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Am Wortgrund: Zur Poetik im Werk Göran Tunströms

2022
978-3-7720-5770-0
A. Francke Verlag 
Lukas Dettwiler
10.24053/9783772057700
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Göran Tunström (1937-2000), der 1983 für seinen in viele Sprachen übersetzten Roman Juloratoriet (dt. Solveigs Vermächtnis) den Literaturpreis des Nordischen Rats erhielt, ist vor allem als begnadeter Erzähler und als ,fantastischer Realist' in die Literaturgeschichte Schwedens eingegangen. In den Feuilletons wurde er unter anderem "Garcia Márquez des Nordens" genannt. Die vorliegende Studie belegt, dass er nicht nur Geschichten entwirft, sondern dass er in all seinen Texten, ob in der Lyrik, Essayistik, Prosa oder Dramatik, vom Debut an Passagen der Sprachreflexion eingeflochten hat. Durch eine genaue Lektüre dieser Passagen versucht die Arbeit, die buchstäbliche Ästhetik des Worts im Gesamtwerk Tunströms zu rekonstruieren, die von einer Auseinandersetzung mit dem (göttlichen oder biblischen) Wort, über die Frage nach dessen Herkunft und (richtigem) Gebrauch, dem kindlichen Spracherwerb bis hin zum Nachweis bei literarischen Vorbildern reicht. Anhand dieser Rekonstruktion werden Autorgenese und Genealogie des Schreibens bei Tunström erfahrbar.

ISBN 978-3-7720-8770-7 Göran Tunström (1937-2000) hat sich in die Literaturgeschichte von Schweden als ihr ‚fantastischer Realist ‘ eingeschrieben, in den Feuilletons wurde er deshalb „Gabriel Garcia Márquez des Nordens“ genannt. Für seinen in viele Sprachen übersetzten Roman Juloratoriet (dt. Solveigs Vermächtnis; Filmadaptation 1996) erhielt er 1983 den Literaturpreis des Nordischen Rats. Dass der begnadete Erzähler in all seinen Texten, ob in der Lyrik, Essayistik, Prosa oder Dramatik, vom Debut an Passagen der Sprachreflexion eingeflochten hat, belegt die vorliegende Studie an der Entwicklung seiner Ästhetik des Worts im Gesamtwerk. Im Zentrum seiner Poetik steht das Wort (der Bibel), die Frage nach dessen Herkunft und (richtigem) Gebrauch, der kindliche Spracherwerb und die literarischen Vorbilder. Anhand der Lektüre von Tunströms Œuvre werden die Autorgenese und die Genealogie seines Schreibens erfahrbar. Lukas Dettwiler wurde 1954 in Basel geboren. Er studierte nordische Philologie in Zürich und Uppsala und war bis 2018 Mitarbeiter am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. Lukas Dettwiler Am Wortgrund 71 Am Wortgrund: Zur Poetik im Werk Göran Tunströms Lukas Dettwiler Am Wortgrund. Zur Poetik im Werk Göran Tunströms Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser (Basel/ Zürich), Klaus Müller-Wille (Zürich), Anna Katharina Richter (Zürich), Lena Rohrbach (Basel/ Zürich), Lukas Rösli (Berlin), Thomas Seiler (Bø) Begutachtung: Die Bände der Reihe werden einem (Double blind-)Peer-Review-Verfahren unterzogen. Ausführliche Angaben zu den Mitgliedern der Redaktion sowie zu deren Aufgaben und Funktionen und zur Manuskriptbegutachtung finden sich auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien (http: / / www.sagw.ch/ sgss). Band 71 · 2022 Lukas Dettwiler Am Wortgrund. Zur Poetik im Werk Göran Tunströms Umschlag und alle Abbildungen: © Lena Cronqvist. Mit freundlicher Genehmigung von Linus Tunström, Stockholm. Abdruck der Texte von Göran Tunström: Mit freundlicher Genehmigung von Albert Bonniers förlag und Eva Bonnier, Stockholm. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Lukas Dettwiler Universität Zürich Deutsches Seminar Abteilung für Skandinavistik Schönberggasse 9 8001 Zürich 0000-0001-8497-1899 Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2018 auf Antrag der Promotionskommission (Prof. Dr. Klaus Müller-Wille, hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Thomas Seiler (Koreferent) als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783772057700 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 166-2086 ISBN 978-3-7720-8770-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5770-0 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0182-6 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhalt 1 Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.3 Methodenfrage und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.4 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.5 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2 PROLOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1 Wörter bedeuten die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1.1 Lógos - ein Schlüsselwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.2 Der Schatten sonnt sich - ein Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.3 (Vorläufiger) Epilog auf einen Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2.1 Die ord/ Wort-Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.2.2 Kommentierte Sequenzen der ord/ Wort-Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.3.1 Beispiele von Schreibszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.3.2 Leseszenen in Prästungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.3.3 Beispiele von Leseszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.3.4 Bücherszenen in Prästungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.3.5 Beispiele von Bücherszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.3.6 Stoffe - Das Zusammenspiel aller Szenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3 POETALOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.2.1 Schematische Gliederung von En prosaist i New York . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.2.2 Zugang 1: Das satirische Drama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.2.3 Zugang 2: Der Tanz mit einem Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2.4 Zugang 3: Vor-bilder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.2.5 Zugang 4: Wortkunst und Bildkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3.2.6 Zugang 5: Vita ark. Ein Doppelporträt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) . . . . . . . . . 136 3.3.1 Försök med ett århundrade - Versuch eines Überblicks . . . . . . . . . . . . . . 139 3.3.2 (1) Ein Ich - viele Ichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.3.3 (2) Der Leser - Die Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.3.4 (3) Abgesang auf lineares Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4 EPILOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.1.1 ord/ Wort-Stellen in De heliga geograferna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.1.2 Intertextuelle Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.1.3 Sprachphilosophische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.1.4 Theologisch-religiös-mystische Allusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4.2.1 ord/ Wort-Stellen in Guddöttrarna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4.2.2 Wort gegen WORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4.2.2.1 Die Bibliothek „ Alexandria “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 4.2.2.2 Jacob und die weißen Räume - ein Schlussbild . . . . . . . . . . . . . . 215 5 Abstract & Keywords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 6 KATALOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 6.1 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 6.2 Mottoverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 6.3 Primärtexte / Publikationen von Göran Tunström . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 6.3.1 Werke Göran Tunströms in schwedischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 6.3.2 Werke Göran Tunströms in deutscher Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 6.3.3 Hörspiele, dramatische Texte von Göran Tunström . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.3.4 Übrige und unpublizierte Texte von Göran Tunström . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.4 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.4.1 Sekundärliteratur zu Göran Tunström . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.4.2 Sekundärliteratur allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6.4.3 Werkausgaben, Wörterbücher, Nachschlagewerke etc. (mit Siglen) . . . 243 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 8 Inhalt Det finns inga ursprungliga ord, men många utspruckna. Bengt Emil Johnson Es gibt keine ursprünglichen Wörter, doch viele aufgebrochene. 1 Geleitwort 1.1 Vorbemerkung Im August 1978 war Göran Tunström zu einer Lesung aus Prästungen [Der Sohn des Pfarrers] an Grebbestads Folkhögskola eingeladen. Seine Gegenwart krönte den Sommerkurs des Svenska Institutet zur schwedischen Sprache und Literatur. Die Stimme des Autors aus dem bunt leuchtenden Poncho 1 von Südamerika war voll akusmatischem 2 Zauber - ihr Klang verführte und eröffnete Welten. Dass es lange zuvor anderen ähnlich erging, ist in Per Olov Enquists Ein anderes Leben nachzulesen (Enquist 2009: 180): „ Tunström hat alles, einschließlich echtes, wenngleich unpolitisches Värmländisch, und er liest phänomenal. Alle jungen Studentinnen unter der gewölbten Decke lauschen wie verzaubert. “ Etliche Wörter, wiewohl sonor und klar artikuliert, verhallten noch unverstanden; mein Wortschatz des Schwedischen war erst im Aufbau begriffen und der Literatursprache längst nicht gewachsen. DerAutor las stehend im Hof vor dem Schuleingang, wir lauschten seinen Worten in einem Kreis um ihn herum. Literatur aus erster Hand erfüllte den Raum unter dem freien Himmel und resonierte im Innenraum. Die Stimme wurde zum sprechenden Buch, eine mehrbödige Bühne ging auf, der Körper trat in den Hintergrund - das nordische Sommerlicht und leise verebbende Wellenschläge aus den Küstengewässern des Archipelags hinter dem Schulgelände umrahmten die Vorleseszene an Bohusläns Küste. Das Ende der Lesung war der Beginn eines Anfangs. Das Wörterbuch an meiner Seite hat mir nachträglich den Sinn des Gehörten vermittelt. Mit diesem Buch ließen sich (fast) alle Wörter verstehen und so auch schwierigere Passagen wiedergeben. In den folgenden Jahren kam Wort für Wort die Übersetzung von Prästungen in Gang. Damit begann die Suche nach einer Sprache für die Erzählung. Der Grundton war angeschlagen. Die Irrungen und Wirrungen des Ich-Erzählers Göran, seine Lese- und Schreibabenteuer, seine Suche 1 Vgl. dazu: „ Vi släpade [ … ] kläder från azteker och mayaindianer [ … ] hem “ [Wir schleppten [ … ] Kleider von Azteken und Mayaindianern [ … ] nach Hause]. (KRÖ: 84) - Wenn nicht anders vermerkt, stammen in der ganzen Arbeit alle Übersetzungen skandinavischer Texte vom Verfasser (L. D.). Zur Zitierweise von Texten Tunströms: Sigle (Akronym des Kurztitels): Seitenzahl. Siglenverzeichnis: siehe Literaturverzeichnis. KRÖ steht für Tunströms Krönikor [Kolumnen]. 2 Der Begriff ‚ akusmatisch ‘ geht zurück auf gr. ‚τ ò ἄκουσμα‘ = Das Gehörte, der Vortrag, der Ohrenschmaus. Im Film bezeichnet die ‚ voix acousmatique ‘ eine Stimme ohne sichtbaren Träger. Pythagoras ließ seine Schüler hinter einem Vorhang ihre Rede halten, damit nur ihre Stimme und nicht ihr Körper in Erscheinung trete. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 nach Sprache und Identität fanden nach und nach ihre Entsprechung. Kapitel um Kapitel kam so eine Arbeitsfassung der Übersetzung zustande - und blieb lange liegen. Gut zwanzig Jahre später, beim kritischen Abtippen der Texte in eine Datei, begann ich Prästungen und das Gesamtwerk des Autors anders zu lesen. Wie anders, nämlich sprachphilosophisch, gab den Anstoß zu der vorliegenden Untersuchung. Aus der Distanz und den Re-Lektüren fielen mir die vielen Wörter in Prästungen ins Auge, die sich expressis verbis - durch die Nennung ord [ „ Wort “ ] - vom Erzähltext abheben; ord/ Wort-Stellen werden solche Momente der Sprachreflexion in dieser Studie bezeichnet. Bei der Lektüre des gesamten Œ uvres Tunströms hatte sich gezeigt: In allen Texten des Autors wird das Wort und seine ‚ Welt ‘ thematisiert, von dessen ersten Publikation an bis zu seiner letzten. So entpuppte sich die Schilderung der Entwicklung eines Pfarrerssohnes von der Kindheit zum jungen Mann durch die „ Wortbrille “ betrachtet als ein Buch, das in den Kreissaal einer späteren Schriftstellerexistenz führt, an die Geburtsstätte eines Autors. In Prästungen werden Wörter kommentiert und bedacht, das Lernen der Sprache wird diskutiert, Lesen und Schreiben sowie der Dialog beider werden erörtert, der Gebrauch der Wörter wird disputiert. Das Buch bringt dadurch Themen zur Sprache, die sich fundamental auch beim Übersetzen von Literatur stellen. Was steht im Wortpotenzial, was meint das Wort, wie steht es zu seinem (Kon-)Text? 3 Wer sind ‚ Vater ‘ und ‚ Mutter ‘ des Kindes, des neuen Buchs, wie kam es zur Befruchtung, wer sind seine Ahnen? Tunströms anhaltende Wort-Reflexion wie -Reflexivität in seinen Texten sowie das Nachdenken des Autors über Sprache zu ergründen, bildet den Anspruch der Untersuchung. Was ‚ sagen ‘ die Wort-Momente, die Tunström in die Narration einflicht und die wie eine Wortkette sein Werk durchwirken? Die Arbeit unternimmt somit den Versuch, einzelne Glieder dieser ‚ Kette ‘ freizulegen, sichtbar zu machen und gesondert ebenso wie in ihrem jeweiligen Kontext zu examinieren, um dadurch Einsicht in ihre Poetologie zu gewinnen. Prästungen steht nicht isoliert da, das Buch gesellt sich zu den großen Entwicklungsromanen, wie Tunström dies noch vor Beginn seiner Erzählung durch das ihr vorangestellte Zitat Strindbergs aus dessen Tjänstekvinnans son [Der Sohn der Magd] deklariert. Tunströms Umsetzung des literarischen Urstoffs einer ‚ Entwicklungsgeschichte ‘ räumt der offenen wie auch verdeckten, in Bilder und Episoden transponierten Evokation der (richtigen) Sprache und Wörter immens Platz ein. Sie treibt die Erzählung voran, diktiert ihren Stoff, von der Sprachfindung bis in die Sprachlosigkeit, in der wir den Protagonisten zuletzt buchstäblich am Ende mit sich und der Welt vorfinden: Verstummt, von der Welt und den Wörtern geschieden, entzogen ihrem Gespräch, kommt er, isoliert von der Gesellschaft, in eine Klinik. Dass er wieder hinaus und Vertrauen in (seine) Sprache fand, bezeugen Prästungen sowie alle anderen Bücher - das postum edierte Försök med ett århundrade [Versuch mit einem Jahrhundert] ausgenommen - , die er nach der erlebten Sprachohnmacht geschrieben hat. Die Sprache der Literatur ist vielfach kodiertes Spiel. Ein Spiel mit Regeln, geschriebenen wie ungeschriebenen, wozu auch das Brechen der Regeln gehört. Ein Sinn-Spiel mit Leseerwartungen, Konventionen, Traditionen, Innovationen. 3 Fragen, die Peter Utz mit der Methode des ‚ Übersetzt gelesen ‘ und der „ konstellierende[n] Lektüre “ an Texten von E. T. A. Hoffmann, Fontane, Kafka und Musil ventiliert. Vgl. Utz (2007). Vgl. dazu ebenso Weber-Henking (1999). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 10 1 Geleitwort Wenn in der vorliegenden Studie Tunströms Werden im Wort aufgezeigt und an wichtigen Stationen seines Werks nachgezeichnet wird, greifen zwei Sprachmodelle wie Zahnräder ineinander und reiben sich aneinander: die deskriptive Sprache der Studie und die Poesie der Sprache Tunströms, die kommentierenden Erläuterungen resp. die ausgewählten Wortfunde oder ord/ Wort-Stellen. 1.2 Forschungslage Die Tunström-Forschung hat sich bislang vor allem mit narratologischen Studien hervorgetan. Im Fokus standen dabei die Romane Tjuven [Der Dieb] und Juloratoriet [Solveigs Vermächtnis], doch existieren nebst diversen (literaturwissenschaftlichen) Aufsätzen auch Arbeiten zu De heliga geograferna [Die heiligen Geografen] und Guddöttrarna [Die Patentöchter] sowie zu Försök med ett århundrade [Versuch mit einem Jahrhundert]. Der hier vorgelegte Ansatz der Erforschung des Gebrauchs und der Emphase der ord [ „ Wörter “ ] im Gesamtwerk des Autors, weicht somit bewusst davon ab und ist m. W. der erste dieser Art. Die Monografie Duets torg. Göran Tunström och tankekällorna 4 [Der (Markt-)Platz des Du. Göran Tunström und die Gedankenquellen] von Stina Hammar zählt zu den frühesten Tunström-Studien. Im Kapitel „ VAR KAN DU VARA “ [WO MAGST DU SEIN] weist die Autorin das Schaffen Tunströms gemäß seinem Selbstverständnis als „ kulturelle Einladung “ aus und ordnet die Herkunft der Gabe ‚ Wort ‘ einer Vaterfigur zu (vgl. Hammar 1999: 54): Tankekällorna kan i saga, myt, dikt och konst representeras av ett obegränsat antal bilder, men man känner igen dualiteten: mor Mörker - far Ljus, mor Sus - far Ord, mor Dröm - far Lag. Hela denna dubbelhet som har mycket litet med våra föräldrar att göra. Det handlar om kulturens halt, om vad som är tillåtet att utveckla. Tunström kallar detta vid ett par tillfällen i sitt författarskap för kulturell invitation. (Sandro Botticellis dikter s 86, Tjuven s 252) Från den utgångspunkten kan varje roman av Göran Tunström läsas som en skapelseberättelse. Det som skapas i samspel mellan fader Kultur och hans barn är medvetande. Det tar oändligt lång tid att skapa medvetande. 5 4 Die Studie ist ein breit angelegter Essay mit einem Hauptakzent auf das Beziehungsgeflecht Sprache - Das Wort Gottes - literarisches Erbe im Werk Tunströms. Hammar betont Ordet, das Wort Gottes, das für Tunströms Autorgenese und sein dialogisches Schreibdenken und -verfahren so prägend war. „ När jag inför den här boken har behövt en term för det hela språket, det som innefattar både ‚ föremålet ‘ och den skimrande ‚ spegelbilden ‘ , har jag slutligen inte kunnat finna någon riktigare än Ordet. “ (Hammar 1999: 54) [Als ich für dieses Buch einen Begriff für die ganze Sprache, die sowohl den „ Gegenstand “ wie auch das schimmernde „ Spiegelbild “ umfasst, konnte ich schließlich nichts Richtigeres als Das Wort Gottes finden.] Für Tunströms Umgang mit Sprache gewichtet Hammar ebenfalls hoch Lars Ahlins „ konstnärliga språkgrammatik “ [künstlerische Sprachgrammatik] sowie dessen „ lokustänkande “ [Denken in Orten oder Positionen]. (Hammar 1999: 167) Der Begriff ‚ tankekälla ‘ wird in SAOB nicht verzeichnet. Tankekällorna, die Gedankenquellen oder Ursprünge eines Gedankens. - Schwedisch ‚ dubbelhet ‘ kann auch Zweideutigkeit oder gar Falschheit bedeuten. Zu Hammars Studien zählen u. a. ihre Doktorarbeit zu Elsa Beskow von 1958 (umgearbeitet und erweitert 2002) und die Monografie zu Birger Sjöberg (1982). 5 Atypische Großschreibungen schwedischer Substantive wie hier in „ Mörker “ , „ Ljus “ etc. werden in der Übersetzung jeweils mit einem kursiv gesetzten (Anfangs-)Großbuchstaben markiert. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 1.2 Forschungslage 11 Die Gedankenquellen können im Märchen, im Mythos, in der Dichtung und in der Kunst von einer endlosen Zahl Bilder repräsentiert werden, doch ihre Dualität ist erkennbar: Mutter Dunkel - Vater Licht, Mutter Hauch - Vater Wort, MutterTraum - Vater Gesetz. Die ganze Dopplung hat kaum etwas mit unseren Eltern zu tun. Es geht um den Kern der Kultur, darum, was zu entwickeln erlaubt ist. Tunström nennt dies an ein paar Stellen in seinem Werk kulturelle Einladung. (Sandro Botticellis dikter [Sandro Boticellis Gedichte] S. 86, Tjuven, S. 252) So gesehen kann jeder Roman von Göran Tunström als ein Schöpfungsbericht gelesen werden. Das Zusammenspiel zwischen Vater Kultur und seinen Kindern schafft Bewusstsein. Es braucht unendlich viel Zeit, um Bewusstsein zu schaffen. Zu einem ähnlichen Fazit, auch wenn auf anderer Grundlage und mit einer anderen Implikation, gelangt die vorliegende Arbeit: Das Wort Gottes vereint mit dem poetischen Wort tragen Tunströms Texte (voran), in denen dauernd Wort-Schöpfungen stattfinden oder beredtes Staunen über das Wort, die Worte und Wörter: Schöpfungsgeschichte(n). Anita Varga konzentriert ihre narratologisch fundierte Studie auf Juloratoriet (vgl. Varga 2002). Methodisch orientiert sie sich an Genettes Dreiteilung literarischer Texte in die Aspekte „ historien [ ‚ histoire ‘ ], berättelsen [ ‚ narration ‘ ] och berättandet [ ‚ discours ‘ ] “ (Varga 2002: 13) und schreibt: Avhandlingens övergripande hypotes är att Juloratoriet vid iscensättningen av romanens olika teman gör bruk av i huvudsak fem olika typer av betydelseskapande strategier ur denna repertoar: magisk-fantastiska, idylliserande, allegoriska, religiösa och slutligen metatextuella strategier. (ebda.: 14) Die übergeordnete Hypothese der Abhandlung lautet, Juloratoriet macht bei der Darstellung der verschiedenen Themen des Romans meist Gebrauch folgender fünf verschiedenen Typen bedeutungsschaffender Strategien aus dem Repertoire, als da sind: die magisch-fantastischen, idyllisierenden, allegorischen, religiösen sowie metatextuellen. Gemäß Varga bestimmen zwei Schreibmuster den Erzählmodus in Juloratoriet: Der häufige, „ deliberate “ Gebrauch von Transtextualität, verknüpft mit einem intrikaten System von Korrespondenzen verschiedener narrativer Einheiten. In Kapitel VI (Varga 2002: 181 - 231) „ Romanens metatextuella nivå “ [Die metatextuelle Ebene des Romans] beleuchtet sie damit den vielstimmigen Einsatz von mise en abyme-Stellen in Juloratoriet und nennt die für ihre Arbeit wegweisenden Aufsätze der Tunströmforscher Hans Skei (1995) und Anders Tyrberg (2000). Im Unterkapitel 3.2 „ Berättandet som analys “ (Varga 2002: 189 - 192) [Erzählen als Analyse] vermerkt sie eine (versteckte) Metareplik des Protagonisten Sidner, eingeleitet von dem Erzähler Victor: „ I sitt häfte Om Smekningar finns emellertid några ord som troligen har sitt ursprung i just detta ögonblick: ‚ Det svenska ord som fascinerat mig allra mest är Aning. Att Ana något. ‘ (s. 68) “ . [In seinem Heft Über Liebkosungen finden sich einige Worte, die vermutlich ihren Ursprung in just diesem Augenblick haben: ‚ Das schwedische Wort, das mich am meisten faszinierte, ist Ahnung. Etwas Ahnen. ‘ (S. 68)]. Varga legt diese Wort-Stelle im Nachsatz dazu zwar aus, 6 schenkt Tunströms explikativem Gebrauch der Wörter indes keine weitere Beachtung. „ Jag kräver en inre Columbus “ - „ Ich verlange einen inneren Columbus “ . Versuch über die Poetik von Göran Tunström von Karin Birgitta Adam aus dem Jahr 2004 zeigt, in welchem 6 „ Bruket av ordet ‚ troligen ‘ bekräftar också att berättaren [Victor] tror sig ha funnit exakt den händelse i historien dokumentet ur ‚ Om Smekningar ‘ kommenterar. “ (Varga 2002: 191) [Der Gebrauch des Wortes ‚ vermutlich ‘ bestätigt auch, dass der Erzähler [Victor] glaubt, genau das Geschehnis in der Geschichte gefunden zu haben, das das Dokument Über Liebkosungen kommentiert.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 12 1 Geleitwort poetischen Diskurs die Romane Juloratoriet und Tjuven stehen. Adam verarbeitet zur Unterstützung ihrer These Schreibkonzepte von Swedenborg, Rilke und Eliade, erhellt damit Tunströms intertextuelle Berührung mit ihnen und zieht daraus Schlüsse, die mit den Resultaten der vorliegenden Studie, die von der Untersuchung einer kreativen Einheit ‚ Wort ‘ im Werk Tunströms ausgeht, keine Gemeinsamkeiten aufweisen. 2009 publizierte Ulrika Göransson Romankonst och berättarteori: en kritisk diskussion med utgångspunkt i Göran Tunströms författarskap 7 [Romankunst und Erzähltheorie: eine kritische Diskussion mit dem Ausgangspunkt im Werk Göran Tunströms]. Nach einem narratologischen Theorieteil konzentriert sie sich auf den Erzähler (vgl. Göransson 2009: 45 - 94). In der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Tyrberg, Nilsson und Varga und an Textbeispielen vorwiegend aus Tjuven und Juloratoriet lautet ihr generelles Fazit: Tunströms Erzähler stellt mehr ästhetische Visionen zur Disposition, als dass er informiere (Göransson 2009: 80 - 81): Litterär fiktion förutsätter inte en berättare på ett sätt som är analogt med vad som förutsätts av naturligt berättande. [ … ] Om vi i stället för standardnarratologins epistemologiska modell tänker oss fiktion, inte som en serie påståenden om något utan som en serie motiv som bygger upp en estetisk komposition kommer problemet i ett helt annat läge. Literarische Fiktion setzt keinen Erzähler voraus, der sich analog zum natürlichen Erzählen verhält. [ … ] Wenn wir uns statt des Erzählens nach epistemologischem Modell der Standardnarratologie Fiktion nicht als Serie von Behauptungen über etwas denken, sondern als Serie von Motiven, die auf einer ästhetischen Komposition aufbauen, rückt das Problem auf eine ganz andere Ebene. Der zweite Teil in Göranssons Studie, „ Bilden i texten - om litterära beskrivningar “ [Das Bild im Text - Über literarische Beschreibungen] nimmt sich der Frage der Bild-Text- Beziehung in Tunströms Werk an, was auch Thema dieser Arbeit sein wird, und die Autorin kommt dabei zum Schluss (Göransson 2009: 141 - 146): Men inte minst tror jag att bildinslagen i romanerna utgör ett slags experiment med vad som är möjligt att „ göra med ord “ . Författarens lek med språkets möjligheter och begränsningar och sökandet efter var gränsen mellan ord och bild går är en del av det som jag tidigare nämnde som en möjlig sammanfattning av författarskapet i sin helhet, dvs. allvarsam lek eller lekfullt allvar. [ … ] Vad min mot-modell argumenterar är att fiktionslitteratur som romanen är en praxis inom det estetiska fältet, vilket betyder att roman som ‚ berättelse ‘ kommer att följa andra regler än informativt naturligt berättande. [ … ] Att Tunström uppfattat de av mig studerade romanerna som estetiska verk vars syfte snarare är att uttrycka en estetisk vision än att berätta en fiktionshistoria, menar jag får stöd i analysen av hur han konstruerat sina texter med bildliga element och påfallande metalitterära eller metaestestiska inslag. Doch nicht zuletzt glaube ich, dass die Bildeinlagen in den Romanen eine Art Experiment sind, was ‚ mit Wörtern machbar ist ‘ . Das Spiel des Schriftstellers mit den Möglichkeiten und Begrenzungen der Sprache und dem Suchen nach der Grenze zwischen Wort und Bild ist ein Teil dessen, was ich früher als mögliche Zusammenfassung einer Autorschaft in ihrer Ganzheit nannte, d. h. ernstes Spiel oder spielerischer Ernst. [ … ] Mein Gegen-Modell behauptet, dass literarische Fiktion, wovon der Roman eine Praxis in dem ästhetischen Feld ist, was heißt, dass der Roman als ‚ Erzählung ‘ 7 Ihr Überblick (Göransson 2009: 35 - 44) resümiert lediglich die in einer skandinavischen Sprache verfassten Arbeiten zu Tunströms fiktionaler Prosa (Adams Studie bleibt somit unberücksichtigt). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 1.2 Forschungslage 13 anderen Regeln als jenen des informativ natürlichen Erzählens folgt. [ … ] Dass Tunström seine von mir studierten Romane als ästhetische Werke betrachtet, bei denen es vielmehr um eine ästhetische Vision als um das Erzählen einer fiktiven Geschichte geht, glaube ich in der Analyse, wie er seine Texte mit Bildeinlagen und auffallend metaliterarischen oder metaästhetischen Komponenten konstruiert, bestätigt gefunden zu haben. (Kursivierung: L. D.) Göranssons Schlussfolgerung, Tunström schaffe mit seiner Erzählkunst an einer „ ästhetischen Vision “ , stimmt mit dem Ergebnis dieser Arbeit im Allgemeinen sowie im Besonderen überein (siehe Kapitel 2). Die Arbeit des Journalisten Rolf Alsing (2003), der Tunströms Schaffen von Beginn an begleitet hat, ist bis anhin die einzige zu Leben und Werk. Sein Prästunge och maskrosboll. En bok om Göran Tunström [Pfarrerssohn und Pusteblumenkugel: Ein Buch über Göran Tunström] gibt reichhaltig Einblick in Herkunft und Hintergrund ebenso wie in die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. Zu erfahren ist u. a., dass die Lektüre von Bruno Schulz Tunström viel bedeutet habe. Schulz hatte lange Jahre als Zeichner und Maler gearbeitet, bevor er sich ganz der Literatur verschrieb. Göran Tunström hat in Interviews wiederholt erwähnt, dass er gerne Maler geworden wäre. Dass ihm durch die Heirat mit Lena Cronqvist eine Malerin zur Seite stand, setzt die Bildhaftigkeit seiner Wortkunst in das Licht möglicher wechselseitiger Abhängigkeit, ein Aspekt im Werk Tunströms, der in Kapitel 3 zur Sprache kommt. Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit war das Kapitel „ Göran Tunström. Från jagförlust till jagskapelse “ [Göran Tunström. Vom Ich-Verlust zur Ich-Erschaffung] in Tyrbergs Anrop och ansvar [Anrufung und Antwort] (2002). Darauf wie auch auf die Arbeit der dänischen Theologin Doris Ottesen Om kærtegn [Über Liebeszeichen] (2009) wird in Kapitel 4 zurückzukommen sein. Auch wurden einzelne kleinere Publikationen (aus Zeitungen und Zeitschriften) zum Werk Tunströms in dieser Studie herangezogen, die hier nicht alle aufgezählt werden. Die Verweise finden sich in der Bibliografie. Wertvolle Interpretationsansätze sind ebenfalls in Röster om Göran Tunström [Stimmen zu Göran Tunström] greifbar. Es sind darin alle Beiträge des Tunström-Seminars versammelt, das in Anwesenheit des Autors 1994 im Haus des ABF (Arbetarnas Bildningsförbund [Arbeiter: innenbildungsvereinigung]) in Stockholm stattfand. Birgitta Holms beispiellose Abhandlung zum Tunströmschen Gesamtwerk, Vår ljusaste tragiker. Göran Tunströms textvärld [Unser leuchtendster Tragiker. Göran Tunströms Textwelt] (2021), konnte - da nach Abschluss der vorliegenden Arbeit erschienen - nicht ausgewertet werden. Im Nachwort schreibt Holm, die Vorarbeiten ihrer 2020 verstorbenen Kollegin Hammar hätten ihr wichtige Impulse zu der eigenen Studie gegeben. Gemäß der E-Mail-Auskunft vom 22. September 2017 von Jesper Monthán vom Albert Bonniers Förlag an den Verfasser (L. D.), befindet sich der Nachlass des Autors noch im Privateigentum. Bestimmt fände sich darin für die eine und andere der hier gestellten Fragen aufschlussreiche Materialien. Annotationen in der Autorenbibliothek oder die Einsicht in Entwürfe und Manuskripte beispielsweise könnten Befunde bestätigen, erweitern und vertiefen oder auch widerlegen. Am 5. Februar 2020 jährte sich der 20. Todestag des Autors. Eine vollständige Werkbibliografie samt einem Verzeichnis der Sekundärliteratur sind bis heute nicht verfügbar und bleiben weiterhin ein Desiderat. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 14 1 Geleitwort „ Tiens! Tiens! “ 8 Walter Benjamin 1.3 Methodenfrage und Fragestellung Folgende Grundüberlegung hat die Methodenfrage geleitet: Wie kann Tunströms appellativer Gebrauch des Wortes in seinen Schriften gesammelt, kommentiert und qualifiziert werden? Zuerst war zu klären, ob und in welchem Ausmaß das Wort-Phänomen sein ganzes Schreiben charakterisiere. Die auf die ord/ Wort-Stellen fokussierte „ Längsschnitt- Lektüre “ , die Lektüre seines Gesamtwerkes, hat gezeigt, dass sie sich überall finden. Also galt es, diejenigen Buchtitel festzulegen, deren ord-Stellen in Listen zu übertragen waren. Um das Phänomen über das ganze Œ uvre hin beobachten zu können, drängte sich jedoch eine Einschränkung in der Form der punktuellen Längsschnitt-Analyse auf. Zur Untersuchung kamen logischerweise die Bücher aus den Phasen: Debut(jahre) - mittlere Schaffensperiode - Spätwerk. Konkret bedeutete dies: von 1958 bis 2003, vom Gedichtband Inringing [Einkreisung] bis zum Essay-Roman Försök med ett århundrade. Der extensiv appellative Gebrauch des Wortes im Werk Göran Tunströms stellt in der (neueren) Literatur Schwedens ein Unikum dar. Mit „ appellativ “ ist das Anrufen, das Hervor- und Herausheben, das Nennen des Wortes ord/ Wort selbst im Text gemeint und damit das prononciert Sich-Berufen des Autors auf das Wort. Für Texte solcher Machart, die mit ähnlich hoher oder vergleichbarer Konsistenz an Wort-Nennungen, in den Text eingestanzten Wörtern und Worten, ihren ord/ Wort-Stellen, ein ganzes schriftstellerisches Schaffen geprägt haben, gibt es m. W. keine Modelle (Kellers Der grüne Heinrich bildet, wie Sartres Die Wörter, zum Teil eine Ausnahme). Das heißt, dass für diesen Duktus des Wortgebrauchs bislang auch keine einlässlichen Studien existieren und deshalb eine Methode erst entwickelt werden musste, um sich dem Phänomen literaturwissenschaftlich zu nähern. Eine schlichte kontextualisierende Deskription erwies sich als sinnvoller Zugang der Interpretation. Denn die spezifische, idiosynkratisch metanarrative Konnexion des Autors mit dem Wort (und damit dem Text) lässt sich mit keiner mir bekannten (Wort-)Poetik ausreichend erklären. Selbst der vom Titel her naheliegende Ansatz von Michail M. Bachtins Ästhetik des Wortes (dt. 1979), der sich vornehmlich auf das Phänomen der Polyphonie im Roman konzentriert, erwies sich für die Untersuchung unzureichend und konnte deshalb nur am Rande beigezogen werden (vgl. Kapitel 2.2.1). Bachtins - an den Romanen Rabelais ‘ , Gogols und Dostojewskis gewonnenes - Konzept einer polyphonen Prosa tangiert die Wortpoetik, wie sie bei 8 „‚ Tiens! Tiens! ‘ , so sagte Benjamin, wenn er, erstaunt oder befremdet, im Gespräch nachdenklich wurde, und es ist anzunehmen, dass er mich hier an dieser Stelle unterbrochen hätte, mit den Worten vielleicht seiner Haschischexperimente in Marseille, in der er sich einmal, bergab, von einer Gestalt - ‚ halb Lucifer, halb Hermes traducens ‘ - begleitet sieht: ‚ Halt! Stillgeschreibt! ‘“ (Hart Nibbrig 2001: 8). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 1.3 Methodenfrage und Fragestellung 15 Tunström zu beobachten ist, kaum, zumal der Autor keine subversive oder polemische Beziehung zum Wort unterhält, sondern - wie noch zu zeigen sein wird - eine appellative. Aufgrund dieses Mangels an erprobten Referenzpunkten, musste erst eigens eine Methode gefunden und konzipiert werden. Als ergiebig erwies sich ein klassisch semiotischer Ansatz, der im Kern das Verhältnis der Zeichen zur Welt behandelt. Diese Relation steht in Tunströms Texten verschiedentlich zur Debatte, wobei die unterschiedlichen Relationen, in denen der Zeichenbezug zur Welt bedacht wird, theoretischen Positionen aus der Geschichte der Sprachphilosophie zugeordnet werden können. Diese Zuordnung bestimmt in der Makrostruktur den dreiteiligen Aufbau meiner Arbeit. Die Grundgedanken dieser Abstützung basieren auf der Semiotik und Philosophie der Sprache (1985) des Schriftstellers und Sprachtheoretikers Umberto Eco (1932 - 2016) sowie auf der breit angelegten Studie Mimologiken. Reise nach Kratylien (2001) des Literaturwissenschafters Gérard Genette (1930 - 2018) sowie auf dem Reclam-Reader Texte zur Sprachphilosophie von Jonas Pfister (2011). Auf der Grundlage dieser Zeichentheorien wird eine Heuristik für Tunströms Wortpoetik entwickelt, im Wissen darum, dass gerade literarische Sprache und poetisches Wort in steter Bewegung sind, sich in actu nicht abbilden lassen, ihre Logik sich mit keiner Theorie bis in die letzte Nuance ausleuchten lässt. So beschreibt auch diese Wort-Studie Wörter mit Wörtern - was unweigerlich eine (t)autologische Struktur mit sich bringt. Am Ende verbleiben blinde Flecken. Die wahre Theorie der Tunströmschen Sprache steckt in der Geschichte ihrer Wörter, genauer, in der Erkundung ihres Gebrauchs im sprachlichen Exerzitium seines Autors, somit in seiner Denk- und Schreib-Werkstatt - manifest in der Schrift seiner Texte, also Bücher. Mein Verständnis der Zeichentheorie orientiert sich an Umberto Ecos Definition einer allgemeinen Semiotik: Eine allgemeine Semiotik verbessert höchstens einige der traditionellen Ansätze der Sprachphilosophie. Sie nimmt an, dass es unmöglich ist, über die verbale Sprache zu sprechen, ohne sie mit anderen Formen der Signifikation und/ oder Kommunikation zu vergleichen. In diesem Sinn ist eine allgemeine Semiotik in ihrem Ansatz fundamental vergleichend. Aber es genügt - zum Beispiel - an Wittgenstein, Husserl oder Cassirer zu denken, um zu erkennen, dass eine gute Sprachphilosophie diese Frage notwendigerweise aufgreift. [ … ] Auf diese Weise ist eine allgemeine Semiotik einfach eine Sprachphilosophie, die die vergleichende und systematische Annäherung an Sprachen (und nicht nur an die Verbalsprache) betont, indem sie das Resultat verschiedener, engerer Untersuchungen auswertet. (Eco 1985: 20 - 21) Im Sinne von Ecos allgemeiner Semiotik verfolgt die vorliegende Studie nicht das Ziel, zeichentheoretische Spezialprobleme zu behandeln, sondern konzentriert sich auf den allgemeinen Bezug von Sprache und Wirklichkeit, d. h. es geht um die Frage, wie Wörter die Welt abbilden, wie Worte Welten bilden und auf Welt verweisen oder sich ihr entziehen. Die Sprachphilosophie kennt diesbezüglich unterschiedliche Theorien, die Eco in seiner Einführung zu seiner Semiotik präsentiert, hieran den Begriff des Zeichens in seinen verschiedenen Bedeutungen auslegt, um ihn in den anschließenden Kapiteln in der Gegenüberstellung zu den großen, Schule machenden sprachphilosophischen Texten, von Platons Kratylos bis zu Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, weiter auszudifferenzieren (vgl. die Übersichtsartikel in Pfister 2011). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 16 1 Geleitwort Lässt sich über das Wort allein, an der Okkurrenz repräsentativer, ausgelesener ord/ Wort-Stellen, eine ganze Schreibpraxis eines Autors ablesen, ja, sogar (s)eine Poetik? Vorliegende Studie unternimmt diesen Versuch, indem sie den Text von innen, entlang seiner inter- und intratextuellen „ Lagunen “ - Wort-Inseln - , wiederholt befragt, sodass sich die rekurrente Lektüre mit jedem untersuchten Wort jener Methode annähert, für die Jean Bollack den Begriff der ‚ lecture insistante ‘ prägte. (vgl. König/ Wismann 2011) Gemäß dem Altphilologen und Celan-Forscher schöpft die beharrliche und wiederholte Lektüre obskurer oder ‚ unverstehbarer ‘ Texte auf diesem Weg ihren Sinn. So sind auch die hier untersuchten Texte Tunströms zu seinen schwierigen zu zählen, auch wenn sie - entlang der Oberfläche des Plots gelesen - nicht zwingend so wahrgenommen werden. Sein hermeneutisches Vorgehen, hinter die Oberflächenstrukturen zu gelangen, nennt der Literaturhistoriker Mats Malm ein ‚ Abhorchen ‘ des Textes und verfolgt damit eine mit Bollacks Ansatz verwandte Art der Textinterpretation (vgl. Malm 2011). An Beispielen der antiken Rhetorik über schwedische Runeninschriften bis zur modernen Poesie (Gunnar Ekelöf ) begibt er sich auf die Suche nach der ‚ Stimme ‘ im Text. Wer spricht? Was sagt die Stimme genau? Die vorliegende Arbeit macht sich diese zwei Ansätze zu Nutze: Sie kombiniert ‚ Anders lesen ‘ im Sinne von ‚ Übersetzt gelesen ‘ mit der insistierend auskultierenden Lektüre. Eine Balance zu dem analytischen Prozedere bieten die Schriften von Edmond Jabès (1912 - 1991). „ Die Rabbiner sind, wie Sie wissen, die Meister des Kommentars. “ 9 Der jüdische Dichter hat zeitlebens in all seinen Büchern die Sprache und Wörter, ja, das Buch selbst, zum Gegenstand seines Denkens gemacht. Seine Reflexionen boten meinem Forschungsvorhaben eine unerwartete Horizonterweiterung und lassen mich das Werk Tunströms in einem größeren literarischen wie ideengeschichtlichen Kontext sehen. In der jüdischen Tradition lautet einer der Namen GOTTES - Ort. GOTT ist die unerträgliche Abwesenheit der Wüste. Für mich ist dies nicht der GOTT der Religionen. Oft hat man mich als Mystiker bezeichnet, weil ich das Wort GOTT verwende. Aber das Wort steht im Wörterbuch. Wenn man dieses Wort in der Literatur nicht verwendet, so deshalb, weil man Angst davor hat, weil man ihm also genau jenen Sinn verleiht, den auch der Gläubige ihm beilegt. Für mich ist es das Wort der Abwesenheit, etwas Ungedachtes, etwas Undenkbares, das einen dazu zwingt, die Befragung immer weiter voranzutreiben. GOTT - das bedeutet auch das Wort als solches, ein jedes Wort, das die Grenzenlosigkeit zerteilt. ( Jabès 1989: 102 - 103) Die vielen ord/ Wort-Stellen: Sind das Emergenzen, Kommentare? Orte im Text, in denen Zerteiltes wieder zusammengefügt, eins werden soll? Nochmal Jabès dazu: Das Wort parole (für ‚ gesprochenes Wort ‘ ) kommt aus der kirchlichen Sphäre, es kommt aus den Gleichnissen Christi. Das Wort ‚ Vokabel ‘ ist für mich fast schon ein Neologismus, es ist das lebendige Wort des Buchs. / / Indem Sie diesen Begriff - ‚ Wort des Buchs ‘ - einführen, gehen Sie über die in unserer Kultur klassisch gewordene Dichotomie zwischen Wort und Schrift weit hinaus. / / Ja. Das kommt wohl daher, daß ich im Orient gelebt habe, wo das mündliche Erzählen hohe Wertschätzung genießt. Ich bin aber eigentlich ein visueller Typ, ich muß die Wörter sehen können. Aber gleichzeitig habe ich auch ein sehr empfindliches Gehör. ( Jabès 1989: 109) 9 Jabès (1989: 91; im Kapitel „ Das Schweigen. Die Wüste. Die Frage. Interview mit Lucette Finas “ ; ebda.: 89-95). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 1.3 Methodenfrage und Fragestellung 17 Zum unterschiedlichen Bedeutungshorizont des Wortes der Griechen ( ‚ logos ‘ ) vs. der Juden (,dabar ‘ ) sei hier die Auslegung von Harald Østergaard-Nielsen aus dem Kapitel „ DAS WORT “ in dessen Lutherstudie beigefügt: Durch das ‚ Wort ‘ lernt der Grieche die Dinge in der Welt kennen und er lernt sich selbst als Subjekt kennen. Die jüdische Auffassung dagegen ist von dem Wunsch geleitet, zu einer geschichtlichen Weltbetrachtung zu gelangen. (Østergaard-Nielsen 1957: 60) 1.4 Aufbau der Arbeit Die Studie ist in drei Kapitel unterteilt, werkbiografisch gewichtet nach den folgenden Titeln: In Kapitel 2 liegt der Fokus auf Prästungen. In Kapitel 3 kommen drei bisher kaum untersuchte Texte Tunströms unter die Wortlupe: Die Erzählung En prosaist i New York, die Sammlung Krönikor und das postum erschienene Fragment Försök med ett århundrade. Kapitel 4 widmet sich Tunströms wohl verschlungensten Texten, seinen beiden Romanen De heliga geograferna und Guddöttrarna. Jedes der drei Kapitel steht für eine Wortschicht. Die Typisierung in diese drei Schichten oder Verwendungen des Wortes hat ihre Entsprechung in der Struktur der vorliegenden Arbeit. Die in der Studie zum Wort Tunströms vorgebrachten Belege illustrieren so drei sprachphilosophische Positionen. Als Folie für das Kapitel 2 dient die pragmatische Position, wie sie Wittgenstein vertritt. Kapitel 3 setzt sich mit der postmodernen Position zur sprachlichen Semiose auseinander, wie sie prominent von Derrida angeführt wird. In Kapitel 4 schließlich steht eine mystisch affizierte Sprachauffassung im Vordergrund, die mit Genette als eine mimologische bezeichnet werden kann. Kapitel 2 - PROLOG widmet sich dem Gebrauch des Wortes, der Entdeckung der Wörter, deren Imitation, die zum Spracherwerb führen (und am Ende zum ‚ Autor ‘ ). Ein klares pragmatisches Sprachverständnis mit eindeutigem Bezug von signifiant und signifié ist dominierend. Die Phase „ Debut “ (Kapitel 2) ist nicht strikt werkchronologisch zu verstehen, denn auch Tunströms Erzählung Prästungen, 1976 erschienen, wird mit einbezogen; sie ist für die Wortwerdung von besonderer Relevanz. Das Wort zeigt darin seine anfänglich pragmatische Funktion, als enge Wort-Ding-Beziehung, als Zeichen für eine Sache, wie dies die Beispiele für das „ hinweisende Lehren der Wörter “ belegen, die Position, die bereits Augustinus vertrat und auf der Wittgenstein weiter aufbaute. Das Kind lernt die Welt der Wörter erkennen. Jonas Pfister über „ Das Gesagte “ bei Augustinus und Wittgenstein: Wenn Augustinus das Wort als Zeichen für eine Sache charakterisiert, so muss die Sache einmal als konkreter Gegenstand aufgefasst werden, einmal als begrifflicher Inhalt. Ludwig Wittgenstein entwickelte später im 20. Jahrhundert seine Gebrauchstheorie der Bedeutung ausgehend von einer Theorie, die er Augustinus zuschreibt[.] (Pfister 2011: 42 - 43) Kapitel 3 - POETALOG versucht, das literarische oder poetische Wort im Werk Tunströms aufzuspüren, auch in seiner Intertextualität. Die Tradition seiner Vorbilder, Überväter. Der klare Sprachbezug kommt ins Gleiten, das Wort löst sich von seiner pragmatischen Zeichenfunktion, gewinnt an Autonomie gegenüber der Realität, der Wirklichkeitsbezug ist nicht mehr ontologisch fundiert, sondern wird kontingent. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 18 1 Geleitwort Äußerst anschaulich ist Tunströms postmoderner Zeichenbegriff in seinem Spätwerk zu finden in den beiden ganz unterschiedlichen Büchern Försök med ett århundrade und En prosaist i New York, teilweise auch in seiner Kolumnensammlung Krönikor. Das Wort ist arbiträr, um mit Ferdinand de Saussure zu sprechen, doch nun geraten Signifikat und Signifikant zudem ins Gleiten. Der Autor macht einen „ autonomen “ Gebrauch der Wörter, schafft fiktional eine Welt, die einer offenen und wilden Semiose gehorcht. Der ‚ Prosaist ‘ in Tunströms En prosaist i New York erlebt „ die Lust der Abdrift “ (Eco 2004: 429), „ die völlig im Gleiten von einem Zeichen zum nächsten liegt und es keine Ziele gibt außerhalb der Lust an der labyrinthischen Reise durch die Zeichen und Dinge. “ Der Autor kreiert und mischt Fakt mit Fiktion. Bezüge zu Wirklichkeiten werden aus ihren Angeln oder Verankerungen gehoben oder schlicht aufgehoben, wie von vielen der postmodernen Denker der Sprachphilosophie (Derrida, Lacan u. a.) theoretisch postuliert wurde (vgl. Dreisholtkamp 1999; Julien 2020). Kapitel 4 - EPILOG sucht nach dem Wort Gottes im Werk Tunströms und dessen Gewicht(ung). Die Einflüsse des prototypischen „ Schöpfungs- und Erlösungswort[es] “ (Klein 1992: 19) der heiligen Schrift sind erkennbar, die totale (mimologische) Verschmelzung signifiant/ signifié. Das Wort bedeutet nicht, sondern schafft eigene Realität. Wort kann Substanz ( ‚ Fleisch ‘ ) werden. Die zwei Romane De heliga geograferna und Guddöttrarna offenbaren Tunströms vornehmlich mimologischen Gebrauch des Wortes, womit „ die Ähnlichkeit zwischen den Wörtern und ‚ Dingen ‘“ (Genette 2001 b: 51) postuliert wird. Die Romane bilden eine kardinale Etappe in seinem Werk. Mit ihnen eröffnet er nicht nur seine mittlere Schaffensperiode, die vielen ord/ Wort-Stellen bezeigen vielmehr die Ernsthaftigkeit seines sprachspielerischen Befragens und Problematisierens des heiligen Worts, der Sprachlosigkeit, des Schweigens sowie der Stille. Die Beispiele aus dieser mittleren Schaffensperiode indizieren die Quelle, woraus das Werk Tunströms sich schafft und erfindet, woran sich der ursprunghaft religiöse Konnex des Autors zum Wort (Gottes) und damit zu der (Heiligkeit der) Sprache ablesen lässt: An seiner zeitlebens im Schreiben praktizierten Auseinandersetzung mit dem Wort, die er mit Sprachtheorie und Theologie in vielfältigster Weise transzendiert, in einer unio mystica, zu einer Poesie der Wörter. Göttliche Sprache ist mimologisch. Damit ist die kreisende Bewegung der Sprache im Werden, Wachsen, Vergehen angesprochen oder, eingefasst in das Sinnbild ‚ Fürstentum ‘ Sonnabend Dix ’ in Försök med ett århundrade (FÖR: 279): „ Ändock rymmer det [vårt furstendöme] allt som bör rymmas för att livet - i all sin löjliga storoch litenhet - skall kunna uppstå, växa och slockna: narraktiga prinsar, undersåtar och översåtar “ . [Und doch bietet es (sc. unser Fürstentum) Platz für alles, damit das Leben - in all seiner lächerlichen Größe wie Kleinheit - entstehen, wachsen und vergehen kann: närrische Prinzen, Untertanen und Obrigkeiten.] 10 Kurz vor Abschluss der Arbeit stieß ich in einem Buch auf eine merkwürdige Übereinstimmung mit dem generellen Befund dieser Studie, deren Kern lautet: Göran Tunström arbeitet obsessiv mit dem Wort als poetischem Baustein. Kim heißt der Ich-Erzähler im 10 Dieses „ Fürstentum “ ist konvergent mit ‚ Vorstellungs ‘ - oder ‚ Denkvermögen ‘ , denn es finde sich auf keiner Landkarte, wie der zeitweilige Erzähler Sonnabend Dix im Satz zuvor erklärt: „ aldrig fick vi plats på någon karta. “ (FÖR: 279) [nie haben wir Platz auf einer Karte bekommen.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 1.4 Aufbau der Arbeit 19 Roman Joacim des Experimental-Autors Axel Jensen (1932 - 2003). Kims Antagonist hört auf den Namen Lorenzo. Lorenzo ist besessen von Wörtern. In Lorenzo zeichnet Jensen ein Portrait of the Poet Göran Tunström as a Young Man. Jensen und Tunström lebten 1960 in derselben Künstlerkolonie auf der griechischen Insel Hydra und lernten dort beide Leonard Cohen kennen. Kim über Lorenzo: Jeg forlot Lorenzo i en opprevet tilstand, alt flammet og brant inne i meg. Så husket jeg Irene, husket at jeg var morder, og en bølge av kvalme og skam veltet inn over meg fordi jeg gikk her og diktet meg selv om til en rebus. Jeg begynte å løpe. Løp og løp langs butikkfasader, løp og snublet og løp igjen, hikstet, støtte bort i mennesker på vei til dagens arbeid. En mann stoppet og ropte forbitret efter meg på gresk. Jeg løp og løp. Ord! Ord! Ord! Lorenzo og hans Gud! Ord! Noe er ødelagt i ham. Noe er skutt istykker dypt dypt inne i ham. Han har aldri elsket. Han har bare seg selv. Ord! Ord! Bunnløs falsk motbydelig selvopptatthet. En yrene kravlende maurtue av ord som yrer og kravler i hjernevinningene. ( Jensen 1990: 241) Ich verließ Lorenzo in einem aufgewühlten Zustand, alles loderte und brannte in mir. Dann dachte ich an Irene und dachte, dass ich ein Mörder sei, und eine Woge aus Ekel und Scham brach über mich herein, denn ich war dabei, mich zu einem Rebus umzudichten. Ich begann zu laufen. Lief und lief an Geschäftsfassaden entlang, lief und stürzte und lief weiter, schluchzte, stieß in Menschen, die unterwegs zur Arbeit waren. Ein Mann blieb stehen und rief wütend auf Griechisch mir hinterher. Ich lief und lief. Wörter! Wörter! Wörter! Lorenzo und sein Gott! Wörter! Etwas ist gestört an ihm. Etwas an ihm ist zutiefst durchgeknallt. Er hat nie geliebt. Er hat nur sich selbst. Wörter! Wörter! Bodenlos falsche abscheuliche Ichbezogenheit. Ein wimmelnder, krabbelnder Ameisenhaufen aus Wörtern. „ Ein[en] Ameisenhaufen aus Wörtern “ schmäht Kim seinen Gegenspieler Lorenzo 1961 in Jensens Roman Joacim. 11 Nur wenige Repliken zuvor stellte Lorenzo ihm die rhetorische Frage: „ Tror du på Gud, Kim. Nei, svar ikke. “ [Glaubst du an Gott, Kim. Nein, antworte nicht.] und kontert ihm - alias Axel Jensen - mit Nietzsche aus dessen Also sprach Zarathustra: „ Man må leve nær kaos for å gi lys til en dansende stjerne. “ So sagt es 11 Vgl. hierzu auch Eggen (2019). Ihm zufolge im Abschnitt „ Tegneren “ [Der Zeichner] (ebda.: 247 - 264) des Kapitels „ HYDRA. 1957 - 62 “ , soll für Jensens fiktive Gestalt Lorenzo nicht allein Tunström, sondern auch Cohen Modell gestanden haben: „ Lorenzo bygger på Leonard Cohen, det sier i hvert fall Axel selv. I førsteutkastene til Joacim heter faktisk Lorenzo Leonard. [ … ] ‚ Men det er ikke noe særlig godt Cohenportrett, ‘ føyer han til. Det er nok også spor av Göran Tunström i ham. Det kan virke som om Axel på et tidspunkt har forsikret Leonard om at det var den svenske forfatteren som var forbildet, ikke han selv. Tunström er i hvert fall sporadisk på Hydra i den perioden Axel jobber med Joacim. Göran og Leonard har mye med hverandre å gjøre; de pleier å sitte og prate utover kveldene på terrassen hos Leonard och Marianne. “ (Eggen 2019: 257) [Lorenzo basiert auf Leonard Cohen, das jedenfalls sagt Axel selbst. In den ersten Entwürfen zu Joacim heisst Lorenzo in der Tat Leonard. [ … ] ‚ Aber es ist kein besonders gutes Cohen-Porträt ‘ , ergänzt er. Es seien auch Spuren von Göran Tunström in ihm. Es sieht aus, als habe Axel Leonard zu einem gewissen Zeitpunkt versichert, der schwedische Schriftsteller sei ihm Vorbild gewesen und nicht er. Tunström weilt in jedem Fall sporadisch auf Hydra in der Zeit, als Axel an Joacim arbeitet. Göran und Leonard haben viel miteinander zu tun. Bis spätabends unterhalten sie sich gewöhnlich auf Leonards und Mariannes Terrasse.] - Dazu Sylvie Simmons in ihrer Cohen- Biografie (Simmons 2012: 84 - 85): „ Among the other residents were Anthony Kingsmill [ … ] and a young Swedish author named Göran Tunström, who was writing his first novel and was the model for the character Lorenzo in Axel Jensen ’ s 1961 novel Joacim (although many still believe Lorenzo was based on Leonard). “ Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 20 1 Geleitwort Zarathustra in Nietzsches Zarathustras ’ s Vorrede 5: „ Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. “ (KSA 4: 19) Gut vierzig Jahre später umkreist „ Lorenzo “ Göran Tunström weiter das Problem ‚ Gott und das Wort ‘ und stellt in seinem Försök med ett århundrade jene (Glaubens-)Frage, die eine ganze theologische Fakultät auf den Plan rufen müsste, hier jedoch medias in res führe (FÖR: 262): „ Kände Gud ordet Kanske? “ 12 [Kannte Gott das Wort Vielleicht? ]. Die Untersuchung der Bevölkerung, der Akkumulation und der Funktionsweise eines unübersehbaren „ Ameisenhaufens “ von Wörtern (vgl. hierzu Svenbro 2000) im Werk Tunströms soll dazu beitragen, die Frage nach dem Wort zu klären. 1.5 Dank Zuerst bin ich Göran Tunström dankbar, anlässlich eines Arbeitsbesuches im Sommer 1989 bei einem unvergesslichen Streifzug über Stock und Stein auf seiner Schreibinsel Koster, auch dem Menschen begegnet zu sein. An die Idee, sein Werk, dem ich mich als Übersetzer widmete, eines Tages literaturwissenschaftlich zu erforschen, verschwendete ich damals nicht den leisesten Gedanken. Als dieser ungeahnt aufspross, empfing ich im Musikdorf Ernen (Kanton Wallis) im Sommer 2012 von Frau Prof. Brigitte Boothe (Zürich) in ihrer „ Biographie-Werkstatt “ wertvolle Anregungen bei einem Gespräch auf dem Dorfplatz vor dem Restaurant St. Georg. In meinem Vorhaben bestärkt, verfasste ich als Nächstes ein Exposee zuhanden von Prof. Klaus Müller-Wille, das von ihm mit der Aufforderung beantwortet wurde, das Projekt in die Tat umzusetzen. In den von ihm und Prof. Jürg Glauser besuchten Kolloquien und Seminaren am Deutschen Seminar der Universität Zürich, später auch in der Sprechstunde von Prof. Thomas Seiler, hatte ich das Glück, Teilresultate meiner Arbeit präsentieren zu können. Einem „ älteren Semester “ waren diese Begleitungen ein Geschenk, fachlich wie menschlich. Damit verbunden geht ein kollektiver Dank an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Seminare: Sandra, Lukas, Johannes, Maja, Julia, Nathalie, Caroline, Ragnheiður, Katharina, Ellen, Kevin, Janina, Monika, Petra. Bei meiner Präsentation des Entwurfs der Studie am PhD- & Postdoc-Workshop im November 2012 an der Universität Basel erhielt ich kostbare Kommentare von Prof. Mats Malm (Göteborg) und Prof. Pil Dahlerup (Kopenhagen). Von Anbeginn weg begleitete mein Projekt das inspirierende Wort von Magnus Wieland; seine Ermunterungen hielten mich in Schwung und bewahrten mich vor Digressionen, die 12 Die unbeantwortbare Frage wird von dem Erzähler-Ich auf der Stelle erweitert, thesenartig widerlegt, für obsolet erklärt und so „ beantwortet “ : „ Finns det en Gud som kan säga GANSKA bra? / GANSKA fint? / Nej, gud [sic] är inte någon nyansernas älskare. / / Jag vet inte vad Gud skulle ha att göra här hos oss. Som vi är, menar jag. Och han har liksom ingen likhet. “ [Gibt es einen Gott, der ZIEMLICH gut sagen kann? / ZIEMLICH fein? / Nein, Gott ist kein Liebhaber von Nuancen. / / Ich weiß nicht, was Gott bei uns zu tun haben sollte. So wie wir sind, meine ich. Auch ist ihm keiner gleich.] Im Roman Tjuven/ Der Dieb lässt Tunström Protagonist Johan, seinen Wortphilosophen und Bibelforscher, an Hedvig die rhetorische Frage richten (DDI: 412): „ Glaubst du, daß Jesus das Wort [vielleicht] je verwendet hat? ‚ Ich bin vielleicht die Wahrheit und das Leben. Das Himmelreich ist vielleicht nahe. ‘“ Jacques Derrida (1972: [120]) überliefert von Jabès ‘ die Replik, dass Gott „ eine Interrogation Gottes sei “ , mit dem Zusatz „‚ [e]s gibt das Buch Gottes, mit dessen Hilfe Gott sich selbst befragt, und es gibt das Buch des Menschen, das demjenigen Gottes nachgebildet ist. ‘ Rabbi Rida “ . Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 1.5 Dank 21 mir beim Schreiben auflauerten. Auch Ursula Ruch hat unschätzbar dazu beigetragen, dass ich mit meinen Fragen nicht allein war. Elisabeth Berg, meiner ehemaligen Studienkollegin und Lektorin für Norwegisch an der Universität Zürich, hatte ich von der Idee zuallererst erzählt. Das Gespräch war ein verheißungsvoller Anfang. Auch Ilma Rakusa gebührt ein herzliches Dankeschön. Für den Unterhalt meines Schreibgeräts sorgte stets Fabian Scherler; im Handumdrehen wusste er alle Störungen zu beheben. Meinen Eltern Bertha Dettwiler-Weber und Peter Dettwiler ( † 2015) schulde ich einen speziellen Dank. Dass sie mich in meinem Studiengang unterstützten, war keine Selbstverständlichkeit. Großer Dank gilt Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Oskar Bandle ( † 2009) und seiner Förderung meines Studiums. Danken möchte ich auch den beiden Proff. em. Gunnar D Hansson in Göteborg und Reinhard Schulze in Bern. Endlich sind jetzt auch Monika, Elias, Rodrigo und Lena zu nennen. In den vergangenen Jahren sahen sie mich oft nur hinter Büchern. Und Anja: Sie hat die Arbeit besonders nahe begleitet. Ein herzlicher Dank geht an Anna Katharina Richter und Dominik Mutter von der Abteilung für Skandinavistik am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Beide sind mir mit Rat und Tat beim Einrichten des Manuskripts zur Drucklegung beigestanden. Dass das Abstract meiner Arbeit in einem rundweg flüssigen Englisch zu lesen ist, verdanke ich Daniele Cuffaro. Mein Dank richtet sich nun auch an die Redaktion der BNPh für die Aufnahme der Studie in ihre Reihe und so an die Präsidentin der SGSS, Prof. Lena Rohrbach, für die Übernahme des Druckkostenbeitrags. Tillmann Bub und Mareike Wagner schließlich danke ich für das umsichtige Lektorat und die freundliche Beratung, von der Druckvorlage bis zum fertigen Buch. Genug der Vorworte - jetzt sollen die Wörter des Autors zur Sprache kommen und kommentiert werden. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 22 1 Geleitwort Leben - das sind Geschichten! Dazu wirst du geboren zum Dichter! Habe gegeben. Habe genommen. (Der Stift fliegt für die Nachkommen! ) Marina Zwetajewa [M]inne är ju att återuppfinna sig själv i en gången värld, på en gången världs scen. Att minnas är att föreställa sig. 1 Göran Tunström 2 PROLOG 2.1 Wörter bedeuten die Welt Die Thematisierung oder spezifische Insistenz des Wortes ‚ Wort ‘ 2 ist ein durchgehendes Merkmal in Tunströms gesamten Œ uvre. ‚ Wort ‘ als Medium, Zeichen und Ausdruck ist der Reflexionshorizont im Werk Göran Tunströms. Woher dieses Lebens- und Schreibthema rührt, wie es sich in der sprachlichen Gestaltung seiner Texte und literarischen Stoffe auswirkt, wie es sich verbalisiert, wohin es tendenziell führt, lässt sich als Exposition in die Thematik anhand des autofiktionalen Textes von Prästungen wortwörtlich ausmachen. Am Beispiel von Prästungen soll deshalb zunächst anhand konkreter ord/ Wort-Stellen in die Poetologie des Autors eingeführt werden, mit besonderem Augenmerk darauf, wie der Text-Baustein ‚ Wort ‘ eingesetzt und reflektiert wird oder Anstoss zu weiteren Reflexionen über das Schreiben und Lesen gibt. Um diese Entwicklung sichtbar zu machen, werden nachstehend alle ord/ Wort-Stellen von Prästungen angeführt und einzeln besprochen. Desgleichen werden die Schreibszenen, die Bücherszenen und Leseszenen miteinbezogen. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise soll das (poetologische) Fundament im Werden im Wort des Autors, wie es in Prästungen enthalten ist, freigelegt werden. Tunströms Wahrnehmung und literarische Behandlung des Wortes hat, wie noch zu zeigen sein wird, dessen Problematisierung zur Voraussetzung - und damit das Problem der Sprache selbst. 1 [E]rinnerung heißt ja, sich nochmals in einer vergangenen Welt erfinden, auf der Bühne einer vergangenen Welt. Erinnern heißt sich vorstellen. (KRÖ: 135) Der Titel der Kolumne vom Mai 1998 lautet „ Allt ska knytas samman “ [Alles wird miteinander verknüpft], worin Tunström sich an den 1968 in Chiapas, Mexiko, mit Lena Cronqvist verbrachten Winter erinnert. 2 In der ganzen Arbeit wird jeweils das Wort ‚ ord ‘ resp. ‚ Wort ‘ (samt Deklinationen) in den kommentierten ord/ Wort-Stellen Tunströms vom Verf. (L. D.) mit Fettdruck hervorgehoben. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 Die „ autobiografische “ 3 Erzählung Prästungen beginnt nach dem Eröffnungsmotto - einem Strindberg-Zitat, dessen intertextuelle Referenz nachträglich noch der Erörterung bedarf - mit der Einleitung „ Skuggan solar sig “ [Der Schatten sonnt sich]. Diese, dem Werden im Wort 4 sich widmende, der Erzählung 5 vorangestellte Momentaufnahme eines Kindes am Übergang von der wortlosen zur worthaften Welt, grundiert die in drei Lebens- Abschnitte 6 gegliederte Erzählung. „ Der Schatten sonnt sich “ fungiert dabei als ihr Prolog 7 in mindestens dreifacher Weise: 1. in formaler, 2. in inhaltlicher und 3. in poetologischer Hinsicht. 1.) Formal gesehen ist sie die Vorrede zum Haupttext von Prästungen und bildet so dessen paratextuelle Eröffnung. 8 Mit der Polysemantik von ‚ pro-logos ‘ kann diese als Schrift vor der Hauptschrift gelesen werden sowie als dezente Vorschrift zur darauffolgenden, in drei Teile gegliederte Erzählung Prästungen und ebnet so den Weg der Lektüre. 3 Die Anführungszeichen sind gesetzt, da der Autor die Herausgabe von Prästungen bereute, wie er der Journalistin Gun Zanton-Ericsson erklärte: „ jag är sur på mig själv att jag gav ut ‚ Prästungen ‘ . Där forbrukade jag en massa anekdoter och andra russin som jag kunde ha använt i en självbiografi! “ (Zanton-Ericsson 1993: C4) [ich bin sauer auf mich, dass ich „ Prästungen “ herausgebracht habe. Ich habe darin eine Menge Anekdoten und andere Rosinen verbraucht, die ich in einer Autobiografie hätte verwenden können! ] Im gleichen Jahr antwortet er im Radiointerview mit Lars-Erik Olsson „ Tunström ville förklara världen “ [Tunström wollte die Welt erklären] auf die Frage nach Dichtung und Wahrheit in Prästungen, alle Anekdoten seien wahr „ außer die Geschichte mit Gunder Hägg. “ Vgl. http: / / sverigesradio.se/ sida/ artikel.aspx? programid=3369&artikel=2659842, Radioarkivet P4 Värmland: Minutage 00: 09: 06 (abgerufen am 02.08.2021). Vgl. dazu das Kapitel in Prästungen „ Universums snabbaste man “ [Der schnellste Mann des Universums]. 4 Vgl. dazu Eilenberger (2009). Das Werden des Menschen im Wort. Eine Studie zur Kulturphilosophie Michail M. Bachtins. 5 Der onomastische Titel Prästungen [Der Pfarrerssohn] trägt den Untertitel „ Berättelse “ [Erzählung]. ‚ Berättelse ‘ ist etymologisch verwandt mit ‚ Bericht ‘ . 6 Die Dreiteilung auf Stichworte reduziert gestaltet sich wie folgt: I: Kindheit in Sunne bis zur Nachricht vom Tod des Vaters; II: vaterlose Adoleszenz, flüchtiger Besuch der Fjellstedtska Skolan, der theologischen Ausbildungsstätte in Uppsala, benannt nach Peter Fjellstedt (1802 - 1881), ihrem ersten Vorsteher, ausgebildet u. a. an der Evangelischen Missionsgesellschaft in Basel / ‚ Basler Mission ‘ ), erste Schreibversuche; III: Aufbruch nach Griechenland zur ‚ Bildungsreise ‘ , Rückkehr nach Schweden, erste Publikationen, Selbstaufgabe: Verstummen, Wortlosigkeit, Sprachohnmacht. 7 lógos: „ A) das Sagen, Reden, Sprechen: 1. Rede als Tätigkeit (wo der Deutsche oft ‚ Wort ‘ gebraucht) [ … ] “ ; „ B) das Rechnen, Berechnen, 1. Rechnung [ … ] “ . Vgl. Menge-Güthling (1967: 426 - 427). Das Lexem ‚ lógos ‘ generiert(e) ein Wortfeld, das tief in das (westliche) Sprachdenken greift und die Sprachphilosophie umgreift und dessen Sinngehalt, hier auf die Dichotomie ‚ Rede ‘ - ‚ Rechnung ‘ reduziert, bloß rudimentär abgesteckt ist. Dazu ein Komplement von Friedrich Dürrenmatt (1921 - 1990): „ Die unendliche Welt, diese nie restlos zu durchforschende und auszuleuchtende Welt des eigenen Ich, des Subjektiven, [ … ] gegenüber der konzipierten, definierten, intellektuellen Welt des Bewußten, die sich mit den mächtigen Systemen des Logischen panzert, mit scheinbar in sich stimmenden Ideologien, mit formal in sich stimmenden Weltbildern, [ … ] wird durchstoßen von der subjektiven Welt der Freiheit[.] “ ( 1976: 218) Die griechisch-lateinische Konjunktion pro steht für: vor; vorher; für; anstatt. Vgl. ebenso den Prolog des Johannesevangeliums: „ Im Anfang war das Wort, der Logos, / und der Logos war bei Gott, / und von Gottes Wesen war der Logos. “ ( Joh 1,1 - 9, hier: 1 - 3, in der Übersetzung der Zürcher Bibel (2009), nach der alle Bibelstellen in dieser Arbeit auf Deutsch zitiert werden). 8 Vgl. dazu Genette (2001 a: 157 - 189, insbes. 162 - 163). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 24 2 PROLOG 2.) Inhaltlich bietet sich eine Lesart der semantischen Prä- oder Proto-Logik 9 an. Unter der paradox lautenden Überschrift „ Der Schatten sonnt sich “ 10 präsentiert sich ein vierjähriges Kind vor und auf der Schwelle zum lógos in der Bedeutung von Denk- und Sprachvermögen. 11 Das „ tausendfünfhundert Tage “ alte Kind ist dabei, sich dieses Vermögen anzueignen, erste Schritte im (richtigen) Gebrauch der Wörter zu machen, indem es sich auf Sprach-Handlungen und in Sprechakte mit seinen Eltern einlässt, mit Fragen an sie und an ‚ die Welt ‘ . Lernsituationen wie diese bilden die Bausteine im Heranbilden von Sprachkompetenz. Der Titel „ Der Schatten sonnt sich “ markiert, dass diese Kompetenz noch nicht vorhanden ist, denn er widerspricht semantisch fundamental unserer (Erwachsenen-)Logik, formuliert er doch ein Paradox, welches das Prinzip von Ursache und Wirkung aushebelt (die Sonne wirft Schatten, der Schatten kann sich nicht sonnen.) Die Fähigkeit logischer Schlussfolgerung, sprachlich adäquat zum Ausdruck gebracht, liegt noch im Dunkeln, im Unbewussten. Die gängige Sprachlogik, Abbild auch einer Weltlogik, steht vor ihrer Entdeckung. Systematisch haben (deutschsprachige) Sprachphilosophen im 20. Jahrhundert wie Gottlob Frege, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein - wie bereits andere vor und nach ihnen - die Relation Wort-Welt rational zu ergründen versucht. Die vorliegende Studie wird sich indes nicht bis in die Aporie jener Fragen vorwagen, sie beabsichtigt, die Wortästhetik und Wortpoetik im Werk Göran Tunströms deskriptiv, an der Wortoberfläche, aufzuzeigen und nachzuzeichnen. 3.) Aus poetologischer Sicht exponiert „ Der Schatten sonnt sich “ 12 das kardinale Moment der Geburt eines Dichters: Die Spracherwerbszene geht einher mit der Genese von Sprach- und Ichbewusstsein, resultiert in einem ersten (frühkindlichen) Weltbild und Sprachspiel 13 und enthält, gerade in ihrer kühnen alogischen Aussage, im Keim eine ganze Poetik. Tunström reflektiert den Umgang mit Wörtern in allen drei Gattungen (Lyrik, Epik Dramatik), sein ganzes Œ uvre ist durchsetzt mit der „ Diskussion “ einzelner Wörter und geprägt vom Nachdenken über Sprache. 14 9 Der Ethnologe Lucien Lévy-Brühl (1857 - 1939) nannte das „ primitive “ Denken außereuropäischer Gesellschaften mystisch-prälogisch, da es nicht den Gesetzen der abendländischen formalen Logik (Satz vom Widerspruch, Identitätssatz etc.) folge, sondern dem ‚ Partizipationssatz ‘ (Participation mystique). Damit bezeichnet er Kollektivvorstellungen, die sich u. a. in Mythen und Bräuchen manifestierten, vgl. Lévy-Brühl (1966: passim). Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget erweiterte den Begriff zur perzeptiven Prälogik. Vgl. Piaget (1975: 139 - 156, Die Entwicklung des Erkennens III). 10 Der Titel-Satz, Spielart einer Contradictio in adiecto, ist „ kühne Metapher “ (Plett), ein sprachliches Vexierbild, ein Oxymoron, das Tunströms Poetologie auf seinen Kern komprimiert: der Aufstand des literarischen Epheben, seine Auseinandersetzung und Rebellion mit den Gesetzen der ‚ Tradition ‘ . 11 Siehe lemma lógos in Menge-Güthling (1967: 427) unter dem Eintrag B.: lógos: das Rechnen, Berechnen, dort unter 2.: „ Denkvermögen, Denkkraft, Vernunft. “ 12 In Anlehnung an Genettes Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe und Marin darf die Szene ferner als ‚ Architext ‘ gelesen werden, vgl. Genette (1993: 9, Fn. 2). Genette bezieht sich darin auf Louis Marin, der im Architext den „ Ursprungstext jedes möglichen Diskurses, seines ‚ Ursprungs ‘ und des Umfelds seiner Entstehung “ in intertextueller Beziehung sieht. 13 „ Sprachtätigkeit ist einem Spiel nicht bloß vergleichbar, sondern als Spiel aufzufassen, wie schwerfällig es, wie bei einem Begräbnis oder einer Gedenkfeier, mitunter auch sein mag. “ (Beerling 1980: [166]). Vgl. dazu „ Spiel und Familienähnlichkeit “ , ebda.: [166] - [180]. 14 Dieses kann autorpoetischer, poetologischer oder gar ‚ poeseologischer ‘ (Wilfried Barner) Art sein. Vgl. dazu Zumsteg (2011: 192 - 201): „ 2[.] Zum Untertitel: ‚ Pervers ‘ - ‚ Poetologie ‘ - ‚ Schriftsteller ‘“ ). - Dazu gehört der Aspekt der Doppelnatur der Sprache, „ das Verhältnis der Wortsprache zu dem von ihr Symbolisierten “ , vgl. Hödl (1997: 31); ein Aspekt, den der Sprachphilosoph Nietzsche in seinem Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 25 Die nachfolgenden vier Textbeispiele aus diesen Genres verdeutlichen diesen Grundzug. 1. In der Lyrik Das Gedicht „ Januari trio “ [ Januar-Trio] in Tunströms Debut Inringning beschwört ‚ das Wort ‘ und seine Unvollkommenheit in Teil II durch vierfach repetierte, deiktisch aufgeladene „ Wörter “ am Anfang jeden Verses, wenn es dort heißt (INR: 82): Dessa ord och vad de varit: / Min kargt blommande kust mot dig / en stig nära havets vita bränning / andrum för lungorna, en doft för vinden / till stunder långt fjärran - / / Dessa ord och hur de gällde: / blekt brinnande sekunder / av min dag - / / Dessa ord och vad de är / i natt och nu: väktare och ögon / för löften någon, kanske bara du / har tvingat mig att ge - / / (Och jag följer klockans gång till min dörr / där den vänder, ty den förgätit de oändliga orden / i min oskrivna sång) / / Dessa ord och vad de aldrig hinner vara! “ 15 Diese Wörter und was sie waren: meine karg blühende Küste zu dir / ein Steg nahe der weißen Brandung des Meers / Atemraum für die Lungen, ein Duft für den Wind / an weit entlegene Stunden - Diese Wörter und wie sie gellten: bleich wegbrennende Sekunden / meines Tages - / / Diese Wörter und was sie sind / heute Nacht und jetzt: Wächter und Augen / für Versprechen, die jemand, vielleicht du nur / mir abgerungen hast - / / (Und ich folge dem Gang der Zeit an meine Tür / wo sie wendet, denn sie hat die unendlichen Wörter vergessen / in meinem ungeschriebenen Lied) / / Diese Wörter und was sie nie sein werden! „ Diese Wörter und was sie nie sein werden! “ Teleologie, Poetheologie, Theopoesie gehen in der Schlusszeile von Teil II des Gedichts untrennbar ineinander über: In „ aldrig hinner vara “ ist durch das (Hilfs-)Verb ‚ hinna ‘ (genügend Zeit haben) die Richtung in einem teleologischen Sinn enthalten, in einem poetheologischen Sinn wird zugleich die mögliche ‚ Fleischwerdung ‘ des Wortes angetippt und klar negiert ( „ nie sein werden “ ). 2. In der Epik (Prosa) In Skimmer (Der Mondtrinker) wird im Brief von Mordecai Katzenstein an Halldór die Frage aufgeworfen (vgl. SKI: 233; MOND: 254): Finns det överhuvudtaget ord för vad vi känner och tänker, är kanske språket en gigantisk fälla som vi gång på gång fastnar i, och enbart med offrandet av en lem, ett lamm, lyckas slita oss ut ur? Privatdruck von 1871 „ Sokrates und die griechische Tragoedie “ beleuchtet (vgl. KSA 1: 603 - 640) und der im (postumen) Spätwerk Tunströms in Kap. 3 berührt wird. 15 Die Quintessenz der Nicht-Identität und A-Teleologie „ dieser Wörter “ in der ersten Zeile der 4. Strophe von Teil II spricht dezidiert einem Sprachskeptiker das Wort. Zu „ gällde “ (übersetzt mit „ gellten “ , zum Verb ‚ gälla ‘ [gellen, schrillen, lärmen, laut ertönen etc.]) vgl. dazu das ebenso konjugierte homographe Homofon ‚ gälla ‘ : gelten; die Kraft haben; bedeuten; (einem Wert) entsprechen [etc.], ‚ yppa sig ‘ [sich zeigen (als Chance), zum Vorschein kommen] (vgl. dazu OFO: 232). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 26 2 PROLOG Gibt es überhaupt Worte für das, was wir empfinden und denken, ist die Sprache vielleicht eine gigantische Falle, in die wir immer wieder hineintappen, aus der wir uns nur mit der Opferung eines Glieds, eines Lamms, losreißen können? 16 3. In der Epik (Essay) Die Kolumne „ Ett skidspår, en mening “ [Eine Skispur, ein Satz, KRÖ: 51 - 54] schildert den Besuch des Jugendlichen Göran Tunström in der Schreibhütte des Dichters, Schriftstellers, Kafka und Büchner-Übersetzers Tage Aurell 17 (1895 - 1976), von dem Tunström sagt: Han guidar en blivande kollega runt i världen, och jag sitter väl med gapande mun och stora ögon och ser livet. Men lika tydligt som jag hör orden ser jag nu hans långa fingrar, som, när orden kommer till ords ände, med en oändlighetsgest visar på det varaktigt gåtfulla och plågsamma i människans väsen. (KRÖ: 53) Er führt einen werdenden Kollegen rund um die Welt, und ich sitze wohl mit aufgesperrtem Mund da und sehe das Leben. Doch ebenso deutlich wie ich seine Worte höre, sehe ich jetzt seine langen Finger, die, wenn die Worte zum Schlusswort kommen, mit einer Unendlichkeitsgeste auf das allzeit Rätselhafte und Schmerzvolle im Wesen des Menschen verweisen. 4. Im dramatischen Text Im Theaterstück Chang-Eng (über die siamesichen Zwillinge Chang und Eng Bunkder) lässt der Autor die Figur Adelaide über das Wort ‚ dyrbar ‘ (kostbar) folgendermaßen sinnieren (CHE: 94): för nu vet jag vad ordet ‚ dyrbar ‘ betyder / och jag vet att det kan ligga i berget / år efter år utan att hitta betydelsen / av sig självt / tills det en dag börjar gro och växa / och plötsligt slå ut i ting, i varelser / som omgett oss utan liv. denn jetzt weiß ich, was das Wort ‚ kostbar ‘ bedeutet / und ich weiß, dass es unter Verschluss liegen kann / über Jahre, ohne auf die Bedeutung / seiner selbst zu stoßen / bis es eines Tages keimen und wachsen / und plötzlich in Dingen ausschlagen kann, in Wesen / die uns ohne Leben umgeben haben. Die Wort-Urszene „ Der Schatten sonnt sich “ - im Rückblick vom knapp 40-jährigen Autor geschrieben 18 - firmiert somit auch als eine Art ex post ins (Gesamt-)Werk eingesetzte Signatur für die Authentizität seiner Verfasserschaft. Die einleitende Analyse dieser Szene soll zum Verständnis der Erzählung Prästungen beitragen wie auch eine Basis zu einem Versuch der Interpretation des Gesamtwerkes 16 Das ‚ Lamm ‘ wird in der Bibel als bildliche Bezeichnung eines Gemeindegliedes verwendet, vgl. dazu NT, Lk 10,3 ( „ Die Aussendung der zweiundsiebzig “ : „ Geht! Seht, ich [ Jesus] sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. “ ) Im AT (vgl. Buch Mose) steht es für das Opfertier. 17 In Lars Anderssons Aurell-Biografie Platsens ande [Der Geist des Orts] ist auf einem Foto der junge GT neben Aurell auf der Insel Patmos abgebildet (vgl. Andersson 1995 a: 192 - 193). Siehe dazu die Legende zur Illustration Cronqvists: „ Tage och Kathrine var mina föräldrar här. “ (PRÄ: 238) [Tage und Kathrine waren hier meine Eltern.] GT befand sich Weihnachten 1958 auf der Insel. Im Kap. „ Berömda män “ (PRÄ: 163 - 177) [Berühmte Männer] zeichnet Tunström ein Doppelporträt (170 - 172) von sich und seinem Schriftsteller-Idol. 18 Gemäß GT ist Prästungen ursprünglich für das Kinderprogramm von Sveriges Radio „ im Takt von einem Kapitel pro Tag “ entstanden und später erst auf Wunsch seines Verlegers in Buchform gebracht worden; vgl. das Radiointerview mit Lars-Erik Olsson von 1993. Vgl. http: / / sverigesradio.se/ sida/ artikel.aspx? programid=3369&artikel=2659842, Radioarkivet P4 Värmland: Minutage 00: 08: 58 bis 00: 10: 59 ca. (abgerufen am 02.08.2021). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 27 schaffen. Die These lautet: Die frühkindliche Spracherwerbsszene „ Der Schatten sonnt sich “ präsentiert in nuce bereits die Poetologie Tunströms: Das Problem der Sprache, die intrikate Beziehung Welt-Wort - Wort-Welt und wie ein Schriftsteller dieser Beziehung gerecht werden kann. Hier sei zunächst konstatiert, dass Tunström die Verwendung von Wörtern reflektiert, nicht nur in Prästungen, sondern in seinem ganzen Werk, vom Gedichtband (1958) bis zu dem 2003 postum edierten, Fragment gebliebenen Försök med ett århundrade. 19 Aus dem Prolog „ Der Schatten sonnt sich “ setzen sich Sprachkräfte frei, die ein ganzes Schreibleben befördern. Göran Tunström erläuterte dies im großen ord&bild-Interview „ Våra kroppar är märkliga katedraler. En intervju med Göran Tunström “ [Unsere Körper sind merkwürdige Kathedralen. Ein Interview mit Göran Tunström] gegenüber Margareta Garpe so: Under Lenas första psykos bad hon mej säga den första meningen på det första språket. Och då sa jag: Bö reshit barah eloim et hashama ’ im et ha ’ ares. (I begynnelsen skapade Gud himmel och jord.) „ Det är bra “ , sa Lena, „ Nu [sic] kommer alla språk att växa ur denna mening. “ / Hon planterade den hos sig, lade sig tyst och väntade på att alla språk skulle komma upp som skott. Während Lenas erster Psychose bat sie mich, den ersten Satz in der ersten Sprache aufzusagen. Und da sagte ich: Bö reshit bara eloim et hashama ’ im et ha ’ ares. (Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde). „ Es ist gut “ , sagte Lena, „ Jetzt werden alle Sprachen aus diesem Satz entstehen. “ / Sie hat ihn bei sich (ein)gepflanzt, legte sich schweigend schlafen und wartete darauf, dass alle Sprachen wie Schösslinge aufkeimten. 20 Der Prolog fungiert als ihr Generator, allegorisch ist darin die Geburtsstunde eines literarischen Kosmos skizziert. 19 Der 458 Seiten starke romanhafte Essay kreist frei assoziierend um die aufkommende Ich-Identitätsbildung im 17. Jahrhundert, mit einem Herrn De Kaart (= Descartes) und einem Ich-Erzähler im Zentrum, einem „ Junker “ (Tunström), der von sich sagt (FÖR: 139): „ Ty en undring är jag, ett frågetecken krökt i evig fosterställning. Undringar och böner, aldrig har de varit annat, mina ord, mina handlingar. “ [Denn eine Frage bin ich, ein Fragezeichen, in ewiger Fötusstellung. Fragen und Gebete [auch: Bitten], nie waren sie etwas anderes, meine Wörter, meine Handlungen.] Die Insistenz in diesem schreib- und selbstreflexiven, zwischen Fantastik und ‚ Realität ‘ pendelnden Essay, erinnert an Friedrich Dürrenmatts unablässiges Umschreiben seiner „ Autobiografie “ Stoffe. Die „ Fötusstellung “ des Autors im Zitat ist ein Tribut an das Strindberg-Motto (vgl. darin „ die Kletterpflanze, die sich einen Halt suchen musste “ ), das dem Prolog von Prästungen vorangeht. Interessant außerdem ist, dass Tunström das Wort ‚ Handlungen ‘ direkt neben ‚ Wörter ‘ setzt - eine Reminiszenz an den Prolog, an den „ Urtext “ ? 20 vgl. ord&bild (2/ 1983: 5 - 16, hier: 15). Mit der Bezugnahme auf das alttestamentarische Wort (vgl. AT, Gen, 1,1) samt dessen Charakterisierung als „ ersten Satz in der ersten Sprache “ , begründet der Autor sein sprachliches Selbstverständnis auf ein „ Ur “ . - Vgl. dazu den Abschnitt „ Im Anfang war das Wort “ (103 - 106) in Michael Schmids Aufsatz „ Der Triumph der Religion und das Versagen der Psychoanalyse “ (Zarnegin 2010: 101 - 119), worin er „ die unterschiedlichen Produktionsweisen des Wortes in Religion und Psychoanalyse aufeinander “ in monotheistischen Religionen bezieht. Schmid erklärt darin die auf Freuds und Lacans basierte Theorie der „ sprachanaloge[n] Struktur des Unbewussten “ und der „ unifizierende[n] Funktion des Buchstabens “ und verficht so die von „ Lacan vertretene Position [ … ], dass das ‚ verbum ‘ im Satz ‚ In principio errat [sic! ] verbum ‘ unstreitig das Wort im Sinne von Sprache und nicht im Sinne von Sprechen ist. “ (Zarnegin 2010: 103). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 28 2 PROLOG 2.1.1 Lógos - ein Schlüsselwort Das griechische Wort lógos 21 steht u. a. für ‚ die (geschriebene) Rede ‘ , kann aber auch ‚ Rechnung ‘ meinen. Unter logiké verstanden die alten Griechen die Wissenschaft vom Denken. En archè en ho lógos, 22 im Anfang war das Wort, der Beginn des Johannesevangeliums in der griechischen Koiné verfasst, ist selbst ein Prolog. Auch in Prästungen steht im Anfang, im Prolog zu der Erzählung, das Wort. Für Prästungen ergibt das mutatis mutandis eine Parallele weitreichender Konsequenz, wenn es erlaubt sei, einen „ Gott Vater “ einem leiblichen Vater (Hugo Tunström) ‚ gleichzusetzen ‘ . Das Wort bildet die Hauptsache, liefert den Hauptstoff im Gespräch des Vaters mit seinem Sohn. Doch findet sich diese Erörterung von Wörtern nicht nur im Prolog; ihre Reflexion ist für Prästungen generell konstitutiv, und wie die Lektüre des Gesamtwerkes zeigt, 23 rekurriert der Autor in all seinen Texten auf die Wortschöpfung, das Wunder des Worts, das Benennen-Erkennen der Welt mit Wörtern, kehrt zu diesem „ Anfang “ , diesem Pro-log, zurück, schreibt ihn um, entwickelt ihn weiter, variiert ihn in transtextueller Umschreibung. Die Studie will diese, Tunströms Stil und Schrift immanenten, sein Schreiben wie eine ‚ zweite Stimme ‘ begleitenden Wort-Evokationen untersuchen und die Evolution dieser als Movens des Schreibprozesses agierenden metatextuellen 24 Wort-Diskussionen in seinen Texten aufzeigen, vom Prolog „ Der Schatten sonnt sich “ aus Prästungen bis zum Spätwerk, den Krönikor, En Prosaist i New York und Försök med ett århundrade mit seinem Epilogcharakter. Als Erstes soll deshalb nun dieser primordiale Prolog zu Beginn von Tunströms Auto(r)- Biografie Wort für Wort aus dem Schatten ans Licht geholt werden. 2.1.2 Der Schatten sonnt sich - ein Dialog Bereits auf der zweiten Seite, im Prolog der autodiegetischen 25 Erzählung Prästungen lässt Göran Tunström, 1976 knapp 40-jährig, sich als gut vierjähriger Göran seine ersten Wörter erinnern: „ Jag har hört ord som Hitler, Norge, sett människor le mot varandra, känt händer 21 Siehe dazu den Eintrag in Menge-Güthling (1967: 426 - 427). Es sind notabene hier viele weitere Bedeutungen und Verwendungen des wirkungsmächtigen Wortes verzeichnet. 22 Die Herausgeber der Zürcher Bibel bemerken zum Wort ‚ lógos ‘ : „ Für die Wendung ‚ das Wort, der Lógos ‘ steht im griechischen Text nur der Begriff ‚ lógos ‘ . Die Übersetzung gibt den griechischen Begriff doppelt wieder, um anzudeuten, dass dieser zwar ‚ Wort ‘ heißen, aber auch eine umfassende, bis ins Kosmologische reichende Bedeutung annehmen kann. “ (Zürcher Bibel 2009: 144, Fn.) 23 Von Prästungen (PRÄ), De heliga geograferna (DHG), Guddöttrarna (GUD), Ökenbrevet (ÖKE) und Krönikor (KRÖ) liegen vom Verf. (L. D.) erstellte Tabellen vor; in den übrigen Büchern sind die Wort- Stellen nur annotiert, aber (noch) nicht exzerpiert. Schwedisch ‚ Krönikor ‘ (Chroniken) sind im Sinne von frz. ‚ chronique ‘ (der Tages- oder Zeitbericht / die Wochenschau in einer Zeitung oder die Kolumne) zu verstehen. Siehe dazu ‚ Krönika ‘ in SAOB unter: „ 3) [ … ] artikel i tidning, tidskrift o. dyl. [Artikel in Zeitung, Zeitschrift u. ä. [ … ]. “ Vgl. https: / / svenska.se/ saob/ ? id=K_2877-0337.tooe (abgerufen am 07.01.2021). 24 Für Tunströms Verfahren einer diskursiven Text-Referenzialität schiene der Begriff ‚ intratextuell ‘ als eine Untervariante von metatextuell noch zutreffender. 25 „ Die Identität von Erzähler und Hauptfigur, die Voraussetzung für die Autobiographie, wird am häufigsten durch die Verwendung der ersten Person deutlich. Gérard Genette nennt es das ‚ autodiogetische ‘ Erzählen in seiner Klassifizierung der ‚ Stimmen ‘ des Erzählens, einer Klassifizierung, die er von fiktiven Werken ausgehend aufstellt. “ (Lejeune 1994: 217) (Am Satzende folgt der Verweis auf Fn. 2: Gérard Genette, Figures III, Paris 1972.) Lejeune beschreibt erschöpfend alle Variationen eines Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 29 över mitt hår, har hört räckor av samtal, som jag både förstått och inte förstått. “ (PRÄ: 10) [Ich hörte Wörter wie Hitler, Norwegen, sah Menschen einander zulächeln, spürte Hände über mein Haar streichen, habe Gesprächsfetzen mitbekommen, die ich sowohl verstanden 26 wie nicht verstanden habe. 27 ] Eine Schlüsselszene, ein Gemenge aus Hören - Verstehen - und dem Versuch, zu verstehen. Übers Ohr prägen sich dem Kind Wörter ein, nisten sich ein, bleiben ‚ hängen ‘ - wirken magisch, bewirken diffus eine Vorstellung von ‚ Dingen ‘ , von ‚ Welt ‘ , von Bedeutung. Gesten, Bewegungen und Handlungen (Sprechakte) sind nicht minder an diesem, einer sukzessiven Initiation gleichkommendem Spracherwerbs-Prozess beteiligt, also Körper und Stimme 28 . Mit jedem (neuen) Wort deutet sich eine (noch größere) Welt ‚ außerhalb ‘ der bereits bekannten an - als hätte sich diese ‚ unbekannte ‘ bis zu ihrer Benennung stumm hinter einem Schleier gehalten. Wörter bringen sie ‚ näher ‘ , wollen einen Bezug zu ihr schaffen, erzeugen eine Vorstellung von ihr, im besten Fall eine präzise Vorstellung und Identifizierung einer damit verhandelten oder gemeinten Sache. Göran führt in „ Skuggan solar sig “ zwei ‚ Gespräche ‘ . Der Minidialog mit der Mutter 29 ist eine kurze Beratung praktischer Art, der deutlich längere Dialog mit dem Vater entrollt eine ‚ autobiographischen Pakts ‘ . Zum persönlichen autodiegetischen Bericht siehe die beiden Funktionsschemen (Lejeune 1994: 247 - 248). 26 Siehe dazu Zimmer (1986: 106): „ Selbst wo wir ‚ kein Wort verstehen ‘ , entnehmen wir gesprochener Sprache ja eine Menge. Wir merken, ob es sich um eine Mitteilung, eine Aufforderung oder eine Frage handelt, ob uns der Sprecher freundlich gesonnen ist, ob er wütend, unsicher ängstlich, nervös, gehetzt ist und manches mehr. Allen gesprochenen Äußerungen werden diese Informationen aufmoduliert; zuweilen reicht ein Verständnis dieser emotionalen Sprachinhalte aus, auch den Sinn einer Äußerung zu erschließen[.] “ 27 Die Vermischung von rationaler und irrationaler Ebene stiftet Verunsicherung; Kind Göran muss die Bedrückung in den Gesichtern jener gelesen (und damit emotional ‚ verstanden ‘ ) haben, die diese Wörter in den Mund nahmen, doch konnte er nicht ‚ verstehen ‘ , weshalb. Niemand hätte ihm Sinn und Referenz, gemäß Sprechakttheorie also die ‚ Bedeutung ‘ dieser zwei Worte (Norwegen, Hitler), die „ zusammengehörten “ - doch wie? - verständlich machen können. Ein propositionaler Akt, angereichert mit dem Potenzial „ (Worte sind auch Taten) “ , wie Wittgenstein im Nachsatz zu § 546 seiner Philosophischen Untersuchungen meint. Das unfreiwillige Belauschen von Wortfetzen greift Tunström in seiner Kolumne „ Späda sparrisars språk “ [Sprache dünner Spargeln] auf: „ Det är fult att tjuvlyssna, det har jag också lärt, utan att någonsin förstå varför: vart skall man vända sina orön, när orden står som spön i backen, en halvmeter ifrån dem, i bussen på väg norrut, rakt genom den där våren, som tvekar, öron på ömse sidor av ett huvud fullt av egna tankar: hur många räkor går det på ett kilo? Hur många potatisar? “ (KRÖ: 117) [Es ist fies, heimlich zu lauschen, das habe auch ich gelernt, ohne jemals verstanden zu haben, weshalb: Doch wohin soll man mit seinen Ohren, wenn Worte wie Hiebe auf einen niedergehen, einen halben Meter von ihnen [den jungen Frauen] im Bus Richtung Norden entfernt, mitten durch diesen Frühling, den zaghaften, die Ohren beidseits des Kopfs voller eigener Gedanken: Wie viele Krebse braucht es für ein Kilo? Wie viele Kartoffeln? ] 28 Mladen Dolar (2007: 89 - 90) in His Master ’ s Voice. Eine Theorie der Stimme dazu: „ Paradigmatisch ist sie [die Stimme der Mutter], weil ‚ die Mutter aller akusmatischen Stimmen ‘ just die Stimme der Mutter ist, per definitionem die akusmatische Stimme schlechthin, die Stimme, deren Ursprung der Säugling nicht sehen kann - sein Band zur Welt, seine Nabelschnur, sein Gefängnis, sein Licht. “ Und Michel Serres (1981: 356 - 357): „ Erst heute verstehe ich meine Muttersprache, verstehe ich, warum meine Sprache meine logische Mutter ist. [ … ] Sprechen heißt an der Brust der gemeinsamen logischen Mutter saugen. Das Wort wird aus dieser Mutter geboren, die stets jungfräulich bleibt, denn stets bleibt etwas unberührt, die Sprache geht über mein Sprechen hinaus. “ 29 Vgl. hierzu Sloterdijk (1988: 109 im Kap. 4: „ Poetik der Entbindung “ ): „ Nicht Sprache und Kommunikation bilden die ersten Bedingungen der Möglichkeit, dass Menschen sich zu einer gemeinsamen Welt bringen, sondern die Entbindung jedes einzelnen Individuums aus der fötalen Kommunion Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 30 2 PROLOG Art Sprachlektion. Beiden Gesprächen gemein ist ihr Lernprozesscharakter. In der Kombination beider befähigen sie Göran zur Weltaneignung. 30 Beide sind sie für (s)ein ganzes Schriftstellerleben entscheidend. Deshalb sollen sie hier zu Beginn auf ihre Verschiedenheit hin auskultiert werden. Die Szene mit Mutter dreht sich um die Zubereitung von Heidelbeerkompott. 31 Die Küche ist der Ort des Geschehens, Topos des Mütterlichen, Tellurischen. So ‚ eingemacht ‘ , reduziert und kurz die folgende Frage-Antwort-Szene (PRÄ: 9) ist, die Substanz blieb konserviert und zeitigt Wirkung als prägende Erinnerung. mit der Mutter. “ Mit dem Hinweis auf Hans Saners Geburt und Phantasie. Von der natürlichen Dissidenz des Kindes postuliert Sloterdijk in seinem Buch außerdem den Gebrauch des von Saner in den philosophischen Diskurs eingebrachten, doch kaum beachteten Begriffs der ‚ Geburtlichkeit ‘ (vs. Sterblichkeit) mit der Begründung, der Diskurs sei zu sehr dem linguistic turn verpflichtet. Siehe dazu auch (Sloterdijk 1988: 143): „ Aber das macht wenig, denn der poetic turn der Philosophie ist unscheinbar schon in aller Gründlichkeit vollzogen. Hans Saner hat die Kategorie Geburtlichkeit in die Welt gesetzt und damit ein neues Kapitel des Philosophierens aufgeblättert, das im Zeichen des Kindes, des Zurweltkommens und des poetischen Geistes stehen wird. “ 30 Selbst in der pikaresken Erzählung Familjeliv (FAM: 139 - 140) sagt ein verzweifelter Protagonist, Knybel Tving: „ Dörren var svår att få upp. Den var gisten, den hade satt sig, och jag fick ställa ner bandspelarn för att ta i med båda händerna. Och jag slängde mig fram mot handtaget. Och i samma ögonblick kom jag inte ihåg vad det var jag höll i handen, mindes bara tag, och det var som kunde jag inte öppna bara därför, för att jag inte visste ordet. “ [Die Tür klemmte. Sie war morsch und verzogen, also musste ich das Tonbandgerät abstellen, um sie mit beiden Händen anzupacken. Und ich stürzte mich auf den Türgriff. Und im selben Augenblick entfiel mir, was ich da in der Hand hielt, nur Griff kam mir noch in den Sinn, es war, als könnte ich deswegen nicht öffnen, nur weil ich das Wort nicht mehr wusste.] Knybel grübelt weiter: „ Om jag bara kunde komma på det, tänkte jag. Jag var förtvivlad. Jag började undersöka och stava: alltihop jag såg tillhörde det jag plötsligt glömt. Jag stavade: dörr dörr och satte kroppen mot, jag stavade nyckelhål och kunde kika in. Och igen var det så att jag blir rädd när jag inte upprätthåller ordningen mellan mig själv och tingen, som om världen utan mig var ett enda kaos. [ … ] Orden upprepades i huvet just som jag kom på hela ordet handtag och tryckte ner det. De kom därinnifrån, där det var tyst, de var nära, som hade de stått och lurat strax innanför dörren. “ [Wenn es mir nur in den Sinn käme, dachte ich. Ich war verzweifelt, begann zu untersuchen und buchstabieren: alles, was ich sah, gehörte flugs dem Vergessen an. Ich buchstabierte: Tür Tür und setzte den Körper davor, ich buchstabierte Schlüsselloch und konnte hindurchgucken. Und wieder war es so, dass mir bange wurde, wenn ich die Ordnung zwischen den Dingen und mir nicht aufrechterhalten konnte, als wäre die Welt ohne mich ein einziges Chaos. [ … ] Die Wörter erholten sich, als mir das ganze Wort Türgriff [Klinke] einfiel und ich ihn niederdrückte. Sie kamen von dort drin, wo es still war, sie waren nah, als hätten sie nur hinter der Tür gewartet.] Im Schwedischen fällt durch das identische Utrum-Suffix handtaget und ordet ineins, was sich im Deutschen in die beiden Genera ‚ weiblich ‘ und ‚ männlich ‘ ausdifferenziert, sodass (im Gegensatz zum Deutschen: der Türgriff, aber das Wort) ungewiss bleibt, was genau niedergedrückt wird, da Wort und Sache im Schwedischen sich semiologisch die Hand reichen. Mit der Übersetzung (ins Deutsche) entfällt die Ambiguität, und damit die Situations- und Wortkomik. Vgl. dazu auch Edmond Jabès ’ Frage, ob „ die Vollendung beim Schreiben nur die Unterdrückung der Zweiheit von Wort und Sache ist? Ärgerlich ist es, dass das Wort unvermögend ist, die Sache in ihrer Nacktheit wiederzugeben. “ ( Jabès 1989: 75). - Die Wort-Ding- Problematik am Beispiel ‚ Türgriff ‘ erinnert an Walter Benjamins inständige Konkretion dieser Frage in seinem Essay von 1916 „ Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen “ (GS, Bd. II, 1: 140 - 157). 31 Die Szene kann, sofern nicht allein auf der Erfahrung des Autors basiert, als negative Extension von Elsa Beskows (1874 - 1953) berühmten Bilderbuch Puttes äfventyr i blåbärsskogen [Hänschen im Blaubeerenland], gesehen werden. Es erzählt die Geschichte von Putte, der seine Mutter mit zwei Körben voll selbst gepflückter Heidelbeeren und Preiselbeeren beglückt. Petra Bäni Rigler deutet in ihrer Buchauskultation „‚ Blaubeeren sammeln ‘ - Beispiel für eine Materialität des Lesens “ (2019: [78] - 99) die darin geschilderte ‚ Beerenleseszene ‘ v. a. als „ Leselernprozess[] “ (ebda.: 99). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 31 - Hur lagar man blåbärsylt, mamma? [Wie macht man Heidelbeerkompott, Mama? ] - Man kokar bären med lite socker i. [Man kocht die Beeren mit etwas Zucker.] Das Experiment ‚ Mein erster selbst zubereiteter Heidelbeerkompott ‘ misslingt, die Beeren fallen zu Boden, die Schale zerspringt 32 - , die (sprachliche) Interaktion trägt unmittelbar keinen Schaden davon. Die Mutter macht Göran keine Vorwürfe. Es war reines Pech, Ungeschick. So etwas kann passieren. Beigebracht hat die Erfahrung Göran keine (neuen) Wörter, bestimmt aber würde seine Aufmerksamkeit gegenüber Dingen ein nächstes Mal größer: „ Aus Fehlern lernt man. “ Das Gespräch bricht ab mit dem Zerbrechen der Schale, immerhin ohne fundamental Abbruch zu erleiden. 33 Die peinliche Stille entfacht (im Autor beim Erinnern der Szene) einen ganzen Katalog an damalige Empfindungen und Sinneseindrücke, einen Schwall von Assoziationen, der uns ein Kartogramm des Universums des Vierjährigen zeichnen ließe: es ergäbe einen (mythischen) Kosmos 34 , in dessen Zentrum „ ein großes rotes Haus “ steht. Ein erster Ausschnitt daraus illustriert dies: Jag har hört ord som Hitler, Norge [ … ] Jag har redan minnen av åsknedslag och höga stolar, av cykelturer och spöregn, av värme och kyla. Jag har triumfen av att ha lärt mig gå, äta, kissa, tala, göra inlägg i små debatter, bedöma maträtters smak och doft: åh jag vet bättre än någon annan vilken mat som sväller i munnen och aldrig vill ner, jag vet kort sagt hur världen ser ut: Mitt i världen ligger ett stort rött hus. Runt huset finns spireahäckar och ett gammalt utedass, det finns en grusplan och gräsmattor. Mitt i gräsmattan finns en PION, och bredvid pionen finns JASMINER. Ibland luktar pionen bättre än jasminen ibland är det tvärtom. Utanför staketet finns kor, hästar och en tjur. Kor är inte farliga. Men det är tjuren. (PRÄ: 18 - 19) Ich habe Wörter wie Hitler und Norwegen gehört [ … ]. Ich habe schon Erinnerungen an Blitzschläge und hohe Stühle, an Fahrradtouren und Platzregen, an Wärme und Kälte. Ich kenne das triumphale Gefühl, gehen, essen, pinkeln, sprechen oder in einer Diskussion einen Einwand machen, den Geschmack von Speisen beurteilen, gelernt zu haben: O ja, ich weiß besser als irgendein anderer, welches Essen dick wird im Hals und nicht runter will; kurz, ich weiß, wie die Welt aussieht: In der Mitte der Welt liegt ein großes, rotes Haus. Ums Haus gibt es Spiräenhecken 32 Vgl. dazu Flauberts Dictum aus Madame Bovary: „ la parole humaine est comme un chaudron fêlé “ (Flaubert 1968: 500). Im Kessel (chaudron) der Wort-Kommunikation der beiden, scheint darauf, wie der weitere Verlauf zeigt, bleibend etwas ‚ gesprungen ‘ (fêlé). 33 In Strindbergs Der Sohn der Magd wird Protagonist Johan von Vater und Mutter unter (mentaler) Folter das Geständnis abgerungen, Wein getrunken zu haben (was er gar nicht getan hat). Zwei ‚ gebrannte Kinder ‘ erinnern sich einer tief prägenden Erfahrung. Gehorsam und Zucht (mit Rute) vs. Malheur und Unbill (ohne Rute). Strindberg: „ Uppfostran blev snäsor och luggar, Gud som haver och vara lydig. “ (SV 20: 14, im Kap. „ Rädd och hungrig “ ). Deutsch: „ Erziehung hieß Rüffel und Knüffe, ‚ Lieber Gott, mach mich fromm ‘ und gehorsam sein. “ (FSA 4: 23, im Kap. „ Furchtsam und hungrig “ ). 34 Wie ein ‚ Urmodell ‘ einer mythischen Zeit wird hier in der Einleitung Skuggan solar sig, das rote Haus als Mitte der Welt, axis mundi, definiert. Vgl. dazu Duerr (1984). Die Mitte der Welt. Aufsätze zu Mircea Eliade. Gedanken Eliades sind konstituierend für Tunströms Werk: „ Det är en av mina andliga följeslagare, Mircea Eliade, som har sätt ord på vårt behov av tröskelöverskridande. “ (U TI: 174) [Einer meiner geistigen Begleiter, Mircea Eliade, war es, der unserem Bedürfnis des Überschreitens von Schwellen Worte verlieh.] Nach dieser Berufung auf Eliade in Under tiden [Unter der Zeit / Inzwischen] erklärt er seine Schreibinsel Koster als „ heiligen Platz “ . Bereits in Indien - en vinterresa denkt Tunström mit einem längeren Eliade-Zitat über seine periodische Wiederkunft (auf Koster) nach (vgl. IND: 259). ‚ Periodische Wiederkehr ‘ ist laut Eliade ein Zeichen des ‚ religiösen Menschen ‘ . Vgl. dazu auch das Nachwort von Lars Andersson zu Unsere Insel - Unsere Zeit im Meer, „ Glückselige Inseln “ (UNS: 97 - 112]. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 32 2 PROLOG mit einem Plumpsklo daneben, einen kiesbedeckten Vorplatz und einen Rasenplatz. In der Mitte des Rasenplatzes wächst eine PFINGSTROSE und neben der Pfingstrose wächst JASMIN. Einmal riecht die Pfingstrose besser als Jasmin, ein andermal ist es umgekehrt. Hinter dem Lattenzaun gibt es Kühe, Pferde und einen Stier. Kühe sind nicht gefährlich, der Stier schon. Die klassischen Sinne kommen hier in der Erinnerung an die „ früheste Erinnerung “ 35 zur Sprache: 1. Hören ( „ ich habe Wörter wie Hitler, Norwegen gehört …“ - Ohr), 2. Sehen ( „ ich weiß, wie die Welt aussieht …“ - Auge), 3. Riechen ( „ die Pfingstrose riecht besser als …“ - Nase), 4. Schmecken ( „ O ja, ich weiß besser als irgendein anderer, welches Essen dick wird …“ - Zunge), 5. Tasten ( „ spürte Hände über mein Haar streichen …“ - Haut). Der 6. Sinn, jener der Präkognition oder des Ahnens, schließt sich wie eine Summe daran an: Ein Stier kann gefährlich werden. Außerdem: ungewohnte, fremdländisch klingende Wörter werden mit Kapitälchen vergrößert, verdeutlicht hervorgehoben. Nur kurz nach dieser Aufzählung erster Wörter wird geschildert, wie Göran seinen Vater nach einer Erklärung für den Unterschied von ‚ nördlicheren ‘ und ‚ südlicheren ‘ Ländern befragt. Das Kind ‚ löchert ‘ ihn gleichsam mit Fragen, es will wissen, warum Schweden kein südlicheres Land sei (wiewohl die Bedeutung von Wörtern wie ‚ südlich ‘ oder ‚ nördlich ‘ ihm noch kaum geläufig sein können). Als Grund dafür gibt ihm Vater das Fehlen von ‚ Geiern ‘ in ihrem Heimatland an. Länder lassen sich scheinbar „ durch Tiere “ voneinander unterscheiden, Tiere, die das Kind bisher ebenso wenig gesehen hat, wie ihm die Wörter ‚ nördlich ‘ und ‚ südlich ‘ vermutlich zum ersten Mal zu Ohren kamen. Ein üblicher Vorgang im Prozess des Erlernens von Sprache, im Zur-Welt-Kommen in ihr. Die Kenntnis des richtigen Gebrauchs der Wörter ist eine Voraussetzung zur gelungenen Teilhabe an ihr, in der Kommunikation mit den ‚ Anderen ‘ , um einer Sprachgemeinschaft anzugehören. Nach einer weiteren Replik in dieser Urszene eines (maieutischen) Gespräches zwischen einem Vater und einem Sohn zieht Göran erste Schlüsse - obwohl, aus einer Erwachsenenperspektive gesehen, noch unlogische. Das folgende Zitat setzt ein, als Göran daran denkt, seine ersten Sprach-Erfahrungen später mit anderen zu teilen, was der Schriftsteller Tunström durch die Niederschrift und Veröffentlichung von Prästungen denn auch tatsächlich getan hat. Während das Gespräch mit der Mutter auf den Erwerb praktischen Wissens ausgerichtet war - die Zubereitung von Kompott „ für alle “ - , auf Materielles, auf mütterliche Qualitäten wie Versorgung, Vorsorge im Außen ( „ Orientierungswissen und praktische Kompetenz “ 36 ), zielt die Unterhaltung mit Vater auf die Identifikation und die Verknüpfung von Innenwelt und (Außen-)Welt. Sie ist eher nach ‚ innen ‘ gerichtet, auf die Vorstellung, Strukturierung, Ordnung, Bewortung, auf Logos, Relation und den (inneren) Dialog mit der (Außen-)Welt. Die nachfolgend zitierte Stelle soll einen Einblick in dieses Beziehungsgeflecht geben. Vater Tunström hat Göran gerufen. Es ist Essenszeit. Göran entdeckt gerade seine nächste Umgebung, seine Lebenswelt, hält sich gleichzeitig versteckt in den Jungfernreben und 35 Mit Aleida Assmann gesprochen, handelt es sich hierbei um eine ‚ Recollection ‘ , siehe Assmann, A. (1999). Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 36 Charakterisierungen von Brigitte Boothe nach der Lektüre von übersetzten Passagen aus Prästungen an ihrem Kurs „ Biographie-Werkstatt “ vom 8. - 13. Juli 2012 in Ernen (E-Mail vom 20.07.2012, Privatarchiv L. D.). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 33 wartet geradezu darauf, von seinem Vater „ entdeckt “ oder „ gefunden “ zu werden. 37 Dabei hört er den Vater die (rhetorische) Frage stellen: Wo könntest du bloß sein - Wo steckst du bloß? Tunström lässt ‚ Göran ‘ diesen Moment wie folgt erinnern: Det låter roligt, jag måste säga det till någon en dag. VAR KAN DU VARA. 38 Jag kan be någon annan gömma sig för mig, så får jag SÖKA. Kanske i NORGE. Utanför letar pappa och då hinner man tänka på att man är PÅ ETT EGET STÄLLE. Man kan sitta och tänka på jordkällardörren som går upp så sakta och mörkret därinne, som inte gör nånting för att mamma eller pappa är med och håller en i handen när man skall hämta KALL FILBUNKE eller SVAGDRICKA 39 . Svagdrickskorken studsar när man öppnar flaskan, det liksom trycker på inifrån. En dag fick jag bära en filbunke hela vägen upp till huset. Förbi jasminbusken uppför alla verandatrappstegen och jag snubblade inte. - Där är du! Pappa lyfter plötsligt ut mig ur vildvinet. Där utanför är ljuset hårt och skarpt. Det är som hade jag varit väldigt långt borta och nästan hunnit börja frysa, fast jag tänkte på så många ord, både varma och kalla och avlånga och höga ord, det största ordet är nog JORDKÄLLARN i alla fall, man halkar om man försöker klättra upp på taket på den. Det är långt före de bestående minnnena, men det är mitt inne i ett väldigt arbete. Ja har gjort en ny erfarenhet: Att upptäcka en grotta i vildvinet och hur det känns att vara där. Jag kan lägga den erfarenheten bakom mig. Och när jag öppnar ögonen, som jag knep ihop för ljusets skull ser jag något på verandabordet, och jag säger: - Skuggan solar sig. Visst gör den, pappa? (PRÄ: 13 - 14) 37 „ Vermisst “ , gesucht, gefunden und identifiziert zu werden, ist eine wichtige (früh-)kindliche Erfahrung; vgl. dazu Stina Hammars Auslegungen (unter Bezugnahme auf Freuds Ausdeutungen des vom Kind re-inszenierten „ Fort-Da-Spiels “ , abgehandelt 1920 in „ Jenseits des Lustprinzips “ ): „ Göran Tunström betonar mötet mellan far och son i det kursiverade ordet ‚ DU ‘ , kanske det viktigaste ordet i världen för Göran Tunström. Hela frågan är skriven med versaler - kanske den viktigaste frågan i livet. Den visar framåt mot konstnärskapet. “ Hammar (1999: 42 - 43, im Kap. „ VAR KAN DU VARA? “ ; ebda.: 41 - 70) [Göran Tunström betont die Begegnung zwischen Vater und Sohn durch das kursiv geschriebene Wort ‚ DU ‘ , vielleicht das wichtigste Wort der Welt für Göran Tunström. Die ganze Frage steht in Großbuchstaben - vielleicht die wichtigste Frage im Leben. Sie weist voraus auf die Künstlerschaft.]. Hammar liest die Stelle zudem als „ negative Analogie “ zum Sündenfall und zu der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies (vgl. Hammar 1999: 51 - 53). - Vgl. ebenso Gen 3,9: „ Aber der HERR, Gott, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? “ In der schwedischen Bibel (Bibeln 1970) lautet die Stelle so (1 Mos. 3,9): „ Men Herren GUD kallade på mannen och sade till honom: ‚ Var är du? ‘“ 38 Vgl. dazu Bibeln (1970), Joh. 1,38: „ Då vände Jesus sig om, och när han såg att de följde honom, frågade han dem: ‚ Vad viljen I? ‘“ De svarade honom: ‚ Rabbi ‘ (det betyder mästare) ‚ var bor du? ‘“ In der Zürcher Bibel lautet die Stelle in Joh 1,38: „ Als Jesus sich umwendet und sie folgen sieht, sagt er zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sagten zu ihm: Rabbi - das heisst ‚ Meister ‘ - wo ist deine Bleibe? “ Siehe auch Hammar (1999: 202): „ Tunström förklarar sig höra ‚ hemma ‘ på själva mötesplatsen, på ‚ Du-ets torg ‘ där han själv är ett Du. “ [Tunström erklärt sich als ‚ zuhause ‘ am Ort der Begegnung, auf dem Platz des Du, wo er selbst ein Du ist.] (Tunström soll, vermittelt durch Per-Erik Rundquist, Ahlins „ han som är du som är jag “ -regel [ „ er der du bist der ich bin “ -Regel] in dessen Roman Om [Falls] kennengelernt haben (vgl. Hammar 1999: 166, ebenso „ Diktaren bredvid mig “ [Der Dichter neben mir], ebda.: 141 - 166). - Göran trifft als Achtzehnjähriger den Schriftsteller Per-Erik Rundquist (1912 - 1986) und führt mit ihm ein Gespräch über das Schreiben „ unter Kollegen “ (PRÄ: 177, im Kap. „ Berömda män “ ). 39 svagdricka ist die Bezeichnung für das alkoholarme, süße Malzbier oder Dünnbier, das in (ländlichen) Teilen Schwedens ein gängiges Alltagsgetränk war (Alkoholgehalt: 1 - 2 Vol.%). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 34 2 PROLOG Das tönt lustig. Ich muss es später einmal jemandem erzählen. WO STECKST DU DENN? Ich kann jemand anderen bitten, sich vor mir zu verstecken, dann darf ich SUCHEN GEHEN. Vielleicht in NORWEGEN. Draußen sucht mich Vater, und so habe ich Zeit, daran zu denken, dass ich selbst AN EINEM EIGENEN ORT bin. Man kann einfach dasitzen und an die Kellertüre denken, die einem überhaupt nichts anhaben kann, weil nämlich Mutter oder Vater bei einem sind und einen an der Hand halten, wenn man KALTE DICKMILCH oder DÜNNBIER holen geht. Der Pfropfen des Dünnbiers fährt hoch, wenn man die Flasche öffnet es drückt gleichsam von innen. Einmal durfte ich die Dickmilch den ganzen Weg bis zum Haus hinauftragen, an den Jasminbüschen vorbei die ganze Verandatreppe hoch, und bin nicht einmal gestolpert. - Da bist du! Plötzlich hebt Vater mich aus den Jungfernreben heraus. Hier draußen ist das Licht hart und grell. Es ist, als ob ich eine Ewigkeit lange weg gewesen wäre und beinahe noch zu frieren begonnen hätte, obschon ich mich auf so viele Wörter konzentrierte, riesengroße Wörter, sowohl warme wie kalte als auch überlange und hohe Wörter, das größte Wort ist bestimmt DER ERDKELLER, man rutscht aus, wenn man versucht, auf das Dach des Erdkellers zu klettern. Das ist lange vor den bestehenden Erinnerungen, doch mitten in einer gewaltigen Arbeit. Ich habe eine neue Erfahrung gemacht: In den Jungfernreben eine Höhle zu entdecken, und wie es ist, sich an diesem Ort aufzuhalten. Ich kann diese Erfahrung ablegen. Und als ich die Augen öffne, die ich wegen des Lichts zukniff, erblicke ich etwas auf dem Verandatisch, und ich sage: - Der Schatten sonnt sich! Das tut er doch, oder, Vater? Eine Unterhaltung voller zeichenhafter Be-deutung, ein Frage-und-Antwort-Spiel hat stattgefunden: Der sprachkundige Vater vermittelt durch das „ hinweisende Lehren der Wörter “ seinem der Sprache noch ‚ ohnmächtigen ‘ Sohn ihren (richtigen) Gebrauch, dessen Kenntnis ihn mit jedem Wort ‚ mündiger ‘ macht. Ein komplexer Vorgang, der die Geschichte jedes Menschen wie jene der Menschheit seit je bestimmt und der anthropologisch gesehen über Generationen bis zu einem magischen ersten Laut und/ oder Urwort 40 in Verbindung steht. Eine Szene, die sich bei jedem Menschen am Anfang in seinem Spracherwerbsprozess individuell wieder anders abspielt. Im Kontext der Frage nach Spracherwerb und Sprachbewusstseinsbildung gelesen, erinnert das Versteck in den Jungfernreben an Platons Höhlengleichnis. Mit der ‚ Übersetzung ‘ des Sinnbildes in die Jungfernreben liegt eine inverse Kontrafaktur davon vor. 41 Bei Platon sind die Schatten das Abbild künstlicher Gegenstände von außerhalb der Höhle, 40 Die Frage nach einem ersten Wort oder „ Urwort “ wird auf ganz unterschiedliche Weise u. a. von der Semiotik, der Ontologie und Onto-Theologie wie von der (Sprach-)Philosophie behandelt. Eine Kurzdefinition des Mythos in Abgrenzung zum Lógos lautet wie folgt: „ Kunstwort des attischen Epos; es bedeutete ursprünglich dasselbe wie Lógos: Beides hieß ‚ Wort ‘ (lógos das sinnerfüllte Wort, M. das gesprochene Wort). Später stand M. für das heilige Wort, schliesslich für die (unwahre) Erzählung (fabula) und Göttersage. [ … ] “ Vgl. Eintrag ‚ Mythos ‘ , in: Harenberg (1997, Bd. 4: 2074). 