Sprecher selbst erlebt hat, spielt letztlich keine Rolle, denn innerhalb der narrational actual world geht es um Diskursqualitäten. Im Rap erhöhen autobiographisch dargestellte Schilderungen die Glaubwürdigkeit einer Ich-Erzählung und stützen damit auch die Identität der textexternen Erzählenden, also der Rapperin oder des Rappers. Daher kann die Darstellung autobiographischer Erfahrungen im Rap in der erzählerischen und poetischen Ausgestaltung auch mit fiktionalen Elementen angereichert werden, um sie für Mitstreiter oder Betroffene, also die fiktiven Adressaten, kompatibel zu machen. Um ihn von der eigenen Sichtweise zu überzeugen, muss dem fiktiven Dialogpartner diese jedoch v. a. gezeigt werden. Dies erfolgt in der den world-reflecting utterances zugeordneten Ich-Erzählung häufig über die Deixis am Phantasma (Bühler 1934: 123), die anhand von (zumindest als solche ausgegebenen) autobiographischen Details authentifiziert wird. Das soll an einem Text der in Marseille lebenden, 1983 von algerischen Eltern geborenen Rapperin Keny Arkana dargelegt werden. Arkana wuchs in den Vorstädten der Hafenstadt auf und begann im Alter von zwölf Jahren zu rappen. Erklärtes Ziel der Aktivistin, Kapitalismus- und Globalisierungsgegnerin ist es, die Jugend über gesellschaftliche und politi- Eva Kimminich 214 sche Missstände aufzuklären und sie für Unrecht und Korruption zu sensibilisieren. Auch sie stützt sich wie Conscious-Rapper im Allgemeinen auf ethische Kategorien, was ihrer Kritik Authentizität und ihren Forderungen Berechtigung und Nachdruck verleihen soll. Rap ist für sie nur Mittel zum Zweck, nämlich Ausdruck politischen und sozialen Engagements: „[J]e suis une anonyme dans la masse avec un haut-parleur. C’est comme ça que je me vois “ (Cachin 2006). Ihre oft explizit an „die Jugend“ gerichteten Songs (z. B. Jeunesse de l’occident“ (L’esquisse 2005) oder „Jeunesse du monde“ (Entre Ciment et la belle Etoile 2006) kritisieren Globalisierung und Kapitalismus und rufen zu Solidarität und gemeinsamem Kampf auf. Die Strategie des Zeigens wird beispielsweise in ihrem Song „Venez Voir“ (L’Esquisse 2005) eingesetzt. Die imaginierten Dialogpartner werden aufgefordert, das zu sehen, was die Sprecherin gesehen hat. Nach einer Einleitung, die auf das Alter der Sprecherin und ihr eigenes Lebensumfeld verweist, wird durch fiktionale autobiographische Referenz ein Zeigfeld (im Sinne Bühlers) erzeugt, das die Sprecherin anhand der anaphorischen Wiederholung „j’ai vu“ entstehen lässt. 16 Durch die Dichte der anschaulichen Beispiele wird das, was ihre noch junge Erinnerung belastet, auch für den Hörer zumindest imaginativ einsehbar und ihre Schlussfolgerung aus dem Gesehenen, dass die Welt verquer und blutdürstig sei, nachvollziehbar: A peine la vingtaine et ma mémoire est pleine à craquer / De trucs de barge que j’ai vu malgré moi et qui m'ont marqué / Ayant grandi là où tout jeune ça s’tranche les veines / …/ J’ai vu des juges injustes et des éducateurs violents / J’ai vu ce gosse de foyer, le crâne ouvert, tapé par des flics / J’ai vu ce proff pleurer sa mère frappée par des p’tits / J’ai vu la ville courir dans tous les sens, chargée par un troupeau de CRS / J’ai vu ces jeunes à terre se faire matraquer la tête! / J’ai vu ces mafieux régler leurs comptes à coup de fusil à pompe / …/ J’ai vu la justice se tromper, enfermer des innocents / J’ai vu trop tôt que ce monde était tordu et qu’il aimait trop le sang … Diese zahlreichen als selbst gesehen präsentierten Wirklichkeitsfragmente legitimieren die Erkenntnis der Sprecherin, sodass sie im Refrain der imaginierten Replik des fiktiven Dialogpartners, „mesdames et messieurs“, mit der Aufforderung widerspricht, seine Scheuklappen abzunehmen und die schockierenden Bilder sowie den Wahnsinn einer als verdrängt oder ausgeblendet erscheinenden Lebensrealität wahrzunehmen: Ne me dites pas que ce monde est droit, mesdames et messieurs / Venez voir là où la réalité veut nous crever les yeux / J’ai vu trop jeune ces fragments 16 Diese Strategie manifestiert sich in Rapsong in einer auffallenden Frequenz von Verben des Sehens und Hörens: ‚voir‘, ‚regarder‘, ‚mâter‘ (vornehmlich in der 1. und 2. Person Singular, letzteres meist im Imperativ), ‚entendre‘ und ‚écouter‘ bzw. der Substantive ‚oeil‘, ‚yeux‘ und ‚oreilles‘. Mit ihnen werden Authentizität und Anspruch auf Wahrhaftigkeit des Erzählten versichert, wie beispielsweise in einem Lyric der Gruppe 2 Bal 2 Neg’ mit dem resümierenden Titel „Ma vision des choses“ (3 X Plus Efficace 1996). Diese Vision wird dem Adressaten vermittelt, indem er dazu aufgefordert wird, mit den Augen der Erzählerinstanz zu sehen. Dialogizität im Rap 215 néfastes, grâce à Dieu / J’ai oublié le pire mais trop d'images ne s'effacent pas! ... / Ne me dites pas que ce monde est droit / A moins de faire preuve de mauvaise foi / Son « beau reflet » c’est d’ici qu’on le voit / Donc venez voir la folie que ce monde engendre / Et veuillez enlever vos oeillères, attention aux images choquantes! ... Die Deixis am Phantasma wird hier über einen Rückbezug auf eine autobiographisch abgesicherte Authentizität erzeugt. Der fiktive Dialogpartner wird mit Wirklichkeitsfragmenten einer Lebenswelt konfrontiert, die er nicht oder aus anderer Perspektive kennt. Fassen wir zusammen: Anhand einer narrational actual world wird im Rapsong ein Modalsystem aufgebaut, das verschiedene Geschichten, Wahrnehmungen, Sichtweisen sowie ihre jeweiligen Bezüge zu actual und possible worlds gegeneinander ausspielt. Ihre Glaubwürdigkeit und ihr Wahrheitswert werden über externe wie interne Fokalisierungssubjekte und die insbesondere auf Perzeption basierenden Fokalisierungsvorgänge hergestellt, was die hereand-nowness des fokalisierenden Subjekts in der textual actual world beweist. So wird nicht nur ein fiktionaler, über mentale Konstruktion erzeugter virtueller, sondern auch ein Handlungsspielraum, ein third space, eröffnet. Er wird über die rhythmisch-prosodische Subjektivierung der Rede realisiert, die die sinnlichen Wahrnehmungen der ekphrastischen Darstellung des Sprechers innerhalb der narrational actual world auch für den seinsautonomen Dialogpartner als verlässliche Vorlage des Abgleichs mit anderen Sichtweisen erscheinen lässt. Dialogizität im Rap ist insofern als ein Herstellen und Nutzen eines Zwischenzeitraums zu verstehen. Er entspricht der realen Zeit des Raps, in der Sprechen zum Handeln wird. Literatur: Agamben, Giorgio 2006: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Bachtin, Michail M. 1979: „Das Wort im Roman“, in: id.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. und eingel. v. Rainer Grübel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 154-300 Belhadj, Marnia 2004: „Das republikanische Integrationsmodell auf dem Prüfstand“, in: Bizeul, Yves (ed.): Integration von Migranten. 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Kaya Yanar erreichte bereits vor mehr als zehn Jahren mit seiner Show „Was guckst Du! “ (Sat 1) ein fernsehendes Massenpublikum. In den achtziger Jahren hatte das Kabarett „Knobi-Bonbon“ schon politisch kritischere Töne im Bezug auf die deutsche Integrationspolitik angeschlagen. Heute sind die Gattungen „Ethno-Comedy“ und Kabarett mit Migrationsthemen erheblich diversifiziert (cf. Kotthoff 2013). Während Bülent Ceylan vor 40 000 Menschen in der Frankfurter Commerzbankarena auftritt und sein Bühnenego in der Selbstbewitzelung als „kleinen Türk“ bezeichnet, schlagen Django Asül und Serdar Somuncu kritischere Töne zu verschiedenen politischen Themen der Bundesrepublik an (nicht nur dem der Einwanderung). Uns interessiert hier der Hypertypus des bildungsfernen, jungen, männlichen Migranten, wie er etwa von Kaya Yanar mit der Figur des „Hakan“ verkörpert wird und von Bülent Ceylan als „Hassan“. Neben die Radio-, Bühnen- und Fernseh-Komik, die von der linguistischen Medienforschung beachtet wurde (stellvertretend sei Hess-Lüttich 2000 genannt), ist in den letzten Jahren die des Internets getreten. Tedros Teclebrhan beispielsweise erfreut mit seiner Figur des Antoine eine wachsende, überwiegend junge Internetfangemeinschaft. Der Unterschied zu den oben Genannten liegt - neben dem Medium des Internets - vor allem darin, dass er die Kontextualisierung der migrantisch aufgemachten Figur in einem Komikrahmen im Unklaren lässt (cf. Kotthoff/ Jashari/ Klingenberg 2013: 20) 1 . Neben Teclebrhans Sketchen und Figuren selbst wollen wir in diesem Aufsatz auch diskutieren, wie jugendliche Rezipient(inn)en diese im Internet kommentieren und wie sie ihren Umgang mit der Internetkomik in ihrem Alltag bekunden. In der Kommunikationskultur von Jugendlichen spielt das 1 Darja Klingenberg hat die Autorinnengruppe auf den Komiker aufmerksam gemacht und in dem Buch den Teil über Teclebrhan verfasst. Helga Kotthoff & Daniel Stehle 218 Internet eine große Rolle (cf. Leister/ Röhle 2011; Brommer/ Dürscheid 2012). Die Kommentare zu Ethno-Comedy-Videos auf youtube.com und facebook.com nutzen wir für einen Zugriff auf die methodisch schwierig zu rekonstruierende Rezeption von Komik, die sich meist darauf beschränkt hat, im Labor bei Komikdarbietungen Lachstärken verschiedener Populationen zu vergleichen (cf. auch Cantor 1976; Bussemer 2003). 2 Hypertypisierung und „doing culture“ Im Folgenden werden zuerst einige Konzepte umrissen, die für eine sozialkonstruktivistische Herangehensweise an die Gattung Ethno-Comedy von Nutzen sind. Mit Berger und Luckmann (1969) sehen wir Typisierung als einen generellen Prozess der Wissenskonstruktion an. Jedes Verstehen muss Typisches erfassen und von Sonderformen absehen können. Jede Kategorienbildung fußt auf der Erfassung des Typischen, wie es auch von der Prototypensemantik gezeigt wird. Der Volkskundler Bausinger unterscheidet kaum zwischen Typisierung und Stereotypisierung und verteidigt auch Stereotypisierungsprozesse als unumgänglich. Letzterer sei die Reduzierung eigen, „[...] ein wichtiges Instrument der Erkenntnis, der Orientierung - und sie ist so fest in der Sprache angelegt, dass sie schon deshalb nicht vermeidbar ist“ (Bausinger 2000: 17). In interkulturellen Situationen vereinfachen und erschweren Stereotypisierungen aber die Konfrontation mit Fremdem. „Die Typisierung ist ein Moment der Entlastung - sie vermittelt das Gefühl, man habe das Fremde verstanden, obwohl man ihm in vielen Fällen nur einen Namen verpasst hat“ (Bausinger 2000: 25). In den Sozialwissenschaften bezeichnet der Begriff „Stereotyp“ in der Regel eine vereinfachende, generalisierende Reduzierung einer Vorstellung auf ein verfestigtes Muster und ein bewertendes Urteil. Ein Individuum lernt Stereotype als Ausdruck der öffentlichen Meinung eines Milieus, unabhängig von seiner persönlichen Erfahrung. Ein Stereotypus ist partiell tatsachenwidrig (Ewen/ Ewen 2009) und basiert auf Klischeevorstellungen. Hess-Lüttich (2003: 5) führt verschiedene Fernsehsendungen an, die Klischeevorstellungen von „den Ausländern“ verbreiten und/ oder unterlaufen. Witz, Karikatur und Comedy machen sich Prozesse der Stereotypisierung zu Nutze, indem sie gezielt überspitzen, bestimmte Züge von Figuren und Situationen überstilisieren und somit zum Hypertypus machen (ein durchschaubarer Stereotypus). Ein möglicher Diskriminierungseffekt wohnt dem zwar inne (beispielsweise dem von Ceylan aufgeführten Hypertypus des „Türkebub“, cf. Haberl 2013), kann aber genau mit der Absicht des Durchschaut-Werden-Wollens dargeboten werden, wie es Ethno-Komiker für ihre Figuren der bildungsfernen jungen Männer behaupten: Gelacht werde nunmehr weniger über ‚die Anderen‘, als vielmehr über das Stereotyp in uns selbst bzw. in unserem Verhalten und unserem Denken, fasst Koch (2008: 212) die Absichten der Ethno-Comedy zusammen. „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 219 Das Gelingen dieses Potentials transkultureller Comedy, starre Klischees aufzuweichen, hängt aber von vielen Faktoren ab, z. B. davon, wie die Comedians ihre Performance gestalten, von der Figurenauswahl, den Konstellationen und der Gestaltung der Figuren im Bezug auf Sympathiewerte. Es ist überhaupt nicht garantiert. Während wir im Alltag mit Typen und Stereotypen operieren, die die Kommunikation ermöglichen und/ oder erleichtern können und sich in bestimmten Kontexten als unzulässig vereinfacht und diskriminierend erweisen, haftet dem Hypertypus zunächst das Moment der bemerkbaren Überstilisierung an (cf. Kotthoff 2009: 1). Oft geht mit dem Hypertypus ein Erheiterungseffekt einher, weil parodistisches Überzeichnen das von Bergson (1900) dem Humor zugeschriebene Moment der „Mechanisierung des Lebendigen“ besitzt. Man muss allerdings in der Rezeption die Hyperstilisierung nicht bemerken, da sie immer auf Wissen und Haltung basiert, die in der Rezeption aktiviert werden. Für die Analyse von transkultureller Komik bietet sich generell eine handlungstheoretische Vorgehensweise an, wie sie u. a. Straub (2006), Hess-Lüttich et al. (2009) und Günthner (2013) vorschlagen. Diese soll ermöglichen, „die wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung auf jene Aspekte der Sinn- und Bedeutungsstruktur unseres Handelns, seiner Voraussetzungen, Ergebnisse und Folgen zu konzentrieren, die kulturell (mit-)konstituiert sind“ (Straub 2006: 15). Die hier vertretene Sicht auf Kultur im Sinne eines „doing culture“ geht von sozialer Praxis aus, in der kulturelles Wissen hergestellt, aktualisiert und verändert wird. Kultur dient einerseits als gegebenes Symbolsystem und Orientierungsmuster, auf welches sich Personen beziehen (cf. Hess-Lüttich et al. 2009); die Kontexte von Sprachhandlungen sind somit einerseits kulturell geprägt (S. 15). Andrerseits werden sie praktisch vollzogen (cf. Hörning/ Reuter 2004: 15), was als „doing culture“ fassbar ist (cf. Kotthoff 2004: 4). Transkulturelle Comedy setzt Zugehörigkeit relevant, spielt mit kulturellen Wissensbeständen und Wertungen, rückt die Relevanz von Kulturalität in den Vordergrund der Interaktion; mit Überzeichnungsverfahren eines „overdoing culture“ können kulturelle Wissensbestände komisch in Szene gesetzt werden. 3 Sketch-Komik und ihre Lesarten Tedros Teclebrhans (alias „Teddy“) Produkte lassen sich am treffendsten als Sketche bezeichnen. Dabei treten Darsteller in eine thematisch gebundene Szene und agieren in einer Performance vor einem Publikum mit Körper und Stimme. Sketche können auf eine oder mehrere Pointen hinauslaufen oder von Typen- und Situationskomisierung leben. Zentrale Elemente der Sketchperformance sind hypertypisierte Zeichnungen der Figuren und der lebensweltlichen Ausschnitte, darunter Überzeichnungsverfahren der Sprechstile der Figuren (cf. Kotthoff 2004: 6). Diese werden auch über stereotype Details evo- Helga Kotthoff & Daniel Stehle 220 ziert, die die Semiotik der Szene prägen. Handy, Jogginghose, Körpergestaltung, Sprech- und Bewegungsstil werden im Fall von Teclebrhans Migrantenfigur zu sprechenden Identitätsanzeigen, die sich gegenseitig zum Hypertypus aufschaukeln. Der Grad der Typisierung ist viel höher als beispielsweise in Spielfilmen, denn die Szenen müssen aus sich heraus ohne weitere Einleitung und Erklärung verständlich sein. Alle Details sind wie im Witz als Kontextualisierungsverfahren vielsagend (cf. Kotthoff 1998). Sie tragen zur Mikro- Ökologie der Szene bei. Wie in der Ethnomethodologie üblich wird der Text in seiner methodischen Hergestelltheit rekonstruiert. Wir reden keinem entgrenzten Textbegriff das Wort, sondern sehen den Text als sozial situiertes Phänomen (cf. Wolff 2006: 256), für den eine bestimmte Einbettung in ein Handlungsfeld (das Internet) organisiert wurde. Im Internet kann der Text kommentiert werden, was ihn also anreichert und mit Verstehenshinweisen weiter ausstattet. Rezipienten erwarten in den Medien sowieso einigermaßen „offene,“ interpretationsbedürftige Texte. Wolff (2006: 259) greift auf Eco 1992 zurück, um zu verdeutlichen, dass ein Autor interpretative Rätsel in seinen Text so integriert, dass sie ein kompetenter Leser der angezielten interpretativen Gemeinschaft in erwartbarer Weise auflösen wird. Teclebrhans Interview zielt auf unterschiedliche interpretative Gemeinschaften. Einige will er hinters Licht führen, damit andere sich genau darüber echauffieren können. 3.1. Tedros Teclebrhans youtube-Hit Am 8. Mai 2001 stellt Tedros Teclebrhan alias „Teddy“ ein Video auf die Internetplattform youtube und wird damit über Nacht zum gefeierten Internetstar. Seine „Umfrage zum Integrationstest (was nicht gesendet wurde)“ wird in kurzer Zeit zum youtube-Hit, zählt bis heute beinahe 23 Millionen Aufrufe und wurde mehr als 50 000 Mal kommentiert (Stand: Februar 2014). Sie zeigt „Antoine“, einen dunkelhäutigen Mann mit weißem Muskelshirt und Oberlippenbart, der auf der Straße von einem Reporter gebeten wird, Fragen zum Integrationstest zu beantworten. Antoine hält „Angelo Merte“ für den amtierenden Bundeskanzler, Hitler für dessen Vorgänger, Luxemburg für die Hauptstadt von Deutschland und sich selbst für integriert, weil er Bier trinkt und seine Frau nicht mehr schlägt. Dabei zeichnete Teclebrhan seine Figur „Antoine“ scheinbar so gut, dass viele das Video anfangs für echt hielten. Reaktionen im Internet reichen von „Exekution“ bis „Oskarnominierung“. Das Video polarisierte in Wahrnehmung und Bewertung. „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 221 Titel: „Umfrage zum Integrationstest (was nicht gesendet wurde)“ Untertitel: „Das ist Deutschland! “ Protagonist: Tedros Teclebrhan, Reporter: Adrian Draschoff Hochgeladen am: 08.05.2011 Quelle: http: / / www.youtube.com/ watch? v=vcAN-Efb57I [Februar 2014] Szene am Anfang Re: Reporter, An: Antoine 2 01 Re: [tschuldiGUNG? TSCHULdigung, 02 kann ich SIE mal kurz was fragen? 03 An: [((telefoniert)) 04 (ins Telefon) WARte. ich bin FERNsehen. 05 WART mal. da isch FERNsehen. WART kurz. WARte. 06 An: (zum Reporter, Telefon am Ohr) ja HEY, 07 Re: HAY; 08 wir haben hier n paar FRAgen zum [integratiONStest; äh 09 An: [ja ja JA. 10 Re: dürfen wir die [kurz STELlen, 11 An: [zu WAS? 12 Re: integratiONStest; 13 An: tse-ts JAja: (-) klar. klar; 14 An: (ins Telefon) WARte kurz; eh? 15 Re: sind so n PAAR ganz allgemeine fragen; 16 ganz EINfach. ähm. (-) 17 ERSte wär zum beispiel. 18 WER ist deutschlands bundeskanzler? 19 An: (.hh) de wa: r (.hh) des isch de: r; (-) 20 (ins Telefon) boah sei RUHig. WARte, (-) 21 ahh (-) irgendwas ANgelo; (-) 22 Angelo MER- MErte; (-) 23 Angelo MERte. 24 Re: ja ist FAST korrekt; 25 nja wir versuchens mal WEIter; ähm 2 Die Transkriptionskonventionen richten sich an GAT 2 aus. Helga Kotthoff & Daniel Stehle 222 26 An: oKE: . 27 Re WER war denn? Äh= 28 =Angela MERkel wär RICHtig gewesen [übrigens. 29 An: [Angela Merkel? 30 Re: [ja ah (-) ja de-jetzt (.h)hehe] 31 An: [kann ich den FRAgen; 32 (ins Telefon) wer isch]ddeder DING? 33 von dededer KÖNig von deutschland; (2,0) 34 ja (-) der sagt auch ANgelo; 35 ANgelo ja(h)ja(h) ja der isch GEIL hehehe; 36 der isch bruTAL eh (.h). Antoine will sich für das Interview von seinem Gespräch über das Mobiltelefon nicht lösen. Er kann Bundeskanzler(in) und König nicht auseinanderhalten und gibt laufend Indexe von Bildungsmangel von sich, die jenseits von Normalerwartungen liegen (der Name der Bundeskanzlerin ist ihm neu). Szene 2 50 An: was labert der für SCHEIße ey; 51 was ädu ka- 52 (zu nicht sichtbarem Passanten) entSCHULdigun (-) 53 kannsch dukannsch du mir HELfen für den frage; 54 nee vonder sagt mir dass ein MAUer in deutschland 55 gefallt isch; 56 was fürn MAUer ey; (--) 56 STIMMT net; (-) nein nein nein. 57 ich hab keine AHnung ey; 58 hör auf mich zu verARschen; 59 hör auf mich zu verARschen alter. 60 du hasch mich blaMIERT vor der frau hey.