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Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte

2018
978-3-8233-9118-0
Gunter Narr Verlag 
Barbara Schäfer-Prieß
Roger Schöntag

Dieser Band zur französischen Sprachgeschichte vereint die verschiedensten Schwerpunkte zu diesem Thema und liefert neben einigen grundlegenden und gängigen Aspekten vor allem spezifische und ungewöhnliche Einzelperspektiven, eben Seitenblicke, auf die Geschichte der französischen Sprache. Dazu gehört auch der Blick über die Grenzen Frankreichs, genauso wie der Blick über die Grenzen der Disziplin hinaus, so dass auch Beiträge zum Okzitanischen und zu den französischen Kreolsprachen Eingang gefunden haben. Der zeitliche Rahmen reicht dabei vom hohen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, die behandelten Regionen außerhalb Frankreichs vom benachbarten Deutschland und der Schweiz über England bis nach Nordamerika und Afrika.

www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Dieser Band zur französischen Sprachgeschichte vereint die verschiedensten Schwerpunkte zu diesem ema und liefert neben einigen grundlegenden und gängigen Aspekten vor allem spezi- sche und ungewöhnliche Einzelperspektiven, eben Seitenblicke, auf die Geschichte der französischen Sprache. Dazu gehört auch der Blick über die Grenzen Frankreichs, genauso wie der Blick über die Grenzen der Disziplin hinaus, so dass auch Beiträge zum Okzitanischen und zu den französischen Kreolsprachen Eingang gefunden haben. Der zeitliche Rahmen reicht dabei vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, die behandelten Regionen außerhalb Frankreichs vom benachbarten Deutschland und der Schweiz über England bis nach Nordamerika und Afrika. 564 Schäfer-Prieß, Schöntag (Hrsg.) Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Barbara Schäfer-Prieß, Roger Schöntag (Hrsg.) 37,9 18118_Schaefer-Priess_Umschlag.indd 3 24.05.2018 11: 49: 52 www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Dieser Band zur französischen Sprachgeschichte vereint die verschiedensten Schwerpunkte zu diesem ema und liefert neben einigen grundlegenden und gängigen Aspekten vor allem spezi- sche und ungewöhnliche Einzelperspektiven, eben Seitenblicke, auf die Geschichte der französischen Sprache. Dazu gehört auch der Blick über die Grenzen Frankreichs, genauso wie der Blick über die Grenzen der Disziplin hinaus, so dass auch Beiträge zum Okzitanischen und zu den französischen Kreolsprachen Eingang gefunden haben. Der zeitliche Rahmen reicht dabei vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, die behandelten Regionen außerhalb Frankreichs vom benachbarten Deutschland und der Schweiz über England bis nach Nordamerika und Afrika. 564 Schäfer-Prieß, Schöntag (Hrsg.) Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Barbara Schäfer-Prieß, Roger Schöntag (Hrsg.) 37,9 18118_Schaefer-Priess_Umschlag.indd 3 24.05.2018 11: 49: 52 Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 564 Barbara Schäfer-Prieß / Roger Schöntag (Hrsg.) Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Akten der Tagung Französische Sprachgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (13. - 16. Oktober 2016) Sektionen: Interne Sprachgeschichte, Sprachwissenschaftsgeschichte, Kreolsprachen, Okzitanisch, Semicolti / Peu-lettrés , Französisch außerhalb Frankreichs - Sprachkontakt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 0939-7973 ISBN 978-3-8233-9118-0 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Roger Schöntag / Barbara Schäfer-Prieß Einleitung. Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte. . . . . . . . . . . . 11 Roger Schöntag Aktueller Forschungsstand zur französischen Sprachgeschichte: Ein selektiver Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Interne Sprachgeschichte Thomas Krefeld Tacitus, der linke Niederrhein und die Etymologie von fra. bourg , ita. borgo usw. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker Grammatikalisierung in der neueren französischen Sprachgeschichte: die Entstehung von Modalpartikeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Barbara Wehr Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) . . . . . 75 Hildegard Klöden Farbbezeichnungen im Neufranzösischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Sprachwissenschaftsgeschichte Roger Schöntag Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie in seinem Traktat L’homme machine (1748) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Corina Petersilka Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen. Eine hugenottische Französischgrammatik des 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . 143 Gabriele Beck-Busse Enseigner le français aux non-grammatisés: Christian Gottfried Hase et la Grammaire des Dames dans les pays de langue allemande . . . . . . . . . . . . . . . 167 6 Inhaltsverzeichnis Kreolsprachen Silke Jansen L’ Histoire naturelle des Indes (« Drake manuscript », ca. 1600) à la croisée des langues de l’Amérique coloniale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Okzitanisch Kathrin Kraller An der Schwelle zur Volkssprache. Eine kommunikationsgeschichtliche Untersuchung überwiegend lateinischer Notarurkunden aus Südfrankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Semicolti / Peu-lettrés Stephanie Massicot Nähesprachliche Elemente in Texten von semicolti ? Untersuchung eines französischen Briefkorpus des 19. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Harald Thun Substandard und Regionalsprachen. Das Corpus Historique du Substandard Français , die écriture populaire und die écriture alternative (1789-1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Joachim Steffen Antistandard als politisches Manifest. Umgangssprache, Argot und Normabweichung in Briefen der Pariser Anarchisten von 1892 . . . . . . . . . . 305 Französisch außerhalb Frankreichs-- Sprachkontakt Gerda Haßler Lokale, personale und temporale Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika (18./ 19. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Jürgen Lang Die französischen Lehnwörter im Wolof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Philipp Burdy Zum Französischen in Genf im Zeitalter der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . 367 Jessica Stefanie Barzen Die Rolls of Parliament : eine Untersuchung zur Franzisierung anglonormannischer Skripta anhand von Parlamentstexten aus der Zeit Eduard II . (1307-1327) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Inhaltsverzeichnis 7 Nelson Puccio La France hors de France - eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Barbara Schäfer-Prieß Wälschen ist Fälschen . Sprachpurismus und Nationalismus bei Friedrich Ludwig Jahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Frank Paulikat Romanisches in der Carmina Burana . Untersuchungen zu CB 118 . . . . . . . . 449 Matthias Schöffel Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern. Vorstellung des Korpus und exemplarische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Matthias Waldinger Gallizismen im Bairischen. Gibt es spezifisch bairische Gallizismen? . . . . . . 483 Aurelia Merlan Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. und deren Repräsentation in Komödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Inmaculada García Jiménez Sobre galicismos y “zarramplines” en el Diccionario (1855) de Rafael María Baralt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Einleitung 9 Vorwort Der vorliegende Sammelband vereinigt ausgewählte Beiträge, die aus der Tagung Französische Sprachgeschichte hervorgegangen sind, die vom 13.-15. Oktober 2016 an der L udwig -M axiMiLians -u niversität in München stattgefunden hat. Es sei an dieser Stelle nochmals allen Vortragenden und Gästen für ihr reges Interesse an der Veranstaltung gedankt, für die angenehme Atmosphäre und die konstruktiven Diskussionen zu den vielfältigen Themenbereichen. Des Weiteren gilt Dank der LMU und insbesondere dem i nstitut für r oManische P hiLoLogie für die Unterstützung bei der Planung und Organisation sowie bei der Bereitstellung der Räumlichkeiten und technischen Ausstattung. Für den reibungslosen Ablauf sei auch den zahlreichen Hilfskräften gedankt, die uns tatkräftig zur Seite standen, sowie Marie Wieselsberger für ihre akribische redaktionelle Arbeit bei der Korrektur der Manuskripte und Claire Chesnais für die Durchsicht der französischen Resümees. Schließlich sei für die finanzielle Unterstützung dem i nstitut f rançais , der u niversitätsgeseLLschaft der LMU sowie Andreas Dufter (Lehrstuhl Sprachwissenschaft, Romanistik) an dieser Stelle ebenfalls Dank ausgesprochen. München im Dezember 2017 Barbara Schäfer-Prieß ( LMU München) & Roger Schöntag ( FAU Erlangen) 10 Roger Schöntag / Barbara Schäfer-Prieß Einleitung 11 Einleitung Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Roger Schöntag / Barbara Schäfer-Prieß Der vorliegende Sammelband zur französischen Sprachgeschichte reiht sich insofern in die bisherige Forschung ein, als er, basierend auf einer Tagung mit zahlreichen Beitragenden und weiteren Gästen, wichtige Themen der historischen Betrachtung der französischen Sprache vereint. Der Titel Seitenblicke ist dabei programmatisch zu verstehen: Zum einen wurde im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen bewusst auf eine thematische und chronologische Einengung bzw. die Reduzierung auf einen Aspekt der Sprachgeschichte verzichtet, um eine möglichst breite Streuung der bearbeiteten Felder zu erzielen und damit zumindest einen Einblick in die Bandbreite aktueller wissenschaftlicher Tätigkeit auf diesem Gebiet zu geben. Zum anderen sollten hier spezifische Einzelperspektiven zusammengeführt werden, die womöglich ansonsten keine Repräsentation auf den gängigen einschlägigen Tagungen gefunden hätten und verstreut publiziert worden wären. Die Seitenblicke beanspruchen daher, unprätentiös aber dennoch im Sinne der Beiträger selbstbewusst, die mögliche Vielfalt und Breite der sprachgeschichtlichen Forschung zum Französischen darzustellen. Entsprechend den einzelnen Sektionen der Tagung sind auch die folgenden Beiträge verschiedenen thematischen Sektionen zugeordnet, wobei die Themenblöcke eher als ineinandergreifend als streng voneinander abgrenzend zu verstehen sind: I: Interne Sprachgeschichte, II : Sprachwissenschaftsgeschichte, III : Kreolsprachen, IV : Okzitanisch, V: Semicolti / Peu-lettrés , VI : Französisch außerhalb Frankreichs - Sprachkontakt. Die erste Sektion Interne Sprachgeschichte beginnt mit einem Beitrag von Thomas Krefeld, der sich mit einem etymologischen und gleichzeitig toponomastischen Problem beschäftigt, nämlich der Frage der Herkunft von frz. bourg (it. borgo etc.), für die er mit Hilfe einer präzisen Lektüre des Tacitus, des Abgleichs verschiedener Sprachkontaktszenarien sowie aktueller archäologischer Erkenntnisse neue Lösungsansätze konzipiert. 12 Roger Schöntag / Barbara Schäfer-Prieß Der Artikel von Benjamin Meisnitzer und Bénédict Wocker widmet sich der Entstehungsgeschichte französischer Modalpartikeln, einer Wortart, die in den romanischen Sprachen verglichen mit dem Deutschen weniger ausgeprägt ist, dennoch kaum negiert werden kann. Der Beitrag zeichnet den Grammatikalisierungsprozess von quand même , bien und donc im 19. und 20. Jh. anhand einschlägiger Textbelege nach. In der folgenden Untersuchung von Barbara Wehr zur Syntax des Subjektpronomens in den frühen altfranzösischen Texten (9.-12. Jh.) wird die These vertreten und durch eine Analyse der ältesten Texte belegt, dass entgegen verbreiteter Ansicht im Altfranzösischen seit Beginn der Überlieferung die Setzung des Subjektpronomens der Normalfall war und dass die Nichtsetzung festen Regeln folgte, die auffällige Parallelen in den mittelalterlichen germanischen Sprachen finden, weshalb ein Adstrateinfluss für plausibel erachtet wird. Hildegard Klöden zeigt einige Entwicklungen moderner Farbbezeichnungen in den Bereichen rose , violet und orange auf und setzt diese mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Bezug. Dabei rekurriert sie auf die im Rahmen der Basic Color Theory entworfenen Stadien der Entwicklungen der Farbbezeichnungen und beleuchtet auch die Wortgeschichte einzelner Termini und den sich wandelnden Gebrauchskontext. Die folgende Sektion Sprachwissenschaftsgeschichte beginnt mit einem Beitrag von Roger Schöntag zur Sprachphilosophie von La Mettrie, der als radikaler Aufklärer am Hofe Friedrichs II . von Preußen Zuflucht fand. In seinem Traktat Lʼhomme machine (1748) räsoniert er über einige der gängigen Themengebiete der zeitgenössischen Sprachbetrachtung wie die Frage nach dem Sprachursprung oder dem Verhältnis von tierischer und menschlicher Kommunikation. Vor dem Hintergrund seiner konsequent materialistischen und atheistischen Weltanschauung bekommen seine diesbezüglichen Ausführungen eine besondere Brisanz. Corina Petersilka widmet sich in ihrer Forschung den aus Frankreich geflohenen Hugenotten, die in Erlangen angesiedelt wurden und der dortigen Neugründung zu Wohlstand verhalfen. Die in diesem Kontext entstandene Grammaire française (1767) von Jacques Meynier, dem ersten Französischlektor der noch jungen Universität, ist nicht nur ein Zeugnis der bilingualen Sprachsituation, sondern vor allem ein bisher noch nicht untersuchtes Werk, welches zeitgenössische Lehrmethoden mit wissenschaftlicher Erkenntnis verbindet. Meynier war nicht nur ein äußerst produktiver Verfasser von verschiedensten Lehrwerken, sondern gab auch eine kommentierte Fassung der Grammatik von Port-Royal heraus. In ihrem Artikel zur Grammaire des Dames von Christian Gottfried Hase erläutert Gabriele Beck-Busse das Konzept einer im deutschsprachigen Raum ver- Einleitung 13 breiteten französischen Grammatik für „Ungelehrte und Frauenzimmer“, wie es Hase selbst formuliert. Anhand der im Original als Philosophische Anweisung zur französischen, italiänischen und englischen Sprache (1750) titulierten Grammatik zeigt Beck-Busse schlüssig die zeitgenössisch übliche Gleichsetzung von nongrammatisés / Dames in Opposition zu grammatisés / lettrés auf, wobei erstere Kategorie oft noch durch die Attribuierung von non-latinisants ergänzt wurde. Mit Hase liegt der für die Forschung besondere Glücksfall einer „doppelten“ Grammatik vor, insofern als in dieser zwei manuels enthalten sind, wobei eine Lehranweisung sich explizit an Gelehrte richtet und die andere an Ungelehrte und Frauen, was eine entsprechend andere Methodik und Versprachlichung zur Folge hat. Im Rahmen der folgenden Sektion Kreolsprachen referiert Silke Jansen über ihre erstmalige Auswertung des sogenannten Drake manuscript für die sprachwissenschaftliche Forschung. Die in dieser Handschrift enthaltene Histoire naturelle des Indes von ca. 1600 ist eine Darstellung eines anonymen Autors der Fauna und Flora des neuen Kontinents sowie der Lebensumstände der indigenen Bevölkerung und der dorthin transportierten afrikanischen Sklaven in den spanischen Kolonien. Die lexikalische Analyse des dort vorzufindenen Spezialvokabulars zeitigt eine Mischung aus französischen (auch dialektalen) und spanischen Lexemen sowie solchen aus verschiedenen lokalen amerikanischen Sprachen. Dies dokumentiert einerseits die sprachliche Situation französischer Reisender jener Zeit, in der das Spanische die lingua franca dieses kolonialen Kontextes war, andererseits wird hier bereits eine erster Eindruck einer später sich herausbildenden langage des îles und schließlich eines französischbasierten Kreols geliefert. In der Sektion Okzitanisch , die wie die vorherige Sektion bewusst in die Französische Sprachgeschichte inkorporiert wurde, um auch den „Grenzbereichen“ ein breiteres Forum zu bieten, berichtet Katrin Kraller über die Sprachverwendung in südfranzösischen Urkunden. In ihrer Analyse dreier Notariatsurkunden aus dem 12. Jh. zeigt sie auf, dass der Ablöseprozess des Lateinischen als Sprache schriftsprachlicher Distanz in diesem Bereich durch die romanischen Sprachen bzw. hier konkret zunächst das Okzitanische keineswegs linear verlief, sondern kommunikativ-pragmatischen Kriterien unterworfen war. Ein wichtiger Aspekt war dabei der der kommunikativen Reichweite, also der Verständlichkeit auch für illiterate Volksschichten. Demgegenüber stand das Bedürfnis nach Fachtermini, um die spezifischen juristischen Belange ausdrücken zu können, aber auch um an Rechtstraditionen anzuknüpfen. Die Wahl der Varietät ( latin, latin farci, occitan ), aber auch der jeweiligen konkreten Art der Versprachlichung (okz. vs. lat. Fachwortschatz) wurde maßgeblich durch die Kommunikationssituation determiniert. 14 Roger Schöntag / Barbara Schäfer-Prieß Die anschließende Sektion wurde durch das Begriffspaar semicolti / peu-lettrés charakterisiert, in dem bereits ein Teil der in den folgenden Beiträgen anklingenden Problematik einer adäquaten Beschreibung von Schriftzeugnissen wenig geübter Schreiber, die in der Regel als Substandardsprecher zu identifizieren sind, angedeutet wird. Stephanie Massicot wirft in einer Untersuchung zum Französischen des 19. Jhs. die Frage nach der oft postulierten konzeptionellen Nähesprachlichkeit in semicolti -Schriftzeugnissen auf. In ihrer Analyse von Bittbriefen von bagnards bzw. deren Angehörigen aus den Archives nationales d’outre-mer ( ANOM ) in Aix-en- Provence zeigt sie im Rahmen eines kommunikativ-pragmatischen Ansatzes, dass zwar durchaus nähesprachliche Elemente auftreten, diese aber weitaus differenzierter eingeordnet werden müssen und eine reine defizitorientierte Perspektive auf einzelne sprachliche Charakteristika zu kurz greift und ein Blickwinkel, der die gesamte Textgestaltung sowie den beabsichtigten Kommunikationsakt berücksichtigt, bestimmte Strategien und Verfahren der Schreiber ans Licht bringt. Im daran anschließenden Beitrag stellt Harald Thun eine erste größere Analyse aus seinem Projekt des Corpus Historique du Substandard Français ( CHSF ) vor, welches 65.000 Textdokumente aus verschiedenen Archiven Frankreichs aus der Zeit von 1789 bis 1918 umfasst. Die meist (aber nicht immer) von Substandardsprechern stammenden, von ihm als „deviante“ Texte bezeichneten Schriftzeugnisse decken ein breites Spektrum sprachlicher Variation ab, das nicht nur das Französische und seine regionalen Ausprägungen umfasst, sondern auch die Regionalsprachen mit einschließt. Thun bezeichnet diese in zahlreichen Dokumenten, die den unterschiedlichsten Textsorten (Privatbrief, Bittschreiben, Beschwerde, Soldatenbrief etc.) zuzuordnen sind, sich widerspiegelnde Art des Schreibens als écriture populaire bzw. in Bezug auf die langues régionales als écriture alternative und postuliert damit eine bisher vernachlässigte Varietät einer „zweiten“ französischen Schriftsprache. In seiner Untersuchung zur Sprache der Anarchisten in Frankreich rekurriert Joachim Steffen ebenfalls auf das Kieler Korpus zum Substandard ( CHSF ) und arbeitet die sprachlichen Merkmale und Kommunikationsabsichten der anarchistischen Droh- und Beleidigungsbriefe heraus, in denen ganz bewusst mit Normabweichungen vom bon usage gespielt wird. Der Verstoß gegen die Regeln in äußerer Textgestaltung, Orthographie, Textgliederung und diskurstraditioneller Versprachlichung sowie die Verwendung von gruppenspezifischem Vokabular ( argot ) geht dabei immer nur so weit, dass die Botschaft (d. h. die Drohung) noch verstanden wird, d. h. die Kommunikation nicht abbricht. Dieser Anti-Standard ist dabei Teil der politischen Haltung, deren sprachlicher Reflex nur vor dem Hintergrund einer ausgeprägten Norm funktionieren kann. Einleitung 15 Die letzte Sektion beinhaltet die Themengebiete Französisch außerhalb Frankreichs und damit einhergehende Sprachkontakte . Der erste Beitrag in diesem Bereich ist eine Untersuchung von Gerda Haßler zu lokalen, personalen und temporalen Deiktika in Privatbriefen aus dem kolonialen Nordamerika des 18. und 19. Jahrhunderts. Die festgestellte hohe Dichte derartiger deiktischer Elemente ist dabei auf die Relevanz der Origo-Verortung des Schreibers in seiner Korrespondenz mit einem Leser in einem anderen Lebenskontext (Frankreich) zurückzuführen. Auch die Beschreibung der „neuen“ Lebensumstände als thematischer Schwerpunkt in den Briefen sowie emotionale Bindungen erklären wohl eine Häufung der deiktischen Ausdrucksmittel. Im folgenden Artikel widmet sich Jürgen Lang einer afrikanischen Sprachkontaktsituation. Die hauptsächlich im Senegal sowie auch in Gambia und Mauretanien gesprochene Sprache Wolof, eine westatlantische Sprache, hat im Laufe der kolonialen und postkolonialen Sprachkontaktsituation mit dem Französischen eine nicht unerhebliche Anzahl an Lehnwörtern übernommen, die hier nach verschiedenen Bereichen aufgeschlüsselt werden. Des Weiteren wird die Art der lautlichen und grammatischen Integration der Lehnwörter diskutiert, ist doch das Wolof als sogenannte Klassensprache einer anderen typologischen Gruppe zuzuordnen. Die Untersuchung auf Basis des Dictionnaire wolof-français zeigt auch, dass es nicht nur Entlehnungen gab, um Bezeichnungslücken zu schließen, sondern auch zahlreiche französische Wörter ins Wolof eingingen, die in Konkurrenz zu einheimischen Lexemen standen und diese gegenbenenfalls auch verdrängten. Der Beitrag von Philipp Burdy beschäftigt sich mit dem Französischen zur Zeit der Reformation (16. Jh.) im ursprünglich frankoprovenzalischen Sprachraum. Die Analyse der Registres du Consistoire de Genève , in der die Arbeit des von Calvin gegründeten Konsistoriums zur sittlichen und religiösen Überwachung der Genfer Bürger dokumentiert ist, zeigt zum einen, dass erst mit der Reformation das Französische in größerem Umfang als Schriftsprache in der Westschweiz Verwendung findet und die frankoprovenzalische Scripta ablöst und zum anderen, dass die Grundlage der heutigen regionalfranzösischen Varietät der Suisse romande auf dem regionalen français écrit dieser Epoche beruht. Die in den registres vorgefundenen sprachlichen Spezifika, die auf einzelne frankoprovenzalischer Subvarietäten bzw. der mittelalterlichen Scripta zurückgehen, werden sorgsam aufgelistet. Jessica Barzen setzt sich in ihrem Artikel zum Anglonormannischen mit dem Einfluss des kontinentalen Französischen auf diese in England entstandene Varietät des Altfranzösischen auseinander. Anhand von drei bekannten phonographischen Besonderheiten der anglonormannischen Scripta diskutiert sie den Prozess der Franzisierung, der sich in den Rolls of Parliament zu Beginn des 16 Roger Schöntag / Barbara Schäfer-Prieß 14. Jahrhunderts widerspiegelt. Diese Veränderungen im Anglonormannischen können dabei auch Anhaltspunkte für eine Periodisierung dieser Varietät geben, die vom 11. bis zum 14. Jh. die Sprache der englischen Oberschicht und neben dem Lateinischen die Sprache der Verwaltung und Justiz war. In seinem Beitrag zu französisch inspirierten Ortsnamen in Deutschland eröffnet Nelson Puccio ein besonderes Panorama des Sprach- und Kulturkontaktes zwischen beiden Nachbarländern. Die erstmalige Systematisierung makro- und mikrotoponomastischer Gallizismen (u. a. Siedlungsnamen, Schlossnamen, Straßennamen, Hotelnamen, u. a.) nach Bildungsmuster und spezifischer Entlehnungssituation in direktem Sprachkontakt oder durch allgemeinen Kulturkontakt zeigt eine vielschichtige Durchdringung im Bereich der Namensgebung und die damit verbundenen Konnotationen auf. Die im deutschsprachigen Raum früher omnipräsente französische Sprache und Kultur ist auch Thema des Beitrages von Barbara Schäfer-Prieß, die sich den sprachpuristischen Ausführungen des „Turnvaters Jahn“ widmet. In einer Analyse zum Verhältnis von Nationalismus und Sprachpurismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden beispielhaft die beiden Schriften Deutsches Volksthum (1810) und Merke zum deutschen Volksthum (1833) von Friedrich Ludwig Jahn untersucht, dessen als Sprachpatriotismus zu kategorisierende Einstellung auf einer Idealvorstellung der unvermischten Nationen und Völker und dementsprechend auch Sprachen beruht. Seine Abneigung richtet sich dabei nicht unbedingt rein gegen die im Deutschen jener Zeit reichlich vertretenen Gallizismen, sondern allgemein gegen Sprachmischung sowie elitäre Sprachverwendung. Ein Ausblick zeigt, wie sich der Sprachpurismus im Verlauf des 19. Jh. in verschiedenen Facetten noch steigert und dann im 20. Jh. nach einer Phase relativer Toleranz im Nationalsozialismus zunächst einen neuen Höhepunkt erreicht, dann aber zugunsten einer ideologischen Internationalisierung und einer Abwendung von dem alten Konzept der Einheit von Sprache und Nation wieder zurückgefahren wird. Frank Paulikat unterzieht den Text der in der Abtei Benediktbeuern von Andreas Schmeller entdeckten 1803 und 1847 erstmals editierten, berühmten Dichtung der Carmina Burana einer eingehenden Analyse bezüglich der dort vorkommenden romanischen Elemente. Der Codex Buranus ( CB ), so wie er uns überliefert ist (Bayerische Staatsbibliothek, clm 4660), entstand wahrscheinlich in Südtirol um 1230 und weist nach heutiger Erkenntnis zwei Schreiber auf (h1, h2). Inhaltliche Anspielungen und sprachliche Eigenheiten weisen auf ein nicht erhaltenes französisches Original hin. Die Analyse der Passagen CB 95, CB 204, CB 218 und vor allem CB 118 zeigt, dass der Schreiber h2 wahrscheinlich aus dem norditalienischen Sprachraum stammte und bei der Abschrift der franzö- Einleitung 17 sischen und okzitanischen Stellen der ursprünglichen Fassung seine Muttersprache mit einfließen ließ, was die italienischen Elemente erklärt. Einen Beitrag zum Französischen am bayerischen Hof liefert Matthias Schöffel, der Bittschriften an die Gattin von Herzog Maximilian II . untersucht. Es sind Schreiben von Untertanen niedriger sozialer Schichten an Therese Kunigunde (1676-1730), in denen um eine Anstellung bei Hofe oder um finanzielle Unterstützung nachgesucht wurde. Die aus Polen stammende zweite Frau des bayerischen Kurfürsten sprach wie zu jener Zeit üblich Französisch und lernte das Deutsche nie wirklich, was die Untertanen wohl dazu nötigte, ihr Anliegen in der lingua franca des europäischen Adels vorzutragen. Die orthographische und syntaktische Analyse einiger dieser Bittbriefe zeitigt gängige semicolti - Phänomene, da die Verfasser das Französische wohl hauptsächlich mündlich erworben bzw. zumindest praktiziert hatten. Das Spektrum der unterschiedlich ausgeprägten Schreibkompetenz ist dabei erheblich und liefert ein lebendiges Bild von den Französischkenntnissen außerhalb Frankreichs jenseits der Oberschicht. Dem Sprach- und Kulturkontakt zwischen Bayern und Frankreich widmet sich auch die Untersuchung von Matthias Waldinger, der einen Versuch unternimmt, die Gallizismen im Bairischen daraufhin zu prüfen, ob sie nur in dieser Varietät vorkommen oder auch in anderen Dialekten des Deutschen bzw. in der Hochsprache. Der größte Teil der im Bairischen vorhandenen Entlehnungen aus dem Französischen geht auf die sogenannte Alamode-Epoche zurück, als der Einfluss des Französischen am stärksten war. Sie „sickerten“ wohl meist als Lehnwörter über die deutsche Standardsprache, vor allem die Schriftsprache, im Sinne eines indirekten Kulturkontaktes ins Bairische, aber auch Entlehnungen über Nachbardialekte oder durch direkten Sprachkontakt von einzelnen Migranten bzw. Migrantengruppen (z. B. Savoyards ) können prinzipiell nicht ausgeschlossen werden. Dementsprechend zeigt die Analyse, dass die allerwenigsten der bairischen Gallizismen letztlich plausibel als „spezifisch bairisch“ charakterisiert werden können; allerdings fehlt hierzu wie auch zu anderen deutschen Dialekten noch eine umfassende Dokumentation über Vorkommen und Entlehnungswege. Um Gallizismen geht es auch im folgenden Beitrag von Aurelia Merlan, die den Einfluss des Französischen auf das Rumänische des 19. Jh. untersucht. Anhand der Komödien dreier Dichter, Costache Facca (ca. 1801-1845), Vasile Alecsandri (1821-1890) und Ion Luca Caragiale (1852-1912), verdeutlicht sie die unterschiedliche Intensität der rumänischen Frankophilie (bis hin zur Frankomanie), die bereits im 18. Jh. begann (Moldau, Walachei) und nicht unerhebliche Auswirkungen auf die rumänische Gesellschaft hatte. Man kann diesen französischen Kultureinfluss in drei Etappen unterteilen: 1780-1830, 1830-1863 / 66 18 Roger Schöntag / Barbara Schäfer-Prieß und nach 1863 / 66. Die dem Realismus zuzuordnenden Komödien eignen sich deshalb besonders gut als Untersuchungsgegenstand, weil sie als ein Spiegelbild der Art der Verbreitung der Gallizismen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und Regionen fungieren. Die Studie liefert zudem ein wichtiges Inventar an literarisch belegten Lehnwörtern. Im letzten Beitrag wird der Einfluss des Französischen in Bezug auf eine ganz andere Sprachkontaktsituation und deren lexikographischen Aufarbeitung beleuchtet. Inmaculada García Jiménez setzt sich mit der Kritik an dem Diccionario de galicismos (1855) des Venezolaners Rafael Maria Baralt auseinander, die vor allem seitens des venezolanischen Universalgelehrten und Grammatikers Andrés Bello und des französischen Philologen Henri Peseux-Richard laut wurde. Ein weiterer Aspekt des Beitrages gilt den von Baralt kritisierten traductores zarramplines , die für zahlreiche französische barbarismos in der spanischen Sprache verantwortlich seien. Wer sich hinter den von Baralt nicht genannten „unfähigen“ Übersetzern verbirgt, war bisher nicht bekannt, doch vorliegende Untersuchung zeigt, dass zumindest zwei von ihnen mit einer gewisser Plausibilität ausgemacht werden können, nämlich Antonio de Capmany und José de Covarrubias. Ergänzend zu den hier von den Herausgebern gelieferten Kurzvorstellungen der einzelnen Beiträge des Sammelbandes sei auch auf die von den jeweiligen Autoren selbst verfassten abstracts auf Französisch verwiesen, die den auf Deutsch verfassten Artikeln vorangestellt sind. Aktueller Forschungsstand 19 Aktueller Forschungsstand zur französischen Sprachgeschichte: Ein selektiver Überblick Roger Schöntag Eine Übersicht über alle Facetten der französischen Sprachgeschichte, die in der Forschung bisher oder in den letzten Jahren behandelt wurden, zu liefern - und die zudem den Anspruch auch nur einer gewissen Vollständigkeit reklamieren würde - wäre ein Unterfangen, das an dieser Stelle nicht geleistet werden kann und auch nicht soll. Dennoch erscheint es sinnvoll, einleitend zu vorliegendem Sammelband zumindest eine Auswahl rezenter Publikationen und Forschungsprojekte vorzustellen (ab den 2000er Jahren), um einerseits einen Einstieg in die einzelnen Aspekte aktueller wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Sujet zu ermöglichen und andererseits, um die vorliegende Publikation in der derzeitigen Forschungslandschaft zu verorten. 1 Zunächst seien einige Tagungen ( colloques ) bzw. Veranstaltungsreihen vorgestellt, die sich mit historischen Aspekten des Französischen befassen. Eine der jüngsten Kongressreihen wird von der Société Internationale de Diachronie du Français ( SIDF ) organisiert, die nach eigenem Bekunden ein colloque biennal zur histoire du français veranstaltet. Bisher stattgefunden haben die Tagungen in Nancy (I: 2011), in Cambridge ( II : 2014) und Paris ( III : 2016); die nächste wird in Neuchâtel ( IV : 2018) anberaumt. Als Publikation mit entsprechendem thematischem Schwerpunkt ist aus dieser Vortragsreihe allein Ayres-Bennett / Rainsford (2014) hervorgegangen. Eine ebenfalls erst kürzlich ins Leben gerufen Tagungsreihe ist die von Maria Iliescu begründete des Repenser l’histoire du français , die in loser Folge bisher viermal abgehalten wurde, und zwar in Innsbruck (I: 2007), Chambéry ( II : 2011), Neuchâtel ( III : 2014) sowie in München ( IV : 2016) und als nächstes in Erlangen stattfinden wird (V: 2018). Die dazu erschienenen Sammelbände vereinigen Beiträge mit den jeweils angesetzten Schwerpunkten: Lagorgette (2014), Kristol (2017) und demnächst Dufter / Grübl / Scharinger (im Druck 2018). Eine weitere, schon etwas länger laufende Tagungsreihe, ist die vom 1 Entsprechend der Grundidee des vorliegenden Sammelbandes wird die Forschung zum Okzitanischen hier inkorporiert, nicht weil sie keiner eigenen Darstellung wert wäre, sondern weil sie Teil des gleichen geschichtlichen Kontextes ist, die dazugehörige Forschung Überschneidungen aufweist und ihr in diesem Rahmen ein breiteres Forum geboten werden soll. 20 Roger Schöntag Centre National de la Recherche Scientifique ( CNRS ) initiierte und als DIACHRO betitelte, die bisher bereits achtmal abgehalten wurde (I: Paris 2002 [unpubliziert], II : Paris 2004, III : Paris 2006, IV : Madrid 2008, V: Lyon 2010, VI : Leuven 2012, VII : Paris 2015, VIII : Strasbourg 2017), als prinzipielles Untersuchungsziel die phénomènes de changement en français ausgibt und einige Publikationen zeitigte: Combettes / Marchello-Nizia (2007), Fagard / Prévost / Combettes / Bertrand (2008), Combettes / Guillot / Oppermann-Marsaux / Prévost / Rodríguez Somolinos (2010), Guillot-Barbance / Combettes / Lavrentiev / Oppermann-Marsaux / Prévost (2012), Carlier / Goyens / Lamiroy (2015), Prévost / Fagard (2017). Eine letzte Tagungsreihe, die hier vorgestellt werden soll, sind die sich spezifisch nur dem Mittelfranzösischen widmenden Colloques internationales sur le moyen français , die über mehrere Jahrzehnte stattgefunden hatten (1974-2004), das letzte Mal ( XII .) in Montréal. Es sei diesbezüglich nur auf die letzten Aktenbände verwiesen: Buridant (2000), Duval (2003), Vanderheyden / Mortelmans / De Mulder / Venckeler (2007), Di Stefano / Bidler (2007). Ihre Fortsetzung findet die Tagungsreihe in den colloques der Association Internationale des Études sur le Moyen Français ( AIEMF ), die bisher sechsmal abgehalten wurden (I: Montréal 2004, II : 2006 Poitiers, III : Gargano del Garda 2008, IV : Lovain-la-Neuve 2010, V: Helsinki 2014, VI : Turin 2016) und als nächstes in Paris (2018) stattfindet. Die daraus hervorgegangenen Actes sind folgende: Di Stefano / Bidler (2007) [gleichzeitig letzte Tagung der Vorgängerveranstaltung], Galderisi / Pignatelli (2007), Timelli / Ferrari / Schoysman (2010), Delsaux / Haug (2012). Selbstverständlich findet sich weitere aktuelle Forschung zur französischen Sprachgeschichte im Rahmen anderer, thematisch weitergefasster Tagungen, wie die von der Société de Linguistique Romane , dem Conseil International de la Langue Française ( CILF ), dem Romanistenverband oder dem Frankoromanistenverband veranstalteten Kongresse. Eine diachrone Sektion hat beispielsweise auch die alle zwei Jahre stattfindende DIA-Tagungsreihe (I-V, 2010-2018). Es soll nun im Folgenden eine kleine Auswahl von Sammelbänden, Kongressakten und Monographien vorgestellt werden, die in den letzten Jahren erschienen sind und selektiv einige Themenfelder abdecken. Spezifisch zum Altfranzösischen sei auf Wüest (2017) zur frühen Historiographie verwiesen, auf Varga (2017) zu Syntax und Diskurstradition, auf Gleßgen / Trotter (2016) zur lexikalischen Diversität, auf Floquet / Giannini (2015) zum anglo-français , auf die von Bellon (2015) herausgegebene Festschrift für Queffélec mit grammatischen Einzeluntersuchungen, auf Grübl (2014) zur Koineisierung und Standardisierung, 2 auf Zimmermann (2014) zu den Subjektpro- 2 In Bezug auf einen weiteren romanischen Kontext zur Standardisierung cf. Dessì Schmidt / Hafner / Heinemann (2011). Aktueller Forschungsstand 21 nomen, auf Arteaga (2013) zur internen Sprachentwicklung, auf Burdy (2013) zur diachronen Wortbildung, auf Glikman (2011) zur syntaktischen Subordination, auf Rainsford (2011) zur Akzentstruktur, auf Kleinheinz / Busby (2010) zur Vielsprachigkeit im mittelalterlichen Kontext, auf Goldbach (2007) zur Pronominalisierung sowie auf Völker (2003) zu Skripta und Variation. Arbeiten zur Editionsphilologie und textliche Einzeluntersuchung zum Altfranzösischen liegen mit Zwink (2017), Gabel de Aguirre (2015), Videsott (2015), Ducos (2014), Gleßgen / Kihaï / Videsott (2011), Carles (2011), Schauwecker (2007), Overbeck (2003) und Holtus / Overbeck / Völker (2003) vor. Die Urkunden- und Literatursprache des Deutschen und Französischen im13./ 14. Jh. wird bei Gärtner / Holtus (2005) behandelt. Ein weiteres wichtiges Werk zum Altfranzösischen ist zweifellos die umfassende Grammatik von Buridant (2000). 3 Zur Übersetzung im Alt- Mittel- und Renaissancefranzösischen liegt der Band von Galderisi / Vincensini (2015) vor, zur Editionsphilologie des Mittelfranzösischen der Aktenband von Van Hemelryck / Marzano (2010) und zu historischen Einzelaspekten u. a. des français ancien , des français moyen und des français classique die Festschrift für Bernard Combettes von Bertrand / Prévost / Charolles / François / Schnedecker (2008). Soziolinguistische Arbeiten zu verschiedenen Epochen des Französischen wurden von Kremnitz (2013), Pooley / Lagorgette (2011), Lusignan (2004), Ayres- Bennett (2004) und Lodge (2004) vorgelegt, von Buridant (2006) mit zusätzlichem Bezug zum Okzitanischen und von Lusignan / Martineau / Morin / Cohen (2011) die Variation im amerikanischen Kontext mitberücksichtigend. Der Einfluss des Französischen auf andere Sprachen im Verlauf seiner Geschichte thematisiert beispielsweise die Monographie von Gadet / Ludwig (2015) sowie der Kongressband von Horiot (2008). Einzelne Phänomene der französischen Sprachgeschichte, die ebenfalls verschiedene Epochen betreffen, wurden in folgenden Arbeiten behandelt: das françois italianizé in der Frühen Neuzeit von Scharinger (im Druck 2018), kommentierte Privattexte des 17. und 18. Jhs. von Ernst (im Druck 2018) und Ernst / Wolf (2005), die manuels épistolographiques von Große (2017), die Grammatikschreibung von Beck-Busse (2014), Französischunterricht im England des 15. Jh. von Nissile (2014), Französischlehrwerke in Deutschland des 19. Jh. von Willems (2013), Reflexivmarkierungen von Waltereit (2012), der „Antiakkusativ“ von Heidinger (2010), die Sprachpolitik in der Aufklärung von Große / Neis (2008), Grammatikalisierungsphänomene von Klump (2007), der Normierungsprozess bzw. seine Vertreter von Caron (2004), Texte und Institutionen von Haßler (2001). 3 Zu linguistischen Aspekten der okzitanischen Trobadorlyrik sei zusätzlich auf Fausel (2006) verwiesen, zum Galloromanischen auf Greub / Thibault (2014). 22 Roger Schöntag In Bezug auf den Sonderbereich der französischbasierten Kreolsprachen sei nur auf Neumann-Holzschuh (2011), auf Hazaël-Massieux (2008) und das noch im Entstehen begriffene Handbuch von Stein / Mutz/ Krämer (2019 im Druck) verwiesen. Ein gewisser Schwerpunkt der Betrachtungen zur französischen Sprache liegt bei aller Vielfalt wohl auf strukturellem Wandel und Grammatikalisierungsprozessen, wie sie auch zahlreiche Sammelbände zu den romanischen Sprachen im Allgemeinen widerspiegeln; beispielhaft sei diesbezüglich nur auf folgende hingewiesen: Ayres-Bennett / Carlier / Glikman / Rainsford / Siouffi/ Skupien- Dekens (im Druck 2018), Dufter / Stark (2017), Detges / Waltereit (2008) und Stark / Schmidt-Riese / Stoll (2008). Zweifellos werden innerhalb der Romanistik auch zahlreiche andere Themen abgehandelt. Auch diesbezüglich sei nur auszugsweise auf einige Sammelbände verwiesen, in denen auch Einzeluntersuchungen zum Französischen zu finden sind: zur Sprache in der Renaissance Herling / Hardy / Sälzer (2016), zu Entwicklungen im Wortschatz Hillen / Jansen / Klump (2013), zur Pragmatik Wehr / Nicolosi (2012) sowie Iliescu / Siller-Runggaldier / Danler (2010), zu Manuskripttraditionen Wilhelm (2012), zum mittelalterlichen Wissenstransfer Dörr / Wilhelm (2009), zur historischen Semantik Lebsanft / Gleßgen (2004), zum Sprachbewusstsein Haßler / Niederehe (2000). 4 Die letzten Monographien zur gesamten französischen Sprachgeschichte oder einzelnen Epochen, die aktuell erschienen sind, stellen im Wesentlichen Neuauflagen älterer Editionen dar, wie beispielsweise Cerquiglini (2013), Klare (2011), Berschin / Felixberger / Goebl (2008), Zink (2007) oder Picoche / Marchello-Nizia (2001). Relativ neu hingegen ist die neu aufgelegte Zusammenschau von Huchon (2016) sowie die kurzen Übersichten zum Alt- und Mittelfranzösischen von Ducos / Soutet (2012) und Duval (2009). Die lautliche Entwicklung und die Morphologie des Altfranzösischen finden sich in den beiden Neuauflagen von Joly (2004, 2009); die zahlreichen reinen Lehrbücher zum Altfranzösischen seien hier nicht berücksichtigt. Maßgeblich sind entsprechend dem allgemeinen Trend in den historischen Wissenschaften größere Kompendien mit einer Sammlung von Einzeldarstellungen. Ein solches Werk wie es beispielsweise für das Spanische mit der Sprachgeschichte von Cano Aguilar (2005) oder für das Italienische mit der mehrbändigen Sprachgeschichte von Serianni / Trifone (1993-1994) erschien, liegt, wenn auch nicht so differenziert wie letzteres, für das Französische 4 Zusätzlich sei noch auf den metalinguistische Blickpunkt verwiesen; die Betrachtung des eigenen Faches, seine Methoden und seine Geschichte wurde in den Untersuchungen von Bernsen / Eggert / Schrott (2015), Lebsanft / Schrott (2015), Jacob / Krefeld (2007) und Hafner / Oesterreicher (2007) thematisiert. Aktueller Forschungsstand 23 mit der Neuauflage von Chaurand (2012) vor. Die umfangreichste Darstellung der französischen Sprachgeschichte bleibt jedoch nach wie vor die von Brunot (1905-1938). 5 Was die aktuelle Forschung anbelangt ist zudem vor allem auf die einzelnen einschlägigen Artikel der dreibändigen Romanischen Sprachgeschichte von Ernst / Gleßgen / Schmitt / Schweickard (2003-2008) aus der HSK -Reihe zu verweisen, auf die wenigen historisch ausgerichteten kurzen Beiträge aus dem Handbuch Französisch von Kolboom / Kotschi / Reichel (2008) sowie ganz aktuell auf die entsprechenden Einzeldarstellungen aus dem Manuel de linguistique française von Polzin-Haumann / Schweickard (2015). Ergänzend dazu können auch die entsprechenden historischen Artikel aus dem zu den Fach- und Gruppensprachen vorliegenden Manuel von Forner / Thörle (2016) herangezogen werden, aus dem zur Editionsphilologie von Trotter (2015) und aus dem zur francophonie von Reutner (2017), alle aus der neugegründeten MRL -Reihe. Zuletzt sei noch auf einige Wörterbuchprojekte hingewiesen, die entweder kürzlich abgeschlossen wurden oder die sich noch in Arbeit befinden, sowie auf damit zusammenhängende und weitere Digitalisierungs- und Datenbankprojekte. Es stehen mit Greimas (2012) zum Altfranzösischen und Greimas / Keane (2007) zum Mittelfranzösischen zwei aktuelle je einbändige Wörterbücher zur Verfügung, die ergänzt werden durch die überarbeiteten etymologischen Wörterbücher von Picoche (2015) und von Dubois / Mitterand/ Dauzat (2011) sowie durch das mehrbändige zur Wortgeschichte von Rey (2016), dessen aktuellste und erweiterte Auflage gerade erschienen ist. Im Wörterbuch von Enckell (2017) wird die historische Schichtung des français non conventionnel dargestellt. Das über mehrere Jahrzehnte entstandene Französische Etymologische Wörterbuch ( FEW ) von Walther von Wartburg (1922-2002), welches 2002 einen vorläufigen Abschluss gefunden hatte, wird zur Zeit in Nancy ( ATILF / CNRS / Université de Lorraine) weiterverfolgt und dort digitalisiert (bisher nur images ) - weitere Faszikel sind zumindest in Planung. Noch im Entstehen begriffen ist das Dictionnaire étymologique de l’ancien français ( DEAF ), welches von Kurt Baldinger begründet wurde und nun von Frankwalt Möhren in Heidelberg weitergeführt wird, zudem gleichzeitig als DEAF él digitalisiert wird. Ebenfalls noch im statu nascendi sind die beiden Wörterbuchprojekte zum Okzitanischen, das DAO und das DAG , die in München respektive Heidelberg fortgeführt werden. An der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ist unter der Leitung von Martin- Dietrich Gleßgen auch die Digitalisierung des gaskognischen Wörterbuchs realisiert worden ( DAG él ). Digitalisiert und mit einer Suchfunktion versehen wurde das nun schon betagte, aber nichtsdestoweniger immer noch dienliche 5 Cf. dazu die philologische Aufarbeitung im Zuge der Sprachgeschichtsschreibung von Hafner (2006). 