41 „ Das Wort geht der Welt voran, Wort schafft Welt! Veit Pittioni hat dies mit der Sprachphilosophie und Ontologie Ferdinand Ebners in Verbindung gebracht. Man kann die Seinserschaffung aus dem Sprachlichen auch schlichter als ein Sich-Bewegen in der Schattenwelt bloßer Zeichenhaftigkeit betrachten. “ (Burri/ Freudiger 1993: 121). - ‚ Göran ‘ kreiert mit seinem Wort-Bild „ Der Schatten sonnt sich “ eine „ Seinserschaffung aus dem Sprachlichen “ in einer realen sowie einer perzeptiven ‚ Schattenwelt ‘ . Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 35 von der Lichtquelle (Feuer) an ihre Wand projiziert. Die an die Wand geketteten Menschen halten diese für wahr oder ‚ Wirklichkeit ‘ . Wenn sie vor ihre Höhle treten, kommen sie vom Schatten ans Licht der Sonne (Wahrheit), vom Mythos zum Logos, und sie erwachen. Tunström dagegen lässt bei derselben Aktion ‚ Vor die Höhle treten ‘ seinen Protagonisten eine andere Erfahrung machen. Nicht das Licht der Wahrheit wird erblickt, nicht die Sonne steht im Zentrum, vielmehr wird dem (mythischen) Schatten eine gewisse (und rein logisch besehen) irritierende Resistenz gegenüber der Sonne zugesprochen: „ Der Schatten sonnt sich! Das tut er doch, oder, Vater? “ , fragt Göran, Rückversicherung suchend, im Augenblick des Gewahrwerdens des Schattens. Eine Antwort erhält er weder vom Vater (der eben noch jeden Schritt nach Kräften unterstützte und keine Fragen offengelassen hat) noch bringt sie der Text - die Frage verhallt unbeantwortet, der Prolog ist wörtlich und metaphorisch an sein Ende gelangt. Der (Elementar-)Satz Görans „ Der Schatten sonnt sich! “ , gefolgt vom unbeantwortet bleibenden Fragesatz „ Das tut er doch, oder, Vater? “ , ist die Geburt einer poetischen Sprache. Die Differenz Mythos und Logos ist aufgehoben. Etwas Drittes entsteht: das poetische Wort, eine Metapher vergleichbar Quintilians ‚ lachender Wiese ‘ (pratum ridet), die nur durch eine imaginative Ersatzleistung auf Seiten des Lesers verständlich gemacht werden kann. 42 Der Satz beweist seine Koinzidenz und Koexistenz und wechselseitige Dependenz. Eine Dichtersprache ist auf spielerische Art und Weise zum Vorschein gekommen (für Göran war das Verstecken ein Spiel). Der kindliche Satz hat einen Dichter geboren. Die ‚ Hebamme ‘ bei dieser Geburt war sein Vater, er hat Göran (mit einem Ruck) aus den Jungfernreben herausgehoben und ans Licht - zum Logos der Welt - gebracht, was der Junge aber immer noch mit seiner kindlichen Sichtweise betrachtet. Insofern auch die dichterische Sprache versucht, sich dem strikten Gebot des lógos zu entziehen, gleicht sie der prärationalen kindlichen Weltwahrnehmung. Einzelne Wörter in diesem anfänglichen Dialog und späteren Monolog ragen hervor in Versalien wie Monolithe, Findlinge, Rätsel und führen uns so die Größe der Sprache vor Augen. Soeben waren wir Zeugen einer intimen Unterhaltung, eines Frage-und-Antwort- Spiels, eines Dramoletts auf der Bühne des (Familien-)Lebens. Der Spracherwerbsprozess entwickelt sich so stetig weiter, stirbt und wird - Wörter geraten außer Gebrauch und fallen dem Vergessen anheim oder neue kommen in Gebrauch, die alte verdrängen. Ein Kind lernt in der Regel zuerst so „ nur “ gerade die von seiner Gemeinschaft verwendeten Wörter, mit denen es an deren Kommunikation teilhaben kann. Eine Urszene, die sich von Generation zu Generation in steter Veränderung wieder abspielt, um das Wissen über die neue, aktuelle wie über die alte, vergangene Welt zu tradieren, zum Selbstverständnis wie zum gegenseitigen Einverständnis. Im Grund ist diese erneuernde Weitergabe so alt wie das Wort und steht mit jedem Wort wieder am Anfang, ohne denkbares Ende. Augustinus, der Kirchenvater (354 - 430 n. u. Z.), hatte die Vererbung dieses Wortwissens in der Urform aller Autobiografien durch Selbstbeobachtung studiert und in seinen Confessiones notiert: Ich behielt es im Gedächtnis, wenn Erwachsene eine Sache beim Namen nannten und wenn sie dann diesem Laut entsprechend ihren Körper irgendwohin bewegten. Ich sah das und merkte mir, dass sie mit den Lauten das Ding bezeichneten, das sie mir zeigen wollten. Dass sie das wollten, verriet ihre 42 Mit Blumenberg wird der zunächst unverständliche Satz „ der Intentionalität durch einen Kunstgriff des Umverstehens integriert. Die Erklärung des exotischen Fremdkörpers zur ‚ bloßen Metapher ‘ ist ein Akt der Selbstbehauptung: die Störung wird als Hilfe qualifiziert. “ (Blumenberg 1979: 88), in: „ Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit “ (ebda.: 77 - 93). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 36 2 PROLOG Körperbewegung [ex motu corporis], die gewissermaßen die Natursprache aller Völker ist; sie besteht in Mienenspiel, Augenausdruck und Gestikulation; durch Handlung und Stimme zeigt sie den Zustand der Seele an, die etwas erstrebt oder erreicht, etwas abweist oder flieht. So lernte ich allmählich, dass die Wörter, die in verschiedenen Sätzen an ihrer Stelle vorkamen und die ich oft gehört hatte, die Zeichen für bestimmte Dinge waren. Dann gewöhnten meine Lippen sich daran, diese Zeichen hervorzubringen, und ich begann, meine Wünsche durch sie auszudrücken. So tauschte ich, um Willensbewegungen anzuzeigen, Zeichen aus mit den Menschen, mit denen ich zusammenlebte, und damit fuhr ich hinaus auf das stürmische Meer der menschlichen Gesellschaft, unterworfen der elterlichen Gewalt und dem Willen der Erwachsenen. (Augustinus 2009: 51 u. 53). 43 Mit diesem Augustinus-Zitat leitet Ludwig Wittgenstein seine Philosophischen Untersuchungen 44 ein. Er befragt darin minutiös die Regeln und Bedingungen, die den andauernden Prozess der Sprachwerdung des Menschen als eine Voraussetzung zur Teilhabe an der Kommunikation in einer ‚ Sprachgemeinschaft ‘ bilden. Der oft zitierte Satz darin lautet: „ Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. “ (P U § 43) „ Das Benennen ist eine Vorbereitung zur Beschreibung. “ (P U § 49) Wittgenstein betont verschiedentlich, dass mit dem richtigen Gebrauch eines Worts sein ‚ Verstehen ‘ noch nicht garantiert sei. Außerdem konstatiert er: „ Die Frage ‚ Was ist eigentlich ein Wort? ‘ , ist analog der ‚ Was ist eine Schachfigur? ‘“ (P U § 108, auf ‚ Zettel ‘ ). Schachspiel und Wortspiel - als anderes Wort für Wortkunst oder Literatur - bilden mit jedem Zug oder jeder Zeile neuen Kon-Text. Gunter Gebauer hat Wittgensteins Paradigma des Gebrauchs eines Wortes, wie dieser ihn im § 50 seiner Philosophischen Untersuchungen am Pariser Urmeter Maß nehmend auslegt, mit den Begriffen ‚ Einführungs-Situation ‘ und ‚ Anwendungs-Situation ‘ und der Erweiterung des semiotischen Dreiecks (nach Ogden & Richards) korrigierend differenziert: „ Wir können den Terminus ‚ Paradigma ‘ nun genau explizieren: „ Ein ‚ Paradigma ‘ ist der gleichartige Gebrauch eines Ausschnitts der ‚ Einführungs-Situation ‘ in Anwendungs- Situationen. “ 45 Was in „ Der Schatten sonnt sich “ geschildert wird - das Erwachen eines Kindes zum bewussten In-der-Welt-Sein durch die Kenntnis und den richtigen Gebrauch der Sprache, also der Wörter - , ist mannigfach den Beschreibungen von Augustinus und Wittgenstein verwandt. Wie Tunströms Langgedicht „ Vår ö - vår tid i havet “ 46 aus Sorgesånger (SOS: 43 Augustinus ’ Darstellung der Wortsprache galt lange als maßgeblich. Mit de Saussure, der modernen Linguistik und Sprachphilosophie verlor dieses statische, dualistische Paradigma seine Gültigkeit. - Aus der handlungstheoretischen Perspektive Christian Stetters und der ‚ sprachlichen Fluktuanz ‘ wird das Sprachmodell spätestens dynamisch: „ Sprache - dies zeigt das Boguslawski-Phänomen - ist das Paradigma schlechthin für nicht seiende, sondern werdende und insofern sich kontinuierlich verändernde Substanz, mit einem Wort, für Fluktuanz. “ (Stetter 1997: 129) 44 Wittgenstein (2003: 11 - 12): „ In diesen Worten [des Augustinus] erhalten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache. Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände - Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen. - In diesem Bild von der Sprache finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht. “ 45 Gebauer (1971: 29); siehe insbes. Kap. „ 2. Wittgensteins Paradigmen Begriff “ (ebda.: 26 - 38), worin der Autor diesen problematisiert und seine Differenzierung desselben darlegt und damit den Wortgebrauch (im Spracherwerb) noch präziser fasst. Für die Zwecke hier muss „ Gebrauch “ jedoch genügen. Gebauers Studie zeigt indes triftig, um wie viel komplexer in Wirklichkeit der Vorgang des Erlernens des Wortgebrauchs und der Sprachbedeutung ist. 46 Titel und Augustinus-Zitat unterlegt ist der Zusatz: „ (Gedichte 1966 - 1979, gesammelt in den Nächten deiner [Lena Cronqvists] Abwesenheit … ) “ . Vgl. UNS: 27. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 37 [57] - [94]) [Klagelieder] dokumentiert, in Augustinus in der Präambel Erwähnung findet, ist Tunström ein produktiver Leser der Bekenntnisse. Ob die zitierte Augustinus-Stelle (I.VIII, 13) als Prätext für „ Der Schatten sonnt sich “ gedient hat, ist nicht auszumachen. Doch ‚ bezeugen ‘ die beiden in sprachphilosophischer Hinsicht eine nahe Verwandtschaft zueinander. Tatsache ist, dass, wie auch gerade die ‚ sprachliche Fehlleistung ‘ „ Der Schatten sonnt sich “ aufzeigt, das hinweisende Lehren des Gebrauchs der Wörter durch Vater Tunström für die Wahl seines Sohnes Göran, Schriftsteller zu werden, wegweisend gewesen sein muss. Seine Worte haben ihm das Tor zur Sprache geöffnet, und damit zur Welt, auch der Bücher. Vaters Bibliothek war, wie in Prästungen, aber auch in Interviews, die Tunström gab, zu erfahren ist, für den Autor von zentraler Bedeutung. Aufklärende Vater-Worte bildeten den Keim für Tunströms Werden im Wort, das für sein Werk so charakteristisch ist. Geradeso wichtig in dieser didaktischen Situation ist der Andere und dass „ die Grundtatsache der Existenz weder das Ansich noch das Fürsich “ , sondern, wie Michael Leiris (1901 - 1990) (1988: 92) sagt „ das Für-den-Anderen ist; anders gesagt, dass die menschliche Existenz Kreatursein ist. Durch das vorgebrachte Wort exponiert sich das sich setzende Subjekt und, in gewissem Sinn, betet es. “ In „ Skuggan solar sig “ entspricht alle Rede, ob direkte, indirekte, erlebte, dem, was Wittgenstein ‚ das Sprachspiel ‘ 47 nennt, wofür er von „ Befehlen, und nach Befehlen handeln “ bis zu „ Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten “ (P U § 23) mannigfaltig Beispiele anführt. Da Prolog, ist der Text vor die in drei Kapitel unterteilte Erzählung des Pfarrsohnes Prästungen gesetzt. Kind Göran ist die Sprach- und Sachlogik der Welt der Erwachsenen noch nicht vertraut. Verpuppt steckt es noch mitten im Stadium des unbewussten Erwerbs des (richtigen) Gebrauchs des ‚ lógos ‘ , des Worts, der ‚ lógoi ‘ , der Wörter, die das Denken und Handeln auch seiner Welt strukturieren. Göran erfährt im Dialog mit seinem Vater somit sachte eine Annäherung an diese Wortwelt und versucht seine noch un-logischen Schlüsse daraus zu ziehen oder sich Antworten zurechtzulegen. Die Interaktion durch das „ hinweisende Lehren der Wörter “ (P U § 6) in dieser ‚ Urszene ‘ lohnt eine genauere Betrachtung. Die aufschlussreiche Szene führt eine klassische Sprachspiel-Situation vor Augen. Aus der Sicht Görans spielt sie sich im Schatten einer Jungfernrebe ab, 48 metaphorisch im Vor- oder Unbewussten. Im schlummernden Bewusstsein des Jungen regt sich zugleich eine erste Irritation über den Gebrauch und die Wirkung von Wörtern. Zweifel, Reflexion und Widerspruch melden sich: „ Es ist, als ob ich eine Ewigkeit lang weggewesen wäre und beinahe noch zu frieren begonnen hätte, obschon ich mich auf so viele Wörter konzentriert hatte, riesengroße Wörter, das größte Wort ist bestimmt DER ERDKELLER, man rutscht aus, wenn man versucht, auf das Dach des Erdkellers zu klettern. “ Die Konzentration auf ein Wort schützt vor Kälte nicht, lehrt die Erfahrung, Zeit wird als relativ erfahren. Das „ größte “ (weil auch ‚ längste ‘ ) Wort JORDKÄLLARN scheint 47 „ Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚ Sprachspiel ‘ nennen. “ (P U § 7). ‚ Sprachspiel ‘ definiert Wittgenstein so: „ Das Wort ‚ Sprachspiel ‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. “ (P U § 23). 48 „ vildvinet “ [der wilde Wein]. Ein schönes Beispiel, wie durch Übersetzung eine weitere, vom Autor nicht intendierte Bedeutung anklingt: Jungfräulichkeit (vgl. PRÄ: 13). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 38 2 PROLOG die im Alltag erfahrene, gefährlichste „ Sache “ zu sein, nämlich der Erdkeller, 49 wo einer leicht den Boden unter den Füssen verlieren und ausgleiten kann. Wörter scheinen eine Wirkung zu haben, können sich auswirken, gewinnen ontische Qualität, so kann das größte Wort unter ihnen Verunsicherung bewirken. Die Szene gipfelt im Paradox des sich sonnenden Schattens im Prolog „ Der Schatten sonnt sich “ , der seinerseits aufgepfropft ist auf das dem Buch als Motto vorangestellte Strindberg-Zitat, wo die Rede von Johan ist, der „ klängväxt, som måste söka ett stöd “ (SV, 5: 38), der „ Kletterpflanze, die sich einen Halt suchen musste. “ (FSA 1984: 50) 50 Literarischer Vorgänger und Nachfolger treten in einen Dialog, so wie Vater und Sohn in „ Der Schatten sonnt sich “ . Das Dispositiv im Verhältnis Strindberg-Tunström steht, statisch, über Tunströms Lektüre Strindbergs, (fest)geschrieben: der ältere lehrt, der jüngere lernt - der jüngere steht im Schatten, erhascht Abglanz. Zwischen dem belesenen Vater und seinem Sohn Göran ist das Machtverhältnis ausgewogener, dynamisch - bis zum abrupten Tod des Mentors und Vaters; es erlischt, wird auf den Kopf gestellt, um nach einer Inkubationszeit umso intensiver in der Textwelt in Buchform wieder zu Leben zu kommen. Das ist die Autor-Genese, die den unwiderruflich abgebrochenen Dialog zwischen sich und dem Vater ‚ verschiebt ‘ auf die Ebene Autor, Erzählwelt (und Buchpublikum). Im Pro-log findet die erste Einübung und Bekanntschaft mit dem Gebrauch und den Bedeutungen von Wörtern statt. Durch hinweisendes Lehren des richtigen Gebrauchs der Wörter durch seinen Vater eignet sich Göran Kenntnisse in Welt und Wort an. In Prästungen iterieren diese Fragen, werden dem Entwicklungsstadium des Protagonisten angepasst, verfeinert und orchestriert, entfalten die Geschichte, treiben sie voran, spinnen sie weiter - bis zum Verstummen. Das Kind registriert Gegensätze, wenn es, vom Vater aus den Jungfernreben herausgehoben, aus dem Wortlosen, Vor-beworteten, noch nicht Beworteten, bemerkt, dass draußen das „ Licht hart und grell “ ist. Es gibt eine Zweiteilung: Helligkeit und Schatten, Draußen und Drinnen, Sprache - Nichtsprache, Laut - Still. Eine erste Dichotomie macht sich bemerkbar, wird von der jungen Seele erahnt (und der unwiederholbare Moment wird im wieder sich findenden Autor später zu Wort.) Welt lässt sich beschreiben. Mit Wörtern. Wir wohnen der Urgeburt des Poeten Göran Tunström als Kind bei, seiner individuellen Sprachgeburt. Vater wie Mutter leisten dabei auf 49 Ein ‚ Erdkeller ‘ ist ein kleiner Speicher mit einer Öffnung und einer Stiege ins Erdinnere, wo bei konstanter Temperatur bspw. Gemüse und Obst gelagert wird. Mit der Erfindung des Kühlschranks sind Erdkeller vielerorts verschwunden. 50 Vgl. Tjänstekvinnans son. En själs utvecklingshistoria (1849 - 1867), Del I, Kap. III, „ Borta ifrån hemmet “ und Der Sohn der Magd. Entwicklungsgeschichte einer Seele (1849 - 1867), Teil I, Kap. 3 „ Fort von zu Hause “ . Vgl. dazu Serres (1981). Der Parasit. Durch das Voranstellen des Strindberg-Wortes in der Vorrede zu Prästungen, verankert Tunström seine „ Autobiografie “ in den (nationalen) literaturgeschichtlichen Kontext und potenziert sie zugleich um die Dimension der Aufpfropfung. Er stellt damit seinen Erinnerungen einen Vorvater zur Seite und damit seine „ Autobiografie “ in einen größeren Zusammenhang. Strindberg, zitiert nach FSA (1984: 31): „ Alle Kindheitserinnerungen lehren, wie teils die Sinne zunächst erwachen und die lebendigsten Eindrücke absorbieren, wie die Gefühle durch den geringsten Lufthauch angerührt werden, wie sich die späteren Beobachtungen hauptsächlich auf grelle Ereignisse richten, zuletzt auf moralische Umstände, das Gefühl von Recht und Unrecht, Gewalt und Barmherzigkeit beziehen. / Die Erinnerungen sind ungeordnet, verzerrt wie die Bilder im Taumatrop, dreht man aber am Rad, dann verschmelzen sie und ergeben ein Gemälde, das bedeutungslos oder bedeutungsvoll ist, je nachdem. “ Tjänstekvinnans son wird im Titel matrilinear als Sohn einer ‚ Dienstmagd ‘ ausgewiesen, während der Junge in Prästungen über das Patronym ‚ Pfarrer ‘ definiert wird. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 39 je andere Weise Hebammendienste. Die Einzigartigkeit der Existenz wird geweckt (durch das Bewusstwerden der Sprache). 51 Und damit die Fähigkeit im Kind, dass es dies alles „ später einmal erzählen kann “ . Sein Ich beginnt sich zu konstituieren: „ Ich habe diesen Kompott gemacht! “ Und das kann sogar Gesprächsthema werden. Dass aber dasselbe Wort für Verschiedenes steht, prästkrage, das ‚ Beffchen ‘ , das ‚ Gänseblümchen ‘ bedeutet, irritiert. Wie soll ein Kind solcherart Unvereinbares, Vieldeutiges, begreifen können? Unübersehbar ist, dass der Dichter im Kind sich dem Geheimnis der Sprache öffnet und ihm Wörter etwas Lebendiges, Organisches sind. In einem Interview spricht Tunström von sich als Erbauungs-Schriftsteller 52 , ohne in das Fach ‚ christliche Erbauungsliteratur ‘ gestellt werden zu wollen. Mit diesen Voraussetzungen ausgestattet, entlässt der Autor seinen Protagonisten - diegetisch betrachtet ist es der junge Göran, auf poetologischer Ebene hingegen ist es die Heldin Sprache von ihrer ‚ Geburt ‘ bis zur Adoleszenz - in die Geschichte, die seine eigene ist. Wie der autorpoetische, nicht mehr mimetische Gebrauch der Wörter sich auf den gut zweihundertfünfzig, auf den Prolog folgenden Seiten entfaltet und verändert, wird anschließend in Kapitel 2.2 ausgeführt. Mit jeder Altersstufe (Kindheit, Jugend, Adoleszenz) verändern, erweitern sich bekanntlich Wortschatz und Sprachgebrauch. In Prästungen ist dies besonders markant. Mit dem Protagonisten Göran und seinem Antagonisten Lars auf ihrer gemeinsamen ‚ Grand Tour ‘ bis nach Griechenland und über Spanien nach Schweden zurück, erlebt auch die Sprache ihre Metamorphosen, das Sprachspiel verwandelt sich in Literatur. Ferner streut Tunström in Prästungen Wort-Reflexionen ein. Es wird zu zeigen sein, wie Erzählung und Wort-Reflexion eine Verbindung eingehen, sodass semantische Rückkopplungen auftreten. Das Phänomen ist in Tunströms gesamtem Werk zu beobachten. Deshalb soll es auch an unterschiedlichen Textstellen in seinem Werk analysiert werden. Eine Stelle aus Guddöttrarna wird hier in voller Länge zitiert, um die poetologische Wortreflexion 53 darin zu belegen (mit klarer Gesellschaftskritik: die Herrschaft der Männersprache vs. die „ sprachlose “ weibliche Bevölkerung). Es handelt sich um ein Konzentrat Tunströmscher Poetik, mit dem Postulat der Katharsis vor der Mimesis: 51 Vgl. dazu auch Ernst Leisi (1971: 9): „ Beobachten wir ein Kind bei seinen ersten Sprechversuchen, so sagen wir dann: ‚ es spricht ‘ , wenn es Wörter hervorbringt. Sprechen heißt also in erster Linie: Wörter gebrauchen. “ 52 Als „ uppbyggelseförfattare “ bezeichnet sich GT im Interview mit Gun Zanton-Ericsson anlässlich der bevorstehenden Herausgabe seines „ tankebok “ (Gedankenbuches) Under tiden. SAOL führt unter dem Lexem ‚ uppbygga ‘ als Bsp. ‚ uppbygga sina åhörare med en predikan ‘ [seine Zuhörer mit einer Predigt aufbauen] an. Vgl. https: / / svenska.se/ saol/ ? sok=uppbygga&pz=1 (abgerufen am 02.08.2021). GT nimmt im Interview ausführlich Stellung zu seinem Schaffen und sagt u. a.: „ I mina böcker ska finnas en ljusglimt, något upplyftande, uppbyggande. “ [In meinen Büchern soll es einen Lichtschimmer geben, etwas Erhebendes, Aufbauendes.] „ Jag är ett material att använda. Jag vill vara personlig men inte privat, och det är inte précis några bekännelseböcker jag skrivit. “ [Ich bin ein (Roh-) Material. Ich will persönlich sein, doch nicht privat, ich schreibe ja auch keine Bekenntnisbücher.] Er spricht ebenso vom „ Tillblivelsernas mysterium “ [Mysterium des Werdens] und dass er mitunter während Monaten auf die richtigen Wörter warte, um ein Buchmanuskript zu beenden. Er sei möglicherweise ein ‚ genetischer Optimist ‘ (eine Bezeichnung, die der Schriftsteller-Kollege Folke Isaksson von sich gebrauche). Vgl. dazu Zanton-Ericsson (1993: passim). 53 Poetik als Ethik. (Hervorhebung von ‚ orden ‘ und ‚ Wörter ‘ : L. D.) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 40 2 PROLOG En gång varje årtionde måste vi ompröva alla våra ord och vad de står för. Från politikerna till den isolerade hemmafrun, från åldringen som inväntar döden till fyraåringen som dresseras att gå i språkets band, måste vi öppna absolut förutsättningslösa seminarier som granskar de skrivna lagtexterna, de vardagliga replikerna, kärleksorden, invektiven. Vi måste göra totala utvärderingar av hela den mylla i vilken språkblomstren frodas. Vad är sjukt och vad är friskt? Vad är ditt och vad är mitt? Vi måste ha rätt att utkräva ansvar av språkmissbrukarna. Vi kan aldrig mötas om vi inte håller språket levande, så att det passar till alla de olika nyckelhål, som leder in till varje enskild individ. Det är ett oändligt svårt arbete, som kräver „ tid “ och „ överblick “ , „ kärlek “ och „ tolerans “ . Kanske borde vi i varje kvarteret inrätta en språk … nej, nej, inte en språkpolis, tvärtom, en språkgycklare, en taburaserare, en clown, som dansade i våra hastigt uppblossande dialoger, våra tystnande vardagsrepliker, som dansade i grälen och kärleksnafsandet och vände upp och ner på orden, höll upp dem framför oss, speglade sig i dem och gjorde lea grimaser. Ingen samhällets, kvarterets ära skulle vara större än den, att genom en årlig tävlan utses till språkgycklare, större än presidenters ära skulle den vara. Gycklaren eller gycklerskan skulle ha rest vida omkring, haft relationer till skilda kulturer, orädd skulle hon vara, stark och varm. (GUD: 112) Einmal jedes Jahrzehnt müssen wir alle unsere Wörter daraufhin überprüfen, wofür sie stehen. Von den Politikern bis zur isolierten Hausfrau, vom Greis, der auf den Tod wartet, bis zum Vierjährigen, der abgerichtet wird, am [Lauf-]Band der Sprache zu gehen, müssen wir absolut voraussetzungslose Seminare arrangieren, um die Gesetzestexte zu untersuchen, die Repliken im Alltag, die Liebeswörter, die Invektiven. Wir müssen komplette Auswertungen machen von dem ganzen Müll, in dem die Sprachblüten gedeihen. Was ist krank und was ist gesund? Was ist dein und was ist mein? Wir müssen das Recht haben, jene, die Sprache missbrauchen, zur Verantwortung zu ziehen. Wir können uns nie begegnen, wenn wir die Sprache nicht lebendig halten, sodass sie zu all diesen Schlüssellöchern passt, die ins Innere eines jeden einzelnen Individuums führen. Es ist eine unendlich schwierige Arbeit, die ‚ Zeit ‘ fordert, und ‚ Überblick ‘ , ‚ Liebe ‘ und ‚ Toleranz ‘ . Vielleicht sollten wir in jedem Quartier einen Sprach … , nein, nein, keinen Sprachpolizisten anstellen, im Gegenteil, einen Sprachgaukler, einen, der Tabula rasa machte, einen Clown, der sich zwischen unsere rasch sich entzündenden Dialoge tanzte, unsere stumm machenden Alltagsauskünfte, der zwischen Händel und Liebesgezänk tanzte und unsere Wörter auf den Kopf stellte, sie vor uns hinhielte, sich darin spiegelte und derbe Grimassen schnitt. Jeder Gesellschaft, jedem Quartier wäre es die größte Ehre, in einem alljährlichen Wettbewerb zum Sprachgaukler auserkoren zu werden, eine größere Ehre als jene des Präsidenten. Der Gaukler oder die Gauklerin wäre weit in der Welt herumgekommen, hätte Beziehungen zu verschiedenen Kulturen, wäre furchtlos, warmherzig und stark. Die Textstelle stellt als Gedankenspiel das Prinzip ‚ Sprachpolizei ‘ dem Prinzip ‚ Sprachgauklerei ‘ gegenüber und fordert unmissverständlich den verbalen Lackmustest der Wörter, um „ die Sprache lebendig [zu] halten. “ Dezent im Namen eines Kollektivs (der Sprachgemeinschaft „ wir “ ) wird dafür als (Ver-)Mittler und Prüfer ein Gaukler zur Abhilfe empfohlen. Einer, der es versteht, mit der Sprache zu spielen. 54 Ein Widerhall aus Prästungen ist unüberhörbar: Die Problematik zwischen der öffentlichen Sprache des lógos (der Gesellschaft, der Politik, des Gesetzes) und dem dichterischen Sprachpotenzial wird offenbar. Demgegenüber steht die „ Fruchtbarkeit eines Autors “ , der „ unbegrenzte Quellen für die Schöpfung von Diskursen “ besitzt. 54 Michel Foucault dazu in Die Ordnung des Diskurses (2001: 25): „ Es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‘ Polizei ’ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss. “ Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 41 Tunströms Verhandlung von Sprache und Wort in seinem Roman Guddöttrarna wird in Kapitel 4.2 eingehender analysiert. Hier sei vorab festgehalten, dass im Sprachgaukler die Konturen eines Selbstporträts des Autors Göran Tunström durchschimmern, dessen Poetik sich dem herrschenden Diskurs widersetzt und das utopische Ziel einer authentischen Sprache vor Augen hat. 2.1.3 (Vorläufiger) Epilog auf einen Prolog Der Prolog „ Skuggan solar sig “ steht vor der Erzählung Prästungen wie das Portal über der Schwelle zum Kircheninnern. Drei Stimmen, zwei Säulen, ein ‚ Verbindungsbogen ‘ , bilden das Eingangstor: Mutterstimme - kindliche oder Görans Stimme - Vaterstimme umrankt von weiteren Stimmen (wie etwa jene von Reisig-Aina oder Pampuscha). Ein Bild, kein Wort - „ Det första minnet: “ [Die früheste Erinnerung: ] 55 - ist Katalysator, eingefasst von einem Doppelpunkt 56 , der diesen Augenblick aus der Vergangenheit in die Gegenwart rückt. Unmittelbar kommt so - ohne Verb, allein durch ein Kolon - vor dem geistigen Auge beim Lesen jedes einzelnen darauffolgenden Wortes Bewegung in ein Stillleben einer anfänglich leeren Dickmilchschale. Die Erinnerung ‚ spricht ‘ . Ein Kameraschwenk zoomt in einem Dreischritt in Großaufnahme die Schale heran - im Mittelteil von der Apposition ‚ Vater für Mutter ‘ gebildet - , haucht dem eingefrorenen Bild 57 Leben ein: [1] „ Auf der Weide, die [2] Vater für Mutter dazu mietete, [3] habe ich sie randvoll mit Heidelbeeren gefüllt. “ Das Portal in Form des Prologs ist Medaillon, es fasst und überstrahlt den von Geschichten und Episoden wimmelnden nachfolgenden Film (der Evolution einer Autorgenese). Hinter dem Portal teilen sich drei „ Schiffe “ den von Sprachen erfüllten Kirchenraum, zu lesen als die drei mit römischen Zahlen bezeichneten Kapitel. Die Lektüre ist das Abschreiten des Kirchenraums, angefüllt mit den Stimmen der Hauptfiguren und Nebencharakter sowie dem Ringen um Sprache beim Ich-Erzähler, dessen Stimme uns Lesende leitet, bis sie ihm brüsk ihren Dienst versagt - die Erzählung stockt und endet. Dem sprachgebenden Eingangstor steht die stumme Ausweglosigkeit gegenüber. Die Dreizahl 58 ist ein auffallendes (Struktur-)Merkmal von Prästungen. Sie festigt Form und Wesen der Geschichte in der Dreigliedrigkeit mit Achtergewicht in Kapitel III, wo sich in der zunehmenden Sprachlosigkeit von ‚ Jungautor ‘ Tunström die Antiklimax ereignet. Die vielfach variierte 55 Zum Erinnerungsraum vgl. Aleida Assmann (1999: 91): „ Der Begriff ‚ Memoria ‘ verbindet sich dabei mit anderen wie ‚ Tradition ‘ und ‚ Rhetorik ‘ ; ‚ Erinnerung ‘ dagegen rückt immer enger mit ‚ Subjektivität ‘ und ‚ Schrift ‘ zusammen. “ [ … ] „ Der Niedergang der Memoria bildet die Folie für die Heraufkunft der subjektiven Erinnerung mit derAufklärung (Locke). “ In Kap. „ IV. Wordsworth und die Wunde der Zeit “ , worin sie die Differenz zwischen Memoria und Erinnerung herausarbeitet (Assmann, A. 1999: [89] - 113). 56 Einen Resonanzraum voller Erinnerungen setzt die Erzählung Prästungen in Bewegung. Karl Kraus ’ Dictum „ Doppelpunkte sperren den Mund auf: weh dem Schriftsteller, der sie nicht nahrhaft füttert “ wird in Prästungen gleich von Beginn weg über alle Maßen Genüge getan: 14 Doppelpunkte sind in „ Der Schatten sonnt sich “ gesetzt. Die ersten zwei bilden zusammen gar einen ‚ vergrößerten Doppelpunkt ‘ , da sie direkt aufeinander folgen. 57 Göran Tunström spricht im großen Interview mit Margarete Garpe (Garpe 1983: 15): „ Jag skriver en speciell sorts poesi, den irriterar mej men har varit den enda möjliga, Robert Bly kallar den ‚ poetry of the steady light ‘ , dvs enbildspoesi. “ [Ich schreibe eine spezielle Sorte von Poesie, sie irritiert mich, aber war für mich die einzig mögliche, Robert Bly nennt sie ‚ poetry of the steady light ‘ , d. h. Einbildpoesie.] - Anm. d. Verf. (L. D.): Blys Begriff lautet ohne best. Art. ‚ poetry of steady light ‘ . 58 Siehe Lüthi (1990). Das Volksmärchen als Dichtung, passim. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 42 2 PROLOG und potenzierte Dreiheit lässt die Assoziation an die christliche Trinität aufkommen und damit die Frage, ob der vom Autor evozierte und errichtete Kirchenraum der (Wort-) Geschichte als ‚ heiliger ‘ verstanden wird. Die Frage verdient besonderes Gehör und geschärftes Augenmerk. Implizit begleitet sie die Arbeit unter dem Aspekt: Sprache und Wort bei Tunström - eine Form von religio? „ Der Schatten sonnt sich “ darf, vor dem Hintergrund von Tunströms Opus, wörtlich genommen werden. Das poetische Moment dieser Erfahrung kommt einem Thesaurus gleich. Ist Schatzkästchen, Sparbüchse und Opferstock, füllt sich … wird geleert, füllt sich … so lange denn einer schreibt. Ihr Wächter heißt Prästungen - (magischer) Ministrant? Das Wort bedeutet ihm Welt und birgt einen Schlüssel zur Universalbibliothek. Der Namengebungsakt, die „ ordnungsschaffende Schöpfung aus dem Wort “ 59 in dem res und verba sinnhaft verbunden werden, steht dabei am Anfang. Sie bildet die unabdingbare Voraussetzung für alle darauffolgenden Lese- und Schreibakte, „ Seinserschaffung “ im Aufbau eines (kindlichen) Intellekts, eines Logos der Welt. Nach Abschluss einer ersten „ Bereinigung der Wortsituation “ 60 soll nun zunächst die ganze Erzählung Prästungen in den Fokus der Untersuchung gestellt werden. 59 Klein (1992: 325 im Kap. „ 1. Pädagogische Anfangsgründe: Spracherwerb als Verbindung von verba und res “ : [320] - 326). - Klein erläutert ([318] - 354) das Sprachenlernen-Konzept des tschechischen Theologen Johann Amos Comenius sowie dessen pansophisches Projekt einer vollkommenen Universalsprache. In der Einleitung schreibt er den für die vorliegende Arbeit einprägsamen Grund-Satz: „ Daß noch heute am Anfang das Wort ist, folgt insofern aus der grundsätzlichen Mittelstellung von Sprache: Sie ist vor jedem Sprecher, aber auch vor jeder Gemeinschaft; sie existiert als Ganze weder im Individuum noch in der abstrakten Gesellschaft. Paradoxerweise geht Sprache ihren Trägern stets voraus: Sie ist immer schon da, also wahrlich ursprünglich. “ (Klein 1992: 12). 60 Valéry (1992: 1316 in „ Poésie et pensée abstraite “ : 1314 - 1339): „ En toute question, et avant tout examen sur le fond, je regarde au langage; j ’ ai coutume de procéder à la mode des chirurgiens qui purifient d ’ abord leurs mains et préparent leur champ opératoire. C ’ est ce que j ’ appelle le nettoyage de la situation verbale. “ „ Poésie et pensée abstraite “ , auch The Zaharoff lecture for 1939 genannt, erschien erstmals bei Clarendon Press, Oxford 1939. Kurt Leonhard übersetzt die Stelle mit „ Säuberung der sprachlichen Situation. “ Siehe FVA (1991: 142). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.1 Wörter bedeuten die Welt 43 We read, we travel, we become Derek Walcott Denna natt drog mig över till mitt: till det jag skulle vara och leva i. Löjliga enkla ord. Men att folk var inte farliga. Han var ju lika hjälplös som du, som var jag. 61 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) Prästungen ist Göran Tunströms Erzählung seiner ersten zwanzig Lebensjahre, vom vierjährigen Kind über die Jugend und Adoleszenz bis zum jungen Mann. In trinitarischer Personalunion fungiert darin ‚ Göran ‘ 62 als Ich-Erzähler, Protagonist und Figur in einem; im Lauf der Erzählung unterliegt die Fokalisierung gewissen Schwankungen, indes ist sie im Ganzen gesehen als interne zu bezeichnen, versehen mit dem zusätzlichen Merkmal eines ausgeprägten inneren Dialogs. Während der Schutzumschlag der Erstauflage von 1976 das Buch als Erzählung „ Berättelse “ vorstellt, folgt das Genreetikett in der Version als Bonnierpocket (2. Aufl. 2000) erst im Titelblatt; das Foto auf dem Cover mit Göran in Lesepose, das „ Rekord “ - Magazin in Händen, mit Blick zur Kamera, indes ist dieselbe. Das E-Bok (2013) nun bringt als Cover die Zeichnung Cronqvists mit der Legende „ Jag måste bli exakt som han “ (PRÄ: [169]) [Ich muss exakt so werden wie er]: Die Darstellung von Görans Ehrfurcht und Einfluss-Angst als ‚ leerer Schatten ‘ in der hierarchisch gestuften Trias Bücherwand-Vater- Sohn sagt mehr als tausend Worte. Vater Tunström steht da wie ein Bindeglied zwischen Sohn Göran, der wie ein Schemen oder noch unbeschriebenes Blatt auf seine Stimme horchend verharrt, und der Welt der Literatur, also der geschriebenen Bücher, angedeutet als die unzähligen Bücherrücken der Bücherwand hinter sich. In der Essenz ist Prästungen ein Sprachbildungs- und Wortfindungsroman, die Genese und Lesebiografie eines heranreifenden Autors, auf der Suche nach (s)einer eigenen Stimme. Text und Subtext gewähren reichhaltig Einsicht in dessen Werden im Wort. Was Dichtung ist und was Wahrheit in Göran Tunströms „ Autobiografie “ 63 seiner ersten zwanzig Lebensjahre, ist dabei von geringem Interesse, vielmehr geht es um das Wie, mit welchen poetischen Mitteln der Autor, Sohn eines Dieners am Wort 61 PRÄ: 177: Statist Göran in erlebter Rede (nachdem es ihm im Anschluss an die Dernière der Selma- Lagerlöf-Freilichtspiele 1955 endlich geglückt war, mit dem Regisseur Per-Erik Rundquist, dessen Bücher er gelesen hatte, ins Gespräch zu kommen): „ Diese Nacht hat mich zu mir gebracht: zu dem, was ich im Leben würde. Lächerliche einfache Worte. Aber dass Menschen nicht gefährlich waren. Er war ja ebenso hilflos, wie du warst, wie ich. “ Im Schwedischen kommt der ‚ rite de passage ‘ -Charakter dieses Moments durch „ drog mig över till mitt “ [zog mich zu dem Meinigen hinüber] und „ till det jag skulle vara och leva i “ [zu dem, was ich sein und leben würde] sehr deutlich zum Ausdruck; er ist „ angekommen “ und fühlt sich im Kreis der Schreibenden aufgenommen. 62 ‚ Göran ‘ steht fortan für die erinnerte Person oder Figur, GT für den Autor Göran Tunström. 63 Im Klappentext der 2. Aufl. (Bonnierpocket 2000) wird das Buch als „ verklighetsförankrad och mycket poetisk roman “ [in der Wirklichkeit verankerter und sehr poetischer Roman] angepriesen. Ganz anders wird es in der Hardcover-Ausgabe von 2020 beworben: Auf dem Cover mit dem Aquarell Lars Lerins sind nostalgisch verbrämt im Vordergrund ein Dorfjunge auf einem Fahrrad, im Hintergrund die Kathedrale von Sunne zu sehen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 44 2 PROLOG Gottes (Verbi Divini Minister), sein Erleben der Welt und des Worts samt all ihrer Korrelationen, beschreibt. Abb. 2: Cover Erstausgabe 1976 Abb. 3: Cover E-Bok 2013 Das Buch ist in den Prolog und drei Teile gegliedert. 64 In den ersten zwei Teilen gewährt es Einblicke in ein (ländliches) Schweden Mitte des letzten Jahrhunderts, in Form von Görans Erinnerungen an die Kindheit (I) und die Jugend/ Adoleszenz (II). Im Übergang zur ‚ Welt der Erwachsenen ‘ (III) begibt Göran sich auf seine „ Grand Tour “ 65 nach Griechenland, um von 64 Eine Zusammenfassung der drei Teile bietet auch die Analyse von Corina Kläpp (2014). „ En Propp i Göran Tunströms författarskap. “ (betr. Prästungen: vgl. ebda. 15 - 18). 65 Der Begriff steht in Anführungszeichen, da Reisen zu den Kulturstätten im Süden Adligen und (später) reichen Bürgern vorbehalten war. Tunströms „ Grand Tour “ hat einen anderen Hintergrund, verweist jedoch ironisch auf deren Bildungsreisen (vgl. PRÄ: 207: „ Akropolis, jaha. Herodos [sic] Atticus-bågen, jaha. “ [Akropolis, ach so. Die Rundbögen am Odeon des Herodes Atticus, ach so.]) Zur Geschichte der Grand Tour siehe u. a. Dreyer (2009). Als Reisen eine Lust war; Imorde/ Pieper (2008). Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne. Viele Inseln im Peloponnes waren seit den 1950er-Jahren Orte der Selbstbildung und -findung. So begegnete Tunström auf Hydra u. a. Axel Jensen, während Leonard Cohen ihm ebenda die Bücher Martin Bubers zur Lektüre empfohlen habe. Cohen und er, Brüder im Geiste, hätten gleich Freundschaft geschlossen, vgl. dazu „ Cohen “ (Alsing 2003: 60 - 63; resp. betr. Jensen u. a. ebda.: 99). In Jensens Joacim ( Jensen 1961: 131 - 132) findet sich eine Porträtskizze Tunströms als Schriftsteller: „ Lorenzo har vært till fjells [ … ]. Som så ofte før sitter han under markisen ved posthuset og strekker tiden ut med en kopp tyrkisk kaffe. En fillet notisblokk og en blyantstump stikker opp over kanten av brystlommen i skjorten hans. “ [Lorenzo war in den Bergen [ … ]. Wie so oft sitzt er wieder unter der Markise bei der Post und vertreibt sich die Zeit mit einer Tasse türkischen Kaffees. Eine abgegriffene Kladde und ein Bleistiftstummel lugen aus seiner Brusttasche hervor.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 45 dort über Spanien nach Schweden zurückzukehren. So viel zur Struktur der Auto ’ graphie 66 Prästungen, die auf dem literarischen Topos ‚ Aufbruch und Rückkehr ‘ aufbaut. In den ersten beiden Teilen (I bis II) spielt der Großteil der Handlung im alten Marktflecken Sunne und Umgebung (Provinz Värmland). Teil III mit der Reise in südliche Gefilde öffnet ein „ Tor zur Welt “ und endet in größter Offenheit. Alle drei Teile enden mit einer drastischen Zäsur, so auch der Schluss der ganzen Erzählung. Zwanzig meist ganzseitige Illustrationen (Kritzeleien, ‚ klotter ‘ ) von Lena Cronqvist versinnbildlichenden Wendepunkte oder Krisenmomente im Erzähltext. 67 Der Tod des Vaters beendet Teil I mit dem Kapitel „ Ishockeymatchen “ [Das Eishockeyspiel], ist zugleich incitament 68 , Faktur und Präfiguration im Schaffen des Autors. Die Erfahrung hat buchstäblich das Leben des Autors (vor-)programmiert. Sein Schreiben sei auch der Versuch, ihr jäh beendetes Gespräch (über Bücher) „ weiterzuführen “ 69 , das Geschehene ungeschehen zu machen, die entstandene Leere auszufüllen, eine Art Erwiderung: „ Durchstreichen “ und überschreiben. Die Abwesenheit des Vaters Hugo Tunström ist somit paradox anwesend und maßgebend im Schaffen Tunströms. In hochverdichteter Form bringt dies Prästungen zum Ausdruck. Wie ein ‚ Kind ‘ von zwei Büchern kommt das Buch 1976 zur Welt, nach dem „ Vaterbuch “ De heliga geograferna von 1973 und dem „ Mutterbuch “ Guddöttrarna von 1975. Zusammen bilden die drei ein Triptychon oder die „ Sunne-Trilogie “ 70 . Auf Thanatos, der mit dem Tod des Vaters Teil I der Erzählung abrupt beendet, folgt mit Teil II Eros: Drei Kapitel darin tragen Mädchennamen (Berit, Francesca, Malin), im letzten, 66 Mikrografisch gelesen, im Sinn der Benjamin-Studie Davide Giuriatos, ist Schreiben einer Autobiografie die „ Erfahrung der eigenen Unerfahrbarkeit und soll [ … ] als auto ’ graphisch gekennzeichnet werden, insofern sie sich gerade von der Unverfügbarkeit des erinnerten Lebens - bíos - herschreibt. “ (Giuriato 2006: 62; im Kap. 2: Auto ’ graphien: Schreiben der Kindheit: [60] - 101). Siehe insbes. auch Kap. 2.3. Auto ’ graphien: Zur Frage der Gattung vgl. Giuriato (2006: 85 - 101). Unter (6) in seiner, mittels sechs „ Hauptmerkmalen “ definierten Auto ’ graphie hält Giuriato fest (ebda.: 91): „ Die Auto ’ graphie ist daher (6) ein Schreibprozess, der nie bei sich ankommt. Sie ist somit in einem umweghaften, gebrochenen Selbstverhältnis verstrickt. Weil die Erinnerung an die Kindheit Erinnerung an die Problematik des Schreibens dieser vergessenen und autobiographisch uneinholbaren Kindheit ist, ist die eigene Faktur ihr privilegierter Gegenstand. “ 67 Eine eingehendere Analyse der Text/ Bild-Kommunikationen in Prästungen könnte aus Sicht der Intermedialitätsforschung geleistet werden. Vgl. dazu den Aufsatz von Rippl (2014). „ Intermedialität. Text/ Bild-Verhältnisse “ . 68 incitament ist das schwedische Pendant zu engl. ‚ incitement ‘ (Anreizung, Aufregung, Anregung). Vgl. lat. „ in-cito: 1. in schnelle Bewegung setzen, antreiben, beschleunigen [ … ] “ ; substantiviert: „ incitamentum: Reizmittel, Anreiz(ung), übtr. oft Antrieb, Triebfeder, Sporn, Stachel [ … ] “ (Menge-Güthling 1967: 370). 69 Stellvertretend für den nicht überwundenen Abbruch der Gespräche mit dem Vater sei hier die Stelle in der Fjellstedtska skolan in Uppsala zitiert, als Göran auf Mitschüler eifersüchtig ist: „ För jag aldrig hunnit fråga pappa, tala med honom, för det avbrutna samtalets skull. Med varandra håller de samtal. “ (PRÄ: 147) [Denn es blieb mir nicht Zeit genug, um Vater zu fragen, mit ihm zu reden, da unser Gespräch abbrach. Sie aber führen Gespräche untereinander.] 70 Das Projekt der Sunne-Trilogie fand nach einer vernichtenden Kritik von Guddöttrarna ein jähes Ende. Mehr dazu und seinen „ Elternbüchern “ in Kapitel 4 dieser Arbeit. Vgl. dazu U TI: 66, unter der Rubrik Paris, febr. [1989]) und Alsing (2003: 185 - 186). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 46 2 PROLOG „ Malin “ 71 , entsteht in Göran eine noch stille Liebe. Die Einsamkeit und Verlassenheit Görans nimmt jetzt für einen Moment ein Ende, doch zuerst begibt er sich auf eine (Selbstfindung-)Reise nach Griechenland, will sich seine Männlichkeit beweisen, was Abschiednehmen und das Gegenteil eines Happy Ends bedeutet. Aber er ist sich gewiss. Er hat sich Malin versprochen: „ Men en dag, en dag skall jag komma tillbaka till henne och fråga om hon vill gifta sig med mig. Om hon inte själv redan är gift. / Det är hon förmodligen. Alla killar måste ju vara som galna i henne. “ (PRÄ: 200) [Doch eines Tages, eines Tages will ich zurück zu ihr und sie fragen, ob sie mich heiraten will. Falls sie nicht schon verheiratet ist. / Das ist sie vermutlich. Alle Jungs müssen ja verrückt nach ihr sein.] Teil III spielt zur Hauptsache in Griechenland. Die Rückreise führt über Umwege und Zwischenhalte in Valencia, Oslo, Stockholm nach Sunne. In „ Gisela “ , dem letzten Kapitel, kehrt Weltenbummler Göran an den Ort seines Ursprungs zurück. Er hat die Volljährigkeit erreicht, ist erwachsen, doch gerade jetzt benötigt er Schutz. Ratlos „ strandet “ er in Mutters Küche, die nicht länger jene des Pfarrhauses ist, sondern Teil einer Einzimmerwohnung, wo sie „ ihren Beschäftigungen nachgeht. Sie fragt nicht und stört mich, indem sie mich nichts fragt, aber mich ansieht. “ (PRÄ: 267) Im Gegensatz zu seiner frühkindlichen Erfahrung im Gespräch mit dem Vater „ Mit jedem Wort wird die Welt größer “ (PRÄ: 12), „ sprechen “ jetzt vorwurfsvoll Dinge: „ Jag borde ha stannat i Sunne, säger TINGEN till mig. “ (PRÄ: 267) [Ich hätte in Sunne bleiben sollen, sagen DIE DINGE zu mir.] Mit Schreiben versucht er das bedrohliche Stummsein der Wörter und Dinge zu bannen: „ Skrivandet håller ihop kroppen en dag i sänder, den dag boken är färdig kommer lemmarna att sära på sig, falla på golvet. “ (ebda.) [Das Schreiben hält den Körper jeweils einen Tag lang zusammen. Am Tag, an dem das Buch fertig ist, werden meine Glieder auseinander und zu Boden fallen.] Zum Schluss konstatiert er: „ Jag satt som en sten i stolen. “ (PRÄ: 269) [Ich saß wie ein Stein im Stuhl.] Und erklärt sich als krank: „ Jag är sjuk, mamma. “ (ebda.) [Ich bin krank, Mama.] Nach dem Eingeständnis folgt die Zustimmung zur Selbsteinlieferung in ein „ mentalsjukhus “ (Nervenklinik). Die ‚ Selbstbiografie ‘ der ersten zwanzig Lebensjahre kulminiert in einer Art Niederkunft mit dem letzten Satz: „ Jag tackade för att jag skulle få införlivas bland tingen igen: som en sten hade jag slungats ut i en vid bana. Nu föll den äntligen ner. “ (PRÄ: [271]) [Ich war dankbar, wieder den Dingen einverleibt werden zu dürfen; wie ein Stein war ich auf eine weite Bahn hinausgeschleudert worden. Nun endlich fiel er hernieder.] 72 Die fragile und spannungsgeladene Relation Ding - (Schreiben) - Wort kommt somit eindringlich zur Sprache und verdient weitere Betrachtung. So wie „ Der Schatten sonnt sich “ das Moment des Spracherwerbs veranschaulicht, malt der 40-jährige Autor ebenso starke Bilder für sein Verstummen (Mutismus) 73 in der Szene, 71 Kryptonym für Lena, mit der GT 1964 sich „ kirchlich, wegen der Verwandtschaft “ trauen ließ; am 20. August 1969 wurde ihr Sohn Linus Tunström geboren; vgl. hierzu Alsing (2003: 73). 72 Gaston Bachelard (in Bezugnahme auf C. G. Jungs Psychologie und Alchemie Bd. 1, GW, Bd. 5, betr. „ Melusinen als alchimistische Symbole, die dazu dienen, die Träume des Steins zu formulieren “ ) dazu (Bachelard 2003: 120): „ der Mensch entsteht aus dem Stein. “ 73 Tunströms Erklärung erinnert an Hofmannsthals berühmten „ Chandos “ -Brief, geschrieben von dem angeblich 23-jährigen Philipp Lord Chandos, der damit seinem Freund den Verzicht auf künftige literarische Betätigung zu entschuldigen sucht: „ Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhandengekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. [ … ] [D]ie abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 47 wo er sich als ‚ missratener Sohn ‘ 74 in einer Art Lebensbilanz Vorwürfe für sein Versagen macht: Astman härjar mig så jag är tvungen att stå och skriva. Varje ord är som ett klippblock, men jag får dom ett efter ett över papperskanten, de faller ner och lägger sig tillrätta. Mellan skrivpassen går jag på promenader. [ … ] / / Jag borde ha stannat i Sunne, säger TINGEN till mig. [ … ] Det överflödande livet, de öppna gesterna, som var pappas, hade jag inte kunnat efterleva, nå upp till. (PRÄ: 265, 267) Das Asthma schüttelt mich so, dass ich zum Schreiben stehen muss. Jedes Wort ist wie ein Felsbrocken, doch kriege ich eins nach dem anderen über die Papierkante, sie fallen herunter und legen sich zurecht. Zwischen den Schreibstunden geh ich spazieren. [ … ] / / Ich hätte bleiben sollen, sagen DIE DINGE zu mir. [ … ] Es war mir nicht gelungen an das überquellende Leben, an die offenen Gesten Vaters heranzukommen. 75 Entwicklungspsychologisch entspricht die Dreiteiligkeit des Buchs den Lebensphasen Kindheit (I) - Adoleszenz (II) - frühes Erwachsenenalter (III), geschildert in der erzählten Zeit Anfang 1940er- (Zeit des 2. Weltkriegs) bis Anfang der 1960er-Jahre (Blüte des Wirtschaftswunders 76 ). Die „ Autobiografie “ Göran Tunströms ist in einen klar abgesteckten Erzählrahmen gefasst, hier auf das Anfangs- und Schlussbild gerafft: Det första minnet är väl förberett. Det ligger ett helt liv bakom det som skedde på sommaren fyrtiett när det fanns ett krig och ett katthål i ladan stort nog att krypa ut och in i. (PRÄ: 10) Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. “ Vgl. Hofmannsthal (1991: 48 - 49, in Bd. XXXI, Erfundene Gespräche und Briefe, „ Ein Brief “ : 45 - 55). Chandos ’ unmittelbar davor geäußerten Sätze zeichnen eine verblüffende Ähnlichkeit mit Görans „ Stillschweigen “ , wenn es heißt: „ Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies Emporschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgereckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen? “ Vgl. dazu PRÄ: 265, 267 (im inneren Dialog): „ Jag kan ta på luften. När jag sträcker ut handen klumpar den ihop sig. Det är bra. Det är väldigt bra, då vet jag att världen finns. Men när jag skall se på klumpen i handen, då finns den inte längre. “ [Ich kann die Luft einfangen. Wenn ich die Hand ausstrecke, ballt sie sich zu einem Klumpen. Das ist gut. Das ist sehr gut, da weiß ich, dass es die Welt gibt. Doch will ich den Klumpen in der Hand sehen, ist er davon.] 74 Vgl. hierzu Peter von Matt (1995). Verkommene Söhne, missratene Töchter (spez. Kap. XL. Initiation: 275 - 281). Göran verlässt mit dem Schritt in die Klinik in einer zweiten „ Entbindung “ sein „ Elternhaus “ , das seit seinem 12. Lebensjahr nur mehr in Form von Mutters „ Einzimmerwohnung mit Küche “ (im Ekebyhuset) besteht. Seit Tagen ist er in Tränen aufgelöst (leibhaftige Erfahrung sowie Wassersymbolik). Nach dem rituellen Tod erfolgt umso mächtiger seine ‚ Geburt ‘ mit dem Roman Maskrosbollen (1962; Die Pusteblume). Das von der Kritik gefeierte Buch schrieb Tunström gemäß Selbstaussage „ zur Hälfte bei ihm [Leonard Cohen] 1961 auf Hydra “ (Alsing 2003: 263; im Brief vom 1. Juni 1970 an Åke Runnquist), umgeben vom „ Fruchtwasser “ des saronischen Golfs. Mit Prästungen erinnert Tunström erfindungsreich sein Geborenwerden, sein Zur-Welt-Kommen in der Sprache und in den Büchern - in der Literatur. 75 DIE DINGE, in Versalien geschrieben, und die „ Tatsache “ , dass nur noch diese an Göran appellieren, geben ihnen ein dreifaches Gewicht. Das Zusammenspiel von Ding, Begriff und Wort ist zerfallen, das ‚ semiotische Dreieck ‘ ist außer Funktion, DIE DINGE allein existieren, doch ohne etwas zu repräsentieren (außer ihrem erdrückenden Übergewicht). 76 Die von ca. 1947 bis 1967 anhaltende Phase des unerwartet raschen Wiederaufbaus v. a. Deutschlands (sowie einiger europäischer Nachbarländer) dank Finanzmitteln aus dem Marshall-Plan, avanciert ab 1955 zum geflügelten Wort ‚ Wirtschaftswunder ‘ . Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 48 2 PROLOG Die erste Erinnerung ist gut vorbereitet. Es liegt schon ein ganzes Leben vor dem, was im Sommer 1941 geschah, als es Krieg gab und ein Katzenloch in der Scheune, groß genug, um hinaus- und wieder hineinzuschlüpfen. Vier Seiten vor Schluss der Rahmenerzählung kommt der gleiche, aber nicht länger derselbe Ich-Erzähler am Ende seiner (Schreib-)Kräfte angelangt, entmutigt zur Einsicht: „ När romanen var halvskriven slutade jag plötsligt. Det får räcka så här, sa en röst, mitt i en mening. “ (PRÄ: 268 - 269) 77 [Als der Roman zur Hälfte geschrieben war, hielt ich auf einmal inne. Es reicht, sagte eine Stimme, mitten in einem Satz.] Die Niederschrift der Erinnerung an seine ersten zwanzig Lebensjahre ist in recht kurzer Zeit erfolgt, wie der Autor im Interview 1993 gegenüber Gun Zanton-Ericsson bemerkt und in dem er bereute, (bereits) eine Autobiografie 78 geschrieben zu haben. Indes hat er in Prästungen einen Schlüssel mitgeliefert, in Form all jener Textstellen, bestehend aus Wort-, Schreib-, Lese- und Bücherszenen, die seine Erzählung verklammern. An Prästungen lässt sich damit in mannigfacher Weise seine Autor-Biografie ablesen, die allmähliche Genese des Protagonisten Göran zum Schriftsteller Tunström, in Personalunion verfasst von dem Autor Göran Tunström. Wie und wo sich im Text dies zeigt, an welchen (ausgedehnteren) Wort- und anderen Stellen, ist Gegenstand dieses Kapitels. 2.2.1 Die ord/ Wort-Stellen Insgesamt gibt es in Prästungen um die vierzig ord/ Wort-Stellen, die auch Proverbationen oder Metanarrative 79 genannt werden könnten. Die Bezeichnung ‚ ord/ Wort-Stelle ‘ ist für 77 Wenn wir den Autor beim Wort nehmen dürfen, handelt es sich bei dem „ zur Hälfte geschrieben[en] “ Buch um Karantän (Quarantäne). Dessen Protagonist (und Alter Ego) Henrik Synge im spannungsgeladenen Prosadebut von 1961, der seinen Vater tot in dessen Bibliothekszimmer, „ ett Allra Heligaste “ (KAR: 8) [ein Allerheiligstes], auffindet, schaut gleich schon im Eröffnungssatz zu den Buchrücken mit Titeln von Thomas Mann und H. C. Andersen hoch, was er als seine ‚ Geburt ‘ bezeichnet: „ Jag föddes den dag jag öppnade dörren till biblioteket och varseblev [ … ] Thomas Mann, och uppe på A-hyllan, på Andersens sagor. “ (ebda.) [Ich kam zur Welt an dem Tag, als ich die Tür zur Bibliothek öffnete und [ … ] Thomas Mann und, auf dem A-Regal, die Märchen von Andersen wahrnahm.] Mit dem Namen Synge alludiert Tunström wohl auf den irischen Dramatiker John Millington Synge (1871 - 1909). ‚ Quarantäne ‘ : aus frz. quarantaine = Anzahl von 40 (Tagen); nach der früher üblichen vierzigtägigen Hafensperre für Schiffe mit seuchenverdächtigen Personen; Isolierung von Personen, Tieren. Auch in der Bedeutung von Beobachtungszeit, Sperrzeit. Vgl. DUDEN (1980: 2077 - 78). 78 Vgl. dazu Fn. 3 in Kap. 2.1. - Vgl. auch Urs Widmer in Reise bis ans Ende des Universums. Autobiographie [die ersten 30 Jahre, 1938 - 1968]: „ Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsbild mehr. “ (Widmer 2013: 7). 79 Die Bezeichnung „‚ metanarrativ ‘ als meta-brieftextuelle Reflexion[ ] “ stammt aus der linguistischen Erzählforschung. Vgl. dazu Martin Stingelin (1996: 47, Fn. 74), Bezug nehmend auf Ulrich Joosts „ Überlegungen zu einer historisch-kritischen, kommentierten Gesamtausgabe der Werke von Georg Christoph Lichtenberg “ . In Under tiden illustriert GT seine zutiefst poetische und explizit dialogische Beziehung zum Wort, wenn er von „ ordbrynet “ , „ stora bergen av ord “ oder „ ordstigen “ (Wörtersaum / Massive von Wörtern / Wortpfade; U TI: 79) spricht. Eingebettet in seine kleine Poetik auf den Seiten 78 - 81 ist u. a. auch ein Abschnitt zum ‚ leeren Blatt ‘ : „ Den vita sidan har alltid krävt min närvaro. Innan ord kom på papperet var allt kaos, det fanns helt enkelt inget Jag, inget Du dessförinnan. “ (ebda.) [Die weiße Seite verlangte stets meine Anwesenheit. Bevor Wörter aufs Papier kamen, war alles Chaos, es gab vordem ganz einfach kein Ich und kein Du.] Den kritischen Blick auf das eigene Schreiben ausgelöst hatte eine „ verunglückte Formulierung “ ( „ olyckliga ord “ ), die der Autor in einer Kochanleitung las: „ gäddfärsen och grädden blandas i mixern …“ (UTI: 78) [das Hackfleisch vom Hecht und die Sahne werden im Mixer gemixt … ]. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 49 die vorliegende Arbeit in Analogie zum Begriff ‚ Leerstelle ‘ (von Wolfgang Iser) kreiert worden, die den Leser zu eigenen Interpretationsleistungen auffordert. Es sind Stellen im Werk Tunströms, an denen das Wort ‚ ord ‘ vorkommt, die mehr oder weniger implizit zu Reflexionen kürzerer oder längerer Art über ‚ das Wort ‘ anhalten (wie dies unter 2.2.2 Kommentierte Sequenzen der ord/ Wort-Stellen aufgezeigt wird). Michael Bachtin (1979: 154) schreibt in Die Ästhetik des Wortes im Kapitel „ Das Wort im Roman “ : „ Die Stilistik hat es dann nicht mit dem lebendigen Wort zu tun, sondern mit seinem histologischen Präparat, mit dem abstrakten, linguistischen Wort im Dienste der individuellen Meisterschaft des Künstlers. “ 80 Präparate oder ord/ Wort-Stellen von Prästungen sind einleitend im Kapitel 2.1 untersucht worden. Die Untersuchung soll nun integral auf die Erzählung von Prästungen als ganzer ausgedehnt werden. Oft tritt in diesen ‚ Stellen ‘ die Instanz Autor - in actu scribendi - mit dem strikten (Erzähl-)Text in Dialog, und sie treiben ihn in dem Maß voran, dass in dem Phänomen auch eine Art invertierter Appell zu der von Iser etablierten Autor-Leser-Appellstruktur zu beobachten ist. Appelle dieser Art können Auswirkung haben auf die Narration und deren (weitere) Handlung, auf die Figuren, die Autor-/ Leserrolle(n), die Textsyntax, die Textpragmatik und die Textsemantik. Ob dem so ist und in welchem Ausmaß, gilt es zu zeigen. Ist es die Rede des Autors oder die Rede des Erzählers, die (jeweils) im Text vorliegt? Vorauszuschicken ist das Prästungen bestimmende Dispositiv. Das Buch kennt auf der Inhaltsebene zwei ‚ Helden ‘ : den Protagonisten Göran (Tunström) und seinen Antagonisten Lars (Svensson). Die beiden stehen, abgesehen vom Prolog und den zwei letzten, Lars-losen Kapiteln, permanent in Konkurrenz. Das macht sich gleich im ersten Satz bemerkbar: „ Ända sen den dag Lars Svensson stannade utanför vårt staket visste jag att han var märkvärdig “ (PRÄ: 17) [Seit dem Tag, als Lars Svensson an unserem Gartenhag stehen blieb, wusste ich, dass er merkwürdig war] bis zu Lars ’ Suspension aus der Geschichte (histoire) mit den Worten „ He was my best friend “ 81 . Auf der Ebene der Narration bestimmt diese Disposition das Textganze von Prästungen. Die untrennbaren „ Zwillinge “ Göran und Lars bilden so lange die wichtigste Konfiguration des Buches. Ord/ Wort-Stellen sind jedoch nicht einzig mit Tunströms ‚ Auto(r)biografie ‘ Prästungen verknüpft, sie finden sich durchgehend in seinen Texten, von der ersten Buchpublikation, dem Gedichtband Inringning, bis ins Spätwerk, im postum erschienenen (Roman-)Essay Försök med ett århundrade. 82 Die kardinale Frage „ Was sind, waren und können diese 80 Das gr. Wort ‚ histion ‘ bedeutet ‚ Gewebe ‘ aber auch ‚ Segel ‘ . Mit dem Wissen um die Bedeutung ‚ Segel ‘ stellte sich die Frage, ob Proverbationen Tunströms Texten Flügel verleihen oder eine Art Movens bilden. Vgl. Menge-Güthling (1967: 348). 81 (PRÄ: 243); ‚ histoire ‘ in der Definition Genettes als Kommunikation zwischen den handelnden Figuren vs. ‚ discours ‘ , Kommunikation/ Interaktion zw. Erzähler und Leser. Nach Lars ’ Suspension (Er war mein bester Freund, sagte ich; Kursivierung vom Verf. L. D.) folgen die Schlusskapitel, „ Syttende maj “ und „ Gisela “ , in denen weder der Vater noch Lars länger vorkommen. Man könnte also von einer Binnenerzählung (inkl. Lars) vs. die Klammern oder Rahmenerzählungen Göran und Vater (Prolog) und Göran und Frauen ( „ Epilog “ ) sprechen. 82 „ Tiefenbohrungen “ in einzelnen Büchern Tunströms ebensowie die systematischen Wort-Kollokationen von Guddöttrarna, De heliga geograferna, Ökenbrevet, Krönikor und Försök med ett århundrade haben dies ergeben. Unbedingt zu erwähnen ist auch das „ tankebok “ Under tiden von 1993, worin Tunström im Kapitel „ Boken och tystnaden “ ([49] - [94]) im Selbstgespräch und dem Zwiegespräch mit den Büchern) eine Fülle und vorläufige Summe (auto-)poetologischer Überlegungen zur Sprache und zum Schreiben bringt. Dem lakonischen, kreuzworträtselartigen Notat (ebda.: 75 (Eintrag: Paris, april Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 50 2 PROLOG Wörter? “ indes kommt, wie in Kapitel 2.1 dargelegt, bereits in seinem Debüt Inringing 83 zur Sprache. Tunström schreibt in Prästungen betont kreatorisch, zuweilen wie ein profaner V(D)M, Verbi (Divini) Minister, ein Diener am (göttlichen) Wort. Um die Performanz und die Varianz des Wortes ‚ ord ‘ in Prästungen in seinen verschiedenen Facetten aufzuzeigen, werden diese Textstellen einzeln besprochen. Von der magischen, mythischen Phase des Kindes, wie sie sich in „ Skuggan solar sig “ gezeigt hat, bis zur Phase der Verstummung des vor lauter Welt wortlos gewordenen Autors. Nicht zu übersehen ist der Einfluss der Sprache der Bibel im Buch. Mit Ordet, dem Wort Gottes oder Guds ord ist der Autor von Prästungen, der Sohn des Pfarrers, von Kindesbeinen an „ imprägniert “ . Daraus ergeben sich Berührungspunkte zu Wortglaube - Wortskepsis. Die ord/ Wort-Stellen in Prästungen sind dem Entwicklungsstadium des Protagonisten angepasst, werden verfeinert und orchestriert, werden reichhaltiger und länger, entfalten die Geschichte, spinnen sie fort - bis zum Moment des Verstummens. Das Pfarrkind Göran registriert anfänglich erste Gegensätze, wenn es, vom Vater aus den Jungfernreben herausgehoben, aus dem Wortlosen, Vor-Beworteten oder Unbesprochenen, bemerkt, dass draußen das „ Licht hart und grell “ ist. Welt- und Lebenserfahrungen können Sprache werden, mit Wörtern, großen wie „ kleinen “ , und zu Literatur kondensieren. Wir wohnen der - memorierten und inszenierten - Urgeburt des Poeten Göran Tunström bei; eine zweite Geburt, ohne Mutter und Vater, im Erwachen der Einzigartigkeit der Existenz im Bewusstwerden der eigenen Sprachfähigkeit: „ Jag kommer att kunna säga: Det är jag som lagat sylten. Så duktig du är, kommer mamma att säga. Och när pappa kommer på lördag får jag berätta det också för honom. “ (PRÄ: 9) [Ich werde sagen können: Ich habe diesen Kompott gemacht. Wie gut du das gemacht hast, wird Mutter sagen. Und wenn Vater am Samstag kommt, darf ich es auch ihm erzählen.] Dergestalt imaginiert Erzähler Göran sich seine künftige Erzählung, während er damit beschäftigt ist, zum ersten Mal etwas ‚ richtig ‘ zu machen, nicht nur zum Spaß: Die - wie gezeigt - misslungene Zubereitung von Heidelbeerkompott. Nichtsdestotrotz beginnt sich [1989]) gehört wortwörtlich Beachtung: „ Inte kunna skriva, två bokstäver: dö. “ [Nicht schreiben können, zwei Buchstaben: sterben]. 83 Im Gedicht „ Januari trio “ (INR: 81 - [84]), dessen Auslegung hier nur skizziert werden kann, heißt es (unter röm. II): „ Dessa ord och vad de varit: / min kargt blommande kust mot dig “ [Diese Wörter und was sie waren: / meine karg blühende Küste zu dir.] Sequenz II variiert viermal den Satz „ Dessa ord och …“ . In Var. 1 mit: „ hur de gällde “ , in Var. 2 mit: „ vad de är “ . Parenthetisch eingeschoben werden „ de oändliga orden “ kombiniert mit „ min oskrivna sång “ , Var. 3 stellt eine Frage resp. stellt sie prognostisch in „ Abrede “ : „ Dessa ord och vad de äldrig hinner vara! “ Ex posteriori liest sich das ganze Gedicht wie eine ‚ self-fullfilling prophecy ‘ (systemischer Insuffizienz von Sprache), die das Werk Tunströms tatsächlich „ einlöst “ oder generiert, in jedem Fall Ausdruck des hohen Sprachbewusstseins des wortskeptischen (jungen) Autors ist. Das neoromantisch-symbolistisch aufgeladene Sprachbild, worin Wörter eine „ karg blühende Küste “ zu einem Du waren, irritiert. Die ihnen vom Autor explizit zuerkannte kommunikative, dialogische Funktion hingegen ist damit „ belegt “ . Das Bild zu Ende gedacht hieße denn: Sie, „ diese Wörter “ , versuchen (karg blühend) zwei Küsten, zwei Seiten resp. zwei Menschen zu verbinden, und bilden so ein Trio (im Januar)? ‚ Küste ‘ geht zurück auf lat. costa (Seite, Rippe). So gelesen erhält das Bild eine humane und körperliche Dimension - Sprechakt als Kontakt (-nahme). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 51 sein Ich zu konstituieren: „ Ich habe diesen Kompott gemacht. “ 84 Wichtig ist ebenso, dass diese Handlung (von der Mutter) kommentiert wird. In Göran wächst ein Dichter mit einem feinen Sensorium für Ausgesprochenes, Zwischentöne wie Unausgesprochenes heran, der es sehr genau nimmt mit dem Wort, der Wörter und Worte nach ihrem (Wahrheits-)Gehalt befragt, bevor er von ihnen Gebrauch machen kann. Mit diesen Voraussetzungen ausgestattet, führt der Autor den Protagonisten Göran als Träger der still wirkenden „ Heldin “ Sprache vor und lässt sie die Geschichte, die seine eigene ist, erzählen. Sprachfindung wird so zum Motor der Erzählung Prästungen. Mit jeder Altersstufe verändern, erweitern sich Wortschatz und Sprachgebrauch. In Prästungen ist dieser Wandel durchgehend Thema-Rhema. Mit dem Protagonisten Göran und seinem Antagonisten Lars 85 auf ihrer gemeinsamen ‚ Grand Tour ‘ nach Griechenland und über Spanien zurück nach Schweden, durchläuft Sprache so Metamorphose, Spracherwerb geht in Sprachspiel und Wortspiele über, in Literatur, Sprachreflexion, in Poetik und Sprachphilosophie; im Spätwerk Försök med ett århundrade und in den Kolumnen (Krönikor) spätestens in prononcierte Sprachkritik. Prästungen reiht ord/ Wort-Stellen wie einen Rosenkranz aneinander 86 , an ihnen „ hängt “ das Geschehen der Erzählung, bis zum scheinbar mysteriösen Bruch, der Sprachlosigkeit, die nur als logische Folge verstehbar ist: als eine (temporäre) Bedingung zum (Weiter-) Schreiben. Weil jedoch das Phänomen des Sprachverlustes mit der Folge ‚ Schreibstarre ‘ im Werk Tunströms omnipräsent ist und sich ganz verschiedentlich artikuliert, soll es auch weiter und immer wieder neu diskutiert werden. Die psychophysische Übereinkunft von Ich-Erzähler - Figur - Autor in seiner poetischen Selbsterkundung soll dabei kein Hindernis sein. Es geht darum, die Autor-Genese des Schriftstellers Göran Tunström im Schaffensprozess in statu nascendi, wenn möglich sogar im Schreibprozess selbst, in den Wörtern zu entschleiern, um auf ihrer Kehrseite, wenn immer möglich Einsicht in die Poetologie des Autors zu erlangen. 2.2.2 Kommentierte Sequenzen der ord/ Wort-Stellen Die nachfolgenden Textstellen sind - mit Ausnahme der vorweg im Kapitel 2.1 besprochenen Beispiele - Zitate aus Prästungen, in denen sich (in der Regel) explizite ord/ Wort- 84 Im Deutschen wird die Emphase mit dem kursiven Ich wiedergegeben (Schwedisch wird sie gewöhnlich durch Inversion konstruiert (vgl. „ Det är jag som “ : Das bin ich, der). 85 Mit ‚ Lars ‘ zeichne Tunström (den pens. Oberarzt) Stig Östensson, vgl. Alsing (2003: 42), sowie (ebda.: 95): „ Språkets förnyelse och språklöshetens förbannelse har upptagit Tunström genom hela hans verk. “ [Die Erneuerung der Sprache und der Fluch der Sprachlosigkeit haben Tunström durch sein ganzes Werk hindurch beschäftigt.] Alsings Kapitel „ Språket “ (ebda.: 88 - 98) vermerkt insbesondere Tunströms Credo des Nichtbesitzens einer Sprache: „ Ty vi äger inte ett språk. “ (ebda.: 98) [Denn wir besitzen eine Sprache nicht.] 86 Am klassischen Rosenkranz führen an der Stelle, wo sich der Kranz schließt (resp. beim Bruch eben nicht schließt), ein paar Kettenglieder mit einem Kreuz an ihrem Ende vom Kranz weg und sind zugleich mit ihm verbunden. Es wäre in diesem Zusammenhang über das ‚ Kreuz ‘ des (schreibenden) Menschen nachzudenken, das ihm, grundsätzlich mit dem Reden/ Schweigen und Sprechen/ Verstummen, aufgegeben ist. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 52 2 PROLOG Stellen finden. Sie werden hier nach ihrem Vorkommen im Buch, aufsteigend gemäß Zählung der Seitenzahl, aufgeführt. PRÄ: 19: Ingen sa ett ord. Keiner sagte ein Wort. Absenz von Wörtern oder Schweigen als Machtdemonstration oder Ausdruck der kompletten Irritation, Verblüffung und Sprachlosigkeit. Die Situation ist voller Ambiguität, und besonders ist es die Feststellung Görans, dass sie alle (als Gruppe von Rotzjungen) vor diesem Anderen / Einzelnen, d. i. Lars Svensson, schweigen. GT, der Autor, erinnert sich und fasst die beklemmende Situation Jahre später in Worte: PRÄ: 26: Bergis, sa Lars. Det låter inte riktigt klokt när han säger såna ord. Todsicher, sagte Lars. Es tönt bescheuert, wenn er solche Wörter sagt. „ Bergis “ (von bergsäkert, eigtl. ‚ bergsicher ‘ , Synonym von helt säkert für ‚ ganz sicher ‘ ) ist ein Ausdruck der Umgangssprache unter Jugendlichen (und auch heute noch gebräuchlich). Deutsch ist der Ausruf wohl am besten mit ‚ todsicher ‘ wiederzugeben. Das Aufgreifen des Ausdrucks ‚ Bergis ‘ samt seiner Kommentierung im Nachsatz, attestiert dem aufmerksam zuhörenden Göran Sprachbewusstsein und das Wissen um die Verschiedenheit sprachlicher (Kraft-)Ausdrücke. Göran ist an dieser Stelle Zeuge eines gehässigen Wortwechsels zwischen den Rivalen Carl-Henning und Lars. Carl-Henning fordert von Lars, dass er wieder zurückkomme zu den anderen Jungen im Garten, die sich allesamt als angeberische Konstrukteure einer Rohrleitung ins Geäst eines Baumes gebärden, die Wasser „ aufwärts “ fließen lassen könne. Lars will sich im entscheidenden Moment dieses Experiments davonstehlen, er müsse Lunch essen gehen (Schwedisch: äta lunch: Die Mahlzeit zwischen Frühstück und Abendbrot, ursprünglich aus engl. luncheon: ein großes Stück Brot). Im Buch wird das Wort lunch kursiv geschrieben. Dass ein wilder Kerl wie Carl- Henning bergis sagt, ist nichts Besonderes, hingegen hätte dies der Beobachter Göran dem braven Lars nicht zugetraut. Dieser hatte das Wort auch nur gesagt, um sich damit freizukaufen, weil Carl-Henning es von ihm als „ Zusicherung “ oder Garantie, dass er wieder zurückkomme und beim Leitungsbau weiterhelfe, abverlangt hat. PRÄ: 50: Bara ordet Brylé är äckligt. Ackligt, äckligt. Allein schon das Wort Brûlé ist eklig. Eklig, eklig. Diese ord/ Wort-Stelle ist mit der vorgängig besprochenen verwandt. Das dreifach ausgesprochene „ eklig “ verfestigt die Aussage der emotional heftigen Ablehnung, (innerlich) vom Protagonisten beim (jungfräulichen) Anblick der schwabbeligen Crème brûlée auf dem Teller hingesagt, die er gemäß dem brüllenden Propst von Sunne „ ALLE KINDER MÖGEN CREME BRÛL “ nicht nur zu verspeisen, sondern auch zu mögen habe. Göran fühlt sich in der steifen Gesellschaft zu Tische in der Familie Elisabeths so unwohl, dass er sich am Ende übergeben muss (und als 25-Jähriger erst getraut er sich - nachdem er gelesen hatte, dass Elisabeths Vater gestorben sei - Crème brûlée zu verspeisen). Nicht nur das Wort ist Göran zuwider, die ganze Situation. Dabei hatte doch alles so gut begonnen: Elisabeth, Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 53 die gleichaltrige Angebetete, hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen, zu „ Onkel Rudelius, der an der Schmalseite zuoberst am Tisch thront. Er hat einen weißen Bart und lacht nie. Er ist sehr alt und Elisabeths Großvater. “ (PRÄ: 47) Das Kapitel “ Der Crème-brûlée-Übergriff “ vereinigt in sich beispielhaft weitere Stellen, die von der seismografischen Registrierung und Reflexion Görans des Gebrauchs der Wörter (in einem erstarrten Zeremoniell) der Erwachsenenwelt zeugen. 87 Die Einleitung zum Drama im Kapitel „ Der Crème-brûlée- Übergriff “ antizipiert dies: På juldagen är det mycket snö i prostgårdsträdgården. „ -Tack-jag-kommer-jäntan “ stövlar runt på sina skidor därner mellan krikonsnåren. Röda domherrar sitter överallt runt omkring henne. Hon har en mörkblå skiddräkt och en vit kaninmössa på sig. Jag åker efter henne och väntar på att hon skall få syn på mig. [ … ] När hon ramlar omkull åker jag ikapp henne och tar henne i handen, utan vante. - Vad heter du? - Elisabeth, säger hon. - Var bor du annars? - I Lysekil. Lysekil är en Annan Plats. Jag måste också berätta om Andra Platser. Så att hon ser att jag inte bara är från Sunne[.] (PRÄ: 44) Am Weihnachtstag liegt viel Schnee im Garten der Propstei. Das „ Danke-ich-komme-Mädchen “ stakst zwischen Schlehdornhecken auf ihren Skiern umher. Von allen Seiten von Dompfaffen umgeben. Sie trägt eine dunkelblaue Seidentracht und eine Kaninchenmütze. Ich fahre ihr nach und warte darauf, dass sie mich sehen würde. [ … ] Als sie hinfällt, hole ich sie ein und reiche ihr, ohne Handschuhe, die Hand. - Wie heißt du? - Elisabeth, sagt sie. - Wo wohnst du? - In Lysekil. Lysekil ist ein Anderer Ort. Deshalb muss ich auch von Anderen Orten erzählen. Damit sie sieht, dass ich nicht nur von Sunne bin[.] Die auf das Nachäffen der Replik reduzierte Elisabeth, die Dompfaffen, die Kaninchenmütze, das für den Sozialstatus wichtige Moment der Heterotopie im Namedropping von ‚ Lysekil ‘ (Elisabeth), von ‚ Russland ‘ (Göran). Welchen Regeln folgen diese Wörter und Begriffe? Ihre Anwendungen scheinen Göran noch diffus, nicht dem Erzähler, der bewusst ein Sprachspiel mit ihnen spielt - und so mit uns. 88 Auditives, Optisches und Imaginiertes 87 Sartre spricht in Die Wörter in ähnlichem Zusammenhang von einem „ Familienritual “ als „ gußeiserne Notwendigkeit “ , der er nur dank Rückzug in eine Fantasiewelt und dem Erfinden und Schreiben von Geschichten entrinnen konnte. Vgl. Sartre (1965: 95). 88 Dazu Ludwig Wittgenstein in der Philosophischen Grammatik (PG: 49): „ Das Wissen ist das hypothetische Reservoir, woraus das gesehene Wasser fließt. “ Die Stelle zeigt anschaulich, wie mit der Methode ausgewählter ord/ Wort-Stellen nicht alle „ Wort-Stellen “ erfasst werden. Die nicht expliziten lassen sich damit nicht eruieren und bleiben somit unergründet, halten sich im Kontext / Subtext „ versteckt “ . Die zitierte Stelle ist ein Konglomerat ineinander verwobener Sprachspiele auf mehreren Ebenen. Zum Beispiel: „ domherrar “ (Dompfaffen) heißt im Volksmund der Singvogel ‚ Gimpel ‘ (Pyrrhula pyrrhula), der mit seiner schwarzen Kappe und leuchtend karminroten Brust in Büschen Nordeuropas nistet. Jedoch vom Sohn eines Pfarrers (unterste Stufe) im Garten eines Propstes (mittlere Stufe) wahrgenommen, bewirkt deren Erwähnung ein intrikates Sprachtheater durch die alludierte Depotenzierung von ‚ Domherren ‘ (höchste Stufe der Hierarchie - als Mitglieder der Leitungskörper- Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 54 2 PROLOG generieren eine vielstimmige Polyvalenz. Die Interpretation ist offen. Hinter Wortmasken verbergen sich Welten und Weltsichten. Unterscheidungsvermögen ist gefragt. Auch Derridas Différance spielt mit hinein. PRÄ: 51: Och så luktar det Praktik, för hans mamma är tandläkare. Då har man Praktik. Det är ett roligt ord. Und zudem riecht es nach Praxis, denn seine Mutter ist Zahnärztin. Deshalb haben sie eine Praxis. Ein lustiges Wort. Göran beschreibt die Verhältnisse zuhause bei Lars Svensson. Das Wort „ Praxis “ , im Schwedischen ‚ Praktík ‘ mit Betonung auf der zweiten Silbe, ist zwar nicht kursiv, jedoch mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben. Die Majuskel markiert, wie ungewöhnlich, fremdartig und neu sich das Wort anhört. Er horcht auf. Wort und Geruch gehen in seiner Wahrnehmung zudem eine Verbindung ein - synästhetische Augmentation ist die Folge. Das „ lustige Wort “ Praxis lässt in Göran eine Ahnung einer größeren Welt, mit ihren ihm fremden Sprachen, entstehen. Das Wort „ tanzt “ (in seinem Sprachbewusstsein) aus der Reihe. Wie eine Verheißung - aus südlicheren Ländern - grüßt es sein Unbewusstes. PRÄ: 57: [R: ] Ja skrämmer inga onger, dä ä dagsens sanning varteviga ord. Ja har ju schälv sett döm. Ich mach den Kindern kei Angst, jedes Wort is so wahr wie i dasteh. Hab ich sie doch [die Toten] selber gesehn. Die sonderbare Frau Westlund weist mit dieser Entgegnung den Vorwurf, „ Frau Westlund, Sie jagen den Kindern ja richtig Angst ein “ , vehement von sich. In der umgangssprachlichdialektal wiedergegebenen Replik ([R: ]) ist die Redewendung „ det är dagsens sanning varteviga ord “ enthalten (wörtlich: es ist die Wahrheit des Tages jedes einzelne ewige Wort). 89 Göran fällt die pathetische, biblisch gefärbte Redeweise von Frau Westlund auf. Sie induziert ebenso sehr die pathetische Amplifikation ihrer Aussage wie deren Banalisierung. 90 PRÄ: 80: Och när vi blir andfådda sitter vi i dikesrenen och kan inte prata. Istället visslar vi „ You belong to me “ för i den sången, på svenska förstås, så står ju precis det jag vill säga till Anna, men inte vågar. Und wenn wir außerAtem geraten, setzen wir uns in den Wassergraben und bringen kein Wort heraus. Stattdessen pfeifen wir ‚ You belong to me ‘ , denn in diesem Lied - auf schaft des Domkapitels einer Bischofskirche verstanden), die hier als gefiederte Zuschauer die Szene umgeben. Die Stelle strotzt von Ambiguität, Lachkultur, groteskem Realismus. 89 „ Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft. “ (Goethe 1965 a: 227, in Dichtung und Wahrheit [postum 1833]). 90 Vgl. SAOL (Svenska Akademiens Ordlista över Svenska Språket - Wortliste der Schwedischen Akademie über die schwedische Sprache): „ vareviga “ , adj. (vard. [= alltagssprachlich] für „ varenda “ [ jede(r)]; „ varenda en “ [ jede(r) einzelne]. Siehe https: / / svenska.se/ saol/ ? id=3475643&pz=5 (abgerufen am 02.08.2021); vgl. auch Langenscheidts Taschenwörterbuch Schwedisch-Deutsch / Kornitzky (1963: 490): „ vareviga dag F [= familiär, Umgangssprache]: jeden Tag (den Gott werden lässt). “ Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 55 Schwedisch natürlich - steht ja genau das, was ich Anna sagen möchte, mich aber nicht getraue. Das Beispiel fällt aus der Reihe: „ kan inte prata “ , wörtlich übersetzt: können nicht sprechen, oder anders gesagt: bringen kein Wort heraus. Erst durch die Übersetzung ins Deutsche erscheint das Wort ‚ Wort ‘ , deshalb hat die Stelle in die Auflistung Eingang gefunden. Die Melodie (eines Liedes) signalisiert den Text, wird zum Erkennungssignet und Träger der geheimen Botschaft der unausgesprochenen Wörter. 91 Anna und Göran haben nicht nur Atemnot (erschöpft von der Anstrengung des Fahrradfahrens), nein, auch Schüchternheit und Verlegenheit macht, dass sie „ kein Wort heraus[bringen] “ . Eine neue Erfahrung für Göran, dem Autor seiner Spracherinnerung würdig, erzählt zu werden. PRÄ: 85: Lars har såna där ord. När han fick golfbyxor till exempel. Då sa han att det hette Plyford-byxor. Inte vet jag vad det skall tjäna till. Lars hat einfach solche Wörter. Als er zum Beispiel eine neue Cordhose bekam, sagte er, die hießen „ Plyford “ -Hosen. Wozu das gut sein soll, weiß ich nicht. Göran stört sich an Lars ’ gespreizter, seines Erachtens übergenauen und angeberischen Ausdrucksweise durch das „ Fallenlassen “ von Wörtern, eine Eigenschaft, die ihm wiederholt Anlass zu Reflexionen gibt. Er wundert sich über die Selbstverständlichkeit des Gebrauchs solcher Wörter, die ihm wie Etiketten aufgesetzt vorkommen. Plyford 92 schafft Distanz statt Nähe und Gemeinsamkeit unter den beiden und weckt den (unausgesprochenen) Neid dessen, der bestimmt gerne auch eine besondere oder zumindest neue Hose hätte. Für Göran war bisher eine Hose einfach eine Hose ist, ein Kleidungsstück, mehr nicht. PRÄ: 89: Men Lars har gått och man vet inte hur lång tid det tar mellan varje ord hon säger, för det är liksom alldeles tomt i luften, i hela kroppen. [ … ] - Jag måste tyvärr tala om för er, att er papa har dött. Doch Lars ist gegangen, und es vergeht eine schier endlose Zeit zwischen jedem Wort, das sie sagt, denn es wird wie leer in der Luft, im ganzen Körper. [ … ] - Ich muss euch leider mitteilen, dass euer Vater gestorben ist. 91 Nach Derrida (An-)Zeichen eines Schibboleth (Sibboleth), in Form eines melodiösen lösenord [Losungsworts]; vgl. Derrida (2002: 58): „ Ein Schibboleth, das Wort Schibboleth, wenn es denn eines ist, bezeichnet im weitesten und allgemeinen Sinn seiner Verwendung jedes nicht bedeutungstragende, willkürliche Merkmal, so zum Beispiel den phonematischen Unterschied von schi und si, wenn dieser unterscheidend (discriminant), entscheidend (décisif ) und scheidend (coupant) wird. Dieser Unterschied hat keinerlei Bedeutung an sich, aber er wird zu dem, was man erkennen und vor allem markieren können muß, um den Schritt zu tun, um die Grenze eines Ortes oder die Schwelle eines Gedichts zu überschreiten, sich Asylrecht oder rechtmäßige Wohnstatt in einer Sprache zu verschaffen. “ - Am Ende des wortlosen Treffens mit Anna kommt es zum erhofften Kuss, die „ Verbündung “ (Derrida 2002: 59) erfüllt sich, eine wichtige Schwelle ist überwunden. 92 ‚ Plyford ‘ ist nirgendwo lexikalisiert zu finden; es liegt vermutlich ein Druckfehler vor (für Playford, die Marke oder Art von Cordhose? ) oder um eine regionale Schreibvariante dieser Marke. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 56 2 PROLOG Die steife, lieblose und formalisierte Art von Lars ’ Mutter, Göran und seinem Bruder Staffan den Tod ihres Vaters mitzuteilen - am Tisch bei einer Tasse Tee, zu der Lars ’ Vater die beiden mitten von einem Eishockeyspiel weg zu sich nach Hause „ gelockt “ hatte, um ihnen die Nachricht zu überbringen - , lässt Göran im Nachhinein die (künstliche) Pause zwischen jedem einzelnen ihrer Bausatz-Wörter wie eine vertilgende, den Atem verschlagende Unendlichkeit vorkommen. Form follows function auf verbaler Ebene für Lars ’ Eltern, die damit versuchen, sich alles vom Leibe zu halten. Göran hingegen erlebt die inszenierte „ Feierlichkeit “ gepaart mit der Verbrauchtheit der abgedroschenen Formel „ Ich muss euch leider …“ als zusätzlich vernichtend. PRÄ: 95: Så länge pappa levde fanns farbröderna någonstans i utkanten av världen. De kom som gäster och hälsade på, de satt stilla vid matbordet i trädgården eller inomhus, de var lustiga för de kallades „ pojkarna “ av mamma och pappa, fast de var över femtio år och fast farbror Magnus hade ett eget kommunalkontor hemma på gräsmattan, där det fanns en riktig pennvässare och en vevapparat med adresser till folk, som skulle betala olika saker. / Nu blev de plötsligt våra „ närmaste släktingar “ - de ryckte alldeles för nära. Als Vater noch lebte, gab es die Onkel irgendwo am Rande der Welt. Sie kamen als Gäste, statteten uns einen Besuch ab, saßen wortlos am Tisch im Garten oder im Haus. Komische waren sie, denn von Vater und Mutter wurden sie „ die Burschen “ genannt, obwohl sie über fünfzig waren und obwohl Onkel Magnus zuhause ein eigenes Gemeindebüro mit gepflegtem Rasen hatte, mit einem richtigen Bleistiftspitzer und einer Kurbeladressiermaschine für Rechnungen an Leute, die verschiedene Dinge bezahlen sollten. / Jetzt waren sie plötzlich unsere „ nächsten Verwandten “ - rückten uns viel zu nah. Es handelt sich hier um eine versteckte ord/ Wort-Stelle im Sinn der Definition oben. Es werden Begriffe „ verhandelt “ , was sie zum Untersuchungsgegenstand macht. Wie schon in Lars ’ Elternhaus (wo die Konfitüre mit „ Robertsons Engelsk marmelad “ angeschrieben war, wie Göran festgestellt hatte), werden hier die Besonderheiten der Onkel und ihre Dinge aufgezählt. Der Tod des Vaters macht aus „ Burschen “ über Nacht „ nächste Verwandte “ - wiewohl keinerlei Nähe besteht. Görans neue Erfahrung: auch Eigennamen können wie Wörter (pojkarna/ die Burschen - erst ‚ komische ‘ , dann ‚ nächste Anverwandte ‘ ) situationsbedingt unterschiedliche Inhalte annehmen. PRÄ: 95 - 96: De skulle „ uppfostra mig “ . Aldrig hade jag hört mamma eller pappa använda de orden, men farbror Magnus och farbror Wilhelm talade ofta om „ ouppfostrade ungar “ „ ouppfostrat sätt “ . „ Erziehen “ sollten sie mich. Nie hatte ich Vater oder Mutter dieses Wort aussprechen gehört, Onkel Magnus und Onkel Wilhelm aber sprachen oft von „ ungezogenen Kindern “ „ ungezogener Art “ . Mit neuen Menschen kommen neue Wörter. Sie fallen auf und werden bewusst oder unbewusst verglichen mit den „ alten “ Menschen und deren Wörter und Redegewohnheiten. Kinder sind dafür besonders empfänglich. Insbesondere, wenn „ ein Wort “ etwas von ihnen verlangt oder androht ( „ erziehen “ beispielsweise). Ein Wort kann so leicht zum Reizwort werden. Kinderohren sind in der Regel hellhörig und noch nicht abgestumpft wie Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 57 die der Erwachsenen. Ihre Sinne sind noch frisch, noch unverbraucht. Ein Kind denkt noch über ein Wort (und seine Bedeutung) nach, während die Erwachsenen dieses (im Alltag wenigstens) in der Regel unreflektiert „ gebrauchen “ . PRÄ: 102: Tröstens ord! Worte des Trosts! In dieser Konstatierung steckt eine große Portion Verzweiflung, denn Onkel Wilhelm meinte soeben zu Göran, Lungenkrankheiten seien vererbbar. Göran kontert mit Zynismus. Das Ausrufezeichen ist hier lauter Protest. Es ist (s)eine Form, etwas auf Distanz zu halten. Das signum exclamationis ist aber auch wörtlich schreiend existentielles Klagen. PRÄ: 108: När jag tänker, tänker jag på rikssvenska. Inte alls på dialekt. Och jag undrar varför det är sån skillnad på de ord jag måste säga högt och de ord som bara finns inuti mig. Det är som om man vore två personer. Wenn ich denke, denke ich in der Hochsprache, überhaupt nicht in Dialekt. Und ich frage mich, weshalb es einen so großen Unterschied gibt zwischen den Wörtern, die ich aussprechen muss, und den Wörtern, die nur stumm in mir sind. Als wäre man zwei Personen. Autoreflexion führt zur Erkenntnis der eigenen, situativ bedingten unterschiedlichen Sprachpraxis. Die Stelle findet sich bezeichnenderweise im Kapitel „ Innerer und äußerer Göran “ , in dem nach C. G. Jung ‚ Anima ‘ (Innen/ Seele) und ‚ Persona ‘ (Außen/ Maske) verhandelt werden. 93 PRÄ: 108 - 109: Jag sitter på en sten uppe vid Baståsberget i Billingsfors och prövar alla jävlaord jag kan komma på. [ … ] / Jävla idiotkärring. / Det är svårt att säga fram såna ord, för egentligen svär jag ju inte. Ich sitze auf einem Stein auf dem Baståsberg bei Billingsfors und probiere alle Schimpfwörter aus, die mir in den Sinn kommen. [ … ] / Blöde Kuh. / Es ist schwer, solche Wörter auszusprechen, denn eigentlich fluche ich ja nicht. Auch diese Selbstbeobachtung kommt im Kapitel „ Innerer und äußerer Göran “ zur Sprache. Das Ausprobieren von Injurien geschieht fernab von den Menschen, außerhalb des Dorfs, auf einerAnhöhe, ohne Gefahr, entdeckt oder gehört zu werden, um also „ das Gesicht [eines braven Pfarrjungen] nicht zu verlieren “ . Schimpf- und Fluchwörter passen nicht zu den Erwartungen der (dörflichen) Gesellschaft an den Sohn eines Pfarrers und dessen (sprachliches) Benehmen. So etwas würde (mit strafendem Blick) geächtet. 93 Vgl. dazu auch Wittgenstein zum ‚ Innen-Außen ‘ -Problem: „ [E]rst wenn wir das Äußere nicht lesen können, scheint ein Inneres in ihm versteckt. “ Vgl. Wittgenstein (1993: 88) in: Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Das Innere und das Äußere. 1949 - 1951. Und: „ Wer eine Seele hat, muß des Schmerzes, der Freude, des Kummers etc., etc. fähig sein. Und soll er dazu auch fähig sein zu erinnern, Entschlüsse zu fassen, sich etwas vorzunehmen, so braucht er den sprachlichen Ausdruck. “ (Wittgenstein 1993: 92, in: Ms. IV - MS 173 (1950: [83] - 106). - In der Versinnbildlichung Bachtins in Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit (Bachtin 2008: 338, Fn. 88): „ Der Chronotop macht das Innen der Seele im Außen des Raums als Weg sichtbar. “ Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 58 2 PROLOG PRÄ: 109 - 110: I mitten av juli är jag med Lars Svensson och hans föräldrar ute på Koster. Det är den västligaste ön i Sverige; havet är blått runtomkring oss och Lars läser ett brandgult BLM, som lyser starkare än solen. Vi ligger på magen i sanden ute vid norrvikarna, bredvid oss växer den fridlysta kostertisteln 94 : den har ett litet staket runt sig och ofta går folk hit för att titta på den. Vi har en påse svarta körsbär, huden smakar salt och Lars läser högt. Novellen heter De små orden av Lars Ahlin och jag begriper inte ett ord. Det är skönt. Det är skönt, för det är det första jag hört som jag inte begriper ett dyft av. Det är det första jag mött på länge som är större än jag. De små orden är motsatsen till Asta Berggren med sina kutiga axlar utanför vårt staket långt där inne på fastlandet. Där är allting smått. De små orden är stora ord. De singlar ut ur Larses mun och har en stor himmel över sig, ett stort hav utan gränser. Om allting är mindre än en själv blir man ensam och överlägsen, har ingenting att drunkna i, ingenting att slåss emot. De små orden är en novell för vuxna. Om man vill begripa den måste man bli vuxen, man måste träna sig, låta sig växa. Mitte Juli bin ich mit Lars Svensson und seinen Eltern auf Koster. Das ist die westlichste Insel von Schweden; rundum ist das Meer blau, und Lars liest eine brandgelbe Nummer der Literaturzeitschrift BLM, die stärker scheint als die Sonne. Wir liegen bäuchlings im Sand einer der Norrvikarna-Buchten auf der Nordinsel; hier wächst die geschützte „ Kosterdistel “ : ein feines Gitter umgibt sie, und es kommen viele Leute hierher, um sie einmal zu sehen. Wir haben eine Tüte Schwarzkirschen dabei, die Haut schmeckt nach Salz und Lars liest vor: Die Novelle heißt „ Die kleinen Wörter “ , von Lars Ahlin, und ich verstehe kein Wort. Das ist schön. Es ist schön, denn es ist das Erste, was ich höre und kein bisschen verstehe. Es ist das Erste seit langem, was größer ist als ich. „ Die kleinen Wörter “ sind das Gegenteil von Asta Berggren mit ihren hochgezogenen Schultern hinter dem Zaun, weit weg, auf dem Festland, wo alles klein ist. Die kleinen Wörter sind große Wörter. Sie sprudeln aus Lars ‘ Mund und haben einen großen Himmel über sich, ein großes Meer ohne Grenzen. Wenn alles kleiner ist als man selbst, wird man einsam und überlegen, hat nichts, um darin zu versinken, nichts, um dagegen anzukämpfen. „ Die kleinen Wörter “ , eine kurze Geschichte, für Erwachsene geschrieben; wenn man sie begreifen will, muss man erwachsen werden, muss man üben, wachsen. „ Die kleinen Wörter “ , das erste Kapitel von Ahlins Roman Fromma mord [Fromme Morde] war auch in der Literaturzeitschrift Bonniers Litterära Magasin (BLM) 95 erschienen. Ahlin lässt darin den Protagonisten Aron die sinntragende Funktion der „ kleinen Wörter “ Roland erklären: Saken är ju den att när vi talar så är det de personliga pronomina som skapar meningarna åt oss. Orden finns där redan, men det är de personliga pronomina som bestämmer vad vi kan säga (krokorna som metar i vårt ordforråd). Inte bara adjektiven. [ … ] Om du så vill kan jag säga att de personliga pronomina är våra ögon. Tack vare dem kan vi se ut över vårt landskap av ord. Så går det till. Så som vårt pronomen griper tag i ett substantiv, så griper vårt subjekt tag i ett objekt. Det är metoden. Någon annan givs inte. Endast så lär vi känna världen och oss själva. 94 Es handelt sich um die gefährdete Stranddistel (Eryngium maritimum), auch Meer-Mannstreu, Seemannstreu, Meerwurzel, Strand-Mannstreu, Dünendistel genannt. 95 Siehe BLM (6/ 1952: 423 - 432), vgl. Ahlin (1952: 7 - 23). - GT bezeichnete Ahlins Roman Natt i marknadstältet [Nacht im Budenzelt] als das für ihn allerwichtigste Lektüreerlebnis (vgl. Alsing 2003: 55). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 59 Die Sache ist, dass, wenn wir reden, die Personalpronomen erst uns den Sinn (er)schaffen. 96 Die Wörter sind da, die Personalpronomen aber bestimmen, was wir sagen können (sind die Haken, die in unserem Wortschatz angeln). Nicht nur das Adjektiv. [ … ] Wenn Du willst, könnte ich also sagen, unsere Personalpronomen sind unsere Augen. Dank ihnen können wir unsere Landschaft von Wörtern überschauen. Das spielt sich so ab. So wie unser Pronomen ein Substantiv ergreift, so ergreift unser Subjekt ein Objekt. Das ist die Methode. Eine andere gibt es nicht. Nur so lernen wir die Welt und uns selbst kennen. 97 Göran, fünfzehnjährig, auf der Schwelle Erwachsenenalter, der (pubertären) Zerreißprobe des eigenen ‚ Außen ‘ und ‚ Innen ‘ ausgesetzt, was im Bruch von ‚ signifiant/ signifié ‘ eine Entsprechung findet, staunt über die wunderlichen Sätze. „ Die kleinen Wörter “ stellen sein sprachliches (Selbst-)Verständnis auf den Kopf und es wird neu gefügt. Was Lars Svensson vorliest, macht ihn stutzig und stumm; ‚ kleine Wörter ‘ verleihen der Welt Größe, vertreiben allerart Kleinlichkeit, stiften verbindlichen Sinn. „ Die kleinen Wörter “ kündigen eine neue Epoche an. Ruckartig ist seine eigene Sprache erweckt worden. Der Gebrauch der Wörter hat seine Unschuld verloren, „ Die kleinen Wörter “ stehen als Fremdsignatur für den allzu frühen Eintritt ins Erwachsenendasein, wie die folgende Belegstelle zeigt. Die Dichotomie Innerer und äußerer Göran ist aufs Äußerste gespannt. PRÄ: 112: Och jag börjar skämmas, för jag hör pappas ord i mig: / - Sen när jag är död är det du som har ansvaret för familjen. Det är jag som måste tala med henne. Ich beginne mich zu schämen, denn ich höre Vaters Worte in mir: / - Dann, wenn ich tot bin, trägst du die Verantwortung für die Familie. Also muss ich mit ihr [sc. Mutter] reden. Die Verantwortung wird Göran übertragen, dem ältesten der vier Kinder: „ Dann, wenn ich tot bin, trägst du die Verantwortung für die Familie “ , hört er als erstes, wie in seinen Ohren „ Die kleinen Wörter “ noch nachklingen. Der Tod des Vaters riss eine Lücke ins familiäre Gefüge, verlangt nach „ Ersatz “ , sollte nahtlos und rasch ausgefüllt werden. Göran sollte diese Aufgabe übernehmen, er soll das neue „ Bindewort “ in der Familienstruktur bilden. Lars Ahlin schreibt über die Konjunktionen in Fromma mord mit Worten, die er in „ Die kleinen Wörter “ Roland in den Mund legt: „ Men ni, bindeord, är än mäktigare. Ni står i uppenbarelsens tjänst. Samtidigt står ni i tjänst hos det opersonliga. Guds hemligheter binder ni och ordnar. (Ahlin 1952: 20) [Aber ihr, Konjunktionen, seid noch mächtiger [als die Personalpronomen]. Ihr steht im Dienst der Offenbarung. Zugleich im Dienst des Unpersönlichen. Ihr (ver)bindet und ordnet Gottes Geheimnisse.] Doch Göran kann dieser Aufgabe unmöglich gerecht werden. Er ist (im praktischen Alltag) zum Scheitern verurteilt, 96 Schwedisch ‚ meningarna ‘ (die Meinungen / Bedeutungen / Äusserungen / Sätze / Absichten) wird hier mit „ den Sinn “ wiedergegeben). 97 Dazu Gunnar D Hansson (1988: 59) unter Beibezug von Karl Barth und Harald Østergaard-Nielsens Studie Navnet og Ordet. En Luther-studie [Der Name und das Wort Gottes. Eine Lutherstudie]), im Kap. „ Ordet och det levande namnet “ [Das WORT und der lebendige Name] (Hansson 1988: [51] - 71): „ Genom ‚ ordet ‘ , skriver Østergaard-Nielsen, lär grekerna känna världen, och därmed sig själva, medan judarna genom ‚ ordet ‘ lär känna Guds namn och därmed det egna namnet[.] “ [Durch ‚ das Wort ‘ , so Østergaard-Nielsen, lernen die Griechen die Welt kennen, während die Juden durch ‚ das Wort ‘ den Namen Gottes [ Jahve] kennen lernen und damit ihren eigenen[.]] - Die Implikationen von Ahlins ‚ Sprachgrammatik ‘ (Hammar) in „ Die kleinen Wörter “ auf Tunströms Poetik sind bisher nicht gesondert erforscht worden. Tyrberg hält das Buch Hesekiel als den (für die Stiftung der Ich-Identität) wichtigen biblischen Intertext für das Werk Tunströms, vgl. Tyrberg (2002). Anrop och ansvar. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 60 2 PROLOG wie der weitere Verlauf der Geschehnisse zeigt. Auch kann er nicht Reife antizipieren, da er noch keine hat. Als Fünfzehnjähriger ist er mit seiner Entwicklung beschäftigt genug. Diese Aufgabe ist psychische Überforderung. Für die Genese des Schriftstellers Göran Tunström hingegen bildet sie Nullpunkt und Katalysator, mit Nachwirkung auf sein ganzes Schreibleben. PRÄ: 117: Lars skrev fortfarande egna dikter, egna ord. Jag hittade i hans väska dessa ord - och min dagboks första sida blev allt mäktigare, allt mer fylld av stor skönhet. Varför skulle jag redan fläcka rena sidor med mitt? Lars schrieb weiter eigene Gedichte, eigene Worte. Ich fand diese Worte in seiner Tasche - und die erste Seite meines Tagebuchs wurde immer mächtiger, immer mehr von erhabener Schönheit erfüllt. Weshalb sollte ich reine Seiten schon mit dem Meinigen beflecken? Noch immer hat Göran sich nicht zum Schreiben ermächtigt. Er schreibt ab, kopiert Sätze seines erfolgreichen Gefährten Lars. Aber das sollte sich ändern, die beiden legten feierlich - heimlich, im Wald - ein Gelöbnis ab, wie zu Beginn des Kapitels „ Die Poeten “ belegt: Det var mitt inne i Uddeholmsbolagets skogsrike, sommaren 1952, som Lars Svensson och jag tummade på att bli diktare. Träd, älv och caterpillar bevittnade det heliga löftet. Kap Farväl och Resor utan mål bevittnade det. Gäst hos verkligheten och Halmfackla likaså. Den allvarsamma leken och Sommaren med Monika. Kaffepannan, som kokade över och fräsande spred ut sitt innehåll i djup mossa, såg på. Myr-autostrador passerade förbi under vördnadsfull tystnad, när vi gav våra liv åt dikten. (PRÄ: 115) Sommer 1952: Zutiefst im Waldreich der Aktiengesellschaft Uddeholm gelobten Lars Svensson und ich uns, Dichter zu werden. Bäume, Bulldozer und Flüsse waren Zeugen des heiligen Gelübdes. Ebenso „ Kap Farväl “ und „ Reisen ohne Ziel “ und auch „ Gast bei der Wirklichkeit “ und „ Strohfackel “ . Sowie „ Das ernste Spiel “ und „ Der Sommer mit Monika “ . 98 Der Kaffeekrug, der überkochte und seinen Inhalt zischend über das tiefe Moos hin verspritzte, hat auch zugeschaut. Ameisen auf Schnellstraßen zogen an uns vorüber, als wir beide unser Leben der Dichtung verschrieben. Klassiker von drei Jahrzehnten aus dem Kanon (der frühen und späten Moderne) der schwedischen Literatur- und Filmgeschichte standen dem Schwur Pate. Vagabundenleben, Verbundenheit mit der Natur und Abenteuerlust dominieren die Titel des Arbeiterdichters Harry Martinson, eine Kindheit in einfachen Verhältnissen und Pubertätsnöte in Lagerkvists (1891 - 1974) autobiografischer Erzählung, Skeptizismus verströmen die Gedichte Vennbergs, erotische Verstrickungen Ingmar Bergmans skandalumwitterten Filme. 99 Nebst solcherart Vorbildern „ bezeugten auch Ameisen “ , „ Bäume, Bulldozer und Flüsse “ den feierlichen Akt der Selbstinitiation. In den surrealistisch-oxymoronischen Passagen des 98 Ingmar Bergman, Sommaren med Monika (1953; dt. Die Zeit mit Monika). Das Filmdrama durfte bei seinem Erscheinen in vielen Ländern wegen einer erotischen Szene von zwanzig Sekunden Dauer nur zensuriert projiziert werden. 99 Dazu gehören die beiden Romane des Weltnomaden Harry Martinson. Resor utan mål (1932; dt. Reisen ohne Ziel, 2017) und Kap Farväl! [sic; Kap Auf Wiedersehn! ] von 1933, dt. inkludiert in Reisen ohne Ziel). Ausserdem die Gedichte von Karl Vennberg. Halmfackla (1944) [Strohfackel]. Vennberg gilt u. a. als kongenialer Übersetzer der Werke Kafkas. Und: Pär Lagerkvist. Gäst hos verkligheten (1925; dt. Gast bei der Wirklichkeit, 1952) sowie den Roman von Hjalmar Söderberg. Den allvarsamma leken (1912; dt. Das ernste Spiel, 1927; verfilmt 1945). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 61 Abschnitts ist die Diktion von Landstreicher Bolle aus Martinsons Erfolgsroman Vägen till Klockrike 100 vernehmbar. Zu guter Letzt - am Ende des Kapitels „ Die Poeten “ - wird Göran Lars mutig ein noch unfertiges Gedicht mit dem Titel KARFREITAG vortragen, dessen „ Schluss “ jedoch von letzterem beanstandet wird. Sie debattieren und argumentieren, doch es hilft nicht. Sie hätten nicht die gleiche Ästhetik, stellen sie fest. Die Ablösung Görans von seiner Leitfigur zeichnet sich ab. Eigene Worte sind die Voraussetzung dafür. 101 PRÄ: 149: Hithän har det alltså gått, men på ett sätt jag inte tror du kan förstå - knappast jag heller - eftersom vi är så olika härutinnan (märk ordet! ). Vi har ju aldrig älskat oss, men Annika har velat „ älska “ . So weit ist es also gekommen, auf eine Weise jedoch, dass ich nicht glaube, dass du es verstehen wirst - auch ich kaum - , da wir so verschieden sind in diesen Belangen (beachte das Wort! ). Wir haben uns doch nie geliebt, aber Annika wollte „ lieben “ . Lars, inzwischen Student an einer ausländischen Universität, beichtet hier Göran in einer seiner „ Episteln ” , denen meist „ vier oder fünf Gedichte ” (PRÄ: 148) beiliegen, eine Romanze. Die papierschwedische Formel „ härutinnan “ 102 mit dem lehrerhaft in Klammern gesetzten „ beachte das Wort! “ markiert einen Stilbruch zum übrigen Briefinhalt. Lars wird seiner Rolle als selbsternannter „ Mentor “ und Geburtshelfer von Görans Gedichten, nicht zuletzt auch dank seines Beachte-Hinweises, vollauf gerecht. PRÄ: 153: „ Lorca var livsinstinktens förhärligare, han dramatiserade, mytologiserade, erotiserade allt, han besjälade tingen och försinnligade själsliga egenskaper “ , skrev Artur Lundkvist i förordet, som jag snart kunde utantill. „ Lorca war ein Anbeter des Lebensinstinkts, er dramatisierte, mythologisierte und erotisierte alles, er beseelte die Dinge und versinnlichte die seelischen Eigenschaften “ , hat Artur Lundkvist in seinem Vorwort geschrieben, das ich bald auswendig konnte. Die Begeisterung für die Literatur macht, dass Göran das Vorwort auswendig lernt. Er las es in Lundkvists (1906 - 1991) Übersetzungsband von 1950, Vistelse på jorden. Dikter av Federico Garcia Lorca och Pablo Neruda [Besuch auf der Erde. Gedichte von Federico Garcia Lorca und Pablo Neruda]. Literatur sowie Literatur über Literatur wird von Göran, der zu diesem Zeitpunkt gut sechszehnjährig sein dürfte, zunehmend internalisiert. PRÄ: 168: Jag vet, att för att sluta lipa måste jag bli honom. Ensam, stängd från honom klarar jag det inte. Jag måste bli exakt som han, lära mig hans gester, ord, tankar? Var är hans tankar? Hur ser de ut? Här finns de, här i böckerna. 100 Orig. 1948, 1953 verfilmt und auf Deutsch als Der Weg nach Glockenreich erschienen. 101 Ludwig Hohl (1980: 100): „ Was ist das gute Schreiben. Reden mit eigenen Worten. “ 102 SAOB verzeichnet vom Adverb „ härutinnan “ (in dieser Hinsicht, in diesen Belangen) als jüngsten Beleg eine Stelle aus Svensk författnings-samling [Schwedische Verfassungs-Sammlung] von 1908. (abgerufen am 02.08.2021). ‚ Hithän ‘ oder ‚ Hit hän ‘ ( ‚ Hierher ‘ ‚ hin ‘ ) entstammt dem Schreibgestus eines Amtsschwedisch, das bereits in 1950er-Jahren nicht länger gebräuchlich war. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 62 2 PROLOG Vad känner han när han streckar under den här raden: „ Det onda finnes i tiden. Gud är icke i tiden, och det onda har intet rum i evigheten “ . Ich weiß, um aufzuhören zu flennen, muss ich er werden. Allein, von ihm ausgeschlossen, schaffe ich das nicht. Ich muss exakt so werden wie er, muss mir seine Gesten, Wörter, Gedanken beibringen. Wo sind seine Gedanken? Wie sehen sie aus? Hier sind sie, hier in den Büchern. Was fühlt er, wenn er eine Zeile wie diese hier unterstreicht: „ Das Böse existiert in der Zeit. Gott ist nicht in der Zeit, und das Böse hat keinen Raum in der Ewigkeit. “ 103 Es ist Sommer 1955. Thore Ehrling 104 und sein berühmtes Orchester laden im Volkspark (Folkens Park) auf der Landzunge Kolsnäs (Kolsnäsudde) außerhalb Sunnes zum Tanz. Göran indes, statt zu tanzen, lässt sich von den Musikern in sein Exemplar von Kafkas Prozess ihr Autogramm hineinschreiben. Später zieht es ihn zu Vaters Büchern, die seit seinem Tod im Magazin aufbewahrt werden. Beim Blättern imaginiert er in erlebter Rede die oben ausschnittweise zitierten Sätze und kommt nach rastlosem Fragen: „ Wo sind seine Gedanken? Wie sehen sie aus “ zum Schluss: „ Hier sind sie, hier in den Büchern. ” Die Stelle in ihrem Kontext: Alldeles nedanför prästgården ligger Magasinet. Det är rött och byggt av tjocka timmerstockar. Nyckeln är stor och tung, man måste vrida om låset många gånger, man måste trycka och sparka innan man kommer in. Tre våningar finns det, i det översta ligger vete och havre innanför de små gluggarna som knappast släpper in ljus, bara luften. I den nedersta våningen står våra möbler från prästgården, de vi inte vill sälja, men inte har plats för. Det är här, i det nedersta mörkret jag egentligen bor. Allt annat, därute, tillhör Provisoriet, här är jag så nära jag kan komma det riktiga livet. Böckerna i sina trälårar vilar bara i en mardröm som snart skall ta slut. Jag vet det alldeles tydligt, när jag drar fram dom till en av gluggarna och lyfter på locket och luktar, bläddrar och minns. (PRÄ: 166 - 167) Unterhalb vom Pfarrhaus liegt Das Magazin. Es ist rot und aus dicken Holzstämmen gezimmert. Der Schlüssel ist groß und schwer, man muss ihn mehrmals im Schloss drehen und drücken und mit dem Fuß gegen die Tür stoßen, um reinzukommen. Es hat drei Stockwerke, im obersten liegen Weizen und Hafer hinter diesen Gucklöchern, die kaum einen Lichtstrahl hereinlassen, lediglich Luft. Zuunterst stehen unsere Möbel aus dem Pfarrhaus, jene, die wir nicht verkaufen wollen, für die wir aber keinen Platz mehr haben. Hier, in der tiefsten Finsternis, bin ich im Grunde zuhause. Alles andere dort draußen ist bloß Provisorium. Hier bin ich dem richtigen Leben so nah wie möglich. Die Bücher in ihren Holzkisten lagern nur in einem Alptraum, der bald ein Ende nehmen wird. Ich sehe das überdeutlich, wenn ich sie zu einem der Gucklöcher hinschleppe und sie entriegle und an ihnen rieche, blättere und mich entsinne. Beim Anblick der mit Schriftspuren versehenen Bücher seines Vaters erlebt Göran eine Phantasmagorie. Der Geruch der Bücher lässt ihn im Nu wiederaufleben, die beiden führen nochmals ein „ Gespräch “ . Die Suggestion der „ Wiederauferstehung “ des Toten verstärkt die ganzseitig beigefügte Zeichnung von Lena Cronqvist: Göran ist darauf Umriss seines 103 Die Herkunft des Zitates konnte nicht eruiert werden. Es stammt womöglich aus einer der Schriften des deutschen Theologen Otto Pfleiderer (1839 - 1908). 104 Mehr über den legendären Musiker, Orchesterleiter und Arrangeur (1912 - 1994) siehe http: / / de. wikipedia.org/ wiki/ Thore_e (abgerufen am 02.08.2021). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 63 Vaters, dieser steht wie ein Schatten hinter ihm. In dieser fantastisch-imaginierten ‚ Bibliotheksszene ‘ kann keine reale Begegnung stattfinden, und Göran sucht, wie in „ Berühmte Männer ” zu lesen ist, über zeitgenössische Schriftsteller „ Kontakt “ zu ihm. Das hieß: selbst schreiben. „ Und deshalb schrieb ich. Damit ich ein Recht hätte, sie zu treffen, ohne das Gefühl zu haben, dass ich mich aufdrängte. “ (PRÄ: 168) Der Schreibprozess kommt in Bewegung. Jetzt braucht es nur noch einen, der ihn auch „ legitimiert “ . In der Sequenz 3 des Kapitels ereignet sich gegen Ende eine echte, wenn auch inszenierte Begegnung mit einem weiteren „ berühmten Mann “ . Göran passte nach der letzten Vorstellung der Selma-Lagerlöf-Spiele in diesem Sommer 1955 dem Schriftsteller und Regisseur Per-Erik Rundquist ab, und nach mehreren erfolglosen Anläufen gelingt es ihm, mit ihm zu sprechen. Die folgende Stelle - Göran ist bereits auf dem Rückweg nach der glücklich verlaufenen Begegnung - bringt die Erleichterung auf federleichte Art und Weise zum Ausdruck: Wort-Maler Tunström pinselt die Szene ekphrastisch in wenigen Strichen: PRÄ: 176: Ord kan stå där. Färger kan komma. Rosa kan gå mot blått; en strimma turkos kan skära sig in. Färger kan materialiseras och bli: första morgonfågeln: stare. Andra morgonfågeln: skata. [ … ] Denna natt drog mig över till mitt: till det jag skulle vara och leva i. Löjliga enkla ord. Men att folk var inte farliga. Han var ju lika hjälplös som du, som var jag. 105 Wörter können dastehen. Farben können kommen. Rosa spielt ins Blau; ein Streif Türkis kann sich hineinbeißen. Farben können sich materialisieren und werden: Erster Morgenvogel: ein Star. Zweiter Morgenvogel: die Elster. [ … ] Diese Nacht zog mich zu mir hinüber: zu dem, was ich werden und in dem ich leben sollte. Lächerliche, einfache Worte. Aber dass Leute nicht gefährlich waren. Er war ja ebenso hilflos wie du warst, wie ich. Der Austausch über Leben und Schreiben hat Göran bestätigt, dass er „ auf dem richtigen Weg “ ist. Das Leben schreiben. Vom Schreiben leben. Bereits der Besuch bei Tage Aurell im värmländischen Mangskog 106 hatte ihn dahingehend bestärkt und ihm Vertrauen ins Wort gegeben. PRÄ: 193: Det är alldeles tyst, en efter en går de ut och lämnar oss ensamma, men det är lika tyst för det: jag begriper inte ett ord höll jag på att säga, men jag menar: jag begriper inte hur hon kan vara så tyst. Es ist vollkommen still, einer nach dem anderen schleicht aus dem Zimmer, und sie lassen uns allein, doch bleibt es genauso still: Ich verstehe kein Wort, wollte ich sagen, meine hingegen: Ich begreife nicht, wie sie so still sein kann. Der Phraseologismus „ Jag begriper inte ett ord “ - ich begreife kein Wort - ist, bedingt durch das Stummsein oder Nichtreden Malins, ein absurder unlogischer innerer Monolog. 105 Die Übersetzung bedarf einer Ergänzung. Siehe die Materialisation von Farbe zu Vogel: Das schwedische Wort ‚ som ‘ kann als Konjunktion ‚ wie ‘ oder als das Relativpronomen ‚ der ‘ gelesen werden. Die Stelle schwankt damit im osmotischen „ Dazwischen “ , was die sonst scharfe Trennung von Ich und Du in der Schwebe hält. 106 Mehr zu Tunström / Aurell: siehe Andersson (1995 a: 287 - 289). Andersson erwähnt hier die erste briefliche Kontaktnahme Tunströms mit Aurell, der ihn für einen Beitrag in ihrer Schülerzeitung (der Fjellstedtska Skolan) bat. Tunström / Aurell sind auf der achtseitigen Bildstrecke des Buches auf einem Steinfeld der Insel Patmos nebeneinander zu sehen, vgl. Andersson (1995 a: 192 - 193). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 64 2 PROLOG Deshalb berichtigt der Erzähler-Protagonist sich im Folgesatz. Nicht-Wörter steuern den Verlauf von Gesprächen und Diskursen so gut wie Wörter. Eine einschneidende Erfahrung für einen (jungen) Mann aus Wörtern, der mit der Wortsprache kommuniziert. Doch jetzt hält sich die Kommunikation nicht an die gewohnten Bahnen. Malins Schweigsamkeit verunsichert Göran bei ihrem gemeinsamen Gang durch die Stadt in dem Maß, dass er sie auf sich bezieht: „ Hon tycker säkert att jag är dum som ett spån. “ (ebda.) [Bestimmt denkt sie, dass ich stockdumm bin.] PRÄ: 195: - Jamen barfota och lorti och int ett ord säjer ho? 107 - Ja, aber barfuß und schludrig isse und kein Wort sagt se? Wiederum ist Schweigen das Problem der anderen. Hier: Görans Schwester Batti (sie spricht eine Art Värmland-Dialekt). Malins Schweigen 108 wird als ein Nicht-mit-ihr [Batti]sprechen-Wollen gedeutet, als ein Sie-würdigt-mich-keines-Worts (und nicht als nonverbale Kommunikation). Konnotiert mit ihrer unangepassten Kleidersprache stößt Malins Schweigen in der (Sprach-)Gemeinschaft auf Ablehnung. Denn es gibt (Sprach-)Verhaltensvorschriften, die bei Nichteinhalten mit Ausschluss sanktioniert werden. Dass „ Malin “ , die Malerin (Lena Cronqvist), sich auf anderen Kanälen mitteilt, ist für eine aufs Wort fixierte Gesellschaft schwierig zu verstehen, geschweige denn akzeptabel (in einem Dorf ), wo „ alle “ nicht nur miteinander, sondern mit der sozialen Kontrolle auch übereinander sprechen. PRÄ: 202: [ - ] Jag ska säj räj att ja ble riktigt rädd för henn. Inte ett ord sa ho. Dä va nöe kuslit mä henn. Skull int ho ha rå te klä sej lite bätter ho som ä så rik. Mamma hennes lät väldit trevli. [ - ] Ich sag dir, ich hatt richtig Angst vor ihr. Kein Wort hat se gsagt. ‘ Swar schaurig mit ihr. Und könnt se sich nich was Bessres zum Anziehn leisten, reich is sie ja. Ihre Mutter tönte sehr nett [sc. am Telefon]. Immer noch im Kapitel der stummen Malin lässt Tunström hier stellvertretend seine aufgebrachte jüngere Schwester Batti die Ablehnung aussprechen. Zum beanstandeten Nicht-Sprechen gesellen sich Klischees vom Sich-anständig-Kleiden und vom Reichsein. Ein stattgefundenes Telefongespräch mit Malins Mutter, die bei Batti den Eindruck einer sehr netten (höflichen, anständigen, aufgestellten) Person hinterließ, „ beweist “ , dass Malin anders könnte, wenn sie nur wollte. Das Kapitel „ Malin “ bildet den Schluss von Teil II der ganzen Erzählung Prästungen. PRÄ: 218: - Jovisst. Och jag kikar över axeln på ängslige Pete, som efter tjugo års slit med orden publicerat fyra noveller. Dagarna i ända, sommarn lång, ligger han i havet med cyklopögat, stirrar på fiskar och förkomna ord, som eventuellt kunde dyka upp, han ger sig t. o. m. utanför hajnätet. 107 Das Fragezeichen: ein Druckfehler? Der Satz verlangte eher das Ausrufezeichen? 108 Herta Müller im Essay „ Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich “ (Müller 2003: 74 - 105, hier 74): „ Je mehr jemand zu schweigen imstande war, um so stärker war seine Präsenz. “ Müller reflektiert darin ihr Verhältnis zum Wort und damit ihren vom rumänischen Geheimdienst observierten Weg zum Schreiben. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 65 - Aber klar. Und ich schaue über die Schultern des ängstlichen Pete, der nach zwanzig Jahren der Plackerei mit den Wörtern vier Novellen publiziert hat. Tagelang, den ganzen Sommer über, liegt er mit seinem Zyklopenauge im Meer und starrt auf Fische und verloren gegangene Wörter, die eventuell auftauchen könnten, er begibt sich gar außerhalb des Hainetzes. Göran hat Schweden verlassen und befindet sich jetzt auf der griechischen Insel Hydra in Gesellschaft vieler anderer Künstler und ‚ Existentialisten ‘ aus aller Welt. Als Schreibender unter Schreibenden beobachtet er Pete, und wie sich dieser als ‚ Wortfänger ‘ gebärdet. Die Karikatur, mit der er die passive Schreibhaltung dieses „ einäugigen “ Kollegen zeichnet, supponiert dessen Unfähigkeit und Ungeeignetheit zum Schriftstellerberuf, so wie er, Göran, ihn auffasst: beide Augen weit offenhalten und nicht passiv abwarten. PRÄ: 218: - Fast gäst och främling är ju samma ord, fortsätter jag, för han kan inte ett ord grekiska. - Dabei sind doch ‚ Gast ‘ und ‚ Fremder ‘ dasselbe Wort, fahre ich fort, er [Pete] kann nämlich kein Wort Griechisch. 109 Eine kleine Wort-Reflexion wenige Absätze nach der Stelle oben in einem Smalltalk unter Touristen mit humanistischer Bildung. Eine Reminiszenz auch an Tunströms Schulbildung, denn Göran hatte in der Fjellstedtska Skolan Altgriechisch gelernt und kennt die Grundbedeutungen von χένος . PRÄ: 221: [ … ] Lexikonet ligger bland Helenas trådar [ … ] Vägen till förståelsen var lång. Utöver Zimmer, Bruder, Bett och Tot kan hon ytterligare tre västerländska ord: Nähen, Soldat och Geld. / Det var dyra ord, de hade getts henne i utbyte mot hennes brors liv, hennes fars liv. [ … ] das Wörterbuch liegt unter Helenas Fäden [ … ] Der Weg zum gegenseitigen Verständnis war lang. Außer ‚ Zimmer ‘ , ‚ Bruder ‘ , ‚ Bett ‘ , ‚ Tot ‘ kann sie zusätzlich noch drei abendländische Wörter: ‚ Nähen ‘ , ‚ Soldat ‘ und ‚ Geld ‘ . / Das waren teure Wörter. Sie wurden ihr im Austausch gegen das Leben ihres Bruders gegeben sowie das ihres Vaters. Wörter „ im Austausch “ gegen Tote! Göran strandet Anfang der 1960er-Jahre auf Kreta und findet Unterkunft in einem ‚ Fremdenzimmer ‘ . 1941 - 1945 war die Insel im Krieg auch von Deutschen okkupiert. Deutsche Wörter wurden dabei, so auch für Sofia und Helena, zum tödlichen „ Tauschmittel “ 110 , während umgekehrt Erzähler Göran nun gut zwanzig Jahre danach mit Hilfe des mitgebrachten Wörterbuchs - ohne (s)ein Leben dafür hergeben zu müssen - sich griechische Wörter beibringen und rudimentär mit den Gastgeberinnen ein paar Worte austauschen kann. 109 Die Doppelsemantik und damit die Doppelbödigkeit von „ L ’ hôte “ wird von Serres in seiner Einleitung zu Der Parasit ausführlich dargelegt. 110 Was sie, unter dem triadischen Aspekt gesehen, immer schon sind. Hier wird ihnen eine weitere Dimension aufgepfropft, die äußerste Redimensionierung: der Tod. - Vgl. auch Hoffer (1983). Der große Potlatch sowie Mauss (1968). Die Gabe. Form und Funktion in archaischen Gesellschaften. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 66 2 PROLOG PRÄ: 222: Glödlampan svänger när blåsten trycker till, konservburkar skramlar bort över Odos Trifitsou, jag streckar under ord efter ord i mitt lexikon. Die Glühbirne schwenkt bei heftigem Wind, Konservenbüchsen rasseln über die Hodos Trifitsou, während ich in meinem Wörterbuch ein Wort nach dem anderen anstreiche. Wort für Wort wird unterstrichen (und will gelernt sein) - die Welt und die Menschen Griechenlands wollen verstanden werden. Wichtigstes Medium für den Schriftsteller ist somit die Kenntnis der Wörter. PRÄ: 226 - 227: De visste inte, att det knappt gick att komma ner till stranden, att stormen tjöt in, att här var det relationslöst. Språklöst. Men jag härdade ut för min framtids skull. Mitt eget liv fanns inte nu. Jag var en deg som jäste i framtidens ugn. Jag läste mitt möjliga liv i Henry Millers Kolossen från Maroussi. „ Vi far genom en hjorthage och bilen stoppar i utkanten av en vildvuxen park. Däruppe, säger mannen och pekar på en brant klippa - Faestos. Han hade sagt ordet. Det var som magi. Jag tvekade. Jag ville förbereda mig. “ Sie [ „ die “ zuhause in Schweden] wussten nicht, dass man kaum zum Strand hinunterkam, dass der Sturm ins Zimmer hineinheulte und dass es hier beziehungslos war. Sprachlos. Mein eigenes Leben existierte jetzt nicht. Ich war ein Teig, der im Ofen der Zukunft gärte. Ich las mein mögliches Leben in Henry Millers „ Der Koloss von Maroussi “ . „ Der Wagen gleitet über einen Wildpfad und hält am Rand eines verwilderten Parks. ‚ Dort oben ‘ , erklärte der Chauffeur, auf einen steilen Felshang deutend, ‚ ist Phaistos ‘ . Das Wort war ausgesprochen. Es war wie ein Zauber. Ich zögerte, ich will mich vorbereiten. “ (Miller 1985: 124) Die wenigen Wörter reichen nicht aus, und die Briefschreiber (aus Schweden) wissen nicht, dass das Leben in Griechenland „ beziehungslos war. Sprachlos. “ Görans Autor leiht seinem „ Ich “ deshalb Sätze von Henry Miller, einem weiteren Vaterersatz. 111 Fakt und Fiktion vermischen sich und mit Millers Worten erschwindelt er sich den Weg zur „ Frauenburg der Dynastie Minos “ . Ernüchtert trifft er dort, in der Wirklichkeit angekommen, Kyrios Alexandros, „ den Helden von Seite 116 der englischen Taschenbuchausgabe “ an (PRÄ: 227). In einer nächsten Episode halluziniert Göran in einem schweren Asthmaanfall ein liebevolles Wiedersehen mit seinem Vater, was sich real als Gespräch mit „ Professor G. aus Berlin “ , einem ehemaligen Soldaten der Wehrmacht, der in Zivil gekleidet nach Kreta zurückkehrte und „ gerade an einem Buch über die minoische Kultur schreibt “ , herausstellt, der das Morden deutscher Truppen auf Kreta mit einem Strindberg-Zitat wegredet: „ Grekerna är ett härligt folk. Stryker över och går vidare, som er Strindberg säger. “ (PRÄ: 231) [Die Griechen sind ein herrliches Volk. Streichen durch und gehen weiter, wie euer Strindberg sagt. 112 Göran wendet sich ab und erwacht aus dem bösen Traum. Dass hier ein 111 Henry Miller (1891 - 1980) verbrachte 1939 ein halbes Jahr in Griechenland, v. a. auf Kreta. 112 Vgl. die Replik in Strindbergs Ehedrama Dödsdansen (Totentanz) des Artilleriehauptmanns Edgar an seine Ehefrau Alice am Ende von Teil 1: „ Stryka över, och gå vidare! “ (SV, 44: 135) [ „ Durchstreichen und weitergehen! “ ]) (1964 - 65, Bd. 2: 315). Edgar will Alice eine ‚ Haltung ‘ anerziehen und erläutert diese am Beispiel eines Bekannten, der, nachdem er sich sieben Mal neu verheiratet hatte, bei seiner achten Eheschliessung zum zweiten Mal jene Frau geehelicht habe, die er als junger Mann geheiratet Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 67 Text im Text vorliegt (Kristeva), im Sinne eines Dialogs mit der Kultur, und Görans Leben dank diesem Zitat „ im Ofen der Zukunft gärte “ , also ‚ verschoben ‘ , nach Derrida différé, aufgeschoben wird, sei als das wichtigste Moment der Stelle festgehalten. Eine Intertextualität expressis verbis - vom Autor mitgeliefert werden gar Quelle samt Seitenangabe. Dass sich die beiden Protagonisten (durch Metempsychose) vor dem lesenden Auge „ austauschen “ , bildet eine Art immaterielle Transgression von „ Heldentausch “ . Göran wandelt sich zum Helden, der sich mit „ fremden Federn “ schmückt. Mehr noch: Er rettet sich (bei der Niederschrift von Prästungen), also gut 30 Jahre nach seinem effektiven Aufenthalt auf Kreta „ under Cypernkrisens dagar “ (PRÄ: 222) [zur Zeit der Zypernkrise] aus seiner schier ausweglosen Situation, die auch eine des Schreibens ist, dank „ Anleihe “ von Literatur bei einem anderen, sprich älteren Kollegen. PRÄ 253: Jag hade ingenting att försvara i hela världen. Jag var en skit, jag längtade efter såna gamla damer, som man kunde tala med. Hemma i Sunne satt mamma, henne gick det inte att snacka ett ord med, de här människorna skulle jag snart lämna, det var ingen mening med att inte tala sant. Vad förlorade jag på det? Förresten, jag tänkte inte ett ord på försvar och sånt, det gör jag aldrig, utom när jag försöker göra mig till inför jänter, så jag började babbla om att jag träffat en tjej, som jag inte vågade vara tillsammans med. Nichts auf der ganzen Welt hatte ich zu verteidigen. Ich war ein erbärmlicher Kerl, ich sehnte mich nach solchen alten Damen, mit denen man reden konnte. Zuhause in Sunne saß Mutter, mit ihr konnte man kein Wort reden, diese Menschen da würde ich bald wieder verlassen, es wäre sinnlos, nicht die Wahrheit zu sagen. Was konnte ich dabei schon verlieren? Übrigens, ich verschwendete nicht einen Gedanken 113 an Verteidigung und solches Zeug, das mache ich nie, außer wenn ich vor Mädchen anzugeben versuche, also begann ich von einer zu erzählen, mit der ich mich nicht getraute zusammenzusein. Göran ist auf seiner Rückkehr nach Schweden auf einem Umweg in Oslo gestrandet, am 17. Mai, Syttende mai, Norwegens Nationalfeiertag. Auf Hydra hatte er eine Adresse mit dem Angebot erhalten „ Kommst du nach Oslo - besuch uns: Akersveien …“ Statt des erwarteten Griechenlandfahrers trifft er am Akersveien auf eine „ alte Dame “ , die mit Göran zu sprechen beginnt und die sich ihm gegenüber hilfreich und verständnisvoll zeigt (vielleicht auch, weil der 17. Mai der Todestag ihres Mannes ist). Vor der Verabschiedung steckt sie ihm etwas „ Reisegeld “ zu und wünscht ihm alles Gute auf seinem Weiterweg. Diese norwegische (Mutter-)Figur steht in starkem Kontrast zur eigenen Mutter in Sunne, mit der „ man kein Wort reden “ konnte. Ein (gutes) Wort kann einem Proviant (auf dem Lebensweg) sein und einen für lange Zeit nähren. (Vgl. dazu Kap. 2.3.1 Beispiele von Schreibszenen) hatte. Während Edgars Bekannter dank dieses Patentrezeptes (der Fähigkeit zum Neuanfang) weiter durchs Leben geht, fegt Philologe „ Professor G. “ aus Berlin mit derselben von Strindberg geliehenen Phrase die Kriegsgräuel Deutscher auf Kreta vom Tisch. Nach der Luftlandeschlacht um Kreta im Mai 1941 und der Besatzung der Insel durch die Achsenmächte wurden 8575 Kreter getötet, oder wie in Kondomari, massakriert. Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Luftlandeschlacht_um_Kreta (abgerufen am 02.08.2021). 113 Wortwörtlich: Ich habe kein Wort (an Verteidigung etc.) gedacht. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 68 2 PROLOG PRÄ: 265: I Sunne regnar det. Jag har ställt upp skrivmaskinen i ett hörn av mammas lägenhet. Astman härjar mig så jag är tvungen att stå och skriva. Varje ord är som ett klippblock, men jag får dom ett efter ett över papperskanten, de faller ner och lägger sig tillrätta. Mellan skrivpassen går jag på promenader. Kroppen är vidöppen för allt, bara jag rör vid en trädgren, en sten, börjar jag gråta. All beröring får ögonen att svämma över, jag vet inte vad det är med mig. Utanför köpingen sätter jag foten i ett sörjigt dike och trampar och trampar, tills leran sluter sig om foten. Det är det enda som känns. In Sunne regnet es. In einer Ecke von Mutters Wohnung stellte ich meine Schreibmaschine auf. Das Asthma befällt mich so, dass ich zum Schreiben stehen muss. Jedes Wort ist wie ein Felsblock, doch ich bekomme eins nach dem anderen über die Papierkante, sie purzeln hinunter und legen sich zurecht. Zwischen den Schreibmomenten mache ich Spaziergänge. Der Körper ist offen für alles, die kleinste Berührung schon eines Zweiges an einem Baum oder eines Steins, bringt mich zum Weinen. Jede Berührung lässt meine Augen überlaufen, ich verstehe nicht, was mit mir ist. Am Dorfrand trete ich in eine Schlammpfütze, trete und trete, bis Lehm meine Füße umschließt. Es ist das Einzige, was spürbar ist. Der Typenhebel fungiert als Verlängerung des (geschwächten) Körpers, der unter äußerster Anstrengung Wörter, schwer wie Felsblöcke, aufs Papier hievt. Im Gegensatz zu Sisyphos, dessen Brocken kurz vor dem Ziel stets wieder den Hang hinab rollen, fallen Tunströms Buchstaben nacheinander aufs Blatt hinunter und „ legen sich zurecht “ auf dem in die Schreibmaschine eingespannten Papier, wo sie zu Text werden. 114 Ein Vorgang unter Aufwendung der letzten Kräfte (so könnte das Typoskript zum Romandebut Karantän von 1961 entstanden sein). Ein Gegensatzpaar auf der Körperebene regiert die singuläre „ Schreib-Szene “ : ‚ Oben ‘ formt Göran mit Hilfe von Finger(spitzen) Lettern zu Wörtern, von denen ein jedes „ ein Felsblock “ ist, während ‚ unten ‘ seine Füße so lange in einer Schlammpfütze stampfen, „ bis Lehm [s]eine Füße umschließt “ und er seinen Körper „ spürt “ . Die Bewegung ‚ oben ‘ führt zu Ermüdung und „ Selbstverlust “ , während ‚ unten ‘ Kontakt entsteht, eine Verbindung zur Welt. Beide Bewegungen hinterlassen Spuren in der Materie (auf dem Papier Buchstaben, im Lehm Fußspuren), die verschiedener nicht sein könnten. Beiden gemeinsam ist der Charakter sisyphusischer Schwerstarbeit 115 im Tippen und Treten an Ort. PRÄ: 268: Med min kropps alla lösa skramlande strängar höll jag mig uppe. Skor, strumpor, byxor, skjorta, ryggraden också, allt hölls samman till ett. Jag promenerade på vägarna utanför köpingen och ingen upptäckte att jag ruttnat inifrån, fast jag tyckte att det stod skrivet med feta versaler utanpå vilket as jag var. Jag grät när mamma öppnade ugnsluckan och doften av nybakat bröd steg ut, jag grät när jag kretsade kring lagården och en dörr öppnades in mot mjölkdoften och separatorernas lugna musik, grät över att jag smitit från Gisela och över att jag inte hört ett ord från pappa på tio år, och förstod att vad jag fortfarande väntade på var en lyckospark i baken, ett bejakande av att jag var mogen att ge mig ut. 114 Vgl. dazu die Zeilen 4 bis 8 in „ The Mobile Heart - or Be My Valentine “ von Patricia Highsmith: „ My hand stiff in an iron glove / Attacks the edges of my love, / And then I cliffhang - - / Death is below and I know it. “ Abgedruckt in: FAZ (14.02.2006: 37). 115 Zur Thematik Körper - Schreiben siehe Christian Benne (2015: 203 - 219), „ Schreib-Gegen-Stand “ , in: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.2 Prästungen (Der Sohn des Pfarrers; 1976) 69 Mit allen los klirrenden Saiten meines Körpers hielt ich mich über Wasser. Schuhe, Socken, Hose, Hemd, und das Rückgrat, alles wurde zu Einem zusammengehalten. Ich spazierte auf den Wegen am Dorfrand, und niemand merkte, dass ich inwendig verfaulte, während ich fand, dass es mit fetten Versalien an mir angeschrieben stand, was für ein Aas ich war. Ich weinte, als Mutter die Ofenluke öffnete und der Duft frisch gebackenen Brotes entstieg, ich weinte, als ich um den Kuhstall kreiste und eine Türe zum Milchduft und zu der ruhigen Musik der Zentrifugen hin geöffnet wurde, weinte darüber, dass ich von Gisela davongelaufen bin und dass ich von Vater seit über zehn Jahren kein Wort vernommen hatte, und begann zu verstehen, dass das, worauf ich wartete, ein Glückstritt in den Hintern war, ein Bejahen, dass ich reif sei, mich hinauszubegeben. Göran erlebt seit dem Tod seines Vaters eine schmerzvolle Wortlosigkeit. Die beklemmende Wortstille offenbart, wie sein Wort ihn genährt und begleitet hatte: Es fehlt der Austausch von Wörtern im Gespräch, das einen Raum öffnete, ein Drittes. 116 Dieser Raum ist mit dem Tod des Vaters eingegangen, hervorgegangen ist eine Lücke der Kreation. Tunströms Bücher sind, aus dieser Logik betrachtet, Schriftwechsel statt Wortwechsel, utopische Briefe an dessen Adresse, auf der Suche nach einer „ Wiederaufnahme “ des verstummten Dialogs, referieren insofern die (kryptographische) Signatur am Werk des Autors. In den letzten dargelegten Belegen stehen Körper und Wort in einer klaren Relation. Der Körper, Gefäß und Resonanzraum der Wörter, hat kein Fassungsvermögen und keine Verwendung mehr für die Wörter. Es schließt sich ein Kreis. Der in den ersten zwanzig Lebensjahren erlernte Gebrauch der Wörter scheint an Bedeutung zu verlieren. Der Bezugspunkt fehlt schon seit gut zehn Jahren. Mit seinem Vater konnte Göran die Wörter erproben, auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen und wenn nötig, nach Maßgabe des Vaters, korrigieren (vgl. PRÄ: 12, wo Göran fragt: Är inte Sverige ett sydligare land? [Ist denn Schweden kein südlicheres Land? ]. Die Wort-Instanz Vater stand auch für eine Welt- Instanz. Die Antwort dieser Instanz galt Göran als Lackmustest. Es ist, als hätte der Tod dessen, der sie ihm einst beigebracht hatte, ihre Bedeutung mit sich gerissen und vernichtet, gelöscht. Die Mutter kann diese Lücke weder ausfüllen noch übernehmen. Sie ist den Dingen zugewandt und in Trauer dem Leben abgewandt. Die Topografie und damit die Logotopie ist nicht mehr „ die alte “ , eine neue gibt es noch nicht, muss jetzt im Alleingang gefunden werden. Auf die Apostrophe folgt Jahre danach die Katastrophe: das Desinteresse an Wort und Welt, das Verstummen vor der Wand unerwiderter Wörter - dem Tod des Vaters. Görans Verlust seiner buchstäblich ihn prägendsten Urbekanntschaft manifestiert sich als Schreiben, will Wort und gehört werden. 117 Die Einübung in die Praxis der 116 Vgl. dazu drei Titel, stellvertretend für ein ganzes Lebenswerk, gewidmet der Dialogizität: Martin Buber (1954). Die Schriften über das dialogische Prinzip; ders. (1995). Ich und Du (Nachdruck); ders. (1932). Zwiesprache. Vgl. dazu auch Tunströms Motto in „ De heliga geograferna “ in Form eines längeren Buber-Zitats aus Ich und Du: „ Så länge kärleken är ‚ blind ‘ , det vill säga: så länge den inte ser hela människan, står den ännu inte i sanning under relationens grundord. “ (DHG: 61) Bei Buber (1995: 16) lautet die Stelle: „- Solang die Liebe ‚ blind ‘ ist, das heißt: solang sie nicht ein ganzes Wesen sieht, steht sie noch nicht wahrhaft unter dem Grundwort der Beziehung. “ 117 Vgl. dazu die Stelle in Livets historier förbi (Tunström 1988: 32). Obschon die jugendliche Figur Splendid, ein Alter Ego von GT, gegenüber der Schreibinstanz Selma Lagerlöf gemäß Ms. erklären soll „ Men när jag skriver … Jag menar skriver [skriver: gesperrt] …“ , ist in der radiophonen Aufnahme Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 70 2 PROLOG Wortkunst verlangt Kreation - im Schreibakt. Davide Giuriato bemerkt zu den „ Urbekanntschaften “ im Erinnerungslabyrinth von Walter Benjamins Berliner Chronik: „ Das auto ’ graphische Schreiben kennt kein ‚ Leben ‘ mehr, dessen es erinnernd habhaft werden könnte, es kennt auch keine ‚ erlebte Kindheit ‘ , über die es schreibend verfügen könnte, sondern es gewinnt gerade in der Unerfahrbarkeit seiner eigenen Innerlichkeit die durchaus barbarische oder infantile Erfahrung einer stets umweghaften Äußerlichkeit. “ (Giuriato 2006: 131) Prästungen bestätigt dies in den Schreib- und Leseszenen, von denen die Erzählung voll ist und in denen, wie die „ umweghaften “ ord/ Wort-Stellen bezeigen, die Genealogie und Faktur von Tunströms Schreiben sich mitteilt. 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen Zur Typisierung von Autorschaftskonzeptionen gliedert die Schreibprozessforschung die Heteronomie von Schreibszenen in ‚ Schreibszenen ‘ und ‚ Schreib-Szenen ‘ (zum Unterschied siehe weiter unten). Prästungen zeichnet sich aus durch eine hohe Dichte an beiderlei Szenen, die vom Schreiben handeln. Eingestreut in Tunströms ‚ Auto ’ graphie ‘ sind desgleichen implizite wie explizite Überlegungen zum Lesen, zum Sprechen und zur Sprache. Seine Erzählung Prästungen vereint alle Elemente einer Autoren-Autobiografie, sie ist, so Volkening, „ Schauplatz der Selbstbeobachtung im Schreiben, [ … ] Ort des Zusammentreffens von Schreiben und Selbst. “ (vgl. Giuriato 2008: 22) In diesem Selbstbildnis verpackt sind Geschichten zum Werden im Wort des Schriftstellers, Bibliomanen und Viellesers Göran Tunström. Das mag in einer Autor-Biografie nicht verwundern. Dass aber Lesen und Schreiben in diesem Genre bis auf das Wort heruntergebrochen und thematisiert wird, ist selten. Eine Ausnahme bilden Les mots von Jean-Paul Sartre von 1964, worin er seine ersten zehn Lebensjahre und die Anfänge seiner Schriftstellerei rekonstruiert. Vaterlosigkeit, Schreibneurose, Rückzug in Fantasie und Bücherwelt und viele weitere Themen teilen sich seine und Tunströms ‚ Selbstlebensbeschreibungen ‘ ( Jean Paul). Im Vergleich zu Prästungen kommt in Sartres Die Wörter das Wort ‚ Wort ‘ weniger konsistent vor. In der Nachbemerkung zu seiner Übersetzung unterstreicht Hans Mayer indes Sartres ausgesprochene Wort-Affinität: Sein Weg zur Wirklichkeit führte über zahllose Begegnungen mit Wortgebilden. Im Anfang waren die Wörter, das ist hier ‚ wörtlich ‘ zu nehmen. Es war nicht das Wort im Sinne des Logos, was für Sartre am Anfang stand. Sein Weg führte von den Wörtern zu den Worten, dann von den Worten zu den Sachen. (Mayer 1965: 255) 118 deutlich ‚ skriker ‘ zu hören. In der Regiefassung der deutschsprachigen Produktion lautet dieselbe Stelle „ Doch wenn ich schreie … Ich meine schreibe …“ [schreibe: gesperrt]. Vgl. Ms. An mir gehen die Geschichten des Lebens vorbei (Tunström 1990: 32). 118 Drei Gemeinsamkeiten der beiden „ Autobiografien “ seien erwähnt: 1. als (Klein-)Kinder haben beide die ersten Wörter als eine Art „ Verdinglichung “ in ihrer „ fremdartige[n] Körperlichkeit “ (Mayer) wahrgenommen; 2. „ Nun kommt die genaue Kenntnis der Abenteuergeschichten, Magazine und Heftchen zu Hilfe “ (Mayer 1965: 261), diese Kenntnis besaß auch Tunström: vgl. etwa, wie er auf dem Cover der Originalausgabe von Prästungen das ‚ Rekordmagazin ‘ in Händen hält; 3. die identifikatorische Begegnung mit Schriftsteller-Vorbildern und ihren Büchern. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 71 Mayers ‚ Wegbeschreibung ‘ von Sartres Schreibweg gilt in den Hauptzügen gleichermaßen für Tunström und dessen Erzählung Prästungen. In den bisher diskutierten ord/ Wort-Stellen sind also bereits etliche Schreibszenen ‚ besprochen ‘ oder tangiert worden. 2.3.1 Beispiele von Schreibszenen An einer Auswahl der über vierzig 119 expliziten Schreibszenen in Prästungen kommen nun ergänzend ‚ Schreibszenen ‘ und ‚ Schreib-Szenen ‘ noch gesondert zur Sprache, imaginative, bloß angedeutete oder nur (aus-)gedachte Schreibmomente sind darin inkludiert. Jede einzelne Schreibszene hat ihr eigenes Gepräge. Die Herausgeber des Sammelbandes differenzieren die beiden Szenen in ihrer Einleitung zu Schreibszenen als Selbstlektüren wie folgt: Die Singularität der ‚ Schreibszene ‘ entspringt der Prozessualität des Schreibens; die Singularität jeder einzelnen ‚ Schreib-Szene ‘ der Problematisierung des Schreibens, die es zur (Auto-)Reflexion anhält, ohne dass es sich gerade in seiner Instabilität gänzlich transparent werden könnte. (Giuriato 2008: 12 - 13) Heide Volkening umschreibt deren Differenz, Martin Stingelin folgend, so: Während ‚ Schreibszene ‘ als relativ fliessendes Ineinander von Sprache, Instrumentalität und Geste verstanden wird, zeichne sich die ‚ Schreib-Szene ‘ dadurch aus, dass sich in ihr das genannte ‚ Ensemble in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich selbst aufzuhalten beginnt, thematisiert, problematisiert und reflektiert ‘ . (Giuriato 2008: 23) 120 Da sind bspw. die „ 12 Schriftsteller, die alle ein Buch über Griechenland zu schreiben gedenken “ (PRÄ: 217 - 218). „ Hat es noch Platz für einen dreizehnten? “ (218), fragt die Stimme des Autor-Ichs, und karikiert und suggeriert uns diese 12 - auf der Folie des biblischen Bildes von „ Jesus und seinen 12 Jüngern “ gelesen - als „ Jünger “ oder Möchtegern-Schriftsteller, als Epigonen. Der Text lässt in der Schwebe, wer genau sich da zu den 12 dazu gesellen möchte - Jesus oder sein Verräter. Die rhetorische Frage lässt einen schmunzeln und die Waagschale der Interpretation zu Gunsten der zweiten Lesart neigen. Aus der Historie der biblischen Geschichte betrachtet, müsste es sich beim Dreizehnten um Jesus handeln, denn dieser hat sich - wie Göran, der diese „ 12 Schriftsteller “ -Jünger beobachtete, - nicht als Möchtegern-Schriftsteller verstanden. Auf Schmunzeln folgt Werweißen und Rätseln. Die Schreib-Szene bürgt für mehr als nur Sprachwitz. Die Mehrdeutigkeit lotet Tiefen aus, die nicht genau zu ermessen sind. Anders gelagert, doch nicht minder aufgeladen, ist jene indirekte oder Meta-Schreib-Szene vor dem Besuch von Göran und Lars bei dem verehrten Schriftsteller Tage Aurell. Beiläufig bemerkt Göran, Jungspund in der Pose des Schriftstellers in spe, zu Lars: 119 Die Zählung beruht auf der Volltext-Recherche in meiner deutschen Übersetzung von Prästungen nach Wörtern und Wortstämmen beginnend mit ‚ schreib* ‘ / ‚ schrieb* ‘ / ‚ geschrieben ‘ , ‚ verfassen ‘ . 120 Im Abschnitt „ Szenen des Ghostwriting “ (Giuriato 2008: [21] - 37). - Volkening zitiert Stingelin (2004: 15) aus dessen Einleitung ‚ Schreiben ‘ (ebda.: 7 - 21) zu „ Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum “ . Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Die grundlegenden Kriterien zur Differenzierung von Schreibsituationen hat Rüdiger Campe formuliert in seinem Aufsatz „ Die Schreibszene. Schreiben “ (Campe 1991: 759 - 772; insbes.: 760, Fn. 12, sowie: 767). Zur Abgrenzung ‚ Schreibszene ‘ vs. ‚‚ Schreib-Szene ‘ verwendet Campe drei Aspekte: 1) „ Instrumentalität “ , 2) „ Geste “ , 3) „ Sprache “ . Martin Stingelins weitere Differenzierung basiert auf Campes Ansatz. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 72 2 PROLOG - Om vi skull ta å häls på Tage Aurell. Han bor ju i Mangskog, det går en buss dit klockan halv tre varenda dag. - Vi maste väl ringa först och fråga. - Ja, dä kan ja gör, sa jag. Jag ha brevväxla mä ’ n. - Jaså? - Fast han skriver just ittna ann ’ än FRID. Det är Kathrine som skriver öt ’ en. Men dä gör ittna. (PRÄ: 170) - Wir könnten mal Tage Aurell besuchn. Er wohnt ja in Mangskog, es fährt täglich um halb drei ein Bus hin. - Wir sollten wohl erst anrufen und fragen. - Ja, kann ich machn, sagte ich. Wir haben schon korrespondiert miteinander. - Aha? - Zwar, jetzt grad schreibt er nix andres als FRIEDN. Kathrine, seine Frau, schreibts ihm. Aber - s macht nix. 121 Göran gibt zu verstehen, dass er schon alles über das Schreiben von Büchern wisse: Der Mann gibt den Namen, die Frau, hier Kathrine Aurell, erledigt die Schreibarbeit! Das dritte Beispiel führt Göran als potenziellen Autor vor, der abgebrannt in Oslo festsitzt und dort eine ältere Dame nach dem Weg zu einer Straße fragt, an der ein Schriftsteller (Per Blokken) wohne, den er kenne: - Undskyld, sa jag. Kan dere si me hvor Lillebergveien trettini er? Jag pekade på det bruna omslagspappret där jag skrivit namn och adress. - Per Blokken, sa hon. Kjenner de ham? - Nei, sa jag. Men jeg skriver selv. - Aha, sa damen. De er vel en eventyrer. Da må De fölge oss opp i leiligheten, så skal je gi dem et kart. Vi bor like i naerheten. 122 (PRÄ: 252) - Entschuldigung, können Sie mir sagen wo der Lillebergsveien 39 ist? Ich zeigte auf das braune Umschlagpapier, worauf ich Namen und Adresse geschrieben hatte. - Per Blokken, sagte sie. Kennen Sie ihn? 123 - Nein, sagte ich. Aber ich schreibe selbst. - Aha, sagte die alte Dame. Sie sind wohl ein Fantast. Kommen Sie doch in unsere Wohnung hinauf, dann werde ich Ihnen einen Stadtplan mitgeben. Wir wohnen ganz in der Nähe. 121 Auf dem Grabstein von T. und K. Aurell auf dem Friedhof von Mangskog ist das Bibelwort Joh 14,27 eingraviert: „ Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch. [ … ] “ - 1954 erschien der Erzählband Liten fransk stad [Kleine Stadt in Frankreich] von Kathrine und Tage Aurell. 122 Zitiert gemäß Original: In Prästungen steht „ fölge “ statt følge, „ naerheten “ statt nærheten, „ me “ statt meg. Die Höflichkeitsformen von ‚ De ‘ sind abwechselnd groß- und kleingeschrieben. 123 Von Paal Brekke (1923 - 1993), dem „ Bahnbrecher für den lyrischen Modernismus “ (Thomas Seiler) können Bücher im Schaufenster aufgelegt gewesen sein. Den angeblichen Schriftsteller(kollegen) „ Per Blokken “ hingegen hat es nicht gegeben (ein Familienname ‚ Blokken ‘ lässt sich grundsätzlich nicht nachweisen). Die Stelle, mit ihren im Kontext vom Autor bewusst gesetzten Digressionen und Irrfährten, parodiert die Schreibweise des Schelmenromans. Auf der pragmatischen Ebene stellt sich die unentscheidbare Frage, ob der hingestreckte Zettel mit Namen und Adresse in der Tat jener ist, den Göran auf Hydra erhalten hat. - Zu Brekkes herausragender Bedeutung für die Literatur Norwegens siehe Seiler (1993). På tross av. Paal Brekkes Lyrik vor dem Hintergrund modernistischer Kunsttheorie. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 73 „ [I]ch schreibe selbst. “ Ein auto(r)-logischer Satz, Blankocheck für das Ausbleiben weiterer Antworten. Doch damit nicht genug. Denn eine Schreib-Szene wie diese - schreibender ‚ Hunger-Held auf den Straßen von Oslo ‘ - ruft Hamsuns Roman Sult (Hunger) von 1890 auf den hermeneutischen Zirkelplan. 124 Wie „ Syttende maj “ , die Überschrift des Kapitels, besagt, findet die in die Rahmenerzählung eingeschobene Miniatur am Nationalfeiertag statt. Das sind Setzungen voller Bedeutungen. Die Szene erweist sich denn tatsächlich als hochgradig konzentrierte Aufpfropfung, ein Palimpsest der besonderen Art. Das Buch mit dem namenlosen Antihelden, umgetrieben vor Hunger, hat Literaturgeschichte geschrieben. Tunströms „ Syttende maj “ liest sich wie eine spielerisch übermalte Reminiszenz an diesen Roman. Ein Remix. Ein Vergleich der beiden „ Hungerstellen “ soll dies vertiefen. Zu „ Per Blokken “ : Nicht nur ein lautlicher Chiasmus 125 liegt mit der Nennung dieses, im Verbund und in einem Atemzug mit „ Paal Brekke “ genannten Namens vor, vielmehr verdichtet die Stelle ein ganzes Bündel an Transtextualität (nach Genette). Norwegisch ‚ blokke ‘ ist (u. a.) das Wort für Notizblock, Schreibblock, ‚ Blatt. ‘ 126 Die angeblichen Kollegen „ Per Blokken “ und „ Paal Brekke “ evozieren somit still vereint die beiden (hl. Apostel) Peter und Paul. Ein erfundener und ein berühmter Schreiber von Briefen 127 , ein heiliger und ein ‚ unheiliger ‘ in einer unheiligen Allianz. Auf der phonologischen Ebene ertönt dabei, reduziert auf die Abfolge der Vokale von e-o x o-e, d. h. Per Blokken x Paal Brekke, die chiastische Abfolge von E und O / O und E (denn Paal 128 wird ja als ‚ o ‘ ausgesprochen). Dass Paal Brekke wie Göran Tunström beide zudem Pfarrerssöhne und zum angeblichen Zeitpunkt der erzählten Zeit (die Schaufensterauslage in der Buchhandlung von Oslo) und mehr noch zur Zeit der Niederschrift von Prästungen Mitte der 1970er-Jahre viel beachtete Autoren waren, lässt sie in eine unsichtbare Konkurrenz treten. Der Gedenktag (29. Juni im Kirchenjahr) der beiden Kirchenväter Hl. Peter (Simon Petrus) und Paul (Paulus) ist verflochten mit dem Todestag des Mannes der Frau, die sich des mittellosen Göran annimmt, was allerdings erst post festum, nach diesem Intermezzo in Oslo zur Sprache kommt. Göran erfährt es in einem, ihm Jahre später zugestellten Brief vom Sohn Gustaf der Dame, der Syttende maj sei auch der Todestag seines Vaters und [ … ] … därför firade de aldrig utan levde i stillhet och besökte kyrkogården. De kom därifrån och mötte mig. Det hade fått dom att glömma, skrev han, den stora tragiken. (PRÄ: 254) … deshalb würden sie nie feiern, sondern lebten in aller Zurückgezogenheit und besuchten an diesem Tag nur den Friedhof. Von dort seien sie gekommen, als sie mir begegneten. Das habe sie, so hat er geschrieben, die große Tragik vergessen lassen. Somit konvergieren Tod (eines Nächsten: Trauer) und Leben (Geburt einer Nation: Freude) in einer weiteren chiastischen Volte, doch diese - im Gegensatz zu den anderen, die 124 Vgl. Fechner-Smarsly (1991). Der Autor kommt in seiner Studie Die Wiederkehr der Zeichen. Eine psychoanalytische Studie zu Knut Hamsuns, zum Schluss, dass „ ,Sult ‘ auf ein Ziel zu [hält], das ich die ‚ Wahrheit des Subjektes ‘ nennen möchte. “ (ebda.: 161) 125 „ Aha, da lagen Per Blokken und Paal Brekke “ im Schaufenster, sagt Göran zu sich. 126 Vgl. Hustad (1979: 60): „‚ blokk ‘ (3): B-, Notizb-, Schreibb-, Stenogrammb-, Zeichenb-, [/ / ] (ebda.: 69: ‚ brekke ‘ : steile Steigung, steiler Hügel. “ 127 Dem urchristlichen Missionar Paulus von Tarsus werden sieben Briefe testiert: „ An erster Stelle stehen die autobiographischen Zeugnisse der authentischen P.-Briefe [Röm.; 1. und 2. Kor.; Gal.; Phil.; 1. Tess.; Phm. [ … ] “ . Siehe dazu Weiß (1994: 45). 128 In der schwedischen Ausgabe fehlerhaft ‚ Pal ‘ , statt Paal oder Pål geschrieben. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 74 2 PROLOG fortdauern - , löst sich, denn die Begegnung verdrängte „ die große Tragik “ , wie wir erfahren. Mit Michel Serres ist Göran der ‚ Beziehungsparasit ‘ 129 : der ungebetene Gast auf der Straße geht als Dritter aus dem „ Widerstreit “ - dem imaginären Kräfteverhältnis der beiden Antagonisten Feiertag vs. Trauertag - genährt hervor. Der Hunger, auch jener nach einem „ Gespräch “ , ist einstweilen gestillt, der Geldbeutel nicht länger leer. Die zehn Kronen, die Göran erhält, bilden eine Referenz zu Hamsuns Hunger, wo dessen Schreiberling u. a. einen Vorschuss im Betrag in derselben Höhe in Empfang nimmt. Göran, im Gegensatz zu Hamsuns Hungerkünstler, der sich als „ Andreas Tangen “ 130 ausgibt, bekommt denselben Betrag als Weggeld bedingungslos und versteckt in die Hand gedrückt, beim Abschiedsgruß an der Østbanestasjon, er kann auf seiner Weiterreise darüber verfügen, denn er wurde von der fürsorglichen Dame verköstigt. Als sie merkte, dass er Hunger hat, bat sie ihn am Vorabend in ihre Wohnung hoch, wo er auch übernachten kann. Auch Hamsuns Antiheld in Sult/ Hunger musste Treppen hochsteigen, um auf der Redaktion im ersten Stock - aus Männerhand - die zehn Kronen entgegenzunehmen. Die mütterliche Figur wird von Göran innerlich mit seiner realen Mutter in Verbindung gebracht, wenn er sinniert: Jag hade ingenting att försvara i hela världen. Jag var en skit, jag längtade efter såna här gamla damer, som man kunde tala med. Hemma i Sunne satt mamma, henne gick det inte att snacka ett ord med, de här människorna skulle jag snart lämna, det var ingen mening med att inte tala sant. (PRÄ: 253) Nichts auf der ganzen Welt hatte ich zu verteidigen. Ich war ein erbärmlicher Kerl, ich sehnte mich nach solch alten Damen, mit denen man reden konnte. Daheim in Sunne saß Mutter, mit ihr konnte man kein Wort reden, diese Menschen da würde ich bald wieder verlassen, es wäre sinnlos, nicht die Wahrheit zu sagen. Hier kreuzen sich nicht nur äußerlich zwei unterschiedliche Mutterbilder, es kollidieren Kommunikation vs. Kommunikationslosigkeit in Form der Erfahrung, dass einer sich (unterwegs) jemand Fremden oft leichter öffnet als einer ihm nahestehenden Person (im vertrauten Umfeld). 131 Die Dame, die freimütig gibt, ist das pure Gegenteil zu Hamsuns Wirtin, die für das Zimmer auf die zehn Kronen wartet und ausspricht „ deshalb kann ich hier leider niemand auf Kredit wohnen lassen …“ (Hamsun 2010: 188). 129 1959 fiel der „ Syttende maj “ auf Pfingstsonntag. Vgl. hierzu Serres (1981: 74) im Kap. „ Pfingsten “ (ebda.: 66 - [88]): „ Die abgenutztesten Wörter der Welt tragen zuweilen ein unerhörtes Gepränge zur Schau. “ Die Szene ‚ spricht ‘ den Geist der Liebe und zugleich in mehreren „ Zungen “ (Schwedisch und Norwegisch). Und: „ Die Gnade fließt in dem Strom zwischen Worten und Dingen, sie fließt zwischen den Kanälen, in denen substantielle Nahrung und tönende Stimmen fließen, sie wandert zwischen den Austauschprozessen von Energie und Information, in jenem Zwischenraum, Äquivalenzenraum, in dem die Sprache entsteht, in der ihr Feuer entsteht, wo sie die Dinge, von denen sie spricht, entstehen lässt: instabile Abweichung von der Ekstase und von der Existenz, von Inkarnation und Himmelfahrt, vom Brot und von der Taube. “ (Serres 1981: 77 - 78). 130 Hamsun (2010: 75): „ Name? , fragte der Wachhabende. / Tangen - Andreas Tangen. / Ich weiß nicht, warum ich log. “ Norwegisch ‚ Tangen ‘ = die Zange (bot. = der Tang). Tangen und Tunström verkoppelt die beiden durch ihre Anfangsbuchstaben und mit der ‚ Achse ‘ der Lüge zu einer ‚ Zange ‘ , einem mobilen „ Chiasmus “ . 131 Vgl. Watzlawick (2011). Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, darin insbesondere das 6. Kapitel Paradoxe Kommunikation, dort 6.446: „ Vertrauen - das Gefangenendilemma “ (ebda.: 209 - 212). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 75 Ein weiterer Chiasmus steckt in der (metonymischen) Parallele oder ‚ Überschreibung ‘ des „ Minister Happolati “ durch „ Per Blokken “ . Hamsuns Protagonist gibt vor, diesen Minister aufsuchen zu wollen: „ Ich erfand in aller Eile einen Namen. “ [ … ] Die Wirtin: „ Wie heißt ihr Vermieter? “ [ … ] „ Happolati, sagte ich. “ (ebda.: 29). Eine nicht kleinere Notlüge als ein schriftstellernder ‚ Per Blokken ‘ , der am Lillebergveien 39 wohne am anderen Ende Oslos, vom Akersvejen aus gesehen. Happolati residiere in Persien, dichtet Hamsuns Hungerkünstler. Eine multiple transformatio liegt in dieser Reverenz Tunströms an Hamsun vor: geografisch von Norwegen nach Persien, hierarchisch vom titellosen Schreiber zum Titel tragenden Minister, kulturell und graduell vom bekannten Norwegischen/ Nahen zum Unbekannten Fernen/ Exotischen, vorausgesetzt, dass „ Persien “ für das Land der Märchen und damit für Wundervolles steht. Obschon hier nicht erschöpfend nach allen Interdependenzen hin ausgeleuchtet, spricht diese diegetische Transposition exemplarisch aus, was schon Homer wusste. Umberto Eco dazu in seiner Nachschrift zum „ Namen der Rose “ : „ Alle Bücher sprechen immer von anderen Büchern, und jede Geschichte erzählt eine längst schon erzählte Geschichte. “ (Eco 1984: 28) Am Ende seiner Oslo-Episode in diesem Mai 1959 und damit am Ende des Kapitels, kehrt Göran per Anhalter nach Karlstad zurück, von wo er sich nach Spanien aufmachen wird, während Hamsun auf den letzten Zeilen seinen Hunger-Helden im Hafen von Oslo auf einer Barke nach Leeds anheuern lässt; beide Helden brechen auf ins Ungefähre. 132 Eine wichtige Differenz indes bleibt bestehen. Göran war in „ Syttende maj “ zusätzlich zur gütigen Dame von Oslo in Karlstad an einem Fest der Liebe seines Lebens begegnet. Obschon, oder, gerade weil er sich von der Attraktion Malins gefangen fühlt, reißt er sich fort von ihr, sagt aber, als sie ihn zum Bleiben zu bewegen versucht, vorausblickend 133 : - Det är försent. Men jag kommer tebaks om fem år och frågar om du vill gifta dig med mig. Om du finns kvar! (PRÄ: 251) - Zu spät. Aber ich komme in fünf Jahren wieder und frage dich, ob du mich heiraten willst. Wenn du noch da bist! Es „ kreuzen sich “ in der Person Göran in „ Syttende maj “ also nicht bloß seine Erfahrung des Eros (verkörpert durch Malin) und der Agape (personifiziert in der Dame von Oslo). Der Hunger-Studie von Fechner-Smarsly folgend, der Hamsuns Hunger-Helden „ Flucht aus Christiania auf einem Schiff, [als] Symbol des Todes und der Phantasie “ liest, 134 lässt die Weiterreise Görans zu Fuß und per Anhalter 135 als den weitaus vitaleren Buchschluss erscheinen. 132 Ein Ende mit „ Ankündigung “ : Göran hatte schon „ alle Brücken “ hinter sich abgebrochen, als er, auf einer (weiteren) Schwelle, der Grenzbrücke zwischen Norwegen und Schweden meint (PRÄ: 251 - 252): Ich hatte Hunger, die Faluwurst verzehrte ich bereits, als ich auf der Svinesundbrücke stand, nicht eine Öre besaß ich jetzt mehr, aber was machte das schon. 133 Es haftet dem Abschiedsmoment eine nicht tragische orphische Dimension an, denn die Verheißung wird eingelöst und die Geliebte vom Dichter in sein Leben zurückgeholt. - Diese im Text angedeutete Lebensfährte wirkt wie eine „ aufgeschobene (differée) Gegenwart “ ; vgl. Derrida (1988 a: 35). 134 „ Bezeichnenderweise erfolgt die Flucht aus Christiania auf einem Schiff, Symbol des Todes und der Phantasie. “ (Fechner-Smarsly 1991: 37). 135 Ebenfalls scheinen Jack Kerouacs trampende Helden aus Unterwegs (On the road, 1957) der Passage Pate gestanden zu haben; wie ‚ Beatnik ‘ Göran sind sie verliebt ins Reisen, sie suchen Idole auf (bei Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 76 2 PROLOG Die folgende Szene erstreckt sich im (wegen ihrer ord/ Wort-Stelle) bereits früher erwähnten Kapitel „ Die Poeten “ an zentraler Stelle im Buch über mehrere Seiten (PRÄ: 116 - 124). Sie ist ein hybrides Konzentrat von Schreibszenen und Schreib-Szenen, spielt sich im Wald sowie imaginiert im Kopf Görans ab. Als Erstes reflektiert er die Gründe für oder gegen den Beruf des Schriftstellers: Även måleriet lockade, men eftersom det var svårt att välja stil - Lars Svensson hade på sin vägg både Picassos Guernica och en kanalbild av van Gogh - beslöt jag mig för att tillsvidare avstå den karriären. Som diktare var jag bättre förberedd. Hade jag inte i mina dagböcker redan knåpat ihop tjugotre fantastiska romantitlar, bl a „ Adam utan Revben “ samt ett flertal inledningsmeningar: „ En dag, när jag gick på Vesterbrogade i Köpenhamn …“ Det var meningar som öppnade världen mot äventyr och smärtsamma insikter. Eftersom vi ännu inte slutat skolan och inte var mer än femton år, beslöt jag mig för attt vänta med romanskriveriet och under några år skriva dikter. Dikter är ju väsentligen kortare än romaner. Vi grep oss genast verket an. (PRÄ: 116) Auch die Malerei lockte. Aber da es schwerfällt, sich für einen Stil zu entscheiden - Lars Svensson hatte an seiner Wand sowohl Picassos Guernica wie auch ein Kanalbild van Goghs - , beschloss ich, von dieser Karriere vorerst abzusehen. Als Dichter war ich besser vorbereitet, hatte ich doch in meinem Tagebuch schon dreiundzwanzig fantastische Romantitel zusammengeschustert, u. a. „ Adam ohne Schlüsselbein “ sowie mehrere Einleitungssentenzen: „ Es war Nacht. Sebastian konnte nicht schlafen “ „ Eines Tages, als ich in Kopenhagen über die Vesterbrogade ging …“ Das waren Sätze, die der Welt Abenteuer und schmerzvolle Einsichten eröffneten. Aber da wir die Schule noch nicht abgeschlossen hatten und nicht älter als fünfzehn waren, entschloss ich mich, mit dem Romaneverfassen zu warten und dafür ein paar Jahre lang Gedichte zu schreiben. Gedichte sind doch wesentlich kürzer als Romane. Wir machten uns umgehend ans Werk. In Görans Traum als künftiger Schriftsteller sind Prozessualität und Problematisierung des Schreibens amalgamiert, er oszilliert zwischen Schreibszene und Schreib-Szene. „ [D] reiundzwanzig fantastische Romantitel “ , diverse Varianten von Einleitungssätzen konkurrieren in der Imagination des Schreibaktes in Form eines Füllhorns von ausgedachten Romantiteln und Anfangssätzen, die alle einander den Rang streitig machen. Göran „ schreibt “ zudem um die Wette mit Antagonist Lars. Die Selbstdeklaration dieser Szene liest sich wie eine spielerische Vorschule für das ‚ richtige ‘ Schriftstellerleben. Doch ist es nicht so weit, Göran fühlt sich noch nicht ermächtigt, Eigenes zu schreiben. Er betätigt sich als Abschreiber: „ Varför skulle jag redan fläcka rena sidor med mitt? “ (PRÄ: 117) [Weshalb sollte ich reine Seiten schon mit dem Meinigen beflecken? ], stellt er fest. Das Bekenntnis der (Selbst-)Initiation zum Schreiben via Abschreiben bestätigt eine Wahrheit des Schreibens, wie sie Hans Jost Frey am Beispiel von Rilkes „ Erzähler - oder Aufzeichner “ in dessen Malte Laurids Brigge deutet: „ Als Schreiben von schon Geschriebenem und damit Vorhandenem ist es [sc. das Abschreiben] eine Art von Aufschreiben. [ … ] Gleichzeitig ist aber das, was der Abschreiber schreibt, ‚ als wäre es meiner Hand entsprungen wie Eigenes ‘ , ein Kerouac Jazz-Stars, bei Tunström literarische Größen) oder treten als Liebende auf. Tunström reflektiert in Under tiden: „ Resandet näst Kärleken är den Högsta Märkvärdigheten. “ (U TI: 126) [Das Reisen ist nebst der Liebe die Höchste Kostbarkeit). In Tunströms Kompositum „ Högsta Märkvärdigheten “ , in Versalien gesetzt, schwingt Höga Visan, das Hohelied Salomos aus dem Alten Testament, mit. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 77 Fremdes, das ihn ebenso in Besitz nimmt, wie er es aneignet. [ … ] Abschreiben als eine Tätigkeit, in der sich das ängstliche Bekenntnis zum Bekannten mit der Auslieferung an das Fremde verbindet, ist sowohl Aufschreiben als auch Geschriebenwerden. “ 136 Die angeführten Beispiele haben das Repertoire an Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen längst nicht erschöpfend wiedergegeben. Noch nicht erörtert wurden heterogene Schreibszenen, darunter die folgende: - Skall jag skriva autograf, bokstaverar Gunder och skrattar lite åt mig. (PRÄ: 32) - Soll ich Autogramm schreiben, buchstabiert Gunder und lächelt verschmitzt. Gunder Hägg, „ der schnellste Mann des Universums “ , sagt dies im gleichnamigen Kapitel spitzbübisch zum Autogrammjäger Göran, wie dieser von ihm ein Autogramm erbettelt. Die Anekdote ist von Tunström, wie oben erwähnt, reine Erfindung. Zuletzt soll die entscheidende, bereits erwähnte Schreib-Szene kommentiert werden, die an das (offene) Ende der Erzählung heranführt: När romanen var halvskriven slutade jag plötsligt. Det får räcka så här, sa en röst, mitt i en mening. Huvudpersonen befann sig på ett hotellrum i Athen med en billig flicka, på en punkt där utanförstående och hopplösheten var total. Det stämmer nu, sa rösten. Allt annat du kommer att skriva från den här punkten blir lögner, konstruktioner. (PRÄ: 268 - 269) Als der Roman zur Hälfte geschrieben war, hielt ich auf einmal inne. Es reicht, sagte eine Stimme, mitten in einem Satz. Die Hauptperson befand sich in einem Hotelzimmer in Athen mit einem billigen Mädchen, an einem Punkt, an dem Isoliertheit und Hoffnungslosigkeit total waren. Bis hier stimmt es, sagte die Stimme. Alles andere, was du von diesem Punkt an schreiben wirst, sind Lügen, Konstruktionen. Das Versagen des literarischen Schreibens wird durch ein medizinales Schreiben aufgehoben. Die innere Stimme, die sich beim Autor zu Wort meldete, führt ihn, begleitet von seiner Mutter, auf der folgenden, letzten Seite (PRÄ: [271]) 137 in die Sprechstunde zu einem Arzt, der ihm den Aufenthalt in einer Klinik verschreibt. Dass Schreiben, so wie der Spracherwerb, einem steten Entwicklungsprozess unterliegt, und wie diese Vorgänge mit den Lese- und Bücherszenen von Prästungen aufeinander einwirken, wird im Kapitel 2.3.5 kontextualisiert. 2.3.2 Leseszenen in Prästungen Vor dem Lesen, eine Kunstfertigkeit, die sich jeder Mensch so wie die Sprachfertigkeit erst aneignen muss, kommt das (Zu-)Hören, eine Kulturtechnik, die jedem Menschen, sofern er nur seine Ohren öffnet, scheinbar gegeben ist. So steht vor allen Leseszenen in Prästungen eine klassische Vorlese-Szene, in der sich das Kind seine Bilder und seine Welt durch Zuhören (noch ohne Kenntnis der Bedeutung der Buchstaben) vorstellt, wenn es heißt (PRÄ: 11): 136 „ Die Langsamkeit macht das Abschreiben auch als die rituelle Handlung erkennbar, die es für Malte ist, und die er als Beten beschreibt. “ (Frey 1998: 68). 137 Im Porträt der Mutter auf der gegenüberliegenden Seite (PRÄ: [270]) sind ihr der Kummer über diesen Befund ins Gesicht geschrieben: es ist die letzte der insgesamt achtzehn, den Text kontrapunktierenden Illustrationen aus der Feder von Lena Cronqvist. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 78 2 PROLOG Jag vet hur världen ser ut: när man somnar skall någon komma in och läsa en saga och stryka en över ryggen. Om de inte gör det är det är det något som är fel. För en del saker är fel, andra är rätta. (PRÄ: 11) Ich weiß, wie die Welt aussieht: Bevor man einschläft, muss jemand zu einem hereinkommen und ein Märchen vorlesen und einem über den Rücken streichen. Wenn das niemand tut, stimmt etwas nicht, denn es gibt Dinge, die stimmen und andere nicht. Hören ist die Vorschule der Konzentration und Aufmerksamkeit, mit der die, für das Verständnis der Linearität der zum Wort, Satz und Text, somit zur Erzählung sich reihenden Buchstaben, eingeübt wird. Lesen und Vorlesen (vgl. auch PRÄ: 42) ist eng mit Görans beiden Vorbildern verbunden: In erster Linie mit seinem Vater (und seiner Bibliothek), aber auch mit Kumpan Lars und dessen Lektürematerialien. Prästungen ist voller Leseszenen. Die folgenden Beispiele mögen dies exemplarisch illustrieren. 2.3.3 Beispiele von Leseszenen Lesen hat in diesem ersten Beispiel eine pragmatische, sozialhierarchische Bedeutung. Der ältere (Göran) kann schon lesen, sein jüngerer Bruder (Staffan) noch nicht. Deshalb darf er das Paket, das ein Buch enthält, nicht in Empfang nehmen, wenn es an die Türe klopft und Lars davorsteht. Det snöar ute, han har en bunt blöta tidningar under armen. Han tar bort tidningarna och räcker mig ett hårt paket, som nog är en bok. Lars Svensson och jag, vi kan läsa, Staffan kan det inte, så han får inget paket. (PRÄ: 38) Draußen schneit es. Unter dem Arm hält er ein Bündel nasser Zeitungen. Er nimmt die Zeitungen weg und überreicht mir ein hartes Paket, darin wohl ein Buch ist. Lars Svensson und ich können lesen, Staffan nicht, also kriegt er auch kein Paket. Wie eng Lesen und - insbesondere in der Adoleszenz, in der gerade auch durch das Lesen (von Büchern) viele neue Welten aufgehen - Spannung und Erwartung miteinander verknüpft sind, zeigt nachfolgende Leseszene, im Grund eine Lese-Szene, mit Implikationen, Rückblenden und Vorausblenden im Kotext von ganz Prästungen. Sie basiert auf der Lektüreerfahrung der damals und lange noch, bei Knaben, äußerst populären Biggles- Bücher von W. E. Johns, eine Lektüre, die jeden „ echten Jungen “ in Bann hielt. 138 Jag vill dö, så att jag kan få fortsätta att prata med honom. Det är några Bigglesböcker han inte last färdigt: jag måste veta vad han tycker. Pappa kan böckerna åt mig. Det är några frågor, som han inte hann att besvara, och man måste få svar. Av honom. För det finns ingen annnan som kan. (PRÄ: 94) Ich will sterben, um weiter mit ihm über Bücher sprechen zu können. Es hat noch Biggles-Bücher, die er nicht fertiggelesen hat: Ich muss wissen, was er von ihnen hält. Papa kann Bücher für mich beurteilen. Es gibt noch einige Fragen, die er nicht mehr beantworten konnte, und man braucht doch Antworten. Von ihm. Es gibt nämlich sonst niemand, der das kann. 138 Der Erfolgsautor und Schöpfer der „ Biggles “ -Figur, W. E. Johns (1893 - 1968) hat nach seinem Erstling von 1932 bis ans Lebensende gut weitere 100 Titel mit Abenteuern seines Fliegerhelden publiziert. 1940 erschien mit Biggles flyger österut [Biggles fliegt gen Süden] erstmals eine schwedische Übersetzung; im Katalog der Schwedischen Nationalbibliothek finden sich knapp 300 Titel von und über Biggles. Vgl. https: / / regina.kb.se/ primo-explore/ search? query=any,contains,W.%20E.%20johns%20biggles&tab=default_tab&search_scope=ALL&vid=46KBS_VU&lang=sv_SE&offset=0 (abgerufen am 25.08.2021). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 79 Zum Lesen dazu gehört, sich ein Urteil über das Gelesene zu machen, im gemeinsamen Gespräch mit einer Person, die Lesekompetenz hat und Literatur „ beurteilen “ kann. Und das ist für Göran mit Absolutheit Vater, sodass er - als Schriftsteller Göran Tunström - auf dem Weg des Schreibens von Büchern dies Gespräch über Bücher durch seine Autor-Genese „ fortzusetzen “ versucht. Die beiden Onkel, Magnus und William, sind für Görans Biggles- Bücher nicht zu gewinnen: „ Inte hade de velat läsa mina Bigglesböcker och säga något om dom. “ (PRÄ: 95) [Meine Biggles-Bücher wollten sie nicht lesen und sich nicht dazu äußern.] Das hieß für Göran: kein Gespräch. 139 Über Bücher nicht, aber auch nicht über anderes. Kein Dialog. Kein Gegenüber. Auch sonst sind die beiden für Göran alles andere als ein Vaterersatz. Die Enttäuschung wird noch größer und es zeigt sich, dass ein Abgrund zwischen den Lese-Welten von Göran und seinen Onkeln besteht, die an die Stelle von Vater hätten treten sollen. Obschon Göran „ noch den einen und anderen Canossagang zu ihnen “ (PRÄ: 100) antrat und das Gespräch gesucht hatte, kommt es indirekt - über die Erzählung einer belehrenden Anekdote durch Onkel Magnus - zum endgültigen Bruch: - Det finns bara två författare, som det är något med. N. P. Ödmann och Ben Gurion. Tänk hur engelsmännen bar sig åt! Du menar inte att du inte läst Ben Gurion! (PRÄ: 101) - Es gibt nur zwei Schriftsteller, mit denen es etwas auf sich hat. N. P. Ödmann und Ben Gurion. Denk daran, wie die Engländer sich benommen haben! Du willst doch nicht etwa sagen, dass du Ben Gurion nicht gelesen hast! Nachdem Onkel Magnus vergeblich mit ‚ lustigen Geschichten ‘ , die bei Göran nicht ankommen, Ödmanns Grandiosität glaubhaft zu machen versuchte, also nicht mit eigenen Worten spricht, sondern Angelesenes aufwärmt, und Göran ihm daraufhin widerspricht, endet diese eklatante Nicht-Kommunikation mit der Empörung des Älteren: „- NP ljuger aldrig. NP är en hedersman. Men såna begrepp är väl okända nu för tiden. “ (PRÄ: 102) [ - N. P. lügt nie. N. P. ist ein Ehrenmann. Doch heutzutage scheint man solche Begriffe nicht mehr zu kennen.] Fundamentales tritt hier zu Tag. Verschiedene Lese-Welten können Lebens-Welten verbinden oder, wie hier, komplett kappen. Lesen bildet nicht nur, mit dem geistigen Lebensmittel ist oft ein ganzer Kosmos, eine ganze Haltung, verbunden. In erster Linie steht ‚ Lesen ‘ in Tunströms Prästungen im Zusammenhang mit (literarischer) Bildung. Das lässt sich exemplarisch im Kapitel „ Poeterna “ [Die Poeten] nachlesen. Göran steht weiter im Schatten von Lars und hat immer noch nicht zum eigenen Wort gefunden. Er beobachtet Lars: Men han hade läst många fler dikter än jag. Han måttade igen och skrev: Snön smälter på grenarna En katt gäspar på förstutrappan Våren - (PRÄ: 122) 139 Ganz im Sinn Tunströms, wie er in Under tiden formuliert: „ Den sortens roman jag ville skriva måste vara polyfonisk, därför måste den övergripande formen [ … ] kunna binda samman alla de möten jag ville undersöka, relationsspelet, eftersom vi människor i Bubers anda ju är relationer, inte slutna system. “ (U TI: 114) [Die Art Roman, die ich schreiben wollte, musste polyfonisch sein, deshalb musste die übergreifende Form [ … ] all die Begegnungen zusammenhalten können, die ich untersuchen wollte, das Relationsspiel, da wir Menschen doch im Geist Bubers Relationen sind und keine geschlossenen Systeme.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 80 2 PROLOG Doch er hatte viel mehr Gedichte gelesen als ich. Wiederum nahm er Maß und er schrieb: Der Schnee schmilzt auf den Zweigen Auf der Eingangstreppe gähnt eine Katze Der Frühling - Hier stehen Lesen und Schreiben auf demselben Blatt, auf Tuchfühlung. Prästungen reiht Leseszenen aneinander. Leseszenen im Buch beleuchten soWalcotts „ We read, we travel, we become “ . Die Erzählung von Görans Lesebiografie ist ein langer Selbstreflexionsprozess. Seine Lesesozialisation profiliert sich auch in einer Wissens-Konkurrenz. Ausgehend vom anfänglich einsamen Lesen in Alltagsituationen nähert sie sich im gemeinsamen Lesen mit Lars literarischen Texten, um so zum Schreiben überzuleiten. Lesen und sich messen an Vorbildern sowie untereinander, fördert das (spätere) eigene Schreiben. Im Kapitel „ Vatten kann rinna uppåt “ [Wasser kann aufwärts fließen] liest Lars eine Liste geografischer Namen von einem Blatt ab, bis ihn Göran bei ‚ Medelpad ‘ unterbricht und behauptet, das Wort gebe es nicht. Um das zu widerlegen, kramt Lars seinen Atlas ( „ kartboken “ ) aus dem Rucksack hervor, und Göran bekommt mit eigenen Augen zu lesen: „ Medelpad, lika tydligt som alla andra landskap. “ (PRÄ: 22 - 23) [Medelpad, genauso deutlich wie alle anderen Landschaften.] Mit der Unkenntnis des Namens der Provinz Medelpad blamiert er sich vor Kajsa so tief, dass er sein Image umgehend mit Imponiergehabe - einem halsbrecherischen Gang auf brüchiges Eis hinaus - aufzubessern versucht. Eine (Helden-) Tat sollte das Unwissen des Worts wettmachen. Im Kapitel „ Brylépuddingsövergreppet “ [Der Crème brûlée-Übergriff] dient Lesen als Wahrheitsbeweis, wenn Göran vor der angebeteten Elisabeth mit Vaters Gästebuch und einem Eintrag darin von einem Besuch eines Pastors aus Trinidad prahlt. (Zudem dient das Moment zur Erhöhung seines sozialen Ansehens.) Göran bietet Elisabeth die Stelle zum verifizierenden Lesen an: Du kan få läse namne hans i våran gästebok öm du vill! (PRÄ: 46) Du kannst sein ‘ Namen in unserm Gästebuch lesen, wenn de willst! Bei der nächsten Szene (hier nur mit dem Kernsatz daraus zitiert) geht es um ‚ Verbotene Lektüre ‘ oder ‚ Schundliteratur ‘ : Hos Lindus kan man dala och läsa Pigge och Gnidde-tidningar [ … ] (PRÄ: 53) Bei Lindus kann man hangeln und Katzenjammer Kids-Hefte lesen [ … ] Was es im Pfarrhaus nicht zu lesen gibt, ist umso attraktiver, als es dieses verbotene Lesefutter andernorts und überdies noch ohne Sanktionen zu lesen gibt. Katzenjammer Kids-Comics 140 waren tabu für Vater Tunström, für ihn heißt lesen: das geschriebene Wort lesen, nicht Bildchen mit Sprechblasen in Magazinen anschauen. Mit dem Waldarbeiter John Vingren gerät ein ausgesprochener Nicht-Leser in den Blickpunkt. Ein Leser von Åhlén & Holms-Katalog ist in erster Linie ein Betrachter neuester Kleidermode, inklusive Kollektionen der Damenunterwäsche, abgebildet im Versandka- 140 Mehr zu dieser, von Rudolph Dirks (1877 - 1968) erfundenen Comic-Reihe, in Schweden als „ Pigge och Gnidde “ -Hefte bekannt: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ The_Katzenjammer_Kids (abgerufen am 02.08.2021). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 81 talog des Stockholmer Warenhauses gleichen Namens. 141 Vingrens „ Lesen “ hat denn weniger mit Buchstaben zu tun als vielmehr mit ‚ Studieren ‘ von Abbildungen und sieht eher kurios aus: Han stank av piss och smuts och tillbringade all sin lediga tid vid bordet läsande Åhlén och Holms katalog. (PRÄ: 118) Er roch nach Pisse und Dreck und verbrachte seine gesamte Freizeit am Tisch und studierte den Åhlén & Holms-Katalog. 142 Die Szene spielt sich im Kapitel „ Poeterna “ [Die Poeten] ab und bildet somit den Gegenpol zu dem hehren Ziel der „ Dichter “ , Künstler des literarischen Wortes zu werden und sich der ‚ hohen Literatur ‘ hinzugeben. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es bekanntlich mehr als das Blättern in einem Warenhauskatalog. Bücher der Weltliteratur werden herangezogen. 143 2.3.4 Bücherszenen in Prästungen Zu den Bücherszenen werden auch solche mit literarischen Vorbildern miteinbezogen. Bücherszenen sind zwangsläufig durch das Medium Buch mit Leseszenen verknüpft. 144 Wie sehr Göran Tunström (seine) Bücher schätzte, sei mit dem Zitat aus seiner Kolumnensammlung Krönikor „ Tyngden av prylar “ [Das Gewicht von Plunder] vom Januar 1993 hervorgehoben: „ Jag har aldrig kunnat göra mig av med böcker. De är heliga, de är - tillräckligt ofta - hjärteblod, ensamma timmars slit och tystnad, glädje. Inför dem borde man liksom forna tiders timmerhuggare innan de fällde ett träd, ta av sig hatten och buga. “ (KRÖ: 22) [Ich konnte Bücher nie weggeben. Sie sind heilig, sie sind - oft genug - Herzblut, Plackerei einsamer Stunden und Stille, Freude. Man müsste vor ihnen, wie die Holzfäller alten Schlags, bevor sie einen Baum ummachten, den Hut ziehen und sich verneigen.] 2.3.5 Beispiele von Bücherszenen Die folgende Bücherszene spielt in der Fjellstedska Skolan von Uppsala Anfang der 1950er- Jahre und nimmt eine zentrale Rolle in Prästungen ein. Das längere Zitat möge dies veranschaulichen: Men en dag kom En av De Få in på rummet i Hades och sa: - Jag såg en bok hos Viktor, som jag tror skulle intressera dig. Jag tjänade pengar på att sitta barnvakt under helgerna. För pengarna kunde jag köpa böcker. Nu ägde jag åtta kronor. 141 Mit dem Kaufhaus Åhléns City ist das 1899 von Johan Petter Åhlén und Erik Holm als Versandhaus gegründete Unternehmen bis heute im Zentrum Stockholms präsent. 142 Schwedisch ‚ läsa ‘ kann auch die Bedeutung ‚ studieren ‘ annehmen. 143 Strindberg hierzu in Der Sohn der Magd: „ Die Entwicklungsgeschichte einer Seele zu schreiben, kann bisweilen mit einer schlichten Bibliographie erledigt werden, denn ein Mensch, der in kleinen Kreisen lebt und den besten persönlich nie begegnet, sucht ihre Bekanntschaft in den Büchern. “ (FSA 4: 328, in Zweiter Teil, 9. „ In den Büchern und Auf der Bühne (1870) “ ) 144 Die besonders eindrücklichen Beispiele sind mit der Szene auf Kolsnäsudden und jener im Magazin bereits vorgängig zur Sprache gekommen, vgl. dazu Kap. 2.2.1. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 82 2 PROLOG Abb. 4: Prästungen, S. [151], Illustration: Lena Cronqvist Boken hette „ Vistelse på jorden “ : Dikter av F Garcia Lorca och P Neruda. Tolkade av Artur Lundkvist. Det var som om en geysir sprutat upp ur marken, strax under mina fötter. Det var som om en stor grön våg sköljde bort hela Uppsala, alla mina norrländska fattig-kompisar, allt stillastående. Det var den första känslan av röreslse under hela skoltiden. Grönt, jag älskar grönt Grön vind. Gröna grenar. Skeppet på havet Och hästen på berget. Med skuggan kring midjan drömmmer hon på balkongen, grönt hull, gröna lockar och ögon av kallt silver … (PRÄ: 150/ 152) 145 Aber eines Tages kam Einer der Wenigen aufs Zimmer im Hades und sagte: - Ich sah ein Buch bei Victor, das dich, glaube ich, interessieren könnte. Mit Kinderhüten verdiente ich an den Wochenenden etwas Geld. Damit konnte ich Bücher kaufen. Jetzt besaß ich acht Kronen. Das Buch hieß „ Besuch auf der Erde. Gedichte von F. Garcia Lorca und P. Neruda. Übertragen von Artur Lundkvist. “ 145 Hervorzuheben im folgenden Zitat ist die plötzliche, für das Schwedische, ungewöhnliche Großschreibung „ Einer der Wenigen “ und dass das Zimmer (nach) Hades, dem Herrscher über das Totenreich, i. e. über die Unterwelt, zugeordnet wird. Lorcas Gedichte jedenfalls würden Göran aus diesem Reich der Leblosigkeit für immer verbannen und sein „ Blut in Zirkulation “ bringen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 83 Es war, als hätte aus der Erde ein Geysir gespuckt, exakt unter meinen Füßen, als spülte eine große, grüne Woge ganz Uppsala davon, samt meinen norrländischen Armen-Freunden, allem Stillstand. Es war das erste Gefühl von Bewegung während der ganzen Schulzeit. Grün wie ich dich liebe grün Grüne Brise. Grüne Äste. Auf dem weiten Meer das Schiff und das Pferd auf steilen Bergen. Dunkle Schatten um die Taille, steht sie träumend am Geländer, grünes Fleisch, die Haare grün, in den Augen Silberkälte. Diese Worte aus Lorcas Hypnotische Romanze (Ders. 2002: 21) öffnen Göran schlagartig die Augen - er sieht die gleiche, alte Wort-Welt mit anderen Augen. Die Szene ereignet sich im mittleren Teil von Teil II, im Kapitel „ Federico Garcia “ . Sie markiert eine Wende in einem Moment, in dem Görans Leben vom intensiven Bibelstudium bestimmt sein sollte, denn die Fjellstedtska Skolan in Uppsala bildet junge Seminaristen zu Pastoren aus, die Gottes Wort in Schwedens evangelisch-lutherischen Kirchen (zu seiner Zeit noch die Staatskirche) verkündigen sollten, und ist keine Institution für werdende Schriftsteller. Das Auswendiglernen ( „ to learn by heart “ ) von Geschriebenem ist eine weitere Form der kulturellen Aneignung. Neben den Kulturtechniken Lesen und Schreiben, die eine Dinghaftigkeit oder physische Greifbarkeit implizieren, ist sie immateriell und deshalb die wohl beständigste Form der Tradierung. 146 Auswendiglernen verbindet am „ innerlichsten “ Text und Textträgerin und ist auch eine „ religiöse Kulturtechnik “ . 147 In jedem Fall dient diese Technik nicht nur zum Aufbewahren und Tradieren, sondern trägt ebenso elementar zur Identitätsbildung der Autor-Genese bei. Wie die Szene in „ Wasser kann aufwärts fließen “ bezeugt, besitzt Lars Svensson Bücher vor Göran, außerdem trägt er sogar Bücher im Garten mit sich: „ Da nahm Lars ein Buch hervor, das er unter dem Hemd trug, und schlug eine Seite auf: HÄVERT stand da geschrieben. ” (PRÄ: 27) Das Buch ist hier Beweismittel, Referenz, demonstriert Überlegenheit, Wissen und Macht. Im Kapitel „ Der Crème brûlée-Übergriff “ ist das Buch Thema als Weihnachtsgeschenk. Während Staffan, Görans jüngerer Bruder, der noch nicht lesen kann und somit kein Buch erhält, bekommt Göran an Heiligabend ein Bill-Buch von Lars geschenkt. Mit leeren Händen dastehend, versucht Göran sich bei ihm zu revanchieren und behilft sich zur Not mit Vaters Ausgabe von Selma Lagerlöfs „ Gösta Berling “ , die er auf dessen Nachttischchen findet. Doch Besitzervermerk und Gebrauchsspuren durchkreuzen sein Vorhaben einer angemessenen Gegengabe, Lars retourniert das Buch auf der Stelle. 146 „ Nadeschda Mandelstam, die wie durch ein Wunder die Stalin-Epoche überlebt (sie ist am 29. Dezember 1980 in Moskau gestorben), lernte Mandelstams sämtliche Gedichte der dreißiger Jahre auswendig, legt Zettelverstecke an, übergab zuverlässig erscheinenden Freunden und Bekannten Kopien einzelner Gedichte in der Hoffnung, etwas davon möge die Stalin-Epoche überdauern. “ Ralph Dutli in seinem Nachwort in: Mandelstam (1996: 388). 147 Vgl. hierzu Arndt Elmar Schnepper (2012). Goldene Buchstaben ins Herz schreiben. Die Rolle des Memorierens in religiösen Bildungsprozessen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 84 2 PROLOG Auch in der nächsten Episode gibt Lars den Ton in Sachen Lesen an, wenn er in „ Tvåkroningen “ [Das Zweikronenstück] die Lektüre seines von Göran geschenkt erhaltenen Bill-Buches widerwillig beendet (nachdem ihn Onkel Tore bat, er möge sich um seine Gäste kümmern, die ihn an seinem Geburtstag mit ihrer Anwesenheit ehren, er sich aber zum Lesen zurückzog) und meint: „- Weshalb habe ich dieses Buch denn bekommen, wenn nicht zum Lesen? “ (PRÄ: 54) Lars ist Göran stets um eine Buchlänge voraus. „ Bill, der Vortreffliche [ … ] war das einzige, das er nicht schon hatte. “ (ebda.) Auch das Tagebuch und das Kirchenliederbuch nehmen einen wichtigen Platz in Görans Lesesozialisation ein. Literarisch verhandelt im engeren Sinn werden Bücher in den Kapiteln “ Poeterna ” und „ Berömda män “ : Klassiker der (schwedischen) Literatur werden inszeniert, aber auch „ Lorca “ , wie oben bereits dargelegt. Dass neben diesen berühmten Männern im Zentrum von Görans Vorbildern und Identifikationsfiguren 148 die große Erzählerin Selma Lagerlöf thront, kommt in Prästungen nur in den Kindheitsepisoden vor, insbesondere im Kapitel „ Tvåkroningen “ von Teil I. 149 Es gibt der literarischen Leitbilder mehr. Im Gedankenbuch Under tiden findet sich eine Stelle, die wie ein Buch-Credo erscheint, wenn es heißt: „ [ J]ag letar hela tiden efter vad Borges kallar punkten Aleph, den obetydliga sprickan i muren genom vilken man kan skåda hela världen, allt. “ 150 [Ich bin dauernd auf der Suche nach dem, was Borges den Punkt Aleph nennt, den unbedeutenden Riss in der Mauer, durch den man die ganze Welt erblickt, alles.] Um annähernd „ alles “ in Betracht zu ziehen, was den Autor zu dem macht, was er geworden ist, müssten neben der Wortkunst ebenso Repräsentantinnen anderer Kunstsparten (Film, Theater, Malerei) beigezogen werden. Signifikant für Tunström war auch die Tanzkunst. Beim Wort genommen sollte in der (künftigen) Tunström-Forschung sein oft zitierter Ausspruch: „ [U]nd ich, der ich gerne ein Fred Astaire der Wörter gewesen wäre, ein Unterhalter auf der blanken Oberfläche der Sprache, geriet durcheinander. ” 151 Auf Tunströms Literaturtanz und dessen Wort-Choreografie wird deshalb näher an seinem Ein Prosaist in New York (EPNY ) in fünf Schritten im Kapitel 3.2 eingegangen. 148 Von denen es sich auch wieder „ abzusetzen “ gilt, wie Tunström das ironisch verspielt bspw. in seinem Beitrag „ Selma Lagerlöf “ zeigt, vgl. Ardelius/ Rydström (1978: 225 - 234). 149 In Thematik und Topik von Tunströms Prästungen und Lagerlöfs (Kindheits-)Erinnerungen indes zeigen sich viele Gemeinsamkeiten; bezüglich des Umfangs von Erzählepisoden, Sprachduktus, Sprachrhythmus, Satzmelodie, Erzählperspektive. Sie werden hier jedoch keinem weitergehenden Vergleich unterzogen. Zu Lagerlöf siehe auch Thoma (2013). 150 U TI: 68. Im nächsten Absatz spricht er von seiner großen Affinität zum Erzähler Bruno Schulz (1892 - 1942): „ Ja, jag får ibland under läsningen av honom en känsla, en bultande känsla av att han nästan är jag, att där bakom orden står han och jag och ett antal skrivare till (Isaak Babel, Werner Aspenström, Birgitta Trotzig), vi står tysta i ordens skugga och är nästan varandra[.] “ [ Ja, ich habe, während ich ihn lese, manchmal ein Gefühl, ein hämmerndes Gefühl, dass er beinahe ich ist, dass er dort hinter den Worten steht und ich und ein paar Schreibende dazu (Isaak Babel, Werner Aspenström, Birgitta Trotzig), stumm im Schatten der Worte stehen und beinahe einander sind [.]] 151 „ [O]ch jag som gärna velat vara en ordens Fred Astaires, en underhållare på språkets blanka yta, blev vilsen. “ (EPNY: 42) - Peter Utz hat mit der Walser-Studie Tanz auf den Rändern (1998) in zehn Thesen eine Grundlage geschaffen, wie subtilste Wortbewegungen eines Schreibtischtänzers sich aufspüren lassen. - Vgl. auch „ Fred Astaire bor i mig “ (KRÖ: 41 - 43) [Fred Astaire wohnt in mir]. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 85 2.3.6 Stoffe - Das Zusammenspiel aller Szenen Friedrich Dürrenmatt (1921 - 1990), auch er Sohn eines Pfarrers, hat in seinen „ Stoffen “ 152 die Geschichte seines Schreibens obsessiv zu ergründen versucht, hat sich ihren Gründen in immer neuen Ansätzen ausgesetzt. Eine Fuge aus Ideen und Wörtern ist daraus entstanden, genährt von Dramaturgien der Phantasie. 153 Göran Tunström mangelte es nicht an Dramaturgie und Fantasie, in Anlehnung an Gabriel García Marquez (1928 - 2014) ist er als ‚ magischer Realist des Nordens ‘ bezeichnet worden, ein Prädikat, das dem Autor oft in den Medien verliehen wurde. Wie Dürrenmatt hatte auch Tunström sich an der biblischen und der eigenen Geschichte abgearbeitet und sie in einer lebenslangen Schreibbewegung in (Heilswie Unheils-)Geschichten fort-, weg- und weitergeschrieben. 154 Ein listiger Krimi stammt ebenfalls aus seiner Hand, unter dem Pseudonym Paul Badura Mörk. 155 Beide, Tunström wie Dürrenmatt, haben die „ Stoffe “ , die sie in sich trugen und zeitlebens in Varianten umschrieben, literarisiert auf der Suche nach Elementen zu einer „ Geschichte (s) einer Schriftstellerei “ (Dürrenmatt). Im Gegensatz zu Dürrenmatt bestehen die Stoffe Tunströms nicht aus Motivkomplexen, sondern aus (Meta-)Reflexionen und dem unablässigen Staunen und Nachdenken über das Wort - eingestickt in ein Gedicht, in eine Erzählung, in einen Roman oder in einen dramatischen Text. Wörter sind Tunströms Kristallisationspunkte oder „ Stoffe “ . Es gibt mehr Gemeinsamkeiten im Werk dieser beiden Pfarrerssöhne. Das Anfangskapitel von „ Vatten kann rinna uppåt “ weist in der Struktur Ähnlichkeit mit Dürrenmatts „ Plan von Konolfingen “ auf. 156 Eine vergleichende Stellenlektüre zeigt: die Sozialtopografien der (ehemals ländlichen) Herkunftsorte Konolfingen und Sunne entsprechen sich. Für beide Autoren war die Welt im Dorf, in die sie hineinwuchsen und die ihr Schreiben so grundlegend geprägt hat, aufgeteilt in „ zwei Welten “ . In Tunströms Prosaschilderung entfaltet sich Sunnes „ Koordinatenachse “ so (auch mit ihr ließe sich eine Skizze zeichnen): 152 Zuerst zwischen 1981 - 1990 als „ Stoffe “ erschienen. Zur erweiterten Stoffe-Ausgabe und deren Online- Version siehe https: / / www.nb.admin.ch/ snl/ de/ home/ ueber-uns/ sla/ forschung-sla/ erweiterte-stoffeausgabe.html (abgerufen am 26.05.2021). Wie Friedrich Dürrenmatt in seinem Werk mit der Instanz ‚ Gott ‘ und wie er mit dem Begriff ‚ Religion ‘ umgegangen ist, siehe dazu Mauz in: Weber (2020: 260 - 262) betr. Gott und (ebda.: 295 - 298) betr. Religion. 153 Vgl. Weber (2015). Dramaturgien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und intermedial. 154 Mit Ökenbrevet [1979; Der Wüstenbrief] hat Tunström die Kindheit Jesu als Jesusgeschichte in der Ich- Form geschrieben. 155 Bei Dürrenmatt sind es insgesamt fünf. - Vgl. Paul Badura Mörk (1967). Hallonfallet [Der Himbeerenfall] (kanske en deckare). Die Zweitauflage von 1985 erschien als Bonnier Pocket Taschenbuch mit identischem Titel/ Untertitel [(vielleicht ein Krimi)] unter dem realen Autornamen, ergänzt um das Vorwort „ Divertimento för måsarna “ [Divertimento für die Möwen. „ måsarna “ kann auch ‚ die Steuereintreiber ‘ bedeuten! ]. Daraus: „ Men efteråt kom jag nog att betrakta min hemliga bok som en dörrmatta in till Sunne-romanerna, där jag på allvar började undersöka de subjektiva strukturernas mönster. “ (HAL: [3]) [Später jedoch sollte ich mein heimliches Buch als Türvorleger zu den Sunne- Romanen betrachten, in denen ich im Ernst die Muster der subjektiven Strukturen zu untersuchen begann.] In Paul Badura Mörk klingt neckisch der Name des Pianisten und Musikschriftstellers Paul Badura-Skoda (1927 - 2019) an, als Supposition eines, wenn auch musikalischen, doch ‚ dunklen ‘ und verbummelten Autors ( ‚ mörk ‘ : dunkel, finster; das polnische Verb badurac bedeutet trödeln). Vgl. https: / / www.badura-skoda.cc/ biographie.html (abgerufen am 02.08.2021). 156 Siehe dazu den Aufsatz von Ulrich Weber, „ Erinnerung und Metapher im Schreibprozess von Dürrenmatts Stoffen “ (Weber 2015: [117] - 141) sowie „ Abb. 1: Plan von Konolfingen mit literarischen Motiven und Topoi, ca. 1964 “ (ebda.: 124). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 86 2 PROLOG Så fort man kom på andra sidan bron blev folk väldigt knepiga. Det var sällan vi prästgårdsungar och arrendegårdsungar kom över bron. Vi hade ingen anledning, vi hade det bra där vi var. (PRÄ: 17) Sobald man über die Brücke gelangte, wurden die Leute kniffelig. Aber wir Pfarr- und Pächterkinder kamen nur selten auf die andere Seite der Brücke. Wir hatten keinen Grund, es ging uns gut, da, wo wir waren. „ Ich weiß, wie die Welt aussieht “ , läßt der knapp 40-jährige Tunström den vierjährigen Göran sagen (vgl. PRÄ: 18 - 19). In „ Skuggan solar sig “ wird auch schon die allererste Nennung des Namens ‚ Hitler ‘ erwähnt.: „ Ich habe Wörter wie ‚ Hitler ‘ und ‚ Norwegen ‘ gehört [ … ] “ (PRÄ: 10). Dürrenmatts Dorf sieht in dessen Erinnerung (im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold) so aus: Ich bin auf dem Dorfe aufgewachsen, in einem Mischdorf: Es gab dort eine Milchsiederei, verschiedene andere Fabriken, ringsherum waren Bauernhöfe und Bauerndörfer und -weiler, die ihre Produkte in dieses Zentrum brachten. Mein Vater war dort Pfarrer, und ich wuchs in einer gewissen sozialen Isolierung auf, weil ein Pfarrerssohn in einem Dorfe etwas ganz Bestimmtes darstellt. / ARNOLD Privilegiert? / Nicht privilegiert, sondern er wird mehr mit Schadenfreude betrachtet: Er sollte besser sein als die anderen und man weiss, dass er nicht besser ist, und jedesmal, wenn er nicht besser ist, freut man sich. Man steht immer unter Aufsicht: einerseits unter der des Elternhauses, andererseits unter der Aufsicht des Dorfes. Man möchte so sein wie die anderen Dorfjungen, ebenso unbeschwert. [ … 116: ] Ich erinnere mich nur an einen Spaziergang, auf dem zum ersten Mal das Wort Hitler gefallen ist. Es ging um die Frage, ob Hitler ein Christ sei oder nicht - das hat mein Vater mit dem Kirchgemeindepräsidenten, oder mit wem er auch sprach, erörtert. (Arnold 1996: 114 - 115; 116) 157 Das „ autobiografische Schreiben “ Göran Tunströms in Prästungen ist Konstruktion und Rekonstruktion in einem. Dabei ist „ der Text, wenn er mal geschrieben ist, lückenlos wirklich. Er ist Wahrnehmung, erfundene Wahrnehmung, die sich im Rückblick wahr nimmt[] “ , wie Herta Müller über ihr Schreiben von Texten denkt. 158 Prästungen ist eine Erzählung, die alles der „ Frage nach dem Buch “ 159 unterordnet. Es ist die kaleidoskopisch breit gefächerte Urkunde des Schriftstellers, der aus der Distanz als knappVierzigjähriger seine Auto(r)genese reflektiert. In dieser ‚ Geburtsurkunde ‘ verleiht er den drei heimlichen Protagonisten: (1) Sprache, (2) dem Schreiben und (3) dem Lesen prominent ihre Stimme; vereint bilden sie das autorgenetische Substrat. Wortkunst, konkretisiert im Neben- und Miteinander verschiedenster Idiome, Textsorten, Stimmen und Sprachebenen. Als habe der Pfarrerssohn zum Aufzeichnen seiner Geschichte das Wort Luthers befolgt und daran Maß genommen: „ [M]an muss die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt fragen und denselbigen aufs Maul 157 Hier aus Bd. 2: Gespräche 1961 - 1990, „ 1975: Herkunft vom Dorf: ein Labyrinth “ . Vgl. dazu auch Tunström im Zitat zu Beginn von Kap. 2 dieser Arbeit: „ [E]rinnerung heißt ja, sich nochmals in einer vergangenen Welt erfinden, auf der Bühne einer vergangenen Welt. Erinnern heißt sich vorstellen. “ 158 Müller (1991: 38, im Unterkap. 2: Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt, ebda.: 33 - [56]). Vgl. dazu Ilma Rakusa (2014: 7 - 32): „ Zwischen Rekonstruktion und Konstruktion “ in ihrer ersten Stefan- Zweig-Poetikvorlesung. 159 Vgl. dazu „ Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch “ , in: Derrida (1972: 102 - [120]). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 87 sehen, wie sie reden und danach dolmetschen “ . 160 Kindersprache, Alltagssprache, die Sprache des Pfarrers, des Propstes, Bibelsprache, die Sprache Jugendlicher, Arbeitersprache, die Sprache der schweigsamen Mutter, zitierte Literatursprache und viele Idiome und Sprachschichten mehr hallen in Prästungen wider. Seine „ Grundtonart “ ist die lyrischepische Prosa des Ich-Erzählers auf Schwedisch. Polyphonisch 161 „ zieht “ der Autor im Buch weitere Sprachregister, Brocken in Norwegisch, Griechisch, Englisch, Einsprengsel im (Sunne-)Idiom Värmlands ertönen. Werkzeuge in der Schreibstatt dieses Wortarbeiters. 162 In Skimmer / Der Mondtrinker ist die Rede von einem Mann namens Vittoe Tyamin, der als letzter, nachdem auch seine Mutter verstorben war, noch die Sprache Myonisch verstehe (vgl. SKI: 193 - 194, MOND: 210 - 211). 163 Neben und in der Narration der ‚ Geschichten ‘ und Episoden 164 erzählen die vielen Lese- und Schreibszenen, inklusive der Bücherszenen - im Kern generiert aus Wort-Geschichten - von der Genese der Aufmerksamkeit und dem lustvollen dialogischen Umgang mit Sprache des Autors Tunström im „ Gedächtnisraum der Wörter “ 165 . Sie vergegenwärtigen „ die fundamental[er]e Differenz zwischen dem performativen Akt des Schreibens und den unterschiedlichen Versuchen, dieser Performanz nachträglich Herr zu werden. “ (Müller- Wille 2005: 296) „ Resan bereder vägen för berättelser. Mer än så: den har också väl alltid, som aktivitet, som motiv, som metafor, inviterat till funderingar, reflexioner, vardagsfilosofi. “ (Melberg 2005: 207) [Das Reisen schafft die Voraussetzungen für Erzählungen. Mehr noch: Es hat wohl immer auch, als Aktivität, als Motiv und als Metapher eingeladen zu Überlegungen, Reflexionen und Alltagsphilosophie.] Der schlichte Befund Arne Melbergs ist ein „ Axiom “ der Literatur, wenn nicht der Nullpunkt der abendländischen Erzählliteratur. 166 Streunen 160 So Martin Luther im „ Sendbrief vom Dolmetschen “ (1530), in dem er seine Übersetzungsarbeit an der Bibel begründet. 161 Vgl. dazu GT im Interview (von 1991), in dem er u. a. von der Polyphonie im Spektrum der Sprachen spricht: „ Att olika språk få möta varann hela tiden, är verkligen nåt jag försöker å arbeta med. Så att det inte går en tonlös linje, som tonför, som är likadan från början till slut. [Dass verschiedene Sprachen sich dauernd begegnen können, ist wirklich etwas, womit ich arbeite. Damit keine tonlose Linie entsteht, die den Ton angibt und dieselbe von Anfang bis Schluss ist.] Vgl. https: / / www.youtube.com/ watch? v=HHezexDWmjg: Minutage 00: 27: 17 - 31 (abgerufen am 02.08.2021). 162 „ Jag har aldrig kunnat kalla mig författare, utan en som skriver. Ibland. Som författare äger jag ingen uniform som betecknar mig. “ (FÖR: 107) [Ich konnte mich nie Schriftsteller nennen, nur einen, der schreibt. Mitunter. Als Schriftsteller besitze ich keine Uniform, die mich als solchen kennzeichnet.] 163 Das Elementarteilchen ‚ Myon ‘ wurde von Carl D. Anderson und Seth Neddermeyer 1936 bei der Untersuchung von kosmischer Strahlung entdeckt. ‚ Myonisch ‘ , das 1956 ausgestorben sei, könnte eine ‚ Sprache ‘ höchster und feinster Schwingung gewesen sein. Ob ‚ Myonisch ‘ , wofür der Erzähler Beispielsätze anführt, so gedacht ist, bleibt Geheimnis des Autors. 164 „ Ich habe viel Zeit gebraucht, um diese Episode zurechtzubasteln - und hundert andere Episoden, die ich dem Leser schenke. “ So „ erklärt “ Sartre (1965: 108) am Beispiel einer Episode das Schreiben in seiner Autobiografie Die Wörter. 165 Vgl. Bachtin (1979: 154 - 300) in Die Ästhetik des Wortes und ders. (1971: 202 - 302) in Probleme der Poetik Dostoevskijs. 166 Vgl. hierzu den Eintrag ‚ Reiseliteratur ‘ in Wilpert (1969: 631 - 633). - Ebenso besteht eine (mehrfache) Verwandtschaft mit der Motivik des Klassikers Schwedens in diesem Genre, Selma Lagerlöfs Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden. So wie Nils auf den Schwingen von Gänserich Martin Schweden nordwärts umrundet, hebt Göran, von der Wortsprache beflügelt, in den Süden Europas ab, um von der Sprache (wieder) verlassen, am Ende „ dankbar “ (PRÄ: [271]) wieder auf dem Boden der Realität anzukommen. Auch Nils ’ Reise endet mit jäher Sprachlosigkeit, wenn die Gänse am Ende Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 88 2 PROLOG und Schreiben. Damit stellt sich die Frage, ob sich Tunström mit seinem Gründungsmythos Prästungen, den es auf seiner Lebensreise vom Kind ins Mannesalter bis in die Gestade griechischer Meere verschlagen hat und der dort viele Abenteuer zu bestehen und somit Gefahren zu überwinden hatte - wobei ihm auch seine sprachliche List zur Seite stand - , nicht auch in die Tradition der ‚ Odysseen ‘ eingeschrieben hat. Eine Art Überschreibung des uralten Stoffes, gefärbt mit seinen Erfahrungen wird er sich, wie ein zweiter Odysseus, auch mit „ seiner Penelope “ wieder vermählen. Motive und Rückblenden zeigen Ähnlichkeiten mit dem Heldenepos. Obgleich nicht in Hexametern geschrieben, so ist mit dem Prolog „ Der Schatten sonnt sich “ eine Muse angerufen. Und wie eine Athene, begleitet die Sprachsuche seine Irrfahrten. Am Schluss lässt sie ihn zwar verstummt zurück, umso kräftiger kommt sie wieder zu Wort in den kommenden zwei Büchern: Guddöttrarna und De heliga geograferna. Sie bilden das Diptychon Tunströms seiner Geburt zum Autor, basierend auf den Pfeilern Lesen und Schreiben - „ lector et scriptor “ 167 . Obgleich in den beiden Romanen die Textgenese sich in den ord/ Wort-Stellen anders gebiert als in Prästungen, und in vielen Sprachen, nicht nur Wortsprachen; die Suche nach den Wörtern im Werk Tunströms geht weiter, selbst wenn sie sich im Exil der „ vielen Sprachen “ 168 aufhalten. In August Strindbergs Sicht in Das Blaue Buch sieht das Reisen so aus: Einem Kummer davonreisen, das kann man nicht. Er sitzt hinten auf dem Gepäckwagen und wird nur rußig und schmutzig von der unsauberen Reise. Er nährt sich gewissermaßen von den neuen Erlebnissen, wird auch durch veränderte Umgebungen verfälscht und ist doppelt bitter bei der Rückkehr nach Hause, wo er sitzt und wartet. (Strindberg 2005: 303) Prästungen vereint zwei gegenläufige Bewegungen. Mit der zentripetalen „ geht “ das Buch (voller Introspektion) den Weg nach Innen, zugleich führt es zentrifugal „ hinaus in die Welt “ mit genauem Blick auf das ‚ Außen ‘ . Aus dieser coniunctio oppositorum entsteht in der Auto(r)eflexion der Schreib- und Leseakte Tunströms die „ perspektivische Anlage des Textes “ in Prästungen. Sie ist nach Wolfgang Isers Theorie der ‚ Leserfiktion ‘ stets auf einen meinen: „ Ack, han är en människa! Han förstår inte oss, vi förstår inte honom. “ [Ach, er ist ein Mensch! Er versteht uns nicht, und wir verstehen ihn nicht.] (Lagerlöf 1988: [596]) Die kargen Kritzeleien Lena Cronqvists in Prästungen bilden mit den klassischen Federzeichnungen von Bertil Lybeck in der ungekürzten Ausgabe von Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige von 1931 eine weitere „ Gemeinsamkeit “ der beiden Longseller. 167 „ [T]out scripteur n ’ a-t-il pas lu mille et un livres avant de prendre lui-même la plume? Et n ’ est-il pas automatiquement son premier lecteur? Inversement tout lecteur qui cherche à comprendre et à interpréter un écrit, ne lui arrive-t-il pas bien mal: lui, de se glisser dans l ’ habit du scripteur afin de mieux reconstruire les voies et le sens de l ’ écriture? “ (Grésillon 2000: [593], im Kapitel „ Lire pour écrire: Flaubert lector et scriptor “ , [593] - 608) [Hat nicht jeder Schreiber tausendundein Buch gelesen, bevor er selbst zur Feder greift? Und ist er nicht automatisch sein erster Leser? Und umgekehrt geschieht es nicht jedem Leser, der ein Schriftstück zu verstehen und auszulegen sucht, mehr schlecht als recht, in das Gewand des Schreibers zu schlüpfen, um die Wege und den Sinn des Schreibens besser nachzuzeichnen? ] 168 „ Exilen ger ett konkret svar på vad dekonstruktionen ville vara. Den är, med Derridas kända ord, ‚ många språk ‘ . Det finns inget rent språk, allra minst hos den landsflyktige som odlar sitt ursprungsspråk i ett ingenmansland eller upppfinner ett nytt i sin isolerade tryckkammare. “ [Das Exil gibt eine konkrete Antwort darauf, was die Dekonstruktion sein wollte. Es ist, mit Derridas bekannten Worten ‚ viele Sprachen ‘ . Es gibt keine reine Sprache, am allerwenigsten beim Landflüchtigen, der seine Ursprungssprache in einem Niemandsland pflegt oder eine neue erfindet in seiner isolierten Druckkammer.]. Siehe Olsson (2011: 207). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 2.3 Schreibszenen und Schreib-Szenen in Prästungen 89 ‚ impliziten Leser ‘ aus. 169 Der ‚ implizite Leser ‘ braucht „ keine reale Existenz “ (Iser 1990: 60) zu haben, sondern ist als eine Art „ transzendentales Modell “ (66) „ in der Struktur des Textes selbst fundiert “ (60). Tunströms (totem) Vater kommt in Prästungen diese ‚ Leserolle ‘ zu, und wird, „ versteckt “ zwar, in Guddöttrarna und De heliga geograferna erneut lesbar werden. 170 Wo der Ursprung der intensiven Auseinandersetzung des Autors mit den Wörtern als „ Stoffe “ zu orten ist und wie er diese in Prästungen zur Sprache gebracht hat, war der Vorsatz der bisherigen Ausführungen. Wohin sie ihn in den Büchern nach Prästungen poetologisch führen, wollen die kommenden Seiten aufspüren. Die Autor-Genese ist mit Prästungen nicht zu Ende. Dass ein poeta doctus wie Göran Tunström sein Schreiben durchgehend im Zusammenspiel aller Satzzeichen und in Bezug auf die (Lebens-)Praxis reflektierte, kommt treffend im Staunen des Schlusssatzes in seiner Kolumne „ Efter Punkt en ny mening “ zum Ausdruck, der hier als Aufforderung zu den kommenden Überlegungen der Studie überleite: Det är märkvärdigt att kunna sätta Punkt. Och att våga tro att efter Punkt börjar en ny mening, en ny ändlös räcka av nya meningar. (KRÖ: 101) Es ist merkwürdig, einen Punkt setzen zu können. Und es wagen zu glauben, dass nach einem Punkt ein neuer Satz begänne, eine endlose Reihe neuer Sätze. 169 Siehe Iser (1990: 62, 66, 60, in Teil B: 2. Leserkonzepte und das Konzept des impliziten Lesers; ebda.: 50 - 66). 170 Der Autor selbst spricht in zahlreichen Interviews davon, dass er seine Bücher im Grunde an seinen toten Vater „ adressiere “ . In „ Malin “ , dem Selbstfindungs-Kapitel von Prästungen, offenbart Göran dezidiert im „ Verhör “ , dem ihn Mutter, voller Sorgen, was das Schreiben als Beruf angeht, unterzieht: „- Ich will Schriftsteller werden, das wollte auch Vater, dass ich das werde. “ (vgl. PRÄ: 190). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 90 2 PROLOG En av oss sa: „ fkdjsm lfjdp dkrlsoms “ och den andra svarade: „ sgdnski gfprksm dkr soh …“ 1 Göran Tunström Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Stelle und kennst dich aus, du kommst von einer andern zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus. Ludwig Wittgenstein 3 POETALOG Drei Publikationen von Göran Tunström sind in diesem Kapitel Gegenstand der Untersuchung. 1. Krönikor, Tunströms in Buchform postum im Jahr 2000 publizierte Kolumnen, 2. das verrätselte Auto(r)porträt En prosaist i New York von 1996 sowie 3. der Essay-Roman Försök med ett århundrade, der 2003 erschienen ist. Alle drei lassen sich zu seinem Spätwerk gruppieren. 2 Die drei Textsorten teilen nicht nur den Zeitraum miteinander - Tunströms letztes Schaffensjahrzehnt, somit tendenziell denselben Rückblick auf Leben und Werk - , durch ihre Dichte an Metareflexivität stehen sie auch thematisch in einer engen Beziehung zueinander. Sie bilden einen heterogenen Komplex an offenen wie versteckten Stellungnahmen, Andeutungen und Anmerkungen des Autors zu seinem Schreib-Werk, was Rückschlüsse auf sein schriftstellerisches Selbstverständnis zu ziehen erlaubt. 3 Aufbauend auf den bisherigen Erkenntnissen, ist auch Ziel dieser Untersuchung, den Prozess des ‚ Werdens und Vergehens ‘ in den genannten drei Texten zu ergründen und an ihren ord/ Wort-Stellen nachzuzeichnen. Dabei hat sich herausgestellt: Die Tradition literarischer Vorbilder mischt sich mit der scheinbar unbegrenzt entfesselten Innovation des mit allen Schreibstilen und -techniken vertrauten Autors, der sich auch filmischer Schreibverfahren bedient. Zunehmend werden ‚ Wirklichkeiten ‘ geschaffen ohne Bezug zu ‚ Realitäten ‘ , mitunter nach Lust und Laune, zuweilen outriert postmodern. Das Personalpronomen Ich regiert die Texte, die hier behandelt werden. Dabei bleibt dessen Identität merkwürdig unscharf, wird fortlaufend in Frage gestellt, bspw. im inneren Monolog oder Dialog in der Kolumne „ Mina bilder “ [Meine Bilder] mit Lena Cronqvist, oder im extravaganten Spiel mit Sprache zwischen einem ‚ Ich ‘ und einem ‚ Du ‘ , virtuos vorgeführt in En prosaist i New York. Die Grenzen jeglicher Ich-Kontrolle scheint schliesslich der Selbst-Versuch Försök med ett 1 Einer von uns sagte: „ fkdjsm lfjdp dkrlsoms “ und der andere antwortete: „ sgdnski gfprksm dkr soh …“ 2 „ Es ist nur dann interessant, von einem Werk als einem ‚ Spätwerk ‘ zu sprechen, wenn dieses sich von den vorangegangenen Arbeiten signifikant unterscheidet. “ (Zanetti 2012: [299]). Die von 1992 bis 2000 erschienenen Krönikor erfüllen Zanettis Kriterien, vgl. hierzu auch dessen Einleitung (Zanetti 2012: [7] - 28). 3 Das ‚ Gedankenbuch ‘ Under tiden von 1993 mit den vielen Schreib-Reflexionen wird hier nur gestreift und in die Untersuchung nicht systematisch mit einbezogen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 århundrade zu sprengen, in dem die Emanation eines unfassbar polymorphen Ich ein titanisches Sprach(ab)bild generiert. 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) Krönikor sind Göran Tunströms achtundfünfzig Beiträge in der Gewerkschaftszeitung Metallarbetaren (später Dagens Arbete), die, mit einem Begleitwort des Publizisten und Herausgebers Bo Strömstedt noch im Todesjahr Tunströms erschienen sind. 4 Anders als viele Autorinnen und Autoren, die in dieser journalistischen Kleinform zu schreiben anfangen und sukzessive sich an größere Formen heranwagen, hatte Göran Tunström, auf dem Zenith seiner Bekanntheit, ab September 1992 bis Februar 2000 seine Gedanken und Ansichten monatlich in einer Kolumne für Hunderttausende Leserinnen und Leser zu Papier gebracht. Das Studium der Krönikor ergibt den verblüffenden, wenngleich nicht ganz überraschenden Befund: Auch in der Gewerkschaftszeitung 5 redet der Autor dem Wort das Wort, verleiht ihm Gewicht, sodass weitere Seiten seiner Wort-Poetik aufscheinen. Auch als Kolumnist bleibt er Poet, obschon der Interessentenkreis für Fragen eher klein ist; Gewerkschaftsmitglieder, vornehmlich aus dem Berufszweig der Schwerindustrie, gehören nicht zu der Stammkundschaft poetologischer Reflexionen. Weil nicht alle Kolumnen evaluiert werden, sei die Bandbreite ihrer Thematik kursorisch vorgestellt: Von den achtundfünfzig befassen sich sechsunddreißig explizit mit dem Wort oder mit poetologischen Fragen. In den meisten der zweiundzwanzig anderen wird Sprache indirekt verhandelt. Davon ist in einigen wenigen weder Sprache noch Literatur Thema, hingegen werden Fragen des praktischen Alltags aufgegriffen. So mischen sich unter diesen Kolumnen mit vorwiegend Sprach-Reflexionen einige wenige ohne impliziten oder gar expliziten Bezug zu poetischen Fragen. Thematisch orientiert sich die Abfolge an Tunströms Auto(r)genese. In der ersten Kolumne (1/ 1992) erinnert er den Gebrauch der Wörter, wie er ihn als Kind bei den Großeltern kennen gelernt hatte. 6 In seiner letzten Kolumne (58/ 2000), paraphrasiert er Friedrich Nietzsche und dessen Dictum aus Ecce homo „ [ … ] wo ich nicht mehr mit Worten, sondern mit Blitzen rede [ … ] “ . (KSA 6: 320) Tunströms Kolumnen sind weltumspannend. Er begibt sich mit ihnen - bis auf eine Ausnahme - seiner biografischen Erfahrung entsprechend in alle Erdteile: nach Asien, Süd- und Nordamerika, Japan, China, in die ehemalige Sowjetunion, nach Mitteleuropa, Australien, Neuseeland. Nach „ Afrika “ in Form einer Sachbuchlektüre (vgl. KRÖ: 85). Aus 4 Ob es sich bei den achtundfünfzig Kolumnen um eine Auswahl oder um alle für die beiden Gewerkschaftszeitungen verfassten Beiträge handelt, ist dem Begleitwort nicht zu entnehmen. 5 Dagens Arbete [Die Arbeit des Tages], Industriarbetarnas tidning: seit 1997 das Organ der großen schwedischen Gewerkschaften IF Metall, GS und Pappers, erscheint in der Papierversion mindestens zehnmal pro Jahr (vgl. www.da.se). Dagens Arbete ist die Fortsetzung der Gewerkschaftszeitung Metallarbetaren [Der Metallarbeiter], die 1890 als Järnarbetaren [Der Eisenarbeiter] zu „ rein agitatorischem Zweck “ (NE, Bd. 13: 261) gegründet wurde. Die Gesamtauflage beläuft sich auf über 380 ’ 000 Ex. (Stand 2021). 6 Im Buch sind die achtundfünfzig Kolumnen nicht durchnummeriert. Zitiert werden sie hier (nach Rekapitulation des Titels in der deutschen Übersetzung) gemäß folgendem System: KRÖ: Seitenanfangsbis -endzahl, Zeitungstitel, Erscheinungsdatum (Monat, Jahr). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 92 3 POETALOG ihnen spricht Tunströms politisch dezidiert linke Haltung (vgl. dazu als Beispiel KRÖ: 84 - 86: „ Banana boat song “ , Metallarbetaren, Dezember 1995). Titel und Themen von Tunströms Kolumnen sind ermittelt und ausgewertet worden. Beiträge mit einem poetischen und/ oder sprachphilosophischen Bezug finden in der hier folgenden Auswahl besondere Beachtung. 1.) In Kolumne 1 „ Ljuset faller så olika “ [Das Licht fällt so ungleich: KRÖ: 9 - 12, Metallarbetaren, September 1992] kommt der Autor am Ende zum Schluss: KRÖ: 12: Jag vet bättre nu: kunskap är något som måste erövras på nytt och alltid. En världsbild rasar, ord ändrar mening och innehåll, utrotas ur ens vokabulär, går upp i rök och hörs aldrig mera av. Vad hette den där korken som satt i gamla svagdricksbuteljer? Eller det där ordet … soli … Soli, ja nånting om en gemensam ansvarighet? Någon borde skicka ut en patrull för att söka reda på det innan det helt evaporerar ur atmosfären. Jetzt weiß ich es besser: Wissen muss immer wieder von neuem erobert werden. Ein Weltbild zerfällt, Wörter ändern Sinn und Inhalt, werden einem aus dem Vokabular getilgt, gehen in Rauch auf und lassen nie wieder von sich hören. Wie hieß nochmal der Korken, der in den alten Dünnbierflaschen steckte? Oder dieses Wort da … Soli … Soli, ja etwas mit gemeinsamer Verantwortlichkeit? Jemand müsste eine Patrouille ausschicken, um es ausfindig zu machen, bevor es ganz aus der Atmosphäre verdunstet. „ Min fars hem var en suckarnas boning. Min mors en skrattets. Fattigdomen var lika stor i båda hus. “ (KRÖ: 9) [Das Zuhause meines Vaters war eine Wohnstatt für Seufzer. 7 Das meiner Mutter eine für Lacher. Die Armut war in beiden Häusern gleich groß.] Ausgehend von den unterschiedlichen Sprechweisen der Großeltern auf Seiten seines Vaters respektive seiner Mutter schildert Tunström, wie deren Worte sein Verhältnis zur Sprache geprägt haben. Woraufhin er am Beispiel seines Sohnes, der ihn gefragt habe, was die vier Evangelien seien, die Transitorität und Tradierung sprachlichen Wissens diskutiert (die Evangelien waren in den 1990er-Jahren in Schweden kein Schulstoff mehr). Er thematisiert so die „ Wörter, Begriffe und Werte, die zum Guten oder zum Schlechten die Bausteine in diesen Welten [der Großeltern] waren “ (KRÖ: 11), die ihm, als er Kind war, (s)ein erstes Weltbild vermittelt hatten. Er überträgt die Erinnerung von damals in die gesellschaftliche und politische Relevanz von „ heute “ (1992). Sei etwa ein Konsumgut nicht mehr erhältlich, so verschwinde aus dem Bewusstsein einer Sprachgemeinschaft alsbald (s)ein Wort. Nicht nur Sachwörter könnten so dem Vergessen anheimfallen, auch Denkweisen, sofern sie nicht mehr gelebt würden, was er anhand der ‚ Solidarität ‘ 8 erläutert. Die damit verbundene Idee eines Spähtrupps, der prüfe, ob ein Wort und die Haltung ‚ dahinter ‘ noch in Gebrauch seien, erinnert an den Sprachgaukler der Wörter, der ihren Realitätsbezug „ inspizieren “ soll, um zu sehen, ob sie noch taugten (vgl. hierzu in Kap. 2.1 die ausholende Reflexion an der ord/ Wort-Stelle GUD: 112). 7 Tunströms Großvater väterlicherseits war Prediger in der Evangeliska Fosterlandsstiftelse (EFS, gegründet 1856). Die evangelikale, missionarische Laienbewegung innerhalb der Schwedischen Kirche interpretiert die Bibel wortwörtlich. Großvater mütterlicherseits war Fabrikarbeiter, spielte immer samstags auf seiner Geige, betätigte sich als Stummfilmpianist und liebte es, Ideen zu diskutieren. 8 Die polnische Bewegung für Freiheit und Demokratie, Solidarno ść / Solidarität, entstanden 1980 mit dem legendären Streik der (Metall-)Arbeiter auf der Leninwerft von Danzig 1980, angeführt von Lech Wa łę sa (Regierungspräsident bis 1990), verlor 1993 ihre Regierungsbeteiligung. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) 93 Mit Sprachhygiene, Sprachbewusstsein, Sprachwandel und damit einhergehend mit dem steten gesellschaftlichen Wandel befasst sich Tunström in seiner ersten Kolumne, ohne deswegen in einer „ lebendigen Sprachgemeinschaft eine sprachpolizeiliche Autorität “ (Detering 2016: 9) einzufordern, wovor Heinrich Detering in seiner Rede „ Wer hat Angst vorm Sprachverfall? Über Kulturpessimismus und Sprachkritik “ energisch abrät. Mit dem eingangs zitierten Schlusssatz (KRÖ: 12) appelliert Tunström daran, Sorge gleichermaßen zu den Wörtern wie zu den ‚ Dingen ‘ zu tragen. 2.) Kolumne 2 „ Förbjuden att tro “ [Verboten zu glauben: KRÖ: 13 - 16, Metallarbetaren, Oktober 1992] steigert den in Kolumne 1 dargelegten Gedanken zum Verhältnis Welt-Wort. Tunström bringt zu Beginn den Begriff „ Gehäuse-mentalitet “ 9 an, den er in einem Buch des Religionspsychologen Hjalmar Sundén (1903 - 1998) kennengelernt habe. 10 Darauf folgt die Geschichte eines „ Schalenmenschen “ , dieses norwegischen Bauern, der es gewohnt war, Sonntag für Sonntag die Worte des Pfarrers über sich ergehen zu lassen, der seinen Gemeindegliedern „ den Kopf wusch “ ( „ läste lusen av åhörarna “ ), mit der Verdammnis des Herrn drohte. Als der Pfarrer starb, stand mit seinem Nachfolger ein Diener des Herrn auf der Kanzel, der seine Worte anders auslegte. Entsetzt über dessen Ausdeutung der heiligen Schrift, verlässt der Bauer den Gottesdienst noch bevor er zu Ende ist, geht nach Hause, zerhackt seine Bibel und erhängt sich. Er konnte sich einer „ erneuten Auseinandersetzung mit dem Leben “ (Schär) nicht stellen. In Gottes Treue „ erlöste “ er sich von seiner Gottesvorstellung, unterwarf sich (Gott) und zahlte mit dem Leben. Tunström kommt auf die britische Theosophin und Gewerkschafterin Annie Besant (1847 - 1933) zu sprechen, die stets für alle Erneuerer der Wissenschaften, die mit ihren Ideen ihr Leben und Wort wagten und zu ihm standen, sogar wenn sie als „ Atheisten “ geschimpft wurden, geglüht habe. 9 So im schwedischen Original. Vgl. dazu Sundéns Definition der „ Gehäuse-mentalitet “ : „ Den strikt formulerade världsoch livsåskådning som, när individen en gång har tillägnat sig den, befriar honom från varje uppgörelse med livet “ . (KRÖ: 13 - 14) [Die strikt formulierte Welt- und Lebensanschauung, die, wenn von einem Individuum einmal angeeignet, es von jeder Auseinandersetzung mit dem Leben befreit.]; vgl. auch KRÖ: 14: „‚ Gehäuse ‘ betyder skal. “ [ ‚ Gehäuse ‘ bedeutet Schale.] 10 Sundéns Standardwerk Religionen och rollerna von 1959 ist 1966 als Die Religion und die Rollen. Eine psychologische Untersuchung der Frömmigkeit auch auf Deutsch erschienen. Dort heißt es im 2. Kapitel, Rolle und Lehre - Konturen zu einem wichtigen Problem: „ Wenn sich dies [= „ die konstitutionelle Neigung zur Starrheit, zur ‚ Rigidität ‘“ eines Menschen] wirklich so verhält, dann hätte man eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Phänomen gefunden, welches der intuitive Psychologe Hans Schär das Gehäuse genannt hat [in: Erlösungsvorstellungen und ihre psychologischen Aspekte], ein Ausdruck, den er von Karl Jaspers übernommen hat. In seiner Psychologie der Weltanschauung [sic, recte: Weltanschauungen] geht dieser von dem antinomistischen Charakter des Lebens aus. Der Geist - auf Schwedisch würden wir vielleicht lieber das Denken sagen, muß aber versuchen, mit den vielseitigen Deutungen, die das Leben zuläßt, zurechtzukommen. Er kann im Pessimismus oder Nihilismus landen, kann seine Zuflucht zu einem Gehäuse nehmen oder immer wieder neue Lösungen der im Leben auftauchenden Probleme suchen. Unter Gehäuse versteht man eine streng formulierte Welt- und Lebensanschauung, die das Individuum, wenn es sie sich einmal angeeignet hat, von jeder erneuten Auseinandersetzung mit dem Leben befreit. Handelt es sich um diese Gehäusementalität, so zeigt sich wie Schär findet, als erstes typisches Merkmal, daß der Mensch sich die betreffende Anschauung aneignet, ohne von Anfang an ganz davon überzeugt gewesen zu sein, daß sie auch wahr ist. Das Bedürfnis nach Festigkeit in der Weltanschauung ist das Primäre. Die Vertreter der Gehäusementalität apellieren [sic] niemals an die Erfahrung oder Überlegung. Sie fordern Unterwerfung. Nichts darf hinsichtlich überkommender [sic] Formeln oder Riten verändert werden. “ (Sundén 1966: 199). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 94 3 POETALOG KRÖ: 15: Det vrålade över Copernicus grav, det skreks mot Vanini, mot Spinzoa, mot Voltaire; i världshistorien har det betytt framtid, ja där ordet Ateist har ropats kan vi vara säkra på att ännu ett steg tagits mot mänsklighetens frälsning. Man grölte am Grab des Kopernikus, gegen Vanini, gegen Spinoza, gegen Voltaire wurde gewettert; 11 in der Weltgeschichte bedeutete dies Zukunft, ja, wo das Wort Atheist gerufen wurde, können wir sicher sein, dass ein weiterer Schritt zur Erlösung der Menschheit unternommen wurde. Ganz zu Beginn (KRÖ: 13), noch vor der Diskussion der Begriffe ‚ Weltanschauung ‘ und ‚ Gehäusementalität ‘ , sagt Tunström mit fingiertem Ernst von sich: „ Ich bin ein Mensch ohne Weltanschauung. / Die eine und andere Ansicht habe ich zwar: Eier sollen nicht hart gekocht sein, ein Film ist am besten im Kino, am schönsten ist es, wenn es dämmert. “ Am Ende kommt er zum Schluss (KRÖ: 16): „ Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich sowohl fasziniert wie erschreckt bin von ‚ warm religiösen ‘ oder ‚ stark engagierten ‘ Menschen, vermutlich wohl deshalb, weil mir selbst auf geheimnisvolle Weise jeglicher Zutritt zu einem System verwehrt ist. Ich bin dazu verurteilt mit einem skeptischen Lächeln draußen zu stehen, vor allen Toren. Zeitweise erlebe ich das als äußerst moderne Situation, aber das ist ja bereits Marx so gegangen, als er schrieb: ‚ alles fixirte verflüchtigt …‘“ 12 Mit den ersten zwei Kolumnen verankert Tunström sein poetologisches Fundament in seiner ambivalenten Erfahrung mit dem Wort, insbesondere dem Wort Gottes. Zuerst im Reflex der großelterlichen Wörter, später mit einer Reflexion über die ‚ Gehäuse-Mentalität ‘ und deren Folgen, die ihn zum (Wort-)Skeptiker machen, und der so „ draußen “ vor den Toren jener mit einer ‚ festen Weltanschauung ‘ steht, ihr Sprechen und Handeln beobachtet, bedenkt und beschreibt. Entschieden tritt sein historisches Bewusstsein allgemein wie seine geschichtlich reflektiert unumgängliche Wandelbarkeit der Relation Wort-Wort Gottes im Besonderen zutage. Mit Kolumne 3 wechselt er interessanterweise gleich über in die Zeichenwelt der Bilder, verbindet so Wort und Bild und die kardinale Frage jedes Schreibenden nach dem „ Ich “ , die Tunström in Försök med århundrade mit schier unerschöpflicher Intensität in immer neuen Anläufen umkreisen wird. 3.) Kolumne 3 „ Mina bilder “ [Meine Bilder, KRÖ: 17 - 20, Metallarbetaren, Dezember 1992] leitet Tunström mit der Evokation eines poetischen Bildes ein (in Erinnerung wohl an seine Erfahrungen in Mexiko 1968): I solnedgången går vi och plockar ostron ur träden. Vattnet runt fötterna är ljummet, rosafärgat och grönt. Småfisk kittlar vår hud. Naket hav tvärs över halva jordklotet, bort mot Chiles och Perus kuster. Tillsammans med en gammal aboriginekvinna, poet och radikal förkämpe för en alltmer förlorad sak, skär vi loss ostrona med kniv. [ … ] Ostronen sitter på stammarna, grå som barken, lika svåra att upptäcka som trattkantareller i svenska skogar - strax innan man upptäckt dem. / Intill 11 Nikolaus Kopernikus (1473 - 1543) wurde für die Begründung des geozentrischen Weltbildes ausgelacht; Lucilio Vanini (1585 - 1609) bezahlte das Verfassen antitheistischer Schriften mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen; Baruch Spinoza (1632 - 1677) wurde für seine Bibel- und Religionskritik ( „ Deus sive natura “ ) mit dem Ketzer-Bannfluch ( ‚ Cherem ‘ ) belegt; Voltaire (1694 - 1778) der Vordenker der (französischen) Aufklärung wurde für seine Schriften gegen die absolutistische, „ von Gott auserwählte “ Monarchie und die katholische Kirche heftig angefeindet. 