(-) 61 keine ahnung was fürn MAUer alter. Antoine verwendet den Formelschatz der Gosse (Scheiße labern). Er redet in Anwesenheit des Reporters schlecht über ihn (50). Dann greift er den Reporter im Gossenjargon an (58, 59). Auch sein Nichtwissen um den Mauerfall liegt völlig jenseits von Normalerwartungen. „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 223 3.2 Sprachliche Merkmale Obwohl er bei der Umfrage vor laufender Kamera gesiezt wird, redet er nicht nur den Reporter mit „du“ an, sondern auch andere Passanten (53); er scheint nicht anderes zu können. Er kann sich in Distanzbeziehungen nicht benehmen. Antoine kennt keine Höflichkeitsformen, wird zeitweise sogar aggressiv (hör auf mich zu verarschen), wie das Stereotyp des männlichen Secondos es will (50, 58, 59). Die Ehre ist ihm wichtig (60), vor allem vor Frauen (was erneut ein Stereotyp bestätigt). Er kennt nur die Umgangsformen der Straße, der Clique und die eines bizarren Ehrkodexes. Der Protagonist Antoine ist mit einigen sprachlichen Merkmale des „Kiezdeutschen“ ausgestattet, eines vor allem von Jugendlichen verwendeten Soziolekts, der sich an den Ethnolekt der eingewanderten Generation der Arbeitsmigranten anlehnt, welche nur über eingeschränkte Deutschkompetenz verfügten (cf. Wiese 2012, Simsek 2012, Kotthoff 2013). Einige Phänomene dieses „Kiezdeutschen“(auch in Anlehung an Feridun Zaimoglu „Kanak Sprak“ genannt) sollen im Folgenden kurz genannt werden: - Falsche Genera: den frage (53), ein mauer (54) - Falsche Partizipien: gefallt (55) - Präpositonen fehlen oder sind falsch: ich bin fernsehen (4), kannst du mir helfen für den frage (53), nächschte mal (197) - Besondere Diskursmarker: alter (59), ey (50, 57, 170, 185, 186)‚ boah (20, 104, 192, nicht im Art. wiedergegeben) - Falsche Kollokationen: ich sag alle fragen grad richtig ey (107, nicht im Art. wiedergegeben) - Falsche Possessivkonstruktionen: wen sein frau von brad pitt (nicht im Artikel wiedergegeben) Der mediale Ethnolekt entspricht nicht dem in der Alltagswelt angetroffenen (cf. Androutsopoulos 2007); auch Teclebrhan hält z. B. Kodewechsel ins Türkische oder eine andere Migrantensprache aus dem Slang seines Antoine heraus (wie alle anderen Ethno-Komiker, cf. Kotthoff 2013). Allerdings wird er über schwäbelnde Anteile und allgemein-jugendsprachliche Phänomene wie die Interjektion „ey“ authentisiert. Er verwendet häufig den stimmlosen, postalveolaren Frikativ, wo Silben im Hochdeutschen auf „st“ enden: „isch“, „kannsch“, „willsch“, allerdings auch da, wo sie im Schwäbischen nicht üblich sind, wie in dem im Titel des Aufsatzes zitierten Ausdruck „wasch“. Der Protagonist bleibt durchgängig bei einem kumpelhaften und schlichten Stil, zu dem auch asyndetische Satzverbindungen gehören: „isch normal, ich schlag mein frau“ (nicht im Artikel wiedergegeben). Er wird als Ghetto- Jugendlicher entworfen, der nur über eingeschränkte Registerkenntnisse verfügt, sich auf „Kanak Sprak“ und sonstige Jugendsprachen kapriziert hat und im schwäbischen Raum seine sprachliche Akkulturation erlebt hat. Helga Kotthoff & Daniel Stehle 224 3.3. Protagonistengestaltung Im Sketch ist die Figurenstilisierung ein Frühwarnsystem ihrer Identität. Ein dunkelhäutiger, glatzköpfiger, junger Mann läuft mit federndem Schritt auf die Kamera zu, in der einen Hand eine Einkaufstüte mit der Aufschrift „New Yorker“, in der anderen Hand sein Smartphone am Ohr. Er trägt eine Camouflage-Jogginghose, weiße Turnschuhe, weißes Feinrippunterhemd und eine große Uhr am linken Handgelenk. Schnell wird klar, mit wem man es hier zu tun hat: Es wird das Bild des bildungsfernen Proleten mit Mitgrationshintergrund (dunkelhäutig) überstilisiert, der Freizeitkleidung präferiert (Jogginghose) und Geschäften nachgeht (Telefon am Ohr) und einem bestimmten Männlichkeitsideal nacheifert (durchtrainierter, im Unterhemd zur Schau gestellter Körper, Glatze). Der blondierte Oberlippenbart der Figur ist multivokal; er kann auf das Haarefärben als für Männer neues Modephänomen verweisen. Man kann ihn auch als Persiflage auf Integrationsbemühungen (blonder Oberlippenbart als typisch deutsche Erscheinung) oder als Zeichen von Disharmonie deuten (dunkles Kopfhaar, blondes Barthaar). Nichtsprachliche Zeichen der Körpersemiotik laden zu vielschichtigen Lesarten ein. Die Gestik der ausladenden Bewegungen und der Art, sich das Mobiltelefon schräg unter das Kinn zu halten, die an den Umgang mit einem Funkgerät erinnert, wirkt exzentrisch. Auch die Mimik, der skeptische Blick bezüglich der Fragen, die Angestrengtheit beim gemeinsam am Telefon mit dem Kumpel ausgetragenen Überlegen der Antworten, die naive Freude und der enthusiastische Ausdruck über die scheinbar richtigen Trivialantworten wirken kindlich. Und dennoch ist die Überzeichnung der Gesamtsituation und des Typus nicht so klar gerahmt wie in einer Comedy, die bereits als Genre eingeführt wird. Der Titel des Videos benennt nur dessen Inhalt: eine “Umfrage zum Integrationstest”. Bei den meisten Zuschauern dürfte damit die Rezeption des Videos in Richtung Ernst gelenkt werden. Straßenumfragen tauchen in der heutigen Medienlandschaft zahlreich auf. Dabei wird mit dem Genre oft auch in wöchentlichen Comedysendungen vom Typ „Freitag Nacht News“ des Fernsehsenders RTL gespielt (cf. Keppler 2006). Beispielsweise wird den Umfrageteilnehmern die falsche und komisch wirkende Antwort durch geschicktes Fragen quasi in den Mund gelegt. Aber auch seriöse Umfragen zu aktuellen gesellschaftlichen Themen erfreuen sich großer Beliebtheit. Nicht selten jedoch bergen auch diese ernstgemeinten Umfragen ein gewisses Komikpotential in sich, wenn Teilnehmer ihr kurioses Wissen und Verhalten preisgeben. Die vorliegende Umfrage setzt Wissen um diese Mediengattung voraus. Ein Reporter spricht einen Passanten auf der Straße an, mit der Bitte, diesem Fragen zum Integrationstest stellen zu dürfen. Das Schema gleicht der klassischen Straßenumfrage zu aktuellen gesellschaftliche Themen. Die Fragen des Reporters stammen aus dem Einbürgerungstest, der im Jahr 2006 zu heftigen politischen Debatten geführt hat und schließlich im Jahr 2008 mit einer bundeseinheitlichen Regelung eingeführt wurde. Je nach Textwissen können unterschiedliche Prätexte erfasst werden, wie der des Integrationstests, der der Straßenumfragen und der der Comedy-Figur des einfach gestrickten Mi- „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 225 granten. Die Parodie funktioniert auf mehreren Ebenen gleichzeitig über Anspielung (cf. Müller 1994). Der sich entwickelnde Dialog folgt einem Frage-Antwort-Schema, das für Umfragen typisch ist. Es wird ein Skript aufgebaut, welches zwar nicht wie beim Witz auf eine Schlusspointe hinausläuft, jedoch von mehreren kleinen Pointen lebt. Spätestens die absurde Antwort auf die erste Frage nach dem Bundeskanzler von Deutschland kontextualisiert die Erwartung auf weitere absurde Antworten. Zusammen mit der äußeren Gestaltung des Protagonisten und dessen spezifischer Sprechweise wird das Bild des bildungsfernen Migranten plastisch; die Spannungserwartung im Bezug auf weitere seltsame Reaktionen bezüglich der Integrationsfragen steigt. Am Schluss bekennt sich Antoine auch noch zum Integrationstest; gleichzeitig wird deutlich, dass er gar nicht verstanden hat, was das genau ist und das Wort kaum aussprechen kann (176, 178). Er gibt Allgemeinplätze von sich („isch immer gut“) und begeistert sich für die teure Kamera. Szene 3 (Schluss) 167 Re: FINden sie denn dass de- 168 der integrationstest SINN macht; 169 SOLte man den einführen? 170 An: haja SUper ey: : . 171 du musch IMmer gucken, 172 dass du in DEUTSCHland wo du LEBSCH, 173 respektier dein LAND weisch, 174 respektier den MENSCH, 175 und TESCHT, (--) 176 wie HEISST des wort da; 177 Re: integratiON, 178 An: inte(gr)atiON. 179 des isch IMmer gut weisch. (-) 180 tss isch immer GUT wenn du weisch woHIN, 181 wenn du wenn ic- GU(ck)mal, 182 wenn ich nicht WEISS dass hier ein ein geRÄT isch, 183 dann lauf ich daGEgen; 184 wenn ich weiß ich muss vorBEI, 185 dann geh isch vorBEI ey: . 186 (ins Telefon) was LAbert der ey. boah: . 187 aber GEIle kamera ha? Helga Kotthoff & Daniel Stehle 226 188 die isch TEUer ha? 189 die isch TEUer gell? 190 Re: jaja. is ganz (? ? ) 191 An: jajA. 192 boah ey ich muss GEHN,= 193 =ich muss den ANrufen ey. 194 Re: alles KLAr; [vielen DANK; ] 195 An: [(? alles klar? )] 196 kein DING ey: , 197 nächschte mal wenn du mich siesch NOCHmal ne, 199 haha bye: ; „Was labert der, ey“ gesprochen zu dem Kumpel am Handy, aber im Angesicht des Reporters, wurde inzwischen zu einer jugendsprachlichen Zitatformel, die auch in Studentenzirkeln verbreitet ist. 3.4 Die vielen Gesichter von Tedros Teclebrhan Tedros Teclebrhan ist mit seinem Video „Umfrage zum Integrationstest“ zum gefeierten youtube-Star anvanciert. Ihm gelingt das Spiel mit einer etablierten Komikfigur. Seine spezifische Redeweise sowie die Mischung aus Kiezsprache und Schwäbisch mit dem geringen Höflichkeitsspektrum verleihen der Figur einen hohen Typisierungswert. Kleidung und Accessoires bedienen das Klischeebild des bildungsfernen Migranten, der blondierte Oberlippenbart tritt vor dem Hintergrund der dunklen Hautfarbe als hergestellte Besonderheit hervor. Das fortgesetzte Handy-Gespräch bedient das Stereotyp des Jugendlichen, der von diesem Gerät nicht loskommt. Er kann aus dem dauernden Kontakt mit seinen Cliquenmitgliedern nicht heraustreten. Mimik und Gestik unterstreichen den unbedarften Charakter der Figur, die trotzdem auf viele sympathisch wirkt. Mehrere semiotische Ebenen wollen hier beachtet werden (cf. Hess-Lüttich 2003). 3. 5 Die Vagkeit des Komischen Die ZuschauerInnen müssen entscheiden, ob das Ganze ist, wofür es sich ausgibt, oder eine Art von Comedy darstellt. Das Video gibt Hinweise in beide Richtungen und beutet diese Spannung aus. Anders als beispielsweise bei Kaya Yanar, dessen Sketche schon im Programm als solche ausgewiesen sind und dessen Figuren als Kunstfiguren mit unterschiedlicher Realitätsanbindung gestaltet sind (cf. Kotthoff 2013), muss der Zuschauer hier genau hinsehen und seine Annahmen über die Welt in Anschlag bringen. Die Kon- „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 227 textualisierungshinweise in Richtung Spaß (absurde Antworten, öffentliche Bekenntnis, seine Frau zu schlagen usw.) sind zahlreich, aber man kann sie wegen der Rahmungsunsicherheit übersehen. Komisches wird anders verarbeitet als Alltägliches: Imagine you saw a dog looking at a newspaper and moving her head as if she were reading. You would be faced with a mild dilemma. On the one hand you would know from everything else you had experienced in life that dogs, no matter how clever, simply cannot do that, and you would reject that interpretation. Experiences like this have what I am calling a “pseudo-plausibility” (the dog looked as if she were reading the newspaper), while at the same time we know such interpretations to be absurd or incongruous, for they lie outside the range of everything else we know about the world. (Chafe 2007: 9) Chafe (2007: 9) führt verschiedene Humorforscher (z. B. Freud) an, die mit Konzepten wie „Pseudo-Plausibilität“ oder „local logic“ arbeiten, um zu klären, dass die Abweichung von der Realität nicht beliebig ist. Beim hier diskutierten Video spielt zunächst der zugeschriebene Echtheitswert die zentrale Rolle. Kann in Deutschland ein junger Migrant, der des Deutschen weitgehend mächtig ist, nicht wissen, dass Berlin die Hauptstadt ist und Angela Merkel die Kanzlerin? Insofern kehrt sich der Test um. Für wie dumm kann man eine Figur wie „Teddy“ halten? Die Frage nach Fiktion oder Nicht- Fiktion spielt in die von Plausibilität und Pseudo-Plausibilität hinein. Überzeichnung gilt als Kontextualisierung von Fiktion. Aber die Unterschiede zwischen Stereotypus und Hypertypus sind schmal; je nach Annahme über die Welt hält man den dummen Migranten für möglich oder für unmöglich. Je nachdem aktiviert man dann weitere Bedeutungsebenen, wie etwa die, der Sinn des Videos könne darin liegen, den Einbürgerungstest und die Rituale der Straßenumfragen zu ironisieren (so in Kotthoff/ Jashari/ Klingenberg 2013: 16ff.). Der Sketch könnte solche Rituale persiflieren. Die Komik des Sketches ist also viel komplexer als die des lesenden Hundes (Chafes Beispiel). Neben den vielen Prä- und Subtexten, die man aktivieren kann oder auch nicht, treten auch noch die Bewertungen: die der Figur Antoine (als Typus oder Hypertypus oder anders gesagt als Realität oder Persiflage), die der Umfrage (als Typus oder als Hypertypus) oder die des Integrationstests mit den beiden Lesarten der realen Repräsentation oder der komischen Überzeichnung. Auf sein erfolgreiches Internetvideo „Umfrage zum Integrationstest“ folgten weitere Videos auf youtube, in denen Teclebrhan auch in anderen Rollen zu sehen ist. Schließlich gewann er im September 2011 ein Internetvoting und war fortan mit „Teddys Show“ auf dem Sender ZDF.neo präsent. Herzstück der Sendung sind dabei sicherlich die zahlreichen Einspielfilme, in denen Teclebrhan in verschiedene Rollen schlüpft: Der Zuschauer stößt dabei auf „Lohan Cohen“, einen selbst ernannten Superstar aus den USA, den indisch angehauchten „Percy“, der scheinbar unter einem Vaterkomplex leidet, den bereits bekannten „Antoine Burtz“, der in der Show zumeist als Reporter auftritt und seine Frage dabei so ähnlich stellt, wie er im bereits betrachteten Beispiel Antworten gibt und schließlich „Ernst Riedler“, den überzeugten Helga Kotthoff & Daniel Stehle 228 Schwaben, der am Stammtisch seinen latenten Rassismus zum Besten gibt. Eine ähnliche Figuren findet sich z. B. bei Ceylans Hausmeister Mompfred. Migrantische Ghetto-Jungmänner können als mediale Comedy-Figuren von vielen Rezipienten aufgerufen werden. Kaya Yanar hat in „Was guckst Du? ! “ einen Hakan gegeben, einen prolligen Discoeinlasser. Bülent Ceylan mimt die Figur „Hassan,“ der oft „produzier misch net“ von sich gibt und durch Sprache und Inhalt als schlicht und aggressiv ausgewiesen wird. Die Kunstfigur „Tiger von Kreuzberg“, verkörpert durch Cemal Atakan (Drehbuchautor: Murat Ünal), weist noch mehr Gemeinsamkeiten zu „Antoine“ auf. Auch Atakan und Ünal verwenden hauptsächlich die Internetplattform youtube, um ihren „Tiger“ einem größeren Publikum bekannt zu machen. In zahlreichen Videoclips begegnet dem Zuschauer ein hypertypisierter Kiezprolet, der aus seinem Alltag in Kreuzberg erzählt (cf. Kotthoff 2009: 2013). Auch sprachlich liegen die beiden Figuren trotz einiger Unterschiede nahe beisammen: Tiger weist viele der Merkmale des berlinischen „Kiezdeutschen“ auf. Auch er kennt keine stilistische Variation und spricht sein Publikum und andere in den Sketchen auftretenden Figuren durchgehend mit „du“ an. Tiger verwendet allerdings andere Diskursmarker (sehr viel „kumma“) und lässt des Öfteren türkische Wörter in seine Sprache einfließen. Beide verbinden Kiezdeutsch mit dialektalen Elementen (hier Schwaben, dort Berlin). Das äußere Erscheinungsbild von „Tiger“ ähnelt dem von „Antoine“: Jogginghose, weiße Turnschuhe, Kapuzenpullover, Wollmütze und Lederjacke machen das Bild des Kiezproleten plastisch. „Tiger“ praktiziert laufend einen „bösen Blick“, während er von kleinkriminellen Machenschaften erzählt. Beide agieren auf der Straße. Weitere Videos (siehe http: / / www.youtube.com/ user/ TeddyComedy) zeigen Antoine auch meist auf der Straße, aber auch bei der Arbeit oder zu Hause. „Antoine“ richtet sich dabei immer an den Reporter aus dem bereits gesehenen Video, der ihn fortan in einem dokumentarischen Filmprojekt begleitet. „Tigers“ Aktionsraum ist immer die Straße; dabei spricht er direkt in die Kamera und damit zu den ZuschauerInnen und gibt ihnen Ratschläge zum Leben auf der Straße. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Teclebrhan mit „Antoine“ und Atakan/ Ünal mit „Tiger“ ähnliche Strategien verfolgen: Die Sketche funktionieren über ein ambivalentes Gesamtbild, das rund um die Figuren erzeugt wird. Sie werden mit Sachverhalten wie etwa dem Integrationstest oder schulischen Anforderungen konfrontiert, denen sie nicht genügen, die sie aber auch decouvrieren. Die Sketche erzielen ihre komischen Effekte über Text und Kontext. Die Figuren sind beide Schlaumeier, bei denen deutlich wird, dass sie mit ihrem eigenwilligen Ghetto-Stil gut zurechtkommen und aus den Zumutungen des Alltags in Deutschland etwas für sich herauszuholen wissen. Wer die Figuren ‚für bare Münze‘ nimmt, entlarvt sich mit seinen Klischeevorstellungen selbst. Zeitungsartikel und Interviews mit den Produzenten haben längst weitere Interpretationshilfen gegeben. Im Fall von Teclebrhan lohnt sich noch der „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 229 Blick auf die Kommentare der Rezipienten, die ansatzweise erhellen, wer was in der transkulturellen Komikproduktion empörend und/ oder lustig findet. 4 Rezeption Medienprodukte, auch solche des Internets, treten in einem medialen Verbund auf. Zum Primärprodukt des Films treten sekundäre, wie Interviews mit Schauspielern und Regisseuren, die wiederum Verstehensanleitungen für das Primärprodukt beinhalten und seine Wahrnehmung beeinflussen. Im Folgenden betrachten wir Zeitungsausschnitte und Interviews, die im Zuge des Aufstiegs von Tedros „Teddy“ Teclebrhan entstanden sind. Dabei fällt als Erstes auf, dass viele der Artikel immer wieder die Herkunft des Schauspielers betonen (wie es bei allen Ethno-Komikern üblich ist): aus Eritrea stammend, mit seiner Mutter und seinen Brüdern nach Deutschland geflohen, im süddeutschen Mössingen (bei Tübingen) aufgewachsen (cf. z. B. Unsleber, Steffi 2012). Vom „schwäbischen Afrikaner“ und „schwarzen Schwaben“ ist die Rede. 3 Eine lebensweltlich verankerte Authentisierung gehört offensichtlich noch immer zu dem Bedingungsgefüge eines Humors, dessen Grundlage ‚overdoing culture‘ ist (cf. Kotthoff 2009: 11). Teclebrhan zeigt sich verägert darüber, dass seine Geschichte oft auf seinen Migrationshintergrund reduziert wird. „Ich bin Künstler, ich arbeite an meiner Schauspielerei“ 4 . Die politische Ebene, die in seiner Satire im hier diskutierten Beispiel gesehen werden kann, simplifiziert er: „Ich finde es lustig, wenn kulturelle Unterschiede aufeinanderprallen, wenn man im ersten Moment gar nicht lacht, bis einem das Missverständnis aufgeht“ 5 und „Ich bin Schauspieler, kein Politiker“ (Dimitrov 2011). Zur Wirkung seines Videos kommentiert er, dass viele es anfänglich für echt hielten: „Ich habe die Antworten ganz bewusst ad absurdum geführt. Völlig überzogen. Jeder weiß ja, dass es in Deutschland eine Bundeskanzlerin gibt. Und kaum jemand würde öffentlich sagen, er schlägt seine Frau zu Hause“ (Dimitrov 2011). Über seine Figur Antoine äußert er sich so: „Ich finde Antoine so geil, weil er zu sich steht. Er macht alles falsch, ist aber irgendwie sympathisch“ (Unsleber 2011). Über seine Figuren sagt er generell, dass er nicht mit dem Zeigefinger an sie rangehe und versuche, sie zu authentisieren: „Ich erzähle nur das, was mir widerfährt, was ich mag, und was ich nicht mag“ (Unsleber 2011). Damit setzt er sich mit den Figuren in eins, wie wir es auch von anderen Komikern kennen (z. B. Mario Barth). In den Sekundärmedien authentisiert er die Figuren weiter: „Es ist wichtig sich selbst nicht zu 3 Was hasch du gelärnt? in: Wirtschaftsförderung Region Stuttgart Gmbh 2001 (Hrsg.): die welt verändern, Nr.3, S. 29, im Internet unter: https: / / www.keosk.de/ read/ EwU5dncPkbBkD / m.html? page= [21.10.2013] 4 Arbeitgeber YouTube, in: Kölner Stadt-Anzeiger 2011, im Internet unter: http: / / www.ksta.de/ medien/ -teddycomedy--arbeitgeber-youtube,15189656,12057356.html [21.10.2013]) 5 Siehe Fn 4. Helga Kotthoff & Daniel Stehle 230 ernst zu nehmen“ (Ebd., Unsleber 2011). Er bekundet eine Haltung und rechtfertigt so sein Figurenkabinett: „dass ich mich nicht über Leute lustig mache. Ich erzähle etwas über die Eigenarten von Menschen. Ich mag es nicht, eine Figur plakativ zu spielen. Ich fände es interessant, wenn einer äußerlich ein Nazi ist, aber im Inneren ein ganz Lieber. Ich mag diese Gegensätze“ (Holler 2012). Wie bringen sich die RezipientInnen mit ihren Lesarten der Figuren und Szenen ein? Und was geben sie von sich zu erkennen? Diesen Fragen nähern wir uns über eine Internetrecherche von youtube und facebook- Kommentaren. Die ZuschauerInnen beurteilen den Sketch, beziehen sich auf ihn und auch auf andere Kommentare. Der youtube-Kanal von Teclebrhan (http: / / www.youtube.com/ user/ TeddyComedy) umfasst 55 vom Künstler hochgeladene Videos. Bis heute (Stand: Februar 2014) zählen diese Videos insgesamt über 66 Millionen Aufrufe. Fast 400 000 User haben den Kanal abonniert und erhalten dadurch Nachrichten über Updates und neue Videos. Das analysierte Video generierte bis Februar 2014 fast 23 Millionen Aufrufe. Über 110 000 User bewerteten das Video über die „like“-Funktion als positiv, ca. 8 000 User bewerteten in dieser Option das Video mit negativ. Außerdem wurde es ca. 50 000 Mal kommentiert. Allein diese Zahlen geben einen ersten Aufschluss darüber, wie populär der Künstler Teclebrhan inzwischen geworden ist. Seine Figuren reizen die Zuschauer zu Bewertungen und Kommentaren. Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Kommentaren zum Video Teclebrhans ziehen? 4.1 Kommentarkategorien Zuerst teilen wir die Kommentare in drei Kategorien ein: a) Zitate, b) Wertungen, c) Diskussion: echt/ unecht? Zu a) Zitate Ein Großteil der Kommentare fällt unter diese Kategorie. Die NutzerInnen zitieren ihre Lieblingsstelle bzw. ihren Lieblingssatz und bewerten das Video damit als positiv: - „der hat mich an den eiern : D haha zu geil / bei uns is normal ich schlag meien frau : D“ - „Der will mich verarschen altaaaa ^^ “ - „Du, war des Hitler der vor der Angelo? XD“ Diese Art, über Zitate seinen Zuspruch zu äußern, kommt nach einer groben Sichtung der 50 000 Kommentare am häufigsten vor. Die Jugendsprachforschung (cf. Spreckels 2014) hat schon vielfältig gezeigt, dass das Generieren von Sprüchen und das Aufgreifen von Redeweisen ein Modus ist, der Medienkonsum und Alltag verbindet. 6 In irgendeiner Weise ist mit dem Zitieren 6 Daniel Stehle hat viele Sprüche von „Antoine“ als geflügelte Worte unter Jugendlichen gehört. Ob auf Partyveranstaltungen, in der Straßenbahn oder im Umfeld von Schülern „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 231 von Sprüchen Anerkennung für das Produkt verbunden, dem sie entnommen wurden. Zu b) Wertungen Insgesamt überwiegen die positiven Wertungen, was sich bereits in der Gegenüberstellung der „like/ dislike“ (110 000 + zu 8 000 - ) Klicks ausmachen ließ: Positive Kommentare / Performance-Bewertung: - „ich liebe diesen kerl. -er ist zumindest ehrlich! ! ! “ Das zeigt, dass der Figur ein Sympathiewert und Authentizitätswert zugeschrieben werden. - „Ich kann jetzt nach 1 1/ 2 jahren immer noch drüber lachen : D“ Das deutet auf Mehrfachrezeption hin, die das Internet eher erlaubt als viele andere Medien. Der Komikgenuss scheint auf Neuheit nicht angewiesen zu sein, sondern kann sich vielfältig auf die Performance beziehen. - „Wow, du hast es echt sooo drauf ‚teddy‘! Bin sprachlos, du machst das total gut! : ) SO gut, dass viele denken es sei echt und manche sich freuen, weil sie glauben sie seien die wenigen intelligenten, die herausgefunden haben, dass es ein ,fake‘ ist. Dabei ist das schauspielkunst auf dem höchsten niveau! Super! Mehr davon! “ Der Nutzer erfreut sich an der Ambivalenz der Rahmung des Sketches und genießt sowohl sein Potential, Rezipienten an der Nase herumzuführen, als auch seine eigene Schlauheit. Negative Kommentare: - „schon traurig, dass die deutsche Jugend derartige Videos ansieht und dadurch verblödet wird...“ Hier findet sich im Hintergrund eine Ethnotheorie der Ansteckung. Wenn das Video blöd ist, wird auch der Betrachter von der Blödheit angesteckt. - „Propaganda hoch zehn. Absichtlich so ein verkoksten Ausländer rausgesucht der natürlich total ungebildet ist. Und nur Müll redet. Aber den Ausländer der alles gewusst hat den filmt man natürlich nicht...Nein das wäre zu UNINTERESSANT für die Leute in You Tube....PS: Ich find das Video null witzig...“ Auch hier wird das Video für authentisch gehalten. Der Kommentator zieht den kritischen Schluss, dass das Video leider dazu einlade, sich über einen Migranten lustig zu machen. - „Er hat den Bogen ueberspannt... Schoen ironisch ja, nur viel zu uebertrieben.