24 Roger Schöntag Wörterbuch zum Altfranzösischen von Godefroy (1881-1902), das von Classiques Garnier in Paris gehosted wird, sowie das an der Universität in Stuttgart angesiedelte von Tobler / Lommatsch (1925-2002), beide nach wie vor unverzichtbare Referenzen. Zwar nicht grundsätzlich historisch ausgerichtet aber mit knapper und valider etymologischer Referenz versehen ist die Online-Version des TLF , die in Form des TLF i in Nancy ( ATILF / CNRS / Université de Lorraine) verortet ist. Dort ist zudem das elektronische Wörterbuch DMF zum Mittelfranzösischen angesiedelt sowie das Dictionnaire Électronique de Chrétien de Troyes ( DÉCT ), welches sich aus den Dichtungen Érec , Cligès , Lancelot , Yvain und Perceval speist, sowie das gesamtromanische etymologische Wörterbuch DÉR om unter der Leitung von Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) und Éva Buchi ( CNRS / ATILF ). Ein spezifisches Wörterbuch ist das Anglo-Norman-Dictionary ( AND ), das 2005 neu aufgelegt wurde und zusätzlich nun an den Universitäten von Aberystwyth und Swansea nach und nach digitalisiert wird ( Anglo-Norman Online-Hub ). Ebenfalls historisch spezifisch sind die in Bamberg angesiedelten etymologischen Wörterbuchprojekte zum französischen Kreol von Annegret Bollée (als Ergänzung des FEW gedacht), das DECOI (1993-2007) und das DECA (2017-2018). Nicht diatopisch, sondern fachsprachlich orientiert sind die Wörterbuchprojekte DFSM (Paris) zur mittelalterlichen Wissenschaftssprache des Französischen und Di TMAO (Göttingen) zum medizinisch-botanischen Fachwortschatz des Okzitanischen. Einem grammatischen Phänomen widmet sich das Grazer Projekt des Dictionnaire historique de l’adjectif-adverbe ( DHAA ). Ein digital aufbereitetes Korpus zum Alt- und Mittelfranzösischen (9.-15. Jh.) steht mit der von Christiane Marchello-Nizia begründeten Base de Français Médiéval ( BMF ) zur Verfügung, die am ENS in Lyon gehosted wird. Das aktuell von Achim Stein und Pierre Kunstmann an der Universität Stuttgart betriebene Nouveau Corpus d’Amsterdam ( NCA ) stellt im XML -Format aufbereitete Texte des Altfranzösischen vom Anfang des 11. bis Ende des 14. Jh. zur Verfügung. 6 Bei beiden Datenbanken bedarf es zur Nutzung einer Registrierung. Eine Recherche zur älteren Sprachstufe des Französischen bzw. seiner Entwicklung ist auch über die Datenbank von FRANTEXT (ATILF/ CNRS / Université de Lorraine) möglich, die prinzipiell Schriftzeugnisse vom 10.-21. Jh. enthält und verschiedene ergänzende Teildatenbanken umfasst (Frantext Moyen Français, Frantext AFNOR, Frantext CTLF ). Während die allgemeine Version (Frantext intégral) 79 Texte zum Altfranzösischen und 279 zum Mittelfranzösischen enthält, beinhaltet die Spezialdatenbank des Frantext MF allein 219 Texte zum Mittelfranzösischen (1330-1550). 6 Cf. dazu auch die Publikation Kunstmann / Stein (2007). Aktueller Forschungsstand 25 Noch im Entstehen ist das deutsch-französische Projekt einer Datenbank zu lateinischen und frühen französischen Texten (PaLaFra), geleitet u. a. von Maria Selig in Regensburg. An der LMU München wird von Thomas Krefeld und Stephan Lücke das alternative geolinguistische Projekt VerbaAlpina betrieben, welches jenseits von Nationalgrenzen operierend auch die Varietäten des französisch- und okzitanischsprachigen Alpenraumes abdeckt. An elektronischen Editionen der ältesten französischen Texte arbeitet Martin Gleßgen in seinen Projekten an der Universität Zürich (z. B. DocLing, Gleßgen 2015), während Maria Lieber italienische und französische Manuskripte der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden ( SLUB ) zu erschließen sucht. Korpora zur jüngeren Sprachgeschichte des Französischen wären beispielsweise das in vorliegendem Sammelband präsentierte Korpus CHSF zum Substandard zwischen 1789 und 1918 von Harald Thun (Kiel) oder das zur Grammaire Générale ( CGEC ) von Jürgen Trabant an der FU Berlin. Eine ganze Reihe von Korpora mit sprachhistorischem Bezug werden bei Classiques Garnier gehosted, von denen beispielhaft nur auf das Corpus des remarques sur la langue française ( XVII e siècle) unter der Leitung von Wendy Ayres-Bennett, das Grand Corpus des grammaires françaises, des remarques et des traités sur la langue ( XIV e- XVII e siècles) von Bernard Colombat, Jean-Marie Fournier und Wendy Ayres-Bennett sowie das Corpus de la littérature médiévale des origines au 15 e siècle von Claude Blum, Dominique Boutet, Elisabeth Gaucher und Elisabeth Lalou hingewiesen werden soll. Eine andere Übersicht zu Korpora-Projekten findet sich auch auf der Homepage der FU Berlin unter der Rubrik Französische Korpora und Textdatenbanken . Als übergreifendes Forschungsprojekt zur Diachronie des Französischen sei auf das 2014 gegründete internationale Réseau Corpus Français Préclassique et Classique ( RCFC ) an der FU Berlin verwiesen, unter dessen Dach verschiedene Einzelprojekte und deren Korpora angesiedelt sind, die sich mit Variation, Sprachwandel und Grammatikalisierung beschäftigen. Des Weiteren sei auf das Laboratoire de Français Ancien (LFA) an der Universität Ottawa unter der Leitung von Pierre Kunstmann aufmerksam gemacht, welches mit dem ATILF und der Universität von Kopenhagen in Kooperation steht und sich der Digitalisierung mittelalterlicher Texte widmet sowie sprach- und literaturwissenschaftliche Studien fördert, die mit diesen Korpora arbeiten. Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, dass natürlich auch zahlreiche Artikel zur französischen Sprachgeschichte jenseits der hier erwähnten Sammelbände erschienen sind, sowohl in einschlägigen Fachzeitschriften als auch in Sammelbänden zu allgemein romanistischen Themen oder in Festschriften, die hier nicht alle berücksichtigt werden können. Deswegen der womöglich redundante, aber vielleicht dennoch hilfreiche Verweis - jenseits von 26 Roger Schöntag bekannten Bibliographien - sowohl auf Kommunikationsorgane wie romanistik. de , die Homepages der jeweiligen Organisationen und Projekte (v. supra) sowie der einschlägigen Lehrstühle und ihrer Mitarbeiter. Literatur AND = Rothwell, William / Gregory, Stewart (Hrsg.) (2005): Anglo-Norman Dictionary. Revised and enlarged edition. 2 Bände. Leeds: Maney (= Publications of the Modern Humanities Research Association, 17) [ 1 1977-1993] [online: http: / / www.anglonorman.net; letzter Zugriff am 25.12. 2017]. Arteaga, Deborah L. (Hrsg.) 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Il apparaît, par contre, beaucoup plus plausible d’inverser la direction de l’emprunt et d’attribuer le type allemand et germanique Burg à une base gréco-latine. 1 Einige Toponyme In einer merkwürdigen Stelle, in der Dichtung und Wahrheit eng miteinander verwoben sind, kolportiert der Historiograph und Politiker (Senator) Tacitus (ca. 58-120 n. Chr.), Odysseus sei vom Meer her ins Rheinland gekommen und habe dort am Ufer des Rheins, das zu seiner Zeit noch immer besiedelte Asciburgium gegründet; im Übrigen seien im Grenzgebiet zwischen Germanien und Rätien Monumente und Grabmäler mit Inschriften in griechischem Alphabet zu finden. ceterum et Ulixen quidam opinantur longo illo et fabuloso errore in hunc Oceanum delatum adisse Germaniae terras, Asciburgiumque, quod in ripa Rheni situm hodieque incolitur, ab illo constitutum nominatumque; aram quin etiam Ulixi consecratam, adiecto Laërtae patris nomine, eodem loco olim repertam, monumentaque et tumulos quosdam Graecis litteris inscriptos in confinio Germaniae Raetiaeque adhuc extare. quae neque confirmare argumentis neque refellere in animo est: ex ingenio suo quisque demat vel addat fidem. (Tacitus, Germ . 3, 1914: 134) To return. Ulysses also - in the opinion of some authorities - was carried, during those long and storied wanderings, into this ocean, and reached the countries of Germany. Asciburgium, which stands on the banks of the Rhine and has inhabitants today, was founded, they say, and named by him; further, they say that an altar dedicated by Ulysses, who coupled therewith the name of his father Laertes, was once found at the 40 Thomas Krefeld same place, and that certain barrows with monuments, inscribed with Greek letters, are still extant on the borderland between Germany and Raetia. I have no intention of furnishing evidence to establish or refute these assertions: everyone according to his temperament may minimise or magnify their credibility. (Tacitus, Germ . 3, 1914: 135) Die Stelle ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert; sie konstruiert einerseits und ohne jede historische Fundierung einen mythischen Zusammenhang zwischen der Irrfahrt des Odysseus und der Romanisierung des Niederrheingebiets; andererseits ist sie jedoch frappierend, da ja nicht nur aus Gallien, sondern gerade auch aus der nachmaligen Provinz Raetia ‚Rätien‘ gallische Inschriften in griechischer Schrift belegt sind (vgl. Lambert / Lejeune 1994, Petersmann 2016), und dies - nach Auskunft der beschriebenen Scherbe von Manching (bei Ingolstadt) - bereits in vorrömischer Zeit (cf. David 2015). Darüber hinaus wurden in Rätien etliche nicht verständliche Inschriften gefunden, die in einem Alphabet verfasst sind, das von der heutigen Forschung als „rätisch“ bezeichnet wird und das über etruskische Vermittlung ohne jeden Zweifel ebenfalls auf ein westgriechisches Alphabet zurückführt. Man kann also geradezu den Eindruck haben, das Wissen um die griechischen Inschriften bzw. die Inschriften in griechischem Alphabet habe Tacitus auf die Idee gebracht, ausgerechnet Odysseus zum „Entdecker“ des Rheinlands zu erheben. Hier ist jedoch vor allem der keineswegs sagenhafte, sondern bis heute mindestens teilweise erhaltene Ortsname Asciburgium relevant, der im zitierten Passus genannt wird: Während die zweite Konstituente - burgium im Laufe der Geschichte durch phonetisch ähnliches - berg ersetzt wurde, hat sich die erste Konstituente bis in die heutige Form Asberg erhalten; dieser Ort, ein Stadtteil des heutigen Moers, gehört zu den bedeutenden provinzialrömischen Fundorten in der ehemaligen Provinz Germania inferior , die nicht allzu lange vor der mutmaßlichen Abfassung von Tacitus’ Schrift (98 n. Chr.? ) von den Batavern geplündert worden war (69 n. Chr.), wie wiederum Tacitus in seinen Historiae (4, 33; 1931: 60) berichtet, und danach unter Vespasian (Kaiser von 69-79 n. Chr.) neu belegt und wieder ausgebaut worden ist. Die Mitteilung dieses Namens hatte daher womöglich eine gewisse Aktualität. Ein Blick auf die Tabula Peutingeriana (online) zeigt übrigens, dass sich in unmittelbarer Nähe von Asciburgium ein Name mit der Variante burgus -, nämlich Burginatium , 1 das heutige Kalkar, findet: 1 Cf. Tabula Peutigeriana (online: s.v. burginatium ; http: / / www.tabula-peutingeriana.de/ index. html? cont=lst&pars=b#B). Tacitus, der linke Niederrhein und die Etymologie von fra. bourg , ita. borgo usw. 41 Abbildung 1: Visualisierung des Ausschnitts aus der Tabula Peutingeriana nach Verba Alpina (online: https: / / www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de? page_id=133&tk=199) Eine spätere Quelle, Ammianus Marcellinus (ca. 325-ca. 395 n. Chr.), belegt wiederum am Rhein in einer Aufzählung mehrerer gut identifizierbarer Orte, die Kaiser Iulian (Kaiser 360-363 n. Chr.) wieder instand setzen ließ, ein Quadriburgium , das mit dem heutigen Qualburg in der Gemeinde Bedburg-Hau (Kreis Kleve) übereinstimmen dürfte: Et utrumque perfectum est spe omnium citius. Nam et horrea veloci opere surrexerunt, alimentorumque in eisdem satias condita, et civitates occupatae sunt septem: Castra Herculis Quadriburgium Tricensima et Novesium, Bonna Antennacum et Vingo, ubi laeto quodam eventu, etiam Florentius praefectus apparuit subito, partem militum ducens, et commeatuum perferens copiam, sufficientem usibus longis. (Ammianus XVIII , 4; 1950: 406-408) 42 Thomas Krefeld For not only did the granaries quickly rise, but a sufficiency of food was stored in them; and the cities were seized, to the number of seven: Castra Herculis [= Arnhem- Meinerswijk], Quadriburgium [= Qualburg], Tricensima [= Xanten] and Novesium [= Neuss], Bonna [= Bonn], Antennacum [= Andernach] and Vingo [= Bingen], where by a happy stroke of fortune the prefect Florentius also appeared unexpectedly, leading a part of the forces and bringing a store of provisions sufficient to last a long time. (Ammianus XVIII , 4; 1950: 407-409) Zwei weitere burgus -Namen bezeugt die Tabula Peutingeriana in Pannonia inferior , nämlich Tittobvrgo , das heutige Dalj (ganz im Nordosten Kroatiens) 2 und Bvrgenis , das heutige Novi Banovci (20 km. nordwestlich von Belgrad; cf. RE , Band III , 1, Sp. 1062). In beiden Fällen handelt es sich um Auxiliarkastelle die ebenfalls bereits auf augusteisch-tiberische Zeit (30 v. Chr.-37 n. Chr.) zurückgehen. 3 Das bei Tacitus erwähnte Asciburgium präsentiert sich im 1. Jahrhundert n. Chr., zur Zeit der Erwähnung, so wie alle früh belegten Kastelle als eine Anlage mit Erdwällen und wohl auch mit einer zugehörigen Zivilsiedlung ( canaba ); man darf also hinter der namensbildenden Konstituente burg(i)us ein Appellativ mit der Bedeutung ‚nicht durchgängig in Stein ausgeführtes Grenzkastell mit einer peripheren canaba ‘ vermuten. 2 Ein appellativischer Beleg Einen wortgeschichtlich bedeutsamen Beleg von burgus in appellativischer Verwendung liefert nun eine etwas oberhalb des Moseltals, zwischen Bernkastel-Kues und Koblenz, in Mittelstrimmig (Ortsteil Liesenich), gefundene Bauinschrift. Dort heißt es: Qui burgum (a)edificaverunt Lup(ulinius) Am / minus pr(a)efectus Sab(inius) Acceptio Vid(ucius) / Perpetu(u)s Flavius Tasgillus CO () Lepidus / Min(ucius) Luppus cum C(a) es(ius) Ursulus paratus / est Victorino Augusto et / Sa(n)cto co(n)s(ulibus) X Kal(endas) Iunias Hier erbauten der Präfekt Lupulinus Amminus, Sabinius Acceptio Viducius, Perpetuus Flavius Tasgillus, CO (), Lepidus Minucius Luppus gemeinsam mit Caesius Ursulus 2 Cf. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Kastell_Teutoburgium. 3 Cf. die Karte unter: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Pannonia_ (Provinz)#/ media / File: Limes4.png. Tacitus, der linke Niederrhein und die Etymologie von fra. bourg , ita. borgo usw. 43 einen Burgus; er wurde für den Herrscher Victorinus und für Sanctus, die Konsulen, eingerichtet, 10 Tage vor den Kalendae des Juni (Übers. Th.K.) 4 Die Inschrift ist auf einen 23. Mai datiert, der von der Forschung dem Jahr 270 n. Chr. zugeschrieben wird. 5 Der Beleg ist für die Wortgeschichte von zentraler Bedeutung; denn burgus referiert hier auf einen spezifischen, unmittelbar vor Anbringung der Inschrift ausgeführten Gebäudetyp und nicht auf einen gesamten Siedlungskomplex (Grenzkastell mit canaba ), nämlich auf eine kleinere, aber in massiver Steinbauwiese ausgeführte, turmähnliche Befestigungsanlage. Durch Wiederstandsmessungen im Erdreich des Vicus bei Mittelstrimmig ließ sich die inschriftlich belegte Kleinfestung genauestens lokalisieren. Mächtige Mauern schützten ein 13x18 m großes durch Räume unterteiltes Gebäude mit kleinem Innenhof. Der Festungsbau war von zwei Gräben umgeben. Die bis zu 48 m langen Gräben zeigen keine Unterbrechung, der Zugang führte über Brücken. (Thoma 2006: online; cf. auch die dort veröffentliche Rekonstruktion des Gebäudes). Bemerkenswert ist auch die frühe Datierung der Inschrift, denn erst ca. 100 Jahre später, im Zuge des Ausbaus des Limes unter Valentinian (Kaiser von 364-375) wurden Gebäude dieser Art zur Sicherung in regelmäßigen Abständen an der gesamten Reichsgrenze ausgeführt, wie durch Ammianus Marcellinus bezeugt wird: At Valentinianus magna animo concipiens et utilia, Rhenum omnem a Raetiarum exordio, ad usque fretalem Oceanum, magnis molibus communiebat, castra extollens altius et castella, turresque assiduas per habiles locos et opportunos, qua Galliarum extenditur longitudo: non numquam etiam ultra flumen aedificiis positis, subradens barbaros fines. (Ammianus Marcellinus XVIII , 2, 1; 1950: 122) But Valentinian, meditating important and useful plans, fortified the entire Rhine from the beginnings of Raetia as far as the strait of the Ocean with great earthworks, erecting lofty fortresses and castles, and towers at frequent intervals, in suitable and convenient places as far as the whole length of Gaul extends; in some places also works were constructed even on the farther bank of the river, which flows by the lands of the savages. (Ammianus Marcellinus XVIII , 2, 1; 1950: 122) Ausgerechnet der Ausdruck burgus wird hier allerdings nicht genannt; er findet sich jedoch bei einem anderen Autor, Vegetius, mit Bezug auf dasselbe Befestigungsprogramm. Vegetius empfiehlt in seinen Epitoma rei militaris (Ende des 4 Cf. CIL (online: http: / / db.edcs.eu/ epigr/ epi_einzel.php? s_sprache=de&p_belegstelle= CIL+13%2C+11976&r_ sortierung=Belegstelle). 5 Cf. http: / / www.archaeologie.eu/ de/ mittelstrimmig-burgus.html. 44 Thomas Krefeld 4. Jhs.) die Sicherung von außerhalb der Siedlungen gelegenen Wasserstellen durch Mauern und weiterhin durch Errichtung kleiner Kastelle, die als burgus bezeichnet werden: […] castellum paruulum, quem burgum vocant, inter ciuitatem et fontem conuenit fabricari ibique ballistas sagittariosque constitui ut aqua defendatur ab hostibus (Flavius Vegetius Renatus IV , 10; 1885: 135) […] es ist angebracht, zwischen Stadt und Quelle ein kleines Kastell zu errichten, das Burgus genannt wird, und dort Wurfmaschinen und Bogenschützen zu stationieren, damit das Wasser vor den Feinden verteidigt wird. (Übers. ThK.) In diesen Kontext der systematischen Grenzbefestigung gehören auch die beiden oben genannten Namen aus Pannonien sowie drei andere, im CIL (online) dokumentierte appellativische Verwendungen von burgus in römischen Bauinschriften; sie stammen allesamt direkt von der Reichsgrenze, nämlich aus Ybbs an der Donau ( Noricum , CIL 03, 05 670a), aus Etzgen am Hochrhein (Germania superior, CIL 13, 11 538 ) und aus Esztergom ( Pannonia superior , CIL 03, 03 653). Der Bezeichnungstyp ist dann in der Neuzeit auch als terminus technicus in die provinzialrömische Archäologie eingegangen. Wichtiger ist jedoch in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass man genau in dem mit burgus bezeichneten spätrömischen Festungstyp den Vorläufer der mittelalterlichen Steinburgen sehen muss. David Thomas (2017; s.v. Burgus ) weist darauf hin, dass nicht selten sogar eine unmittelbare Bebauungskontinuität in situ festgestellt werden kann: „Oft sind diese strategisch vorteilhaft gelegenen Befestigungen überlagert von mittelalterlichen Burgen.“ 3 Zur Kontaktgeschichte der romanisch-germanischen Kognaten Vor diesem sachgeschichtlichen Hintergrund kann der lexikologische Zusammenhang von lat. burgius / burgus (mitsamt den romanischen Kognaten fra. bourg, ita. borgo usw.) einerseits und deu. Burg (mitsamt den germanischen Kognaten dän./ schwed. borg usw.) andererseits vernünftigerweise nicht bezweifelt werden . Es wurde deshalb, von Seiten der deutschen Latinistik, versucht, den lateinischen Typ aus dem Deutschen herzuleiten, wie z. B. von Otto Seeck (1897) in der Realencyclopädie der Altertumswissenschaften : Burgus, ein urdeutsches Wort, das allen germanischen Stämmen gemeinsam ist und sich schon in so alten Ortsnamen wie Asciburgium (Tac. h. IV 33; Germ. 3) findet. Die Römer haben es wohl von ihren barbarischen Grenznachbarn entlehnt; jedenfalls hat es mit dem griechischen πύργος nichts gemein. (Seeck 1897: 1066) Tacitus, der linke Niederrhein und die Etymologie von fra. bourg , ita. borgo usw. 45 Zwar hat Seeck hier die Nähe zum griechischen πύργος ‚Turm (aus Stein)‘ gesehen; einen Zusammenhang lehnt er jedoch kategorisch, ohne jegliche Begründung ab. Seine Behauptung ist umso fragwürdiger, als Seeck genau von der Bedeutung ausgeht, die sich aus der Stelle bei Vegetius ergibt ( castellum parvulum, quem burgum vocant ; Veg. IV, 10). Da nach Auskunft der Archäologen damit turmartige, in jedem Fall steinerne Kleinfestungen bezeichnet werden, liegt die Nähe zum griechischen Wort jedoch auf der Hand, wie er einschlägige Artikel des LSJ bestätigt: πύργος, ὁ, tower, esp. such as were attached to the walls of a city, Il.7.219, al., Hes. Sc.242, Hdt.3.74, al., Th.2.17, al., Plb.5.99.9, etc.: in pl., city walls or ramparts with their towers, Il.7.338, 437; in sg., ἧντ’ ἐπὶ πύργῳ 3.153, cf. 22.447; πόλιος ἣν πέρι πύργος ὑψηλός Od.6.262; πέριξ δὲ πύργος εἶχ’ ἔτι πτόλιν E.Hec.1209; πύργους ἐπὶ τῶν γεφυρῶν ἐπιστῆσαι Pl.Criti.116a. ( LSJ : online, s.v. πύργος) Das formal ähnliche und semantisch immerhin naheliegende lateinische burg(i) us könnte diese spezifischere, neue Bedeutung gut aus dem Griechischen entlehnt haben, denn die massivere Grenzbefestigung war keineswegs auf den germanisch-rätischen Limes beschränkt, sondern galt auch für den Donaulimes, wo sie sogar schon früher, unter Traian (Kaiser von 98-117 n. Chr.), durchgeführt wurde. Unabhängig von dieser relativ späten Bedeutungsentlehnung deutet die formale Ähnlichkeit der lateinischen und griechischen Wörter auf eine gemeinsame vorindogermanische (mediterrane? ) Ausgangsform hin, wie auch Kluge 2012 (s.v. Burg ) im Hinblick auf die Ähnlichkeit von griech. πύργος mit Pérgamos ‚Burg von Troja‘ vermutet. Jedenfalls war ein entsprechender, massiver Steinbautyp den Germanen vollkommen fremd; sie haben ihn ja, wie im übrigen die gesamte Steinbauweise, gerade von den Römern, oder im Fall der Goten eben von den Griechen übernommen; das gotische baurgs wird in Streitberg (1910: 18) als ‚Turm‘, ‚Burg‘, jedoch „häufig“ als ‚Stadt‘, d. h. synonym mit griechisch πόλις glossiert; bevor die nomadisierenden Goten in Kontakt mit dem Griechentum gelangten, war auch ihnen die Steinbauweise ganz gewiss unbekannt: Die Entlehnung eines gotischen Worts dieser Bedeutung ins Griechische muss man daher ausschließen (so auch Kluge 2012). Gewiss ist der Bezeichnungstyp - umgekehrt - vom Griechischen ins Gotische gelangt. Die Goten haben sich bekanntlich recht schnell akkulturiert, wie schon ihre frühe Christianisierung zeigt. Lat. burgus in der Bedeutung ‚kleine, turmartige Grenzbefestigung in massiver Steinbauweise‘ lässt sich somit als charakteristische Bezeichnung des Lateins der spätkaiserzeitlichen Grenzgebiete charakterisieren, die als Substratentlehnung in den dialektalen Varianten von deu. Burg ‚befestiger Wohn- und Wehrbau in massiver Steinbauweise‘ bzw. in den genannten Ortsnamen 46 Thomas Krefeld weiterlebt. Dieser lexikalische Typ hat sich ausgehend von den spätantiken und frühmittelalterlichen germanischen Kontaktvarietäten in andere germanische Varietäten verbreitet und wurde weiterhin ins Standarddeutsche übernommen. Im Romanischem hat sich diese Bedeutungsvariante des Worts jedoch gerade nicht erhalten, oder besser gesagt: sie hat sich nicht über die alten Grenzgebiete hinaus verbreitet, sondern ist gemeinsam mit deren Latein untergegangenen. Die romanischen Formen, d. h. fra. bourg / ita. borgo mitsamt ihren Varianten, lassen sich dagegen problemlos an die weniger spezifische, ältere Bedeutung ‚Grenzkastell mit canaba ‘ anschließen, die bereits dem früh belegten burg(i)us im Namen Asciburgium zugrunde gelegen hat; es muss lediglich eine leichte Bedeutungverschiebung in Richtung ‚nicht städtische Zivilsiedlung (eventuell bei einem Kastell)‘ vorausgesetzt werden. Die im FEW (15 / 2, 15-23) gesammelten Dialektbelege bedeuten durchweg so viel wie ‚Weiler, Markflecken, kleines Dorf mit Kirche‘ usw.; eine eventuelle Befestigung ist allenfalls sekundär. Dasselbe gilt für ita. borgo , wie die alten Belege des TLIO (online, s.v. borgo ) zeigen; sie lassen sich mehrheitlich unter den Bedeutungen ‚piccolo centro abitato‘ oder, im Sinne des lat. canaba , ‚centro abitato posto allʼesterno delle mura, soggetto alla giurisdizione cittadina‘ zusammenfassen. Auch den Siedlungskomplex ‚Grenzkastell mit canaba ‘, auf den der Namensbeleg bei Tacitus referiert, darf man sich keinesfalls in spezifisch ‚germanischer‘ Bautradition vorstellen. Denn der römische Historiograph insistiert auf der ihm fremden Tatsache, dass die Germanen weder Städte noch Steinbau kennen; als besonders auffällig erscheint ihm dabei die Tatsache, dass die Behausungen, die Tacitus als sedes im Gegensatz zu den römischen aedificia bezeichnet, jeweils für sich stehen und einander nicht berühren. Nullas Germanorum populis urbes habitari satis notum est, ne pati quidem inter se iunctas sedes, colunt discreti ac diversi, ut fons, ut campus, ut nemus placuit. vicos Iocant non in nostrum morem conexis et cohaerentibus aedificiis: suam quisque domum spatio circumdat, sive adversus casus ignis remedium sive inscitia aedificandi. ne caementorum quidem apud illos aut tegularum usus: materia ad omnia utuntur informi et citra speciem aut delectationem. quaedam loca diligentius inlinunt terra ita pura ac splendente, ut picturam ac liniamenta colorum imitetur. soient et subterraneos specus aperire eosque multo insuper fimo onerant, suffugium hiemis et receptaculum frugibus, quia rigorem frigorum eius modi loci molliunt, et si quando hostis advenit, aperta populatur, abdita autem et defossa aut ignorantur aut eo ipso fallunt, quod quaerenda sunt. (Tacitus 1914: 16) It is well known that none of the German tribes live in cities, that even individually they do not permit houses to touch each other: they live separated and scattered, according as spring-water, meadow, or grove appeals to each man: they lay out their Tacitus, der linke Niederrhein und die Etymologie von fra. bourg , ita. borgo usw. 47 villages not, after our fashion, with buildings contiguous and connected; everyone keeps a clear space round his house, whether it be a precaution against the chances of fire, or just ignorance of building. They have not even learned to use quarry-stone or tiles: the timber they use for all purposes is unshaped, and stops short of all ornament or attraction; certain parts are smeared carefully with a stucco bright and glittering enough to be a substitute for paint and frescoes. They are in the habit also of opening pits in the earth and piling dung in quantities on the roof, as a refuge from the winter or a root-house, because such places mitigate the rigour of frost, and if an enemy comes, he lays waste the open; but the hidden and buried houses are either missed outright or escape detection just because they require a search. (Tacitus 1914: 16) Bis heute ist das typische Kennzeichen eines z. B. in Italien als borgo bezeichneten älteren kleinen Siedlungskerns die direkte bauliche Verbindung aller Gebäude zu einem einzigen Komplex. Diese sachgeschichtliche Schwierigkeit bei der Herleitung des Typs aus dem Germanischen sieht auch Kluge (2012). Mit dem germ. Wort seien „- da die alten Germanen keine Städte hatten - zunächst römische oder sonstige antike Anlagen“ bezeichnet worden (online-Ausgabe, s.v. Burg ). Wenn man sich diese Sicht zu eigen macht, müsste man davon ausgehen, dass der von Tacitus erwähnte Name des römischen Kastells auf die Entlehnung der germanischen Bezeichnung eines spezifisch römischen Siedlungstyps nicht lange nach Errichtung dieser Siedlung zurückzuführen sei. Diese Annahme ist in höchstem Maße unwahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht überzeugend mit dem DELI einen „infl[usso] del germ. burgus ‚luogo fortificato‘“ ( DELI 1988: 156) oder mit dem FEW (15 / 2, 21) und TLF i (s.v. bourg ) eine germanisch-romanische Wortkreuzung anzunehmen. 48 Thomas Krefeld Vielmehr lässt sich die skizzierte Wort- und Entlehnungsgeschichte abschließend wie folgt schematisieren: Abbildung 2: Schematische Darstellung der Wortgeschichte von lat. burg(i)us Literatur Ammian = Ammianus Marcellinus (1950): History [ Rerum Gestarum ]. English Translation by John C. Rolfe. Cambridge (Mass.): Havard University Press (= Digital Loeb Classical Library). 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Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 51 Grammatikalisierung in der neueren französischen Sprachgeschichte: die Entstehung von Modalpartikeln Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker L’existence de particules modales dans la langue française ainsi que dans toutes les langues romanes fait l’objet de controverses parmi les chercheurs. Le but de cette contribution est de montrer qu’il n’existe pas de paradigme de particules modales comme en allemand mais qu’il existe certains lexèmes comme quand même , bien et donc qui ont connu un processus de grammaticalisation au cours des 19 e et 20 e siècles et qui sont clairement devenus des particules modales du point de vue fonctionnel / pragmatique et sémantique. Cette grammaticalisation s’est accompagnée de changements formels au niveau morphosyntaxique et phonologique. 1 Gibt es Modalpartikeln im Französischen? -- Stand der Forschung Modalpartikeln, häufig auch als Abtönungspartikel bezeichnet, sind ein nähesprachliches Phänomen (cf. Koch / Oesterreicher 1985). Umstritten aber ist, ob Modalpartikeln auch außerhalb der germanischen Sprachen beziehungsweise des Deutschen existieren. Insbesondere für die romanischen Sprachen verneinen dies diverse Autoren (cf. u.a. Waltereit 2006: 2). Als Argumente werden dabei in der Regel syntaktische Unterschiede, wie das (durchaus diskussionswürdige) Fehlen eines Mittelfelds / Mittelfeldäquivalents, also des prototypischen Orts der Okkurrenz deutscher Modalpartikeln (cf. Abraham 1988; Coniglio 2011; Thurmair 1989; Waltereit 2006), herangezogen. Dennoch kennt z. B. das Französische einige Lexeme, bei denen auch Kritiker Parallelen zu den deutschen Modalpartikeln nicht von der Hand weisen können: So stellt Waltereit (2006: 76-78) trotz seiner Positionierung pragmatische Ähnlichkeiten einiger französischer Lexeme mit deutschen Modalpartikeln fest und auch bei Weydt (1969) finden sich bereits ähnliche Aussagen. Aber erst neuere Arbeiten erkennen vollumfänglich an, dass es auch im Französischen Elemente gibt, die als Modalpartikeln ange- 52 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker sehen werden müssen. Einer jener Befürworter der jüngsten Zeit ist Schoonjans (2013; 2014; 2015), der im Rahmen seiner Forschung zu französischen Modalpartikeln mehrere potenzielle Kandidaten durch korpusbasierte Übersetzungen ausmachen konnte. Zwar basiert seine Argumentation in erster Linie auf der pragmatisch-funktionalen Äquivalenz der in den Übersetzungen verwendeten Lexeme, doch postuliert er in Schoonjans (2015) zudem die Existenz eines Mittelfelds auch im Französischen. Nichtsdestotrotz sind Schlussfolgerungen, die weitgehend auf Basis von Übersetzbarkeit entstehen, problematisch. Aufbauend auf Meisnitzer (2012) warben wir deshalb an anderer Stelle (cf. Gerards / Meisnitzer 2017) dafür, romanische Lexeme nach einem festen Kriterienkatalog dahingehend zu bewerten, ob sie als Modalpartikeln zu klassifizieren sind oder nicht. Jener Kriterienkatalog ist kontrastiv und wurde in Anlehnung an die formalen und funktionalen Definitionskriterien von deutschen Modalpartikeln entwickelt. Das Deutsche ist und bleibt die prototypische Modalpartikelsprache, da es - im Gegensatz zu den romanischen Sprachen - ein Modalpartikelparadigma besitzt. Um die Grammatikalisierung von Modalpartikeln im Französischen nachzuzeichnen, werden wir zunächst in Kapitel 2 die definitorischen Kriterien für Modalpartikeln auf den unterschiedlichen sprachlichen Ebenen darstellen, um dann in Kapitel 3 die Herausbildung der französischen Modalpartikeln quand même, donc und bien korpusbasiert zu beschreiben. Darauf folgen Ausführungen zu den Fragen, ob es sich bei der Entstehung um einen Grammatikalisierungs- oder einen Pragmatikalisierungsprozess handelt (Kapitel 4) und ob die semantische Relation zwischen dem Quelllexem und der Modalpartikel Homonymie oder Polysemie ist (Kapitel 5). Abschließend werden wir in einem Ausblick auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Modalpartikeln in einer deskriptiven Grammatik des Französischen eingehen. 2 Kriterien zur Definition von Modalpartikeln Um Grammatikalisierungsprozesse von Modalpartikeln betrachten zu können, muss vorab definiert werden, durch welche Eigenschaften sich Modalpartikeln von anderen Wortarten unterscheiden. Auch muss geklärt werden, ob und welche Modalpartikeln im Französischen überhaupt existieren, da hinsichtlich dieser Thematik in der Fachliteratur keine Einigkeit herrscht. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich noch vor einer diachronen Betrachtung den neueren Erkenntnissen der (gallo-)romanistischen Modalpartikelforschung zuzuwenden. Schoonjans (u. a. 2014; 2015) nennt eine verhältnismäßig große Zahl an französischen Lexemen, welche er als Modalpartikeln klassifiziert. Es handelt sich dabei um bonnement , donc , encore, quand même , seulement , simplement , tout de même Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 53 und un peu . Schoonjans (2014; 2015) begründet sein Postulat hauptsächlich mit der Existenz eines Mittelfelds im Französischen sowie der Übersetzbarkeit der deutschen Modalpartikeln mit den jeweiligen Lexemen. Insbesondere für quand même konstatierte auch bereits Waltereit (2004; 2006) eine Eigenschaft, die sich von der des Ursprungslexems, dem konzessiven Adverb, unterscheidet: Das Adverb quand même dient dazu, eine konzessive Kookkurrenz zu markieren (cf. Waltereit 2006: 76). Im Gegensatz dazu existieren Fälle, bei denen ein Widerspruch, wie dies eine solche Kookkurrenz darstellen würde, nicht möglich ist. Waltereit (2006) distanziert sich jedoch von der Aussage, dass es sich um Modalpartikeln handele. Seine Ansicht begründet er damit, dass es im Französischen kein Mittelfeld gebe, welches aber die notwendige syntaktische Position für diese Wortart sei. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern untersucht Meisnitzer (2012) einige Lexeme, die als Modalpartikeln bezeichnet werden könnten, unter Berücksichtigung der funktional-kognitiven Komponente der deutschen Modalpartikeln. In Anlehnung an Leiss (2009) übernimmt er dabei das Konzept des Fremdbewusstseinsabgleichs, im Sinne einer Assertion über die Annahme des Adressaten bezüglich des Inhalts der Proposition. Dies ähnelt in gewissem Maße der Annahme Coniglios (2006: 57-58), der die kognitive Funktion der Modalpartikeln in einer Kodierung der Meinung des Sprechers gegenüber dem Gesagten ausmacht. Jedoch trifft dies auch für Modaladverbien und epistemische Modalverben zu. (1) Hans: Max ist wahrscheinlich / vermutlich Mod. Adv. krank gewesen. [+ Sprechereinschätzung von p] (2) Hans: Max soll / dürfte EMV krank gewesen sein. [+ Sprechereinschätzung von p; + Quelle der Information] Wie die Beispiele (1) und (2) verdeutlichen, können nicht nur Modalpartikeln die Sprechereinschätzung/ -meinung beziehungsweise Haltung des Sprechers gegenüber dem Gesagten kodieren. Deshalb ermöglicht eine Unterscheidung anhand dieser von Coniglio (2006) beschriebenen pragmatischen Funktion nur bedingt eine Abgrenzung von Modalpartikeln. 1 Vergleicht man (1) und (2), fällt als Unterscheidungskriterium zwischen Modaladverbien und Modalverben die Berücksichtigung der Quelle der Information der Proposition auf, die bei Modaladverbien im Gegensatz zu Modalverben nicht berücksichtigt wird. In (2) gibt es Indizien, Evidenzen oder Aussagen, die dafür sprechen, dass Max krank war. In (1) hingegen liegt lediglich eine Einschätzung beziehungsweise Vermutung des 1 Coniglio (2006) selbst beschränkt sich bei seiner Beschreibung von Modalpartikeln allerdings nicht auf diese pragmatische Funktion, sondern geht primär auf die syntaktische Ebene ein. 54 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker Sprechers vor. Eine Abgrenzung der Modalpartikeln gegenüber Modaladverbien und Modalverben ist ebenfalls unter Berücksichtigung der sprachlichen Handlung, die dem Sprechakt zugrunde liegt, und dessen, was im Sprecher beim Formulieren seiner Proposition auf kognitiver Ebene geschieht, möglich. (3) Hans: Max ist doch / ja Modalpartikel krank gewesen. [+ Sprechereinschätzung von p; + Quelle der Information; + Fremdbewusstseinsabgleich] Zwar wird durch die Modalpartikel weiterhin sowohl die Meinung des Sprechers als auch die Quelle der Information kodiert, jedoch tätigt der Sprecher zusätzlich eine Einschätzung über den Kenntnisstand des Adressaten. Gleichzeitig wird es dem Gesprächspartner implizit ermöglicht, ja er wird geradezu dazu aufgefordert, auf die vom Sprecher getätigte Einschätzung Bezug zu nehmen (cf. Abraham 2011: 14). Dies bezeichnet Abraham (2009) als Fremdbewusstseinsabgleich : Der Hörer kann die Einschätzung des Sprechers über den Kenntnisstand des Adressaten ohne einen Gesichtsverlust ( face keeping strategy ) bestätigen oder korrigieren. In (3) gibt Hans dem Hörer zu verstehen, dass diesem der Inhalt der Proposition bekannt sein müsste, sei es, weil er ihm die Information bereits mitgeteilt hat oder sei es durch eine andere Quelle. Eine Auslassung der Modalpartikel würde zwar keine Veränderung der Proposition und deren Wahrheitswerts bewirken, jedoch hätte dies Auswirkungen auf illokutionärer Ebene. Eine Verneinung der Kenntnis des Inhalts der Proposition durch den Adressaten wäre nicht ohne einen Gesichtsverlust möglich. Ungeachtet der jeweils betrachteten Sprache reichen pragmatisch-kognitive Kriterien allein jedoch nicht aus, um Modalpartikeln zu identifizieren. Aufbauend auf Meisnitzer (2012) kombinieren Gerards / Meisnitzer (2017) aus diesem Grund den oben dargelegten pragmatisch-kognitiven Ansatz mit phonologischen und morphosyntaktischen Kriterien, welche aus zahlreichen anderen Studien vor allem in der deutschen Modalpartikelforschung exzerpiert wurden. Dies sind die folgenden Kriterien: • MP besitzen homophone Lexeme mit lexikalischer Semantik (Abraham 2011: 129). • MP haben metakommunikative, illokutionäre Kraft = Sprechaktmodifizierung; Skopus über gesamten Satz (cf. Coniglio 2011: 138; Waltereit 2006: 1; Wegener 1998: 43). • MP sind fakultativ, meist unbetont und nicht flektierbar (cf. Waltereit 2006: 1). • MP haben gegenüber ihrem Quelllexem an syntaktischer Mobilität verloren (= stärkere Grammatikalisierung); Dt.: im Satzmittelfeld (cf. Abraham 1988: 457). Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 55 • MP sind im Wesentlichen ein root -Phänomen (cf. Thurmair 1989: 44-45). • MP können nicht alleine auftreten, nicht alleine als Antwort auf eine Frage fungieren und sind nicht erfragbar (cf. Waltereit 2006: 1). • MP sind miteinander kombinierbar, unterliegen hierbei jedoch Restriktionen. Sie sind nicht koordinierbar (cf. Waltereit 2006: 1). • MP sind nicht modifizier- oder erweiterbar (cf. Waltereit 2006: 1). • MP sind nicht negierbar (cf. Waltereit 2006: 1). • MP haben keinen Konstituentenstatus und sind nicht satzwertig (cf. Schoonjans 2013: 135). • MP sind syntaktisch und prosodisch (und deshalb auch grafisch) in den Satz integriert (cf. Schoonjans 2013: 135). Eine derartige kontrastive Herangehensweise bezüglich der definitorischen Kriterien von Modalpartikeln bietet sich angesichts der offenen Frage nach deren Existenz in den romanischen Sprachen an. Von Übersetzungsvergleichen wurde in der vorliegenden Studie, ebenso wie in Vorgängerarbeiten (cf. Meisnitzer / Gerards 2016 und Gerards / Meisnitzer 2017), abgesehen. Wir sind der Überzeugung, dass Übersetzungen sowohl zu einer forcierten Verwendung von Lexemen zwecks (vermeintlich) detailgetreuer inhaltlicher Wiedergabe als auch zur Auslassung potenziell verfügbarer Modalpartikeln führen können. Mit anderen Worten: Übersetzungsvergleiche können sowohl zu einer fälschlichen Konstatierung der Nichtexistenz von Modalpartikeln als auch zu einer irrigen Klassifizierung von Lexemen als Modalpartikeln führen. Übersetzungen alleine geben zudem per se keinerlei Auskunft über die Idiomatizität der verwendeten sprachlichen Mittel. Unter Berücksichtigung des genannten Kriterienkatalogs plädiert Meisnitzer (2012: 345-347) dafür, die französischen Lexeme bien , quand même und donc als Modalpartikeln zu klassifizieren. Aus sprachhistorischer Sicht stellt sich nun allerdings die Frage, wie es zur Genese dieser Modalpartikeln kam. Sprachkontakt als flächendeckender Erklärungsansatz scheidet angesichts der punktuellen Existenz von Modalpartikeln in nahezu allen romanischen Sprachen, die zudem auf verschiedenste Quelllexeme zurückgehen, aus. Dies invalidiert nicht die Annahme, dass Sprachkontakt den Wandel einzelner Lexeme beziehungsweise spezifische Modalpartikel-Verwendungsweisen begünstigt haben kann, wie im Fall von ya und pues im Spanischen im Kontakt mit dem Baskischen (cf. Meisnitzer / Gerards 2016: 140, 144). Eine Schwierigkeit bei der Erforschung der Diachronie von Modalpartikeln stellt die Tatsache dar, dass diese charakteristisch für nähesprachliche Kontexte sind und selbige in diachronen Korpora unterrepräsentiert sind. Zudem verfügen wir erst in neuerer Zeit über die Möglichkeit der Speicherung von und 56 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker somit des Zugriffs auf gesprochene Sprache, die prozentual gesehen häufiger nähesprachlich konzipiert ist als schriftliche Textproduktionen. Bei der Grammatikalisierung von Modalpartikeln handelt es sich um Sprachwandelphänomene der neueren französischen Sprachgeschichte. Erste mögliche Belege finden sich im 19. Jahrhundert und erst im 20. Jahrhundert sind in den Korpora Okkurrenzen auffindbar, die gemäß der phonologischen, morphosyntaktischen, semantischen und pragmatisch-funktionalen Kriterien eindeutig als Modalpartikeln einzuordnen sind. Zudem handelt es sich dabei um eine gewissermaßen „marginale“ (oder besser „marginalisierte“) Erscheinung, denn die französische Sprache verfügt nicht über ein eigenes Modalpartikel paradigma . Dies erklärt auch, weshalb die Kategorie in der präskriptiv-normativen Grammatikschreibung keine Erwähnung findet. Im Rahmen einer deskriptiven Grammatikforschung darf die Existenz von Modalpartikeln im Französischen jedoch keinesfalls a priori ausgeschlossen werden, da eine Kategorisierung als Adverb ( bien , donc ) oder Konjunktion ( quand même ) aus funktionaler Sicht falsch wäre. 3 Herausbildung und diachrone Entwicklung der Modalpartikeln im Französischen In einer an Meisnitzer (2012) anschließenden empirischen Korpusstudie konnten Meisnitzer / Wocker (2017) zeigen, dass quand même , bien und donc die einzigen Lexeme sind, welche bereits die oben genannten definitorischen Kriterien von Modalpartikeln erfüllen. Weitere Lexeme befinden sich zum Teil in mitten des Grammatikalisierungsprozesses , können aber noch nicht als vollwertige Modalpartikeln bezeichnet werden. Wie bereits einleitend festgestellt, existiert bisher keine Forschung zur Herausbildung der Modalpartikeln im Französischen - ganz im Gegensatz zum Deutschen, wo diese bereits sehr gut erforscht wurden (cf. u.a. Wegener 1998; Autenrieth 2002). Wie bei der Ermittlung der Modalpartikeln in der Synchronie (cf. Meisnitzer / Wocker 2017) soll auch die vorliegende diachrone Untersuchung und Überprüfung der Modalpartikeln im Französischen kontrastiv zu den prototypischen Beispielen im Deutschen erfolgen. Um diesem Desiderat gerecht zu werden, wird in der vorliegenden Studie anhand des FRANTEXT -Korpus 2 der Verschiebungsprozess vom Ursprungslexem hin zur Modalpartikel beschrieben. Die Wahl des Korpus musste dabei mit einem erheblichen Kompromiss einhergehen, da kein Korpus existiert, welches gesprochene Sprache in ausreichendem Maße wiedergibt und 2 Es handelt sich hierbei um ein Korpus mit einem Umfang von 4700 Texten und fast 286 Millionen token . Durch die vorgenommene Einschränkung auf die Textgattung théatre reduzierte sich die Datenbasis auf 680 Texte mit insgesamt 14 Millionen token . Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 57 gleichzeitig eine diachrone Betrachtung bis zurück in das 18. Jahrhundert ermöglicht. Die Größe sowie die Binnendifferenzierung des FRANTEXT-Korpus in verschiedene Textgattung erlauben es jedoch, der gesprochenen Sprache in begrenztem Maße „auf die Spur zu kommen“. Bei der Auswertung wurde in diesem Sinne eine Beschränkung auf Texte des Genres théatre vorgenommen, da dieses einen überdurchschnittlich hohen Grad an fingierter Mündlichkeit (im Sinne von Goetsch 1985) aufweist: Theaterstücke bedienen sich häufig prototypisch nähesprachlicher Elemente, um ein hohes Maß an Authentizität zu erreichen. Dennoch bleibt das Dilemma bestehen, dass zur diachronen Analyse lediglich geschriebene Sprache zur Verfügung steht. Wegener (1998) fasst die Grammatikalisierung der deutschen Modalpartikeln in drei Hauptphasen zusammen: (1) Verlust an phonologischer Substanz, (2) Verlust an semantischer Substanz und (3) Verlust an syntaktischer Freiheit. Dieses Ergebnis spiegelt dabei sowohl typische Parameter von Grammatikalisierungsprozessen im Sinne von Lehmann (2002) als auch die definitorischen Kriterien der Modalpartikeln, die in diesem Aufsatz bereits aufgezeigt wurden, wider. Der Verlust der phonologischen Substanz führt dazu, dass das Lexem, welches als Quelllexem durchaus betont sein kann (cf. Adverbien), nach seinem Wandel zur Modalpartikel nicht mehr betonbar ist. Dies gilt sowohl für die Quelllexeme der Modalpartikeln im Deutschen als auch im Französischen. Im Französischen zeichnete sich - wohl auch durch die syntaktische Verschiebung ausgelöst - dieselbe Tendenz wie im Deutschen ab. Während „j’ai dormi quand même “ eindeutig ein Adverb beinhaltet, welches durch den französischen Phrasenakzent betont ist, zeichnet sich die Modalpartikel in „j’ai quand même dormi“ durch Unbetontheit aus. Ob eine Verringerung der Silbenzahl des Lexems wie im Deutschen konstatiert werden kann (cf. Wegener 1998: 39), kann in unserer Studie für das Französische nicht überprüft werden, da in den herangezogenen Korpora nur die schriftsprachliche Notation erfasst wird und die Reduktion der phonologischen Substanz gegebenenfalls noch keine Auswirkungen auf graphematischer Ebene hatte (anders als beim italienischen pur und ben ; cf. Meisnitzer 2012: 348-349). Der Verlust an semantischer Substanz (cf. Wegener 1998: 40), auch semantic bleaching genannt, ist hingegen auch nachträglich nachweisbar. Das Resultat dieses Verlustprozesses erlaubt die Weglassbarkeit der Modalpartikel und lässt die Verwendung in syntaktischen Kontexten zu, wo das Quelllexem undenkbar wäre, wie wir zeigen werden. So kann eine Modalpartikel im Gegensatz zum Adverb weggelassen werden, ohne dass der propositionale Wahrheitswert ver- 58 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker ändert werden würde. Eine solche Verschiebung muss im Lauf der Grammatikalisierung vollzogen werden, wobei fraglich ist, ob sich dies im Nachhinein anhand der Korpusbeispiele chronologisch korrekt einordnen lässt. Der Prozess des Verlustes der syntaktischen Mobilität (cf. Wegener 1998: 41) ist ebenso in der Diachronie beobachtbar. So ist eine variable Einsetzbarkeit der Ursprungslexeme hin zu einer festen Mittelfeldposition im Deutschen und zu einer festen syntaktischen Position im Französischen durch die Korpusbeispiele belegbar. Im Französischen fällt die vergleichsweise hohe Zahl an Okkurrenzen innerhalb der Verbalklammer auf, welche eine gewisse Ähnlichkeit zur syntaktischen Struktur des deutschen Mittelfelds aufweist. Zwar wird auch eine zunehmend stärkere Restriktion der Kombinationsmöglichkeiten im Fortlauf des Grammatikalisierungsprozesses beschrieben (cf. Wegener 1998: 41). Da es sich im Französischen um rezente Erscheinungen handelt und sich die Lexeme noch in ihrem Grammatikalisierungsprozess befinden, konnte jedoch kein Beleg für eine Kombination französischer Modalpartikeln nachgewiesen werden. Dies ist sicherlich auch durch die im Verhältnis zum Deutschen deutlich geringere Zahl an Modalpartikeln bedingt. Während im Deutschen Modalpartikeln existieren, die ähnliche beziehungsweise sich nicht gegenseitig ausschließende pragmatisch-semantische Merkmale aufweisen, sind die französischen (semantisch vollwertigen) Pendants zu heterogen und die Ziellexeme noch zu „schwach“ grammatikalisiert, als dass eine Kombination möglich wäre. Der Ansatz von Detges und Waltereit (2016) ist weitestgehend mit dem soeben beschriebenen Prozess deckungsgleich, wobei der Aspekt der zunehmenden pragmatischen Funktion noch stärker in den Fokus gerückt wird. Während die Ausgangslexeme die Proposition nur mit eingeschränktem Skopus beeinflussen, geht diese Fähigkeit verloren. Modalpartikeln haben Skopus über den gesamten Satz, da sie sich auf die Illokution auswirken (cf. Detges / Waltereit 2016). Diese Zunahme der illokutionären Kraft beschreibt bereits Abraham (1991). Sowohl Abraham (1991) als auch Detges und Waltereit (2016) definieren die Grammatikalisierung einer Modalpartikel als einen Prozess, bei dem das Lexem eine Veränderung von einem lexikalischen hin zu einem grammatikalischen beziehungsweise stärker grammatikalisierten Element erfährt (cf. Abraham 1991; Detges / Waltereit 2016: 635). Das Alter der deutschen Modalpartikeln scheint bisher nicht geklärt zu sein. Dagegen datiert Waltereit (2006: 89) für das Französische erste Tendenzen der Grammatikalisierung hin zum Lexem, welches als Modalpartikel zu bezeichnen ist, auf das Ende des 19. Jahrhunderts. 3 3 Dies entspricht auch der Beobachtung von Meisnitzer und Gerards (2016: 138) für das Spanische. Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 59 3.1 Die Entstehung der Modalpartikel quand même Waltereit (2006: 89) datiert die Grammatikalisierung von quand même zur Modalpartikel auf das Ende des 19. Jahrhunderts. Zuvor beschreibt er jedoch eine Ableitung des Adverbs quand même aus dem holophrastischen Gebrauch. In beiden Fällen wird durch quand même Konzessivität ausgedrückt. Eine erste Verschiebung dieser Verwendung kann anhand des Korpus erstmals im späten 19. Jahrhundert nachgewiesen werden. (4) Et le soir, en se déshabillant, il soupira : demain, je coucherai dans une cellule ; c’est quand même étonnant, lorsqu’on y songe ! ( HUYSMANS , Joris-Karl, En route , 1895, p. 283) Im Gegensatz zur Verwendung als Adverb und im holophrastischen Gebrauch hat quand même in (4) offensichtlich nicht mehr die Funktion, einen Gegensatz auszudrücken. Vielmehr dient quand même in dem Beispiel dazu, an die Erwartung des Hörers oder Lesers anzuknüpfen und dessen Haltung vorwegzunehmen beziehungsweise einzubeziehen. In diesem Beispiel wird die evozierte Verwunderung besonders betont, zumal der Kontext nur bedingt eine Verwunderung auslöst. Die Semantik des Quelllexems quand même (holophrastischer Gebrauch oder Adverb), welche mit trotzdem ins Deutsche übersetzt werden könnte, ist in dem Beispiel verblichen. Zeitgleich mit diesem Wandel scheint die syntaktische Positionierung direkt nach dem finiten Verb eingetreten zu sein. Dies entspricht dem oben beschriebenen Prozess des Verlustes der syntaktischen Variabilität. Im Korpus konnten zumindest keine Fälle nachgewiesen werden, bei denen entweder das semantic bleaching oder die veränderte Positionierung unabhängig voneinander eintraten. Auch der Skopus ist im Vergleich zu dem des Adverbs deutlich erweitert und erstreckt sich nun auf den gesamten Satz. Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts sind Belege wie der oben zitierte relativ selten zu finden. 4 Erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts scheinen die Okkurrenzen stark zuzunehmen, sodass auch weitere Fälle vorkommen, bei denen die Annahme gerechtfertigt scheint, dass es sich um eine Modalpartikel handele. Das verstärkte Auftreten ab diesem Zeitpunkt entspricht einer Routinisierung im Sinne von Detges und Waltereit (2016). (5) C’est quand même quelque chose ! ( DUPUY Aline, Journal d’une lycéenne sous l’Occupation , Toulouse, 1943-1945, p. 129) 4 Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass quand même auch als Adverb erst spät belegt ist: laut TLFi im Jahr 1839: „ quand même ‚cependant, néanmoins‘ (STENDHAL, La Chartreuse de Parme, Chroniques Italiennes, Lamiel, Romans et Nouvelles, éd. H. Martineau, t. 2, p. 407: Si je meurs, ce sera en t’adorant quand même…).” 60 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker Beispiel (5) belegt eine Verwendung von quand même , bei der derselbe Prozess wie in (4) zu beobachten ist. In diesem Beispiel nimmt der Sprecher auch einen Fremdbewusstseinsabgleich vor: Der Sprecher assertiert dem Hörer Verwunderung über den Inhalt der Proposition. Außerdem ist der Skopus erweitert und bezieht sich auf den gesamten Satz, was für ein (konzessives) Adverb untypisch ist. Formal sind ebenfalls alle Kriterien für eine Modalpartikel erfüllt. So ist beispielsweise quand même nach dem finiten Verb situiert, was dem deutschen Mittelfeld nicht unähnlich ist, und in dieser Position durch die französische Prosodie eindeutig unbetont. Durch den Verlust semantischer Merkmale des Lexems und die gleichzeitige Zunahme an pragmatischer Funktionalität kann somit bereits ab dem späten 19. Jahrhundert ein Wandel zur Redestrategie verzeichnet werden, welche durch Modalpartikeln versprachlicht wird. Schließt man nun die Prozesse ein, welche das Adverb selbst erfährt, wird deutlich, dass sowohl die Grammatikalisierung vom Adverb zur Modalpartikel als auch die vorherigen Prozesse stets stufenweise ablaufen. Es liegt somit kein gleichmäßig verlaufender Prozess vor, sondern ein Ablösungsprozess, bei dem das Erreichen einer nächsten Stufe längere Zeit dauert. Aus diesem Grund ist die folgende Einteilung auch nicht als feste Chronologie, sondern eher als sich abzeichnende Tendenz zu verstehen. Die zeitlichen Angaben richten sich nach den Phasen der Grammatikalisierung, wenn ein Phänomen gehäuft auftritt, was einen Hinweis auf eine Routinisierung liefert. bis zum Beginn des 19. Jh. quand même als Konjunktion und konzessives Adverb; hauptsächlich satzinitial. Übersetzung: obwohl, trotzdem ab Beginn des 19. Jh. quand même als konzessives Adverb; hauptsächlich satzfinal. Übersetzung: trotzdem, dennoch ab Ende des 19. Jh. quand même auch als Modalpartikel; nach dem finiten Verb. Übersetzung: doch, aber ab Mitte des 20. Jh. häufigere Verwendung von quand même als Modalpartikel mit Auswirkung auf illokutionärer Ebene; Prozess der Routinisierung Tab. 1: Skizzierung des Grammatikalisierungsprozesses von quand même vom Adverb zur Modalpartikel Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 61 3.2 Die Entstehung der Modalpartikel bien Die ersten Prozesse, bei denen ein Wandel vom Ursprungslexem bien ‘gut’ hin zur Modalpartikel zu verzeichnen ist, konnten anhand des Korpus deutlich früher nachgewiesen werden als bei quand même . Eine erste semantische Verschiebung von ‘gut’ zu ‘gern’ ist bereits im Mittelalter attestiert (6). Hier ist bien aber noch immer Adverb. Derartige Beispiele nehmen in der Folge an Frequenz zu und sind vor allem ab dem 17. Jh. (7) sehr häufig. Zusätzlich ist bien ab jener Zeit auch in Interrogativsätzen (8) belegt. Hier ist eine adverbiale Lesart ‘gern’ zwar nach wie vor möglich, aber eine Interpretation im Sinne eines Fremdbewusstseinsabgleichers ‘wohl’ erscheint uns ebenfalls möglich und wohl naheliegender als in (7). Besonders interrogative Beispiele wie (8) stellen nach unserem Dafürhalten also bridging -Kontexte dar, in denen bien alternativ nicht mehr als Adverb klassifiziert werden muss , sondern funktional auch als Modalpartikel klassifiziert werden kann . Aus formaler Sicht sei noch hinzugefügt, dass allen Okkurrenzen (6) - (8) gemein ist, dass bien nach dem finiten Verb steht: (6) […] quar Diex le nos rendra bien quant lui plaira […] (Villehardouins, La conquête de Constantinople (60 ,15), ca. 1202, apud : Michaud 1836: 20) (7) Et pour vous, qui êtes le seigneur, je suis persuadée que vous le voudrez bien , par la raison que je n’en relève pas moins de vous et que c’est une augmentation au nombre de vos paroisses. ( SÉVIGNÉ ( DE ) Mme, Correspondance , t. 3: 1680-1696, 1696, p. 97) (8) * CLARICE : Paresseux, qui tardez si longtemps à venir, Devinez la façon dont je veux vous punir. * PHILISTE : M'interdiriez-vous bien l'honneur de votre vue ? ( CORNEILLE Pierre, La Veuve (1682), p. 428) Wie bereits erwähnt, sollte im Fall von (8) die Satzart nicht unbeachtet gelassen werden. Möglicherweise ist diese es, die in derart frühen Belegen für eine Lesart im Sinne eines Fremdbewusstseinsabgleichs noch nötig ist, während ein Fremdbewusstseinsabgleich im Falle einer grammatikalisierten Modalpartikel keines besonderen Satztypus mehr bedarf. Trotz der genannten Einschränkung ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Lexem bien ab dem späten 17. Jahrhundert und frühen 18. Jahrhundert einen Wandel erfuhr, der sich durch einen Verlust der lexikalischen Semantik zugunsten einer verstärkten pragmatischen Funktion und einer gleichzeitig abgeschwächten syntaktischen Mobilität kennzeichnet. Dies entspricht einer Distanzierung vom Adverb durch Erhöhung der Grammatikalität, was typisch für den Beginn des Grammatikalisierungsprozesses von Modalpartikeln ist. 62 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker (9) C’est bien une femme ? C’est même une dame… jeune et jolie… la malheureuse ! ( SARDOU Victorien, Rabagas , 1872, p. 21) Der oben beschriebene Verlust der lexikalischen zugunsten einer stärker grammatischen Semantik tritt verstärkt zum Ende des 19. Jahrhunderts auf, wie das Beispiel (9) belegt. Hier ist die ursprüngliche (lexikalische) Semantik des Adverbs bien fast vollständig verblichen. Das Lexem kann beispielsweise nicht mehr mit ‚gut‘ übersetzt werden. In diesem Beispiel hat bien eine eindeutig verstärkte funktionale Wirkung, welche ein Adverb nicht haben kann. Auch die mittelfeldähnliche Position nach dem finiten Verb wird beibehalten. Die Einschränkung, es würde kein Fremdbewusstseinsabgleich ausgelöst, trifft in diesem Fall nicht mehr zu. Dies kann folgendermaßen paraphrasiert werden: Der Sprecher gibt in der Frage mit Aussagecharakter preis, dass der Kommunikationspartner die Information bereits kennt, und erbittet eine Stellungnahme. Eine durch Empathie ausgelöste Vorwegnahme - das Wissen über das Wissen des Kommunikationspartners - und der Einbezug dieses Wissens in den Gesprächskontext ist eine Besonderheit der Modalpartikeln, die diese von Adverbien unterscheidet (cf. Leiss 2009; Meisnitzer 2012). Besonders auffällig ist auch die Antwort des Kommunikationspartners auf die Frage. Dieser bestätigt den Wahrheitswert und sein Wissen. Eine solche Reaktion ist nur bei einem Fremdbewusstseinsabgleich, wie ihn Modalpartikeln auslösen, zu erwarten. Ein weiterer Faktor, der ein Indiz für einen stattfindenden Grammatikalisierungsprozess ist, ist der Einfluss des Lexems auf den modus dicendi auf illokutionärer Ebene ohne Veränderung der Proposition beziehungsweise deren Inhalt. Dieser wird wie auch bei allen deutschen Modalpartikeln nicht verändert (cf. Waltereit 2006). (10) Oui, c’est bien l’année de la mort de mon père; ce qui confirme ma mémoire, c’est une conversation de ma mère avec Miss Ashburton, sitôt après notre arrivée. ( GIDE André, La Porte étroite , 1909, p. 497) Die später belegte Okkurrenz in Beispiel (10) bestätigt die eben ausgeführte Annahme und belegt den Beginn einer Routinisierung von bien in der funktional neuen Verwendung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt zu dem oben zitierten Fragesatz der Einsatz der Modalpartikel bien in Aussagesätzen hinzu. In diesem Fall kann der Fremdbewusstseinsabgleich folgendermaßen interpretiert werden: Der Sprecher gibt sein Wissen und seine Position gegenüber dem Gesagten, wie auch die, die er dem Gegenüber zuordnet, an. Der Adressat hat im Anschluss die Möglichkeit, ein anderes Wissen oder eine andere Position zu vertreten, den Wahrheitswert also zu verändern, oder der Aussage und somit Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 63 dem Wahrheitswert zuzustimmen unter Wahrung seines Gesichtes. Diese Funktionsweise des Fremdbewusstseinsabgleichs, welche der Paraphrasierung des oben zitierten Fragesatzes ähnlich ist, entspricht sowohl im Deutschen als auch im Französischen (und auch in weiteren Sprachen) der Funktion einer Modalpartikel (cf. Thurmair 1989; Abraham 2011; Meisnitzer / Gerards 2016 u. a.). Eine Parallele zwischen dem Verlauf der Grammatikalisierung von bien und quand même ist anhand der bisher getroffenen Konstatierungen evident. Lediglich eine zeitliche Verschiebung beider Verläufe lässt sich erkennen. Die ersten Veränderungsprozesse von bien traten im Vergleich zu denen von quand même deutlich früher auf. Die eigentliche Grammatikalisierung, bei der das Lexem einen mehr oder weniger kompletten Verlust der lexikalischen Semantik und einen Wandel hin zur Modalpartikel erfuhr, wie sie auch heute vorzufinden ist, trat jedoch bei bien und quand même fast zeitgleich ein. Wie Meisnitzer (2016) zeigt, ist die mit der Modalisierung einhergehende Abtönung in Form einer Abschwächung der Proposition durch die Modifizierung des illokutionären Akts auch in der Grammatikalisierung von bien als Höflichkeitsmarker erkennbar. In einigen Okkurrenzen verändert bien die Illokution dahingehend, dass sie Höflichkeit ausdrückt, was wiederum eine Ableitung der versprachlichten Abtönung ist. Semantisch gesehen unterscheidet sich bien in dieser Funktion wiederum von quand même , was sich durch den noch sehr jungen Grammatikalisierungsprozess erklären lässt, in Folge dessen noch eine gewisse Affinität zu den jeweiligen bridging -Kontexten besteht. Gemeinsam haben beide Lexeme eine Abschwächung der Proposition als Ergebnis des ausgelösten Fremdbewusstseinsabgleichprozesses, der bei beiden Partikeln durch die Miteinbeziehung des Wissenstandes des Adressaten ausgelöst wird. Dieser weitere Schritt im komplexen Grammatikalisierungsprozess von bien wurde zunächst durch den Konditional getriggert und führte dazu, dass dessen Verwendung letztlich obsolet wurde und bien heute als Höflichkeitsmarker eingesetzt werden kann. (11) Tu prendrais un petit café? (12) Tu prendrais bien un café. (13) Tu prends bien un café. Der in den Beispielen (11) bis (13) skizzierte Pfad spiegelt den Fortlauf der Grammatikalisierung des semantischen Merkmals [+h öfLichkeit ] von bien wieder, wie er im FRANTEXT -Korpus nachgewiesen werden konnte. Während vor Mitte des 19. Jahrhunderts ausschließlich der Konditional zur Kodierung von Höflichkeit genutzt wurde, kann im Laufe der Jahre ein Ablösungsprozess durch die Modalpartikel bis hin zu deren alleiniger Verwendung konstatiert werden. 64 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker Es muss jedoch einschränkend gesagt werden, dass auch heute der Konditional noch zur Abtönung im Französischen genutzt wird (cf. Waltereit 2006). Diese Konsolidierung der grammatischen Semantik mit unterschiedlichen Funktionen, die jedoch immer noch stark im Schatten der Semantik des Ausgangslexems steht, zeigt, dass die Modalpartikeln im Französischen noch nicht vollständig grammatikalisiert und in die Sprache integriert zu sein scheinen. Dasselbe gilt für den Höflichkeitsmarker bien . Wäre der Grammatikalisierungsprozess vollständig abgeschlossen, würde möglicherweise aus sprachökonomischen Gründen eine der konkurrierenden Strategien der Abtönung früher oder später verloren gehen. 3.3 Die Entstehung der Modalpartikel donc Die Grammatikalisierung des dritten, eindeutig als Modalpartikel ausgemachten Lexems donc nahm ihren Verlauf im Vergleich zu den beiden erstgenannten Beispielen deutlich später. Erste Hinweise auf eine Grammatikalisierung lassen sich erst in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts nachweisen. (14) Laisse-moi donc finir. ( DELAVIGNE Casimir, Les Enfants d’Édouard , 1833, p. 131) Auffällig bei der Grammatikalisierung dieses Lexems ist die Verschiebung von donc , welches normalerweise vor dem finiten Verb steht und als Modalpartikel die mittelfeldähnliche Position zwischen finitem und infinitem Verb einnimmt. Während auf syntaktischer Ebene die Evidenzen sehr klar für eine Grammatikalisierung als Modalpartikel sprechen, sind diese auf semantischer Ebene bei weitem nicht so eindeutig. Aus semantischer Sicht ist es durchaus nicht selbstverständlich anzunehmen, dass es sich in den entsprechenden Belegen für donc nicht weiterhin um Verwendungen als Konjunktion handelt - das Ausgangslexem in diesem Grammatikalisierungsprozess. Wir haben es bei den Belegen meist mit bridging- Kontexten zu tun. Dass es sich in den entsprechenden Fällen jedoch nicht mehr eindeutig um eine Konjunktion handelt, bekräftigt eine Betrachtung der kommunikativen Interaktion in den entsprechenden Okkurrenzen, die zeigt, dass durchaus ein Fremdbewusstseinsabgleichprozess ausgelöst wird. Auch die Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes der Okkurrenzen lässt keine sichere Schlussfolgerung auf einen Grammatikalisierungsprozess zu, wobei der syntaktische Wandel, der typisch für den entsprechenden Prozess ist (cf. Wegener 1998; Detges / Waltereit 2016), zweifelsfrei ersichtlich ist. Die Veränderung der Illokution, wie sie bei bien besonders eindeutig und anschaulich ist, kann für donc zwar belegt werden, jedoch ist sie in ihrer Eindeutig- Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 65 keit nicht vergleichbar - zumindest nicht bei den gefundenen Korpusbelegen. Eine Validierung durch eine Erweiterung der Korpusrecherche und eine Durchführung möglicher Tests zur Perzeption und zum Verständnis mit L1-Sprechern wären daher in diesem Fall erforderlich. Die Veränderung der Illokution durch donc , das lediglich in Aufforderungssätzen nachgewiesen werden konnte, wie bereits Meisnitzer (2012: 347) konstatiert, schwächt in Kombination mit entsprechender Intonation die Proposition der Aufforderung ab, da dem Adressaten die Möglichkeit gegeben wird, das gemeinsame Wissen zu verhandeln. Die syntaktische Positionierung, wie sie für Modalpartikeln typisch ist, konnte in Aufforderungssätzen erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden. (15) Reconnais-moi donc ! ( CLAUDEL Paul, La Jeune fille Violaine [2 e version], 1901, p. 642). Eine Funktion von donc als Adverb zur Bekräftigung des Gesagten kann zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden, ist jedoch wegen der funktionalen und pragmatischen Ähnlichkeit mit den Modalpartikeln, wie sie im heutigen Französisch vorkommen, unwahrscheinlich. Eine weitere Zunahme der Okkurrenzen von donc als Modalpartikel lässt sich - wie auch bei den anderen zuvor besprochenen Modalpartikelkandidaten - im Laufe des 20. Jahrhunderts beobachten. Anhand der Skizzierung der Grammatikalisierung der Modalpartikeln im Französischen wurde ersichtlich, dass die jeweiligen Prozesse analog zu denen der deutschen Pendants verlaufen und den Beobachtungen zu den Etappen des entsprechenden Prozesses führender Forscher auf dem Gebiet der Modalitätsforschung entsprechen (cf. z.B. Wegener 1998; Detges / Waltereit 2016). So konnte bei allen Lexemen auf dem Weg vom Quelllexem hin zur Modalpartikel eindeutig ein Verlust der syntaktischen Mobilität und der lexikalischen Semantik nachgewiesen werden, auch wenn dieser unterschiedlich weit fortgeschritten und z. B. im Fall von donc bei einigen Okkurrenzen bei weitem noch nicht so eindeutig wie bei bien und quand même ist und daher noch stärker von der Intonation abhängt. Es konnten hingegen keine Fälle nachgewiesen werden, bei denen der Verlust der semantischen Substanz vor einer syntaktischen Veränderung auftrat, vielmehr scheinen die beiden Schritte Hand in Hand zu gehen und zu korrelieren. Da auch heute jede Modalpartikel noch ein volllexikalisches Pendant aufweist und Okkurrenzen in bridging -Kontexten immer noch nachweisbar sind, kann gefolgert werden, dass die jeweiligen Grammatikalisierungsprozesse noch nicht vollständig abgeschlossen, aber unterschiedlich weit fortgeschritten sind. Es handelt sich somit auch in der Gegenwart noch um on-going Grammatikalisierungsprozesse. 66 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker Diese Einsicht legt es nahe, eine Prototypizitätsskala zu erstellen, welche die verschiedenen Grade der Grammatikalisierung von Modalpartikeln erfasst. Hierbei könnten auch weitere potenzielle Kandidaten, für die es jedoch bisher keine eindeutigen Belege gibt, sondern vielmehr Beispiele von Verwendungen in möglichen bridging -Kontexten attestiert sind, integriert werden. Wünschenswert wäre dabei auch eine Erweiterung der Daten unter Integration synchroner sprachlicher Beispiele aus der Nähesprache. Dies hätte den Mehrwert, dass eine genauere Erforschung der Grammatikalisierung von Modalpartikeln möglich würde, da eine Rekonstruktion dieser von bereits (mehr oder weniger) vollständig grammatikalisierten Modalpartikeln, wie bereits problematisiert wurde, durchaus Grenzen aufweist und stark interpretationsabhängig ist. Eine Datierung / Periodisierung der Entwicklungsetappen kann aufgrund des konservativen Charakters der geschriebenen Sprache nur tentativ vorgenommen werden unter Angabe von Tendenzen und mit der Gewissheit, dass die Verwendungen in der gesprochenen Sprache bereits wesentlich früher routinisiert waren beziehungsweise stärkere Routine aufwiesen. 3.4 Die französischen Modalpartikeln heutzutage Abschließend ist festzuhalten, dass eine vorausgehende Korpusstudie zur Synchronie der französischen Modalpartikeln (cf. Meisnitzer / Wocker 2017) zwar nicht überwältigend viele Belege hervorbrachte, jedoch eindeutig zu viele, um diese zu ignorieren. So ergibt eine Auswertung des Rhapsodie-Korpus für quand même folgendes Ergebnis: quand même Gesamtzahl als Adverb in bridging-Kontexten als Modalpartikel Vorkommen (absolut) 41 24 9 8 Vorkommen (in Prozent) 58,5 % 22,0 % 19,5 % Tab. 2: Quantitative Verteilung der Okkurrenzen von quand même im Rhapsodie-Korpus (mit 34.000 Wörtern) als Adverb, Modalpartikel und in bridging -Kontexten (Meisnitzer / Wocker 2017: 249) Betrachtet man exemplarisch die Zahl der Okkurrenzen für quand même , so besteht kein Zweifel daran, dass eine deskriptive Grammatik durchaus sensibel für diese Fälle von marginaler Mikrovariation sein muss, da sie profunde Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 67 Auswirkungen auf den Sprachgebrauch hat und man mit den traditionellen Kategorien der präskriptiven Grammatik keine adäquate Beschreibung der Verwendung erreichen kann. Angesichts der Konstatierung, dass es Modalpartikeln im Französischen gibt - wenn auch nur vereinzelt - und der Einsicht, dass diese in ihrer Zahl der Okkurrenzen nicht vernachlässigt werden können, ist es im Folgenden das Ziel, deren Herausbildungsprozess zu beschreiben. 4 Die Entstehung von Modalpartikeln: ein Fall von Grammatikalisierung oder Pragmatikalisierung? In der klassischen Forschungsliteratur angelsächsischer Prägung (cf. u.a. Wegener 1998; Waltereit 2004, 2006) wird ohne weitere Begründung für die Genese vom Ausgangslexem hin zur Modalpartikel von einem Grammatikalisierungsprozess gesprochen. In neueren Studien besonders in der Romanistik wird jedoch stärker der Begriff der Pragmatikalisierung geprägt, wenn es um die Entwicklungsprozesse von Diskursmarkern und Gesprächspartikeln beziehungsweise Modalpartikeln geht, sofern diese differenziert betrachtet werden. Pragmatikalisierung ist der Prozess, innerhalb dessen eine sprachliche Einheit in einem entsprechenden Kontext ihren semantischen Gehalt und ihre sprachliche Funktion zugunsten einer rein diskursorganisierenden Bedeutung und Funktion verliert (cf. Frank-Job 2009: 300). Gemäß der angeführten Definition von Pragmatikalisierung stellt sich die Frage, ob die Entstehung der Modalpartikeln durch routinisierte Verwendungen nicht eher einem Pragmatikalisierungsprozess zuzuschreiben sind als einem Grammatikalisierungsprozess im Lehmannʼschen Sinne (cf. Lehmann 2002). Wie bereits festgestellt, verlieren die Ursprungsbeziehungsweise Quelllexeme in ihrer Entwicklung zur Modalpartikel an lexikalischer Semantik zugunsten einer verstärkten illokutionären und pragmatischen Kraft (cf. Wegener 1998: 43). Dies entspricht ebenfalls der oben zitierten Definition und tritt sowohl bei deutschen als auch bei französischen Modalpartikeln auf. Ein weiteres Kriterium, welches die Fragestellung berechtigt, ist die Zunahme des Skopus der Modalpartikeln über den gesamten Satz (cf. Waltereit 2006; Coniglio 2011: 138). Dies widerspricht der Auffassung Lehmanns (2002: 128), dass grammatikalisierte Lexeme eine Einschränkung des Skopus durch Kondensierung erfahren. Auf den ersten Blick scheinen die Argumente für eine Pragmatikalisierung zu sprechen. Zu bedenken ist allerdings, dass Modalpartikeln sich zwar auf den illokutionären Akt auswirken und somit ihre Wirkung nicht primär auf der Ebene der konkreten sprachlich-kodierten Proposition haben (deren Wahrheits- 68 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker bedingung unverändert bleibt), die Wirkungsebene der Diskursmarker jedoch gerade über der Grenze des Satzes liegt, sodass eine terminologische Zusammenfassung der (sehr unterschiedlichen) Entstehungsprozesse beider Wortarten als Pragmatikalisierung in Abgrenzung zur Grammatikalisierung keinerlei Vorteile bringt (vgl. Detges/ Waltereit 2016; Diewald 2012). Dies ist ein Grund, weshalb wir auch für einen Erhalt des Terminus der Grammatikalisierung und gegen die Prägung des Begriffs Pragmatikalisierung plädieren. Außerdem ist Detges und Waltereit (2016) zuzustimmen, dass bei der Genese von Modalpartikeln nicht von Pragmatikalisierung gesprochen werden kann, da Faktoren wie z. B. die Restriktion der Modalpartikel auf einen bestimmten syntaktischen Kontext, Verlust an phonologischer Substanz und Abbau lexikalischer Semantik entscheidend sind und diese eher für einen Grammatikalisierungsprozess sprechen. Zwar wurde auch in diesem Aufsatz bei einer Häufung der Okkurrenzen von einer Routinisierung gesprochen, allerdings ist dies nicht per se ein Indiz für eine Pragmatikalisierung. Auch grammatische Elemente müssen eine Phase der Routinisierung durchlaufen, um von der Ebene der parole auf die Ebene des Systems angehoben zu werden und einen Ausbau im Sinn einer Erweiterung auf unterschiedliche Diskurstradition zu erfahren (cf. Detges / Waltereit 2016: 253-254). Ein starkes Argument gegen die Klassifikation als Pragmatikalisierung im Fall der Entstehung der Modalpartikeln bildet jedoch die Einsicht, dass diese keine diskursorganisierende oder strukturierende Funktion haben, sondern ihre Wirkung auf der Ebene der Illokution verankert ist. Um die Rolle der kommunikativen Interaktion zu betonen, könnte man den Prozess, der zur Grammatikalisierung führt, als Pragmatikalisierung beschreiben, da bereits grammatische Lexeme stärker funktional auf die Regelung der kommunikativen Interaktion ausgerichtet werden. Das Ergebnis wäre jedoch in jedem Fall eine Grammatikalisierung im Sinne von Lehmann (2002). Außerdem sind Sprachwandelprozesse immer das Ergebnis kommunikativer Strategien, die routinisiert werden. Die Entscheidung für den Begriff Grammatikalisierung im Lehmannʼschen Sinne und gegen den der Pragmatikalisierung im Falle der Modalpartikeln ist folglich naheliegend und geht konform mit der Auffassung von Diewald (2012), welche die Herausbildung von Modalpartikeln aus ihren homonymen Lexemen als Grammatikalisierung klassifiziert. Gemäß der Auffassung von Lehmann (2002) sind Modalpartikeln das Ergebnis eines Wandelprozesses bei dem Lexeme auf einer Skala stärker grammatikalisiert werden können. Es gibt hierbei eine klare Entwicklungslinie. Die entsprechenden Lexeme verlieren sukzessive lexikalisch-semantische Merkmale und erhöhen dafür ihre funktionalen (grammatisch-pragmatischen) Merkmale gegenüber dem Quelllexem. Neuere französische Sprachgeschichte: die Entstehung der Modalpartikeln 69 5 Modalpartikeln und ihre volllexikalischen Pendants: ein Fall von Homonymie oder Polysemie? Nach Abraham (2011: 129) ist für Modalpartikeln die Existenz homonymer Lexeme kennzeichnend, die eine andere Semantik aufweisen, jedoch das Quelllexem der daraus grammatikalisierten Modalpartikel darstellen. Diese gemeinsame Quelle stellt jedoch terminologisch ein Problem dar, wie sich im Folgenden zeigen wird. Wie bereits dargestellt, gibt es Lexeme, die sich noch in der Phase der Grammatikalisierung befinden und daher weder eindeutig von ihrem Ursprungslexem unterschieden noch eindeutig als Modalpartikeln eingestuft werden können. Bei den drei Lexemen, welche als französische Modalpartikeln klassifiziert wurden, ist diese Phase, in welcher sie in bridging- Kontexten auftraten, bereits weitestgehend zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgeschlossen. Da die Modalpartikel und das homonyme Lexem im Grammatikalisierungsprozess dem Quell- und dem Ziellexem entsprechen und somit eine gemeinsame Wurzel beziehungsweise ein Etymon aufweisen, ist es angebrachter, von polysemen Lexemen und einem Fall von Polysemie zu sprechen (cf. Autenrieth 2002: 2; Meibauer 1994: 5-6; Schulz 2008: 286). Hierfür spricht ebenfalls die Tatsache, dass kontextuelle Restriktionen bei der Verwendung durchaus noch „Reste“ beziehungsweise Spuren der Semantik des Quelllexems durchscheinen lassen und diese auch meistens noch im Bewusstsein der Sprecher mitschwingen. Es handelt sich somit diachron gesehen um einen Fall von Polysemie, synchron aus funktionaler Sicht hingegen um Homonymie, da wir Funktionswörter mit unterschiedlichen Funktionen haben, die formal identisch sind (gleich lauten, gleich geschrieben werden, jedoch unterschiedliche Funktionen haben). Man könnte zusammenfassen, dass es sich bei vollständig grammatikalisierten Modalpartikeln und Quelllexemen um synchrone Homonyme handelt, wenn die Semantik des Ausgangslexems nicht mehr mitschwingt. In bridging -Kontexten und frühen Grammatikalisierungsstadien haben wir es hingegen mit polysemen Lexemen zu tun. 6 Fazit: Einsichten aus der deskriptiven Grammatikforschung und die Notwendigkeit, die neuere Sprachgeschichte zu überdenken Auch wenn die Modalpartikeln im Französischen kein eigenes Paradigma bilden, so ist ihr Ausblenden aus Sicht einer deskriptiven Grammatik unzulässig. Zu häufig sind dafür Okkurrenzen, wie sie Tabelle 2 für quand même belegt. Die Sprachgeschichte darf sich nicht mit der Beschreibung von radikalen Umbrüchen innerhalb des Sprachsystems begnügen, sondern muss besonders in 70 Benjamin Meisnitzer / Bénédict Wocker der neueren Zeit auch subtile Fälle von Variation, die letztlich Wandel auslösen, berücksichtigen. Für das Französische konnten wir in unserer korpusbasierten Studie die Entstehung der Modalpartikeln quand même , bien und donc skizzieren, deren Status als Modalpartikeln in einer weiteren Studie herausgearbeitet wurde (cf. Meisnitzer / Wocker 2017). Als Forschungsdesiderat wurde bereits die Entwicklung einer einzelsprachlichen Prototypizitätsskala für Modalpartikeln und potenzielle Kandidaten, die bereits in bridging -Kontexten nachgewiesen werden können, formuliert. Hierbei müsste man quantitativ vorgehen und weitere Korpora und Daten der gesprochenen Sprache einbeziehen. Auch könnte bei einer entsprechenden Studie der Aspekt des Verlustes der phonologischen Substanz stärker berücksichtigt und anhand der Reaktionen der Adressaten der vorgenommene Fremdbewusstseinsabgleich besser herausgearbeitet werden. Anders als bei einer diachronen Studie mit historischen Korpora wie dem FRANTEXT wäre man dadurch nicht auf medial fixierte Schriftsprache angewiesen, was die Ergebnisse unweigerlich verzerrt und den Nachteil hat, dass Wandelprozesse erst zeitlich verschoben überhaupt attestiert werden und die Okkurrenzen daher viel punktueller sind als im realen zeitgenössischen gesprochenen Sprachgebrauch. Eine Aufnahme in die Schriftsprache findet erst statt, wenn das sprachliche Mittel in seiner Akzeptanz etabliert ist und eine Routinisierung durchlaufen hat. Dabei ist für den besonderen Fall der Modalpartikeln festzuhalten, dass diese selbst bei Routinisierung in der geschriebenen Sprache kaum gebraucht werden. Eine genaue Aussage über den funktionalen Wandel und somit die genaue Datierung kann daher auch im Rahmen einer diachronen Studie nicht geleistet werden. Wie der Fall der Modalpartikeln belegt, zwingt uns die deskriptive Grammatik, besonders in den Kapiteln der neueren Sprachgeschichte auch marginale Sprachwandelprozesse zu berücksichtigen. Diese stellen zwar im Hinblick auf das gesamte Sprachsystem lediglich Fälle von Mikrovariation dar, sie dürfen jedoch für eine adäquate Beschreibung der sprachlichen Mittel nicht ausgeblendet werden - anders als dies in den traditionellen präskriptiv-normativen Grammatiken der Fall ist. Es ist daher wichtig, die Kategorien der traditionellen Grammatik zu überdenken. Literatur Abraham, Werner (1988): „Vorbemerkungen zur Modalpartikelsyntax im Deutschen“, in: Linguistische Berichte 118, 443-465. Abraham, Werner (2009): „Die Urmasse von Modalität und ihre Ausgliederung. Modalität anhand von Modalverben, Modalpartikeln und Modus. 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Si un élément autre que le sujet („X“) se trouvait en position initiale, dans la plupart des cas il y avait omission du sujet pronominal: X-V-Ø. On avait donc (1) anc. fr. Il vint mais (2) anc. fr. Lors vint Ø a son oncle. Dans notre étude, nous examinerons l’expression et la non-expression du sujet pronominal en ancien français dans les plus anciens textes transmis. L’excellente étude de Franzén sera un point de référence important. Tout porte à croire que l’existence du pronom sujet ainsi que la règle ou la tendance à sa non-expression sont dues à l’interférence de l’ancien francique occidental à l’époque du proto-français. 1 Situierung des Problems Im Folgenden soll die Frage nach der Entstehung des Subjektpronomens im Altfranzösischen noch einmal aufgenommen werden, die kontrovers diskutiert wird. 1 Nach allgemeiner Ansicht hat sich die Setzung des Subjektpronomens vom Altfranzösischen zum Neufranzösischen in einem Prozess zunehmender Grammatikalisierung entwickelt. Da nach der communis opinio das Subjektpronomen im Altfranzösischen noch nicht obligatorisch war, war man an einer 1 Cf. den ausgezeichneten kritischen Forschungsüberblick bei Zimmermann (2014). 76 Barbara Wehr Interpretation der Setzung des Subjektpronomens immer mehr interessiert 2 als an dessen Nicht-Setzung, die sozusagen das „Erwartbare“ war. 3 Man könnte aber auch die Auffassung der „Nicht-Obligatorität“ des Subjektpronomens im Altfranzösischen präzisieren und die Meinung vertreten, dass das Subjektpronomen unter bestimmten syntaktischen Bedingungen regelmäßig gesetzt wurde und unter bestimmten anderen syntaktischen Bedingungen regelmäßig nicht gesetzt wurde. Dann wären Setzung und Nicht-Setzung nicht „beliebig“, sondern folgten klaren Regeln. Erst mit dem dem Wegfall dieser Regeln würde die Grammatikalisierung der Verwendung des Subjektpronomens dann ihren Lauf nehmen können. Bevor wir uns genauer mit dieser Hypothese auseinandersetzen und anhand einiger der ältesten überlieferten Texte (9.-12. Jh.) überprüfen, müssen wir uns die Regeln der Setzung des Subjektpronomens im Altfranzösischen noch einmal vergegenwärtigen. 2 Zur Setzung bzw. Nicht-Setzung des Subjektpronomens im Altfranzösischen Nach einem satz-einleitenden Nicht-Subjekt, im Folgenden „X“ genannt, 4 steht das nominale Subjekt regelmäßig in Inversion (cf. Foulet 1968 [1930]: § 450). Es heisst also (1) Li rois dist: … aber: (2) Lors dist li rois: … 2 Cf. etwa Herman (1990 [1954]). 3 Cf. Moignet (1965: 95): „Précedemment impliquée dans le verbe, et le restant d’ailleurs encore quelque peu, ce qui suffit à justifier les cas d’absence du pronom , cette forme [= das Subjektpronomen] fait désormais la matière d’un mot de langue séparé, distinct de lui, mais contigu et satellite, dont la présence est de plus en plus nécessaire“ (Hervorhebung von mir). 4 „X“ kann u. a. eine nominale Konstituente, ein Adverb (inklusive si ), ein Prädikatsnomen, Infinitiv oder ein Partizip Perfekt sein. Vennemanns (1974) vielzitierter Ansicht, das Frz. habe sich typologisch von TVX (Afrz.) zu SVX (Nfrz.) gewandelt (cf. etwa Fleischman 1990 / 91: 277 und Marchello-Nizia 1999: 49), wobei „T“ als Topic zu verstehen ist, kann ich mich nicht anschließen. Das initiale Element „X“ kann im Afrz. auf der pragmatischen Ebene entweder Topic oder Focus sein oder auch keine dieser beiden Funktionen besitzen. Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 77 Das ist die berühmte „V2“-Regel des Altfranzösischen (cf. etwa Marchello-Nizia 1999: 41). 5 Ist das Subjekt hingegen pronominal, wird es meist nicht gesetzt, wenn es in Inversion nach „X“ stünde. Es heisst also (3) Il dist: … aber: (4) Lors dist Ø: … Die Nicht-Setzung des Subjektpronomens, stünde es in Inversion, wurde auf klare Weise von Foulet (1968 [1930]) und Franzén (1939) beschrieben. Foulet nennt dieses Merkmal zu Recht „un des faits les plus curieux de la syntaxe médiévale“: [L]’inversion du sujet est souvent masquée par une habitude qui constitue un des faits les plus curieux de la syntaxe médiévale […]: si le sujet est un pronom personnel, il sera très souvent sous-entendu. C’est là un point fondamental de la syntaxe du vieux français: l’inversion du sujet entraîne facilement dans le cas du pronom personnel l’omission du sujet . (Foulet 1968 [1930]: § 457; Hervorhebung von ihm) Franzén beschreibt die Nicht-Setzung des Subjektpronomens sowohl in Hauptals auch in Nebensätzen. Zur Nicht-Setzung in Hauptsätzen bemerkt er: [Le sujet n’est pas exprimé quand] [l]e verbe est précédé d’un membre de phrase accentué, ce qui entraîne le plus souvent l’omission du pronom sujet. (Franzén 1939: 24) Dasselbe gilt auch für Nebensätze: [Q]uand le verbe de la subordonnée était précédé d’un membre de phrase à accent propre, le pronom sujet était à l’ordinaire omis. (Franzén 1939: 27) Allerdings ist die Position des nicht-gesetzten Subjektpronomens im Haupt- und Nebensatz nicht identisch: während sie sich im Hauptsatz nach dem Prädikat befindet (cf. Beisp. (4)), ist sie im Nebensatz vor dem betonten Element anzusetzen: (5) Quant Ø infans fud (Leodegarlied V. 13) 6 Cf. Foulet (1968 [1930]: § 466) und das folgende Beispiel 5 Das Verb steht allerdings nicht immer an zweiter Stelle; cf. Marchello-Nizia (1995: 58): „[…] l’on rencontre un nombre réduit, mais non négligeable, d’énoncés en verbe en troisième position, ou de verbes en première position au XIIe siècle.“ Cf. auch die kritische Diskussion bei Zimmermann (2014). 6 Mit diesem Konstruktionstypus hat sich Dufter (2008, 2010) beschäftigt. 78 Barbara Wehr (6) Qu’ elle Deo raneiet (Eulaliasequenz V. 6) wo das Subjektpronomen ausnahmsweise gesetzt wird. 7 In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig festzuhalten, dass die Nicht- Setzung des pronominalen Subjekts nicht etwa von seiner Referenzidentität mit einem unmittelbar zuvor genannten Subjekt abhängt; cf. Franzén zu Haupt- und Nebensätzen: „[I]l n’est pas nécessaire que le sujet sous-entendu soit identique à celui de la proposition précédente“ (1939: 26) 8 und „Cette règle était observée, que le sujet de la subordonnée fût identique, ou non, à celui de la principale“ (Franzén 1939: 27, Anm. 5). Die Nicht-Setzung des Subjektpronomens ist also syntaktisch bedingt. Dasselbe gilt auch für seine Setzung: „The use of the unstressed subject pronoun in OF r depends mainly on the structure of the clause“ (Price 1979: § 11.5.2). Sie hat, den Bemerkungen von Foulet, Franzén und Price zufolge, nichts mit einem etwaigen „Subjektwechsel“, „Topicwechsel“ 9 oder einer besonderen Hervorhebung des Subjektreferenten 10 zu tun, sondern stellt den „Normalfall“ dar. Wenn diese Auffassung richtig ist, müssen wir also nicht die Setzung, sondern im Gegenteil die Nicht-Setzung des Subjektpronomens erklären. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die unterschiedliche Frequenz der Setzung des Subjektpronomens in Haupt- und Nebensätzen. Da Hauptsätze im Altfranzösischen sehr häufig durch ein Element „X“ eingeleitet werden, das die Inversion auslöst, kommen Subjektpronomina in Hauptsätzen viel seltener als in Nebensätzen vor, wo die einleitende Konjunktion oder das Relativpronomen 11 nicht als „X“ zählen (cf. Foulet (1968 [1930]: § 459). Das Subjektpronomen steht folglich ganz regulär nach der Konjunktion oder dem Relativpronomen (sofern nicht ein betontes Element dem Verb vorausgeht): (7) la nef […] ou il deveit entrer (Alexiusleben V. 77) 7 Weitere Fälle dieser Art werden bei Kattinger (1971: 130, 172-173) zitiert. 8 Cf. auch Buridant (2000: § 344). 9 Cf. etwa Fleischmans (1990 / 91) Interpretation des Subjektpronomens als Markierung von „topic discontinuity“ oder „switch reference“. Auch Buridant (2000: § 344) spricht von der Funktion „[d’]introduire un nouveau sujet“ und nennt das Subjektpronomen einen „marqueur de discontinuité thématique“. Zu einer Kritik an Fleischman cf. Wehr (in Vorbereitung). 10 Die Hervorhebung eines Subjektpronomens (aus Gründen von Kontrast, "exhaustive listing“ oder weil emphatischer Focus vorliegt) gibt es natürlich auch; sie kann u. a. durch prosodische Fokussierung in situ erfolgen, wobei die Prosodie aus dem Kontext zu rekonstruieren ist (cf. einige Beispiele bei Wehr 2005: 362, 2012: 296 und Buridant 2000: § 345, S. 431). Das ist aber selten und im vorliegenden Kontext nicht von Interesse. 11 In der Funktion eines Nicht-Subjekts im Relativsatz, da bei qui (Subjekt) natürlich nicht mit der Anwesenheit eines Subjektpronomens zu rechnen ist. Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 79 Franzén (1939: 29) fasst diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen: Quand le sujet n’était pas un substantif, la principale se construisait, dans l’immense majorité des cas, complément + verbe , tandis que, dans la subordonnée, la construction conjonction + pronom sujet + verbe (+ complément ) prédominait dès l’époque de l’ Alexis . Daraus ergibt sich eine offensichtliche „Asymmetrie“ zwischen Haupt- und Nebensätzen, 12 ohne dass dafür etwaige pragmatische Gründe geltend gemacht werden können. Im Folgenden sollen im Licht dieser Erkenntnisse die ältesten Sprachdenkmäler des Altfranzösischen einer genauen Analyse in Bezug auf die Setzung / Nicht- Setzung des Subjektpronomens unterzogen werden, von den Straßburger Eiden (9. Jh.) bis zu den Quatre Livre des Reis (12. Jh.). 