12 In KRÖ: 16 lautet die Stelle: „ Allt som är fast förflyktigas …“ , hier zitiert bei MEGA (1975: 79). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) 95 denna stund har jag inbillat mig att ostron är något som lever på havsbotten, men nu befinner vi oss i ett annat land, där andra tecken råder. [ … ] Ja, jag kommer ganska ofta i fortsättningen [ … ] vara den ende som helt naturligt kan säga. „ I solnedgången plockade vi ostron ur träden. “ Och realisten skall säga: „ Ostron växer inte på träd. “ Och jag skall svara: „ Tidvattnet lyfte dem dit. “ (KRÖ: 17) Bei Sonnenuntergang pflücken wir Austern in den Bäumen. Lauwarm das Wasser um die Füße, rosafarben und grün. Kleine Fische kitzeln unsere Haut. Nacktes Meer quer über die halbe Erdkugel bis zu Chiles und Perus Küsten. Zusammen mit einer alten Aboriginesfrau, Poetin und radikale Vorkämpferin einer zunehmend verlorenen Sache, schneiden wir die Austern mit einem Messer ab. [ … ] Die Austern sitzen auf den Stämmen, grau wie die Rinde, ebenso schwer zu entdecken wie die Trompetenpfifferlinge in schwedischen Wäldern - bis zum Moment, da man sie entdeckt. / Bis anhin bildete ich mir ein, dass Austern am Meeresboden leben, doch jetzt befinden wir uns in einem anderen Land, wo andere Zeichen gelten. [ … ] Ja, ich werde in Zukunft wohl der Einzige sein [ … ], der noch vollkommen natürlich sagen kann: „ Bei Sonnenuntergang pflückten wir Austern in den Bäumen. “ Und der Realist wird sagen: „ Auf den Bäumen wachsen keine Austern. “ Und ich werde antworten: „ Die Tide hat sie da hochgehievt. “ In diesem Sprachbild werden ein ‚ Realist ‘ und ‚ Poet ‘ in Opposition zueinander gebracht. Und es zeigt sich: der Poet, und nicht etwa der Realist, hat das letzte Wort oder „ behält recht “ mit seiner Beschreibung. Die Kolumne ist in drei Abschnitte untergliedert. Nach diesem ersten, hier beinah vollständig wiedergegebenen, kommt der Autor auf eine Differenz der subjektiven Wahrnehmung und Deutung zwischen Menschen, hier zwischen ihm und Partnerin Lena Cronqvist, zu sprechen. So lautet die entscheidende Stelle, als die beiden gefragt wurden, wie die Sommerferien waren. Die Replik beginnt mit der Antwort Lena Cronqvists (nachdem Göran geantwortet hatte, sie hätten den Fluß Haväng abgepaddelt): „ Aber was sagst du? Kanu, auf dem Haväng? Beide sind wir doch nur je 100 Meter Kanu gefahren, das war ein Tag, eine der vielen Reisen, und gedauert hat es kaum zehn Minuten! “ Es ist Zeit einzusehen, dass 1. Sie die Wahrheit sagt. 2. Ich nicht lüge. Denn zehn Minuten einer heißen Erfahrung kann ja ein Jahrzehnt der Tristesse über Bord werfen, ein Zeit-Büschel, so verhält es sich doch im Leben. Also haben wir beide recht, aber nur ich habe ja meine Bilder. Nur ich deute die Welt, wie ich sie gesehen habe. (KRÖ: 18) Tunström folgert, dass es sich um „ subjektive Bilder “ handele (18 - 19): „ Die nur ‚ ich ‘ gesehen habe. Und ich, in diesem Fall GT, denke: ‚ Nur was ich gesehen und erlebt habe, kann nur ich vermitteln, und es ist meine Verantwortung, es zu tun. Aber es sind auch, als Folge meiner Begrenzung, nur die Dinge, die niemand außer mir gesehen hat, die ich auch vermitteln kann. / Aber wer ist denn ‚ ich ‘ ? “ Der Autor sucht die Antwort poeseologisch, mit Bezugnahme auf den finnlandschwedischen Modernisten Rabbe Enckell (1903 - 1974): „ In seinem Essayband ‚ Och sanning ‘ 13 [sic] schreibt er, dass ‚ ich ‘ nicht nur ich ist, sondern ein Zusatz zu mir selbst, eine Spekulation um das Thema ich, und wenn ich ‚ ich ‘ schreibe, ist das Thema nicht ich, sondern die Fantasien, Einbildungen und Wahrnehmungen, womit man sein ich aufbaut, wenn man stark verspürt, dass man etwas in eine Fasson bringen sollte, das nie eine endgültige Form bekommt. Ich ist/ bin 14 eine Schöpfung, die an einem Nabelstrang der unmittelbaren Erfahrung unserer Sinne hängt. Wenn ich von ‚ ich ‘ spreche, bedeutet dies 13 Enckell (1966). Och sanning? [Und Wahrheit? ] 14 Im Schwedischen „ är “ schwingen das ‚ ist ‘ wie das ‚ bin ‘ mit. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 96 3 POETALOG eine Formlosigkeit, die nur umgestaltet werden kann, aber nicht mit Gewissheit wiederzugeben ist. “ (KRÖ: 19) Sein Resümee von Enckells Ich-Reflexionen reicht hinab an die sein gesamtes Schaffen grundierende Frage, die zur „ Schlingpflanze, die eine Stütze suchen muss “ in Prästungen führt und die am Ende seines Schreiblebens im Försök med ett århundrade zur Kernfrage wird. Was heißt Ich-Identität, was Authentizität? 4.) Kolumne 21 „ Tangenterna rör på sig igen “ [Die Tasten bewegen sich wieder: KRÖ: 78 - 80, Metallarbetaren, Oktober 1995] ist im Kontext der Studie von besonderem Interesse. Zum ersten Mal gibt der Autor seinen Leserinnen und Lesern - jenen, die ihn noch nicht kennen sollten - seinen Beruf bekannt: Schriftsteller. Weil der Autor darin zentrale Fragen seines Berufes sowie eine Selbstdeklaration zur Sprache bringt, wird dieser Beitrag ungekürzt und wieder direkt in der Übersetzung wiedergegeben: ICH GLAUBE IN DIESER SPALTE 15 BISLANG NOCH NIE auf meinen s. g. Beruf hingewiesen zu haben, und zwar den des Schriftstellers. Stattdessen gab ich damit an, was für ein guter Gärtner, was für ein Hirsch im Pilzepflücken, Grasschneiden, Teppichklopfen und Abwaschen ich sei. In meinem ganzen erwachsenen Leben genierte es mich, mich so zu nennen. Wenn ich gefragt wurde, sagte ich: „ Ich schreibe ein bisschen. “ Das war leichter, als ich jung war. Bereits als Dreizehnjähriger notierte ich in meinem Tagebuch, dass es mit mir als Schriftsteller zu Ende sei, da ich seit vier Tagen nichts mehr geschrieben hätte. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass dies so früh sich als mein einziger Weg erweisen sollte. Ich sollte einer werden. Doch war ich noch keiner. Denn, bevor ich mich Schriftsteller nennen könnte, dachte ich, müsste ich mir über ein paar Dinge im Klaren sein, mich aus dem Dschungel der Unwissenheit absträngen. Ich müsste mir klar werden darüber, in groben Zügen zumindest, worauf dies Leben hinauswollte, denn von Anfang an sah es aus wie ein gigantisches Fragezeichen, in dessen Kurven ich mich wie eine Raupe verkrochen hatte, ohnmächtig es herauszufinden. Als Schriftsteller sollte man wissen, womit man sich abgibt. Ein wahrhaftiger Schriftsteller reibt sich die Hände, setzt sich hinter sein Instrument, lässt den Fingern vom Beginn eines Gedankens bis ins Zielband ihren Lauf. Aber gewusst habe ich nie. In allem, was ich geschrieben habe, war ich auf der Suche danach, was ich zu sagen hätte, in meinen Geschichten und jenen der anderen, in Begegnungen, ja mithin in der Sprache, im eitlen Streben nach einem Korn von … Wovon … ? Um Wahrheit kann es doch wohl nicht mehr gehen? Zuerst versuchte ich mich ins Leben hineinzuschreiben. Nun versuche ich, stets unter Wahrung der Würde, mich daraus herauszuschreiben. Das ist vielleicht der Grund, dass meine Tastatur in den letzten Jahren nicht so viel Geräusch machte. Das Unternehmen schien zeitenweise vor dem totalen Aus zu stehen. Das Warenlager leer, die Gebrechlichkeiten des Körpers verhinderten Neuanschaffungen, tolle Ideen verwelkten wie Kartoffelstauden. Dennoch kann ich heute, am Ende dieses Monats der Vogelbeeren und der fallenden Blätter, sagen: „ Ich schreibe. “ Und in dieser Aussage steckt für jemanden wie mich Jauchzen. ODER WIE MEIN NACHBAR, der Hummerfischer es auf seinem ersten Flug in seinem Leben, als sich die Wolken irgendwo in Mitteleuropa für einen Augenblick verflüchtigten, ausgedrückt hatte: „ Jetzt sehe ich Boden. “ 15 „ I DEN HÄR SPALTEN “ meint: in dieser, monatlich hier publizierten Kolumne oder Zeitung. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) 97 Vielleicht braucht man Boden zu erkennen, um an das Wesentliche heranzukommen. Auch einen Stupser braucht es im Leben: beispielsweise eingesehen zu haben, dass man den Rasen nicht mehr zu mähen vermag. Nicht mehr beurteilen kann, ob die Blase leer ist. Oder wie letzte Woche, als ich die schon lange geplante Reise um die Welt buchen wollte, um auf Neuseeland die Filmeinspielung meines Romans Solveigs Vermächtnis zu verfolgen. Los Angeles, Tahiti, Neuseeland, Bali, Bangkok und nach Hause. Eine Menge schneebedeckter Vulkane, viele Palmen und südliche Schönheiten! Elendshäfen, Informationen aus erster Hand. Und dabei schaffte ich es nicht einmal mehr die drei Stockwerke in die Wohnung hinauf. In Momenten wie diesen, mitten in solchen Nahtod-Fiaskos, beginnt es zu schreiben. In Momenten wie diesen tritt der glühende Vogelbeerbaum zwei Schritte näher und sagt: „ Schau mich an, solange Zeit ist. “ In Momenten wie diesen, rufen sich Menschen, lebende wie tote, in Erinnerung. In Momenten wie diesen füllt sich die Luft mit den Fragen, die der Philosoph Heidegger die „ Frömmigkeit des Denkens “ nannte. Die Tasten bewegen sich wieder. Was nicht unbedingt heißt, dass das Geschriebene gut ist. Es bedeutet nur, dass eine Energie, die lange verschwunden war, einem den Körper von neuem auflädt. Bemerkenswert an dieser Kolumne ist, dass sie den Prozess des Werdens und Vergehens im Wort, wie er im Zentrum dieser Untersuchung steht, in nuce vorführt. 1. Göran Tunström konstruiert eine Distanz zwischen sich als Mensch und als Autor, indem er seinen Beruf, nämlich den des Schriftstellers, als einen „ s.[o] g.[enannten] “ ( „ mitt s k yrke, nämligen författarens “ ) bezeichnet. Tunström sagt außerdem von sich, dass er nicht weiß, wie und warum er Schriftsteller wurde. Dass er „ damals “ , zur Zeit der Berufswahl für sich nur den Weg des Schriftstellers gesehen habe, dass er es werden wollte, es jedoch noch nicht war. 2. Dass er die Voraussetzungen dafür noch nicht erfüllte: ein Schriftsteller müsse über das Leben „ und worauf es hinauswollte “ ‚ Wissen ‘ mitbringen, das Leben sei ihm dagegen „ wie ein gigantisches Fragezeichen erschienen, in dessen Kurven ich mich wie eine Raupe verkrochen hatte, ohnmächtig es herauszufinden. “ ( „ som ett gigantiskt frågetecken i vars kurvor jag likt en mätarlarv har krupit, utan förmåga att räta ut det. “ ) Ist die „ Raupe Schriftsteller “ erwachsen, folgt deren Verpuppung. Nach einer Zeit steht die Metamorphose an: Schreibend schlüpft Schriftsteller in spe Tunström ins Leben hinein, aus dem Leben hinaus, auf der Suche nach seiner (gültigen) Gestalt. Niederlagen begleiten den Vorgang. 3. Die Erfahrung, nach einem Beinahe-Aus allen Schreibens ( „ total nedläggelse “ [komplette Stilllegung]) sagen zu können „ Ich schreibe “ , erfüllt ihn mit Hochgefühl ( „ Jauchzen “ ). Damit hat er wieder Boden unter den Füßen; 4. Memento mori - gerade im Wissen um den Tod, beginnen die „ Tasten sich wieder [zu] bewegen “ und die Luft ist erneut voll der (Heideggerschen) „ Frömmigkeit des Denkens “ . 5.) Wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen wollen, sind solche ord/ Wort-Reflexionen auch in den Kolumnen kein Einzelfall, sondern stellen genreunabhängig ein nahezu durchgängiges und typisches Moment von Tunströms Schreiben dar: KRÖ: 24: Och ingen ville ha dessa döda stolar bord och skåp. Som nu ingen vill ha dessa döda ord, härjade av tid. Und keiner wollte diese toten Stühle Tische und Schränke haben. So wie jetzt keiner diese toten Worte haben will, verheert von der Zeit. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 98 3 POETALOG In der Kolumne mit dem Titel Ordens vikt [Das Gewicht der Wörter: KRÖ: 25 - 28, Metallarbetaren, Februar 1993] erinnert Tunström seine kurze Mitarbeit als Hilfskraft in der Druckerei Fylgia an der Tunnelgatan in Stockholm (bildhaft dargestellt in PRÄ: 259 - 260). Er zitiert den festen Mitarbeiter Wille, der, zurück von einer Reise nach Südamerika auf die Frage, wie es war, meint: „ ,Heiß ‘ , und als er nach einer Weile merkte, dass ich mehr hören wollte: ‚ Verdammt heiß ‘ . Damit war die Reiseschilderung abgeschlossen. Die Erzählung entleert. “ (KRÖ: 26) Schmerzlich habe er Willes unausgebildete sprachliche Ausdruckskraft registriert und fährt fort wie ein Soziolinguist und ersinnt den Begriff der „ verbale[n] Oberklasse [ … ], zu der Wille definitiv nicht gehörte “ (27); sie habe das Privilegium zum „ sprachlichen Potential “ in einer Gesellschaft. In einer Analogie zu den ‚ Schwarzen Löchern ‘ im Universum, fährt er mit der Stimme des Poeten fort, dass „ in den Sprachgalaxien [ … ] solche Löcher entstehen, wenn die Sprachmaterie im Mangel an Kernenergie, Nahrung und Stimulanz und - wage ich zu behaupten: Liebe - in sich zusammenstürzt. “ (ebda.) Er schließt die Kolumne mit einer Aussage, die für sein ganzes Werk gilt: KRÖ: 27: Man har undersökt barn som fått möta Det Negativa Språkets döende strålar: „ Dra åt helvete, Stick, Håll käft. “ Ord som mentala örfilar, ord man omedelbart och instinktivt måste skydda sig mot. Man har följt sådana barn från tidiga år upp genom tonåren och det har - enligt denna undersökning - visat sig att de fått bestående men: de kan aldrig lära sig tro på ord, de kan inte vända dem utåt, ge ljus. 16 Man hat Kinder untersucht, die tödlichen Strahlen Der Negativen Sprache ausgesetzt waren: „ Scher dich zum Teufel “ , „ Hau ab “ , „ Halts Maul. “ Worte wie mentale Ohrfeigen, Worte, gegen die man sich unmittelbar und instinktiv schützen muss. Man hat solche Kinder von klein auf und bis in die Teenagerjahre beobachtet und dabei hat sich - gemäß dieser Untersuchung - gezeigt, dass sie festsitzende Aber haben: sie lernen es nie, Wörtern zu vertrauen, sie können sie nicht nach außen richten, [können kein] Licht geben. Augenfällig in dieser Rekapitulation ist die Häufung des Wortes ‚ Wort ‘ , und wie kategorisch Tunström die Wörter mit der Elementarkraft Glaube oder Vertrauen ( „ tro “ ) verschweißt sehen will, damit sie tragen können, und dass die Menschen sie - lichtvoll - „ nach außen richten “ . Brigitte Boothe zur Relevanz einer von Zuwendung und Zuhören begleiteten Kommunikation der Eltern mit ihrem Kind: „ Es lernt, Sprache zu gebrauchen, um Geschehen als Ereignis zu formulieren. Es lernt, elterliche Zuschreibungen zu übernehmen, und es lernt später, Gefühle und Gedanken als eigene geltend zu machen. “ 17 Wie Tunströms Kolumne aufzeigt, blieb diese Erfahrung Druckereimitarbeiter Wille versagt. Er hatte in seiner ‚ Lebenswelt ‘ nichts zu erzählen und nichts Eigenes geltend zu machen. 16 Zur Lichtmetaphorik bei Tunström vgl. Winiger (2014). Licht ist Liebe. Siehe darin speziell das Kap. 3.1: „ Lichtmetaphern- und symbole “ (ebda.: 18 - 29). - Vgl. dazu Kolumne 1 „ Ljuset faller så olika “ , in der Tunström das „ Licht “ der (großelterlichen) Wörter und deren Wirkung evoziert. 17 Boothe (2012: 216). Der Befund basiert auf der am Psychologischen Institut der Universität Zürich am Lehrstuhl Boothe entwickelten Erzählanalyse JAKOB, womit u. a. die Wortwahl in Alltagserzählungen ausgewertet wurde. Vgl. https: / / www.psychologie.uzh.ch/ de/ bereiche/ ehem/ klipsa2/ jakob.html (abgerufen am 04.08.2021). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) 99 KRÖ: 33: Artiklar 18 blev öar i ens tänkande, långt efter det att de exakta formuleringarna bleknat bort, grönskande öar i en hoppfullhetens arkipelag, dit hemlösa ord som solidaritet, hederlighet, god vilja kunde söka sig en tillflykt. Die Artikel wurden einem zu Inseln im Denken, nachdem die exakten Formulierungen längst verblichen waren, grünende Inseln in einem Archipelag voller Hoffnungen, wo heimatlose Wörter wie Solidarität, Redlichkeit, guter Wille eine Zuflucht hatten. Tunström räsoniert in der Kolumne 7 „ Delfiner och solidaritet “ [Delfine und Solidarität: KRÖ: 32 - 34, Metallarbetaren, Mai 1993], nachdem er aus Fichtelius ’ Kolumne, in der die Fähigkeit von Kleinkindern respektive von Delfinen, Buchstaben zu erkennen, verglichen werden, mit seiner verwebte: „ Man spürt die Liebe, den guten Willen in diesen Zeilen, den Traum einer restlos andersartigen Sprache, einer unbefleckten Sprache, die wir ‚ Menschenkinder ‘ in der Tat für unser eigenes Überleben benötigten. “ (KRÖ: 34) Dieses Fazit entspricht weithin seiner Literatur; ihre Sprache tendiert zur „ Andersartigkeit “ , Attribut dieses Autors „ mit einer neuen Ästhetik eines phantastischen Erzählens “ (Glauser 2006: 378). Als Citoyen kontrastiert Tunström seine politische Position mit der eines „ högerpolitiker “ (eines Politikers der Rechten), den er sagen hörte: „‚ Jag tror inte på den solidariska människan. ‘ De orden öppnade för den djungelns lag som tycks bli alltmer förhärskande. “ (KRÖ: 34) [ ‚ Ich glaube nicht an den solidarischen Menschen. ‘ Diese Worte bahnten den Weg für das, wie es scheint, zunehmend vorherrschende Gesetz des Dschungels.] Die Kolumne endet mit den Worten: „ Ich spüre [ … ] dieses Verlangen nach Delfinen und den Dolmetschern, die ihr Vertrauen nicht nur den Wörtern bezeigen, sondern einigen äußerst konkreten, wirklichen Wesen, mit einer zwar noch geheimen, doch hoffentlich andersartigen Sprache. “ In Tunströms Utopie der Kommunikation ist die tierische Lautsprache inkludiert, als Komplettierung und Gegenpol zur Wortsprache des Menschen. 19 KRÖ: 52: Snö och tystnad kring den lilla skrivarstugan [av Tage Aurell] uppe i björkbacken nu. Mycket tystnad också då - under fyrtio-, femtiooch sextiotalen - när enstaka ord lyckades krångla sig förbi den inre censorn och levande ta sig till det avlägsna papperet. [ … ] KRÖ: 53: TAGE AURELL. Egendomligt tyst omkring hans författarskap också. Men jag ser honom - och hans Kathrine - sitta i de imposanta Alexander Kielland-stolarna. Tage rullar sina cigarretter, och med några få ord för han mig till ett gathörn i Paris, till en grekisk ö, Patmos, till en stuga bakom en sten i skogen. Han guidar en blivande kollega runt i världen, och jag sitter väl med gapande mun och stora ögon och ser livet. Men lika tydligt som jag hör orden ser jag nu hans långa fingrar, som, när orden kommer till ords ände, med en oändlighetsgest visar på det varaktigt gåtfulla och plågsamma i människans väsen. [ … ] KRÖ: 53 - 54: Om det vore så, att denna utförslöpa som väntar mig, var dagens sista mening, hur hisnande skulle den då inte 18 Tunström bezieht sich auf die Artikel des Histologen Karl-Erik Fichtelius (1924 - 2016), der in den ausgehenden 1960er-Jahren in der Zeitung Dagens Nyheter in einer seiner Kolumnen auch über die (sprachliche) Intelligenz von Delfinen schrieb, was Tunström mit lebhaftem Interesse verfolgt hatte, wie er in seiner Kolumne schreibt. Solidarität ist ein wiederkehrender Schlüsselbegriff in Tunströms ersten Jahren als Kolumnist. 19 Vgl. bspw. Jürgen Hermes „ Über Sprache und Tierkommunikation “ , in dem er den aktuellen Forschungsstand in der kontroversiell geführten Diskussion kritisch resümiert. Siehe dessen Online-Artikel: https: / / texperimentales.hypotheses.org/ 744 (abgerufen am 04.08.2021). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 100 3 POETALOG tyckas, hur solbelyst och befriande, åminstone till dess man far på huvet rakt in i en driva av andra ord … KRÖ: 52: Schnee und Stille jetzt um die kleine Schreibhütte [Tage Aurells] am Birkenhang drüben. Viel Stille auch damals - in den 40er-, 50er- und 60er-Jahren - als es einzelnen Wörtern gelang, sich am inneren Zensor vorbeizuhangeln und lebend sich auf das entfernte Blatt zu bringen. [ … ] KRÖ: 53: TAGE AURELL. Eigentümlich still auch um ihn und sein Werk. Aber ich sehe ihn - und seine Kathrine - in den imposanten Alexander-Kielland- Stühlen sitzen. Tage rollt seine Zigaretten, und mit einigen wenigen Worten führt er mich an eine Straßenecke in Paris, auf eine griechische Insel, Patmos, zu einer Hütte hinter einem Stein im Wald. Er führt einen werdenden Kollegen rund um die Welt, und ich sitze wohl mit offenem Mund und großen Augen da und sehe das Leben. Aber ebenso deutlich wie ich seine Worte höre, sehe ich jetzt seine langen Finger, die, wenn die Worte zum Schlusswort kommen, mit einer Unendlichkeitsgeste auf das allzeit Rätselhafte und Schmerzvolle im Wesen des Menschen verweisen. [ … ] KRÖ: 53 - 54: Wenn dem so wäre, dass diese Abfahrt, die auf mich wartet, der letzte Satz des Tages war, wie schwindelerregend käme er einem doch vor, wie befreiend und voller Sonnenschein, bis man kopfvoran in eine Schneewehe anderer Wörter stößt … Die herausragende Bedeutung Aurells für die Autorgenese Tunströms demonstriert auch die Anekdote aus der Kolumne „ Ett skidspår, en mening “ [Eine Skispur, ein Satz: KRÖ: 51 - 54, Metallarbetaren, April 1994]. 20 Besonders auffallend an ihr ist, dass Tunström sich als den werdenden Kollegen ( „ blivande kollega “ ) erinnert, wie er Körper, Wörter und Gesten Aurells als ein Ganzes beschreibt und ganz zum Schluss der Kolumne mit der Metapher der „ Schneewehe anderer Wörter “ die Problematik des Schreibens an der Qual der zu treffenden Wortwahl und dem offenen Satzpunkt aufreißt und poeseologisch in der Schwebe hält (vgl. den Dreipunkt). KRÖ: 65: Och för att parafrasera Linnés ord: Ytterst kort tid av våra liv är vi verkligt samtida. Und um Linnés Worte zu parafrasieren: Eine höchst kurze Zeit nur in unseren Leben, sind wir wirklich ge(gen)wärtig. KRÖ: 68: Ja, vilka hinkar av outtalbara ord och meningar skulle inte också vi kunna ösa upp ur våra egna brunnar, om kraften fanns. 20 Prästungen enthält mehrere Schilderungen Tunströms mit seinem Vorbild (bspw. im Kap. „ Poeterna “ ). Anders Larsson, Bibliothekar an der Handschriftenabteilung der Universität Göteborg, schreibt außerdem: „ Det är riktigt att det finns en del material rörande Göran Tunström i författaren Tage Aurells arkiv här på biblioteket. Det är fråga om ett 25-sidigt maskinskrivet manuskript från 1955 med diverse handskrivna rättelser kallat Harpoklagarens sånger. Utöver detta finns även några brev (4-5 st.) från Tunström till Tage Aurell. “ [Es gibt tatsächlich von Tunström Materialien im Archiv des Schriftstellers Tage Aurell. Es handelt sich um ein 25-seitiges Typoskript von 1955, betitelt Harpoklagarens sånger [Die Gesänge des Harfenklägers], mit diversen handschriftlichen Korrekturen. Dazu gibt es einige Briefe (4 - 5 St.) von Tunström an Tage Aurell. (E-Mail von Larsson an den Verf. L. D. vom 20.09.2017). „ Harpolekaren och hans son “ [Der Harfenspieler und sein Sohn] lautet der Titel des Gedichts in Viktor Rydbergs poetischem Roman Vapensmeden [Der Waffenschmied] von 1892. Das seinerzeit populäre und bis heute in vielen Neuauflagen erschienene Buch mit dem Helden und Vater Svante und dessen Sohn Gunnar dürfte sich somit auch in der Bibliothek im Pfarrhaus von Sunne befunden haben. - Der Dank für den Hinweis auf Rydbergs Roman geht an Gunnar D Hansson. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) 101 Ja, was für Eimer unaussprechlicher Wörter und Sätze könnten nicht auch wir aus unseren eigenen Brunnen schöpfen, wäre die Kraft dazu vorhanden. KRÖ: 82: „ Det var gött", säger de med emfas och som om det inte skulle räcka med dessa starka och enkla ord stryker de sig med handleden om munnen och får hallonsås på skjortärmen. „ Es war lecker “ , sagen sie mit Nachdruck, und als wäre es mit diesen starken und einfachen Worten nicht genug, streichen sie sich mit dem Handgelenk um den Mund und kleckern sich Himbeersauce auf die Hemdsärmel. Eine der vielen Beobachtungen Tunströms, in denen er die Übereinstimmung einer Wort- Äußerung, begleitet von einer Körper-Handlung oder Geste, hervorhebt. So auch im nächsten Passus, aus der gleichen Kolumne „ Köket är mannens plats “ [Die Küche ist der Platz des Manns: KRÖ: 81 - 83, Metallarbetaren, November 1995]: KRÖ: 83: De har väl rätt, det kanske räcker med ordet Gött, trots att jag lagt ner åtta timmars arbete på maten. Sie [sc. die Gäste] haben vielleicht recht, das Wort Lecker muss wohl genügen, obschon ich acht Stunden Arbeit in das Essen investiert habe. Der Autor vergleicht darauf die Wort- oder Schreib-Arbeit mit der Küchen- oder Koch- Arbeit: „ [P]ubliceringar är aldrig lika lustfyllda som skapandet, och recensioner till sin natur mycket kortare än den tid man fått hålla på vid spis eller skrivmaskin med att smaka av, nicka, skaka på huvet, vrida på olika slags pepperkvarnar. “ (KRÖ: 83) [[P]ublikationen sind nie so lustvoll wie ihre Erschaffung, und Rezensionen naturgemäß viel kürzer als die Zeit, die man am Herd damit verbrachte, abzuschmecken, den Kopf zu schütteln, allerhand Pfeffermühlen zu drehen.] „ [S]kapandet “ , das Erschaffen, die Substantivierung des Verbes germanischer Herkunft für ‚ schaffen, machen ‘ ist das Pendant zu Griechisch ‚ machen ‘ , ‚ herstellen ‘ ποε î ν , worauf sich das Handwerk der Poesie bezieht. In manchen Sprachen steht ‚ Gedicht ‘ für ein besonders exzellentes Gericht aus der Küche, in der französischen Sprache im Plural als poèmes culinaires benannt. KRÖ: 101: Romanen: en fiktion stor nog att rymma en verklighet. Ett arbete med en dröm om att orden - som kanske i dag - skall bryta igenom ytan, och komma upp i ljuset, naket glittrande. / Som sker vid fiskafänge. / Det är märkvärdigt att kunna sätta Punkt. Och att våga tro att efter Punkt börjar en ny mening, en ny ändlös räcka av nya meningar. Der Roman: eine Fiktion, groß genug, um einer Wirklichkeit Platz zu bieten. Eine Arbeit mit dem Traum, dass die Wörter - wie vielleicht heute - an die Oberfläche dringen und ans Licht kommen werden, nackt glitzernd. / Wie beim Fischfang. / Es ist eigenartig, einen Punkt setzen zu können. Und es wagen zu glauben, dass nach einem Punkt ein neuer Satz begänne, eine neue endlose Reihe neuer Sätze. Kindliches Staunen über die kreatürliche Kraft der Wörter für eine Romansprache. (Tunström hatte 1996 das Manuskript von Skimmer [Der Mondtrinker] abgeschlossen.) Wieder spielt das „ ans Licht kommen “ der Wörter eine Rolle, eine Art Transzendenz, „ nackt Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 102 3 POETALOG glitzernd “ sollen sie ins Bewusstsein kommen. Das Staunen wird verstärkt durch den Glauben, dass trotz Punkt „ eine neue endlose Reihe neuer Sätze “ möglich sind. Eine Anspielung auf Chomskys Generative Transformationsgrammatik 21 , die der Wortsprache die Potenz der unendlichen Erneuerung attestiert? Das heißt (für den Autor): ein weiteres Buch schreiben ist möglich, trotz lebensbedrohlicher Krankheiten, die in den Kolumnen immer öfter zur Sprache kommen - noch ist nicht ausgeschrieben. KRÖ: 115: „ Varför skulle jag veta det? " svarade han [Werner Aspenström] och då rämnade marken inte bara mellan honom och Ivar Lo, utan mellan alla författare i världen: det skrivna ordet placerar inte alla på samma ö, med samma stora vision. „ Weshalb sollte ich es wissen? “ , antwortete er [WernerAspenström], und da riss nicht nur der Boden zwischen ihm und Ivar Lo 22 auf, sondern zwischen allen Schriftstellern der Welt: das geschriebene Wort platziert nicht alle auf die gleiche Insel, mit der gleichen großen Vision. Göran Tunström hatte bereits als Internatsschüler der Fjellstedtska Skolan in Uppsala auch mit dem verehrten Werner Aspenström (1918 - 1997) Kontakt aufgenommen, wie er in „ Inga fler dikter om Månen “ [Keine weiteren Gedichte über den Mond: KRÖ: 114 - 116, Dagens Arbete, April 1997] berichtet. Darin stand, auch er habe ein Gedicht über den Mond geschrieben. Als Tunström WernerAspenström an seinem Wohnort in Stockholm besuchen durfte, bemerkte dieser, dass ganz in der Nähe auch Ivar Lo wohnte. „‚ Wissen Sie nicht wo? ? ? ’ [ … ] Ich konnte nicht anders als in Fragezeichen auszubrechen, fünf oder zehn Stück mindestens, denn in meiner poetischen Traumwelt waren alle Schriftsteller eine einzige große Brüderschaft - ich glaube, dass ich noch keine Schwestern entdeckt hatte. Ich bildete mir ein, dass sie einander kannten und Kontakt pflegten untereinander. “ Die Anekdote beleuchtet eine wichtige Berufserfahrung in Tunströms Autorgenese: Er wurde gewahr, dass nicht alle Dichter persönlich Umgang miteinander pflegen, dass es sich bei dieser „ Brüderschaft “ eher um einen Verband ausgesprochener Individualisten handelte, wie Aspenström selbst einer war. Der junge Wortschmied war so beeindruckt von dessen Gedichtband Litania, der im März 1952 herauskam, „ der bewirkt hat, dass ich einen ganzen Herbst über Litaniagedichte schrieb. “ Nun ist dies mehr als eine Anekdote, denn in Aspenströms Litania gibt es viele ord/ Wort-Stellen. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass er nicht bloß epigonal den Stil von dessen Naturgedichten in Litania kopiert hat (der seinerseits sich alsbald davon löste und vielmehr „ Antipoeme “ schrieb, wie Tunström bemerkt), sondern auch die ins Gedicht inskribierte Wort-Reflexion 23 . Von nicht minderem 21 Gemäß dem Linguisten und Philosophen Noam Chomsky und seinem Modell der Generativen Transformationsgrammatik, präsentiert 1965 in Aspects of the Theory of Syntax, ist das menschliche Sprech- und Rezeptionsvermögen befähigt, mit einer endlichen Anzahl von Regeln eine unendliche Anzahl von Sätzen zu bilden und zu sprechen sowie die Inhalte von nie zuvor gehörten Sätzen zu verstehen und damit zu kommunizieren. Dass die Wörter eines Romans außerdem „ an die Oberfläche dringen “ werden, erinnert an Chomskys Theorie der „ Oberflächenresp. Tiefenstruktur “ . 22 Ivar Lo-Johansson (1901 - 1990), der bekannteste Arbeiterschriftsteller Schwedens. 23 Insgesamt sechs ord/ Wort-Stellen finden sich in den Gedichten von Litania; vgl. in [1.] Porträtt av svenska poeter [Porträt schwedischer Poeten, 45 - 51, hier: 45]: „ Hans ord “ [Seine (sc. des Dichters) Worte] und 50: „ Bortom nyanserna / söker han det rätta ordet / Bortom ordet / den rätta tystnaden “ [Hinter den Nuancen sucht er das richtige Wort / Hinter dem Wort / das richtige Schweigen]; in [2.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) 103 Interesse ist Tunströms Bekenntnis: „ Han var min första författare. / Det vill säga den första jag vågade skriva till. “ (KRÖ: 114) [Er war mein erster Schriftsteller. / Will sagen, der erste, dem ich zu schreiben wagte.] Das Bild der Raupe ( „ mätarlarv “ ) hatte Tunström bereits in seiner zentralen Selbstaussage in Kolumne 21 „ Tangenterna rör på sig “ (siehe oben S. 97 - 99) zur Sprache gebracht. Tunströms Hervorhebung des Bildes der Raupe lässt darauf schließen, dass es ihn, im entscheidenden Moment seiner Autorgenese, seiner „ Aspenström-Phase “ , tief geprägt hat. „ Mätarlarven “ lautet der Titel eines der Gedichte in Abschnitt II, das von Olof Lagercrantz in seiner Rezension 1952 speziell hervorgehoben wird. 24 Der Prozess der Metamorphose versinnbildlicht lyrisch nicht zuletzt auch das Werden und den Wandel im Wort. KRÖ: 119 Nu behöver ju inte orden i ett röstumgänge användas för att förmedla ett betydelseinnehåll, deras huvudsakliga funktion är att fylla en social uppgift, att döda tid. Men någonstans ifrån kommer ju ändå orden. Från minnet, påstår ett papper framför mig: „ Människan skapar nya yttranden av redan existerande använda fraser (bebodda, som Bachtin sade) och fragment, som kombineras med varandra med stöd av spåren i ett enormt och dynamiskt, språkligt kulturellt minne. “ 25 Nun brauchen die Wörter einer Abstimmung ja nicht einen Inhalt oder eine Bedeutung zu vermitteln, ihre hauptsächliche Funktion ist eine soziale Aufgabe; Zeit zu vernichten. Doch von irgendwoher kommen die Wörter trotz allem. Aus dem Gedächtnis, behauptet ein Papier vor mir: „ Der Mensch schafft neue Äußerungen aus bereits existierenden, angewendeten Phrasen (bewohnten, wie Bachtin sagte) und Fragmenten, die miteinander kombiniert werden mit Hilfe von Spuren in einem enorm und dynamisch sprachlichkulturellen Gedächtnis. “ KRÖ: 142: Gud ske lov och pris: återigen vände hon [en kvinna vid strandpromenaden i Santa Monica, CA] sig mot mig, återigen flöt det mot mig, detta hennes oceaniska leende. / „ Oceaniska “ ! Jag fick inte glömma ett sådant ord, när jag nu skulle få tid att skriva ner det. Ty om det här var inledningen till en historia skulle det inte bli tid för reflektioner! Gott sei Lob und Dank: nochmal hat sie sich [eine Frau auf der Strandpromenade in Santa Monica, CA] zu mir umgewandt, nochmal flutete es mir entgegen, ihr ozeanisches Diktaren vid stranden [Der Dichter am Strand]: 52: „ fastän orden sviker “ [obschon die Worte (sc. des Dichters) täuschen]; in [3.] Du måste öva dig i det verkliga [Du musst dich im Wirklichen üben, 54 - 55, hier: 55] (die drei Schlusszeilen): „ Du måste öva dig i det verkliga, / inpränta tingens namn, ett efter ett, / de ursprungliga tingen, de ursprungliga orden. - - - / - - - (Fragment av en lärodikt “ [Du musst dich im Wirklichen üben, / die Namen der Dinge einprägen, einen nach dem andern, / die ursprünglichen Dinge, die ursprünglichen Wörter. - - - / - - - (Fragmente eines Lehrgedichts)]; in [4.] Segrarna närmar sig [Die Sieger nähern sich]: 66: „ Deras [sc. der Sieger] brännande ord skall vi inte uthärda. “ [Ihre (sc.: der Sieger) beissende Worte werden wir nicht ertragen]; in [5.] Förebud [Vorbote, 66 - 67, hier: 67]: „ Ord har jag samlat och skuggor, skuggor. “ [Wörter habe ich gesammelt und Schatten, Schatten.] 24 Vgl. „ Aspenströms nya diktsamling “ [Aspenströms neue Gedichtsammlung] in: Dagens Nyheter (20.3.1952, o. S.). - Lagercrantz meint zu Aspenströms vierter Gedichtsammlung: „‚ Litania ‘ handlar om misstron, om bristen på tillit. “ [ ‚ Litania ‘ handelt vom Misstrauen, vom Mangel an Zuversicht.] 25 Eva Hættner Aurelius zitiert Gunnar D Hanssons Worte „ de bebodda orden “ [die bewohnten Worte] (Bergsten 1998: 45) im Zusammenhang seiner Ausführungen zu Ahlins Fromma mord und dessen „ erosmystik “ [Erosmystik]. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 104 3 POETALOG Lächeln. / „ Ozeanisches “ ! Ich durfte ein solches Wort nicht vergessen, hätte ich doch jetzt Zeit, um es aufzuschreiben. Denn, wenn das hier die Einleitung zu einer Geschichte war, blieb keine Zeit für Reflexionen. KRÖ: 159: Han [en författare] blundade och satte fingret på en punkt i sitt kaotiska, mentala lexikon och fick upp ordet sextonhundratalet. Han skulle lära sig allt om sextonhundratalet. Först. Er [ein Schriftsteller] kniff ein Auge zu und setzte den Finger auf einen Punkt in seinem chaotischen, mentalen Lexikon und traf auf das Wort das 17. Jahrhundert. Er würde sich alles über das 17. Jahrhundert beibringen. Zuerst. „ Det var en författare som ville skriva om Allt. “ [Es gab einen Schriftsteller, der über Alles schreiben wollte] beginnt Tunström Kolumne 48 „ Allt på en gång “ [Alles auf einmal: KRÖ 159 - 161, Dagens Arbete, März 1999]. Der (im Märchenton) erwähnte Schriftsteller ist er selbst und „ das 17. Jahrhundert “ und „ Alles “ bilden die Hauptstränge in seinem Försök med ett århundrade, dessen Abfassung ihn in den Jahren vor seinem Tod umgetrieben hat. Ob er, wie hier dargestellt, einfach „ ein Auge zukniff “ und so den Stoff (per Zufall) für das Thema seines letzten Buches wählte, wird im nächsten Kapitel 3.3 nachgegangen, das sich seiner unbändigen Essay-Erzählung widmet. KRÖ: 167: Grupper bildas, orden får vassa kanter, vinet mångdubblar dem, vem är du, vilket läger tillhör du? Och plötsligt fryser festen. Gruppen bilden sich, die Wörter bekommen scharfe Kanten, der Wein vervielfacht sie, wer bist du, zu welchem Lager gehörst du? Und plötzlich gefriert das Fest. Diese Textstelle gehört zu Kolumne 50 „ En dröm före kriget “ - Ein Traum vor dem Krieg 26 [KRÖ: 165 - 167, Dagens Arbete, Mai 1999]. Tunström erzählt den Traum (den er wirklich geträumt habe, vor Ausbruch des ‚ Kosovokriegs ‘ ) von einer „ Universität des Universums, die Wissen 27 herabstrahlte - und zwar gutes Wissen, das Nationalismus, Rassismus und Dummheit ausrotten würde - in allen vier Himmelsrichtungen der bekannten Welt. Und wie gesagt, ich träumte dies vor dem Krieg. “ (KRÖ: 165) Und er fährt im nächsten Abschnitt so weiter: „ Gab es Platz für einen Gott in diesem Wissen? Ja, doch ein Gott geschaffen nach unserem Bedürfnis, ein Gott, oder sieben [Götter], denn manchmal brauchen wir viele. Gab es, in diesem Wissen, Raum für einen Sinn mit unseren Leben? Nein, kein anderer Sinn als die Begegnung zwischen einem Du und einem Ich, was Sinn genug ist. Die Energie des Dialogs. “ (ebda.) Das ist ein Komprimat (in Ekelöfscher Diktion) von Bubers dialogischem Prinzip Ich und Du und dem Dritten, dem Raum, den eine Begegnung erst möglich macht und erschafft. Dass Gott Platz hat, ist erstaunlich, auch wenn es nicht einer ist, sondern auch „ sieben “ sein können - eine deutliche Negierung der Vorstellung eines einen, allumfassenden Gottes. 26 Mit „ vor dem Krieg “ ist der Kosovokrieg gemeint, der mit der Kapitulation Belgrads im Juni 1999 zu Ende ging. In der Kolumne ist von Kriegsbefürwortern und -gegnern die Rede, was zu „ Gruppen bilden sich, Wörter bekommen scharfe Kanten “ führt. 27 kunskap im Schwedischen hat die zwei Grundbedeutungen: „ Wissen “ und „ Kenntnis “ . Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) 105 KRÖ: 177: Byggnadsställningar är alla ord, provisorier. Så småttiga de känns, och småttiga är de därför att vi inte äger något större språk: och vi har tänjt våra föreställningar så långt vi förmådde - och det var inte långt, det blev en mycket liten provins. Baugerüste sind alle Wörter, Provisorien. Wie kleinlich sie einem doch vorkommen, und kleinlich sind sie deshalb, weil wir keine größere Sprache besitzen; dabei haben wir unsere Vorstellungen so weit gedehnt, wie wir konnten - doch weit kamen wir nicht, es ist eine sehr kleine Provinz geworden. Dieses sprachkritische Segment stammt aus Tunströms Kolumne 50 „ Vad bryr sig Gud? “ [Was kümmert sich Gott? : KRÖ: 177 - 179, Dagens Arbete, November 1999]. Sie beginnt mit der rhetorisch gestellten Frage, auf die auch hier keine Antwort zu finden ist: „ Was kümmert sich Gott um die Theologie? Was kümmert er sich um die Kirche, diese Brust, an die Menschen bisweilen wie forthin mit ihren kleinen Fingern sich klammern? (KRÖ: 177), und stellt sich in Relation zum Wort Gottes. So findet sich auch die These „ Ordet tro är inget fast ord, det vilar inte på något fundament i kroppen eller själen. “ (KRÖ: 178) [Das Wort Glaube ist kein festes Wort, es ruht nicht auf einem Fundament im Körper oder in der Seele.] Glaube und Wort stehen demgemäß nicht in einer festen (gottgegebenen) Wechselbeziehung. Es existiert keine unmittelbare ‚ religio ‘ (Rückbindung) unter ihnen. Das Wort ist bloßes (Hilfs-) Mittel, Gerüst für den Bau und Einzug in eine „ größere Sprache “ , diese immer noch „ sehr kleine Provinz “ . Tunströms (inhärenter) Gedanke des Entfernens des Wort-Gerüsts (Provisorium) gleicht damit Wittgensteins Satz-Leiter, die einer „ wegwerfen “ müsse, will er die Lehr-Sätze in seinem Tractatus Logico-Philosophicus verstehen. 28 Sein Aperçu weckt den alten Traum, den Eco als Die Suche nach der vollkommenen Sprache bezeichnet, zu neuem Leben, Menschheitstraum seit vorbiblischen Zeiten. 29 Tunström schreibt an der Idee einer „ utopische[n] ‚ Ursprache ‘“ (Burger 1989: 7) weiter und streut sie, mannigfaltig und breit - bis in die Gewerkschaftszeitung. KRÖ: 189: Nietzsche som säger sig tala icke ord men blixtar. Nietzsche, der behauptet nicht in Worten, sondern in Blitzen zu sprechen. 30 28 Vgl. Wittgenstein (1949: 188), Nummer 6.54: „ Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) / Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. “ Diese Sätze stehen unmittelbar vor dem, den Tractatus abschließenden (Cardinal-)Satz, Nummer 7: „ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. “ (ebda.) 29 Eco eröffnet sein Buch mit der Geschichte um das berüchtigte Experiment zweier mit dem Verbot belegter Neugeborener, niemand dürfe auch nur ein einziges Wort an sie richten, das gemäß Herodot der ägyptische Pharao Psammetich I. (664 - 610 v. u. Z.) durchführen ließ, um so die „ älteste Sprache “ der Menschheit herauszufinden. - Eco (1997: 357) hält dem in seinem Schlusswort entgegen: „ Die Ursprache war nicht eine einzige, sondern die Gesamtheit aller Sprachen. Vielleicht hatte Adam diese Gabe noch nicht in vollem Umfang erhalten, vielleicht war sie ihm nur verheißen worden, und der Sündenfall hat ihre langsame Aneignung unterbrochen. Seinen Kindern aber ist als Erbe der Auftrag geblieben, sich die volle und versöhnte Herrschaft über den Turm von Babel zu erwerben. “ 30 Vgl. „ Was ich heute bin, wo ich heute bin - in einer Höhe, wo ich nicht mehr mit Worten, sondern mit Blitzen rede - oh, wie fern davon war ich damals noch! - Aber ich sah das Land - ich betrog mich nicht einen Augenblick über Weg, Meer, Gefahr - und Erfolg! “ (KSA 6: 320, in: Ecce homo. Wie man wird, was man ist.) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 106 3 POETALOG Dass Göran Tunström in seiner letzten Kolumne, geschrieben gut einen Monat vor seinem Tod, in einer Art Kulmination die Quintessenz seiner bisherigen Überlegungen mit einem Zitat Nietzsches verdichtet, erreicht eine seltsame Koinzidenz der Thematik zu der nahen biografischen Chronologik (auch mit dem Denker, Philosophen und eminenten Sprachkritiker Friedrich Nietzsche) durch den Zeitpunkt seiner Niederschrift, „ am Ende “ einer lebenslangen Auseinandersetzung mit der begrifflichen Sprache angelangt, der er, wie viele Kolumnen bezeugen, kritisch gegenüberstand. Damit ist er ins Herz seiner poetischen Kammer vorgedrungen. Die Referenz an Nietzsche, „ der lieber Professor in Basel als Gott sein wollte “ , 31 steht in Kolumne 58 „ När äntligen gryningen kommer “ [Wenn endlich die Dämmerung kommt: KRÖ: 189 - 191, Dagens Arbete, März 2000]. Der Titel ist sowohl real wie metaphorisch zu verstehen. Göran Tunström findet keinen Schlaf und kann die Morgendämmerung kaum mehr erwarten, wie er ausführlich schildert. Er unterstreicht dies, indem er Strophe III aus Tomas Tranströmers Gedicht „ Nattjour “ zitiert, 1970 erschienen im Band Mörkerseende. „ Vargen är här, alla timmarnas vän / och han rör vid fönstret med sin tunga. / Dalen är full av krälande yxskaft. / Nattflygaren dån rinner över himlen / trögt, som från en rullstol med hjul av järn. “ 32 Im übertragenen Sinn alludiert er auf Wagners Götterdämmerung und Nietzsches Götzen-Dämmerung. Mit der Paraphrase dieser Zeilen summiert Tunström, was seine Randbemerkungen über die Sprache in den Kolumnen vorgedacht haben: seinen unaufhaltsamen Unglauben an einen unhinterfragten Gebrauch der Wörter. Er ist geworden, was er ist: Sprachskeptiker, dem es in seinem Schaffen mit den Wörtern, dem schöpferischen Akt des Schreibens, zunehmend um eine „ Umwertung aller [ihrer] Werte “ zu tun ist, was sein Försök med ett århundrade mit seinem unbändigem Assoziations- und Sprachfuror und dem nichtlinearen Erzählen demonstriert. Schwedens Kulturinstitutionen kennen die Tradition der Veranstaltung von Poetikvorlesungen nicht, so wie sie v. a. in Deutschland, in Österreich oder der Schweiz seit vielen Jahren meist an Universitäten ihren festen Platz haben. Mit der Herausgabe der Krönikor Göran Tunströms, ist postum ein kaum beachteter, umso überraschender Anfang in diese Richtung gemacht, auch wenn diese hier „ nur “ in schriftlicher Form vorliegen. Tunströms Krönikor sind ein Kondensat an selbstreflexiven Erzählungen seiner Autorgenese. Die Kolumnen des poeta doctus zeugen von den Säulen, die sie tragen: Seine gesammelten Erfahrungen mit dem Wort und dem Prozess seines Schreibens, die Auseinandersetzungen mit und die Reflexionen über die Sprache und deren Gebrauch sind Puzzlesteine in dessen Selbstwerdung als Dichter und Schriftsteller. 31 Vgl. KRÖ: 190 - 191: „ Han som menar sig vara den ojämförligt fruktansvärdaste människa som hittills funnits, han som hellre ville vara professor i Basel än Gud. Det är farligt att läsa Nietzsche under vargtimmen [ … ] Alltför spännande, alltför skarptandat hans språk, så lugnet vill inte komma. “ 32 Vgl. Tranströmer (2001: 143); die Übersetzung des Gedichts in: Ders. (1997: 113): „ Der Wolf ist da, der Freund aller Stunden, / und er berührt das Fenster mit seiner Zunge. / Das Tal ist voll kriechender Axtstiele. / Das Dröhnen des Nachtflugzeugs fließt über den Himmel / träge, wie von einem Rollstuhl mit eisernen Rädern. “ Der mit Tunströms Sehnsucht nach einer „ andersartigen “ Sprache unterschwellig korrespondierende fünfte Vers in Strophe II wird vom Übersetzer Hanns Grössel so wiedergegeben: „ Deshalb müssen wir eine neue Sprache suchen. “ (ebda.) Der Titel „ Nattjour “ wird Grössel mit „ Nachtdienst “ übersetzt, der Titel des Gedichtbandes Mörkerseende mit Nachtsicht. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.1 Krönikor (Kolumnen; 2003) 107 Als Ein Prosaist in New York wird er - verspielt und versteckt - weiter über sein Schaffen und Schreiben „ Bilanz “ ziehen. Die Quintessenz der Analyse dieses Textes wollen die Ausführungen im nächsten Kapitel darlegen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 108 3 POETALOG „ The images may be like words, but there is no dialogue yet. “ John Berger 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) Für das tiefere Verstehen von Tunströms (Spät-)Werk bietet En prosaist i New York 33 eine breite Palette an Anschauungsmaterial. Aus dem Text lassen sich wesentliche Merkmale seiner Poetik extrahieren. Stil und Szenario der Story erinnern an die Trivialliteratur, Textsorte Liebesromanze, versetzt mit den für sie typischen Ingredienzen: eitler Schein, Geltungssucht, Narzissmus, Sehen und Gesehenwerden, Intrigen, Small Talk usw. Der Plot ist zeitlich um die Jahrtausendwende und räumlich im Dunstkreis der Kunstszene New Yorks mit ihren Galerien und Modehypes angesiedelt, die es zu befolgen gilt, will eine oder einer sich auf der Drehbühne ‚ Kunstwelt ‘ 34 mit ihren Konjunkturschwankungen erfolgreich behaupten. Und so wimmelt es im ‚ Prosaist ‘ , wie Ein Prosaist in New York auf den kommenden Seiten mitunter abgekürzt wird, nur so von Künstlerinnen und Künstlern, die sich in Szene setzen und zur Geltung bringen. En prosaist i New York läse sich wie eine gewöhnliche Erzählung, 35 wäre da nicht ein Satz, von dem das ganze Geschehen und Gefüge dirigiert wird und der jegliche Zuordnung des Textes - am ehesten ein Wort- oder Kammerspiel, das sich in einem Kopf abspielt? 36 - zu einem gängigen Genre unterläuft. An der Autofiktion, Metapoesie und Auto(r)eflexion und der hermetischen Selbstreferenz der Erzählung lässt sich so vorzüglich ihr Werden im Wort nachvollziehen. Auf ihren Kern reduziert lautet die „ Handlung “ : Pictor trifft Autor oder Wörter vs. Bilder. Der Schreiber betritt die Arena des Textfeldes mit (s)einem Satz, der Maler tritt auf die Bühne mit (s)einen Bildern. 37 Die beiden messen sich; aus dem Paragone geht der Schreiber als „ Sieger “ hervor. Oder ist es ein lachender Dritter - der Satz (des Autors)? „ Sein “ Satz „ Eine leichte Brise ließ das Blattwerk in der Nachmittagshitze erzittern “ ist ebenso Wiege 33 En prosaist i New York liegt in der Übersetzung (vom Verf. L. D.) als Anhang bei. Unter der Sigle EPNY: Seitenzahl, beziehen sich alle Seitenangaben auf diese Originalausgabe. 34 Der Begriff ‚ Artworld ‘ stammt vom US-amerikanischen Kunstkritiker Artur C. Danto (1924 - 2013), der ihn 1964 in seinem Essay „ Die Kunst “ „ als unmittelbare philosophische Reaktion auf [Warhols] Brillo Box “ geprägt hatte. Vgl. Danto (1996: 52; in: „ Wiedersehen mit der Kunstwelt: Komödien der Ähnlichkeit “ ; ebda.: [47] - 70). 35 En prosaist i New York trägt keine Genrebezeichnung. ‚ Erzählung ‘ ist (vom Verf. L. D.) als Approximation gesetzt, um den Text dem Roman von Henning Berger gegenüberzustellen. Im Kolophon von Tunströms Publikation steht: „ En prosaist i New York utges julen 1996 som en hälsning från Albert Bonniers förlag till vänner och medarbetare. “ [Ein Prosaist in New York wird als Gruss vom Verlag Albert Bonnier Weihnacht 1996 an Freunde und Mitarbeiter herausgegeben.] Weihnachtsgruß wäre somit die paratextuelle Angabe. ‚ Weihnachtsgruß ‘ ist jedoch keine Gattung. - Zur Gestaltung des Titelblatts: Der Autorname ist eingemittet und mit klar größeren Lettern gesetzt als der Titel rechtsbündig oben. Typografisch interpretiert hieße dies: „ Göran Tunström “ ist der (eigentliche) Titel. 36 Oder cinéma-roman, respektive für den Text Tunströms adaptiert: cinéma-nouvelle. 37 Vgl. EPNY: 7: „ drei riesige Leinwände “ . Wie bereits in vielen anderen (Kon-)Texten Tunströms beobachtet, operiert die (Bild-)Geschichte mit einer Dreizahl. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 109 wie Bahre der Erzählung: Er setzt und hält sie in Bewegung, über das Textende hinaus, als Dingsymbol sowie als perpetuiertes punctum 38 in einem imaginierten (Herbst-)Bild. Der Maler heißt Bigard, der Schreiber heißt Tunström. Beide, Tunström wie Bigard, suchen Anerkennung in der Welt des Plots oder der Geschichte, in der sie sich „ bewegen “ . Der bildende Künstler Bigard stammt von den Cayman Islands 39 , Sprachkünstler Tunström kommt aus Schweden und hält sich vorübergehend in New York zur Schreibarbeit auf, wofür er auch einen Schreibort benötigt. Dieser Ort ist kein anderer als Bigards Mal-Atelier in Lower Manhattan, das der Schwede als Untermieter bezieht, ein topologischer Raum, in dem die Finanzwelt und die Kunstwelt dicht nebeneinander ihren Geschäften nachgehen und ineinander übergehen. Dass der Handel mit Kunst zu einer reinen Geldanlage oder Parallelwährung zu Geld 40 mutiert ist, beweisen die astronomischen Verkaufspreise auf Auktionen und Artmessen. Die Ikone aller Kunstikonen, das Ölgemälde Mona Lisa ( „ La Gioconda “ ) von Leonardo da Vinci, ist (Stand 2017) im Besitz des Microsoft-Inhabers Bill Gates, dessen Bildagentur Corbis die Rechte am Bild vermarktet. Die Handlung des Textes spielt in einer „ Endzeit “ , nach christlicher Zeitrechnung im Ausklang des 20. Jahrhunderts. Der Ort der Handlung, New York, gilt noch als die kapitalste aller Kapitalen und - man denke nur an den sich hartnäckig haltenden Tellerwäscher- Mythos - als ultimative Chiffre für Erfolg oder Misserfolg auf der ‚ Welt ‘ . Was Prosaist ‚ Tunström ‘ 41 in seiner Story erzählt, ereignet sich alles nur kurze Zeit vor der Katastrophe, die am 11. September 2001 über die Stadt hereinbricht und als 9/ 11 (Nine eleven) in die Geschichtsbücher eingehen und die (Macht-)Verhältnisse über kurz oder lang neu ordnen wird. Ein zweiter ‚ Ort ‘ , außerhalb des Zeit-Raum-Kontinuums der Handlung(en) der Geschichte und gleichzeitig zutiefst in ihr verbürgt, bildet der Kopf des Autors, diese nicht greifbare Metaebene, in der sich die ganze Erzählung abspielt. Es geht ein Sog von ihr aus. Wer sich mit ihr und auf sie einlässt, ‚ schmiedet ‘ unwillkürlich eine Allianz mit ihr und bleibt für die Dauer der Lektüre in ihren Fängen. 42 Wer sie liest, verstrickt sich nur allzu leicht in ihr und gerät kaum mehr aus dem Strudel heraus. Denn die Erzählung ist ein Wort- 38 „ Dieses neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte, ist die ZEIT, ist die erschütternde Emphase des Noemas ( ‚ Es-ist-so-gewesen ‘ ), seine reine Abbildung. “ (Vgl. Barthes 2009: 105) 39 Die Inselgruppe in der Karibik, auch Kaimaninseln genannt, ist britisches Überseegebiet des Vereinigten Königreichs. „ Ich bin dort geboren und aufgewachsen “ , erklärt Bigard (vgl. EPNY: 7). 40 Beat Wyss: „ Seit es Sammlungen gibt, ist Kunst eine Parallelwährung zum Geld, nur dass man mit Kunst viel besser prahlen kann. “ (Wyss 2017: 16 - 19, hier: 18) im Interview von Martin Helg mit dem Kunsthistoriker. Vgl. hierzu auch Wyss ’ Essay Nach den großen Erzählungen, worin er die „ Leitwährungen der modisch variierenden Metadiskurse “ nach 1968 reflektiert (Wyss 2009). 41 Die Redezeichen um den Ich-Erzähler, der Schriftsteller-Figur ,Tunström ‘ , markieren die Differenz zum realen Schriftsteller Tunström. Die Narration findet im Grunde, wie erwähnt, im Kopf seines Erzählers statt, der sich alles ausmalt. Der Text zeigt ausgeprägt theatralische und allegorische Züge, die Personen im Stück agieren als dramatis personae und wirken wie Silhouetten. 42 Parallelitäten finden sich in Tunströms „ Äventyr i motorbranschen “ [Abenteuer in der Motorenbranche], in der sich alles um das Dingsymbol Fortbewegungsmittel (Marke: Morris Minor) resp. um einen Roller dreht. In: ABF (1994: 79 - 87). Zu den Themen: Wiederholung, Scheitern-Reüssieren, Polyglossie, das schelmische Spiel mit der Sprache, das Erotische in dem Verhältnis ‚ Ich-Du ‘ und vieles mehr. Vgl. dazu Tunströms spielerisch-ernsten Selbstkommentar in „ Författaren själv “ [Der Autor selbst] (ebda.: 76 - 78). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 110 3 POETALOG Bild-Kaleidoskop: Sie ist Schreibszene, Schreib-Szene und Bilder- und Mal-Szene in einem, eine höchst intrikate Semiose. Auf diese Weise verhindert der Text immer wieder, die richtige Lektüre-Distanz zu ihm einzunehmen. Dennoch, oder gerade darum, soll hier der Versuch unternommen werden, die Erzählstränge zu entwirren, um so ihre Erzählweise freizulegen. Auf wenige Striche gerafft, bilden die genannten Elemente das Textgerüst. Dem Kerninteresse der Studie gemäß gebühren dem Wort und dem einen Satz ‚ Tunströms ‘ und dessen Bild jetzt die ungeteilte Aufmerksamkeit, stets im Reflex zu dem Bild des Malers Bigard und vice versa. Zur Übersicht ist eine schematische Textgliederung vorangestellt. Danach folgen fünf Zugänge, fünf Interpretationsansätze kursorischer Art. Kursorisch, weil mit dem Text, wie noch zu begründen sein wird, an kein Ende zu kommen ist. Seine Komplexität hebelt jeden Interpretationsansatz wieder aus. Wenn im Folgenden Form und Inhalt der Geschichte - um sie in ihrer Kompositionslogik zu verstehen - seziert werden (müssen), so geschieht dies im Wissen, dass Ein Prosaist in New York einem Möbiusband 43 gleicht, das, sobald an einer (Text-)Stelle aufgebrochen, umspringt, im Nu sich von einer neuen Seite zeigt, infinit neue Fragen (der Interpretation) aufwerfend. Ein anderer Vergleich wäre derjenige zu einem in sich selbst eingerollten Strumpf, wie ihn Benjamin in der Miniatur aus der Berliner Kindheit beschrieben hat. Für Kinder ist ein solch eingerollter Strumpf zugleich Tasche und Inhalt. Mit Benjamins (GS, VII: 417) Worten geht es in der folgenden Textanalyse um den utopischen Versuch, mittels fünf grundverschiedener Ansätze der Enthüllung des Textverfahrens „ die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen, wie die Kinderhand den Strumpf aus ‚ Der Tasche ‘“ . 3.2.1 Schematische Gliederung von En prosaist i New York 1: Rahmenhandlung 1 ( „ Tasche Vorderseite “ ): Ankunft Tunströms in New York, zusammen mit seinem Satz „ Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern “ , den er unbemerkt über die Grenzen von Schweden in die USA resp. nach New York bringt. Vgl. EPNY: 3 - 4. 2 - 6: Fünf Binnenerzählungen ( „ Das Mitgebrachte “ ). Vgl. dazu die Abschnitte 2: EPNY: 5 - 11; 3: EPNY: 12 - 19; 4: EPNY: 20 - 25; 5: EPNY: 26 - 34; 6: EPNY: 35 - 40. 7: Rahmenhandlung 2 ( „ Tasche Rückseite “ ): Zerstörung des Bigardschen Bildes samt Wiederkunft des Satzes aus dem Notizbuch (Wachstuchheft) des Autors. Vgl. EPNY: 41. 3.2.2 Zugang 1: Das satirische Drama 1: Der Prosaist Tunström landet (aus Schweden angereist) in New York, wo er nach seiner Ankunft an den Grenzbeamten vorbei einen Satz ins Land schmuggelt: „ Eine leichte Brise ließ das Blattwerk in der Nachmittagshitze erzittern “ . Wie ein blinder Passagier ‚ bezieht ‘ dieser mit dem Autor zusammen das (Schreib-)Atelier an der Chambers Street, als sei er ein 43 Die Möbiusschleife oder die unendliche Schleife ist eine Fläche, deren Unter- und Oberseite, Innen und Außen, da in sich um 180° gedreht, ununterscheidbar bleibt. Benannt nach dem Leipziger Mathematiker und Astronomen Johann Ferdinand Möbius (1790 - 1868). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 111 von seinem Geheimnis-Träger, dem Autor, separiertes ‚ Ding ‘ . Dabei ‚ sitzt ‘ der Satz im Bewusstsein des Autors, steuert diesen mit seiner ganzen Macht. 44 Seitenumbruch (in der Originalausgabe) - Schnitt. 2: ( ‚ )Tunström( ‘ ) 45 sucht nun einen Ort in der Stadt, an dem er an seinem Werk weiterschreiben kann, und sieht in The Village Voice, dass ein Mann namens Bendel Bigard ein Atelier zur Untermiete annonciert. Beim Besichtigungstermin lernt er den Künstler Bigard und seine 120 m 2 Loft nahe der U-Bahn-Station Chambers Street kennen. Sie werden sich einig über den Modus der Untervermietung. Bei dieser Gelegenheit zeigt dieser auf „ drei riesige Leinwände “ , die der Grund seien, weshalb er untervermiete. „ Sie sollten nämlich an eine Ausstellung auf die Cayman Islands. “ In New York verkaufe er leider seine Kunst nicht. In allen Ländern (der Welt) würden Künstler geehrt und geachtet, nur nicht auf den Caymans, diesem „ Steuerparadies “ . (EPNY: 7) Im Übrigen teile er sein Atelier mit einem „ anderen so genannten Künstler “ , der es aber nur selten nutze, er „ [m]acht Collagen, Damen in Slips “ . „ Er hat einen Job, träum[e] wohl davon, Künstler zu werden. Wie viele in der Reklamebranche. “ (EPNY: 8) Anschließend an diese Unterhaltung, in der Bigard, frustriert und erfolglos, sich auch über die neuesten Kunsttrends auslässt, zeigt er ( ‚ )Tunström( ‘ ) noch die wichtigsten Geschäfte für Besorgungen des Alltags rund um den „ Block “ . Bevor er ihm sein Atelier ganz überlässt, bittet er ihn um den Gefallen, die drei Bilder im Januar in die Galerie Tribeca Novelties zu bringen. Er sei eingeladen, diese dort im Januar zu präsentieren, könne sie jedoch selbst nicht vorbeibringen. Bigard verlässt danach New York in Richtung Cayman Islands. Seitenumbruch (in der Originalausgabe) - Schnitt 3: DerAutor bezieht das Atelier als Untermieter und schreibt dort seinen Satz „ nieder auf ein Blatt Papier. Zum ersten Mal konnte ich mich zurücklehnen und ihn in seiner physischen Offenbarung betrachten. Zwölf Wörter, die zusammen den Satz bildeten, der eine Welt eröffnen könnte. Ein besondererAugenblick im Leben eines Prosaisten: man will nicht, wagt es nicht, einen zweiten Satz einzufangen. “ (EPNY: 12) Sein Versprechen gegenüber Bigard nicht vergessend, bringt er - da dieser sich anders entschieden hatte - anschließend „ drei kleinere “ Bilder in die Galerie Tribeca Novelties und übergibt sie dort einem „ eigentümlich blondierte[n] Mensch[en], eine Installation für sich “ , „ die Docke “ genannt. Nach dem Preis gefragt, orientiert sich ‚ Tunström ‘ an den Preisen, die er in einem Katalog mit Werken von einem Maler namens „ Pollock, Jackson Pollock “ auf dem Pult der Galeristin liegen sieht, und beschließt „ einen Zehntel von Pollocks Preisen anzuschreiben, was immerhin eine ganz nette Summe ergab, ich setzte $ 50 ’ 000 hin, unterschrieb mit Bendels Name “ (EPNY: 13). 44 Vgl. Thüring (2009). Anfangen zu schreiben. Ein kardinales Moment von Textgenese und Schreibprozess im literarischen Archiv des 20. Jahrhunderts. 45 ( ‚ )Tunström( ‘ ) steht für die Schwellenfunktion realer Autor/ Schriftsteller-Figur. Die spiegelbildliche Personifikation oder Schriftsteller-Figur Tunström wird mit einfachen Redezeichen markiert: ‚ Tunström ‘ . Die Fiktion ‚ Tunström ‘ mit zweifachen Redezeichen: „ Tunström “ . Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 112 3 POETALOG Eine unheilvolle Verwechslungskomödie nimmt ihren Lauf; ein intrikates Machtspiel zwischen Wort und Bild setzt ein. Beim Abgeben der drei Bilder wird ‚ Tunström ‘ automatisch als ihr Schöpfer betrachtet und identifiziert. Von der „ Docke “ nach ihrem Werktitel befragt, bezeichnet dieser Bigards Bilder kurzerhand mangels Titel mit „ Landschaft I - III “ . 46 Seine Bringschuld eingelöst, kommt nun der Satz zum Zug, mit welchem der Autor in der Rahmenhandlung 1 prominent in Erscheinung trat und dessen „ Lockruf “ vom Autor variantenreich modifiziert wird: „ Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. “ Dieser Satz, der von ‚ Tunström ‘ als „ mein Satz “ bezeichnet und gelegentlich wie ein Lebewesen betrachtet wird ( „ hier sollte mein Satz sich wohlfühlen “ ; EPNY: 6) evoziert ein (Stimmungs-)Bild - flirrend wie die Erzählung selbst. In insgesamt vier Sätzen oder Sequenzen wird „ der Satz “ nun umspielt oder variiert. Diese Gedankeneinschübe oder Par-enthesen sind jeweils typographisch eingerückt. Sie schichten und überlagern sich. Sequenz 1 (EPNY: 14): Thematik: Suche nach Identität. „ Er “ ist der jüngst noch gewesene , Tunström ‘ , wird von der „ Docke “ , wie von allen anderen bereits aber als Bigard identifiziert. Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Er kam wieder zu sich bei der Erinnerung an einen dunklen Gedanken: sein Name war einmal ein anderer gewesen. Doch welcher? Er klaubte an den Sprossen der Parkbank und suchte in einem stillen Gebet nach genau dem Namen, dem allerersten einer Serie falscher Identitäten, unter denen er seit Jahren zu leben gezwungen war. Sequenz 2 (EPNY: 15): Thematik: Karnevalistisch durcheinandergewürfelte Kulturgeschichte oder Allotria. Die polyvalente Pointe hier besteht darin, dass ein „ Don Agusto Silva de los Angeles “ (ein Brasilianer dem Namen nach) unmöglich je die zitierte Fußnote gelesen haben kann, und falls dennoch, den wirklichen Autor des Zitats, Wilhelm von Humboldt, offenbar mit „ einem Joseph von Humboldt “ verwechselt, eine Unbedarftheit, ein Humbug, der einem ein Schmunzeln abringt, denn der preußische Gelehrte lebte von 1767 - 1835, bereiste ganz Südamerika und war unmöglich am Comersee in Italien des 20. Jahrhunderts anzutreffen, wo Don Agusto ihm angeblich begegnet sein will. 47 46 Zu (der Metamorphose von) Bigards Bildern sei hier marginal festgehalten: Zuerst sind sie „ drei riesige Leinwände “ (EPNY: 7), später „ vollständig verändert “ (EPNY: 10), bei der Abgabe in der Galerie effektiv nur noch „ drei, kleinere, frühere Bilder “ (EPNY: 13). Im weiteren Verlauf der Narration werden die drei Bilder individualisiert zu Landschaft II und Landschaft III, eine Landschaft I existiert im Text nicht (explizit). Gewichtiger als diese Bild-Verwandlung scheint ihre intranarrative Verknüpfung mit „ dem Satz “ zu sein; der Anfang der Binnenerzählung erklärt nämlich: „ Der Satz benötigte das [leeres Schreibpult, große Loft, spuckender Heizkörper] für alles, was er beherbergte. Für die Versprechen, die er gab. Hoher Raum, weite Landschaft und in seiner Mitte, noch ungeboren, einige schmerzhaft beleuchtete Figuren. “ (EPNY: 6) Was ist und wo ist diese „ weite Landschaft “ ? (Ist es vielleicht das vom Satz hingetuschte (innere) Landschafts-Bild „ Eine leichte Brise ließ das Blattwerk in der Nachmittagshitze erzittern “ selbst? ) Wer sind die Figuren und wo sind sie? (Sind es die darin eingezeichneten oder die sie „ bevölkernden “ dramatis personae? ) 47 Don Agusto zitiert (unwissentlich korrekt) aus Wilhelm von Humboldts 1836 erschienener Schrift „ Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java “ , der Einleitung zu dessen Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren geistigen Einfluss auf die Entwickelung des Menschengeschlechts, respektive aus Ingardens Das literarische Kunstwerk, worin Humboldts Statement in § 11 Sprachlautliche Gebilde höherer Stufe und ihre Charaktere in Anm. 2 (vgl. Ingarden 1960: 43) angeführt wird. Die von Don Agusto aufgrund unaufmerksamen Lesens fälschlicherweise mit einem Joseph von Humboldt assoziierte Erklärung W. v. Humboldts ist also Zitat eines Zitats. Ingardens Anm. 2 ist eine Ergänzung zu Humboldts Aussage: „ Gewiß, die Einheit des Satzsinnes sowie die Besonderheiten der Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 113 Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Don Agusto Silva de los Angeles klappte das Buch zu, das er gerade am Lesen war: Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Ein Satz in einer Fußnote versetzte ihn in Pausenstimmung: In der Wirklichkeit wird die Rede nicht aus ihr voran gehenden Wörtern zusammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt aus dem Ganzen der Rede hervor. W. v. Humboldt. Er rief zu seiner Frau: „ Ilse, sind wir nicht einmal einem Humboldt begegnet, einem Joseph von Humboldt? Langes Elend mit Schnurrbart? Am Comer See? “ Die Frau, die gerade am Pool mit dem Ausnehmen von Fisch beschäftigt war, erstarrte und wendete sich heftig ab. Sollte das nie ein Ende nehmen? Sequenz 3 (EPNY: 15): Thematik: Ein leises Fortspinnen des Gedankens - über spielerisch angedeutete Funktion von Hilfsverben wie „ müssen “ - über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (am Ende der Sequenz) einer „ sie “ , etwas vernebelt zwar von Alkohol. Die Auslassungspunkte zum Schluss animieren dazu, eine Fortsetzung der Geschichte sich selbst auszudenken. Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Von weitem immer trägere Wellen an den Strandsteinen. Sie nippte an ihrem eiskalten Drink. Der Erfolg hat mich oberflächlich gemacht, dachte sie, aber das ist wohl der Preis für ein Leben auf der Sonnenseite. Sie schloss die Augen. Immerhin stellt man hier keine Fragen. Ich erinnere mich an die Zeit, als man wirklich Fragen gestellt hat. Sie verabscheute die Sonne, aber wohin hätte sie gehen können, jetzt, da sie vermögend war. Sie bestellte einen weiteren Drink, der einzige Trost der geistig Armen, um sich zu erinnern, was ihr in den Sinn hätte kommen sollen. Zu tun? Zu sagen? Beim dritten Drink waren „ müssen “ und all ihre Kusinen aus ihrem Wortschatz gestrichen. Und mit einem Mal war es Abend … Sequenz 4 (EPNY: 16): Thematik: Gemeinplätze. Wie klischierte Sätze aus dem Register der Trivialliteratur wirken die Gedankensplitter. Wer ist oder war hier „ Ich “ ? Wer ist Britta? Es bleibt alles im Vagen. Der wichtigste Unterschied zu den zwei vorangegangenen Modifikationen ist: In Sequenz 4 fehlen jegliche Überlegungen sprachphilosophischer Art. Die Szenerie (der kontrollierende „ Blick in den Nachbarsgarten “ ), die Namensgebung (Britta, ein sehr verbreiteter weiblicher Vorname in Schweden) ist einem Alltagsrealismus verpflichtet, um wie in einem Unterhaltungskrimi ‚ suspense ‘ zu erzeugen: Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Ich warf einen Blick in den Nachbarsgarten. Keine Bewegung hinter den Gardinen. Wo steckte bloß Britta? 48 Satzfunktionen bewirken es, dass auch die zu einem Satze gehörenden Worte zusammengehören und daß sich sogar eine für den Satz als solchen charakteristische Satzmelodie herausbildet, die übrigens noch verschiedene Modifikationen zulässt. “ ‚ Tunströms ‘ Satz [Eine leichte Brise … ] auf den Folien von Humboldt und Ingarden gelesen, ist somit die in Literatur und Sprachspiel umgesetzte Periphrase beider Aussagen, wobei dem Ablauschen der „ charakteristischen Satzmelodie “ und den „ Modifikationen “ ganz besondere Beachtung zukommt. Vgl. „ Das wahrhaft selbständige Gebilde einer Sprache bildet eben nicht das einzelne Wort, sondern der Satz. “ (Ingarden 1960: 43; Das literarische Kunstwerk kam 1976 auch auf Schwedisch heraus.) Welche Relation besteht zwischen Wort und Satz? Es ist auch die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Eine Frage mit der Qualität des Ouroboros; der (Wort-)Kopf ‚ beisst ‘ sich in seinen (Satz-)Schwanz. Die Stelle spricht somit auch von der „ Unhintergehbarkeit der Sprache “ (Elmar Holenstein). Vgl. auch EPNY: 6: „ Mehr wusste ich nicht, noch nicht einmal, ob Der Satz in seiner Schlussphase angelangt war, weder was seinen Wortlaut noch was seine Bedeutungsschichten anbetraf, da mehrere Wörter in diesen Tagen der Wohnungssuche an meinem Bewusstsein zu kratzen begannen: ‚ ließ ‘ , ‚ des Baumes ‘ , ‚ erzittern ‘ . “ (Hervorhebung durch Kursivierung vom Verf. L. D.). 48 Möglicherweise handelt es sich bei dieser Sequenz um ein leicht abgewandeltes Selbst-Zitat Tunströms aus Hallonfallet (was noch nicht belegt werden konnte). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 114 3 POETALOG Bei seinem Botengang zur Vorvernissage trifft ,Tunström ‘ auf Susanne ( „ Da begegnete ich Susanne. “ EPNY: 16). Sie hält ihn unerklärlicherweise für ihren, über alles geliebten (Ehe-) Mann Bigard. Hier spätestens ist sein Phantomcharakter unübersehbar. Eher ein Schemen, eine Stimme, ein herumgeisterndes Wesen als eine reale Figur. Unvermittelt nimmt eine Liebelei und damit eine Dreiecksgeschichte ihren Anfang. Als Vanessa St Just, das teure Model, diese „ vom Planeten Venus herunter gestiegenen[e] Schönheit “ (EPNY: 18) bei der Vorvernissage sich anschließend vor Bigards Landschaft III in Pose wirft und zusammen mit ihm, respektive „ Bigard “ , im Blitzlichtgewitter von einer Schar Fotografen abgelichtet wird, steigert sich der Wert des Bildes, den Gesetzen des Kunstmarktes gehorchend, augenblicklich. Alle Muster und Klischees der Kunstmarktwelt werden aufgeboten, um diese zu karikieren. Und wie im nächsten Moment das Model Bendel (i. e. ,Tunström ‘ ) fragt: „ Darf ich Bendel sagen? Das hier ist eine Werbepromenade. Für meinen Körper. “ (EPNY: 19), wird dieser, durch die photographische Wiedergabe dieses Moments in einem Magazin, fortan als Bendel „ verkauft “ . 49 Die Tatsache, dass der richtige Bendel an der Vorvernissage gar nicht anwesend ist, erleichtert die „ Authentifzierung “ dieser Zuschreibung. „ Im Magazin steht geschrieben, dass sie mich küsst. “ (EPNY: 19) Schließlich will Vanessa St Just das Bild Bendels (Landschaft III) kaufen. Das geht so vonstatten (EPNY: 25 - 26): - Mr Bigard, ich möchte, dass Sie mir Ihr Bild nach Hause bringen, sobald die Ausstellung zu Ende ist, und wir regeln die ökonomische Seite der Sache. Hier ist meine Adresse, es ist nur ums Eck. Seitenumbruch (in der Originalausgabe) - Schnitt 4: „ Bendel “ steht mit dem Bild in Vanessas Wohnung. Es soll genau an der Wand gegenüber dem Bett gehängt werden. „ Ein Hauch karibisches Blau, jeden Morgen, wenn du im Winterdunkel New Yorks erwachst. “ (EPNY: 20) schmeichelt ihr „ Bendel “ . Jetzt will sie dem Künstler noch näherkommen und bittet ihn in ihr Bett. Doch daraus wird nicht das, was der Eingeladene sich vorstellt oder erhofft. Der Autor treibt auch ein Spiel mit möglichen Leseerwartungen. Statt einer Liebesszene bekommt „ Bendel “ Hochglanzmagazine serviert, sieht darin Vanessa als Model für Bademode abgebildet, oder sie gibt ihm ein Video, das er sich ansehen solle, während sie selbst wieder Toilette macht für ein nächstes Date. Das „ Rendezvous “ nimmt abrupt ein Ende. Konsterniert sagt „ Bendel “ zu sich selbst: „ Ich bin gegangen. Auch wenn nicht ich es war, der gegangen ist, kurz, ich ging also, doch wer das war, habe ich nicht verstanden. “ (EPNY: 25) 50 Seitenumbruch (in der Originalausgabe) - Schnitt 5: In der Folge kommt es stattdessen zu einer „ echten “ Begegnung zwischen „ Bendel “ und Susanne. Die Ereignisse in der Situationskomik der Verwechslungskomödie Autor-Maler 49 Einmal mehr wirft der (Sub-)Text damit die Frage nach dem (Kauf-)Wert eines Kunstwerkes auf. 50 In der folgenden „ Liebesszene “ fällt der angebliche Spruch des „ Filmstar[s] der Vierzigerjahre “ : „ So kann man sterben. Betty Sheridan. “ (EPNY: 30), was Bigard verleitet, Vanessa kurzzeitig mit Betty anzusprechen. Die demaskierende Volte spätestens offenbart, in welch falschem Film - oder in welch verwirrenden Traumbild? - sich die beiden begegnen, denn eine Betty Sheridan lässt sich in der Filmgeschichte nicht auffinden, hingegen Beatriz Sheridan (1934 - 2006), Pionierin der mexikanischen Telenovelas, deren Asche in einer der Buchten des Bundesstaats Quintana Roo (! ) ins Meer gestreut wurde. Vgl. hierzu https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Beatriz_Sheridan (abgerufen am 04.08.2021). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 115 beginnen sich in der Affäre mit Susanne in dieser längsten Sequenz zu überschlagen. Zunächst jedoch bedeckt Schnee das Geschehene. 51 Schnee fällt über die „ Warren und die Chambers, die Houston und Spring, die Green Street und den Washington Square, wo ich mich gelegentlich hinbegab und versucht hatte, dazu zu gehören, indem ich die Luft schnupperte und mir Mühe gab, nicht an Henry James zu denken, den alten Dickwanst, der die Dramen der perfekten Intelligenz schrieb, wo keine Waschbecken, Toiletten oder Waschküchen die schimmernde Prosa störten, die einer mit dem Suchen eines Flusspferdes nach einer Erbse verglichen hat. “ (EPNY: 26) Nostalgisch blickt der Prosaist aus einer Doppelperspektive auf das Erlebte, und mit einem Seitenblick auf den Intertext von ‚ Kollege ‘ Henry James konstatiert er, jenem sei es (beim Schreiben) besser ergangen. „ Die Unbändige Schönheit “ Susanne rüttelt ihn auf aus den Träumereien, plötzlich steht sie, als Journalistin „ verkleidet “ vor der Tür seines Loft an der Warren Street und begehrt Einlass. Während sie ihn nach seiner Herkunft und seiner Identität fragt, trinken sie ein Glas Rotwein - und kommen sich dabei immer näher. Zwei „ Individuen “ , beide mit einer falschen Identität „ zweiten Grades “ versehen: „ Bigard “ -,Tunström ‘ redet in Zitaten von Derek Walcott, Susanne, die angebliche Partnerin Bigards, die den echten vom falschen nicht mehr zu unterscheiden weiß, gibt sich als die Ghostmalerin Marilyn Montez aus, die erfolgreiche Künstlerin, die sich mit dem Abbilden von auf der Leinwand vergrößerten Diabildern weiblicher Geschlechtsorgane und Brüste einen Namen macht (EPNY: 32). In diese surreale Phantasmagorie verstrickt, versteigen sich „ Bigard “ und „ Montez “ in einen Liebestaumel. Danach begeben sie sich direkt in Plazas Austernbar. Dort erlaubt uns der Prosaist, ihm Satz um Satz bei der Verfertigung seines Sprachkunstwerkes zuzusehen, wenn es da heißt (EPNY: 32): Wir saßen in Plazas Austernbar und wärmten uns an einer Clam Chowder. 52 Clam Chowder mag ich nicht besonders, doch weil dazu Eine leichte Brise nicht richtig passte, wollte ich es mit einem anderen Satz versuchen, also begaben wir uns unter dichtem Schneefall über der Avenue hierher, damit ich dies schreiben konnte: „ Wir saßen in Plazas Austernbar und wärmten uns an einer Clam Chowder. “ Seitenumbruch (in der Originalausgabe) - Schnitt 6: Bendel Bigard kommt unangekündigt früher von seinem Aufenthalt in der Karibik zurück und erkennt sein Atelier nicht wieder. Es kommt zum Showdown. Er gerät außer sich, als er erfährt, dass sein Bild Landschaft III verkauft worden ist. Er verlangt es unverzüglich zurück. Auch Vanessa hat kein Interesse mehr daran. Das Bild in ihrem Schlafzimmer hätte bloß ihrem Image geschadet und ihre weitere Karriere bedroht, gaben ihre Agenten zu bedenken. Seitenumbruch (in der Originalausgabe) - Schnitt 51 Dieser Schnee besitzt auch metaphorische Kraft. Er überdeckt das Geschehene nicht nur, sondern löscht es, wie ein Freudscher Wunderblock, um für Neues eine neue Projektionsfläche (das nächste, noch unbeschriebene Blatt) bereit zu halten. 52 Eine sämige Muschelsuppe - deren wichtiger Bestandteil die clams/ Venusmuscheln bilden - passt zu einem Rendezvous selbstredend besser als eine leichte Brise. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 116 3 POETALOG 7: Bildersturm. Bigard zerstört sein Bild in dem Augenblick, als er es wieder erhält. Auf den jähen Auto-Ikonoklasmus von Pictor Bendel folgt das Autodafé ,Tunströms ‘ . Der Prosaist entpuppt sich mit dem Selbstzitat seines Satzes „ eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern “ als der Dieb, der Worte auch aus seinem eigenen (Notiz-)Buch leiht, nicht nur bei anderen Autoren, aus deren Werken er seine Figuren zitieren ließ. Die Erzählung kommt so an ihr Ende. Das letzte Wort hat der Satz. Um ihn zu verstehen, wird er hier im Kontext des ganzen letzten Abschnitts wiedergegeben. In ihm wird der Satz über zwei - signalisiert auch im Satzspiegel (s. EPNY: 54 - [55] - Stufen transponiert. Ohne jegliches Gefühl von Triumph kehrte ich mit dem Bild zu Bendel Bigard zurück. Er warf einen kurzen Blick darauf, bevor er Rahmen und Leinwand zerschliss: - Um Gottes willen, was für ein Scheißbild. Wie dumm von mir! Aber typisch für mich. Was hätte ich nicht alles anstellen können mit fünfundzwanzigtausend Dollars. Vielleicht wäre sogar Susanne wieder zu mir zurückgekommen. - Schon möglich, muss ich darauf erwidert haben. So steht es auf einer Seite in meinem schwarzen Wachstuchbuch: „ Schon möglich “ , antwortete ich, „ aber das kommt nun zu spät. Susanne und ich fahren am Weihnachtsmorgen nach Quintana Roo. “ Bendel seufzte: „ Typisch für mich. Na dann, viel Glück, aber lasst mich damit in Ruhe. “ Das war unsere letzte Begegnung. Denn am nächsten Tag fuhren wir los, Susanne und ich. Nach Quintana Roo, mit seinem Strand und dem blauen Meer und dem gelben Sand. Das ist Quintana Roo. Wir lagen in Liegestühlen und nippten an einem eisgekühlten Orangensaft, von Ferne krähte ein Hahn und eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Diese Entlarvung (er)hebt die Erzählung, über die Stufen der Einrückung, auf die Ebene der Fiktion der Fiktion, holt sie gleichzeitig herunter, indem die faktische, oder genauer, angebliche Herkunft des Satzes gelüftet wird: das Wachstuchheft des Prosaisten. Der über zwei Dutzend Erwähnungen gebildete Satz-Wurm „ Eine leichte Brise …“ verhakt so „ am Ende “ seinen Kopf in den Schwanz, seinen Anfang und Ursprung. Eine unauflösbare, „ endlose “ Geschichte, deren buchstäblicher Schluss-Satz, vom zirkulären Textganzen entbunden, sich als selbstständiges, von der (Binnen-)Narration abgenabeltes Bild zeigt, kommt zum Vorschein und zeichnet sich (ins Unendliche) ab. Susanne ist die auserwählte, die im allerletzten Satz - mit dem Autor vereint im Keim- Satz aufgehoben - sich mit ihm zu einem „ Wir “ vereint. Ein idyllischer Ausklang, ein „ Happy End “ ohne Ende (auch ohne Erlösung, denn das Bild bleibt „ Entwurf “ ). Alles wird in der Schwebe gehalten, immerhin wenigstens scheint die Herkunft des Satzes geklärt. Doch ist der Satz ein Schlüssel zu einem Schloss, das sich, wenn überhaupt, nur von innen, öffnen lässt. 53 Als Leser stehen wir vor ihm, ohne zu wissen, ob wir es von innen oder von außen betrachten (sollen). Am Ende verharren wir - jetzt am Ende der Lektüre - kafkaesk auf der Schwelle wie der „ Mann vom Lande “ vor dem Gesetz. Oder ‚ dahinter ‘ - denn ‚ Innen ‘ und ‚ Außen ‘ haben ihre Signifikanz eingebüßt. Es gibt keinen ‚ Schlüssel ‘ zu diesem Text. Verwandt den drei „ Königinnen der Nacht “ stellten sich die drei Gehilfinnen in den Dienst der Kunstwelt: eine Galerieassistentin, „ Docke “ genannt, ein „ eigentümlich blondierter Mensch “ , Susanne, die angebliche Geliebte und Partnerin Bigards, und das 53 Schloss steht hier als pars pro toto für die „ Gesamtheit “ aller Schlüssel-Stellen im Text. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 117 Topmodel Vanessa St Just (Vanessa Vanille). Die Assistentin ist namenlos (der „ austauschbare “ Typus Vorzimmerdame). Susanne, von ‚ Tunström ‘ ebenso begehrt wie von Bigard beherrscht, weckt die Assoziation an Jacopo Tintorettos berühmtes Bildnis der „ Susanna im Bade “ . 54 Der Namenskomplex Vanessa St Just ist schleierhaft wie seine Figur. Erfunden in Jonathan Swifts Gedicht „ Cadenus und Vanessa “ (1726), bezeichnet der Name auch eine Schmetterlingsgattung, was für das flatterhafte Wesen der Erzählung sprechend ist. Der heiligende Namenszusatz „ St “ [Saint] zu Vanessas Nachname Just, der im Englischen ein Füllhorn an Bedeutungen enthält, versieht diese „ Sibylle “ mit höheren Würden und Weihen. An welchem Grad der Phantastik ist die zwischen höchster Banalität und raffinierter Komplexität oszillierende Erzählung nun angelangt? Nach dem Wendepunkt in 6 (letzte Binnenerzählung) sollte die Frage beantwortet werden können. Der Prosaist ließ uns in actu scribendi über seine Schultern zuschauen, „ teilhaben “ an seiner Spracharbeit, den Prozessen und Stadien beim Schreiben und Streichen (Gisi 2011) von Wörtern und Sätzen. Die Erzählung veranschaulicht, dass ein Schriftsteller (tendenziell) permanent „ am Schreiben “ ist 55 und mitunter in Bildern denkt. Die Erzählbewegung der Geschichte verläuft vom Kopf des Autors über seine Hand in sein Notiz- oder Entwurfsbuch, um später, abermals abgeschrieben, als En prosaist i New York, Publikation zu werden. Ein Prosaschriftsteller plaudert aus dem Nähkästchen des literarischen Schreibens, lautet die Quintessenz einer ersten Lektüre. Oder: Die Erzählung beinhaltet auch ihr verspieltes Making-of. Diese metafiktionale Machart erinnert an Benjamins Strumpf, in dem die „ Tasche “ und das „ Mitgebrachte “ , „ Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. “ Ein Denkbild, das verwandt ist mit Derridas ‚ invagination ‘ . 56 54 Tintoretto (1518 - 1594) schuf mit seinem berühmten Gemälde (1555/ 56) der biblischen Geschichte um Susanna, die Frau eines reichen Babyloniers, die von zwei älteren Männern (Richtern) begehrt wird, sich standhaft deren Verführungen widersetzt, jedoch von jedem der beiden auf andere Weise vor Gericht verleumdet wird, ihren Ehemann betrogen zu haben (einmal unter einer Eiche, einmal unter einer Zeder). Die Lüge der Lüstlinge wird beim Gerichtsprozess gegen Susanna offenkundig, die Männer der Verleumdung überführt und die Frau freigelassen. Vgl. dazu das apokryphe Buch Daniel (Dan 13, 1 - 64, hier 13, 9: „ Da regte sich in ihnen die Begierde nach ihr. Ihre Gedanken gerieten auf Abwege und ihre Augen gingen in die Irre. “ ). 55 Die vier Verwendungen oder Kontextualisierungsmöglichkeiten des Satzes (Sequenzen) zeigten dies drastisch mit dem Einblick „ in den Kopf des Autors “ , seine „ Denkfabrik “ . 56 „ It is taking the form of an invagination through which the trait of the first line, the borderline, splits while remaining the same and traverses yet also bounds the corpus. “ Attridge (1992: 236; in „ The Law of Genre “ ; ebda.: 221 - 252). - Die Konsequenzen von Derridas minuziöser Analyse von Blanchots La folie du jour mit der Engführung genre (Gattung)/ mode (Verfahren/ Methode) auf Tunströms Prosaist übertragen, lässt auch dies multimodale Textgebilde in seiner Gesamtanlage als “ double chiasmatic invagination of edges “ (vgl. Derridas Schema in: Attridge 1992: 238) erscheinen. Eingehendere Vergleiche der beiden Texte werden an dieser Stelle nicht angestellt. Es sei lediglich konstatiert, dass La folie du jour von Derrida keinem Genre zugeschrieben wird (vgl. Attridge 1992: 231), dass Blanchots Text eine ähnliche Länge resp. Kürze aufweist wie Tunströms, beide Texte erstmals an einem periferen Ort publiziert wurden (Blanchots 1949 in der Zeitschrift Empédocle unter „ Un récit? “ , Tunströms als Separatum „ julhälsning “ 1996). Beiden Autoren gemeinsam ist die Erfahrung des Schreibens als prekärer (eig. ‚ widerrufbarer ‘ ) Akt, beiden Texten ist bei aller Verschiedenheit der parthenogenetische Charakter gemein. Der Term ‚ Invagination ‘ entstammt dem Jargon der Medizin und Biologie und meint dort heute noch die Einstülpung eines Bestandteils (einer Organ- oder Gewebeschicht) in einen anderen. - Vgl. hierzu das Nachwort zu Blanchots Der Wahnsinn des Tages, „ Eine unmögliche Fiktion “ von Michael Holland, in: Blanchot (2016: 43 - [78]). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 118 3 POETALOG Das Schreiben, Um- und Niederschreiben von Sätzen und Satzanfängen wird bereits in Prästungen thematisiert, wo der angehende Dichter ‚ Göran ‘ , im Vergleich zu seinem Antagonisten Lars, der sich zur Bildenden Kunst hingezogen fühlt, von sich selbst sagt: „ Als Dichter war ich besser vorbereitet, hatte ich doch in meinem Tagebuch schon dreiundzwanzig fantastische Romantitel zusammengeschustert, u. a. ‚ Adam ohne Schlüsselbein ‘ sowie mehrere Einleitungssentenzen: ‚ Es war Nacht. Sebastian konnte nicht schlafen ‘ , ‚ Eines Tages, als ich in Kopenhagen über die Vesterbrogade ging …‘“ (PRÄ: 116). In Sunne diente dem angehenden Schriftsteller ein Tagebuch als Ort der Aufbewahrung von Ideen und Impressionen. Der Prosaist (in New York) führt Buch über seine Skizzen und Entwürfe in einem Wachstuchheft. 3.2.3 Zugang 2: Der Tanz mit einem Satz Nach einer ersten Lektüre hinterlässt Ein Prosaist in New York leicht den Eindruck, einem literarischen Jux um einen närrischen, von einem Satz leibhaftig eingenommenen, buchstäblich ergriffenen Autor aufgegessen zu sein, gefasst in parodistisch gebrochene Altherrenprosa. Dieser Befund ist nicht unzutreffend (und vielleicht ist eine solche Lesart nur eine vom Autor intendierte List, um so deren Antiphrase einzufordern). Es mit ihrer Klassifizierung jedoch bewenden zu lassen, wäre ein Trugschluss. Ein Prosaist in New York ist eine Denkschrift, kreisend mit und um einen Satz, um daran anschaulich das Ringen um Erkenntnis über Sprachbilder zu exponieren. Der „ Prosaist “ will (spielerisch) zum Nachdenken über die existential-ontologisch zutiefst im Bewusstsein der Menschen sitzende Macht der Wörter und Bilder anregen und damit die Feintarierung der Text-Bild/ „ Mechanik “ ausloten. Die Erzählung inszeniert ein Gedankenspiel, in dem mittels Überblendungen sich ein Schreibbild gebiert, worin die Spuren von deren Denkbewegungen eingeschrieben sind. Es ist die Geschichte von einem Satz, und was dieser für „ Geschichten anstellen “ kann (mit sich „ selbst “ , dem Autor wie uns, die ihn lesen). Der ‚ Gegenstand ‘ Satz ist, für den literarisch schreibenden Menschen, die praktische Erfahrung seines Arbeitsalltags, seine Auseinander-Setzung mit dem Wort, kurz: mit der Sprache, ob nun skriptural in Form des „ niedergeschriebenen “ oder ideal, in Form des erst gedanklich „ vorgefertigten “ Satzes, was im Prosaisten obsessiv in den ‚ loops ‘ 57 , seinen Reprisen, Wiederauflagen, Revisionen, vorgeführt wird. Die ganze Erzählung „ dreht “ sich um diesen Satz, sie wird von ihm ebenso ausgelöst wie ausgelöscht, generiert wie destruiert, vereint wie in theoretisch unendlich viele mit seinen Neigungen (Verästelungen) entzweit. Nebst seiner irdisch meteorologischen Dimension verströmt der Satz eine nicht minder überirdisch metaphorische: Ein Mann (Baum) mit seinen Neigungen, Verstrebungen und Verästelungen (seinem Blattwerk) erfährt in seinem lodernden, zu Ende gehenden Mittelalter (Nachmittagshitze) durch eine neue Erfahrung (leichte Brise) noch einmal Regungen (das Erzittern seines „ Laubwerks “ ). Die Brise hält an - bis sie, am Ende als bloßer Satz aus dem Wachstuchheft entschleiert, auf der, nun zum Bild transzendierten Ebene zur Ruhe kommt. Im Entwurfsheft ist der Satz sowohl der Rahmenhandlung wie auch allen Binnenerzählungen entzogen 57 Der Begriff bezeichnete in der (analogen) Musikpraxis ursprünglich ein an beiden Enden zusammengeklebtes Stück Magnettonband (eine „ Endlosschleife “ ). Durch die Praxis wurde das Wort zum Synonym für eine (theoretisch) endlos abspulbare Sequenz (von Tönen). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 119 und fungiert als Avant-Text wie eine autonome Entität 58 ; ein Mitbringsel „ aus Schweden “ , welches der Autor zu seiner großen Freude unverzollt 59 über die Grenze schmuggeln konnte. (EPNY: 5) Dieser Satz ist sein Schrift-Gut, was er hegt und pflegt, in Geschichten verwickelt, variiert, moduliert und am Ende in ein mögliches Anfangs-Bild transponiert. Er kommt mit dem Satz an, eröffnet damit sein Buch, entwickelt mit und um ihn eine Erzählung und derselbe, doch längst nicht mehr gleiche Satz entbindet sie wiederum, beschließt das Buch, lässt Autor und Satz zurück als Entwurf - eine einzige Wortspiegelung. Die Erzählung ist gespickt mit Anspielungen auf Weltliteratur. Nebst Büchern finden auch Bilder und bildende Künstler Eingang in den Text. Rembrandt und Andy Warhol zum Beispiel werden gleich auf der ersten Seite schon genannt. Der niederländische Meister in einem - für die Lesart der Geschichte - bedeutenden Kontext: „ Da kommt einer und sagt ‚ Ich ‘ . “ (EPNY: 3), Tunströms ‘ Selbstbildnis seines Ich spiegelt sich im stabilen Selbstporträt Rembrandts, das sich in der Malerei und ihrer Ideengeschichte als erstes herausgebildet hat. (Die Ausgestaltung des Ich ist das persistente Thema von Tunströms Försök med århundrade, vgl. Kap. 3.3) Fragil erscheint daneben das Ich ‚ Tunströms ‘ , so wie es sich später im Text, mit dem Zitat F. Scott Fitzgeralds, seiner selbst zu vergewissern sucht. Die frivole Oberflächlichkeit (Talk of the Town) wird andauernd kontrastiert mit eingestreuten kulturgeschichtlichen Fakten, Klatsch und Tratsch (der Masse) und die hohe Literatur (der Intelligenzia) stehen ungetrennt nebeneinander, durchdringen einander. Diese Spielart der Durchmischung von ‚ Hohem ‘ und ‚ Niederem ‘ ist ein Zeichen der Postmoderne, das in dieser Erzählung von Tunström zur Hochblüte getrieben wird. Der Titel Ein Prosaist in New York ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Allusion auf Garcia Lorcas Poeta en Nueva York - Dichter in New York, die Gedichtsammlung des spanischen Poeten. In Prästungen setzt er ihm ein Andenken im Kapitel Federico Garcia (PRÄ: 143 - 162), worin er seine hohe Verehrung und frühe Begeisterung für dessen Gedichte nachzeichnet, die ihn bei seiner ersten Lektüre 1955 bereits unmittelbar berührt und sich ihm tief eingeprägt haben. Ich trug das Buch 60 ständig auf mir und wollte überall daraus vorlesen, ich konnte ja all dies nicht allein tragen, es war zu schwer, zu groß. Hatte es doch das Leben verändert, stellte Möbel, Gefühle, den Schulstoff in eine neue Ordnung, öffnete die Blusenknöpfe der Mädchen auf der anderen Flussseite, bevölkerte die Häuser entlang der Straßen, brachte das Blut in Zirkulation. Mit der Lektüre von Nerudas und Lorcas lyrischen Sprachlandschaften sei bei ihm ein Sprachschwall aufgebrochen. „ [I]ch hatte mein Land gefunden, dort sollte ich nun für immer verweilen. “ (PRÄ: 154) Ein Prosaist in New York und Dichter in New York sind stilistisch, sprachlich und dem Genre nach, gänzlich verschiedene Werke. Inhaltlich teilen 58 Eine Entität, die, aufgespart bis zum Schluss-Satz, sich als dies ausgibt, „ in Wirklichkeit “ jedoch bloß ein Vorwand (pré-texte) ist, um die Verwandlung von Schrift in Bild vorzuführen, in ein Bild, das im Grunde im Anfang oder vor ihm, immer schon, seit jeher (fixes) ‚ Bild ‘ war. 59 Die Stelle erinnert an Luthers Satz aus seiner Schrift „ Von weltlicher Obrigkeit “ (1523), „ Gedanken sind zollfrei “ , der im Kern auf den römischen Juristen Domitius Ulpianus (170 - 223) zurückgeht: „ Cogitationis poenam nemo patitur “ . Karl Kraus erweiterte die römische Strafrechtsregel zum Aphorismus: „ Gedanken sind zollfrei. Aber man hat doch Scherereien. “ (Kraus 2007, Nr. 237: 7). Ein Prosaist in New York bestätigt dies von der zweiten bis zur letzten Zeile. 60 Vgl. PRÄ: 152. Gemeint ist Vistelse på jorden. Dikter av F Garcia Lorcas och P Neruda. Tolkade av Artur Lundkvist. [Besuch auf der Erde. Gedichte von F. Garcia Lorca und P. Neruda. Übertragen von Artur Lundkivst]. Stockholm: Bonniers 1950. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 120 3 POETALOG sie sich die Thematik der Suche nach Identität und Geborgenheit. Beiden gemeinsam ist der Stoff: Die Ausgesetztheit eines Individuums, eines Schriftstellers, dessen Sprache ebenso wenig jene der Megacity ist, auf der Suche nach Identität. Beide haben sich in einer (persönlichen) Krisenzeit und Umwälzung gesellschaftlicher Prozesse in diese „ beschwerlichste, rücksichtsloseste, ehrgeizigste, konfuseste, komischste, traurigste, kälteste und menschlichste aller Städte “ - diese „ gekenterte Stadt “ 61 begeben, sich in ihr gespiegelt und darüber berichtet. Fragmente und Passagen von Literaten, Denkern, (Sprach-)Philosophen, aber auch Filmemachern, werden im Lauf der Erzählung, hier der Reihe nach aufgeführt, als Intertexte genannt. Sätze wie dieser von Roman Ingarden (EPNY: 6): Was den Wortlaut betrifft, kann man freilich behaupten, ist Schwedisch nicht im gleichen Maß abhängig wie das, Cassirer zufolge, beispielsweise die Sudansprachen sind, die durch den verschiedenen Ton der Silben, durch Hoch-, Mittel- oder Tiefton, oder durch zusammengesetzte Tonschattierungen wie den tiefhohen steigenden oder den hochtiefen fallenden, ganz unterschiedliche Bedeutungsnuancen ausdrücken können, und dennoch verdient er Beachtung. ‚ Tunström ‘ kopiert hier bei Ingardens Das literarische Kunstwerk, wo es heißt: „ Daneben sind es insbesondere die Sudansprachen, die durch den verschiedenen Ton der Silben, durch Hochton, Mittel- oder Tiefton oder durch zusammengesetzte Tonschattierungen, wie den tiefhohen-steigenden oder den hochtiefen fallenden die mannigfachsten Bedeutungsnuancen zum Ausdruck bringen können. “ (Ingarden 1960: 36) Auf F. Scott Fitzgerald (1896 - 1940) alludiert der Prosaist mit einem resignierten „ No ground under our feet “ (EPNY: 15) aus dessen Roman The Great Gatsby und seinem gleichnamigen Helden. 62 Indem ‚ Tunström ‘ sich bemüht „ nicht an Henry James zu denken “ (EPNY: 26) wird der große Dramatiker und Romancier (1843 - 1916) umso lauter herbeigerufen. Die gleich darauf evozierten heiteren Bilder aus dem Film-Musical Singin ’ in The Rain 63 , von ‚ Tunström ‘ als Video ausgeliehen, korrespondiert über das Thema (Heirats-)Schwindel mit der Grundthematik ‚ Schwindel ‘ der Erzählung, stellt so verschiedene Bild-Bild- und Text-Bild-Bezüge her. 64 Alle drei von Tunström in den Text eingestreuten Zitierungen korrespondieren mit erstrangigen Referenzwerken der Kultur- und Literaturkarte New Yorks, wo sie bleibende Zeichen und Spuren hinterlassen haben. Mit Worten des lucianisch-britischen Dichters und Nobelpreisträgers Derek Walcott (1930 - 2017) gibt sich Prosaist ‚ Tunström ‘ unter dem „ Decknamen Bendel “ gegenüber der 61 Brennan (2016: 7, im Vorwort der Autorin). Es handelt sich bei den Erzählungen von New York, New York um die Lizenzausgabe der 2012 bei Steidl erschienenen Ausgabe, basierend auf der von Brennan unter dem Titel The Long-Winded Lady 1969 zusammengestellten Prosastücke, die sie zwischen 1953 und 1968 für die Kolumne „ The Talk of the Town “ der Zeitschrift The New Yorker publiziert hatte. 62 Das Bonmot stammt von 1923, als der Autor mit dem Schreiben von The Great Gatsby (1925) nicht vorankam, die Probleme damit sowie die Querelen mit seiner Ehefrau Zelda in Alkohol ertränkte; siehe dazu Tate (2007: 6). 63 Das in der Geschichte des Films bis heute wohl bekannteste, in Technicolor gedrehte Film-Musical aus dem Jahr 1952 kam in der deutschsprachigen Synchronisation als Du sollst mein Glücksstern sein in die Kinos. 64 Die von ‚ Tunström ‘ im Video gesehenen (und von uns, wie er sie wohl sieht) imaginierten Bilder ‚ interagieren ‘ still untereinander. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 121 Freelance-Journalistin, die „ Bendel “ zum Interview trifft, auf die Frage, wer er sei, als „ Vielleicht bin ich ein Kind der Moskitoküste “ aus. (EPNY: 26) Worauf er umgehend reflektiert: „ Es war eine merkwürdige Erfahrung: sich in Zitaten aufzuhalten, wie ein Fisch zwischen den Gittern der Zitate sich hin und her zu schlängeln. “ (EPNY: 28) In dieser längeren Passage, äußerlich der Dialog zwischen der Journalistin und „ Bendel “ , der sich auf ihre Fragen in Zitaten Walcotts ergeht, 65 klingt unterschwellig auch die Stimme Tunströms mit (in der indirekten Rede seines Erzähler-Ichs): „ Wer bestimmt darüber, welche Sprache poetisch ist und welche alltäglich. Warum sollte man Wörter wie ‚ infinitesimal ‘ in einem Gedicht nicht gebrauchen können? Was ist hoch und was tief ? “ (EPNY: 28) Mitten in diesem „ Interview “ in dem grotesken Maskenball, Sprachspiel, Mummenschanz Ein Prosaist in New York, in dem alle nach ihrer (wahren) Identität suchen, forscht auch der Prosaist, der sich „ wie ein Fisch zwischen den Gittern der Zitate “ bewegt. Beim Wort genommen, impliziert dies, dass der schreibende Prosaist stets schon in einem Semiotop, einer Logosphäre fremder Worte sich bewegt und bedient und sein Werden im Wort so alimentiert: mit „ Fremdwährung “ , so wie hier unter fremder Flagge, im Tarnmantel des karibischen Malers „ Bendel “ . Sigurd Hoel (1890 - 1960), Mitarbeiter des Sexualforschers Wilhelm Reich (1897 - 1957, der sich ab 1935 in Oslo niedergelassen hatte), wird zitiert mit dessen Buchtitel Fjorten dager før frostnettene (Orig. 1935; schwed. Übersetzung 1950) [Vierzehn Tage vor den Frostnächten], dessen eigene „ Variation [ … ] zu schreiben “ (EPNY: 33), was sich der in Gedanken und Projekte versunkene Prosaist ‚ Tunström ‘ oder gar Tunström (? ) vornimmt. Und ein zweites Mal wird der große US-amerikanische Autor F. Scott Fitzgerald herbeizitiert, dieses Mal mit: „ Writers aren ’ t people exactly. Or, if they ’ re any good, they ’ re a whole lot of people trying so hard to be one person. “ 66 „ Fitzgeralds “ Leitsatz darf als Selbstdeklaration des Autors Göran Tunström gelesen werden. Er begründet partiell, weshalb in der ganzen Story keine Identitäten festzumachen sind. Ein Prosaist in New York entwirft so ein hochgradig verklausuliertes Selbstporträt seines Verfassers ( ‚ )Tunström( ‘ ), der heterofiktional sein Selbst(ein)geständnis mit den Worten eines anderen (Fitzgerald) ausspricht, die in Wirklichkeit eine Replik einer seiner Romanfiguren ist. 67 Wer ist Bendel Bigard? Woher kommt der Name. Wer ist dieser Antagonist? Gibt es ein literarisches Vorbild zu der Figur? Um die mysteriöse Gestalt zu „ identifizieren “ oder wenigstens ihre mögliche Herkunft zu erschließen, wird mit dem nachfolgenden komparatistisch-intertextuellen Versuch dieser Frage nachgegangen. Dazu ist ein kurzer Gang durch die jüngere Literaturgeschichte Schwedens unerlässlich. 65 Was „ Bendel “ denn auch mit seiner Replik eingesteht: „ Das waren allesamt Zitate, ich war ja noch nie im Leben in der Karibik. “ (EPNY: 31) 66 EPNY: 53, vgl. den unvollendeten Hollywood-Roman Fitzgeralds The Last Tycoon (1941). In der Übersetzung auf Deutsch lautet die Stelle (interessanterweise mit dem Zusatz „ beim Film “ ): „ Schriftsteller beim Film sind nicht eigentlich Menschen. Oder, wenn überhaupt, sind sie eine ganze Gruppe von Menschen, die sich krampfhaft bemüht, eine Person zu sein. “ (Fitzgerald 1977: 19) Der Satz ist die Antwort Wylies an Cecilia, die im Roman als Erzählerin-Ich fungiert. 67 Vgl. dazu Pellin/ Weber (2012). „ All diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs “ . Autobiographie und Autofiktion. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 122 3 POETALOG 3.2.4 Zugang 3: Vor-bilder? Wer ist der Bildkünstler Bendel Bigard? Die Frage drängte sich auf, eine Antwort hingegen ließ sich nicht finden. Vermutungen kamen auf. Vielleicht eine pure Erfindung des Autors aus Gefallen an diesem Namen, dem klingenden „ Modell “ , dem Jazzklarinettisten Barney Bigard, 1906 - 1980 nachgebildet, der, wie Bendel Bigard, von einer kreolischen Familie abstammt? Plausibel wäre das, weil Barney wie Bendel (Bigard) beide in den USA lebten und wirkten. Doch alle Recherchen ergaben: Bendel Bigard scheint exklusiv und allein im Text Tunströms als erzählte Figur zu existieren. Ein bildender New Yorker Künstler seines Namens ist realiter unauffindbar. Und: Bigard ist ein bis heute in Frankreich, im Westburgund und in der Provence verbreiteter Familienname. Die Frage blieb offen: Wer ist Bendel Bigard? Zusätzliche Nachforschungen brachten eine Erzählerfigur der schwedischen Literaturgeschichte ans Tageslicht. Ihr Name: Helge Bendel. Ob diese Figur aus Henning Bergers Roman Bendel & Co Tunströms Bendel auf die Spur hilft? Helge Bendel lautet der Name des Protagonisten des 1910 im Verlag Albert Bonniers erschienenen Buches Bendel & Co. En Chikagonovell. 1914 publiziert S. Fischer in Berlin den Roman in der Übersetzung von Gertrud I. Klett als Bendel und Co. Ein Chikago-Roman 68 . Auf dieses Buch des „ früh in Vergessenheit geratenen Prosaisten “ 69 sowie seine mögliche Bedeutung als Intertext für Tunströms En prosaist i New York, soll nun genauer hingeblickt werden. Zunächst ein (er)klärendes Wort zum Namen Bendel Bigard. Der Vorname Bendel lässt sich in keinem Verzeichnis ermitteln. 70 Unabweisbar ist, dass der Familienname von Bergers Helge Bendel den Vornamen zu Tunströms Bendel Bigard abgibt. So gelesen stellt ‚ Bendel ‘ eine Art (Namens-)Brücke, eine fein angedeutete Verbindung zwischen den beiden Werken her, unterschiedlich dem Genre nach, doch vereint, aus europäischer Sicht, durch den gemeinsamen Handlungsort: eine Großstadt in der Neuen Welt. 71 Bergers Titel verweist auf die Stadt Chicago nach der Jahrhundertwende als Erzählraum, bei Tunström ist dieser Raum durch das „ in “ exakt verortet: New York, hundert Jahre später, zur Jahrtausendwende. 68 Wie Sven Lagerstedt in seiner Bergerstudie (von 1963) richtig bemerkt, ist Roman die adäquate Genrebezeichnung und nicht die durch das englische ‚ novel ‘ irrtümlich in den Untertitel des schwedischen Originals geratene novell (Novelle). Das Buch erschien 1976 neuaufgelegt in der Serie „ Sverige läser “ bei Förlagstjänst (Gamleby) als Pocket-Ausgabe. 69 Vgl. Lönnroth (1999: 418, wo Henning Berger - Freund u. a. von Hjalmar Söderberg, der sich wie jener nach Kopenhagen ins Exil begab - als „ tidigt bortglömd prosaist “ [früh in Vergessenheit geratener Prosaist] apostrophiert wird). 70 Reinhard Schulze schreibt auf die Frage nach einer eventuellen Herkunft des Namens aus dem „ Arabischen “ : „„ Bendel “ als der Vorname, den der Maler trägt, ist mir nicht bekannt. In Israel ist der Familienname Bandel/ Bendel - wie Sie richtig bemerken - weit verbreitet ( ב נ ד ל ). Als Etymologie wird dazu oft angeführt: Süddeutscher, jüdischer, aschkenazischer Name, der als Berufsbezeichnung den „ Bandhersteller “ (Bändle) meint. / Als Vorname könnte es sich wohl um eine Koseform des aus dem Griechisch-Lateinischen stammenden Namens Pantaleo ( „ Alle Löwen “ ) handeln. Im Arabischen führte der christlich-palästinensische, nationalkommunistische Publizist und Historiker Bandali al-Jawzi (geb. 1871 in Jerusalem, gestorben 1943) diesen Vornamen in der Form Bandali. [ … ] “ . (E-Mail vom 27.06.2017 an den Verf. L. D.) Bendel als Vorname scheint von Tunström als Rufname poetisiert, um mit dem Nachnamen Bigard aus lautmalerischen Gründen gut zu funktionieren, so wie seine Kreation Marilyn Montez, deren Bilder von der Ghost-Malerin Susanne fabriziert werden (vgl. EPNY: 32). 71 Die ‚ Neue Welt ‘ der Vereinigten Staaten von Amerika war zu Bergers Zeit noch viel „ neuer “ als heute, über hundert Jahre später, in einer globalisierten „ vernetzten “ Welt, in der Europa und Amerika sich längst nicht mehr in demselben Maß unterscheiden voneinander wie damals. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 123 Beide Großstädte sind 72 Ankunfts- und Durchgangsorte, Schmelztiegel für Ankömmlinge aller Herren Länder nach einer Emigration und, bleiben sie länger, vor einer möglichen Assimilation oder Weiterreise. Orte, aufgeladen mit Sehnsuchtsvorstellungen und der Verheißung von Glück. Ein fleißiger Mensch wird den American dream garantiert Wirklichkeit werden lassen. Bergers Roman zeigt sprachliche Eigenheiten und Gemeinsamkeiten mit Tunströms Erzählung. Dabei fällt bei einem Vergleich der beiden Texte gleich der erste Satz in Bergers Roman auf; wegen seiner Rhythmik aber auch wegen seiner Semantik. 73 Dieser Satz, zugleich der erste Absatz, eröffnet den Roman. Er steht buchstäblich am Textanfang und lautet wie folgt: En hvinande snöstorm piskade från nordost Chicago. (15 Silben) (B&C: 5) Ein heulender Schneesturm peitschte aus Chicagos Nordosten. (15 Silben) De isande snärtarna från decembertornadons hvita chambriär lade sig längs Michigansjöns frusna kajer och nere i djupen vrålade som från ett oerhördt menageri alla upptänkliga vinterns vilda ljud. (B&C: 5) Die eisigen Peitschenschläge der weißen Dezemberorkanhiebe gingen längs der gefrorenen Kais des Lake Michigan nieder und in den Tiefen brüllten wie aus einer riesigen Menagerie alle erdenklichen wilden Laute des Winters. ,Tunströms ‘ in die USA „ importierter “ Satz En lätt bris fick trädets lövverk att skälva i eftermiddagshettan ist (nach einem Doppelpunkt) der zweite in seinem Text. 74 Im ersten erinnert sein Erzähler bekanntlich, dass er diesen Einen Satz bei seinerAnkunft in New York mit ins Land brachte. Tunströms Satz steht somit nicht wie Bergers wortgetreu am Anfang, sondern schiebt sich, durch seine stete Perpetuierung eher wie ein Schirm über oder vor allen Anfang im Text. Die dauernde Repetition und Variation gibt ihm noch mehr Gewicht als der erste, sich einprägende Satz eines Buches. Außerdem bildet er wörtlich den Schluss- Satz. Bergers wie Tunströms „ Anfangssatz “ schildern beide eine (rauhe) Wetterlage. 75 Bergers Roman grundiert eine Winterstimmung, in Tunströms Erzählung wird ein Spätsommertag heraufbeschworen. 76 72 Für die aufstrebende Industriestadt Chicago war dies zur Zeit von Bendel & Co genauso. 73 Die folgenden Zitate beziehen sich auf die E-pub-Version von Bendel & Co in litteraturbanken.se, die in der Bibliografie dieser Studie detailliert angegeben ist; Sigle: B&C. 74 Der Satz wird in der Erzählung insgesamt knapp dreißigmal genannt, ganz oder als fragmentarisches Zitat, als Allusion oder als Erwähnung oder Verweis auf den Satz. 75 Bergers Ysaïl. En berättelse från Chicago beginnt so: „ En eftermiddag i september stod i norr ett stort moln öfver Clark street. “ (Berger 1905: 7) [An einem Nachmittag im September hing eine große Wolke im Norden über der Clark Street.]. War dieser Satz Vorbild für den Prosaisten? - Fredrik Sjöberg erinnert in einem Zitat aus Bengt Lidforss ‘ Ysaïl-Rezension an Bergers komplexe Stimmungsbilder: „ Was ist das Farbenspiel eines Sonnenuntergangs am Meer gegen die Lichtreflexe einer nächtlichen Feuersbrunst in einer Metropole, was ist der Duft von Wald und Wiese gegen den krankhaft aufreizenden Geruch von Veilchen, Asphalt und parfümiertem Tabak. “ (Sjöberg 2016: 95). 76 Es finden sich mehrere Schilderungen von Wetterstimmungen in B&C, hier sei mit einem Satz aus einer Rückblende stellvertretend für alle übrigen eine weitere erwähnt, nämlich wie Bendel seine Ankunft in New York erinnert: „ Det var en fuktig senhöstafton, som dock var mild, och i diset öfver redden lyste millionstadens töckenljus, afbrutna af svängande strålkastares breda floder. “ (B&C: 128) [Es war ein feuchter Spätherbstabend, der jedoch mild war, und im Nebel über der Reede leuchteten die Dunstlichter der Millionenstadt, unterbrochen von breiten Strahlen wackelnder Scheinwerfer.