“ und Studierenden - immer wieder konfrontieren sich junge Leute mit: „Was labersch du? “; die Gegenfrage: „Hasch du überhaupt gelernt? “ lässt dann meist nicht auf sich warten. Helga Kotthoff & Daniel Stehle 232 Der Rezipient bemängelt die Figurenperformance als übertrieben. - „Ich lach mich schlapp. Dumm wie gequirlte Schifferscheiße, aber Handy und Krafthemd nebst Raspelbirne. Tolle Zukunftsaussichten für unsere Kinder. OH, MEIN GOTT“ Hier wird „Antoine“ als echte Person gesehen und der Betrachter fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt. - „das traurige ist das wir wirklich so idioten in deutschland leben haben. ignorante menschen wie diesen sollte das leben in deutschland verboten werden. die sollen hingehen wo sie hergekommen sind! ! ! kein wunder das unsere nation verbloedet. eine grosse schande ist das! ! ! “ Kommentierende erkennen zwar, dass es sich um einen Sketch handelt, nehmen die Figur allerdings wiederum als Anlass, eigene Ressentiments zu bestätigen. Die Negativkommentare bewerten die Figur auch nicht alle als Bonafide-Figur. Zu c) Diskussion: echt/ unecht Die Diskussion über die Echtheit des Videos nimmt einen großen Teil der Kommentare ein. Selbst über 1 1/ 2 Jahre nach der Veröffentlichung und nachdem zahlreiche weitere Videos von Teclebrhan mit weiteren Figuren ins Netz gestellt wurden, stellt sich für viele die Frage: „Ist das echt? “ - „hmpf......klar is das en Fake...aber das besste daran ist ,das die Warscheinlichkeit das es echt sein könnte sehr hoch ist“ - „also wenn das nicht gestelt ist ist das der Hammer! ! ! ! ! “ - „ey leute das is ECHT! ! “ - „an alle klugscheißer da draußen: natürlich ist es wichtig, obs fake is oder nicht... im titel wird immerhin suggeriert, dass es real ist. man nimmt das video ja ganz anders wahr, wenn man weiß, dass alles nur gespielt ist. aber immerhin ist der typ gut getroffen.“ - „bevor ich auf seinen kanal gegangen bin, glaubte ich es wär echt : D“ - „Schaut ma die Videos an welche von diesem Kanal noch hochgeladen wurde ; ) Aber dass hier so viele drauf rein fallen spricht doch wirklich für den guten Teddy : )“ - „Also wenn es fake ist, dann ein sehr guter. Der Typ kommt so echt rüber ...“ - „also es sind tatsächlich viele hinweise auf einen sog. "fake" vorhanden, trotzdem muss ich sagen wenns wirklich gespielt ist, ist das verdammt gut...oder ums in anderen worten zu sagen: der hat mich immer an den eiern ehh xD“ Die Kommentare bestätigen die These, dass sich der Erfolg des Video zu einem großen Teil daraus speist, dass die Ungewissheit zwischen Spiel und Ernst eine eigene Spannung auslöst. Die Figur gibt Hinweise in beide Richtungen: individueller Charakter, Sprechweise mit ethno- und regiolektalen Komponenten, treffende Überzeichnung von Mimik und Gestik. Die kommunikative Gattung „Umfrage“ gibt dem Video seinen authentischen Anschein. „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 233 Dagegen stehen die absurden Antworten, die Figur mit dem blondierten Schnurrbart und die Einordnung des Videos als „Comedy“ mit dem Hinweis, um wen es sich bei dem Protagonisten handelt. 4.2. Wer sind die Rezipienten? Schaut man sich über youtube die Profile der Personen an, die einen Kommentar zu dem Video hinterlassen haben, lässt sich nur schwer eine genaue Aussage über deren Geschlecht, Alter, Herkunft oder Bildungsstand machen. Dies liegt daran, dass die meisten Benutzer nur wenige bis keine persönlichen Angaben zu ihrer Person machen; und selbst wenn sie dies tun, lassen sich die Angaben kaum verifizieren. Daher können im Folgenden nur einige Tendenzen beschrieben werden. Nach Sichtung von ca. 200 Profilen ergibt sich folgendes Bild: Der Hauptteil der Personen, die das Video positiv kommentiert haben, befindet sich im jugendlichen Alter (11-17 Jahre) ist männlich und kommt aus Deutschland. Insgesamt lässt sich eine Altersspanne von ca. 11-32 Jahren ausmachen. Rezipientinnen sind dabei, aber der männliche Anteil überwiegt. In den Videos, welche die youtube-Nutzer zu ihren Profilen hinzugefügt hatten, waren besonders häufig solche zu sehen, die aus den Bereichen Musik (v. a. Rap), Computerspiel und Sport (v. a. Fußball) stammen. Dies unterstreicht die Aussage, dass der Großteil der Personen, denen das Video gefällt und welche dies auch per Kommentar zum Ausdruck bringen, männlich und jugendlichen Alters ist. Die vielen orthographischen Mängel, die in den Kommentaren zum Vorschein kommen, könnten einen zu der Annahme verleiten, sie verfügten nur über einen geringen Bildungsstand. Jedoch haben Grammatik und Orthografie bei der Schnelllebigkeit im Netz v. a. unter Jugendlichen einen eher geringen Stellenwert (cf. Dürscheid/ Wagner/ Brommer 2010). Insgesamt lässt sich über diese Methode nur eine erste Tendenz zur Beschaffenheit der „Fangemeinde“ von „Teddy“ formulieren. Die Aussagen unterliegen den genannten Vorbehalten und dienen somit nur als erster Anhaltspunkt. Auf der offiziellen facebook- Seite von Teclebrhan (https: / / www.facebook.com/ Teddy.Comedy) sind knapp 440 000 „gefällt mir“-Angaben, welche mit den „like“-Angaben auf youtube vergleichbar sind (Stand: Februar 2014). Dies unterstreicht wiederum seine bereits erlangte Popularität. Des Weiteren vermerkt die Seite knapp 9 000 Personen, welche „über die Seite sprechen“. Das bedeutet, dass diese Personen Inhalte der Seite kommentiert oder auf ihrem eigenen Profil mit anderen geteilt haben. Interessanterweise erhält man weitere Statistiken zu diesen 9 000 Personen, welche ‚über die Seite sprechen‘: Die größte Altersgruppe dieser Personen liegt zwischen 18-24 Jahren. Die Stadt aus der die meisten Personen kommen ist Stuttgart (Teclebrhan ist dort aktiv). 7 7 Die Seitenbetreiber erhalten noch weitaus ausführlichere statistische Information zum Personenkreis, welcher ihre Seite besucht. Jeder Besucher, der die „gefällt mir“-Funktion benutzt, wird dabei erfasst. Dies ergibt ein ausführliches Bild zu Alter, Herkunft und Helga Kotthoff & Daniel Stehle 234 Teclebrhan erstellt auf seiner facebook-Seite zahlreiche Beiträge, welche aus Fotos, Terminankündigungen, neuen Videos, Dankesbekundungen und weiteren Information bestehen. Diese Beiträge werden von seinen „Fans“ zahlreich kommentiert. Auch hier lohnt es sich, einen Blick auf die Profile der Personen zu werfen, die auf seiner Seite in Erscheinung treten. Der Vorteil hierbei, im Gegensatz zu den youtube-Profilen, ist, dass die Personen meist mehr Angaben über sich preisgeben und diese aufgrund der Vernetzung und der sozialen Kontrolle durch deren „Freunde“ mit höherem Wahrheitswert ausgestattet sind. Schon allein anhand der Namen (die in den meisten Fällen den wirklichen Vor- und Nachnamen entsprechen) lässt sich erkennen, dass der weibliche Anteil der Rezipienten deutlich höher ausfällt, als es über die Recherche bei youtube der Fall war. Außerdem fällt auf, dass zahlreiche Nachnamen auf einen Migrationshintergrund schließen lassen. Nach einer Sichtung von über 200 Profilen, die auf der Seite Teclebrhans in Erscheinung traten, hat sich das Bild der „Fangemeinde“, wie es sich über dieselbe Methode bei youtube dargestellt hat, diversifiziert: Die Altersspanne der „Fans“ ist weitaus größer als zuerst vermutet. Der Jüngste war 10, der Älteste 52 Jahre alt. Das Bildungsniveau ist ebenfalls sehr breit gefächert; Schüler aller Schularten, Azubis, Angestellte, Selbstständige, Studenten - alle Gruppen waren vertreten. Dies alles lässt darauf schließen, dass Tedros Teclebrhan es mit seinen Figuren geschafft hat, ein breites Publikum anzusprechen. Zunächst konnten einige sich über den „dummen Ausländer“ mokieren; mit seinen weiteren Produktionen lud er zu einer solchen möglichen Perspektive allerdings nicht mehr ein. Zunächst war die Frage nach Fiktion oder alltäglichem Medienprodukt wichtig. Bei den einen wurden Stereotypen hervorgerufen, die anderen konnten sich als schlauer erleben. Im Laufe weiterer Produktionen realisiert jede/ r, dass er/ sie es mit einem Künstler zu tun hat. 5 Schluss Teclebrhan nimmt eine besondere Stellung in der Medienlandschaft rund um transkulturellen Humor ein. Eine mit „Antoine“ vergleichbare Figur ist die des „Tiger von Kreuzberg“ (cf. Kotthoff 2009). Immer lebt der Humor vom Gesamtbild der Figur, deren Sprechstilistik und Inhalten, weniger von klassischen Pointen. In beiden Beispielen wird etwas vordergründig als ernst ausgegeben, was sich bei genauer Betrachtung als Ironie und Komik entpuppt. Die sekundären Medien leisten einen wichtig Beitrag zur Ansiedlung der Figur. Es zeigte sich, dass in den Medien immer wieder die Herkunft Teclebrhans genannt wird; ein Zeichen dafür, dass ethnisches Scherzen durch die eigene Lebenswelt legitimiert (und auch essentialisiert) werden muss. Auffällig war auch, dass Teclebrhan selbst diese Art der Legitimation wenig bemüht. Geschlecht der Personen und deren jeweiligen Aktivitäten auf der Seite. Unsere Anfrage nach einem Einblick in diese Daten blieb leider unbeantwortet. „Wasch labersch du? “ - Komische Vagheit in der Ethno-Comedy 235 Die inhaltliche youtube-Recherche zeigte, dass viele Zuschauer Spaß daran haben, dass die Rahmenansiedlung des Scherzes nicht unmittelbar klar ist. Diese Kommentare treten mit dem Video im Verbund auf. Zuschauer erfreuen sich an den als bescheidener empfundenen Lesarten der anderen. Die Recherche via facebook fördert zu Tage, dass Teclebrhan mit seinen Figuren ein breites Publikum erreicht und dass Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Bild und Herkunft seine Videos schauen, kommentieren und verbreiten. Ob als „Antoine“, „Percy“ oder „Ernst Riedler“, die spezielle Art von „overdoing culture“, wie Teclebrhan sie betreibt, angesiedelt zwischen Ernst und Spiel, Subtilität und Überzeichnung, lädt zum Durchschauen der Macharten von Kultur und der verschiedenen Diskursstrategien, die bei der Einordnung bzw. Abgrenzung von „wir“ und „ihr“ eine Rolle spielen, ein. Literatur: Androutsopoulos, Jannis K. 2007: „Ethnolekte in der Mediengesellschaft. Stilisierung und Sprachideologie in Performance, Fiktion und Metasprachdiskurs“, in: Fandrych, Christian / Salverda, R. (eds.): Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen, Tübingen: Narr, 113-155 Berger, Peter / Luckmann, Thomas 1969: Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Reinbek: Rowohlt Bergson, Henri 1948: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Lachens, Meisenheim am Glan: Hain Brommer, Sarah / Dürscheid, Christa 2012: Mediennutzung heutiger Jugendlicher: Generation Facebook? , in: Neuland, Eva (ed.): Sprache der Generationen, Mannheim etc.: Dudenverlag, 271-293 Cantor, Joanne R. 1976: „What’s funny to whom? “, in: Journal of Communication 26(3), 164-172 Chafe, Wallace 2007: The Importance of Not Being Earnest, Amsterdam: John Benjamins Dürscheid, Christa / Wagner, Franc / Brommer, Sarah 2010: Wie Jugendliche schreiben. Berlin/ New York: de Gruyter. El Hissy, Maha 2012: Getürkte Türken. Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler, Bielefeld: transcript Ewen, Elizabeth / Ewen, Stuart 2009: Typen & Stereotypen, Berlin: Parthas Verlag Freud, Sigmund 1985: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Frankfurt/ M.: Fischer Günthner, Susanne 2013: „Doing Culture - Kulturspezifische Selbst- und Fremdpositionierungen im Gespräch“, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 38(2012), 30-48 Haberl, Tobias 2013: „Verstehen Sie Spaß? “, in: Magazin der Süddeutschen Zeitung 3(2013), z-magazin.sueddeutsche.de/ texte/ anzeigen/ 39357 (13. 2. 2014) Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2000: „Migrationsdiskurs im Kurz- und Dokumentarfilm. Peter von Guntens They teach you how to be happy und Pepe Danquarts Schwarzfahrer“, in: Hofer, Stefan / Kolberg, Sonja / Schwieder, Gabriele / Bauer, René (eds.): Von Goethe bis Hyperfiction. 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Kretzenbacher 2011: 80 f.), Aufforderung (cf. Aikhenvald 2010) und Vorstellung. Die Wahl einer Anredeform ist eine besonders typische Art, wie Sprechende sich selbst und Angesprochene in ihrem jeweiligen gemeinsamen sozialen Handlungsfeld positionieren (cf. Carbaugh 1996: 143; Svennevig 1999: 19) und damit eine spezifische soziale Distanz zwischen den Kommunizierenden signalisieren. Die durch Anrede versprachlichte soziale Deixis wurde im Wesentlichen von Roger Brown und Albert Gilman (1960) mit Hilfe der griffigen Dichotomie der Dimensionen „Macht“ und „Solidarität“ in die soziolinguistische Diskussion eingebracht. Diese simple Dichotomie war jedoch in den letzten 50 Jahren stets umstritten und ist gerade in Arbeiten der letzten Zeit durch empirisch fundierte komplexere Modelle ersetzt worden, nicht zuletzt im Melbourner Anredeprojekt (MAP), in dessen erster Phase zwischen 2003 und 2007 in sieben europäischen Ländern umfangreiche empirische Datenerhebungen zur Anrede im Deutschen, Englischen, Französischen und Schwedischen durchgeführt wurden (cf. z. B. Clyne/ Norrby/ Warren 2009). So ist für das Deutsche nachgewiesen worden, dass die scheinbar einfache binäre Opposition zwischen einer informellen T-Anrede und einer formellen V-Anrede, wie sie durch die du/ Sie-Opposition in der pronominalen Anrede suggeriert wird, durch ein skalares Modell zu ergänzen ist (cf. Hickey 2003) und dass es zwar eine Dichotomie von prototypischen T/ duvs. V/ Sie-Kontexten gibt, aber dass innerhalb solcher Kontexte die Auswahl und Kombination von pronominalen und nominalen Anredeformen sowie Gruß- und Vorstellungsformeln eine weite Skala sozialer Deixis aufspannen, innerhalb derer soziale Heinz L. Kretzenbacher 238 Distanz zwischen Kommunizierenden punktgenau widergespiegelt werden kann (cf. Kretzenbacher 2010). Vorstellung, als Referenz auf die sprechende Person (bei Selbstvorstellung) oder auf dritte, der kommunikativen Dyade (noch) nicht angehörende Personen, ist zwar grammatisch von der deiktischen oder vokativen Anrede der angesprochenen Person(en) verschieden, 1 aber eng mit dieser verwandt. Auch bei Selbstvorstellungen oder Vorstellungen Dritter besteht ein Angebot von deiktischen Varianten, die eine ganze Skala sozialer Distanz abdecken. Zum Vergleich die folgende unvollständige Liste von Beispielen: (1a) Ich bin der Otto. (1b) Ich heiße Hildegard. (1c) Otto Müller ist mein Name. (1d) Schmidt, sehr angenehm! (1e) Ich bin Herr Müller. (1f) Ich bin Dr. Hildegard Schmidt; schön, Sie kennenzulernen! (2a) Kennst du eigentlich die Ulla schon? (2b) Das ist Jakob. (2c) Das ist Ulla Müller. (2d) Darf ich vorstellen: Jakob Schulz. (2e) Und Frau Müller hier leitet unser Personalbüro. (2d) Darf ich vorstellen: Herr Professor Schulz von der Universität Leipzig. Im Fall der Vorstellung Dritter bestehen zwei Skalen sozialer Distanz: Die von der sprechenden Person zur angesprochenen und die zur vorgestellten Person. Selbst in sozial relativ homogenen Situationen wie auf wissenschaftlichen Konferenzen ist die Vorstellung alles andere als eine fettnäpfchenfreie Zone, besonders wenn ein großer Unterschied im Alter und/ oder akademischen Rang zwischen den an der Vorstellung Beteiligten besteht. Dieses Peinlichkeitspotential verstärkt sich noch im Fall internationaler Konferenzen mit unterschiedlichem sprachlichem und/ oder kulturellem Hintergrund der KonferenzteilnehmerInnen. Dies ist der Anlass zur Untersuchung des Vorstellungsverhaltens auf internationalen Konferenzen, für die von der Melbourner Arbeitsgruppe seit 2006 erste Daten mit Fragebögen auf Konferenzen gesammelt wurden. 2 Diese Daten wurden in ersten Pilotstudien ausgewertet, zu denen die vorliegende 1 Der Unterschied zwischen Anrede und Referenz auf dritte Personen kann jedoch im Deutschen unter gewissen Umständen ignoriert werden; nicht nur im Fall der antiquierten nominalen Anrede vom Typ „Haben die Dame schon gewählt? “ (ohne Personenkongruenz, cf. Findreng 1988 und Simon 1997: 65), sondern auch beim generischen du im Sinn von man („Da hab ich Pech gehabt! Da kannste echt nix machen“). 2 Die Studie wurde noch von Michael Clyne (verstorben 2010) mit initiiert und von ihm gemeinsam mit den damals alle an der University of Melbourne arbeitenden KollegInnen John Hajek, Heinz L. Kretzenbacher, Catrin Norrby und Jane Warren begonnen. Die Datensammlung, die kontinuierlich weitergeführt wird, und deren Auswertung verantwortet inzwischen das Team Hajek, Kretzenbacher (beide Melbourne) und Norrby (Stockholm) unter Mitwirkung von Doris Schüpbach. Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen 239 Arbeit gehört; und die Ergebnisse unserer Pilotstudien ermutigen uns, die Untersuchung quantitativ auszuweiten und qualitativ zu verfeinern (siehe unten). Es gibt eine Anzahl von Studien, die sich mit Anrede in der interkulturellen Kommunikation in der Arbeitswelt 3 und auch spezifisch in der akademischen Arbeitswelt 4 beschäftigen, ebenso wie zu Variation im Anredeverhalten zwischen verschiedenen nationalen und regionalen Standards plurizentrischer Sprachen wie den auch hier behandelten Sprachen Deutsch und Englisch. 5 Außer den im Folgenden erwähnten beiden anderen Pilotstudien unserer Arbeitsgruppe sind mir jedoch keine Arbeiten zu den intralingualen und interlingualen interkulturellen Problemen bei Vorstellungen auf internationalen Konferenzen bekannt. Diese Untersuchung ist an der sozialen Distanz interessiert, die bei Vorstellungen in der interkulturellen Kommunikation auf internationalen Wissenschaftskonferenzen sowohl in der Muttersprache als auch in der lingua franca Englisch signalisiert wird. Die wichtigsten sprachlichen Mittel zur Manifestation dieser sozialen Distanz sind nominal: Vorname (VN), Nachname (NN), akademischer Titel (Ti) und deren Kombination. In einer ersten Pilotstudie (cf. Kretzenbacher/ Clyne/ Hajek/ Norrby/ Warren i. Dr.) konnten wir spezifische Unterschiede im Vorstellungsverhalten je nach dem sprachlichen und kulturellen Hintergrund der Sprechenden feststellen, und zwar bei Vorstellungen auf Englisch ebenso wie in der jeweiligen Muttersprache. In einer weiteren Studie mit bedeutend erweitertem Datenmaterial (cf. Kretzenbacher/ Hajek/ Norrby 2013) haben wir das Vorstellungsverhalten von AkademikerInnen aus verschiedenen deutsch- und englischsprachigen Ländern untersucht und dabei herausgefunden, das sowohl im muttersprachlichen als auch (im Fall von deutschen MuttersprachlerInnen) im fremdsprachlichen Vorstellungsverhalten deutliche Unterschiede je nach Herkunftsland, aber auch nach dem Land des gegenwärtigen Wohnsitzes 6 bestehen. In der vorliegenden Arbeit geht es insbesondere darum, wie sich englischsprachige Vorstellungen deutschsprachiger AkademikerInnen aus verschiedenen Ländern von ihrem jeweiligen muttersprachlichen Vorstellungsverhalten und auch von demjenigen englischsprachiger AkademikerInnen aus verschiedenen Herkunftsländern unterscheidet. 3 Cf. etwa Okamura (2005), Okamura (2009). 4 Cf. etwa Clyne (2009), Formentelli (2009), Economidou-Kogetsidis (2011) und Merrison/ Wilson/ Davies/ Haugh (2012: 1087-1089). 5 Zum Englischen cf. Clyne/ Norrby/ Warren (2009: 141f. und 144 f.) sowie Scott (1998); zum Deutschen cf. Clyne/ Norrby/ Warren (2009: 129-132; 139 f; 142 f.), Kretzenbacher (2011) und Norrby/ Kretzenbacher (2014). 6 Zur Wahl der Variablen siehe den nächsten Abschnitt. Heinz L. Kretzenbacher 240 2 Daten und Methode Zwischen 2006 und 2012 wurden bei insgesamt neun Konferenzen in Australasien und Europa 7 Fragebögen verteilt, auf denen nach dem Vorstellungsverhalten - sowohl auf Englisch als auch ggf. in einer anderen Muttersprache - gefragt wurde. Neben der L1 8 wurde zu Beginn der stets englischsprachigen Fragebögen auch nach „country of origin“ und „country of residence“ gefragt. Für jede der (normalerweise) beiden möglichen Sprachen wurden drei Situationen vorgegeben, im englischen Original des Fragebogens: „When you are meeting conference colleagues for the first time, how do you introduce yourself? “; „In the same situation, how do you introduce others? “ und „In the same situation, how do you expect to be introduced by others? “ Bei jeder Frage gab es vier Antwortmöglichkeiten: „by first name“, „by first and last name“, „by title and last name“ und „other“ sowie Platz für individuelle Antworten nach „other“. Es gab auch Platz für Kommentare zu den gegebenen Antworten sowie für Berichte über Erfahrungen mit unerwartetem Vorstellungsbzw. Anredeverhalten im akademischen Bereich. Die Auswahl der Konferenzen war nicht ganz zufällig, sondern hing davon ab, ob Mitglieder unserer Forschungsgruppe die Möglichkeit hatten, dort persönlich Fragebögen zu verteilen. Das erklärt den hohen Anteil von Konferenzen in Australasien einerseits und in Schweden andererseits und zugleich den vergleichbaren Anteil von Informanten aus Australien und den offenbar recht konferenzmobilen Informanten mit Herkunftsland USA oder Großbritannien (siehe unten Abb. 1). Leider bedeutet es auch, dass manche Muttersprachen bzw. Herkunftsländer nicht ausreichend vertreten waren, um sinnvolle Vergleiche durchführen zu können. So sind etwa unsere spanischsprachigen InformantInnen sehr ungleichmäßig über die spanischsprachige Welt verteilt. Auch für die vorliegende Arbeit hatte das bedauerliche Konsequenzen, auf die ich im übernächsten Absatz eingehen werde. Die Methode der persönlichen Verteilung der Fragebögen auf Konferenzen hat uns zwar einerseits respektable Rücklaufquoten ermöglicht, andererseits jedoch auch wieder die Ergebnisse in einem Maß beeinflusst, das uns ermutigt, nach vielversprechenden Ergebnissen unserer Pilotstudien in einem nächsten Schritt die quantitative Basis unserer Untersuchung auszuweiten und zu spezifizieren sowie in einem weiteren Schritt dann mit Interviews auch qualitative Daten zu erheben. So sind zum Beispiel unsere InformantInnen bislang fast ausschließlich in linguistischen Disziplinen tätig, da wir uns nach einer enttäuschend niedrigen Rücklaufquote bei einer medizinischen Konferenz im weiteren Verlauf der Studie auf linguistische Konferenzen beschränkt haben, so dass keine disziplinspezifischen Unterschiede eruiert werden konnten. Möglicherweise als Konsequenz dieser disziplinären Beschränkung ist auch das Geschlechterverhältnis unter unseren InformantInnen 7 Zwei in Australien, eine in Neuseeland, zwei in Schweden, zwei in Deutschland, eine in Irland und eine in Österreich. 8 Einige zweibzw. mehrsprachige InformantInnen haben dabei mehr als eine L1 angegeben (und dies oft selbst kommentiert). Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen 241 zugunsten von Frauen unausgewogen (siehe unten Abb. 2). Zur geplanten Ausweitung, stärker repräsentativen Auswahl von InformantInnen und qualitativen Ergänzung der Untersuchung siehe den Ausblick (Abschnitt 7). Insgesamt hatten wir einen Rücklauf von 485 Fragebögen, 119 davon mit L1 Englisch und 97 mit L1 Deutsch. 