13 Dass die meisten der bis dahin überlieferten Texte metrisch gebundene Texte sind, ist für eine syntaktische Untersuchung ein Nachteil, der sich aber nicht umgehen lässt. 3 Empirische Untersuchung 3.1 Vorbemerkungen Untersucht werden deklarative Hauptsätze (keine Fragesätze, Imperativsätze und Optativsätze) und Nebensätze. Nicht berücksichtigt werden weiter impersonale Ausdrücke, da die Setzung des expletiven il oder „ il neutre“ (dt. „es“) der Setzung des referentiellen Subjektpronomens chronologisch nachgeordnet ist; cf. dazu Moignet (1965: 96-97) und Buridant (2000: § 342, S. 427): „La non-expression est particulièrement fréquente dans le cas des verbes impersonnels, où il sujet neutre ne s’impose que lentement“. Die Setzung bzw. Nicht-Setzung des expletiven il muss von derjenigen des referentiellen Subjektpronomens daher unbedingt getrennt beschrieben werden. 14 12 Cf. dazu auch die Statistik bei Zimmermann (2014: 36, Tab. 4) in Bezug auf die Texte roland und livre reis . 13 Nolens volens - weil epische metrisch gebundene Texte eigenen Gesetzen unterliegen können - wurde das Rolandslied miteinbezogen, da es sich um einen für die frz. Sprachgeschichte eminent wichtigen Text handelt. Zu Chrétien de Troyes’ höfischen Romanen aus der 2. Hälfte des 12. Jh.s, die ebenfalls eigenen Gesetzen unterliegen können, cf. Kattingers Untersuchung zu Erec und Enide (1971). 14 Das früheste belegte Beispiel (nach Moignet 1965: 96) stammt aus dem Alexiusleben (in der Basis-Hs. L durch das Metrum gesichert): Quant li jurz passet / / ed il fut anuitét (V. 51). 80 Barbara Wehr Festzuhalten ist, dass auch die Negation als Element „X“ funktionieren kann, welches dann Inversion bewirkt, mit der Folge der Nicht-Setzung eines pronominalen Subjekts: 15 (8) [Ewruin: ] Ne vol Ø reciwre Chielperin (Leodegarlied V. 57) Cf. dazu Franzén (1939: 24, 66-67, 128) und Buridant (2000: § 340). Grund ist nach Franzén, dass die Negation ursprünglich ein betontes Element war. Vorauszuschicken ist auch noch eine Bemerkung zur Nicht-Setzung des Subjektpronomens innerhalb derselben Satzkonstruktion in syndetischer oder asyndetischer Parataxe bei dem Vorliegen eines identischen Subjektreferenten. In solchen Fällen muss der Referent, der das aktuelle Diskurstopic darstellt, nicht noch einmal genannt werden. Zunächst zu syndetischer Parataxe mittels et : 16 (9) Après parlat ses filz envers Marsilies, Et Ø dist al rei: „[…]“ (Rolandslied V. 496) Noch im Neufranzösischen ist bei Topic-Kontinuität nach et eine nochmalige Nennung des Subjektreferenten nicht nötig, cf. Il mange un bifteck et Ø boit un verre de rouge . Zu asyndetischer Parataxe: (10) Voldrent la veintre li Deo inimi, Ø Voldrent la faire dïaule servir. (Eulaliasequenz V. 3-4) (11) La domnizelle celle kose non contredist: Ø Volt lo seule lazsier, si ruovet Krist. (Eulaliasequenz V. 24) (12) Ille amat Deu, Ø lo covit; Ø rovat que litteras apresist. (Leodegarlied V. 17-18) Da die Interpunktion von dem modernen Herausgeber stammt, können wir auch einen Doppelpunkt wie in Beisp. (11) und ein Semikolon wie in Beisp. (12) unter „Topic-Kontinuität innerhalb derselben komplexen Satzkonstruktion“ subsumieren, denn der Herausgeber hätte ja auch ein Komma schreiben können. 17 15 Cf. hierzu auch Zimmermann / Kaiser (2010). 16 Afrz. si , koordinierendes Adverb, verursacht Inversion, was regelmäßig die Nicht-Setzung des Subjektpronomens zur Folge hat ( si s’en intrat Ø in un monstier , Leodegarlied V. 66) und hier aus diesem Grund nicht weiter verfolgt werden muss. 17 Avalle (2002: 382) schreibt in seiner Übersetzung von Beisp. (12) in der Tat ein Komma: „Egli amò Dio, lo predilesse, volle che andasse a scuola“. Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 81 Im Fall von syndetischer und asyndetischer Parataxe sind es also pragmatische Gründe (Topic-Kontinuität), die für die Nicht-Setzung des Subjektpronomens verantwortlich sind. 18 3.2 Corpus-Untersuchung 19 3.2.1 IX. Jh. Straßburger Eide (843) 20 (Textumfang: 14 Zeilen) Vorbemerkungen: om „man“ (Z. 6) wird nicht als Subjektpronomen angesehen, und auch io in ne io ne neuls (Z. 13), ein disjunktes Pronomen, das nicht weggelassen werden kann, wird nicht als Subjektpronomen gezählt, obwohl io hier Subjekt von er (Z. 14) ist. Der althochdeutsche (genauer: rheinfränkische) Wortlaut wird nur angegeben, wenn Parallelen zwischen dem altfranzösischen und dem althochdeutschen Text aufgezeigt werden sollen. 21 (13) [Der Ostfranke Ludwig der Deutsche leistet den Schwur auf Altfranzösisch: ] 22 1 Pro Deo amur […] 23 2 et nostro commun salvament […], 3 in quant Deus savir et podir me dunat, 4 si salvarai eo cist meon fradre Karlo sō haldih thesan mīnan bruodher 5 et in aiudha et in cadhuna cosa, 6 si cum om per dreit son fradra salvar dift, 7 in o quid il mi altresi fazet, in thiu thaz er mig sō sama duo, 18 Zu einer feineren Analyse der Setzung / Nicht-Setzung des Subjektpronomens in asyndetischer Parataxe cf. Franzén (1939: 51-52), der bemerkt: „[L]’emploi des pronoms sujets dépend du rapport qui existe entre les propositions. Quand le rapport est intime, le pronom est souvent omis. Plus la proposition est indépendante de celle qui précède, plus l’emploi des pronoms sujets s’impose“. 19 Datierungen der Texte und Handschriften im folgenden nach DEAFBiblEl, sofern nicht anders angegeben. 20 Datierung nach Berschin (2012: 1, Anm. 2). Zur einzigen Handschrift (Paris, BN lat. 9768, fol. 13 rv ) bemerkt er: „um 970 geschrieben“ (Anm. 1). 21 Die ahd. Version wurde anhand von Braune / Ebbinghaus (1994: 56-57) kontrolliert. 22 Und der Westfranke Karl der Kahle schwört auf althochdeutsch - eines der letzten Zeugnisse für die karolingischen Dreisprachigkeit der Oberschicht (cf. Berschin 2012: 1-3). 23 Zeilenumbruch nach Kuen (1970 [1957]: 172-173). 82 Barbara Wehr 8 et ab Ludher nul plaid nunquam prindrai Ø, indi mit Ludheren in nohheiniu thing ne gegango Ø, 9 qui, meon vol, […] in damno sit. (14) [Die Heerführer leisten den Schwur in ihrer jeweiligen Muttersprache - derjenige Karls des Kahlen auf Altfranzösisch und derjenige Ludwigs des Deutschen auf Althochdeutsch: ] 10 Si Lodhuuigs sagrament que Ø son fradre Karlo jurat conservat, Oba Karl then eid, then er sīnemo bruodher Ludhuuuīge gesuor, geleistit 11 et Karlus […] non l’ostanit, 12 si io returnar non l’int pois, ob ih inan es iruuenden ne mag: 13 ne io ne neuls cui eo returnar int pois, noh ih noh thero nohhein, then ih es iruuenden mag, 14 in nulla aiudha contra Lodhuuuig nun li iu er. Alle Setzungen bzw. Nicht-Setzungen des Subjektspronomens sind „regelkonform“, mit einer einzigen scheinbaren Ausnahme (v. infra). Im altfranzösischen Wortlaut wird viermal das Subjektpronomen gesetzt, 24 einmal im Hauptsatz: si salvarai eo (Z. 4) und dreimal im Nebensatz: in o quid il [ . ..] fazet (Z. 7); si io [ . ..] pois (Z. 12); cui eo [ . ..] pois (Z. 13), ohne jede Hervorhebung. Der althochdeutsche Wortlaut weist in allen Fällen eine Entsprechung auf. In zwei Fällen wird das Subjektpronomen nicht gesetzt; einmal im Hauptsatz nach „X“: X prindrai (Z. 8) 25 (genauso im Althochdeutschen) und einmal im Nebensatz in Verbindung mit „X“: que [ . …] jurat (Z. 10). Alle diese Fälle entsprechen der „Prognose“ in § 2 bis auf Z. 4, wo es im Hauptsatz heisst: si salvarai eo… Si ist Adverb und löst Inversion aus; hier steht also ausnahmsweise das Subjektpronomen in Inversion (ebenso im althochdeutschen Wortlaut: sō hald ih). Es werden uns noch weitere derartige Fälle begegnen. Bei der Prognose bezüglich der Nicht-Setzung in Inversion handelt es sich also nicht um eine strikte „Regel“, sondern nur um eine mehr oder weniger ausgeprägte „Tendenz“. In den Zitaten in § 2 aus Foulet und Franzén heisst es ja auch, dass das Subjektpronomen in Inversion „très souvent“, „le plus souvent“ fehle, aber eben nicht immer. 26 24 Kuen (1970 [1957]: 161) zählt fünf gesetzte Subjektpronomina, da er io in Z. 13 mitzählt (ebenso bei Wehr 2013: 190). 25 Mit dreifacher Anwesenheit von „X“: ab Ludher , nul plaid und nunquam . 26 Cf. Wehr (2017) zur Nicht-Setzung / Setzung des Subjektpronomens in Inversion in zwei afrz. Prosatexten bzw. -Passagen des 13. Jh.’s. Hier zeigt sich, dass in der direkten Rede (also fiktiver gesprochener Sprache) das Subjektpronomen in Inversion doch relativ häufig gesetzt wird, was Rückschlüsse auf die fehlende „Vitalität“ der Regel der Nicht-Setzung in der gesprochenen Sprache des 13. Jh.s erlaubt. Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 83 3.2.2 X. Jh. Eulaliasequenz (um 900) 27 (Textumfang: 29 Zeilen) Das Subjektpronomen wird hier siebenmal ohne jede Hervorhebung gesetzt, viermal im Hauptsatz: Elle nont 28 eskoltet (V. 5), Il […] enortet (V. 13), Ellent 29 adunet (V. 15), Elle […] non auret (V. 20), und dreimal im Nebensatz: Qu’elle […] raneiet (V. 6), Qued elle fuiet (V. 14), Qu’elle perdesse (V. 17). Das Subjektpronomen wird im Hauptsatz elfmal nicht gesetzt (ohne Berücksichtigung der impersonalen Verbform chielt , V. 13), davon neunmal nach „X“, z. B. bel auret corps (V. 2), 30 und zweimal in asyndetischer Parataxe nach einem Komma / Doppelpunkt des Herausgebers bei identischem Subjekt / Topic, cf. oben die Beispiele (10)-(11). Im Nebensatz wird dreimal das Subjektpronomen nicht gesetzt, davon zweimal in Verbindung mit „X“ vor dem Verb (V. 26, V. 28). 31 Alle Setzungen / NichtSetzungen sind „regelkonform“ mit einer Ausnahme: (15) Enz enl fou lo 32 getterent com Ø arde tost: Elle colpes non auret, poro nos coist. (V. 19-20) wo im Nebensatz nach com das Subjektpronomen elle gesetzt werden sollte. Die Nichtsetzung in V. 19 ist sicher dem Metrum geschuldet, denn wir hätten sonst in dieser Zeile mit elf Silben, die mit der folgenden elfsilbigen Zeile in V. 20 durch die Assonanz gebunden ist, zwei Silben mehr. 33 Cf. dazu auch Buridant (2000: 426, § 341): „[D]ans les textes versifiés, des facteurs métriques peuvent jouer dans le choix entre expression / non-expression“. Dasselbe gilt auch für die frühen assonierenden Texte. 27 Die Hs. (Valenciennes, Bibliothèque Municipale 150 (143)) ist auf dieselbe Zeit zu datieren. Sie enthält, von derselben Hand geschrieben, auch das ahd. Ludwigslied - „eine letzte Spur karolingischer Dreisprachigkeit“ (Berschin 2012: 6). 28 = no’nt , cf. Avalle (2002: 303). 29 = Ell’ent , cf. Avalle (2002: 304). 30 In V. 19 Enz enl fou lo [ = la ] getterent Ø ist die 3. Ps. pl. allerdings nicht-spezifisch, sie referiert allgemein auf „die Feinde Gottes“. Wenn hier dann nicht mit einem Subjektpronomen zu rechnen wäre, sollte dieser Fall nicht als „Nicht-Setzung des Subjektpronomens nach ‚X‘“ gezählt werden. 31 Kuen (1970 [1957]: 161) kommt insgesamt auf 15 Nicht-Setzungen (nicht wie hier: 14), da er das impersonale chielt (V. 13) mitzählt. 32 = la , cf. Avalle (2002: 304). 33 Zur Metrik der Eulaliasequenz cf. Berger / Brasseur (2004: 64-65). 84 Barbara Wehr Jonasfragment (2. Viertel 10. Jh.) 34 (Textumfang: ein Folium; 226 Zeilen) (Mischsprachlich lat.-afrz.) Es handelt sich um das Fragment einer Homilie über den Propheten Jonas, z.T. in Tironischen Noten auf der Basis des Lateinischen geschrieben. Die recto -Seite ist in so schlechtem Zustand überliefert (cf. die Abbildung von Vorder- und Rückseite des Foliums bei de Poerck 1955, nach S. 40), dass sie sich kaum auswerten lässt. Immerhin fällt ein Subjektpronomen im Nebensatz ins Auge, das festzuhalten ist, auch wenn der Kontext fehlt: (16) quant il lo … (Z. 22) 35 Die verso -Seite ist besser lesbar. Hier fallen im Hauptsatz auf: (17) tu douls mult a… (Z. 178) (18) e jo ne dolreie de tanta milia hominum […]? (Z. 181-182) und im Nebensatz: (19) inde habuit misericordias si cum il semper solt haveir de peccatore. (Z. 115-116) „daher hatte er Mitleid mit dem Sünder, wie er [es] immer zu haben pflegte“ 36 (20) cum il faciebat de perditione Iudeorum. (Z. 127) (21) porqet il en cele durecie et en cele encredulitet permes sient. (Z. 166-167) (22) si cum il ore sunt . (Z. 173) (23) cum co uidit qet il se erent convers de uia sua mala (Z. 194) (24) liberi de cel peril qet il habebat discretum (Z. 196-197) Andererseits fehlt das Subjektpronomen „regelkonform“ in Inversion nach si : (25) si escit Ø foers de la ciuitate. e si sist Ø contra orientem ciuitatis. e si auardevet 37 Ø cum Deus parfereiet … (Z. 136-138) Wir finden sogar eine Reihe von nicht gesetzten Subjektpronomina im Nebensatz in Verbindung mit „X“ (cf. § 2, Beisp. (5) und Z.10 der Straßburger Eide): 34 Auch in diesem Fall ist die Hs. (Valenciennes, Bibliothèque Municipale 521 (475)) auf dieselbe Zeit zu datieren. Der Text (auch „Fragment de Valenciennes“ genannt) wird nach de Poerck (1955) und dessen durchgehender Zeilenzählung zitiert und wurde mit der Edition von Avalle (2002) verglichen. Cf. zu diesem Textfragment auch Herman (1990 [1954]: 235-240). 35 Kursivschrift bezeichnet, dass die Wörter ausgeschrieben sind, recte -Schrifttypus, dass die Wörter in Tironischen Noten gekürzt sind. 36 Nach Kuen (1970 [1957]: 162). 37 Avalle (2002: 338) liest auardeevet . Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 85 (26) qe Ø super els metreiet . (Z. 118) (27) [als Fortsetzung von Beisp. (24)]: qe Ø super els mettreiet . (Z. 197) (28) <et preparavit Dominus> un edre sore sen cheve qet Ø umbre li fesist . (Z. 145-146) 38 (29) < tant laveient of > fendut . qe Ø tost le uolebat delir . (Z. 187) (30) E poro si vos avient < qe bie > n faciest cest triduanum ieiunium qet Ø oi comenciest . (Z. 201-203) (31) poscite li qe cest fructum qe Ø mostret nos habet qel nos conservet. (Z. 214-216) Das Fazit ist, dass sich auch in dieser schwer beschädigten Handschrift die Regeln der Setzung bzw. Nicht-Setzung des Subjektpronomens deutlich erkennen lassen. Den angeführten Beispielen kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie die Mechanismen zeigen, denen nicht-literarische, metrisch nicht gebundene Gebrauchstexte (zu denen auch die Straßburger Eide gehören) folgen. Der Setzung des Subjektpronomens in den Beisp. (16)-(24)), die den in § 2 vorgestellten Prinzipien folgen, kommt keinerlei „Hervorhebungsfunktion“ zu. Von größtem Interesse sind auch die nicht gesetzten Subjektpronomina in Nebensätzen in Verbindung mit einem dem finiten Verb vorangestellen „X“ (Beispiele (26)-(31)). Leodegarlied (um 1000) 39 (Textumfang: 240 Verse) Regelkonforme Setzungen des Subjektpronomens im Hauptsatz (z. B. Il lo reciut , V. 21) und im Nebensatz (z. B. cum il l’audit , V. 42) müssen hier und im Folgenden nicht mehr kommentiert werden, und auch nicht mehr die häufige Nicht-Setzung im Hauptsatz nach „X“ (z. B. Dominedeu devemps Ø lauder , V. 1). Es sollen also nur noch interessante Fälle und „Ausreißer“ zur Sprache kommen. Die Nicht-Setzung des Subjektpronomens kommt im Hauptsatz, außer nach „X“ und in Verbindung mit der Negation (cf. Beisp. (8)), auch in Teilsätzen vor, die bei identischem Subjektreferenten / Topic in asyndetischer Parataxe angeschlossen sind, cf. Beisp. (12). Im Nebensatz finden wir die Nicht-Setzung in Verbindung mit einem betonten Element vor dem Verb. Auch sie ist als regelkonform anzusehen (cf. oben zum Jonasfragment). „Ausreißer“ im Hauptsatz sind nur zwei Vorkommen des Verbs in absoluter Initialstellung: 38 Die spitzen Klammern bezeichnen Ergänzungen des Herausgebers. Bei Avalle (2002: 338) ist der lateinische Vulgata-Text wiedergegeben, auf den sich diese Paraphrasierung bezieht: Et preparavit Dominus ederam super caput Ione, ut faceret ei umbram (Ion., 4, 6). 39 Die Hs. (Clermont-Ferrand 240 (189)) ist wieder auf denselben Zeitraum zu datieren. 86 Barbara Wehr (32) Ø Uarda, si vid grand claritet (V. 201) (33) Ø Rendet ciel fruit espiritel quae Deus li auret per donet. (V. 215-216) In beiden Beispielen ist der Subjektreferent mit dem des vorausgehenden Subjekts und Topics identisch (Topic-Kontinuität), aber es beginnt ein neuer Satz (ein Punkt geht voraus). Franzén (1939: 50) bemerkt zu solchen Fällen nur kurz, sie kämen mit Vorliebe in den Chansons de geste vor. Im Hauptsatz gibt es ein paar Fälle, in denen das Subjektpronomen trotz der Anwesenheit eines vorausgehenden „X“ gesetzt wird, z. B. (34) fid aut.il grand e veritet (V. 34) „lealtà ebbe egli grande e scrupolo della verità“ 40 Die Konstruktion X-V-Spr wird hier durch das Metrum (den Achtsilbler) bedingt sein. Aber auch in nicht metrisch gebundenen Texten kann die Setzung des Subjektpronomens nach „X“ vorkommen (cf. Z. 4 der Straßburger Eide), so dass diese Konstruktion nicht als „Ausreißer“ gelten soll. In den folgenden beiden Beispielen fällt hingegen die unregelmäßige Setzung des Subjektpronomens auf: (35) Dominedeu [= DO ], / / il lo laissat (V. 127) 41 (36) Dominedeu [= IO ] / / il les lucrat (V. 214) „al Signore Iddio li guadagnò“ 42 Hier würde die Nicht-Setzung des Subjektpronomens nach dem einleitenden Element „X“ Dominedeu das Metrum des 2. Halbverses zerstören, das vier Silben erfordert: (35') *Dominedeu / / laissat Ø (36') *Dominedeu / / les lucrat Ø In Beisp. (36') wäre außerdem aufgrund des „Tobler-Mussafia-Gesetzes“ die Stellung des unbetonten Objektpronomens zu Beginn des zweiten Halbverses nicht zulässig (cf. dazu Foulet 1968 [1930]: § 162). Unregelmäßig, aber im Altfranzösischen zuweilen (v. a. in Versepen) vorkommend, ist auch die Wiederaufnahme eines lexikalischen Subjekts durch das Subjektpronomen: (37) [Am Laissenanfang: ] Rex Chielperings / / il se fud mors; (V. 115) 40 Avalle (2002: 382). 41 „DO“ bezeichnet das direkte Objekt, „IO“ das indirekte Objekt. 42 Avalle (2002: 384). Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 87 Dieser Konstruktionstypus, der formal wie ein Subjekts- Left detachment im modernen Französisch aussieht, besitzt jedoch im Altfranzösischen eine andere Funktion, die man „rhetorisch“ und „rhythmisch“ nennen kann; cf. die Diskussion bei Wehr (2007: 486-488). Auch im Nebensatz gibt es ein paar „Ausreißer“, nämlich die Nicht-Setzung des Subjektpronomens nach der Konjunktion und dem Relativpronomen, die den Nebensatz einleiten. Hierbei ist zu unterscheiden, ob die (zu erwartende) Setzung das Metrum verändern würde oder nicht: (38) [Leodegar ist Topic: ] cum Ø vit les meis, a lui ralat. (V. 90) Hier würde cum il vit den Achtsilbler zerstören. Im folgenden Beispiel hätte aber por cio qu’il fud … keinerlei Folgen für das Metrum: (39) por cio que Ø fud de bona feit (V. 53) Fazit: Die Setzung bzw. Nicht Setzung des Subjektpronomens in diesem Text ist fast durchgehend regelkonform, mit ein paar Ausnahmen, die z.T. dem Metrum geschuldet sind wie in Beisp. (35), (36) und (38). Nur Fälle wie Beisp. (39), in denen das Subjektpronomen im Nebensatz nicht steht und dieses Fehlen nicht durch das Metrum bestimmt wird, stellen tatsächlich Ausnahmen von der Regel dar. 3.2.3 XI. Jh. „Griffonnages“ (Textumfang: zwei Sätze) Wenn das Jonasfragment der einzige erhaltene „Prosatext“ des 10. Jh.’s ist, so sieht die Beleglage für die Prosa im 11. Jh. noch schlechter aus, denn hier finden wir nur zwei kurze Sätze, die unten auf die Seite einer Handschrift gekritzelt sind (cf. Woledge / Clive 1964: 12). Darauf machte Moignet (1965: 89, Anm. 3) aufmerksam. Es handelt sich um eine Handschrift aus Douai (Dép. Nord), die eine Vita Sancti Cilliani enthält; vielleicht waren diese Notizen für eine Predigt gedacht. Moignet betont zu Recht die Tatsache, dass diese beiden kurzen Sätze drei Subjektpronomina enthalten, ohne jede Hervorhebungsfunktion: 43 43 „Le fait que les deux seules phrases de prose qui nous aient été conservées du XIe siècle […] comportent trois pronoms sujets, dans lesquels aucune expressivité particulière ne se révèle, ne laisse pas d’être impressionnant“. 88 Barbara Wehr (40a) […] en noster segneur… ie croi ke uos amee par amos nostre segnor. bin est raison car il uos puet bin rendere 44 (Woledge / Clive 1964: 12, 73; Gysseling 1949: 210; „d’une main maladroite et assez archaïque du 11 e s.“) Auf der nächsten Seite derselben Handschrift findet man noch einmal dieselbe Formulierung, diesmal besser geschrieben und von einer späteren Hand („par une main 11 e -12 e siècle qui écrit mieux“, Gysseling 1949: 210): (40b) ie croi ke uos ames par amoes nostre segnor (Woledge / Clive 1964: 73; Gysseling 1949: 210) Wie im Fall des Jonasfragments sind diese Belege sehr wertvoll, denn sie zeigen, dass auch hier wieder in einem Gebrauchstext, der keinen metrischen Einschränkungen unterlag, die Regeln der Setzung des Subjektpronomens (einmal im Hauptsatz und zweimal im Nebensatz) angewendet wurden. 45 Alexiusleben (Ende 11. Jh.) 46 (Textumfang: 625 Verse) Alle Setzungen bzw. Nicht-Setzungen sind regelkonform, nur fehlt manchmal zu Beginn einer Laisse das Subjektpronomen (cf. dazu Beisp. (32)-(33)): (41) Ø Fud baptizet (V. 31) (42) Ø Noment le terme (V. 46) (43) Ø Vint en la cambre (V. 136) (44) Ø Eist de la nef (V. 211) Wir finden Nicht-Setzung des Subjektpronomens in Verbindung mit der Negation und in asyndetischer Parataxe nach Komma, Semikolon oder Doppelpunkt bei identischem Subjektreferenten / Topic. Beide Phänomene brauchen nicht mehr kommentiert zu werden (cf. § 3.1). Auch die Konstruktion X-V-Spr, die schon mehrfach erwähnt wurde (cf. Z. 4 der Straßburger Eide), ist nur eine scheinbare Ausnahme von der Regel, denn wir haben gesehen, dass es diesen Konstruktionstypus durchaus gibt, auch wenn er zunächst nur selten vorkommt. 44 Bei dem Zusammentreffen eines direkten und indirekten Objektpronomens kann das direkte Objektpronomen fehlen, wenn beide die 3. Ps. repräsentieren (cf. Foulet 1968 [1930]: § 202). Auch wenn das hier nicht der Fall ist, muss man doch il uos puet bin rendere verstehen als il la [ = amor ] uos puet bin rendere . 45 Das expletive Subjektpronomen in bin est Ø raison wurde nicht als „fehlend“ gezählt, da es sich erst später durchsetzte (cf. § 3.1) und hier in Inversion stünde, also schon aus diesem Grund nicht gesetzt worden wäre. 46 Die Basis-Hs. (Hildesheim St. Godehardi (L)) stammt von ca. 1120. Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 89 Im Nebensatz finden wir einige „echte“ Ausreißer, nämlich die Nichtsetzung des Subjektpronomens nach der unterordnenden Konjunktion oder dem Relativpronomen, ohne dass ein Element „X“ dafür verantwortlich ist. Zwei Beispiele sind: (45) [Alexius ist Topic: ] Escrit la cartra tute de sei medisme, Cum Ø s’en alat e cum il s’en revint. (V. 284-285) (46) E ço lur dist cum Ø s’en fuït par mer, E cum il fut en Alsis la citét (V. 381-382) In V. 285 sollte man Cum il s’en alat und in V. 381 cum il s’en fuït par mer erwarten; diese Unregelmäßigkeiten sind zweifellos dem Metrum (einem Zehnsilbler) geschuldet. 47 3.2.4 XII. Jh. Rolandslied (um 1100) 48 (Untersuchtes Corpus: Laisse I- XXXVII , V. 1-500) Die Hauptsätze beginnen hier meist mit einem Element „X“, mit der Folge, dass die Setzung des Subjektpronomens in der Struktur X-V-Ø regulär unterbleibt. Dieses Phänomen ist uns zwar nicht neu, es tritt aber im Rolandslied außerordentlich häufig auf: (47) Ben en purrat Ø [= Charlemagne] lüer ses soldeiers. En ceste tere ad Ø asez osteiét: En France, ad Ais, s’en deit Ø ben repairer. (V. 34-36) Auch bei Topic-Kontinuität innerhalb desselben Satzgefüges wird es in asyndetischer Parataxe nicht gesetzt. Hier eine Folge derartiger Teilsätze ohne Setzung des Subjektpronomens: (48) Marsilies fut esculurez de l’ire, Ø Freint le seel, getét en ad la cire. 49 Ø Guardet al bref, Ø vit la raisun escrite (V. 485-487) Auch in Verbindung mit der Negation wird das Subjektpronomen oft nicht gesetzt. Während alle genannten Merkmale durchaus den Regularitäten der altfranzösischen Syntax entsprechen, fallen Initialstellungen des Verbs ohne einleitendes Subjektpronomen heraus: 47 Zu einer Diskussion von V. 285 cf. auch Wehr (2017: 68, Anm. 5). 48 Die Basis-Hs. (Oxford, Bodl. Digby 23 (O)) stammt aus dem 2. Viertel des 12. Jh.s. 49 Moignet setzt in seiner Edition des Texts hier ein Komma. 90 Barbara Wehr (49) Ø Vindrent a Charles, ki France ad en baillie (V. 94) (50) „Ø Voelt par hostages“, ço dist li Sarrazins (V. 147) 50 (51) Ø Entret en sa veie, si s’est achiminez. (V. 365) 51 Bei Stempel (1964: 289-292) wird dieses Merkmal ausführlicher diskutiert; er spricht von „Verbalasyndese“, und dies in einem Kapitel, das „Epische Asyndese“ überschrieben ist. Auch Franzén (1939: 50) sieht die Initialstellung des Verbs ohne das zu erwartende vorausgehende Subjektpronomen als ein Charakteristikum der Chansons de geste an (cf. den Kommentar zu Beisp. (32)-(33)). Es fällt auch auf, dass im Nebensatz das Subjektpronomen oft nach der unterordnenden Konjunktion oder dem Relativpronomen fehlt; eine weitere Unregelmäßigkeit: (52) „S’Ø en volt ostages, e vos l’en enveiez“ (V. 40) (53) Quant Ø se redrecet, mult par out fier lu vis. (V. 142) (54) Quant Ø le dut prendre, si li caït a tere. (V. 333) In diesem Text gibt es damit eine Reihe von Auffälligkeiten gegenüber dem in § 2 Gesagten. Die verb-initialen Strukturen in Beisp. (49)-(51) entsprechen einem „epischen Stil“, und die fehlenden Subjektpronomina in Beisp. (52)-(54) sind höchstwahrscheinlich dem Metrum (einem Zehnsilbler) geschuldet. Auch aufgrund der häufigen regulären Nichtsetzungen wie in Beisp. (47)-(48) kann leicht der Eindruck der „Beliebigkeit“ der Setzung des Subjektpronomens in diesem Text entstehen. Adamsspiel (2. Hälfte 12. Jh.) 52 (1. Teil. Textumfang: 588 Verse) Dieser Text, der metrisch gebunden ist (Acht- und Zehnsilbler), konstituiert das älteste religiöse Drama (cf. Hasenohr / Zinc 1992: 863); er wurde also gesprochen. 53 Hier finden wir sehr häufig das Subjektpronomen am Satzanfang vor dem Verb; vor allem auch in der 1. Ps. Sg. und 2. Ps. Sg.: (55) F. [= Figura (Gott)]: Je te aj fourme a mun semblant (V. 3) 54 (56) F.: Je tai dune bon cumpainun (V. 8) Diese Tatsache ist natürlich der genannten Textsorte geschuldet, in der die Dialogpartner häufig Subjektfunktion haben. Aber auch in den anderen Personen steht das Subjektpronomen häufig satzeröffnend: 50 Zu Beginn der direkten Rede. 51 Zu Beginn des narrativen Texts nach direkter Rede. 52 Die Hs. (Tours 927) stammt aus dem 2. Viertel des 13. Jh.s. 53 Anführungszeichen zur Wiedergabe der direkten Rede erübrigen sich aus diesem Grund. 54 Die Edition Sletsjöes ist diplomatisch. Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 91 (57) D. [der Teufel / die Schlange]: Il [= Adam] est plus durs que nest emfers E. [Eva]: Il est mult francs (V. 222-223) Es gibt nur selten ein „X“ in Initialstellung, das die Inversion und damit die Nicht-Setzung des Subjektpronomens auslösen würde. Das ist meines Erachtens generell der Grund für die höhere Frequenz des Subjektpronomens in den Passagen direkter Rede als in den narrativen Textpassagen. 55 Vereinzelte „Ausreißer“ sind im Hauptsatz die Nicht-Setzung des Subjektpronomens am absoluten Satzanfang: (58) F.: Adam - A.: Sire - F.: Ø Dirrai toi mon auis (V. 80) (59) F.: Ø Manias le fruit sanz mon otroi (V. 423) und in Nebensätzen fehlt manchmal das Subjektpronomen nach der unterordnenden Konjunktion oder dem Relativpronomen: (60) F.: Si Ø uos faire ma uolente (V. 26) Beide Phänomene sind wahrscheinlich dem Metrum geschuldet. Li Quatre Livre des Reis ( QLR ; 2. Hälfte 12. Jh.) 56 (Untersuchtes Corpus: Buch II (= 2. Buch Samuel), Kap. I, 1 - VII , 7 (S. 61-71)) (Anglofranzösisch) Zusammen mit den Interlinearübersetzungen der Psalmen, die zeitlich früher entstanden sind (v. infra), konstituieren die QLR die älteste überlieferte französische Prosa. Curtius (1911: XCIII - XCV ) macht gute Gründe dafür geltend, warum diese Sprachdenkmäler gerade in England entstehen konnten. Vorlage des Übersetzers der vier Bücher der Könige war der Text der Vulgata, aber in einer anderen Rezension als der heute gültigen. Neben gewissen Veränderungen am Text wurden auch zahlreiche Glossen in die QLR eingefügt (cf. Curtius 1911: LX - LXXI ). Franzén (1939: 33-34) hat Buch II (S. 61-109) in Bezug auf die Setzung des Subjektpronomens untersucht und kommentiert. Er konnte nur diejenigen Passagen mit der lateinischen Vorlage vergleichen, in denen der Wortlaut der QLR dem heute gültigen Text der Vulgata entspricht. In diesen stellt er fest, dass der Übersetzer das Subjektpronomen regelmäßig am Satzanfang hinzufügt: (61) Doleo super te: Jo duil sur tei (I, 26; S. 62) und in Nebensätzen: 55 Cf. die Statistik bei Zimmermann (2014: 38, Tab. 6) in Bezug auf die Texte roland und livre reis . 56 Die Basis-Hs. (Paris, Bibl. Mazarine 54 (70)) stammt vom Ende des 12. Jh.s. 92 Barbara Wehr (62) loca, quae transivi: les liéus ú jó passái ( VII , 7; S. 71) 57 Dabei stellt Franzén verblüffende Parallelen mit der altfranzösischen Interlinearversion des Psalters in der Hs. Arundel 230 fest, die er ebenfalls analysiert hat (cf. dazu infra). Auch Herman (1990 [1954]: 260-284) hat sich detailliert mit einem Auszug der QLR (Buch III , Kap. VII - XX , S. 126-165) befasst. 58 Neben nominalen Subjekten in der Position vor und nach dem Verb listet er in einer Tabelle (S. 262) die Ergebnisse für seine Zählung der Subjektpronomina auf. In Hauptsätzen zählt er in seinem Corpus 75 Fälle in Voranstellung und 10 Fälle in Postposition. In Nebensätzen findet er sogar 148 Fälle, alle in Voranstellung vor dem Verb. Für die Setzung des Subjektpronomens versucht er, funktionale Gründe zu finden. 59 Weder Franzén (1939) noch Herman (1990 [1954]) erwähnen die Tatsache, dass in den QLR der Hauptsatz oft mit dem Verb beginnt, ohne dass das Subjektpronomen davor gesetzt würde, da sie sich nur für dessen Setzung interessieren. In meinem Teilcorpus habe ich auf 10 Seiten 16 Fälle gezählt. Zwei Beispiele: (63) Reparlad en ceste maniere á ces de Benjamin. ( III , 19; S. 66) (64) Vint en Ebron […] ( III , 20) Die lateinischen Entsprechungen in der Vulgata lauten: 60 (63') Locutus est autem Abner etiam ad Benjamin. (64') Venitque ad David in Hebron […] Diese auffälligen Nicht-Setzungen des Subjektpronomens am Satzanfang widersprechen der Beleglage in den bisher untersuchten Corpora, wo es nur vereinzelte „Ausreißer“ dieser Art gab, cf. Beisp. (32)-(33) im Leodegarlied, Beisp. (41)-(44) im Alexiusleben und Beisp. (49)-(51) im Rolandslied. Da in den QLR 57 Die Akzente wurden von mir nach der Edition von Curtius (1911) hinzugefügt. 58 Zur Setzung des Subjektpronomens auf S. 277-281. 59 Herman (1990 [1954]: 279-280) macht für die Setzung des Subjektpronomens in den QLR vier Gründe geltend (cf. auch Sornicola 2005: 536, Anm. 11): a) einen Unterschied auf der Inhaltsebene, b) Subjektwechsel, c) einen Neueinsatz, z. B. nach direkter Rede, und d) eine „emphatische“ Funktion, z. B. in Fällen von Kontrast. Bis auf den Faktor d) (cf. dazu hier Anm. 10) können seine Kategorien nicht überzeugen. So möchte er z. B. die Verwendung des Subjektpronomens im Relativsatz in […] des citez que il cunquist de Effraïm mit einem Wechsel auf der zeitliche Ebene motivieren (Faktor a). Sollen auf diese Weise alle 148 Vorkommen von Subjektpronomina im Nebensatz inhaltlich begründet werden? Herman hätte sich besser an Foulets Petite syntaxe de l’ancien français (1930) und Franzén (1939) orientieren sollen (beide Werke werden bei ihm erwähnt) als an der längst überholten Arbeit von Peigirsky aus dem Jahr 1901, dessen Kategorien mit seinen eigenen weitgehend übereinstimmen (so Herman 1990 [1954]: 279, Anm. 44). 60 Der Vulgata-Text wird nach der Edition von Loch (1872) zitiert. Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 93 weder das Metrum eine Rolle spielt noch „epischer Stil“ vorliegen kann, haben wir es aller Wahrscheinlichkeit nach hier mit einen Latinismus zu tun. 61 Psalmen Die anglofranzösischen Interlinearübersetzungen der Psalmen sollen an den Schluss unseres Überblicks gestellt werden, obwohl sie zeitlich vor den QLR anzusetzen sind; 62 sie sind aber nicht Teil unseres Corpus. Franzén (1939) hat die Hs. von Arundel (Arundel 230) untersucht und gezeigt, dass es sich um eine „Wort für Wort“-Übersetzung - z.T. ohne Rücksicht auf die altfranzösische Syntax, cf. Franzén (1939: 30) - aus dem Lateinischen handelt. Dennoch hat der Übersetzer in 322 Fällen das Subjektpronomen hinzugesetzt, ohne dass die Vorlage einen Anlass dazu bot. Franzén bemerkt dazu: „En exprimant les pronoms sujets […], il [le traducteur] n’a fait que suivre les habitudes syntaxiques de sa propre langue“ (Franzén 1939: 30). Das Subjektpronomen wird im Hauptsatz am absoluten Satzanfang hinzugesetzt: (65) Odisti oms 63 qui opantur 64 iniquitatem: Tu hais tuz cels ki ouerunt felunie (Franzén 1939: 31) Das Subjektpronomen steht jedoch nicht, wenn dem Verb ein betontes Element vorausgeht (ibid. 31). Im Nebensatz steht das Subjektpronomen zwischen dem subordinierenden Element und dem Verb: (66) cum clamauero ad eum: quant io crierai a lui (Franzén 1939: 31) Auch Herman (1990 [1954]: 240-259) hat die Psalmen untersucht. Im Psalter von Cambridge (C) zählt er 355 Fälle von hinzugesetzten Subjektpronomina, von denen 332 Fälle dem Verb vorausgehen (ibid. 252-253). Er schließt aus, dass die Setzung mit einem „besoin de clarté“ zu tun habe, da die Verbendungen vollständig erhalten sind, und schlägt stattdessen vor, dass das Subjektpronomen, das er als betontes Element ansieht, als „,introducteur‘ accentué“ (ibid. 254) diene, damit das Verb nicht in die Erstposition gerate, und si ablöse, das im Jonasfragment mehrfach in Initialposition auftrete (ibid. 255). Nach Franzén (der bei Herman 1990 [1954]: 254 ausführlich zitiert wird) ist das Subjektpronomen 61 Am Rande sei erwähnt, dass das Verb oft in die absolute Anfangsstellung im Satz gerät, weil der Übersetzer die lateinischen Satzanschlüsse mit Et oder - que fortlässt. 62 Zur Datierung der überlieferten Fassungen cf. DEAFBiblEl s. PsCambrM (der Psalter von Cambridge (C): 1. Hälfte 12. Jh.; Basis-Hs.: vor 1160) und PsArundB (der Psalter von Arundel, Mitte 12. Jh.; Hs. Ende 12. Jh.). 63 Hier steht ein Strich über der Form oms als Kürzung für homines . 64 Hier hat entweder Franzén oder der Schreiber vergessen, das Kürzungszeichen hinzuzufügen. 94 Barbara Wehr allerdings unbetont. Dafür hat Franzén überzeugende Argumente, vor allem die gehäuften Vorkommen in Nebensätzen: On ne saurait expliquer l’usage fréquent qu’ont fait des pronoms sujets le traducteur des Quatre livres des rois et celui du manuscrit Arundel , à moins qu’on n’admette l’emploi atone de ces mots dès le XII e siècle. Encore n’est-il pas question d’un développement naissant, mais d’un usage solidement établi, ce que prouve avant tout la fréquence des pronoms sujets dans les subordonnées. (Franzén 1939: 34) Franzén geht auch auf die Frage ein, ob sich das Französische in England im 12. Jh. von dem des Kontinents unterschieden habe. Das verneint er: Les traductions que nous venons d’examiner [= die Psalmen und die QLR ] sont - on le sait - d’origine anglo-normande. Le français continental ne se distinguait pas de l’anglo-normand en ce qui concerne l’emploi des pronoms sujets. La statistique qui précède montre une grande conformité entre tous les textes examinés, quelle que soit leur origine. Si, au XII e siècle, les pronoms sujets étaient devenus atones dans le dialecte anglo-normand, il en était assurément de même dans la langue du continent. (Franzén 1939: 34) Auch Moignet (1965: 91), der Franzéns Analyse aufgreift, ist dieser Meinung, wenn er resümiert: „C’est donc que, pour les traducteurs des Psautiers , le verbe français accompagné du pronom est l’équivalent exact du verbe latin sans pronom“. Diese Beobachtungen passen gut zur folgende Annahme von Price (1979: § 11.5.4): „It seems probable that the construction SpV was already wellestablished in the pre-literary period.“ 4 Diskussion 4.1 Synchrone Beschreibung der Fakten Sowohl Foulet (1968 [1930]) als auch Franzén (1939) haben die Regelmäßigkeiten der Setzung bzw. der Nicht-Setzung des Subjektpronomens im Altfranzösischen beschrieben. Beide stellten auch schon die „Asymmetrie“ der Setzung im Hauptsatz und im Nebensatz fest (cf. § 2): da unterordnende Konjunktionen oder das Relativpronomen nicht als Element „X“ gelten, das die Inversion i.a. mit der Folge der Nicht-Setzung des Subjektpronomens auslöst, erscheinen Subjektpronomina wesentlich frequenter in Nebensätzen als in Hauptsätzen. Was fehlt, ist noch eine Erklärung dieser Tatsache. 65 65 Cf. zum Folgenden ausführlicher Wehr (2013, 2017). Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 95 4.2 Zu einer Erklärung: Sprachkontakt mit dem Altwestfränkischen Kuen (1970 [1957]) hatte mit überzeugenden Gründen die Meinung vertreten, dass die Existenz des Subjektpronomens im Altfranzösischen auf Interferenzen des Altwestfränkischen mit dem Galloromanischen zurückzuführen sei. Die Entdeckung, die die Nicht-Setzung des Subjektpronomens unter bestimmten syntaktischen Voraussetzungen erklären kann, ist Hilty (1968) zu verdanken, der zufällig Kenntnis von der Züricher Dissertation Eggenbergers (1961) bekommen hatte, in der die Setzung des Subjektpronomens im Althochdeutschen beschrieben wird. Daraus geht hervor, dass in der Inversion das Subjektpronomen im Althochdeutschen fehlen kann und meist auch fehlt (cf. Eggenberger 1961: 143-144). Nach Auskunft von Damaris Nübling (Mainz) ist diese Tatsache bei den Germanisten „Standardwissen“. Die Parallelen mit dem Altfranzösischen sind frappierend. So vergleicht z. B. Kattinger (1971) in Kap. III seiner Arbeit die Daten des Altfranzösischen mit denjenigen des Althochdeutschen und Altenglischen. 66 Nicht nur im Althochdeutschen, sondern auch im Altenglischen erfolgt nach „betonten Ausdrücken“ am Satzanfang Inversion oder Nicht-Setzung des Subjektpronomens (zu Unterschieden des Altenglischen gegenüber dem Althochdeutschen und Altfranzösischen cf. Kattinger 1971: 167). Zum Althochdeutschen konstatiert Kattinger: „Ähnlich wie im Afrz. ist […] auch im Ahd. die ungerade Wortfolge (Typ VI , VI a) für den Hauptsatz, die gerade Wortfolge (Typ I) für den Nebensatz charakteristisch“ (ibid. 170). 67 Mit anderen Worten: auch im Althochdeutschen ist die Setzung des Subjektpronomens in Nebensätzen wesentlich häufiger als in Hauptsätzen (cf. Eggenberger 1961: 143, Sonderegger 1979: 268, Szczepaniak 2011: 119 und Fleischer 2011: 199-200, 202). Man ist erstaunt zu sehen, dass Hiltys wichtige Bemerkungen, die die identischen Phänomene in beiden Sprachen miteinander in Verbindung bringen, in der Forschung bislang offenbar unbeachtet blieben. 68 Vermutlich hat das mit der Abneigung der Forschung in den Sechziger Jahren gegenüber jeder Art von „Substrat- und Superstrat-Theorie“ zu tun, mit der zugegebenermaßen oft übertrieben wurde. Die negativen Besprechungen von Hiltys Artikel (1968) durch Stempel (1970) und Hunnius (1975) werden dazu beigetragen haben. 69 66 Als Vergleichscorpora zieht Kattinger für das Ahd. das Ludwigslied (um 900; in derselben Hs. wie die Eulaliasequenz überliefert, cf. Anm. 27) und für das Aengl. zwei Texte aus dem 8. und 9. Jh. heran. 67 Typ VI = X-V-Spr (in meiner Notation), Typ VIa = X-V-Ø und Typ I = Spr-V-X (cf. Kattinger 1971: 111). 68 Eine rühmliche Ausnahme ist Kaiser (2014: 266). 69 Stempel (1970: 116) bemerkte: „Im Falle des Subjektpronomens hat die Superstratthese durch die Ergebnisse einer neueren Dissertation über die entsprechenden Verhältnisse im Ahd. wenig an Überzeugungskraft gewonnen.“ Hunnius’ Einwand (1975: 76) ist 96 Barbara Wehr Die Regel der Nicht-Setzung des Subjektpronomens nach „X“ gibt es übrigens noch in den aktuellen bairischen und alemannischen Dialekten bei der 2. Ps. sg. (cf. auch Kaiser 2014: 269). So heisst es im Bairischen zwar Du spinnst! , aber in Inversion (67) Jetzt spinnst Ø aber (68) Da legst Ø di nieder! Da hier eventuell der auslautende Dental der Verbform in der 2. Ps. sg. das Subjektpronomen absorbiert haben könnte, seien noch eindeutige Beispiele aus dem Alemannischen angeführt. Im alemannischen Dialekt heisst es Du bisch , aber (69) Mit Achtzig bisch Ø en alte Maa. 70 (70) jetz bisch Ø aber verschrocke 71 4.3 Zu Zimmermanns Kritik (2014) an dem „Borrowing approach“ Zimmermann (2014) möchte in Kap. 3.1.4 „The ‚borrowing approach‘“ (ibid. 79-84) seines Buchs in fünf Kritikpunkten die Annahme widerlegen, die Existenz des Subjektpronomens im Französischen sei auf Interferenz des (Proto-) Altfranzösischen mit dem Altwestfränkischen zurückzuführen. Er kommt zu dem Schluss: „[A]n approach to the expression of expletive and referential subject pronouns in terms of (syntactic) borrowing in the context of language contact is highly improbable“ (Zimmermann 2014: 84). Gehen wir die Punkte nacheinander durch. Vorauszuschicken ist, dass borrowing (‚Entlehnung‘) in diesem Zusammenhang kein geeigneter Terminus ist, denn es sind „Reliktmerkmale“ in der Sprache der Sprecher, die die Sprache gewechselt haben (und die dann von anderen Sprechern imitiert werden). 72 1. Zur Tatsache, dass Subjektpronomina im Altfranzösischen häufiger in Nebensätzen als in Hauptsätzen auftreten: „This is unexpected under the present approach, given its crucial underlying assumption that in the Germanic variety of the Franks, expletives and referentials are consistently expressed“ (ibid. 81). chronologischer Art: „Es bliebe zu klären, warum die fremdsprachliche Beeinflussung jahrhundertelang latent geblieben und erst mit außerordentlicher Verzögerung im Mittelfranzösischen zum Durchbruch gelangt sei“. Cf. dazu Wehr (2013: 193) und hier § 4.3 unter Punkt 2. 70 Volker Ellwanger (Lenzkirch) in einer Einladung in Gedichtform zu seinem 80. Geburtstag. 71 Dieses Beispiel verdanke ich Damaris Nübling (Mainz). 72 Zum Unterschied zwischen borrowing und interference through shift cf. Thomason / Kaufman (1988: 37-45). Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 97 Dazu ist erstens zu sagen, dass expletive und referentielle Pronomina nicht gemeinsam beschrieben werden dürfen (cf. § 3.1; im Folgenden verstehe ich unter „Subjektpronomen“ immer das referentielle Subjektpronomen), und zweitens, dass im Althochdeutschen (und folglich wohl auch im Altwestfränkischen) das Subjektpronomen in Inversion fehlen kann und meist auch fehlt, wie Eggenberger (1961) gezeigt hat; es ist also nicht „constantly expressed“. 2. Zur chronologischen Diskrepanz. Dass sich die obligatorische Setzung des Subjektpronomens erst im 17. Jh. vollständig durchsetzt, ist für Hunnius (1975) und Zimmermann ein gewichtiges Argument, Superstrat-Einfluss zurückzuweisen. Dazu hat jedoch schon Hilty (1975: 425) auf klare Weise Stellung bezogen. 73 Er weist darauf hin, dass nach der Epoche des Altfranzösischen die Inversionsregel abgeschafft wurde, die für die (fast) regelmäßige Nicht-Setzung des Subjektpronomens verantwortlich war. Damit setzt sich ab dem Mittelfranzösischen die Stellung X-Spr-V durch, die zuvor extrem selten war. In Hiltys Worten: „Es ging weitgehend um die Eliminierung jenes häufigen altfranzösischen Satztypus, in dem das Subjektpronomen nicht gesetzt wurde, weil die Inversionsregeln spielten [also X-V-Ø, B. W.], und um die Verallgemeinerung jenes anderen Satztypus, in dem das Pronomen seit ältester Zeit auftrat [also Spr-V, jetzt auch in X-Spr-V; B. W.].“ 74 Man muss sich natürlich fragen, wieso die Inversionsregel samt der Regel oder der Tendenz der Nicht-Setzung des Subjektpronomens ab dem Ende des 13. Jh.’s / Anfang des 14. Jh.’s entfiel. Dafür kann man den Prozess der „Degermanisierung“ im Mittelfranzösischen verantwortlich machen, cf. Wehr (2013: 199-205; 2017: 80). Was in den folgenden Jahrhunderten bezüglich der Setzung / Nicht-Setzung im Französischen geschieht, ist eine Entwicklung, die uns in diesem Zusammenhang nicht weiter zu interessieren braucht (cf. den Überblick bei Zimmermann 2014: 19-25). 3. Unter diesem Punkt werden Ansichten zur zunehmenden Setzung des Subjektpronomens ohne die Funktion von Emphase oder Kontrast in den südamerikanischen Varietäten des Portugiesischen und Spanischen referiert, die ich für die vorliegende Diskussion für irrelevant halte. 4. Syntaktische Entlehnungen seien zweifelhaft („Syntactic borrowing is dubious“). Hierbei handelt es sich um ein verbreitetes Vorurteil. In Adstrat- Situationen oder Phasen der Bilingualität kann einfach alles durch Interferenz übernommen werden (cf. Thomason 2001: 63). Bei Interferenzen durch Sprachkontakt sind als erstes Phonetik / Phonologie und die Syntax betroffen, cf. 73 Cf. auch Salvi (2015: 338), der bemerkt, dass der germanische Einfluss den Anstoß („l’avvio“) für eine Entwicklung gegeben haben könnte, die sich erst später durchsetzte. 