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 124 3 POETALOG Helge Bendel, der gebürtige Schwede, ist „ vor neun Jahren ins Land gekommen “ (B&C: 19) und arbeitet in einem Chicagoer Speditionsunternehmen, das seine Dienste auch als Reise- und Auswanderungsagentur anbietet. Beide Erzählungen operieren zur Hauptsache mit einem Ich-Erzähler: In Bendel & Co ist es Helge Bendel, in Ein Prosaist in New York heißt das Erzähler-Ich ‚ Tunström ‘ . Die Suche nach Identität - für die Erzählung Tunströms bereits hervorgehoben, ist auch Thema in Bendel & Co. Bendel bekommt von seinem Kollegen Griff zu hören: Du går med mask för alla och är rädd att visa ditt verkliga jag, som du tror är för vekt och inte duger. Och så spelar du komedi - egentligen borde du ha blifvit skådespelare - tills det blifvit din natur. (B&C: 110) Du zeigst allen eine Maske und hast Angst, dein wirkliches Ich zu zeigen, von dem du glaubst, dass es zu weich ist und nicht taugt. Und so spielst du eine Komödie - eigentlich hättest du Schauspieler werden sollen - bis dies deine Natur wäre. Ähnliche Frauengestalten bevölkern die zwei verschiedenen Bücher, die kurze Erzählung ebenso wie den mittellangen Roman. Den Vanessas und Susannen bei Tunström stehen als Entsprechung die beiden Fanchetti-Sisters in Bergers B&C gegenüber. Helge Bendel besucht sie gerne im Variété, wo die gebürtigen Schwedinnen auftreten und ihn, auf andere Weise als Bigards Gespielinnen, am Ende jedoch mit demselben Effekt, an der Nase herumführen: Er ist ihr Spielball. Schreibmaschinengeklapper, Bücher und Bibliotheken sind des Weiteren gemeinsame Topoi der beiden Narrativen. In Bendel & Co sind die ‚ Tippfräulein ‘ und Schreibgehilfen in den Großraumbüros zu hören, wie auch das Raspeln der Federn auf dem Papier. (Vgl. bspw. B&C: 258) Im Prosaisten manifestiert sich das Schreiben nicht nur konstant in den verschiedensten Szenen ihrer Autorfigur ,Tunström ‘ , selbst die Galerieassistentin ist leidlich damit beschäftigt. Wie in Tunströms New York-Erzählung, so nehmen im Chicago-Roman Bergers Bücher eine herausragende Rolle ein. 77 Der schweizerische Hilfsbibliothekar Martell an der Newberry Library erlaubt sich den Spaß, Bücher resp. Autoren samt Buchtitel zu erfinden, so u. a. einen französischen Klassiker namens „ Dutoifois “ (B&C: 285). Was Erfindungen und Fiktionen anbelangt (frei erfundene Figuren sowie frei erfundene Tatsachen), steht Tunström Berger in keiner Weise nach. Das Sittenbild Chicagos 78 zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt im Vergleich mit dem Pastiche aus New York erstaunlich viele Übereinstimmungen. Liegt es am Stoff (das Leben und Treiben der nach Erfolg strebenden Menschen und ihren Krisen in einer großen Stadt, die auch als „ Textstadt “ 79 dient), der diese Thematik entfaltet, oder hatte sich Tunström von Bergers Büchern, insbesondere von dessen Bendel & Co inspirieren und zum Schreiben seines Selbstporträts anregen lassen? Die Frage kann mit einem kursorischen Vergleich allein nicht beantwortet werden und muss offenbleiben. 77 Zur Erinnerung: Tunström, anfangs noch der reale Autor, hat eben ein Buch beendet (den Roman Skimmer, 1996 publiziert) und lässt nun ‚ Tunström ‘ in New York einen Schreibort aufsuchen, um da sein dichterisches Kleinwerk anzugehen. 78 Das ebenso ein Selbstporträt Bergers ist, wie Lagerstedt in seiner reichhaltig mit Quellenmaterial dotierten Studie aufzeigt. 79 Pethes (1999: 218, in „ Die Textstadt ist Ort einer Krise “ , im 7. Kapitel. Topographien: „ Die Stadt als mnemotechnischer Behelf “ ; ebda.: 204 - 218). - Chicago, die zur Zeit Bergers größte Industriestadt der Welt; New York, die ‚ damals ‘ (zur erzählten Zeit) größte Welthauptstadt von Kunst und Kultur. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 125 Nach zehn Traumjahren sticht Helge Bendel an einem nebligen Novembermorgen als Passagier eines Überseedampfers in New York in See - Destination Unbekannt, vermutlich jedoch, über den Atlantik, zurück nach Schweden, Europa; das Foghorn tutet bei der Abfahrt kräftig, so wie bei „ Bigard “ ein Hahn (verräterisch) kräht, als dieser in der Nachmittagshitze in Quintana Roo am eisgekühlten Orangensaft zu nippen beginnt. Auch wenn, angesichts der Übereinstimmungen, vieles dafürspricht, dass Tunström von Berger inspiriert war, kann nicht behauptet werden, dass En prosaist i New York eine Kontrafaktur auf Bendel & Co ist. Die zwei Texte, beide mit allen Anzeichen literarisierter Selbstporträts (vgl. Jeleby 2007; Sperling 2005) versehen, verquickt mit der Namensbrücke ‚ Bendel ‘ allerdings ein onomastisch unüberhörbar starkes Band. Trotz der Gemeinsamkeiten in den aufgezeigten Parallelstellen ist nicht zu übersehen, dass die beiden Bücher gänzlich verschieden sind. Bergers Roman ist einem Sozial- Realismus der Moderne verpflichtet, während Tunströms Erzählung der Wort-Werdung eine Etüde in postmodernistischer Schreibweise ist, die sich selbst zu ergründen sucht, poeto-logisch in real time über sich nachdenkt und mittels Mimikry operiert. 3.2.5 Zugang 4: Wortkunst und Bildkunst Zahlreich sind die Interdependenzen im Schaffen des Künstlerpaares Lena Cronqvist - Göran Tunström. Was verbindet die beiden in ihrer künstlerischen Arbeit. Gibt es gemeinsame Themen und Topoi? Wenn ja, werden sie unterschiedlich angegangen? Beide Werke stehen je für sich und durchdringen dennoch einander - die Bildkünstlerin Lena Cronqvist schafft Bilder(welten), der Wortkünstler Göran Tunström imaginiert Welten mit Wörtern. Wort und Bild sind in der Geschichte der Menschheit Komplizen, bilden eine anthropologische Konstante, bedingen sich gegenseitig, wie ihre Geschichte lehrt. 80 ‚ Gemeinsam ‘ in der künstlerischen Partnerschaft Tunström - Cronqvist 81 heißt hier, 80 Ontogenetisch wäre hier das weite, noch junge Feld der Bildforschung aus neurologischer Perspektive einzubeziehen. Phylogenetisch stehen die prähistorischen Höhlenbilder von Lascaux Garant für diese alte Beziehung Wort - Bild. 81 Diese gegenseitige Einfluss-Wirkung (in Anlehnung an Harold Blooms Theorie der ‚ Einflussangst ‘ ) ist m. W. bisher nicht erforscht worden. Sichtbar ist sie bspw. an den Buchcovern von Svartsjukans sånger (1975), Sandro Botticellis dikter (1976), Sorgesånger (1980) sowie an Buchillustrationen. Auf der Textebene finden sich, manifest wie latent, Spuren in GUD und DHG, wie in Kap. 4 zur Sprache kommt. Ansätze zu einer (wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit der Einfluss-Frage, liefern die Aufsätze von Mårten Castenfors in: Castenfors (2003). Lena Cronqvist. Sveriges Allmänna Konstförenings Årsbok. In seinem Überblicksartikel „ Lena Cronqvist och det absolut nödvändiga “ [Lena Cronqvist und das absolut Notwendige] (ebda.: 9 - 115) weist er allein auf das „ Vor-Bild “ , Jan van Eycks „ Arnolfini-Hochzeit “ hin, von dem Cronqvist sich zu „ Trolovningen “ [Verlobung] von 1974/ 75 habe inspirieren lassen (vgl. ebda.: 66, Abb. Trolovningen: [67]). Weitere Hinweise zu Tunström-Cronqvist geben die Beiträge von Eva Runefelt: „ Partitur “ (in: Castenfors 2003: 119 - 135), Eva Ström: „ Lena Cronqvist - ett samtal “ [Lena Cronqvist - ein Gespräch] (in: Castenfors 2003: 137 - 145). Tunströms Gedicht „ Poethustru “ [Dichterfrau] aus seinem Debut Inringning (1958) ist dort ebenfalls abgedruckt (177). Runefelt erwähnt, Cronqvists Bild Isen [Das Eis] sei eine Kontrafaktur von Sandro Botticellis „ Geburt der Venus “ (La nascita di Venere, um 1485/ 86), wie Tunström in einem Essay geschrieben habe (leider ohne die Quelle dazu anzugeben.) - In Garpe (1983: passim) finden sich Hinweise zur künstlerischen Korrelation. - Nordgren führt als Beispiel der Zusammenarbeit die bei Edouard Weiss in Paris erschienene, bibliophile Ausgabe von Strindbergs Ett drömspel an, versehen mit Steinlithografien von Lena Cronqvist und einem Vorwort von GT. Zu dem im Buch abgebildeten Bildteppich Bördan [Die Bürde, auch ‚ Tracht ‘ ] von 1983 (vgl. Nordgren 1990: 20) gibt es keinen Hinweis, dass Teil I von Tunströms Lagerlöf Hörspiel-Triptychon denselben Titel trägt. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 126 3 POETALOG das eine Werk ohne das andere ist nicht oder so kaum denkbar, sind sie sich doch ein Arbeitsleben lang in ihrem Schaffen reziprok Impulsgeber gewesen. Aus der Sicht des Autors sieht die ‚ Zusammenarbeit ‘ so aus: „ Lena målar mina bilder och jag skriver hennes tavlor “ [Lena malt meine Bilder und ich schreibe ihre Gemälde]. 82 Beim Wortsinn genommen: das Gesamtkunst-Werk Cronqvist/ Tunström ist als eine Schöpfung in zwei Ausführungen anzusehen. Tunströms Gedankenbuch (tankebok) Under tiden 83 beinhaltet einen reichen Fundus an Überlegungen seitens des Autors zum Verhältnis Wort-Bild wie auch zur Sprache, zum Buch und zur Bibliothek. Daraus zitiert seien hier nur zwei besonders augenfällige: „ Jag märker det också i min läsning: jag letar hela tiden efter vad Borges kallar punkten Aleph, den obetydliga sprickan i muren genom vilken man kan skåda hela världen. “ (UTI: 68) [Ich merke es auch, wie ich lese: ich suche beständig nach dem, was Borges den Punkt Aleph nennt, den unscheinbaren Riss in der Mauer, durch den man die ganze Welt betrachten kann.] „ skåda hela världen “ , die ganze Welt schauen - um sich von ihr ein Bild machen zu können. Der seit seiner Kindheit an Geografie interessierte Autor fragt später: „ Var ligger förresten Cognac? Åh, inte alls långt från Bordeaux, det är en stad jag alltid velat se. Fast jag vet inte varför, men en gång ville jag ju se allt. Det är så vackert att se allt. “ (U TI: 83) [Wo liegt im Übrigen Cognac? Oh, ganz nah von Bordeaux, eine Stadt, die ich schon immer sehen wollte. Auch wenn ich nicht weiß, warum, aber einmal wollte ich alles sehen. Es ist schön, alles zu sehen.] Alles sehen zu wollen. Ist dieser Wunsch hervorgerufen durch den Klang des Wortes Cognac oder von Bordeaux? Es ist nicht klar, von welcher Stadt hier genau die Rede ist, wichtiger scheint, „ [e]s ist schön, alles zu sehen. “ Die Auseinandersetzung Wort-Bild durchzieht Tunströms ganzes Schaffen. Auch in De heliga geograferna finden sich dazu aufschlussreiche Gedanken. Der Erzähler sagt darin beispielsweise von Hans-Cristian, dieser Verkörperung eines ‚ Wort ‘ -Menschen par excellence: „ Det var Hans-Cristians diktande som gjort bilder mellan verkligheterna. “ (DHG: 68) [Hans-Cristians Dichtung schuf Bilder zwischen die Wirklichkeiten.] Wie Hindernisse stellen sich diese Bilder den Wirklichkeiten (von Paula und Hans-Cristian) in den Kommunikations-Weg. Auch andere Protagonisten lässt Tunström über die Wort-Bild- Problematik sinnieren, wenn etwa vom ‚ guten Bild ‘ , das ein Mensch von sich abgibt, die Rede ist. Bezeichnenderweise ist es wieder Hans-Cristian, der sich mit dem Konflikt Wort- Bild konfrontiert sieht und sich ihm stellt: „ Men Hans-Cristian var rädd att berätta om detta, för det skulle störa Bilden. Den goda bilden. Den hela Bilden utan sprickor och flagor. “ (DHG: 208) [Aber Hans-Cristian scheute sich davor, davon zu erzählen, denn das würde Das Bild stören. Das gute Bild. Das heile Bild, ohne Risse und Splitter.] Dass „ Bild “ im Schwedischen zweimal mit Großbuchstaben wiedergegeben ist, macht die kritische Aussage über das scheinbar „ heile Bild “ umso bedeutungsvoller. 82 Sandelin (1980). Dies ist nur eines von mehreren Statements Tunströms zu ihrer gegenseitigen künstlerischen Inspiration und Zusammenarbeit. 83 Nach dem Prolog „ En infarkt om våren “ (U TI: 7 - [9]) [Ein Infarkt im Frühling], folgen die drei Hauptabschnitte: Trädet och tystnaden (13 - [48]) [Der Baum und das Schweigen], Boken och tystnaden ([49] - [94]) [Das Buch und das Schweigen], Himlakroppen och tystnaden ([95] - [185]) [Der Himmelskörper und das Schweigen]. Das dreifach aufgegriffene Schweigen (vs. Schreiben können resp. nicht können) allein schon verdiente profundere Beachtung statt bloßer Beobachtung. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 127 Als frühes Beispiel der stillen künstlerischen Zusammenarbeit in Form gegenseitigen Aufeinandereinwirkens von Lena Cronqvist und Göran Tunström sei hier ihr Bild „ Tag och skriv “ angeführt. Das Acrylbild mit den Originalmaßen 100 × 81 cm stammt von 1966. 84 Tag och skriv - Nimm und schreib, lautet in Gunnar Ekelöfs Gedichtzyklus Färjesång - Fährgesang von 1941 die einleitende, fünfteilige Suite. Im gleichnamigen Bild „ Tag och skriv “ sehen wir eine Figur hinter ihrer Schreibmaschine, im Wagen, in dem das Schreibblatt eingelegt sein sollte, ist keines eingespannt, obschon diese Schriftsteller-Figur mit ihrer Linken gerade eine Taste niederzudrücken scheint, folglich im Begriff ist, ein Wort- oder Satzzeichen auf die unleserlich schwarze Leere der Gummiwalze zu tippen. Zwei unbeschriebene Blätter liegen auf der Tischplatte links von ihr. Mit der überlangen rechten Hand stützt sich diese Autor-Figur hinter der Schreibmaschine am Tisch ab. Unter der Figur, steht ein, im Verhältnis zu seiner Körpergröße, mächtiger Papierkorb voller Papier(schnipsel), vermischt mit stilisierten Blüten oder Blumenstielen, die, in größerer Zahl, vor ihr am Boden, einem „ Erd-Teppich “ , sich wiederfinden. Der „ Papierkorb “ ist im goldenen Schnitt platziert, als bildete er die Basis oder den „ Unterleib “ dieser wortlosen Figur (eine Schreibmaschine ohne Blatt kann keine Worte aufnehmen und aufbewahren); dass die Figur wiewohl Beine und Füße hat, deutet das vor dem Büchergestell liegende Paar schwarzer Socken an. Das fünffach repetierte Mantra Tag och skriv! - Nimm und schreib! im zentralen dritten Abschnitt der gleichnamigen Suite wird aufs Heftigste konterkariert mit: „ I verklighet är du ingen “ (In Wirklichkeit bist du niemand). Abb. 5: Lena Cronqvist „ Tag och skriv / Write it Down “ , 1966 84 Vgl. die Abb. in Castenfors (2003: 27; Titel: Tag och skriv/ Write it Down). Die Farben und Formen, die Krümmung des Raums und Zeichnung des Körpers im Bild Cronqvists erinnern an die Bildsprachen von Frida Kahlo (1907 - 1954) und Francis Bacon (1909 - 1992); vgl. hierzu Eva Ström: „ Lena Cronqvist - ett samtal “ , in: Castenfors (2003: 137 - 145). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 128 3 POETALOG Verzerrt und beklemmend zur Nichtigkeit klein, ist der Schriftsteller in seinem aussichtslosen Unterfangen in dieser „ Schreibszene “ eingefangen, die ein Widerbild zum Text ist „ Du liknar en docka, kastad av barn, / viljelöst fogande dig i det meningslösa! “ (Du gleichst einer Puppe, von einem Kind hingeworfen, / willenlos dich dem Sinnlosen fügend! ). Und doch lautet die Aufforderung im zweiten Abschnitt in diesem mystischen Zyklus Fährgesang: „ Endast som vittne är människan till: / Tag och skriv! “ - Einzig als Zeuge vorhanden der Mensch: / Nimm und schreib! 85 „ (Was das Bild repräsentiert, ist sein Sinn.) “ schreibt Tunström im selben Jahr der Datierung von Cronqvists Bild (1966), ein Kommentar zumal des Denkbildes der beiden Zeilen zuvor: „ Und die Weltgeschichte hört nicht hin / lädt nicht in die Kneipe ein. “ 86 Die Bilder ( „ klotter “ / Kritzeleien) Cronqvists in Prästungen als visuelle Inskriptionen des (mit Worten) Unsagbaren oder Mittel zur Verdeutlichung und Übersetzung des im Text Gesagten, sind hier ebenfalls zu erwähnen. Oder die Bemerkung in Under tiden: „ Nyligen, vad ett sådant ord nu betyder, fick jag, vad nu ‚ jag ‘ betyder, i födelsedagspresent ett akvarellskrin och vita papper. Jag fick andra presenter också, dyrare, tyngre, men ingenting upprörde mig som denna färglåda, dessa vita papper. “ [Kürzlich, was immer ein solches Wort auch bedeuten mag, bekam ich, was immer denn ‚ ich ‘ bedeuten mag, zum Geburtstag einen Aquarellkasten und weiße Blätter. Ich habe auch andere Geschenke erhalten, teurere, gewichtigere, doch keines hat mich so erregt wie dieser Farbkasten, diese weißen Papiere.] 87 In Guddöttrarna gibt es mehrere Passagen, in denen es um Malen und um Bilder geht. Hier stellvertretend nur eine davon, dafür eine etwas längere, gleich in übersetzter Form: [ … ] Er [Ivan] dachte: Ich habe keine Zeit, alles zu malen. Das Wichtige ist, dass ich mich erinnere. Er legte die Leinwände aufs Preiselbeeren-Reisig. In ein schwarzes Notizbuch notierte er die Farben. Er war sehr genau. Er zeichnete die Leinwand auf das Papier und schrieb: Wald grün, Laub, Krabbenlack, der Himmel neapelgelb - ultramarin. Er markierte mit Ringen den Platz der Farben im kommenden Motiv. Er hielt das Buch weit von den Augen weg und betrachtete die Skizze; sie war schön, sie würde Sylvia gefallen. [ … ] Er nahm eine Variation vor. Er schrieb Goldocker schräg über Krabbenlack, drehte und wendete das Papier und schrieb in eine andere Richtung: Veroneser Grün. So wurde es schön. So sollte es aussehen. [ … ] Er erfand ein Zeichensystem mit Ringen, Pfeilen und Kreuzen. Sie umschlangen einander, bis sie zu leben begannen. Eine Kraft ging von den Zeichen aus. Er kam in Gang. Jetzt ging alles wie von allein. Er hatte nur seiner Hand zu folgen. Die Zeichen dirigierten die Hand, da waren sie gleichsam, ehe er sie sich ausgedacht hatte. 85 Ekelöf (2003: 70 - 71). Übersetzung: Klaus-Jürgen Liedtke. 86 „ Och världshistorien lyssnar inte / bjuder inte på krog. “ (DHS: 61, in „ Fångarna “ [Die Gefangenen], dem Schlussgedicht im Band De andra, de till hälften synliga [Die anderen, die zur Hälfte sichtbaren]). Das Gedicht endet mit Laurence Sternes, von Tunström durch Majuskeln akzentuierten Schlussworten aus dessen Prolog in A Sentimental Journey through France and Italy: „ AND I HAVE SCARCE SET FOOT IN YOUR DOMINIONS. “ (ebda.: [62]). 87 U TI: 118. Göran Tunström schildert anschließend, wie er damit „ auf der schönsten Insel im griechischen Archipelag “ seine Zeichenkünste erprobt und einsehen muss, dass er kläglich scheitert. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 129 Es war natürlich. Selbst war er ein Punkt auf der Karte, in der Zeit, im Raum. Er war geboren und sollte sterben. Doch Punkte und Kreuze gab es schon immer. Er war jetzt nahe. Er durfte nicht aufgeben. Es war eine große Verantwortung, den Zeichen so nahe zu kommen. Er lief schneller und wilder. Die Papiere schrumpften und drehten sich. Es gab kleine Zeichen ebenso gigantische Zeichen. Auf gewissen Papieren hatte nur das Rund eines Fragezeichens Platz. Es gab Seiten mit nur zwei Punkten und einem tiefgründigen Zwischenraum. Es gab Punkte von einem Gewicht von Steinblöcken. Es gab Papiere, auf denen nur Teile von solchen Punkten zu sehen waren. Er musste schlafen. Es gab Papiere, die sich umschlangen, weit weg von sich, von den unsichtbaren Konturen des Zeichens. Es musste schlafen. Aber ein richtiger Maler muss malen, was flieht, und etwas flieht immer. Etwas muss sich jemandem mitteilen. Er wusste das sehr wohl. Er war kein Idiot mehr. Um diesen Beweis ging es ja. (vgl. GUD: 210 - 212) Das Textbeispiel zeigt einen radikal anderen Umgang mit der Malkunst als jener Bendel Bigards, des New Yorker Malers von den Kaimaninseln. Über das Aussehen von dessen Bildern lässt uns der Erzähler im Dunkeln. Die bildlosen Bilder stimulieren so umso mehr die Imagination des Lesers. Der Erzähler behält das Geheimnis für sich. Einzig von einem „ Hauch karibisches Blau “ ist einmal Rede, das von Landschaft II ausgehe. Kein Wort ist darüber zu erfahren, wie der Maler dieses Blau auf die Leinwand brachte, mit welchen handwerklichen und ästhetischen Problemen er sich konfrontiert sah. Ein Prosaist in New York blickt kritisch hinter die Kulissen des (speziell in den 1990er- Jahren in New York) Hypes um angesagte Kunst und setzt sich damit vor Ort ins Bild. Als regelrechte Demaskierung kann Tunströms Erzählung so auch gelesen werden. Immer im Spiegel der Sprache, des Worts. Mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit und Verspieltheit wird das „ Theater “ (= das Sichtbare) um die Kunst und deren Marktwert ad absurdum geführt. Auf der Bühne ‚ New York ‘ wird sich ein Schriftsteller namens ( ‚ )Tunström( ‘ ), umgeben von Filmleuten und Bilderhändlern, zu denen er nolens volens zeitweilig selber dazugehört, bewusst über den Zirkus und den Mammon um Kunst und Bilder und schafft sich - mit Worten - ein eigenes Bild (davon und von sich). Oder ist Bendel Bigard, der Name des Malers, lediglich einer der Decknamen im Spiegelkabinett des Erzähler-Ichs (eine Über-Schreibung im Autor-Bild Göran Tunström), eine Skulptur (aus Wörtern), sibyllinisches Palimpsest? Die Umkehrung demzufolge gilt auch: Wörter können wie Bilder wirken. Am Ende ‚ stehen ‘ wir vor einem gänzlich verinnerlichten Bild: wir ‚ sehen ‘ ein zitterndes Blattwerk. Ein bewegtes, phantasmagoriertes Bild, das spricht. Das gleichzeitig ein Stillleben ist: Autor und Susanne liegen in Liegestühlen am Strand. Idylle. Der Hahn kräht. 88 Die Geschichte „ fliegt auf “ ! Denunziert nimmt sie sich selbst zurück auf der Metaebene des Zitats aus dem Wachstuchbuch, erlischt, geht wörtlich zu Ende. Geht nach dem erzählten Ende über ins wortgemachte (poetische) Bild, das aus Wörtern kreierte Bild, das in sich 88 Vgl. die Verleugnung Jesu durch Petrus in der Passsionsgeschichte (Mt 26, 75: „ Da erinnerte sich Petrus an das Wort Jesu, der zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich. “ ). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 130 3 POETALOG zusammenfällt, wie der Maler Daozi, der in seine Leinwand hinein schreitet und darin verschwindet. 89 Der Prosaist schließt die Erzählung mit dem Hinweis auf die Verortung des Satzes in seinem Wachstuchheft, dessen Existenz wir jedoch nicht nachprüfen können, und lässt die Lesenden (vor einem Lügengebäude) stehen. „ Ut pictura poesis “ 90 könnte einer voreilig folgern; ein Prosaist in New York indes ‚ sieht ‘ die Wort-Bild-Beziehung allerdings komplexer. ( ‚ )Tunström( ‘ ), ein ausgesprochener Prestidigitateur der Wörter, zaubert - nach der Überschreitung einer unbegehbaren Schwelle (Schweden und New York trennt ein riesiger Ozean) - aus seinem Hut (Haupt) in nuce ein Satz-Kunst-Stück, bringt dieses als Kern-Satz virtuos zur verzwickten Entfaltung in Form einer „ Geschichte “ , um am Ende dieses verbalen Illusionstheaters diesen Satz wieder an sich zu nehmen, in seine Obhut (sein Wachstuchheft, sein materialisiertes „ Haupt “ , sein Wort- und Ideenarchiv). Gängige Logik missachtend und widersprüchlich wie fast alles an dem Denkbild Ein Prosaist in New York, generiert diese Verfahrensweise ein Emblem in Wörtern. 91 Die unsichtbar bleibenden Bilder Bendel Bigards werden am Ende, das zugleich den Anfang bildet und somit wortidentisch oder bildgleich diese Bewegung im Erzähl-Kreis fort- und weiter dreht - überstülpt von einem Text „ Tunströms “ , der ein Urbild 92 statuiert, das jeglicher exakten Beschreibung (mit Worten? mit Bildern? ) entsagt. Alogisch wird diese „ Idee “ transzendiert in eine Form der Perzeption, die abseits der Dichotomie Wort/ Bild eine eigene Kategorie statuiert, am ehesten ein verstecktes Bild (mise en abyme und Vexierbild) von sich abgibt. Ein paradoxes Emblem. Es setzt sich aus den drei Merkmalen zusammen: Inscriptio: En prosaist i New York - als der gesetzte Titel Pictura: En lätt bris fick trädets lövverk att skälva i eftermiddagshettan - das Satz-Bild 93 Subscriptio: En prosaist i New York - die gleichnamige autor(r)reflexive Narration, die zwischen Echtheit und Fiktion oszilliert, von ‚ Tunström ‘ erzählt und mit Göran Tunström unterzeichnet. Paradox ist dieses Emblem deshalb, weil es gänzlich mit der Logik der Emblemtradition bricht, deren Prinzip auf Verständlichkeit und Veranschaulichung beruhte. Wort und Bild, Subscriptio und Pictura formieren im klassischen Emblem einen Erklärungszusammen- 89 Vgl. hierzu Lindqvist (1967). Myten om Wu-Tao-tzu. - Tunström bezieht sich auf Lindqvist und seine Bilder im Gedicht „ Vår ö - vår tid i havet “ / „ Unsere Insel - Unsere Zeit im Meer “ (vgl. dazu UNS: 46 - 47). 90 Das Dictum „ wie ein Bild [sei] das Gedicht “ ist in der Ars poetica des römischen Dichters Horaz (65 - 8 v. u. Z.) verbürgt, der Gedanke dazu stammt jedoch aus älterer Zeit von griechischen Denkern und Dichtern. 91 Siehe dazu Groddeck (1995: 250): „ Das Emblem ist freilich kein rhetorischer Terminus mehr, sondern eine historische Weiterentwicklung der Metaphorik und insbesondere der Allegorie. Das typisch dreiteilige Emblem besteht aus Überschrift (Inscriptio), Bild (Pictura) und Unterschrift (Subscriptio) und hat in dieser Form über drei Jahrhunderte hinweg das Bilderdenken in Europa geprägt; an den Emblemen wird die Logik der durch ihre Obscuritas verrätselnden Allegorie auf spezifische Weise transparent. “ 92 Die etymologische Herkunft und Ur-bedeutung von ‚ Bild ‘ : „ <ahd. bilodi, -adi, -idi, ‚ Wesen, Gestaltetes ‘ , dann ‚ Abbild, Nachbildung ‘ , zu germ. *bil- ‚ ungewöhnl. Kraft, Wunderkraft ‘ ; verwandt mit billig u. dem 2. Teil von Weichbild u. Unbill. “ (Wahrig 1980: 687). 93 Zum ersten Mal im ganzen Text kombiniert nun mit dem ‚ Autor ‘ -Ich - als Nachsatz oder Nebensatz zum vorangehenden Hauptsatz, und wie mehrfach erwähnt, der Anfangs- und Schlusssatz. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 131 hang, der in Tunströms Prosaist nicht offensichtlich ist. Aufgrund seiner selbstbezüglichen Struktur verweigert der Text sich gerade eindeutigen Erklärungsmustern und sabotiert damit den Sinnbildungsprozess zugunsten von Unschärfe und beirrender Polyvalenz. Mit anderen Worten: Sein Autor bootet das konventionelle ‚ Sprachspiel ‘ aus, auf das alle - nicht nur in der Kunstwelt - vertrauen und steigert damit auch die Unsicherheit, womit wir es bei seinem Text zu tun haben: Autobiografie, Essay, Fiktion, infinite Figuration, Bagatelle (für einen Satz, für ein Bild)? „ Die Kunstwelt ist der institutionalisierte Diskurs der Gründe. Mitglied der Kunstwelt zu sein, heißt damit, die Bedeutung der Teilnahme am Diskurs der Gründe für seine jeweilige Kultur zu kennen. In gewissem Sinn lässt sich der Diskurs der Gründe für die jeweilige Kultur mit einem Sprachspiel vergleichen, das bestimmten Spielregeln unterliegt. Und entsprechend der Regel, daß es nur dann Gewinner und Verlierer und Spieler geben kann, wenn es ein Spiel gibt, existiert Kunst nur da, wo es eine Kunstwelt gibt. “ (Danto 1996: 62) Ausgehend von der These dieser Arbeit, dass sich in Tunströms Werk unablässig (zur eigentlichen Narration hinzu) ihr Werden im Wort mitschreibt, wurde hier der Versuch unternommen, die metareflexive Erzählung Ein Prosaist in New York als Auseinandersetzung mit der Bildkunst gelesen, darin seine Poetik des Wortbildes aufzuzeigen. Auf inhaltlicher Ebene bringt seine Erzählung Literatur und Kunst in Opposition, auf poetologischer Ebene indes werden die beiden Künste wiederum miteinander amalgamiert, auf eine Ebene gebracht, die sich als paradoxes Emblem entfaltet: als sich selbst in der Schrift spiegelndes oder vielmehr vexierendes Selbstporträt eines Prosaisten (namens „ Tunström “ ) aus Wörtern. 3.2.6 Zugang 5: Vita ark. Ein Doppelporträt Ein Blick sagt mehr als tausend Worte. Hat dieses Bonmot auch Gültigkeit für das Bild Vita ark von Lena Cronqvist? Wenn ja, so müssen zwei Augenpaare, zwei Blicke, vier Augen in Betracht gezogen werden, selbst wenn zwei davon gebrochen sind. 94 In einem hellgrauen Raum spärlichst angedeuteter Tiefe steht eine weißhaarige Frau, den Blick gesenkt, eine offene rote Bluse übergezogen, die vom Hals bis zum Tischrand ihr (madonna-)blaues Hemd hervorlugen lässt. Der „ Raum “ wirkt zweidimensional, platt. Ist es ein Außen- oder ein Innenraum? Das in dunklerem Grau gehaltene vertikale schmale Rechteck, lässt die Deutung offen. Immerhin verleiht es das Raumgefühl. Als Halbfigur ist die Frau gemalt, von der Taille abwärts verdeckt eine schwarze Fläche ihre ganze Gestalt. Handelt es sich bei diesem „ Vordergrund “ um eine Tischfläche? Die darauf abgelegten weißen Blätter insinuieren es. Weil dieser „ Tisch “ bis an den Bildrand unten links und rechts reicht, dehnt er sich theoretisch nach all diesen Seiten hin weiter aus, ist „ in Wirklichkeit “ vielleicht noch viel größer als sein Ausschnitt dies vorgibt. 94 Mit ‚ Blick ‘ ist ein doppelter Blick intendiert: Jener der Augenpaare im Bild sowie jener des Betrachters der Bilder (hier des Verf. L. D.), der die Schärfung seines Blickes auch Steffen Siegel und seinem Aufsatz verdankt „ Der haptische Blick oder: Vom Begreifen der Bilder “ , vgl. Lepper (2005: [127] - 147). Siehe dort ebenso: „ Im doppelten Sinn des Begreifens eines Kunstwerks ist die unaufhebbar ambivalente Struktur ästhetischer Erfahrung, ihr Oszillieren zwischen Präsenz und Sinn, markiert. “ (ebda.: 146) Dieser eine Blick des Betrachters ist ein intuitiver, vor aller Bildbeschreibung, vertiefender Bildbetrachtung und Kenntnis der Kunstgeschichte. Dieser Blick sucht nun nach Worten. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 132 3 POETALOG Die Frau steht nicht allein da. Behutsam, wie eine Mutter, die ihr Neugeborenes in Armen hält, trägt sie in ihrer Linken ein Menschenkind, das sie, die rechte Hand auf die Brust dieses Kindes gelegt und zugleich dessen Rechte umfassend, in seiner Lage beschützt und stabilisiert. Ein stilles Wiegen geht von dem Akt dieses Mutter-Kind-Paares aus. Die Körperhaltung der Frau verströmt Andacht und Sorge, eine gewisse Gefasstheit, der Betrachter wähnt sie mit beiden Beinen auf dem nicht sichtbaren Boden. Aus den Augen der Frau spricht Fassungslosigkeit, Erstarrung, wie sie in sich hineinsieht, ihr Blick spricht von Trauer, Ratlosigkeit, Verwirrung, Erschöpfung, Versteinerung, Trostlosigkeit, Leere. Ihr ‚ Kind ‘ - ein puer aeternus? - neigt sich, seinen Kopf etwas angehoben und gedreht, über den Arm der mütterlichen Frau sich hinweglehnend, in dieselbe Richtung und ‚ starrt ‘ hinweg über den „ Tisch “ , die schwarze Fläche, auf der 13 weiße Blätter liegen. Oder sind es Leichentücher? Oder Deckblätter geschriebener oder ungeschriebener Bücher - die weißen Stellen scheinen deutungslos, sagen nichts - umso lauter ihr gebissartiger Schrei nach Deutung. Weshalb liegen 13 „ Blätter “ über den „ Tisch “ verstreut, oder ‚ haften ‘ sie eher daran? Schreibwerkzeuge sind nirgendwo zu sehen. Also bleiben sie unbeschrieben, die Augenpaare erzählen, die Hände. Abb. 6: Lena Cronqvist „ Vita ark - White Sheets “ , 2003 Zu sehen ist eine um „ das Wort “ augmentierte Kontrafaktur auf die seit der Renaissance in zahllosen Variationen gemalten Bilderszene ‚ Madonna mit Kind ‘ . Grau sind die Wände, schwarz ist der „ Tisch “ , weiß sind die Blätter. Obschon der Blick des Betrachters von den Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 133 Augenpaaren der Personen im Bild angezogen wird, sieht er, dass die Hände der Figur ‚ Mutter und Kind ‘ in der Bildmitte sind. Unbeweglich, verbunden, umschlungen - doch die Rechte des ‚ Kinds ‘ bleibt unsichtbar, aufgehoben. ‚ Zweidimensional ‘ betrachtet: Die angeknickte Horizontale der Hose des ‚ Kinds ‘ geht mit der Vertikalen, dem blauen Hemd der ‚ Mutter ‘ , eine fragile kreuzförmige Verklammerung ein. ‚ Organisch ‘ betrachtet: Die Beine des ‚ Kinds ‘ „ ersetzen “ - da symbiotisch mit ihr vereint - jene der ‚ Mutter ‘ . Divergierende Farbflächen liieren die beiden Gestalten zu einer. Wo deren beiden Blau konvergieren, liegen beim Infans das Geschlecht, bei der Madonna der Nabel. Das stumme ‚ Kind ‘ , infans, 95 nicht ist von sauerstoffarmem Blut der Vene (Blau) gekennzeichnet, sauerstoffreiches Blut der Arterie (Rot) ‚ fließt ‘ nur im Gewand der Madonna. Eine unüberwindbare Distanz liegt zwischen der „ Madonna mit Kind “ und den weißen Blättern auf dem „ Tisch “ . Ein (dicker) schwarzer Schlussstrich. Stillstand. Etwas ist an einem Endpunkt angelangt. Das ‚ Punctum ‘ ist unsichtbar, und gerade deshalb auffallend markant. Es ist die von der Hand der ‚ Mutter ‘ geschützte Rechte des starr daliegenden Infans, die Schreibhand des kindhaften Autors. 96 Seine Hand ‚ spricht ‘ nicht mehr, vermag keine Blätter mehr zu beschreiben. Sie bleiben leer, gespiegelt im leeren Blick der Betrachterin. Der Mund des Autors ist rot, als sei noch Leben in ihm. Er möchte noch sprechen (er wird „ sprechen “ , das Werk spricht für ihn). Sein (Leichen-)Hemd schimmert rötlichweiß. Hellsichtig spricht ein „ Hereinbrechen der Erinnerung “ 97 aus dem Bild. Edmond Jabès dazu: Es gibt immer ein Wort, um die Geschichte der Sprache zu erzählen. Zu sagen, es sei ein jedes Buch ein Buch der Erinnerung, verleitet zum Schluss, dass auch die Vokabeln ein Gedächtnis haben; doch das ist wohl abwegig. Wir erinnern uns um ihretwillen, und wir vermögen dies kraft der Bilder, welche sie an sich ziehen. 95 Vgl. lat. ‚ in-fans ‘ in: Menge-Güthling (1967: 378 - 379): „ (fari, eig. nicht sprechend, nicht reden könnend) [ … ] 1. stumm, sprachlos [ … ] 2. a) subst. unmündiges od. kleines Kind bis zum 7. Jahre, auch *ungeborenes Kind, Kind im Mutterleibe [ … ] “ . 96 Diese „ schützende “ Hand ist die Hand der Malerin, die das Bild „ Vita ark “ - Doppelporträt und Autoporträt in einem - hervorgebracht hat, also auch ihr Spiegelbild ist. Vgl. zum Bild der Hand die Hand-Stellen in Tunströms „ Worte unter dem Pflaumenbaum “ (UNS: 14 - 15): „ Kan liv / och föreställningarna om liv / täcka varandra / som hand lagd i hand? “ [Können Leben / und die Vorstellungen von Leben / einander decken / wie Hand in Hand? ] und (ebda.: 18 - 19): „ Hand lagd i hand. I språket. / Det omsluter mig / Hand lagd i hand. I drömmen “ [Umschlungene Hände. In der Sprache. / Sie umschliessen mich / Umschlungene Hände. Im Traum]. - Mona Sandqvist bespricht die Kooperation Cronqvist/ Tunström und deren Bild/ Text-Beziehungen anschaulich in: „‚ Bröllopet stod i ägget ‘ . Alkemiska variationer hos Göran Tunström och Lena Cronqvist “ [,Die Hochzeit stand im Ei ‘ . Alchimistische Variationen bei Göran Tunström und Lena Cronqvist], vgl. Sandqvist (1995: 91 - 116). 97 „ All dies geschieht in jedem Hereinbrechen der Erinnerung, das die Zeitform des Aorist bezeichnet, wenn eine Handlung ‚ als sich ereignende Handlung, als absolute Heraufkunft empfunden, geäußert und gedacht wird, deren Ereignis ein pures Hereinbrechen darstellt. ‘ Gustave Guillaume, der Henri Maldiney hier als Inspirationsquelle diente, beschrieb den Aorist als ‚ eine Heraufkunft, die sich in der Vergangenheit in Form des Sich-ereignenden entwickelt ‘“ . Didi-Hubermans (2011: 205, im Unterkapitel „ Gedächtnis “ ; ebda.: 198 - 208 von Teil V: Die Geschichte zurückgehen und neu montieren; ebda.: 151 - 214). Didi-Huberman spricht an der Stelle auch vom „ rätselhaften es gibt, das seine heterogenen Elemente wie auf einem Montagetisch nebeneinander setzt “ (205) - ein Gedankenbild für Cronqvists fristloses, a-oristisches Bild. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 134 3 POETALOG Wir hätten es folglich mit einem ständigen Austausch von Bildern zu tun; wobei eines auf das andere verwiese. Die ganze Arbeit des Schriftstellers besteht darin, diesen Austausch aufrechtzuerhalten. Was bleibt, ist zuletzt vielleicht bloß die unkenntliche Spur; die Rückkehr zur ursprünglichen Weiße. 98 Wie Opfergaben auf einem Altar sind die weißen Blätter dargebracht, die „ Mutter und Kind “ 99 vereint kontemplieren. Das weiße Blatt ist der Ort für das Wort, symbolisiert Anfang und Neuerung ( ‚ Kind ‘ / das Werden) wie Ende und Ergebung ( ‚ Greis ‘ / das Vergehen). Direkt dieser ‚ Wand ‘ oder diesem Altar gegenüber, der horizontal über den Bildrand in die Lebenswelt und damit in das Lebensrad hinaus reicht, ist der Betrachter - auf der anderen Seite der Bildszene - demselben Mysterium ausgesetzt, konfrontiert mit der absolut selben Leere des Blattes, die alles offenläßt. 100 Die weißen Blätter, Tragflächen möglicher Worte, verkoppeln ihn mit dem Gegenüber. Das in den Armen der (Malerin-) Mutter aufgebahrte greise Schriftsteller-Kind verkörpert diese Ambivalenz: Aufgehoben in einer Außer-Zeitlichkeit fallen in ihm Anfang und Ende in eins. Die weiße Fläche introjiziert (in) den offenen Imaginationsraum. Das Wort ist latent immer da - in der Geburt wie im Tod - in der Weiße. Vita ark versinnbildlicht die (Weih-)Gabe des Wortes, ob geschrieben, gesprochen, so heilig wie profan. 98 Jabès (1989: 32; betr. écrit/ récit im Kap. „ Schreiben, erzählen. Gespräch mit Marcel Cohen “ ; ebda.: 25 - 39). 99 Vgl. Tunströms Gedicht „ Ord under plommonträdet “ / „ Worte unter dem Pflaumenbaum “ , wo es im übertragenen Sinn von den Herbststürmen heißt: „ Sie sind Mutter und Kind / gefangen / in unendlichen Reihen / von tödlichem Leben “ . (UNS: 13) 100 Kenya Hara dazu: „ Papier ist materialisiertes itoshiroshiki, das aus dem Chaos herausragt. Seine extreme Reinheit, die aus einem trüben Gebräu geschöpft wird, ist eine Ansammlung von Möglichkeiten. [ … ] Sein Weiss zeichnet sich durch ungestörte Stille aus, wie sie in den spannungsgeladenen, konzentrierten Momenten herrscht, bevor Dinge zum Ausbruch kommen, und durch das erregende Gefühl, dass etwas noch Unsichtbares in einer gigantischen Umsetzung münden kann. “ Hara (2010: 16 - 17, betr. das weiße Blatt Papier; vgl. dazu „ Der Leerraum als Raum unermesslicher Möglichkeiten “ ; ebda.: 45 - 49 und „ Suik ō . Die Feinarbeit und die Unwiderruflichkeit des gedruckten Textes “ ; ebda.: 74 - 84, insbes. 74 - 76). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.2 En prosaist i New York (Ein Prosaist in New York; 1996) 135 Die Festung Ich schleifen. Robert Musil Allzu leichtfertig liess ich mich einspinnen und nun droht der Kokon meiner Gedankengespinste mich zu ersticken. Was als kunstvolles Gewebe geplant war, wurde ein Nessushemd. Ich muss es zerfetzen, will ich mich von ihm befreien. Friedrich Dürrenmatt Es ist das Paradox einer mystischen Rede, dass das Nicht/ Ich, das nichts als ein leises Sagen des Namenlosen sein will, indem es schreibt, das Nicht aufhebt und sich kenntlich macht als ein Ich, das geglaubt sein will. Christa Bürger [L]ära sig tolka den dolda text som är våra Jag. 101 Göran Tunström 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) Magnus Bergh konstatiert in seinem Vortrag mit dem Titel „ På spaning efter den Tunströmske läsaren “ [Auf der Suche nach dem Tunströmschen Leser], gehalten im März 1994 am zweitägigen Literaturseminar „ Röster om Göran Tunström “ 102 in Stockholm, in den Büchern des Autors würden Momente des Bankrotts der Wortkunst ( „ Ordkonstens bankrott “ ) verhandelt. Er belegt dies mit wiederkehrenden Merkmalen ( „ återkommande inslag “ ) aus dem Roman Maskrosbollen (1962) bis zu der Novellensammlung Det sanna livet (1991) an Textstellen. Merkmale des Bankrotts zeigten sich in der Ambivalenz der Figurenrede auf der Skala zwischen Misstrauen und Argwohn gegenüber dem eigenen Schreiben auf der einen und dem Vertrauen und der Erzähllust ( „ tillit och berättarglädje “ ) auf der anderen Seite. Diese Beobachtungen führen ihn dazu, dass er sein Augenmerk auf die „ apokryphe Seite von Tunströms Autorschaft “ 103 richtet. Wie es der Titel seines Vortrags besagt, geht es ihm um dessen „ Leser “ , und er kommt zum Schluss: „ I Tunströms 101 U TI: 181: [L]ernen, den verborgenen Text, der unsere Ichs ist, zu interpretieren. 102 Publiziert in ABF (1994: 22 - 33). Alle Zitate in Klammern (ebda.: 23). 103 „ Eller så hittar man den [(t)illtron till litteraturen] i mindre tungt vägande texter, förord, särtryck och dylikt, i vad man i stil med bibelexegeter skulle kunna kalla den hemliga, undangömda, apokryfiska sidan av Tunströms författarskap. “ [Oder so trifft man ihn [den Glauben an die Literatur] in weniger gewichtigen Texten, Vorworten, Sonderdrucken und Ähnlichem, was man im Stil der Bibelexegeten die heimliche, vertuschte, apokryphe Seite in Tunströms Autorschaft bezeichnen könnte.] (ABF 1994: 23) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 136 3 POETALOG apokryfiska texter står läsaren i centrum. “ 104 [In Tunströms apokryphen Texten steht der Leser im Zentrum.] Auf diesen Beobachtungen bauend, soll im Folgenden aufgezeigt werden: 1. wie das Ich konstituiert ist 2. welche Rolle dabei der Leser einnimmt und welche Bedeutung dem Buch zukommt 3. bis wohin apokryphe Texte den Autor lenken. Was Magnus Bergh 1994 wohl nicht wissen konnte: Sie lenken den Autor bis zu dessen postum erschienener, unvollendeter Essay-Erzählung Försök med ett århundrade. Die aus dem Nachlass 105 Tunströms herausgegebene letzte Publikation ist das zum Buch zusammengestellte Textkonglomerat der drei Konvolute (I, II, III), das nach seinem Tod auf dessen Schreibtisch vorgefunden wurde. 106 Göran Sonnevi schreibt im Nachwort, wie aus der Gemengelage dieses „ Manuskriptes “ das Buch entstand, wie es jetzt vorliegt. Die Hauptschwierigkeit beim Edieren habe darin bestanden, die in den zehn Abschnitten teilweise sich wiederholenden oder durch feinste Änderungen sich voneinander unterscheidenden Versionen, Bearbeitungen und Fassungen in jene (konjekturierte) Abfolge zu bringen, die vom Autor für die Herausgabe des Buches intendiert gewesen sei. Was nun vorliege, sei ein unvollendetes Projekt, eine „ Art Ruine und unabgeschlossener Bau “ . [ … ] „ Es ist also kein Roman, sondern ein Rapport von einer Arbeit, die im Gang ist “ , erklärt Sonnevi im Nachwort zum Buch. (FÖR: 462 - 463) Der mit „ Rapport “ charakterisierte Aspekt der Veröffentlichung von Tunströms Manuskript zum Buch in der Fassung der nicht mehr korrigierten letzten Vorstufen ist aus zwei Gründen für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit speziell relevant. 1. Der „ Vorstufen “ -Charakter (der durch die Publikation freilich nun Werkstatus erhalten hat), läßt womöglich hinter die Prozessualität der Wortgenese sehen. 2. Die Beobachtung korrespondiert mit der programmatischen ‚ Präskription ‘ Tunströms, die den beiden autoreferenziellen Motti 107 und somit dem eigentlichen Textbeginn (der 104 ABF (1994: 28). Apokryphen (aus altgr. ἀπόκρυφος apokryphos, ,verborgen ‘ , ‚ dunkel ‘ ) werden religiöse Schriften aus christlicher oder jüdischer Herkunft von 200 vor und 400 nach u. Z. geheißen, die nicht in einen biblischen Kanon aufgenommen wurden oder über deren Zugehörigkeit Uneinigkeit besteht. 105 Der Nachlass des Autors befindet sich weiterhin (Stand 2021) im Privateigentum. Das Centrum för näringslivshistoria in Bromma/ Ulvsunda betreut Tunströms Verlagsarchiv, wo gemäß Mailverkehr zwischen Jesper Monthàn (Bonniers) und Verf. L. D. weitere Manuskripte und Materialien von und zu Göran Tunström aufbewahrt werden. 106 Die Schlussredaktion betreuten Lena Cronqvist, Gunilla Sundén und Göran Sonnevi. Vgl. das Nachwort von Göran Sonnevi in FÖR: 462 - 463. 107 Motto 1, von Johannes Kepler: „ Dessa kommentarer är inte värda att tryckas. Ändå ger det mig ett stort nöje att komma ihåg hur många avvikelser jag tvingats göra, längs hur många murar jag famlade i min okunnighets mörker, ty de vägar på vilka en människa kommer till insikt i de himmelska frågorna tycks mig nästan lika värdefulla som undren i sig själva. “ [Diese Kommentare sind es nicht wert, gedruckt zu werden. Dennoch verschafft es mir eine große Freude, mich all der Holzwege zu entsinnen, die ich zu gehen gezwungen war, und der vielen Mauern, an denen ich im Dunkel meiner Unwissenheit entlangtappte, denn die Wege, auf denen ein Mensch in himmlischen Fragen zur Einsicht gelangt, scheinen mir ebenso wertvoll wie die Wunder selbst.] Motto 2, von Paul Valéry: „ Det är en väsentlig del av filosofens yrke att inte [Kursivierung sic] förstå. De måste vara såsom fallna från stjärnorna, eviga främlingar, de måste öva sig i att förvånat flämta över alla tings banalitet. “ Im Original: „ Dans le métier de philosophe, il est essentiel de ne pas comprendre. Il leur faut tomber de Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) 137 Narration) vorausgeschickt ist. Die paratextuelle ‚ Präskription ‘ lautet: „ Att uppfinna ett århundrade - tio avsnitt ur en betraktelse över ett misslyckande / 5 aug 1996 “ (FÖR: 7 [Ein Jahrhundert erfinden - zehn Abschnitte aus einer Betrachtung eines Scheiterns - 5. Aug. 1996]). 108 Unter demselben Titel (ohne die Datierung „ 5. Aug. 1996 “ ) ist als Tegnérsamfundets årsskrift [Die Jahresschrift des Tegnér-Vereins 109 ] eine kleine Schrift des Autors erschienen, worin er im letzten Absatz (X) seine Motivation zu seinem (postum erschienenen) Buch darlegt: Ack, dessa bibliografiernas ljuva frestelser, som leder en allt längre in i kunskapernas djungel. [ … ] Och vi vet: dessa böcker måste anskaffas, utan just dem blir det inte möjligt att till fullo förstå, vad det nu var jag måste förstå. (ATT: 25) Ach, die lieblichen Versuchungen dieser Bibliografien, die einen immer tiefer in den Dschungel des Wissens führen. 110 [ … ] Und wir wissen: diese Bücher müssen angeschafft werden, ohne genau sie würde es nicht möglich vollständig zu verstehen, was ich zu verstehen brauchte. Det var en gång en författare som ville skriva om ALLT. Inte om någonting annat. Bara om … just ALLT, [ … ] (ATT: 26) Es war einmal ein Schriftsteller, der über ALLES schreiben wollte. Über nichts anderes. Einfach über … schlicht ALLES. [ … ] Vad var det jag en gång ville, egentligen? Jag ville skriva. Idag såväl som i den mystiska tid, när jag knappt kunde stava till Budskap, Stil, Ideologi. Idag som då samma Under att se hur, ur det vita pappret, bokstäver, nakna stiger upp, ser på varandra och blygt slår sig samman till ord, ord som beslutar sig för att bilda mening, en mening som förmäler sig med andra meningar, meningar som vill lägga örat till livets flimrande hjärtslag. (ATT: 27) Was war es denn, was ich einst wollte? Ich wollte schreiben. Heute genauso wie in der mystischen Zeit, als ich noch kaum Botschaft, Stil, Ideologie buchstabieren konnte. Heute wie damals dasselbe Wunder zu sehen, wie aus dem weißen Papier Buchstaben nackt aufsteigen, einander anschauen und sich scheu zu Worten vereinen, Worte, die sich dazu entschließen einen Satz zu bilden, ein Satz, der sich mit anderen Sätzen vermählt, Sätze, die sich ans Ohr legen wollen, an den flimmernden Herzschlag des Lebens. 111 quelque astre, se faire d ’ éternels étrangers. Ils doivent s ’ exercer à s ’ ébahir des choses les plus communes. “ Vgl. Valéry (1992: 847 in „ Le retour de Hollande “ : 844 - 854). Beide Motti werden, übers Kreuz (nun zuerst Valéry, danach Kepler) im Kap. XI als „ Krücken “ bezeichnet, repetiert (vgl. FÖR: 253). Sie stehen als Kommentar des „ Erzählers “ an, „ Tunström, oder wie er nun hieß “ , der über „ ALLES “ schreiben wollte (FÖR: 252 und andernorts) und der sich zum Zweck des Erwerbs des dazu notwendigen Wissens „ [m]il efter mil av böcker “ [meilenweise Bücher] anschaffte. (Die schwedische metrische Meile beträgt 10 Kilometer! ) 108 „ misslyckande “ (Misslingen) wird hier mit Scheitern übersetzt. 109 Esaias Tegnér (1782 - 1846), Dichter, lutherischer Bischof, Reichstagsabgeordneter, sowie u. a. Mitglied der Schwedischen Akademie (Stuhl Nr. 8). 110 In der Auslassung folgen u. a. die bibliografischen Angaben zu sieben Buchtiteln. 111 Wie der „ Dreisprung “ Buchstabe - Wort - Satz potenziell zum Text, am Ende zum Buch koaguliert, aus dem vorgelesen wird, ohne dass dies vom Autor namentlich ausgesprochen wird, sind Worte für den dynamischen Schreibprozess, auf dem Tunströms literarische Arbeit basiert. Dass in der Wahrnehmung des Autors das Gehör den „ Herzschlag des Lebens “ bildet, wäre Anlass für eine Untersuchung dafür, wie sich auditiv Wahrgenommenes auf diesen Prozess auswirkt. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 138 3 POETALOG Drei divergente Subjekte führen hier das Wort, gestuft über drei grundverschiedene Bewusstseinsstrukturen: Vom mythischen „ wir “ über ein „ er “ zu einem ausnehmend polyvalent aufblühenden „ Ich “ . Im Pluralis majestatis stellt ein „ wir “ (in der Bibliothek der C. G. Jung Foundation in New York City) fest: „ Und wir wissen: Diese Bücher müssen angeschafft werden [ … ] “ (FÖR: 146) Ein auktorialer Erzähler weiß darauf mit der Einleitungsphrase des Märchens zu berichten: „ Es war einmal ein Schriftsteller, der über ALLES schreiben wollte. “ (FÖR: 147) Homodiegetisch fragt sich das Autor-Ich: „ Was war es denn, was ich einst wollte? “ und spricht dabei vom „ Wunder “ , wie aus Buchstaben Wörter und daraus Sätze werden - also vom Werden im Wort. Skans Kersti Nilsson hat für die Besprechung von Tunströms „ letztem “ Buch - bisher die einzige aus literaturwissenschaftlicher Sicht - die folgenden Kriterien beigezogen: Kreativitet, minne, åldrande; Den omöjliga romanen; Berättelsens inslag av självbiografi och allegori; Avsked till konsten Kreativität, Erinnerung, Altwerden; Der unmögliche Roman; Merkmale der Selbstbiografie der Erzählung; Verabschiedung der Kunst und deutet diese, wie es die Konklusion im Titel ihres Artikels zum Ausdruck bringt, als eine „ Verabschiedung von der Kunst “ . (Nilsson 2013: 213 - 231) Im Gegensatz zu Nilssons stark biografisch orientiertem Ansatz kommen die folgenden Ausführungen, die auf der textimmanenten Lesart basieren, den Punkten (1) bis (3) folgend, zu einem anderen Schluss. Konträr zu Nilsson und zu Aussagen des Autor-Ichs selbst, wird Tunströms Försök med ett århundrade wie vom Mitherausgeber Sonnevi als „ Ruine “ und nicht als Roman angesehen. Und: Diese „ Ruine “ ist ein Spiel mit der Sprache und generiert Diaphanität. Vorweg eine komprimierte Präsentation von diesem „ Sprachmoiré “ von einem Buch, worin „ Logothet “ 112 Tunström mit „ wildem Denken “ 113 operierend, (s)einem magischen ICH, einem Textoperateur, vorgibt über „ ALLES “ zu schreiben; eine ‚ Inhaltsangabe ‘ lässt sich somit nicht geben. Noch viel mehr gilt dies für das Ich: Wer oder was ist ‚ Ich ‘ ? Der „ Versuch mit einem Jahrhundert “ nimmt sich einer immensurablen Frage an. 3.3.1 Försök med ett århundrade - Versuch eines Überblicks Tunströms Versuch ist von einer enormen Energie angetrieben, die - mit einem Wort Lacans gesprochen - „ einzig ein ‚ Insistieren ‘“ 114 kennt. Die Erzählstränge sind ausufernd und uferlos, alles (Erzählte wie Besprochene) darin geht von einem ICH aus und kehrt in ein ICH ein, wird von diesem „ Zentrum “ verwirbelt, bildet ein Cluster aus Anfängen und Abbrüchen, Wiederaufnahmen und Neuanfängen, verfasst auf einer Klaviatur mit schier unbegrenzten (Sprach-)Registern. Im Kern ist die verzweifelte Lust 115 des Schriftstellers am Text (der Welt) erkennbar, diesen zu lesen, begreifen und beschreiben zu wollen, um „ DAS 112 „ Sprachsetzer “ nennt Roland Barthes (am Beispiel von Sade, Fourier, Loyola) „ Begründer von Sprachen “ . Sie stiften „ keine Kommunikationssprache. Es ist eine neue Sprache, von der natürlichen Sprache durchsetzt (oder diese durchsetzend), die sich nur der semiologischen Erklärung des Textes anbietet. “ (Vgl. Barthes 1974: 7). 113 Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss prägte den Begriff 1962 in seinem Essay „ La pensée sauvage “ für die ganzheitliche, mythische Weltanschauung der „ Naturvölker “ im Gegensatz zu der von der „ westlichen “ Welt für sich in Anspruch genommenen auf einer Ratio basierten. 114 Nach Roland Barthes (1974: 10) das Hauptattribut jedes Logotheten. 115 Die laut Sigmund Freud zu Verschiebungen und Verdichtungen führen kann. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) 139 MUSTER “ dahinter zu erkennen. „ In seiner Naivität glaubte er “ 116 , die Universalbibliothek (das gesammelte Wissen) würde ihm bei diesem enzyklopädischen Prozess der Welt- und Selbsterkenntnis beistehen. Eine intensive Dialogizität, eine unermüdliche Auseinandersetzung, die zur Verschriftlichung drängt, ist die Folge. Entstehungsgeschichtlich steht Försök med ett århundrade in nächster Nähe zu der Erzählung Ein Prosaist in New York sowie zu den Kolumnen (Krönikor). Wie der Prosaist ist der Versuch 2003 ebenfalls ohne Genrebezeichnung erschienen. Die E-bok-Version von 2017 wurde unter dem Titel mit dem bedeutungsvollen Zusatz (kursiv gesetzt) so angepriesen: En unik inblick i författarens arbetsprocess 117 [Ein einzigartiger Einblick in den Arbeitsprozess des Autors.] Das Wort „ Försök “ 118 im Titel des Buches gemahnt an Montaignes berühmte Essais 119 . Auch Tunströms Versuch(e) ist Essay, nicht über etwas, was Essais gemäß ihrer Gattung implizieren, sondern - einer Versuchsanordnung ähnlich - mit etwas, „ einem Jahrhundert “ , genauer: meist mit der Verschmelzung von zwei Jahrhunderten zu einer ‚ Epoche ‘ oder einem Erzählraum. Das von der Essay-Tradition abweichende „ mit “ im Titel ist folglich die wörtlich zu nehmende Ankündigung der ‚ Laborlogik, der sich das Grund- „ Ich “ im Buch aussetzen wird, vermag es doch mit diesem Versuch aus dem „ Jetzt “ (20. Jh.) - mit einem Satz - sich in ein „ Damals “ (17. Jh.) zu versetzen und zurück, oder zwischen dem „ Jetzt “ und dem „ Damals “ zu changieren oder, durch Schrumpfung beider Zeiten zu einer „ Kugelgestalt “ 120 (Sphäre) sich in dieser einen aufzuhalten, um in Begegnungen mit Repräsentanten und Geistesgrößen des „ Damals “ wie „ Jetzt “ in stets neuen Konstellationen Gespräche zu führen oder über sich selbst und die Welt zu sinnieren und philosophieren. Diese „ Kopfreisen “ und Tagträume sind überreich ( „ ALLES “ ! ) mit Zitaten aus Büchern der Kunst, Philosophie, Literatur und Musik dotiert, mitunter nur mit ihrer bibliografischen Zitierung. Tunströms chamäleon- 116 Vgl. FÖR: 147: „ I sin naivitet trodde han, att så snart han lagt under sig all världens kunskap [ … ] skulle han skönja MÖNSTRET. Allt skulle gå samman till Ett Enda. “ [In seiner Naivität glaubte er, dass, sobald er alles Wissen der Welt hätte [ … ] würde er DAS MUSTER erkennen. Alles würde zu Einem Einzigen werden.] Damit ist die bei Tunström oft zu beobachtende Suche nach der „ Einheit des Alles “ , Hen to pan, angestrebt (vgl. Kap. 4.1). 117 Vgl. Verlagsprospekt: https: / / www.albertbonniersforlag.se/ bocker/ 153065/ forsok-med-ett-arhundrade/ (abgerufen am 04.08.2021). Die Erstpublikation als E-bok 2016 trug noch die Genrebezeichnung Roman. Der erwähnte Zusatz in der E-bok-Version von 2017 und damit die Kursivierung ist auf der aktualisierten Website von 2021 nicht mehr sichtbar. 118 Försök kann als Einzahl (Versuch) wie als Mehrzahl (Versuche) gelesen werden; die Lesart Versuche mit einem Jahrhundert scheint dem Buch angemessener, die „ kreisenden “ Ansätze und Versatzstücke der Identitätssuche dieses ICH sind Legion: Mehr als 20 verschiedene Namen und „ Identitäten “ nimmt das Erzähler-Ich temporär im Versuch an. (Das Buch wird, wenn in verkürzter Form, auch mit Versuch [oder Försök] zitiert.) 119 Michel Eyquem de Montaigne (1533 - 1592) hat mit seinen Essais (1572 - 1587) das Genre der Essayistik begründet. Eine Gesamtübersetzung auf Deutsch liegt von Hans Stilett als Essais vor, auf Schwedisch in der Übersetzung von Jan Stolpe als Essayer 1 - 3. 120 Vgl. dazu diesen Zeitbegriff der Simultaneität, wie ihn der Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918 - 1970) 1968 formuliert hat: „ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie wir wissen, lediglich an ihrer Erscheinung als kosmische Zeit an den Vorgang der Sukzession gebunden. In unserer geistigen Wirklichkeit existiert diese Sukzession jedoch nicht, was eine realere Wirklichkeit besitzt als die uns wohlvertraute Uhr, die ja im Grunde nichts anderes anzeigt, als dass es keine Gegenwart im strengeren Sinne gibt. Die Zeit biegt sich zu einer Kugelgestalt zusammen. Aus dieser Vorstellung [ … ] habe ich meine [ … ] pluralistische Kompositionstechnik entwickelt, die der Vielschichtigkeit unserer Wirklichkeit Rechnung trägt. “ Zit. in Harenberg Komponistenlexikon (2004: 1048). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 140 3 POETALOG artiges Ich kann so, ähnlich Münchhausens Lügenbaron, auf dem Rücken eines Pferdes bspw. als „ Peter Trotzig “ durch das 17. Jahrhundert gen Süden reiten und im selben Satz zu sich selbst sagen „ ich fahre mit dem Lift durch die Jahrhunderte nach oben “ ins „ Jetzt “ zu einem „ Sund zwischen Syd- und Nordkoster in Schweden. “ (FÖR: 50) Eine heraufbeschworene Welt der (literarischen) Vergangenheit aus einem „ Unten “ , wofür symbolisch das Fortbewegungsmittel Pferd steht und eine existierende Gegenwart, die Inseln Koster, die mittels Lift nach „ Oben “ erreichbar sind. Zeitsprünge und Erzählebenen schieben sich so ineinander, kollidieren, verdichten, verstreben sich zu einem Knäuel, zu einem Traumgebilde in steter Veränderung, andauernd gezeugt und getilgt von einem maelstrom of consciousness eines immerfort Textstrom sekretierenden ICH im Versuch, dadurch das größte aller Geheimnisse des Menschen zu lüften: Die Entstehung oder „ Geburt “ d(ies)es Ich. Rede und Gegenrede dominieren diese herkulisch-faustische Dichtung. Kaum ist eine Erzählperspektive eingenommen, wird sie von einem anderen Einfallswinkel konterkariert: „ Mein 17. Jahrhundert hat seinen Anfang an einer Ausstellung in Peking 1982. Das war in einem so genannten Modernisten-Salon. “ (FÖR: 226) Wie in einem Karussell mit gegenläufig beweglichem Boden drehen und winden sich alle Erzählungen in- und auseinander. So entfaltet die Lektüre des Versuchs mit den Worten von Kenneth Goldsmith das, was er eine einzige „ Debordian dérive, a psychogeographical cartography, a human chain of hypertext (ders. 2011: 37) “ nennt. Ein solch diaphaner Zwischenraum ist maßlos und maßstabslos, lässt sich mit keiner Kartografie aufzeichnen, kennt naturgemäß keinen Triangulationspunkt 121 (es gibt kein freies Ich außerhalb seines ICH! ), erzeugt einzig ein Orchester aus lauter ‚ Ichs ‘ und Ich- Stimmen. An der Tatsache, dass damit aus Tunströms Försök med ett århundrade kein Roman wird, sondern ein Texthybrid vollerAuto(r)fiktionen, vermag auch die Figurenrede des Doubles 122 des Autor-Ichs nichts ändern, wenn es wie hier etwas Anderes insinuiert: „ Vielleicht ist es ein Roman. Darüber, wie Das Ich [schwed. „ Jaget “ ] im 17. Jahrhundert entstanden ist? “ (FÖR: 110) 3.3.2 (1) Ein Ich - viele Ichs Eine kühne Behauptung bildet, einer Sturzgeburt gleich, den Auftakt zum Buch. Mit dem magischen Kniff des Autors „ Jag står på Brooklyn-bron och låter mig födas år 1606 “ [Ich stehe auf der Brooklyn-Bridge und lasse mich im Jahr 1606 zur Welt kommen; FÖR: 9] entrollt sich der Zeitraum, die ‚ Epoche ‘ , in der sich der Versuch mehrheitlich abspielt. 123 Die 121 Der Triangulationspunkt ist der geodätische Referenzpunkt, der zur Vermessung einer Landschaft dient und damit die wichtigste Grundlage zur Kartografie darstellt. Tunströms Versuchsanordnung in seiner Landschaft „ Ich “ kennt, da in sich selbst „ eingeschlossen “ , keinen solchen Referenzpunkt. 122 Mit „ Double, Alter ego und Schatten-Ich “ benennt Dieter Wellershoff drei „ verschieden abgestufte Möglichkeiten der eigenen Person. [ … ] Im Double ist der Autor erkennbar, wie in einem freien künstlerischen Porträt [ … ] “ . Vgl. Wellershoff (1996: 47). 123 Das Innehalten auf der Brücke erinnert an Passant Valéry, wie er sich und die Welt auf der London- Bridge (Valéry 1993: 512 - 514) in der gleichnamigen philosophischen Träumerei als „ anwesend und abwesend “ (FVA: 325 - 327, hier 327) erlebt. Vgl. dazu Laitenberger (1960: [1] - 6) in seiner Einleitung LONDON-BRIDGE: „ Als Bürger zweier Welten steht jener ‚ Augenmensch ‘ auf der London-Bridge vor uns. “ (ebda.: 2). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) 141 Einleitungssentenz etabliert mit ihrer Eigenlogik den Erzählraum, worauf Tunströms Versuch mit einem Jahrhundert basiert: eine utopische Polytopie. 124 An der zitierten Passage der Brooklyn-Brücke exemplifiziert: 1606 war sie noch nicht gebaut und ‚ New York ‘ nicht New York. Und wie sollte ein Ich an diesem ‚ Ort ‘ , der eher ein Nicht-Ort ist, sich selbst gebären können? Die Frage ist müßig. Die Antwort lautet: Nicht aus einem biologischen Prozess ist hier ein ICH zur Welt gekommen, sondern ein literarisch konstruiertes hat sich ‚ Jetzt ‘ in die Welt von ‚ Damals ‘ versetzt und reißt den Schleier (der Realitäten) herunter. Dahinter eröffnet sich eine Terra fictiva, ein Gedankenraum, der allein seinen eigenen (stets wieder wechselnden) Gesetzen und Möglichkeiten von Raum und Zeit gehorcht. Oft ist eines dieser ‚ Ichs ‘ ein maskierter Klon seines parthenogenetisch operierenden „ Erzeugers-Geburtshelfers “ , dies anfängliche und letztendliche Autor-ICH, von dem das Geschehen (die „ Handlung “ ) nach dem Prinzip der freien Assoziation und einer überbordenden Fabulierkunst kombiniert mit Passagen, gehalten im Stil eines Essays, ausgeht. Eine Vielzahl schillernder Identitäten ist die logische Folge. Eine hier folgende kleine „ Ich- Anthologie “ illustriert diese Vielfalt und deren surrealistische Dimension: FÖR: 25: Jag, detta kärnfulla namn. Ich, dieser kernige Name. FÖR: 53: Jag fick äran att vara målaren Rubens. Ich hatte die Ehre, Maler Rubens zu sein. FÖR: 80: Förlåt mig, att jag inte presenterat mig, jag är Bernardo Colleoni från Urbin. Bitte entschuldige, dass ich mich nicht vorgestellt habe, ich bin Bernardo Colleoni von Urbino. FÖR: 84: Ett Jag har nått Vejs Ende. Ein Ich ist am Ende des Weges 125 angelangt. FÖR: 104: Jag trivdes bättre som Hakan. Ich fühlte mich wohler als Hakan. FÖR: 105: Den nye residenten blev jag. Ich bin der neue Bewohner. 112: Jag - som är en pratsam typ. Ich - ein schwatzhafter Typ. FÖR: 138 … och jag drömde att mitt liv var ett brev till honom … … und ich träumte, mein Leben sei ein Brief an ihn [= Descartes] … FÖR: 250: Jag rider söderut, nu heter jag till exempel Peter Trotzig. Ich reite gen Süden. Jetzt heiße ich beispielsweise Peter Trotzig. 126 FÖR: 257: Jag var hans sista elev innan jag konverterade. Ich war sein [= Wittgensteins] letzter Eleve, bevor ich konvertiert habe. FÖR: 257: Jag är en italiensk jude uppväxt i Alexandria. 124 Vgl. dazu bspw. die paradoxen Grafiken „ Wasserfall “ oder „ Treppauf-Treppab “ oder die ‚ Unmöglichen Figuren ‘ des niederländischen Künstlers M. C. Escher (1898 - 1972). 125 Dänisch „ være ved vejs ende “ ( „ am Ziel anlangen “ ); vgl. Den Danske Ordbog https: / / ordnet.dk/ ddo/ ordbog? subentry_id=59011873&query=vejs+ende (abgerufen 04.08.2021). 126 Peter Trotzig (! ) ist eines der drei am meisten genannten Ichs (ob als Double oder als Alter Ego oder als Schatten-Ich, ist nicht leicht auszumachen.) Die zwei anderen heißen Orazio und Sonnabend Dix. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 142 3 POETALOG Ich bin ein italienischer Jude, aufgewachsen in Alexandria. FÖR: 260: Mitt namn är monsieur Grat, varsågod. Jag skall snarast förklara världen för er, ty jag vet allt. Mein Name ist monsieur Grat, mit Verlaub. Ich werde Ihnen baldigst die Welt erklären, denn ich weiß alles. FÖR: 280: Sonnabend Dix till er tjänst. Kalkant, krönikör. Sonnabend Dix zu Ihren Diensten. Orgeltreter, Kolumnist. FÖR: 386: 1600-talet: ett laboratorium för undersökningen av Det Stora Jaget i vilket det [sic] små jagen rör sig likt de djur som i ett mikroskop dansar fram och tillbaka, oräkneliga till antal. Das 17. Jahrhundert: ein Laboratorium für die Untersuchung Des Großen Ich, in dem sich die kleinen Ichs wie die Tiere bewegen, die in einem Mikroskop auf und ab tanzen, unzählbar an Zahl. FÖR: 389: Jag är författare [ … ] alltså låter jag mig födas en disig dag 1606 [ … ] Jag kallar min hjälte JAG. Det är ett kort och kärnfullt namn, jag rider genom en skog av historiska markörer, jag rider mot Prag, mot kejsar Rudolphs hov … / / Eller varför inte så tidigt som 1520 - det är mycket halkigt i den västerländska historien. Det är då Luther publicerar sin Von der Freiheit eines Christenmenschen som, kan man påstå, är det inre jagets födelse och uppståndelse. I den skriften skiljer Luther - denne besvärlige man - mycket tydligt mellan den inre och yttre människan. Ich bin Schriftsteller [ … ] also lasse ich mich an einem nebligen Tag 1606 zur Welt kommen. Ich nenne meinen Helden ICH. Das ist ein kurzer und kerniger Name, ich reite durch einen Wald historischer Markierungen, ich reite auf Prag zu, an den Hof von Kaiser Rudolf … / / Oder weshalb nicht bereits 1520 - die abendländische Geschichte verläuft glitschig. Da publiziert Luther seine [Schrift] Von der Freiheit eines Christenmenschen, 127 von der man behaupten kann, dass sie die Geburt und Auferstehung des inneren Ich ist. In der Schrift unterscheidet Luther - dieser sperrige Mann - sehr deutlich zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen. Schier unzählbar sind die Varianten dieses Helden ‚ ICH ‘ , der jeden Augenblick als Protagonist von seinem Erschaffer und Namensgeber, also von dem Ich des Autors zu Beginn, später vom Erzähler-Ich ‚ entthront ‘ und durch eine seiner vielen Ich-Varianten ersetzt werden kann. In der zuletzt zitierten Passage ist besonders markant, wie das Erzähler-Ich, kaum hat es sein Helden-Ich präsentiert, als Ich in einer vergangenen Zeit präsentisch von dannen reitet! Eine Legion unzähliger Ichs will sich so im Versuch zu Wort melden, ein Ich fällt dabei dem anderen ins Wort, ununterbrochen „ ein andere[s] “ ; Tunströms Versuch ist ein kaleidoskopisches Spiel mit dem ‚ Ich ’ . Sein Versuch ist ein Ich-Mobile, das buchstäblich - mit dem ersten und dem letzten Satz für einen Moment ins Gleichgewicht findet, im Lot: Ich - Ich. „ Jag blir sittande vid skrivbordet, på min imaginära häst “ (FÖR: 46) [Ich bleibe an meinem Schreibtisch sitzen, auf meinem imaginären Pferd], behauptet das Autor-Erzähler-Ich - im Sattel eines Halbbluts aus Dulcinea und Pegasos. Dessen Ichs passen ihre ‚ Identität ‘ dauernd dem neuen Kontext an, deren Gestalt sie mit ihren Worten mitschaffen - Schöpfer 127 Der Originaltitel von Luthers Denkschrift von 1520 lautet: Von der Freyheyt eyniß Christen menschen (in der lateinischen, nicht textidentischen Variante: De libertate christiana). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) 143 und Geschöpfe in einem. Als einzelnes hat ein solches Ich keine Kontur, keine Tiefe. Anhand der Replik „ Kanske är det en roman. Om hur jaget uppstod under sextonhundratalet. “ (FÖR: 110) [Vielleicht ist es ein Roman. Darüber, wie das ich im 17. Jahrhundert entstanden ist] des momentanen Ich an die Schauspielerin, die er vom Fleck weg zur Julia Roberts kürt, sei dies verdeutlicht. Dieses „ Ich “ begegnet der Hollywood-Ikone in einem New Yorker Treppenhaus, wie sie sich zwischen zwei Drehs auf der Straße gerade in einen Hauseingang verdrückt und dabei dem Erzähler-Ich, Bewohner des Hauses, in die Arme läuft. „ Ist das nicht übertrieben? “ , entgegnet ihm die Schauspielerin auf die Zuschreibung der Identität Julia Roberts. „ Klar. Aber warum nicht? Wie selten übertreiben wir doch. Übrigens: ich bin ja auch Fiktion, ein einziges Soufflé aus Worten. “ (vgl. FÖR: 110 - 111), repliziert darauf das temporäre Ich. Die Metapher „ Soufflé aus Worten “ ist die komprimierte Denotation von Tunströms Versuch: ein „ Aufgehen “ und „ In-sich-Zusammenfallen “ von Ichs, die sich als Imaginationen aus Worten erweisen. In der flüchtigen „ Begegnung “ eines Ich und einer Schauspielerin, eine Begegnung, die in ihrer skripturalen Komplexität und Genese damit längst nicht erschöpfend referiert ist, wird das vom Autor reflektierte Spiel mit Wörtern manifest, das den Text produziert. In dieser Schreib-Szene der metafiktionalisierten Art lässt er uns so augenzwinkernd an der Erschaffung von ‚ Wirklichkeit ‘ mit Wörtern „ teilhaben “ , seinem Schreib- Werk, wenn er ‚ Julia Roberts ‘ zum Erzähler-Ich sagen lässt: „ Du bist gerade dabei mich zu erschaffen, ich spüre es ja im ganzen Körper. “ (FÖR: 110) Wie ein Autor mit Sprache ‚ Wirklichkeit ‘ und ‚ Identitäten ‘ fabriziert und so die Frage nach Identität und Wirklichkeit stellt, ist der Stoff des Buches, was - durch das „ Jahrhundert “ im Titel verbunden mit dem „ Versuch “ durch die Konjunktion ‚ mit ‘ - die Frage nach der Zeit und der Vergänglichkeit evoziert. Ein Autor stellt sich ins Schreiblabor, erdichtet sich als Zeitgenosse eines Jahrhunderts, als Versuchsobjekt wie -subjekt. Sein „ Versuch mit einem Jahrhundert “ besteht darin, nichts weniger als die Genese des (modernen) Ich in der Phylogenese der Menschheit ausfindig zu machen und ‚ festzumachen ‘ . 128 Das Äußere in diesem Laborversuch bildet New York im ausgehenden 20. Jahrhundert, wo sich der Autor zum Schreiben aufhält und sich in die Welt der europäischen (Kultur-) Geschichte fantasiert, sowohl mit erfundenen Persönlichkeiten ebenso wie mit realen wie De Kaart 129 , Rubens, Rembrandt und vielen weiteren, die sich im 16. und 17. Jahrhundert in Europa hervorgetan haben. So wie Rembrandt (auch zur Selbstvergewisserung) Porträts von sich malte, umreißt Tunströms Versuch ein Porträt seines Autors. Sein Versuch ist eine Auseinandersetzung mit dem Ich-Bewusstsein, was gut mit der Tatsache korrespondiert, dass er sich zum Lesen gerne in der Bibliothek der C. G. Jung Foundation aufhält. Carl Gustav Jung (1875 - 1961), der Begründer der Analytischen Psychologie, räumte der Ich-Werdung (Individuation) einen zentralen Platz ein. 130 Und so hält ein polyphon- 128 Fachliteratur zu den Konzepten des ‚ Ich ‘ aus neuropsychologischer Sicht wird für die Deutung des Textes nicht beigezogen. Die Erörterung der Leib-Seele-Thematik und -Problematik in Tunströms Försök med ett århundrade wird ebenso wenig disputiert. 129 Nilsson (2013: 220): „ De Kaart kan alltså sägas representera både Descartes och Mefistofeles i en och samma gestalt. “ [Von De Kaart läßt sich somit sagen, dass er in ein und derselben Gestalt Descartes wie Mephistopheles repräsentiert.] 130 Siehe bspw. ders. (2014). Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. Tunström kommt auf die Idee zum Buch, wie er in Jungs Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung blättert (vgl. FÖR: 85) und liest: „ Mit einem dumpfen Krach gehen beide Tore zu. Der Bauer springt vom Bock seines Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 144 3 POETALOG polymorphes ‚ Ich ‘ in Tunströms Försök med ett århundrade einer übermäßig überdehnten Text-Klammer gleich Buchanfang und -ende über alle Digressionen, Abbrüche und Neuansätze hinweg, zusammen. Mit „ Jag “ (FÖR: 9; Ich) setzt sein Versuch ein und mit „ Jag “ (FÖR: [458]; Ich) kommt er, in eins fallend, zu Ende. Auf einer Brücke - Mittel zum Übergang - , der Hänge- und Schrägseilbrücke Brooklyn Bridge, die über den East River New Yorks Stadtteile Brooklyn und Manhattan verbindet, richtet sich dieser Fächer genannt „ Ich “ zu Beginn auf, entfaltet sich vielgestaltig durch das ganze Buch in diversen Erscheinungen, um am Ende in der gleichen und dennoch verwandelten Gestalt zuzuklappen, jetzt gebeugt als „ Ich “ . Mit Bernhard Waldenfels ließe sich diese Auffächerung eines „ Ich “ als eine Form der „ Inter- und Transsubjektivität “ erklären: „ Ich finde mich im Anderen und finde den Anderen in mir im Zug eines Wechselspiels, das der späte Merleau-Ponty als Chiasma bezeichnet und das Bachtin als genuine Vielstimmigkeit eines Polylogs zu fassen versucht. “ (Waldenfels 1990: 72) Dieses Chiasma ist der vom Autor erschaffene Erzählraum - genauer: die mit Worten und Bildern kreierte Verschränkung von Zeiten und Räumen, worin dieses Ich - aus dem dauernd weitere Ichs ein- und auszweigen - sich bewegt und imaginierte Begegnungen erlebt, die anderswo nicht möglich wären. In einem „ Raum “ , der existiert, solange die Erzählung währt. Dass sich das erzählende Autor-Ich der Phantasmagorie des Erzählten bewusst ist, wird von ihm expressis verbis auf der drittletzten Seite im Buch deklariert: „ Nej, det har inte gått mig förbi att ni är död, Herr de Kaart. Inte heller har det gått mig förbi att jag lever. “ (FÖR: 456) [Nein, es ist mir nicht entgangen, dass Sie tot sind, Herr de Kaart. Genau so wenig wie mir entging, dass ich lebe.] Den ‚ Passepartout ‘ zur Lizenz dieser Erzählweise wird - in Abwandlung von Descartes Cogito, ergo sum - in einem Moment des Innehaltens in der Buchmitte, vom Erzähler freimütig bekanntgegeben: Var det någonsin mitt, detta århundradet? Var det annat än ett hotellrum för mitt medvetande, en plats där jag om natten sov och om morgonen duschade av mig mina drömmar? Hur mycket samtida är vi? Hur hundraprocentiga är vår närvaro i tiden. Det snöar ute på Manhattan, visst, men det snöar också på de platser där jag blundade, med eller mot min vilja, återskapar mig. Dit där jag tänker mig, är jag. (FÖR: 273) War es je meines, dieses Jahrhundert? 131 War es etwas anderes als ein Hotelzimmer für mein Bewusstsein, ein Platz, wo ich nachts schlief und am Tag meine Träume mir abduschte? Wie jetztzeitig sind wir? Wie hundertprozentig in der Zeit gegenwärtig sind wir? Es schneit draußen in Manhattan, gewiss, aber es schneit auch an den Orten, wo ich geschummelt habe, willentlich oder unwillentlich, und mich neu erschaffe. Wohin ich mich denke, da bin ich. Günter Grass hat sich in seinem Buch Mein Jahrhundert ebenso in vergangene Zeiten hineingedacht und Begegnungen festgehalten - von ihm erdachte sowie historisch belegte. Wagens und ruft: ‚ Jetzt sind wir im 17. Jahrhundert gefangen! ‘ - Resigniert denke ich: Ja, das ist so! - Aber was ist da zu machen? Jetzt sind wir auf Jahre gefangen! - Aber dann kommt mir der tröstliche Gedanke: Einmal, nach Jahren, werde ich wieder herauskommen. “ Hier auf Deutsch zitiert bei Jaffé (1961: 207). Schwedisch ist das Buch als Mitt liv. Minnen, drömmar, tankar erschienen. 131 Vgl. dazu Loetscher (2009). War meine Zeit meine Zeit. Gemäß Verlag entfaltet der Autor darin „ [d]ie Stoffe und Themen seines Lebens und seines Werks “ zu „ einer weltumspannenden Autogeographie, der Entwicklungsgeschichte eines globalen Bewusstseins. “ Vgl. https: / / www.diogenes.ch/ leser/ titel/ hugo-loetscher/ war-meine-zeit-meine-zeit-9783257601091.html (abgerufen am 04.08.2021). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) 145 Die exakt einhundert Erzählungen in Mein Jahrhundert fügen sich zum Panorama „ seines “ Jahrhunderts. 132 Tunströms Versuch(e) mit einem Jahrhundert sind womöglich durch die Emulsion der Hauptwörter dieser Buchtitel zu „ seinem “ Titel von Montaignes sowie von Grass ’ Buch inspiriert. Tunström erwähnt Grass ’ Buch in seiner mit Wort-Reflexionen gespickten Kolumne vom November 1999 „ Vad bryr sig Gud? “ 133 Begegnungen und „ Gespräche “ von einem „ seiner “ vielen Ichs mit dem Philosophen Montaigne grundieren den ganzen Versuch. Indienfahrer Tunström 134 kann ebenso gut auch Gandhis Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit 135 inspiriert haben. Tunström ist Produzent und Reporter seines grandiosen Scheiterns, in dem er Reales und Imaginäres mit Symbolischem, also der Sprache, zu einer Fuge mit einem Motiv aus einem einzigen Ton komponiert: Ich. Nach den Präambeln der Paratexte „ ertönt “ dieses Motiv am Anfang, wird furios extemporiert, um am Ende damit auszuklingen: Ich. Das Spielen dieser „ Partitur “ erfordert eine Stimme mit Registrationsmöglichkeiten, wie sie nur große Orgeln kennen. Die vielen Ichs deuten in einer, weit ausholenden kontrapunktischen Jungschen „ Circumambulation “ ( Jaffé 1961: 200) die kolossale Komplexität dessen an, was ein „ Ich “ sein könnte. In dieser klingenden „ Betrachtung “ seines Scheiterns finden sich unzählige poetische Momente und Kleinode zum Prozess des literarischen Schreibens; harmonische wie disharmonische Ichs reiben sich mit ihren Selbsten wie unauflösbare Dissonanzen. Das kreiert schräge Klänge. Abgerissene. Misstöne. Reinste Kakophonie kommt so neben leisen und leicht überhörbaren feinsten Tongebilden zu stehen. Sein Versuch tangiert unausgesetzt autobiografisch / autofiktional grundiertes Schreiben. Er zeigt, was Schriftsteller-Ichs alles aufdecken und mit sich bringen. Der Essay Försök med ett århundrade ist mithin Rechenschaftsbericht, Selbstvergewisserung, Identitätsbildung seiner Zeit (in diesem 20. Jahrhundert). „ Palimpsestisch “ wird Zeit, die sich zu einer ‚ Sphäre ‘ gebiert, anschaulich geschildert; im Staunen über die „ Zeichen, die wir Buchstaben nennen “ , bekennt sich zudem ein (kindlicher) Sprachphilosoph. Men här sitter jag alltså mitt i det flytande Nuet och tar en liten paus från Dået, ser ut genom Nuets fönster där västanvinden är stark (åtminstone nu vid första genomskrivningen) där löven skiftar i gult och rött. Medan de nu (i andra versionen) är skirt gröna; och nu (vid den tredje omskrivningen av dessa tecken vi kallar bokstäver) ligger under ett täcke av snö, inte undra på att jag alltid haft en dragning mot DÅ! En olycklig dragning kanhända. (FÖR: 280) 132 Grass (1999). Mein Jahrhundert. Die erste Erzählung „ 1900 “ gedenkt eines Moments im Jahr 1900, die letzte einer Begebenheit im Jahr 1999. „ 1900 “ beginnt so: „ Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabei gewesen. “ Grass bedient sich zur Eröffnung eines ähnlichen (wenn auch weniger komplexen) Erzähltricks wie Tunström. Das Buch erschien als Mitt århundrade 2000 im Albert Bonniers förlag in der Übersetzung von Lars W. Freij. 133 Die in Kap. 3.1 besprochene Kolumne setzt an den Anfang ein cartesianisch verbrämtes Selbstbekenntnis: „ Jag är författare, alltså paranoid. “ [Ich bin Schriftsteller, also paranoid.] Unter „ paranoid “ ist hier wohl das (beinahe „ gottgleiche “ ) Vermögen des Schriftstellers zu verstehen, (theoretisch) unendlich viele weitere Ichs zu erfinden, anzunehmen und ihnen Textgestalt geben zu können. 134 Vgl. dazu sein Buch Indien - en vinterresa von 1985, worin er vermerkt: „ Jag sysslar inte med litteratur, men är besatt av att skriva “ (IND: 225) [Ich befasse mich nicht mit Literatur, bin aber davon besessen, zu schreiben.] 135 Auf Schwedisch kam die Übersetzung der ersten englischsprachigen Buchausgabe (1927/ 29) bereits 1929/ 30 als Siälvbiografi eller Historien om mina experiment med Sanningen, heraus. Überarbeitet und wiederaufgelegt erschien sie 1996 und 2011. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 146 3 POETALOG Doch hier sitze ich also mitten im fliehenden Jetzt und mache mal Pause vom Einst, schaue durchs Fenster des Jetzt, wo ein starker Westwind geht (wenigstens jetzt bei der ersten Niederschrift), wo die Blätter ins Gelb und Rot spielen. Während sie nun (in der zweiten Version) zartgrün sind; und jetzt (bei der dritten Umschrift dieser Zeichen, die wir Buchstaben nennen) unter einer Decke von Schnee liegen, kein Wunder, dass ich immer eine Neigung zum EINST hatte! Eine unglückliche Neigung vielleicht. 3.3.3 (2) Der Leser - Die Bücher Bücher und Bilder, imaginierte Begegnungen und Gespräche bilden den Nährboden der Narration von Tunströms Essay-Roman. Die Bilder, genauer das Schaffen von Bildern von Gesprächen mit Repräsentanten bildender Kunst, wie beispielsweise mit Rembrandt und Rubens. Die Bücher erscheinen in unterschiedlicher Gestalt. Aufgelistet im Text mit ihren bibliografischen Angaben, oder als Zitate der (europäischen) Literaturgeschichte von John Donne, George Herbert, Paul Valéry oder von Hippokrates, Aristoteles, Constantin Revius, 136 Thomas von Aquin und vielen mehr. So kommt es, dass, wenn eines von Tunströms (Erzähler-)Ichs nicht Subjekt ist, etwa beim Lesen oder Nachdenken von Texten geschildert wird. Ein lesendes Ich erkennt sich im Reflex der Texte anderer. Die Unterseite der Erzählung Försök med ett århundrade zeitigt den Lern- und Verstehensprozess eines Schreib-Ichs mit sich. In der Entfaltung seiner Ichs manifestieren sich so andauernd diverse Facetten des Erzähler-Ichs als Abschattierungen des Autor-Ichs. Dabei vollzieht sich ein „ [L]ernen, den verborgenen Text, der unsere Ichs ist, zu interpretieren “ . 137 Der Versuch ist Zeitporträt und Selbstporträt. Sein Autor ist in Personalunion Betrachter und Exeget des grandiosen Scheiterns von seinem Ich, dem er, wie viele vor ihm, auf den Grund zu kommen versucht. Der Schriftsteller wählt dafür auch eine Geschichte, die andere vor ihm sich erdichtet haben. „ Igår läste vi Musils Mannen utan egenskaper, den roligaste bok jag läst på länge. Och jag skriver plötsligt på något som jag inte har rätt till, men som roar mig “ , schreibt er im Vorwort „ Divertimento för måsarna “ zu Hallonfallet 138 , seiner verspielten Parodie auf den Kriminalroman. 136 Handelt es sich bei Tunströms „ Constantin Revius “ um seine Erfindung oder i. e. Jacobus Revius (1586 - 1658), der niederländische Dichter? 137 Ein unsichtbarer ‚ Textbegriff ‘ kommt in dem Leitwort zur Sprache - ist die Rede von einer Strukturierung der Seele, geht es um ‚ Lebenstext ‘ ? Tunströms Wahlspruch deutet nach ‚ Innen ‘ und lautet als ganzer: „ Vad som gäller är att gå in i det Totala lyssnandet, lära sig tolka den dolda text som är våra Jag. “ (U TI: 181) [Es geht darum, Ganz in sich hineinzuhorchen, zu lernen, den verborgenen Text, der unsere Ichs ist, zu interpretieren.] 138 „ Gestern lasen wir Musils Mann ohne Eigenschaften, das unterhaltsamste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Und ich schreibe plötzlich an etwas, wozu ich kein Recht habe, aber das Spaß macht. “ Vgl. hierzu Magnus Bergh: „ I Hallonfallet är det nämligen så att i ett av dess paradisiska avsnitt kombineras just akvarellmålning och nudistisk frukost för två med Musilläsning “ . (ABF 1994: 27) [Im Himbeerenfall verhält es sich nämlich so, dass in einem der paradiesischen Abschnitte Aquarellmalerei und nudistisches Frühstück zu zweit mit der Lektüre von Musil verwoben werden]. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) 147 3.3.4 (3) Abgesang auf lineares Erzählen Das Erzähler-Ich summiert wie ein zweiter Gregor Samsa seinen Versuch kurz vor dem Buchschluss: Jag kom till New York, där böckerna finns, för att få skriva min egen. Men man ligger på rygg. Man kan inte, men man vet. Den berättelse som skall göra alla andra berättelser överflödiga, dansar inuti huvudet. Suget mot skrivmaskinen är oemotståndligt, ja, jag ser mig sittande där, som en fontäns skummande centrum, upp flyga orden. “ (FÖR: 453) Ich bin nach New York gekommen, wo die Bücher sind, um mein eigenes zu schreiben. Aber man liegt auf dem Rücken. Man kann nicht, man weiß nicht. Die Erzählung, die alle anderen Erzählungen überflüssig machen soll, tanzt im Kopf. Der Sog nach der Schreibmaschine ist unwiderstehlich, ja, ich sehe mich dasitzen, wie das schäumende Zentrum einer Fontäne, auf fliegen die Wörter. Mit Edmond Jabès, Agnostiker wie Göran Tunström, ist Försök med ett århundrade als „ récit éclaté, eine[] aus Bruchstücken bestehende[] Erzählung “ ( Jabès 1994: 57) zu bezeichnen, ohne Handlungsstrang und definierbare Zeit, wie er gegenüber Paul Auster darlegte. Auto(r)poetisch und autofiktional setzt sie sich über „ Erzählgesetze “ (des Essays) hinweg - auf der Suche nach einem Absoluten. Sie ist Absage an das lineare Erzählen, als konsequente Antwort auf die simultanen Stimmen, denen ein Autor-Ich Gehör schenkt und Stimme verleiht. „ [E]in zirkuläres Schaffen. Jede Frage führt zu einer anderen Frage. “ (ebda.). Tunströms „ summa poetica “ , ein „ Brocken “ als Haufen offener Fragen. Da liegen sie, gestreut und verzettelt von einem Suchenden, versammelt in seinem „ Versuch(e) mit einem Jahrhundert “ , dem Essay- Roman, der nicht minder auch seine Sprachsubversion (re)produziert. Die Suche geht weiter, ist unabgeschlossen wie der Lauf der Welt. Mit jedem Individuum, das nicht zuletzt über die Sprache sein ‚ Ich ‘ (aus)bildet (Lacan), wird sie von neuem gestellt werden. Friedrich Nietzsche, der Sprachskeptiker, dazu: „‚ Ich ‘ sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst - dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. “ 139 Zurück bleibt der Hiatus: „ [D]ie Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das ‚ Werden ‘ auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung, 140 beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von ‚ Dingen ‘ usw. zu setzen. “ 141 Mit Inringning ( ‚ Einkreisung ‘ ), Tunströms Debut von 1958, hatte der 22-Jährige im Gedicht „ Position “ auf den ersten Zeilen bereits das Dilemma (s)eines Ich beschrieben: Men jag har ju mina ögons skönhet / som jag gurglar varje morgon och middag / i anticeptiska satser. / / Och dagen skrider framåt / som en vacker kvinna / och jag är den i bergets klyfta bundne / mellan sol och måne / mellan blickar och händer / mellan jag och jag. (INR: 7) Aber ich habe ja die Schönheit meiner Augen / die ich jeden Morgen und Mittag / in antiseptischen Sätzen gurgle. / / Und der Tag schreitet voran / wie eine schöne Frau / und ich bin der in der Klamm des Berges gefesselt / zwischen Sonne und Mond / zwischen Blicken und Händen / zwischen ich und ich. 142 139 KSA, 4: 39 (in: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und Keinen). 140 „ unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung “ ist im Original in Sperrdruck gesetzt. 141 KSA, NF, 13: 36 (in: Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl). 142 Ingeborg Bachmann hat zur Konstitution und Komplexität des (literarischen) ‚ Ich ‘ in ihrer dritten Frankfurter Vorlesung vom 13. Mai 1960 „ Das schreibende Ich “ bis heute bleibend Gültiges geschrieben; vgl. Bachmann (1980: 41 - 78). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 148 3 POETALOG „ Prometheisch “ hält der Dichter seine Sicht(weise) der Dinge mit „ antiseptischen Sätzen “ rein. 143 Sprachhygiene ‚ widerspricht ‘ Sprachkrise. Bilder generieren Worte - und umgekehrt. Das Zusammenwirken verlangt eine feine Abstimmung und Kalibrierung. Auge und Mund gehören, nebst der Schreibhand und dem Horchen auf die innere Stimme, zu den wichtigsten „ Werkzeugen “ des Dichter-Ich. Mit Försök med ett århundrade umkreist Tunström dieselben Themen und Fragen wie bei seinem Debut, oder mit den Worten Montaignes: „ Je suis moy-mesmes la matière de mon livre. “ 144 143 Wenigstens morgens und mittags, die Nacht bleibt im Dunkeln. Mund steht hier als pars pro toto für ‚ Sprachwerkzeug ‘ . - Tunströms buchstäblich erstes Gedicht von Inringning ist die in Gegensatzpaaren sich (er)klärende Positionsangabe und Suche einer Stimme nach ihrem Platz zwischen Mikro- und Makrokosmos, Mann und Frau, Leben und Tod, Sprechen und Schweigen, Anfang und Ende, Hier und Dort. Die Dichterstimme „ sitzt auf einem Stuhl “ , während die Tage „ voranschritten wie nackte Frauen “ und dem Ich des Dichters über den Nacken streichen. 144 Montaignes „ De l ’ amitié “ zit. bei Stierle (2016: 92 im Kap. 5. „ Der Leser als Freund. Montaignes Essai ‚ De l ’ amitié ‘“ (I, 28); ebda.: [85] - 92). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 3.3 Försök med ett århundrade (Versuch mit einem Jahrhundert; 2003) 149 oder Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? Thomas Mann 4 EPILOG Ritualens nitar runt kropp och tankar. Språkets nitar runt handlungsbristen. 1 Göran Tunström Das Wort Gottes, für jede Pfarrerin, jeden Pfarrer das kardinale Schöpfungs- und Erlösungswort, ist Hauptthema in den beiden hier behandelten Romanen. In ihnen erreicht Tunströms Arbeit am Problem der Sprache äußerste Intensität. Im ‚ Mikrokosmos ‘ Dorf mit den drei Personen Paula, der Frau des Dorfpfarrers Hans-Cristian Wermelin und ihrem gemeinsamen Sohn Jacob (er)findet der Autor eine passende ‚ Bühne ‘ , um dieser Frage Worte zu verleihen, und kreiert so das Bukett an Geschichten, die er in den beiden Romanen De heliga geograferna und Guddöttrarna erzählt. In ihnen kulminiert die Suche nach einer authentischen Sprache. Tunström horcht sie seinen Protagonisten ab. Er macht damit in beiden Romanen einen markant mimologischen Gebrauch des Wortes, das er in vielfältigsten Schattierungen variiert. Die Personengalerie eines Dorfes bietet dafür einen reichen Fundus. Unverkennbar stammen die Beispiele aus dieser mittleren Schaffensperiode Tunströms in der Essenz aus der Verbindung zum Buch der Bücher, dem Wort aus der Bibel. Die Heiligkeit der Sprache, ob profan oder klerikal, wird an der Textoberfläche oder subtextuell unablässig ‚ verhandelt ‘ . In epischer Vielfalt wird so Sprachtheorie und Theologie mitunter bis in Alltagsfloskeln transzendiert. Die beiden Romane zeichnen all diese Stimmen auf zu einer Antwort. Eine „ erfahrene Wahrheit. Als wäre die Sprache eine Membran. “ 2 1 „ Die Nieten des Rituals rund um Körper und Gedanken. Die Nieten aus Sprache rund um den Handlungsmangel. “ (DHG: 118) Damit ist das Grunddispositiv im Roman De heliga geograferna angedeutet: die Frage nach der ‚ Fleischwerdung ‘ des Worts, personifiziert im Ehe- und Gegensatzpaar Paula - Hans-Cristian. Während Pfarrer Hans-Cristian Wermelin mitten in einerAndacht den Glauben daran zu verlieren beginnt, wird das Handeln seiner Ehefrau Paula zunehmend ‚ Sprache ‘ . De heliga geograferna inszeniert (Sprach-)Rituale im heiligen Raum der Kirche ebenso wie in der Sprache des Alltags. Tunströmforscher Tyrberg weist zurecht darauf hin, dass im Roman stellenweise „ Ritual und Erzählung parallelisiert werden “ . (Tyrberg 2002: 156). Siehe auch Braungart (1996). Ritual und Literatur. Zu den Namen der Protagonisten: Paula (<gr. pauein: aufhören, ein Ende setzen) ist ein sprechender Name für H.-C.s wortscheue Ehefrau. Hans-Cristian (<gr./ lat. Johannes-Christianus) rekurriert auf den Prolog des Johannesevangeliums „ Im Anfang war das Wort, der Logos / und der Logos war bei Gott “ . Laut Hammar (1999: 262) kann ‚ H.-C. ‘ ebensogut auf Hans Christian (H. C.) Andersen anspielen, „ [d]en sagoberätttande landsman “ [den Märchen erzählenden Landsmann]. 2 Lars Andersson in seinem Nachwort „ Glückselige Inseln “ zum Langgedicht „ Unsere Insel - Unsere Zeit im Meer “ (siehe UNS: 112). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 De heliga geograferna (DHG; 1973) und Guddöttrarna (GUD; 1975) flankieren Eltern gleich die Erzählung Prästungen, mit der Tunström 1976 diese zu einer Trilogie vereinte. Einem begonnenen dritten Roman mit Paula als Protagonistin, der frisch getrauten Ehefrau von Pastor Hans-Cristian Wermelin, habe ein Verriss von Guddöttrarna ein Ende gesetzt, 3 worauf der Autor das Manuskript liegen ließ und stattdessen die Erzählung Prästungen schrieb. Was heute als ‚ Sunnetrilogie ‘ bekannt ist, bestehend aus De heliga geograferna. Guddöttrarna und Prästungen, war primär als ein Roman-Triptychon intendiert. 4 Erzähltechnisch baut der „ elterliche “ Rahmen der Romane auf einer Mischung von Auto- und Heterodiegese, während das ‚ Kind ‘ Prästungen streng auto(r)diegetisch gebaut ist (vgl. Kap. 1). Thematisch indes sind die drei eng verwandt miteinander. Alle umkreisen in Autofiktionen 5 „ die Bedeutung und das Verhältnis zur Gotteserfahrung “ , wie dies die Theologin und Literaturforscherin Doris Ottesen speziell für De heliga geograferna reklamiert. 6 Gotteserfahrung und mystische Gotteserfahrung sind Antonyme in den beiden Romanen, verkörpert in Hans-Cristian und Paula, ihren beiden Protagonisten. Auf eine Thematik der „ Verkündigung von Gottes Wort “ und der „ Gotteserfahrung “ weisen bereits die Titel der drei Bücher hin. Es sind Wortfügungen, zusammengesetzt aus je einem Wort des Heiligen und des Profanen. 7 Gud, hier nicht in der Bedeutung von Gott, sondern metaphorisch für Pate, in Verbindung mit döttrarna (die Töchter) ergibt „ Die Patentöchter “ , De heliga geograferna sind „ Die heiligen Geografen “ , Prästungen vereint präst (Priester, Pfarrer) und unge (Sohn, Kind, Junge) zum „ Pfarrerssohn “ . Eine Zusammenstellung der drei Buchtitel zeigt: Die Konzentration von Wörtern mit einer Konnotation 3 Vgl. Alsing (2003: 77): „ Tunström hade en tredje del i huvudet, en bok som skulle handla om Paulas liv som ensam kvinna, men han tog illa vid sig av en recension av Lars-Olof Franzén i Dagens Nyheter. Låt Paula bli frisk, hette det. “ [Tunström hatte einen dritten Teil im Kopf, ein Buch über Paulas Leben als einsame Frau, doch war er über eine Rezension von Lars Olof Franzén in Dagens Nyheter verärgert. Laß Paula gesund werden, lautete sie.] 4 Dazu ein Kommentar des Autors: „ Einmal schon hatte ich versucht, ein Triptychon zu schaffen (weshalb auch immer mir das so wichtig gewesen sein mag): Die heiligen Geografen und Die Patentöchter sollten mit einem dritten Teil vollendet werden, aber ein Kritiker hat mich verrissen, es ist nichts mehr gekommen, es kam anders - das war vielleicht gut - das weiß niemand. “ (U TI: 66, unter der Rubrik Paris, febr. [1989]) Mit „ [e]inmal schon “ meint Tunström sein Gedankenbuch Under tiden als „ Dach “ von Juloratoriet und Tjuven. 5 Auch wenn Jacob Schwartz, Ich-Erzähler und Alter Ego Tunströms, behauptet: „ Men det är inte min historia jag skall berätta här. “ (DHG: 187) [Aber ich will hier nicht meine Geschichte erzählen.] 6 „ I romanene De heliga Geograferna [sic] (især) og Guddöttrarna slår Tunström for alvor de religiøse temaer fast, som han siden har kredset om - omend i stadig større cirkler. Nemlig betydningen af og forholdet imellem den gudsoplevelse, der ligger bag ordets forkyndelse og den mystiske gudsoplevelse. “ [In Die heiligen Geografen (insbesonders) und Die Patentöchter befasst Tunström sich ernsthaft mit religiösen Themen, die er fortan umkreist - auch wenn in immer größeren Kreisen. Nämlich die Bedeutung und das Verhältnis einer Gotteserfahrung, die der Verkündigung von Gottes Wort und der mystischen Gotteserfahrung zugrunde liegt.] (Ottesen 1989: 18). Ottesens Aussage gilt es im Auge zu behalten. - Wenn wir dem lyrischen Autor-Ich im Gedicht „ Ord under plommonträdet “ - „ Worte unter dem Pflaumenbaum “ (aus dem Band Sorgesånger [Klagelieder]) Glauben schenken dürfen, steht es mit Gott so: „ Med gud har jag gjort ett avtal: / att inte låtsas om / hans existens. “ (UNS: 22 - 23) [Mit Gott traf ich eine Absprache: / So tun / als gäbe es ihn nicht.] 7 Vgl. dazu Eliade (1957). Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 152 4 EPILOG zum ‚ Heiligen ‘ ist einmalig im Gesamtwerk des Autors und findet sich dergestalt nur in diesen drei Titeln. 8 Die Trilogie aus den Siebzigerjahren bildet den Dreh- und Angelpunkt in Tunströms Reflexion des Wortes in Form der für sein Schreiben so typischen ord/ Wort-Stellen. Wie im Kapitel 2.1 dargelegt, sind sie bereits im Debut Inringning von 1958 vorhanden und finden sich kontinuierlich bis in das postum edierte Försök med århundrade. Tunströms Wort- Reflexionen sind omnipräsent. In Guddöttrarna und De heliga geograferna stehen sie zusätzlich in einem exponierten Bezug zum Wort aus der Bibel, was ihnen besondere Signifikanz verleiht. Wort-Reflexion und Narration interagieren zum Textganzen. Es gibt die Wort-Digression als (reine) Arabeske zum Erzähl-Text. Andere ord/ Wort-Stellen wirken wie ritualisierte Ankerwürfe, zur Vergewisserung der Herkunft des Wortes (aus dem Wort Gottes). Dicht umspielt und reflektiert so der Text 9 von De heliga geograferna und Guddöttrarna sein ureigenstes Medium, das Wort, und erzählt damit - wörtlich - seine poetische Sprache. Was ist darin das Wort, woher kommt es, wofür steht es? Welche Ästhetik des Worts lässt sich an Tunströms prononcierter Wort/ WORT-Topik ablesen? 10 Was besagt der unverwandt auf Wörter sich „ berufende “ Text der beiden Romane darüber? Wie verhalten sich Sage (Wort-Parenthese oder Intradiegese) und Aus-Sage (Narration oder Diegese) zueinander? Wie kooperieren die beiden Diegesen zum Textganzen? Diese Fragen auf die beiden Romane gerichtet, lenkt die nachstehende Lektüre. Weniger als Kriegsromane, vielmehr als Sprachromane 11 gelesen, wird auch auf diesem Weg der Versuch unternommen, Tunströms Poetologie zu ergründen. Denn in der Geschichte um Krieg und Frieden sind Geschichten der Sprache immanent, die sich um und in sich selbst drehen. Die Erzählsprache der Narration steht dauernd in Zwiesprache mit den sie nährenden und über sie philosophierenden Wörtern. In stets neuen Ansätzen, Reflexen und Reflexionen wahrt sie über die ord/ Wort-Stellen den Kontakt mit ihrem sprachlichen Grund. In einer Auswahl solcher Stellen soll über die Ausgestaltung und die mögliche(n) Auslegung(en) dieser Beziehung an den hier folgenden Beispielen nachgedacht werden. Entstanden sind die beiden Romane in den turbulenten 1970er-Jahren, als die Wogen des Feminismus, von den USA und Westeuropa ausgehend, Schweden erreichten. In der Grupp 8, von acht Frauen am 8. Mai 1968 in Stockholm gegründet, hatten sie hohe Wellen geworfen. Die Frauen suchten den im „ Folkhemmet “ [Volksheim], dem sozialdemokratisch regierten Wohlfahrtsstaat und Vorzeigemodell, nicht weniger als in anderen Ländern Europas, einseitig von Männern diktierten politischen (Dis-)Kurs aufzubrechen, die Privilegien des Patriarchats abzuschaffen, die weibliche Sicht der Dinge in die Lebenswelt 8 Auch Ökenbrevet [Der Brief aus der Wüste], dessen Ich-Erzähler sich Jesus von Nazareth nennt, stammt von 1979. Im Tunströmschen Schaffen ist es das Prosabuch mit der größten Emphase auf dem Wort. Die ord/ Wort-Stellen im Buch über den späteren Verkünder von Gottes Wort finden in der vorliegenden Arbeit jedoch keine Berücksichtigung. 9 Die beiden Romane bilden ihrer verschiedenen Narration zum Trotz dennoch einen Text. 10 WORT steht für das schwedische ‚ Ordet ‘ (das Wort Gottes). Die Initialgroßschreibung von Wörtern ist, bis auf den Satzanfang und Produkt- und (Eigen-)Namen, in der schwedischen Orthographie höchst ungebräuchlich. 11 Versuchsanlagen, die Sprechakte und Sprechsituationen inszenieren, die sich um die Sprachfindung insbesondere der Protagonisten Paula und Hans-Cristian, aber auch um die „ eigene “ , jene des Autors Tunström und damit um die Stimme dessen multiplen Ich-Erzählers Jacob, drehen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4 EPILOG 153 einzubringen. „ Das Private ist politisch “ und „ Nieder mit der Männerherrschaft “ lauteten die Hauptlosungen der an den Schriften der US-amerikanischen Feministin Kate Millett (1934 - 2017) und ihrer Politik der ersten Person geschulten ‚ zweiten Frauenbewegung ‘ , die auf Geschlechterdemokratie (könsdemokrati) insistierte. Die Umgestaltung, die in der Gesellschaft in Gang kam, zeichnete sich auch als Neubewertung ästhetischer Werte ab; Literatur erfuhr eine starke Politisierung. Laut hatte die Geburtsstunde des (damaligen) Genres kvinnolitteratur (Frauenliteratur) geschlagen. 12 Unter dem Slogan kvinnokamp (Frauenkampf ) entfachte die Grupp 8 13 Grundsatz-Diskussionen über Autoritäten und Institutionen. Wer hat das Wort, wer das Sagen? Die am Mann genormte Sprach- und Lebenspraxis wurde auch in der Literatur von Grund auf in Frage gestellt (und demontiert). 14 Dass Gender und Kultur in der schwedischen Gesellschaft verhandelbar wurden, ist auch Frucht des Stockholmer ‚ Frühlingserwachens ‘ von 1968. Der hernach als Maßstab für Qualität geltenden, der politischen Tagesaktualität sich verpflichtenden Forderung nach einer ‚ engagierten Literatur ‘ , hat sich Tunström mit seiner Sprache entzogen. Als ‚ fantastischer Realist ‘ begab er sich - fern vom Diktat - in der Debatte um Sprach- und Gesellschaftskritik mit seiner Schriftstellerexistenz auf eigene Schreibwege. „ Eine neue Sprache muss eine neue Gangart haben, und diese hat sie nur, wenn ein neuer Geist sie bewohnt[] “ (Bachmann 1980: 16), befand die sprachphilosophische Poetin Ingeborg Bachmann bereits 1959 schon in ihrer ersten Frankfurter Poetikvorlesung. Die feministische Revolte gegen die verkrusteten Gesellschaftsformen und deren Sprach- und Verhaltensnormen, hatte der Autor in doppelter Weise aus nächster Nähe wahrgenommen: An seinem Wohnort Stockholm, auf deren Straßen der Aufstand ihren Anfang nahm, sowie unter dem Eindruck aus nächster Nähe des Verlusts sprachlicher Kom- 12 Für eine ausführliche Darstellung dieser Etappe auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie siehe Møller Jensen (1997). Nordisk kvindelitteraturhistorie, Bd. 4: På jorden. 1960 - 1990. Darin das von Lena Malmberg verfasste Kap. „ Att skrive sig fri. 70 ’ ernes svenske bekendelseroman “ (ebda.: 173 - 181) [Sichfreischreiben. Der schwedische Bekenntnisroman der 70er-Jahre]. Auch zwei Bilder von Lena Cronqvist illustrieren Band 4: Forortsmadonna [Vorortsmadonna], 1969 (ebda.: 175) sowie: To piger i vandet [Zwei Mädchen im Wasser], o. D. (ebda.: 247). 13 Å alla kära systrar! Historien om mitt sjuttiotal [O all ihr lieben Schwestern! Die Geschichte meiner 70er-Jahre], das Buch der ehemaligen Aktivistin und Literaturhistorikerin Ebba Witt-Brattström, resümiert aus erster Hand den Aufbruch von Schwedens Frauen in eigene Räume. Die seit den frühen 1970er-Jahren ‚ kvinnofrigörelse ‘ (Frauenemanzipation) und die damit zusammenhängende, gesetzlich verankerte ‚ Gleichstellung ‘ der Geschlechter ist breit dokumentiert. Zur Grupp 8 siehe den Eintrag in Nationalencyklopedin (NE, 8: 108). - In Band 4 von Møller Jensens Nordisk kvindelitteraturhistorie ist die Grupp 8 beim Besuch der Ausstellung „ Kvinnan “ [Die Frau] im Moderna museet 1972 zu sehen. (Møller Jensen 1997: 149) 14 Vgl. dazu Maria Bergom-Larsson (1977: 48 - 61) „ Kvinnlighet som utopi. Om Göran Tunströms självbiografi “ [Weiblichkeit als Utopie. Zu Göran Tunströms Selbstbiografie]. Darin spez. den Absatz „ Språket - den manliga världen “ (51 - 53) [Sprache - die männliche Welt]. Bergom-Larsson referiert in ihrem Artikel Luce Irigarays Theorie der durch die „ aristotelische Sprachlogik “ unterdrückten weiblichen Sexualität und einer damit notwendigen weiblichen ‚ Gegensprache ‘ . Sie stützt ihre Aussagen auf Irigarays Interview „ Kvinner i eksil “ [Frauen im Exil; erschienen in: Haugsgjerd/ Engelstad (1976). Seks samtaler om psykiatri [Frauen im Exil] der erklärten Kritikerin der Freudschen Psychoanalyse und kommt zum Schluss (Bergom-Larsson 1977: 51): „ Irigarays Ideen des Weiblichen und des Männlichen stimmen indes nahe überein mit der mythischen Gestaltung, wie wir sie bei Göran Tunström antreffen. Bei Tunström jedoch erhebt der Mythos keine wissenschaftlichen Ansprüche. “ Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 154 4 EPILOG munikation mit seiner Partnerin. 15 Die kollektive ebenso wie individuelle Krisis zeitigte Spuren in seinem Schaffen; die Frage, was Sprache „ taugt “ , entfaltete ihre ganze Brisanz. Seine wiederholt in Gedichten 16 formulierten Fragen ‚ an die Sprache ‘ fasst der Autor nun auch in Prosa. De heliga geograferna (1973) und Guddöttrarna (1975) legen durch ihren hohen Grad und eine bunte Skala an ord/ Wort-Stellen beredt Zeugnis davon ab. Bevor einzelne dieser Stellen kommentiert werden, wird jeder der beiden Romane kurz referiert. Kurz, weil die Handlungsstränge und Erzählspuren - jeder in sich sowie untereinander - in so hohem Maße verwickelt sind, dass sie sich kaum resümieren lassen. Aber auch deshalb, weil der Fokus der Studie weiterhin auf das Wie der Wort-Stories (oder Plots) und nicht auf das Was des (gesamten) Textes als Story (oder Plot) gelegt ist. Auffallend ist, wie stark das Setting ‚ Ein schwedisches Dorf im zweiten Weltkrieg ‘ und ihr Erzähler ‚ Jacob ‘ mit dem Erzähler Göran von Prästungen korrespondiert, der im Nachkriegsschweden im selben Dorf (Sunne) seine Kindheit und Jugend verlebt; in allen drei Büchern wird emphatisch das Wort und sein Gebrauch reflektiert. „ Über das Wort [im Roman] kann man nicht auf dieselbe Weise sprechen wie über andere Gegenstände der Rede (wie über sprachlose Dinge, Erscheinungen Ereignisse u. dgl.), es erfordert ganz besondere formale Verfahren der Rede und der sprachlichen Darstellung “ , postuliert Michail Bachtin in seiner Untersuchung des Worts im Romangenre (Bachtin 1986: 161). „ Der hauptsächliche, ‚ spezifizierende ‘ Gegenstand des Romangenres [ … ] ist der sprechende Mensch und sein Wort. “ (ebda.: 160) In „ drei Momente “ fasst Bachtin die Spezifizierung: 1. Das Wort „ wird künstlerisch dargestellt “ ; 2. Der sprechende Mensch im Roman ist „ sozialer Mensch “ ; 3. Der sprechende Mensch im Roman „ ist immer mehr oder weniger Ideologe “ . (ebda.: 160 - 185) Für das Studium von Tunströms Wort-Gebrauch in den beiden Romanen ist zudem weiterhin „ Bakgrundens bok “ 17 mitzubedenken, Ordet, das Wort Gottes. Diesem gegenüber steht die Wortstille oder das mystische Schweigen. Aus dem Spannungsfeld der beiden Kommunikationsformen oder ‚ Sprachen ‘ entsteht die komplexe Verfasstheit der beiden Romane, die auch eine in (sprachlichen) Konventionen erstarrte Gesellschaft spiegelt und zugleich bestrebt ist, sich mit dem Geist einer neuen Sprache, einer neuen Literarizität, davon zu lösen. Auf fünf Punkte reduziert sind die charakteristischen Eigenschaften und Tendenzen der Sprache in De heliga geograferna und Guddöttrarna: 1. Die Sprache der Männer: eher statisch, konservierend, kopflastig, erwächst aus ratio, traditio, reactio. Die „ heiligen Geografen “ schaffen sich Kenntnis der Welt durch Buch- 15 Lena Cronqvist hat die Behandlung ihrer postnatalen Depression in großformatigen Klinik-Bildern auf die Leinwand und somit das tabuisierte Thema an die Öffentlichkeit gebracht. 16 Auch Svartsjukans sånger [Die Lieder der Eifersucht] (1975) und Sandro Botticellis dikter [Sandro Boticellis Gedichte] (1976) reflektieren Wort und Sprache. 1980, im Langgedicht von Sorgesånger, „ Unsere Insel - unsere Zeit im Meer “ , heißt es unter 2: „ Was wird, wenn wir auf die Insel ziehen? / Welche Sprachen werden brachliegen müssen, / welche werden neue Nahrung erhalten [ … ] “ (UNS: 31). 17 „ Likaväl som en Bakgrundens Bok är ju Bibeln en Ursprungets Bok. “ (Andersson 1995b: 111) [Die Bibel ist ebensosehr ein Buch des Hintergrunds wie eines des Ursprungs.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4 EPILOG 155 wissen (theoretisch) und versuchen dieses durch ihre Vortragstätigkeit einander und anderen zu vermitteln. Sie argumentieren gerne (mit Fakten). 2. Der Spracherwerb: Fleischer Johanesson lernt Deutsch bei Pastor Wermelin, dem Schriftgelehrten im Dorf (GUD: 27 - 32, 159 - 160, 197 - 201). Paula möchte Deutsch lernen, um die Mystiker zu lesen (GUD: 115 - 116). Jacob lernt spielerisch von seinem Vater das Alphabet, wenigstens bis zum Buchstaben J wie Jacob (GUD: 33 - 34). Später versucht er, Jacob die eigentliche und übertragene Bedeutung und Verwendung von Wörtern beizubringen (vgl. GUD: 35 - 42). 3. Die Sprache der Frauen: eher dynamisch, breit gefächert, prosperierend, gründet in actio, innovatio, intuitio. Empirie, Erfahrungswissen, ist der Zugang der Frauen zur Welt. Ihre Kreativität (v. a. in Guddöttrarna) unterläuft die (scheinbar) rationale Sprache der Männer; zwei Haltungen gegenüber dem Leben, zwei Interpretationen der ‚ Welt ‘ treffen so aufeinander, schaffen Kommunikationsprobleme. Paulas Sprache ist von einer schöpferischen Urkraft, kann aber auch Schweigen sein (eine potente Körpersprache) oder ‚ Zungenreden ‘ , erfüllt vom ‚ Heiligen Geist ‘ . 18 4. Fremdsprachen: Kirgisisch, Deutsch, Norwegisch, eine mexikanische Indiosprache 19 , Hebräisch und viele Sprachen mehr bereichern die beiden Romane. Jede einzelne impliziert eine andere Haltung, eine andere Deutung der Welt. 20 Zudem kommen wortlose so wie funktionelle Sprachen vor wie bspw. die Gebärdensprache der Taubblinden (GUD: 135 - 137), die Sprache der Kirchenliturgie (passim), die formelhafte Kanzleisprache der Politiker, die frömmlerische Sprache von Evangelist Bengtsson (vgl. DHG: 111 - 112), die kindliche Sprache Jacobs (passim). 5. Das Sprachleben: Die zahlreichen Dialoge halten die Sprache(n) am Leben. 21 Ob in einer Dorfgemeinschaft, in einem Verein wie etwa Sunnes Geografiska Sällskapet [Sunnes Geografische Gesellschaft] oder in der Partnerschaft von Hans-Cristian und Paula: Kommunikation schöpft Geschichten (histoire und discours). Mit jedem ausgesprochenen wie auch nicht ausgesprochenem Satz realisiert sich ein ‚ Fortschreiben ‘ der Geschichte(n). Damit einher geht der Sprachwandel, der sich in der Rückkoppelung auf die Sprache selbst wieder in Form dauernder Veränderung(en) der Kommunikationsart(en) auswirkt. 18 Vgl. dazu Das Buch Jesaja, Jes 28,7 - 13, als Beleg für die Erfüllung einer Person mit dem Heiligen Geist. Der Heilige Geist (gr. Ἅγιον Πνεῦμα , lat. Spiritus Sanctus) ist nebst ‚ Vater ‘ (1.) und ‚ Sohn ‘ (2.) im Christentum die 3. Entität der göttlichen Trinität ‚ Gott ‘ . 19 Alle Versuche, bspw. ‚ bo ’ humal ‘ einem exakten Idiom zuzuordnen, blieben bisher erfolglos. Das Wort stet u. a. in DHG: 247 (vgl. dort „ ch ’ il bo ’ humal “ ). 