9 Wegen der signifikanten Unterschiede je nach Herkunftsland und Wohnsitzland (cf. Kretzenbacher/ Hajek/ Norrby 2013) 10 wurden für die vorliegende Studie nur 98 für L1 Englisch mit den jeweiligen Herkunftsländern USA (im Folgenden: US; 35), Großbritannien (UK; 31) oder Australien (AU; 32) ausgewählt, sowie 87 für L1 Deutsch mit den Herkunftsländern Deutschland (DE; 73) und Österreich (AT; 14). Herkunftsländer, die von weniger als 10 TeilnehmerInnen angegeben wurden, mussten wir aus der Auswertung herauslassen. Bedauerlich ist das im Fall der 6 KanadierInnen, die Englisch als L1 angegeben hatten, insbesondere aber im Fall der nur 4 SchweizerInnen mit Deutsch als L1. 11 Die relativ kleine, aber in Bezug auf Vorstellungsverhalten interessante Gruppe von Deutschsprachigen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land (16 InformantInnen) wird in den folgenden Abschnitten nochmals gesondert aufgeführt. Bei den englischsprachigen InformantInnen ergab sich eine relativ gleichmäßige Verteilung der Altersgruppen und der Herkunftsländer, anders als bei den deutschsprachigen, wo Deutschland 12 als Herkunftsland überwiegt und unter den ÖsterreicherInnen niemand über 50 Jahre alt war (siehe Abb. 1). 9 Der Rest verteilte sich auf 42 weitere Sprachen, von denen manche etwas besser vertreten waren (wie Niederländisch mit 39 und Schwedisch mit 31 InformantInnen), andere hingegen nur von einzelnen InformantInnen als L1 angegeben wurden, darunter Armenisch, Baskisch, Bengali, Friesisch, Hawaiian Creole, Lamnso (eine Sprache aus Kamerun), Minangkabau (eine Sprache aus Indonesien), Sesotho und Yoruba. 10 Bei der schwierigen Balance zwischen unserem Wunsch, möglichst viele aussagekräftige Parameter zu erfragen, einerseits und der Notwendigkeit, unsere Rücklaufquote nicht durch einen zu umfangreichen Fragenkatalog zu verringern, andererseits haben wir uns für die simplen Fragen nach „Herkunftsland“ und „Wohnsitzland“ entschieden, um in unseren Pilotstudien auch interkulturelle Unterschiede, wie sie uns schon im ersten MAP-Projekt aufgefallen sind, ansatzweise berücksichtigen zu können. Manche unserer InformantInnen haben als „Herkunftsland“ bewusst nicht das Land ihrer Geburt, sondern das ihrer hauptsächlichen sprachlichen und kulturellen Sozialisierung angegeben und das auch kommentiert. Zugleich haben die Fragen nach Herkunfts- und Wohnsitzland manche Kommentare zu intra- und interkulturellen Unterschieden im Anrede- und Vorstellungsverhalten angeregt. 11 Letzteres ist schade, weil generell zum Anredeverhalten in der deutschsprachigen Schweiz nur sehr wenige empirische Untersuchungen vorliegen. Rash (1998) geht z. B. darauf nur am Rande ein und das MAP konnte aus finanziellen und logistischen Gründen die Schweiz leider nicht in seiner Untersuchung zwischen 2003 und 2007 berücksichtugen. So musste Doris Schüpbach (i. Dr.) in vieler Hinsicht Pionierarbeit leisten. 12 Niemand hat auf unseren englischsprachigen Fragebögen beim Herkunftsland „Germany“ zwischen der ehemaligen DDR und der alten Bundesrepublik vor 1990 unterschieden. Heinz L. Kretzenbacher 242 Abb. 1: Altersverteilung und Herkunftsländer Wie erwähnt, ist das Geschlechterverhältnis unausgewogen: Abb. 2: Verteilung der Geschlechter bei den InformantInnen Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen 243 Zur besseren Übersichtlichkeit wurden die Antworten auf die sechs Fragen nach dem Vorstellungsverhalten folgendermaßen in Kategorien sozialer Distanz zusammengefasst: Die Kombination von VN und NN (ggf. kombiniert mit „other“) war in fast allen Fällen - mit zwei bezeichnenden Ausnahmen, die weiter unten im Einzelnen diskutiert werden - die häufigste Antwort und wurde als Ausdruck mittlerer sozialer Distanz („medial“) aufgefasst. VN alleine (auch wenn dies als Alternative zur Kombination VN+NN angegeben wurde) wurde als geringe soziale Distanz („proximal“) aufgefasst, Kombination mit Ti dagegen (auch in Form einer Alternative zu VN+NN) als große soziale Distanz („distal“). 13 Unbeantwortete Fragen sowie Antworten, die nicht in dieses Schema passen, bilden die in allen Fällen sehr kleine Restkategorie. Die Auswahl „other“, wenn sie nicht mit einer der anderen Kategorien verbunden ist, wurde immer in die Restkategorie eingeordnet. 14 Kommentare der InformantInnen waren oft sehr erhellend; leider können hier nur wenige aufgeführt werden. Dass sich viele unserer InformantInnen mehr als nur flüchtig mit den Fragen um angemessene Vorstellung und Anrede auseinandergesetzt haben, zeigen die vielen relativierenden Kommentare, die darauf hinweisen, dass es in den meisten Fällen sehr auf die relative Alters- und Hierarchieposition der beteiligten Personen ankommt, sowie weiterführende Kommentare, z. B. zur Rolle der Namensschildchen bei Konferenzen. 3 Selbstvorstellung Typisch für die Selbstvorstellung ist, dass Ti bei ihr fast nie gebraucht wird (Abb. 3; im Folgenden: WSE = Wohnsitz in einem englischsprachigen Land): 13 VN vs. Ti sind für das Englische auch als Tbzw. V-äquivalent im Sinne des Schemas von Brown/ Gilman 1960 beschrieben worden, cf. Hook 1984. 14 Wenn „other“ in Kommentaren erklärt wird, betrifft das am häufigsten die Hinzufügung der Heimatinstitution der vorgestellten Person. Deutsche MuttersprachlerInnen erwähnen manchmal nur NN (bzw. Herr/ Frau+NN). Diese Fälle sind hier alle in die Restkategorie eingeordnet. „Das ist Frau Meier“ mag medial sein wie „Das ist Inge Meier“, aber es ist unklar, ob eine Selbstvorstellung wie „Ich bin Herr Müller“ eher medial oder distal ist. Heinz L. Kretzenbacher 244 Abb. 3: Selbstvorstellung Die einzigen Ausnahmen sind zwei deutsche Informantinnen aus der Altersgruppe 30-50. Eine von ihnen, die sowohl Herkunftsals auch Wohnsitzland DE angegeben hat, wählt Ti+VN+NN bei der Selbstvorstellung in der Muttersprache als mögliche Alternative zu VN+NN, ohne dies weiter zu kommentieren. Die andere, mit Herkunftsland DE und Wohnsitz UK, spezifiziert in ihrem Kommentar: It actually depends on WHERE the conference takes place, not only which language I introduce myself in. In Germany I would have to always use my title, whereas in the UK I wouldn't be expected to. (G70, w, 30-50, DE/ UK) 15 Bei der Verteilung von proximaler und medialer sozialer Distanz bei der Selbstvorstellung fällt der extrem hohe Wert proximaler Distanz bei AustralierInnen auf: 59%, weit mehr als bei den anderen englischen MuttersprachlerInnen (Herkunftsland UK: 32%, US: 23%). Zugleich ist bei der Selbstvorstellung von AustralierInnen (das einzige Mal unter allen Situationen für englische MuttersprachlerInnen) die mediale soziale Distanz nicht die häufigste Auswahl, sondern mit nur 38% Anteil seltener erwähnt als proximale Distanz. Das andere Extrem bilden die deutschen MuttersprachlerInnen mit Herkunftsland DE bei Selbstvorstellungen auf Deutsch: Nur 4 von 73 (6%) wählen hier proximale soziale Distanz. Beim Herkunftsland AT sind es 5 von 15 Bei Kommentar-Zitaten von InformantInnen sind die folgenden Informationen angegeben: Laufende Kodenummer des Fragebogens, Geschlecht, Altersgruppe, Herkunftsland/ Wohnsitzland. Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen 245 14 (36%). Deutsche MuttersprachlerInnen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land weisen bei deutschen Selbstvorstellungen einen noch etwas höheren Wert auf: 6 von 16 (38%) wählen hier proximale Distanz. Bei der letzten Gruppe ändert sich an den Verhältnissen kaum etwas, wenn die Selbstvorstellung auf Englisch statt in der Muttersprache stattfindet, außer dass die oben erwähnte Informantin G70 auf Englisch Titelgebrauch ausschließt. Bei InformantInnen mit Herkunftsland AT sind es im Englischen dagegen 6 von 14 (43%) und bei denen mit Herkunftsland DE zeigt sich die massivste Veränderung: Statt 4 von 73 (6%) wie in der Muttersprache wählen im Englischen fünfmal soviele (20 von 73 = 27%) bei Selbstvorstellung in der lingua franca Englisch proximale soziale Distanz. Eine gewisse Normenunsicherheit deutscher MuttersprachlerInnen gegenüber Konventionen in angelsächsischen Ländern lässt sich einigen Kommentaren entnehmen. Die beiden folgenden Erinnerungen zweier deutscher Informantinnen sprechen von gegenteiligen Erfahrungen: As a student I was really surprised to be addressed as „Hello, I'm [VN], who are you? “ by a famous professor. This would NOT happen in Germany or German-speaking context. (G68, w, 30-50, DE/ DE) As a student (doctoral st.) in Amherst, Mass. I just said [VN] to a prof. But she expected to be „Prof. X“ for us. She was around 65. (G66, w, >50, DE/ DE) Es könnte zwar sein, dass die beiden unterschiedlich alten Informantinnen ihrerseits Erfahrungen mit Angehörigen unterschiedlicher Akademikergenerationen in angelsächsischen Ländern gemacht haben, aber mangels genauerer Details in den Erinnerungen kann dies nicht vorausgesetzt werden. Ein ganz anderes Problem wird im folgenden Kommentar erwähnt: Entspricht die VN-Anrede zweier deutscher MuttersprachlerInnen in der lingua franca Englisch automatisch einer gegenseitigen T-Anrede im Deutschen? When meeting a German colleague on an international conference, address is „you“ of course, plus first name basis switch to German at later conferences was a little awkward (for differences in age and occupational status) solution: we „tested“ robustness of our relationship using generic „du“, then settled on du as address as well. (G56, w, 30-50, DE/ DE) Die Strategie, über eine Phase der Anredevermeidung und des generischen du (das ja nicht immer ohne Weiteres von der T-Anrede zu unterscheiden ist) zur gegenseitigen T-Anrede zu kommen, zeigt wieder den gleitenden Übergang zwischen Anrede und Personenreferenz im Deutschen (siehe oben Fußnote 1). 4 Vorstellung von Dritten Bei der Vorstellung von Dritten reduziert sich in fast allen Gruppen gegenüber der Selbstvorstellung der Anteil proximaler sozialer Distanz. Zugleich gibt es nun in fast allen Gruppen einen gewissen Anteil von Vorstellungen unter Einschluß von Ti (distal). Die Ausnahmen in beiden Fällen sind interessant, wie zu zeigen sein wird. Heinz L. Kretzenbacher 246 Abb. 4: Vorstellung Dritter Nach wie vor weisen die AustralierInnen den relativ größten Anteil proximaler nominaler Strukturen unter den englischen MuttersprachlerInnen auf (31%, gegenüber 26% bei Informantinnen aus dem UK und 6% bei denen aus den US). Die Verhältnisse sind umgekehrt beim Titelgebrauch: bei den AustralierInnen geben nur 3% diese Möglichkeit an, bei den BritInnen 7% und bei den AmerikanerInnen 9% (siehe Abb. 4 unten). Ganz anders sieht es bei Vorstellungen in der Muttersprache Deutsch aus. Nach wie vor weisen ÖsterreicherInnen einen relativ hohen Anteil an Vorstellungsstrukturen mit geringer sozialer Distanz auf (auch wenn es hier nur 14% sind). 16 Zugleich wird bei den ÖsterreicherInnen Titelgebrauch bei der Vorstellung Dritter von massiven 43% als Möglichkeit gesehen, das heißt der Anteil distaler Vorstellung ist ebenso hoch wie der medialer (VN+NN). Dass (vor allem akademische) Titel in Österreich extrem statuswichtig sind, ist im deutschen Sprachraum bekannt. Ein Informant aus Deutschland mit Wohnsitz in Österreich (G32, m, 30-50, DE/ AT) erwähnt dies in einem Kommentar, und eine österreichische Informantin (AT13, w, 30-50, AT/ AT) spezifiziert, dass sie Titel bei der Vorstellung Dritter unter zwei Bedingungen verwenden würde: „if title known and Austrian“. 16 Obwohl drei der deutschen MuttersprachlerInnen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land aus Österreich kommen, zieht keine/ r von diesen eine VN-Vorstellung von Dritten auf Deutsch in Betracht. Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen 247 Tatsächlich spiegelt das muttersprachliche Vorstellungsverhalten von ÖsterreicherInnen bei der Vorstellung Dritter im akademischen Kontext trotz der geringen Gruppengröße in dieser Studie sehr gut das Anredeverhalten am Arbeitsplatz in Österreich wieder, das gegenüber dem in Deutschland durch deutlich höhere Frequenz sowohl des proximalen T-Anredepronomens du als auch von Titel gekennzeichnet ist (cf. Kretzenbacher 2011 und Norrby/ Kretzenbacher 2014). Anders als in Deutschland schließen sich diese beiden Anredeformen in Österreich auch keineswegs gegenseitig aus. Nur eine aus Deutschland stammende Informantin (G64, 30-50, Wohnsitz in Litauen) markiert VN neben VN+NN als Möglichkeit bei der Vorstellung Dritter, und sie schränkt diese Alternative in einem Kommentar stark ein: only to young colleagues in informal contexts (like the city walk) 17 (G64, w, 30- 50, DE/ Litauen) Die deutschen MuttersprachlerInnen zeigen bei Vorstellungen Dritter in der lingua franca Englisch eine deutlich niedrigere Freqenz distaler sprachlicher Strukturen und zugleich eine deutlich höhere von proximalen. Besonders hervorstechend ist dieser Unterschied bei den deutschsprachigen AkademikerInnen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land: Während keine/ r von den 16 InformantInnen in der deutschen Muttersprache eine proximale Vorstellung wählen würde, aber drei (19%) eine distale, entscheidet sich im Englischen keine/ r von ihnen für eine distale Vorstellung, aber sechs InformantInnen (38%) würden eine Form mit proximaler sozialer Distanz wählen. Das ist ein höherer Wert als bei jeder anderen Gruppe in dieser Situation. 5 Vorstellung durch Dritte Fragt man danach, wie InformantInnen selbst erwarten, von Dritten vorgestellt werden, kann man als Hypothese formulieren, dass die Antworten einen Kompromiss zwischen den sozialen Konventionen der persönlichen Bescheidenheit und der Respektsbezeugung gegenüber anderen darstellen werden. Die erstere Konvention äußert sich im fast vollständigen Fehlen distaler und dem hohen Prozentsatz proximaler Selbstvorstellung, die andere umgekehrt in den niedrigeren Werten proximaler und den höheren Werten distaler sozialer Distanz bei der Vorstellung Dritter. Tatsächlich wird diese Hypothese einer Mittelstellung zwischen den Werten der Selbstvorstellung und der Vorstellung Dritter im Großen und Ganzen bestätigt. 17 Der Stadtspaziergang wurde im Rahmenprogramm der betreffenden Konferenz angeboten. Heinz L. Kretzenbacher 248 Abb. 5: Vorstellung durch Dritte Nur drei der Werte ensprechen nicht ganz der Voraussage: Bei den BritInnen bleibt der Anteil der proximalen Vorstellungen (7 von 31 = 23%) fast identisch mit dem bei der Vorstellung Dritter (8 von 31 = 26%). Dafür verringert sich der Anteil distaler Vorstellungen von 7% (2 von 31) bei der Vorstellung Dritter auf 3% (1 von 31) bei der Vorstellung durch Dritte. Auch bei den ÖsterreicherInnen ist die Änderung im Anteil distaler Vorstellungen zu sehen. Von dem extrem hohen Wert von 27% (6 von 14) bei der Vorstellung Dritter geht er bei der Vorstellung durch Dritte auf 14% (2 von 14) zurück. Mit ebenfalls 14% ist der Anteil proximaler Vorstellungen bei ÖsterreicherInnen derselbe, egal ob es um Vorstellungen Dritter oder durch Dritte geht. Bei den Deutschsprachigen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land ändert sich gegenüber dem Szenario der Vorstellung Dritter dann nichts, wenn das sprachliche Medium die lingua franca Englisch ist. 6 Diskussion Beim Vorstellungsverhalten kann von einer generell geringeren sozialen Distanz bei englischen MuttersprachlerInnen gegenüber deutschen nicht die Rede sein. Zunächst gibt es deutliche Unterschiede nach Herkunftsland, die auf unterschiedliche Konventionen in den nationalen Wissenschaftskulturen schließen lassen. WissenschaftlerInnen mit Herkunftsland AU weisen in allen drei untersuchten Situationen die höchste Frequenz nominaler Strukturen mit proximaler sozialer Distanz bei der Vorstellung in der Muttersprache Eng- Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen 249 lisch auf, gefolgt - in meist deutlichem Abstand - von InformantInnen mit Herkunftsland UK und - wiederum mit deutlich geringeren Frequenzen - von denen mit Herkunftsland US. ÖsterreicherInnen und deutsche MuttersprachlerInnen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land erreichen oder übertreffen in allen Situationen die Frequenz proximaler Distanz in der Muttersprache, die US-AmerikanerInnen aufweisen; bei der Selbstvorstellung auch die der BritInnen. In fast allen Situationen steigt diese Frequenz proximaler Distanz bei deutschen MuttersprachlerInnen in der lingua franca Englisch stark an. Bei deutschen MuttersprachlerInnen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land erreicht sie im Fall der Erwartungen bei der Vorstellung durch Dritte sogar denselben hohen Wert (38%), den sie bei InformantInnen mit Herkunftsland AU hat. Und bei der Vorstellung Dritter scheinen deutsche MuttersprachlerInnen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land sich gar „angelsächsischer“ zu verhalten als die InformantInnen aus angelsächsischen Ländern: Während selbst unter den „informellen“ AustralierInnen wenigstens einer von 32 in dieser Situation Titelgebrauch erwägt, und zehn (31%) VN, zieht unter den 16 deutschen MuttersprachlerInnen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land kein/ e einzige/ r den Gebrauch eines Titels in Erwägung, und sechs von ihnen (38%) halten eine Vorstellung Dritter auch unter Verwendung nur des Vornamens für möglich, wenn sie auf Englisch stattfindet. Trotz der geringen absoluten Zahl der österreichischen InformantInnen ergeben sich gerade bei der Vorstellung Dritter, die dem Anredeverhalten gegenüber der vorzustellenden Person von der Situation her am nächsten kommt, vielversprechende Parallelen zu untersuchtem Anredeverhalten in Österreich. Es wäre ggf. zu überlegen, inwieweit Titelgebrauch bei ÖsterreicherInnen (im Gegensatz zu dem bei Deutschen) in das grobe ternäre Schema proximal - medial - distal passt. Bei ÖsterreicherInnen schließen sich zum Beispiel, anders als bei Deutschen, Titelgebrauch und T-Anrede nicht gegenseitig aus. 18 Die schematische Zuordnung der am häufigsten gewählten Kombination VN+NN zu einer medialen sozialen Distanz und ensprechend von Antworten, die eine Vorstellung nur mit VN in Betracht ziehen, zu einer proximalen, respektive von Vorstellungen mit möglichem Titelgebrauch zu einer distalen sozialen Distanz erfolgte natürlich zunächst rein intuitiv, um die Komplexität der vielen verschiedenen Kombinationen, die wir als Antwort erhielten, zur Veranschaulichung zu vereinfachen. Eine oberflächliche Interpretation der Antwortverteilung nach diesem Schema könnte zu dem Trugschluss führen, dass in Herkunftsländern mit besonders hohem Anteil an distalen Vorstellungen soziale Beziehungen unter AkademikerInnen besonders formell seien und umgekehrt in Ländern mit einem hohen Anteil an proximalen Vor- 18 Obwohl m. W. die direkte Kombination von Ti+VN auch in Österreich nicht möglich scheint, anders als etwa in bestimmten Situation im US-amerikanischen Englisch (man denke an den Fernsehpsychologen „Dr. Phil“) und dem Vernehmen nach auch im südafrikanischen Englisch. Heinz L. Kretzenbacher 250 stellungen besonders informell. Gerade im deutschen Sprachraum wird unter Berufung auf die häufigere und schnellere Anrede mit Vornamen und die mangelnde T/ V-Unterscheidung im modernen englischen Pronominalsystem oft eine generell weniger hierarchische und formelle Gesellschaft in angelsächsischen Ländern angenommen. Umgekehrt identifizieren englische MuttersprachlerInnen eine pronominale T/ V-Unterscheidung im Anredesystem, wie etwa im Deutschen oder im Französischen, oft mit einem höheren Grad an „olde worlde“-Förmlichkeit oder gar Arroganz in entsprechenden Gesellschaften. Eine ähnliche Identifikation von Vornamengebrauch im Englischen mit proximaler sozialer Distanz einserseits und eine ähnliche Überschätzung des informellen Charakters anglophoner Gesellschaften andererseits lässt sich auch beim Vorstellungsverhalten deutschsprachiger AkademikerInnen im Englischen beobachten, die sich in der lingua franca Englisch oft vermeintlich „angelsächsisch“ proximaler verhalten, als das viele angelsächsische KollegInnen, vor allem aus den USA und Großbritannien, in ihrer Muttersprache tun. Auch ein Wohnsitz in einem englischsprachigen Land scheint an dieser Tendenz nichts zu ändern, ganz im Gegenteil: deutschsprachige AkademikerInnen mit Wohnsitz in einem englischsprachigen Land weisen meist noch höhere Frequenzen an proximalem Vorstellungsverhalten auf. Umgekehrt finden angelsächsische AkademikerInnen die Anhäufung von akademischen Titeln vor dem Namen deutschsprachiger KollegInnen als akademisches Prestigesymbol, wie sie sich auf Visitenkarten und Mitarbeiter- Webseiten von Forschungseinrichtungen wiederspiegelt, oft sehr merkwürdig, wenn nicht komisch. Mehrfach wurde ich von australischen KollegInnen nach den Gründen dieser scheinbar typisch deutschsprachigen akademischen „pompousness“ gefragt. Als Antwort bitte ich meine australischen KollegInnen einfach, bei den entsprechenden Visitenkarten und Webseiten angelsächsischer AkademikerInnen eben nicht auf die Position vor dem jeweiligen Namen zu schauen, sondern auf die Position danach, wo sich nicht nur vom Bachelor bis zum PhD alle jeweiligen akademischen Titel tummeln (auch gerne von den lateinischen Abkürzungen der jeweiligen Universitäten begleitet, an denen sie erworben wurden), sondern zusätzlich auch noch allerhand Orden und Ehrenzeichen sowie Mitgliedschaften in gelehrten Gesellschaften. Auch die Anrede/ Vorstellung mit Herr/ Frau+NN, die in die obigen Statistiken nur unter der Restkategorie aufgenommen wurde, weist ein hohes Potential für inter- und transkulturelle Missverständnisse auf: In der alten Bundesrepublik nach 1968 hat sie sich langsam als medial-neutrale Anrede zwischen Universitätsangehörigen ohne Unterschied zwischen Lehrenden und Studierenden durchgesetzt und kann mittlerweile in ganz Deutschland wie auch in der Schweiz (aber nicht in Österreich) als unmarkierte Form gelten. Im angelsächsischen Bereich klingt diese Kombination fast wie ein Affront in Form eines absichtlichen Ausschlusses aus der Gemeinschaft der postgraduates: Sich und andere auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen vorstellen 251 In Germany I have heard female colleagues introduced as „Mrs“ when they are in fact „Dr.