74 Zur Chronologie dieses Prozesses cf. § 5 in Wehr (2017: 79-80): „Quelques remarques à propos de l’évolution de X-V-Ø, X-V-Spr et X-Spr-V“. 98 Barbara Wehr Thomason / Kaufman (1988: 39): „[U]nlike borrowing, interference through imperfect learning does not begin with vocabulary: it begins with sounds and syntax“ (Hervorhebung von Thomason / Kaufman) und „Moderate to heavy substratum / superstratum / adstratum interference, especially in phonology and syntax“ (ibid. 50). 75 Kuen (1970 [1957]: 168-171) führt überzeugend eine Reihe von Beispielen aus romanischen Sprachen und Dialekten im Kontakt mit dem Germanischen und dem Griechischen an. Die nördliche Galloromania zur Zeit des Altfranzösischen ist ein besonders fruchtbares Forschungsgebiet für syntaktische Interferenzen, denn hier kann neben der Voranstellung des attributiven Adjektivs auch die Endstellung des Prädikats in Nebensätzen auf germanischen Einfluss zurückgeführt werden (cf. Wehr 2013: 197-198). 76 Es ist auch nicht so, dass in eine Sprache nur übernommen werde, was in ihr schon „angelegt“ sei (so Hilty 1968; cf. dazu Wehr 2013: 210-211) - auch das gehört zu den verbreiteten Vorurteilen. 5. Hier geht es bei Zimmermann noch einmal um expletive Subjektpronomina, wobei auf widersprüchliche Weise 77 festgestellt wird, sie seien im Althochdeutschen noch nicht obligatorisch gewesen. Aber das waren sie im Altfranzösischen ja auch noch nicht. 5 Fazit Die in § 1 formulierte Hypothese konnte aufgrund der Corpusuntersuchung der ältesten überlieferten altfranzösischen Texte bestätigt werden. Nichts spricht gegen die Annahme, dass das Subjektpronomen im Altfranzösischen von Anfang an vorhanden gewesen war, wenn man die Regel kennt, dass es unter bestimmten syntaktischen Bedingungen nicht gesetzt wurde. Erst nachdem diese Regel durch den Prozess der „Degermanisierung“ am Ende der altfranzösischen Epoche außer Kraft gesetzt wurde, konnte die Grammatikalisierung des Subjektpronomens in der Position links vom Verb, mit Verzögerung, einsetzen. Die Frage von Sprachwandel aufgrund von Sprachkontakt ( contact-induced language change ) ist in neuerer Zeit wieder aktuell geworden und durch neue Impulse belebt worden, z. B. durch die Arbeiten von Thomason / Kaufman (1988) und Thomason (2001). Es ist offensichtlich, dass die Abneigung gegen „Superstrateinfluss“ heute überholt ist. 75 So hat z. B. Anneli Sarhimaa (Mainz) in ihrer Dissertation (1999) syntaktische Einflüsse des Russischen auf das Karelische (zum Ostseefinnischen gehörend) nachgewiesen. 76 Häufig in den Straßburger Eiden belegt, mit Parallelen in der ahd. Version, wie in den Beisp. (13)-(14) zu sehen ist. 77 Cf. dazu auch Salvi (2015: 338). Zur Syntax des Subjektpronomens im ältesten Französisch (9.-12. Jh.) 99 Auch für die historisch arbeitende Germanistik sind die hier vorgestellten syntaktischen Interferenzen von Interesse. Da die frühesten Zeugnisse des Altfranzösischen noch aus der Epoche der germanisch-romanischen Zweisprachigkeit (zumindest in Teilen der Oberschicht) stammen, können sie möglicherweise ein Licht auf das untergegangene Westfränkische werfen. Die nördliche Galloromania bietet jedenfalls ein reiches Forschungsfeld und hält viele interessante Ergebnisse bereit. Wenn Thomason / Kaufman (1988: 126-128) die Folgen des Sprachwechsels der Westfranken in der nördlichen Galloromania im Kapitel über „ Slight interference“ (Hervorhebung von mir) anführen, so ist das zu korrigieren. Anhang: Überblick über die vorkommenden syntaktischen Typen HAUPTSATZ NEBENSATZ Il vint a Venise qu’il vint a Venise A Venise vint Ø que Ø a Venise vint Dies sind die „Normaltypen“, cf. § 2. Ebenfalls möglich, aber in unserem Corpus selten, sind: A Venise vint il qu’il a Venise vint Als „Ausreißer“ wurden festgestellt: Ø Vint a Venise que Ø vint a Venise Der Typus Vint a Venise kann im Rolandslied als „epische Verbalasyndese“ und in den QLR als Latinismus beschrieben werden. Für den Typus que vint a Venise wurde festgestellt, dass er nur z.T. metrischen Bedingungen gehorcht (in dem genannten Beispiel hätte das reguläre qu’il vint a Venise dieselbe Silbenzahl). Literatur Primärliteratur Die angegebenen Siglen der DEAFB iblEl, die z.T. auf andere als die von mir zugrundegelegten Editionen verweisen, erlauben einen schnellen Zugriff auf 100 Barbara Wehr Informationen zu der Datierung und Lokalisierung der Texte, ihrer handschriftlichen Überlieferung und zu Weiterem. Adamsspiel = Sletsjöe, Leif (Hrsg.) (1968): Le Mystère d’Adam . Édition diplomatique accompagnée d’une reproduction photographique du manuscrit de Tours et des leçons des éditions critiques. Paris: Klincksieck. (AdamS) Alexiusleben = Storey, Christopher (Hrsg.) (1968): La vie de Saint Alexis. Texte du Manuscrit de Hildesheim (L) . Publié avec une Introduction historique et linguistique, un Commentaire et un Glossaire complet. Genève: Droz. (AlexisS2; cf. auch s. AlexisRo) Eulaliasequenz = Berger, Roger / Brasseur, Annette (Hrsg.) (2004): Les séquences de Sainte Eulalie. Buona pulcella fut Eulalia. Édition, traduction, commentaire, étude linguistique . Cantica uirginis Eulaliae. 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L’histoire de la langue française confirme cette these: l’ancien français ne distingue pas encore ces types de couleur (cf. Schäfer 1987: 22). Notre étude se concentrera sur l’ orange , sans pour autant négliger les tons de rose et de violet. Elle montrera combien la palette de ces couleurs se diversifie - surtout pendant la période du français moderne et contemporain - en se référant en partie également à l’allemand et à l’anglais. Les raisons de cette différenciation sont assez complexes et reflètent les changements qui apparaissent dans la société. 1 1 Einführung „Esel verwechselt orangefarbenes Auto mit Karotte“ - so lautet die Überschrift eines Artikels auf S. 1 der Nürnberger Zeitung vom 17./ 18. September 2016: Ein Esel hat in Hessen in ein orangefarbenes Auto gebissen und einen Schaden von etwa 30.000 Euro angerichtet. „Der Vierbeiner vermutete wohl, dass an der Weide eine überdimensionale Mohrrübe liege und biss zweimal in das Heck“ des Sportwagens, teilte die Polizei am Freitag mit. Der Fahrer hatte sein Fahrzeug - einen 500.000 Euro teuren McLaren - am Donnerstag rückwärts vor der Koppel des Esels im hessischen Schlitz eingeparkt, um Besorgungen zu machen. Als er zurückkam und wegfahren wollte, biss das Tier zwei Mal in das Heck. Dabei beschädigte es unter anderem den Lack. „Ich sah in den Rückspiegel und entdeckte hinter meinem hochgefahrenen Heckflügel plötzlich Ohren! Und dann hörte ich ein komisches Geräusch,“ berichtet der Eigentümer einem hessischen Radiosender und nimmt es mit Humor: „Der Esel dachte wohl, das sei eine rollende Karotte.“ 1 Mein besonderer Dank gilt Hélène Nguyen-Breitinger für vielfältige Unterstützung. 106 Hildegard Klöden Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig Farben in unserer Welt sind und dass sie uns helfen, Gegenstände zu identifizieren, auch wenn dies im vorliegenden Fall gründlich misslungen scheint. Das deutsche Farbwort orange ist natürlich eine Entlehnung aus dem Französischen, wie überhaupt Farbbezeichnungen häufig aus anderen Sprachen entlehnt werden. Im Altfranzösischen gab es den Farbausdruck orange noch nicht. Barbara Schäfer beschreibt dies in ihrem Grundlagenwerk Die Semantik der Farbadjektive im Altfranzösischen : Bei den im Afr. fehlenden Grundfarbbereichen handelt es sich wie zu erwarten um die drei letzten, erst im Stadium VII erfassten Kategorien VIOLETT , ROSA und ORANGE . Das Afr. befindet sich somit in Stadium VI oder sogar erst im Übergang von V zu VI […]. (Schäfer 1987: 120-121) Sie bezieht sich hier auf die 1969 erschienene Untersuchung von Berlin und Kay, Basic Color Terms (1969: 4), die eine universelle Entwicklung der Farbterminologie annimmt, welche sich in verschiedene Stadien einteilen lässt (Schäfer 1987: 22): 2 Auch Kristol (1978) nimmt in seinem Referenzwerk zu den Farben in den romanischen Sprachen auf Berlin und Kay Bezug: Selon le système de classification par Berlin et Kay (op. cit., pp. 22-23 et 35-36) les langues romanes littéraires feraient donc partie du groupe des langues à système lexical chromatique évolué („stage VII systems“). Une seule divergence est à noter: leurs critères de delimitation du lexique de base étant trop formels […] ils sont amenés à intégrer l’orange dans les couleurs de base. Pour nous, cette couleur […] ferait plutôt partie d’un „stade évolutionnaire supplémentaire“ dont les auteurs américains prévoient l’existence. (Kristol 1978: 48) 2 Das Modell von Berlin / Kay wurde verschiedentlich erweitert, u. a. von Kay / McDaniel (1978), was für vorliegende Untersuchung jedoch keine Rolle spielt, da stage VII im Wesentlichen unverändert blieb. Zur weiteren aktuellen Forschung in Bezug auf die Basic Color Terms sowie auf das Verhältnis von Farbwahrnehmung und Farbbezeichnung cf. z.B. Zollinger (1999), MacLaury (2001) oder Glanemann (2003). Farbbezeichnungen im Neufranzösischen 107 Kristol lehnt es ab, orange zu den Grundfarbwörtern der romanischen Sprachen zu zählen, da es ihm als Übergangsnuance unwichtig erscheint. Er unterscheidet zehn Farbfelder, 3 zu denen auch die Violett- und Rosa-Bereiche gehören, die nach seinen Angaben (wie im Übrigen auch orange ) im klassischen Latein inexistent waren: La distinction de dix champs s’éloigne assez du système „physique“ des couleurs du spectre dont nous nous servons d’habitude, couleurs qui d’ailleurs ne sont au nombre de sept - violet, indigo, bleu, vert, jaune, orange, rouge - que parce que de cette façon la scolastique médiévale était satisfaite […]. Nous y trouvons en plus le *brun* et le *rose*, ainsi que les couleurs „achromatiques“, *blanc*, *gris* et *noir*. Manquent par contre l’indigo et l’orange qui dans nos langues sont des nuances de transition trop peu importantes. (Kristol 1978: 48) Ich möchte hier die bisher weitestgehend unerforschten Farbfelder der orange-, rosa- und lilafarbenen Töne etwas näher in Augenschein nehmen (zu Rosa gibt es eine umfangreichere Studie von Anne Mollard-Desfour aus dem Jahr 2002; Kristol (1978: 329): „[…] il nous manque encore les résultats d’une étude du *violet*“; cf. aber zuletzt Ilea (2017), vor allem zu violet als Basic Color Term) . 2 Das französische Farbwort orange und benachbarte Bezeichnungen Nachdem orange auch von Kristol ausgeschlossen wird, soll auf dieser Farbe der Schwerpunkt liegen, wenngleich mein Vorgehen selektiv und subjektiv bleiben muss. Viele Farbbezeichnungen entstehen erst im Neufranzösischen bzw. im Französischen der Gegenwart, weshalb mein Interesse vor allem auf diese Periode gerichtet ist, mit Ausblicken auf das Mittelfranzösische sowie auf andere Sprachen wie das Deutsche und gelegentlich das Englische. Schlägt man im Petit Robert unter dem Lemma orange nach, so wird dort für das Farbwort kein Erstbeleg angegeben. Orangé wird hingegen auf das 16. Jh. datiert. Orange als Farbadjektiv muss also schon vorher existiert haben. Barbara Schäfer (1987: 125-126) verweist auf das FEW (16. Jh.), nennt selbst aber einen Beleg von jaune orenge aus dem im 15. Jahrhundert entstandenen Blason des Couleurs . Orange ist auf jeden Fall in mittelfranzösischer Zeit als Farbbezeichnung aufgekommen. Der Name der Frucht ist im Französischen nach PR seit 1515 belegt; cf. Heller ( 3 2006: 259): „Vor der Orange gab es kein Orange. In allen Sprachen ist der Name der Farbe identisch mit dem Namen der Frucht.“ Ein wirklicher Unterschied zwischen orange und orangé wird aus den Wörterbucheinträgen nicht erkennbar. Als weitere Synonyme werden abricot 3 Zur Farbenlehre im Allgemeinen cf. z.B. Küppers (²2012). 108 Hildegard Klöden und tango genannt. Für tango , das nach PR erstmals 1914 auftritt, findet sich die Erklärung „Couleur mise à la mode lors de la vogue du tango. Orange très vif, orange foncé“. Eine Entsprechung im Deutschen sehe ich in diesem Fall nicht. Der Farbtyp Orange wird also im Französischen noch weiter differenziert. Bei allen weiteren Farbbezeichnungen handelt es sich jedoch nicht mehr um Basic Color Terms ( BCT ), sondern um Hyponyme bzw. Kohyponyme der Farbbezeichnung orange , d. h. um sogenannte Secondary Color Terms , oder um farbliche Nachbarbereiche, die den BCT s orange , rosa oder violett zugeordnet werden können. Für abricot findet sich in PR folgende Definition: „Couleur jaune orangé très doux“, wiederum ohne Zeitangabe für den Erstbeleg. Die Frucht selbst wurde erstmals 1512 im Französischen bezeichnet, als Übernahme aus dem Katalanischen, das dieses Wort aus dem Arabischen entlehnt hat. Im Deutschen wird diese Farbbezeichnung aus dem Französischen oder zuweilen dem Englischen übernommen, wobei letzteres dieses Wort wiederum aus dem Französischen bezogen hat. Auch das Farbadjektiv mandarine wird im PR als „De couleur orange“ definiert, ebenso im TLF , der als Erstbeleg das Jahr 1902 angibt. Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Farbnuancen wird aus der Definition in den Wörterbüchern und vielleicht auch in der Realität nicht immer klar. So wird z. B. parme im PR als „ Mauve comme la violette de Parme“ beschrieben, so dass die Abgrenzung zu mauve nicht eindeutig ist bzw. eine Zirkeldefinition vorliegt. Im weiteren Sinne könnte man auch cognac sowie ocre und ocré zu den Orangetönen zählen. Ersteres wird in PR als „De la couleur orangée du cognac“ ausgewiesen, wieder ohne Erstbeleg (das Getränk selbst tritt erstmals 1836 in Erscheinung, also handelt es sich auch hier um ein jüngeres Farbadjektiv). Ocre wird in PR als „Couleur d’un brun jaune ou orangé“ bezeichnet, beide nähern sich den Brauntönen. Roux , das vor allem in Bezug auf die Haarfarbe verwendet wird (wie auch auburn , das aus dem Englischen entlehnt wurde), nähert sich den Rottönen, ebenso wie terre cuite (als Entsprechung zu ital. terracotta ). Letzteres wird nicht wirklich datiert ( TLF gibt Belege von 1923 und 1938). Auch carotte wird als Farbadjektiv gern auf die Haare bezogen ( Poil de carotte ) und könnte als Orangeton gewertet werden (so auch in unserem Eingangsbeispiel). Der Übergang zu den Rottönen ist hier fließend, ebenso wie bei renard , das im TLF mit „D’un roux ardent“ umschrieben wird (ob es sich bei dem angegebenen Beleg von 1923 um den Erstbeleg handelt, ist unklar). Auf der anderen Seite der Skala nähert sich Orange den Rosétönen. Während melon noch - ähnlich wie abricot - als sanftes Orange bezeichnet werden kann und mangue als Farbadjektiv im TLF als „Couleur rose-orangé“ charakterisiert wird, tendieren saumon / saumoné und corail schon stärker zum Rosé-Bereich, Farbbezeichnungen im Neufranzösischen 109 auch wenn saumon in PR wie folgt definiert wird: „D’un rose tendre tirant légèrement sur l’orangé“ (Erstbeleg nach TLF: 1860 / 1903 ( saumoné )). Corail existiert laut TLF seit 1907. Flamant bzw. flamant rose (das Deutsche kennt Flamingo als aktuelle Modefarbe) dienen ebenfalls als Farbbezeichnungen aus dem Rosa- Spektrum. PR führt es nicht in dieser Funktion, TLF gibt Belege von 1944 und 1953, so dass es sich also auch hier um Neubildungen des Gegenwartsfranzösischen handelt. Daneben wäre noch pêche zu nennen, das nach TLF als „d’un rose pâle“ definiert wird und 1803 erstmals als Farbwort auftritt. 3 Die französischen Farbwörter rose und violet sowie benachbarte Bezeichnungen Die zentralen Bezeichnungen rose und rosé finden sich als Wortform bereits im Altfranzösischen, bleiben aber teilweise in ihrer Bedeutung unklar (cf. Schäfer 1987: 59). PR datiert rose auf das 15. Jahrhundert: „Qui est d’un rouge très pâle, comme la rose“ (Rosen gab es damals offenbar nur in dieser Farbe). Ein kräftiger bzw. dunkler Rosa-Ton wird im Deutschen heute häufig mit Pink benannt, das aus dem Englischen übernommen wurde. Das Französische kennt dieses Wort kaum, vielleicht weil man Anglizismen im Französischen häufig ablehnend gegenübersteht. Am ehesten entspricht wohl rose bonbon diesem Farbton (im PR ohne Datierung), vielleicht ist auch fuchsia (cf. Mollard-Desfour 2002, s.v.) als französische Entsprechung zu pink geeignet, wird im PR aber nicht als Farbwort ausgewiesen. Des Weiteren käme noch cyclamen in Frage, das aber bereits einen Übergang zur Violettskala bedeutet. PR : „couleur mauve propre à cette fleur“ (ohne Datierung). Hinzu kommen in den letzten Jahren Beerentöne, die ebenfalls zwischen dem ROSA - und dem VIOLETT -Bereich liegen. So verwendet die Firma Deerberg die englische Bezeichnung cranberry für einen Rosarotton. Bei Land’s End wird das französische baie gebraucht (im PR nicht als Farbe angegeben). Was die Violett-Töne angeht, so kennt das Altfranzösische hier bestenfalls po(u)rpre , das einem Rotlila nahekommt, und violete (cf. Schäfer 1987: 94) (heutiges violet wird nach PR als „mélange du bleu et du rouge“ definiert), die „sich aber dennoch weder durch Anwendungsbreite noch durch hohe Belegzahlen als Repräsentanten eines eigenen Grundfarbbereichs qualifizieren“ (Schäfer 1987: 119). Auch hier nimmt die Ausdrucksvielfalt in der Entwicklung zum Neufranzösischen erheblich zu. Der Eintrag violet im PR verweist auf Synonyme wie violacé , lilas , mauve , parme sowie neben dem immer noch existenten pourpre auch violine („De couleur violet pourpre“), des Weiteren auf aubergine , lie-de-vin und prune , letztere in der Bedeutung „violet foncé“. Lilas wurde über das Spa- 110 Hildegard Klöden nische und Portugiesische aus dem arabisch-persischen Sprachbereich entlehnt und ist erstmals um 1600 belegt, violine datiert aus dem Jahr 1872, mauve als Farbbezeichnung aus dem Jahr 1875, parme ist erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts belegt. Für lie-de-vin als Farbadjektiv ist im PR kein Erstbeleg angegeben ( TLF : 1797 bzw. 1804), ebensowenig wie für aubergine . Dieses ist von der gleichnamigen Frucht abgeleitet, die 1750 erstmals im Französischen auftaucht, d. h. das Farbadjektiv wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit erst danach gebildet. TLF nennt hier den Erstbeleg 1866. Violacé ( PR : „Qui tire sur le violet“) findet sich erstmals 1777. Mûre und cassis gelten im PR nicht als Farbbezeichnungen. Prune ist als Farbe laut PR seit 1780 belegt. Hinzu käme lavande , das im PR in der Farbwortfunktion nur als „Bleu lavande, bleu mauve assez clair“ aufscheint, also offensichtlich der Blauskala zugerechnet wird, während mauve wohl eher zum Violett-Spektrum gehört ( PR : „D’une couleur violet pâle“, seit 1892). 4 Zwischenfazit Fassen wir zusammen: Die Farbtypen ORANGE , ROSA und VIOLETT spezialisieren sich im Lauf der französischen Sprachgeschichte immer mehr. 4 Ihrerseits bereits Mischfarben (Sekundärfarben), dienen sie zusammen mit anderen Farben als Grundlage für weitere Nuancierungen. Wie schon erwähnt, finden im Bereich der Farbbezeichnungen häufig Entlehnungsprozesse statt. In diesem Fall hat das Französische oft die Rolle der Gebersprache. Im Deutschen finden wir u. a. rosé , violett , mauve , beige (cf. zu letzterem Müller 2017) und natürlich orange und cognac , ebenso das seit einigen Jahren als Modefarbe gern verwendete taupe , ein Grau-Braun-Ton, und bleu als ,mot aller et retour‘, während nude als Modefarbe der letzten Jahre, die für einen sehr blassen Roséton steht und im Deutschen auch mit hautfarben wiedergegeben werden könnte, aus dem Englischen entlehnt wurde. Französisch war lange Zeit die führende Sprache auf dem Gebiet der Mode, wird heute aber zum Teil durch das Englische abgelöst. 5 Aktuelle Tendenzen der Farbbezeichnungen im Französischen und Deutschen Bei den neueren Farbbezeichnungen im Französischen fällt auf, dass es sich in zahlreichen Fällen um unveränderliche Adjektive handelt. Sie schwächen die Kategorie ‚Genus‘ nicht nur im gesprochenen, sondern auch im geschriebenen Französisch und verstärken damit die Tendenz zur Prädetermination. In der 4 Dies gilt in gleichem Maße für andere Farben und andere Sprachen; hier wären auf jeden Fall weitere Forschungen wünschenswert. Farbbezeichnungen im Neufranzösischen 111 weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind sie von Substantiven durch Konversion abgeleitet und entsprechen so einem verbreiteten Wortbildungstrend des modernen Französischen. Außerdem erhöhen sie die semantische Differenzierung im Lexikon bzw. die Polysemie. Eine Besonderheit im Französischen bilden Dubletten wie rose / rosé , orange / orangé , ocre / ocré und saumon / saumoné . Als Quelle für diesen lexikalischen Reichtum des modernen Französisch dienen in erster Linie Blumen bzw. Pflanzen im allgemeinen, (exotische) Früchte und Gemüsesorten, die in ihrer Farbgebung auffällig bzw. neu sind, daneben auch einzelne Vertreter aus dem Tierreich ( flamant ( rose ), saumon , renard ). Seltener sind Tanz- ( tango ) oder Städtebezeichnungen ( parme ) die Grundlage. Grundsätzlich stellt sich die Frage: Brauchen wir solch differenzierte Farbsysteme? Warum reichen die Grundfarben und nicht einmal die Sekundärfarben mehr aus? Zunächst denkt man in diesem Kontext sicher an den Bereich der Mode: Modefarben wechseln fast jede Saison, so dass hier spezifische und immer wieder neue Bezeichnungen geradezu notwendig erscheinen (auch Autofarben wären ein lohnendes Untersuchungsgebiet). Ähnliches gilt für die Bereiche Dekoration und Einrichtung, die ebenfalls einer gewissen Mode unterworfen sind. 5 Ich habe daher einige Zeitschriften zu diesen Feldern auf das Vorkommen von Farbbezeichnungen hin analysiert - mit teils überraschenden Ergebnissen. Ich beginne mit einer Textstelle aus Brigitte Nr. 13 (8. 6. 2016). Dort heißt es S. 82: Die frischen Beauty-Farben für diesen Sommer machen gute Laune und Lust auf Obst! Erdbeer, Orange oder Melone für den Mund, Drachenfrucht-Pink oder Aprikose auf den Wangen. Auch im Bereich ‚Kosmetik‘ benötigen wir also eine stark differenzierte Farbskala. Was hier für das Deutsche illustriert wird, lässt sich zumindest teilweise auf das Französische übertragen, wenngleich melon als Farbbezeichnung im PR nicht ausgewiesen ist und es sich bei Drachenfrucht-Pink wohl nur um eine Augenblicksbildung handelt. Dennoch verdeutlicht letzteres den Entstehungsprozess zahlreicher Farbbezeichnungen. Eine bisher weitgehend unbekannte 5 Diese Trends werden heute großenteils gesetzt, cf. dazu z. B. WOHNEN Träume (2 / 2016, S. 7): „Für gewöhnlich wählt das US-Unternehmen Pantone eine einzelne Farbe zum Trendton des Jahres. Dieses Mal konnte sich die Jury offenbar nicht zwischen „Rosé Quartz“ und „Serenity Blue“ entscheiden. So wurden die beiden zarten Nuancen, die sich so wunderbar ergänzen, gemeinsam gekürt. Zahlreiche Möbelhersteller griffen daraufhin das Trendfarben-Duo auf und bieten nun zur Freude aller Romantiker eine große Auswahl von Möbeln und Accessoires sowie Designklassiker in himmlischem Bleu und zauberhaftem Puderrosa an.“ 112 Hildegard Klöden Frucht liefert die Grundlage für einen neuen Farbton, der auch nach ihr benannt wird, cf. papaye , nectarine etc., die ebenfalls den ORANGE -Bereich ausweiten. Fraise ist (ebenso wie framboise ) im Französischen eher ein Rotton, während er im Deutschen wohl dem Rosa-Spektrum zuzurechnen ist. Die Analyse von marie claire idées n o 116 (septembre-octobre 2016) - eine an ein weibliches Publikum gerichtete Zeitschrift aus dem Kreativbereich - hat die Rosa-Skala um folgende Töne erweitert: rose poudré , rose sable und vieux rose (S. 127), ebenfalls eine häufige Wortbildungsmöglichkeit im französischen Farbwortschatz, wobei das Farbadjektiv durch ein weiteres Adjektiv oder ein Substantiv näher determiniert wird. Auch das Deutsche kennt derartige Determinativkomposita ( Puderrosa , Altrosa ). Sogar der aus dem Englischen entlehnte Farbton nude findet sich in einer Farbpalette von Dior. Ein besonders treffendes Beispiel für die fantasievolle Benennung von Farben zeigt folgende Textpassage aus marie claire idé es n o 116 (septembre-octobre 2016, S. 38), bei der es darum geht, ein Skateboard mit Sprühfarben zu gestalten: Bombes de peinture coloris discret, chrome cuivré, argenté glitter, moberry, bleu polaire, fluoro pink, potion. Fröhlich werden hier Anglizismen und originär französische Bestandteile gemixt. Auch über diesen Weg können Anglizismen relativ unbemerkt ins Französische gelangen. Die Skala der hier ins Auge gefassten Farben erweitert sich stetig, wobei davon auszugehen ist, dass viele dieser Farbnuancen bzw. ihre Bezeichnungen dem einzelnen Sprecher wohl kaum bekannt sind, auch wenn wir im Normalfall nach Kronberger (2017) ca. 100 000 Farbtöne unterscheiden können. Cf. zu dieser Thematik auch den Kommentar von Klaus Schamberger, einem bekannten Nürnberger Kolumnisten, in einem Artikel der Nürnberger Zeitung vom 10. Oktober 2016, S. 10: Jetzt drängt es mich aber noch zur löblichen Erwähnung eines sehr schönen Möbelhauses, dessen Prospektdichter einen Kleiderschrank in Form einer nahezu nobelpreisverdächtigen Sensationsmeldung anbietet. „Der Kleiderschrank […] bietet durch endlose Kombinationsmöglichkeiten jede Menge Stauraum.“ […] Noch dazu in folgenden scheint’s extra für mich erfundenen Farben: in Macchiato, Vulcan, Lava, Pacific blue, Lilac grey, und obacht! in Wildeiche. Bei der Wildeiche erheben sich in mir allerdings zwei Fragen […]: 1. Warum heißt die Farbe nicht Wild Oak, und 2. Gibt es neben der Wildeiche auch eine Zahmeiche? Die Entwicklung von Farben bzw. ihren Bezeichnungen steht zweifelsohne stark mit kulturellen und gesellschaftlichen Tendenzen in Verbindung (cf. in diesem Sinne ebenso Pastoureau 2013), auch wenn diese im Einzelfall noch näher unter- Farbbezeichnungen im Neufranzösischen 113 sucht werden müssten. So ist auffällig, dass heute, wo Kochshows eine große Rolle spielen, viele Farbtöne nach Gewürzen benannt werden. Im Katalog der Textilfirma Landsʼ End finden sich z. B. Dunkel Ingwer (für ein dunkles Orange), Vintage Zimt (braunorange), Dunkel Koriander (heller Braunton), Dunkel Gewürz Braun (dunkelbraun) sowie Orangenzeste für ein dunkles Orange ( burnt orange ). Die deutsche Vogue (4 / 2016) präsentiert auf S. 68 ein À la carte Modemenü unter dem Motto „von Safran bis Zimt“ (beide fungieren auch im Französischen als Farbwörter). InStyle (April 2017, S. 36) propagiert Curry als aktuelle Modefarbe. Noch deutlicher werden diese Zusammenhänge im Eintrag für die Farbe Orange auf der Website der Einrichtungszeitschrift Schöner Wohnen : Orange ist eine Modefarbe. Das erkennt man schon daran, dass die Farbpsychologie vor ein paar Jahren feststellte, von Orange sei niemand sonderlich angetan, Frauen nur wenig, Männer gar nicht. Wie oft sieht man Orange heute! Seit der „orangenen Revolution“ in der Ukraine im Winter 2004 / 05, seit sich politische Parteien, große Firmen und Fernsehsender eine Corporate Identity in Orange zulegen, boomt die Farbe und demonstriert, wie schnell die Stimmungen wechseln können. Mit Orange zeigen sich die Bereitschaft zum Verändern und die Lust zum Trend. ( Schöner Wohnen Farbe , online: s.v. Orange ) Trend ist als Wohnfarbe laut Schöner Wohnen Farbe aktuell u. a. Sahara , das sehr poetisch beschrieben wird: Dieses Goldorange ist wie ein Spüren von Geräuschen, ein Horchen in die Natur, ein Nachfühlen über frohe Gedanken; „Sahara“ hat eine intensive Gefühlslage. Wer sein Zuhause zum Erlebnis machen möchte, das die Atmosphäre durchweht, das Freude macht, das die Wärme schenkt, liegt mit „Sahara“ goldrichtig. ( Schöner Wohnen Farbe , online: s.v. Sahara ) Farben vermitteln Emotionen, wie uns diese Passage deutlich vor Augen führt. Sie wirken auf uns, oft ohne dass wir uns dieser Wirkung bewusst sind. Dieses Potential lässt sich u. a. für die Behandlung von Krankheiten nutzen (cf. u.a. Riedel 5 1986; Eberhard 8 1990). So können z. B. Orange- und Pinktöne bei der Behandlung von Depressionen unterstützend eingesetzt werden. 6 Fazit Im Hinblick auf die hier behandelte Thematik stellt sich eine grundsätzliche Frage: Was passiert, nachdem Sprachen das von Berlin und Kay angenommene Stadium VII erreicht haben? Ergibt sich damit auch eine lineare Proliferation der Secondary Color Terms oder entwickeln sich solche Farbbezeichnungen unter Umständen auch wieder zurück? 114 Hildegard Klöden Einige Modezeitschriften, die ich analysiert habe, legen diese Deutung nahe. In Modestrecken werden Farbtöne oft überhaupt nicht mehr benannt, man überlässt es dem Leser, die jeweiligen Farben zu identifizieren, was natürlich auch durch die hochentwickelte Drucktechnik ermöglicht wird, die es erlaubt, auch kleinste Farbnuancen wiederzugeben. So kommt auf ca. 80 Seiten Mode in marie claire 2 (automne-hiver 2014 / 2015) keine einzige Farbbezeichnung vor, mit Ausnahme der Bezeichnung off-white , die hier aber als Firmenname fungiert. Wieweit dies markenrechtlichen Gründen geschuldet ist, wäre zu überprüfen. Auffällig ist zudem, dass viele Autohersteller ihre Farbskala deutlich reduziert haben und oft nur noch Schwarz , Weiß , Silber und Blau zur Verfügung stehen. Cf. zur Farbe Blau in diesem Kontext u. a. Braem ( 10 2012: II ): „Die neue Gefühls- und Bewußtseinsmatrix der globalen, mobilen Gesellschaft heißt offensichtlich Blau.“ Orange , nach Braem ( 10 2012: III ) „von Natur aus der lebhafte, quirlende Gegenpol zum eher ruhigen Blau“ hat damit aber noch nicht ausgedient, denn: „Beide Farben scheinen sich gegenseitig zu bedingen“ (Braem 10 2012: III ). Sie bilden einen sogenannten Komplementärkontrast. Orange hat keinen universellen Farbfocus (cf. dazu Müller 2017), kann aber - wie jede Farbe - individuelle Assoziationen hervorrufen (ibid.). Wie alle Farben vereint auch Orange gegensätzliche Bedeutungen in sich: von Aggressivität bis Aktivität (zu Orange in der Werbung siehe auch Müller 2017). Und: „Wer ein Kinderzimmer so streicht, wird auch fröhliche Kinder haben, heißt es.“ 6 Die Trendhaarfarbe für 2017 ist übrigens blorange , sprachlich wie farblich eine Mischform aus blond und orange (cf. u.a. Nivea, online). 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La présente étude examine les différents domaines thématiques de sa réflexion linguistique qu’on trouve surtout dans son œuvre principale L’homme machine (1748), et les replace dans le contexte de la philosophie du langage de l’époque. 1 Zielsetzung Der vorliegende Beitrag über den Arzt und Philosophen Julien Offray de La Mettrie (1709-1751), der in der Philosophiegeschichte erst relativ spät entsprechend gewürdigt wurde und in der sprachwissenschaftlichen Rezeption bisher nur punktuell Beachtung fand, 1 soll einen ersten größeren Gesamtüberblick über die von ihm herausgearbeiteten Aspekte der Sprachreflexion liefern und diese vor dem Hintergrund seiner radikalen Aufklärungsphilosophie und den zeitgenössischen sprachphilosphischen Positionen verorten. Das zentrale Werk hierzu ist die Abhandlung L’homme machine (1748), doch werden auch andere Traktate aus seinem Œuvre, in denen sich einige Anklänge zu seinen Überlegungen zur Sprachursprungstheorie, der Verknüpfung von Sprache und Denken oder Sprache und Gesellschaft ausmachen lassen, Berücksichtigung finden. 2 1 Zur späten Rezeption La Mettries in der Philosophie cf. den Überblick bei Mensching (2008: 517-518); die marginale Behandlung im Rahmen der Sprachphilosophie zeigt sich z. B. an der bloßen Kurzerwähnung im HSK Sprachphilosophie (Hewes 1996: 933); etwas ausführlichere Passagen finden sich allein bei Haßler / Neis (2009). 2 Für L’homme machine sei hier auf die aktuellste zweisprachige Ausgabe von Claudia Becker im Meiner Verlag zurückgegriffen (La Mettrie, HM 1990), cf. aber auch die zwei- 120 Roger Schöntag 2 Biographischer Hintergrund Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) wird als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie (Textilgewerbe) in St. Malo in der Bretagne geboren. Er besucht die Collèges von Coutances und Caen ( Jesuitenschule), an denen er erste geisteswissenschaftliche Grundlagen lernt (Rhetorik, etc.). Um diese erste Studien abzuschließen, geht er nach Paris, wo er in den Humanités einen bachelier (bzw. maître-ès-arts ) am Collège d’Harcourt macht (1726 / 1727). Anschließend an seine Ausbildung in nimmt er ein Studium der Philosophie / Theologie am Collège du Plessis auf, 3 da er von seinen Eltern für die klerikale Laufbahn vorgesehen ist. Er bricht jedoch das Philosphiestudium bald ab und wechselt zur medizinischen Fakultät von Paris und beendet dieses Studium dann 1733 mit einem bachelier ; den Doktortitel ( thèse de médecine ) erwirbt er jedoch in Rennes (cf. Vartanian 1960: 1-2; Baruzzi 1968: 175; Christensen 1996: 245-246; Laska 2004: VIII ). 4 Da er die medizinische Ausbildung an Frankreichs Universitäten für ungenügend erachtet (cf. Mensching 2008: 508), studiert er weiter, und zwar in den Niederlanden bei der europaweit anerkannten Koryphäe Herman Boerhaave (1668-1738) in Leiden (Leyden), der ihm zum wichtigsten Lehrer wird. La Mettrie schreibt in der Folgezeit einige medizinische Abhandlungen (z. B. Dissertation sur les maladies vénériennes , 1735) und übersetzt das Werk Boerhaavens aus dem Lateinischen ins Französische ( Système de M. Herman Boerhaave , 1735). Von 1734 bis 1742 praktiziert er als Arzt in seiner Heimatstadt, auch in den dortigen Krankenhäusern (Hôpital Générale von Saint-Servan und Hôtel-Dieu von St. Malo; cf. Lemée 1954: 21), wo er gegen die Cholera kämpft und selbst befallen wird (1741). Er heiratet und gründet eine Familie (mit Marie-Louise Droneau, sprachigen Ausgaben von Bernd A. Laska im Rahmen seines LSR-Projekts (La Mettrie, HM 1 1985, ³2004) sowie von Theodor Lücke bei Reclam (La Mettrie, HM 1 1965, 2015). Grundlegend bleibt zudem die Reprint-Ausgabe der gesamten Œuvres philosophiques im Olms Verlag, in der neben L’homme machine (La Mettrie, HM 1774), auch der Traité de l’âme (La Mettrie, TA 1774) sowie L’homme plante (La Mettrie, HP 1774) abgedruckt sind, wobei letzteres Traktat seit kurzem auch noch als zweisprachige Ausgabe vorliegt (La Mettrie, HP 2008). Zur Kritik an der hier nicht verwendeten Neuauflage des Gesamtwerkes bei Fayard (La Mettrie 1987) cf. Laska (1989). 3 Einer seiner Lehrer am Collège du Plessis, bei dem er in Logik unterrichtet wurde, stand dem Jansenismus nahe (cf. Lemée 1954: 17); eine frühe La Mettrie zugewiesene jansenistische Schrift wurde bisher noch nicht gefunden (cf. Christensen 1996: 246, FN 6). 4 La Mettrie wechselt zur Erlangung seines Doktortitels in die Provinz, da dort wohl die Formalitäten für ein solches Verfahren geringer waren (cf. Christensen 1996: 246). Seine Dissertation galt lange als verschollen, wurde jedoch inzwischen wiederentdeckt ( Epistolaris de vertigine dissertatio , Rennes 1736). Bei dieser Gelegenheit konnte auch der Ort der Promotion von Reims in Rennes korrigiert werden (cf. Stoddard 2000: 13-14, abgedruckt ibid: 63-77). Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 121 1739), 5 doch Ende 1742 geht er zurück nach Paris und nimmt eine Stellung als médecin domestique beim Duc de Grammont ( Colonel des Gardes Françaises ) an und begleitet ihn als Sanitätsoffizier in die Schlachten des österreichischen Erbfolgekrieges (cf. Becker 1990: VIII ; Christensen 1996: 247-249; Laska 2004: X- XI ). La Mettrie kehrt nach dem Tod des Herzogs 1745 nach Paris (und St. Malo) zurück und arbeitet als Medizininspekteur von Armeespitälern; in seinen Schriften wendet er sich philosophischen Themen zu bzw. versucht seine medizinischen Kenntnisse in allgemeine philosophische Betrachtungen einzubringen. Sein erstes philosophisches Werk, die Histoire naturelle de l’âme (1745), welches er unter dem Eindruck eines fièvre chaude verfasste - so die wohl „anekdotische Rekonstruktion“ (Christensen 1996: 250) -, wird beschlagnahmt und verbrannt, seine polemische Schrift Politique du médecin de Machiavel (1746) des Folgejahres, in der er die Missstände in der französischen Medizin anprangert, wird ebenfalls verbrannt und einer drohenden Verhaftung kann er nur durch seine Flucht nach Holland entgehen. Dort findet er vorübergehend Geldgeber und schreibt neben der satirischen Komödie La faculté vengée (1747) gegen die Pariser Ärzteschaft sein wichtigstes Werk, L’homme machine (1747, vorausdatiert auf 1748). Aufgrund der Radikalität der dort vertretenen Ansichten, die selbst den liberalen Holländern zu weit geht, wird sein Verleger, Elie Luzac (1721-1726), verhaftet, La Mettrie sieht sich genötigt sein Werk zu verleugnen und muss 1748 mit Hilfe Luzacs wiederum fliehen (cf. Becker 1990: VIII - IX ; Christensen 1996: 251-255). Er nimmt die Einladung seines Landsmannes Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698-1759) aus St. Malo, der Präsident (1746-1759) der Königlichen Akademie der Wissenschaften ( Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres ) in Berlin ist, 6 an und begibt sich auf dessen Vermittlung hin an den Hof Friedrich II. von Preußen (geb. 1712; Kg. 1740-1786) nach Potsdam. Von 1748 bis zu seinem Tod 1751 bleibt er am Hofe Friedrichs, wird dessen Arzt, Gesellschafter und Vorleser sowie Mitglied der Akademie und verfasst weitere philosophische und polemische Schriften: u. a. L’homme plante (1748), Discours sur le bonheur (1748) als Einleitung einer Seneca-Übersetzung ( Anti-Sénèque ) getarnt, Les animaux plus que machines (1750), L’art de jouir ou l’école de la volupté (1751), Le petit homme à longue queue (1751), Œuvres philosophiques (1750, vorausdatiert auf 1751). Die Radikalität seiner Schriften, insbesondere des Anti-Sénèque , in Bezug auf Re- 5 Zu den weiteren Lebensumständen seiner Frau und seiner Kinder cf. Lemée (1954: 22-23). 6 Auf die Initiative von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wird im Jahre 1700 die Akademie unter Friedrich III. (geb. 1657, Kg. 1688-1713) gegründet und trägt zunächst den Namen Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften , ab 1701, nach der Erhebung des Kurfürsten zum König, Königlich Preußische Sozietät der Wissenschaften ; ab 1744 unter Friedrich II. wird sie zur Königlichen Akademie der Wissenschaften und nach dessen Tod zur Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften (cf. Franzen 1988: XI). 122 Roger Schöntag ligion (Atheismus), Moral (sexuelle Freizügigkeit) und Politik (Herrscherkritik) bringen Friedrich dazu, 1749 die von ihm im Sinne der Aufklärung abgeschaffte Zensur wieder einzuführen ( Edict wegen der wieder hergestellten Censur ); er wirft 10 Exemplare des letztgenannten Werkes La Mettries eigenhändig ins Feuer (cf. Laska 2004: XIII ), hält aber persönlich weiterhin an ihm fest. 7 Im Jahre 1751 stirbt La Mettrie, wohl an einer verdorbenen Fleischpastete. 8 Friedrich II . hält trotz der Differenzen, die er mit La Mettrie hatte, anläßlich seines Todes eine konziliante Lobrede ( Eloge de La Mettrie , 1752), in der er ihn als honnête homme , âme pure , eloquenten und unterhaltsamen Zeitgenossen sowie als savant médecin würdigt, weniger jedoch als Philosophen (cf. Christensen 1996: 255-268; Mensching 2008: 509). 9 3 Philosophische und geistesgeschichtliche Verortung Um La Mettries philosophische Haltung zu verstehen, ist es zunächst vonnöten seine Stellung innerhalb der medizinischen Wissenschaften zu betrachten, die die Basis für seine späteren radikalen Ansichten darstellt. Sein medizinischer Lehrer Herman Boerhaave, dem er nach eigenen Aussagen seinen eigentlichen Erkenntnisfortschritt in der Kunst der Medizin verdankte - d. h. implizit nicht dem medizinischen Studium in Frankreich - und dessen Werke er ins Französische übersetzte, stand der iatrophysikalischen Lehre nahe. Diese hängt mit der Entdeckung des Blutkreislaufes zusammen und versucht die physischen Vorgänge des menschlichen Körpers zu messen und physikalisch zu erklären, d. h. der lebendige Körper wird als eine Konstruktion wahrgenommen, welche auf mechanischen Abläufen beruht, eben als eine Maschine. Ähnlich wie auch die Iatrochemie, die die Funktionen des Körpers durch die in ihm ablaufenden chemischen Vorgänge zu erklären versucht, handelt es dabei um einen materialistischen Erklärungsansatz. Dabei ist ‚materialistisch‘ hier so zu verstehen, dass man sich ausschließlich auf die mess- 7 La Mettrie spielt - gekonnt, aber nicht ohne zunehmende Verbitterung - bei Hofe die Rolle des Hofnarren und unterhaltsamen Ekzentrikers; dies ist die einzige Möglichkeit für Friedrich II. ihn zu dulden und seinen Verbleib zu rechtfertigen (cf. Becker 1990: IX). 8 Um die Todesursache entstehen zahlreiche Legenden, war es doch für nicht wenige eine gerechte göttliche Strafe, dass dieser atheistische Freigeist an seinem sündigen Lebenswandel zugrunde ging; auch eine mögliche Vergiftung wird deshalb kolportiert (cf. Becker 1990: X; Laska 2004 XV-XVI). 9 Diese neutrale bis positive Sicht auf das Leben und Werk La Mettries blieb lange Zeit die Ausnahme, unterlag er im Folgenden doch hauptsächlich der üblen Nachrede bzw. dem Vorwurf der Immoralität, so dass auch sein Œuvre meist nur sehr einseitig und selektiv rezipiert, wenn es nicht gar ganz ignoriert wurde (cf. Jauch 1998: 30). Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 123 baren Veränderungen des Körpers stützt; Ursachen und erste Prinzipien werden hingegen unberücksichtigt gelassen (cf. Christensen 1996: 21). Von Boerhaave übernimmt La Mettrie nicht nur die materialistische iatrophysikalische Grundhaltung, sondern auch seinen Eklektizismus und die Ablehnung eines alles erklärenden einheitlichen Systems. Hier stehen sowohl Boerhaave als auch später La Mettrie im Gegensatz zu René Descartes (1596-1650), der seine Philosophie auf grundlegenden Prinzipien aufbaut. La Mettrie folgte Boerhaave auch dahingehend, dass dieser die Medizin als eine fachübergreifende Disziplin betrachtete und neben der Klinischen Medizin auch Botanik und Chemie unterrichtete sowie die Praxis der Anwendung am Patienten selbst und dabei auch chirurgische und anatomische Kenntnisse erwartete. Gerade letzteres ist zu jener Zeit nicht selbstverständlich, da die Praktiker der Chirurgie und die Theoretiker der Medizin sich oft feindlich gegenüberstanden, da letztere die Deutungshoheit beanspruchten (cf. Christensen 1996: 21-22). La Mettrie geht aus diesem Studium in Leiden als jemand hervor, den man heutzutage als open-minded bezeichnen würde, was sich allein daran zeigt, dass er zum einen auf Französisch publiziert und sich damit vom elitären und hermetischen Latein seiner Kollegen bewusst absetzt und seine ersten medizinischen Arbeiten der allgemeinen Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens und der medizinischen Aufklärung widmet ( Le bien public ); Adressaten waren dabei neben den medizinischen Kollegen auch Chirurgen und interessierte Laien: Lettres sur l’art de conserver la santé et de prolonger la vie (1734), Dissertation sur les maladies vénériennes (1735), Dissertation sur l’origine, la nature et la cure de ces maladies (1735) [Einl. zur Übersetzung v. Systéme de M. Hermann Boerhaave sur les maladies vénériennes ], Traité du vertige (1737), Traité de la petite vérole (1740), Observations de médecine pratique (1743) (cf. Christensen 1996: 22-24). Zum anderen greift er auch in den in Frankreich tobenden Kampf zwischen Medizinern und Chirurgen ein (Höhepunkt 1724-1743), in dem es um die traditionelle Vormachtsstellung der Mediziner geht, die von den Chirurgen zunehmend in Frage gestellt wird. Er kritisiert dabei beide Seiten und plädiert im Gefolge von Boerhaave für ein Ineinandergreifen beider Wissensbestände. 10 10 Der in zahlreichen Pamphleten geführte Streit zwischen den Praktikern und Theoretikern der Heilkunde zeitigte mitunter kuriose Auswüchse. So wurde behauptet, dass die Überlegenheit der Mediziner darin bestehe, dass sie Schutzheilige hätten, dass schon Plinius sie gelobt habe (aber nicht die Chirurgen), dass Mediziner keine chirurgischen Traktate läsen, dies aber umgekehrt sehr wohl der Fall sei und als gängigstes Argument, dass die Chirurgen kein Latein und Griechisch könnten. Am Ende der querelle zwischen Medizinern und Chirurgen steht schließlich die Einrichtung einer eigenständigen chirurgischen Fakultät (Saint-Côme, 1750), die von der Kontrolle der Mediziner unabhängig ist. Bis allerdings beide Disziplinen im Sinne von La Mettrie zusammenwirken, dauert es noch weitere Jahrzehnte (École de Santé, 1794) (cf. Christensen 1996: 25-26). 