20 Vgl. dazu bspw. Rolf Elberfeld: „ Sprache in Wort und Schrift ist Grundelement des Lebens für die Mehrzahl der Menschen. “ (Elberfeld 2017: 11). Und: „ Philosophie ist mehr denn je angewiesen auf die Vielfalt der Sprachen - das ist die zentrale These des vorliegenden Buches. “ (ebda.: Buchcover). 21 Wörter bei Tunström können mitunter selbst physische Dimensionen annehmen. Vgl. dazu bspw. Bastiano, den Romanhelden aus Maskrosbollen [Die Pusteblume]: „ Arkitumulu. Jag får ett ord av henne i present. Andra ger mig pengar eller åtminstone en bok. Arkitumulu, hahaha. / Men det blev nog getingar av orden mina, för han började veva med handen framför ansiktet [ … ] “ (MASK: 61) [ „ Arkitumulu. Ich habe von ihr [Vera, sc., die ihn „ mit Worten kitzelte “ , MASK: 60] ein Wort als Geschenk erhalten. Andere geben mir Geld oder wenigstens ein Buch. Arkitumulu, hahaha. / Aber aus meinen Worten wurden wohl Wespen, denn er [Sigfrid] begann mit der Hand zu wedeln vor seinem Gesicht [ … ]. “ „ Vera [ … ] hade gett mig arkitekttiteln på det tjugoåttonde språket idag. “ [ „ Vera [ … ] hatte mir heute den Architektentitel in der achtundzwanzigsten Sprache verliehen. “ ] (MASK: 60). - Die „ achtundzwanzigste “ Sprache: eine auto(r)-ironische Referenz auf ‚ Sprachbesessenheit ‘ ? Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 156 4 EPILOG Die Deutung ausgewählter ord/ Wort-Stellen in Guddöttrarna und De heliga geograferna ist wieder das Mittel, um Tunströms Poetik des Worts auszuleuchten. Beiden Romanen hat der Autor kapitale „ Mitschriften “ über sein Verständnis einer zeitgemäßen (literarischen) Sprache eingeflochten. Durch Sezieren der Substanzen in diesen „ Wortsträngen “ , die sein Schreiben inspiriert haben, soll also deren immanente Poetik ausgelegt werden. 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) Wie in Prästungen 22 bildet das Pfarrhaus von Sunne den Brennpunkt, von dem die Geschichten der beiden Romane aus- und darin wiederum eingehen. 23 Losgelöst von der männlich konnotiert linearen Zeitachse der historie referiert ‚ Jacob ‘ 24 , der Ich-Erzähler beider Romane, was und wie er die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges von Ferne im schwedischen Sunne erlebt hat. Dabei entging ihm nicht, wie seine Eltern, der Pfarrer ( ‚ komminister ‘ ) Hans-Cristian Wermelin und Paula, seine Ehefrau, sich nicht nur mit den indirekten Folgen des Krieges in Form rationierter Lebensmittel oder der Unterbringung von Soldaten in ihrem Pfarrhaus abplagen, sondern zudem in einer privaten (Ehe-)Krise stecken. Paula leidet seit der Geburt ihres Sohnes Jacob, des Ich-Erzählers, an einer 22 Mit der Restriktion, dass dies für Prästungen nach dem Ableben von Pfarrer Tunström und dem dadurch diktierten Exil aus der Dienstwohnung nur noch bedingt gilt; die ‚ axis mundi ‘ des Falurot leuchtenden Pfarrhauses existiert nicht mehr. Vgl. dazu Göran im Kap. „ Yttre och Inre Göran “ [Äußerer und Innerer Göran]: „ Mamma har skaffat ett ställe där vi kan bo. / Det är ett rum och kök uppe i Ekebyhuset, alldeles vid gatan. “ (PRÄ: 111) [Mutter hat einen Ort zum Wohnen gefunden. / Eine Einzimmerwohnung im Ekebyhaus oben, direkt an der Strasse.] Zur Weltachse (axis mundi) im Erzählkosmos Tunströms vgl. Fn. 34 in Kap. 2.1 sowie eine zentrale Stelle in Guddöttrarna, wenn der Erzähler Jacob von Hans-Cristian berichtet: „ En häftig dialog utspelas på en punkt där kroppens yttersta känselspröt förlorar sig och söker hänga fast vid det som flyr, på en punkt, som kan placeras rakt ovanför prästgården, världens centrum. “ (DHG: 230) [Ein heftiger Dialog entspinnt sich an einem Punkt, wo die äußersten Fühler des Körpers sich verlieren und versuchen sich anzuheften an dem, was flieht, an einem Punkt, der exakt über dem Pfarrhof platziert werden kann, dem Zentrum der Welt.] 23 Eingemittet auf dem Cover von De heliga geograferna ist das Pfarrhaus von Sunne, dahinter die Dorfkirche, auf dem Cover von Guddöttrarna ist am rechten Rand noch knapp die linke Hausecke des Pfarrhauses erkennbar; auf beiden überragt die 1888 eingeweihte neugotische Kirche von Sunne ( „ Frykdalens domkyrka “ ) die Dorfansichten. Die Abbildungen auf den Umschlägen beruhen auf Reproduktionen von Bildern des schwedischen hyperrealistischen Malers Tage Åsén (*1943). 24 Eine Chiffre für verschiedene Stimmen. Hier Jacob „ Adept 1 “ . ‚ Jacob ‘ fungiert als Kippfigur (narrativer Ambiguität). - Siehe das Lemma ‚ Adept ‘ in SAOB, spez. unter ADEPT 2) und 3). 2): „ person, som är invigd i någon för mängden hemlig lära l. orden. “ [Person, eingeweiht in eine für die Menge heimliche Lehre oder Wörter). 3): „ person, som är invigd o. tillhör lägre grad af en hemlig orden “ [Person, die eingeweiht ist und einem niederen Grad eines heimlichen Ordens angehört]. „ Adept 1 “ , Jacob Schwartz entspricht speziell der unter 2) gegebenen Definition. Das Kind Jacob Wermelin, „ Adept 2 “ , erfüllt ebenso die Kriterien der beiden Definitionen, nur ist es ihm (noch) nicht bewusst, durch seinen Spracherwerb und dank seinen weit offenen Ohren befindet es sich fortwährend in einem Prozess der „ Einweihung “ in die Wörter und deren Gebrauch. Unter ADEPT 1) steht in SAOB: „ (fullärd) guldmakare “ [ausgelernter Goldmacher]. Vgl. http: / / www.saob.se/ artikel/ ? seek=adept&pz=1#- U_A1_56822 (abgerufen am 11.08.2021). - Wahrig, Deutsches Wörterbuch (1980: 291) erläutert ‚ Adept ‘ wie folgt: „ Meister seines Fachs, Eingeweihter; dessen Jünger, Schüler, Gehilfe [< lat. adeptus ‚ wer etwas erreicht hat ‘ ] “ . Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 157 postpartalen Depression (PPD) 25 , was sie abwechselnd verstummen oder „ in Zungen sprechen “ lässt. Das erschwert die Kommunikation; Paula und Hans-Cristian sprechen nicht (mehr) dieselbe Sprache. Wörter verlieren ihre Bedeutung oder erhalten eine magische, ungewöhnliche Macht. In ihren Dialogen werden sie hinterfragt, aber auch reflektiert und auf die Probe gestellt in selbstreflektierenden Passagen der Erzähler-Instanz. Die Gründung von Sunnes Geografiska Sällskapet (SGS) verdankt sich der Initiative des visionären Dorfmetzgers Georg Johanesson. Über die Verkaufstheke seines Geschäfts hin wirbt er den neuen Pfarrer als Vorsitz (schwed. ‚ ordförande ‘ : Wortführer) der Gesellschaft an. Im vierten der insgesamt neun Kapitel, „ Sunnes Geografiska Sällskap “ 26 werden die Mitglieder dieser einzig aus Männern bestehenden Vereinigung namentlich aufgeführt. Es sind dies nebst Pfarrer Wermelin und Metzger Johanesson: der ehem. Ju-Jitsu-Lehrer Benjamin Backe-Bengtsson, Liljebror Svensson, Gendarm Jacob Jacobson, Daniel Törnfelt (der Brandstifter), Buschauffeur Klas Jonsson, Håkan Säverud, Spielwarenhändler Sigurd Videman und Walter Bengtsson und alle anderen. (vgl. DHG: 121) Argwöhnisch beobachtet Evangelist Bengtsson den feierlichen Gründungsakt vor Sunnes Kirche, worauf Hans-Cristian ihn „ zur Geburtsfeier “ (DHG: 122) dazu lädt. Paula kehrt zur selben Stunde mit ihrem neugeborenen Sohn Jacob in den Armen nach Hause und versteht nicht, dass ihr Hans-Cristian ausgerechnet jetzt den Vorsitz der SGS angenommen hat. Die (Ehe-)Frauen der „ heiligen Geografen “ arbeiten, zeittypisch für die Rollenteilung damals im Hintergrund der Gesellschaft, deren Satzung die Verbreitung der Geografie der Welt an vorderster Stelle anführt; die Vereinsfahne, genäht von Georg Johanesson, ist „ blå, gul och grön: himlen, solen och jorden. “ (DHG: 123) [blau, gelb und grün: Himmel, Sonne und Erde.] Das sind auch die Farben von Brasiliens Nationalflagge. Ihre Mitglieder erinnern in ihrer Kauzigkeit an die „ Kavaliere" von Selma Lagerlöfs Gösta Berlings Saga. Tunströms Pfarrer Wermelin samt den Sonderlingen der SGS sind eine positive Kontrafaktur zu Lagerlöfs Pfarrer Gösta Berling und seinen Trinkkumpanen. Während Lagerlöf Geschichten vergangener Zeiten (wieder-)erzählt, gestaltet Tunström mit DHG und GUD eine postfaktische Utopie, in deren Innerstem sich das Gesicht einer von männlicher (Sprach-)Gewalt und Logik befreiten Gesellschaft abzeichnet. Die beiden Narrative teilen sich den Ort der Handlung: die Wälder, Seen und Dörfer von Sunne und Umgebung. Die Einleitungssentenz von Unterkapitel 9 in „ Sunnes geografiska sällskap “ (Kapitel 4 von De heliga geograferna) „ Det var redan kväll när Hans Cristian äntligen stod i predikstolen “ (DHG: 117) [Es war Abend, als Hans-Cristian endlich auf der Kanzel stand], paraphrasiert die Anfangsworte von Gösta Berlings saga „ Äntligen stod prästen i predikstolen “ (Endlich stand der Pfarrer auf der Kanzel) 27 . Mit Lagerlöfs Klassiker aben- 25 DHG: 150: „ Graviditetspsykos, lactations - eller amningspsykos “ [Gestationspsychose, Lactations - oder Stillpsychose], lautet die Auskunft des Arztes. 26 Hat möglicherweise die Société des Amis du Muséum in Paris Modell gestanden für Sunnes Geografiska Sällskapet? Vgl. hierzu Lévi-Strauss (1978: 10). Lévi-Strauss ’ Reisebericht (ins Innere Brasiliens) Tristes tropiques von 1955 ist in leicht gekürzter Ausgabe in Schweden bereits 1959 als Spillror av paradiset [Splitter vom Paradies] erschienen und dürfte dem Autor, der das Studium der Ethnographie zu ergreifen angab, bekannt gewesen sein: vgl. PRÄ: 240: „ Etnografi, det verkar lätt “ [Ethnographie, scheint einfach], sagt Göran zu Lars. 27 Schwedisch (Lagerlöf 2013: 5). Deutsch (Lagerlöf 2015: 5, in der Neuübersetzung von Paul Berf ). Das in Schweden erstmals 1891 vollständig erschienene Buch war im deutschsprachigen Raum lange als Gösta Berling oder Die Sage von Gösta Berling bekannt. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 158 4 EPILOG teuerlicher Begebenheiten, haben Tunströms Romane deren „ Riesenbienen der Fantasie “ 28 gemein. Thomas Steinfeld sieht (im Nachwort zur Neuübersetzung): „ [i]m Wechsel der Genres entfaltet sich eher eine Landschaft, als dass darin eine Handlung erzählt würde “ (Lagerlöf 2015: [514]). Dies gilt ebensosehr für Tunström. Auch seine Erzählerstimme feiert Värmland als ‚ literarische Landschaft ‘ 29 . Tunströms Prägung durch die Ikone Lagerlöf war ihm eine Bürde 30 , von der er sich, indem er sie mit Ehrfurcht und Schalk „ übermalte “ , losschrieb. Im Zentrum, folglich im Kapitel fünf der insgesamt neun Kapitel von De heliga geograferna, steht - wie die ruhende Nabe im Erzähl-Rad - das Kapitel „ Paula “ . Umklammert wird der Roman an seinem (antizipierenden) ‚ Anfang ‘ wie an seinem (retrospektiven) ‚ Ende ‘ von einem identisch betitelten Kapitel „ Adepten “ [Der Adept]. Die Zeitachse der Narration verläuft proleptisch, analeptisch, achronisch, anarchisch. In „ Adepten [1] “ (Kapitel 1) spricht der gut 20-jährige Ich-Erzähler Jacob (Schwartz), der durch das Hafenviertel von Piräus irrt, gleichermaßen auf der Suche nach seinem verstorbenen Vater wie nach seiner eigenen Identität; die erzählte Zeit bezieht sich auf Augenblicke in den frühen 1960er-Jahren. In „ Adepten [2] “ (Kapitel 9) repetiert das fünfjährige Kind Jacob (Wermelin) die traumatisch-dramatischen Erlebnisse im elterlichen Pfarrhaus von Sunne in den Kriegstagen und -nächten gegen Ende des zweiten Weltkrieges; die erzählte Zeit darin schildert ein Moment im Jahr 1945. Kapitel 8 „ Det heliga rummet “ [Der heilige Raum] fungiert als ‚ Leseanleitung ‘ . Einem Ouroboros 31 ähnlich - dessen Kopf und Schwanz wie die Zahl 8 ‚ sich beißen ‘ - treffen 28 Die Erzählerin verabschiedet sich im letzten Satz des Romans vom „ Liebe[n] Leser, muss ich nicht das Gleiche sagen? Hier habe ich nun die Riesenbienen der Fantasie Jahr und Tag um uns schwärmen lassen, aber wie sie in den Korb der Wirklichkeit kommen sollen, damit werden sie wahrlich ihre liebe Mühe haben. “ (Lagerlöf 2015: [514]) 29 Zur Definition, Kartierung und Analyse ‚ literarischer Landschaften ‘ siehe Piatti (2008). Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. 30 Bördan heißt auch Teil 1 in Tunströms Selma-Lagerlöf Hörspiel-Triptychon, bestehend aus Bördan, Stollen [Der Spinner], Livets historier förbi, [An den Geschichten des Lebens vorbei] produziert von Sveriges radio, 1982 - 1988. In Bördan holt Autor Tunström Kollegin Lagerlöf auf ihrem Hof Mårbacka ab, lädt sie (wie ein Kind) auf seinen Rücken, unterhält sich mit ihr über ihre Literatur, spricht ihr Bewunderung aus, nennt seine Vorbilder (Arthur Rimbaud, Anaïs Nin, Hermann Hesse), während er sie, vorbei an der Kirche Sunnes, hinauf auf den Aussichtspunkt Tossebergsklätten (im Buch: Gurlitta klätt), den „ Hausberg “ von Sunne trägt, wo er sie kurz vor dem Gipfel erschöpft absetzt. Menschen, die ihn mit Selma am Rücken unterwegs sahen und verdutzt stehenblieben, erklärt er, er trage nicht Selma, sondern Birgitta Trotzig oder seine Großmutter. Am Ende fragt ihn Selma, wer ihn beauftragt habe, sie nach oben zu tragen? „ Die junge Literatur “ , erwidert Göran und bemerkt selbstironisch: Man hätte wohl besser und der Zeit gemäßer jemanden mit Autofahrkenntnissen gewählt. Mit dem Attribut ‚ zeitgemäßer ‘ reiht sich der Autor stilistisch in die Generation Lagerlöfs ein. Das liebevoll gestaltete Porträt Lagerlöfs auf dem Weg zum Parnass Värmlands zeugt von ihrem großen Einfluss auf sein Schaffen, ist ebenso Selbstporträt: an Lagerlöf hatte Tunström schwer zu tragen, andere Vorbilder waren ihm näher. Das Doppelporträt „ Selma Lagerlöf “ findet sich fast textgleich mit dem Radiohörspiel in Författarnas litteraturhistoria 2 [Die Literaturgeschichte der Schriftsteller 2] (Ardelius/ Rydström 1978: 225 - 234). 31 Das symbolische „ Tier “ Ouroboros, der „ Selbstverzehrer “ , wörtlich „ Schwanzverzehrer “ , (aus Gr. ourá „ Schwanz “ und bóros „ verzehrend “ ) steht für den Prozess der Erneuerung und Wiederkehr. Das mystische Schlangentier hat in der Geschichte der Alchemie allergrößte Bewandtnis. Vgl. Nietzsches „ Alles ‚ es war ‘ wird wieder ein ‚ es ist ‘ . Allem Zukünftigen beißt das Vergangene in den Schwanz. “ (KSA Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 159 „ Adept 1 “ Jacob Schwartz und „ Adept 2 “ Jacob Wermelin aufeinander. In diesem ‚ heiligen Raum ‘ trifft die Hauptfigur - das polyvalente Erzähler-Ich - auf sich selbst, gerät in einen (inneren) Dialog mit sich, fällt sich ins Wort. 32 ‚ Anfangs ‘ - und ‚ Schluss ‘ -Kapitel schließen sich kurz und gehen eine narratologische Verbindung ein. Die Romanstruktur ist affin zum Möbiusband der Kompositionslogik von En prosaist i New York. Dass die Ich-Osmose 33 sich im Kapitel 8 vollzieht, findet ihre Entsprechung in der Romankomposition. In der Zahlensymbolik steht die (liegende) Acht für Unendlichkeit, Unauflösbarkeit, endlose Wiederkehr. Überblendete Erzählstränge und -ebenen dominieren. Lineare und kreisförmige Zeit alternieren, lavieren, werden zum Jetzt, zum mystischen Nu: „ Der Kreis ohne Anfang und Ende das ist die Formel “ , schreibt Gunnar Ekelöf in der Suite (aus Vägvisare till underjorden - Führer in die Unterwelt) „ Novisen i Spálato 1 - 6/ 7/ 6 - 1 “ . 34 Poetologisch wegweisend ist seine Stimme im Hintergrund beider Romane wirksam. Abb. 7: Aus der Chrysiopeia der Alchemistin ‚ Cleopatra ‘ 35 Das Romangeschehen wird in Rückblenden erzählt: Ausgehend von einem ‚ Jetzt ‘ in Adepten [1] führt es über neun Kapitel in einer idiochronologischen Gegenbewegung 10: 139, Nachgelassene Fragmente 1882 - 1884). - Michael Schödlbauer spricht vom „ temp-oralen “ Charakter des Ouroboros: Psyche - Logos - Lesezirkel. Ein Gespräch selbsdritt mit Martin Heidegger (vgl. Schödlbauer 2000). 32 Das ist die Außenansicht; psychologisch gelesen spricht in dieser Sequenz ein ‚ Ich ‘ mit seinem ‚ Selbst ‘ . Vgl. dazu Nelly Sachs ’ Gedicht „ Bin in der Fremde / die ist behütet von der 8 / dem heiligen Schleifenengel / Der ist immer unterwegs / durch unser Fleisch / Unruhe stiftend / und den Staub flugreif machend -“ . Siehe Sachs (1971: 67, im Zyklus Glühende Rätsel). 33 Vgl. August Strindberg in Tjänstekvinnans son im Kap. X: Karaktären och Ödet [Charakter und Schicksal]: „ Jaget är icke något ett, självt; Jaget är en mångfald av reflexer, ett komplex av drifter, begär, somliga undertryckta då, andra lössläppta då! “ (SV 20: 166-167) [Das Ich ist nicht ein Selbst; es ist eine Vielfalt von Reflexen, ein Komplex aus Begierden, Trieben, einige hier unterdrückt, andere dort losgelassen! ]. (FSA 4: 190 - 191) 34 Deutsch von Klaus-Jürgen Liedtke. Mit Ekelöfs Worten (in Strophe 5 im hinteren Teil der an der 7 „ gespiegelten “ Suite): „ Cirkeln som inte har början och slut är formeln “ (Ekelöf 1995: 100). 35 Abbildung in: Apotheker/ Simon Sarkadi (2011: 6). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 160 4 EPILOG an das ‚ Damals ‘ in Adepten [2]. Im Kapitel 5, „ Paula “ , mitten im Erzählfluss, wird das Kontinuum der (erzählten) Zeit unterbrochen. Das Kapitel zeichnet sich durch die Momente Tod und Geburt, damit durch Zeitlosigkeit, Zeitenden und -anfänge, aus. Es vereinen sich darin Hans-Cristian und Paula zum ersten Mal seit Jacobs Geburt wieder im Liebesakt (nebst dem Schweigen die allerintimste Kommunikation), das Kind des Gemeindearbeiters „ Bältrosen “ ertrinkt, der wiederholt von Paula an Hans-Cristian herangetragene Wunsch, er möge den Anfang der Schöpfungsgeschichte in verschiedenen Sprachen vortragen, geht in Erfüllung. Der Anruf dieser Emanation hebt für einen Augenblick die Zeitläufte in eine unvorstellbare Vor- oder Außerzeitlichkeit. All diese Ekstasen der chronometrischen Zeitordnung sind Ekphrasen für ‚ Nullpunkte ‘ , Neubeginn, Neuordnung. Die Abbildung des Ouroboros ist oft mit der griechischen Inschrift „ Hen to pan “ versehen. Eine Bemerkung dazu. Die Formel der alchemistischen Einheit „ Hen to pan / Eins ist alles “ steht für die kosmische Einheit. In Guddöttrarna erscheint dieser Gedanke zweimal, beide Male in Form einer Allusion auf das Gedicht Gunnar Ekelöfs D ī w ā n över fursten av Emgión 36 (GUD: 63 37 und 114 38 ). Die beiden Stellen in Guddöttrarna korrespondieren über die Zwiebel-Metapher für das Universum mit dem Palindrom „ DU ÄR DET. DET ÄR DU “ (DHG: 233) [DU BIST DAS. DAS BIST DU], was Jacob Wermelin (Adept 2), entschwunden in eine andere Zeit- und Raumdimension, in einer traumhaften Sequenz am Sternhimmel zu lesen bekommt. Als gemeinsamer Intertext der Stellen von Guddöttrarna und De heliga geograferna fungiert Strophe 2 aus Ekelöfs D ī w ā n, wenn es da heißt: Jag hörde i drömmen: / - Ḥ ab ī b, vill du ha denna lök / eller bara en skiva? / Det föll över mig en stor tveksamhet / Denna gåtas fråga / var mitt livs fråga! / Ville jag ha delen framför det hela / eller det hela före delen? / Nej, jag ville ha båda / såväl delen av det hela som det hela / och att ingen stridighet funnes i detta val. (Ekelöf 1991: 12) Ich hörte im Traum: / - Ḥ ab ī b, willst du die ganze Zwiebel / oder nur eine Scheibe? / Da überkam mich ein großer Zweifel / In diesem Rätsel / lag meines Lebens Rätsel! / Wollt ich den Teil? nicht das Ganze? / oder das Ganze statt eines Teils? / Nein, beides wollt ich, / den Teil, und das Ganze / und daß keine Zwistigkeit wär bei der Wahl. (Ekelöf 1991: 13) Eine Synopsis zeigt, dass sechs der neun Kapitel ein Motto tragen. Die Kapitel 7 bis 9 tragen kein Motto. Kapitel 1: Adepten [1]. César Vallejo. Aus: ohne Quellenangabe Kapitel 2: Intåg i sommarhagen. Aus: Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane Kapitel 3: De som bar fram sina namn. Aus: Martin Buber, Ich und Du Kapitel 4: Sunnes geografiska sällskap. Aus: Charles Darwin, Reise um die Welt 36 Mit D ī w ā n über den Fürsten av Emgión eröffnet 1965 Gunnar Ekelöf (1907 - 1968) sein visionäres Spätwerk, die „ Diwantrilogie “ , wozu Sagan om Fatumeh (1966) und Vägvisare till underjorden (1967) gehören. Auch Tunströms De heliga geograferna (1973) und Guddöttrarna (1975) aus der Sunnetrilogie ist ein Werk der Visionen; beiden Trilogien gemeinsam ist die Darstellung einer starken und zerbrechlichen Frauenfigur. - Lena Cronqvist hat Ekelöfs Spätwerk der ‚ Diwantrilogie ‘ in einer bibliophilen Ausgabe illustriert, vgl. dies. (2006). D ī w ā ntrilogin. 37 „ Vet du att universum är en lök. “ [Weißt du, dass das Universum eine Zwiebel ist.], fragt Paula (rhetorisch) Hans-Cristian. 38 Paula: „ Ja måste ha delen och det hela. - [/ ] H.-C.: „ Du talar som de gamla mystikerna. “ [Paula: Ich muss den Teil und das Ganze haben. - [/ ] H.-C.: Du sprichst wie die alten Mystiker.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 161 Kapitel 5: Paula. Aus: Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane Kapitel 6: En missionsresa. Aus: Selma Lagerlöf, Gösta Berlings saga Kapitel 7: Dopet. (Kein Motto) Kapitel 8: Det heliga rummet. (Kein Motto) Kapitel 9: Adepten [2]. (Kein Motto) Dass die Kapitel 7 und 8 kein Motto tragen, hat seine eigene Logik: Die Taufe und Der heilige Raum bedürfen keiner „ zusätzlichen “ Worte; sie stehen unter der Schirmherrschaft des wortlosen Mysteriums (göttlicher Liebe). Dasselbe gilt für Kapitel 9 mit „ Adepten “ [2] - dem Kind Jacob Wermelin als Ich-Erzähler. Es lebt in (s)einer stark vorsprachlichen Welt, ohne Schrift- und Literatur-Tradition. Kapitel 9 ist somit stark durch O(h)ralität 39 geprägt. Nicht eine möglichst vollständige Analyse aller ord/ Wort-Stellen, wie dies für Prästungen geleistet wurde, sondern die Besprechung einer Auslese von Wort-(ein)sätzen soll weitere Erkenntnisse zutage fördern. Der Fokus liegt in diesen beiden Romanen - für Tunströms Poetik des Wortes Texte von grundlegender Bedeutung - auf dem Segment Wort und seiner kontextuellen Relation. Eine Worttraube (Vignette) 40 zeichnet den Anfang von De heliga Geograferna. Vinjett: Skilj mig från Ängeln, och jag blir frisk Skilj mig från Ängeln, och jag blir sjuk Lätt och svårt är mitt liv med henne (DHG: [7]) Ihr Ort ist der Raum zwischen Widmung und Text. Als Quellenangabe steht: „ Gunnar Ekelöf Nunnan i Spaláto “ [Die Novizin in Spaláto]. Die Angabe ist pikaresk, irritiert, rüttelt wach, statt zu erklären. Die Zeilen stammen dem Wortgerüst 41 und dem ersten Augenschein nach aus dem Mittelteil von Ekelöfs Suite Novisen i Spálato 1 - 6 / 7/ 6 - 1, doch weisen sie einen gewichtigen Unterschied auf. Mit ein paar operativen Eingriffen hat ihr Autor Ekelöfs Zitat 39 Zum Begriff ‚ O(h)ralität ‘ (bei Robert Walser) siehe Utz (1998: 243): „ ohne akustische Sensibilität keine Mündlichkeit [ … ] ohne stimmhaftes Schreiben kein offenes Ohr für die Stimmen der Außenwelt. “ 40 ‚ Vignette ‘ kann vieles bedeuten. Das Diminutiv von frz. ‚ vigne ‘ (Weinrebe) war anfänglich das Wort für die Kennzeichnung einer bestimmten Rebsorte und wurde so zum ‚ Etikett ‘ der Weinflasche. Im Druckwesen auf Randverzierungen übertragen, erhält es die Bedeutung ‚ Siegel ‘ oder ‚ Aufkleber ‘ . Im Buchdruck avanciert es zum Titelblatt, zur Titelvignette, oder meint die ornamentale Verzierung als Beigabe am Anfang oder Ende eines Kapitels. In der Porträtmalerei bezeichnet Vignette ein kleines Gemälde in ovaler Form, dessen Bild zu den Rändern hin unschärfer wird. In der analogen Fotografie erhielt es die Bedeutung ‚ Maske ‘ (zur Wahl oder zum Verdecken bestimmter Ausschnitte beim Kopieren eines Negativs.) 41 Die Vers-Struktur dieses Mittelteils im Gedicht Ekelöfs, woher Tunströms „ Zitat “ stammt - 1 - 6 / 7 / 6 - 1 - findet ihr Pendant in der Spiegelsymmetrie 1/ 5 / 9 (Adepten/ Paula/ Adepten) der Erzählanlage seines Romans DHG. Die gewichtige Strophe 7 in der Mitte, mit Allusion auf „ Ett oskrivet blad / Ein unbeschriebenes Blatt “ (Ekelöf 1995: 94 - 95) oder die Zeilen (des männlichen Dichter-Ichs) „ Utan ord byta blickar och gå sina vägar / kan vara mer än att byta löftesringar. - Okända! / Wortlos Blicke wechseln und seiner Wege gehn / kann mehr sein als das Wechseln von Ringen. - Unbekannte! “ (Ekelöf 1995: 95-96) sind die ‚ Vorlage ‘ in „ Paula “ (5) für die, ihre Sprache (er-)lösenden Liebesworte, die sie nach dem Liebesakt mit Hans-Cristian auszusprechen vermag (vgl. DHG: 137) oder die Prädominanz von ‚ weiß ‘ (für den Schriftraum resp. das unbeschriebene Blatt), um nur zwei Gemeinsamkeiten zu nennen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 162 4 EPILOG fundamental umgeschrieben. In Ekelöfs Vägvisare till underjorden von 1967 nämlich lauten sie so: Hon sade: - Skilj mig från Ängeln, och jag skall bli frisk Skilj ängeln från mig, och jag blir sjuk Lätt och svårt är mitt liv med honom (Ekelöf 1995: 88) Sie sagte: - Scheide mich von dem Engel, und ich werde genesen Scheide den Engel von mir, so werde ich krank Leicht und schwer ist mein Leben mit ihm 42 (Ekelöf 1995: 89) Tunströms Vignette ist also gemäß Autorintention sowie durch das Attribut „ Vinjett “ als ein Bild aus Worten anzusehen, als ekphrastische Miniatur. Dazu im Folgenden eine Gedankenskizze, wie sie gelesen werden könnte. 43 Ihre Umschreibung tradiert einen verrätselten Prä-text. Es ist darin eine Leseanweisung für das ganze Buch enthalten, die eine Gültigkeit beansprucht bis in seine Fortsetzung hinein: Guddöttrarna. 44 Zur Verdeutlichung und Erinnerung zuerst eine Übersetzung: Vignette: Scheide mich vom Engel, und ich werde krank Scheide mich vom Engel, und ich werde gesund Leicht und schwer ist mein Leben mit ihm 45 42 Die ganze Suite Schwedisch/ Deutsch Novisen i Spálato 1 - 6/ 7/ 6 - 1 / Die Novizin in Spálato 1 - 6/ 7/ 6 - 1 (Ekelöf 1995: [72] - 113). 43 Auch Anders Tyrberg bemerkt das angebliche Zitat Ekelöfs und charakterisiert, ohne dies näher zu analysieren, Tunströms Schriftstellerei als „ unterirdische Reise “ (Tyrberg 2002: 150): „ Allusionen på Ekelöfs diktsamling signalerar ett centralt motiv inte bara i De heliga geograferna utan i hela författarskapet: Tunströms narrativa projekt kan i flera avseenden liknas vid en underjordisk resa. “ [Die Anspielung auf Ekelöfs Gedichtsammlung signalisiert nicht nur ein zentrales Motiv in Die heiligen Geografen, sondern der ganzen Verfasserschaft: Tunströms narratives Projekt kann in mehrfacher Hinsicht mit einer unterirdischen Reise verglichen werden.] Mit „ Schöpfungsmythos “ und „ Taufritus “ (in Bezug auf Tunströms ganze Verfasserschaft) bezeichnet Tyrberg die beiden Katalysatoren und Grundkonzepte im Werk Tunströms, die mit dem Werden im Wort Gemeinsamkeiten aufweisen. Dass Tunström sich erkühnt, diese Umschreibung - mit der er „ sich “ in Ekelöfs Dichtung und somit zugleich in den Kanon von Schwedens Literaturgeschichte einschreibt - seinem verstorbenen Kollegen zuzuschreiben und „ seine “ Worte gar an den Buchanfang zu platzieren, weist ihn als Schriftsteller aus, der - gerade weil er mit (wort-)spielerischem Ernst aufschneidet - seine Lesenden für mündig genug hält, diesen Schwindel zu entschlüsseln: Sie brauchen ihn nur beim Wort zu nehmen und seine existentiell grundierte Auffassung von Literatur als eines dialogos auf Augenhöhe mit den Lesenden ebenso wie mit der Literaturgeschichte zu teilen. 44 So erklärte sich auch, weshalb GUD keine Paratexte aufweist. Die Widmung des Buches „ Till Lena och Linus “ [An Lena und Linus] darf wohl ebenso verstanden werden und somit für das Diptychon DHG- GUD als Ganzes gelten. Von Tunströms Romanen ist DHG der einzige mit einer Widmung. Vgl. dazu die solitäre Widmung Ahlins „ Till Gunnel “ [Für Gunnel] an seine Ehefrau in seinem Roman Fromma mord. 45 Das weibliche Personalpronomen ‚ henne ‘ (in der 3. Pers. Sing.) kann, bedingt durch das maskuline Genus von dt. ‚ Engel ‘ , nicht analog zum schwedischen Original, mit ‚ ihr ‘ wiedergegeben werden. Schwed. ‚ ängel ‘ (mit Genus utrum) jedoch wird, wie ‚ människan ‘ / der Mensch, in der pronominalen Wiederaufnahme genderunspezifisch mit dem femininen Geschlecht versehen. Ekelöfs ‚ honom ‘ hingegen macht gerade die Ausnahme. - Das Zwischenwesen ‚ Engel ‘ / ‚ ängel ‘ als Bote zwischen Göttlichem und Menschlichem gilt kulturell und religionsgeschichtlich weithin als geschlechtsneutral und körperlos. Vgl. dazu den Eintrag ‚ Engel ‘ (RGG 1998 - 2007, Bd. 4: 1279 - 1290). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 163 Die Vignette appelliert an ein ‚ Du ‘ , welches das ‚ Ich ‘ übers Kreuz in Abwandlung zum Original entweder ‚ krank ‘ (Z. 1) oder ‚ gesund ‘ (Z. 2) mache. Mit einem Dreischritt und identisch mit dem Wortlaut von Ekelöfs Tertium mündet der Schlusssatz in einer Aporie. Beide Folgewege (der Separation), der ‚ gesunde ‘ wie der ‚ kranke ‘ , führen zu einem ‚ Gleichgewicht ‘ des Aushaltens: „ Leicht und schwer ist mein Leben mit ihm “ . Ekelöfs Engel ist ,männlich ‘ ( „ honom “ ), denn der Appell erfolgt von einer Sie ( „ Hon “ ). Das Objekt der Trennung in Tunströms Vignette ist ‚ weiblich ‘ ( „ henne “ ). Der Grund für diesen Genderwechsel soll gleich dargelegt werden. Durch diesen Wechsel stehen die drei Zeilen ebenfalls chiastisch zueinander. Bei Ekelöf erfolgt die Aufforderung durch eine Person, die Novizin. In Tunströms Appropriation steht hinter dem Appell keine Person, hier ‚ spricht ‘ ein Wort-Bild, eine Vignette aus Wörtern. Der ‚ Ort ‘ dieser Vignette ist der Raum zwischen Widmung und Text; ein Ort skripturaler Leere, ein Dazwischen auf einer unsichtbar sowie unbeschreibbar immateriellen Schwelle, die allein im Akt des Lesens ‚ aufscheint ‘ - als ‚ Stillleben ‘ aus Worten der Aporie. Diesem imaginären (Un-)Ort eignet Mehrdimensionalität, führt er doch nicht nur nach innen, ins Buch, vielmehr weist er nach außen, zum Buchcover und seinen paratextuellen Elementen inklusive Urheber. So gelesen fungiert die Vignette wie ein Talisman oder Zauberbild. 46 ‚ Außen ‘ kann sich zudem an die lesende Öffentlichkeit adressieren; in dem Fall wirkte die Vignette wie ein Siegel oder Schibboleth, eine Zugbrücke zwischen Leser und Buch. Mit Derrida „ wird [es] zu dem, was man erkennen und vor allem markieren können muß, um den Schritt zu tun, um die Grenze eines Ortes oder die Schwelle eines Gedichts zu überschreiten, sich rechtmäßige Wohnstatt in einer Sprache zu verschaffen. “ (Derrida 1996: 58) Besondere Beachtung verdient der angebliche Ort der Nonne (Nunnan): Spaláto, nicht Spálato (Split), wo Gunnar Ekelöf die Novizin erblickt hat, die ihn zum Schreiben des Gedichtes angeregt haben soll. Tunström brauchte nicht nach Split zu reisen, um „ seiner Novizin “ zu begegnen. Doch wie Ekelöfs Vägvisare till underjorden fundiert, so Anders Olsson, auch Tunströms Buch „ in der vielschichtigen Verkündung einer tiefen, reingebrannten Lebenserfahrung. “ (Ekelöf 1999: 205) Nach ‚ innen ‘ zielt es wie eine Gebrauchsanweisung, zeigt auf das Herz des Romans mit den unentwirrbaren Dependenzen und Ambivalenzen der Protagonisten Paula und Hans-Cristian, zeigt auch, wie diese beschaffen sind: leicht und schwer. Alles ist in der Schwebe. Für das Rätsel der Kohabitation mit einem Engel bietet sich keine (einfache) Lösung. Der Lebenstext wird, zuweilen genauso wie das, Ekelöfs Vägvisare till underjorden vorangestellte Motto Leonardo da Vincis, erst in umgekehrter Schriftrichtung lesbar, wenn einer seine gewohnte Lesart und Blickrichtung ablegt, umdreht. Um genau hundertachtzig Grad, so wie bei der dualistischen Unterscheidung gesund/ krank, die nach gängiger Sprachpraxis als diametrale Opposita gelten, obschon sie in Wirklichkeit eine Ganzheit sind. Ob als Schibboleth gedeutet oder als Talisman, in Tunströms Vignette sind Ekelöfs Worte unauflösbar verstrickt mit seinen. 47 Oder mit Bernhard Waldenfels gesprochen (im Kapitel 46 Vgl. dazu den Eintrag Talisman in Wahrig Illustriertes Wörterbuch der deutschen Sprache: „ [ … ] <arab. tilasm (Pl. tilisman) ,Zauberbild ‘“ , in: Wahrig-Burfeind (2004: 850). 47 Kettfaden in diesem Wort-Bild wäre die Autorangabe Gunnar Ekelöf; Schussfaden Nunnan i Spaláto, die von Tunström stammende, jedoch Ekelöf zugeschriebene Herkunft von dessen „ Zitat “ , somit die verspielt vertrackte Vignette: Enteignung, Aneignung, Zueignung in einem. Siehe dazu Gilbert (2014). Reprint, appropriation (&) literature. Appropriationen von 1960 bis heute. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 164 4 EPILOG „ Verflechtung von Eigenem und Fremdem “ ) aus seinem Buch Der Stachel des Fremden: „ Wer das Geflecht entflechten wollte, würde das Muster zerstören. “ (1990: 65) Mit der Analyse von ord/ Wort-Stellen jedoch wird nun das „ Geflecht “ etwas gelöst werden, um Einblick, wenn auch nicht bis in das „ Muster “ , so doch in die Wort-Ästhetik der beiden Romane zu gewinnen. 4.1.1 ord/ Wort-Stellen in De heliga geograferna Die generelle Fragestellung an die nachstehenden ord/ Wort-Stellen lautet: Lassen sich daraus Rückschlüsse auf Tunströms Verhältnis zum WORT Gottes ziehen? Die Präsentation der kommentierten Wort-Stellen ist hervorgegangen aus ihrer Zuordnung unter dem Aspekt der Matrix aus strukturellen und thematischen Kriterien. Die strukturellen Kriterien folgten den 4 Attributen, die eine ord/ Wort-Stelle aufweisen kann und mit den Ziffern 0 bis 3 belegt wurden. Das Attribut nach dem Gleichheitszeichen der Ziffer bezeichnet den Status der Wort-Stelle. 0 steht für neutral, 1 für idiomatisch, 2 für metaphorisch/ rhetorisch und 3 für sprachphilosophisch/ wortspielerisch. Zugleich sind die Stellen thematischen Kriterien unterzogen worden, nach dem Raster, ob die Textstelle eine intertextuelle Relation, eine sprachphilosophische Dimension oder eine theologischmystische Allusion impliziert. Grundsätzlich hat sich bei diesen Wort-Untersuchungen herausgestellt, dass Guddöttrarna fast ausschließlich „ neutrale “ ord/ Wort-Stellen aufweist. In De heliga geograferna dagegen gibt es nur wenige Stellen, die weder eine intertextuelle noch eine sprachphilosophische oder eine biblisch, religiös-mystische Text-Relation herstellen. Die gesammelten Resultate werden nun wiederum an ausgewählten 48 Beispielen dargelegt. Doch gilt es hervorzuheben, dass es Mischformen gibt. 4.1.2 beginnt gleich mit einer solchen, wenn die Anspielung auf Joyces ’ Ulysses mit der Fleischwerdung sich ‚ kreuzt ‘ oder intertextueller und religiös-mystischer Anteil sich überlagern. 4.1.2 Intertextuelle Relation Dass in den Belegen immer wieder Pfarrer Hans-Cristian zitiert wird, hat seinen Grund darin, dass die Hauptaufgabe jedes Dieners am Wort Gottes in dessen Verkündigung besteht, vorrangig im ‚ Wortgottesdienst ‘ , der christlichen Eucharistiefeier. In der heiligen Schrift, dem Evangelium nach Johannes, heißt es, „ das Wort, der Logos, wurde Fleisch “ ( Joh 1,14). So offenbart Pastor Hans-Cristian Wermelin in einer Passage (DHG: 87 - 89) Fleischermeister Georg Johanesson - der bis zur Aufgabe seines Berufes Fleisch verkauft hat - seine Neigung zum Schriftsteller, wenn er ihm sagt: „ Åh, jag har alltid önskat skriva en bok som börjar med de orden. Introibo ad altare Dei! “ 49 (DHG: 89) [Oh, schon immer wollte ich ein Buch schreiben, das mit diesen Worten beginnt. Introibo ad altare Dei! ] Es ist diese 48 Ausgewählt heißt auch: Neutrale Stellen wie bspw. „ Harald gick tillbaka mot prästgården utan ett ord. “ (DHG: 80) [Harald kehrte ohne ein Wort (zu sagen) zum Pfarrhaus zurück.] werden nicht kommentiert. 49 Der joycekundige Pfarrer Wermelin zitiert somit ein von Mulligan zitiertes Zitat. - Vgl. dazu Braungart (1996: 41 - 118: II. Begriff und Elemente des Rituals u. 119 - 138: III. Zur Hermeneutik des Rituals), der in seiner Studie Ritual und Literatur derartige Inter-Dependenzen in der Gattung Roman erforscht hat. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 165 Ambivalenz des Schrift-Gelehrten und heimlichen Schrift-Stellers Wermelin, die ihn zum Go-between, zum Verbindungsmann macht, der in beiden Welten des Wortes zuhause ist, der profanen der Literatur sowie jener der heiligen Schrift. Die vom Medizinstudenten Buck Mulligan dahingeträllerten Worte Introibo ad altare Dei, entnommen dem ‚ Stufengebet ‘ der katholischen Meßfeier, bilden den Auftakt zu Joyces Ulysses. ( Joyce 2004: 7) Die Anfangsworte aus dem Stufengebet des Missale Romanum werden beim Einzug in die Kirche, nach der Anrufungsformel des Antiphons „ In nomine Patris et Filii, et Spiritus Sancti, Amen “ , jeweils feierlich von einem Gottesmann deklamiert. Während Lebemann Mulligan solch käufliche Wort-Ware verspottet mit „ Denn dies, o geliebte Gemeinde, ist der wahre eucharistische Jakob: Leib und Seele, potz Blut und Wunden. “ (ebda.), hat Pfarrer Wermelin das wahre Wort, „ die Lehren der Kirche nie in Frage gestellt “ (DHG: 87), stattdessen bekundet er mit einem Wink auf Schleiermachers Lehre der ‚ schlechthinnigen Abhängigkeit ‘ des Menschen von Religion: „ Som präst i en bekännande kyrka bekänner jag att gud tillhör kroppen och vice versa. “ (ebda.) [Als Pfarrer in einer bekennenden Kirche bekenne ich, dass Gott dem Körper gehört und umgekehrt.] Damit rückt das fleischgewordene Wort Gottes ins Zentrum der Fragestellung. Zugespitzt formuliert: das WORT bedeutet nicht, sondern schafft (s)eine eigene Realität. DHG: 16: Då brast de ur mig, de bittraste orden jag visste: / - Kunskapen har inget centrum. Kunskapen har inget centrum … Da brachen sie aus mir [ Jacob Schwartz, Adept 1] hervor, die bittersten Worte, die ich kannte: / - Das Wissen hat kein Zentrum. Das Wissen hat kein Zentrum … Während ‚ Wissen ‘ (ob tradiert durch ein mündliches oder ein schriftliches Wort) bis ins hohe Mittelalter ein angebliches „ Zentrum “ hatte, 50 war diese Vorstellung spätestens mit Diderots Encyclopédie obsolet. 51 Epistemologie ist ein riesiges Feld, das sich die beiden Bereiche exaktes und empirisches Wissen teilen. Darum geht es auch an dieser Stelle: Erfahrung (Empirie) vs. Ratio (exaktes, messbares Wissen -> Wissenschaft). Die verwirrend (fieber-)traumartige Stelle liegt wie ein Fundament im Kapitel Adepten [1]. Von ihm, dem Adepten selbst - dem erwachsenen Jacob (Schwartz) - werden sie auch ausgesprochen. Er ist der Beobachter der motivischen Urzelle, des kardinalen Gegensatzes im Roman, der zur Verfahrensweise wird, indem Paula für ‚ Erfahrung ‘ und Hans-Cristian für ‚ Vernunft ‘ steht. Jacob „ der ältere “ kommt in der Séance in der „ Akademie von Alexandria “ (GUD: 16) 50 Dazu Wolf Peter Klein: „ Das göttliche Wort als zweite Person der Trinität avancierte damit in christlich-neoplatonischen Zirkeln unter verschiedenen Konnotationen zu einem wichtigen Ordnungs- und Verständigungstheorem. “ (Klein 1992: 62). Vgl. dazu Hans-Cristian, wie er durch Sigurd Videmans Zuruf „ Skål! “ (Prost) erkennt, dass „ diese Welt, in der das Wissen kein Zentrum hatte, sondern das Wort Prost die genau gleiche Bedeutung wie das Wort Gott. “ und „ diese Relationen [der Gleichheit] auch notwendig waren, um das Universum im Gleichgewicht zu halten. “ (DHG: 212.) Hier ist das „ universelle Lebensgesetz “ ‚ Wie oben, so unten ‘ herauszuhören, das Hermes Trismegistos und dessen Corpus Hermeticum zugeschrieben wird. In Goethes „ Daimon “ aus den fünf Stanzen von 1817 - übertitelt mit den allegorischen Grundmächten „ Daimon “ (Dämon), „ Tyche “ (Fügung), „ Eros “ (Liebe), „ Ananke “ (Zwang), „ Elpis “ (Hoffnung) - , klingt dieses „ Gesetz “ an. Vgl. Goethe (1965 b): „ Urworte. Orphisch “ (ebda.: 185 - 186, Erläuterungen: 483 - 486). - Zur Götter-Gestalt des Hermes Trismegistos siehe Ebeling (2005). Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. 51 Erschienen 1752 - 1771; vgl. dazu Kilcher (2003). Mathesis und poiesis. Die Enzyklopädie der Literatur 1600 bis 2000. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 166 4 EPILOG schmerzlich zu dieser Einsicht. Der Oberlehrer (Archididascalus) der Akademie hatte ihn soeben gelehrt: „ All kunskap är en väg till guld och gud. “ (ebda.) [Alles Wissen ist ein Weg zu Gold und Gott.] Er erklärt Jacob, dass er über diesen Befund nicht enttäuscht sein solle, denn „ die so genannte rationale Vernunft ist ein Schwindel. Sie ist gegen die Gesetze der Natur. Die Natur strebt nach Vollendung. Alles ist aus demselben Stoff. “ (ebda.) Jacob fleht ihn dennoch an, seine „ rationale Vernunft “ zurückzuerlangen. Archidascalus entgegnet ihm: „ Du willst deinen Vater zurückhaben. “ (ebda.; und nicht etwa ein Substitut, einen Glauben) Unzimperlich weist Archididascalus Jacob den Weg zur ‚ Wieder-erschaffung ‘ seines Vaters; drei Dinge brauche es dafür: „ Gespräche, Erinnerungsbilder, Konzentration “ (GUD: 18), die es mit der Methode der Überblendung oder Überschreibung zu kombinieren gelte: Eine Puppe 52 - ein „ unbeschriebenes Blatt “ - werde mit der Fotografie Vaters überblendet, um so eine ‚ Umstrukturierung ‘ , eine mentale ‚ Transplantation ‘ (eines alten Bildes) durch ein neues zu vollziehen. Die traumspielartige Szene ist eng mit dem Schreibprozess liiert. Und so betritt am Ende Jacob Schwartz (! ) „ einen blendend weißen Raum. “ (18) Die Katharsis nimmt ihren Lauf. Jacob wird den weißen Raum (des Papiers) mit (schwarzer) Tinte „ überschreiben “ , antizipiert die logische Lesart im Kontext, was der Erzähler gleich „ schreibend “ auch tut, wenn er mit der Überschrift zum nächstfolgenden Kapitel „ Intåg i sommarhagen “ 53 ein neues Blatt aufschlägt, das sich als vielschichtiges Palimpsest 54 erweist. DHG: 20: Närmare stranden, på rad i vattnet, sitter tre gummor och pratar, bara hucklena och de tandlösa ansiktena syns ovanför vattenytan. Stilla stickar de sina ord … Näher am Strand, in einer Linie im Wasser, sitzen drei Greisinnen und schwatzen, nur ihre Trachtenhalstücher ragen über die Wasseroberfläche. Still st(r)icken sie ihre Worte … 52 „ En docka är nämligen ett oskrivet blad “ (DHG: 18) [Eine Puppe ist nämlich ein unbeschriebenes Blatt], so Archidascalus. Nach Abschluss der Séance in „ Alexandria “ öffnet dieser ihm eine Tür „ und ich [ Jacob] stieg in einen blendenden weißen Raum. “ (18) Ist es die Tür zum Schreib-Raum des weißen Blattes Papier, worauf alle Erinnerung eines Schriftstellers Wort werden will, das, mit anderen Blättern zu einem Buch foliiert, sich (nachträglich) in die ominöse, mythenumwobene Bibliothek von Alexandria einzureihen begehrt? 53 In der Kapitelüberschrift klingt die Reverenz an den nationalromantischen Tondichter Wilhelm Peterson-Berger (1867 - 1942) an. „ Intåg i sommarhagen “ [Einzug im Sommerhorst] heißt das bekannteste Stück aus dessen Sammlung Frösöblomster. [Frösöblumen] (verhalten heitere Klavierstücke). ‚ Sommarhagen ‘ ist die mit Verzierungen von Paul Jonze (1883 - 1973) ausgestattete Villa des Komponisten und Musikschriftstellers auf der Insel Frösö, wo er von 1914 bis 1930 jeweils die Sommermonate zubrachte. Tunström zeichnet im Kapitel „ Intåg i sommarhagen “ in Pastor Wermelin einen spätgeborenen Romantiker, der gefühlsmäßig in Peterson-Bergers Musik lebt. - Das Kapitel ist mit Wortspielen versetzt (vgl. das verbale Vexierbild „ ÖL - STRÖM - MAT “ [BIER - STROM - ESSEN]; DHG: 41 - 45), verknüpft freieste chronotopische Assoziationen mit Schrift-, Lese-, Bibliotheks-, Bild-, Musik- und Theaterszenen so, dass ein ganzer Kommunikations-Cluster ensteht. Der Text ist ein veritables ‚ Konzert ‘ reduplizierter Sprachen und Körpersprachen und heterogener Manifestationen von Auto(r)-Referenzialität. 54 Palimpsestieren wird das in Skriptorien einst praktizierte Verfahren des Abschabens und Überschreibens eines meist biblischen Textes genannt (< gr. πάλιν palin „ wieder “ und ψάειν psaein „ reiben, (ab-)schaben “ ). Tunström lässt im Roman Tjuven/ Der Dieb den Protagonisten Johan auf einem erdichteten Pergamentblatt des Codex Argenteus - der in der Universitätsbibliothek von Uppsala verwahrten ‚ Silberbibel ‘ des Gotenkönigs Wulfila - die palimpsestische Buchstabenfolge „ undaro wlita mein anamma is wlits anar “ - „ Unter meinem Antlitz/ Bild gibt es ein anderes Antlitz/ Bild. “ (DDI: 311) aus „ dunklem Untergrund hell “ (310) dechiffrieren. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 167 Der Stabreim in „ Stilla sticker “ (sti - sti), sekundiert vom weicheren „ sina “ (si), hört sich als ein Flüstern von „ Nornen “ an: sti-sti-si - ist eine Verschwörung im Gange? Der gnomische Nachsatz, der gleich auf die Auslassungszeichen folgt, moduliert die Wortmusik von „ Stilla sticker de sina ord “ 55 in ein Licht: „ Det finns i inre dag och livsböcker händelselösa sidor som bara är ljus och som belyser allt det som tidigare eller senare berör oss, ett ljus som plötsligt genomtränger de vardagligaste handlingar och upplöser tiden: ett vitt blad som vänds i mörker. “ (DHG: 20 - 21) Es gibt in inneren Tage- und Lebensbüchern ereignislose Seiten, die nur Licht sind und die alles beleuchten, was uns früher oder später berührt, ein Licht, das plötzlich die alltäglichsten Handlungen durchdringt und die Zeit auflöst: ein weißes Blatt, das sich im Dunkeln wendet. Von einer unfassbaren Dimension der Leere sowohl wie der ‚ Weiße ‘ sind „ ereignislose Seiten, die nur Licht sind “ . Der Nachsatz glossiert das Stillleben der st(r)ickenden Frauen zum Abbild der drei Nornen Urd, Verdandi und Skuld, die den Lebensfaden spinnen, indem sie Buchstaben „ skáro á skíði “ ([Runen] ins Scheit ritzten). Der Autor übermalt im Roman Strophe 20 der V ǫ lospá, der „ Weissagung der Seherin “ , verlebendigt 56 damit die Stelle aus dem Götterlied der Lieder-Edda (vgl. Neckel 1962: 5; Häny 1987: 14): Þaðan koma meyjar margs vitandi, / þriár, ór þeim sæ, er und þolli stendr; / Urð héto eina, aðra Verðandi - skáro á skíði - , Skuld ina þriðjo; / þær l ǫ g l ǫ gðo, þær líf kuro / alda bornom, ørl ǫ g seggja. Von dort 57 kommen drei / vielwissende Jungfrau ’ n, / aus dem Wasser, / das unter dem Baum rinnt; / Urd hieß man die eine, / die andre Werdandi / und Skuld die dritte - / sie ritzten ’ s ins Scheit ein - / die schufen das Schicksal / den Menschenkindern, / bestimmten, wie lange / ihr Leben währt. Indem Tunström seinen allwissenden Erzähler nach der Ekphrase der drei Alten am See (Fryken) über „ Tag- und Lebensbücher “ extemporieren lässt, wird das Palimpsest zusätzlich potenziert, die Papiermetapher des Wenden des Blattes koaliert so mit dem Spinnen des Schicksalsfadens der Nornen. 58 Zusammen bilden sie das Proszenium für die bildhafte Eingangsszene der Protagonisten 59 im Buch: 55 „ Sticka ord “ scheint eine originäre Erfindung des Autors Tunström zu sein. Recherchen in Nachschlagewerken ergaben keine Hinweise auf lemmatisierte Belege für ‚ sticka ord ‘ . SAOB listet sechs verschiedene Verben ‚ sticka ‘ auf darunter ‚ sticka v.2 ‘ mit der Grundbedeutung ‚ stechen ‘ , das für das Binden von Büchern wie auch für das Zusammennähen von Textilien gebraucht wird. In „ Stilla stickar de sina ord “ schwingt diese Bedeutung mit. Das stabreimende Stillleben dieser drei unsichtbaren „ Schicksalsgöttinen “ ist im Grunde eine phonologische Ekphrasis. 56 Das Palimpsest transformiert sie zudem vom Ritzen (der Schriftlichkeit der Nornen) ins Sprechen (der Mündlichkeit der drei Alten), von der Schreibzur Sprech-Szene. Sprache (logos) - bereits überaus „ präsent “ in den vielen Dialogen im Roman - erlangt so eine weitere, metonymisierte (profane) ‚ Fleischwerdung ‘ . 57 = von der Esche Yggdrasil, dem „ immergrünen “ Weltenbaum. 58 Der Mythos vom Ende (der Welt) und (deren) Neuanfang, berichtet explizit auch Die Offenbarung des Johannes (Offb 20,14: Tod, Ende des Weltgerichts) und Offb 21,1 (Die neue Schöpfung, mit dem Beginn: „ Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. “ ). Die „ Weissagung der Seherin “ ist vermutlich auch auf dem Abglanz dieser Folie entstanden. 59 Der Text schafft bewegte Bilder, löst die fragilen „ Giacometti-Figuren “ aus ihrer Erstarrung. Die Ikonen beginnen zu laufen, als bewegten sie sich auf einer Filmleinwand. Zu Tunströms Affinität zum Medium Film vgl. Tunström/ Cronqvist (1994). Bakhållet vid Fort Riverton. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 168 4 EPILOG „ Hier sind sie nun. Hier sollen sie werden, Hans-Cristian und Paula, zusammenwachsen, einander kennen lernen. Drüben auf dem grell beleuchteten Marktplatz auf der anderen Seite der Brücke - die Häuser blinzeln im Mittagslicht - lösen sich Giacometti-Figuren, Diagonalen auf einem offenen Platz, von Schatten verschluckt. ” (DHG: 20) Das gleichnishafte Bild nimmt vorweg, was der Roman entspinnt: ein „ vielerlei zugleich “ 60 , hinter dessen narratologischer Maske feinnervig die poetologische Maxime liegt: das Wort will ‚ Fleisch ‘ werden. Relativiert mit Hans-Cristians Worten, die er an Paula richtet, während sie beide damit beschäftigt sind, seine von Ratten angefressenen Bücher 61 mystischer Literatur aus seiner Bibliothek im Keller des Pfarrhauses umzubeigen (die dort verstaut werden mussten, um das Haus für den Einzug der Soldaten freigeben zu können, wie aus dem ersten Abschnitt von „ Kapitel 4 “ von Guddöttrarna zu erfahren ist): „ Mystikerna är de enda som förtivlat väl vet att språk aldrig räcker till, hela deras arbete går ut att vidga vårt medvetande om det. “ (GUD: 116) [Die Mystiker sind die einzigen, die verzweifelt gut wissen, dass Sprache nie ausreicht, ihre ganze Arbeit dreht sich darum, unser Bewusstsein davon zu erweitern.] Mit anderen Worten: das Fatum jedes Menschen ist - andernorts - längst gezwirnt. Auch jenes von Paula und Hans-Cristian. Alles Sprechen ist Teil von dessen Verwirklichung - ein Prozess, der ein Werden im Wort ist. Und so melden sie sich nun selbst zu Wort, eine Mystikerin und ein Pfarrer, die beide erfahren werden, dass Sprache „ nie ausreicht “ und doch eminent wichtig für jede Kommunikationsgemeinschaft ist, ob für ein Paar, einen Verein oder eine Dorfgemeinschaft. DHG: 36: - Nej, svarar Paula från stolen, för hon vet att Hans-Cristian sparat det svaret åt henne, det ingår i hans träning av henne, hennes invänjning till de små ordens samtal. För att hon skall bli av med sin rädsla. - Nein, antwortet Paula vom Stuhl aus, denn sie weiß, dass Hans-Cristian diese Antwort für sie aufgespart hat, es gehört zu seinem Training von ihr, ihrem Sich-gewöhnen an Gespräche mit kleinen Wörtern. Damit sie ihre Angst loswird. Diese Interaktion ist auf der Folie von Ahlins Schreib-Konzept, wie er es in „ Die kleinen Wörter “ von Fromma mord an den Gestalten Aron und Roland vorführt, zu lesen, und führt zu der Frage, wie sich diese Ästhetik in Tunströms beiden Romanen widerspiegelt. 62 Im Eingangskapitel von Fromma mord, „ De små orden “ [Die kleinen Wörter], berichtet der Erzähler über Aron, den Protagonisten des Romans: „ De små orden väcker mig gång på gång till umgängelse, skrev han sedermera. På något sätt måste de tycka om mig. “ (Ahlin 1952: 19 - 20) [Die kleinen Wörter wecken Mal für Mal meine Umgänglichkeit, schrieb er später. Irgendwie müssen sie mich wohl mögen.] 60 Vgl. Raulff (2003: 60). Mit „ vielerlei zugleich “ charakterisiert die Freud-Forscherin Ilse Grubrich- Simitis dessen Moses-Studie. 61 Dass sich die Ratten über die Seiten, gefüllt mit Buchstaben zur Mystik, hermachen, ist auch ein starkes Bild dafür, dass das Leben mächtiger ist als alles Buchwissen. 62 Die weitreichenden Schlussfolgerungen, die sich aus der Ästhetik dieses Roman-Solitärs in der schwedischen Literatur ziehen lassen, zeigt die Studie von Gunnar D Hansson (1988). Nådens oordning [Die Unordnung der Gnade]. Aus der umfangreichen Sekundärliteratur zu Ahlin seien stellvertretend Ekman (1975) und Helen Andersson (1998) genannt. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 169 Das sind die ersten zwei Sätze der halbseitigen Parenthese Arons über ‚ die kleinen Wörter ‘ (die Ahlins Erzähler mit „ erschöpften hungrigen Zugvögeln “ vergleicht). Arons Parenthese ist ein (Ex-)Kurs über die Funktion der Pronomen und Konjugationen. Ahlins Schreibhaltung, die von Tunström, Schriftsteller in spe, bei deren Lektüre zutiefst verinnerlicht wurde, 63 kommt darin zur Sprache. Arons resp. Ahlins Kerngedanke zu den Pronomen lautet: Hur många gånger har de inte fått mig att säga: Vi mänskor vore stock och sten utan er, pronomen. Men nu är ni givna åt oss för att vi ska bli Skaparen lika. Med er blir vi medskapare. När vi brukar er växer världen fram, vi själva får det liv ni beskriver, och Gud förvandlar ni till vår Gud. Så farliga är ni, så ödesdigra, så livgivande, så fräckt muntra. Wie viele Male ließen sie mich doch sagen: Wir Menschen wären Holzköpfe ohne euch, Pronomen. Aber nun seid ihr uns geschenkt, damit wir dem Schöpfer gleich werden. Mit euch werden wir Mitschöpfer. Wenn wir euch gebrauchen, wächst die Welt hervor, wir selbst bekommen das Leben, das ihr beschreibt, und Gott verwandelt ihr zu unserem Gott. So gefährlich seid ihr, so folgenschwer, so lebensspendend, so frech und keck. 64 1983 sagt Tunström von dieser ihn tief prägenden Lektüreerfahrung „ De små orden “ , darin er auch dieser Passage begegnete: In meinen Büchern gibt es immer zwei Knaben. Der eine ist Guide im Leben. Ich hatte einen solchen Kameraden. Er war älter als ich, und wenn er ein Buch gelesen hatte, so habe ich es übernommen. [ … ] Das große Erlebnis war Ahlin. Er hat eine Vergrößerungstechnik, um das Beziehungsspiel zu beschreiben - etwas vom Interessantesten, was ich aus der schwedischen Literatur kenne. Da geht es nicht um ein Du und ein Ich. Sondern um den Raum zwischen den beiden. Das schöpft die Dynamik. Und das Licht in diesen Räumen! Seine Dialoge und Monologe! Kein Mensch spricht so. Das waren Essays über das Leben, die nicht trocken waren. (Garpe 1983: 8) Das einhellige „ Bekenntnis “ kommt einem poetologischen Credo gleich, deckt sich mit Bubers Erkenntnissen 65 der Dialogizität: Es geht Tunström um den Raum der Begegnung, um das ‚ Dazwischen ‘ . Oder mit zwei tragenden Gedanken des jüdischen Religionsphilosophen Buber: „ Die Welt als Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung. “ 66 Und in Auszügen einer längeren, für die Erörterung von Tunströms Schreibhaltung höchst relevanten Passage: „ Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du. Der Mensch redet in vielen Zungen, Zungen der Sprache, der Kunst, der Handlung, aber der Geist ist einer, Antwort an das aus dem Geheimnis erscheinende, aus dem 63 Vgl. PRÄ: 109 - 110, wo im Kap. „ Yttre och Inre Göran “ Tunström die gemeinsam mit Lars erlebte, ihn überwältigende Erstlektüre auf Koster, seiner späteren „ Schreibinsel “ , schildert (die beiden hatten sie als Vorabdruck in der Zeitschrift BLM gelesen): „ Es ist das Erste seit langem, das größer ist als ich. “ (PRÄ: 109) und: „‚ Die kleinen Wörter ‘ sind für Erwachsene geschrieben; wenn man sie begreifen will, muss man erwachsen werden, muss man üben, wachsen. “ (PRÄ: 110). 64 Kursivierungen vom Verf. (L. D.). Laut Hansson (1988: 42) basiert Ahlins Schreibästhetik im Kern auf Luthers ‚ Pronomen-Grammatik ‘ : „ I Arons utläggningar om pronominas och konjunktioners betydelse ligger kärnan i denna språkuppfattning. “ [In Arons Auslegungen über die Bedeutung der Pronomen und Konjunktionen liegt der Kern dieser Sprachauffassung.] 65 Ganz bewusst steht hier nicht ‚ Lehre ‘ , denn Buber hatte keine solche weiterzugeben, wie er selbst betonte: „ Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch “ . Vgl. Reichert (2013: [13]). 66 Buber (1995: 6). Hervorhebung von „ Beziehung “ durch Kursivierung vom Verf. (L. D.). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 170 4 EPILOG Geheimnis ansprechende Du. Geist ist Wort. [ … ] Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. “ 67 Von den Bindewörtern oder Konjugationen heißt es in Ahlins „ Die kleinen Wörter “ : Men ni, bindeord, är än mäktigare. Ni står i uppenbarelsens tjänst. Samtidigt står ni i tjänst hos de opersonliga. Guds hemligheter binder ni och ordnar. I vår mun blir, tack vare er, korset och döden ett leende kors och en leende död. Ty ni inviger oss i det humoristiska och förklarar för oss att vårt allvar är ett skämt, eftersom fullbordan ännu inte präglar oss. Men ni är inte bara mystagoger. Ni binder inte bara det osynliga. Ni binder också det som för oss är tydligt. Den objektiva verkligheten tar ni hand om och ordnar så snart vi har upptäckt den. Hur oestetiskt är inte detta uppdrag. Hur förargade blir inte de estetiska. När den estetiska hjärnan inte vill finna sig i vetandets osköna sammanplock gör den våld på er och kallar gärna sitt dåd för logik. - Nu har ni lämnat mig. Vad blir då kvar av orden? (Ahlin 1952: 20) Doch, ihr Bindewörter, ihr seid noch mächtiger. Ihr steht im Dienst der Offenbarung. Zugleich steht ihr im Dienst am Unpersönlichen. Ihr bindet und ordnet Gottes Geheimnisse. In unserem Mund wird, dank euch, das Kreuz ein lächelndes Kreuz und der Tod ein lächelnder Tod. Denn ihr weiht uns ein in das Humoristische und erläutert uns, dass unser Ernst ein Scherz ist, denn die Vollendung prägt uns noch immer nicht. Doch seid ihr nicht nur Mystagogen. Ihr bindet nicht nur das Unsichtbare. Ihr bindet auch das, was für uns erkennbar ist. Ihr kümmert euch um die objektive Wirklichkeit und macht Ordnung, sobald wir sie entdeckt haben. Wie unästhetisch ist doch dieser Auftrag. Wie verärgert werden doch die Ästheten. Wenn das ästhetische Hirn sich nicht mit dem Wissen des unschönen Buketts 68 abfinden will, wendet es Gewalt gegen euch an und heißt seine Tat gerne Logik. - Nun habt ihr mich verlassen. Was bleibt da noch von den Wörtern? Die Stelle hat auf den jugendlichen Leser nachhaltig eingewirkt: „ die kleinen Wörter sind große Worte “ hatte Göran in Prästungen behauptet. 69 Hansson konkludiert in seiner Studie Nådens oordning [Die Unordnung der Gnade] am Roman Fromma mord: „ Ahlins Ausgangspunkt ist eine Dialogizität, die in Begriffen lutherscher Theologie vom ‚ Wort ‘ und von der ‚ Anrede ‘ beschrieben werden kann, in der Literaturtheorie heutzutage aber bspw. ebenso von Michail Bachtin entwickelt wurde. “ 70 Und er folgert daraus, dass [g]emäß Lutherschem Glauben, [ … ] der für den Roman grundlegend ist, ein ‚ rechter Glaube ‘ dauernd seine gesicherte Position aufgeben und sich in konkrete Lebenszusammenhänge hineinbegeben und zu profaner Arbeit mit anderen Menschen der Gesellschaft werden muß, im sozialen Leben - so werden Sakrament und Ethik zwei Seiten derselben Sache. Der Glaube muss sozusagen auf bachtinsche Art und Weise den Kopf verlassen und in den Körper absinken, weil ‚ das Leben des Glaubens ‘ in einer Weise Selbstaufgabe ist, die sowohl Reflexion wie Vergessen als auch ‚ die Spur ‘ einer notwendigen, aber überwundenen Reflexion voraussetzt. (Hansson 1988: 120) 67 Buber (1995: 37). Kursivierung von „ Geist ist Wort “ vom Verf. (L. D.). 68 Schwedisch ‚ sammanplock ‘ = Zusammengepflücktes (zu einem Bündel, Strauß, Bukett, Haufen etc.). 69 Vgl. dazu die ord/ Wort-Stelle PRÄ: 109 - 110 und den Kommentar dazu in Kap. 2.2.2. 70 Hansson (1988: 67). Für eine ausführliche Analyse von „ De små orden “ , siehe „ Tid och tilltal - en kommentar till inledningskapitlet i Fromma mord “ [Zeit und Ansprache - ein Kommentar zum Einleitungskapitel von Fromme Morde] in: Hansson (1988: [101] - 121; sowie unter „ Trons metkrokar “ [Die Angelhaken des Glaubens], ebda.: 116 - 118; dort speziell die Anmerkungen zu den Pronomen und Konjunktionen). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 171 4.1.3 Sprachphilosophische Dimension Weitere Wortspuren an ord/ Wort-Stellen im Roman De heliga geograferna zeugen (implizit oder explizit) von Dimensionen sprachphilosophischer Art. DHG: 49: De naglade fast varandra med ögonen och sjönk genom åren, ner till ett exakt likadant ögonblick, som nu, långt efteråt, la sig över de uteblivna handlingarna i tamburen och färgade de ord som inte sas. Det förflutna sa sig istället. Nu och då blev likgiltiga begrepp. Tiden ingen undanflykt. Sie nagelten einander mit den Augen fest und sanken hinab durch die Jahre, zu einem exakt gleichen Augenblick, der sich jetzt, lange danach, über die ausgebliebenen Handlungen in der Garderobe legte und die Worte, die nicht ausgesprochen wurden, färbte. Das Vergangene hat sich stattdessen ausgesprochen. Jetzt und Damals wurden zu gleichgültigen Begriffen. Die Zeit keine Ausflucht. Auch unausgesprochene Worte können eine Atmosphäre schaffen, oder mit einem Wort Paulas: die Welt ‚ färben ‘ , eine Stimmung kreieren. Hier eine hasserfüllte zwischen Harald 71 und Hans-Cristian, dem ungleichen Brüderpaar. Alles ist Kommunikation, selbst jede „ Nicht-Kommunikation “ . 72 Harald steht im Flur des Pfarrhauses. Als legitimierter Vertreter des schwedischen Staates beansprucht er als Kommandant einer Armeeeinheit mit Berufung auf Kriegsrecht das Haus seines Bruders zur Unterkunft für sich und seine Soldaten. Unmittelbar gefriert ihre „ Kommunikation “ alle Zeit(en) aufhebend zu „ einem exakt gleichen Augenblick “ ; ohne Worte manifestiert sich in einem einzigen Nu größter Dissens. DHG: 61: Så länge kärleken är „ blind “ , det vill säga: så länge den inte ser hela människan, står den ännu inte i sanning under relationens grundord. Solange sie [die Liebe] „ blind “ ist, das heißt: solange sie nicht den ganzen Menschen sieht, steht sie noch nicht wahrhaft unter dem Grundwort der Beziehung. Worte Martin Bubers aus Ich und Du, 73 dem Hauptwerk des Religionsphilosophen und „ Grenzgänger[s] 74 , hat Tunström vor den Anfang des dritten Kapitels „ De som bar fram sina 71 In Harald, dem im ‚ Heer Waltenden ‘ , dem Heerführer, kündigt sich der alsbald stattfindende Streit zwischen dem Brüderpaar Harald - Hans-Cristian an, der nichts Geringeres als den Widerstreit weltliche Macht vs. geistige Macht kartiert. 72 „ Man kann nicht nicht kommunizieren! “ lautet das zum geflügelten Wort avancierte erste Axiom (der insgesamt fünf ) aus Watzlawicks gleichnamigen Buch der Kommunikationstheorie (Vgl. Watzlawick 2016). Paul Watzlawick (1921 - 2007), dessen Forschungen ‚ gestörter Kommunikation ‘ weltweit Beachtung gefunden hat, ist in schwedischer Sprache zum ersten Mal 1978 mit einem Buch vorgestellt worden (DHG erschien 1973). Falls Tunström Kenntnis von Watzlawicks Ansatz hatte (was plausibel ist, denn die Problematisierung von Kommunikation in DHG und GUD ist geprägt von dessen Erklärungsmodellen), so müsste dieser auf seinem, zusammen mit Janet H. Beavin und Don D. Jackson verfassten Standardwerk Pragmatics of human communication: a study of interactional patterns, pathologies and paradoxes von 1968 basieren, unter dem deutschen Titel bekannt als Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien (Watzlawick 2011). 73 Vgl. Buber (1995: 16 - 17). Das vollständige Motto umfasst dreizehn Zeilen. 74 Hans-Joachim Werner (Vorsitzender der Martin Buber-Gesellschaft) in: Reichert u. a. (2013: 14). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 172 4 EPILOG namn “ [Die ihre Namen vorantrugen], gesetzt. Buber schreibt im „ Ersten Teil “ seiner Schrift die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. / Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. / Das andre Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; wobei ohne Änderung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann. Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. (Buber 1995: [3]) De heliga geograferna (desgleichen Guddöttrarna) umkreisen den Kernsatz Bubers, literarisieren somit die Essenz seiner Ethik, die ein dialogisches Handeln und Denken nach sich zieht, was Tunström in seinen Romanen (um)gestaltet und einbezieht. Paula und Hans-Cristian bilden das „ zwiefältige “ (Wort-)Paar Ich-Du, an dem Tunström seinen Stoff erzählt. Dieser setzt sich zusammen aus ‚ Liebe ‘ , ‚ Beziehung ‘ (Relation), ‚ Ich ‘ und ‚ Du ‘ . Der Stoff ist die Sprache, die „ unter dem Grundwort der Beziehung “ steht. Die Ver-Antwortung spielt dabei eine zentrale Rolle. „ Der Einzelne ist als Du für den Andren verantwortlich, er muss bereit sein zu einer Antwort, da sich ansonsten eine Ich-Du-Beziehung nicht bilden kann[.] “ 75 DHG: 64: Utifrån det här mötet kunde han skapa nya ord. Många ord. Många möten. Aus dieser Begegnung könnte er neue Worte schöpfen. Viele Worte. Viele Begegnungen. Von Walter (Bengtsson) ist hier die Rede. Er bildet, mit Hans-Cristian (Wermelin), ein anderes wichtiges (Wort-)Paar im Roman. Bengtsson bildet den Gegenpol zur Haltung von Pastor Wermelin. Bengtsson spricht und denkt in hohlen Phrasen. 76 „ Nåja, nåja, en herrens morgon var det, övade han in sig i sin framtida predikan. “ (DHG: 62) [Naja, naja, ein göttlicher Morgen ist das, übte er sich in seine kommende Predigt ein.] Evangelist Bengtsson will sich nicht auf ein Du einlassen, er ist ein Opportunist mit nationalsozialistischer Gesinnung. 77 Wermelin, „ der neue Pfarrer “ dagegen steht für das Gemein(de)wohl und für Altruismus. Er versucht im Gespräch mit Gott wie mit seinen Mitmenschen den Dialog auf eine ‚ Ich-Du-Relation ‘ zu gründen. 78 Solcherlei Intentionen sind Bengtsson 75 Oliver Bidlo, „ Martin Buber Reloaded - Vom Dialog zur Proxemik “ , in: Reichert (2013: [133] - 158, hier: 146). DerAutor zieht auch Thesen des Kommunikationstheoretikers Vilém Flusser (1920 - 1991) bei, der als junger Student in Prag Bubers Vorlesungen hörte. Siehe Reichert (2013: 141): „ Der Mensch ist bei Flusser ein Knoten innerhalb eines Kommunikationsnetzes und nicht eine in sich abgeschlossene Identität. So wie Martin Buber mit der dialogisch-anthropologischen Bestimmung des Menschen beginnt, gründet sich Flussers telematische Gesellschaft auf eine Anthropologie, wonach der Mensch nicht ein Etwas ist, sondern Wie-sich-Relationen-verketten und wie sich durch diese Verkettung die Möglichkeiten des Relationsfeldes immer mehr realisieren. “ Gerade die beiden Romane De heliga geograferna und Guddöttrarna, aber auch die ganz frühen experimentellen (Familjeliv, Karantän), ebenso wie die späteren, international erfolgreichen (Juloratoriet, Tjuven, Skimmer), böten unter diesem Postulat Flussers gelesen, reichlich Material zu einem vertiefenden Studium der Art und Weise der kommunikativen Dynamik in Tunströms Romandialogen. 76 Sein Brief aus der Wüste bestätigt dies mit jedem einzelnen Wort, vgl. DHG: 111 - 112. 77 Vgl. DHG: 84: „ Är han nazist? / - Ja. Självklart. Och han är inte ensam. Han har många bakom sig som anar gyllene tider. “ [Ist er ein Nazi? - Ja, selbstverständlich. Er ist nicht allein. Viele stehen hinter ihm und ahnen goldene Zeiten.] 78 Abermals sind Namen im Kapitel „ Die ihre Namen vorantrugen “ bedeutungstragend: Walter hat mit ‚ Gewalt zu tun, Bengtsson (Der Sohn von Bengt, also von Benedictus) evoziert den von einem allmächtigen Gott ‚ Gesegneten ‘ oder Gebenedeiten, der nur nachspricht, aber keine eigenen Worte Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 173 fremd. Umso mehr versteht es der ehemalige (Nähmaschinen-)Verkäufer und Außendienstler, mit dem Körper zu sprechen: „ Bengtssons nick är full av samförstånd. “ (DHG: 62) [Bengtssons Nicken ist eitel Einverständnis.] Nonverbale Kommunikation wie hier, kann auch ein Zeichen von Macht und Befehlsgewalt sein. DHG: 68: Det var Hans-Cristians diktande [ord], som gjort bilder emellan verkligheterna. Es war Hans-Cristians Dichten [Worte], das Bilder zwischen die Wirklichkeiten schuf. Paulas eigene Vorstellungen (ihres künftigen Lebens als Ehefrau an der Seite des Pastors im Dorf ) werden durchkreuzt von dazwischen geschobenen Bildern (der Wirklichkeit), die seine Worte bei ihr bereits ausgelöst oder „ vorgeschrieben “ haben. Jetzt stehen sie „ dazwischen “ , auch zwischen ihnen beiden als Paar. DHG: 76: Eftersom han i sin berättelse för Paula utgick från att talarstolen tillhörde något slags missionsförbund eller liknande, att det var en religiös plattform, så genomfors han av en skakning, sa han, när han upptäckte att just de orden var förbjudna. Han skulle inte kunna säga dom i sin predikan. De orden hörde inte hemma i hans språk, det som han var låst i. Weil er in seiner Erzählung Paula gegenüber davon ausging, dass das Rednerpult einer Art Missionvereinigung oder etwas Ähnlichem gehörte, dass es eine religiöse Plattform war, begann er innerlich zu beben, sagte er, als er entdeckte, dass genau die Worte verboten waren. Er würde sie in seiner Predigt nicht sagen können. Diese Worte waren nicht Teil seiner Sprache, in der er eingeschlossen war. In der Passage (DHG: 74 - 77) reflektiert der Erzähler den unterschiedlichen Umgang mit der Verkündigung des Wortes Gottes zwischen den beiden Predigern Pastor Hans-Cristian Wermelin und Evangelist Walter Bengtsson. Hans-Cristian hatte Paula von einer Erfahrung berichtet, die er als Vikar machte, und die ihm jetzt, wo er sich von Worten eingesperrt fühlt, in den Sinn kam, denn er „ weiß, welche Wörter sich hinter den Stacheldrahtabsperrungen aus Dogmen befinden “ (DHG: 75; vgl. dazu den Kommentar zu DHG: 32). Noch mehr wird er sich der Tatsache bewusst, dass er nicht frei im Gebrauch seiner Worte ist, wie er Joel, dem Pächter, bei der Schlachtung einer Kuh zusieht, somit einem, der mit seinen Händen, und nicht bloß, wie er selbst, mit Wörtern arbeitet (DHG: 77). Gänzlich konträr wird damit ein Mann des Wortes einem Mann der Tat gegenübergestellt. 79 Für Hans-Cristians Ringen, seine sprachlichen Fesseln loszuwerden, sprechend sind seine „ Äußerungen “ in erlebter Rede (vgl. v. a. DHG: 75 - 76). Als Theologe fühlt er sich in (s)einer von „ Tabus belegte[n] Sprache “ gefangen. Als Prediger obliegt ihm, von der Kanzel das Wort Gottes zu verkünden, so verbietet er sich, eine Versammlung der Sozialisten zu besuchen, reden sie doch das Wort dem Klassenkampf und nicht dem Wort seines Herrn. Beunruhigt über sein Eingesperrt-Sein in Sprachzwänge, fragt Pfarrer Hans-Cristian Wermelin: „ Mitt språk är inte möjligt, hur kan jag göra det möjligt? “ (DHG: 62) [Meine hat. Das Kapitel ist eine Art Vorstellungsrunde, bei der - bevor er oder sie spricht - sein oder ihr Name bereits ‚ spricht ‘ . 79 „ handlingsbristen “ - das Fehlen einer Handlung (trotz aller Worte) ist ein wiederkehrender Grundgedanke in De heliga geograferna; vgl. „ Språkets nitar runt handlingsbristen. “ (DHG: 118) [Die Nieten der Sprache rund um den Handlungsmangel.] Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 174 4 EPILOG Sprache ist nicht möglich. Wie kann ich sie möglich machen? ] 80 Die Auseinandersetzungen mit Paula, die in der Sprache fremd und unbehaust ist, werden ihn stufenweise von diesen Wortfesseln lösen und auf seinem Weg zu einer „ ganze[n] Sprache “ unterstützen. DHG: 107: Vi måste gå dit allihop, sa Liljebror och tryckte på “ allihop ” . Tack vare Hans-Cristian och Sällskapet hade han fått delaktighet i ett sånt ord [allihop] och han var tacksam. Wir müssen alle zusammen dorthin gehen, sagte Liljebror und betonte dabei „ alle zusammen “ . Dank Hans-Cristian und der Gesellschaft war er in einem Wort wie diesem [alle zusammen] mitgemeint und dankbar. Die Verbundenheit im ‚ wir ‘ illustriert beispielhaft das dialogische Prinzip Bubers, nach dem ein ich - du das wir inkludiert. Liljebror Svensson tat dieses von Pastor gelernte Wort „ alle zusammen “ gut. Es fördert Gemeinschaft. Er konnte das gebrauchen, als er anregte, dass alle von Sunnes Geografischer Gesellschaft ihr verstorbenes Mitglied Benjamin Backe- Bengtsson zu Grabe tragen sollten. Der Erzähler erlöst die Schwere der geschilderten Begräbnisszene im Nachsatz mit einer Portion Komik und Sprachkritik: „ Und die Sprechblasen von diesem Treffen [am Grab] schwebten noch lange über den Äckern und Gärten von Sunne, immer poetischer, immer voller von schönen Farben aus Lügen 81 . “ (DHG: 108) Doch dem Gemunkel und Dorfklatsch setzt Pastor Wermelin kraft seines Amtes im Satz unmittelbar danach mit dem symbolischen Akt einen Schlusspunkt (ebda.): „ Hans-Cristians drei Schaufeln Erde löschten dies Licht, während gleichzeitig die Kerzenlichter erloschen. “ 82 Machtvoll wirkt in dieser Szene der ‚ Stellvertreter Gottes ‘ , der laut Bibel über „ Leben und Tod “ gebietet - und der hier das Geschwätz oder die Worte ‚ begraben ‘ oder zumindest zum Schweigen bringen kann. DHG: 144 - 145: Du är sjuk, Paula, sa han då för första gången, du måste till läkare, Paula hörde hans ord och såg tvivlande på honom. Han hade pratat alldeles för fort. Man kan inte bara säga så. SJUK och så färdigt! Att man var ett ord. När man istället måste dela upp ordet i mindre och mindre bitar, hacka det som spenat. Hon skrattade till. Högt. Sjönk ner igen i hackandet och när hon så hackat upp alla ord som skymde världen, stod världen där, hård och kall och naken och hon greps av hat till saker och ting som kunde hacka: innan Hans-Cristian hindrat henne var hon ute i kökslådorna och slängde näve efter näve av saxar knivar och gafflar ut genom fönstret. [ … ] [/ ] Talade han till henne blev hon liksom skamsen, hon fanns på en annan sida av orden. Hon vrängde ut och in på dom för att komma åt en sanning de inte ägde. / - Om jag kunde vara med dig därinne, önskade han. Om jag kunde översätta mig till din värld. 80 Göran Sonnevis beinahe zeitgleich mit DHG erschienene Gedichtsammlung Det omöjliga [Das Unmögliche; 1975] widmet sich (unter utopisch-sozialistischem Vorzeichen) unentwegt der Vision einer ganzen, gemeinsamen Sprache. Wie Tunström, versteht Sonnevi Sprache als einen unabgeschlossenen Prozess. 81 De mortuis nil nisi bene (Über Tote nur Gutes) klingt an in „ schönen Farben aus Lügen “ . 82 Der evangelisch-lutherische Ritus der schwedischen Staatskirche (bis zur Trennung von Kirche und Staat am 31. Dezember 1999) kennt für die Bestattung Verstorbener rituelles Zudecken des Grabs mit drei Schaufeln Erde nicht. Im jüdischen Ritus geben die Trauernden drei Schaufeln Erde aufs Grab. Ist die Handlung des unorthodox handelnden Amtsträgers Wermelin vom Autor bewusst mit einer jüdischen Note versehen, als Zeichen einer weiteren Akzentuierung mit jüdischem Brauchtum im Buch? Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 175 Du bist krank, Paula, sagte er da erstmals, du musst zum Arzt. Paula hörte seine Worte und sah ihn zweifelnd an. Er sprach viel zu schnell. Das kann man nicht sagen. KRANK und fertig aus! Dass man ein Wort wäre. Wenn man stattdessen das Wort in immer kleinere Stücke aufteilte und wie Spinat hackte. Sie lachte auf. Laut schallend. Versank wieder im Hacken, und als sie so alle Wörter aufgehackt hatte, die die Sicht auf die Welt verdeckten, stand die Welt da, hart und kalt und nackt, und sie wurde von Hass auf alle Dinge ergriffen, die hacken konnten: bevor Hans-Cristian sie daran hindern konnte, stand sie an den Küchenschubladen und begann Scheren, Messer und Gabeln, eine nach der anderen, aus dem Fenster zu werfen. [ … ] [/ ] Wenn er sie ansprach, wurde sie gleichsam verlegen, sie befand sich auf einer anderen Seite der Wörter. Sie drehte und wendete sie nach allen Seiten, um an eine Wahrheit heranzukommen, die sie nicht besaßen. / - Könnte ich doch mit dir dort sein, wünschte er. Könnte ich mich doch in deine Welt übersetzen. Im Kapitel „ Paula “ wird das dualistische gegen das nicht-dualistische Denken disputiert. Paula wehrt sich demonstrativ gegen das laute Wort KRANK, das sie als Verdikt ihrer Person und damit ihres ganzen (So-)Seins, ihrer Existenz empfindet: ein Wort wie ein Urteil oder ein Stempel. In einem Akt des Irrationalismus entledigt sie sich mit dem Rauswurf des Küchenbestecks der ganzen (Männer-)Sprache im (gemeinsamen Sprach-)Haushalt. Dieser Raptus oder diese Szene wird im Abschnitt 2 des Kapitels geschildert, im fünften und damit zentralen der insgesamt neun Kapitel von De heliga geograferna. Mitten im Roman folgert deren Quintessenz aus dem Mund von Hans-Cristian: „ Könnte ich doch mit dir dort [in diesen, deinen wirren Worten] sein “ (145), wünschte er. Wie ein Stossgebet mutet dieser Wunsch nach einer gemeinsamen Sprache an, worin auch der Wunsch nach einer Vereinigung der Gegensätze zum Ausdruck kommt. Diese Stelle ruft Hans-Cristians frühere Aussage in Erinnerung, wie er sich Gedanken zum Gesundheits-Zustand seiner Ehefrau Paula macht: „ Ich bilde mir ein, dass sie, um sich zu retten, sich die religiöse Sprache leihen muss: Übersetzungen machen. “ (DHG: 88, im Abschnitt 7 von Kapitel 3 „ De som bar fram sina namn “ , worin der vergeistigte Mensch Pfarrer Wermelin gegenüber dem Fleischer Johanesson sein „ Glaubensbekenntnis “ ablegt (vgl. dazu DHG: 88 - 89): „ Was die Religion - was alle Religionen uns geben - und das ist ihr unsagbares Geschenk - ist die Schwelle. [ … ] Auf der Schwelle gehst du von der profanen Lebensweise zur heiligen über[.] “ Hans-Cristian, so zeigt sich, fungiert streckenweise selbst als eine Art Schwelle zum Heiligen, vis-à-vis Paula, Georg, Jacob, seinen Gemeindegliedern wie auch den Mitgliedern der SGS. Dabei ist sein Glaube nicht von gleichbleibender Festigkeit. Auch er ist nicht dauernd im Heiligen zuhause. Die abschließende Äußerung vor Georg Johanesson deutet es an: „ Aber irgendwo wird mein Ich nie ganz Fleisch. Morgen werde ich dir das Gegenteil sagen. “ (89) SJUK och så färdigt erinnert an das zentrale Moment in Ahlins Fromma mord, wenn der Erzähler (in Kapitel 5, „ Babels torn “ [Der Babelturm]) einen begangenen Doppelmord und die Jagd einer ganzen Dorfbevölkerung nach dem als Mörder titulierten Täter aufrollt, an der auch Aron als Knabe teilgenommen und ihn dabei friedlich schlafend im Wald entdeckte hatte. Der Ahlin-Forscher Erik A. Nielsen (1968: 97) kommt in seiner Analyse der Stelle zum Schluss: Aron förstår att de jagandes beteckning på mannen, mördare, bara täcker en mycket liten del av allt det han är [ … ] För det första förstår han, att en språklig beskrivning av en människa alltid är Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 176 4 EPILOG begränsad därför att den endast kan fixera en sida - ehuru ofta en väsentlig - hos det som beskrivs. Ordet mördare var en otillräcklig beskrivning av mannen, vilket också varje annat ord om honom skulle ha varit. En människa är mera sammansatt än språket kan uttrycka. Aron versteht, dass die Bezeichnung des Mannes durch seine Jäger, Mörder, nur einen Bruchteil dessen umschließt, was er ist … [ … ] Zum ersten Mal versteht er, dass eine sprachliche Beschreibung eines Menschen immer begrenzt ist, da sie nur eine Seite am Beschriebenen festhalten kann - wiewohl oft eine wesentliche. Das Wort Mörder war eine unzureichende Beschreibung des Mannes, wie es auch jedes andere Wort gewesen wäre. Ein Mensch besteht aus mehr als aus dem, was Sprache auszudrücken vermag. Arons Erfahrung oder Einsicht, dass von einem einzelnen Wort eine fatale Wirkung ausgehen kann, ist gleichermaßen präsent in der erlebten Rede Paulas: „ Dass man ein Wort wäre! “ (DHG: 144) Ohne Tunströms Lektüre von Ahlins Fromma mord und damit der Kenntnis von dessen (Sprach-)Ästhetik, scheint das Erschrecken des Erzählers über die Reduktion Paulas auf ein einziges Wort, kaum denkbar. Darin verdichtet ist der Motivkomplex humanistischen Gedankenguts, wie er im Rechtsstaat bspw. im Begriff ‚ Menschenwürde ‘ lebendig ist und der sich durch De heliga geograferna, aber auch durch Guddöttrarna hindurch zieht: die Gefährlichkeit des Gebrauchs der Wörter, wie sie in der simplen (alltäglichen) dualistisch gedacht und gefühlten Benennung eines Menschen, reduziert auf seine Eigenschaft oder Tätigkeit, oft vorschnell und nur unter Ausblenden anderer Seiten, geschieht. Im ungünstigsten Fall kann dies ‚ Totschlag ‘ - oder die Vernichtung von „ unmöglich gemachten Möglichkeiten “ bedeuten. 83 Paulas Ausbruch jedoch ist in einem noch größeren Kontext zu lesen (hier verkürzt wiedergegeben). In Abschnitt 1 im Kapitel „ Paula “ ist zu erfahren, dass Paula zum ersten Mal seit der Geburt ihres Sohnes Jacob mit Hans-Cristian schläft. Wörter ‚ standen ‘ nicht länger zwischen ihnen, sie ‚ schwiegen ‘ . Der Abschnitt nach der rein körperhaften Kommunikation schließt mit den Worten: „ Ich liebe dich, sagte sie. Und die Worte waren für sie nicht mehr unerreichbar. “ (DHG: 137) Aus der Liebesverbindung hat Paula verbindliche und verbindende Worte geschöpft. Eine Art Phantasmagorie steht zu Beginn von Abschnitt 2: Synästhetisch erlebt Paula in einer Art Farbpsychose die Farben im Garten, die sich zu „ Papageien, zu Rotkehlchen, zu roten Elstern “ (DHG: 138) verwandeln - ausgelöst von Hans-Cristians Worten, sie möchte hineinkommen ins Haus, verbale Zuwendungen, „ die eine schwach leuchtende Leiter waren, die sie hinaus führten “ (ebda.) aus dem Ausgeschlossen-Sein. 84 Paula halluziniert eine Wiedergeburt (aller Menschen), indem sie 83 Nielsen (1968: 110). Mit Nielsens Schlusssatz ist nur ein Teilaspekt über Wesen und Macht der Wörter gesagt. Gedanken aus literarischer oder (sprach-)philosophischer Sicht, von der Antike bis in die Gegenwart, füllen dazu ganze Bibliotheken. Wichtiger ist die Feststellung, dass ein Mensch, bewusst oder unbewusst, sobald er ein Wort ausspricht, automatisch in dieses Dilemma geraten war. (Dilemma: Wahl zwischen zwei beworteten „ Annahmen “ , also die Wahl für das eine oder das andere Grundwort, was mitunter zu einer Sprachhandlung führen kann). Eine dritte Wahl (aus dualistischer Sicht) existiert nicht. Als dritte Wahl bliebe nur (mystisches) Schweigen. - Vgl. auch Nielsens Nachschrift „ Avslutning “ , darin spez. den Abschnitt „ Språket och språken “ [Die Sprache und die Sprachen], in: Nielsen (1968: 215 - [243]). Für den biblischen Kontext vgl. die Studie Wortmacht/ Machtwort von Stoellger/ Kumlehn (2017). 84 „ Noch bei Heinrich Seuse ist die ‚ reine kunigin von himelrich ‘ ein rotgoldenes Gefäß “ , schreibt in Mystik als Aussage Alois M. Haas (1996: 211; in „ Vision in Blau. Zur Archäologie und Mystik einer Farbe “ ; ebda.: 189 - 220). - Der Anteil an Wortlosigkeit/ Schweigen vs. Wort-Schöpfung und Mystik in Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 177 im Garten ein Kind (den gelben Schlauch einer Pumpe! ) ‚ zur Welt bringt ‘ . Anschließend bittet sie Hans-Cristian, den Anfang der Schöpfungsgeschichte der Bibel in Hebräisch zu rezitieren: „- Bö reshit barah eloim et hashama ′ im et ha ′ ares. “ 85 (DHG: 140) „ Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. “ (Gen 1,1) Creatio ex nihilo. Das Kapitel „ Paula “ rührt an das Innerste des Romanstoffes, an das Mysterium einer göttlichen wortlosen Sprache, die „ Im Anfang “ ist, eine Kommunikationshaltung, kontemplativ im vereinenden Schweigen, unvorstellbar viel größer als der dualistisch orientierte Geist des Menschen, der in seinem Denken und Handeln dauernd die Distinktion gut - böse, gut - schlecht, lang - kurz (usw.) vornimmt und ausspricht. Ihr häufigster Name ist ‚ Liebe ‘ . Das ganze Geschehen ist eingebunden in die abgebrochene Tauffeier Jacobs, 86 die sein Vater, Pfarrer Wermelin, vollziehen sollte - in Abwesenheit jedoch der Kindesmutter und Ehefrau, die sich zu dieser Stunde einem Mann mit „ mächtigem Oberkörper, gewaltigen Schultern “ hingibt, der in der Scheune mit Getreidedreschen beschäftigt ist. Wie Paula ist William versehrt; nicht an der Seele, sondern am Körper. Ein Bein musste ihm amputiert werden, als er vor Jahren beim Holzfällen unter einen umstürzenden Baum geriet. Beide Akte konnten nicht ganz vollzogen werden. Während der Taufakt als heilige Handlung angesehen wird, gilt das Sakrament der (fleischlichen) Liebesstunde zumeist als profan. In der Koinzidenz beider Handlungen zu einem simultanen narrativen Moment vereint, scheint diese Klasssifikation hinfällig. Nächstenliebe ( ‚ agape ‘ ) und die sexuelle Liebe (,eros ‘ ) werden hier durch ihre Engführung jeder Zuordnung enthoben. Dass ein Mensch auf ein (einziges) Wort reduziert wird, wie die ord/ Wort-Stelle oben problematisiert, widerspricht nicht nur der Komplexität eines jeden Menschen und einem differenzierteren Verständnis von gesund - krank, sondern elementar der Prozesshaftigkeit der Welt, wofür Paula einsteht. Für sie ist alles „ Im Anfang “ , im Entstehen, wenig oder noch gar nicht bewortet, wandelbar, offen, weich. Nicht hart und fest wie die „ Scheren “ und „ Messer “ , „ tote Dinge “ , die „ nicht wachsen “ . (DHG: 144) Paula befand sich „ auf einer anderen Seite der Wörter. [ … ] Könnte ich mich doch in deine Welt übersetzen. “ (145) schließt Hans- Cristian. Eine aporetische Situation. Bemerkenswert ist hier einmal mehr die gleichsam physische Relation Paulas zu den Wörtern, als hätten sie einen dinghaften Körper, könnten ausgewrungen werden und „ eine Wahrheit “ offenlegen. Dass diese keine solche besaßen, kann als die (kritische) Stimme des Erzählers wie auch als erlebte Rede Paulas gelesen werden. Die ausgebrochene Assoziationskette setzt sich in Abschnitt 3 fort. Da heißt es: „ Auf der anderen Seite des Tisches saßen Harald, Joel, Gertrud und Hans-Cristian. Sie saßen viel zu eng aneinander. Eigentlich waren sie Häuser rund um einen Marktplatz, deren Augen Fenster, deren Balkone Münder. [ … ] Der Tisch war ein eigentümlicher Marktplatz! “ (DHG: 145) DHG und GUD ist beträchtlich. Eine gesonderte Studie müsste sich diesem Aspekt von DHG und GUD verschreiben. Mehr zum ‚ Schweigen ‘ im Kap. 4.2 (Guddöttrarna). 85 Vgl. dazu Kap. 2.1. 86 Die nicht vollzogene Kindertaufe - Treueid oder Sakrament zum Empfang der Gnade Gottes und Zeichen der Aufnahme in die Gemeinschaft der Christen - ist geradezu logischer ‚ Zwischenfall ‘ . Bedeutungsvoll steht er im Ko-text zum Buch und seinem Schöpfer, Göran Tunström, der in De heliga geograferna seine Figuren am Monopol von Gottes Wort und Gnade damit (ver-)zweifeln lässt. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 178 4 EPILOG Die Groteske der Bildhaftigkeit erinnert an dieArt brut 87 mit ihrem ungeschminkten Blick auf menschliches Zusammenleben. Sie weist Ähnlichkeiten auf mit Lena Cronqvists Bilderzyklen „ roher Kunst “ aus den 1970er Jahren, in denen die Künstlerin gesellschaftliche (Miss-) Stände, Konventionen und Kräfteverhältnisse demaskiert. Ihr „ 4-Uhr-Kaffee “ von 1971 ist das Ebenbild dieser von Tunström mit Worten gemalten Szene. 88 Abb. 8: Lena Cronqvist „ 4-kaffet / 4 O ’ clock Coffee “ In Abschnitt 3 (DHG: 145 - 147) wird das Bild der Menschen als Häuser für Paula real. Sie ‚ steigt ‘ im psychotischen Schub in das ‚ Haus Hans-Cristian ‘ . Die Einbildung wird ‚ Fleisch ‘ oder lebendige Erfahrung: „ Man muss sowohl Mensch und Haus und alles zusammen sein. “ (DHG: 146) „ Erfahrung kann man als krankhaft verrückt beurteilen oder als voller gesunder Mystik. Die Unterscheidung ist nicht leicht[ ] “ (Laing 1975: 120 - 121), sagte der Antipsychiater zu dieser Art ‚ transzendentaler ‘ Erfahrung. Der Art-brut-Künstler Jean Dubuffet 87 Der Begriff geht zurück auf Jean Dubuffet (1901 - 1985), der ihn 1949 mit seinem Manifest L ’ Art brut préféré aux arts culturels als das Konzept einer antiintellektuellen Kunst ausrief. Für Dubuffet ist die (autodidaktische) Kunst von Kindern, Naiven und Geisteskranken mit ihrem Bildvokabular nahe der Art brut. - Für eine weitere Beschäftigung mit L ’ art brut sei an dieser Stelle auf das gleichnamige Standardwerk von Michel Thévoz (2016) verwiesen, sowie auf Briefe und kleinere literarische Texte von Jean Dubuffet (1993). 88 „ 4-kaffet/ 4 O ’ Clock Coffee, 1971 “ , abgebildet in Castenfors (2003: 42). - Der Beitrag des Herausgebers „ Lena Cronqvist och det absolut nödvändiga “ bietet eine subtile Annäherung an die Bildwelt Cronqvists (Castenfors 2003, schwedisch: 9 - 115, englisch „ Lena Cronqvist and the Quintessential “ als summary: 182 - 185). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 179 äusserte sich (im Brief an Jacques Berne vom 24. Jan 1980) zu der Frage von ‚ Sprache und Wirklichkeit ‘ so: Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass unser Wortschatz als ein Verzeichnis der Tatsachen und Begriffe, die in ihrer Gesamtheit das darstellen, was Wirklichkeit genannt wird, nur ein willkürliches Produkt, eine kulturelle Konvention ist, auf die man sich nicht guten Glaubens verlassen kann, ausser in dem Punkt, dass sie die bequemen gesellschaftlichen Gewohnheiten der menschlichen Sippe garantiert. (Dubuffet 1993: 60) Die Situation entwickelt sich weiter zur folgenden Stelle, in der Wort und Handlung, Erzählerstimme und Paulas (innere) Stimme, wild ineinandergreifen. Paula ist am Haus angekommen und steht vor der Tür: DHG: 146: Hon fick tag i dörrkläppen igen. Dörren var brun och tung. Jag måste förstå kombinationen som öppnar den. Ordet dörr. Ordet kom-bi-na-ti-on. Bokstäverna trängde si på, alla bevakade henne, de hade tänt strålkastare, som svängde över hennes kropp. Sie bekam den Türklöppel wieder zu fassen. Die Tür war braun und schwer. Ich muss die Kombination verstehen, die sie öffnet. Das Wort Tür. Das Wort Kom-bi-na-ti-on. Die Buchstaben drängten sich auf, alle bewachten sie, sie hatten die Scheinwerfer angezündet, die über ihren Körper schwenkten. Paula erlebt eine Anthropomorphisierung der Buchstaben, „ alle bewachten sie “ . Sie hat keine Kontrolle über ihr Denken, Fühlen und Handeln. Wörter und Buchstaben halten sie in Bann, sie ist unerreichbar, auch für Hans-Cristian, eine dissoziative Identitätsstörung hat sie in ihrer Macht. Sie erlebt sich als vier Paulas und die Wörter frei aller Konventionen, der Erzähler stellt fest, dass „ nur die vierte Paula, die im Sofa saß, richtig ruhig wurde “ . (DHG: 148) „ Sie hatten ihr etwas weggenommen, den halben Körper, den mit den Konsonanten, die Öffnungen waren, Senken, die Gott waren. “ (DHG: 147) Die Buchstaben, die eben zitierten hebräischen, existierten nicht mehr, warten ‚ tot ‘ , denn im Hebräischen werden nur die Konsonanten geschrieben, während die Vokale durch Setzen von Punkten unter den Buchstaben angedeutet werden. 89 DHG: 148: Hon ville veva tillbaka orden, så att de inte fanns, hon ångrade sig. Sie wollte die Wörter zurückdrehen, so dass sie nicht existierten, sie bereute es. Das ‚ Aufziehen ‘ eines Schellack-Schallplattenspielers durch Drehen der Kurbel hieß im Schwedischen ‚ veva upp verket ‘ . War das Federwerk aufgezogen, konnte der Plattenteller sich drehen, die in der Platte eingeritzte Tonspur von der Tonnadel ‚ gelesen ‘ und über den Tontrichter als Schall wiedergegeben werden. In „ veva tillbaka “ ist dieser Vorgang ins Gegenteil gekehrt, die ‚ Schallplatte der Wörter ‘ läuft rückwärts, „ so dass sie nicht existierten “ . Beim Magnettonband hieß das (engl. ‚ Backmasking ‘ ): die Töne rückwärts 89 Für eine Einführung in die Sprache der Bibel siehe Weinreb (1975). Die Symbolik der Bibelsprache. Vgl. hierzu: „ Neben den 22 Konsonanten gibt es selbstverständlich auch Vokale. Wie wir bereits in der Einleitung ausgeführt haben, werden sie im klassischen Hebräisch nicht geschrieben und kommen deshalb auch im Alphabeth nicht vor. Seit etwa eineinhalb Jahrtausenden aber werden sie in Form von Pünktchen und Strichen für den Gebrauch der Laien den Buchstaben, d. h. also den Konsonanten, hinzugefügt. In der Thora-Rolle finden sie sich natürlich nicht. “ (Weinreb 1975: 39) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 180 4 EPILOG erklingen lassen und damit ihre Semantik aufheben. The Beatles nutzten diese Technik als erste künstlerisch auf ihrem Song „ Rain “ von 1966, erschienen auf der B-Seite ihrer Single „ Paperback Writer “ , wenn im Fade out des Songs John Lennons Worte If the rain comes they run and hide their heads zurückgewoben, semantisch ‚ auf Null ‘ gesetzt werden: „ Sdaeh rieht edih dna nur yeht semoc niar eht fi. “ „ Rain “ und „ Paperback Writer “ stehen im Umfeld der zehn psychedelischen Songs, die mit dem Album Revolver (1966) herauskamen. Zu diesem Umfeld gehört „ Nowhere Man “ , den die Fab Four 1965 für das Album Rubber Soul eingespielt hatten. Der Song erzählt von einem Mann „ He is a real nowhere man / Sitting in his nowhere land “ . Auch Paula, die sich vervierfacht, um mit einer Person in Überzahl zu sein gegenüber den „ drei Doktoren “ und „ drei Hans-Cristian “ , hat sich in ein ‚ Nowhere land ‘ gesetzt: DHG: 147 - 148 Det är ett sjukhus. En doktor gled emot henne och delade sig i tre doktorer och en var en kvinna. Hans-Cristian delade sig i tre Hans-Cristian. Det finns en möjlighet, tänkte hon. Om jag blir fyra Paula, en för varje väderstreck, så kan jag ställa mig i rummets fyra hörn och täcka de andra. Ha en över. En som kan smita. Ein Krankenhaus. Ein Doktor glitt auf sie zu und hat sich in drei Doktoren aufgeteilt, und eine war eine Frau. Hans-Cristian hat sich in drei Hans-Cristian aufgeteilt. Es gibt eine Möglichkeit, dachte sie. Wenn ich vier Paulas werde, eine für jede Himmelsrichtung, kann ich mich in den vier Ecken des Zimmers aufstellen und die anderen decken. Und eine bleibt übrig. Eine, die sich drücken kann. „ Nowhere man, the world is at your command “ , die dritte Zeile der dritten Strophe des sechstrophigen Liedes „ Rain “ zeigt auffallende Ähnlichkeit mit der Position von „ den fjärde Paula som satt i soffan “ (DHG: 148) [der vierten Paula, die im Sofa saß] und „ das Kommando übernahm “ ( „ tog befälet “ ; ebda.) Scheinbar souverän überschaut sie in ihrer Viergestaltigkeit, was sie erlebt und tut, das Geschehen ihrer psychotischen Bilder und selbstwidersprüchlichen Sprachhandlungen. Ob das Zwiegespräch der „ vierköpfigen “ Paula mit ihrer Gedankenrede „ NU LURADE JAG DIG ALLT “ (148) [ JETZT HAB ICH DICH REINGE- LEGT] und deren Zurücknahme „ JAG LURADE DIG INTE “ (ebda.) [ICH HAB DICH NICHT REINGELEGT] mit der Technik des ‚ veva tillbaka ‘ Gemeinsamkeiten hat, bleibt offen. Die Möglichkeit ist bei Tunström, der aus erster Hand auch in der Popkultur 90 informiert war, nicht auszuschließen. Somit handelte es sich hier um einen transmedialen Palimpsest gesungener Liedworte in gedachte, in den literarischen Text projizierte. Text als ‚ Gewebe ‘ entspringt dieser Metapher: „ veva tillbaka “ bedeutete damit buchstäblich das ‚ Zurückweben ‘ , also den Prozess der Auflösung des Gewebes aus Worten, folglich: das Tilgen von Text. Hans-Cristian hat Paula unterdessen in die Klinik gebracht und sieht jetzt der Konsultation beim Arzt entgegen: DHG: 150: Och han [H.-C.] väntade på de första orden: en dom, eller någonting hoppfullt: en stängd eller öppen dörr. 90 Vgl. dazu Leonard Cohen (1972). Dikter från ett rum. I urval och översättning av Staffan Söderblom och Göran Tunström [Gedichte aus einem Zimmer. Auswahl und Übersetzung von Staffan Söderblom und Göran Tunström]. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 181 Und er [H.-C.] wartete auf die ersten Worte: ein Urteil, oder etwas Hoffnungsvolles: eine geschlossene oder eine offene Tür. DerArzt gibt seine Diagnose ab und sagt: „ [D]et är en mycket god prognos på den här typen av psykoser. Så gott som nästan alltid återställs patienten. / - Den här typen? / - „ Gravididetspsykos, lactations - eller amningspsykos. “ (ebda.) [F]ür diese Art der Psychose besteht eine sehr gute Prognose. Der Patient kann eigentlich fast immer geheilt werden. / - Worum geht es? / - Schwangerschaftpsychose, Lactations - oder Wochenbettpsychose. “ ] Eine „ offene Tür “ . Worte können Türöffner sein. Wenn sie indes nicht öffnen, können sie Räume für immer schließen. Die klinische Diagnose des Arztes scheint im Einklang mit dem Statement von Ronald D. Laing: Es ist schwierig, „ gesunde Mystik “ von krankhafter Psychose zu unterscheiden. Die individuelle Erfahrungsbildung gestaltet sich stets wieder anders. DHG: 151: [aus: Absatz 3] Bakom sin rädsla för ord hade hon lätt att lära, ja bakom orden tyckte hon ibland att explosioner uppstod; det regnade ner över henne skärvor från hittills dolda sammanhang, som belyste henne och fick henne att känna sig i besittning av - en sorts skönhet. Så började hennes upplevelser av det heliga. / / 4 / / Med Martas historia började min egen upplevelse av det heliga. [aus: Absatz 3] Hinter ihrer Angst vor Wörtern fiel ihr das Lernen leicht, ja hinter den Wörtern schien ihr manchmal, ereigneten sich Explosionen; es regnete über sie Scherben bisher verborgener Zusammenhänge, die sie erleuchteten und ihr das Gefühl gaben, sich im Besitz zu fühlen von - einer Art Schönheit. So begannen ihre Erfahrungen mit dem Heiligen. / / 4 / / Mit Martas Geschichte begann meine eigene Erfahrung des Heiligen. In dieser Digression ist die Rede von Paulas Schwester Marta (Schwartz), 91 die in Göteborg mit der Welt der Wörter in Kontakt kommt und Freundschaft zu schließen beginnt. Marta „ die sich lange in Göteborg herumtrieb, ohne ihre Geschichte zu kennen. Stampgatan, Kanalen, Trägårn, Allégatan: Das waren Namen, die ihr nichts sagten. “ (DHG: 151) Mit der Entdeckung der Synagoge 92 wächst ihr Interesse für das Judentum und seine Traditionen, sie berichtet Hans-Cristian von ihren Erfahrungen, weiß nicht, dass dieser ihre (Lebens-) Geschichte von Richard Bergmark bereits kennt. (vgl. DHG: 30 - 33 und 154) Mit dem Übertreten der Schwelle zur Synagoge ( „ tröskeln “ , 153) und der Teilnahme am Gottesdienst findet Marta den Kontakt „ zu Gott, dem Judentum “ . (ebda.) Von der Gemeinde jedoch fühlt sie sich in keiner Weise aufgenommen, wie sie Hans-Cristian erzählt, als sie ihm, der mit Kind Jacob alleine ohne Paulas Hilfe dasteht, zu Hilfe eilt, ohne wirklich helfen zu können ( „ låtsas vara till hjälp “ . (DHG: 154) Hans-Cristian erkennt in Paulas Hilflosigkeit sich selbst und so beginnt seine „ eigene Erfahrung des Heiligen “ (151) - in Form von Geburt und Tod, die nahezu simultan eintreten: Jacob, sein Sohn wird geboren, und während er „ Bältrosen “ , ein Mitglied seiner Gemeinde, zu bestatten hat, ist seine Paula krank, sie erlag der 91 Auch hier wählte Tunström einen für die Geschicke sprechenden Namen: Marta, hebr. „ die Gebieterin “ . Sie ist eine Jüngerin Jesu, Schwester von Maria Magdalena und Lazarus. 92 Sie steht, erbaut von dem aus Pommern eingewanderten August Krüger (1822 - 1896), heute (2021) wie „ damals “ (in den Jahren des 2. Weltkrieges) an der Stora Nygatan 17 im Zentrum Göteborgs. (Im Dezember 2017 ist, ohne Menschen zu schaden, ein Brandanschlag auf die Synagoge verübt worden.) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 182 4 EPILOG „ sprachlichen Falle. So rücksichtslos ist die Sprache. Es fehlt ihr mitunter an Generosität [ … ]. Auch seine und Paulas Sprache befanden sich nun jede auf ihrer Seite einer Gefechtslinie. “ (155) Und wie Hans-Cristian nun Paula in der Klinik hinter vergitterten Fenstern auf der Geschlossenen Abteilung an ihrem Krankenbett besucht, folgt die entscheidende Frage: DHG: 155: Vilka ord kunde vara förmedlande? [ … ] Hon satt och sjöng ordet DET när han såg på henne genom hålet. Bibeln låg uppslagen framför henne. Skapelseberättelsen. Welche Wörter könnten vermittelnd sein? [ … ] Sie saß da und sang das Wort ES, als er sie durchs Guckloch hindurch erblickte. Die Bibel lag aufgeschlagen vor ihr da. Die Schöpfungsgeschichte. Die Erschaffung der Welt beginnt gemäß christlich-judäischer Schöpfungsgeschichte, wie im Buch Genesis überliefert, mit: „ Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. “ (Gen 1,3) Im Prisma gebrochenes reines Licht erzeugt das Spektrum der Farben. Paula liest Farben wie andere Menschen Wörter, wie der Erzähler zu Beginn von Guddöttrarna zu berichten weiß: „ Die Dinge sahen sie mit neuen Augen an. Für sie gab es andere Wörter, andere Farben. “ 93 Paulas Kommunikationsmittel sind die Farben (des Lichts) und nicht die Wörter (der Sprache). Auch registriert sie ein breiteres Spektrum an Farben als die meisten Menschen; dieser Überschuss wirkt sich in der wortbasierten Kommunikation als Defizit aus, da er nicht teilbar, vermittelbar ist: Paula ‚ spricht ‘ nicht das Idiom „ der anderen “ . Hans- Cristian fordert sie deshalb auf: „ Paula, det är du som måste komma tillbaka till vårt språk, det som delas av majoriteten av människor. Därför. Du måste begränsa dig? Du, Paula, Du! “ (DHG: 155) [Paula, du musst wieder zu unserer Sprache kommen, die sich die Mehrheit der Menschen teilt. Darum, Du musst dich begrenzen? Du, Paula. Du! ] Paula wähnt weiterhin alle Sprachen der Welt zu lernen und sprechen zu können. Sie lässt sich nicht davon abbringen. Sie bittet Hans-Cristian, dass er wiederholt „ Im Anfang war …“ aufsage. Paula entgegnet: „ Es steht ja nur da, es ist nicht. Du musst es hersagen …“ . DHG: 192: Han [Harald] hörde sina egna ord [till Marta]. Det fanns inga andra ord i hela världen. De vände sig mot honom och ekade hjälplösa, nakna. Er [Harald] hörte seine eigenen Worte [an Marta]. Es gab keine anderen Worte in der ganzen Welt. Sie wandten sich gegen ihn und echoten hilflos, nackt. Harald fühlt sich von der Ohnmacht seiner Worte bedroht - Marta erhört und beachtet ihn nicht - , denn sie verhallen „ hilflos, nackt “ . Die Stelle steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der nächsten Situation, als Harald, der „ noch nie in der Nähe einer Frau gewesen ist “ (DHG: 192) und nun schon eine Weile wie ein „ Baron auf den Bäumen “ 94 im Geäst eines 93 Vgl. dazu GUD: 7, wo es von Judit heißt: „ Det fanns andra ord för henne, andra färger. “ [Es gab andere Wörter für sie, andere Farben.] Das Beispiel zeigt, wie stark GUD und DHG motivisch und narratologisch ineinander verschränkt sind, was bei zwei ‚ Tafeln ‘ eines intendierten (Roman-) Triptychons kaum erstaunt. 94 Vgl. den gleichnamigen Roman von Italo Calvino von 1957 Il barone rampante, der bereits 1959 in der Übersetzung auf Schwedisch als Klätterbaronen bei Bonniers erschien. Der Moment erinnert zugleich an Teos Schrei vom Baum in Fellinis Amarcord: „ Voglio una donna! “ Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 183 Tannenbaums sitzt, sich endlich von dort wieder herunter begibt im Versuch, das kommunikative Kräfteverhältnis zwischen ihm und Marta ins Gegenteil zu verkehren: DHG: 193: Och han [Harald] lät sig sjunka ner genom tårarna. Han grät för att ge henne en sista chans att försvinna eller säga ett avgörande ord eller skratta. Und er [Harald] ließ sich durch die Tränen hindurch herabsinken. Er weinte, um ihr eine letzte Chance zu geben, zu verschwinden oder ein entscheidendes Wort zu sagen oder zu lachen. Tränen fungieren an dieser Stelle als „ Körpersprache “ , um eine ‚ Antwort ‘ auszulösen. Doch hier mit dem Effekt, dass sich Marta wortlos von ihm zurückzieht. Hans-Cristian, der zu Boden gefallen war, kroch nun „ auf ein Land zu, das sich immer weiter zurückzog. “ (ebda.) In der nächsten Szene, im Kapitel „ Dopet “ [Die Taufe], sehen Hans-Cristian und Paula sich wiederum konfrontiert: DHG: 198: - Jag vet väl det, säger hon [Paula], och för att hinna före hans nästa ord som hon redan ser, rycker hon tvättsvampen från den förskräckta tvätterskan 95 och börjar rasande snabbt skrubba sig över kroppen. Ich weiß das, sagt sie [Paula], und um seinem nächsten Wort zuvorzukommen, das sie bereits sieht, entreißt sie der erschreckten Wäscherin den Putzschwamm und fängt an, sich damit rasend schnell über den Körper zu schrubben. Potenzielle Wörter (im Raum) werden hier wie körperhafte Wesen antizipiert und weggeschrubbt. Die Ersatzhandlung wird nicht Hans-Cristian ‚ zugeschrieben ‘ (der vom Kopf und damit ‚ sprachgesteuert ‘ ist), sondern Paula, die der Körpersprache näher ist. DHG: 203: Är inte det de exakta orden? [ … ] Man kan inte bara säga „ upp “ efteråt, för då betyder det ordet ingenting. Sind nicht genau dies die richtigen Worte? [ … ] Man kann nicht nachträglich „ auf “ sagen, denn so bedeutet dies Wort nichts. Paula fantasiert sich als Vierzehnjährige, die noch nicht korrekt sprechen könne ( „ tala rent “ ). „ Jag plockar björnbär “ sagte sie [Ich pflücke Brombeeren]. Und kommentiert: Sie könne das nicht ausgesprochene „ auf “ nicht nachträglich, ohne Bezug, als einzelnes Wort dahersagen, denn so bedeutete dies Wort nichts (mehr). Mit der Selbstkorrektur am syntaktischen ‚ Regelverstoß ‘ setzt Paula sich nun wieder ‚ zusammen ‘ . Die Reflektiertheit ihrer sprachlichen Auslassung spricht von der Gefahr der Dissoziation. DHG: 204: Ord är löjliga. Stora timmerstockar som skall köras in i synålshuvuden. Worte sind lächerlich. Dicke Baumstämme, die in Nähnadelköpfe eingefädelt werden sollten. 95 ‚ tvätterska ‘ : nach SAOB (2009, Bd. 35: 3394) war diese Berufsbezeichnung früher auch gebräuchlich für „ tjänstekvinna med uppgift att rengöra servisföremål “ [Dienstmagd mit der Aufgabe, das Essgeschirr reinzuhalten]. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 184 4 EPILOG Paula, Patientin der Psychiatrischen Klinik, wo sie u. a. mit Elektroschocks behandelt wird - parierte die an sie gerichtete Höflichkeitsfrage, wie es ihr ginge, mit: „ Det är utmärkt “ [ausgezeichnet]. Eine Höflichkeitsantwort auf eine Höflichkeitsfrage. Die Antwort ist richtig und falsch zugleich, entspricht der (rhetorischen) Konvention, sich keine Blöße zu geben. Was den Wahrheitsgehalt der Aussage anbetrifft, ist sie grundfalsch. Paula geht es miserabel in ihrer Isolation, 96 in Ermangelung an gemeinsam mit der Gesellschaft geteilten verbindlichen Werten, verbindenden Worten. Die Floskel-Antwort ist so konventionell wie die Frage. Paulas innere Stimme - oder ist es ein Gedanke der Erzählinstanz? - legt mit ihrer Baumstamm-Nähnadelkopf-Metapher die Anmaßung von Gesprächsstereotypien offen. Sprache ist hier maximal Small Talk. Radikal anders ‚ spricht ‘ Paula bei der überraschenden Taufe der anderen Art von Hans-Cristian 97 . Sie murmelt bei der rituellen Waschung „ Tiraden einer ausgelassenen, zugleich ernsten Freude “ (DHG: 209). Wörter aus einer anderen Welt, aus ihrer Welt - „ unterschrieben “ mit einem blutigen Biss. Das an seinem Kinn herabtröpfelnde Blut steht symbolisch für das Leben. Sie macht das „ nicht um ihn niederzumachen, sondern um ihn an seine Existenz zu erinnern “ [ … ] Sie öffnete eine Sprache von Bedeutungen, die er sich aneignen musste, um sie wieder zu verstehen und ihr näher zu kommen. “ (211) Diese Erfahrung bringt ihm die Einsicht, dass „ das Wort Skål 98 die exakt gleiche Bedeutung wie das Wort Gott “ (212) habe. „ [I]ch mag meine eigenen Worte nicht “ (217) und „ Ich komme nicht klar mit dieser ganzen Rationalität “ , resumiert er in seinem Brief an seine „ geliebte Paula “ (219) kurze Zeit später. Hans-Cristians „ Rationalität “ wird aufgeweicht. Der Text führt dies am Wort ‚ Skål ‘ vor, das von Hans-Cristian mit der Bedeutung des Wortes ‚ Gud ‘ gleichgesetzt wird. Heißt das, dass das Wort ‚ Skål ‘ , gleich wie das Wort ‚ Gud ‘ , zum ‚ Allerweltswort ‘ verkommt? Und: Was ist gemeint mit „ die exakt gleiche Bedeutung “ der beiden Wörter? Ist damit die gesellschaftliche Konventionalität einer längst etablierten Leerformel gemeint? DHG: 207: Eftersom jag kände honom och för att jag tänkte att här behöver jag [H.-C.] inte stanna och truga med vackra ord om gemenskap över alla gränser, så öppnade jag mig. Weil ich ihn kannte und weil ich dachte, hier brauche ich [H.-C.] nichts schönzureden mit Worten von Gemeinsamkeit über alle Grenzen hinweg, habe ich mich denn geöffnet. Hier in Kapitel 8, „ Dopet “ , wird Hans-Cristian von Paula getauft - „ hon mumlade ramsor med en uppsluppen, samtidigt allvarligt glädje “ (DHG: 209) [sie murmelte Wortschwälle mit 96 GT im Interview mit Margareta Garpe (Garpe 1983: 15): „ Psykosen blir en förbindelsekanal till denna min sanning om livet som icke-isolering och förbindelse mellan människor. [ … ] Nu tycker jag att psykosen beskriver en förhöjning, en förtätning som borde finnas i varje litterär text. Där orden får sin tyngd, där meningarna står i ett spänningsförhållande till varandra osv. “ [Die Psychose wird zu einem Verbindungskanal zu dieser meiner Wahrheit über das Leben als Nicht-Isolation und Verbindung zwischen den Menschen [ … ]. Nun denke ich, dass die Psychose eine Überhöhung beschreibt, eine Verdichtung, die in jedem literarischen Text vorhanden sein sollte. Wo die Wörter ihr Gewicht erlangen, wo die Sätze in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen usw.] 97 Hans-Cristian Wermelin ist hier nicht der Pastor, sondern der „ barnavårdnämndens ordförande “ [der Vorsteher des Kinderfürsorgeamts], vgl. DHG: 159. 98 Sigurd Videman hatte Hans-Cristian, als dieser sich wieder zu den anderen Mitgliedern der SGS, die ihn auf seinem Besuch in die Anstalt zu Paula begleiteten, zurückbegab, mit einem Skål! (DHG: 212) quer durch den Speisesaal empfangen. (Gleich danach wird er zum Amüsement der Männerrunde einmal mehr einen schlüpfrigen Witz erzählen.) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 185 einer ausgelassenen und zugleich ernsten Freude]. Paula, die sich schon mehrmals selbst getauft habe (! ), wie sie Hans-Cristian sagt, hat dafür ihren eigenen Ritus. Sie besiegelt den Akt mit einem Biss ins Kinn, was ein paar Blutstropfen verursacht. Ein neuer, anderer Hans- Cristian geht aus dieser Taufe hervor, wie zwei Seiten später zu lesen ist. „ Dopet var långtifrån en hädelse. “ (212) [Die Taufe war alles andere als eine (Gottes-)Lästerung.] Paula, in der Rolle der Priesterin, hat Hans-Cristian die Augen für die Welt der Sinne geöffnet. Auch sein Körper wurde endlich zum ersten Mal sichtbar. Seine Konturen zeichnen sich ab, sein Gesicht kommt hinter der Maske hervor. Ein anderer geworden, nimmt Hans-Cristian in der Folge den Zuruf „ Skål! “ Sigurd Videmans plötzlich ganz anders wahr: das hierarchische Wortgefälle scheint erloschen, wie die nächste ord/ Wort-Stelle zeigt: DHG: 212: Men tystnaden efteråt, fick honom åter att omslutas av sin egen värld, där han inte längre visste vem av dom, Paula eller han, som verkligen var fri, vem av dom, som verkligen levde i den rätta världen, som om det nu var fråga om två världar, en riktig och djup, där alla steg ledde till gud, och all kunskap, alla ting hade sin motsvarighet i en himmel, och denna värld, där kunskapen inget centrum hade, utan ordet Skål var av exakt samma betydelse som ordet Gud. Das Schweigen danach aber schloss ihn wieder in seiner eigenen Welt ein, in der er nicht mehr wusste, wer von ihnen, Paula oder er, wirklich frei war, wer von ihnen wirklich in der richtigen Welt lebte, als ginge es um die Frage zweier Welten, eine richtige und tiefe, in der alle Schritte zu Gott führten und alles Wissen, alle Dinge ihre Entsprechung in einem Himmel hätten, sowie um diese Welt, in der das Wissen kein Zentrum habe, sondern das Wort Prost die exakt gleiche Bedeutung wie das Wort Gott. Nach dieser Erfahrung des Schweigens möchte Hans-Cristian Paula jetzt näherkommen. DHG: 215: Hans-Cristian tog med sig pojken upp på scenen, höll honom i sina armar, medan han riktade någrå ord till den hälften av församlingen som satt kvar, efter det att Sten Bergman 99 fått sin applåd, samlat ihop bilderna och försvunnit till tåget. Hans-Cristian nahm den Knaben mit zur [Redner-]Bühne, hielt ihn in seinen Armen während er ein paar Worte an die Hälfte der Versammlung richtete, die noch übrig war, nachdem Sten Bergman seinen Applaus bekommen, die Bilder eingesammelt und sich auf den Zug gemacht hatte. Wenige Zeilen nach dieser Stelle spricht Hans-Cristian noch „ ein paar einführende Worte “ (über Zusammengehörigkeit) an die Mitglieder der „ tapfere[n] Gesellschaft “ (SGS), die den „ Alkohol aus sich herausgähnte “ . (DHG: 215) ‚ Worte richten an ‘ und ‚ einführende Worte sprechen ‘ verströmt den Geist hohler Rhetorik. Das ist wohl auch mit ein Grund dafür, dass der Erzähler die Schilderung dieses Abends beendet mit: „ Die Gemeinschaft war gesichtslos, was das anbetrifft “ . (ebda.) Sprachkonventionen und Vereinsrituale mit ihren statutarischen Phrasen und Abläufen, können einen einschläfern. Der Schluss liegt nahe: Den 99 Der studierte Zoologe Sten Bergman (1895 - 1975) unternahm Forschungsreisen in alle Welt und war zu seiner Zeit ein beliebter Vortragsredner und Sachbuchautor. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 186 4 EPILOG unkonventionellen Frauen des Romans wäre diese Art der Kommunikationslosigkeit nicht unterlaufen. DHG: 235: Här någonstans börjar också mina egna första minnen att dyka upp och med minnena inleds också döden: världen är begränsad och smal, fantasiernas ram är liten. / Jag minns att jag började få problem med ett ord som hette fred. Jag minns det som ett av mina första minnen. Hier irgendwo beginnen auch meine ersten Erinnerungen aufzutauchen und mit den Erinnerungen gleichzeitig der Tod: die Welt ist begrenzt und eng, der Raum der Fantasien klein. / Ich erinnere mich, dass ich ein Problem mit dem Wort Friede bekam. Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen. In Prästungen wird dieselbe Erinnerung so evoziert: „ Dom bor i vårat hus för att det är krig. Fast inte här. Här är det fred, har pappa sagt. “ (PRÄ: 29) [Sie (sc. die Soldaten) wohnen in unserem Haus, weil Krieg ist. Aber nicht hier. Hier ist Friede, hat Vater gesagt.] 100 Die gut gemeinten väterlichen Worte sollten den Knaben Göran vor dem beunruhigenden Wort ‚ Krieg ‘ schützen, ihre Alogik 101 aber hatte den Jungen wohl eher noch mehr zur Verzweiflung gebracht. Hier spricht Jacob (Wermelin) im dramatischen Schlusskapitel Adepten [2], wie Jacob seinen Vater in (w)irrer Rede bittet, ihn zu töten, da er Mutter (mit einer Axt) getötet habe. 102 Einer Umkehrung der „ Opferung “ Isaaks gleich, wie sie im Buch Mose (Gen 22, 1-19) berichtet wird, gehen alle Beteiligten heil aus dieser Probe der Gottesfurcht hervor. Die Stelle ist von zentraler Bedeutung, nicht nur für den gänzlich dissonanten Ausklang des Buches, sondern vielmehr für das ganze Problem Wort - Welt. Zuerst jedoch sei der Schluss dieser theologisch aufgeladenen (Lehr-)Erzählung in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zitiert: - Du yrar, sa Paula. Men det går över. Ja log „ bittert “ mot henne. Än sen då, nu yrar jag inte längre, men jag har gjort vad jag sa. - Men mamma lever ju. - Jag har gjort det i alla fall. Jag såg det ju så tydligt framför mig och tvärs genom kroppen. Och jag såg hur jag blivit en soldat, för att freden var så liten att det inte finns plats för något annat än soldater. Man skall inte låtsas att det är nånting med en fred, som bara finns utefter väggen vid ens säng, som är så smal att bara man vänder på sig hamnar man med ryggen utanför. Man skall inte gå omkring och vänta i det som ändå visar sig, en dag, vara något annat. Och jag gled allt djupare ner i lakanen som vitnade och svalnade under mig och omkring mig. (DHG: 250 - 251) 100 Das Gegenwort findet sich bereits auf den ersten Seiten von Prästungen, als in „ Vaters Bibliothek “ über „ POLITIK und KRIEG “ (PRÄ: 11) geredet wird und Göran „ Wörter wie Hitler und Norwegen hörte “ , Wörter „ die ich verstanden wie nicht verstanden habe “ . (PRÄ: 10) 101 Genau genommen besteht die Alogik in dem mit zwei verschiedenen Bedeutungen aufgeladenen Gebrauch des Wörtchens ‚ hier ‘ : zuerst meint Vater damit, dass nicht ‚ hier ‘ , im Land Schweden, Krieg sei (makrokosmische Perspektive), doch wie er ‚ hier ‘ zum zweiten Mal ausspricht, versteht er darunter Sunne, das Pfarrhaus, das Dach über ihrem Kopf (mikrokosmische Perspektive), was Göran verwirrt: Nicht einmal auf (Vaters) Wörter ist mehr Verlass. 102 Die beide gar nicht länger Vater und Mutter waren, sondern nur noch nichtssagende Namen ( „ de var bara platta namn “ ). (DHG: 249) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 187 - Du fantasierst, sagt Paula. Aber das geht vorbei. Ich lächelte sie „ bitter “ an. Und wenn schon, jetzt fantasiere ich nicht mehr, aber ich habe getan, was ich sagte. - Aber Mutter lebt ja. - Ich habe es jedenfalls getan. Ich sah es deutlich vor mir und spürte es am ganzen Körper. Und ich sah, wie ich ein Soldat wurde, denn der Frieden war so klein, dass für nichts Anderes Platz ist als für Soldaten. Man soll nicht so tun, als habe es etwas mit einem Frieden auf sich, den es nur an den Wänden ums Bett gibt, das so schmal ist, dass man herausfällt, wenn man sich auf den Rücken dreht. Man soll keine Erwartungen hegen, die sich dann eines schönen Tages doch nicht bewahrheiten. Und ich sank immer tiefer und tiefer ins Bettlaken, das unter mir immer weißer und um mich immer kühler wurde. Hier spricht - durch (fiebrigen) Kindermund - die ethische Stimme des Autors. Wenige Seiten zuvor noch verlieh sie dem „ Frieden “ ein kindhaftes Gesicht, indem sie Jacob die Grundsatzerklärung in der direkten Rede abgeben ließ: Freden hade varit något som omgett mig som en cirkel, vars mitt var källarrummet. Man kunde vandra omkring i och vara i freden: stå i freden och betrakta kriget. [ … ] Freden hade också varit nånting som avgränsades uppåt av flygplanen. Stampet ovanpå vårt tak var också freden: något avgränsat, ganska trångt. Och jag inbillade mig att de vuxna, som reste med tåget och bilarna for till fredens utkanter, och där fanns stora lätare av trä, som sluttade neråt mot gränsen: där kunde man sitta med en filt kring benen och se på kriget. Det var där de satt, som rökte pipa och skrev i tidningarna. Freden hade varit en stor cirkel, men en kväll hände något med min bild. (DHG: 246-247) Der Frieden war etwas, das mich wie ein Kreis umgab, dessen Mitte der Kellerraum war. Man konnte darin hin und her wandern und im Frieden sein: im Frieden stehen und den Krieg anschauen. [ … ] Frieden war auch etwas, das nach oben von Flugzeugen abgegrenzt wurde. Das Stampfen über unserem Dach war auch Frieden: etwas Abgegrenztes, recht Enges. Und ich bildete mir ein, die Erwachsenen führen mit Zug und Auto an die Ränder des Friedens, und dort gäbe es große Tribünen aus Holz, die bis an die Grenze reichten: dort könnte man mit einer Decke um die Beine dasitzen und dem Krieg zusehen. Dort saßen sie, schmauchten eine Pfeife und schrieben in Zeitungen. Frieden war ein großer Kreis, doch eines Abends geschah etwas mit meinem Bild. Jacobs Bild von Frieden, das im semantischen Dreieck der Idee seines Wortes Frieden entspricht, zerspringt in zwei Hälften, 103 wird durchtrennt von der fiebrig geträumten Vision „ eines nächtlichen, außerfahrplanmäßigen Zuges “ (DHG: 247) ( „ [e]tt nattligt tåg utanför tidtabellerna “ ), eines Transitzuges der Wehrmacht, der Sunne „ zerschneidet “ . Das Bild wird ‚ lebendig ‘ , Jacob fantasiert eine gespenstische Kriegssituation, während er in Wirklichkeit im Bett liegt, umsorgt von Vater und Mutter. Die Erfahrung lehrte Jacob, unter die Oberfläche der Wörter ( „ under orden “ ) zu kommen. Er konstatiert: „ De sa att det var fred för att vi skulle hålla oss lugna. Men vände man bara lite grann på varje sak visade den ett annat ansikte, krigets. “ (248) [Sie sagten, es sei Frieden, damit wir uns ruhig hielten. Doch drehte man nur ein bißchen an diesem und jenem, zeigte sich ein anderes Gesicht, das 103 Vgl. den glücklosen Auftakt von Prästungen, wenn Görans mit Heidelbeeren gefüllte und auf die feurig heiße Herdplatte abgestellte Glasschüssel in zwei Stücke zerbirst und er untröstlich ist (vgl. PRÄ: 10). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 188 4 EPILOG Gesicht des Krieges.] Denn „ [e]s war Weltkrieg bis unter die Decke “ (235) - „ Det var världskrig upp under knutarna “ beginnt das „ Schlusskapitel “ (Adepten [2]). Das letzte Kapitel wird denn zu einer kleinen Abhandlung über das Wort ‚ Friede(n) ‘ , dessen Grundbedeutung „ Abwesenheit von Krieg “ ist. ‚ fred ‘ im Synonymwörterbuch Ord för Ord 104 verweist auf das eng verwandte Wort ‚ frid ‘ mit der Grundbedeutung „ Seelenruhe “ sowie „ Gottesfrieden “ , der im Schlusskapitel ebenfalls in die Diskussion eingebracht wird. ‚ Friede(n) ‘ gehört mit ‚ Liebe ‘ zu den ältesten Wirkwörtern der Menschheit. Das Historische Wörterbuch der Philosophie und die Theologische Realenzyklopädie widmen sich beide dem „ fundamentale[n] Menschheitsproblem “ (HWPh) in umfassenden Auslegungen. 105 Doch zurück zu der Aussage Jacobs, „ dass ich ein Problem mit dem Wort Friede bekam [ … ], ist eine meiner frühesten Erinnerungen. “ Dass in einem Roman des Genres ‚ Krieg und Frieden ‘ das Wort ‚ Frieden ‘ reflektiert wird, erstaunt nicht. Am Wort Friede(n) hat sich sein Schreiben nicht nur entzündet, das „ Problem mit dem Wort Frieden “ durchdringt das Werk Tunströms und entfaltet eine eigene Motivik. So auch in der Titelnovelle von Det sanna livet [Das wahre Leben] mit dem Brüderpaar Isaak und Jakov, das sich 1934 von Moskau nach Jerusalem 106 aufmacht, auf der erzwungenen Suche nach einem irdischen (und himmlischen) Frieden. DHG: 244: Osjälvisk var ett annat ord. Det skulle dröja innan Paula hittade de orden eftersom hon ställde sig vid hans sida, de år han hade kvar att leva och inte krävde av sig själv något annat, än att vara frisk. Jag, som infostrades i denna väntan, som skriver detta, som lärde mig det enda, jag … [ … ] Det kändes stort att framställa en fråga, som man stulit, som man ju stjäl alla ord och lägger i sin mun på exakt samma sätt som alla före en har gjort och man kommer aldrig utanför beroendet av de ord som är ute och vandrar. Selbstlos war ein anderes Wort. Es brauchte eine Weile, bis Paula die Wörter entdeckte, denn sie stellte sich an seine Seite in den Jahren, die er noch zu leben hatte und nichts anderes von sich selbst abforderte, als gesund zu sein. Ich, der ich in diesem Warten aufging und der dieses hier schreibt, das Einzige, was ich mir beibrachte, ich … [ … ] Es war ein gutes Gefühl, eine Frage zu stellen, die man entwendet hat, so wie man ja alle Wörter entwendet und sie auf die gleiche Weise in seinen Mund nimmt wie alle anderen dies vor einem taten, und entrinnt dabei nie der Abhängigkeit von den Wörtern, die zirkulieren. 104 OFO: 155: „ fred 1 (motsats: krig, krigstillstånd) fredsslut, fredfördrag, pax 2 (motsats: tid av söndring) fredstillstånd, (yttre) lugn, (ibl.) fredstid, fredsperiod 3 (motsats: split, oro) se frid; gudsfred, (samhälls) lugn, arbetsfred, sammanhållning, enighet, harmoni; förlikning: oströdhet, arbetsro, arbetsfrid. “ Und OFO: 156: „ frid 1 se fred 3 (frids)helgd, sabbat, (sabbats)-vila, ro, stillhet, lugn, stilla lycka; samvetslugn, samvetsro själslugn, själsro, själaro, sinnesro 2 trygghet, okränkbarhet, säkerhet; endräkt, sämja. “ 105 Siehe HWPh (Bd. 2 „ Friede/ ewiger Friede “ : 1114 - 1119), sowie TRE (Bd. XI „ Frieden “ : 599 - 646; „ I.: Religionsgeschichtlich, II. Altes Testament, III. Judentum, IV. Neues Testament, V. Kirchengeschichtlich und ethisch “ ). 106 Sie kommen nur bis nach Tel Aviv, Jerusalem „ den hägrande staden “ (DSL: [46]) [die in der Luft sich spiegelnde Stadt] bekommen sie nie zu sehen; Maschinengewehrfeuer zerstört Jakovs Augenlicht vor den Augen seines älteren Bruders Isaak. Det sanna livet ist eine einzige Huldigung der unerschöpflichen Wirkkraft der Sprache(n). - Vgl. hierzu Stefanie Leuenberger (2007). Schrift-Raum Jerusalem. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 189 Der kindliche Sprachphilosoph Jacob spricht wahre Worte: jeder Mensch imitiert Sätze, spricht Wörter nach, ist abhängig von ihnen, bedient sich an ihrem Wortschatz. Sprache ist Wandel, atopische Kommunion. DHG: 22: Och Paula vet att för honom betyder det att han just nu, just i dom orden, går ut ur sin ensamhet och osäkerhet, ut ur alla åren av studier och studieskulder och extrajobb och förödmjukelser, att han just nu ser sig som den han kommer att vara: Prästen som kommer ut ur den där kyrkan däruppe, maken som går utför just den här trappan, pappan, som leker nånstans här på grusplanen. Und Paul weiß, für ihn bedeutet dies, dass er genau jetzt, mit genau diesen Worten aus seiner Einsamkeit und Unsicherheit heraustritt, aus all den Jahren von Studium und Studienschulden und Nebenarbeiten und Erniedrigungen, dass er sich als diesen sieht, der er sein wird: Der Pfarrer, der aus der Kirche dort oben herauskommt, der Gatte, der genau diese Treppe hinunter schreitet, Papa, der irgendwo auf dem Kiesplatz am Spielen ist. „ Mit genau diesen Worten “ ist die im Satz zuvor gemachte Erklärung Hans-Cristians „ Här skall vi bo “ (DHG: 21) [Hier werden wir wohnen] gemeint, die er mit kräftiger Stimme kundtat, „ nur um vor sich selbst ihr Schweigen zu überdecken “ (ebda.) [ „ bara för att inför sig själv skyla hennes tystnad “ ]. Die verbale Übersprunghandlung „ Hier werden wir wohnen “ wird zum Auslöser einer längeren Reflexion des Erzählers über Paula und Hans- Cristian, die, eben in Sunne mit ihrem Hab und Gut angekommen, vor einem Neuanfang stehen. Hans-Cristians Worte - festgestellt und vermittelt durch Paula - verwickeln ihn in einen kurzen Dialog mit der Witwe Åberg. Sie lassen ihn dabei in seiner Verlegenheit den existentiell ontologischen Grundgedanken leise vor sich hinsagen: DHG: 23: Gå under orden, gräva sig ner till den rena, nakna varelsen som väntar i oss. Människan i sig kan bli stående här för alltid. Unter die Wörter gehen, sich bis zu dem reinen, nackten Wesen hinab graben, das in uns wartet. Hier kann ein Mensch an sich für immer stehenbleiben. Die Stelle verleitet dazu, sich um ein Jota zu verhören. Gå under jorden hieße: unter die Erde gehen, untertauchen. Hervorzuheben an dieser Wort-Stelle ist außerdem der transfigurierte Fortgang der Kommunikation. Paula „ antwortet “ , im Satz danach, ebenso katachrestisch, jedoch mit Körpersprache: „ Men Paula klöste in sina krav i hans hand: ta itu med situationen, Hans-Cristian. Vik inte undan, gör dig stark. “ [Doch Paula krallte ihre Forderungen in seine Hände: Gehe die Situation an, Hans-Cristian. Weiche nicht, mach dich stark.] Hans-Cristian überlegte sich im Satz vor „ Gå under orden “ eben noch: „ Stanna och stelna. Försvinna ut ur kroppen, en annan väg. Man kan ju det “ . [Stehenbleiben und steif werden. Aus dem Körper verschwinden, ein anderer Weg. Man kann das ja.] Und sein Körper beginnt ‚ zu sprechen ‘ im Sinn von ‚ Kleider machen Leute ‘ , wenn es nach Paulas Aufforderung heißt, „ mach dich stark “ : „ För att vinna tid strök han sig över ansiktet, men det var liksom under huden han trevade, utefter kraniets rena linjer. Förklädd till stark. Förklädd till Regelbundna Hjärtslag. Förklädd till VI KAN JU INTE BLI STÅENDE HÄR. “ [Um Zeit zu gewinnen, strich er sich über das Gesicht, aber er strich sich gleichsam unter die Haut, unter die reinen Linien des Schädels. Verkleidet zu stark. Verkleidet zu Regel- Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 190 4 EPILOG mäßige Herzschläge. Verkleidet zu WIR KÖNNEN JA HIER NICHT STEHENBLEIBEN.] Hans-Cristian wird durch diese Beschreibung der Worthülsen entkleidet, denn der Körper liegt „ unter den Wörtern “ . Wörter werden damit als Hüllen eines ‚ Nichts ‘ ausgedeutet. In Abschnitt 5 des Kapitels Intåg i sommarhagen steht eine Binnengeschichte. Richard Bergmark, der Abenteurer, erzählt sie Hans-Cristian, und bringt darin den Keim der Kommunikationshürde zur Sprache. Paulas Schwester Marta, die Fährfrau, die mit Richard eine Zeitlang ein Verhältnis eingegangen war, wird charakterisiert als: „ Hon blev ängslig på fastlandet, ägde inga ord, sa hon. “ (DHG: 30) [Sie fühlte sich ängstlich auf dem Festland, habe keine Wörter, sagte sie; ] Von Paula, die Richard mit seiner Schwester zusammen kennenlernt, sagt er: „ Paula hörde jag nästan aldrig yttra ett ord. “ (DHG: 31) [Paula hörte ich kaum je ein Wort sagen.] Wie Hans-Cristian mit Martas Schwester Paula 1939 die Straßen Sunnes abgeht, ist er bereits ‚ vorgewarnt ‘ durch die Geschichte der beiden schweigsamen Schwestern und durch die Erfahrungen Richards. In der Binnengeschichte mit auffallend hoher Frequenz an Wort-Stellen, Reflexionen zum (Briefe-)Schreiben und sprachlicher Kommunikation (DHG: 30 - 33) ist am Beispiel von Marta und Richard in nuce angelegt, was in den Romanhandlungen an den Figuren Paula und Hans-Cristian durchgeführt wird. Ein Gedanke Richards, den er Hans-Cristian beibringt, illustriert dies: DHG: 32: De samtal som inte vågar spela över det förflutna och det kommande snöper sig själva. Orden måste ha spelrum. Gespräche, die sich nicht auf Vergangenes und auf Künftiges beziehen, beschneiden sich selbst. Die Wörter müssen Spielraum haben. Richard Bergmark zieht mit dem Satz Bilanz seiner Brief-Beziehung mit Marta. „ Beide vermieden wir es, ein Wort über die Zukunft zu sagen. “ Dem Paar ist denn auch keine Zukunft beschieden, ihre Beziehung zerbricht. Die Wörter müssen Spielraum haben ist im Grunde das „ Programm “ des Romans, 107 aufgezeigt am Beispiel einer ‚ Pfarrersfrau ‘ , die, wenn sie nicht stumm ist, sehr spielerisch mit den Wörtern umgeht, und einem Pfarrer, der seinen Worten wenig Spielraum lässt. Der Begriff ‚ Spielraum ‘ ist hier reich konnotiert. Er verstrebt sich zuerst diachronisch auf die Zeitebenen Vergangenheit-Jetzt-Zukunft, wenn von den beiden Richard und Marta die Rede ist „ [k]ein Wort über die Zukunft zu sagen. “ Was nichts anderes hieße als bspw. sich eine gemeinsame Zukunft ‚ auszumalen ‘ , also die Beziehung stiftende und Verbindung festigende Macht eines Worts betonte. In Erinnerung an das Bild des „ Sprachgauklers “ oder der „ Sprachgauklerin “ (GUD: 112), die tanzend sich unter die Dialoge der Menschen einmischten und deren Wörter abklopften ( „ vända upp och ner på orden “ ), um zu überprüfen, ob sie noch etwas taugen. „ Gycklaren eller gycklerskan skulle ha rest vida omkring, haft relationer till skilda kulturer, orädd skulle hon vara, stark och varm. “ (ebda.) Furchtlosigkeit, Stärke und Wärme sind die von der „ Närrin am Hof der Sprache “ geforderten Qualitäten. Wörter können veralten, müssen, falls nötig, ersetzt oder (in ihrer Bedeutung) neu ‚ aufgeladen ‘ werden, sollen sie weiterhin wirken. Sie beanspru- 107 ‚ Roman ‘ meint hier das ganze Romangebäude, das Diptychon DHG - GUD, denn die besprochene Stelle repräsentiert das Paradigma, das sich nicht nur in der ‚ Sunnetrilogie ‘ , sondern im gesamten Werk des Autors findet: den Spielraum der Sprache mit Wörtern ausloten. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 191 chen ‚ Spielraum ‘ im ursprünglichen Sinn des Worts. Sprachspiel bedeutete demzufolge immer auch Sprachhygiene und heilendes Tun, Katharsis, um die Dinge im Gleichgewicht zu halten und der Aussage der Wörter über die Welt die verbindende Kraft zu verleihen. So gesehen ist der Aufgabe einer Sprachgauklerin buchstäblich die verantwortungsvolle Funktion des Schriftstellers eingeschrieben. Dass Hans-Cristian seine Worte im Zaum zu halten versteht, wird spätestens bei Paulas Beobachtung von dessen Gespräch mit Walter Bengtsson deutlich: „ Paula lyssnade till deras samtal och hon tyckte det var lustigt att två predikanter bara pratade om det jordiska. [ … ] Han [H.-C.] vet vilka ord som finns innanför dogmernas taggtrådsstängsel. “ (DHG: 75) [Paula lauschte ihrem Gespräch und fand es eigenartig, dass zwei Prediger bloß über Irdisches sprachen. [ … ] Er [H.-C.] weiß, welche Wörter sich hinter einem Stacheldrahtzaun von Dogmen befinden.] Gemeint sind von Evangelisten gepredigte Wörter mit keinerlei Spielraum. Die Verwandtschaft der Problematik hinter Wörtern sich einsperrenden Menschen mit einer „ Gehäuse-Mentalität “ , wie Tunström sie in der Kolumne 2 seiner Krönikor 108 am Beispiel des norwegischen Bauern kritisiert und von der er sich fundamental distanziert, ist unübersehbar. DHG: 35: Som jag diktat det för dig, säger Hans-Cristian i det ögonblick den sista vagnen är förbi och orden plötsligt får alldeles för mycket luft under sig, vecklar ut sig som ett spänt segel och vill dra honom med sig. Als hätte ich es für dich gedichtet, sagt Hans-Cristian im Augenblick, als der letzte Wagen vorbei ist und die Wörter plötzlich viel zu viel Zugluft bekommen, sich wie ein gespanntes Segel aufblähen und ihn mitreißen möchten. Die Passage spielt auf mehreren Ebenen. Sie ist das Ergebnis eines über mehrere Stufen entwickelten Dialogs zwischen Paula und Hans-Cristian, der sich zuspitzt auf eine Kommunikationssituation vor einem Bahnübergang, 109 wo sie mitten im Wort unterbrochen werden, so dass Hans-Cristian zum oben zitierten Schluss kommt, „ [a]ls hätte ich es für dich gedichtet “ . Damit meint er seine, vom vorbeiratternden Zug verschluckten Worte, die er an Paula gerichtet hatte: „ Att detta. Började inte. Så som. Som det var menat. Med en ankomst. Som inte var. Definitiv. Inte definitiv. Att det ordnar sig nog. Det ordnar sig. Inte. “ [Dass es. Nicht so begann. Wie es. Wie es gedacht war. Mit einer Ankunft. Die nicht. Definitiv. Nicht definitiv war. Das wird sich regeln. Das regelt sich. Nicht.] Tunström verleiht seinen, im Redefluss von der Zugluft zerfetzten Worten, zerhackten, halbierten Sätzen, ein physisches Potenzial, eine Zugkraft, die mit einem mächtigen Aufwind verglichen wird. Wohin diese Wortfetzen Hans-Cristian „ mitreissen “ werden, bleibt offen. Er steht bereits vor einer nächsten Schwelle, denn - nach überquertem Bahnübergang - will er „ gå till biblioteket nu “ [ jetzt zur Bibliothek gehen]. „ Ett lånekort vill jag åtminstone ha. “ [Eine Leihkarte will ich wenigstens haben]. Paula fragt ihn umgehend, ob dies zu seiner ersten Handlung nach ihrer Ankunft im Dorf würde (das Pfarrhaus war noch nicht bezugsbereit). „ Ja, Paula “ sagt er bestimmt. „ Statt über unseren missglückten Einzug nachzugrübeln. “ Hans-Cristian wird, nach Überwindung weiterer Schwellen als Neu- 108 Vgl. dazu den Kommentar zur Kolumne „ Förbjuden att tro “ in Kap. 3.1. 109 Somit auf einer Schwelle; Schwellen sind, wie bereits anderweitig gezeigt, bedeutungsvolle ‚ Rites de passage ‘ im Werk Tunströms. Vgl. dazu etwa die in Kap. 2.2 angebrachten Beispiele. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 192 4 EPILOG ankömmling im Dorf, eine Leihkarte bekommen. So wird er, obgleich noch nicht ganz physisch, so immerhin geistig dank Büchern am neuen Wirkungsort ankommen - , während die Lektüre einem ein Schmunzeln abringt. Seine abgehackten Worte, diese beidseitige Irritation, wirkte paradoxerweise stabilisierend und verbindend. Erst Wortlosigkeit in diesem von außen verunmöglichten ‚ Wortwechsel ‘ bringt zwei miteinander in ein Gespräch. DHG: 55: De som till hälften likgiltiga, på grund av föräldrarnas tryck eller ett auktoritativt ord från nån gammal präst, börjat läsa teologi, de hade till slut inga andra ord än dem som tillhandahölls inom fakulteten: synd, nåd, förlåtelse, förlossning, frälsning. [ … ] Orden klistrade fast vid väggarna, nu borde du veta vad jag talar om, de vågade till slut inte fortsätta läsa. Jene, die halbwegs gleichgültig, auf elterlichen Druck oder aufgrund eines autoritären Wortes von einem alten Priester 110 , das Theologiestudium begannen, hatten am Ende keine anderen Worte als jene, die ihnen in der Fakultät verabreicht wurden: Sünde, Gnade, Vergebung, Erlösung, Errettung. [ … ] Die Wörter klebten an den Wänden, jetzt müsstest du wissen, wovon ich spreche, zum Schluss wagten sie es nicht, weiterzulesen. Hans-Cristians Worte an Paula sind Teil der Rahmengeschichte um das Übersetzerpaar Gustafsson. 111 „ Die beiden lebten von Übersetzungen. [ … ] Sie lasen einander Stücke vor. Das war eine Art zu handeln. “ (DHG: 54). An ihrem Wohnort - ein alter Bauernhof - wollen sie in der Scheune Euripides ’ Medea inszenieren. Rezitierend lasen sie sich in die Rollen ein. Irgendwann seien die Gustafssons von dort weggezogen, doch „ die Wörter blieben an den Wänden kleben “ . Eine Frau mit zwei süßen Kindern sei danach eingezogen, fährt Hans- Cristian mit der Geschichte fort, und habe, wie im Mythos der Medea, dort ihre Kinder ermordet. ‚ Fleischwerdung ‘ des Worts kann höchst pervertierte Formen annehmen, besagt die Tragödie. So kommt er darauf zu sprechen, was er im Studium beobachtet habe: „ Trete in eine Welt ein, Paula, wie in die theologischen Studien, und du merkst, dass das, was zu Beginn Spiel war, allmählich Wirklichkeit wird. [ … ] Wer [ … ] Theologie studierte, hatte am Ende keine anderen Wörter als jene, die von der Fakultät zur Verfügung gestellt wurden: Sünde, Gnade, Vergebung, Geburt, Erlösung. “ (DHG: 55; vgl. hierzu „ Die Vertreter der Gehäuse-Mentalität [ … ] fordern Unterwerfung. “ (Sundén 1966: 199) Doch Kenntnis vieler Sprachen könne die Gefahr des ‚ Festfahrens ‘ in einer Sprache, einer Sichtweise, überwunden werden. Deshalb sei es wichtig viele Sprachen zu können, versucht er Paula begreiflich zu machen. 4.1.4 Theologisch-religiös-mystische Allusion Prominent ist Hans-Cristians „ Send “ -Brief an Paula an den Anfang des ‚ heiligsten ‘ (achten) Kapitels platziert und erstreckt sich dort über vier Seiten (DHG: 216 - 219). Der Brief 110 Machtwort wäre wohl die passende Übersetzung. Ein Priester hatte mit einem ‚ Wort Gottes ‘ oder Bibelwort ein Machtwort gesprochen, ist hier implizit die Aussage. Siehe hierzu auch: Mauz (2003). Machtworte, Studien zur Poetik des ‚ heiligen ‘ Textes. 111 Ob Tunström mit dem „ Übersetzerpaar Gustafsson “ sich eine Anspielung auf das in den 1970er-Jahren in Schweden landesweit bekannte, schreibende Übersetzer- und Ehepaar Madeleine (*1937) und Lars Gustafsson (1936 - 2016) erlaubt hat? Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 193 zeichnet das Pendant zu Paulas nicht-dualistischer Welt- und Worthaltung. Hans-Cristian beginnt ihn mit „ Geliebte Paula “ . Vorangestellt ist ihm eine kleine Präambel, in der wir erfahren, dass Paula den Brief - im Gegensatz zu einem Erstleser des Romans - bereits ein zweites Mal lese. Auch ist zu erfahren, dass Paula sich nun gesund fühle - zwar noch Patientin sei, ihre Entlassung indes nächstens bevorstünde. Der Brief besteht, nebst Hans- Cristians Beschreibung seiner Befindlichkeit samt den Gefühlen, die er gegenüber Paula hege und dass er wisse, dass sie bald heimkehren dürfe, aus zwei „ sachlichen “ Mitteilungen, die er, da die Grundfesten seines Glaubens erschüttert seien, mit „ embryonalen theologischen Grübeleien “ (DHG: 217) und mit sprachphilosophischen Reflexionen angereichert, einmal mehr zu einer kleinen Wort-Poetik bespickt. Zuerst ist die Rede von einem Vortrag der SGS in der „ Höheren Volksschule “ Ålebys mit anschließendem Umtrunk und gemütlichem Zusammensein, wonach die Anwesenden sich zu einem Wortratespiel einfanden, bei dem es, als Daniel Törnfelt an der Reihe war, darum ging, das Wortpaar cell-säll [Zelle/ seelig] zu enträtseln. Mit seiner Antwort „ Cell “ habe Daniel 112 sich selbst als Brandstifter entlarvt (das Wortspiel wurde zur Wortfalle). Wenig später - Törnfelt hat sich in Sunnes Kirche verbarrikadiert - sitzen die beiden sich auf einer Kirchenbank gegenüber, Wermelin, der ihn dort aufsuchte, ‚ eingesperrt ‘ in seiner eigenen Kirche, denn Törnfelt befahl ihm, das Portal zu schließen, um so der Festnahme durch die Obrigkeit zu entgehen: „ Lås. Lås om oss. “ (DHG: 218) [Schließe. Schließ uns ein.] Das bringt Pastor Wermelin - jetzt im sakralen Raum, wo er das Wort Gottes predigt und sich nicht mehr in Åleby befindet - in die Position des Seelsorgers und Gefangenen des zu Betreuenden zugleich; Brückenbauer voller Gewissensnot. Auch deshalb, weil er als Alleinerzieher - Paula ist noch in der Klinik - sich ebenso um ihren Sohn Jacob zu kümmern hat, dies von der Dorfbevölkerung beargwöhnt wird und sich vor dem Auge des Gesetzes zuträgt, dem Dorfpolizisten und Mitglied der SGS, Jacob Jacobsson, der von ihm die Herausgabe des mutmaßlichen Täters fordert. Genüsslich übersteigert der Erzähler das Dorfdrama ins Komisch-Groteske, in dem in erster Linie der schuldlose Pastor auf die Probe gestellt wird. Die Ereignisse der ‚ Geiselnahme ‘ von Pfarrer Hans-Cristian Wermelin - erzählt aus der Rückschau Jacobs - enden auf den letzten Zeilen von Abschnitt 5 mit einer Kontrafaktur Kierkegaards, wenn es von Hans-Cristian heißt: „ Han ser på henne djupt underifrån; han har fyrtitusen famnars djup svart lera under sig. “ (DHG: 230) [Er schaut sie [Paula] an von tief unten, er hat vierzigtausend Klaftern tiefschwarzen Lehms unter sich.] 113 Hans-Cristians Brief ist ein ungewöhnlicher Kassiber. 114 Sein Verfasser lebt ‚ draußen ‘ (in der Freiheit), die Empfängerin ‚ drinnen ‘ (in der Klinik). Die üblichen Verhältnisse eines Kassibers sind auf den Kopf gestellt. Doch wie der Schluss des Briefes zeigt, fühlt sich der in 112 Daniel ( „ Gott ist mein Richter “ ) wird sich als bedeutungsschwangerer Name erweisen. 113 Vgl. dazu Kierkegaard: „ paa eengang att ligge paa 70,000 Favne Vand og dog være glad. “ (SKS 6: 439) [auf 70000 Faden tiefem Wasser liegen und gleichwohl heiter sein.] Hans-Cristian sieht sich nicht, wie Frater Taciturnus, eines der sprechenden Polyonyme Kierkegaards, „ froh “ (glad), da getragen vom „ Ozean “ aus Gottes Gewissheit, sondern verstockt in einer Schicht aus „ Gewissensnöten “ . Vgl. hierzu Henrike Fürstenberg (2017: 467): „ Das 70000 Faden tiefe Wasser, auf dem das Individuum sich plötzlich wiederfindet, der unendliche Abgrund (des Zweifels), ist nämlich seinerseits ausgefüllt mit einer entgegen aller Vernunft selig machenden Gewissheit: Gott ist überall in dieser Tiefe und dadurch derjenige, der den Einzelnen hält und trägt. “ 114 Das Wort stammt gemäß Wahrig (1980: 2062) von „ hebr. kethibha ‚ Geschriebenes ‘ , Part. Perf. zu kathabh ‚ schreiben ‘ . Siehe: Kassiber <m. 3> heiml. Briefbotschaft zwischen Gefangenen u. der Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 194 4 EPILOG Freiheit lebende Absender als der Gefangene, und zwar seiner „ Rationalität “ ( „ Jag klarar inte av all rationalitet. “ ) (DHG: 219) [Ich werde mit der ganzen Rationalität nicht fertig.] Die weitere Lektüre des Textes führt zu einem umfassenderen Verständnis des Protagonisten, etwa wenn Hans-Cristian bekennt, dass die „ Leere und Stille im Kirchenraum “ ihm stets gutgetan habe. 115 (Der auktoriale Erzähler im gleich auf den Brief folgenden Abschnitt 2 allerdings weiß zu berichten, dass „ Hans-Cristian im Brief an Paula gelogen “ hat, denn er habe ihr gewisse Fakten betreffend Daniel Törnfelt vorenthalten.) Die Briefstelle mit der ungewöhnlichen Eucharistiefeier (Fleischwerdung des Logos) hebt den mehrfach beklagten Mangel an Handlung auf. 116 Und im Briefganzen ‚ begegnen ‘ sich „ die Pole “ Paula (Stummheit) und Hans-Cristian (Wortsprache) für Augenblicke, aufgehoben im gegenseitigem ‚ Erkennen ‘ . Der Mystiker weiß, dass Worte nie ausreichen. Mit Anders Tyrberg gesprochen, handelt es sich um eine Parallelisierung von Ritual und Erzählung. 117 An den folgenden Stellen sollen noch weitere Besonderheiten zum Wort im Brief - dieser intimsten aller Textgattungen - herausgehoben und näher beleuchtet werden. Der Erzähler schildert zunächst Paulas Moment zu Beginn ihrer Brieflektüre: DHG: 216: Hon märkte redan vid första genomläsningen att brevet var riktat till henne, att hon tillhörde orden och orden tillhörde deras gemensamma värld. Beim ersten Durchlesen gleich merkte sie, dass sie mit dem Brief gemeint war, dass sie [Paula] zu den Wörtern [dazu] gehörte und die Wörter zu ihrer gemeinsamen Welt gehörten. Paula erlebt beim Lesen unmittelbar Zu(sammen)gehörigkeit mit Hans-Cristian und seiner Welt. So viel zur Pragmatik der Aussage im Satz. Im schwedischen Original wird die Zugehörigkeit durch das scheinbar einfache, in der Deutung komplexe Textgefüge „ tillhörde orden och orden tillhörde “ verbrieft und besiegelt. Die Gestaltung dieser Empfindung Außenwelt od. auch untereinander. “ Siehe auch das Vorwort von Helga und Ulrich Raulff zu Kassiber. Verbotenes Schreiben, in: Gfereis (2012: 6 - 11). 115 In Pastor Wermelins Wahrnehmung „ der Leere und Stille des [Kirchen-]Raumes “ ( „ känt rummets tomhet och tystnad “ ; DHG: 218) klingt die Kenosis an: das Leerwerden als Voraussetzung für den Empfang göttlicher Gnade, was eine der Auslegungen des Begriffs ist. Vgl. dazu Webster (2001). Das Gegenteil der Kenosis ist die Plerosis (Erfüllung). 116 „ Still “ ist die Eucharistiefeier deshalb, weil sie vom Autor nicht explizit beschrieben wird, sondern - als innerlich vollzogen - stattgefunden hat? Hans-Cristian jedenfalls nennt allein die eucharistischen Gestalten, den „ Abendmahlskelch und einige Oblaten: ein merkwürdig schöner Rest einer anderen Weise des Denkens, die einzige Vereinigung rückwärts, die ich in der ganzen Zivilisation entdecken kann: ein magisch-rituelles Handeln, mit dem ich mich stark verbunden fühle. “ (DHG: 218 - 219); ein dreifacher Doppelpunkt verinnerlicht das heiligste Sakrament der christlichen Liturgie zum Herzensgelübde im „ Sendbrief “ Hans-Cristians. - Vgl. hierzu die bekenntnishafte Deklamation von ‚ Göran ‘ im Kap. „ Federico Garcia “ in Prästungen: „ jag är nattvardoman. “ (PRÄ: 146) [ich bin abendmahlssüchtig.] 117 Die von Pfarrer Wermelin unfreiwillig initiierte Zwischennutzung der Kirchenräume zum Asyl für Daniel Törnfeldt, ist kongruent mit Tunströms eigenem „ religiösen Gefühl “ (nicht Credo! ): „ Min religiösa känslan finns mellan det profana och sakrala rummet. “ (Garpe 1983: 16) [Mein religiöses Gefühl bewegt sich zwischen dem profanen und dem sakralen Raum.] Mit anderen Worten: auf der kreativen Schwelle zwischen den beiden ‚ Räumen ‘ . Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 195 in eine grafische Miniatur mit ouroborotischem Charakter 118 , potenziert ihr inhaltliches Gewicht (ins Unendliche). Mit dem rhetorischen Stilmittel der Enallage im Verb „ tillhörde “ sowie mit der, in gesprochener Sprache, kaum vernehmbaren Konjugation ‚ und ‘ , dem verbindlichsten aller „ kleinen Wörter “ , verschiebt der Autor „ die Wörter “ (orden) vom Individuum Paula in ein gemeinsames Dividuum, also in ein Miteinander von Paula und Hans-Cristian; die Wörter werden gleichsam „ größer “ . Mehr noch: Paula, die bisher wortlose, die nun zu den Wörtern dazu gehört ( „ tillhör[ ] orden “ ) wird, da in ihnen jetzt inkludiert, durch die Metonymie derselben ( „ orden tillhör[ ] “ ) „ ihrer gemeinsamen Welt “ , d. h. Paulas und Hans-Cristians Welt, insgesamt zugehörig. Allmählich geht Paula die Welt der Wörter ‚ auf ‘ , die Wörter sprechen sie an. DHG: 217: Tills vidare predikar jag och sköter mitt arbete, men jag är tungsint och trött, jag tycker inte om mina egna ord. Weiterhin predige ich und besorge meine Arbeit, aber ich bin schwermütig und müde, ich mag meine eigenen Worte nicht. Pastor Wermelin zweifelt an seinen Worten, sie sind ihm fremd, nichtssagend (geworden). Vielleicht hat er sie zu oft gesprochen, ohne ihnen Sinn und Geist einzuhauchen. Dieser Prozess findet statt zu dem Zeitpunkt, als Paula sich von seinen Worten im Brief angesprochen fühlt (vgl. dazu oben DHG: 216). DHG: 218: Vi lekte alltså en lek, som gick till så att Harald, som fortfarande inte skaffat sig något arbete - (vad skall vi göra med honom? ) och jag gick ut och tänkte på ett ord-par. Vi bestämde oss för cell-säll, och meningen var att de andra skulle gissa sig fram till det. [ … ] Plötsligt reste sig Daniel Törnfelt upp ur bänken och sa det: Cell, sa han. Han svalde och upprepade ordet två tre gånger. Så gick han ut. Wir spielten also ein Spiel, das so ging, dass Harald, der sich weiterhin keine Arbeit beschafft hatte - (was sollen wir machen mit ihm? ) und ich nach draußen gingen und uns ein Wort-Paar ausdachten. Wir entschieden uns für cell-säll, 119 und die Idee war, dass die anderen es erraten müssten. [ … ] Plötzlich erhob sich Daniel Törnfelt von der Bank und sagte es: Zelle, 120 sagte er. Er schluckte und wiederholte das Wort zwei, drei Male. Dann ging er hinaus. Dass Pastor Wermelin seinen „ Sendbrief “ am Wort-Paar cell/ säll (Zelle/ seelig) entspinnt, an einem bedeutsamen Wortrate-Spiel vorführt, das wiederum in einem Brief expliziert wird, offenbart dessen Erfinder als Autor mit einem sublimen Sprachbewusstsein, der seine Botschaft mehrfach verschachtelt, still in einer mise en abyme ‚ wegschließt ‘ und damit 118 Ouroborotisch im akustischen oder gesprochenen Sinn desgleichen als Grafik gelesen, ist die Stelle Chiasmus und Spiegelung in einem. Die Stelle ist ebenso fein rhythmisiert: Nach dem „ och “ erfährt das zweite „ orden “ eine ganz leichte Betonung, und die Wörter erfahren einen Aufschwung. 119 Die homophon klingenden Wörter ‚ cell ‘ und ‚ säll ‘ [ ‚ Zelle ‘ und ‚ seelig ‘ ] sind auditiv kaum unterscheidbar. 120 Das dreifache Aussprechen des Wortes ‚ Cell ‘ kommt einer Selbstanzeige Daniel Törnfelts als Brandstifter gleich, dem das Absitzen der Strafe in einer Zelle droht. Indem er „ schluckte “ , demaskiere ihn dies zudem auch körpersprachlich als den, der das Feuer im Gemeindehaus gelegt habe. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 196 4 EPILOG umso mehr ‚ zeigt ‘ . Hans-Cristians Brief ist - um im Bild der Kathedrale zu bleiben - gleichermaßen die Krypta von De heliga geograferna. Sein Verständnis der Kommunikation mit Worten geht daraus hervor. Daniel Törnfeldt, der Brandstifter, wird in seiner Kirche vorübergehend Schutz und Trost finden. Ein Pfarrer versteht sich auf Sprechen und Schweigen. DHG: 245: Det var som en nattvardsgång, alla gjorde sig beredda att knäböja infor orden, som skulle komma. Es war wie ein Gang zum Abendmahl, alle machten sich bereit dazu, niederzukien vor den Wörtern, die da kommen sollten. Der körperliche Aspekt der sakralsten aller Wort-Handlungen wird erneut sichtbar. Die ‚ Fleischwerdung des Wortes ‘ im Abendmahl fordert hier Handlung: Niederknien. DHG: 249 - 250: - Gå, svarade jag, men jag visste att orden inte nådde fram till henne. Visste att allting var orättvist fördelat i världen. Någras ord hade medvind, andras inte. Om ni lovar att döda mig, skall jag tala om det sen för pappa. [ … ] Jag höjde huvet mot dom. De var orörliga. Jag visste inte vem som sagt orden. De höll mina händer hårt. / / - Jag har dödat mamma. Huggit huvet av henne. / Och jag skrek och skrek för att ljudet av min egen röst skulle bli starkare än orden. Märker du ingenting. Jag har dödat mamma. - Geh, antwortete ich, aber wusste, dass die Worte sie nicht erreichen würden. Wusste, dass alles in der Welt ungerecht verteilt war. Die Worte der einen hatten Rückenwind, die anderer nicht. Wenn ihr versprecht, mich zu töten, werde ich es später Vater erzählen. / / - Ich habe Mutter getötet. Hab ihr den Kopf abgehauen. / Und ich schrie und schrie, damit das Ertönen meiner eigenen Stimme lauter würde als die Worte. Merkst du denn nichts. Ich habe Mutter getötet. Bezeichnetes - der unsägliche Schmerz in Form eskalierender Lautstärke - überdröhnt vorübergehend das Bezeichnende der Wörter, wird zum Schrei, wenn signifiant und signifié verwischen und eins werden, ein Signal für höchste Gefahr, unendliche Not und zugleich Hilferuf. Innen - Außen verlieren die Relevanz, ununterscheidbar Sprache - Körpersprache. „ Ein Zeichen sind wir, deutungslos “ 121 hallt in dieser wortlosen Stille nach, die weder Wort kennt noch Bild, sondern ekphrastisch den Urlaut malt. Unabdingbar für das Verstehen dieser dramatischen Stelle ist zu wissen, was Jacob von seinen Eltern gesagt hat: „ de var inte ens min pappa och mamma, de var bara platta namn [ … ] “ . (DHG: 249) [sie waren gar nicht mein Vater und meine Mutter, sie waren bloß platte Namen [ … ]. Nichtssagend die Namen der Eltern. Das ist ein Sakrileg aus der Sicht des Kindes, und hilft dem Mystiker und Sprachkritiker in Göran Tunström, den Wirrwarr der endlos sich widerstreitenden Wörter in der aufgewühlten Kinderseele aufzulösen. Das Buch endet logischerweise in der Weiße: „ Och jag gled allt djupare ner i lakanen som vitnade och svalnade under mig och omkring mig. “ (DHG: [251]) [Und ich glitt immer tiefer 121 Vgl. Hölderlins Hymnenfragment Die Nymphe/ Mnemosyne, Zweite Fassung, Anfang der 2. Strophe: „ Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren “ (FHA, Bd. 7: 382). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.1 De heliga geograferna (Die heiligen Geografen; 1973) 197 ins Leintuch, das immer weißer wurde und kühler unter mir und um mich herum.] Im letzten Bild des Buches sind unentscheidbar Geburt und Sterben (des Ichs) eingefangen. Das weiße Blatt 122 mit seinem Potential zum Neuanfang oder zur möglichen Umschreibung alles Geschehenen sowie als Leichentuch; der Satz ist in seiner ambigen Offenheit verwandt mit Cronqvists Bild „ Vita ark/ White sheets “ , das unter verschiedenen Aspekten speziell im Unterkapitel 3.2.6 exponiert wurde. Zum Abschluss dieses Rundgangs entlang ausgewählter ord/ Wort-Stellen von De heliga geograferna Gebetsworte - die letzten Worte von Bältrosen: DHG: 158: Han lät de andra svara för bönens ord han gled på den bro som bönen var. 123 Hon [Maj] tillhörde människorna, hennes handling förde honom närmare de andra, de som på Frälsningsarmén bar honom på sina ord. Er ließ die anderen auf die Gebetsworte antworten, auf denen er sich wie auf einer Brücke bewegte. Sie [Maj] gehörte zu den Menschen, ihre Handlung hat ihn den anderen, die ihn bei der Heilsarmee auf ihren Worten trugen, nähergebracht. Sprache und Handlung standen anfänglich harmonisch im Einklang unter der Schirmherrschaft vom „ tragenden “ Wort Gottes. Maj lernte bei den Versammlungen der Heilsarmee den Strassenwischer kennen, den alle beim Spitznamen „ die Gürtelrose “ 124 nennen. Kaum hatten sie sich erkannt, schenkte sie ihm ein Kind, ein Mädchen. Als den jungen Eltern später die gemeinsame Tochter vom Kinderfürsorgeamt, dem Hans-Cristian vorsteht, weggenommen wird, die Wörter nicht mehr tragen, geht der Straßenwischer ins Wasser. Wortbruch kann für einen Menschen, wenn die ‚ Wortbrücke ‘ nicht mehr ‚ trägt ‘ , letale Folgen haben. 122 Eine eigene Studie erst könnte die ganze Bandbreite des Motivkomplexes ‚ weißes Blatt ‘ im Werk Tunströms ausleuchten. Nur zwei Belege seien hier als Beispiele genannt. In Prästungen sagt Göran, Seminarist der Fjellstedtska Skolan, in innerer Rede „ Söndag. Tomhetsterrorn är påkopplad. “ (PRÄ: 146) [Sonntag. Der Horror vacui ist angeknipst.] Der Sonntag, der Tag ohne Unterricht, ein furchteinflössendes „ leeres Blatt “ , das es ‚ auszufüllen ‘ gilt? - Auf der zweitletzten Seite im Roman Maskrosbollen zerreißt Protagonist Bastiano das Manuskript seines großen Bruders und Schriftstellers Sigfrid, wirft Relikte davon auf die Straße, als „ ein schwarzer Volvo kam und unsterbliche Worte auf die Pneus abkriegte “ (MASK: 222); die Stelle supponiert, Sigfrids Worte würden nun während der Weiterfahrt auf das „ weiße Blatt Welt “ aufgedruckt. Das letzte Wort heischend, bemerkt Bastiano nach seinem Frevel zu seinem Bruder, er könne ja ein neues Buch schreiben, „ keinen interessiert ’ s, wie lange du dafür brauchst. “ (MASK: 223) 123 Der Tautologismus „ bönens ord han gled på den bro som bönen var “ kann in der Übersetzung ins Deutsche nicht wirkungsgleich wiedergegeben werden. Die Struktur der ord/ Wort-Stelle erinnert u. a. an die Spiegelsymmetrie 1 - 6/ 7/ 6 - 1 in Ekelöfs Suite Novisen i Spálato. 124 Bältrosen [Die Gürtelrose] trägt an seinem Nierengürtel eine auf das Leder aufgemalte Rose (vgl. DHG: 156). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 198 4 EPILOG 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) Der Folgeroman Guddöttrarna ist das weibliche Pendant zum Buch der Männer über die heiligen Geografen, deren Mitgliederzahl, und mit ihr das Interesse an Geografie, merklich am Schwinden ist, wie gleich zu Beginn bekannt wird: „ för det är inte så mycket geografi kvar av sällskapet. “ (GUD: 11 [denn es ist nicht viel Geografie übrig von der Gesellschaft.] Ein Überblick wird, ungeachtet all der Abschweifungen im Buch, die nicht geringer sind als in De heliga geograferna, ebenfalls hier der Besprechung ausgewählter ord/ Wort-Stellen vorangestellt. Im Gegensatz zu De heliga geograferna versetzt einen Guddöttrarna gleich mit dem ersten Wort medias in res. Das Buch hebt mit einem zeitlosen „ Wenn “ an; genauer: Mit einem „ Wenn ein Mann “ . Ohne jegliches Motto, andere Paratexte oder Umschweife, ist die gnomische Rede von Metzger Georg Johanesson, der sein Geschäft aufgibt: „ När en man säljer sin butik för att istället för sin kundkrets tjäna mänskligheten, då blir både kundkrets och mänsklighet lidande. “ (GUD: 5) [Wenn ein Mann sein Geschäft verkauft, um statt seiner Kundschaft, der Menschheit zu dienen, dann beginnen Kundschaft wie Menschheit zu leiden.] Nach diesem unheilsgeschichtlichen Wort als kurzem männlichen Auftakt im ‚ Frauenbuch ‘ schwenkt die Erzählperspektive gleich auf derselben Seite noch vollständig um und verschiebt ihren Fokus auf dessen Ehefrau Judit Johanesson und ihre traumartige Begegnung mit Axel Gjöres. 125 Die Präambel ist zu Ende, der Auftrag erteilt. Die Vision Judit Johanessons führt fortan das Wort und setzt die Handlung(en) in diesem Roman in Gang. Volkswirtschaftsminister Axel Gjöres beauftragte Judit Johanesson mit den Worten „ gå ut till folket och predika behovet av A-vitaminer. Det var bristen på dom som orsakade spanska sjukan. [ … ] Plantera morötter, Judit Johanesson, och folket skall välsigna dig. “ (GUD: 6) [Begib dich unter das Volk und predige den Bedarf an A-Vitaminen. Ihr Mangel war es, der die Spanische Grippe 126 verursacht hat. [ … ] Pflanze Karotten an, Judit Johanesson, und das Volk wird dich segnen.] Der Minister spricht wie ein Evangelist oder ein Engel, wie seine mehrfach biblisch aufgeladene Aufforderungsrhetorik 127 anzeigt. 125 Sozialdemokrat Axel Gjöres (1889 - 1979) war von 1938 - 1941 „ folkhushållningsminister “ (Wirtschaftsminister). Gjöres, sagt Judit zu Hans-Cristian, wäre der passende Name für die flügellose „ Fokker “ gewesen, “ wenn wir Farbe gehabt hätten, um diesen auf die Nase des Flugzeuges zu malen. “ (GUD: 229). In der Manier des magischen Realismus wird der historisch verbürgte Name Gjöres mit einer ihm angedichteten Vision oder Geschichte (Narration) verquickt - ein besonders augenfälliges Beispiel für viele weitere ähnlicher Machart im ganzen Buch. 126 Die Spanische Grippe hatte zwischen 1918 - 1920 weltweit Dutzenden Millionen von Menschen den Tod gebracht. Im Zweiten Weltkrieg stellte die Krankheit keine akute pandemische Gefahr (mehr) dar. 127 „ [G]eh hin zum Volk und predige die Notwendigkeit von A-Vitaminen “ erinnert an den Anfang im NT und das Evangelium nach Matthäus (Mt 28,19): „ Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern. “ Für „ Pflanze Karotten, Judit Johanesson, und das Volk wird dich segnen “ stehen Moses ’ Worte Modell, wenn er (nach der langen Wüstenwanderung) seinem Volk kurz vor der Überschreitung des Jordan auf dem Einzug ins gelobte Land Israel verheißt (vgl. Fünftes Buch Mose, Dtn 30,16): „ Ich gebiete dir heute, den HERRN, deinen Gott, zu lieben, auf seinen Wegen zu gehen und seine Gebote und Satzungen und Rechte zu halten. Dann wirst du leben und dich mehren, und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in dem Land, in das du ziehst, um es in Besitz zu nehmen. “ Die „ säkularisierte “ Verheißung Gjöres ’ stellt also Metzgersfrau Judit Johanesson eine Segnung durch das Volk und nicht durch den HERRN in Aussicht, was es als grundlegendsten Unterschied festzuhalten gilt. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 199 Judit setzt das „ ministeriale “ Gebot um. Mit ihren Mitstreiterinnen wird sie auf einem verlassenen Stück Land oberhalb Sunnes namens „ Melanderska Trekanten “ 128 [Melanders Dreieck], dem Gespött der Männer im Dorf zum Trotz, Karotten pflanzen. Der auktoriale Erzähler weiß zudem zu berichten „ Den morot som sås av en kvinna blir söt, den som sås av en man blir bitter. “ (GUD: 189) [Die von einer Frau ausgesäte Mohrrübe wird süß, die von einem Mann ausgesäte bitter.] Ein weiteres Zeichen für das angespannte Verhältnis der Geschlechter. Am Ende jedoch werden der Zusammenhalt und der Durchhaltewillen der Frauen mit einer reichen Ernte belohnt. Wider allen Zweifel und Neid der Männer, wird ihr Ertrag mit einer ausrangierten flügellosen „ Fokker “ unter „ königlichem Geleit “ nach Karlshamn in die „ Kooperative Margarinenfabrik “ gebracht werden. Soweit die Rahmenhandlung von Guddöttrarna. 129 Diese ist, wie in De heliga geograferna, jedoch nur das Gerüst einer intrikaten, viel „ größeren Geschichte “ mit Binnenerzählungen. Auch mit weißen Seiten. Es gibt sie in Guddöttrarna in drei Varianten: als Doppelseiten verso/ recto, als Einzelseiten recto sowie als Doppelseiten recto-verso. 130 Einen markanten Unterschied zu De heliga geograferna bildet die losere Gliederung: Von den sieben „ Kapiteln “ von Guddöttrarna sind fünf titellos, allein die Kapitel 2 und 3 tragen eine Überschrift ( „ Haxgemålen “ und „ Lekmännen “ ). Paratexte wie etwa die zahlreichen Motti in De heliga geograferna, fehlen in Guddöttrarna ganz. Dieses Buch ‚ spricht ‘ freier, ungebundener, wie die gegen das ganze Gewicht patriarchaler Tradition sich aufbäumenden Patentöchter, die an ihre Vision glauben und sie wahr werden lassen. In Guddöttrarna ist die Aufmerksamkeit mehrheitlich auf das Hier und Jetzt und das praktische Handeln vorwärtsgerichtet (Anbau und Ernte der Karotten), während De heliga geograferna eher rückwärts einer Vergangenheit nachhing, ihre männlichen Protagonisten sich in Theorien und Plänen ergehen. Beiden Romanen gemeinsam ist die homo- und heterodiegetische Erzählerfigur Jacob, die wie ein chamäleontischer Joker alles Geschehen, Gesehene und selbst Erlebte auf mitunter verwirrende Art und Weise, aus der Erinnerung rapportiert und in Kapitel „ 7 “ von Guddöttrarna resümiert. In der Triangulation Paula - Hans-Cristian - Jacob nimmt er den dritten Punkt ein. Er verbindet als gemeinsame Referenz nicht nur die Protagonisten, sondern die ganze Geschichte. Lebende Sprachen spielen eine noch größere Rolle in Guddöttrarna als in De heliga geograferna. Georg lernt Deutsch (bei Pastor Wermelin), Fräulein Falk spricht Chinesisch, Robert Hartman Kirgisisch. Erwachsenensprache, die Sprache des Schweigens (die Leer- 128 Dass der in Kirchengeschichte beschlagene Göran Tunström mit dieser von den Frauen urbar gemachten Brache auch auf den Reformator und Bilderstürmer Dionysius Melander (1486 - 1561) alludiert, hat aus zwei Gründen hohe Plausibilität: Melander ist die Gräzisierung von Schwarzmann, schafft also die semantische Brücke zu Jacob Schwartz in DHG. Das von drei still schaffenden Frauen fruchtbar gemachte Dreieck Erde mahnt an das Dreieck der Liebe in der Mystik; siehe hierzu Alois Maria Haas ’ Aufsatz „ Ein kurzer Blick auf die Mystik des Dreiecks “ , in: Hiltbrunner (2015: 131 - 137). Vgl. auch Haas ’ ursprüngliche Version des Aufsatzes als „ Dreieck “ , in: Haas (2014b: 431 - 445). 129 Sind sie Gjöres ‘ Patentöchter, die diese Tat vollbringen, oder irdische ‚ Gottestöchter ‘ ? Der Titel Guddöttrarna wirkt ambivalent im Kontext des Buches gelesen. 130 Vgl. GUD: 107/ 108; 152 - 153/ 154; 186 - 187/ 188; 222 - 223/ 224. De heliga geograferna weist keine einzige Leerseite auf. Vgl. dazu Andreas Langenbacher. „ Das grosse Leuchten. Unterwegs zu einer kleinen Poetik der leeren Seite - Ein Lektürebericht “ , in: Wirtz/ Wieland (2017: 107 - 121). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 200 4 EPILOG seiten), die kindliche Sprache Jacobs mit allen ihren Missverständnissen und ihrem Werden im Wort. 131 Entschieden manifestiert sich das andere Verhältnis der Frau(en) zur Sprache an der folgenden Textstelle: Paula talade förändringens språk. Allt hon sade och tänkte handlade om förändringar, medan hans eget tal gick ut på bevarande. [ … ] Men hela hennes tal, hennes tankar, hennes skapande vid vävstolen var inställda på förändring. [ … ] Själv arbetade Hans-Cristian på det motsatta: hans hjärta som hela tiden hotade strejka (och som också om sju år skulle strejka) önskade sig ingen förändring. Hans liv hade nått fram. (GUD: 29 - 30) Paula sprach die Sprache der Veränderung. Alles was sie sagte und dachte, handelte von Veränderungen, während seine Worte sich um das Bewahren drehten. [ … ] Aber ihre ganzen Worte, ihre Gedanken, ihr Schaffen am Webstuhl richteten sich auf Veränderung. Selbst arbeitete Hans-Cristian am Gegenteil: Sein Herz, das stets zu streiken drohte (und sieben Jahre später auch streiken sollte), wünschte sich keine Veränderung. Veränderung vs. Status Quo. Das ist - auf der ‚ kleinen ‘ Welt eines Ehepaares, gespiegelt in der männlichen und weiblichen Dorfbevölkerung - der Sprachenstreit, an dem sich der Konflikt entzündet. Auf der größeren Ebene der Länder und Nationen der Welt herrscht Krieg, der auch als Sprachenkrieg geführt wird. Der Erzähler berichtet von Paula: „ Det fanns ett ord hon använde: tyngden. / - Jag måste motarbeta tyngden, så att jag inte blir totalt likgiltig. “ (GUD: 30) [Es gab ein Wort, das sie gebrauchte: die Schwere. / - Ich muss gegen die Schwere anarbeiten, um nicht ganz gleichgültig zu werden.] Im Grunddispositiv des Buches unterscheidet sich denn die Welt ‚ der Frau ‘ (Paula) elementar von jener ‚ des Mannes ‘ , wie selbst Hans-Cristian befindet: „ Paulas värld var manifestationer av något annat. Av kosmos, av en gudomlig ordning. “ (DHG: 171) [Paulas Welt waren Manifestationen von etwas anderem. Von Kosmos, von einer göttlichen Ordnung.] Während die Männer (von Sunnes Geografischer Gesellschaft) die (chaotische) Welt vermessen, benennen, kartografieren und in Vorträgen definieren, schweift der Blick der Frauen über den sicht- und vermessbaren Horizont der Welt hinaus ins Weltall, mit einem Staunen über die kosmischen Gesetzmäßigkeiten, die Schönheit, die sie umgibt und die sie abwechselnd mit einem gemeinsamen Gedichtreigen besingen: „ Så liten köpingen är därnere / djupt under vårt morotsland / Liten är kyrkan, husen små / men våra rörelser är stora. “ (GUD: 190) [So klein ist unser Dorf dort unten / tief unter unserem Rübenland / Klein ist die Kirche, die Häuser schmal / doch unsere Bewegungen groß.] Aus der Vogelperspektive beschrieben, setzt die Lobpreisung (der eigenen Leistungen) an. Paula, „ eine Fruchtbarkeitsgöttin “ , die „ mit nackten Brüsten über das Feld gleitet, um den Acker zu befruchten “ (GUD: 191) feuert Gertrud und Judit zum Mittun an und ‚ verhext ‘ sie. Wie De heliga geograferna mündet auch Guddöttrarna ‚ im Weißen ‘ . 131 In Teil 1 und 2 von „ Häxgemålen “ finden sich viele Beispiele zu Jacobs Unterhaltungen mit Erwachsenen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 201 - Jag är prästinna, jag är prästinna. 132 Göran Tunström 4.2.1 ord/ Wort-Stellen in Guddöttrarna In Guddöttrarna sind, wie erwähnt, viele neutrale ord/ Wort-Stellen anzutreffen. Es gibt dafür eine logische Erklärung. Die Patentöchter sprechen weniger intertextuell, sprachphilosophisch oder auf die Bibel alludierend, sondern eher pragmatisch, fantastisch, lyrisch, und mit Bodenhaftung. Anders gesagt: In Guddöttrarna dominiert weibliches Denken, Sprechen und Handeln, in De heliga geograferna herrschte vorwiegend das männliche Prinzip des rationalen Erklärens, das auf einem dualistischen Modell basiert und sich demnach sprachlich gestaltet. 4.2.2 Wort gegen WORT „ Ich bin Priesterin, ich bin Priesterin “ . Diese Verlautbarung schleudert Paula vom Kirchendach in Richtung einer versammelten Gemeinde in Aufregung geratener Männer auf den Dorfplatz Sunnes hinab, wo mittels Decken und Tüchern hilflose Vorbereitungen getroffen werden, um die ‚ Verrückte ‘ , wenn sie sich vom Dach stürzt, aufzufangen. Wie eine Einzelaktion einer der „ Grupp 8 “ entsprungenen Aktivistin, die auf Konfrontationskurs mit der herrschenden (Männer-)Gesellschaft geht, wirkt die verstörend irreale Szene der in Ekstase geratenen Ehefrau von Pfarrer Hans-Cristian Wermelin. Sie hat sich durch ihren „ Flug “ hinauf auf das Kirchendach (! ) kurzerhand die „ Seinsweise der absoluten Freiheit “ 133 angeeignet, wie sie Mircea Eliade für den indischen Arhat 134 beschreibt: „ Für das indische Denken veranschaulicht der Arhat, indem er ‚ das Dach des Hauses zerbricht ‘ und in die Luft auffliegt, auf bildliche Weise, daß er den Kosmos transzendiert und eine paradoxe, unvorstellbare Seinsweise erreicht hat, nämlich die Seinsweise der absoluten Freiheit (die verschiedene Namen haben kann: nirvâna oder asamskrta, samâdhi, sahaja usw.)[.] “ (Eliade 1965: 103) Die emanzipatorische Selbsterhebung steht als Ekphrase für den nicht länger unterdrückbaren Schrei der Mitsprache, hier nicht in der Kirche, sondern - Paula steht draußen über dem Tor zur Kirche - in der profanen Welt. Die Szene versinnbildlicht in der 132 GUD: 161; vgl. dazu GUD: 158, wo Paula gar eine Art coniunctio oppositorum für sich reklamiert, wenn sie zu Hans-Cristian sagt: „ Jag är prästinna ju. Det har du inte tänkt på, va. Präst och prästinna. “ (wortwörtlich zuletzt: Pfarrer und Pfarrerin, also beide Geschlechter in ihrer Person vereinigt.) SAOB nennt unter ‚ prästinna ‘ weiters folgende Bedeutungen, hier abgekürzt wiedergegeben: „ 1) ( † ) prästs hustru, prästfru; 2) (i högstämt religiöst spr.) om kvinna som (utan att vara prästvigd) ägnat sitt liv åt att förkunna Guds ord; 3) i fråga om hedniska religionsformer kvinnlig präst; 4) a) α ) i uttr. Backi prästinna; 4) a) β ) (kåserande, skämts.) i omskrivande beteckningar för sköka (demimond l. gatflicka); 4) b) (tillf.) övergående i bet.: skådespelerska; 4) c) ( † ) övergående i bet.: sköka, gatflicka. “ Siehe: https: / / www.saob.se/ artikel/ ? unik=P_2055-0396.8axR&pz=3 (abgerufen 11.08.2021). 133 Vgl. dazu Eliade: „ In den meisten archaischen Religionen versinnbildlicht der ‚ Flug ‘ den Zugang zu einer übermenschlichen Seinsweise (= Gott, Zauberer, ,Geist ‘ ), die Freiheit, sich nach Belieben zu bewegen, also das Sich aneignen der Verfassung des ‚ Geistes ‘ . “ (Ders. 1965: 103) 134 „ Wörtlich: ‚ Würdiger ‘ i. S. von Vollendeter, ‚ Heiliger ‘ als Bezeichnung für einen, der die Erlösung (nirvana) erlangt hat, allerdings nicht aus sich selbst wie ein Buddha, sondern in der Nachfolge der verkündeten Lehre des Buddha. “ (Notz 1998: 51). Vgl. auch die Definition der Begriffe ‚ Erlösung ‘ (Notz 1998: 152 - 154) und ‚ nirvana ‘ (ebda.: 338 - 339); „ Die Wurzelgrößen des Unheilsamen: Gier, Haß u. Verblendung sind vernichtet [ … ] “ (ebda.: 338). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 202 4 EPILOG Verdoppelung „ Ich bin Priesterin, ich bin Priesterin “ samt der Körpersprache der erhobenen Arme ( „ Hon [Paula] höjde armarna och skrek “ ) die ganze Thematik von Guddöttrarna: Körpersprachlichkeit und das Brechen gesellschaftlicher Konventionen und Kommunikationsformen: Paula wartet nicht, bis sie das Wort ‚ erteilt ‘ bekommt, sondern ‚ ergreift ‘ es lauthals und wird von ihm ergriffen. Ihr Akt ist ein Aufschrei, und kommt von oben. Wie De heliga geograferna endet auch Guddöttrarna ‚ im Weißen ‘ . Erneut ist es Jacob, der diese Weiße erfährt. Doch dieses Mal ist er in Bewegung, er sitzt auf dem Fahrrad im Windschutz hinter Paulas Rücken (auf einem Kindersitz). Also geborgen. Im Aufbruch zu etwas Neuem, doch diesmal ist er nicht fiebrig, sondern wach und erwartungsvoll. Und „ [d] er See Fryken ist weiß. Alles ist weiß, auch das Huhn in meinem Schoß “ , klingt das Buch wie ein mit der Saalbeleuchtung im Kino einsetzender, gleichzeitig der Tageshelle sich öffnender Filmabspann aus. (GUD: [233]) GUD: 7: Tingen såg på henne med nya ögon. Det fanns andra ord för henne, andra färger Die Dinge sahen sie mit neuen Augen an. Für sie gab es andere Wörter, andere Farben. Der Erklärung des Erzählers geht die Auskunft voraus, Judit Johanesson habe seit vielen Jahren kein Bad im See genommen, „ da Georg nicht badete “ (GUD: 6). Die Frau machte bisher dasselbe wie der Mann: wenn er nicht badet, badete sie auch nicht. Doch jetzt, nachdem die „ Dinge “ sie nach der Erfahrung im Wasserbad-Wörterbad mit „ neuen Augen “ ansahen, 135 einen Prozess in Gang brachten, haben das Sagen „ andere Wörter, andere Farben “ , und Judit beginnt eigene Wege zu gehen. Der Text verrät nicht, wo sie nun zum ersten Mal seit langem ein Bad nahm. Der Ort ist wortwörtlich im Subtext zu suchen. In einem augmentierten: Bei Selma Lagerlöf und in der Bibel: „ Sie ging aufs Wasser hinaus, plantschte darin herum und setzte sich auf den sandigen Boden. Es war seicht. Und warm, trotz der frühen Jahreszeit. “ 136 (GUD: 7) Zur Hauptsache ist der Passus eine Allusion auf die Bibelworte aus dem Buch Judith, die in dem Satz kulminieren: „ Wenn sie aus dem Bad herausstieg, flehte sie zu dem Herrn, dem Gott Israels, er möge ihr Vorhaben gelingen lassen und ihrem Volk wieder aufhelfen. “ ( Jdt 12,8) Statt wie in der Bibel von Holofernes, kommt die Anweisung bei Tunström von Gjöres. Die säkulare, sich emanzipierende schwedische Judit braucht nicht zu Gott zu flehen wie ihre biblische Vorgängerin. Das tiefe Vertrauen auf die „ eigenen Träume “ (GUD: 7) in ihrem Vorhaben, die unter dem Mangel an A-Karotin leidende Bevölkerung mit den selbst kultivierten Vitaminen zu versorgen, ist ihrAuftrag genug. Mit ihrer biblischen Namensschwester teilt sie den Vorsatz ( „ ansatsbana “ ), das Vorhaben der Beschaffung von Nahrungsmitteln, möge gelingen. Weitere in den Text montierte Bibelzitate, zeigen eine moderne (biblische) Geschichte in der Überschreibung eines ‚ alten Gewandes ‘ . Palimpsestisches Überschreiben und Umschreiben ist einmal mehr Tunströms Schreibverfahren. Hinzu kommt die Collage- 135 Die gängige Sicht der Dinge, die cartesianische Ratio Mensch/ Subjekt - Ding/ Objekt, steht kopf: eine mystische Sichtweise spricht aus diesen Worten. - In Prästungen findet sich dazu eine analoge Stelle, wenn Göran in seinem prekären Zustand der „ Wortverlassenheit “ , (Christine Abbt) sagt: „ Jag borde ha stannat i Sunne, säger TINGEN till mig. “ (PRÄ: 267) [Ich hätte in Sunne bleiben sollen, sagen DIE DINGE zu mir.] 136 „ Hon gick ut i vattnet, plaskade omkring sig och satte sig på den sandiga bottnen [sic]. Det var grunt och varmt, trots den tidiga årstiden. “ lautet die ganze Stelle. Mit „ Herumplätschern “ ( „ plaskade omkring sig “ ) wird die Ambivalenz der metaphorischen und der realen Ebene in der Schwebe gehalten. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 203 technik, die sich im ganzen Buch abfärbt. 137 Im Anschluss an diese Szene konkludiert der Erzähler: GUD: 7: Man måste lösgöra sig, om än bara för några sekunder, från det som binder ens ord och handlingar i ett allför många gånger upprepat mönster. [ … ] här är din stund i livet, din ansatsbana. Man muss sich loslösen, selbst wenn nur für Sekunden, von dem, was Worte und Handlungen einen an ein allzu oft wiederholtes Muster binden. [ … ] darin liegt deine Chance im Leben, das ist dein Ansatz. In Judit Johanesson stimmen Wort und Handlung, Körper und Sprache für gewöhnlich überein. Hans-Cristian kennt diese Kongruenz meist nur in seiner Funktion als Diener am liturgischen WORT. Hier geht es somit um die Loslösung eingeschliffener Verbindungen von Wort und Handlung, sprachlicher Muster, die mit einem Verhaltens- und Denkmuster einhergehen. Judit zeigt dafür Offenheit. Mit der Positionierung dieser Thematik an den Beginn von Guddöttrarna ist das Grundthema des Buches angeschlagen: Loslösung und Ausbruch aus den Sprachzwängen und ihren überkommenen (Verhaltens-)Mustern. Die Sprache verjüngen, Sprache und gesellschaftliche Realität(en) in Kongruenz zueinander bringen. GUD: 13: I sängen reagerar jag på ordet sinnessjuk, men det är inte i samband med henne jag reagerar utan i samband med mig själv. Im Bett reagiere ich auf das Wort geisteskrank, doch nicht bezogen auf sie, sondern auf mich selbst bezogen. Das ist die innere Rede des fünfjährigen Kindes Jacob, das beim Lauschen von Gesprächen Erwachsener das Wort Grenzen erhascht, „ auf dem Hitler herumreite “ (DHG: 14), wie einer der Erwachsenen, Jacob Jacobsson, sagt. Weder ‚ Grenze ‘ noch ‚ geisteskrank ‘ ist ein Dingwort. Sie stehen für Wörter, die an Jacob hängenbleiben und eine diffuse Attraktion auf ihn ausüben, gerade weil er sie „ nicht versteht “ , sie nicht ‚ fassbar ‘ , keine Dingwörter sind, er sich also nichts Handfestes darunter vorzustellen vermag. Das macht sie besonders interessant und merkwürdig. Solche Wörter setzen sich fest und bleiben ihm mehr als andere in Erinnerung. Sie nisten sich ein. Jacob kommt beim Nachdenken über die Gespräche der Erwachsenen zum Schluss: GUD: 14: Länge samtalar de den kvällen och hur skall jag kunna minnas något annat än det som rör sig kring ordet Sinnessjuk. Som ett torn reser det sig över den övriga ordmassan, som är mitt bagage när jag reser i världen. 137 Wie schon in der Aufforderung zur Anpflanzung von „ A-Vitaminen “ sind viele weitere Bibelparaphrasen in den Text hinein montiert, wie etwa „ Och det hände sig att Paula, min mor “ (GUD: 8) [Es begab sich aber, dass Paula, meine Mutter] (vgl. Lk 2,1) oder „ Men kvinnorna log och arbetade vidare och det bekom dem inte. “ (GUD: 10) [Aber die Frauen lachten und arbeiteten weiter und es berührte sie nicht.] (vgl. bspw. 1. Mose 17,17). Das Triummulierat aus Judit, Paula und Gertrud verstärkt die Wirkung eines fantastischen Realismus biblischer Grundierung, in dem die Erzählebenen dauernd zwischen ‚ real ‘ und ‚ mythisch-mystisch ‘ changieren. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 204 4 EPILOG Lange sprechen sie an diesem Abend miteinander, und wie sollte ich mich an etwas anderes erinnern können als an das, was sich um das Wort Geisteskrank dreht. Wie ein Turm ragt es aus der übrigen Wortmasse heraus, die mein Gepäck ist, wenn ich die Welt bereise. Das aus der Wortmasse, auch durch die Großschreibung, die übrigen Wörter wie ein Turm überragende Wort ‚ Geisteskrank ‘ schärft Jacobs Wahrnehmung „ für diese Form von Krankheit “ . Jacobs Denken operierte gemäß Subtext der Aussage oben in der Dichotomie krank - gesund, immer bezogen auf den Körper. Dass offenbar noch etwas ‚ dazwischen ‘ gibt, etwas nicht Sichtbares an einem respektive in einem Menschen, ohne sich körperlich zu manifestieren, ist für ihn etwas, wovon er sich noch nichts vorstellen kann. Umso mehr brennt sich das neue Wort in sein wachsendes Bewusstsein ein, steht außerhalb der Masse derjenigen Wörter, mit deren Gebrauch und Bedeutung er bereits vertraut ist. Das Wort ‚ Geisteskrank ‘ hängt im luftleeren Raum. Gesondert, wie für sich ‚ steht ‘ es da. Wie und wofür? Noch kann es kippen, die Verbindung und Verstrebung mit der bisherigen Wortmasse ist angesagt. Mit diesem Wort ist behutsam umzugehen. Gehört es zum Wortschatz des Heiligen oder des Profanen? GUD: 28: - Ja, själv blev det ju aldrig några barn. / Säverud knyckar ihop de torra orden och stöter iväg dem. - Ja, selbst gabs ja nie Kinder. / Säverud zerknickt die dürren Worte und stößt sie weg. Das ist die Lebensbilanz von Spielwarenhändler Säverud auf Hans-Cristians Bemerkung, wie „ spannend “ es sei, „ vierundzwanzig Stunden am Tag “ mit Sohn Jacob etwas zu unternehmen und für ihn da zu sein. Mit dem ‚ Wegstossen ‘ der „ dürren Worte “ in Säveruds Replik resümiert der Erzähler dessen ganze Frustration, die sich auch in der schrullig unpersönlichen Erklärung „ Selbst gabs ja nie Kinder “ widerspiegelt. GUD: 29: Han ser [v]ad hon pratar om, när inte han är med och „ kontrollerar “ . Han ser sitt eget ord „ kontrollera" och han tycker inte om det. [ … ] Paula talade förändringens språk. Allt hon sade och tänkte handlade om förändringar, medan hans eget tal gick ut på bevarande. Er sieht [w]ovon sie spricht, wenn er nicht dabei ist und „ kontrolliert “ . Er sieht sein eigenes Wort „ kontrollieren “ und das gefällt ihm nicht. [ … ] Paula redete in der Sprache der Veränderung. Alles, was sie sagte und dachte handelte von Veränderungen, während seine eigene Sprache auf Bewahren aus war. Der Erzähler schildert Hans-Cristians Unwohlsein mit der Sprache. Ihm wird bewusst, wie sich selbst limitiert. Im Zusammenleben mit Paula erfährt er die Freiheit, sich davon zu lösen. Das ‚ Wort Gottes ‘ sollte ihn nicht (länger) daran hindern. GUD: 32 [indirekta ord]: Hette det Der eller Das Mai, undrar Georg. [indirekte Wörter] Heißt es Der oder Das Mai, fragt Georg. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 205 Im Kapitel Häxgemålen 138 (Die Hexengemahlin) lernt Georg nicht nur Deutsch bei Hans- Cristian. Kind Jacob wird von Sigurd Videmann 139 über den uneigentlichen Gebrauch von Wörtern aufgeklärt (GUD: 31: vgl. dort die Erklärung von att få) respektive an der Nase herumgeführt (32: vgl. die Erklärung zu svärson). In einem Abschnitt (GUD: 33 - 34) suchen Vater und Sohn für jeden Buchstaben spielerisch ein Wort. Beim Buchstaben H exklamiert Jacob: „- H. Hans-Cristian. Vi skall ha dig i alfabetet, pappa. “ [H. Hans-Cristian. Wir werden dich im Alphabet haben, Papa.] Der Buchstabe H steht damit anthropomorphisiert für den ganzen Menschen Hans-Cristian. Die Szene vermittelt eine Idee davon, wie das ABC oder das Lernen der (schwedischen) Sprache als „ transparentes Kommunikationsmittel “ (Müller-Wille 2005: 161) im Geist des Pädagogen und Schriftstellers C. J. L. Almqvist für den Unterricht an schwedischen Grundschulen einst konzipiert war. GUD: 33: Språk är inte farliga. Sprachen sind nicht gefährlich. Hans-Cristian bemerkt dies zu Sigurd Videmann, der sich bei ihm erkundigt: „ Läser han tyska för dig, charkuteristen? “ [Studiert der Fleischer jetzt Deutsch bei dir? ] Es hatte sich offenbar herumgesprochen, dass Georg Johanesson Deutsch lernt. Deutsch wird von Videmann assoziiert mit Hitlerdeutschland, Kriegsgefahr, Angst vor einer Okkupation. Hans-Cristians Antwort, Sprachen ‚ an sich ‘ seien nicht gefährlich, präsupponiert genau dies: Das Sprechen einer Sprache darf nicht mit dem Handeln und der Regierung und ihrem Land (hier Deutschland) und den Sprechenden dieser Sprache kurzgeschlossen werden. Die eben zitierte Replik steht am Schluss eines Abschnitts, der nach einer Leerzeile zu einem eineinhalbseitigen Passus (vgl. GUD: 33 - 34) überführt, in dem Sprachkenntnis exakt konträr thematisiert wird. Hans-Cristian bringt darin Sohn Jacob, wie oben bereits angeführt, im spielerischen Dialog die ersten Buchstaben des ABC bei (wobei er ‚ E ‘ zu erwähnen vergisst), und überlegt sich dabei: [D]et finns bara en sak man kan ge sitt barn: ett språk. Ett språk som man sen kan behandla verkligheten med. Ett stort brett språk det skall du få av mig. / - Nu plockar vi alfabetet, Jacob. Här är en akleja! / - Jag vill inte. Jag leker ju med bilarna. / Han lägger sig på dikesrenen och tutar och kör. / - Vad börjar bil på? / - På B. / - Det är en Cykel. C. Då skall du hitta på en sak på … ? (GUD: 33) [Es] gibt nur eine Sache, die man einem Kind schenken kann: eine Sprache. Eine Sprache, mit der man die Wirklichkeit behandeln kann. Eine große breite Sprache sollst Du von mir bekommen. / - Lass uns das Alphabet pflücken, Jacob. Hier, eine Akelei! / - Mag nicht. Ich spiele ja mit den Autos [Bilar]. / Er legt sich in die Wasserrinne, tutet und steuert. / - Womit beginnt Auto? / Mit B. / - Das ist ein Fahrrad. C[ykel]. Dann erfinde jetzt etwas dazu … ? GUD: 36: Med rörelser. Med smekningar. Men inga ord. Mit Bewegungen. Mit Liebkosungen. Doch ohne Worte. 138 ‚ Häxgemål ‘ scheint ein hapax legomenon Tunströms zu sein; Zusammensetzungen wie „ ungdoms- “ und „ favoritgemål “ sind hingegen belegt, siehe dazu den Eintrag unter dem Lemma GEMÅL in SAOB: http: / / www.saob.se/ artikel/ ? seek=gemål&pz=1#U_G1_207478 (abgerufen 11.08.2021). 139 Videman wird in GUD mit zwei ‚ n ‘ buchstabiert: Videmann, in DHG mit einem: Videman. - Es ist dies nicht die einzige orthographische Unregelmässigkeit von DHG und GUD. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 206 4 EPILOG Hans-Cristian wird sich bewusst, dass er von Paula noch nie die Worte: „ Ich liebe dich “ gehört hat. Paula hingegen glaubt, die Sprache ihrer Bewegungen und Liebkosungen müsste ihm schon längst deutlich ‚ gesagt ‘ haben: Ich liebe dich. Die nonverbale oder wortlose Sprache geht von Paula aus, deren „ ABC “ Hans-Cristian eben gerade am Kennenlernen ist. GUD: 37: Så långt hann du alltså komma, Jacob, medan vi levde samman, Paula och jag. De orden du säger nu har vi lärt dig. Det är så här du ser ut just nu. So weit bist du denn bisher gekommen, Jacob, in der Zeit, als wir zusammenlebten, Paula und ich. Die Worte, die du jetzt sagst, haben wir dich gelehrt. Und so siehst du jetzt aus. Die Stelle ist ein Beleg mehr im Werk Tunströms, wie der kindliche Erwerb der Sprache (in der Regel) funktioniert, wie Sprache den Menschen gestaltet, formt: Analog, durch Imitation der jüngeren Generation der Wörter und Sprachakte in der Tradition der Sprecherinnen und Sprecher der älteren Generation. 140 GUD: 39 [indirekta ord]: Han försöker be. Bönen handlar om Paulas tillfrisknande. Han märker att han hycklar. [indirekte Wörter] Er versucht zu beten. Das Gebet handelt von Paulas Gesundung. Er merkt, dass er heuchelt. GUD 40: Han föraktar sig mitt i dessa ord. Er verachtet sich mitten in diesen Worten. GUD: 42: Hur skall han kunna förklara för en enda människa på denna jord att varenda ord hon säger är sjukt. Han tycker det ju inte själv ens. Wie sollte er auch nur einem einzigen Menschen auf dieser Welt erklären können, dass jedes Wort, das sie sagt, krank ist. Er glaubt es ja selber nicht mal. Im Kapitel „ Häxgemålen “ (GUD: 25 - [66]) reiben sich Sprache und Nicht-Sprache aneinander, zugleich wechseln Auto- und Heterodiegese dauernd. Hans-Cristian weiß, dass Paulas Narrenrede wie auch ihr Verstummen und Schweigen, Teil von Gottes Logos ist. Der Mystikforscher Alois Maria Haas: „ Dies ist der Grund der Sprache, die eine des Schweigens ist, denn ‚ auch Schweigen ist Logos ‘ . “ (Haas 2014a: 557) GUD: 52: Orden har sagt sig och står här. De låg beredda i munnen, någon har serverat dom. För vem och vad? Han sjunker. Är det så med alla ord och tankar att någon manipulerar oss, ger oss dem som dopgåva. En tung gåva. Ett tungt arv att bära, att digna under. Die Worte sind ausgesprochen und stehen da. Sie lagen bereit im Mund. Jemand hat sie serviert. Für wen und wofür? Er ermattet. Ist es so mit allen Wörtern und Gedanken, dass jemand uns manipuliert, dass jemand sie uns als Taufgabe gibt. Eine schwere Gabe. Ein schweres Erbe mit der Gefahr, darunter zusammenzubrechen. 140 (Ob diese Art des Spracherwerbs kommenden Generationen auch so zugutekommt, ist angesichts der zunehmenden Digitalisierung und Roboterisierung vieler Gesellschafts- und Kommunikationsbereiche fraglich.) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 207 Die Wort-Stelle zeigt einen Ausschnitt der inneren Rede Hans-Cristians. Patientin Paula hatte ein Glas svagdricka und ein Glas Milch bestellt, und wollte beides miteinander trinken: Sie möchte Gegensätze in sich vereinen. Das wissen die anderen Patientinnen und Patienten in der Klinik, die ihren Prozess der Läuterung und Sprachfindung (der nach dem, von Wörtern und deren Rationalität freien Liebesakt einsetzte) mitbekommen haben. ( „ De har delat hennes genombrott, sett det. “ GUD: 53) Hans-Cristian hingegen, der nur zu Besuch ist, und von Paulas Vorhaben abrät, wie der Erzähler am Ende erklärt, „ verurteilt sie. “ (ebda.) Das Bemerkenswerte an der Stelle ist hier, dass die Worte die Taufgabe eines namenlos geheißenen Jemand sind. Eine „ schwere Gabe “ , die gemäß christlich-jüdischem Glauben eine lebenslange Verantwortung nach sich zieht. GUD: 55: - Du skäms för mig! Du vågar inte visa upp mig i den här klänningen. Du är rädd för att jag skall prata ord. - Du schämst dich wegen mir! Du wagst es nicht, dich mit mir in diesem Kleid zu zeigen. Du hast Angst, ich könnte irrereden. Hans-Cristian ist unterwegs mit Paula auf dem Weg zum Bahnhof, wo sie den Zug nach Hause nehmen wollen. „ Er denkt: Wenn ich doch nur das Priestergewand anhätte. Ein Priester, der eine Verrückte verfrachtet. “ (GUD: 55) Die Stelle ist enorm kondensiert: Kleidersprache und Körpersprache kolludieren darin mit einer (präsupponiert) wirren Wortsprache zur Semiose, deren Komplexität hier kurz skizziert sei. Pfarrer Wermelin in Zivilkleidern, nicht in seinem Priestergewand, begleitet (s)eine junge Frau, die beinahe ,nackt ‘ ist, denn ihr Körper zeichnet sich ab unter dem tropfnassen Kleid - eine Kalamität. Hans-Cristian fürchtet um seinen Ruf. Trüge er das Priestergewand, sähe alles ganz anders aus: Menschen im Dorf, die ihn (er)kennten aber auch Passanten (die nicht wüssten, wer er ist), würden sich ihn wohl bei der Arbeit denken, als ‚ Seelsorger ‘ und nicht als Privatperson (jene vom Dorf sähen ihn in dem Augenblick in einer Doppelrolle). Nicht nur Wörter bedeuten, auch Kleider und ihre Körper ‚ sprechen ‘ . Sie unterstehen einem (ungeschriebenen) Code. 141 Bei einem Würdenträger steht der Dresscode, die Kleider-Vorschrift, zudem unter besonders scharfer Beobachtung. Im Sprachkleid ‚ Priester ‘ fiele ihm die Aufgabe leichter. Eine Verrückte und ein Seelsorger bilden keine Triade, daran würde auch die befürchtete Deklamation irrer Worte nichts ändern, höchstens die gemachte Meinung zementieren; Kleider machen auch Worte. GUD: 56: Ibland satt de stilla och stirrade och samlade ihop ord till meningar, som de slängde omkring sig, och man förstod eller förstod inte. Som en annan sorts musik. Manchmal saßen sie still da und starrten vor sich hin und reihten Wörter zu Sätzen, die sie um sich schleuderten, und man verstand sie oder auch nicht. Wie eine Art Musik. In innerer Rede reflektiert Hans-Cristian über das verselbständigte Sprachgeschehen, das einer Glossolalie gleicht, wie er es gerade jetzt mit Paula aus nächster Nähe erlebt, die nun auf der Zugfahrt auch noch laut zu singen beginnt (GUD: 57). Sie klagt ihn an, er verstehe sie 141 Vgl. dazu Roland Barthes ’ „ vestimentären Code “ , in: Ders. (1993). Die Sprache der Mode. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 208 4 EPILOG nicht. „ DOCH GERADE DAS TAT ER JA. “ (56) Die Situation fordert ihn aufs Äußerste. Auch deshalb, weil Ivan, Paulas ‚ Schatten ‘ , an ihrer Seite dabei ist. Doch sie sind unterwegs. Das Ziel heißt Ankommen. Zuhause. Die Szene im Zugabteil löst sich in Minne auf: Paula und Hans-Cristian blicken sich tief in die Augen. „ Das ist ja der Blick, denkt er, den sie mir während Jahren vorbehalten hatte. “ (58) Die Sprache der Seele antwortet erst zaghaft an Stelle von Zwiesprache. Hans-Cristian räsoniert: „ Mit der Krankheit werde ich zurande kommen, aber nicht mit ihrem Inhalt. “ (ebda.) Die Verunsicherung auf Seiten Hans- Cristians ist groß. GUD: 61 - 62: När jag var … frisk - och hon uttalade ordet mycket hånfullt - då höll du ju med mig. [ … ] Han är fruktansvärt hungrig och kör besticken i maten, men kommer ihåg Paulas ord … [ … ] Än hade han inte fått tala med henne med sina ord. Als ich … gesund war - und sie sprach das Wort sehr höhnisch aus - , da warst du ja gleicher Meinung. [ … ] Er ist furchtbar hungrig und fährt mit dem Besteck ins Essen, aber erinnert sich an die Worte Paulas … [ … ] Noch hatte er keine Gelegenheit, mit seinen Worten mit ihr zu sprechen. Paula und Hans-Cristian sind zuhause angelangt. Sie versuchen am Küchentisch miteinander ins Gespräch zu kommen. Doch sie „ spricht mit ihrem Kosmos “ (GUD: 62). Hans- Cristian kann zunächst noch nicht „ mit seinen Worten mit ihr sprechen. “ (ebda.) 4.2.2.1 Die Bibliothek „ Alexandria “ Jacob „ der Ältere “ ( Jacob Schwartz) schreibt: „ Jag skriver det här, fortfarande fast i mitt ‚ Alexandria ‘ , där jag försöker skapa den ort jag kallar min far. “ (GUD: 65) [Ich schreibe das hier, weiterhin fest in meinem „ Alexandria “ , wo ich versuche den Ort zu schaffen, den ich meinen Vater nenne.] Und dort steigt er „ in den blendenden Raum, der mein Schreiben ist, diesen Raum mit den Menschen, über die ich schreibe. “ Und da, beim Schreiben in „ Alexandria “ - eine autopoeseologische Schreib-Szene - gelingt es Jacob, seinen Vater zum Sprechen zu bringen, und er sagt zu ihm; GUD: 65: - Han kommer att blomma, Jacob. Ser du, språket är som ett träd. Har man bara planterat en enda mening, ett enda ord i hans mun, i någons mun, så växer det. Knoppas, slår ut, brister i blom. - Er [der Ort] wird erblühen, Jacob. Siehst du, die Sprache ist wie ein Baum. Hat man bloß einen einzigen Satz gepflanzt, ein einziges Wort in seinen Mund, in den Mund irgendjemandes, so wächst sie. Knospt, schlägt aus, erblüht. Hier ‚ spricht ‘ in der direkten Rede Jacobs Vater (zumindest in seiner Imagination). Jacob (Schwartz) befindet sich am Ende seiner Unterredung bei Meister Archidascalus. „ Alexandria “ - Chiffre für die Bibliothek aller Bibliotheken steht hier für Vater Tunströms Welt. Was er da gelernt habe, sei „ dass, alles Lebendige in einer Form weiterlebt, dass man das Vergangene nur zu etwas Gegenwärtigem umorganisieren müsse. “ (ebda.) Hier an der Akademie von „ Alexandria “ als Adept von Archidascalus sei es ihm gelungen „ Vater zum Sprechen zu bringen, sich zu bewegen. Vaters Satz wird sich bewahrheiten: Der Raum wird wieder aufblühen, über seinem Sohn Jacob (Wermelin), der das ABC lernen wird, und selbst Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 209 die zeitweilig erloschene Sprache Paulas kam wieder zum Leben, wie der Roman erzählt. Tunström evoziert damit die menschliche Sprache als Work-in-progress, stets „ in Relation zueinander “ (GUD: [66]). Sprache ist auf das Miteinander im Gespräch angewiesen, andernfalls ist sie vom Aus- und Absterben bedroht. Eine Auswahl weiterer ord/ Wort- Stellen steht hier dafür Garant. GUD: 87: Robert Hartmann hade levat i brist och provisorium. Men när han vräktes ner i badkarets smutsiga vatten nåddes han av några ord som fyllde honom med oresonlig glädje. Zjyluun sut. Orden gjorde sig stora i honom. Han hade inte hört dem på fyrtio år och plötsligt var de en del av honom igen. Fram till sitt elfte år pratade Robert kirgisiska, det var hans modersmål borta i Gurjew. Zjyluun sut betydde varm mjölk. Det var uppfyllelsens ord, för så snart han uttalat dem brukade Eleonore komma med en bleckmugg uppkokad varm mjölk. Av den blev han varm i hela sin späda kropp. Och det var nu, som om själva orden förde med sig alla smaker och röster runt omkring mjölken. Robert Hartmann hatte sein Leben im Mangel und Provisorium verbracht. Doch wenn er ins schmutzige Badewasser hinabgestossen wurde, kamen in ihm Wörter hoch, die ihn mit unbegreiflicher Freude erfüllten. Zjyluun sut. Die Worte erwachten in ihm. Seit vierzig Jahren hatte er sie nicht mehr gehört und plötzlich waren sie wieder Teil von ihm. Robert hatte bis zu seinem elften Jahr Kirgisisch gesprochen, es war seine Muttersprache in Gurjew. Zjyluun sut bedeutete ‚ warme Milch ‘ . Das waren Worte der Erfüllung, denn sobald er sie ausgesprochen hatte, brachte Eleonore ihm gewöhnlich eine Blechtasse voll aufgewärmter Milch. Ganz warm wurde ihm in seinem dünnen Körper. Es war ihm, als brächten die Worte selbst alle Geschmäcke und Stimmen der Milch mit sich. Kirgisisch 142 kommt hier eine, Prousts Madeleines vergleichbare Funktion zu. Genau genommen ist es der Klang des Kirgisischen, der bei Robert Assoziationen an den Geschmack der Milch, die er in seiner Kindheit zu trinken bekam, in Erinnerung ruft. Das Trinken kuhwarmer Milch löst bei ihm Kirgisisch, die ‚ wiedergefundene Sprache ‘ , aus. Noch einmal evozieren die folgenden Wort-Stellen eine vergangene Zeit: GUD: 88: Stäppen kommer, ordet vatten kommer och har med sig sommar. Havet kommer. Ja och nej kommer. Ija och zjok. Die Steppe kommt, das Wort Wasser kommt und bringt Sommer mit sich. Das Meer kommt. Ja und Nein kommen. Ija und zjok. GUD: 89: De svenska orden doftade inte som de kirgisiska, för det var på kirgisiska han sett blommorna, himlen och floden. Ordet björnbär låter grått, oätligt, har ingenting med kara buldurkun [björnbör] att göra. 142 Reinhard Schulze bestätigte die Echtheit und erklärte die Bedeutung der kirgisischen Wörter und Sätze im Kap. „ Lekmännen “ in den beiden E-Mails an den Verf. (L. D.) vom 20. und 22.12.2016.) Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 210 4 EPILOG Die schwedischen Wörter dufteten nicht wie die kirgisischen, denn auf kirgisisch hatte er die Blumen, den Himmel und den Fluß gesehen. Das Wort björnbär [Brombeeren] klingt grau, unappetitlich, hat nichts mit „ kara buldurkun “ gemein. GUD: 111: Orden hinner fatt honom. De betyder skilda saker för honom och henne. Die Wörter erreichen ihn nicht. Sie bedeuten nicht dasselbe für ihn wie für sie. Ein wahres Wort: Wörter können verschiedenen Menschen Verschiedenes bedeuten. Ein Axiom, das jedem Wörterbuch, das die Semantik des Worts erklärt, widerspricht. Paradoxerweise stimmt auch die Beobachtung in der folgenden Feststellung. GUD: 120: Orden är nya och utan skuld. Die Wörter sind neu und ohne Schuld. Wenn (Paulas) Wörter ohne „ Schuld “ sind, sind sie noch ‚ jungfräulich ‘ , müssen noch nichts bedeuten, waren noch nicht in Gebrauch, sind noch leer, haben noch keinen ‚ Inhalt ‘ zu kommunizieren und werden, bei einem Menschen, der sie erst am Erproben und Kennenlernen ist, noch nicht mit (einer persönlichen) Geschichte verbunden. Sie wurden noch keinen Belastungsproben ausgesetzt (etwa in schwierigen Gesprächen, in denen sie zu Missverständnissen geführt haben). Der einfache Aussagesatz „ Die Wörter sind neu und ohne Schuld “ birgt die (sprachphilosophische) Implikation: Noch unverbraucht ist in ihnen das nie zu erschöpfende Sinnpotential. Barn och dårar kan tala så, men inga andra. (GUD: 120) [Kinder und Toren können so sprechen, doch niemand sonst.] Oder ebenso wie hier: eine Erzählinstanz, ein Poet. GUD: 126: - [ Judit J.: ] Inte kan en väl skriva såna ord. / - [Georg J.: ] Men Judit. Det är av yppersta kvalitet. / - [ Judit J.: ] Det kan väl hända. Men du skall inte skriva såna ord. Det passar sig liksom inte. Det verkar så snobbigt. / - [Georg J.: ] Det finns inget annat ord för det. / - [ Judit J.: ] Det gör det nog. Av bästa kvalitet går väl lika bra. / - [Georg J.: ] Men då förlorar det ju hela poängen. Bästa kvalitet, det har vi haft i ett halvår nu. I varenda annons, Judit. / Judit stirrade ut genom fönstret. / - [ Judit J.: ] Jag tycker i alla fall det är snobbigt. Som han Lagergren ungefär. / - [Georg J.: ] Men ord har här väl ingenting med snobbighet att göra? [ Judit J.: ] Man kann doch nicht solche Wörter hinschreiben. / - [Georg J.: ] Aber Judit. Es ist exquisite Qualität. / - [ Judit J.: ] Kann sein. Doch solche Wörter solltest du nicht schreiben. Es macht sich einfach nicht. Es wirkt so versnobt. / - [Georg J.: ] Es gibt nun mal dafür kein anderes Wort. / - [ Judit J.: ] Aber natürlich. Von bester Qualität genügt. / - [Georg J.: ] Aber das ist ohne Pointe. Beste Qualität hatten wir nun schon ein halbes Jahr lang. In einerAnnonce nach der anderen. / Judit starrte zum Fenster hinaus. / - [ Judit J.: ] Ich finde es jedenfalls versnobt. Wie dieser Lagergren da. / - [Georg J.: ] Aber Wörter haben doch nichts mit Snobismus zu tun? Tunström lässt auch andere als Paula und Hans-Cristian Wortgefechte austragen. Zum Beispiel das Paar Judit und Georg Johanesson. Allerdings auf einer anderen Ebene, wie das soeben zitierte Beispiel beweist, das sich im Buch in der vollen Länge über fünf Seiten erstreckt (GUD: 125 - 129) und nachstehend zur Sprache kommt. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 211 GUD: 127: - Ja, du vill att jag skall stå där i affären och ta emot såna där ord: Var har fru Johanesson av det där yppersta nu då! [ … ] - Med det där … yppersta. Det är det att jag inte känner igen dig, när du har såna där ord för dig. [ … ] - Judit. Judit. Du vet att jag tycker om såna där ord. [ … ] Han sa det bittert, för det hade varit ett sånt fint ord. - Du willst also, dass ich im Geschäft stehe und mir solche Worte anhöre: Was hat Frau Johanesson denn da an besonders Exquisitem! [ … ] - Mit diesem … Exquisit. Ich erkenne dich einfach nicht, wenn du solche Wörter gebrauchst. [ … ] - Judit. Judit. Du weißt doch, dass ich solche Wörter liebe. [ … ] Er sagt es bitterlich, denn es war so ein feines Wort gewesen. Judit hält sich nicht dafür, Fleischwaren, die sie und ihr Mann Georg in ihrem Geschäft verkaufen, als Exquisit ( „ Ypperst “ ) anzupreisen. Sie streiten sich um den Wortlaut einer Reklametafel, die auf besonders feine Angebote mit dem Attribut ‚ Exquisit ‘ aufmerksam machen sollen. Georg verzichtet zuletzt (verbittert) auf sein Exquisit, um die Wortzankerei abzubrechen. Später sagt Judit: GUD: 128: - Det kanske är ett bra ord i alla fall. [ … ] Han kände redan när han sa orden, att han borde mött henne och hållit med, blivit glad över hennes ånger, hennes tapperhet. - Es ist vielleicht doch ein gutes Wort. [ … ] Er spürte schon als er die Worte sagte [das Fleisch sei vielleicht doch nicht von exquisiter Qualität], dass er ihr hätte entgegenkommen sollen und ihr zustimmen, erfreut über ihre Reue, ihre Tapferkeit. Auch das Ehepaar Georg und Judit Johanesson ist (täglich) in einen Dialog involviert und kann sich über Wörter streiten. Die Gründe sind jedoch anderer Art als jene, die zur Sprachlosigkeit führen, die ab und an Paula und Hans-Cristian gefangen hält. Es sind weltliche Themen, es geht etwa darum - wie Judit Georg vorwirft - , er verstelle sich und rede um des Geschäfts willen feiner Kundschaft nach dem Maul, um ihr so seine Fleischwaren aufzuschwatzen. In der nächsten ord/ Wort-Stelle steht erneut das Paar Paula und Hans-Cristian im Zentrum. GUD: 158: Hon glider i orden nu igen, han måste få hem henne. Det börjar med ord och slutar med handlingar. Sie entgleitet wieder in Wörter, er muss sie nachhause bringen. Es beginnt mit Wörtern und endet mit Handlungen. Das irre Reden führt leicht zu irrem Benehmen. „ Jag är prästinna ju “ erklärt Paula und erteilt sich autonom die Rolle einer Priesterin und Prophetin. Die Stelle ist eingebunden in Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 212 4 EPILOG ihre behauptete Wiedergeburt (zur Ganzheit), ähnlich dem Vogel Phönix, der neugeboren aus seiner Asche aufsteigt, mit dem sie sich vergleicht: „ Fågel Fenix flyger upp ur flammorna. Den har alla fjädrarna i behåll. “ (ebda.) Paula ist tatsächlich auf dem Weg der Besserung: In einer ‚ Spontanheilung ‘ (nach einem Niesen) kann sie im normalen Umgangston zu Hans-Cristian sagen: „ [ … ] ich glaube, ich habe meine kosmischen Reisen beendet. “ (GUD: 219) GUD: 159: Der Brief kommt und kommt nischt. Er kam an dem Weihnaschtsabend. / - Weihnaccht. Inte weihnascht. Och nicht. Inte nischt, sa Hans-Cristian. / - Weihnascht. Er kam an dem Weihnaschtsabend, upprepade Georg. / - Fortsätt. Fast du sa fel nu också. / - Weihnascht. Men det är inte det här jag behöver kunna. Hitler står redan i Charkow. Jag måste ända till Charkow. Eller vad var det du sa att det hette Robert? Schrakov? / - Harkla dig. Så går det bättre. Långt ner i struphuvudet. Nacht. / - Nascht. Det finns nyttigare ord, Hans-Cristian. Der Brief kommt und kommt nischt. Er kam an dem Weihnaschtsabend. / - Weihnaccht. Nicht weihnascht. Und nicht. Nicht nischt, sagte Hans-Cristian. / - Weihnascht. Er kam an dem Weihnaschtsabend, wiederholte Georg. / - Weiter. Obschon du es wieder falsch gesagt hast. / - Weihnascht. Aber das brauche ich ja nicht zu können. Hitler steht schon in Charkow. Ich muss bis nach Charkow. Oder wie hieß das schon wieder, Robert? Schrakov? / - Räuspere dich. Dann gehts besser. Ganz unten im Kehlkopf. Nacht. / - Nascht. Es gibt nützlichere Wörter, Hans-Cristian. Der Spracherwerb des Deutschen bereitet Georg Mühe. Besonders die Aussprache des ‚ ch ‘ , ein Laut, der im Schwedischen nicht existiert, will ihm nicht gelingen, was vom Autor liebevoll karikiert wird. Die Lektion eklatiert im Satz Georgs, adressiert an Hans-Cristian: „- Ja, vad tror du jag pratar om annars. Vad tror du jag anstränger mig med det här satans språket för, om inte för att använda det. “ [ - Ja, was glaubst du denn, wovon ich spreche. Wofür glaubst du denn, dass ich mir alle Mühe mit dieser Satans Sprache gebe, wenn nicht um sie zu brauchen.] „ Satans språk “ ist doppeldeutig, meint sowohl die teuflisch ( „ satans “ ) schwierige Sprache Deutsch wie auch auf die Sprache des Teufels, Chiffre für Hitler. GUD: 172: - Jag är ju hemma. / Nu förstår inte han. De alltför vanliga orden hånar honom. Ich bin ja zuhause. / Das versteht er nun nicht. Die allzu gewöhnlichen Worte verhöhnen ihn. Hans-Cristian war Augen- und Ohrenzeuge eines Stelldicheins zwischen Paula und Ivan, bei dem die beiden keiner Worte bedurften, um zu kommunizieren. Er hörte nur Gegurre von zwei Täubchen „ Du, du / Du du. “ An der zitierten Stelle oben ist Paula nun wieder bei Hans-Cristian und meint unschuldig „ Ich bin ja zuhause “ . Scheinheiligkeit färbt ihre Sprache. Die Pragmatik stimmt: Paula ist (wieder) zuhause. Doch im Kontext der Lebenswirklichkeiten ist der Satz ein Zeugnis von Falschheit und Lüge. GUD: 174: Hon simmade motströms i språket, ord stod som väggar för henne. Paula, den Paula han kände, misstrodde småorden, förbindelselänknarna, relationerna, övergångarna. Hans Paula var enstavig, tyst. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 213 Sie schwamm gegen den Strom der Sprache, Wörter waren für sie wie Wände. Paula, die Paula die er kannte, misstraute den kleinen Wörtern, den Verbindungsgliedern, Relationen, und Übergängen. Seine Paula war einsilbig, stumm. Hans-Cristian kommentiert Paula, die wiederholt irr geredet hatte. Sie sei hier, aber zugleich „ in China “ (GUD: 174), oder halte sich in einer „ anderen Galaxie “ (182) auf. Die Stelle erinnert die zwei ersten Zeilen in Nelly Sachs ’ titellosem Gedicht 143 , deren erste zwei Zeilen lauten: „ VOR DEN WÄNDEN der Worte - Schweigen / Hinter den Wänden der Worte - Schweigen - ". Beidseitiges verschweigendes Schweigen lastet erdrückend im Raum - ein ohnmächtig stiller Schrei ertönt aus den Anfangszeilen in Sachs ’ Gedicht. Worte sind ‚ leer ‘ , nichtssagend. Hinter ihren „ Wänden “ (Hüllen), herrscht verbergendes Schweigen, besagen die ersten zwei Zeilen. Worte sind hier folglich torlose Festungen, verhüllen, grenzen ab und aus, statt zu kommunizieren. Ähnlich schwimmt Paula „ stumm “ gegen einen, wie sie es erlebt, mauernden Sprachstrom. Misstraut selbst den „ kleinen Wörtern “ , den Konjunktionen, Verbindungen, genau jenen also, die Hans-Cristian so viel bedeuten. Paulas „ Sprache “ rekurriert auf einen gänzlich anderen „ Wortschatz “ . Sie kommuniziert mit allen Mitteln, nicht nur mit Wörtern. So endet Abschnitt 3 in diesem „ fünften “ Kapitel mit Hans- Cristians Erschöpfung, denn seine Welt und sein Körper aus Wörtern kann Paulas Sprache der Gefühle, Empfindungen, Ahnungen und Berührungen nicht standhalten ( „ Hans kropp var tom. “ (GUD: 177) [Sein Körper war leer.] Er kapituliert, fühlt sich erschöpft, leer. Paula erlebt das faktische Unvermögen der Worte, also von Sprache. Worte, in ihrer Isolation, sind für sie bloß Wände, die Schweigen provozieren. GUD: 209: - Skiter, sa Lund. Säger präst-onger „ skiter"? / Jag var generad, jag hade prövat fel ord: de sa inget mer om Georg. - Scheißt, sagte Lund. Sagen Pfarr-kinder „ scheißt “ ? Ich war beschämt, ich hatte das falsche Wort probiert: sie sagten nichts mehr über Georg. Die Dorfbevölkerung erwartet vom Sohn des Pfarrers, dass er nicht Fluchworte braucht wie alle andern. Für einen Pfarrerssohn gehört sich das nicht, sagt die Stimme des Volks. Anderen (Kindern), deren Vater nicht Pfarrer ist, mag Fluchen erlaubt sein. Verbalinjurien und Kraftausdrücke aber sind Tabu für Pfarrkinder. Eine Art Sippenhaftung. GUD: 215: Gustaf hörde inte orden förrän nästa dag. Men då hörde han dem desto tydligare. Gustaf hörte die Worte erst am nächsten Tag. Doch da hörte er sie umso deutlicher. 143 Sachs (1971: 112). Das Gedicht wird von den Herausgebern Margaretha und Bengt Holmqvist der vierten Abteilung „ TEILE DICH NACHT “ (1971), Sachs ’ allerletzten Gedichten, zugeordnet (vgl. die „ Nachbemerkung zu TEILE DICH NACHT “ , Sachs 1971: 173 - 177). Das Gedicht im vollständigen Wortlaut: „ VOR DEN WÄNDEN der Worte - Schweigen / Hinter den Wänden der Worte - Schweigen / Offenbarungen der Schwermut wachsen durch die Haut / Augen gehen über die Gletscherwasser des Leidens / Im Dunkeln tasten die Hände / Nach den weißen Zinnen des Nichtseins / Außerhalb / Bricht Tanz ein in den Gottesraum der Liebe / Der Stern erhält die Wunde des Lebens -“ . In der Übersetzung von Göran Sonnevi erschien das Gedicht auf Schwedisch in seinem Übersetzungsband Framför ordens väggar [Vor den Wänden der Worte], vgl. Sonnevi (1996: 163). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 214 4 EPILOG Worte können nachklingen, am „ nächsten Tag “ erst ‚ gehört ‘ werden. Und weit darüber hinaus, einen ein Leben lang begleiten. Das gilt insbesondere für jede Autorin, jeden Autor. Auch das Werk von Göran Tunström kann in diesem Sinn als eine Variation der Bearbeitung, des Arrangierens und Kompilierens gehörter und gelesener Worte gesehen werden - die zur eigenen Komposition zusammengestellt werden. GUD: 229: Jag har lärt mig ordet kontinent. Däruppe är det en kontinent. Ich habe das Wort Kontinent gelernt. Dort oben ist ein Kontinent. So wie Jacob das Wort ‚ Grenze ‘ umtrieb, wie die vielen dazu besprochenen ord/ Wort-Stellen von DHG bezeugten, interessiert ihn natürlich als Komplement dazu das Wort ‚ Kontinent ‘ , in dem und von dem „ alles “ zu einer Entität zusammengehalten wird oder zusammengehörend betrachtet wird. Das Wort ‚ Grenze ‘ bildet - wie jedes einzelne andere Wort auch - selbst eine Grenze, definiert es doch ein einzelnes ‚ Etwas ‘ vor einem anderen ( ‚ Etwas ‘ ), das ebenso wie alle anderen Wörter zu einem, ungeteilt grenzen- und namenlosen Ganzen gehört. 4.2.2.2 Jacob und die weißen Räume - ein Schlussbild Die besprochenen ord/ Wort-Stellen konkretisierten, dass auch Guddöttrarna tief in Geschichten gekleidete Auseinandersetzungen des Autors mit dem Wort sind. Bei den an den Anfang der Studie präsentierten Befunden in der Analyse am Kind Prästungen, hatte sich vordem ein analoges Resultat herausgestellt. Die Sondierung der ord/ Wort-Stellen zeigte, dass Tunström auch in den beiden Romanen des Triptychons 144 ‚ Sunnetrilogie ‘ seine Wortkunst zutiefst im Wort anderer, die vor ihm geschrieben haben, verankert. In Prästungen setzte er der Erzählung Strindbergs Wort von der „ Kletterpflanze, die sich einen Halt suchen musste “ voran, schickt ihr somit das Bild eines Autors voraus, der sein Werk signifikant mit dem Wort anderer alimentiert. Diese Stütze besteht aus den drei ‚ Beinen ‘ : - Gebrauch des Wortes, wie ihn das Kind vom Vater gelernt hatte - Wort Gottes und/ oder der Sprache und Erzählform der Bibel - Literarische Vorbilder und Vorväter Im Zentrum dieser drei ‚ Pfeiler ‘ , die vereint eine dreifache Übermacht bilden (eine Auctoritas vor seiner eigenen Autorschaft, auf die es zu hören gilt oder zumindest sich in einen kritischen Dialog mit ihr zu begeben), steht das Wort Gottes. Obschon äußerst kritisch dem Gebrauch dieses WORTes gegenüber, fundiert es auf mannigfache Weise die Literatur Tunströms, wie es zuletzt die ord/ Wort-Stellen in Guddöttrarna und De heliga geograferna gezeigt haben. Unter keinen Umständen darf es toter Buchstabe werden; transformiert will es bewegen, will ‚ Fleisch ‘ werden, leben. Die janusköpfige Erzählerfigur ‚ Jacob ‘ hatte mit dem allwissenden Erzähler die narratologische Hoheit über die Diegesis im Romangeschehen von De heliga geograferna und Guddöttrarna. Mit ‚ Jacob ‘ hat der Autor Göran Tunström - übers Kreuz gelesen - vieles 144 Triptychon: „ drei beweglich miteinander verbundene Tafelgemälde, meist als Altarbild [< grch. triptychos „ dreischichtig, dreifach “ < tri … „ drei …“ + ptyche, ptyx „ Falte, Schicht, Lage, Zusammengelegtes “ ], vgl. Wahrig-Burfeind (2004: 876). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 215 gemeinsam. Beide Vornamen sind zweisilbig, beide sind prototypisch voller biblischer Geschichte(n) 145 , beide auch buchstäblich verwandt miteinander: die Vokale a und o in Jacob und der Umlaut ö und der Vokal a verleihen beiden Namen einen in sich runden Klang, und: es sind dies zugleich die Anfangs- und Schlussbuchstaben des Alphabets: A und O im Griechisch-Hebräischen, über das Kreuz Ö und A vom Ende des schwedischen Alphabets her gelesen. Tunströms Œ uvre ist voll Widerhall eines „ Babelturms “ von Sprachen. Miteinander kreieren ihre Sprecherinnen und Sprecher eine ‚ Welt ‘ , „ vandrande / in i språket, in över / våra gemensamma fält “ 146 Am Wortpol entzündet sich seine Sprache. Auf der Schwelle zwischen totem Buchstaben und Bedeutung werden seine Wörter zu Texten, die das Wort (in all seinen Bedeutungen) mitreflektieren und neu aspektieren, als sei er mit dieser Logosphäre soeben erst in Kontakt gekommen und staune über deren Wirkung und Wirkkraft. Die hier und in den zwei anderen Kapiteln besprochenen ord/ Wort-Stellen aus seinem Werk von über 40 Jahren sind vielfach Zeugnisse eines dauernden Neubeginns. Kinder sind von Natur aus Meister auf dem Gebiet; aber auch ein Pfarrer wie Hans-Cristian Wermelin oder ein Pfarrerssohn wie Göran Tunström lassen sich auf das Wagnis ein. Mit Wörtern spielen, improvisieren, ihnen Leben und Geist einhauchen. Im Vorwort zu den Fotografien von Mikael Anderssons Fotobuch barnmark (Tunström/ Andersson 2011: 5 - 6) mit den vielen Aufnahmen spielender Ferienkinder hatte Göran Tunström geschrieben: Kindern, sagte ein Psychologe, obliegt es Geheimnisse aufzubrechen. Sie müssen die Begrenzungen der Wörter und Körper besiegen, um von Mal zu Mal, wenn nicht der Wahrheit des Lebens, so doch immerhin den Wahrheiten des Erwachsenenlebens näher zu kommen. Werden. Auf der Lichtung der Erwartungen stehen und sich plötzlich e r l e u c h t e t fühlen! Ich entsinne mich eines solchen Tages, der mich fortan überkommt bei der Arbeit: Mutter war verreist und sollte mit dem Mittagszug nach Sunne zurückkehren. Mein Vater sagte: „ Wir nehmen ein Taxi und fahren nach Rottneros rüber und steigen dort in den Zug. “ „ Weshalb das? “ fragte ich. „ Um sie zu überraschen. Damit sie sagen wird: ‚ Du meine Güte, ihr seid ja da. ‘“ Die Luft schimmerte auf beim Wort „ überraschen “ , denn es war nicht bloß ein Wort, es wurde zu einer Verhaltensweise, einem Instrument, mit dessen Hilfe man seine Mit- und Gegenmenschen zum Leuchten bringen konnte, so wie es mit mir selbst geschah an dem Tag, exakt an dem Platz, vor langer Zeit, als mich dünkte, dass ich, mit Tomas Tranströmers Worten, da stand in einem Raum, der alle Augenblicke enthielt - ein Schmetterlingsmuseum. Um im Bild zu bleiben: an Schwerpunkten seines Schaffens konnte Tunströms Poetik über die Stadien ‚ Ei-Larve ‘ (Kapitel 2), ‚ Verpuppung ‘ (Kapitel 4), ‚ Vollinsekt-Imago ‘ (Kapitel 3) veranschaulicht werden. Poetische Stadien lassen sich nicht so klar abgrenzen wie die Stadien der Metamorphose der Schmetterlinge; und im Gegensatz zum unidirektional verlaufenden Lebenszyklus von Insekten, durchdringen sie sich dauernd wechselseitig. 145 Der hl. Georg (schwedisch St. Göran) führte einen erfolgreichen Kampf gegen den Drachen (das Böse), Jakob mit seinem theophoren ‚ Satznamen ‘ trägt in sich u. a. die Bedeutung „ Gott möge schützen. “ (Eine andere ist, laut Reclams Bibellexikon, „ er betrügt “ ). 146 UNS: 18. „ wandernd / in die Sprache hinein, auf / unsere gemeinsamen Felder. “ In: „ Worte unter dem Pflaumenbaum “ (vgl. UNS: 19). Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 216 4 EPILOG Beide hingegen bedingen einen Neubeginn, der aus einer Tradition schöpft. Wörter ermöglichen dem ‚ Sprachtier ‘ Mensch einen, wenn nicht den elementaren Zugang zur Welt. Wie in Kapitel 2 exponiert, ermöglichen sie Welterkenntnis. Kapitel 3 hat gezeigt, dass sie die Essenz zur Welterfindung bilden. Die Nachweise in Kapitel 4 akzentuierten ihr Potential zum Weltverständnis. In den Figuren Paula und ihrem Gegenüber, Hans-Cristian, sind die Extreme im Sprachspektrum leeres Wort / Sprachlosigkeit vs. göttlich erfülltes Wort / Sprachkraft verkörpert. Das vereint sie mit der Haltung des Kindes (in der Phase des Spracherwerbes) dem Wort gegenüber: Alle drei vermögen, auf je unterschiedlichen Wegen und aus anderen (Beweg-) Gründen, das Wort (wieder) neu zu entdecken. Tunströms Poetik basiert auf dem (ungeborenen) Wort, auf der Schwelle zum ersten Atemzug. Seine Wortkunst umkreist den Urgrund seines Schreibens, erzählt mit und nebst ihren ‚ Geschichten ‘ ihre eigene Geschichte, oder lässt sie uns ahnen. Sie hat, wie (fast) jede Geschichte einen Anfang und ein Ende, selbst wenn diese beiden Orte, desgleichen ihre Worte, ihre poetischen Funktionen, zuweilen kaum zu unterscheiden sind voneinander. Alles ist eins - Eins ist alles - Hen to pan. Eines bleibt. Ein Wort nährt sich zur Hauptsache vom Wort; es wird, atmet und ordnet, stiftet und birgt Sinn, sinkt dahin - solange wir sprechen, lesen, schreiben und schweigen. Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 4.2 Guddöttrarna (Die Patentöchter; 1975) 217 5 Abstract & Keywords Preliminary remarks Göran Tunström (1937 - 2000) has been during decades one of the best-loved writers in Sweden with roots in Selma Lagerlöfs (1858 - 1940) tracks. Both of them come from the province Värmland, well-known for its prose tradition, rich in flourishing fantasy ( “ skröna ” is the stylistic term for this type of narrative.) Lagerlöf lived in her mansion “ Mårbacka ” near Sunne, whereas the son of Hugo Tunström - the second pastor of Sunne - grew up more than a generation later in the parsonage of this old market town and was raised on the Word of God his father praised. A striking feature of Tunström ’ s texts is that they are within and besides the narrative, enriched with ord/ word passages occasionally emerging like ‘ lagoons ’ , isolated parts, in which the word ‘ word ’ (Swedish ‘ ord ’ ) is the theme or words are thematized. These ord/ word passages are the subject of this investigation. They are found throughout his work, across all the genres the author cultivated. The reflection of words is a topic that is at the center of all his books: lyric, narrative and dramatic texts. By gathering sentences that reflect on words and categorizing them throughout some selected narratives from the author ’ s oeuvre from the debut to his latest (posthumous) publication, this study tries to show the evolution of the writer ’ s relationship to (his poetic) language. The prospective results are that words, for Tunström, possesses the quality to create a sacred space: a universe, a cosmos, a sacred materiality, kept within a (sacred) book. At the same time, however, these sacred words are just means and door-openers. They are aids, scaffoldings to the ‘ real ’ dialogue with the world. The typification into these three layers or uses of the word has its correspondence in the structure of the present work. The evidence presented in the study of Tunströms ’ word thus illustrates three positions in the philosophy of language. The pragmatic position, as represented by Wittgenstein, serves as a foil for Chapter 2. Chapter 3 engages with the postmodern position on linguistic semiosis, as prominently argued by Derrida. Finally, chapter 4 focuses on a mystically afflicted conception of language, which, with Genette, can be described as a mimological one. The approach presented here of researching the use of words in the author ’ s complete oeuvre thus deliberately deviates from this. The research on his writings has been so far distinguished itself primarily by narratological studies with special attention to the novels Tjuven (The Thief ) and Juloratoriet (The Christmas Oratorio). Aim of the study The aim is the exploration of the phenomenon of Tunström ’ s usage of the term ‘ word ’ . Tunström ’ s ongoing word-reflection and -reflexivity in his texts, as well as the author ’ s reflection on language, form the claim of the investigation. What do the word-moments, which Tunström weaves into the narration and which have an effect on his work like a word chain, ‘ say ’ ? The work thus attempts to expose individual links of this ‘ chain ’ , to make them visible and to examine them separately as well as in their respective contexts in order to gain insight into their poetology. The inventory and the exploration of the development, alteration, variation, modification and transformation of these ‘ sentences reflecting on words ’ at times self-reflexive sentences can be a key to the interpretation and translation of Tunström ’ s literary universe, obsessed with the (poetic) question of handling and reflection of words, ideally, to his Poetics. Can an author ’ s entire writing practice, even his or her poetics, be read through the word alone, through the occurrences of representative, excerpted ord/ word passages? Corpus The following basic consideration has guided the question: How can Tunström ’ s appellative use of the word in his writings be collected, commented upon, and qualified? First, it was necessary to clarify whether and to what extent the word phenomenon characterized his entire writing. The “ longitudinal reading ” focused on the ord/ word passages, the reading of his complete works, showed that they are found everywhere. For this reason, it was necessary to determine those book titles whose word-places were to be transferred into lists. In order to be able to observe the phenomenon over the entire work, however, a restriction in the form of a selective longitudinal analysis was necessary. Logically, the books from the phases were examined: debut (years) - middle creative period - late work. In concrete terms, this meant from 1958 to 2003, from the poetry collection Inringing to the piecemeal essay novel Försök med ett århundrade. Methodological approach A classical semiotic approach proved to be productive, which in its core deals with the relation of signs to the world. This relation is debated in Tunström ’ s texts in various ways, whereby the different relations, in which the relation of signs to the world is considered, can be assigned to theoretical positions from the history of the philosophy of language. In the macrostructure, this assignment determines the three-part structure of my work. The extensive appellative use of the word in Tunström ’ s work is unique in (recent) Swedish literature. By “ appellative ” is meant the invocation, the highlighting, the naming of the word ord/ word itself in the text, and thus the author ’ s pronounced invocation of the word. Hence there are no models for texts of this kind, which have shaped an entire literary oeuvre with a similarly high or comparable consistency of word-naming, words and words punched into the text, their ord/ word-places (Keller ’ s Der grüne Heinrich, like Sartre ’ s Les mots, is partially an exception). This means that for this ductus of word usage there are no reliable studies so far, and therefore a method had to be developed first in order to approach the phenomenon from a literary-scientific point of view. A simple contextualizing description proved to be a sensible approach to interpretation. For the specific, idiosyncratic metanarrative connection of the author with the word (and thus the text) cannot be adequately explained by any conventional (word) poetics. Even the approach of Mikhail M. Bakhtin ’ s Aesthetics of Verbal Art (engl. 1979), which concentrates primarily on the phenomenon of polyphony in the novel, proved to be insufficient for the investigation and could therefore be consulted only marginally (Bakhtin ’ s concept of a polyphonic prose - derived from the novels of Rabelais, Gogol, and Dostoevsky - hardly 5 Abstract & Keywords 219 touches the word poetics as it can be observed in Tunström, especially since the author does not maintain a subversive or polemical relationship to the word, but - as it will be shown - an appellative one). Because of this lack of tested reference points, a makeshift method had to be found and conceived specifically. The study makes the shift by repeatedly questioning the text from within, along its interand intra-textual “ lagoons ” - word-islands - so that the recursive reading approaches each examined word with the method for which Jean Bollack (1923 - 2012) coined the term lecture insistante. Additional aids were the ‘ listening to the text ’ method propagated by Mats Malm and the attempt of ‘ translated reading ’ and “ constellating reading ” by Peter Utz. The present work makes use of these approaches as well: it combines analytical reading with ‘ reading differently ’ in the sense of ‘ reading translated ’ with the insistently auscultating reading. As a counterbalance to all analytical approach, the writings of Edmond Jabès (1912-1991) brought a serendipitous value to the text understanding. “ The rabbis, as you know, are the masters of commentary. ” Throughout his life, the Jewish poet made language and words, indeed the book itself, the subject of his thought. His reflections opened up an unexpected broadening of horizons for the research approach and allowed Tunström ’ s work to be seen in a larger literary and intellectual-historical context. Structure of the study The study is subdivided into three parts. Each of them exemplifies a prominent usage of Tunström use of words. Every chapter stands paradigmatically for a layer of word ( ‘ Wortschicht ’ ) or for a linguistic-philosophical position. In chapter 2 the focus lies on word-emanations from Prästungen, the book of his childhood and adolescence. Chapter 3 examines three different texts and their ‘ words ’ belonging to the author ’ s late work: Krönikor (Columns), En prosaist i New York (A prosaist in New York), Försök med ett århundrade (Essay with a century). In order to illustrate chapter 4, word passages will again be explored by samples from the authors intermedium phase found in the two novels De heliga geograferna (The holy geographers) and Guddöttrarna (Goddaughters). Chapter 2 The PROLOG is dedicated to the discovery of words, their imitation, leading to language acquisition (and in the end to the ‘ author ’ ). A clear pragmatic understanding of language with clear reference of signifiant and signifié is dominant. The many ord/ word passages rather show the seriousness of his linguistic playful questioning and problematizing of the holy word. The phase “ debut ” is not to be understood strictly work-chronologically, since the main theme here is Prästungen; the tale is of particular relevance for the development of the author ’ s usage of the word. In it, the word shows its initial pragmatic function, as a close word-thing relationship, as a sign for a thing, as evidenced by the examples of the “ indicative teaching of words ” , the position already held by Augustine and further built upon by Wittgenstein. The child learns to recognize the world of words. Jonas Pfister on “ Das Gesagte ” in Augustine and Wittgenstein: “ When Augustine characterizes the word as a sign for a thing, the thing must be conceived once as a concrete object, once as a 220 5 Abstract & Keywords conceptual content. Later in the 20th century, Ludwig Wittgenstein developed his theory of the use of meaning on the basis of a theory he ascribes to Augustine. ” Chapter 3 Chapter 3 - POETALOG tries to trace the literary or poetic word in Tunström ’ s work, also in its intertextuality. The tradition of his models, superfathers. The clear linguistic reference starts to slide, the word detaches itself from its pragmatic sign function, gains autonomy in relation to reality, the reference to reality is no longer ontologically grounded, but becomes contingent. Tunström ’ s postmodern concept of sign can be found most vividly in his late work in the two quite different books Försök med ett århundrade and En prosaist i New York, and partly also in his collection of columns Krönikor. The word is arbitrary, to speak with Ferdinand de Saussure, but now signifier and signified moreover get into a slide. The author makes an “ autonomous ” use of words, fictionally creating a world that obeys an open and wild semiosis. The “ prosaist ” in his A Prosaist in New York experiences "the pleasure of drifting" (Eco 2004: 429), “ which is entirely in gliding from one sign to the next, and there are no destinations outside the pleasure of the labyrinthine journey through signs and things. ” The author creates and mixes fact with fiction. References to realities are unhinged or anchored, or simply suspended, as has been theorized by many of the postmodern thinkers in the philosophy of language (Derrida, Lacan, and others). Chapter 4 Chapter 4 EPILOG explores the Word of God in Tunström ’ s oeuvre and its emphasis. The influences of the prototypical “ creation and redemption word[s] ” of sacred scripture are discernible, the total (mimological) fusion signifiant/ signifié. Word does not signify, but it creates its own reality. Word can become substance ( ‘ flesh ’ ). The two novels reveal the author ’ s primarily mimological use of the word, postulating “ the similarity between words and ‘ things ’ . ” The novels constitute a cardinal stage in his work. With them he does not only open his middle creative period, the many ord/ word passages rather show the seriousness of his linguistic playful questioning and problematizing of the sacred word, of speechlessness, of silence as well as of stillness. The examples from this middle creative period indicate the source from which Tunström ’ s work creates and invents itself, from which the author ’ s originally religious connection to the word (of God) and thus to the (holiness of ) language can be read: By his engagement with the Word, practiced throughout his writing life, which he transcends with language theory and theology in the most diverse ways, in a unio mystica, to a poetry of words. Divine language is mimological. This refers to the circular movement of language in becoming, growing, vanishing or framed in the symbol of Sonnabend Dix in Försök med ett århundrade (FÖR: 279): “ Ändock rymmer det [vårt furstendöme] allt som bör rymmas för att livet - i all sin löjliga storoch litenhet - skall kunna uppstå, växa och slockna: narraktiga prinsar, undersåtar och översåtar. ” [And yet it (sc. our principality) offers room for everything, so that life - in all its ridiculous size as well as smallness - can come into being, grow and pass away: foolish princes, subjects and authorities.] 5 Abstract & Keywords 221 Findings Tunström ’ s oeuvre is full of echoes of a “ Tower of Babel ” of languages. Together, their speakers create a ‘ world ’ , “ wandering / into the language, onto / our common fields ” (Tunström). At the word pole his language ignites. On the threshold between dead letter and meaning, his words become texts that co-reflect and re-aspect the word (in all its meanings), as if he had just come into contact with this logosphere and was marveling at its effect. The ord/ word passages discussed here and in the other two chapters from his work of over 40 years are in many cases testimony to a new beginning. As exposed in Chapter 2, they enable world knowledge. Chapter 3 has shown that they form the essence for world discovery. The evidence in chapter 4 accentuates their potential for understanding the wor(l)d of beliefs and religions. Keywords Augustine, Andersson (Lars), Aspenström, Aurell, Bachtin, Bible, Bollack, Cohen, Cronqvist, Derrida, Dürrenmatt, Eco, Jabès, Hansson, Jensen, Kierkegaard, Nietzsche, Malm, Strindberg, Utz, Wittgenstein, intertextuality, text-image-intermediality, translation. 222 5 Abstract & Keywords 6 KATALOG 6.1 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: © Lena Cronqvist/ Wahlström & Widstrand, Stockholm Abbildung 2: © Bonnier, Stockholm Abbildung 3: © Bonnier, Stockholm Abbildung 4: © Lena Cronqvist/ Bonnier, Stockholm Abbildung 5: © Lena Cronqvist/ Wahlström & Widstrand, Stockholm Abbildung 6: © Lena Cronqvist/ Wahlström & Widstrand, Stockholm Abbildung 7: © Weinheim: Wiley-VCH Abbildung 8: © Lena Cronqvist/ Wahlström & Widstrand, Stockholm Abbildung 9: © Jan Biberg/ Bonnier, Stockholm / Nina Korhonen, Mira Abb. 1, 5, 6 und 8: Illustrationen und Bilder Lena Cronqvist: Lena Cronqvist und Fotografin Verlag Wahlström & Widstrand, Stockholm. Grossformatige Bilder abgebildet in: Mårten Castenfors (2003). Sveriges Allmänna Konstförenings årsbok. Stockholm: Wahlström & Widstrand. Abb. 1 (Cover auf Buch-Vorderdeckel) und 5 (ebda.: 117); Abb. 6 (ebda.: 27); Abb. 8 (ebda.: 42). Abb. 2, 3, 4: Buchcover Prästungen und Illustration aus Prästungen: Lena Cronqvist und Bonnier, Stockholm. Abb. 7: Ouroborus „ Chrysiopeia “ , abgebildet in: Offereins, Marianne/ Strohmeier, Renate (2011). „ Cleopatra the Alchemist “ . In: Apotheker, Jan/ Simon Sarkadi, Livia (Hg.). European women in chemistry. Weinheim: Wiley-VCH. Abb. 9: Bild Buchcover En prosaist i New York. Text: Göran Tunström, Foto Cover: Nina Korhonen: Mira, und (da das Buch als Julbok 1996 im Buchdesign von Jan Biberg bei Bonnier erschienen ist) Bonnier, Stockholm. 6.2 Mottoverzeichnis S. 9 Johnson, Bengt Emil. In: Efter vanligheten, S. 9 S. 23 Zwetajewa, Maria. In: Ein gefangener Geist. Essays, S. 125. S. 44 Walcott: We read, we travel, we become. In: The Prodigal/ Der verlorene Sohn, S. 31. S. 91 Tunström, In: Krönikor, S. 91. S. 91 Wittgenstein, In: Philosophische Untersuchungen, § 203 / S. 134. S. 109 Berger, In: Ways of Seeing, BBCFour, 00: 28: 50. S. 136 Musil, In: Tagebücher, Bd. 2 (Register) S. 1148. S. 136 Dürrenmatt, In: Dramaturgien der Phantasie, S. 138. S. 136 Bürger, In: Das Denken des Lebens, S. 452. S. 151 Om - die heilige Silbe. S. 151 Mann, In: Die Geschichten Jaakobs, S. 11. 6.3 Primärtexte / Publikationen von Göran Tunström 6.3.1 Werke Göran Tunströms in schwedischer Sprache Chronologisch angeordnet und mit Siglen versehen sind hier nur diejenigen Titel Tunströms aufgelistet, die in der vorliegenden Arbeit besprochen werden. Wo nicht anders angegeben, sind alle beim Verlag Albert Bonnier, Stockholm, erschienen. INR = Inringning. Dikter (1958). KAR = Karantän. Roman (1961). MASK = Maskrosbollen. Roman (1962). FAM = Familjeliv. Berättelse (1964). DHS = De andra, de till hälften synliga. Dikter (1966). HAL = Hallonfallet. (Kanske en deckare) (1967; 1985). DHG = De heliga geograferna. Roman (1973). SS = Svartsjukans sånger. Dikter (1975). GUD = Guddöttrarna. Roman (1975). PRÄ = Prästungen. Berättelse (1976). SBD = Sandro Botticellis dikter. Dikter (1976). SOS = Sorgesånger. Dikter (1980). ÖKE = Ökenbrevet. Roman (1980). JUL = Juloratoriet. Roman (1983). IND = Indien - en vinterresa. [s. l.] Författarförlaget (1984). TJU = Tjuven. Roman (1986). CHE = Ett skådespel. Efter en idé av Eric Holmberg (1987). DSL = Det sanna livet. Berättelser (1991). UTI = Under tiden. [En tankebok] (1993). o. S. = Bakhållet vid Fort Riverton (= Filmkonst; 27). Göran Tunström (text), Lena Cronqvist (bild), Göteborg: Göteborg Film Festival (1994). SKI = Skimmer. Roman (1996). EPNY = En prosaist i New York [Bonniers Julbok] 1996. ATT = Att uppfinna ett århundrade. Tio avsnitt ur en betraktelse över ett misslyckande, Lund: [Årsskrift] Tegnérsamfundet (2000). KRÖ = Krönikor ur Dagens Arbete och Metallarbetaren. Förord av Bo Strömstedt. Stockholm: Dagens Arbete AB (2000). FÖR = Försök med ett århundrade (2003). o. S. = Tunström, Göran/ Andersson, Mikael (2011). Barnmark. Stockholm: Max Ström. 6.3.2 Werke Göran Tunströms in deutscher Sprache Solveigs Vermächtnis (1989). Aus dem Schwedischen übers. von Hans-Joachim Maass. Hamburg: Hoffmann und Campe (Orig. Juloratoriet). DDI = Der Dieb (1991). Aus dem Schwedischen übers. von Hans-Joachim Maass. Hoffmann und Campe (Orig. Tjuven). MOND = Der Mondtrinker (1993). Aus dem Schwedischen übers. von Hans-Joachim Maass. München: Hanser (Orig. Skimmer). UNS = Unsere Insel - Unsere Zeit im Meer - Vår tid - Vår ö i havet (2017). Norderstedt: BoD. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler. Mit einem Nachwort von Lars Andersson (= edition offenes feld 18). 224 6 KATALOG 6.3.3 Hörspiele, dramatische Texte von Göran Tunström Auswahl. In der Originalversion produziert und gesendet von Sveriges Radio (SR), Radioteatern. Bördan [Die Bürde] (= 1. Teil im Selma-Lagerlöf Hörspiel-Triptychon), 1982. Stollen [Der Spinner] (= 2. Teil im Selma-Lagerlöf Hörspiel-Triptychon), 1985. Livets historier förbi (= 3. Teil im Selma-Lagerlöf Hörspiel-Triptychon), 1988. Erstsendung 24.06.1984, P1, [Ms.] 5472-81/ 1019, Sveriges Riksradio, Radioteatern. An mir gehen die Geschichten des Lebens vorbei. Hörspiel von Göran Tunström (1990). Erstausstrahlung 08.04.1990, DRS1. Übersetzung: Lukas Dettwiler. Regiemanuskript. Schweizerisches Literaturarchiv, Institutionsarchive, Schweizer Radio DRS Studio Bern: Hörspiel-Manuskripte/ Hörfolgen, Nr. 00029/ 1326 (= Dossier Tunström). Prod. Schweizer Radio DRS, Studio Bern. Regie: Amido Hoffmann. 6.3.4 Übrige und unpublizierte Texte von Göran Tunström [ohne Titel] (1946). 35-seitige Roman-Miniatur „ Rundreise durch Schweden “ . Vgl. Alsing (2003: 40). [ohne Titel] (1948): Gedicht über die beiden Kinder Karin und Fred, ausgezeichnet mit dem zweiten Preis im Wettbewerb der söndagsskoletidningen „ Sveriges Barn “ [Sonntagsschule-Zeitung „ Schwedens Kinder “ ]. Vgl. Alsing (2003: 40 - 41). A Thriller named Ludwig. En thriller vid namn Ludwig. Entwurfskizze zu einer „ Operette “ über Ludwig Wittgenstein. Das Typoskript, 30 Bl. DIN A4-Format, befindet sich im Privatarchiv des Schauspielers und Regisseurs Etienne Glaser, Stockholm. (Gemäß einer Mail von Hans Ruin an den Verf. L. D. vom 07.10.2017, hatte Glaser das Manus von Tunström vermutlich Mitte der 1970er-Jahre erhalten.) 6.4 Literaturverzeichnis 6.4.1 Sekundärliteratur zu Göran Tunström ABF [Arbetarnas Bildningsförbundet] (Hg.) (1994). Röster om Göran Tunström. Från ABF Stockholms Litteraturseminarium i mars 1994. Stockholm: Bildningsförlaget. Adam, Karin Birgitta (2004). „ Jag kräver en inre Columbus “ - „ Ich verlange einen inneren Columbus “ . 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Skriverier och porträtt. Göteborg: Daidalos, S. [241] - 243. Andersson, Lars (2014 c). „ Tunström: - Ung man på Hydra “ . In: Ders. Uppenbarelser. Skriverier och porträtt. Göteborg: Daidalos, S. [243] - 257. Andersson, Lars (2014 d). Uppenbarelser. Skriverier och porträtt. Göteborg: Daidalos. Andersson, Lars (2017). „ Glückselige Inseln “ [Nachwort]. In: UNS = Unsere Insel - Unsere Zeit im Meer. Norderstedt: BoD, S. 97 - 112. 6.4 Literaturverzeichnis 225 Bergh, Magnus (1989). „ En bro till Göran Tunström. “ In: Bonniers Litterära Magasin 2, S. 99 - 107. Bergh, Magnus (1994). „ På spaning efter den Tunströmske läsaren. “ In: ABF [Arbetarnas Bildningsförbundet] (Hg.). Röster om Göran Tunström. Från ABF Stockholms Litteraturseminarium i mars 1994. Stockholm: Bildningsförlaget, S. 22 - 33. Bergh, Magnus (2014). „ Månens baksida. Göran Tunströms (o)fullbordade Triptyk. “ In: Halldin, Magnus (Hg.). De nio - litterär kalender 2015. Stockholm: Norstedts, S. 43 - 52. 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Hg. von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 242 6 KATALOG Wolandt, Holger (2015). Selma Lagerlöf. Värmland und die Welt. Eine Biographie. Stuttgart: Urachhaus. Wyss, Beat (2009). Nach den großen Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wyss, Beat (2017). „ Ist das Kunst, oder kann das weg? “ In: NZZ am Sonntag, 04.06.2017, S. 16 - 19. Zanetti, Sandro (2012). Avantgardismus der Greise? Spätwerke und ihre Poetik. Paderborn: Fink. Zarnegin, Kathy (Hg.) (2010). Die Wissenschaft des Unbewussten. Würzburg: Königshausen & Neumann. Zimmer, Dieter E. (1986). So kommt der Mensch zur Sprache. Über Spracherwerb, Sprachentstehung und Sprache & Denken. Zürich: Haffmans. Zumsteg, Simon (2011). ‚ poeta contra doctus ‘ . Die perverse Poetologie des Schriftstellers Hermann Burger. Zürich: edition voldemeer (= Diss. Univ. Zürich 2011). Zwetajewa, Marina (1989). Ein gefangener Geist. Essays. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Rolf-Dietrich Keil. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 6.4.3 Werkausgaben, Wörterbücher, Nachschlagewerke etc. (mit Siglen) BBKL = Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (1975 - ). Begründet und hg. von Friedrich Wilhelm Bautz, fortgeführt von Traugott Bautz. Nordhausen: Bautz. Bibeln eller Den Heliga skrift, Gamla och nya Testamentet - De kanoniska böckerna (1970). Översättningen gillad och stadfäst av Konungen år 1917. Stockholm: Svenska Kyrkans Diakonistyrelses Bokförlag. DUDEN = Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Hg. und bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim usw.: Dudenverlag. Bd. 5 (1980): O - So. FHA = Frankfurter Hölderlin-Ausgabe: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 20 Bänden und 3 Supplementen (1975 - 2008). Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld/ Roter Stern. FSA = Frankfurter Strindberg-Ausgabe: August Strindberg. Werke in zeitlicher Folge (1984). Hg. von Angelika Gundlach in Zusammenarbeit mit Lars Dahlbäck, Olof Lagercrantz und Klaus von See. Unter Mitwirkung von Walter Baumgartner u. a. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bd. 4: 1886. Der Sohn der Magd [ … ]. Hg. von Horst Brandl und Jörg Scherzer. Übersetzt von Hans-Joachim Maass und Jörg Scherzer. FVA = Frankfurter Valéry-Ausgabe: Paul Valéry. Werke in 7 Bänden. Hg. von Karl Alfred Blüher und Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt am Main: Insel. Bd. 5 (1991): Zur Theorie der Dichtkunst und Vermischte Gedanken. Hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. GS = Walter Benjamin. Gesammelte Schriften in 6 Bänden und 2 Supplementbänden (1974 - 1989). Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Harenberg = Harenbergs Lexikon der Weltliteratur in fünf Bänden (1997). Vollst. überarb. und aktualisierte Sonderausgabe [Red. dieser Ausgabe: Heidi Wetzel; Berthold Budde]. Dortmund: Harenberg. Harenberg Komponistenlexikon. 760 Komponisten und ihr Werk. Mit 1060 Meilensteinen der Musik sowie kommentierten CD-Tipps der Redaktion „ Fono-Forum “ (2004). Hg. von Klaus Stübler. Mannheim: [Bibliographisches Institut]. HWPh = Historisches Wörterbuch der Philosophie (1971 - 2004). Hg. von Joachim Ritter † , Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ‚ Wörterbuch der philosophischen Begriffe ’ von Rudolf Eisler. Bde. 1 - 13. Basel: Schwabe. KSA = Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe sämtlicher Werke und unveröffentlichter Texte in 15 Bänden (1988). Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv und Berlin: De Gruyter. 6.4 Literaturverzeichnis 243 Langenscheidts Taschenwörterbuch Schwedisch-Deutsch der schwedischen und deutschen Sprache (1963). Teil I. Schwedisch - Deutsch. Berlin-Schöneberg: Langenscheidt KG Verlagsbuchhandlung. MEGA = [Karl Marx, Friedrich Engels Gesamtausgabe] (1975 - ). Hg. von der Internationalen Marx- Engels-Stiftung. Berlin: Akademie-Verlag. MEGA = [Karl Marx, Friedrich Engels Gesamtausgabe] (2017) Hg. von der Internationalen Marx- Engels-Stiftung. [Berlin]: De Gruyter Akademie Forschung. Menge-Güthling. Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch. Teil 1: Griechisch-Deutsch ( 20 1967). Unter Berücksichtigung der Etymologie von Prof. Dr. Hermann Menge. Berlin, München und Zürich: Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung. Menge-Güthling. Langenscheidts Großwörterbuch der lateinischen und deutschen Sprache ( 16 1967). Erster Teil. Lateinisch-Deutsch. Unter Berücksichtigung der Etymologie von Prof. Dr. Hermann Menge. Berlin, München und Zürich: Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung. Metzler Lexikon Religion. Gegenwart - Alltag - Medien (1999 - 2002). Hg. von Christoph Auffarth, Jutta Bernard und Hubert Mohr. Stuttgart und Weimar: Metzler. NE = Nationalencyklopedin (1989 - 1996). Ett uppslagsverk på vetenskaplig grund utarbetat på inititativ av statens kulturråd. Bde. 1 - 20. Höganäs: Bra Böcker. NF = Nordisk Familjebok 1994. [Konversationslexikon och Realencyklopedi,1875 - 1952] (1993). Hg. von Madeleine Stevelius u. a. Malmö: Corona. (Vgl. auch http: / / runeberg.org/ nf/ ). OFO = Ord för Ord. Svenska synonymer och uttryck (1977). Hg. von Johan Palmér ( † ), Herbert Friedländer. Andra, moderniserade uppl. utarb. av Herbert Friedländer. Stockholm: Norstedts. PG = Wittgenstein, Ludwig (1993). Philosophische Grammatik. Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 4. Hg. von Rush Rhees. Frankfurt am Main: Suhrkamp. P U = Wittgenstein, Ludwig (2003). Philosophische Untersuchungen. Auf der Grundlage der Kritischgenetischen Edition neu hg. von Joachim Schulte. Mit einem Nachwort des Herausgebers. Frankfurt am Main: Suhrkamp. RGG = Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (1998 - 2007). Vierte, völlig neubearbeitete Auflage. Hg. von Hans Dieter Betz u. a. 8 Bde. und Registerband. Tübingen: Mohr Siebeck. SAOB = Svenska Akademiens Ordbok. http: / / g3.spraakdata.gu.se/ saob/ SKS = Søren Kierkegaards Skrifter. Bde. 1 - 28, K1 - K28 (1997 - 2013). Hg. von Niels Jørgen Cappelørn u. a. Kopenhagen: Gads Forlag. SS = August Strindberg. Samlade skrifter. Bde. 1 - 55 (1912 - 1920). Stockholm: Bonnier. SV = August Strindberg. Samlade verk. Nationalupplagan, Bde. 1 - 72 (1981 - ). Bd. 20 (1989): Tjänstekvinnans son I - II. Texten red. och komm. av Hans Lindström. Stockholm: Norstedts. Bd. 44 (1988): Dödsdansen. Texten red. och komm. av Hans Lindström. Stockholm: Norstedts. TRE =Theologische Realenzyklopdie (1976 - 2004). Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz u. a. Berlin und New York: De Gruyter. 36 Bde., 2 Registerbände und 2 Supplementbände. Gesamtregister Bd. 1: Bibelstellen, Orte, Sachen (2006), Bd. 2: Namen (2007). Wahrig-Burfeind, Renate (2004). Wahrig Illustriertes Wörterbuch der deutschen Sprache. München: ADAC (Aktualisierte Sonderausgabe für die ADAC Verlage GmbH). Wahrig, Gerhard (1980). Deutsches Wörterbuch. Mit einem „ Lexikon der deutschen Sprachlehre “ . Völlig überarbeitete Neuausgabe. o.O: Mosaik. Zürcher Bibel. Mit Einleitungen, Glossar und deuterokanonischen Schriften (2009). Zürich: Verlag der Zürcher Bibel beim Theologischen Verlag Zürich. 244 6 KATALOG Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Göran Tunström Ein Prosaist in New York Aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler Abb. 9: Buchcover En prosaist i New York 1 E s war schon Abend, als ich in New York landete, dieser Stadt, in der ich in meiner Jugend mein erstes stroboskopisches Erlebnis hatte - ein nachhaltiges, wie sich erweisen sollte. Ich hatte Einen Satz im Gepäck dabei, und der lautete: „ Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. “ Manch einer ist mit weniger über den Atlantik gekommen. Als die Zollbeamten meinen Koffer untersuchten, war ich aufgeräumt: der Satz, den ich mitbrachte, war unendlich viel größer als mein ganzer Kleidervorrat, meine Schreibsachen und Toilettenartikel zusammen. Ich hatte Schweden verlassen, um der totalen Absenz an Aufsehen zu entgehen, die mein Buch auslöste. Es wäre nicht zum Aushalten gewesen: eine PPD (Post Production Depression) wäre die unausweichliche Folge auf die Euphorie gewesen, die drei Jahre des Schaffens mit sich brachten. Drei Jahre, in denen ich sechstausendzweihundertundfünfzig Sätze konstruiert oder aus den Tiefen der Sprachschichten an die Oberfläche 1 Gedruckt in einer Auflage von 5 ’ 300 Exemplaren wurde das Buch „ als Weihnachtsgruß des Albert Bonniers Verlages an Freunde und Mitarbeiter “ verschenkt. Übersetzungen ins Französische (Actes Sud, 2000), Italienische (Iperborea, 2000), Dänische (Samleren, 2001) und Norwegische (Cappelen, 2000) sind im Buchhandel erschienen. (Stand 2021) geholt hatte. Als übergreifendes Thema für dieses Band von Sätzen, die aus dem Körper raus mussten, wählte ich Rembrandt van Rijns Serie von Selbstporträts - vermutlich eine Folge des stroboskopischen Schocks, den Andy Warhols Electrical Circus im November 1967 ausgelöst hatte. Wie konnte es dazu kommen, fragte ich mich in der Einleitung, dass in der Republik der Vereinigten Niederlande, die in zwei, drei Generationen von einem schwachen und hart bedrängten Zusammenschluss von Städten und Provinzen zu einer Weltmacht mit sichtlich grenzenlosem Wohlstand und Macht aufstieg, ein Maler (es gab davon dreihundert Meister auf insgesamt hundertneunundsechzig Bäcker) sich Mal für Mal vor den Spiegel wagte und dort so etwas wie Identität begegnete? Lag es an den besseren Spiegeln? An Descartes, an Newton, den Schöpfern des Projekts der Moderne? Da kommt einer und sagt „ Ich “ . Steht hin und behauptet: „ Das alles bin ich. “ „ Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. “ So sollte es beginnen, mein neues Projekt, mit dem einzigen überlebenden Satz aus einem Ozean von Sätzen. Ich war bald sechzig - und es brannte in mir an allen Enden. B endel Bigards Annonce fand sich in der letzten Novembernummer von The Village Voice. Es war neun Uhr abends, als ich mich in die lange Schlange Wohnungssuchender einreihte, die sich wie immer am Astor Place vor dem Kiosk bildete, an dem die Zeitung zuerst verteilt wird. Schnee fiel in schweren, milden Flocken, benetzte Zungen, belud Augenlider, verklebte die Brillengläser. Doch waren wir eine geduldige Gesellschaft, und die Flocken waren von unseren Schultern geschmolzen, als die Zeitung Schlag halb zwölf gebracht wurde. Schlag zwölf hatte ich gefunden, was ich suchte: Tribeca. Artist workspace live/ work Dec 1 - Mar 1. Fabulous artist studio, great light, 13000 sf, Chambers St Subway $ 1500/ mo tel xxxxx Ich rief an, trotz der späten Stunde. Ja, ich sei der erste, ich solle gleich am nächsten Vormittag vorbeikommen, Warren Street ums Eck, es sei nicht zu verpassen. Bendel Bigard trug schlohweißes Haar, das Gesicht rot gebrannt, ein Mann, der die Sonne nicht vertrug. Wenn er durch die Nase sprach, was er unablässig tat, entblößte er seine Zahnspange, die er offensichtlich noch nicht lange trug, denn seine Lippen mussten jedes Mal Anlauf nehmen, um sich wieder zu schließen. Hier würde mein Satz sich wohl fühlen! Ich spürte es im selben Augenblick, als ich über die Schwelle trat. Das Loft war groß, mit mächtigen Leerflächen. Ein Kühlschrank plapperte vor sich hin in der Küchenecke, am anderen Ende des Raumes spie spuckte und zischte ein Heizkörper wie eine Dampflok in einem alten Western. Das Schreibpult leer, weiß - das konnte ich brauchen. Der Satz benötigte das für alles, was er beherbergte. Für die Versprechen, die er gab. Hoher Raum, weite Landschaft und in seiner Mitte, noch ungeboren, einige schmerzhaft beleuchtete Figuren. Mehr wusste ich nicht, noch nicht einmal, ob Der Satz in seiner Schlussphase angelangt war, weder was seinen Wortlaut noch was seine Bedeutungsschichten anbetraf, da mehrere Wörter in diesen Tagen der Wohnungssuche an meinem Bewusstsein zu kratzen begannen: „ ließ “ , „ des Baumes “ , „ erzittern “ . 246 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 Was den Wortlaut betrifft, kann man freilich behaupten, ist Schwedisch nicht im gleichen Maß abhängig wie das, Cassirer zufolge, beispielsweise die Sudansprachen sind, die durch den verschiedenen Ton der Silben, durch Hoch-, Mittel- oder Tiefton, oder durch zusammengesetzte Tonschattierungen wie den tiefhohen steigenden oder den hochtiefen fallenden, ganz unterschiedliche Bedeutungsnuancen ausdrücken können, und dennoch verdient er Beachtung. Also machte ich mich eifrig daran, alle zwölf Wörter vor mir aufzustellen und mit der Arbeit zu beginnen. Und schon störte mich Bendel Bigard. Es gibt Menschen, die sprechen so, als seien ihre Batterien längst leer. Mit einer Ausdruckslosigkeit, die alle Gegenstände, Personen, Ereignisse exakt gleich wenig beachtenswert scheinen lässt. Keine Erhebungen, keine tiefen Täler, kein Staunen, keine Neugierde. Das ist ansteckend. Doch wohlerzogen und fügsam wie ich bin, habe ich mich zum Zuhörer gemacht: - Diese Bilder hier sind der Grund dafür, dass ich vermiete, sagte er und deutete auf drei riesige Leinwände. Sie sollten nämlich an eine Ausstellung auf die Cayman Islands. - Gibts die? Ich dachte immer, die sind eine Erfindung eines Thrillerautors. - Leider nicht. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Hättest du gerne etwas zu trinken. Tee, Kaffee, Wein? - Tee. Gibt es dort Berge, Vulkane? - Dort gibt es nichts. Sie sind absolut flach, der höchste Punkt liegt zehn Meter über Meereshöhe. - Und da willst du ausstellen? Es sind meine Heimatinseln, meine Eltern sind da zuhause. Ich bin bestens bekannt, ja berühmt. Aber niemand will kaufen. Niemand. Es ist eine kleine Insel, nur zwanzigtausend Einwohner und ein Steuerparadies, aber das sieht man ja nicht von außen. - Du hast ein schönes Atelier. - Es gibt da ein Problem, die Elektrizität. Man kann nicht alle Lampen, die Kochplatte, den Ofen und den Boiler gleichzeitig einschalten. Falls es dennoch geschieht, setzen alle Funktionen im Telefonbeantworter aus. Dann muss man rasch zum Sicherungskasten - Bendel Bigard ging rasch zum Kasten - und diese Sicherung hier nach links kippen, siehst du? Eigentlich kann man auch keine Kochplatte und den Ofen gleichzeitig einschalten. Und nur eine Lampe. - Aber eine Kochplatte und fünf Lampen geht? In der folgenden halben Stunde verloren wir uns in verschiedenen elektrischen Kombinationen und es gab ein heilloses Hin und Her zwischen Sicherungskasten und Kontakten. Bendel Bigard blickte zusehends frustrierter drein. - Vielleicht sollte ich ein paar neue Leitungen einziehen lassen. Aber das kostet. Dabei bin ich erst frisch geschieden, ich weiß noch nicht, wie meine Zukunft aussieht. - Verkaufst du sonst gut, ich meine, hier in New York? - Nicht die Bohne. Ich verkaufe nie was. Ich werde dort unten ein paar Malkurse geben. Ich gebe gewöhnlich mehrere Kurse im Jahr. Wenn ich es schaffe. Ich weiß nicht, was ich will, bin ziemlich schlecht auf die Leute dort zu sprechen. Sie lieben mich, ich bin berühmt, aber was hilft es. Auf der ganzen Welt verehrt man seine Künstler. Verleiht ihnen Preise. Lässt Statuen errichten. Nicht auf den Caymans. Das will ich ja auch gar nicht unbedingt, Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 247 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 aber sie könnten mir wenigstens ein Bild abkaufen. Sie sind so materiell ausgerichtet, es dreht sich bei ihnen alles nur um Autos und Boote … - Wie überall, sagte ich, als eine leichte Brise durch den Raum zog und ich ihr Platz geben wollte. Es hat nicht geholfen. - Nie haben sie etwas gekauft. Und dabei habe ich immerhin eine Ahnung von Kunst. Im Gegensatz zu … Übrigens, ich vergaß zu sagen, dass ich das Loft mit einem anderen so genannten Künstler teile. Er ist nur ganz selten hier. Geht einfach quer hindurch und in seine Ecke hinüber. - Vertrauenswürdig? - Sehr. Keine Sorge. Aber wie gesagt: er ist selten da. Hat einen Job. Träumt wohl davon, Künstler zu werden. Wie viele in der Werbebranche. Macht Collagen. Damen in Slips, glaube ich. Er hat keine Ahnung. Aber wie gesagt: er stört nicht. Hat mir nie eine einzige Frage gestellt. Hat mich nie nach meiner Meinung gefragt. Zweiundvierzig Jahre alt, gefühlsmäßig eher etwa vierzehn. Hat Frau und zwei Kinder. Und einen Hund. Manchmal kommt der Hund mit. Magst du Hunde? Ich schüttelte den Kopf, weil sein Tonfall darauf hindeutete, dass ich Hunde mögen könnte. - Nein, Hunde sind nichts für mich. Außerdem werde ich allergisch. Ich bin auf viele Dinge allergisch, deshalb steht dieser Luftbefeuchter hier. Er muss immer in Betrieb sein. - Hast du keine Schwierigkeiten mit dem Schlafen hier, in diesem … Terpentingeruch … ? - O, das Terpentin. Das ist reiner Zufall. Ich probiere gerade eine neue Maltechnik aus und habe daher eine ziemliche Menge davon über die Leinwände ausgeschüttet, ließ sie einwirken, um zu sehen, welchen Effekt es hat. Früher habe ich realistisch gemalt, aber jetzt, nach der Scheidung, weiß ich nicht mehr weiter. Du wärst also interessiert? - Jaaa. Natürlich, sofern das mit der Elektrizität … - Und ein Schrank. Ich sollte noch einen Schrank auftreiben. Um die Kleider aufzuhängen, meine Frau … hat ihn mitgenommen. Darf ich fragen, wie findest du meine Bilder? - Schön, antwortete ich. Sehr schön sogar. Das waren sie, mehr nicht. Nichts Aufrüttelndes, nichts Provozierendes, nichts Schräges, ich habe sie alle schon gesehen, in Ateliers von Paris, London, Stockholm, sehen ganz einfach aus wie Bilder. - Hast du hier schon mal versucht auszustellen? - Ich habe Beziehungen, allerdings nein, hier noch nie. Als ich einmal einige frühe gezeigt habe, Bilder von Soho, hieß es, die gingen besser uptown. „ Das ist ja Qualität “ , sagte man, „ das läuft hier nicht. Wir machen auf Schock, unsere Kunden suchen den Kick, die intellektuelle Stimulation. Ekel und so. Uptown - in den viktorianischen Eigenheimen, da passt es. “ Also ging ich uptown. Dort riet man mir, ich solle nach Europa, von wegen Tradition und so, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich versuchte es darauf eine Weile mit Hundedreck, aber das kam nicht gut. Ich versuche ja alles, damit die Sachen gut werden. Doch hier ist Vorschrift, seinen Hundedreck zusammenzulesen, die Polizei ist da sehr streng, du findest kaum noch einen Hundedreck in den Strassen oder Parks. Ich ging einer Alten nach, die ihren Köter Gassi führte, und als er schiss, bat ich sie höflich darum, die Kacke mitnehmen zu dürfen. Sie starrte mich an, junger Mann, womit beschäftigen Sie 248 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 sich denn? Ich bin Künstler, sagte ich, und die Alte brüllte: Ist das der Weltuntergang? Ich weiß selbst nicht, was ich glauben soll, nach der Scheidung ist es … ich weiß nicht. Bendel zeigte mir auf einem Spaziergang das Quartier. - Hier solltest du keine Filme entwickeln lassen, es kommt immer schief raus. Dort drüben sind die Brötchen gut, aber teuer, hier sind sie billig und akzeptabel. Wenn du hungrig bist, dann gibt ’ s da billige Suppe, ich nehme nichts, komme soeben vom Zahnarzt und schaffe es gut ohne bis morgen. Übrigens, da bekommst du Secondhand-Kleider für fast nichts. Sein Leben sah augenscheinlich so aus: Fast nichts. Wir kehrten ins Haus zurück. - Hast du auch Freunde hier? Er schüttelte den Kopf. - Oder Nachbarn. Falls es Probleme gäbe? Als ich vor dem Umzugstermin noch einmal vorbeikam, um die Miete zu vereinbaren, waren die drei Bilder vollständig verändert. - Gratuliere, sagte ich. - Danke. Sie geben mir nun eine große Ruhe. Sie schildern nun die Erinnerungen an meine Kindheit. Von der Moskitoküste. - Ich sehe keine Moskitos und versuchte zu lächeln. - Es ist ein Unterwasserbild. Aber es widerstrebt mir, sie wieder auf die Caymans bringen zu müssen. Es kauft sie sowieso niemand. Ich wünschte, ich könnte über Honduras reisen - es gibt ja eine alte Verbindung zwischen uns; unsere Fischer besaßen Fischgründe vor den kleinen Inseln ihrer Küste. Dorthin - oder nach Quintana Roo. Doch vor kurzem las ich in der New York Times, 150 ’ 000 Indianer seien von den Regierungstruppen getötet worden, und dass all die alten Nazis, die immer noch dort wohnten, eine Ranch besitzen und der Regierung helfen. Also, ich weiß nicht. - Schöner Name, Quintana Roo. Liebend gern hätte man einen Song von dem Ort. - Geht also die Miete in Ordnung für dich? - Kein Problem. - Da, meine Telefonnummer auf den Caymans, falls es Probleme gibt. Dann hätte ich da noch eine Frage. Könntest du mir einen Dienst erweisen? - Aber klar. - Ich bin ja jetzt, endlich kann man wohl sagen, eingeladen, im Januar hier in der Tribeca Novelties auszustellen. Ende Monat. Eine Galerie etwas weiter oben an der Chambers … Könntest du die drei Bilder da hinbringen? Er verschwand in der schattigen Ecke hinter dem Küchenschrank. - Ich werde sie ja sowieso nicht verkaufen, aber jetzt, da sie nun einmal gefragt haben. Man fragt sich weshalb, sagte er, und schüttelte sein schlohweißes Haar. S obald Bendel Bigard also gen Süden davon war, bezogen wir, mein Satz und ich, die hohen, leeren Räume an der Warren Street. Ganz bewusst - und ohne jegliche Ironie - stelle ich den Satz vor das Ich im ersten Satz dieser Seite, zumal es für einen Menschen, unterworfen der Macht der Sprache, die Klänge, Wörter und Sätze mit ihrer ganzen Energie Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 249 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 sind, die eine sonst eher passive Figur dazu verleiten können, aufzubrechen und ihrem - ja genau - rätselhaften Lockruf zu folgen. Zum ersten Mal schrieb ich ihn nieder auf ein Blatt Papier. Zum ersten Mal konnte ich mich zurücklehnen und ihn in seiner physischen Offenbarung betrachten. Zwölf Wörter, die zusammen den Satz bildeten, der eine Welt eröffnen könnte. Ein besonderer Augenblick im Leben eines Prosaisten: Man will nicht, wagt es nicht, einen zweiten Satz einzufangen. Es ist zu früh, wäre zu gefährlich, denn bereits durch einen zweiten Satz wird eine Richtung vorgegeben und somit Tausende vergeben. Eigentlich hat man bereits ein Tageswerk hinter sich, eine große Müdigkeit überkommt einen. Und ich ließ es geschehen: Ich schloss die Augen und ließ die leichte Brise, die mir vor über zehn Jahren, an einem Spätsommertag in einem Liegestuhl auf einer Insel am offenen Meer übers Gesicht strich, vorbeifächeln. Nichts weiter hatte sich ereignet an diesem Tag, in diesem Sommer, als dass das Gras auf dem schiefen Acker vergilbte und an der Sonne versengte und dass sich aus Schleiern der Präkognition dieser Satz losgelöst hat, so gewöhnlich, dass es bestimmt schon ein Buch gibt, das so beginnt, ja, es wäre schlicht unnatürlich, wenn dem nicht so wäre. Gerne würde ich es lesen, doch statt es aufzustöbern, könnte ich unterdessen ein eigenes schreiben, um zu sehen, wo und wie meines vom anderen abwiche. Wie es auch aussähe! An dem Punkt angelangt, nahm der Schlaf überhand, und ich vergönnte ihn mir. Ich hatte mein Versprechen gegenüber Bendel nicht vergessen: Als der Tag gekommen war, brachte ich drei Bilder zu der Galerie, in der die Ausstellung Tribeca Novelties stattfinden sollte. Aber es waren nicht die Bilder, um die er mich gebeten hatte, sondern drei kleinere, frühere: Seine Gleichgültigkeit machte mich gleichgültig, ich hatte keine Lust, mich mit so großen Segeln durch den Wintersturm zu kämpfen. Diese Leinwände hier standen zuhinterst in der Ecke mit unverkauftem Material, und ich dachte: Sie müssen genügen, sind weder besser noch schlechter als die anderen. Ein eigenartig blondierter Mensch, eine Installation für sich, saß hinter einem Schreibtisch und reinigte sich die Fingernägel der linken Hand, hielt sie gegen das Fenster, aber schien nicht zufrieden. - Bendel Bigard ist zu dieser Ausstellung eingeladen worden, sagte ich zu der Docke hinter dem Schreibtisch, aber die machte nicht den Anschein zuzuhören. - Er heißt Bendel Bigard. - Ja, ja. Haben Sie Titel und Preise angeschrieben? Sie schob mir ein Formular zu, und ich schrieb unter der Rubrik Titel Landschaft I - III hin. Doch, was sollten die Bilder kosten? Bendel hatte nichts über die Preise gesagt. Wenigstens lag auf dem Pult ein Katalog über einen Maler namens Pollock, Jackson Pollock. - Entschuldigen Sie, sagte ich. Dieser Pollock, ist es ein zeitgenössischer Künstler? - Mr Bigard, Sie scherzen wohl. Kurz, ich verstand nicht viel davon, aber beschloss, einen Zehntel von Pollocks Preisen anzuschreiben, was immerhin eine ganz nette Summe ergab, ich setzte $ 50 ’ 000 darunter, unterschrieb mit Bendels Name und gab das Formular der Docke zurück. Sie ließ sich nichts anmerken, stopfte das Papier in die Rückwand eines der Keilrahmen, stellte sie mit dem Motiv diskret zur Wand hin auf und widmete sich mit der Goldpinzette wieder ihren Nägeln, denn das war - mit einem Seitenblick auf die enorme Menge Nageldesigner, die alte 250 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 Bäckereien übernommen hatten - zu der Zeit, als New York von einem eigentlichen Nagelzwang heimgesucht wurde. Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Er kam wieder zu sich bei der Erinnerung an einen dunklen Gedanken: sein Name war einmal ein anderer gewesen. Doch welcher? Er klaubte an den Sprossen der Parkbank und suchte in einem stillen Gebet nach genau dem Namen, dem allerersten einer Serie falscher Identitäten, unter denen er seit Jahren zu leben gezwungen war … - Stimmt etwas nicht? Die Docke schob mir ihr Schaufenstergesicht zu. - Nein, nein, ich frage mich nur, wer zum Teufel ich bin. - Das geht uns allen gelegentlich so, sagte die Docke und wischte die Nagelreste zu Boden. Zu ihrer Freude entdeckte sie an ihrem Ringfingernagel noch eine kleine Unregelmäßigkeit und war damit zunächst noch eine Weile beschäftigt. - Wir beginnen nächsten Donnerstag mit der Hängung, Vor-Vernissage ist Freitagabend um 20 Uhr, hier, nehmen Sie eine Einladungskarte. Ich sollte nicht dort sein. Ich habe für Bendel Bigard getan, was ich konnte. Eine leichte Brise durfte nicht gestört werden, und andere Obligationen hatte ich keine. Jetzt, wo der erste Satz auf dem Papier platziert war, ging es darum, Satz Nummer zwei abzuwarten, und ich wußte, dass, auch wenn ich kein voraus ausgedachtes Thema hatte, so beinhalteten die zwölf Wörter den Keim zur Entwicklung. Zu vielen Entwicklungen. Mit jedem Schritt, den ich im Süden Manhattans unternahm, ob auf der Brooklyn Bridge oder auf dem Washington Square, und dabei versuchte, ein Zeitgenosse zu sein, entstanden Möglichkeiten: Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Don Agusto Silva de los Angeles klappte das Buch zu, das er gerade am Lesen war: Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Ein Satz in einer Fußnote versetzte ihn in Pausenstimmung: In Wirklichkeit wird die Rede nicht aus ihren vorangehenden Wörtern zusammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt aus dem Ganzen der Rede hervor. W. v. Humboldt. Er rief seiner Frau: „ Ilse, sind wir nicht einmal einem Humboldt begegnet, einem Joseph von Humboldt? Langes Elend mit Schnurrbart? Am Comer See? “ Die Frau, die gerade am Pool mit dem Ausnehmen von Fisch beschäftigt war, erstarrte und wendete sich heftig ab. Sollte das nie ein Ende nehmen? Ich war noch nicht dort. Ich konnte mit F. Scott Fitzgerald ausrufen: „ No ground under our feet “ , was ich denn auch getan habe, auf der Brooklynbrücke, zwei Tage vor Thanksgiving. Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Von weitem immer trägere Wellen an den Strandsteinen. Sie nippte an ihrem eiskalten Drink. Der Erfolg hat mich oberflächlich gemacht, dachte sie, aber das ist wohl der Preis für ein Leben auf der Sonnenseite. Sie schloss die Augen. Immerhin stellt man hier keine Fragen. Ich erinnere mich an die Zeit, als man wirklich Fragen gestellt hat. Sie verabscheute die Sonne, aber wohin hätte sie gehen können, jetzt, da sie vermögend war. Sie bestellte einen weiteren Drink, der einzige Trost der geistig Armen, um sich zu erinnern, was ihr in den Sinn hätte kommen sollen. Zu tun? Zu sagen? Beim dritten Drink waren „ müssen “ Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 251 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 und all ihre Kusinen aus ihrem Wortschatz gestrichen. Und mit einem Mal war es Abend … Das Atelier war vielleicht nicht der angemessene Ausgangspunkt für Inselmeer-Stimmungen. Draußen standen die Zwillingstürme des World Trade Centers, einmal in vierundzwanzig Stunden fielen ihre Schatten mit einem Krachen durchs Fenster. Ich rief nach Übersee an und erkundigte mich nach Rezepten, denn nichts kann die Assoziationen besser zum Fließen bringen: Fleischbällchen, Steckrübenpüree, Bratwurst, „ Janssons Versuchung “ , was war doch das transatlantische Kabel für ein lieblicher Kanal für den Magen, ich ging zu Balduccis in der 7th Street, wo ich nach chaotischem Drängen endlich eine Dose Anchovis fand. Es stand gut lesbar seitlich geschrieben: Anchovis, doch es waren Sardellen. Kulinarisch, verbal und erotisch - mitunter läuft alles schief. Eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. Ich warf einen Blick in den Nachbarsgarten. Keine Bewegung hinter den Gardinen. Wo steckte bloß Britta? Am Freitag begab ich mich also zur Vor-Vernissage bei Tribeca Novelties, denn es war mir kein Trost, dass die Satz bildende oder nachbildende Operation, eine relativ unselbstständige Phase in einer recht umfangreichen subjektiven Operation war, die am Ende ein Thema auskristallisieren sollte, eine tragende Idee. New York war zu groß, alles zu dicht, besser wäre es, ein Glas Rotwein zu trinken und ein paar Sandwiches … Da begegnete ich Susanne. Noch kurz bevor sie den Namen trug, war sie eine blonde, augenfällig langbeinige Schönheit, die mit einem seltsamen Lächeln mit der Preisliste in der Hand durch die Ausstellung ging und einen Künstler nach dem anderen mit Punkten versah und mit seinen Bildern vereinte. Unbändige Schönheit! Wie es mit mir so zu geschehen pflegt, so geschah es auch jetzt: meine Augen klammern sich an jemanden und bleiben hängen, wollen eins werden mit diesem jemand, solange der Abend währt. Ich glaube, sie nahm mich erst wahr, als eine Traube von Künstlern sich zu einem kleineren Drama formiert hatte: eine ältere Künstlerin erzählte, sie hätte ihre Arbeiten einem Galeristen gezeigt, in einer der wichtigeren Galerien. Sie machte das nicht persönlich, sondern hat Gouvernanten vorausgeschickt, und erhielt die Antwort, dass er sich freue, sie auszustellen. Sein Enthusiasmus war groß. - Bis er mich sah, sagte die Frau und begann zu schluchzen. Ich hörte ihn sogar stöhnen: Ach, so alt sind Sie - und plötzlich war die Galerie, leider, leider, ausgebucht, er hätte alte Versprechen in der Eile vergessen, er log mir mein Alter direkt ins Gesicht, es war schrecklich. Er liebte meine Bilder, so tönte es in seinen Briefen, doch auf mich setzen wollte er nicht. Da stand er mit seinem aalglatten Gesicht und ich wünschte ihm Lepra, Schlaganfall und ich weiß nicht was, möge Gott der Jugend verzeihen. Die unbändig Schöne mit den langen Beinen legte ihren Arm um ihre Schultern und ich hörte sie sagen: - Kann nicht ich? Wir könnten doch … Vielleicht wusste sie nicht, was sie tun könnte, doch mir gefiel ihr Bejahen, ihre empathische Ergebenheit. 252 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 Ach was, Susanne? sagte die ältere. Ich werde nicht jünger. - Ich weiß, dass du gut bist. Wenn ich hingehe, nein, zu einer anderen Galerie, mit deinen Bildern, gehe ich mit meinen Jahren hin und schaue, dass ich einen schriftlichen Vertrag kriege, den er nicht brechen kann, ohne die Zeitungen am Hals zu haben. - Oh, Susanne! Gerne hätte ich dasselbe gesagt, doch da geschah etwas. Es begann bei der Türe. Eine Meute von zurückweichenden Fotografen verdrängte uns, Blitzgewitter, und sie trat ein: Vanessa St Just; ich wusste es zwar noch nicht, doch plötzlich war es ein Leichtes, sich mit jedem zu unterhalten. Vanessa St Just? Auf jedem Modebild. Der vollendete Körper, auf jedem Plakat und in jeder Zeitung. Liebling der Medien, wie aus dem Ei gepellt. Wusste ich nicht, dass sie in der Nähe eingezogen war, im selben Wohnblock wie Linda Evangelista? Neunzehn Jahre, mit einer leuchtenden Karriere vor sich. In regelmäßigem Abstand feuerte sie ein Lächeln Richtung Fotografen ab, wenn sie den Wänden entlang strich, sodass die Bilder beinahe von ihren Haken fielen. War sie hier auf der Jagd nach einem passenden Hintergrund oder … Jedenfalls wirkte es sehr affektiert, als ihr ein Fotograf eine Liste übergab und sie anwies, sich vor Bendel Bigards Landschaft III hinzustellen. - Lies die Preisliste, sagte er, und sie zog ihre Augenbrauen hoch, trat einen Schritt zur Seite und stemmte die Hände in die Hüften, neigte den Kopf und verkündete: - Ich kaufe das hier! - Gut, sagte der Fotograf. Bleib genauso. Die Fotografien fanden sich später in einem der Magazine, mit der Legende: Ich habe es gleich gespürt - das Bild muss ich haben. Es traf mich in Mark und Bein, als diese blaue Farbe … Aber ich darf den Ereignissen nicht zuvorkommen. Oder Dem Ereignis, nämlich jenem, dass, sobald der Fotograf abgedrückt hatte, sie den Kopf in eine andere Richtung warf und sagte: „ Wer ist hier die Chefin? “ Und die Docke mit der goldenen Nagelfeile gesellte sich sofort zu ihr: „ Ich kaufe das hier “ , wiederholte sie. Die Docke tat einen Blick in die Preisliste, verdrehte die Augen und suchte in der Menge nach meinem Gesicht, und ihr Mund sagte: Mr Bigard, Mr Bigard, und noch ein drittes Mal: Mr Bigard. Es war zu spät für den Rückzug. Die Finger der Docke waren gemacht fürs Darauf-Zeigen und Vanessa St Just kam auf mich zu mit einem Lächeln, das Tausend Dollar gekostet haben muss. - Oh, Mr Bigard, brach es aus ihr heraus, und was blieb einem Ding wie ihr anderes übrig, als auszubrechen. - Oh, Miss St Just, antwortete ich. Wenn es nun auf diesem Niveau in die Brüche ginge. - Ich bin dabei, meine Wohnung zu dekorieren, es wird super passen. Ein Blitz ging los mitten im super, worauf sich der Fotograf an mich heranmachte: - Wie buchstabieren Sie Ihren Nachnamen? Ich war verzweifelt: - Weiß nicht. Das brachte die Menge zum Lachen, während der Fotograf mir und dieser vom Planet Venus heruntergestiegenen Schönheit die Order erteilte, wir beide sollten uns, jeder mit seinem Lächeln, auf je eine Seite des Bildes hinstellen. - Du verstehst, Bendel, flüsterte sie. Darf ich Bendel sagen? Das hier ist eine Werbepromenade. Für meinen Körper. Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 253 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 - Du wirst es bereuen, Vanessa, flüsterte ich. Darf ich Vanessa sagen? Das ist viel zu teuer. Sie beugte sich ganz nah an mein Ohr: - Ich habe so richtig Knete gemacht diese Woche. Damenbinden. Faiblesse Damenbinden. Auf dem Foto sieht es so aus, als küsste sie mich. Im Magazin steht geschrieben, dass sie mich küsse. Laut sagte sie, während sie mir die Hand reichte: - Mr Bigard, ich möchte, dass Sie Ihr Bild mir nach Hause bringen, sobald die Ausstellung zu Ende ist, und wir regeln die ökonomische Seite der Sache. Hier ist meine Adresse, es ist nur ums Eck. Vanessa St Just verschwand, und jetzt war ich, oder besser gesagt Bendel Bigard, die Berühmtheit. Die Docke, die wusste, was Vanessas Besuch bedeuten würde, schüttelte die Hand: Ein großes Versprechen, gab sie bekannt, ein wirklicher Erfolg. Ein paar ältere blaumelierte Damen waren zugegen und zeigten auf Landschaft II, Mitaussteller verzogen sich voller Verachtung, ein paar einfacher Gestrickte aber kamen auf mich zu und gratulierten mir fröhlich. Ein junger Journalist presste mich gegen die Wand und ich antwortete, Ja - es ist schwierig in New York von der Kunst zu leben, aber das hier müsse als Erfolg betrachtet werden. Dreimal antwortete ich, bis es endlich saß. Und während dieser ganzen Tortur stand die langbeinig Unbändig Schöne da und lächelte mich an. Dann stakste sie auf mich zu und gab mir die Hand: - Du bist also Bendel Bigard, ich bin Susanne. Ich würde dir gerne ein paar Fragen stellen. - Geht das auch nächste Woche? , gab ich zurAusrede als Antwort. Ich verreise nämlich in die Catskill Mountains. - Ich kann warten, lächelte sie. V anessa St Justs Stimme aus der Gegensprechanlage bat Bendel Bigard einzutreten und den Fahrstuhl ins vierte Stockwerk zu nehmen, und meine Hände klammerten sich immer noch um das Bild, als sie mir sichtbar freudig in die Augen schaute. - Och, entfuhr ihr. Ungefähr so, wie wenn man im Winter mit dem Tretschlitten schlagartig auf eine apere Stelle gerät. Es gibt solche Augenblicke. Aber dann schlittert man weiter: - Du musst mir helfen, es ist alles so neu. Was hältst du von dieser Wand? Ich hatte mir meine Meinung über diese Wand gemacht wie auch über ein paar andere Wände, doch leicht war es nicht. Vanessa war viel zu attraktiv, und so ging ich auf wackeligen Beinen umher, vermied jeden Blickkontakt und flehte zu Gott, er möge diesen Albtraum schleunigst beenden. Zum Schluss einigten wir uns auf die Wand gegenüber dem Bett: - Ein Hauch karibisches Blau, jeden Morgen, an dem du im Winterdunkel New Yorks aufwachst. - Das passt ganz bestimmt, seufzte sie. - Ja. Wenn du jetzt nur nichts bereust. Wenn du nicht willst, dass der Kauf rückgängig gemacht wird. Ich will dich ja nicht übers Ohr hauen, sagte ich und schluckte. - Ich ebenso wenig, erwiderte sie lächelnd. Hier ist das Geld. Sie händigte mir ein dickes Kuvert aus und ich stopfte es in die Tasche. - Bist du beschnitten? 254 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 Es gibt eine Menge guter Repliken, und eine Menge schlechter, es gibt gute Repliken bei schlechten Gelegenheiten und schlechte Repliken bei guten, und es gibt Repliken, die während Jahren auf ihre Chance warten. Ich musste hicksen. - Nein, daraus ist nichts geworden, warum fragst du? - Oh, sagte Vanessa Vanille, es ist einfach, weil du so religiös aussiehst und ich liebe Religion. - Ich bin nicht einmal Jude. - Ach so, sagte sie und runzelte die Stirn. Darauf kicherte sie verlegen: Dabei glaubte ich immer, alle Künstler sind Juden. Irgendwie. - Dann bist du nicht vielen begegnet. - Nein, du bist mein erster richtiger Künstler. Ich finde, ich sollte mit Künstlern beginnen. - Was meinst du mit beginnen? , fragte ich sie und strich über ihr Ohrläppchen. - Ja, sie kennen lernen und so. Es gab einen Jungen zuhause in Kansas. Er sagte, dass er Künstler werden wolle. Aber hat nie ein Bild gemalt, es war schrecklich. - Wie schrecklich? - Dass er gelogen hat. Aber schwanger wurde ich nie. - Was ist so besonders an Künstlern? - Modeln ist recht oberflächlich. Wenn man so denkt. Selbst schafft man ja nichts. Man ist nur. Aber hat man nun einmal so einen Körper bekommen, so will man damit auch etwas anfangen. - Also liebst du ihn? - Oh ja, du nicht? - Er ist fantastisch. - Man musste fast nichts daran ändern. Allerdings, die Brüste habe ich noch nicht so lang. Wollen wir nicht etwas Champagner trinken? Ich finde das alles so krass. - Macht es dir nichts, dass dich Leute immerzu anglotzen? Sie wurde merkwürdig still: - Ich glaube, dass da Gott mitmischt. Er wollte mir etwas geben, etwas, das ich verwalten kann, wie ein Pfarrer gesagt hat. - Das sagte ein Pfarrer? - Ja, zuhause, er war ziemlich klebrig, aber er hat es gesagt, und ich glaube, dass er recht hat. Man muss etwas zum Verwalten haben. Jetzt hole ich etwas Schampus. Ihre Augen leuchteten warm beim Gedanken an sich und ihr Gewicht, dass sie das den ganzen Weg zur Küche hin und zurück mit Wärme erfüllte. Sie entledigte sich ihrer Schuhe und schmiegte sich an die Kissen. - Zieh den Korken raus. Sie wissen nicht, dass ich diese Flasche hier habe. - Welche ‚ sie ‘ ? - Ja, es steht im Vertrag, dass wir nicht … es ist für mein eigenes Wohl, glaube ich. Damit ich sauber bleibe. Und dass wir nicht, du weißt schon … du und ich. - Warst du enttäuscht, dass ich nicht beschnitten bin? - Man kann ja nicht alles haben auf dieser Welt. Und ich stehe ja erst am Anfang meiner Karriere. Du musst auf meine Frisur achtgeben. - Wie heißt du? Eigentlich? Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 255 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 - Wenn du versprichst, dass du es keinem Menschen auf der Welt sagst. Denn ich darf es nicht sagen. - Versprochen. - Ehrenwort? Und du darfst nicht lachen. Vanessa biss sich auf die Lippe: So kann man sterben. Betty Sheridan. Sie schob mich von sich weg, um Distanz zu meiner Reaktion zu schaffen, aber ich zeigte keine, ich war einfach nur enttäuscht, nicht beschnitten zu sein. - Hast du ’ s gehört? Betty Sheridan. Man sagte mir, es klinge nach Filmstar der Vierzigerjahre. Schwarz-weiß. Und heutzutage ist ja alles in Farbe. In Farbe und Cinemascope, du verstehst schon. Hat man mir so gesagt. Wie heißt du selbst, eigentlich? - Du stellst wirklich unpassende Fragen, Betty. Du könntest ihn eh nicht aussprechen. - Stimmt, vielleicht nicht. Aber, mein Lieber, bitte nenn mich nicht Betty. Findest du meinen BH nicht auch zierlich? Wie machst du das eigentlich, wenn du malst? Dass es so gleich wird? - Das ist eine lange Geschichte. - Wenn wir uns ins Bett legen und du dich anständig benimmst, denn ich muss ja sauber sein und so, kannst du es mir ja erzählen. Ich liebe es, wenn du sprichst. Immerhin bist du mein erster Künstler. Ich möchte alles Mögliche lernen, Philosophie und Religion, einfach alles. So nah, glaub ich, darf ich mich zu dir hinlegen, ist nicht gefährlich, oder? Jetzt fängt es wieder zu schneien an. - Ja, es fängt wieder zu schneien an. - Halte mich fest, und halte eine Vorlesung. Wenn ich zu schlafen beginne, dann nur, weil ich mich wohl fühle. Ich bin immer eingeschlafen, wenn Vater mir Märchen erzählte. Vanessa Vanille blieb wach bis zur Renaissance. Aber ich machte weiter, während es immer dichter schneite, und erzählte mir selbst von der Wiederentdeckung des menschlichen Körpers als dem Maß aller Dinge und davon, dass niemand den morgigen Tag kenne. Und es schneite … Am nächsten Tag lieferte ich den Bilderrahmen. Als ich gerade dabei war, ihn zu hängen, klingelte das Telefon, Vanessa hörte einen Augenblick zu, legte auf und bestellte ein Taxi: - Tut mir leid, aber ich muss kurz verschwinden. - Schade, sagte ich, ich werde dich vermissen. Sie sah sich im Zimmer um und fand schließlich, was sie suchte: ein Modemagazin. - Hier, sagte sie. Hier kannst du in der Zwischenzeit nachsehen, S. 34 bis 36: Badeanzüge. Ich gleiche mir auf den Fotografien wohl mehr als in der Wirklichkeit. Unter der Türe kehrte sie um und kam noch einmal, kniete vor dem Kassetten-Rack nieder, wühlte darin und fand, wonach sie suchte: - Ich habe hier ein Video, das du vielleicht noch nicht gesehen hast, ich fand, dass ich mir darin recht nahekomme. Schau es dir an. Vanessa küsste mich auf die Wange und verschwand, ich legte die Kassette ein und ließ mich in ihrem Sofa nieder und sah Vanessa, wie sie gestresst nach Hause kam, sich den Mantel abstreifte, die Haare kämmte und tief einatmete, eine Kühlschranktüre öffnete und eine Büchse mit braunen Bohnen hervornahm. Sie dreht sich um zu mir und lächelte: „ Kidney Beans - Sein Favorit. “ Das war sehr schön gesagt. Als der Ehemann kam und sie 256 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 mit einer Rose überraschte, zeigte sie auf den Esstisch, wo Karotten vor sich hin dampften: „ Deine Favoriten - Kidney Beans “ . Dann lächelten sie einander an, Vanessa war perfekt, ihre Bluse sehr weiß, ihr Lächeln blendend, sie war unbefleckt in dieser schmutzigen Welt. Es war eine andere Vanessa, die eine Stunde später zur Türe hereinkam. Sie benahm sich recht umständlich im Badezimmer, querte den Flur und verschwand in der Küche. Als ich vorbeischaute, um sie mit einer kurzen Analyse der Kidney-Beans-Kassetten zu erfreuen, lachte sie nicht, sondern antwortete mit einem mürrischen Ja oder Nein. - Was ist geschehen, Vanessa? Hast du einen Auftrag verloren? Sie schüttelte den Kopf. - Aber was dann? - Du, es tut mir leid, aber ich hab so Kopfschmerzen, ich wär froh, wenn du jetzt gehst, es tut mir wirklich leid. - Das ist OK für mich, ich kann morgen wiederkommen und … - Nein, das brauchst du nicht. Ich … Wir können uns wohl nicht mehr sehen, ich darf nicht … - Was, ‚ darf nicht ‘ ? - Mich treffen mit dir, mich zeigen mit dir, es tut mir so leid. - Habe ich einen Fehler gemacht? - Nein, nein, du bist ja nicht gemein oder so. - Habe ich mich falsch benommen? - Nein. Und jetzt frag nicht mehr, sonst beginn ich zu weinen. Es ist einfach so, verstehst du, du bringst mir nichts, sagten sie. Du bringst mich nicht weiter. Obschon ich dich trotzdem mag, glaube ich. Aber sie meinten, du seiest nicht zum Vorteil von meinem Image. - Das ist völlig OK für mich. Wenn es auch stimmt für dich. Wenn es das ist, was du fühlst. - Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts mehr. - Sei dich selbst, Vanessa. - Nein, o Gott, das schaffe ich nicht. Mach mir einen besseren Vorschlag. Ich bin gegangen. Auch wenn ich nicht der war, der ging, kurz, ich ging also, doch wer das war, ging über meinen Verstand. U nd es fiel Schnee. Er fiel über die Warren und die Chambers Street, die Houston und Spring, über die Green Street und den Washington Square, wo ich mich gelegentlich hinbegab und versucht habe, dazu zu gehören, indem ich die Luft schnupperte und mir Mühe gab, nicht an Henry James zu denken, den alten Dickwanst, der die Dramen der perfekten Intelligenz schrieb, wo keine Waschbecken, Toiletten oder Waschküchen die schimmernde Prosa störten, die einer mit dem Suchen eines Flusspferdes nach einer Erbse verglichen hat. Die Kehrichtsäcke auf den Randsteinen der Gehsteige versanken im Schnee, gefroren, und bildeten undurchdringliche Wälle, die Rollschuhfahrer stiegen auf Skis um, es waren dunkle Tage mit großen Flocken, Weihnachtsbäume wurden angezündet, die Kerzenlichter flackerten und ich besuchte Kims Video und lieh mir Singin ’ in the Rain. Ich konnte nicht genug bekommen von Singin ’ in the Rain. Denn es herrschte Krise. Doch Krise ist der Dauerzustand in der verzauberten Welt der Prosa, die Wahl zwischen einem Ja und einem Nein hinter dem alltäglichsten Gedanken- Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 257 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 strich lässt bekanntlich Papierkörbe anschwellen. Und diese nervösen Kommazeichen, die wie Webschiffchen an der Oberfläche der Sätze tanzen! Und die Semikola erst, don ’ t talk about them. Ich hätte ja gewollt, dass die Wörter ihre abstrakte Begriffswelt hinter sich ließen und in den Brodem des Atmosphärischen vordrangen, ins Fleisch, aber da stand ich wie ein Hinterbliebener der Sprache - bildlich gesprochen - mit gegen den Himmel erhobenen Händen und sah, wie er sich weidwund am Horizont auflöste. Eine leichte Brise … Aber es war keine leichte Brise, vielleicht war es der falsche Satz, um den Rest meines Lebens damit einzuleiten, er könnte vielleicht nicht, wie der Pfau Buddhas, mit einem Schlag seines Schweifes alle seine Möglichkeiten ausschöpfen - Da klopfte es an die Tür und davor stand eine Heuschrecke mit Fahrrad. Lange Arme, lange Beine, schmaler Körper, schwarz angezogen von Kopf bis Fuß. Doch hinter der dunklen Sonnenbrille hellblaue Augen, unter dem Fahrradhelm blondes Haar, unter der Lederjacke eine liebliche Brustlinie: die Unbändige Schönheit Susanne. Der Schnee schmolz an ihren Füßen, sie stellte das Fahrrad an die Wand: - Darf ich stören? Du hast mir in einem schwachen Augenblick versprochen, dass … - Klar, sagte ich und hoffte, dass Vanessa nicht sichtbar würde in meinem Gesicht, die Niederlage Vanessa. Wie bist du durchs Tor reingekommen? - O, das Tor, es stand offen, darf ich mich setzen? - Für welche Zeitung … ? - Ich bin Freelancerin. Hast du ein Gläschen Wein? - Weiß nicht, ob ich welchen habe. - Na, dann lass sehen. Seltsame Frau: ohne Umschweife zielte sie auf einen Einbauschrank neben der Badezimmertür, und im selben Augenblick stand sie vor mir mit einer Flasche rauchfarbenen kalifornischem Chardonnay. Passt der? , sagte sie und setzte sich neben mich auf das schäbige Sofa. Lächerlich, neben jemandem zu sitzen, der einen interviewen wird. Aber ich konnte ja nicht vor ihr niederknien, obschon ihre Schönheit … Aus einer geheimen Rocktasche zückte sie einen Korkenzieher hervor, stellte zwei Gläser hin, und wir stießen an: - Also, wer sind Sie? Weshalb haben alle so zu fragen begonnen? Reichte es nicht, dass Rembrandt und ich … ? Selbst wenn man seinen eigenen Namen von fünf bis sieben Uhr trägt, möchte man ja eine befriedigende Antwort geben können. Doch jetzt verbarg ich mich unter dem Decknamen Bendel: - Vielleicht bin ich ein Kind der Moskitoküste. - Nun ja, wer ’ s glaubt. - Vom Kai genau vis-à-vis Mutters Haus sah ich die Silhouetten dieser Frauen … Alle Strassen endeten beim Hafen, wo ich aufwuchs, aber keiner sagte von unserer Strasse, es sei die Ewige. Und der Anarchist der Stadt führte einen Friseursalon an der Ecke. Es war eine merkwürdige Erfahrung: sich in Zitaten aufzuhalten, wie ein Fisch zwischen den Gittern der Zitate sich hin und her schlängeln. Man zuckt zusammen, schlägt mit dem Schwanz aus und sagt beispielsweise: Das Auge wurde zur einzigen Wahrheit, was immer auf der Netzhaut erscheint, vergeht im Dunkel. - Wunderbar. Habe noch nie so etwas Großartiges gehört. Mach weiter, lieber Bendel. 258 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 - Ich stehe auf, um den ohrenbetäubenden Triumph der Grillen zu hören, der den Ton für das Leben anschlägt, doch auf dieser Tonhöhe zu leben, ist unerträglich. Weshalb sagt man solches nicht selbst? Sofern man sich selbst ist? Wer bestimmt darüber, welche Sprache poetisch ist, und welche alltäglich. Warum sollte man Wörter wie „ infinitesimal “ in einem Gedicht nicht gebrauchen können? Was ist hoch und was tief ? „ Alles ist subtil und submarin. “ Ich streifte ihre Hand. Ich konnte sie nirgendwo sonst hinlegen. - Das ist nicht gerade leichter Stoff, sagte ich in einer plötzlich sehr dicken Luft. - Du meinst … ? - So interviewt zu werden. - Stelle ich komische Fragen? - Neein. - Na also, Bendel Bigard. Wie hast du die Welt auf dem Gipfel erlebt? - Du meinst Vanessa St Justs Welt? - Den Glamour, das Geld. Sie sah sich um; die Auslage von geöffneten und zerknüllten Kidney-Beans-Büchsen auf dem Küchengestell war ja jetzt meine einzige Verbindung mit dieser Welt, Tomatensauce klebte an den Etiketten, die gezähnten Deckel lagen neben den Kochtöpfen, ich schaffte es wirklich nicht, letzte Woche aufzuräumen. Aber der Schneefall blieb der gleiche, und er fiel über gute wie schlechte. Susanne begann ihre Finger in meine zu verschränken, auch sie wusste keinen besseren Rat in dem engen Raum zwischen Hüfte und Hüfte. - Du hast weder Papier noch Schreibzeug dabei, und auch kein Tonband? - All die brillanten Dinge, die du gesagt hast? O, sie sinken ab wie Perlen in mir, ich kann Derek Walcott auswendig, da kann ich nichts dafür. Auch dafür nicht. Sie zog mein Gesicht an sich und küsste mich bis ins Bett hinein, bis ich, viel später, mich wieder erhob: - Wer bist du eigentlich? - Aber Bendel, schäm dich. Obwohl du ein viel besserer Liebhaber geworden bist, ich bin doch deine Frau, Bendel, wie kannst du nur so etwas vergessen. Kommt es davon, dass du so reich geworden bist? Aber ich mag dich besser so, wer immer du bist. - Um Himmels Willen. - Komm runter. Komm runter, es war fies von mir so zu tun, auch von dir war es fies … - Ich kann es dir erklären. - Das brauchst du nicht. Du bist hier zur Miete, Bendel hat mir erzählt, dass er untervermietet. Er hatte mich gebeten, die Bilder zur Ausstellung zu bringen, aber ich weigerte mich, ich bin nie seine Sekretärin gewesen, ich war eklig zu ihm, ich sagte: Was nützt es dir, deine Bilder dort zu zeigen, du verkaufst sowieso nichts, und er fand, vielleicht völlig zu recht, dass ich ihn kleinmachen wollte, und wurde ganz still, tat wie immer, drehte sich um und verstummte, hat sich als Allerärmster hingestellt. - Aber wovon lebte er? - Von mir. Du, mich friert am Rücken. Ich kümmerte mich darum. Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 259 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 - Danke, du bist ein viel besserer Bendel Bigard als Bendel Bigard, sei so gut und spreche deinen Namen so aus, wie er ausgesprochen werden soll, was Bendel - der alte Bendel ins Telefon gemurmelt hatte, habe ich nicht kapiert. Dreimal hat sie mich nachgemacht, bis der Name saß. - Hat dich Vanessa eigentlich schon bezahlt? - Bar. Das Geld liegt in der Schreibtischschublade - wenigstens das, was die Galerie nicht behalten hat. - Und wie sieht unsere Zukunft aus? - Unsere? - Also dann meine? Oder jene des alten Bendel und mir? Wenn wir einmal davon ausgehen, dass unsere Trennung nicht angehalten hat: Wir versöhnen uns und verstehen plötzlich nicht, wie wir ohne einander leben können, wir können uns endlich eine bessere Wohnung leisten. Kannst du dir vorstellen, wie sehr er sich einbildete, wir könnten noch länger in diesem Terpentingestank leben. Er, stets halb abgewandt, still, kein Interesse an Sex, jedenfalls nicht mit mir, kein Gefallen am Essen, nüchtern rund um die Uhr. Weißt du, wie wir gegessen haben? Hier, auf dem Bett, Rücken an Rücken. Die Gläser am Boden, die Teller auf den Knien, Brotkrümel auf dem Bettlaken. Essen hat ihm nichts bedeutet. Es ist klar, dass Armut, oder Geiz oder Rigidität - ich kann das eine nicht vom anderen unterscheiden, eins schafft das andere. Was hast du mit dem Geld vor? Noch etwas weiter … - Es ihm geben, natürlich, sagte ich. Es gehört ja ihm? - Was sollte er denn auch damit anfangen? Eine Wohnung? Nein, es genügt ihm ja vollkommen hier, Farben vielleicht, ein paar Tuben, Reisen? Weine? - Susanne, er könnte endlich die Arme in die Luft werfen und Wauu! sagen, oder wie sagt ihr, wenn ihr fünfundzwanzigtausend … - Bendel kann die Arme nicht in die Luft werfen. Sein ganzer Körper würde draufgehen. Noch etwas tiefer, ja, das ist schön. Wohin sollte er mit dem ganzen Gejammer, das er ein Leben lang akkumuliert hat? Er hatte viele Chancen zu verkaufen, doch nennt er das Sich verkaufen, als gäbe es im Innersten seines Körpers und nur dort: das wahre Ich. Einmal, als wir frisch verheiratet waren und keinen Pfennig besaßen, durften wir in einem Haus einer alten Dame in den Catskill Mountains zur Miete wohnen. Das Einzige, was sie sich als Miete wünschte, war, dass Bendel ein Bild von ihrem Garten, dem Hauptgebäude und den Nebenhäusern am See malen sollte. Doch Bendel hat sich nicht darauf eingelassen und sagte: Ich verkaufe mich nicht. Ich bin kein Tagelöhner der Kunst. Stell dir vor, er hätte auch nur einen einzigen Satz sagen können von denen, die du eben gesagt hast. - Das waren allesamt Zitate, ich war ja noch nie in meinem Leben in der Karibik. - Sogar das Zitieren würde er sich verbieten. Was er sagt, muss von innen kommen, deshalb ist er so stumm. Abgesehen von seinen Erkältungs- und Wetterrapporten. Und das Wetter ist nie gut, nie. Du, nicht so heftig. - O, Susanne. Susanne. Endlich habe ich meinen richtigen Namen zurückbekommen. Falls es das war, was sie von sich gab. Vielleicht gibt es, wie Robert Nozick schreibt, am Ende doch einen Grund, dass wir einen Körper besitzen. 260 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 Das war verheerend für die Prosa. Zum ersten Mal seit langem hatte etwas anderes als Wörter Gestalt angenommen, und ich, der ich gern ein Fred Astaire der Wörter gewesen wäre, ein Unterhalter auf der blanken Oberfläche der Sprache, war nun durcheinander. Mich hatte der Schrecken gepackt, meine Fantasie - das Einzige, was dem Leben Sinn gibt - sei gestorben. Ja, ich, der ich glaubte eine Verantwortung für die Existenz der Fantasie in der Welt zu haben, bin unmutig geworden: ohne sie würde die Welt ihr eigentliches Gesicht zeigen, und das war nicht schön. Das Funkeln, von dem ich Gebrauch machte, erlosch und wurde von einer immer öfter auftauchenden Gewissheit ersetzt, sobald Susanne in meinen Armen lag: das Leben war scheiße. Scheiße, wenn sie nicht anrief, scheiße, wenn ich ihre Schritte nicht hörte auf der Treppe, Scheiße, wenn ich am Glockenzug ihres Lofts zog und niemand antwortete. Susanne wohnte über einer Chili-Fabrik. Um zu ihr zu kommen, musste man an einer Schnur ziehen; wenn man sie zog, öffnete sich eine Pforte und man stand in einem riesigen Lokal, zum Bersten voll Paprikas. Pausenlos eilten da schwarz gewandete ernste Männer mit langen Bärten im hohen, von oben beleuchteten, Treppenhaus auf und ab. Ein Warenlift führte zu Susanne hinauf. Sie teilte das Loft mit Sebastian, der hinter einem Bildschirm mit dem Kürzen seines experimentellen Filmes Hudson River beschäftigt war, der ursprünglich einmal dreiundzwanzig Minuten gedauert hatte. Susanne war überzeugt davon, dass er erst aufgebe, wenn nur noch eine einzige bebende Sekunde davon übrigbliebe, die aber sei dann grandios. Susanne gehörte zu jener Generation, die es natürlich fand, sich nackt zu zeigen, was dem Vertreter jener Generation, der in einer anderen Glaubensgemeinschaft groß wurde, gefiel und missfiel: oft saß sie, wenn ich sie besuchte, in der großen Betonwanne, die sie zum Duschen, Baden wie auch für den Abwasch benutzte, und hörte dazu Saties Je te veux. Susanne wollte Künstlerin werden, doch bis auf weiteres malte sie Marilyn Montez ’ Bilder, während Marilyn mit ihren Kunden Champagner trank und ihre gerade gegenwärtig kostbare Signatur daruntersetzte. Wir saßen in Plazas Austernbar und wärmten uns an einer Clam Chowder. Clam Chowder mag ich nicht besonders, doch weil es mit Eine leichte Brise nicht richtig vorwärtsging, wollte ich es mit einem anderen Satz versuchen, also begaben wir uns unter dichtem Schneefall über der Avenue dorthin, damit ich dies schreiben konnte: „ Wir saßen in Plazas Austernbar und wärmten uns an einer Clam Chowder. “ - Ich verdiene gut, indem ich im Dunkeln Farbpigmente auf die, auf die Leinwand vergrößerten Diabilder tupfe, worin Marilyns Beitrag zur Kunst liegt: die Auswahl weiblicher Geschlechtsorgane und Brüste. - Magst du das auf die Länge? Plötzlich, mitten in diesem Satz, entdeckte ich etwas: dass alle Frauen so schrecklich jung waren. Jung, unbändig schön, stark und weit weg - meilenweit weg. Ich streckte meine Hand über den Tisch, aber sie bemerkte es nicht. - Es gibt etwas an der amerikanischen Art und Weise Kunst zu betrachten, die verlockend ist. Meine Freunde sagen: Hör auf mit dem Ernst, Susanne. Kunst muss Spaß machen. Suche nicht, wühle nicht in deinen Wunden, sie gehören nicht auf die Leinwand. Denke stattdessen: Was kann ich heute erfinden, wie kann ich das Publikum für mich gewinnen. Seelenschau ist out, es gibt nichts, was „ persönliche Ansichten “ heißt, nichts ist Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 261 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 echt. Schau dir mal die dort an, weder Haarfarbe noch Brust oder Fingernägel sind ihre eigenen, und die Gedanken, die sie eventuell hat, kaum deine? Rubens hat seine Bilder nicht selbst gemalt, die alten Meister hatten Assistenten. Es ist schön, dem Geklecker zu entkommen, was zählt sind die Ideen. - Wenn sie denn welche haben, brummte ich vor mich hin. - Das ist ein anderes Problem. Du begehst einen kategorischen Fehler: Kunst kann per definitionem weder echt noch unecht sein. Es ist ein Handwerk, gut oder schlecht ausgeführt. Du tüftelst, feilst, sudelst, streichst, und plötzlich lachst du, wenn du auf eine tiefernste Formulierung gekommen bist. Meine Hand lag auf dem Tresen von Plazas Austernbar und ich dachte: das war nicht der Satz, ich musste ihn vorderhand zur Seite schieben, vielleicht würde auch dieser mich mit der Zeit einholen. Jetzt ging es um Eine leichte Brise, obschon die mir nicht wohlgesinnt war. Ein Laubwerk musste gefunden werden, mit Blättern, die ihre Farbe änderten, bis sie am Ende abfielen, denn es war an der Zeit, meine Variation der Vierzehn Tage vor den Frostnächten zu schreiben - ein Buch, das ich als Teenager las und wovon mir nur noch der Titel in den Sinn kam und dass er das letzte Aufblühen eines Greises inszenierte und danach: die Gnadenzeit. „ In einem ewigen stillstehenden Spätsommer, während man die Stühle in den Schatten der Bäume stellt, fortwährend in den Schatten stellt …“ - Du hörst gar nicht zu? - Nein, Susanne, ich höre nicht zu. Ich höre, was du sagt, aber tue das einzige, wozu ich augenblicklich in der Lage bin: dich anschauen. E ines Tages kommt Bendel Bigard von der Karibik zurück. Er kommt viel zu früh, es ist erst der zwanzigste Dezember. Als Erstes sagte er, nachdem er demonstrativ seine Koffer abgestellt hatte: - Wo habt ihr diesen Tisch her? Dass wir ein ihr geworden, war offenbar ohne Bedeutung: Die Dinge hatten den Vorrang vor uns Lebewesen, waren indes nicht weniger bedrohlich. Vermutlich hatten Susannes und mein Geist unter ihrem Schleier Platz gefunden. Er hatte mich ja auf seine Ankunft vorbereitet und Susanne insistierte darauf, dabei sein zu dürfen, vielleicht wollte sie das Geld, das ich in der Schreibtischschublade in Scheinen aufbewahrte, im Auge behalten. Immerhin war sie während einiger Jahre für ihn aufgekommen. - Was spielt das für eine Rolle? - Tja, spielt das ne Rolle, antwortete er bitter. - In einem Geschäft am West Broadway. - Und was habt ihr bezahlt dafür? - Es hätte ein Geschenk sein sollen, Bendel. Siehst du nicht … Aber das verweigerte er offensichtlich: die Schnittchen, grüne, gelbe, rote, der Champagner, die Gläser, die Blumen. Er wollte sie nicht sehen. Aber er hat uns angegriffen, sozusagen von der Seite. Nicht: Was hat es gekostet? Sondern: Wie viel habt ihr bezahlt? - Unerheblich. Susanne entkorkte einen Champagner, Bendel nahm stumm das Glas entgegen, leerte es in einem Zug voller Verachtung, ohne uns anzusehen, und versank darauf in einem ebenfalls erst neu angeschafften Stuhl. - Wie war es gewesen? - Als würde es dich interessieren. 262 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 - Nicht wenig. Ich würde gern einer ausgedehnten Sandstranderzählung von Quintana Roo zuhören. Sie wandte sich zu mir um: - Wir waren da als frisch Verheiratete, es war eine wunderbare Erfahrung, du erinnerst dich doch, Bendel. In ihrem Enthusiasmus legte sie ihre Hand auf meinen Oberschenkel. - Dann weißt du ja, wie es dort ist. Er schob den Teller mit den Schnittchen beiseite, die Susanne ihm aufzudrängen versucht hatte. - Und deine Eltern? - Das hatte dich wohl noch nie interessiert? Er nahm das soeben ausgetrunkene Glas und drehte an ihm herum: - Wo habt ihr das her? - Es ist neu. - Das sind nicht meine Gläser. - Doch, jetzt schon, Bendel. - Das sind nicht meine, wiederholte er und schritt zum Küchentablar hinüber, auf dem die Gläser standen: Wo sind meine Gläser? - Ein paar sind zerbrochen. - Zerbrochen? Meine? - Ja, Bendel. Ein paar gingen an einem Fest in Brüche, ich habe neue gekauft, teuerere Gläser als die alten. - Fest? Du hast ein Fest gegeben und die schlugen … Hier vermiete ich und … was ist sonst noch in Brüche gegangen? - Ein Teller, glaube ich. - Ein Teller, aha, an einem Fest natürlich. Welcher Teller? - Ich weiß nicht, wie die verschiedenen Teller heißen, aber er wurde ersetzt, es hat jetzt genau so viele wie früher, du kannst nachrechnen. Doch jetzt hatte er Lunte gerochen. Er ging von Schublade zu Schublade, begutachtete das Besteck, den Vorrat an Handtüchern, schaute, rechnete, erhob sich, und kam schließlich zum Büchergestell: - Was ist denn hier los … als wäre ein Tornado hindurch gefegt, habe ich nicht gesagt, dass ich alles so haben möchte, wie ich es … ich erwarte, dass alles wieder so hergestellt wird. Exakt. Er versank im Sofa neben uns, es gab uns nicht mehr, sein Bewusstsein war umwölkt: Das ist ja fürchterlich, ich habe Vertrauen geschenkt und darauf vertraut, überließ mein Zuhause und jetzt dies … Plötzlich stieß er das Sofatischchen mit den belegten Brötchen und den Champagnergläsern um: - Da komme ich nach Hause … Er begann zu husten, zu schlucken, stürzte auf die Toilette hinaus, es tönte, als würde er sich übergeben, stand wieder unter der Türe: - Der Luftbefeuchter, der Luftbefeuchter, wo ist der, wollt ihr mich auch noch umbringen? Raus mit euch, raus, beide zusammen und … Susanne und ich standen auf allen Vieren und sammelten Scherben ein, Brot und Appetithappen und Susanne sagte mit ihrer sanften Stimme: Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 263 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 - Warte, warte doch, Bendel, du wirst etwas Anderes sehen, lass mich nur etwas aufwischen, dann wirst du die Überraschung deines Lebens haben. Sie stellte den Tisch wieder gerade hin, holte das Geldbündel und breitete die Scheine in der Form einer Sonnenblume aus: - Beruhige dich, und schau, was er für dich getan hat, dein Wohnungsmieter, statt wegen eines zersprungenen Glases so ein Geschrei zu machen. - Es war eine Ausstellung, sagte ich, du hast mich darum gebeten mit einigen deiner Bilder dorthin zu gehen und du verkauftest … Bedächtigen Schrittes bewegte er sich auf sein Vermögen zu, das vollständig nackt ausgebreitet vor ihm lag, mit leerem Blick stotterte er: - Du … du hast meine Bilder verkauft? - Er hat dich reich gemacht. - Meine Bilder. Er konnte es nicht fassen. Er sank in den Stuhl und starrte auf einen undefinierten Punkt zwischen seinen Beinen. - Fünfundzwanzigtausend, Bendel. Fünfundzwanzigtausend Dollars. Für ein einziges Bild. - Für ein. Aber das ist ja … das ist ja Schwindelei … Er nahm eine Handvoll Scheine und drückte sie zusammen. - Ich kann es nicht fassen, jammerte er vor sich hin, ich vermiete und … . im vollen Vertrauen lasse ich einen wildfremden Menschen, auf den ich mich verlasse, dem ich glaube … und dann das. Er schmiss die Geldscheine zu Boden. Chaos, es dreht sich wie wahnsinnig in meinem Schädel, schrie er à la Dostojewski und rollte wild mit den Augen, nein, das denn doch nicht. Susanne legte ihre Hand auf sein Handgelenk, aber er schüttelte sie ab: - Wie hast du dir diese Suppe eingebrockt, Susanne? - Du solltest dich beruhigen. - Mach den Luftbefeuchter an, Susanne. Falls ihr den nicht auch schon verkauft habt. - Ja, Bendel, ich schalte ihn ein, dann wird alles viel besser. Dann kannst du wieder atmen. Zu Boden starrend sagte er: - Morgen will ich mein Bild zurück. Morgen wird es wieder hier stehen. - Das wird kaum gehen. - Das ist nicht meine Sache. Er versetzte den Geldscheinen am Boden einen Fußtritt. Los, nimm die und beschaff mir das Bild. Welches übrigens? - Eine frühe Landschaft, mit viel Blau in der einen Ecke. - Das? Das hatte ich ja gar nie erwähnt. Das war ja mein eigenes. - So gut war es wohl nicht, Bendel. - Gut, schlecht wars, krottenschlecht. - Weißt du denn, wer es gekauft hat? Vanessa St Just. Er sah sie versteinert an. - Sagt dir der Name nichts? - Ich will es zurück. - So eine Chance wirst du nie wieder bekommen. 264 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 - Nennst du das eine Chance, wenn er da meine Bilder verkauft, zudem zu Schwindelpreisen, sie sind ja nicht mal die Kosten der Leinwand wert. - Stell dir vor, sie liebt dein Bild. Es ist ihr erster Kunstkauf gewesen. - Gib ihr das Geld zurück. Ja, stell dir vor, wenn Vanessa das Bild Bendel Bigards liebte! Aber nein, sie liebte es nicht, denn sie durfte es nicht lieben, und dafür war jener, der sie anrief, dankbar: - Wer ist dran? Immer diese Frage. - Tunström, Prosaist. - Wer? ! - Du hast mich als Bendel Bigard kennen gelernt, Künstler. - O, jetzt kenn ich deine Stimme wieder. Aber ich darf ja mit dir gar nicht verkehren. - Das war Bendel Bigard, der dein Image nicht aufgebessert hat. - Und du? - Gib mir eine Chance. Auf einer Chinareise kam ich zum ersten Mal mit dem Rembrandt-Syndrom in Kontakt. In China gab es nämlich keine Selbstporträts. Abgesehen von den an und für sich geglückten Versuchen von Perugino, Dürer und da Vinci, hatte diese Kunst vor Rembrandt auch in Europa keine Blüte erlebt. Aber da stellt sich - um den Verlust Gottes zu kompensieren, bewusst oder nicht, die Zugehörigkeit zu Gottes Universum, die Zwangsräumung vom Zentrum durch Newtons unerbittliche Gesetze - , da stellt Rembrandt sich vor einen Spiegel: diese Gesichtszüge, diese Falten! Die Zugehörigkeit abgestaubt zeigt sich, was übrig ist. Tränensäcke, Narben, hängende Augenlider. Da … das … das bin Ich, und ich sah, dass sich Rembrandt direkt in Vanessa fortsetzte, wie sie vor ihrem Schminktisch aus vorgefertigten Bildern auf ihr Gesicht ein passendes Porträt zu legen versuchte; eine dunkle oder eine helle Perücke? Dünne oder schmale Lippen? Hohe Wangenknochen? Vielleicht eine Indianermaske? Sie hielt sich eine solche vor ihr gerade übermaltes Gesicht: - Ist die nicht fantastisch? Stammt aus dem Amazonas. Ich hatte da einen Job. BHs und Slips. Darin bin ich Klasse, sagte man mir, aber mein Gott, diese Mücken. Sie machen dort auch eine Oper. - Was - du steigst auch noch ins Operngeschäft ein? - Nimm mich nicht hoch, warum hast du mich angelogen … - Vanessa, der Grund dafür, dass ich … - Du brauchst nichts zu erfinden. - Es ist so: Ich bin nicht Bendel Bigard, ich habe seine Bilder für ihn verkauft, oder besser gesagt: Weder er noch ich dachten je, dass einer sie beachten würde, deshalb habe ich den Preis erfunden, und jetzt will er das Bild zurück, es tut mir furchtbar leid, hier ist das Geld, wenn du … - Du kannst es zurückhaben, sie sagten, dass es nicht zu meinem Image passe, ich bräuchte etwas, das ‚ Informell ‘ heiße, etwas mit Butterpapier und Mens-Blut und so, glaub ich. Sie fanden, dass dein … oder Bendels, wie auch immer, zu ländlich sei und dass du … oder Bendel für mich eine Katastrophe wärt. Wenn ich so weitermachte, hätte ich bald keine Aufträge mehr. Du schreibst also. Kannst du nicht davon etwas erzählen! Wenn wir uns ins Bett legten und du dich benimmst. Ich kann mich später noch fertig machen. Als ich klein war und Vater eine Geschichte … Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung 265 Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 - … bist du jeweils eingeschlafen, weil du dich wohl fühltest. Ich werde mich daran erinnern. Es hörte nicht auf zu schneien, die Dezemberfinsternis war von Tausenden Fenstern erhellt, im Stockwerk Lief-Was-Einen-Immer-Verfolgt Je te veux, in meiner Achselbeuge schniefte bereits Vanessa Vanille und hörte somit nicht mehr, als ich Scott Fitzgerald zitierte: „ Writers aren ’ t people exactly. Or, if they ’ re any good, they ’ re a whole lot of people trying so hard to be one person. “ Was freilich nicht nur für Schreibende gilt, übrigens auch nicht nur für Papas. Und plötzlich merkte ich, dass ich weinte. O hne jegliches Gefühl von Triumph kehrte ich mit dem Bild zu Bendel Bigard zurück. Er warf einen kurzen Blick darauf, bevor er Rahmen und Leinwand zerschliss: - Du meine Güte, was für ein Scheißbild. Wie dumm von mir! Aber typisch für mich. Was hätte ich nicht alles anstellen können mit fünfundzwanzigtausend Dollars. Vielleicht wäre sogar Susanne wieder zu mir zurückgekommen. - Schon möglich, muss ich darauf erwidert haben. So steht es auf einer Seite in meinem schwarzen Wachstuchbuch: „ Schon möglich “ , antwortete ich, „ aber das kommt nun zu spät. Susanne und ich fahren am Weihnachtsmorgen nach Quintana Roo. “ Bendel seufzte: „ Typisch für mich. Na dann, viel Glück, aber lasst mich damit in Ruhe. “ Das war unsere letzte Begegnung. Denn am nächsten Tag fuhren wir los, Susanne und ich. Nach Quintana Roo, mit seinem Strand und dem blauen Meer und dem gelben Sand. Das ist Quintana Roo. Wir lagen in Liegestühlen und nippten an einem eisgekühlten Orangensaft, von Ferne krähte ein Hahn und eine leichte Brise ließ das Blattwerk des Baumes in der Nachmittagshitze erzittern. 266 Anhang. Ein Prosaist in New York. Übersetzung Dettwiler, Am Wortgrund, BNPh 71 (2022) DOI 10.24053/ 9783772057700 Personenregister Adam, Karin Birgitta 12 f. Ahlin, Lars 11, 34, 59 f., 104, 163, 169 - 171, 176 f. Alsing, Rolf 14, 45 - 48, 52, 59, 152 Andersen, Hans Christian 49, 151 Andersson, Helen 169 Andersson, Lars 27, 32, 64, 151, 155 Andersson, Mikael 216 Aspenström, Werner 85, 103 f. Astaire, Fred 85, 261 Augustinus 18, 36 - 38 Aurell, Tage 27, 64, 72 f., 100 f. Babel, Isaak 85 Bachmann, Ingeborg 148, 154 Bachtin, Michail 15, 24, 50, 58, 88, 104, 145, 155, 171 Beatles 181 Benjamin, Walter 15, 31, 46, 71, 111, 118 Berger, Henning 109, 123 - 126 Berger, John 109 Bergman, Ingmar 61 Bergman, Sten 186 Beskow, Elsa 11, 31 Blanchot, Maurice 118 Blumenberg, Hans 36 Bollack, Jean 17 Brekke, Paal 73 f. Brennan, Maeve 121 Buber, Martin 45, 70, 80, 105, 161, 170 - 173, 175 Bürger, Christa 136 Burger, Hermann 106 Calvino, Italo 183 Campe, Rüdiger 72 Cassirer, Ernst 16, 121, 247 Castenfors, Mårten 126, 128, 179 Celan, Paul 17 Chomsky, Noam 103 Cohen, Leonard 20, 45, 48, 181 Comenius, Johann Amon 43 Cronqvist, Lena 14, 23, 27, 37, 44, 46, 63, 65, 78, 83, 89, 91, 96, 126 - 129, 132 - 134, 137, 154 f., 161, 168, 179, 198 Danto, Artur C. 109, 132 Debord, Guy 141 Derrida, Jacques 18 f., 21, 55 f., 68, 76, 87, 89, 118, 164 Descartes 28, 142, 144 f., 246 Didi-Huberman, Georges 134 Dostojewski, Fjodor 15, 264 Dubuffet, Jean 179 f. Dürrenmatt, Friedrich 24, 28, 86 f., 136 Ebner, Ferdinand 35 Eco, Umberto 16, 19, 76, 106 Eggen, Torgrim 20 Ehrling, Thore 63 Ekelöf, Gunnar 17, 105, 128 f., 160 - 164, 198 Eliade, Mircea 13, 32, 152, 161 f., 202 Enckell, Rabbe 96 f. Enquist, Per Olov 9 Escher, M. C. 142 Evangelista, Linda 253 Fellini, Federicoli 183 Fichtelius, Karl Erik 100 Fitzgerald, F. Scott 120 - 122, 251, 266 Fjellstedt, Peter 24, 46, 64, 66, 84, 103, 198 Flaubert, Gustave 32, 89 Flusser, Vilém 173 Freud, Sigmund 28, 34, 116, 139, 154, 169 Gandhi, Mahatma 146 Genette, Gérard 12, 16, 18 f., 24 f., 29, 50, 74 Giacometti, Alberto 168 f. Giuriato, Davide 46, 71 f. Gjöres, Axel 199 f., 203 Goethe, Johann Wolfgang von 55, 166 Goldsmith, Kenneth 141 Göransson, Ulrika 13 f. Hammar, Stina 11, 14, 34, 60, 151 Hamsun, Knut 74 - 76 Hara, Kenya 135 Heidegger, Martin 98, 160 Hermes Trismegistos 166 Hesse, Hermann 159 Hitler, Adolf 29 f., 32 f., 87, 187, 204, 206, 213 Hoel, Sigurd 122, 262 Hofmannsthal, Hugo von 47 f. Personenregister 267 Hölderlin, Friedrich 197 Holm, Birgitta 14 Horaz 131 Humboldt, Wilhelm von 113 f., 251 Husserl, Edmund 16 Ingarden, Roman 113 f., 121, 251 Iser, Wolfgang 50, 89 f. Jabès, Edmond 17, 21, 31, 87, 134 f., 148 James, Henry 116, 121, 257 Jaspers, Karl 94 Jeleby, Hans 126 Jensen, Axel 20, 45 Jesus 21, 27, 34, 72, 86, 153 Joyce, James 165 f. Jung, Carl Gustav 47, 144 Kafka, Franz 10, 27, 61, 63, 117 Keller, Gottfried 15 Kepler, Johannes 137 f. Kerouac, Jack 76 f. Kierkegaard, Søren 194 Kopernikus, Nikolaus 95 Kraus, Karl 42, 120 Lacan, Jacques 19, 28, 139, 148 Lagerkvist, Pär 61 Lagerlöf, Selma 44, 64, 70, 84 f., 88 f., 126, 158 f., 162, 203 Lagerstedt, Sven 123, 125 Laing, Ronald D. 179, 182 Leiris Michael 38 Lerin, Lars 44 Lévi-Strauss, Claude 139, 158 Lévy-Brühl, Lucien 25 Lidforss, Bengt 124 Lindqvist, Sven 131 Lo-Johansson, Ivar 103 Lorca, Federico Garcia 62, 83 - 85, 120 Lundkvist, Artur 62, 83, 120 Luther, Martin 18, 60, 87 f., 120, 143, 170 f. Malm, Mats 17, 21 Mandelstam, Nadeshda 84 Mandelstam, Ossip 84 Mann, Thomas 49 Martinson, Harry 61 Mauss, Marcel 66 Mauz, Andreas 86, 193 Melberg, Arne 88 Miller, Henry 67 Möbius, Johann Ferdinand 111, 160 Møller Jensen, Elisabeth 154 Montaigne 140, 146, 149 Monthàn, Jesper 137 Müller, Herta 65, 87 Musil, Robert 136, 147 Neruda 120 Neruda, Pablo 62, 83, 120 Nietzsche, Friedrich 20 f., 25, 92, 106 f., 148, 159 Nilsson, Skans Kersti 13, 139, 144 Nin, Anaïs 159 Ogden, Charles Kay 37 Östensson, Stig 52 Østergaard-Nielsen, Harald 18, 60 Ottesen, Doris 14, 152 Paulus 74 Pellin, Elio 122 Peterson-Berger, Wilhelm 167 Piaget, Jean 25 Platon 16, 35 Pollock, Jackson 112, 250 Psammetich (Pharao) 106 Rembrandt, Harmensz van Rijn 120, 144, 147, 246, 258, 265 Richards, Armstrong 37 Rimbaud, Arthur 159 Roberts, Julia 144 Rubens, Peter Paul 142, 144, 147, 262 Rundquist, Per-Erik 34, 44, 64 Rydberg, Viktor 101 Sachs, Nelly 160, 214 Sandelin, Agneta 127 Saner, Hans 31 Sartre, Jean-Paul 15, 54, 71 f., 88 Schär, Hans 94 Schulz, Bruno 14, 85 Sheridan, Beatriz 115 Sjöberg, Fredrik 124 Sloterdijk, Peter 30 f. Söderblom, Staffan 181 Sonnevi, Göran 137, 139, 175, 214 Spinoza, Baruch 95 Stingelin, Martin 49, 72 Strindberg, August 10, 24, 28, 32, 39, 67 f., 82, 89, 126, 160, 215 268 Personenregister Sundén, Hjalmar 94, 137, 193 Svenbro, Jesper 21 Tegnér, Esaias 138 Tranströmer, Tomas 107, 216 Trotzig, Birgitta 85, 159 Tunström, Linus 47, 163 Tyrberg, Anders 12 - 14, 60, 151, 163, 195 Utz, Peter 10, 85, 162 Valéry, Paul 43, 137 f., 141, 147 Vanini, Lucilio 95 Varga, Anita 12 f. Vennberg, Karl 61 Voltaire 95 Walcott, Derek 81, 116, 121 f., 259 Waldenfels, Bernhard 145, 164 Wa łę sa, Lech 93 Walser, Robert 85, 162 Warhol, Andy 109, 120, 246 Watzlawick, Paul 75, 172 Weber-Henking, Irene 10 Weber, Ulrich 86, 122 Webster, John 195 Winiger, Eva 99 Witt-Brattström, Ebba 154 Wittgenstein, Ludwig 16, 18, 25, 30, 37 f., 54, 58, 91, 106, 142 Zanetti, Sandro 91 Zanton-Ericsson, Gun 24, 40, 49 Zimmer, Dieter E. 30 Zwetajewa, Marina 23 Personenregister 269 Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Die Schweizerische Gesellschaft für Skandinavische Studien (SGSS) gibt die Schriftenreihe „Beiträge zur Nordischen Philologie“ (BNPh) heraus. Es sind wissenschaftliche Untersuchungen aus dem gesamten Fachbereich Nordische Philologie/ Skandinavistik. Die Untersuchungen befassen sich mit Studien zur Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaft der skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Färöer, Island, Norwegen und Schweden. Sie sind nicht nur auf die schweizerische Nordistik begrenzt. Es sind die Ergebnisse skandinavistischer Forschungsprojekte in Form von Tagungsbänden, Dissertationen, Habilitationsschriften und anderen Monographien, die dadurch allen Interessierten zugänglich gemacht werden sollen. Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / narr.de 38 Silvia Müller Schwedische Privatprosa 1650-1710 Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich 2005, 320 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-7720-8035-7 39 Klaus Müller-Wille Schrift, Schreiben und Wissen Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist 2005, 522 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8086-9 40 Jürg Glauser (Hrsg.) Balladen-Stimmen Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen 2011, 195 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8173-6 41 Anna Katharina Richter Transmissionsgeschichten Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit 2009, 337 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8292-4 42 Jürg Glauser, Anna Katharina Richter (Hrsg.) Text - Reihe - Transmission Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800 2011, 320 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8293-1 43 Lena Rohrbach Der tierische Blick Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur 2009, 394 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8307-5 44 Andrea Hesse Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen 2009, 264 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8328-0 45 Jürg Glauser, Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.) Rittersagas Übersetzung, Überlieferung, Transmission 2013, 288 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8357-0 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.) Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne 2009, 246 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8351-8 47 Oskar Bandle Die Gliederung des Nordgermanischen Reprint der Erstauflage mit einer Einführung von Kurt Braunmüller 2011, 168 Seiten €[D] 100,- ISBN 48 Simone Ochsner Goldschmidt Wissensspuren Generierung, Ordnung und Inszenierung von Wissen in Erik Pontoppidans Norges naturlige Historie 1752/ 53 2011, 295 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8439-3 49 Frederike Felcht Grenzüberschreitende Geschichten H. C. Andersens Texte aus globaler Perspektive 2013, 312 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8487-4 50 Thomas Seiler (Hrsg.) Skandinavisch-iberoamerikanische Kulturbeziehungen 2013, 240 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8480-5 51 Klaus Müller-Wille, Joachim Schiedermair (Hrsg.) Wechselkurse des Vertrauens Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus (1800-1870) 2013, 213 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8478-2 52 Hendrik Lambertus Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur 2013, 260 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8486-7 53 Alois Wolf Die Saga von der Njálsbrenna und die Frage nach dem Epos im europäischen Mittelalter 2014, 128 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8496-6 54 Walter Baumgartner Gibt es den Elch? - Fins elgen? Aufsätze 1969-2011 zur neueren skandinavischen Lyrik - Essays 1969-2011 om nyere skandinavisk lyrikk 2014, 338 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8540-6 55 Lukas Rösli Topographien der eddischen Mythen Eine Untersuchung zu den Raumnarrativen und den narrativen Räumen in der Lieder-Edda und der Prosa-Edda 2015, 235 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8552-9 56 Katharina Seidel Textvarianz und Textstabilität Studien zur Transmission der Ívens saga, Erex saga und Parcevals saga 2014, 248 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8558-1 57 Laura Sonja Wamhoff Isländische Erinnerungskultur 1100-1300 Altnordische Historiographie und kulturelles Gedächtnis 2016, 260 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8585-7 58 Klaus Müller-Wille, Sophie Wennerscheid (Hrsg.) Kierkegaard und das Theater in Vorb., ca. 220 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8621-2 59 Klaus Müller-Wille, Kate Heslop, Anna Katharina Richter, Lukas Rösli (Hrsg.) Skandinavische Schriftlandschaften Vänbok till Jürg Glauser 2017, 345 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8628-1 60 Hans-Peter Naumann Metrische Runeninschriften in Skandinavien Einführung, Edition und Kommentare 2018, 488 Seiten €[D] 69,- ISBN 978-3-7720-8652-6 61 Petra Bäni Rigler Bilderbuch - Lesebuch - Künstlerbuch Elsa Beskows Ästhetik des Materiellen 2019, 304 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8661-8 62 Kathrin Hubli Kunstprojekt (Mumin-)Buch Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission 2019, 184 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8655-7 63 Sandra Schneeberger Handeln mit Dichtung Literarische Performativität in der altisländischen Prosa-Edda 2020, 206 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8672-4 64 Jürg Glauser (Hrsg.) 50 Jahre Skandinavistik in der Schweiz Eine kurze Geschichte der Abteilungen für Nordische Philologie an der Universität Basel und der Universität Zürich 1968-2018 2019, 296 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8679-3 65 Elena Brandenburg Karl der Große im Norden Rezeption französischer Heldenepik in den altostnordischen Handschriften 2019, 237 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8680-9 66 Kevin Müller Schreiben und Lesen im Altisländischen Lexeme, syntagmatische Relationen und Konzepte in der Jóns saga helga, Sturlunga saga und Laurentius saga biskups 2020, 310 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8694-6 67 Katharina Bock Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts 2021, 264 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8747-9 68 Massimiliano Bampi, Anna Katharina Richter (Hrsg.) Die dänischen Eufemiaviser und die Rezeption höfischer Kultur im spätmittelalterlichen Dänemark - The Eufemiaviser and the Reception of Courtly Culture in Late Medieval Denmark 2021, 216 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8750-9 69 Nathalie Christen Zeiten schreiben Skandinavische Provinzdarstellungen nach der Jahrtausendwende in Vorb., ca. 240 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8761-5 70 Julia Meier Inselromane Adam Oehlenschlägers Roman Die Inseln im Südmeere / Øen i Sydhavet im Dialog mit J. G. Schnabels Insel Felsenburg 2022, 274 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8760-8 71 Lukas Dettwiler Am Wortgrund . Zur Poetik im Werk Göran Tunströms 2022, 269 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8770-7 72 Anna Katharina Heiniger, Rebecca Merkelbach, Alexander Wilson (Hrsg.) Þáttasyrpa - Studien zu Literatur, Kultur und Sprache in Nordeuropa Festschrift für Stefanie Gropper 2022, 392 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8769-1 ISBN 978-3-7720-8770-7 Göran Tunström (1937-2000) hat sich in die Literaturgeschichte von Schweden als ihr ‚fantastischer Realist ‘ eingeschrieben, in den Feuilletons wurde er deshalb „Gabriel Garcia Márquez des Nordens“ genannt. Für seinen in viele Sprachen übersetzten Roman Juloratoriet (dt. Solveigs Vermächtnis; Filmadaptation 1996) erhielt er 1983 den Literaturpreis des Nordischen Rats. Dass der begnadete Erzähler in all seinen Texten, ob in der Lyrik, Essayistik, Prosa oder Dramatik, vom Debut an Passagen der Sprachreflexion eingeflochten hat, belegt die vorliegende Studie an der Entwicklung seiner Ästhetik des Worts im Gesamtwerk. Im Zentrum seiner Poetik steht das Wort (der Bibel), die Frage nach dessen Herkunft und (richtigem) Gebrauch, der kindliche Spracherwerb und die literarischen Vorbilder. Anhand der Lektüre von Tunströms Œuvre werden die Autorgenese und die Genealogie seines Schreibens erfahrbar. Lukas Dettwiler wurde 1954 in Basel geboren. Er studierte nordische Philologie in Zürich und Uppsala und war bis 2018 Mitarbeiter am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. Lukas Dettwiler Am Wortgrund 71 Am Wortgrund: Zur Poetik im Werk Göran Tunströms Lukas Dettwiler