“. This seems a bit unusual to my English ears! (UK27, w, <30, UK/ UK) Und eine englisch-deutsch bilinguale Australierin sieht zwar die Unterschiede in den jeweiligen Anredekonventionen: I worry about how to address people in English. It seems too pompous to use titles but I also know this is more acceptable in Europe so I just avoid address terms or CS [= code-switch, HLK] into German and use ,Sie‘ and titles. (AU1, w, <30, AU/ AU) Andererseits berichtet sie, dass sie in einem Paper (vermutlich deutschsprachiger KollegInnen) als „Ms. [NN]“ erwähnt wurde. Das habe sie geärgert, weil sie es als expliziten Hinweis darauf gesehen habe, dass sie keinen PhD hatte. Sie hätte bevorzugt, einfach nur mit Nachnamen ohne Ms. erwähnt zu werden, wie das in Australien üblicher erscheine. Bei der Anrede wie bei der Vorstellung gilt eben kein allgemeiner Maßstab dafür, was als „informell“ oder als „formell“ betrachtet werden kann. Dabei gibt es generell nicht nur nationale und regionale Unterschiede innerhalb derselben Sprachgemeinschaft, sondern auch unterschiedliche Konventionen in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und verschiedenen Branchen der Arbeitswelt (cf. Clyne/ Norrby/ Warren 2009 und Norrby/ Kretzenbacher 2014). Das gilt auch für die akademische Arbeitswelt, wo die „angemessene“ Anrede bzw. Vorstellung nicht nur in den jeweiligen nationalen Wissenschaftskulturen, sondern bisweilen auch in verschiedenen Universitäten oder gar verschiedenen Fakultäten innerhalb derselben Universität unterschiedlich definiert sein kann. Wissen um solche Konventionen gehört zu den soft skills, die in der Wissenschaftskommunikation unabdingbar sind. Eine minimale Vertrautheit mit Anrede- und Vorstellungsverhalten, jedenfalls in den wichtigsten Herkunftsländern von internationalen KollegInnen, schließt schon einmal eine Quelle so mancher inter- und transkultureller Missverständnisse aus, die wir uns als akademische Gemeinschaft in einer zunehmend globalisierten Welt, in der zugleich die Stimme der Wissenschaft auf dem Marktplatz miteinander wetteifernder Episteme immer weniger Einfluss hat, nicht mehr leisten können. Im Fall der wissenschaftlichen lingua franca Englisch begründet aktive Beherrschung von Schulenglisch und Rezeptionsfähigkeit englischsprachiger Forschungsergebnisse im eigenen Arbeitsbereich eben noch lange nicht die notwendige transcultural literacy, die man als Wissenschaftlerin mit einer anderen L1 als Englisch heute unbedingt benötigt. Neben der disziplinspezifischen englischen Fachrhetorik gehören dazu auch sprachlich-kulturelle Konventionen wie angemessenes Anrede- und Vorstellungsverhalten. Heinz L. Kretzenbacher 252 7 Ausblick Wie bereits im Abschnitt 2 (Daten und Methode) erwähnt, haben die aufgrund der mit persönlich auf Konferenzen verteilten Fragebögen ermittelten Daten durchgeführten Pilotstudien wichtige Bereiche ergeben, in denen eine quantitative und qualitative Ausweitung der Studie lohnenswert erscheint. Zugleich haben sich die Grenzen der bisher zur Datensammlung angewandten Methode erwiesen. Der Rücklauf der Fragebögen zeigt ein in mancher Hinsicht statistisch unbefriedigendes Bild. Frauen sind stärker vertreten als Männer, in manchen Kohorten tauchen manche Altersgruppen oder Herkunftsländer kaum oder gar nicht auf, während andere zahlenmäßig weit überwiegen. Dieses Problem wird in der nächsten Phase der Studie weniger ins Gewicht fallen: Wir haben uns durch das Antragsdickicht der Humanethik- Kommission gekämpft (vermutlich können nur australische KollegInnen ermessen, was das bedeutet) und haben nun die Genehmigung, das Projekt auf online-Fragebögen zu erweitern. Dies erlaubt uns, im Schneeballverfahren KollegInnen z. B. aus bestimmten Ländern, die wir stärker berücksichtigen wollen, anzuschreiben und hoffentlich ein statistisch ausreichende Datenmengen für einzelne Untergruppen (im Fall der vorliegenden Arbeit etwa von SchweizerInnen, ÖsterreicherInnen und englischsprachigen KanadierInnen, NeuseeländerInnen und SüdafrikanerInnen) zusammenzubekommen. Ein Probelauf mit einem online-Fragebogen und direkten e-Mail-Anschreiben von philologischen KollegInnen an österreichischen und Schweizer Universitäten hat eine ermutigende Anzahl von Antworten erbracht, mit deren Auswertung wir zur Zeit befasst sind. In einem weiteren Schritt werden die in den Pilotstudien erarbeiteten und durch die online-Befragung zu bestätigenden Parameter und Hypothesen qualitativ zu testen sein. Viele unserer InformantInnen haben uns freiwillig ihre Kontaktdetails angegeben und können hoffentlich als Ausgangspersonen von Netzwerkinterviews gewonnen werden, wie wir sie in der ersten Phase des MAP erfolgreich durchgeführt haben. Wir erwarten uns damit eine über die Statistik hinausgehende Auseinandersetzung mit akademischen Umgangsformen in der L1 und der lingua franca Englisch, die uns erlauben würde, vieles, was wir in Pilotstudien wie der vorliegenden anreißen konnten, zu vertiefen und zu verknüpfen. Literatur Aikhenvald, Alexandra Y. 2010: Imperatives and commands, Oxford: Oxford University Press Brown, Roger / Gilman, Albert 1960: „The pronouns of power and solidarity“, in: Sebeok, Thomas A. 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A study of initial interactions, Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins Daniel H. Rellstab Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen Interkulturalität und Gender im transnationalen Deutsch-als-Fremdsprache-Klassenzimmer 1 Einleitung: Heterogenität, Fremdsprachenunterricht und De-facto- Didaktik Heterogenität ist ein Thema, mit dem sich moderne Erziehungstheorien seit jeher auseinandersetzen. Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts, das Heinz- Elmar Tenorth treffend als das „pädagogische Jahrhundert” bezeichnet hat (Tenorth 2000: 116), wird über Heterogenität im Klassenzimmer nachgedacht: Ernst Christian Trapp stellt in seinem „Versuch einer Pädagogik” aus dem Jahr 1780 fest, dass der Erzieher sich immer mit der Frage wird auseinandersetzen müssen, wie er denn einen „Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind, [...| in einer und eben derselben Stunde” erziehen solle (Trapp 1780: 15). Damit identifiziert er ein Grundproblem der Schule, das Johann Friedrich Herbart in dem wohlbekannten Aphorismus zusammenfasste, dass die Verschiedenheiten der Köpfe das große Hindernis aller Schulbildung, nicht darauf zu achten aber der Grundfehler aller Schulgesetze sei (cf. Herbart 1919: 566). Heute hat dieser Aphorismus innerhalb und außerhalb der Erziehungswissenschaften geradezu Konjunktur (cf. Bleidick/ Ellger-Rüttgardt 2008: 108; Hummrich 2012; von Stechow 2004: 158f.; Wenning 2007: 21). Heterogenität wird in der Erziehungswissenschaft dabei zwar durchaus als vielschichtiges Phänomen betrachtet, das durch unterschiedlichste Variablen bedingt ist. Im Fokus vieler quantitativer und qualitativer erziehungswissenschaftlicher Untersuchungen steht jedoch heute die migrationsbedingte Heterogenität. Das ist nicht erstaunlich, denn der Umgang mit Auswirkungen der Migration ist für westeuropäische Gesellschaften heute und damit auch für die Schulen zu einer Schlüsselaufgabe geworden (cf. Allemann-Ghionda/ Hess-Lüttich 1997; Hess- Lüttich 2011). Wie viele quantitative Studien zeigen, haben Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund 1 in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz mehr Probleme, das heißt etwa schlechtere Noten, als Kinder, die aus Familien stammen, die keine Migrationsgeschichte aufweisen (cf. etwa Martin et al. 2009; OECD 2010, 2012; Stanat 2003). Gleichzeitig sind sie in besonderen Klassen sowie Klassen mit Grundansprüchen übervertreten, in Klassen mit erhöhten Ansprüchen dagegen untervertreten (cf. etwa Böni/ Salm 2008: 8 et 1 Zur Problematik dieser Kategorisierung cf. etwa Diefenbach (2010: 21ff.), Lehmann et al. (2002: 148). Daniel H. Rellstab 256 passim; Diefenbach 2010: 52-71; Moser/ Rhyn 2000: 46-49; Nauck et al. 1998). Der Erklärungen sind viele: kulturalisierende (cf. Leenen et al. 1990), die sich jedoch als haltlos erwiesen haben (cf. Diefenbach 2010: 100), sozioökonomische (cf. etwa Moser 2002: 119: 31-32; OECD 2012: 44) und solche, welche die Ursachen in der Schule suchen, etwa in der Zusammensetzung der Klassen (cf. etwa Moser et al. 2003: 146ff.; OECD 2001: 237), in ihrem diskriminierenden Umgang mit Kindern mit Migrationshintergrund (cf. etwa Kristen 2006; Kronig 2007) oder der Tatsache, dass viele Kinder mit Migrationshintergrund die Schulsprache nicht als Familiensprache sprechen (cf. etwa Esser 2006; Moser 2002: 121). Mit Ausnahme des kulturalisierenden Erklärungsansatzes scheinen alle Erklärungen ein Quäntchen Wahrheit zu enthalten, und gerade stärker qualitativ ausgerichtete Studien zeigen, dass die Rolle der Schule in der Herstellung von Differenz und damit auch Bildungsmisserfolg nicht unterschätzt werden darf. Klassisch geworden ist in diesem Zusammenhang die Studie von Gomolla und Radtke (2002), in der gezeigt wird, dass das in der Institution Schule verwendete Wissen über „Fremde” dazu verwendet wird, Selektionsentscheide entlang ethnischer Identitätsmarker zu legitimieren, was zu einer ungleichen Verteilung des Bildungserfolgs führt. Ähnlich wichtig im erziehungswissenschaftlichen, aber auch dem linguistischen Diskurs ist die schon in den 1990er Jahren entstandene Studie von Ingrid Gogolin zum monolingualen Habitus mulitlingualer Schulen. Gogolin weist nach, dass der seit dem 19. Jahrhundert entwickelte monolinguale Habitus heute zwar nicht mehr unangefochten präsent ist. Doch er „bewohnt” „die Schule immer noch” (Gogolin 2008: 256). So genannt „interkulturelle“ Ansätze boomen in der Didaktik (cf. etwa Huxel 2012). 2 Mit ihrer Hilfe sollen erstens bestehende Leistungsunterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern mit und denjenigen ohne Migrationshintergrund vermindert werden. Diese Zielsetzung geht von der Prämisse aus, dass „insbesondere die Kompetenz von Lehrpersonen im Umgang mit verschiedenen Formen von Diversität eine zentrale Rolle bei der Verminderung (oder dem Zuwachs! ) von Leistungsunterschieden zwischen Schulkindern spielt” (Lanfranchi 2010: 232). 3 Zweitens sollen mit Hilfe interkulturell informierten Unterrichts allen Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein um den Zusammenhang von „Kultur” und Herrschaft und den damit verbundenen Konstruktionen vermittelt werden sowie die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Denkens und Handelns. Ziel ist die Etablierung einer reflexiven Haltung hinsichtlich kultureller Phänomene generell. Dies müsse dadurch geschehen, dass „auch subkulturelle Differenzen, Klassenantagonismen und das Geschlechterverhältnis” thematisiert würden (Prengel 2006: 88; cf. auch Huxel 2012: 26). 2 Cf. dazu etwa auch die vielfältigen Projekte, die von der Robert Bosch-Stiftung finanziert werden. 3 Diese Position negiert nicht, dass strukturelle Hindernisse und institutionelle Diskriminierung von Migrationskindern im Bildungssystem bestehen. Cf. dazu etwa Auernheimer (ed.) (2010). Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen 257 Prominente Fächer, in welchen interkulturelle Bildungsziele schon lange ins Blickfeld gerückt sind und seit Längerem Versuche unternommen werden, diese auch umzusetzen, sind der Sprach- und der Fremdsprachenunterricht (cf. etwa Fürstenau 2012). So schreibt etwa die Sprachenstrategie der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK, dass die Erstsprachen von Migrationskindern „im Regelunterricht über Ansätze wie ‚Begegnung mit Sprachen/ Eveil aux langues’ valorisiert” werden sollen (EDK/ CDIP 2004: 381), um einerseits sprachübergreifende und kognitive Fähigkeiten zu fördern, aber auch, um die positive Einstellung und „Öffnung gegenüber sprachlicher und kultureller Vielfalt” unter den Schulkindern zu fördern (Saudan 2004: 53; cf. Saudan et al. 2005); die spezifizierten Bildungsstandards sehen in der Entwicklung einer interkulturellen Kompetenz sogar eine Kernaufgabe des Fremdsprachenunterrichts (cf. etwa EDK/ CDIP, 2011: 12). Interkulturelle Bildungsziele lassen sich jedoch kaum über den Verordnungsweg erreichen, sondern werden in entsprechenden Szenarien im Klassenzimmer und im weiteren Raum der Schule umgesetzt. Im Klassenzimmer geschieht dies primär im Rahmen der zumeist interaktiv konstituierten Lehr-Lernhandlungen: Lernen ist, wie die Unterrichtsforschung schon längst weiß, nicht nur ein kognitiver, sondern auch ein sozialer Vorgang. Lernen und Lehren geschieht in situierten sozialen Handlungen, in welchen spezifische Teilnehmerrahmen konstituiert, Kategorisierungen ausgehandelt und damit auch für die Interaktion relevant werden (cf. Kasper/ Wagner 2011; cf. Mondada/ Pekarek Doehler 2004). Dies geschieht unter Verwendung vielfältiger semiotischer Ressourcen. Eine wichtige semiotische Ressource ist immer auch das Lehrmittel. Und dieses ist im vorliegenden Problemkontext deswegen besonders relevant, weil mit dessen Hilfe oftmals auch versucht wird, curriculare Innovationen im Unterricht umzusetzen (cf. Rezat 2010: 11). Das ist gerade auch im Fremdsprachenunterricht der Fall: Heute geben viele Fremdsprachenlehrmittel an, den Lernenden nicht nur sprachliche, sondern auch interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln. 4 Das Verhältnis von Schulbuch und Unterrichtspraxis ist indessen komplex (cf. etwa Matthes/ Heinze 2005), und erst die Verwendung zeigt, „welche Angebote des Schulbuches auf welche Weise in den Unterricht implementiert werden” (Rezat 2010: 13). Die Analyse der interaktiven Konstruktion von „interkulturell gerahmten“ Szenarien im Fremdsprachenklassenzimmer unter Einsatz von interkulturell ausgerichteten Lehrmitteln kann deshalb einen Betrag zur „Defacto-Didaktik“ (Schmitt 2011) liefern und damit aufzeigen, wo möglicherweise Probleme bestehen. Dies soll im Folgenden anhand einer einzelnen Episode aus einer Deutsch-als-Fremdsprache-Lektion gezeigt werden. In dieser werden unter anderem Gender, nationale Herkunft und Religion relevant gesetzt und verhandelt - und zwar in einer Art und Weise, die äußerst alltäglich, ja unspektakulär ist. 4 Das gilt etwa sowohl für das DaF-Lehrmittel Hallo, da bin ich, das für den Unterricht mit Kindern konzipiert wurde, wie auch für das DaF-Lehrmittel Studio 21. Daniel H. Rellstab 258 2 Methode und Daten Die Analyse der de facto Didaktik setzt einen methodischen Zugriff voraus, welcher die Perspektiven der Teilnehmenden ernst nimmt und nicht vorschnell mit Kategorien operiert, welche von außen an die Interaktion herangetragen werden. Ein solcher Zugriff bietet die von Harvey Sacks in den frühen 1960er Jahren begründete Kategorisierungsanalyse, die sich mit konversationsanalytischen Instrumenten zu einer Analyse von Kategorien in action erweitern lässt. Kategorisierungsanalyse untersucht, wie Menschen im Alltag sich selbst und andere kategorisieren, wann sie dies tun und mit welchen sprachlichen Mittel (cf. etwa Butler 2008: 30). Sie fragt aber auch danach, welche Schlussfolgerungen mit einzelnen Kategorien verbunden sind und wie Kategorien zu größeren Einheiten, den so genannten membership category devices, von Eberle (1997) als Mitgliedschaftskategorisierung übersetzt, zusammengefügt werden (cf. Sacks 1972: 332; Sacks 1992: 238). Denn die Verwendung von Kategorien im Alltag erhellt einen großen Bereich der alltäglichen Sinnkonstitution und des alltäglichen Denkens, und, wie Sacks selbst betont, der kulturellen Basis des Alltagshandelns (cf. Sacks 1992: 237 et passim). Sacks’ Darstellung der Kategorien und deren Anwendungsregeln ist nicht immer ganz eindeutig zu entnehmen, welchen ontologischen Status er ihnen zuschreibt (cf. Hester/ Eglin 1997a). Sind sie dekontextualisiert, sind sie categories in action? Für Stephen Hester und Peter Eglin ist klar, dass ein dekontextualisiertes Verständnis der Kategorien nicht adäquat ist, denn „culture does not exist independently of its production” (Hester/ Eglin 1997a: 166, note 9). Kategorisierungen und die Verwendung von Kategorien sind also „occasioned”, Kategorien sind Kategorien im Kontext: ‘Categories in context’ refers to a display of categories in different contexts that can be understood as a mutually constitutive interactional achievement of members’ practical linguistic work. (Housley/ Fitzgerald 2002: 68) Mitgliedschaftskategorisierungen lassen sich aus eigenem Recht analysieren (cf. Stokoe 2012), in Texten unterschiedlicher Art und auch in interaktionalen Daten (cf. etwa Francis/ Hart 1997; Hester/ Eglin 1997b). Dies ist besonders erhellend, denn eine sequentielle Analyse zeigt nicht nur, wann welche Kategorien in der Interaktion relevant werden, sie gibt auch Hinweise darauf, warum und wie sie relevant werden. Obgleich sowohl bei der Kategorisierungsanalyse wie auch der Sequenzanalyse die Orientierungen der Beteiligten den Ausgangs- und auch einen Zielpunkt der Analysen bilden, heißt dies nicht, dass Ethnomethodologie, Konversations- und Kategorisierungsanalysen sich in der Darstellung der Orientierungen der Beteiligten und der etablierten Ordnungen erschöpfen muss. Konversations- und kategorisierungsanalytische Untersuchungen können vielmehr das Bewusstsein um vorhandene Interaktionsmuster schärfen und damit auch als Ausgangspunkt für Kritik dienen (cf. etwa Kitzinger 2002; Wilkinson/ Kitzinger 2003), was im vorliegenden Kontext wichtig ist. Denn diese Analysen können nicht nur zeigen, was de facto geschieht, sondern auch als Basis für ‚Kritik’ dienen, ver- Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen 259 standen im Sinne einer differenzierenden Unterscheidung, welche überprüft, ob und inwiefern das implizit oder explizit formulierte didaktische Ziel erreicht wurde oder nicht. Die Episode, die im Folgenden ausschnittweise untersucht wird, ist Teil eines Korpus von Aufnahmen aus Deutsch-als-Zweitsprache-Lektionen in multilingualen, transnationalen Klassenzimmern der französischsprachigen Schweiz, das heißt in Klassenzimmern, in welchen ein Großteil der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund aufweisen 5 . Sie stammt aus einer 6. Klasse, in welcher bloß 2 von 21 Kindern keinen Migrationshintergrund aufweisen. Diese Klasse ist aus etischer Perspektive also ein Paradebeispiel für einen Lernkontext, in welchem die von den Erziehungsbehörden anvisierte „interkulturelle Kompetenz” erprobt und eingeübt werden könnte. Die sprachlichen Ressourcen hier sind äußerst vielfältig und reichen von Französisch, Deutsch und Englisch über Hindi, Chinesisch, Portugiesisch bis hin zu Finnisch. Allerdings spielen in der folgenden Episode die Herkunftssprachen der Kinder keine Rolle. Im Zentrum steht hier vielmehr der Umgang mit der Kategorie „Kind mit Migrationshintergrund”, einer Kategorie, welcher sich viele der Schülerinnen und Schüler dieser Klasse zugehörig fühlen könnten. 3 Tamburins „Kinder aus aller Welt in Deutschland” Die Kategorisierung „Kind mit Migrationshintergrund” wird in einer Hörverstehensübung relevant, welche Teil des in der Klasse verwendeten Lehrmittels Tamburin ist. 6 Tamburin bildet denn auch eine wichtige semiotische Ressource in dieser Episode; die für die Analyse relevanten Teile werden deshalb ebenfalls untersucht, bevor Sequenzen der Hörverstehensübung analysiert werden. Tamburin ist ein Deutsch-als-Fremdsprache Lehrmittel für Kinder, die Deutsch im nicht-deutschen Ausland lernen. 7 Es versteht es sich laut Eigenaussagen als dem „interkulturellen Ansatz” verpflichtet. So schlägt Tamburin etwa vor, landeskundliche Themen - z. B. Jahrmarkt (Kapitel 2), Fernsehen (Kapitel 4), Umweltschutz (Kapitel 6) - mit Erlebnissen der Lernenden zu kontrastieren, um so Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten zwischen dem 5 Der Terminus „Transnationalismus“ wird verwendet, um zu akzentuieren, dass Migration nicht ein eindimensionaler Prozess ist. Steven Gold (2001: 57) schreibt: „The approach conceives of migration as a multi-level process (demographic, political, economic, cultural, familial) that involves various links between two or more settings rather than a discrete event constituted by a permanent move from one nation to another.“ 6 Cf. Büttner/ Kopp/ Alberti (2013). Das Lehrmittel besteht aus einem Lehrbuch (LB), einem Lehrerhandbuch (LH), einem Arbeitsbuch, das hier aber nicht verwendet wird, und einer CD. 7 Ein Schweizer DaF-Lehrmittel, welches in der französischsprachigen Schweiz verwendet werden könnte, existiert meines Wissens nicht. Daher ist es nicht erstaunlich, dass die Kinder der französischsprachigen Schweiz mit Hilfe eines in Deutschland produzierten Lehrmittels Deutsch lernen. Daniel H. Rellstab 260 Leben in Deutschland und dem Leben der Lernenden herauszuarbeiten (Tamburin LH 21). Kapitel 5 macht kulturelle und sprachliche Unterschiede weltweit zum Thema. Hier sollen die Deutschlernenden erfahren, wie „Kinder aus aller Welt” leben, was sie tun, was sie essen, wie sie sprechen. Dies geschieht, indem Tamburin die Kinder aus aller Welt vorstellt; hier werden neben Nationalität auch Sprache, Gender, Aussehen, Hobbies, Essen und Wohnen relevant. Das Mädchen „Lai Ming” etwa „kommt aus China”, sagt „Nihao”, wohnt „in der Hauptstadt Chinas, in Peking, in einem Hochhaus”, spielt Tischtennis. Manolito, der „Indio-Junge” aus Peru, trägt zwar einen Chulu und spielt Flöte, er „fährt oft an den See und fängt Fische”, aber „am liebsten spielt er Fußball”. Er spricht aber nicht Quechua oder Aymara, sondern sagt „Buenos dias! Ola! ”, „Tommy, der Indianerjunge aus Kanada”, sagt „Hello! Good morning! Hi! Salut, Bonjour.”, wohnt in der Stadt, hat „aber auch ein Tipi” und „spielt am liebsten Eishockey”. Tamburin erklärt: „Viele Jungen in Kanada spielen Eishockey” (Tamburin LB 53). Debbie wohnt in Alaska, sagt „Hello! Good morning! Hi! ”, bleibt im Winter „am liebsten zu Hause und spielt mit Puppen”. Sie wohnt in einem Haus „auf Füßen”. Edem kommt aus Togo, sagt „Odoa” (wohl Ewe), „ist schwarz” und spielt „am liebsten” Fußball (Tamburin LB 52-58). Diese Beispiele zeigen, dass Tamburin stark mit Kategorien der Differenz arbeitet: Keine zwei Kinder weisen dieselbe Nationalität auf, ihre Behausungen unterscheiden sich, ihre Hobbies entsprechen im Fall von Tommy und Mai Ling den für ihre Nationalität stereotyp als typisch erachteten. Gleichzeitig ist Tamburin auch darum bemüht, die „Kinder aus aller Welt” mit Hilfe von transnational gültigen Kategorien zu beschreiben; dies geschieht vor allem über die Hobbies. Doch die Hobbies sind dafür ihrerseits genderstereotyp partitioniert: Mädchen spielen mit Puppen, Jungen spielen gerne Fußball oder Eishockey. In einem Unterkapitel wird Deutschland als Einwanderungsland dargestellt. Dieses Unterkapitel ist als Hörverstehensübung konzipiert, zu der vier von Kindern gesprochene Porträts von „Kindern aus aller Welt in Deutschland” gehören: Vorgestellt werden die beiden Mädchen Azeb und Ayse und die beiden Jungen Luca und Ivan. Tamburin fasst diese Kinder im Lehrerkommentar in der Mitgliedschaftskategorisierung „Kinder mit Migrationshintergrund” zusammen und unterscheidet gleichzeitig drei Unterkategorien: Kinder „aus italienischen, spanischen, portugiesischen, griechischen und türkischen Familien”, welche „zum großen Teil schon in Deutschland geboren” sind und die „Sprache ihres Herkunftslandes nur schlecht oder gar nicht mehr” beherrschen. Diese Kinder unterscheiden sich von Kindern ohne Migrationshintergrund durch die prädikativ der Familie zugeschriebene Nationalität; als Subgruppe dieser Kategorie werden „streng muslimische Familien” unterschieden, welche ihren Mädchen Verbote auferlegen. Die zweite Kategorie besteht aus Kindern „aus osteuropäischen Ländern mit deutschstämmigen Vorfahren”, die „in den letzten Jahren” nach Deutschland gekommen sind und „in der Regel am Anfang die deutsche Sprache überhaupt nicht” sprechen. Die letzte Kategorie wird mit Hilfe des Migrationsstatus, des Aussehens und der „Kultur“ gebildet: Es sind „Flüchtlingskinder aus Krisen- Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen 261 gebieten”. Diese hätten manchmal „wegen ihrer Hautfarbe und ihrer kulturellen Andersartigkeit größere Integrationsschwierigkeiten als die anderen Gruppen” (Tamburin LH 100-101). Luca und Ayse gehören zur ersten Kategorie: Luca „kommt aus Italien”, Ayse „kommt aus der Türkei”; letztere „darf im Sportunterricht nicht schwimmen”. Ivan „kommt aus Russland” und gehört zur zweiten, Azeb „aus Eritrea” gehört zur dritten Kategorie. Die Figur Ayse und der Umgang der Klasse mit ihr wird im Folgenden im Zentrum stehen. Sie ist aus intersektionalitätstheoretischen Überlegungen interessant: An ihrem Beispiel lässt sich zeigen, wie Tamburin die Kategorisierungen Gender, Nationalität und Religion verwendet, und wie die Klasse mit diesen Kategorisierungen umgeht. 