124 Roger Schöntag Dies kommt sowohl in seinen medizinischen Schriften zum Ausdruck, als auch konkret in Pamphleten (z. B. Saint Cosme vengée , 1744) und Satiren (z. B. La faculté vengée , 1747; Le chirurgien converti , 1748), in denen er die Hybris der Mediziner, die Eifersucht und Autonomieforderung der Chirurgen und die Zustände im Gesundheitswesen anprangert. Er plädiert vielmehr für eine stärkere Ausrichtung der Medizin an der Empirie, zugleich aber für die Stärkung der Grundlagenforschung; er kritisiert zudem die Trennung von Theorie und Praxis; d. h. Voraussetzung für einen guten Mediziner nach la Mettrie sind neben der eigenen Forschung und Beobachtung breite Kenntnisse in Anatomie, Botanik, Chemie, Physik, Mechanik und Chirurgie. Wichtig ist ihm dabei nicht so sehr die Suche nach den verborgenen Ursachen ( causes cachées ), sondern nach den mit Vernunft und Experiment fassbaren sekundären Ursachen ( causes secondes ) und die methodische Offenheit: „le meilleur système est de n’en point avoir“ (La Mettrie 1743: IV , o.pagin.) (cf. Christensen 1996: 24-39). Dieser medizingeschichtliche Hintergrund bildet die Grundlage des sich daraus entwickelnden philosophischen Gedankengebäudes La Mettries. Die wichtigsten Erkenntnisse fließen dabei in sein weiteres philosophisches Œuvre ein, und zwar vor allem die Systemoffenheit, die Betonung der Empirie und das materialistische Weltbild. Bereits in seiner ersten rein philosophischen Schrift, der Histoire naturelle de l’âme (1745) - überarbeitet als Traité de l’âme in den Œuvres philosophiques (1751) - zeigen sich wesentliche Bestandteile seiner Denkrichtung. Dabei versteht er die im Titel des Werkes genannte Naturgeschichte als eine Naturbeschreibung, ganz im Sinne von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der historia ebenfalls als observatio verstand. Grundlage der wissenschaftlichen Betrachtung ist bei La Mettrie demnach die Empirie, d. h. die auf Beobachtung begründete Erfahrung, so wie sie vor allem John Locke (1632-1704) in seinem Essay Concerning Human Understanding (1689) vertritt, der zwar auch ins Französische übersetzt wurde (1700 v. Pierre Coste), aber in erster Linie durch die Lettres philosophiques (1733) Voltaires 11 (1694-1778) Verbreitung fand (cf. Becker 1990: IX ; Christensen 1996: 40-43; Klingen-Protti 2016: 138). La Mettries Kritik in seiner Histoire naturelle , in der er versucht ein naturwissenschaftliches Verfahren auf die Geisteswissenschaften zu übertragen, zielt auf den Rationalismus und die Metaphysik als Grundlage der Wissenschaften, wie sie bei Descartes formuliert ist. Er plädiert für einen philosophischen Neuanfang bei der die empirischen Naturwissenschaften, allen voran die Medizin, 11 La Mettrie und Voltaire, die beide am Hofe Friedrich II. aufeinandertreffen, befinden sich in einer akademisch-literarischen Dauerfehde miteinander, bei der an Polemik nicht gespart wird; insbesondere Voltaire zeigt sich dabei als eitel und rachsüchtig wie es Jauch (1998: 37-40) anhand von entsprechenden Textpassagen deutlich macht. Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 125 die Basis aller Wissenschaften bilden sollten. Dabei entwickelt La Mettrie einen an Locke orientierten Sensualismus, eine théorie de sensation , und zwar bereits ein Jahr vor Étienne Bonnot de Condillac (1714-1780) und seinem Essai sur l’origine des connoissances humaines (1746) und lange vor dessen Traité des sensations (1754). 12 La Mettrie argumentiert folgendermaßen: Da nach Locke alle Ideen aus der Erfahrung stammen, müssen auch die Wissenschaften (und zwar alle) empirisch vorgehen, d. h., dass auch zur Erklärung philosophischer Fragen nur das der sinnlichen Wahrnehmung Zugängliche als Basis dienen dürfe, also nur Materielles. Die Materie ist demnach bei La Mettrie und seiner Kritik an spekulativen und metaphysischen Denksystemen ein zentrales Element. Das radikale an seiner Kritik ist, dass er damit die Behandlung der Seele aus der Theologie und Philosophie herausnimmt und der naturwissenschaftlichen Beschreibung zuführt, 13 d. h. die Seele bzw. das, was sich an seelisch-geistigen Vorgängen im Menschen äußert, ist auch Materie und damit beschreibbar, woraus sich in letzter Konsequenz auch sein Atheismus ableitet. Außerdem erklärt dies sein Primat der Medizin, weil für ihn nur die empirische Beschreibung des Funktionierens des Menschen letztlich zu weiteren philosophischen Schlüssen berechtigt. 14 Er argumentiert damit gegen Descartes (cf. Discours de la méthode , 1637; Meditationes de prima philosophia , 1641) und seine Unterscheidung einer res cogitans und einer res extensa , d. h. Materie ist für Descartes rein in Ausdehnung zu messen, da sie empfindungs- und bewegungslos ist (cf. Baruzzi 1968: 24-29; Wellman 1992: 169-170; Christensen 1996: 47-55). Für La Mettrie ist aus der Materie heraus sowohl Bewegung ( puissance motrice ) als auch Empfindung möglich ( faculté de sentir ), was in einen sensualistischen Materialismus mündet. Bezüglich der Seelenvermögen unterscheidet er 12 Obwohl La Mettries Schrift ein Jahr vor dem Essai Condillacs erscheint, hat Condillac diese wahrscheinlich nicht gekannt, da sie ja bereits kurz nach ihrer Publikation beschlagnahmt wurde. In seinem späteren Traité distanziert sich Condillac dann ganz explizit vom Materialismus und es ist anzunehmen, dass er keinesfalls in irgendeiner Weise mit La Mettrie in Zusammenhang gebracht werden mochte. Entsprechend der dürftigen Rezeption La Mettries, nicht zuletzt auch wegen entsprechender Verunglimpfungen, ist es letztlich Condillac, über den die Ideen Lockes in der französischen Aufklärung und darüber hinaus wirksam werden (cf. Christensen 1996: 55-56). 13 Wie weit er mit dieser Denkweise seiner Zeit voraus ist und wie lange es dauert bis die von ihm gebrochenen Tabus von den Wissenschaften wiederaufgegriffen wurden cf. Tetens (2015: 179-185). 14 Wellman (1992: 272) charakaterisiert diese Haltung La Mettries als Medical Enlightenment ; Jauch (1998: 80-85) als Medico-Philosophie, wobei sie betont, dass bereits seine medizinischen Schriften auch philosophisch interpretierbar sind, nicht zuletzt auch deshalb, weil die von ihm behandelten Themen über die damals üblichen Beschäftigungsfelder hinausgehen. 126 Roger Schöntag dabei die âme végétative (Pflanzen, Tiere, Menschen), die âme sensitive (Tiere, Menschen) und die âme raisonnable (Menschen). Dabei ist ersteres Vermögen für Ernährung, Fortpflanzung und Wachstum zuständig, zweites für die durch Gehirn und Nervenbahnen gesteuerten Empfindungen und Wahrnehmungen und drittes schließlich für das Denk- und Urteilsvermögen. 15 Er schafft damit ein Kontinuum der Lebewesen (Pflanzen, Tiere, Menschen). 16 Der Begriff der ‚Maschine‘ bzw. des Menschen als Maschine wie ihn La Mettrie dann in L‘homme machine (1747 / 1748) entwickelt, rekurriert auf eben diese Vorstellung von der Materie (cf. Mensching 2008: 509-510; Klingen-Protti 2016: 139-140). Für ihn ist folgerichtig der Mensch nichts weiter als organisierte Materie, eben komplexer organisierte als bei Pflanzen oder Tieren, aber nichtsdestoweniger reine Materie. Dies bedeutet auch eine Materialisierung der Seele und mündet in eine antimetaphysische Metaphysik. 17 Er lehnt damit den Dualismus von Leib und Seele ab (cf. Descartes) 18 sowie die grundsätzliche Willensfreiheit des Menschen, da die jeweiligen durch die organisierte Materie geschaffenen unterschiedlichen Dispositionen des Einzelnen ihn eher determinieren als ihn frei agieren lassen (cf. Becker 1990: XIII ; Hausmann 2003: 392). Bereits die Materialisierung der Seele, die (fast) Gleichsetzung von Mensch und Tier (er betont das Kontinuum zwischen beiden) und die Einschränkung der Willensfreiheit des Menschen machen ihn für Kirche und Gesellschaft untragbar, was die Verbrennung seiner Schriften und die ihm drohenden Inhaftierungen erklärt. Dass er schließlich aus der sensualistischen und materialistischen Position heraus im Discours sur le bonheur (1750) und der L’art de 15 Für Descartes beispielsweise sind Tiere nur Maschinen ohne Empfindungen ( bêtes machine ), weil sie nur aus mechanisch agierender Materie bestehen; bei La Mettrie haben Tiere aber Empfindungen, weil diese bereits den Materiebausteinen, aus denen sie bestehen, zugeordnet sind (cf. Becker 1990: XII, XIII u. die tabellarische Übersicht bei Christensen 1996: 59; Wild 2006: 16-21). 16 Wie sehr er die Gemeinsamkeiten der einzelnen Lebewesen betont zeigt er auch in seinem Traktat L’homme plante : „Pour juger de l’analogie qui se trouve entre les deux principaux Règnes, il faut comparer les Parties des Plantes avec celles de l’Homme, & ce que je dis de l’Homme, l’appliquer aux Animaux“ (La Mettrie, HP 2008: 18). 17 Er dekonstruiert die Seele bzw. das, was man traditioneller Weise dieser an immateriellen Eigenschaften zugesteht, indem er basierend auf Entdeckungen der Irritabilität und Sensibilität des organischen Gewebes (Muskeln) von Boerhaave und Haller zurückgreift und dieses medizinische Wissen mit der aristotelischen Annahme einer der Materie innewohnenden Bewegung verbindet, um daraus eine Art empirisch-materialistischen Erklärungsansatz zu formen, der auf den Beweis einer auf Materie reduzierten Seele abzielt (cf. Behrens 2014: 141-142). 18 Zu möglichen Einflüssen auf La Mettries Konzeption einer materialistisch-medizinisch erfassbaren Seele cf. Thomson (2004: 156-165). Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 127 jouir (1751) die Kunst des Genießens predigt, 19 was nicht nur, aber auch die volupté beinhaltet, macht ihn endgültig zur persona non grata . Um überhaupt publizieren zu können, versteckt er in den meisten seiner Schriften seine radikalen Ansichten hinter Ironie und Polemik; 20 er erarbeitet zudem kein in sich geschlossenes System (cf. supra: die Ablehnung von Systemen). All dies, d. h. Atheismus, radikaler Materialismus, sexuelle Freizügigkeit, Ablehnung gesellschaftlicher Institutionen und Hedonismus, ein schwer dechiffrierbares Werk sowie seine fehlende Verbindung zu philosophischen Zirkeln (wie z. B. den Enzyklopädisten), 21 erklärt seine nur sporadische und selektive Rezeption, zum Teil bis ins 20. Jahrhundert. 22 4 Sprachwissenschaftliche Aspekte 4.1 Sprachursprungstheorie Ausgehend von der nicht möglichen Beweisbarkeit, wer der erste Mensch war der einst zu sprechen begann bzw. wie sich die menschliche Sprache entwickelte und was ihr Ursprung war, zieht La Mettrie verschiedene Parallelen zu anderen, empirisch beobachtbaren und damit beweisbaren Phänomenen im Zusammenhang mit Sprache, nämlich der Sprache im Tierreich, dem kindlichen Erstsprachenerwerb sowie sprachlichen Defiziten beim Menschen (Wolfskinder, Taubstumme). Damit folgt er ganz den Argumentationsschemata seiner Zeit, 23 19 Zur Aufwertung des sinnlichen Glücks als erstrebenswertem Ziel bei La Mettrie gegenüber traditionellen religiös motivierten Moralvorstellungen cf. Mensching (2008: 515-517). 20 Mit seiner Polemik schaffte er sich natürlich Feinde, u. a. den Schweizer Arzt Albrecht von Haller (1708-1777), der ebenfalls Schüler von Boerhaave war und dessen Schriften und Ideen weitertradierte, jedoch im Rahmen eines konservativeren Weltbildes unter Ablehnung des Materialismus (cf. Klingen-Protti 2016: 139). Mit Haller, den er wohl zwar als empirischen Forscher durchaus schätzte, dessen Glaubenseifer bzw. Bigotterie ihn jedoch abstieß, trug La Mettrie eine leidenschaftliche Fehde aus, im Zuge derer er seine Fähigkeit zur schriftstellerischen Ironie und Polemik voll ausschöpfte (cf. Laska 2004: XXXVIII-XL). 21 Inwiefern La Mettrie jedoch zu Lebzeiten zum deutsch-französischen Kulturtransfer beigetragen hat, zumindest im Rahmen seiner Präsenz am Hof und an der Akademie, cf. Lambert (2012: 45-46). 22 Eine erste partielle Rehabilitation La Mettries erfolgte zunächst durch Lange (1866), doch es dauerte noch über ein Jahrhundert, bis durch die Werke von Vartanian (1960) und Kondylis (1981) (cf. Hausmann 2003: 392; Laska 1985: XXII-XXIV) sowie die Editionen von Laska (z. B. 1985) die Modernität seines Denkens erkannt wurde und Urteile über seine Philosophie jenseits von christlich-bürgerlichen Moralvorstellungen möglich wurden. 23 Die Sprachursprungsdebatte wurde beispielsweise im Rahmen der Preisfrage der Berliner Akademie von 1771 erörtert, die der damalige Präsident Maupertuis auch selbst in einer Abhandlung aufgegriffen hatte ( Réflexions philosophiques sur l’origine des langues 128 Roger Schöntag ist aber entsprechend seinem philosophischen Gedankengebäude in manchen Schlussfolgerungen weitaus radikaler. Das grundsätzliche Nichtwissen-Können (cf. Descartes 1960: 52-53, § 33; 1992: 31-41, § 17-24) formuliert er dabei folgendermaßen: Mais qui a parlé le premier? Qui a été le premier Précepteur du Genre humain? Qui a inventé les moiens de mettre à profit la docilité de notre organisation? Je n’en sai rien; le nom de ces heureux et premiers Génies a été perdu dans la nuit de tems. (La Mettrie, HM 1990: 54) Da La Mettrie in seiner materialistischen Philosophie Tier und Mensch als aus der gleichen Materie aufbauend annimmt und zwischen beiden ein Kontinuum sieht, liegt es für ihn auch nahe, bei dem Menschen nah verwandten Tieren wie dem Affen grundsätzlich ein Vermögen zur Erlernung der Sprache zu postulieren. Die Sprechorgane ( organes de la parole ) seien beim Affen zwar nicht ganz ausreichend, doch glaubt er, dass es durch einen evtl. kleinen operativen Eingriff (ähnlich wie man es an der Eustachischen Röhre bei den Tauben macht) und durch anhaltende Lehrbemühungen möglich wäre, Affen das Sprechen beizubringen; schon allein deshalb, weil diese im inneren und äußerem Bau dem Menschen so sehr ähneln würden (cf. Haßler / Neis 2009: 182-183). 24 Seine diesbezügliche Schlussfolgerung ist modern, radikal und blasphemisch, denn für ihn ist der Mensch letztlich nichts anderes als ein Tier einer bestimmten Gattung, was für ihn durchaus positiv konnotiert ist (cf. Christensen 1996: 187); dabei sei der Übergang zwischen Affen und Menschen als fließend anzunehmen. Des Animaux à l’Homme, la transition n’est pas violente; les vrais Philosophes en conviendront. (La Mettrie, HM 1990: 52) Für die Frage nach dem Ursprung der Sprache bedeutet das letztendlich, ohne dass er dies expliziert, ebenfalls ein Kontinuum bzw. eine Entwicklung von der Sprache der Tiere zu der des Menschen. Das von seinen Zeitgenossen, wie z. B. Condillac oder Herder, formulierte klare Abgrenzungsmerkmal der Überet la sigtnifications des mots , 1748), die im weiteren auch durch den Akademievortrag Johann Peter Süßmilchs (1707-1767) über den Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe (1756, publ. 1766) und dann vor allem durch die Siegerschrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache von Johann Gottfried Herder (1744-1803) Verbreitung fand (cf. Neis 1999: 127-132). 24 La Mettrie postuliert zudem das Ungeheuerliche, nämlich dass Affen durch ihre gute Auffassungsgabe sowie ihre ausgefeilte Gestik taubstummen Menschen überlegen seien, sogar wenn diese entsprechende Unterweisungen zur Kommunikation bekämen (cf. Haßler / Neis 2009: 182). Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 129 legenheit des Menschen gegenüber dem Tier, nämlich die Sprache, wird damit eindeutig relativiert (cf. Haßler / Neis 2009: 183). 25 Letztlich sei es auf das größere Gehirnvolumen des Menschen zurückzuführen, dass seine Sprache elaborierter sei als die der Tiere, wie er in seinem Traité de l’âme (1751) darlegt. 26 Dadurch hätte der Mensch mehr Ideen, diversifiziertere Vorstellungen, was sich wiederum auf die Sprache auswirken würde. Wenn man nun die Frage mit der Erlernbarkeit der menschliche Sprache durch die Affen und die reine Nachahmung der Laute bei Papageien außer Acht läßt, dann besteht der wesentliche Merkmalsunterschied zwischen tierischer und menschlicher Sprache darin, dass erstere aus Gestik besteht, während die der Menschen sich durch Worte konstituiert, was nicht immer von Vorteil sein müsse, da dies mitunter auch in Schwatzhaftigkeit münden könne (cf. Christensen 1996: 88; Haßler / Neis 2009: 182). Quelle différence y a-t-il donc entre notre faculté de discourir, & celle des bêtes? La leur sé fait entendre quoique muette, ce sont d’excellents pantomines; la notre est verbeuse , nous sommes souvent de vrais babillards. […] Ces signes sont perpétuels, intelligibles à tout animal du même genre, & même d’une espece différente, puisqu’ils le sont aux hommes mêmes. (La Mettrie, TA 1774: 120, § III ) Entsprechend der beim Menschen gegenüber den Tieren ausgefeilteren Gehirntätigkeit stellt sich La Mettrie die Erschaffung der Sprache eng verbunden mit der zunehmenden komplexen geistigen Entwicklung des Menschen vor: Durch Gefühl und Instinkt hätten die Menschen Geist erworben, durch den Geist Kenntnisse. Dadurch hätten sich wiederum neue Ideen und die Fähigkeit ergeben, verschiedene Wahrnehmungen besser zu unterscheiden. Um die Welt diversifizierter aufnehmen zu können, braucht es wiederum Zeichen und mit Hilfe der zum exakteren Denken entstandenen Zeichen, konnten die Menschen dann auch kommunizieren. Voilà comme je conçois que les Hommes ont emploié leur sentiment, ou leur instinct, pour avoir de l’esprit, et enfin leur esprit, pour avoir des connoissances. Voilá par 25 La Mettrie grenzt sich damit auch explizit von Descartes ab, dessen res cogitans als Distinktionsmerkmal des Menschen gegenüber dem Tier zu verstehen ist, genauso wie die menschliche Sprachfähigkeit. Genau diesen Aspekt relativiert jedoch La Mettrie, indem er den Tieren eine langage affectif zugesteht und sie damit in die Nähe des Menschen rückt. Zudem besitzen Tiere wie auch der Mensch für ihn eine âme sensitive (allerdings keine âme raisonnable ), während Descartes Tieren gar keine Empfindungen zubilligt (cf. Christensen 1996: 87-89). 26 Für La Mettrie besteht demnach kein kategorischer Unterschied zwischen der Sprache der Tiere und derjenigen des Menschen, sondern es es ist u. a. eine Frage der frühkindlichen Konditionierung (cf. Lifschitz 2012: 74). 130 Roger Schöntag quels moiens, autant que je peux les saisir, on s’est rempli le cerveau des idées, pour la reception desquelles la Nature l’avoit formé. (La Mettrie, HM 1990: 54) […] dès que qu’une fois les yeux bien formés pour l’Optique, ont reçu la peinture des objets, le cerveau ne peut pas ne pas voir leurs images et leurs différences; de même, lorsque les Signes de ces différences ont été marqés, ou gravés dans le cerveau, l’Ame en a nécessairement examiné les rapports; examen qui lui étoit impossible, sans la découverte des Signes, ou l’invention des Langues. (La Mettrie, HM 1990: 56) Hier scheint eine wechselseitige Abhängigkeit vorzuliegen, denn durch die Sprache, bzw. die Wörter und Zeichen schärfte sich laut La Mettrie wiederum der Geist des Menschen. 27 Les Mots, Les Langues, Les Loix, Les sciences, les Beaux Arts sont venus; et par eux enfin le Diamant brut de notre esprit a été poli. (La Mettrie, HM 1990: 52) Bezüglich des kindlichen Spracherwerbs stellt La Mettrie wiederum das Kind in gewisser Weise auf eine Stufe mit dem Tier, indem er postuliert, dass die Erlernung der Laute ähnlich wie bei einem Papageien zunächst nur auf Imitation beruhen. Quelle différence y a-t il entre l’enfant & le perroquet qu’on instruit? ne redisent-ils pas également les sons dont on frappe leurs oreilles, & cela avec tout aussi peu d’intelligence l’un que l’autre. (La Mettrie, TA 1774: 121, § III ) Dabei beschreibt er ganz mechanisch bzw. medizinisch den Zusammenhang zwischen den äußeren Sinnen (dem Gehör) und den inneren Sinne (Willen zur Artikulation) und die dadurch ausgelösten Muskelkontraktion (Sprechen) (cf. Haßler / Neis 2009: 183). Dass die Frage nach dem Sprachursprung für ihn mit dem kindlichen Spracherwerb zusammenhängt, zeigt sich implizit daran, dass er bestimmte Parallelen zieht: So kann das Kind zwar z. B. Strohhalme oder Holzstäbchen in seiner Hand erkennen, aber noch nicht zählen oder diese nach ihrer Art unterscheiden, und zwar aufgrund des Mangels der noch nicht entwickelten Sprache bzw. der für diese Unterscheidung notwendigen Zeichen in der Vorstellung (cf. La Mettrie, HM 1990: 56). Das Kind befinde sich geradezu auf einer noch niedrigeren Stufe als die Tiere, da es zu Beginn seines Lebens die Fähigkeiten des menschlichen Geistes noch nicht ausgebildet habe und gleichzeitig aber weniger Instinkt als das Tier besitze und damit klar im Nachteil sei (cf. La Mettrie, HM 1990: 70). 27 Dies steht im Gegensatz zur Auffassung Descartes, für den der Geist die unbedingte Voraussetzung für die Sprache darstellt (cf. Christensen 1996: 187). Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 131 Ebenfalls auf eine Stufe mit den Tieren stellt La Mettrie sogenannte Wolfskinder und Taubstumme, 28 die man nur unter günstigen Umständen die Sprache lehren könne, wobei er wiederum dies zur Möglichkeit der Erlernung der Sprache bei einem Affen parallelisiert (cf. Haßler / Neis 2009: 365-357). Das Besondere an La Mettries Sprachursprungtheorie ist sicherlich die Nivellierung des Unterschieds von Mensch und Tier und das wenig spekulative, sondern eher empirisch Ausgerichtete seiner Forschung sowie die Negierung eines göttlichen Ursprungs der Sprache - zweifellos auch in der Epoche der Aufklärung hochgradig brisante Postulate. 4.2 Sprache und Denken: Kognition Die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken war zunächst an die Bedeutungshaftigkeit der Zeichen geknüpft, wie z. B. bei Platon, der in seinem Kratylos über die Richtigkeit der Benennung der Dinge räsoniert ( physei-thesei ), oder an eine Bezeichnungsnotwendigkeit wie sie Varro in De lingua latina darlegt. 29 Im 17. Jh. wird hingegen eher die Frage des wechselseitigen Einflusses von Denkprozessen und Sprache thematisiert. Man diskutiert beispielsweise inwieweit Denken auch ohne Sprache möglich ist oder aber Sprache den Denkprozess fördern kann bzw. ihn erst möglich macht (cf. Haßler / Neis 2009: 402-403). So findet sich bei Locke - einem der wichtigsten Referenzphilosophen für La Mettrie - die Vorstellung wie wichtig Sprache zum Ausdruck der menschlichen Ideen ist und um Kenntnisse über Dinge zu erlangen (cf. Haßler / Neis 2009: 438). Der zentrale Begriff bei Locke ist dabei die Idee ( idea ); diese wiederum hängt eng mit dem Geist und dem Denken zusammen, d. h. Kognition und Kommunikation greifen ineinander: 28 Die „wilden Kinder“ sind eine Art empirisches Modethema der Zeit, eines von verschiedenen Topoi in der Sprachursprungsdebatte (cf. Neis 1999) und finden sich auch bei anderen Autoren; cf. z.B. Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788), Histoire naturelle, générale et particulière (1749); Carl von Linné (1707-1778), Systema naturae (1735, 10. Aufl. 1758, 1766); Étienne Bonnot de Condillac (1714-1780), Traité des sensations (1754); Charles-Marie de La Condamine (1701-1774), Histoire d’une jeune fille sauvage trouvée dans les bois (1755); Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755). Zur Sprache der Taubstummen cf. insbesondere Johann Konrad Amman (1669-1724) und seine Dissertatio de loquela (1700) (cf. Neis 2004: 174-175; Haßler / Neis 2009: 356-359). 29 Varro ( De ling. lat . VIIII, 36-39) erörtert indirekt den Zusammenhang von Sprache und Denken, indem er postuliert, daß die Menschen nur das bezeichnen würden, was für sie von lebenspraktischem Interesse sei. So gebe es die Unterscheidung von columbus und columba im Lateinischen erst seit dem man Tauben auch hält und züchtet, vorher seien sie generisch als columba bezeichnet worden (cf. Haßler / Neis 2009: 402). 132 Roger Schöntag Besides articulate sounds therefore, it was further necessary that he should be able to use these sounds as signs of internal conceptions; and to make them stand as marks for the ideas within his own mind, whereby they might be made known to others, and the thoughts of men’s minds be conveyed from one to another. (Locke 1959 II : 3; III , 1, 2) Descartes hingegen spricht sich für eine Nicht-Abhängigkeit von Sprache und Denken aus. Gemäß seiner grundsätzlichen Vorstellung vom Dualismus von Körper und Seele, ist auch das Denkvermögen von der materiellen Erscheinung der Sprache losgekoppelt. Dies zeigt sich u. a. daran, dass Tiere zwar Sprache nachahmen könnten, aber nicht das Denken; auch Maschinen, also künstliche Automaten, die zwar Handlungen ausführen könnten, unter Umständen sogar Sprechhandlungen, es würde ihnen jedoch die Vernunft fehlen. 30 […] de façon que ce qu’ils font mieux que nous ne prouve pas qu’ils ont de l’esprit; car, à ce compte, ils en auraient plus qu’aucun de nous, et feraient mieux en toute chose; mais plutôt qu’ils n’en ont point, et que c’est la nature qui agit en eux, selon la disposition de leurs organes: ainsi qu’on voit qu’un horloge, qui n’est composé que de roues et de ressorts, peut compter les heures, et mesurer le temps, plus justement que nous avec toute notre prudence. (Descartes, Discours 1960: 96; § 59) Bei La Mettrie, der sich grundsätzlich eher auf Locke bezieht und sich klar von Descartes abgrenzt, spielt die ‚Vorstellung‘ bzw. ‚Vorstellungskraft‘ ( imagination ) eine zentrale Rolle, 31 um die Denkprozesse im Zusammenhang mit der Sprache zu beschreiben. Bereits im Traité de l’âme stellt La Mettrie unmissverständlich den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken her und verweist zudem auf die Linearität von beiden. Toutes nos pensées s’expriment par des mots, & l’esprit ne pense pas plus deux choses à la fois, que la langue ne prononce deux mots. (La Mettrie, TA 1774: 148; XIII , § VI ) 30 Zur Entwicklung von der bête machine zum homme machine bei La Mettrie vor dem Hintergrund der bête machine -Diskussion bei Descartes cf. Gunderson (1964: 211-219) und Vartanian (1999: 58-59). 31 Die imagination ist für La Mettrie in der âme sensitive verortet, d. h. er begreift die imagination als eine darin angelegte Fähigkeit des Menschen. Die Differenzen im individuellen Wahrnehmungs- und Denkprozess sieht La Mettrie in der unterschiedlichen anatomischen Struktur der Nervenbahnen der einzelnen Menschen begründet, die durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden könne (Nahrung, Klima, Drogen, etc.). Durch diese mechanistisch-anatomische Erklärung der Wirkursachen der imagination als grundlegendem Prinzip, und damit verschränkt auch der Vorgänge wie Wahrnehmen und Denken ergibt sich eine physisch-psychische Einheit des Menschen. Dies bedeutet auch, dass letztlich alles materialistisch erklärbar sei (cf. Baruzzi 1968: 43; Christensen 1996: 183; Klingen-Protti 2016: 140). Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 133 Im L’homme machine geht La Mettrie ausführlich auf die imagination ein und ihre Bedeutung für das Denken, 32 den Erkenntnisgewinn und letztlich auch für die Wissenschaften. La plus belle, la plus grande, ou la plus forte imagination, est donc la plus propre aux Sciences, comme aux Arts. (La Mettrie, HM 1990: 66) La Mettrie warnt dabei vor einem Missbrauch der Wörter (bzw. der Sprache), dahingehend, dass eine metaphernreiche Sprache Sachverhalte verunklart und etwas Metaphysisches suggeriert, obwohl das menschliche Denken endlich sei. 33 […] et encore une fois, c’est par un abus honteux qu’on croit dire des choses différentes, lorsqu’on ne dit que différens mots ou différens sons, auxquels on n’a attaché aucune idée, ou distinction réelle. (La Mettrie, HM 1990: 66) Die imagination ist dabei Voraussetzung für den Geist oder das Genie eines Menschen, also die Möglichkeit komplexe Zusammenhänge zu erkennen. Es ist bei La Mettrie einer der wichtigsten Begriffe, die sein ganzes Werk durchzieht und dessen Funktion nur schwer zu fassen ist, wie er selbst zugibt. 34 Man kann die imagination aber als eine Art kreative Grunddisposition des Menschen charakterisieren, die eindeutig sensualistisch geprägt ist und damit bei La Mettrie auch mechanistisch-materialistisch, von der aber auch die Urteilskraft des Menschen abhängt, also die ratio (cf. Klingen-Protti 2016: 145-149). Im L’homme machine versucht er dazu eine Definition: Je me sers toujours du mot imaginer , parce que je crois que tout s’imagine, et que toutes les parties de l’Ame peuvent être justement réduites à la seule imagination, qui forme toutes; et qu’ainsi le jugement, le raisonnement, la mémoire ne sont que des parties de l’Ame nullement absolües, mais de véritables modifications de cette espèce de toile médullaire [Markgewebe], sur laquelle les objets peints dans l’œil, sont renvoiés, comme d’une Lanterne magique. (La Mettrie, HM 1990: 58) Die Einbildungskraft ( imagination ) speist sich hauptsächlich aus Empfindungen, dadurch werden mehr oder weniger unkontrolliert eine Vielzahl von Ideen 32 Zur Abgrenzung La Mettries von Descartes in Bezug auf die imagination cf. Ricken (1984: 73). 33 La Mettries eigener Sprachduktus ist jedoch stark durch rhetorische Stilmittel, auch die Metapher, geprägt. Die rhetorische Ausschmückung dient ihm dabei der ironischen Brechung, der Provokation, der Veranschaulichung, letztlich aber ganz pragmatisch auch der Umgehung der Zensur (cf. Behrens 2014: 152-154). 34 „L’imagination, ou cette partie fantastique du cerveau, dont la nature nous est aussi inconnue, que sa manière d’agir […]“ (La Mettrie, HM 1990: 60). 134 Roger Schöntag hervorgebracht, die es zu bändigen gilt bzw. der Mensch muss lernen seine Urteilskraft einzusetzen, um diese Ideen exakter zu betrachten, um zu einem vernünftigen Denken zu gelangen und um die Welt adäquat erfassen zu können (cf. Christensen 1996: 184-185; cf. auch: La Mettrie, HM 1990: 62-64, 124). Au contraire si dès l’enfance on acoutume l’imagination à se brider elle-même; à ne point se laisser emporter à sa propre impétuosité, qui ne fait que des brillans Entousiastes; à arrêter, contenir ses idées, à les retourner dans tous les sens, pour voir toutes les faces d’un objet: alors l’imagination prompte à juger, embrassera par le raisonnement, la plus grande Sphère d’objets […]. (La Mettrie, HM 1990: 68) In seiner Konzeption von den Wahrnehmungs- und Denkprozessen radikalisiert La Mettrie den Empirismus und wendet sich dabei gleichzeitig von seinen Vorbildern Boerhaave, Locke und Descartes ab, die allesamt sich nicht von metaphysischen Prämissen gelöst haben, während er selbst alle Voraussetzung in der organisierten Materie sieht und versucht jedwede Grunddisposition medizinisch und materialistisch zu erklären. 35 Was seine Vorstellung von Sprache anbelangt bzw. den Zusammenhang von Sprache und Denken erscheint oberflächlich gesehen kein wesentlicher Unterschied zu beispielsweise Locke und seinen Ideen, die sich in der Sprache wiederspiegeln, doch bekommt die ganze Beziehung durch seinen radikaleren, oder besser, konsequenteren Grundansatz, eine andere Dimension, auch insofern als in seiner Konzeption Denken und Sprache enger zusammengedacht werden. 4.3 Sprache und Gesellschaft: Zeichentheorie Auf den Zeichencharakter der Sprache kommt La Mettrie in dem schon erwähnten Zusammenhang mit der Problematik der Abgrenzung von Tier und Mensch zu sprechen. Bereits im Traité de l’âme werden dabei verschiedene Aspekte thematisiert. So stellt La Mettrie vor dem Hintergrund des alten physei-thesei - Streits (cf. Platon, Kratylos ) die Arbitrarität des Zeichens heraus ( thesei ). Die Wörter der Sprache sind willkürliche Repräsentanten der dahinterstehenden Ideen, grundsätzlich also so wie auch heute noch das arbitraire du signe in der Konzeption von Saussure verstanden wird. Das ist zunächst nicht weiter revolutionär, da die Arbitrarität des Zeichens sich weitgehend durchgesetzt hatte und sich ähnliches z. B. auch bei Sanctius (1523-1601), Marin Mersenne 35 „Si quelqu’un passe pour avoir peu de jugement, avec beaucoup d’imagination; cela veut dire que l’imagination trop abandonnée à elle-même, presque toujours comme occupée à se regarder dans le miroir de ses sensations, n’a pas assez contracté l’habitude de les examiner elles-mêmes avec attention; plus profondement pénétrée des traces, ou des images, que de leur vérité ou de leur ressemblance“ (La Mettrie, HM 1990: 66). Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 135 (1588-1648), Antoine Arnauld (1612-1694) und Pierre Nicole (1625-1695), 36 Géraud de Cordemoy (1626-1684) oder John Locke (1632-1704) und später u. a. bei Nicolas Beauzée (1717-1789) findet (cf. Haßler 1983: 515-519; Haßler / Neis 2009: 206-211). 37 La Mettrie geht aber insofern darüber hinaus als er diese Willkürlichkeit nicht nur für die menschliche Sprache postuliert, sondern auch für die tierische. 38 Die herrschende Meinung dieser Zeit ist jedoch, dass Tiere kein komplexes Zeichensystem haben, sondern nur ihre Empfindungen ausdrücken, wie es z. B. Johann Amos Comenius (1592-1670), Marin Mersenne oder Georges-Louis Leclerc Buffon (1707-1788) vertreten. 39 La Mettrie greift hingegen auf ältere Positionen zu dieser Thematik zurück, wie sie sich bei Pierre Gassendi (1592-1655), Michel Montaigne (1533-1592) oder Jean de La Fontaine (1621-1695) finden lassen und radikalisiert diese (cf. Gunderson 1964: 204; Wild 2006: 142; Haßler / Neis 2009: 179). Verfolgt man die Ausführungen zur Tiersprache bei La Mettrie genau und parallelisiert man diese mit der zur menschlichen Sprache, so zeigt sich deutlich, dass er eine Saussure (cf. Cours de linguistique générale , 1916) sehr ähnliche Konzeption des Zeichens hatte: Vorstellungen ( idées ), Zeichenvorstellungen ( signes d’idées ) und willkürlich damit verknüpfte phonische oder graphische Zeichen. Voilà des idées & des signes d’idées qu’on ne peut refuser aux bêtes, sans choquer le sens commun. […] Qu’on ne nous objecte pas que les signes du discernement des bêtes sont arbitraires, & n’ont rien de commun avec leurs sensations: car tous les mots dont nous nous servons le sont aussi, & cependant ils agissent sur nos idées, ils les dirigent, ils les changent. (La Mettrie TA 1774: 120; XI , § III ) Er geht in diesem Zusammenhang auch darauf ein, dass die Buchstaben der Schrift ebenfalls arbiträr sind und, auch hier Saussure vorgreifend, sekundär sind und später „erfunden“ wurden. 36 In der Zeichentheorie des Rationalismus (Descartes, Port-Royal, Leibniz) wird tendenziell die gesellschaftliche Funktion der Sprache vernachlässigt, da im kartesianischen Modell die angeborenen und universellen Ideen, die sich in naturae simplices zerlegen lassen, als a priori existent zu verstehen sind und deshalb das Denken ebenfalls eine universelle Struktur aufweist, die der Einzelsprache vorangeht (cf. Nöth 2000: 15-17). 37 Cf. Sanctius, Minerva (1587); Mersenne, Harmonie universelle (1636); Arnauld / Nicole, La logique ou l’art de penser (1662); Cordemoy, Discours physique de la parole (1668); Beauzée, Grammaire générale (1767). 38 Basierend auf Beobachtungen von Guillaume Lamy (1644-1683), Traité de l’antimoine (1682). 39 Cf. Buffon, Discours sur le style (1753) und Histoire naturelle de l’homme (1749); Mersenne, Question sur la genése (1623); Briefwechsel mit Descartes. 136 Roger Schöntag Les lettres qui ont été inventées plus tard que les mots, étant rassemblées, forment les mots, desorte qu’il nous est égal de lire des caracteres; ou d’entendre les mots qui en sont fait, parce que l’usage nous y a fait attacher les mêmes idées, antérieures aux unes & aux autres lettres, mots, idées, tout est donc arbitraire dans l’homme […]. (La Mettrie, TA 1774: 120; XI , § III ) Wie so oft bei La Mettrie findet sich eine provokative Überspitzung ( alles im Menschen ist willkürlich ), die aber sicherlich mit Vorsicht zu genießen ist, was die eigentliche Intention anbelangt. In dem obigen Zitat verbirgt sich jedoch ein weiteres wichtiges Moment in Bezug auf die Frage nach der Zeichenhaftigkeit der Sprache, nämlich die der Konvention, der gesellschaftlichen Übereinkunft (cf. Saussure), 40 die La Mettrie dadurch ausdrückt, dass er den usage dafür verantwortlich macht, der die idées mit den mots bzw. den lettres verknüpft. Im L’homme machine betont La Mettrie wiederum die Arbitrarität des Zeichens und verweist zusätzlich vor allem auf die gesellschaftliche Funktion des Zeichensystems der Sprache; nebenbei erklärt er, wiederum wie gewohnt eher mechanistisch-medizinisch, wie Kommunikation funktioniert. 41 Rien de si simple, comme on voit, que la Mécanique de notre Education! Tout se réduit à des sons, ou à des mots, qui de la bouche de l’un, passent par l’oreille de l’autre, dans le cerveau, qui reçoit en même tems par les yeux la figure des corps, dont ces mots sont le Signes arbitraires. (La Mettrie, HM 1990: 52, 54) Diese prägnante Schilderung des Kommunikationskreislaufes, bei dem sowohl die physikalische Komponente der Übertragung impliziert wird, als auch die kognitive Repräsentation der Vorstellungen und deren Umsetzung in Zeichen, die von Mensch zu Mensch übertragen werden, ähnelt in vielen Elementen 40 Zur Zeichentheorie und Sprachauffassung von Locke, der sowohl die Entstehung der ideas als auch die Bezeichnungen als willkürlich betrachtet, dabei aber die Festsetzung der Bedeutung in Bezug auf das Bezeichnete durchaus auf gesellschaftliche Übereinkunft basierend ansieht ( voluntary imposition ), cf. Haßler (1983: 516). La Mettrie grenzt sich in seiner Darlegung deutlich von Descartes und dessen Universalismus ab, wobei er unzweifelhaft von Locke beeinflusst ist, jedoch auch in manchen Aspekten, wie z. B. in der naturwissenschaftlich (medizinisch-materialistisch) geprägten Darstellung des Kommunikationsablaufes, neue Details liefert. 41 La Mettrie betont ebenfalls, dass der Mensch ein Gesellschaftswesen sei, die Sprache dabei eine konstitutive Funktion zur Aufrechterhaltung des Sozialverbandes habe. Da jedoch der Mensch im Vergleich mit dem Tier in Bezug auf seine Ausstattung mit Instinkten benachteiligt sei, müsse er dies durch eine komplexere Kommunikation ausgleichen. Die Perfektionierung von Sprache und Gesellschaft bedingen sich dabei gegenseitig (cf. Haßler / Neis 2009: 441). Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 137 dem Saussure’schen Konzept und damit nicht zuletzt dem aktuellen Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung. La Mettrie betont außerdem die Schlüsselposition der Zeichen und damit der Sprache (v. supra) bei dem Erwerb von Kenntnissen und Erkenntnis (d. h. auch Wissenschaft). Tout s’est fait par des Signes; chaque espèce a compris ce qu’elle a pu comprendre; et c’est de cette manière que les Hommes ont acquis la connoissance symbolique , ainsi nommée encore par nos Philosophes d’Allemagne. 42 (La Mettrie, HM 1990: 52) Hier verknüpft sich der Themenkreis der Zeichenhaftigkeit bzw. des Zeichens in der Gesellschaft wieder mit der Frage nach dem Sprachursprung, insofern der Mensch grundsätzlich ein Bedürfnis hat (wie auch die Tiere) seine Empfindungen mitzuteilen; mit wachsender Komplexität der Gesellschaft und der damit verbundenen, komplexer werdenden Sprache wird der Geist des Menschen geschliffen (v. supra) und sein Kenntnisstand über die Welt wächst. 5 Fazit Resümiert man nun die bei La Mettrie angesprochenen Aspekte der Sprachphilosophie bzw. die Reflexionen zur Sprache, so läßt sich folgendes konstatieren: Die Ausführungen La Mettries zur menschlichen Sprache sind wie bei vielen anderen Philosophen der Zeit kein zentraler eigenständiger Abhandlungsgegenstand. Vielmehr sind seine Betrachtungen zur Sprache eng mit seiner philosophischen Gesamtkonzeption verbunden. Basierend auf seinen medizinischen Studien, die eben auch die physiologischen Aspekte des Körpers umfassen (Anatomie) und in direkter Auseinandersetzung mit seinen wichtigsten Vorbildern Boerhaave (Empirismus, Medizin, Chirurgie), Locke (Empirismus, Sensualismus) und Descartes (Rationalismus) kommt er zu einem sensualistischen-mechanistischen Weltbild, in dessen Mittelpunkt die sich selbst bewegende ( force motrice ) und empfindende Materie steht, aus der heraus alles erklärbar wird. In der Negierung von allem Metaphysischen wird die kreative Natur und die dort entstehende komplexe organisierte Materie, also das was man empirisch beschreiben kann, als die einzige Erklärungsbasis akzeptiert. Daraus resultiert auch seine Radikalität, d. h. sein reiner Materialismus, sein Atheismus und der bedingungslose Empirismus. Anders als der Titel seines Hauptwerkes L’homme machine suggeriert, ist dabei der Mensch mitnichten eine rein mechanistische 42 Die deutschen Philosophen, auf die La Mettrie hier anspielt, sind vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Christian Wolff (1679-1754) (cf. La Mettrie, HM 1990: 146-147). 138 Roger Schöntag seelenlose Maschine, sondern sein monistischer Materialismus veranlasst ihn dazu ein Kontinuum der Lebewesen Pflanze - Tier - Mensch zu postulieren, innerhalb dessen er z. B. auch den Tieren Empfindungen zugesteht (im Gegensatz zu Descartes) und bereits vor Rousseau zu einer sehr positiven Bewertung der Natur kommt. Die „menschliche Maschine“ ist bei ihm äußerst dynamisch und voller physikalisch-biologisch erklärbaren Empfindungen mit einem hedonistischen Telos. Für seine Sprachauffassung, deren wesentliche Aspekte hier dargestellt wurden, bedeutet dies, dass er auch dort kompromisslose Positionen einnimmt. Dies gilt vor allem für die annährende Gleichsetzung von Mensch und Tier, sowohl was das Zeichensystem der Sprache anbelangt als auch das Erklärungsmodell zum Sprachursprung, im Zuge dessen er den Mensch letztlich der Gattung Tier zuschlägt und dies auch noch positiv bewertet. Diese Annahme ist für die damalige Zeit (und noch lange darüber hinaus), in der in erster Linie die Sonderstellung des Menschen ( supériorité de l‘homme ) vor dem Hintergrund der göttlichen Schöpfung betont wird, unerhört. Die diesbezüglichen einzelnen Argumentationsstränge sind bei La Mettrie dabei nicht besonders originell, gehorchen sie doch den Themen der Zeit (wilde Kinder, Taubstumme, Papageien, Affen etc.), doch vor dem Hintergrund seiner radikalen Philosophie erscheinen sie in einem anderen Licht. Das gleiche gilt auch bezüglich der Arbitrarität der Zeichen und der Sprache in der Gesellschaft, denn auch hier bringt La Mettrie die einzelnen Aspekte sehr klar und deutlich hervor, betont die Wichtigkeit der Kommunikation in der Gesellschaft, den Zusammenhang von Sprache und Denken und den fortschreitenden Erkenntnisgewinn, der eben nur über Sprache, über die Zeichen repräsentierende imagination erfolgen kann, so dass Ideen entwickelt werden können. Dabei bleibt er im Gegensatz zu Cartesianern, die in der Sprache einen Ausdruck der ratio sehen, was wiederum die Existenz der menschlichen Seele beweisen würde und damit letztlich einen göttlichen Ursprung, streng bei einem naturwissenschaftlichen, medizinischen und atheistischen Erklärungsansatz. Dabei darf nicht vergessen werden, dass La Mettrie vor den wichtigen Schriften zur Sprachphilosophie von Condillac, Rousseau oder Herder schreibt und er hier trotz seiner dürftigen Rezeption als wichtiger Repräsentant und Impulsgeber der Sprachreflexion in der Aufklärung gesehen werden kann. Literatur Primärliteratur Descartes, René (1960): Discours de la méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung . Übersetzt und herausgegeben von Die Sprachauffassung von Julien Offray de La Mettrie 139 Lüder Gäbe. Hamburg: Meiner (= Meiner Philosophische Bibliothek, 261) [Nachdruck 1964]. Descartes, René (1992): Meditationes de prima philosophia . Lateinisch-Deutsch. Auf Grund der Ausgaben von Artur Buchenau neu herausgegeben von Lüder Gäbe. Durchgesehen von Hans Günter Zekl. Mit neuem Register und Auswahlbibliographie versehen von George Heffernan. Hamburg: Meiner (= Philosophische Bibliothek, 250a). 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Jahrhunderts Corina Petersilka La Grammaire Francaise, Reduite A Ses Vrais Principes, Ouvrage Raisonné est l’œuvre de Jean Jacques Meynier (1710-1783) qui fut le premier lecteur de français à l’université d’Erlangen où il resta en poste pendant plus de 40 ans. Ce descendant d’immigrés huguenots qui se disait « Français » publia à Erlangen en 1767 les deux tomes de cet ouvrage comportant une partie théorique et une partie pratique avec vocabulaire, thèmes, dialogues et lettres. Le premier tome s’inscrit dans la tradition de la grammaire latine en insistant scrupuleusement sur les pièges grammaticaux et lexicaux dans lesquels tombent communément les Allemands. À maintes reprises, Meynier relève aussi les erreurs qu’il observe dans l’expression orale de ses concitoyens huguenots « demi-français » (Meynier parle de « Teutsch-Franzosen »). Mais le volume théorique reflète également une réflexion linguistique approfondie qui se nourrit de la prise en compte de grammaires françaises comme celle de Port-Royal, De la Touche, Buffier, Restaut et Des Pepliers. De surcroît, la Grammaire francaise témoigne des méthodes d’enseignement qui régnaient à l’époque dans le Nord de la Bavière, nous informant en filigrane du processus d’intégration linguistique des réfugiés huguenots à Erlangen. 