4 „Ayse” in Tamburin Die Hörverstehensübung wird in der Klasse in spezifischer Weise organisiert: Die Schülerinnen und Schüler müssen ihr Lehrbuch aufschlagen, dann die Namen der Kinder verdecken. Die Lehrerin spielt anschließend jeweils ein Porträt ab. Das dritte Porträt ist dasjenige von Ayse; laut Lehrerhandbuch ist sie „ein türkisches Mädchen” (Tamburin LH 90). Die Stimme auf CD sagt: 8 1m2G5-356 1 CP3: halLO: . 2 ich heiße ayse. 3 (0.4) 4 ich komme aus der türKEI. 5 (0.5) 6 ich bin ELF jahre alt. 7 (0.4) 8 ich bin schon ACHT jahre in deutschland. 9 (0.5) 10 zu hause sprechen wir NUR türkisch. 11 (0.2) 12 A: ber ich kann auch GUT deutsch. 13 (0.5) 14 eigentlich fühle ich mich in deutschland sehr WOH: L. 15 (0.5) 16 ich habe VIER freundinnen. 17 zwei deutsche? 18 eine türkische, 19 (0.4) 20 und eine (0.2) griechische. 21 (0.6) 8 Die CD-Episode und die Interaktionen wurden nach GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribiert. Parallelität zwischen verbalen und nonverbale Handlungen wurde mit Linien markiert: |((xxxx))|. Daniel H. Rellstab 262 22 wir machen VIEL zusammen. 23 (0.5) 24 wir spielen memory? 25 domino, 26 und so. 27 (1.0) 28 aber am LIEBsten fahre ich rollschuh. 29 (0.8) 30 nur in der SCHULE ist es manchmal ein bisschen SCHWER für mich. 31 (0.7) 32 ich darf im SPORTunterricht nicht SCHWImmen. 33 (0.5) 34 das MÖCHten meine eltern nicht. 35 (0.5) 36 schade. 37 (0.6) 38 naja. 39 (0.4) 40 da kann man NICHTS machen. Ayse sagt: ich komme aus der türKEI. Diese Aussage und die mit ihr verbundene Kategorisierung „Kind aus der Türkei” könnte angesichts der Tatsache, dass sie als Elfjährige schon ACHT jahre in deutschland lebt, irritieren. Für Tamburin scheint dies indessen kein Widerspruch zu sein. Im Folgenden wird vielmehr dargestellt, wie sich ein Kind „aus der Türkei” in Deutschland fühlt, und wie es und seine Familie sich integrieren. Die Familie von Ayse spricht zu Hause NUR türkisch, was zur Selbstkategorisierung der Figur, dass sie aus der türKEI kommt, passt. Entgegen der damit einhergehenden Erwartung kann Ayse aber auch GUT deutsch. 9 Ayse formuliert dann, wie sie sich in Deutschland fühlt: eigentlich sehr WOH: L. Das Wohlbefinden ist nicht uneingeschränkt, die Aussage modalisiert. Zuerst zählt sie aber auf, weshalb sie sich wohl fühlt: Sie hat VIER freundinnen, von denen zwei deutsche sind, eine türkische und eine griechische ist. Damit wird angezeigt, dass Ayse über ein soziales Netzwerk verfügt, das über den Kreis der Familie und Kinder mit Migrationshintergrund hinausreicht und auch zwei deutsche freundinnen umfasst. Die nationale Herkunft der Freundinnen ist für Tamburin offensichtlich relevant. Relevant gemacht wird ebenfalls das Geschlecht des Freundeskreises: Ayse hat nur Freundinnen. Mit diesen unternimmt sie viel. Doch in der SCHULE ist es manchmal ein bisschen SCHWER für sie; hier ist also der Grund dafür, weshalb sie sich in Deutschland nicht uneingeschränkt wohl fühlt. Schuld daran ist jedoch nicht die Schule, schuld daran sind ihre Eltern. Sie darf im SPORTunterricht nicht SCHWImmen, weil ihre Eltern dies nicht möchten. Damit diese Aussage verständlich wird, muss die Kategorisierung Religi- 9 Cf. dazu die Standardanalyse für aber, die „besagt, dass mittels aber zwei Konjunkte kontrastiert werden, so daß das zweite Konjunkt einen Gegensatz bildet zu dem, was das erste Konjunkt erwarten läßt” (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997: 2402). Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen 263 on relevant gemacht werden: Mädchen das Schwimmen zu verbieten ist etwas, was üblicherweise muslimischen Eltern zugeschrieben wird. 10 Gemäß Tamburin teilt Ayse die Überzeugung der Eltern nicht. Für Ayse ist es schade, dass sie nicht schwimmen darf. Sie lehnt sich jedoch nicht gegen ihre Eltern auf, sondern ist ein braves Kind: da kann man NICHTS machen. Das hier repräsentierte Mädchen kommt nicht aus Deutschland, sondern aus der Türkei und ist in Deutschland fremd. Dieser Fremdheitseffekt entsteht durch die Kategorisierungen „Nationalität”, „Sprache” und „Religion”; letztere wird relevant, weil die Religion die Kategorisierung „Geschlecht” in einer Weise affiziert, so dass sie mit der „deutschen” Vorstellung davon, was genderkonformes Verhalten ist, konfligiert. 5 „Ayse” im Klassenzimmer Mit diesem Material arbeitet die Klasse in der Hörverstehensübung: Die Klasse hört das Porträt, die Lehrerin stellt darauf den CD-Player aus und lässt dann die Schülerinnen und Schüler raten, „wer spricht”. Bei der Erkennung der Sprechenden spielt die Kategorisierung „Gender” eine wichtige Rolle: 1m2G4-473 1 Le4: WER spricht. 2 we/ WER spricht; 3 (2.9) 4 Eml: [((hebt li hand halb))] 5 Kor: [((hebt li ellbogen halb))] 6 Eml: [((bewegt li hand auf brusthöhe auf und ab, senkt sie kontinuierlich, bis ellbogen auf dem pult liegt))] 7 Le4: ((schaut zu eml, öffnet, schließt re hand, nimmt sie zurück)) 8 Kor: ((blickt zu eml, senkt hand)) 9 Ndr: ((hebt re hand)) 10 Eml: [|ä ching? |] |((legt li hand ab))| 11 Ndr: [((stellt re ellbogen auf pult))] 12 Eml: euh euh ein mädchen? 13 Le4: ein mädchen. 14 là |tu peux être sûr.| |((macht mit re hand eine horizontale linie))| 15 d'accord? 16 habituez-vous à donner des éléments de réponse 10 Dies ist, wie Haug et al. (2010: 184) in ihrer Studie zum Alltag von Muslimen in Deutschland nachweisen, ein Stereotyp, das mit der Realität nur bedingt übereinstimmt. So sind es lediglich 1,9% der muslimischen Schülerinnen, die dem gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht aus religiösen Gründen fernbleiben. Daniel H. Rellstab 264 dont vous êtes SÛRS. 17 et ce que vous savez pas? 18 .h on peut |l'essayer? | |((bewegt re hand nach rechts))| 19 MAIS (.) on a pas demandé: forcément des déTAILS; 20 (.) 21 d'accord? 22 c'est à vous (.) contourner |un 'tit peu.| |((macht mit re hand wellenbewegung))| 23 |ein MÄdchen.| |((geht rückwärts zum cd-player))| Auf die Frage der Lehrerin, wer spricht, signalisiert einzig der Schüler Emilio, dass er die Antwort weiß. Allerdings ist seine Präselektion nicht eineindeutig: 11 Er streckt seine Hand nur halb auf und bewegt sie anschließend auf und ab. Die Lehrerin aber nimmt Blickkontakt mit ihm auf und übergibt ihm dann mit einer Geste den turn. Emilio antwortet nun mit einer Kategorisierung der Sprechenden, die auf den Lebensabschnitt, in dem sie sich befindet, referiert, und zwar in Schweizerdeutsch: ä ching (10). Dies ist im Prinzip richtig: Ayse ist ein Kind. Er korrigiert sich aber gleich selbst, und zwar in doppelter Hinsicht: Erstens wechselt er die Varietät, zweitens referiert er nun auf das Geschlecht der Sprecherin, identifiziert sie, wenn auch „try-marked” (Psathas 1995: 31), als ein mädchen. Diese Beschreibung ist genauer als Kind. Die Lehrerin ratifiziert Emilios Antwort, schließt aber die Sequenz nicht ab. Sie liefert in einer langen, in Französisch formulierten „post-expansion” (cf. etwa Schegloff 2007: 148ff.; Sidnell 2010) eine Erklärung dafür, weshalb der Rekurs aufs Geschlecht hier richtig und sinnvoll ist: Auf die Frage danach, wer jemand sei, zuerst mit der Angabe des Geschlechts zu beantworten, gilt ihr als element de réponse dont vous êtes sûrs (17), also als sichere Strategie: Offensichtlich ist es leicht, die Sprechenden der einen oder der anderen Kategorie zuzuordnen. Die Kategorisierung „Gender” ist hier also kein interaktiv zu bearbeitendes Problem, sondern eine im Prozess der Identifizierung früh einzusetzende Ressource, welche das Antwortgeben erleichtert. Das „Arrangement der Geschlechter” (Goffman 2001) wird also nicht etwa thematisiert oder problematisiert, sondern einfach reproduziert. Gleichermaßen unproblematisch ist für die Klasse die Antwort auf die Frage danach, woher „Ayse kommt”. Zuvor schon wurde danach gefragt, woher die anderen Kinder kommen. Auch das war einfach: Azeb kommt aus Eritrea, Luca aus Italien und Ivan aus Russland. Nun geht es um Ayse: 1m2G5-535 1 Le4: |woher kommt AYse.| |((blickt in buch auf dem tisch))| 2 ((blickt in die klasse)) 3 Jda: ((hebt die hand)) 11 Zur Terminologie cf. Mondada (2009). Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen 265 4 Ndr: ((hebt die hand)) 5 Ast: ((hebt die hand)) 6 Caa: ((hebt die hand)) 7 Joh: [((hebt die hand))] 8 Kor: [((hebt die hand))] 9 Eml: ((hebt die hand)) 10 Le4: nadira? 11 Ndr: ((senkt die hand)) 12 Kor: [((senkt die hand))] 13 Ast: [((senkt die hand))] 14 Ndr: |.hh sie [kommt aus] (1.2) turKEI.| |((blickt ins buch))| 15 Caa: [((senkt die hand))] 16 Joh: [((senkt die hand))] 17 Eml: [((senkt die hand))] 18 Jda: [((senkt die hand))] 19 Ndr: ((blickt zu le4)) 20 Le4: ^JA: : . 21 das ist richtig. Auch diese Frage wird von den Schülerinnen und Schülern als Testfrage interpretiert: Sieben Schülerinnen und Schüler zeigen an, dass sie antworten möchten. Die Lehrerin wählt Nadira, die einen deutschen Satz mit Subjekt, Prädikat und Adverbiale konstruiert. Zur Konstruktion dieses Satzes orientiert sie sich einerseits offensichtlich am Lehrbuch, wo die Antwort als Aufgabe Nr. 3 der nächsten Übung steht. Dass sie sich daran orientiert, zeigt sie auch der Lehrperson: Sie blickt ins Buch. Der Satz im Buch wird damit Bestandteil der kontextuellen Konfiguration dieser Handlungssequenz: Das Buch gibt die Antwort vor. Doch obschon sich Nadira am Buch orientiert, beendet sie ihren turn nach einer längeren Verzögerung nicht gemäß der Vorlage des Buches, sondern ohne den für weibliche Ländernamen im Deutschen zwingenden Artikel. An der übergaberelevanten Stelle, am Ende der TCU, blickt Nadira auf zur Lehrerin, womit sie einen wechselseitigen Blickkontakt etabliert und damit der Lehrerin signalisiert, dass sie bereit ist, die Evaluation der Antwort entgegenzunehmen 12 . Diese Evaluation folgt auch sogleich: Die Lehrerin bewertet die Antwort der Schülerin als richtig. Die Handlungssequenz zur nationalen Herkunft ist damit abgeschlossen. Damit ist auch interaktiv im Klassenzimmerraum festgelegt, dass das Mädchen Ayse aus der Türkei kommt - ungeachtet der Tatsache, dass es seit 8 Jahren in Deutschland lebt. Auf diesen Teil der Hörverstehensübung folgt eine Aktivität, die zwar mit dem vorhergehenden Teil verbunden, jedoch sowohl strukturell als auch thematisch abgesetzt ist. Die Lehrerin initiiert nämlich einen Wechsel von einer Interaktion, die darauf abzielt, das Gehörte mündlich zu kontrollieren und gleichzeitig die Struktur einer bestimmten Antwort einzuüben, zu einer 12 Zur Rolle des Blicks in der Etablierung des Teilnehmerrahmens cf. etwa Goodwin (1996; 2002), Heath (1984). Daniel H. Rellstab 266 Interaktion, in welcher erstens nicht mehr die Figuren von Tamburin im Zentrum stehen und zweitens nicht mehr Testfragen, sondern echte Ergänzungsfragen gestellt werden. Der relativ strikte form-and-accuracy-Kontext wird also von einem freieren Interaktionskontext abgelöst (cf. Seedhouse 2004: 102). Hier wendet die Lehrperson nun die Kategorien, welche durch das Lehrbuch, die CD und die vorangehende Interaktion etabliert wurden, auf die Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse an: 1m2G5-556 1 Le4: wer kommt |(1.9) aus (0.9) turkei (0.7)| |((geht in die raummitte))| 2 |hier.| |((kreisbewegungen mit re hand))| 3 (2.4) 4 |niemand.| |((zieht horizontale linie mit re hand))| 5 Bap: [((kopfschütteln))] 6 Caa: [_m_m] 7 Le4: wer kommt [aus russland [hier.]] 8 [((mobiltel. signal))] Das Frageformat des first-pair part der Sequenz stiftet Kohärenz zur vorangehenden Sequenz. Denn die Frage der Lehrerin (1) ist nichts anderes als eine Variation der Frage, die in den vorangehenden Sequenzen zu beantworten war. Doch es findet eine Verschiebung des Redegegenstands statt. Es geht nicht mehr darum, den Namen der porträtierten Figuren Nationen zuzuordnen. Mit der Frage will sie vielmehr die eigenen Schülerinnen und Schüler gemäß der durch das Lehrmittel und die vorangehende Übung relevant gesetzten Kategorie „kommt aus der Türkei” partitionieren und damit gleich kategorisieren, wie die Figuren des Buches kategorisiert wurden. 13 Die Lehrerin thematisiert damit die Transnationalität im Klassenzimmer und versucht so, sie sichtbar zu machen. Dass jemand in dieser Klasse aus der Türkei stammt, wird vom Frageformat vorausgesetzt. Die thematische Verschiebung von den Figuren des Lehrbuchs zu den Schülerinnen und Schülern markiert die Lehrerin nicht nur sprachlich mit einem hier, sondern auch mit einer direkten (cf. etwa Le Guen 2011: 277), redegegenstandsbezogenen Zeigegeste (cf. Fricke 2007: 209). Gleichzeitig ändert sie ihre Position von der Raumseite zur Raummitte, womit sie den Wechsel ebenfalls unterstreicht. Auf die Frage der Lehrerin folgt jedoch keine Antwort. Die Verzögerung (3) und damit das Ausbleiben der Antwort interpretiert die Lehrperson nicht als Unverständnis oder als Nichtwissen, sondern als Verneinung, was sie sprachlich und mit einer metaphorischen Geste (cf. etwa McNeill 2005: 39) kundgibt: niemand. Diese Interpretation wird von Carla und Baptiste bestätigt. In ihrer Klasse gibt es offensichtlich niemanden, der aus der Türkei kommt. Damit wird „Ayse” und die Türkei für die nächsten Minuten irrelevant. 13 Zur Terminologie cf. Sacks (1992: 590-591). Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen 267 „Ayse” wird im Plenum erst während der nachfolgenden Aktivität wieder wichtig. Hier geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler einzelne Sätze, die sie gehört haben, den porträtierten Kindern zuordnen. Dazu werden sie in vier Gruppen geteilt; jeder Gruppe werden Sätze zwecks Vorbereitung zugeteilt. Zu Ayse gibt es sechs Sätze: „Sie ist elf Jahre alt.” „Sie hat vier Freundinnen.” „Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen.” „Sie ist schon acht Jahre in Deutschland.” „Sie spricht Türkisch, aber auch gut Deutsch.” „Sie fährt am liebsten Rollschuh.” Die Zuordnungen dieser Sätze zur Figur verlaufen im Plenum mehr oder weniger unproblematisch. Die einzelnen Sätze werden weder von der Lehrerin noch den Schülerinnen oder Schülern kommentiert - mit einer Ausnahme, dem Satz „Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen.” Die Zuordnung dieses Satzes bereitet der Gruppe 2, die sich hätte vorbereiten sollen, Mühe, wie sich im folgenden Ausschnitt zeigt, welcher die Interaktion im Plenum und in der Gruppe 2, die hier unter spezifischer Beobachtung steht, wiedergibt: 1M2G2-1579 1 Le4: vous en avez discuté? 2 donc (.) tout le monde peut répondre? 3 qu'est-ce qui s’passe meifeng; 4 (1.9) 5 tu sais plus la réponse. 6 Mef: si? 7 mais ch'ai pas comme on |trou' les vraies phrases.| |((schaut auf zu le4))| 8 Le4: pourqoui? 9 alors tu ESSaies? 10 comme ça ben j'peux t'corriger. 11 si t'essaies pas, 12 je sais pas quoi FAIre. 13 Mef: sie DARF in SPORtun: terrich (.) NICHT schwimmen. 14 Le4: ja? 15 (0.6) 16 Le4: [↑sehr gut-] 17 Mef: [e: : h] c'est personne? 18 (0.7) 19 Le4: ↑niemand. 20 Rsi: [he] 21 Ast: [.h] |h. [.h]| |((nimmt re hand vor die stirn))| 22 Rsi: [he? ] 23 Le4: [also; ] 24 Ast: hh. [.hh] 25 Le4: [<<f> SIE.>] 26 Rsi: [<<pp> ivAN.>] 27 Ast: hh. 28 Le4: ein mädchen oder eine (.) ein junge. Daniel H. Rellstab 268 29 Ast: <<p> c'est AYs[e: ,>] 30 Le4: [SIE] darf [im sport]unterricht nicht schwimmen. 31 Ast: [<<p> AYse.>] 32 <<p> ayse.> 33 (1.0) 34 Le4: tu peux |procéder par élimination.| |((kreisbewegung mit re offener hand))| 35 vous avez |des indices.| 36 |((streckt daumen und zeigefinger der re hand auf))| 37 |astou? | |((zeigt auf ast))| 38 une idée. 39 Mef: <<pp> c'est pas [azeb.>] 40 Ast: [ayse? ] 41 Le4: ayse oder azeb. 42 (.) 43 also? 44 Ast: ayse. 45 Le4: das ist ayse. 46 gut euh. Von den drei Schülerinnen der Gruppe haben sich bisher zwei nicht am Unterricht beteiligt: Astou und Meifeng. Die Lehrerin fordert nun von Meifeng einen account dafür, weshalb sie sich jetzt nicht meldet, und liefert gleich einen möglichen Grund mit: tu sais plus la réponse. Meifeng negiert, dass sie die Antwort nicht mehr weiß. Sie begründet ihr Schweigen damit, dass sie Probleme habe, die Antwort zu formulieren: comme on trou’ les vrais phrases. Die Lehrerin lässt dies nicht gelten und weist darauf hin, dass sie ihr nur dann helfen könne, wenn sie einen Versuch starte. Meifeng interpretiert dies als Aufforderung und liest, dem Muster entsprechend, das sich zuvor etabliert hat, zuerst den Satz laut vor. Die Lehrerin wertet das Vorlesen schon als geglückte Teilaufgabe, zeigt aber auch anhand der steigenden Intonation in 14 an, dass die Sequenz noch nicht geschlossen ist. Doch Meifeng zögert, und so liefert die Lehrerin ein zweites Assessment, in welchem sie die Lektüre nicht nur als richtig, sondern als sehr gut evaluiert. Meifeng zeigt gleichzeitig mit ihrem delay marker, dass sie etwas sagen wird, und dies tut sie denn auch: c’est personne? Wie unzählige andere Antworten von Schülerinnen und Schülern auf Testfragen ist auch diese Antwort try-marked und bedarf damit der Bestätigung der Lehrerin. Die Lehrerin liefert nicht sogleich eine Bestätigung oder eine Negation der Richtigkeit der Antwort. Diese kurze Verzögerung ist ein Dispräferenzsignal, das anzeigt, dass mit der gelieferten Antwort etwas nicht in Ordnung ist (cf. etwa Kääntä 2010: 212-13; Macbeth 2004: 716 et passim). Allerdings funktioniert hier nicht nur die Verzögerung als Reparaturinitiator, sondern auch die Repetition eines Teils der Antwort von Meifeng, der Sprachwechsel ins Deutsche und die spezifische Intonation: niemand. Dieser Reparturinitiator reizt die Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen 269 Mitschülerinnen Meifengs zum Lachen. Sie hören ihn als Witz, dessen Ziel - im Sinne Philipp Glenns (2003) - Meifeng ist. Die Lehrerin ihrerseits bleibt faktisch und versucht, Meifeng zur richtigen Antwort zu führen: also SIE. SIE indiziert, dass es offensichtlich jemanden gibt, der im Sportunterricht nicht schwimmen darf. SIE soll Meifeng aber auch das Geschlecht der Person anzeigen, wie die Lehrerin mit ihrer gleich darauf folgenden Alternativfrage klarmacht: ein mädchen oder eine (.) ein junge. Meifeng gibt keine Antwort. Sie schweigt auch, obwohl sie gleichzeitig zur offiziellen inoffizielle Hilfe erhält: Astou flüstert ihr dreimal die Antwort vor, doch Meifeng hört offensichtlich nicht zu. Die Lehrerin versucht nun, Meifeng eine Strategie zu lehren, wie sie doch zur Antwort kommen könnte: procéder par élimination. Allerdings gibt sie Meifeng nicht genügend Zeit, um über ein Ausscheidungsverfahren zur Antwort zu kommen - was Meifeng für sich sogar tut (39) - sondern sie gibt den turn an Astou weiter, die nun ihrerseits die richtige Antwort geben kann. Damit ist die Auseinandersetzung mit dem Satz „Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen” im Plenum abgeschlossen. Der Satz wird hier also nur zum linguistischen Problem. Der pädagogische Fokus ist hier ganz auf die Produktion korrekter Antworten gerichtet; die Diskussion dieses Sachverhalts, eine kurze Reflexion, bleibt aus. Dies ist jedoch nur in der offiziellen Klasseninteraktion der Fall. In Gruppe 3 wird die Tatsache, dass „Asyhe” nicht schwimmen darf, nämlich kommentiert: 1m2G3-1720 1 Le4: [↑niemand.] 2 Msa: he he [he] 3 Le4: [also; ] 4 <<f> SIE.> 5 (2.0) 6 Mel: m_hm? 7 Msa: <<pp dites-v' [personne,>] 8 Le4: [ein mädchen] oder eine [ein junge.] 9 Mel: [((hustet))] 10 Le4: SIE darf [im sport]unterricht nicht schwimmen. 11 Msa: [<<pp> 'dchen>] 12 Mel: <<pp> mal chance.> Dieser Kommentar, der direkt auf den von der Lehrerin repetierten Satz folgt, ist lakonisch und kurz: mal chance, Pech gehabt. Mit diesem assessment zeigt Melanie, dass sie durchaus versteht, dass diese Situation für die Figur „Ayse” problematisch ist. Sie zeigt aber damit gleichzeitig auch, dass ihr diese Situation vollkommen egal ist. 6 Interkulturalität im transnationalen Klassenzimmer Die Problematik vereinfachender Darstellungen von Kultur und damit auch Interkulturalität und die Komplexität des Verhältnisses zwischen Kultur, Geschlecht, Ethnizität und ökonomischen Verhältnissen ist in der Erzie- Daniel H. Rellstab 270 hungswissenschaft, der Pädagogik, aber auch den verschiedenen einzelwissenschaftlichen Didaktiken, gerade auch der Sprachdidaktik, wohl bewusst. So weist etwa Annedore Prengel (2006) dezidiert darauf hin, dass „Kultur” nicht als homogene Nationalkultur verstanden werden darf und dass intersektionalitätstheoretische Überlegungen in der Konzeptualisierung des Unterrichts eine Rolle spielen müssen. Sara Fürstenau betont, dass Vertreterinnen und Vertreter interkultureller Pädagogik längst erkannt hätten, dass Kultur und Ethnizita t „soziale Unterscheidungskategorien” neben anderen sind und jeweils zu fragen ist, „welche Unterschiede in Abhängigkeit vom sozialen Kontext relevant sind und innerhalb sozialer Hierarchien bewertet werden” (Fürstenau 2012: 2). Doch scheinen weder ein veraltetes Kulturverständnis noch überkommene Gendervorstellungen aus Lehrmitteln und Klassenzimmern verschwunden zu sein. So ist etwa Tamburin zwar darum bemüht zu zeigen, dass im heutigen Deutschland Vielfalt besteht. Doch für Tamburin steht gleichzeitig fest: Die porträtierten Kinder kommen nicht aus Deutschland. Ayse etwa „kommt aus der Türkei”. Gleichzeitig operiert Tamburin mit problematischen Gendervorstellungen und stereotypen Vorstellungen des Fremden. Auch das zeigt sich an Ayse. Ihre Religion wird als Verhinderungsgrund in zweifacher Hinsicht relevant gesetzt: Sie verunmöglicht ihr die Teilnahme am Schwimmunterricht und damit gleichzeitig ein sorgloses Leben in Deutschland. In dieser Klasse werden die Kategorisierungen von Tamburin nicht nur als Teil der Hörverstehensübung reproduziert, sondern zum Teil auch auf die Klasse selbst appliziert. Die Lehrerin unternimmt den Versuch, Kinder in ihrer Klasse zu finden, die wie Ayse ebenfalls „aus der Türkei kommen”. Damit verschiebt sie zwar den Fokus vom Nachvollzug des auf der CD Gehörten zur Transnationalität innerhalb des Klassenzimmers und versucht damit, Transnationalität im Klassenzimmer sichtbar zu machen. Inwiefern dies zur positiven Stärkung der Identität von Kindern mit Migrationshintergrund führen könnte, ist unklar. Doch wechselt der Fokus im Plenum zurück zur Reproduktion des Gehörten. So wird etwa der Satz „Sie darf im Sportunterricht nicht schwimmen” in der offiziellen Klassenzimmerinteraktion ausschließlich als linguistisches Problem bearbeitet. Das Bewusstsein dafür, dass die mit diesem Satz beschriebene Situation durchaus eine schwierige sein könnte, wird beiläufig in einer der Gruppen thematisiert, und zwar in einer Weise, welche nicht unbedingt von einer reflexiven Haltung zeugt. Dies zeigt auch, dass interkulturelle Kompetenz und eine reflexive Haltung offensichtlich nicht einfach dann entsteht, wenn Kinder mit unterschiedlichsten Migrationshintergründen zu Lerngemeinschaften zusammengefügt werden. Eine solche zu entwickeln setzt Arbeit voraus, und zwar zum aktuellen Zeitpunkt wohl vor allem Arbeit im Klassenzimmer, denn die theoretische Arbeit wurde geleistet und die politischen Vorgaben sind entwickelt. Jetzt fehlt nur noch deren Umsetzung. 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Ohne die Notwendigkeit entsprechender Untersuchungen in Frage stellen und insbesondere auch ihre gesellschaftliche Relevanz bezweifeln zu wollen, interessiert mich hier dennoch weniger die Präsenz von interkulturellen Dialogsituationen als vielmehr ihre Absenz. So wünschenswert es sein mag, dass „relevant groups of societies“ sich in „real localities of interaction“ (Hinnenkamp 2009: 16) dialogisch austauschen, so real ist auch das Ausbleiben solcher Dialoge in spezifischen räumlichen Szenarien. Diese Absenz des Dialogs hat zwei Gesichter: einerseits das Ausbleiben aufgrund mangelnder Gelegenheiten, nicht bestehender Kommunikationserfordernisse, schlicht aufgrund nicht-dialogischer Situationsrahmung. So ist jede monologische Situation selbstredend ex negativo als nicht-dialogische Situation gekennzeichnet. Daneben gibt es aber einen anderen Typ der Dialogabsenz, die Verweigerung des Dialogs, die Abgrenzung, die Blockierung in Szenarien dialogischer Möglichkeiten. Ich nenne das die Abkehr vom dialogischen Prinzip, wobei ich unter dialogischem Prinzip eine Konvention verstehe, dass dialogische Möglichkeiten kooperativ zu gestalten sind. Ich beginne meine Überlegungen zur Abkehr vom dialogischen Prinzip - und hier insbesondere zur Abkehr in interkulturellen Dialogszenarien - mit dem Blick auf Grenzen des Dialogs, besser auf Grenzen der Dialogbereitschaft, auf Grenzen des dialogischen Prinzips also. Die Entfaltung eines Dialogs setzt Beteiligung voraus, folglich untergräbt die Abkehr vom Dialog die Möglichkeiten eines wechselseitigen Verstehens von vornherein. Wenn man dies auf interkulturelle Dialogsituationen bezieht, läge es wohl nahe, die Diskussion um segregierte ‚Parallelkulturen‘ - in denen manche Akteure die so genannten ‚Minderheiten‘ ganz offensichtlich gern verorten - aufzugreifen und in vermeintlich migrationsbedingten Dialogblockaden bzw. Dialogverweigerungen Beispiele für die Abkehr vom dialogischen Prinzip zu erkennen. Doch um diese angebliche Dialogabkehr von sogenannten ‚Minderheiten‘ geht es mir gerade nicht. Vielmehr geht es mir um eine monologische Mehr- Ingo H. Warnke 276 heit, die Möglichkeiten des interkulturellen Dialogs nicht nutzt. Mein Interesse ist dabei auf Kommunikationssituationen in der Stadt bezogen. Die Beschäftigung mit kommunikativen Bedingungen und Strukturen in urbanen Kontexten deckt dabei ein Phänomen der Abkehr vom dialogischen Prinzip auf, das ich mit Lees (2008: 2449) gerade dort sehe, wo wir es vielleicht am wenigsten vermuten: in den aufgeklärten Wohnarealen der (gehobenen) Mittelschichten, die - obgleich sie in ihren politischen Überzeugungen für Diversität und interkulturellen Dialog einstehen mögen - alles andere als dialoginteressiert sind: „they tend to self-segregate“. Was Lees (2008: 2449) vor allem im Kontext einer fundamentalen Gentrifizierungskritik an der „aggressive, revanchist ideology designed to retake the inner city for the middle classes“ auf den Punkt bringt, ist die Abkehr von heiteren Multikulturalitätskonzepten, wie sie etwa im Berliner Karneval der Kulturen gefeiert werden. Lees (2008) deutet dabei das Konzept der Selbstsegregation radikal um. Selbstsegregation findet demnach gerade nicht dort statt, wo man sie in interkultureller Skepsis gerne beheimatet sieht, bei sogenannten ‚Minderheiten‘ und ihrem vermuteten Ausbleiben eines Assimilationswillens, bei den viel diskutierten Parallelkulturen (cf. Moore 2001: 120) also. Vielmehr geht es um den gegenteiligen Effekt, um die Abwendung der herrschenden und vor allem auch wirtschaftlich tragenden Schichten vom Interkulturalitätskonzept. Selbstsegregation meint bei Lees (2008) nicht, dass eine „ethnic minority group largely cuts itself off from the majority culture“ (Moore 2001: 121) - was immer ein solches Konzept auch im Einzelnen bedeuten könnte und falls es überhaupt zutreffend ist -, es geht vielmehr darum, dass die „majority culture“ sich selbst trotz dialogischer Möglichkeit uninteressiert am Dialog zeigt und sich damit ihre eigenen, selbst-segregierten Räume schafft. Als „Strategie zur Vermeidung von Konfrontation und unliebsamen Interaktionen ist die freiwillige soziale Absonderung der Selbstsegregation“ (Elwert 2007: 277) also keineswegs (nur) eine Haltung von sogenannten ‚Minderheiten‘. Selbstsegregation ist der Ausweis gerade auch der (gehobenen) Mittelschichten und ist vielleicht sogar mit allen Formen sozialer Stratifizierung engstens verbunden. Für die Soziolinguistik der Stadt folgen daraus zahlreiche Fragen an den Grenzen interkulturell interessierter Sprachwissenschaft. Ich beziehe mich hier unter anderem auch auf die damit zusammenhängende und inzwischen deutlich vernehmbare Kritik am Hybriditätskonzept, wie sie etwa von Broeck (2007) und Ha (2010) formuliert wurde. Nun unterstellen empirische Untersuchungen zu interkulturellen Dialogsituationen eine Bereitschaft zum Dialog, die aber - wie wir mit Lees (2008) sehen - keineswegs grundsätzlich angenommen werden kann. Ich werde dies am Beispiel des Berliner Ortsteils Prenzlauer Berg exemplarisch zeigen. Mein Gegenstand sind sprachlich indizierte und kommunikativ konstituierte Räume der Selbstsegregation. Der Typ sprachlicher Indizierung, der mich dabei interessiert, ist die Beschilderung der Stadt, insbesondere Schriftvorkommen auf den urbanen Oberflächen von Gebäuden. Ausgehend von der Annahme, dass Urbanität per se ein Dialogmodell ist, verstehe ich Selbstsegregation in einem anti-urbanen Impetus verankert. Ge- Abkehr vom Dialog 277 nau das wird in den Schriftoberflächen der Stadt auch indiziert und reflektiert. Der Abbau urbaner Komplexität, die Angleichung ehemals als kreativ bezeichneter Habitate an aufgeräumte Vorstellungen einer sich abschottenden gehobenen Mittelschicht, verändert den Raum der Stadt und verschiebt die Urbanitas in Sphären suburbaner oder kleinstädtischer Lebensentwürfe (cf. Abb. 1). Abb. 1: Protesttransparent an einem Balkon in Berlin Prenzlauer Berg 2012. © Foto IHW 2013 Die Prozesse der entsprechenden Enturbanisierung der Stadt sind auch ein linguistisches Phänomen. Dabei geht es jedoch nicht (nur) um die Repräsentationen von Entwicklungen in der Stadt im Medium der Sprache, sondern vor allem auch um die Funktionen sprachlicher Materialität selbst. Ich werde an sogenannter Linguistic Landscape (cf. u. a. Shohamy/ Gorter 2009, Shohamy/ Ben-Rafael/ Barni 2010) in Berlin Prenzlauer Berg zeigen, dass Schrift im öffentlichen Raum weit mehr ist als eine bloße Ausschmückung oder hinweisende Einkleidung von Orten. Linguistic Landscapes bringen Orte hervor und sie prägen Räume. 1 1 Die Analysen sind Teil des Projektes Linguistic Landscapes und Place-Making in Berlin Prenzlauer Berg, das mit Mitteln der Universität Bremen gefördert und im Sommer 2012 durchgeführt wurde. Im Projekt wurde die gesamte Linguistic Landscape des Berliner Ortsteils Prenzlauer Berg systematisch fotografisch erfasst, kodiert und ausgewertet. Ich Ingo H. Warnke 278 1.1 Urbanität als Dialogsituation Zunächst gilt es zu klären, vor welchem theoretischen Hintergrund die Analyse kommunikativer Selbstsegregation in der Stadt überhaupt erfolgen kann, denn Einschätzungen zur Abkehr von Möglichkeiten des Dialogs in städtischen Szenarien können sinnvoll nur relational in Bezug auf ein Urbanitätsmodell erfolgen, das aufzeigt, welche Möglichkeiten zur Kommunikation im urbanen Raum gegeben sind. 2 Das Urbanitätsmodell strukturiert aus linguistischer Perspektive, was wir unter Urbanität verstehen können und spezifiziert damit zugleich ex negativo die Merkmale des antiurbanen Impetus. Ich gehe davon aus, dass Stadt und Urbanität nur entfernte Synonymien aufweisen. Während Städte konkrete räumliche Figurationen sind, ist Urbanität ein räumliches, soziales und repräsentationales Modell. Das Urbanitätsmodell umfasst folglich drei Modi: Dimension, Aktion und Repräsentation (cf. Lefebvre 1991: 40). Unter Dimension verstehe ich die räumliche Anordnung von Körpern unter Einschluss der aus ihren Relationen hervorgehenden Leerräume, unter Aktion verstehe ich das Verhalten von Bewohner_innen in der Stadt (wobei auch Tiere in der Stadt wie überhaupt alle Belebtheitsphänomene ins Spiel zu bringen sind) und unter Repräsentation sowohl individuelle kognitive Repräsentationen von Dimension und Aktion wie insbesondere auch mediale Repräsentationen in Bild, Schrift, Musik, Kunst, Werbung, Images, Tourismus usw. Selbstverständlich weist auch der nicht-urbane bzw. ländliche Raum (so problematisch eine solche Abgrenzung auch immer sein mag) dimensionale, aktionale und repräsentationale Strukturen auf. Das Berner Oberland beispielsweise ist eine geographische Formation mit erkennbaren räumlichen Dimensionen, die bestimmte Aktionen - etwa die Besteigung der Eiger Nordwand - hervorbringen, die ihrerseits wieder filmisch, journalistisch, touristisch, literarisch usw. repräsentiert bzw. in individuellen kognitiven Formaten verarbeitbar, erinnerbar sind. Das Vorhandensein von Dimension, Aktion und Repräsentation unterscheidet also das Berner Oberland nicht von einem Berliner Ortsteil. Dimension, Aktion und Repräsentation sind folglich nicht an sich urbane Merkmale, sondern vielmehr räumliche Modi, die durch Merkmale urban spezifiziert werden. Diese Merkmale sind eine mehr oder weniger ausgeprägte Größe, Dichte, Heterogenität, Simultanität, Multiformalität und Intersemiotizität. Städte sind demnach durch dimensionale Größe und (bauliche) Dichte gekennzeichnet, die Aktionen in der Stadt sind heterogen und erfolgen simultan, Repräsentationen der Stadt sind schließlich multiformal und intersemiotisch verschränkt. Das unterscheidet die Stadt deutlich vom ländlichen Raum oder Naturraum. Im Urbanitätsmodell werden daher drei Modi und sechs Merkmale erfasst: verweise in diesem Zusammenhang auf die beiden projektbezogenen Publikationen Warnke (2013b und 2013c). 2 Eine ausführlichere Darstellung dieses Modells unter Einschluss von Ausführungen zu entsprechenden Bezugnahmen insbesondere auch auf Henri Lefebvre (1991) und Venturi (1966) findet sich in Warnke (2013a, 2013b) und in Busse/ Warnke (i. Dr.). Abkehr vom Dialog 279 Urbane Modi Merkmale von Urbanität Dimension Größe Dichte Aktion Heterogenität Simultanität Repräsentation Multiformalität Intersemiotizität Tab. 1: Modi und Merkmale urbaner Räume Spezifisch für den urbanen Raum ist nun eine weitere Ebene, die transversal zu diesen Modi und ihrer Merkmalsaufladung steht und urbane von nichturbanen Räumen noch deutlicher unterscheidbar macht. Mit Venturi (1966) kann man diese transversale Ebene als Komplexität und Widersprüchlichkeit bezeichnen. Komplexität Widersprüchlichkeit Tab. 2: Transversale Eigenschaften urbaner Räume Während das Berner Oberland nicht nur hinsichtlich seiner räumlichen Merkmale gegenüber einem Berliner Ortsteil wie Schöneberg oder Prenzlauer Berg erkennbar different ist, sind es vor allem Komplexität und Widersprüchlichkeit von Dimension, Aktion und Repräsentation, die die (großen) Städte ausmachen und die dem (auch touristisch) vielfach gepriesenen schlichten, einfachen Landleben entgegenstehen; das gleichwohl manchmal - und im Falle des Berner Oberlandes teilweise sicher - durch luxuriösen Tourismus weit entfernt von prototypischen Ruralitätsformen ist. Im Urbanitätsmodell verstehen wir die Stadt also als eine (grundsätzlich immer mehr oder weniger ausgeprägte) große, dichte Raumordnung mit simultan verlaufenden heterogenen Aktionen und multiformalen, intersemiotisch vielfach verschränkten Repräsentationen, wobei Dimension, Aktion und Repräsentation insgesamt als komplex und widersprüchlich erscheinen. Damit umreißt das Urbanitätsmodell zugleich eine ideale Dialogsituation, denn im komplexen und widersprüchlichen Raum der Stadt wird der Dialog befördert, findet er vielfältige Anlässe und Formate; Komplexität und Widersprüchlichkeit sind Dialoganlässe. Urbanität ist ein ausgeprägtes Setting potentieller Dialogsituationen, was man sicherlich für das Berner Oberland nicht gleichermaßen sagen kann. Jedenfalls gilt das idealiter, wenn wir den Dialog als Grundkonstellation des Tauschs, der Kooperation und Konsensorientierung bzw. der Meinungsaushandlung und auch der konsensorientierten Konfliktgestaltung beurteilen, in Dialogsituationen also das dialogische Prinzip kommunikativer Verhandlung lebendig ist. Greifen wir aber den Aspekt der Selbstsegregation auf, den ich als Rückzug aus dialogischen Szenarien und als Abkehr vom dialogischen Prinzip eingeführt habe, so stellt sich die Frage, welche dimensionalen, aktionalen und repräsentationalen Voraussetzungen Ingo H. Warnke 280 diese Selbstsegregation hat und welche Bedeutung dabei Komplexität und Widersprüchlichkeit bzw. ihren denkbaren Antonymen Einfachheit und Eindeutigkeit zukommt. 1.2 Selbstsegregation als Dialogabkehr Mit Abb. 1 ist eine Spur ausgewiesen, die dialogische Situationen in urbanen Szenarien ebenso aufzeigt, wie sie deren Scheitern thematisiert. Der deiktische Verweisraum, wie er für die dialogische Situation konstitutiv ist und auf dem Transparent personal im IHR gegenüber einer anonymen Sprecher_innenposition erscheint, ist dabei kein konsensualer, geteilter Wahrnehmungsraum personaler, lokaler und temporaler Bezugnahmen, sondern ein Konfliktraum, der durch (Ab)Brüche des Dialogs gekennzeichnet ist und der als Feld gegensätzlicher Meinungen erscheint, die unvermittelt bleiben. Ein Dialog zwischen den widerstreitenden Meinungen zur Nutzung des städtischen Raums ist nicht erkennbar, vielmehr rückt der unidirektionale Appell an die Stelle eines Austauschs von Auffassungen. Wo liegt aber das Motiv für die Empörung des Transparents, für die Prospektion der Enturbanisierung des Berliner Bezirks Prenzlauer Berg unter Anspielung auf entsprechende Empörungstexte der Umweltbewegung und die sogenannte Weissagung der Cree? Zentral ist hier die Aufwertung von Wohnraum in Prozessen der Gentrifizierung. Das Transparent steht im Kontext der Annahme einer zunehmenden Ausrichtung der (gehobenen) Mittelschicht an einen vereinheitlichenden und antiurbanen Wertekanon des unifizierenden Eigentums und es kritisiert entsprechende Entwicklungen scharf. Eben solche Prozesse der Uniformierung und Alignierung durch Gentrifizierung nennt Lees (2008: 2449), verbunden mit dem Hinweis auf Phänomene der sozialen Polarisierung, als entscheidende Merkmale der Selbstsegregation: Nevertheless, despite fierce academic debate about whether or not gentrification leads to displacement, segregation and social polarisation, it is increasingly promoted in policy circles both in Europe and North America on the assumption that it will lead to less segregated and more sustainable communities. Yet there is a poor evidence base for this policy of ‘positive gentrification’—for, as the gentrification literature tells us, despite the new middle classes’ desire for diversity and difference they tend to self-segregate and, far from being tolerant, gentrification is part of an aggressive, revanchist ideology designed to retake the inner city for the middle classes. (Lees 2008: 2449) Das urbane Modell, das durch die komplexe und widersprüchliche Vernetzung von Größe, Dichte, Heterogenität, Simultanität, Multiformalität und Intersemiotizität gekennzeichnet ist und als ein potentieller Dialograum per se erscheint, ist in den gentrifizierten Arealen - zumindest aber in Teilen solcher Areale - uniformiert, im Kiez kleinräumig organisiert, überschaubar und eindeutig. An die Stelle des Dialogs treten Zonen des Monologs, der sprachlichen Gleichgerichtetheit. Der offensichtlichste Hinweis darauf sind monolinguale Räume in der Stadt, doch es gibt eine Vielzahl von Merkmalen, die in Abkehr vom Dialog 281 ihrer Verbindung einen Stil der Selbstsegregation ausmachen. Stil verstehe ich dabei mit Nørgaard/ Busse/ Montoro (2010: 156) als „motivated choice from the set of language or register conventions or other social, political, cultural and contextual parameters“. Stile der Selbstsegregation sind also gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie in Möglichkeiten der Assimiliation gewählt sind; Stil ist die Wahl von Ausdrucksmitteln aus einem Set von Möglichkeiten. Mit dem Blick der Critical Stylistics geht es dabei immer um „the ways in which social meanings are manifested through language“ (Nørgaard/ Busse/ Montoro 2010: 11). Abb. 1 präsupponiert Alternativen und stellt die Uniformierung des gentrifizierten Areals als Folge nicht notwendiger Entwicklungen dar. Dieser Prozess wird auf dem Transparent an baulichen und sozialräumlichen Veränderungen in Prenzlauer Berg festgemacht. Verkleinstädterung, also Enturbanisierung der städtischen Räume in selbstsegregierten Zonen der Gentrifizierung, ist auch unmittelbar an den schriftlichen Oberflächen der Stadt abzulesen, an ihrer Beschilderung in der Linguistic Landscape. Die sprachliche Landschaft indiziert solche Uniformierungen und sie trägt auch zu deren Wirksamkeit bei, ist Teil der monologischen, monolingualen, monothematischen Ortsherstellung. 3 2 Schrift als Mittel der Selbstsegregation Komplexe und widersprüchliche Räume mit dichten und großen Dimensionen, heterogenen und simultanen Aktionen sowie multiformalen und intersemiotischen Repräsentationen sind linguistisch betrachtet immer auch Räume ausgeprägter Variation, der Registervielfalt, der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Repertoires (cf. Lüpke/ Storch 2013) in differenten Communities of Practice (cf. Wenger 1998) sowie der Multilingualität. Gentrifizierte Räume hingegen weisen nicht selten zunächst noch Merkmale einer derartigen auch linguistisch komplexen Urbanität auf, sie tendieren aber zunehmend zu Vereinheitlichung, Abgrenzung, Monolingualisierung. Wir erkennen darin eine Haltung zu Sprache, die wir in Anlehnung an Camerons (1995) Konzept der Verbal Hygiene als den gereinigten Sprachraum bezeichnen können. Erwartbare, konfliktfreie, monologische, gleichgerichtete Sprachoberflächen der Stadt entstehen. Das gereinigte Vorkommen/ Nichtvorkommen von Schrift im öffentlichen Raum in Form von Tags, Schildern, Zetteln, Stickern, Straßenschildern usw. können wir als eine Spielart der Selbstsegregation verstehen, die linguistische Hybridität zugunsten puristischer Register vermeidet. Beispielhaft möchte ich das hier an den sozialen Strukturkategorien von Race, Class und Gender zeigen, die ich exemplarisch mit der Semiotik der Farbe Weiß und mit Reflexen 3 Mit dem Ausdruck Ortsherstellung wird auf das Konzept des Place-Making verwiesen, wie es in den Urban Studies vielfach diskutiert wird. Im Zusammenhang des vorliegenden Textes kann ich auf die entsprechenden Positionen nicht eingehen und verweise deshalb nur stellvertretend für andere wichtige Arbeiten auf Massey (1997), Scollon/ Scollon (2003) und Friedmann (2010). Ingo H. Warnke 282 auf Gentrifizierung in Verbindung bringe, sowie an Phänomenen akzentuierter Mutterbzw. Elternschaft darstelle. Es geht mir jeweils darum, an verstreuten Phänomenen ethnographisch relevanter Schriftlichkeit die Abkehr vom dialogischen Prinzip aufzuzeigen, Inszenierung von Monolingualität und Monokulturalität aufzuzeigen und damit die Begrenzung des sozialen Variationsraums der Sprache um den Preis der Dominanz raumprägender Register vorzuführen. 2.1 Heimat, oder: der weiße Raum Dass Selbstsegregation ein linguistisches Phänomen ist, insofern damit auch eine Abkehr vom dialogischen Prinzip verbunden ist, lässt sich besonders deutlich am Zusammenhang von urbaner Raumstrukturierung und der Kategorie Race darstellen. 