1 Leben und Werk Jean Jacques Meyniers Jean Jacques Meynier wurde am 26. 8. 1710 in Offenbach als Sohn eines Strumpffabrikanten geboren (Höfer 1865: Sp. 291). Jean Jacquesʼ Großeltern waren aus Frankreich geflüchtet. 1 Über seine schulische oder universitäre Ausbildung ist nichts bekannt. Der Hugenotte scheint sich autodidaktisch Kenntnisse in der 1 Ausgewandert ist Vincent Meynier aus Monteils im Languedoc mit seiner Frau Judith (geb. Reboulle), die sich in Offenbach niederließen. Deren Sohn Guillaume (verheiratet 144 Corina Petersilka französischen Sprache und Literatur sowie im Lateinischen und Griechischen verschafft zu haben. Zunächst unterrichtete der Verfasser der grammaire française in Offenbach als Privatlehrer Französisch (Schröder 1992 III : 203). Im Kirchenbuch von Neu-Isenburg wird Jean-Jacob bzw. Jean Jacques Meynier anlässlich seiner ersten Hochzeit (1732 mit Susanne Grôs) schon als „Lecteur, Chantre et Maître d’École de l’Église Françoise Réformée“ in Offenbach bezeichnet (cf. Abbildung 1). Abb. 1: Eintrag im Kirchenbuch der Ev.-Ref. Gemeinde in Neu-Isenburg anlässlich der Hochzeit Jean Jacques Meyniers mit Susanne Grôs, 1732. Im Jahre 1738 wurde Meynier Kantor bei der französisch-reformierten Gemeinde in Christian Erlang 2 und bekleidete dieses Amt bis 1745 (Fikenscher 1806 III : 253). 1742 erhielt er den Posten des Lektors der französischen und italienischen Sprache an der Friedrichs-Akademie zu Bayreuth, 3 die 1743 zur Universität erhoben wurde und nach Erlangen zog. Die Erlanger Neustadt beheimatete zu dieser Zeit etwa tausend Hugenotten samt ihren Nachfahren und circa doppelt so viel deutschstämmige Einwohner (cf. Hudde 1993: 547; Lausberg 2007: 142; Bischoff 1982: 68). Meynier wirkte als Französischlektor an der Erlanger Universität und möglicherweise zumindest zeitweise auch am 1745 1704 mit Anne Marie Collet aus Otterberg) ist J. J. M.s Vater (cf. Seifert 1972: 14; Hausmann 1989: 48). 2 Die Erlanger Neustadt, die der Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth (1644-1712) südlich der Erlanger Altstadt für die Réfugiés seit 1686 errichten ließ, hieß zwischen 1701 und 1812 amtlich Christian Erlang (cf. Bischoff 1982: 65). 3 In Meyniers Schriften deutet allerdings nichs darauf hin, dass er der italienischen Sprache mächtig gewesen wäre. 1744 wurde Zanobio de Forti als Lektor der „toscanischen Sprache“ eingestellt (cf. Schoeps 1950: 12, Beilage). Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 145 gegründeten Erlanger Gymnasium Fridericianum bis zu seinem Tod im Jahre 1783 (cf. Schröder 1992 III : 203). 4 Die meisten Schriften Meyniers sind Materialien für den Französischunterricht (Aufstellungen der Titel bei Fikenscher 1806 III : 253-256; Schröder 1992 III : 204-205; Höfer 1865 XXXV : Sp. 291-292). Von diesen ist die bedeutenste Frucht, die aus seiner umfangreichen Unterrichtspraxis und der Auseinandersetzung mit anderen Grammatiken (cf. Kap. 2.1) hervorgegangen ist, die hier zu behandelnde Grammaire française, reduite à ses vrais principes, ouvrage raisonné , Erlang und Nürnberg 1767. Diese Grammatik erzielte immerhin fünf Auflagen: 1767, 1776, 1783, 1781 und eine 1798 vom Sohn besorgte Ausgabe (cf. Stengel 1976: 98). Teile dieser Grammatik bzw. des Vokabular-, Brief- und Gesprächsteils im zweiten Band veröffentlichte der Autor später nochmals getrennt und leicht überarbeitet unter anderen Titeln. 5 Meynier verfasste auch Oden, Literarisches und Übersetzungen philosophischer und theologischer Schriften. 6 Trotz herber Angriffe durch die Zensur des Markgrafen unternahm es der Hugenotte zwischen 1744 und 1771 immer wieder mit Buchhändlern aus Erlangen und Nürnberg verschiedene französische Zeitungen herauszugeben. Leider sind keine Exemplare der „Erlangische[n] Französische[n] Politische[n] Zeitung“, 4 In seiner Grammatik geht Meynier schon im préface (I, 4 verso) auch auf den gymnasialen Französischunterricht ein. Sein Sohn Johann Heinrich Meynier ist als Collaborator für Französisch am Fridericianum ab 1791 belegt (cf. Gymnasium Fridericianum 1950: 59). 5 Etymologische Tabellen der französischen Sprache mit kleinen Aufgaben zur Anwendung und Uebung der etymologischen und vieler syntactischen Regeln für Anfänger besonders auf Schulen und Gymnasien, um in kurzer Zeit eine gründliche Kenntniß von den Hauptregeln der französischen Sprache zu erlangen , Nürnberg 1775; Lehrreiche und verbesserte Aufgaben, mit hinlänglichen französischen Wörtern und Redensarten, nach Ordnung des Vocabulaire für die Anfänger der französischen Sprache , Nürnberg 1776; Neuvermehrte deutschfranzösische Gespräche mit grammaticalischen Anmerkungen, Dann sinnreiche Einfälle wie auch kaufmännische und andere Briefe […], Nürnberg 1778. 6 So z. B. einen Gesang anläßlich des Besuchs Friedrichs des Großen in Christian-Erlang am 19. 8. 1740 (cf. Stadtarchiv Erlangen, StAE, I. N. 1. ff, XXIV Sammlung; Seifert 1972: 14) sowie u. a. folgende Schriften: Lettre de Mr. C. J. Huth […] touchant l’Inauguration et l’etat present de l’Université Fredericienne d’Erlangen , traduite […] par J. J. Meynier, Erlangen 1743 (cf. Hudde 1993: 547); Ode sur la mort prématuré du - Frederic Marcgrave , Erlangen 1763; L’ecole des jeune poetes françois , Erlangen 1768; Ode a son Altesse Ser. M. le Marcgrave - Alexandre - sur son avenement à la souveraineté et au gouvernement du Marcgraviat de Brandebourg-Culmbach , Erlangen 1769; Abregé historique du vieux et du nouveaux testament avec des reflexions edifiantes et de courtes prières pour l’usage de la jeunesse , Tome I. II, Erlangen 1784 (es handelt sich um eine Übersetzung des Bibelauszugs des Erlanger Theologen Georg Friedrich Seiler: Die heilige Schrift des alten Testeaments im Auszug, sammt dem ganzen neuen Testament, nach Luthers Uebersetzung mit Anmerkungen . Zwei Bände, Erlangen 1781; cf. dazu Fikenscher (1806 I: 110): „Ist bis auf wenige Bogen von Joh. Jac. Meynier, dann von Jac. Franz Agassiz ins Französische […] übersetzt“); französische Übersetzung einiger Schriften von Moses Mendelssohn im Journal françois de Francfort . 146 Corina Petersilka der „Nouvelles choisies“, des „Mélange curieux“, der „Evènements mémorables du Monde littéraire“, des „Echo de Nouvelles“ oder des „Raconteur“ erhalten (cf. Schmidt-Herrling 1930: 98-101; Schröder 1992 III : 205; Seifert 1972: 14; Bischoff 1982: 80). Dass diese „Gazetten“ erschienen sind, steht jedoch außer Zweifel, denn sie sorgten für ernste Konflikte zwischen der Universität und dem Bayreuther Markgrafen Friedrich III . (1711-1763), die in den Universitätsakten dokumentiert sind. 7 Zunächst musste sich Meynier gegen den Kommerzienrat Brunner aus Bayreuth wehren, der auf sein Zeitungsprivileg pochte. Schließlich forderte der Markgraf Friedrich selbst die Universitätsleitung am 24. 5. 1756 auf, dass Meynier „die Zeitung liegen lassen“ solle. Zumindest sollte sie darauf achten, dass sich der Lector linguae gallicae der Zensur eines gewissen Cabrol unterwerfe. Dem Markgrafen, einerseits Schwager Friedrichs II . von Preußen, andererseits Reichsfürst, der während des Siebenjährigen Krieges eine neutrale Haltung zwischen den kriegsführenden Mächten einnehmen wollte, missfiel die offen friderizianische, preußenfreundliche Gesinnung Meyniers (Schmidt- Herrling 1930: 99). Die Universität, die sich in ihrer akademischen Freiheit angegriffen sah, verteidigte den Lektor gegen den Markgrafen und wollte keinen auswärtigen, unstudierten Zensor akzeptieren. Es lässt sich kein Hinweis auf eine Reise Meyniers nach Frankreich oder einen längeren Aufenthalt dort finden. Er starb am 9. 10. 1783 in Erlangen. Der Hugenotte war viermal verheiratet. Die erste, dritte und vierte Frau schenkten ihm insgesamt sieben Töchter und sechs Söhne, wobei sechs der Kinder bereits im Kleinkindalter verstarben. 8 Am meisten Spuren hinterließ der Sohn Jean Henri, später Johann Heinrich Meynier (1764-1825). Johann Heinrich trat als Französischlektor an der Erlanger Universität von 1788 bis 1825 in die Fußstapfen des Vaters. Französisch unterrichtete der Sohn auch zwischen 1791 und 1802 am Erlanger Gymnasium, wo er ebenso wie an der Universität zudem Zeichenunterricht gab (Bischoff 1982: 80). Johann Heinrich Meyniers Interessen waren künstlerischer und breiter gefächert als die des Vaters. Zwar veröffentlichte auch Johann Heinrich zahlreiche Unterrichtsmaterialien fürs Französische, am bedeutendsten das Bildwörterbuch Neuer Orbis Pictus in deutscher und französischer Sprache : ein Hülfsmittel, Kindern viele nüzliche Kenntnisse beizubringen, die Lust zu Erlernung der 7 Cf. UAE A1, 3a Nr. 65 [UAE = Universitätsarchiv Erlangen; cf. Erlanger Universitätsakten]. 8 Cf. Akte Meynier im Erlanger Stadtarchiv; die Sammelmappe „III.107.M.1 Meynier, Menier“ enthält einen vom Archivar Johannes Bischoff handschriftlich aufgezeichneten Stammbaum der Familie Meynier, der bis ins 20. Jahrhundert reicht, der aber, was Meyniers Ehen und Kinder betrifft, unvollständig ist, wie aus den Einträgen in den Kirchenbüchern Offenbachs, Neu-Isenburgs, Bayreuths und Erlangens hervorgeht. Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 147 französischen Sprache in ihnen zu erwecken, und die Fertigkeit im Sprechen zu befördern; mit vielen illuminirten Kupfern (Nürnberg 1812, 1818, 1822, 1834), sowie bei Johann Jakob Palm in Erlangen 1800 ein französisch-deutsches und 1802 ein deutsch-französisches Handwörterbuch für die Schulen und den Bürgerstand (cf. Hausmann 1989: 42-45). Der Schwerpunkt seines äußerst umfangreichen schriftstellerischen Schaffens lag jedoch im Bereich der Pädagogik und Geschichte. Über 120, meist schön bebilderte Publikationen, die der naturkundlichen, historischen, geographischen und charakterlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen dienen sollten, können Johann Heinrich Meynier zugeschrieben werden, wobei etwa die Hälfte unter einem Dutzend verschiedener Pseudonyme erschienen ist (cf. Strobach 1977: A90-A94; Bischoff 1982: 80; Hausmann 1989: 41-45; Schröder 1992 III : 206-212; Stadtbibliothek Paderborn 1978: 14-21; Hamberger / Meusel 1797: 219-220). Zwei der Töchter Jean Jacques Meyniers, nämlich Jeanette (geb. 1758) und Louise Meynier (1766-1856), arbeiteten als Erzieherinnen (cf. Stammbaum St AE III .107.M.1). Louise Meynier, verheiratete Mühler verfasste auf Deutsch zahlreiche pädagogische Kinderschauspiele und Erzählungen (cf. Bennewitz 2007: 432-434). 2 Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier 2.1 Aufbau und Bezug auf andere Grammatiken Bereits der Titel La Grammaire Française, reduite a ses vrais principes, ouvrage raisonné lässt durch das Postulat raisonné erkennen, dass sich Meynier in die Tradition der rationalistischen Grammaire générale et raisonnée de Port-Royal der Autoren Claude Lancelot und Antoine Arnauld stellte. Der erste Kanzler der Universität Erlangen, der Hugenotte Daniel de Superville, hatte die Grammatik von Port-Royal in der Ausgabe Brüssel 1676 der Universität geschenkt, worauf der Jurist Roßmann den Lektor Meynier auf das Werk und auf das Dictionnaire von Bayle aufmerksam machte (Meynier 1746: avertissement ). Der Lektor besorgte 1746 eine Neuauflage der Grammatik von Port-Royal, die er mit zahlreichen Anmerkungen versah, 9 in denen er die lateinischen und griechischen Beispielsätze ins Französische übersetzte, auf die konstrastive Komponente Französisch-Deutsch abzielte oder seine Unterrichtserfahrung einfließen ließ. 10 9 Die Ausgabe enhält insgesamt 98 Fußnoten von Meynier und vier mit Stern markierte Anmerkungen von Roßmann. 10 So z. B. in einer Fußnote zu den stummen Buchstaben, die der Orthographie seiner Meinung nach nur bedingt nützen: „ON ne doit point retrancher de lettres, quand elles sont nécessaires pour la distinction des choses, comme dans les exemples cités par l’Auteur; 148 Corina Petersilka (Leider verkaufte sich diese Port-Royal-Grammatik nicht Meyniers Vorstellungen entsprechend, so dass er bei der Universitätsleitung um Erlaubnis bat, eine Bücher- und Silberlotterie veranstalten zu dürfen, bei der anscheinend jeder, der Silberzeug erloste, auch eine Grammatik kaufen musste. 11 ) Der ausführliche, zeitgemäß schwülstige Titel der Grammaire française (cf. Abb. 2) liefert bereits einen Überblick über ihre Gliederung. Im Folgenden soll nach einer kurzen Vorstellung der praktischen Inhalte des zweiten Bandes hauptsächlich der erste Band, also die eigentliche Grammatik, behandelt werden. mais aussi, quand elles sont inutiles & embarrassantes; ne craignons pas de suivre l’exemple des Auteurs, qui ont secoué le joug insuportable de l’ancienne ortografe. Je souhaiterois fort, que les Defenseurs de cette ortografe fussent obligés d’enseigner, pendant 10 années, la langue française dans les paȉs étrangers, pour les punir de leur opiniatreté; parce qu’ils aprendroient par eux-mêmes à connaitre la peine & l’embaras, que cause ce fatras inutile de lettres, dont la conservation leur est si chère“ (Meynier 1746: 15, FN). 11 Cf. UAE A1 / 3a Nr. 32. Der Vorstellung Meyniers nach soll der Lerner die im ersten theoretischen Teil erworbenen Kenntnisse über den Aufbau der Sprache im zweiten praktischen Teil anwenden und einüben. Festigen soll sich die im ersten Teil erworbene Regelkenntnis vor allem durch das Hin- und Herübersetzen der Texte im zweiten Teil. Meynier pocht auf die Wichtigkeit der Erlernung und Anwendung von Grammatikregeln (cf. I préface , 4 recto) und setzt sich somit von der älteren Parliermethode, also der ungesteuerten Immersion ins Französische mit einer französischen Gouvernante oder einem Hauslehrer, ab (cf. zur Parliermethode: Kuhfuß 2014: 508). Mit seiner Grammaire française veröffentlichte Meynier schon 16 Jahre vor Johann Valentin Meidinger, dessen Praktische Französische Grammatik 1783 zum ersten Mal erschien, ein Lehrbuch, das der Grammatik- Übersetzungs-Methode zuzurechnen ist. Die Grammatik-Übersetzungs-Methode, auch synthetische, gemischte und später „traditionell“ genannte Methode, war die bis weit ins 19. Jahrhundert vorherrschende Vermittlungsmethode (Kuhfuß 2014: 509-516). Mit seinem ausführlichen, kontrastiv französisch-deutschen Regelteil und seinem auf Nützlichkeit und Anwendung ausgerichteten praktischen Teil mit Musterdialogen und vor allem Übersetzungen zur Regeleinübung lieferte Meynier ein frühes Beispiel für die Umsetzung dieser gemischten Vorgehensweise. Der Hugenotte befand sich also methodisch-didaktisch auf der Höhe seiner Zeit (cf. Hausmann 1989: 40). Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 149 Abb. 2: Titelblatt der Grammaire française von Jean-Jacques Meynier. http: / / idb.ub.unituebingen.de/ diglit/ 42A14572 150 Corina Petersilka Im Titel wirbt Meynier damit, dass in seinem Werk „alles nach dem Grundriß der Grammaire des Herrn des Pepliers“ verfasst sei. Diese Aussage trifft zu, es gibt aber viele Unterschiede in der Anordnung und Ausführlichkeit der Kapitel sowie bei den Beispielsätzen. Meyniers Grammaire française ist insgesamt etwas umfangreicher als die Des Pepliers und enthält im Unterschied zu Des Pepliers zahlreiche thèmes . 12 Bei Meynier wird mehr erklärt, bei Des Pepliers finden sich längere Beispiellisten. Ein systematischer Vergleich von Meyniers mit Des Pepliers Grammatik kann hier jedoch nicht geleistet werden. 13 Im Folgenden werden nur einige Schlaglichter auf die unterschiedlichen Schwerpunkte in diesen Grammatiken geworfen. Des Pepliers Grammaire royale françoise , Berlin 1689, erreichte bis 1811 über hundert Auflagen und wurde ins Dänische, Russische, Schwedische und Niederländische übersetzt. Es handelte sich um eine der berühmtesten und meist verkauften Fremdsprachengrammatiken des 18. Jahrhunderts (Kuhfuß 2014: 351). 14 Des Pepliers stand z. B. auch auf dem Lehrplan des 1745 gegründeten Erlanger Gymnasiums (Gymnasium Fridericianum 1950: 40). 2.1.1 Struktur des praktischen Teils Meyniers zweiter Band enthält thematisch geordneten französisch-deutschen Wortschatz zu sämtlichen Lebensbereichen (Religion, Verbrechen, Tugenden, Handwerke, Fechten, Spiele, Pflanzen, Länder, Wasserwege etc., II , 1-192) jeweils begleitet von deutschen Texten, die das fragliche Vokabular enthalten und die ins Französische übersetzt werden sollen. Diese thèmes sind bei Des Pepliers nicht vorhanden. 15 Meistenteils handelt es sich bei dieser Wortkunde um nominallastige Wortlisten. Meynier fügt jedoch auch immer wieder Anmerkungen zu „Redensarten“, aus heutiger Sicht zu Fragen der korrekten Kollokation ein, welche die Ausbeute seiner langjährigen Unterrichtserfahrung 12 In der französischen Tradition ist thème eine Hinübersezung (d. h. eine Übersetzung in die Zielsprache) und version eine Herübersetzung (d. h. eine Übersetzung in die Ausgangssprache) (cf. Albrecht 2013: 44-45). 13 Meynier selbst führt im préface zu den Unterschieden aus: „j’en ai suivi le plan: mais voila tout: Car, dans la mienne, je rens à l‘Etimologie ce que la Sintaxe avoit usurpé, à la Sintaxe ce qui n’apartenoit pas à l’Etimologie, au Dictionnaire ce qui n’est pas de la Compétance de la Grammaire. Enfin, je remets chaque chose en sa place, en supléant celles qui manquent“ ( préface I, 5 recto, verso). 14 Kuhfuß‘ monumentale Kulturgeschichte des Französischunterrichts in der frühen Neuzeit von 2014 erwähnt leider Meyniers Grammatik nicht; auch in Hüllen / Klippel (2005) taucht Meynier nicht auf. 15 Des Pepliers praktischer Teil enthält im Gegensatz zu Meynier: Reflexions morales , Fabeln und Namen der Länder und Städte. Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 151 sind. 16 Ein weiterer Bestandteil des zweiten Bandes sind 50 Musterdialoge auf Französisch ( II , 193-243). 17 Die recht biederen Gespräche, z. B. über das Wetter, die Gesundheit, das Essen oder Anstandsregeln, liefern Mustersätze für die Alltagskommunikation, Phrasen zur Anwendung in Gesellschaft, bei einem Arztbesuch, beim Ausritt, auf Reisen, beim Schneider, im Theater, etc. Manche Dialoge weisen ein gewisses fränkisches Lokalkolorit auf. 18 Aufschlussreich ist in unserem Zusammenhang vor allem der 50. Dialog Le maître et le disciple , in dem der Schüler fragt, wie er die Grammaire française benutzen soll. Hier stellt Meynier nochmals ausführlich seine auf Regelkenntnis und Hin- und Herübersetzung basierende Methode dar. Darauf folgen 101 Saillies heureuses ( II , 243-263). Es handelt sich um geistreiche historische Zitate und Episoden. Nicht fehlen darf in einem Lehrbuch der Zeit eine Abhandlung übers Briefeschreiben. In seinen Remarques sur les lettres (frz., II, 264-268) gibt Meynier auch kontrastiv-pragmatische Hinweise, z. B. übers Glückwunschschreiben. 19 Gefolgt werden diese theoretischen Äußerungen von 81 französischen Beispielbriefen ( II , 269-298), jeweils Schreiben mit Antwortschreiben, die Gängiges (Liebesbrief mit positivem und negativem Antwortbrief), aber auch aus heutiger Sicht Kurioses enthalten wie z. B. die notification de la mort d’un fils libertin ( II , 271). Geschäftsbriefe (frz., II , 285-298), begleitet von Erklärungen zu Wechselbriefen Des lettres de change (frz., II , 298-302), nehmen wenig Raum ein. Es findet sich zudem ein Titularteil (frz., II, 302-310) Courtes Instructions Sur La manière d‘écrire & d’adresser les lettres . Auf diese Hinweise zu Anreden und Schlussformeln in Briefen folgt Von den Überschriften der Briefe (dt., II , 310-313), wo abgehandelt wird, wie die Adresse auf dem Briefumschlag zu verfassen ist. Der zweite Band schließt mit einigen Seiten (dt., II, 313-318) zu Namen der Bedienungen, Würden, Charakters und Professionen . 16 Cf. z.B. II, 73-74, FN: „Bei dem Capitel der Kranckheiten, muß mann sich wohl hüten, das Wort recevoir bekomen in folgenden Redens Arten zu gebrauchen: Er bekomt […] eine Geschwulst am Halß. […] Dann hier brauchen die Frantzosen venir oder prendre : Ex. […] il lui vient (il prend) une tumeur au cou […].“ 17 Im préface (I, 4 recto) schreibt Meynier, die Dialoge seien „dans le Gout des Dialogues latins de la Grammaire de Langius “ verfasst. Meynier bezieht sich hier offensichtlich auf die im 18. Jh. weit verbreitete Grammatica (1705) des Joachim Lange [Langen] (1670-1744). 18 Cf. z.B. II, 227, 34. Dialog (über Theaterbesuch eines Molière-Stücks in Nürnberg); II, 228, 35. Dialog (zwei Freundinnen bei einer Kutschfahrt nach Bruck); II, 234, 40. Dialog (ein Pariser und ein Franke unterhalten sich); II: 239, 45. Dialog (über eine Postkutschenfahrt nach Bamberg). 19 „Ces Lettres sont plus nécessaires en Allemagne que par tout ailleurs, par ce qu’on s’y felicite à tout bout de champ, […]“ (II, 265). 152 Corina Petersilka 2.1.2 Struktur der eigentlichen Grammatik Kommen wir nun zum Aufbau der eigentlichen Grammatik im ersten Band. Auf ein französisch formuliertes préface , auf dessen programmatische Aussagen noch zurückzukommen sein wird, und ein deutsch verfasstes Register folgt der Theorieteil der Grammatik auf Deutsch, was sich dadurch erklärt, dass sich diese Lernergrammatik an deutsche Schüler, Studenten und Lehrer richtete. Meynier entschuldigt sich am Ende des préface für sein schlechtes Deutsch: „Si mon stile allemand n’est pas partout dans sa pureté; on n’a qu’a se rapeler, que je suis Français“ (I, 5 verso). 20 Diese Aussage erstaunt einigermaßen von einem in Deutschland geborenen Hugenotten der dritten Generation und war vielleicht als Verkaufsargument gedacht. Meyniers Werk zeigt die klassische Anordnung in der Tradition der lateinischen Grammatik (cf. Chevalier 1994: 12): auf Ausführungen zu Orthographie, Aussprache und Prosodie folgen Kapitel zur Etymologie (das ist Morphologie- Syntax) und schließlich zur Syntax. Im ersten Abschnitt (I, 1-56) behandelt Meynier die Orthographie und Aussprache von Vokalen, 21 Konsonanten, die Silbenlänge, die Liaison und die Orthograpie aus kontrastiv französisch-deutscher Perspektive. Dieses Kapitel ist weit ausführlicher als bei Des Pepliers - Meynier hatte ja bereits zuvor zur Aussprachelehre publiziert 22 - und weist die für die Zeit typische terminologische Unschärfe zwischen Laut und Buchstabe auf. So schreibt Meynier zur Vokallänge: Lang sind auch mehrentheils die End-Sylben, wenn sie einen oder einige hartlautende Consonantes haben, als: toujours, amour, trésor, constant, patient &. (Meynier 1767 I: 37) Er trennt also nicht immer klar zwischen Lauten, d. h. in seiner Sicht Buchstaben, die ausgesprochen werden wie das - r in amour , und Buchstaben, die schon zum Ausgang des Mittelalters verstummt sind wie - t in constant und patient . Meynier versucht, die Aussprache des geschriebenen Französisch mit- 20 Auch in der Vorrede seiner Allgemeinen Sprachkunst, Erlangen 1763, bezeichnet er sich als Franzose (der nicht perfekt Deutsch und gar kein Englisch kann). 21 Zur Frage der Anzahl der vokalischen Dibzw. Trigraphe erwähnt Meynier (I, 3) De la Touche (cf. Pierre De la Touche: L’art de bien parler françois qui comprend tout ce qui regarde la Grammaire & les façons de parler douteuses , Amsterdam 1696). Zudem empfiehlt er seinen Discours académiques sur les grammaires françaises […], Erlangen 1758 (nur Bd. I erschienen, nicht auffindbar). 22 Nouvelle A B C ou methode toute nouvelle pour apprendre aux enfans à bien lire suivant toutes les régles de la saine prononciation , Erlangen 1763. Neuaufgelegt vom Sohn, Johann Heinrich Meynier, Nürnberg 1792. Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 153 hilfe der französischen und deutschen Grapheme sowie anhand von Vergleichen mit dem Deutschen 23 bzw. mit deutschen Varietäten wie Fränkisch 24 oder Niederdeutsch 25 zu beschreiben. An zwei Stellen beruft er sich zur Entscheidung der Sprachrichtigkeit auf Pierre Restaut. 26 Bisweilen behilft er sich mit der Aussage, man müsse diesen oder jenen Laut „aus dem Munde eines Franzosen pronunciren lernen“. 27 Meyniers Ausführungen spiegeln die Aussprache des 18. Jahrhunderts wider, 28 wobei er bei manchen Aussprachegewohnheiten einen Sprachstand früherer Jahrhunderte besessen zu haben scheint. 29 Einige seiner Empfehlungen muten schließlich seltsam an. 30 In vielerlei Hinsicht ähnelt seine Aussprache der, die sich bei seinem Zeitgenossen Friedrich II ., König von 23 „p wie das teutsche weiche b [aussprechen]“ (I, 21); „r klingt wie das teutsche rr“ (I, 21); „t wie das teutsche d [aussprechen]“ (I, 22); „v ist das französische w, und wird acurat wie das teutsche ausgesprochen“ (I, 23). 24 „In Franken, am Maynstrom, wird das ü in über, drüber, hinüber acurat wie das französische u ausgesprochen“ (I, 11); „g […] vor hartem a o u ohngefehr wie k mit etwas geschlossenem Schlunde, das ist wie in Franken Gatter, Gott, Guth“ (I, 18). 25 „k viel gelinder als das Hochteutsche, und à peu près wie im Niederteutschen: Kikajon “ (I, 19). Meyniers Beispielwort „Kikajon“ bezeichnet eine Rizinusstaude, hebräisch auch „Kikayon“, aus dem alttestamentarischen Buch Jona, welches in den heutigen Bibelausgaben als „Rizinus“ wiedergegeben wird ( Jona 4, 6-7). 26 In der Frage, ob die Ausprache von „heureux“ hûreux oder heureux lauten soll (I, 13) und zur Großschreibung von Namen und Würden (I, 56). Cf. Restaut, Pierre: Principes généraux et raisonnés de la grammaire françoise avec des observations sur l’orthographe, les accents, la ponctuation et la prononciation , Paris 1730. 27 I, 18; cf. „ui wie das französische u und i in einer Sylbe, als lui, luire, ruisseau &. Dieser Diphtongus befindet sich besonders in Guise, éguille, éguillette, éguillon, éguiser & derivatis. Er ist für einen teutschen sehr schwer: […] Das beste ist, daß ein gebohrner Frantzoß ihn lehret aussprechen […]“ (I, 16). Ebenso müsse man das <z> (I, 24), das <g> (I, 18) und <oeu>/ <eu> (I, 13) von einem geborenen Franzosen hören. 28 Cf. z.B. zur Aussprache von <oi>: „Roi, loi […] sprich Roê, loê & oder quasi Roa“ (I, 16). Wohl auch noch normgerecht für die Zeit sind die vokalischen Quantitätenunterschiede, auf die Meynier hinweist, z. B. „saut [muß] länger ausgethönet werden, als sot“ (I, 37), und seine Empfehlung, den Anlaut von canif , Claude mit französischem [g] zu sprechen: „In einigen Wörtern klingt es auch wie ein französisch g, als: canif, cicogne [sic], Claude, écloge, necromance, second, secret, sécretaire & in derivatis : sprich: ganif, cigogne &c.“ (I, 17). Meyniers Schreibung „grand’peine, grand’peur, grand’pitie“ (I, 49) betrifft die Morphologie und zeigt Reste der altfranzösischen Flexion von grand . 29 „h […] ist nur eine aspiration oder ein Hauch […] Ist er starck, so klingt das französische h wie das teutsche, als: haut, halte, houblon & sprich ho, halt, hublong“ (I, 18); „Das l ist auch in folgenden Wörtern stille: quelque (quêque) quelcun, Arsenal, Avril […]“ (I, 32); „[…] batir […] sprich bati“ (I, 34); „p wird mehrentheils am Ende ausgesprochen, es mag ein Vocal oder Consonant folgen: drap, trop, beaucoup, cap, Gap, julep, galop &. Doch ist es stille, Imo. wann das Wort im Plurali stehet […]“ (I, 33). 30 Cf. z.B. die Aufforderung ‚guise‘ mit Diphthong zu sprechen (I, 18, cf. FN 27 des vorliegenden Artikels); „R muß in der ersten Sylbe von Mercredi weggelassen […] werden“ (I, 44). 154 Corina Petersilka Preussen, der von Hugenotten erzogen wurde, anhand seiner phonographischen Schreibweise rekonstruieren ließ. 31 Im zweiten Abschnitt De l’Etimologie […] Von der Wortforschung “ (I, 57-171) beschreibt Meynier, weiterhin stets aus einer kontrastiv französisch-deutschen Warte, die einzelnen Wortarten. Wie Port-Royal und Des Pepliers unterscheidet er neun partes orationis : Articulus, Nomen, Pronomen, Verbum, Participium, Adverbium, Praeposition, Conjunction und Interjection (I, 57). Dieser Teil entspricht mit Umstellungen in der Reihenfolge und unterschiedlicher Ausführlichkeit dem Vorgehen bei Des Pepliers. Meynier behandelt z. B. die Genus- und Numerusmarkierung beim Nomen sehr detailliert und liefert unter Regeln vom Genere für einen Lateiner eine gereimte Liste von Wörtern, die im Französischen im Gegensatz zum Lateinischen feminin sind (I, 68-76). Zu Beginn dieses Wortartenkapitels verweist Meynier (I, 57) wie Des Pepliers (1767: 20) auf den Père Buffier, der nur Nomen und Verbum unterschieden habe. 32 Meynier bezieht sich außerdem auf Port-Royal, wenn er schreibt, dass auch er „nach der Vernunftlehre oder Logic“ eigentlich nur zwei Hauptteile, Nomination und Affirmation, unterscheide und empfiehlt zu diesem Thema seine Allgemeine Sprachkunst (I, 57). 33 Meynier (wie Des Pepliers) hält an der Übertragung der lateinischen Kasusbezeichnungen aufs Französische fest. In der Grammatik von Port-Royal, die Meynier ja selbst mit einer Edition bedacht hatte und deshalb gut kannte, wurde das Konzept ‚Kasus‘ fürs Französische schon in Frage gestellt: Il est vrai, que, de toutes les langues, il n’y a peut-être que la grèque & la latine, qui aient proprement des cas dans les noms. (Meynier 1746: 35) 34 31 Die Aussprache des unbest. fem. Artikels une transkribiert Meynier mit eune (I, 11), auch Friedrich II. sprach [ɶn(ə)] (Petersilka 2005: 202). Meynier empfiehlt in échec , broc das c nicht zu sprechen (I, 30); cf. bei Friedrich II. (Petersilka 2005: 195). Meynier präzisiert, dass „der Pluralis im französischen die Endsilbe verlängert“ (I, 7). Auch Friedrichs II. letzter Vorleser Dantal berichtet, dass der König von ihm verlangt habe „que je fisse bien entendre l’s en prolongeant le son“ (Petersilka 2005: 214). 32 Cf. Buffier, Claude: Grammaire françoise sur un plan nouveau, pour en rendre les principes plus clairs & la pratique plus aisée , Paris 1709. 33 Allgemeine Sprachkunst, das ist Einleitung in alle Sprachen , Herausgegeben von J. J. M., Erlangen 1763. „Herausgegeben“ ist missverständlich. Meynier ist der Autor dieses frühen Werks der allgemeinen Sprachwissenschaft. 34 Dazu merkt Meynier in seiner Ausgabe von Port-Royal in einer Fußnote an: „L’alemande en a aussi comme Nom. der Mensch, l’homme; Gen. des Menschen, de l’homme &c.“ (Meynier 1746: 35). Etwas weiter unten in seinen Kommentaren zu Port-Royal stellt er die Kasusbezeichnung dann ebenfalls in Frage: „Mais il faut remarquer, que ce que nous apelons Datif ici, n’est souvent qu’un nom avec une preposition, comme l’Auteur l’observe plus bas“ (Meynier 1746: 41). Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 155 Das Konzept complément entstand erst durch Du Marsais und Beauzée, vorbereitet von Buffier, Restaut und Girard, die versuchten, sich von der lateinischen Grammatiktradition zu lösen (Swiggers 1983: 275; Chevalier 1968: 650). Mehr Raum als Des Pepliers räumt Meynier in diesem zweiten Abschnitt z. B. dem Gebrauch der Präpositionen ein (I, 142-145, 164-167), deren Erlernung er als „eins der Nothwendigsten Stücke in der Französischen Sprache“ (I, 166) bezeichnet. Dieser Teil schließt mit einem Kapitel zur Wortforschung (I, 152-172), das sich bei Des Pepliers nicht findet und in dem Meynier kenntnisreiche Ausführungen zu historischer Lexikologie, zu Wortbildungsregeln, Semantik (Polysemie, Metaphorik) und Varietätenlinguistik avant la lettre liefert. Der dritte und größte Abschnitt der Grammatik, de la sintaxe (I, 172-318), behandelt, „wie diese Materialien müssen zusammen gefüget und gebrauchet werden“ (I, 172). Immer wieder nennt Meynier aus einer spürbar jahrzehntelangen Unterrichtserfahrung heraus all die Fallen, in die freilich auch heutzutage noch die germanophonen Französischlerner tappen. 35 Meyniers didaktischer Impetus ließ ihn ausführlicher als Des Pepliers vor allem auf folgende Fragen eingehen: Satzgliedstellung (I, 185-200), Verneinung (I, 182-184, 295-302), Particuln (kontrastiver Artikelgebrauch, I, 206-216, 229-231), unpersönlicher Ausdruck (I, 240, 290-294), die Ungewissen (Indefinitpronomen und Indefinitbegleiter; I, 246-250). Wichtig sind ihm die Kasus (Präpositionalgebrauch oder direkter Anschluss, u. a. I, 250-260). Tiefer gehend ist auch der Abschnitt über das participe présent , gérondif und adjectif verbal (I, 271-275). Weniger hing sein Grammatikerherz offensichtlich am Adverb, am accord des Participio Passivo oder Supino (also des participe passé ) und an Tempus- und Modusfragen, was er kürzer abhandelt als Des Pepliers. Interessant ist jedoch seine Bemerkung, das passé surcomposé sei „im gemeinen Reden fast unentbehrlich“ (I, 281). Sein Beispielsatz zum Imparfait, „wann eine oft wiederholte Handlung soll exprimieret werden“, verrät vielleicht etwas über den Unialltag im 18. Jahrhundert: Quand j’étois à Erlang, j’alois au manége, & j’y montois ordinairement 3. chevaux par jour; je faisois des armes, j’aprenois à dancer, je m’apliquois aux Etudes & c. (Meynier 1767 I: 278) 35 Didaktisch etwas fragwürdig mag es uns heute erscheinen, dass er immer erst alle typischen Fehler aufzählt und ausdrücklich nennt, bevor er sie verbessert, so führt Meynier z. B. am Ende des Syntaxkapitels unter Mengenangaben und Gradadverbien aus: „Das teutsche sehr viel , ziemlich viel , kann nicht mit obigen Particuln, auch nicht mit assés gegeben werden: wann die Franzosen plusieurs, beaucoup haben; also sage nicht fort plusieurs, très beaucoup, assés beaucoup ; dann sehr viel heißt entweder beaucoup oder une grande quantité , oder une infinité ; […]“ (I, 312). 156 Corina Petersilka Meyniers Syntaxkapitel schließt mit einem bei Des Pepliers nicht enthaltenen Abschnitt zur Phraseologie (I, 313-318), in dem es um Idiomatik, Barbarismi , Solecismi (Fehler des „Pöbel“), Gallecismi und „gaskognische Böcke“ geht. Dort führt er aus, dass er gerne ein phraseologisches Dictionaire verfassen würde, in dem man alle Gallecismi und Germanismi (frz.-dt. und dt.-frz.) nachschlagen könnte. Als Vorbild zitiert er das Buch des Jesuiten Pomey über die Particuln (I, 318). 36 Immer wieder hadert Meynier mit der Grenze zwischen Grammatik und Lexikon bzw. „Phraseologie“ (I, 317) und ermahnt sich selbst, keine überlangen Beispiellisten aufzuführen für idiomatische Ausdrücke, die man besser aus dem Wörterbuch lernen solle (z. B. I, 303 zu Adverbien, I, 259, 260, 305 zu Präpositionen, I, 307 zur Konjunktion que ). Für die Wortschatzarbeit empfiehlt er zu Fragen der Polysemie und der Adjektivstellung das Wörterbuch Richelets und rät „daß mann fleißig in einem guten Dictionnair oder gute Autores lese, wo mann dann mehr lernen wird als durch verdrießliche Regeln und Exceptiones“ (I, 178). 37 2.2 Normbegriff Meynier beruft sich in der Frage, was richtiges oder falsches Französisch sei, an drei Stellen seiner Grammatik auf den „Gebrauch“. So erklärt er zur Komparierbarkeit von Nomen (z. B. „Soyés plus homme & moins femme“; I, 312), dass man „hierinnen nicht weiter gehen darf, als es der Gebrauch erlaubet, das ist, als es durch das Beispiel bewährter Schriftsteller autorisieret ist“ (I, 312). Im Gegensatz zu Des Pepliers liefert Meynier jedoch keinen Kanon an französischen Autoren, die er zur Lektüre empfiehlt (cf. FN 37 des vorliegenden Artikels). Auf den Gebrauch beruft er sich auch bei der Aussprache von heureux , das manche als hûreux aussprächen: „Allein Mr. Restaut und der Gebrauch sind entgegen“ (I, 13; cf. FN 26 des vorliegenden Artikels). Meynier versteht den Gebrauch, den er an keiner Stelle usage oder bon usage nennt, eher als Lehrmeister denn als normgebende Instanz. Auch die vielerlei Bedeutungen der Konjunktion que müssten „aus dem Lexicon und ex uso gelernet werden“ (I, 307). Der Hugenotte nimmt keine diatopische oder diastratische Verankerung seines Normbegriffs 36 Cf. François-Antoine Pomey (1618-1673): Les Particules françoises , méthodiquement sont exprimées en latin, avec un recueil de celles qui ne souffrent point de méthode , Lyon 1666. 37 Im ersten Band der Grammaire française erwähnt Meynier beiläufig Rousseau und Voltaire zur Orthographie der Endung der Völkerbezeichnungen mit - ais (I, 40) und zur Schreibung European (I, 9). Im zweiten Band taucht Molière im 34. Dialog über einen Theaterbesuch auf. Des Pepliers hingegen empfiehlt in seiner Einleitung einen ausführlichen Kanon französischer Werke, der dem sehr ähnelt, den Friedrich II. nachweislich gelesen hat (cf. Petersilka 2005: 110-114). Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 157 vor, bezieht er sich doch weder auf Paris noch auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht. Als Gewährsleute für die Korrektheit seiner Darstellungen nennt er an ganz wenigen Stellen und nur Details betreffend: Malherbe 38 , De la Touche (cf. FN 21 des vorliegenden Artikels) und Restaut (cf. FN 26 des vorliegenden Artikels). Im Kapitel zur Aussprache stellt er die der „gebohrnen Franzosen“ (I, 24) als vorbildlich dar, die er von der fehlerhaften Aussprache der Teutschfranzosen und Teutschen absetzt (cf. unten Kap. 2.3). Er selbst bezeichnet sich am Ende des préface (I, 5 verso) als Franzosen, was anscheinend als Argument für seine Autorität, den Gebrauch darstellen zu können, ausreichen muss. Im préface betont der Hugenotte, seine Beispielbriefe im zweiten Band habe er im Stil „le plus simple & le plus naturel“ (I, 4 verso) geschrieben. Was Meynier mit naturel meint, kann man nur vermuten: anscheinend ein unmarkiertes, gepflegtes Französisch mit weder dialektal noch fachsprachlich noch diastratisch bzw. diaphasisch niedrig oder hoch markierten Ausdrucksweisen. Er strebt also ein „reines“ Französisch im Sinne Malherbes an, ohne dies aber irgendwo explizit zu formulieren, wobei Meyniers Fokus auf der Alltagssprache eines (wohlerzogenen) Studenten bzw. einer höheren Tochter liegt, wenn man sich die Musterdialoge im zweiten Band ansieht. Dass Meynier ein Bewusstsein von unterschiedlichen Registern bzw. Stilebenen hatte, zeigt sich u. a. am Ende des Kapitels zur Wortforschung, wo er einen stile burlesque , einen erhabenen und niedrigen, poetischen und prosaischen Stil erwähnt (I, 171). Auch weist er auf Fachsprachen hin, wenn er schreibt, dass „eine iede Kunst oder Wissenschaft, eine iede Profeßion oder Handthierung, […] eigene Wörter und Redensarten hat, die mann anderswo nicht anbringen darf “ (I, 171). Was Meynier als richtigen Sprachgebrauch erachtet, ist zudem ex negativo das, was die Gaskogner nicht sprechen. An zahlreichen Stellen warnt er vor deren Sprachgebrauch. Hat es damals in Erlangen tatsächlich so viele Hugenotten südwestfranzösischer Herkunft gegeben? 39 Musste Meynier Erlangen entgaskognieren, so wie es Malherbes Ziel gewesen war, den Hof Heinrichs IV . von gaskognischen Regionalismen zu befreien („corriger & degasconner la Cour“)? 40 38 Dem Fehler „wieder die Reinigkeit“, ein Adjektiv auf zwei Nomina unterschiedlichen Genus zu beziehen, „sagt Malherbe, muß mann, gleich wie einer Klippe, ausweichen“ (I, 204). 39 Ebrard (1885: 145-157) enthält ein „Verzeichnis der Refugiés, welche 1686-1700 als Familienväter in Erlang vorkommen, geordnet nach den französischen provinces et colloques , aus denen sie stammten“. Diese Liste enthält 18 Familien aus der Gaskogne. 40 Zu diesem Malherbe in den Mund gelegten Ausspruch cf. Berschin / Felixberger / Goebl (2008: 231). 158 Corina Petersilka In der Tat könnten einige der von Meynier als gasconisme gebrandmarkten Fehler zu der gaskognischen Varietät des Okzitanischen passen bzw. zu deren Substrateinfluss auf das dortige Französisch. 41 So weist er beispielsweise auf die Schwierigkeiten „der Hrn. Gasconier Mund“ mit dem h hin. Sie würden die Aspiration entweder fälschlich unterlassen oder überkorrekt hinzufügen: „hingegen sind sie capabel, und sprechen: Herlang, an statt Erlang, […]“ (I, 20). 42 Andererseits kann man beobachten, dass Meynier das Attribut „gaskognisch“ auf syntaktische und lexikalische Normverstöße anwendet, die sicher nicht auf die Gaskogne beschränkt sind, z. B.: falscher Artikelgebrauch bei vorangestelltem komparierten Adjektiv (I, 310), „dites me le“ statt „dites-le-moi“ (I, 191), „il s’élève de ses richesses“ statt „s’enorgueillir de ses richesses“, „emporter“ statt „remporter la victoire“, etc. (I, 315). Eine ähnliche Ausweitung des Begriffs gasconisme auf alles patois -hafte oder von der Pariser Norm Abweichende findet sich bei Desgrouais in seinem Werk Les gasconismes corrigés , Toulouse 1766, wobei nicht davon auszugehen ist, dass Meynier letzteres kannte. Desweiteren warnt Meynier sehr häufig vor den Irrtümern, die „unsere Teutsch-Franzosen“ begehen und möchte ihnen mit seiner Grammatik anscheinend helfen, wie „geborene Franzosen“ (cf. FN 27 des vorliegenden Artikels) sprechen zu lernen. 2.3 Die Hugenotten als „Teutsch-Franzosen“? An einigen Stellen seiner Grammatik spricht Meynier von „unseren Franzosen“ (z. B. I, 316) oder „unseren Teutsch-Franzosen“ (z. B. I, 310). Schon im préface wirbt er damit, dass er in seinem Traité complet de la prononciation all die Fehler heraustelle „qui se commettent de plus en plus par nos Français contre la saine prononciation“ (I, 2 verso). Wen anderes kann Meynier mit „unsere Franzosen“ meinen als die in Deutschland lebenden Hugenottennachkommen? Jedenfalls nennt er als falschen Sprachgebrauch „unserer Franzosen“ bzw. „Teutsch-Franzosen“ eigentlich nur Interferenzerscheinungen mit dem Deutschen. So führt er zum Thema Temporalangaben aus: 41 Auslaut von poulet, sonnet , […] François, Anglois, j’avois, tu aurois mit geschlossenem [e] (I, 6, 14); Verwechslung von peur mit pur , soeur mit sûr (I, 13,14); stummes <c>, „weil es ihnen zu hart klingt“, in: avec, sanctuaire, réctifier, bouc , etc. (I, 17); <cc>, z. B. in accès wie [s] (I, 24); Neutralisierung [v] und [b], „an statt voir, sagen sie boir“ (I, 17, 23); zum <x>: „Da die Gasconier diesen Buchstaben nicht wohl aussprechen können, weil sie Nachbarn von den Spaniern sind, so machen sie ein s oder z daraus […]“ (I, 23). Zum Gaskognischen cf. Kelly (1973), Darrigrand (1984). 42 Im Gaskognischen hat sich wie im Kastilischen f- zu h- entwickelt. Anders als im Kastilischen wird es bis heute als [h] artikuliert, cf. Darrigrand (1984: 16). Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 159 Die also sagen: il est un quart sur une heure, il est la demi pour deux, il a sonné 3. quarts pour quatre &c. reden gut teutsch-französisch, und das geschiehet, leyder! nur gar zu oft von unsern Franzosen. (Meynier 1767 I: 218) Auf der gleichen Seite kritisiert er auch „unsere Sprachverderber“, die „un paire“ und nicht „une paire“ sagen würden (I, 218). Des Weiteren mahnt Meynier in seinem Abschnitt Etwas zur Phraseologie , dass die „Teutsch-Franzosen“ auf die vielen Gallecismi der französischen Sprache achten müssten, die man aus der Grammatik nicht lernen könne: […] damit mann nicht im Uebersetzen e.g. Zapffenstreich für Zuversicht, verdure für verdeur , temperament für temperature , terrein für terroir , bâtir für cultiver , estomac für Gésier , à cause für pour l’amour , und umgekehrt brauche. (Meynier 1767 I: 316) Will er mit der angeblichen Verwechslungsgefahr von „Zapffenstreich“ mit „Zuversicht“ andeuten, dass die „Teutsch-Franzosen“ auch im Deutschen Unsicherheiten zeigten? Im Hinblick auf die Phraseologie fordert Meynier auch im Wortschatzkapitel zum Thema Spiel „rein [zu] reden“, denn Karten mischen giebt mann mit batre schlagen; abheben mit couper schneiden, ein Stich mit une plie , ein gut Spiel mit un beau jeu ; […]. Unsere Französinnen müssen besonders recht darauf sehen, damit sie ihren Discipeln nicht Teutsch-Französisch lernen. (Meynier 1767 II : 184) Ferdinand Brunot führt in seiner Histoire de la langue française zum style réfugié aus, dass man darunter zwei unterschiedliche Sachverhalte verstehen könne (Brunot 1934: 539-541). Einerseits gab es die Tatsache, dass der einzelne Sprecher bzw. die Sprechergemeinschaft im refuge das Französische von Generation zu Generation immer mehr aufgab, es immer weniger beherrschte. Es kam also zu dem, was heute als language attrition oder obsolescence bezeichnet wird. 43 Andererseits prägten die Pariser Kunstrichter des 17. und 18. Jahrhunderts den Begriff des style réfugié für einen bestimmten, eigenen Stil der hugenottischen Autoren vor allem in Deutschland und Holland, der durch den fehlenden Anschluss an die Entwicklung in Frankreich, durch Interferenzerscheinungen mit dem Idiom des Exils, durch die oft provinzielle Herkunft der Emigranten und durch ein Festhalten an einer vom Bibelfranzösisch geprägten Diktion beeinflusst war (cf. Petersilka 2005: 31). Was Meynier in seiner Grammaire française als Sprachgebrauch der „Teutsch-Franzosen“ festhält, gehört eher zu ersterer Kategorie, handelt es sich doch um Interferenzerscheinungen mit dem offensichtlich dominant gewordenen Deutschen. 43 Zu attrition cf. Schmid (2011), zu obsolescence cf. Sasse (1992). 