4 Unter Race verstehe ich dabei in Ablehnung taxonomisch-biologistischer Modelle ein vor allem sozial wirksames Konzept der Distinktion, dass diskursiv aufgeladen und insbesondere biopolitisch, also menschliche Körper betreffend, prägend ist. Ich folge damit Loury (2002: 5), der Race als „a socially constructed mode of human categorization“ bestimmt, dessen soziale Folgen historisch willkürlich sind und stigmatisierend wirken. Im US-amerikanischen Kontext entsprechender wissenschaftlicher Debatten ist die damit verbundene Problematik vor allem auf „African Americans“ (Loury 2002: 5) bezogen. Und auch in Europa bzw. in Deutschland stellt sich die Situation rassistischer Ideologien und Überzeugungen sicherlich besonders deutlich im Kontext einer willkürlich gezogenen „color-line“ (Du Bois 1999: 5) dar. In einem Artikel in der Berliner Zeitung vom 24.6.2013 bestätigt Lovegrove (2013) mit Hinweis auf eine seltsam dialektische Umwendung der Mehrheitskultur vom toleranten Interesse an Multikulturalität zur faktischen Gleichgültigkeit und Distanz ein Phänomen, das zu Lees (2008) Analyse der Selbstsegregation gehobener (weißer) Mittelschichten in gentrifizierten Arealen der Stadt unmittelbar passt: Für meinen Sohn bin ich auch von Kreuzkölln nach Wedding gezogen. In Kreuzkölln sind die ethnischen Minderheiten die Ärmsten, und die Hipster- Bevölkerung scheint das ganz gemütlich zu finden. Sie finden es schön, das bunte, arme Leben zu betrachten, aber nichts mit ihm zu tun zu haben. Aber ich bin schwarz und aus der Mittelklasse und ich will nicht in einer Gegend leben, wo die Leute, die so aussehen wie ich, die Ärmsten sind. (Lovegrove 2013) Was hier über das Berliner Areal Kreuzkölln gesagt wird, lässt sich auch auf die hochgentrifizierten Areale des Berliner Ortsteils Prenzlauer Berg beziehen. Hier sind die Phänomene des toleranten Desinteresses nur direkter, fortgeschrittener, bereits segregierter, weil die weiße, europäische und nordameri- 4 Ich betone zunächst durch die Verwendung des terminologisch gemeinten Anglizismus Race, dass ich nicht nur das deutsche Ausdruckäquivalent grundsätzlich ablehne und folglich nicht verwende, sondern vor allem auch, dass Race für mich ausschließlich eine wissenschaftliche Erkenntnisfigur darstellt. Essentialistische Annahmen über Race halte ich für problematisch, historisch unhaltbar und wissenschaftlich kritikwürdig. Abkehr vom Dialog 283 kanische Mehrheitskultur - im Gegensatz zu ihren politischen Überzeugungen - den städtischen Raum bereits puristisch prägt. Betrachtet man die Wahlergebnisse in Prenzlauer Berg 5 , so drängt sich keinesfalls der Verdacht revanchistischer Positionen in der Mehrheit der Bevölkerung auf, doch de facto lebt man in Distanz zum Anderen. Ein interkultureller Dialog findet gerade dort, wo man ihn aufgrund politischer Ansichten erwarten würde, nur wenig statt. Für den Prenzlauer Berg ist das immer wieder festgestellt worden. Besonders scharfsinnig bringt diese Entwicklung Sußebach (2007) auf den Punkt: Der Schriftsteller Maxim Biller nennt den Prenzlauer Berg mittlerweile ironisch eine „national befreite Zone“. Zwar liegt der Anteil der Ausländer bei 11,1 Prozent und damit nur gut zwei Prozentpunkte unter dem Berliner Durchschnitt. Doch die Zusammensetzung ist eine völlig andere. Die größte Gruppe bilden Franzosen, gefolgt von Italienern, Amerikanern, Briten, Spaniern und Dänen. Eine G8-Bevölkerung, hochgebildet und in Arbeit. Es gibt hier zehnmal mehr Japaner als Ägypter. Der Anteil der Türken beläuft sich auf 0,3 Prozent. Welche Sprache spricht vor diesem sozialräumlichen Hintergrund die Linguistic Landscape? Ich möchte das an einem Beispiel vorführen (siehe Abb. 2). Was bedeutet in Prenzlauer Berg heimkommen? Wer ist Teil dieses Heims bzw. dieser Heimat, wer kommt herein, wer bleibt von vornherein draußen? Der wohl als Imperativ zu lesende Slogan Komm heim, der zugleich als deverbaler Okkasionalismus erscheint, ist einerseits nicht mehr und nicht weniger als ein Wortspiel, ein pun, von denen es in Prenzlauer Berg zahlreiche gibt. Andererseits geht es beim Heimkommen, bei Fragen der Heimat überhaupt, immer auch um politisch aufgeladene Konzepte, denn Heimat bzw. Zuhause „as a place and an imaginary constitutes identities - people’s senses of themselves are related to and produced through lived and imaginative experiences of home“ (Blunt/ Dowling 2006: 24). Es ist wohl kein Zufall, dass sowohl das oben abgebildete Protesttransparent (Abb. 1) als auch dieses Ladenschild (Abb. 2) Fragen der Zugehörigkeit aufwerfen bzw. reflektieren, denn genau Merkmale des Ein- und Ausschlusses kennzeichnen ja Segregation im Allgemeinen und die Linguistic Landscape von Teilen in Prenzlauer Berg im Besonderen. Selbstsegregierte Räume thematisieren in ihrer Linguistic Landscape die Fragen danach, wer dabei ist, wer drin ist und wer draußen bleibt, wessen Heim wen ruft. Dabei ist es gar nicht entscheidend, ob solche Wirkungen intendiert sind oder lediglich als Effekte entstehen, denn jede Linguistic Landscape bringt durch ihre weitgehend immobile Materialität ortsspezifische Räume des Sozialen unabhängig von individuellen Intentionen hervor. Linguistic Landscape tritt in Dialog mit ihren Betrachter_innen und markiert ein Terrain. Ein Terrain jedoch, das dialogisch nur innerhalb dieser Blickverhältnisse (cf. Krämer 2009) konstituiert ist, das aber ansonsten und vor allem in Hinblick auf so genannte (Inter)kulturalität monologisch selbstadressiert sein kann. 5 Siehe www.wahlen-berlin.de [24.6.2013] Ingo H. Warnke 284 Abb. 2: Schild in Berlin Prenzlauer Berg. © Foto IHW 2013 Die von Lovegrove (2013) benannte Race-Problematik erscheint in den selbstsegregierten Räumen der Stadt nicht selten verdeckt. Eine Präferenz für Weiß ist zwar in manchen Restaurants und Cafés teilweise erkennbar - weiße Stühle, weiße Räume, weiße Tische, weiße Regale; frische, cleane, lichte, helle, saubere Orte -, doch die weiße Selbstsegregation ist eher verdeckt markiert: hier die Heimat, dort die Anderen. Im Feld der räumlichen und personalen Deixis findet sie statt, eine Abgrenzung, die vor dem Hintergrund von Critical Whiteness Studies durchaus nicht zwangsläufig und unmarkiert normal erscheint. Was uns in den weißen Räumen begegnet, ist „the unacknowledged normality of whiteness“ (Reay et al. 2007: 1024), wobei Whiteness in Prenzlauer Berg für das steht, was man mit Sußebach (2007) als G8-Whiteness bezeichnen könnte. Diese ‚uneingestandene Normalität’ einer (gehobenen), interkulturell dialogdistanten Mittelschicht wird wohl insbesondere deswegen (sprach)wissenschaftlich wenig reflektiert, weil es eben hauptsächlich die ‚weißen‘ Mittelschichten sind, die hier über sich selbst kritisch reflektieren sollten. Eine Reflexionsnotwendigkeit, die „difficult, uncomfortable feelings“ hervorruft, „perhaps because it is about ,people like us‘“ (Reay et al 2007: 1043). So bedient sich Selbstsegregation in der Absage an das Prinzip des Dialogs „,interpretive repertoires‘ of race within the context of highly complex but well-documented dramas of urban-life“ (Ware/ Back 2002: 25). Dass Abkehr vom Dialog 285 Komplexität und Widersprüchlichkeit in heterogenen Arealen der Stadt eine Herausforderung für das Selbstverständnis einer weißen Mittelschicht sind, reflektiert auch die Street Art in Prenzlauer Berg: Vielfarbigkeit verschreckt eine weiße Frau der gehobenen Mittelschicht, Sehnsucht nach monochromen Räumen geht der Figur durch den Sinn (Abb. 3); wir werden hier an Spivaks (1990: 62) Konzept des Chromatismus erinnert. Abb. 3: Street Art in Berlin Prenzlauer Berg 2012. © Foto IHW 2013 2.2 Gentrifizierung, oder: man grenzt sich ab Der Blick auf soziale Abgrenzungen in Konzepten der Heimat bzw. des Zuhause zeigt, dass Kommunikationsräume der monologischen Selbstadressierung im Zusammenhang mit Prozessen der Gentrifizierung stehen. Linguistic Landscapes sind ein besonders wirkungsvolles Instrument der vereinheitlichenden Aufwertung und können eine Enturbanisierung im oben dargestellten Sinn befördern. Ausgehend von Abb. 1 ist es kein Zufall, das die queere Bar zum schmutzigen Hobby - obgleich Berliner Institution - von Prenzlauer Berg nach Friedrichshain gezogen ist. Grund dafür ist offensichtlich genau die Ingo H. Warnke 286 Selbstsegregation, von der Lees (2008) als Zeichen revanchistischer Gentrifizierung spricht, eine Abgrenzung, die sich auch in der Entledigung vom ‚Schmutzigen’ offenbart; darauf verweist die Barbesitzer_in: Mit der Miete hat das überhaupt nichts zu tun. Es ist der ganze Ärger mit den Nachbarn, der seit dem Sommer überhand genommen hat. Ein gutes Beispiel war die Fußball-WM. Alle Bars in der Straße zeigten die Spiele, aber nur zu uns ist immer die Polizei gekommen. Selbst jetzt bei unserem Weihnachtsstück, das um kurz nach Zehn zu Ende ist und gar nicht laut ist, steht trotzdem pünktlich um Zehn die Polizei auf der Matte. Die Nachbarn lauern nur darauf. Es ist echt in den letzten Jahren hier in der Rykestraße zunehmend intolerant und homofeindlich geworden. Und das Amt steht natürlich hinter den ‚Bürgern‘. Und ich hab mir gesagt, noch einen Sommer halte ich das nicht durch, auf dieses Hickhack habe ich einfach keinen Bock mehr. (Queer 2010) Schon der Name der Bar zum schmutzigen Hobby passt nicht in die sauber geweißelten Gentrifizierungsgebiete. Die entsprechenden Prozesse der Homogenisierung werden in der kommunikativen Gattung der Linguistic Landscape in Protestinterventionen vielfach und verstreut thematisiert. Gentrifizierung ist dabei keineswegs allein der Schlüsselbegriff, Yuppisierung (in Abb. 4 in deutlicher Verbindung zu Race-Diskursen) oder Ausverkauf (Abb. 5) stehen ebenso für einen sozialen Umbau der Stadt, der durch Verdrängung einerseits und Selbstsegregation andererseits gekennzeichnet ist. Die schriftlichen Oberflächen der Stadt eröffnen dabei durchaus einen Dialograum - auch wenn die Propositionen wie in den Beispielen als prädikative Konstruktionen assertiv sind oder als assertive Einwortsätze funktionieren. Dieser Dialograum ist jedoch hier ein Protestraum, der das Verschwinden eines gesellschaftlichen Dialogs durch soziale Vereinheitlichung präsupponiert. Wenn also in dieser Linguistic Landscape überhaupt von Dialog gesprochen werden kann, so handelt es sich nicht um einen konsensorientierten Austausch, sondern um Protest gegen selbstsegregierte Räume der aufgewerteten Stadt. Besonders augenscheinlich ist das auch im Diskurs über Schwaben in Prenzlauer Berg. 6 Abb. 6 zeigt exemplarisch, welche Segregationsdiskurse gerade auch im Umfeld dieser Debatte entstehen. 6 Die kommunikative Konfrontation im so genannten Schwabenstreit ist so fortgeschritten, dass bereits eine Wikipediaseite zum Thema Schwabenhass existiert: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schwabenhass [25.6.2013] Abkehr vom Dialog 287 Abb. 4: Stencil in Berlin Prenzlauer Berg 2012. © Foto IHW 2013 Abb. 5: Grafitto in Berlin Prenzlauer Berg 2012. © Foto IHW 2013 Ingo H. Warnke 288 Abb. 6: Stencil in Berlin Prenzlauer Berg 2012. © Foto IHW 2013 Ordnen wir das Konfliktpotential der selbstsegregierten Räume und die kommunikativen Demarkationslinien der Linguistic Landscape in gentrifizierten Arealen vor dem Hintergrund des Urbanitätsmodells ein, so ergibt sich ein komplexes Bild. Einerseits scheint Ursache der Einsprüche gerade der Verlust an Vielfalt zu sein, Kritik wird am Verlust von komplexer und widersprüchlicher Größe, Dichte, Heterogenität, Simultanität, Multiformalität und Intersemiotizität geübt, andererseits steht die protestierende Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen in der Gefahr eines selbstsegregierenden Anspruchs der ‚eigentlichen’/ ‚ursprünglichen’ Bewohner_innen. Ein Dialog der unterschiedlichen Interessen ist dabei weit weniger zu konstatieren als eine Verfestigung von Standpunkten. Gerade der Diskurs über Schwaben in Prenzlauer Berg hat das deutlich vorgeführt, vor allem mit der politisch höchst provokanten und auch fragwürdigen Anspielung Kauft nicht bei Schwab'n. 7 Offensichtlich ist hier ein heftig geführter Dialog am Werk, doch ein Dialog, der raumzeitlich distant, schriftlich basiert, anonym und ohne Verständigungsziel funktioniert. Die gentrifizierten Räume mit ihren (gehobenen (weißen)) Mittelschichtsszenarien und selbstsegregierten Orten rufen also Protest hervor, der wiederum Positionen der Abgrenzung in Anspruch nimmt. Diese Kommunikationskonstellation funktioniert weit entfernt von ausgelassenen Multikulturalitätskontexten. So bringt Gentrifizierung eine kommunikative Segregation hervor, die selbst in Gegenpositionen produktiv bleibt. 7 http: / / www.fr-online.de/ panorama/ schwaben-in-berlin-schwaben-hasserbeschmieren-haeuserwaende,1472782,22681696.html [25.6.2013] Abkehr vom Dialog 289 2.3 Das gegenderte Habitat Zu den Klischees im Reden und Schreiben über Prenzlauer Berg gehört die ironisierende und unterhaltsame Fokussierung von Müttern und Kindern. Tatsächlich ist der Aspekt Gender ein weiteres Kennzeichen der Selbstsegregation und der Grenzziehung, der Abkehr vom dialogischen Prinzip. Ich möchte darauf kurz eingehen, um zu zeigen, dass auch hier ein Konfliktdialog entsteht, der seine Ursachen in der Abkehr vom dialogischen Prinzip hat. Die im Kontext der Seenot stehende Aufforderung „Frauen und Kinder zuerst“ (Abb. 7) begegnet in Prenzlauer Berg kapitalisiert, sie wird zum flotten Motto und Namen eines Kleidungsgeschäftes und markiert damit zugleich einen Ort - fast unmittelbar benachbart zum ursprünglichen Standort der Bar zum schmutzigen Hobby -, der im besonderen Maße durch heteronormative Vorstellungen der Familiarität geprägt ist: Kinder gehören dabei zu den Frauen. Möglichkeiten des Dialogs zwischen Akteuren mit heterogenen Lebensvorstellungen weichen dabei dem Leitbild von mutterbetonter Elternschaft und Kindern. Abb. 7: Schild in Berlin Prenzlauer Berg 2012. © Foto IHW 2013 Es gibt durchaus Interventionen gegen diese Unifizierung von Teilen in Prenzlauer Berg, nicht zuletzt durch direkte Abgrenzung, wie etwa durch die Aufforderung, ein Ladengeschäft nicht mit Kinderwagen zu betreten (Abb. 8). Über Linguistic Landscapes werden Habitate markierte, also Teilflächen urbaner Areale, deren Begrenzungen - wie im Falle des Kollwitzkiezes - einerseits durch bauliche Strukturen vorgegeben sind, die aber als Orte des Wohnens vor allem einen sozialen Raum darstellen. Von einem Habitat spreche ich in Anlehnung an die intransitive Bedeutung des lat. Verbs habitare im Sinne von wohnen, heimisch sein, bei einer Sache bleiben (Georges 1913/ 1998, Bd. 1, Sp. 2999). Dass manche der Habitate in Prenzlauer Berg eine starke Genderhomogenisierung aufweisen, zeigt exemplarisch auch die Debatte um den sogenannten Poller-Wirt. Von der Berliner Boulevardpresse bekannt gemacht, hat ein Geschäft in Prenzlauer Berg im September 2012 in den Eingangsbereich einen Poller gestellt, der es unmöglich machen soll, das Ladenlokal mit einem Kinderwagen zu betreten; die BZ titelt „Mütter-Wut gegen Prenzlber- Ingo H. Warnke 290 ger Poller-Wirt“ 8 . Auch hier also Konfrontation, Wut, Abgrenzung durch räumliche Maßnahmen und verbale Attacken. Abb. 8: Hinweis am Eingang eines Ladengeschäftes in Berlin Prenzlauer Berg 2012. © Foto IHW 2013 Zugänge zu kanalisieren und zu kontrollieren, ist ein Kennzeichen von Gated Communities. Die Gendermarkierung in manchen Teilen von Prenzlauer Berg bzw. die Konflikte um eine Dominanz von Elternschaft, Reproduktion und Familienkonzepten der (gehobenen) Mittelschichten funktionieren ganz ähnlich. Sie prägt den Raum und stellt Orte des Ein- und Ausschlusses her, die nicht durch Vielfalt und Gegensätzlichkeit geprägt sind, sondern durch gleichgerichtete Lebensinteressen. Ein Dialog der unterschiedlichen Kulturen tritt dabei zugunsten von kommunikativen Verfahren der Selbstverständigung in den Hintergrund. Dabei ist zu bedenken, dass der Diskurs über Prenzlauer Berg Teil dieser Unifizierung ist. In vielen massenmedialen Texten über Prenzlauer Berg wird genau diese Konfliktlinie zwischen mütterbetonter Elternschaft und anderen Lebensformen - insbesondere jenseits herkömmlicher Familiarität - in den Blick genommen. Daraus folgt eine Vereinseitigung der öffentlichen Wahrnehmung, die schließlich dazu führt, dass ein ganzer Ortsteil primär über seine Klischees wahrgenommen wird. Dass Prenzlauer Berg weit mehr ist, 8 http: / / www.bz-berlin.de/ bezirk/ prenzlauerberg/ muetter-wut-gegen-prenzlbergerpoller-wirt-article1550980.html [18.7.2013] Abkehr vom Dialog 291 wird im und durch den Diskurs übertönt. Die sozial schwächeren Habitate des Ortsteils erscheinen gar nicht mehr in der öffentlichen Wahrnehmung, die (gehobene) Mittelschicht beherrscht also - wenn sie auch nur Teile des öffentlichen Raums prägt - den öffentlichen Diskurs weitgehend. So greift Gentrifizierung also vor allem auch in Mechanismen der diskursiven Homogenisierung, wobei der weiße Raum der gegenderten Habitate nur ein Ausdruck davon ist. In Prenzlauer Berg bestätigt sich, was Dahrendorf (2009: 79) das „Jahrzehnt der stummen Verarmung vieler“ nennt. Das Verstummen ist dabei ein Kennzeichen auch der Abkehr vom dialogischen Prinzip. Denn die monologische Betonung der immer gleichen Stereotype in Berichten über Städte, Stadtteile, Habitate steht einem dialogischen Austausch zwischen unterschiedlichen Bewohnerschichten diametral entgegen. 3 Was tun? Es wird den Leser_innen nicht verborgen geblieben sein, dass in diesem Beitrag unter Dialog ein Hybrid aus Formen situationsgebundener Rede und Konzepten komplexer Aushandlungen von Sachverhalten verstanden wird, die ich in Zusammenhänge mit dimensionalen, aktionalen und repräsentationalen Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten gebracht habe. Ein solcher Dialogbegriff mag wenig operabel für herkömmliche dialoglinguistische Arbeiten sein. Im Kontext interkultureller Fragestellungen jedoch, zumal in solchen mit raumorientierten Fragestellungen, gewinnt ein komplexer Dialogbegriff an Bedeutung, denn auf seiner Grundlage kann man verdeutlichen, dass die Abkehr vom Prinzip des Dialogs weit mehr ist, als mit anderen nicht zu sprechen. Abgrenzung ist immer auch verbunden mit Machtansprüchen, mit Kontrollinstanzen, wie wir sie in der sprachlichen Uniformierung mancher Orte der Stadt inzwischen bis in Überwachungsinstrumente selbstsegregierter Gated Societies beobachten. Linguistische Analysen des urbanen Kommunikationsraums können zeigen, dass in manchen aufgeklärten Habitaten der (gehobenen) Mittelschichten nicht Assimilationen das leitende soziale Prinzip sind, sondern vielfältige Formen der Selbstsegregation. 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Anschrift: Fachbereich Germanistik, Erzabt- Klotz-Str. 1, A - 5020 Salzburg, anne.betten@sbg.ac.at Susanne Günthner, Prof. Dr., Professorin für Deutsche Philologie (Spachwissenschaft), Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Anschrift: Germanistisches Institut, Abteilung Sprachwissenschaft, Schlossplatz 34, D - 48143 Münster, susanne.guenthner@uni-muenster.de Eva Kimminich, Prof. Dr., Professorin für Kulturen romanischer Länder, Universität Potsdam. Anschrift: Institut für Romanistik, Am Neuen Palais 10, D - 14469 Potsdam, eva.kimminich@uni-potsdam.de Helga Kotthoff, Prof. Dr., Professorin für Deutsch als Fremdsprache, Albert- Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Anschrift: Deutsches Seminar - Germanistische Linguistik, Platz der Universität 3, D - 79085 Freiburg, helga.kotthoff@germanistik.uni-freiburg.de Heinz Leo Kretzenbacher, Dr., Senior Lecturer in German Studies, The University of Melbourne. Anschrift: German Studies Program, School of Languages and Linguistics, VIC 3010, Australien, heinz@unimelb.edu.au Jens Loenhoff, Prof. Dr., Professor für Kommunikationswissenschaft, Universität Duisburg-Essen. Anschrift: Institut für Kommunikationswissenschaft, Universitätsstraße 12, D - 45117 Essen, jens.loenhoff@uni-due.de Simon Meier, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Technische Universität Berlin. Anschrift: Institut für Sprache und Kommunikation, Fachgebiet Allgemeine Linguistik, Sekr. H 42, Straße des 17. Juni 135, D - 10623 Berlin, simon.meier@tu-berlin.de Werner Nothdurft, Prof. Dr., Professor für Theorie und Praxis sozialer Kommunikation, Hochschule Fulda. Anschrift: Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Marquardstraße 35, D - 36039 Fulda, werner.nothdurft@sk.hsfulda.de Daniel Hugo Rellstab, Dr., Lecturer in Intercultural Communication, University of Vaasa. Anschrift: Faculty of Philosophy, ICS Programme, Yliopistonranta 10, FIN - 65200 Vaasa, daniel.rellstab@uva.fi 296 Helmut Richter (†), Prof. Dr., Professor für Linguistik, Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, Freie Universität Berlin Gesine Lenore Schiewer, Prof. Dr., Professorin für Deutsch als Fremdsprache, Ludwig-Maximilians-Universität München. Anschrift: Ludwigstraße 27, D - 80539 München, schiewer@daf.lmu.de Dagmar Schmauks, Prof. Dr., Außerplanmäßige Professorin für Semiotik, Technische Universität Berlin. Anschrift: Fraunhoferstraße 33-36, D - 10587 Berlin, schmauks@mailbox.tu-berlin.de Christopher M. Schmidt, Prof. Dr., Professor für Germanistik, Åbo Akademi. Anschrift: Germanistik, Fabriksgatan 2, FIN - 20500 Åbo, cschmidt@abo.fi H. Walter Schmitz, Prof. em. Dr., Professor für Kommunikationswissenschaft, Universität Duisburg-Essen. Anschrift: Anschrift: Traunsteiner Str. 8, D - 10781 Berlin, walter.schmitz@uni-due.de Daniel Stehle, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Kontakt: danielstehle@web.de Ingo H. Warnke, Prof. Dr., Professor für Deutsche Sprachwissenschaft unter Einschluss der interdisziplinären Linguistik, Universität Bremen. Anschrift: Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Bibliothekstr. 1, D - 28359 Bremen, iwarnke@uni-bremen.de Oliver Winkler, Dr., Akademischer Rat, Åbo Akademi. Anschrift: Institut für Germanistik, Fabriksgatan 2, FIN - 20500 Åbo, owinkler@abo.fi Qiang Zhu, M.A., Assistent für Deutsch, Xi’an International Studies University. Anschrift: Fakultät für Deutsch, Xi’an 710128 VR China, zhuqiang1983me.com In der globalisierten Welt ist der Dialog über kulturelle Sinngrenzen hinweg zum Alltagsphänomen geworden. Der Sammelband zeigt, wo die sprach- und kommunikationswissenschaftliche Forschung zum Thema der interkulturellen Kommunikation heute steht, wie die Zusammenhänge von Dialog und Kultur konzeptualisiert werden und welche empirischen Erkenntnisse in diesem Rahmen möglich sind.