160 Corina Petersilka 2.4 Zielpublikum In seinem Vorwort klärt Meynier darüber auf, dass er die Grammaire française hauptsächlich als Grundlage für seinen eigenen Unterricht geschrieben habe und für alle, die Französisch unterrichten und die darin unterrichtet werden. Im Auge hat er den universitären und gymnasialen Unterricht, denn „un Maitre, apelé à montrer la Langue française dans un Gymnase, peut, en suivant ma métode, instruire vingt, trente Disciples à la fois, […]“ (Meynier 1767: préface I, 4 verso). Eine vorrangige Daseinsberechtigung seines Werkes sieht er vor allem auch im Gebrauch durch die hugenottischen Gouvernanten: Et pour nos Demoiselles françaises, apélées à enseigner notre Langue, quels secours, quel soulagement ne trouveront-elles pas dans cet Ouvrage, presqu’uniquement fait pour Elles! (Meynier 1767: préface I, 5 recto) Es scheint, dass Gouvernanten aus Erlangen im 18. Jahrhundert ein überregionales Renommée genossen (Bennewitz 2002: 68). Meynier betont, seine Grammatik sei für studierte und unstudierte (also ohne Lateinkenntnisse) Lerner und Lehrer nützlich (I, préface, 2 verso, I, 313). Gelehrte standen nicht in seinem Fokus, denn im Briefsteller begründet er das Fehlen von Lettres de Siences & d’Arts damit, dass seine Grammatik für Anfänger konzipiert sei: „[…] ce n’est pas un sujet pour les Commençans, qui font le principal objet de ma grammaire“ ( II , 268; cf. I, 275). Tatsächlich geht die Grammaire française aber in vielen Kapiteln (Negation, Satzgliedstellung, Artikel, Präpositionalphrasen, etc.) derart in die Tiefe, dass man sie kaum als Anfängergrammatik bezeichnen kann. Sie ist die Summa von Meyniers hauptsächlich universitärer Unterrichtserfahrung. Im Briefsteller habe er auch Wechselbriefe eingefügt im Hinblick auf die große Zahl der jungen Kaufleute, die Französisch lernen (I, préface , 4 verso). Mit seinen thèmes möchte der Pädagoge über die sprachliche Komponente hinaus der Jugend „belles connoissances“ vermitteln, die saillies sollen ihren Esprit schärfen, seine Musterdialoge schließlich will Meynier auch als eine Schule der Civilité verstanden wissen (I, préface , 4 recto). Der Hugenotte Meynier betont am Ende seines Vorwortes (I, préface , 5 recto), dass sein Buch konfessionell neutral gestaltet sei, damit es Juden, Katholiken, Protestanten, Quäker und Anabaptisten gleichermaßen benutzen könnten. 3 Resümee Die Grammaire française Jean Jacques Meyniers ist eine im theoretischen Teil auf Deutsch verfasste Lernergrammatik in der Tradition der lateinischen Gram- Die Grammaire française von Jean Jacques Meynier aus Erlangen 161 matik, die den Erlanger bzw. den nordbayerischen Französischunterricht am Gymnasium und vor allem an der Universität, aber auch den Hausunterricht durch Gouvernanten oder Hauslehrer, bis ins 19. Jahrhundert hinein geprägt haben dürfte. Die beiden Bände sind ganz der rationalistischen Auffassung verhaftet, dass man mithilfe der Durchdringung der logischen Prinzipien einer Sprache diese beherrschen lernen kann, wenn man die regelhaften Formen fleißig anwendet und einübt, sich die Ausnahmen klar macht und wenn der Erwerb des wichtigsten Wortschatzes hinzutritt. Meyniers Werk, das offensichtlich die Unterrichtspraxis des Lektors widerspiegelt, ist ein frühes Beispiel der Grammatik-Übersetzungs-Methode. Mehrfach denkt Meynier, der sich selbst wie erwähnt als Franzosen auffasst, über die Grenze zwischen Grammatik und Lexikon nach und weist darauf hin, dass man vieles nur ex uso , durch ein gutes Dictionnaire oder bei den guten Autoren lernen könne. Die sehr in die Tiefe gehende kontrastiv französisch-deutsche Darstellung vieler Grammatikfragen (Präpositionalgebrauch, unpersönlicher Ausdruck, Satzgliedstellung, Negation, etc.) ist die Frucht Meyniers langjähriger Erfahrung im Umgang mit germanophonen Lernern. Das Werk zeugt darüber hinaus von der wissenschaftlichen und didaktischen Auseinandersetzung des Hugenotten mit anderen Grammatiken, namentlich mit der von Port-Royal, von Des Pepliers, De La Touche, Restaut und Buffier. Von der intensiven Beschäftigung mit der zeitgenössischen Grammatiktheorie zeugt vor allem seine kommentierte Edition der Grammaire générale et raisonnée . Schließlich erscheint uns die Grammaire française mit Meyniers Aussagen über das „Teutsch-Französische“ seiner Mitbürger auch als ein historisch bedeutsames Dokument der sich vollziehenden Integration der Erlanger Hugenotten im 18. Jahrhundert. In der Grammatikographie und Didaktikgeschichte des Französischen in Deutschland hat Meyniers Grammaire française bisher zu wenig Beachtung gefunden. Literatur Ungedruckte Quellen Chant au Sujet de l’Entree de sa Majesté Le Roi de Prusse dans Christian-Erlang par J. J. M., Christian-Erlang le 19. Août 1740, St AE (= Stadtarchiv Erlangen), Signatur I. N. 1. ff, XXIV Sammlung. 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Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 167 Enseigner le français aux non-grammatisés: Christian Gottfried Hase et la Grammaire des Dames dans les pays de langue allemande * Gabriele Beck-Busse En 1750, Christian Gottfried Hase publie deux grammaires, dont l’une s’adresse aux „personnes lettrées“ et l’autre „aux Dames et les autres personnes qui ne savent pas le latin“. L’auteur donne ainsi l’occasion concluante d’énoncer ses idées à propos de l’opposition lettrés - personnes non-grammatisées, et cela à un moment précis de sa carrière. Avant d’illustrer la contextualisation à l’exemple de la Grammaire française à l’usage des Dames dans les pays de langue allemande il vaudra la peine d’esquisser les grandes lignes théoriques qui guident l’analyse. Pour des raisons pratiques la contextualisation se limitera à deux aspects: • la structure des manuels (importante pour la polarité exemples / côté pratique d’une part et règles / côté théorique d’autre part) • la question des termes techniques (latinisants). Mots-clés: histoire de la grammaire française, XVIIIe siècle, pays de langue allemande, non-grammatisés, non-latinisants, études de genre ( gender ), terminologie grammaticale, grammaire d’usage. * Je tiens à remercier deux personnes en particulier: Jean-Claude Beacco des importantes suggestions et Véronique Choblet, qui a bien voulu donner une dernière et précieuse retouche au texte français. J’aimerais dédier ces lignes à mon mari, à l’occasion de son 75 e anniversaire. 168 Gabriele Beck-Busse 1 Le cas heureux de la double méthode de Hase En 1750 paraît l’‚Introduction philosophique aux langues française, italienne et anglaise‘ (titre original: Philosophische Anweisung zur französischen, italiänischen und englischen Sprache ). 1 De nos jours, il paraîtra remarquable que l’ouvrage contienne deux manuels pour apprendre le français: une ‚Grammaire française‘ (originairement intitulée Französische Grammatik ) et une ‚Instruction pour faciliter l’enseignement de la langue française‘ (originairement Erleichterter Unterricht zur französischen Sprache ). Dans la perspective d’une étude sur les non-grammatisés, ceci se révèle être une heureuse coïncidence: tandis que la ‚Grammaire française‘ est expressément destinée aux „Gelehrte“ (Hase 1750: )(5 v ), l’‚Instruction‘ reconnaît dans les „Ungelehrte und Frauenzimmer“ (Hase 1750: 161), dans ‚ceux qui n’ont pas étudié et les Dames‘, son public idéal et idéel. 2 Grâce à cette heureuse coïncidence, il est possible d’élaborer les idées d’un seul auteur par rapport à l’opposition grammatisés / lettrés d’une part et nongrammatisés / Dames d’autre part. Si l’on accepte, en plus, l’idée que la date de publication correspond, grosso modo, au moment où les deux méthodes ont été rédigées (et ont été conçues), l’ouvrage constitue un petit trésor: il manifeste l’interprétation qu’un seul auteur donne, à un moment précis, à la distinction grammatisés vs. non-grammatisés ; il révèle la solution que cet auteur propose pour façonner le discours et la présentation grammaticaux selon son optique des deux pôles grammatisés vs. non-grammatisés . 1 Quant à „l’Homme et l’Œuvre“ cf. Bio-bibliographisches Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts . L’épithète philosophique (dans le titre de l’ouvrage) ne fait pas allusion à la grammaire générale mais sert à mettre en évidence le caractère systématique et rigoureux des différentes parties: „weil sie nach besondern Gründen zusammenhangend sind vorgestellet worden“, explique Hase (1750: )()(1 r ; c’est moi qui souligne) - ce qui serait, en français, plus ou moins: ‚parcequ’elles ont été présentées d’une manière particulièrement cohérente‘. Quant à la grammaire générale, Hase (1750: )()(2 r ) exprime l’intention de publier en outre une Allgemeine Sprachlehre, oder die Gründe aller Sprachen (‚Grammaire générale, ou la raison de toutes les langues‘). Il vaut la peine de préciser que les indications „)()(1 r “, „aVI r-v “ etc. répètent les signes du feuillet en bas de page quand les pages ne sont pas numérotées, tandis que l’indication Préface etc. remédie à la lacune et de l’un et de l’autre. 2 Malgré les difficultés de trouver une traduction adéquate du terme Gelehrter , on pourrait, approximativement, se contenter de lettré ou de grammatisé . En ce qui concerne Frauenzimmer , l’idée correspond, à l’époque, plus ou moins à dame (cf. aussi Dietrich 1864) de façon que le terme présente une lecture différente de celle qu’on y attribue, généralement, aujourd’hui. Cf. en outre Beck-Busse (1994) pour les „Ungelehrte“, les „illitterati“, les femmes, le rôle du latin et de la „langue vulgaire“, c’est-à-dire la langue que parle le vulgo et qu’on apprend par la nourrice, tandis que le latin (la „langue des savants“) s’apprend par les règles, par la grammaire , ce qui fait que, à un certain moment de l’Histoire, qui dit latin , dit grammatica (et vice versa), et ce qui explique l’équivalence (personne) grammatisée = latinisante . Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 169 2 Les deux grammaires de Christian Gottfried Hase Dans ce qui suit, on distinguera l’ Instruction (à l’usage des non graMMatisés ) de la Grammaire (à l’usage des graMMatisés ). Pour des raisons de clarté et de précision, il semble opportun de choisir un seul phénomène grammatical (le possessif) pour soumettre les extraits correspondants à une comparaison directe. Dans l’ Instruction (Hase 1750: 187), dédiée aux non graMMatisés , on lit: 3 Sechs und zwanzigstes Stück. Wenn ihr bei einem Worte mein, dein u.s.w. im teutschen setzet, und damit anzeigen wollet, daß einer etwas besitzet, so setzet ihr dieses im französischen auf folgende Weise. 1. Wenn ihr von euch selbst redet, so sprecht ihr so: 1) wenn ihr von einem redet, welches ihr besitzet; 1) mein, mon mong: als mon livre mein Buch. meines de mon de mong: als de mon livre meines Buchs, […].“ (Quand vous mettez mein , dein etc. avec un mot allemand pour indiquer que quelqu’un possède quelque chose, rendez-le en français comme suit. 1. Quand vous parlez de vous-même, parlez ainsi: 1) quand vous parlez d’une seule chose que vous possédez 1) mein, mon mong [„imitant“ la prononciation]: c’est-à-dire mon livre mein Buch. meines [c’est-à-dire au génitif allemand] de mon de mong: c’est-à-dire de mon livre meines Buchs, […].) Le passage surprendra sans doute par son caractère inductif: on part de la forme allemande ( mein ) pour en rappeler la fonction (= indiquer la possession) avant d’indiquer les formes „correspondantes“ de la langue française − et cela pour toutes les personnes, dans tous les cas (de la langue allemande), pour le singulier et le pluriel et dans les différents genres, de manière que la description totale s’étend sur plusieurs pages, à savoir les pages 187 à 191. En plus, le discours imite le langage personnel d’un maître de langue dans une leçon face à face, interpellant les apprenants directement: Quand vous dites en allemand… dites en français … Soit dit entre parenthèses que ce langage rappelle celui de Condillac dans la grammaire de son Cours d’Étude adressé au Prince de Parme. Le paragraphe correspondant en faveur des lettrés , des „Gelehrte“, se lit comme suit (Hase 1750: 45): 3 La traduction essaie de copier le style allemand le plus près possible (parfois même au détriment de l’élégance française). 170 Gabriele Beck-Busse § 32. Wenn der Besitzer einer Sache oder die etwas besitzende Person angezeiget werden soll, so wird dasselbige Wort sehr kurz gemacht, damit es um so viel mehr mit dem andern Wort kan verbunden werden. Welche Wörter sind mon mein, bei dem weiblichen Geschlecht ma meine, in der mehrern Zahl mes meine, von mehrern Personen nôtre unser, bei der mehrern Zahl nos unsere. u.s.w.“ (Quand on veut indiquer le propriétaire d’une chose ou la personne en possession de quelque chose, on raccourcit de beaucoup le même mot pour qu’on puisse le rattacher le plus possible à l’autre mot. Ces mots sont mon mein, au genre féminin ma meine, dans le nombre de plusieurs mes meine, de plusieurs personnes notre unser, avec le nombre de plusieurs nos unsere. Et ainsi de suite.) En comparaison avec l’ Instruction , le discours, de par les formes passives allemandes, est sobre, distancié, impersonnel. Dans les pages qui suivent, Hase (1750: 45-48) introduit encore le terme technique de „pronom“ possessif et déduit les formes françaises des étymologies latines; il explique en outre l’emploi dans la phrase et ne présente qu’un choix exemplaire, en renonçant à présenter le paradigme complet des formes françaises. Une deuxième juxtaposition suffira pour illustrer la réduction théorique et terminologique de l’ Instruction par rapport à la grammaire pour les latinisants par laquelle on commencera (Hase 1750: 21): Wenn ich den Articulum des männlichen Geschlechts brauche und also le, so ist zu bemerken, daß vor einem Lautbuchstab, wie auch vor einem h , welches nicht gelesen wird, der Vocal e von dem Articul wegfält.“ (Quand j’emploie l’article [en allemand avec la terminaison latinisante -culum ] au genre masculin, c’est-à-dire le, il faut remarquer que devant une lettre sonnante de par elle-même [il est étonnant que, même dans le manuel à l’usage des lettrés, Hase n’emploie pas le terme technique de voyelle ] ainsi que devant un h qui ne se lit pas [h muet], la voyelle e de l’article [toujours avec la terminaison -cul , ce qui suggère le rapport avec le latin] tombe.) Bien que ce passage, tiré de l’ouvrage destiné aux lettrés, surprenne de par son style ambivalent en ce qui concerne son caractère impersonnel (Hase ne se sert ni conséquemment ni exclusivement de formes verbales au passif ni du neutre on mais parle également à la première personne du singulier en disant je ), l’ Instruction , qui s’adresse aux non-latinisants, illustre une fois de plus la forte approche inductive: Hase (1750: 171-172) part de la forme allemande pour décrire Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 171 et dénommer les formes françaises en essayant d’éviter tout terme technique et en s’adressant directement („vous“), comme le maître de langue devant son élève, à son public: Wenn ihr nehmlich der, des, dem, den, von dem, im teutschen saget, und das Wort im französischen sich anfängt mit a , e , i , o , u , y oder h : so setzet nicht le der, du des und so weiter, sondern so, wie ihr hier sehet; l’ der, de l’ des, à l’ dem, l’ den, de l’ von dem. (À savoir: quand vous dites der, des, dem, den, von dem en allemand et le mot français commence par a , e , i , o , u , y ou h : ne mettez pas le der, du des et ainsi de suite, mais ce que vous voyez ici; l’ der, de l’ des, à l’ dem, l’ den, de l’ von dem. [Suivent d’autres exemples pour illustrer les différentes réalisations dans la chaîne parlée.]) Dans le manuel en faveur des non graMMatisés , Hase se limite à énumérer les différentes formes au niveau de la parole (= réalisations). Il se limite à l’ extension du phénomène grammatical sans expliciter la catégorie grammaticale en tant que telle (l’ intension de la catégorie). Pour résumer les différences en quelques mots: dans le contexte des non graMMatisés • Hase se donne une énorme peine de renoncer à tout terme technique, c’està-dire qu’il ne présuppose aucune connaissance grammaticale préliminaire; • il part des formes allemandes pour introduire les formes françaises, c’est-àdire qu’il choisit consciemment la voie de la méthode inductive en fuyant délibérément la voie de l’approche déductive, considérée comme trop abstraite en vue du public avisé; • toute réflexion théorique sur les catégories et leur fonctionnement recule devant la description des formes et de leur emploi dans la chaîne parlée, c’està-dire que l’emploi concret, la parole , l’emporte sur la théorie, la catégorie et, si l’on veut, sur le „système“ en général; • le langage de la présentation essaie d’imiter le style direct du maître de langue en s’adressant directement au public (p. ex. par les formes verbales à la deuxième personne du pluriel); même le symbole des paragraphes § (qui pourrait évoquer l’érudition) est substitué par le mot de „pièce“, terme qui suggère une division et ossature moins érudite, qui évoque une situation hors du monde des Études et semble, pour cela, plus adéquate dans un contexte qui fait penser à le Monde tout court. 172 Gabriele Beck-Busse 3 Conditions de contextualisation: réflexions théoriques Il paraît souhaitable de rappeler les traits associés au concept de personnes nongrammatisées , concept dont la notion de Dames constitue une partie essentielle (cf. Beck-Busse 2011-2012, 2014, sous presse). Cette démarche semble inévitable puisque les traits que l’époque associe aux concepts sont assez souvent sousentendus: le public partage les idées courantes de son époque (à savoir des XVIIe et XVIII e siècles) sans qu’il soit nécessaire de répéter, à chaque occasion qui s’y prête, la charge culturelle partagée des concepts-clés. Comme on parlera, dans ce qui suit, de concepts, les petites capitales tiennent à mettre en évidence qu’il ne faut pas voir, dans les non graMMatisés ou les d aMes , de représentants humains ni de personnes concrètes. Cette particularité entraîne que d aMes et non graMMatisés se construisent (en tant que terme et lorsqu’il semble opportun) sans article déterminatif et au singulier bien qu’un emploi non-métalinguistique requière l’accord au pluriel. 3.1 Conditions de contextualisation: les Dames Comme on parle de grammaires qui, dès leur titre, affichent une profonde affinité avec un public bien déterminé ( non graMMatisés , d aMes ), la contextualisation ne peut se limiter à une analyse des particularités ni locales et historiques ni individuelles du grammairien en question… en négligeant les expectatives et exigences que suggère, aux contemporains du XVIII e siècle, le public explicité. Au contraire: la mise en relief, dans les ouvrages mêmes, du concept de d aMes confère une importance extraordinaire aux expectatives que le terme comporte, de manière que chaque analyse qui se veuille rigoureuse doive partir des suggestions qu’évoque le terme pour décrire et analyser le discours grammatical dans ce contexte bien défini. Il va de soi que discours grammatical sera pris dans un sens large qui inclut mode de présentation, terminologie, aspects pratiques etc. Il vaut, par conséquent, la peine de résumer sommairement les associations qui, pour les contemporains, sont, d’une façon quasi naturelle, évoquées par le terme de d aMes . 4 Parmi les grammairiens les plus prolixes qui nous fournissent des détails sur le constructum d aMes figure Annibale Antonini, qui, deux ans après son Traité de la grammaire italienne, dédié à la Reine publie, en 1728, sa Grammaire italienne 4 En prenant en considération le côté de la „production“, on n’oubliera pas que, soit les auteurs, soit les éditeurs profitent des représentations , des constructa (Berger / Luckmann 1980) pour éveiller l’intérêt des acheteurs (potentiels) quand ils „ornent“ les titres du terme de d aMes . On rappelera Furetière et son fameux „Un beau titre est le vray proxenete d’un livre, et ce qui en fait faire le plus prompt débit“ (cité d’après Hoek 1981: 3). Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 173 à l’usage des Dames . C’est sans doute à cause de la nouveauté du titre (pour une chronologie cf. Beck-Busse 2014: 14-17, 231-239) et, en même temps, pour illustrer les évolutions par rapport au Traité de 1726 qu’Antonini (1728: Préface) abonde en précisions: Je supposois dans mon premier Ouvrage [le Traité de la grammaire italienne, dédié à la Reine ], que tous mes Lecteurs, outre la connoissance du Latin, avoient du moins une legere teinture de la Langue Italienne; un Livre executé sur un tel projet, ne devoit pas être du goût de tout le monde: Aussi la plûpart l’ont-ils negligé comme trop chargé de Regles & de recherches. Je ne les en blâme pas; à quoi bon faire une étude sérieuse, & réguliere d’une langue que l’on n’apprend que pour s’amuser? C’est ainsi que voulant chercher un moyen pour instruire, j’en avois trouvé un pour déplaire. J’ai composé cette nouvelle Grammaire pour ceux qui ne sçavent pas le Latin, & qui n’ont pas la moindre connoissance de la Langue Italienne. Dans cette vûe, j’ai retranché tout ce qui leur pourroit donner quelque embarras. On n’y trouvera que les Regles les plus nécessaires & les plus simples, [é]noncées avec toute la clarté, la précision & la brieveté, dont je suis capable. J’ai toûjours joint des exemples aux Regles, & ces exemples ne sont que des phrases les plus aisées, & les plus ordinaires dans la conversation. Car j’ai travaillé pour ceux qui veulent apprendre sans peine, ou du moins avec une mediocre [dans le sens de juste milieu, fuyant les extrêmes] application. Une simplicité méthodique, & dénuée de toute érudition, leur plaît, les amuse & les instruit: Une Méthode trop sçavante & trop etudiée les étonne, les rebute, & ne les instruit point. […] Quoiqu’il en soit, si des hommes cherchoient aussi une Méthode aisée pour apprendre d’eux-mêmes l’Italien, & sans beaucoup de fatigue, je crois qu’ils pourroient en toute assurance préferer la mienne à celle de Veneroni: car outre que j’ai sçû éviter quantité de fautes, où il est tombé, on trouvera dans ma Grammaire plusieurs Regles fort utiles, dont il ne fait aucune mention. On ne se plaindra plus que je n’ai point donné de Dialogues; en voici plusieurs, & puisqu’on les croit utiles aux commençans, je suivrai volontiers l’opinion du Public, même au préjudice de la mienne.“ Les propos d’Antonini mettent en évidence que l’ouvrage est conçu pour un public qui, comme les d aMes , veut apprendre „sans peine“, c’est-à-dire „avec une médiocre application“, qui veut s’instruire en „s’amusant“, un public qui, bref, cherche une „simplicité méthodique“ „dénuée de toute érudition“. 174 Gabriele Beck-Busse Voilà le mot-clé destiné à guider les réflexions autour de d aMes , puisqu’il en marque l’opposition diamétrale: l’érudition , à savoir sa personnification, l’é rudit . La mise à l’écart de l’érudition focalise un public qui, à part de d aMes , peut être considéré comme le public cible par excellence: les „Lateinunkundigen“ („ceux qui ne savent pas le latin“, lesquels rappelle également Antonini), les „Ungelehrte“ (voir p. ex. Thomas 1765: )(8 r ), c’est-à-dire ceux qui n’ont pas fréquenté l’Université, les iLLitterati , les non - Lettrés , les non graMMatisés . Comme l’enseignement institutionnel de la grammaire se fait, à l’époque, à partir du latin (ce qui implique la maîtrise de la terminologie latinisante, une solide expérience de l’analyse syntaxique etc.), la formule „ceux qui ne savent pas le latin“ et le terme non graMMa tisés peuvent être considérés comme équivalents: ne pas avoir appris le latin laisse supposer des connaissances grammaticales déficitaires - ce qui justifie (ou exige, selon la perspective en question) une introduction aux termes de la grammaire en faveur des „Dames et de ceux qui ne savent pas le latin“ (à titre d’exemple: Veneroni 1681, Pelenis 1688, Bencirechi 1764, Barthelemy 1785, De La Girade An XIII ). Passant en revue la Grammaire (française ou italienne) des Dames publiée dans les pays de langue allemande, on remarque que les titres établissent quasi unanimement un rapport explicite entre d aMes et non graMMatisés , u ngeLehrte , L ateinunkundige . Il n’y a que Steinbrecher (Dresde 1744) qui en fait exception. En ce qui concerne Prunay (Altenbourg 1778), il paraît raisonnable de ne pas le compter parmi les exceptions vu que l’édition d’Altenbourg est la reprise de l’édition parisienne de 1777, donc Prunay figure plutôt dans le contexte français que dans celui allemand (voir aussi plus bas). En ordre chronologique, on trouve • Choffin, qui présente une Grammaire française, réduite en tables, à l’usage des Dames, et des autres personnes qui ne savent pas de latin (1755-1756, d’abord 1747 pour le 2 e volume) • Hase, qui publie son Erleichterten Unterricht zur französischen Sprache für Ungelehrte und Frauenzimmer (1750), c’est-à-dire ‚Cours de langue française simplifié, pour ceux qui n’ont pas étudié et pour les Dames‘ • Köster, qui fait paraître l’ Anleitung zur Französischen Sprache zum Gebrauch des Frauenzimmers, und anderer welche kein Latein verstehen (1761), ou ‚Instruction à la langue française à l’usage de la Dame et des autres personnes qui ne savent pas le latin‘ • Thomas, qui met au jour Die Kunst, die französische Sprache in Deutschland zu lernen; für das Frauenzimmer und auch für die der lateinischen Sprache wenig erfahrnen Mannspersonen (1765), à savoir ‚L’Art d’apprendre la langue française en Allemagne, pour la Dame et également pour les personnes du sexe masculin qui ont peu d’expérience dans la langue latine‘ Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 175 • Giuliani, qui rédige une Italiänisch-Toscanische Sprachlehre für das Frauenzimmer und für diejenigen, die kein Latein verstehen (1768), c’est-à-dire une ‚Grammaire italienne-toscane pour la Dame et pour ceux qui ne savent pas le latin‘ • Heinzmann, qui conçoit la Neu verfasste französische Sprachlehre für Ungelehrte und das weibliche Geschlecht (1797; selon Stengel 1890), ou ‚Nouvelle Grammaire française pour ceux qui n’ont pas étudié et le sexe féminin‘. En ce qui concerne les régions de langue française, ce n’est que Secreti (1787), à Genève, qui explicite la corrélation entre d aMes et c eux qui n ’ ont Pas aPPris Le Latin (cf., une fois de plus, les remarques à propos de Prunay et l’édition de sa grammaire à Altenbourg). En France (ainsi qu’à Genève), on a plutôt coutume de souligner le rapport entre DAMES et l’orthographe (cf. Prunay 1777, Barthelemy 1785 et 1788, Galimard An XII , Warchouf 1806, Boinvilliers 1810 et 1823). Une remarque de Simonnin (1806: XII ) est trop belle pour la passer sous silence: „On lit presque toujours avec plaisir les lettres d’une femme: le beau sexe tient aussi de la Nature le talent du style épistolaire; mais la Nature ne lui apprend pas l’ortographe.“ À l’époque, dans le contexte de la vulgarisation du savoir, la formule à l’usage des Dames (= non graMMatisés , non - Latinisants , non - Lettrés ) suggère qu’un manuel possède les qualités suivantes: • le contenu grammatical est présenté d’une façon agréable, divertissante et variée; • le langage et la structure du manuel sont simples et clairs; 5 • le manuel peut être étudié sans le secours d’un maître (ce qui s’ensuit du point antérieur); • il est élémentaire, c’est-à-dire bref et concis; • le volume (matériel) est maniable; 6 • la pratique, l’exemple l’emportent sur la théorie et les règles. 7 5 Cf. Scoppa (1808: 8; les petites capitales sont miennes), qui caractérise sa grammaire en disant: „Simplicité, clarté et précision, trois objets que je me propose dans ce petit ouvrage qui Par ces raisons peut bien mériter le titre de Grammaire italienne pour les Dames .“ Sanson (2014) reprend l’heureuse formule dans le titre de son article. 6 Une description volumineuse peut être rendue plus maniable en la coupant en plusieurs livraisons ou tomes (cf. aussi Martin 1990) − ce qui joint l’utile (le bon dosage) à l’agréable (le caractère de nouveauté pour chaque nouvelle livraison; voir l’exemple de Tournon 1784-1787). En ce qui concerne la question du format cf. les réflexions de Köster (1761: 148, 1763: 128) et, pour une analyse sérielle, Beck-Busse (2014: 190-199). 7 On se souvient sans doute des fameux propos du marquis de Paulmy (1785: 13), qui, dans la Bibliothèque de littérature à l’usage des Dames , dit: „En général il faut aux Dames plus 176 Gabriele Beck-Busse Pour conclure la question de l’affinité entre DAMES et NON-GRAMMATISÉS , il suffira de citer le Journal de Trévoux (1728: 1565-1566): Elle [la Grammaire d’Antonini] est donc composée pour les personnes qui ne sçavent point le Latin, qui n’ont nulle connoissance de la Langue Italienne, qui veulent apprendre sans peine, & qui n’ont à donner à ceci qu’une médiocre application. L’Auteur exprime tout cela gracieusement & heureusement par ce seul mot, à l’usage des Dames . Outre les aspects qui caractérisent la Grammaire d’Antonini, le passage fait voir deux autres choses encore: • d aMes sert d’„emblème“ (Declercq 1984: 125) pour tous ceux qui sont présupposés de ne pas savoir le latin, les soi-disants non graMMatisés ; • la formule „à l’usage des Dames“ sert d’étiquette, de „label“ (Fernández Fraile 2011-2012: 50) pour afficher certaines qualités qu’on met en rapport avec d aMes et non graMMatisés et qui font de la Grammaire des Dames une sorte de marque déposée. Ayant explicité les présuppositions qu’on attribue stéréotypiquement à d aMes et non graMMatisés , il ne faut pas oublier que qualités (pré)supposées pour un manuel (idéal) et réalisations concrètes dans les ouvrages repérés ne correspondent pas forcément à 100 %. Elles peuvent, en outre, varier selon la région d’origine et le statut de la langue cible: langue maternelle vs. langue étrangère. En ce qui concerne la distinction entre langue maternelle et langue étrangère, nous ne suivons donc pas Suso López (2011-2012: 69, note 5), qui, en se référant aux grammaires des Dames du XVIII e siècle et en renvoyant explicitement à Chervel (2008), postule: Nous n’introduisons pas la distinction entre français langue maternelle et français langue étrangère, car les deux catégories d’‚apprenants‘ qu’elle présuppose n’étai[en]t point totalement acquise encore, ni les ‚grammaires‘ ne peuvent être départagées de façon stricte selon ce critère […]. L’analyse des grammaires confirme des différences significatives, différences qu’il serait beaucoup plus difficile de repérer si l’on ne prenait pas en considération une séparation a priori - aussi bien qu’il serait à peine possible de décrire des „phénomènes d’osmose“ (Chervel 2008: 41) sans une nette distinction des deux secteurs entre lesquels l’osmose puisse se réaliser. L’analyse montre (cf. Beck-Busse 2014: 204-213 pour les grammaires du français) que, dans les pays d’exemples que de préceptes.“ Pour une analyse sérielle du côté pratique cf. Beck-Busse (2014: 200-213). Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 177 de langue allemande, les grammaires à l’usage des d aMes (et des autres personnes qui ne savent pas le latin) présentent, outre la grammaire proprement dite, des modèles pour la communication écrite et orale (lettres choisies, dialogues), un choix de textes de lecture (les „Règles de la bienséance“ incluses chez Choffin 1747), une collection de proverbes, de germanismes, de gallicismes ainsi que des vocabulaires bilingues. Dans le contexte francophone, on trouve plutôt, à part l’orthographe, un traité sur la prosodie, des listes de synonymes, de doutes lexicaux et de provincialismes „corrigés“. Ces quelques exemples illustrent que les pôles d’intérêts divergent selon le statut de la langue cible, à savoir s’il faut éviter certains „vices“ provinciaux, remédier à des „lacunes“ et des imprécisions ou bien s’il faut fournir des bases largement plus rudimentaires, remédier aux germanismes les plus fréquents et inculquer les gallicismes les plus importants etc. Quant au mode de présentation, on remarquera que c’est dans le contexte francophone qu’on est, à beaucoup d’égards, plus soucieux d’un discours nonérudit, où l’anti-érudition se réalise, p. ex., grâce à un cadre romanesque, un langage qui s’inspire à l’oral et qui apostrophe le lecteur en tant qu’interlocuteur, un discours qui présente les contenus grammaticaux sous forme de lettres, en conversant, en forme de vers et vaudevilles, par des chansons ou, encore, moulés sur l’exemple des almanachs et des étrennes… Ce n’est donc pas par hasard que, justement par rapport au tome dédié à la grammaire, la Bibliothèque universelle des Dames (1785: 1; c’est moi qui souligne) entame le problème du comment : „Il faudra bien que la Grammaire trouve sa place dans la Bibliothèque des Dames. Mais sous quelle forme lui sera-t-il permis d’en approcher“? Selon ce qui vient d’être dit, il ne surprendra sans doute pas que les réflexions et les postulats qu’on articule dans les préfaces ne sont pas automatiquement exécutés ni réalisés dans le corps de l’ouvrage; une analyse plus détaillée de la grammaire de la Bibliothèque universelle des Dames révélera que, malgré le souci exprimé sous forme de la question à peine citée, on suit les convenances plutôt traditionnelles en ce qui concerne la présentation du contenu grammatical. Quant à l’enseignement de l’orthographe, le rôle du latin pour écrire correctement est évident: d’où le rapport étroit entre orthographe et non - Latinisants , parmi lesquels figurent, avant tout, les d aMes . La graphie étymologisante ( temps, doigt etc.) présente des difficultés à tous ceux qui ne savent pas le latin et qui, par conséquent, ne peuvent recourir aux étymologies latines ( tempus , digitum ) pour suivre les règles de cette graphie, tout en écrivant, sans aucun problème à l’époque, tens , tems etc. En ce qui concerne l’ Orthographe des Dames (voir aussi Goodman 2002), on pensera à l’ Ortografe anonyme de 1766 et, surtout, à de Wailly (1782: 201-202, 209-211), qui, pour réformer l’orthographe, renvoie explicitement au bon sens et à la raison des d aMes ! 178 Gabriele Beck-Busse 3.2 Conditions de contextualisation: paramètres d’analyse Suite à ces remarques, on esquissera un questionnaire qui pourrait guider une analyse confrontative: • Comment la description du français se distingue-t-elle selon le public cible, à savoir par rapport aux non graMMatisés d’une part et par rapport aux Let trés d’autre part? La contextualisation expliquera les particularités en les rapportant aux constructa d aMes et non graMMatisés d’une part et Lettrés et érudits d’autre part. • Quels sont les sujets grammaticaux qu’on supprime par rapport à l’ouvrage destiné aux graMMatisés ? Quelles sont les parties qu’on y ajoute (comme, p. ex., une introduction aux termes techniques)? La contextualisation réside dans l’explication des différences dans le contexte des idées rattachées à d a - Mes , à non graMMatisés . • Quel est le rôle du latin, des langues savantes en général, de devises et citations en langue latine? La contextualisation vise à „réconcilier“ la présence de la langue latine avec les idées reçues autour de Dames et non graMMatisés , c’est-à-dire ignorants de La Langue Latine . • Quel est le rôle de l’histoire de la langue, des étymologies? Sous quelles formes sont-elles présentées? La contextualisation expliquera le recours aux étymologies et aux langues savantes dans le contexte des ignorants de La Langue Latine . • Quels sont les traits caractéristiques du mode de la présentation, de son langage? Le discours présente-t-il des affinités avec le discours oral (adresses directes au lecteur, questions qui résument les doutes d’un lecteur imaginé et imaginaire etc.), comme on en trouve, p. ex., dans la grammaire de Condillac (1775), conçue pour l’instruction du Prince de Parme? La contextualisation tiendra, en outre, compte de l’affinité entre les d aMes et l’oral et la conversation. • Comment aborde-t-on le problème de la terminologie grammaticale (latinisante, germanisante, expliquée, substituée, alternante etc.)? La contextualisation élaborera les particularités selon l’espace (de langue française ou allemande), en profitant des commentaires des grammairiens et des critiques contemporains ainsi qu’en établissant le rapport avec les constructa d aMes et non graMMatisés . Tandis que l’idée de non graMMatisés ne renvoie pas aux études de genre ( gender ), l’emblème d aMes rend ce rapport évident. La contextualisation se fera, donc, également sous l’angle des stéréotypes liés au genre: nature vs. culture, Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 179 sentiment vs. jugement, sensibilité vs. entendement, physique vs. mental, corps vs. esprit etc. Les différents espaces culturels suggèrent, en outre, une contextualisation selon les stéréotypes liés au caractère national : Florack (2000a, 2000b) reconnaît une interdépendance entre le „caractère“ de genre (femmes), le caractère national (français) et la théorie des humeurs ou bien le tempérament (sanguin). 4 La Grammaire française à l’usage des Dames dans les pays de langue allemande 4.1 La structure des manuels Selon les paramètres esquissés ci-dessus, il semble opportun de donner un bref aperçu des parties dont sont composés les différents manuels pour en savoir plus sur l’importance que les auteurs attribuent, en dehors de la description strictement grammaticale, au côté pratique, c’est-à-dire aux dialogues, lettres, textes de lecture, proverbes etc. Steinbrecher est le premier dans la ligne des auteurs qui, dans les pays de langue allemande, publient des instructions dont le titre annonce explicitement l’usage en faveur des d aMes et des non graMMatisés . Dans son manuel, qui date de 1744, la partie strictement grammaticale domine significativement les textes de lecture, les lettres (8-9 % chaque) et les proverbes (1,6 %). En comparaison avec sa Grammaire française ( Französische Grammatica dit le titre en allemand), qui voit le jour en 1707 et qui n’est pas expressément destinée aux d aMes , on constatera que, dans l’ouvrage adressé aux d aMes , la partie strictement grammaticale se limite à 80 %, tandis que la Grammaire française de 1707 est une grammaire à 100 %. Avec ses deux volumes et les 1170 pages, la grammaire de Choffin (1755-1756) est le manuel le plus volumineux de la série. La répartition entre la partie grammaticale (exercices inclus) et les parties para-grammaticales est quasi égale et les exemples de lecture littéraire (Fénelon, La Fontaine etc.) et encyclopédique ( Règles de la bienséance , Abrégé de géographie …), des extraits de journaux, des règles d’orthographe (16 %), historiettes et anecdotes, lettres, devinettes, proverbes sont une belle occasion pour appliquer (et entraîner) les connaissances langagières. Köster (1761) et Lange (1824) sont deux autres auteurs qui dédient la moitié seulement à la grammaire proprement dite: 48 % pour le premier, 55 % pour le second. Chez Herrmann (1809) et Thomas (1765) le quota monte à 75 % et 87 % respectivement pour atteindre chez Hase (1750) les 100 %. 180 Gabriele Beck-Busse Parmi les sept grammairiens, Hase (1750) est évidemment celui qui s’intéresse le moins à la pratique bien que l’application soit régulièrement mise en relation avec les non - Latinisants en général et les DAMES en particulier. On se souviendra des propos de Paulmy („En général il faut aux Dames plus d’exemples que de préceptes“), propos qui valent pour tous les non-latinisants, le Prince héréditaire inclus, comme fait savoir Filippi (1812: X, XII , [ II ]), qui non seulement fait référence à l’enseignement italien de Metastasio mais qui cite aussi le fameux dictum, connu au moins depuis Quintilian: „Breve iter per exempla,/ Longum per praecepta“. Bien que l’ouvrage de Hase semble, à première vue, heurter les prémisses (et pourrait, à cet égard, décevoir), le résultat de l’analyse souligne l’importance des constructa et de leur reconstruction: C’est seulement en partant de critères basés sur les constructa qu’il sera possible de décrire à quel degré un auteur concorde, dans la réalisation concrète de son ouvrage, aux idées reçues de son époque. À cet égard, le résultat n’est point décevant mais révèle à quel degré postulats et réalisation coïncident ou décalent, „collent“ ou „clochent“. 4.2 La question des termes techniques Le problème des termes „de l’art“, par rapport aux d aMes et aux autres non graMMatisés , se pose aussi bien dans le contexte francophone que dans celui germanophone. On rapporte ici, à simple titre d’exemple, les propos de Barthelemy (1785: 8), qui, dans sa Grammaire des Dames , explique: „il importe fort peu aux Dames de savoir ce que c’est que Nominatif , Génitif , Datif , &c. Ce langage n’est point fait pour elles.“ Condillac (1775: 3), de sa part, fait savoir, dans la Grammaire du Cours d’Étude , qui s’adresse à un public décidément non-érudit, représenté par la figure du Prince de Parme (et donc, à première vue, masculin): Persuadé que les arts seroient plus faciles, s’il étoit possible de les enseigner avec des mots familiers à tout le monde, je pense que les termes techniques ne sont utiles, qu’autant qu’ils sont absolument nécessaires. C’est pourquoi j’ai banni tous ceux dont j’ai pu me passer, préférant une périphrase, lorsqu’une idée ne doit pas revenir souvent. Dans le quatrième livre de son Art d’écrire (Condillac 1776: 326-327), à propos du genre didactique, on peut, en outre, lire: Il est ridicule d’avoir recours à une langue savante pour des idées, qui ont des noms dans une langue vulgaire: c’est opposer un obstacle au progrès des connoissances, & vouloir persuader qu’on sait beaucoup, quand on sait des mots. Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 181 Dans les pays de langue allemande, le problème s’aggrave encore: ici, la terminologie germanisante ( Hauptwort ) concourt avec la terminologie latinisante ( Substantiv ), qui, de par le recours au latin (langue présupposément inconnue), ajoute aux difficultés d’enseigner la grammaire à un public expressément nonlatinisant. Les difficultés augmentent encore si les termes latinisants sont conjugués selon les règles de la flexion latine. Dans sa Leichte Französische Grammaire vor das Frauenzimmer (‚Grammaire française facile à l’usage des Dames‘), Steinbrecher (1744: 18; les italiques dans l’original) introduit le paradigme du nom par la question suivante: „Wie soll ich nun den Articul nach den Casibus , Numero und Genere eines Nominis recht setzen? “ (‚Comment dois-je donc mettre correctement l’ article [avec la terminaison latinisante -ul ] selon les cas , le nombre et le genre [avec les désinences latines de l’ablatif] du nom [avec la désinence latine du génitif -inis ]? ‘) Il est évident qu’un tel discours s’accorde fort peu avec l’idée de d aMes et de non - Latinisants : comment une personne qui ignore le latin pourrait-elle, en se servant de ce manuel, se passer du secours d’un maître de langue, qui lui explique les termes… et surtout les différentes formes ( casus , casibus … numerus , numero … genus , genera … etc. etc.) sous lesquelles ces termes apparaissent? Trois ans après Steinbrecher, David Étienne Choffin publie, pour la première fois, sa Nouvelle Grammaire à l’usage des Dames, et des autres personnes qui ne savent pas de latin . Pour lui, il y a deux raisons pour lesquelles il vaut mieux renoncer à la flexion des termes techniques: pour ne pas créer de la confusion chez ceux qui ne savent pas le latin; pour éviter la raillerie de ceux qu’il appelle „pédants“ et qui, en déclinant les termes, supposent que les non - Latinisants puissent réussir (sans le secours d’un maître) là où eux, les latinisants, ont mis beaucoup de peine et plusieurs années d’étude. Choffin (1755-1756 vol. I: VI - VII ; les gras et les italiques dans l’original) dit: Was die übrigen Lateinischen Kunstwörter, welche die Deutschen noch nicht in ihrer Sprache ausgedrückt haben, anlanget: so habe ich dieselben in allen ihren Casibus unverändert gelassen, damit ich diejenigen, welche kein Latein verstehen, nicht verwirrete. Ich glaube, daß ich hierinnen so viel recht habe, dieselben Worte unflectirt zu lassen, als die Deutsche[n], die solche flectiren; mithin vermeide ich hiedurch den Verdruß, sich dem Spott der Pedanten Preis zu geben, welche verlangen, daß das Frauenzimmer ohne Anweisung eben das bewerkstelligen soll, was sie selbst mit erstaunender Mühe binnen einer Zeit von zwei oder drei Jahren kaum gefaßt haben, nemlich das Lateinische decliniren. 182 Gabriele Beck-Busse (En ce qui concerne le reste des termes de l’art latins que les Allemands n’ont pas encore exprimés dans leur langue: je les ai laissés invariables dans tous les cas [Choffin emploie, pourtant, la forme fléchie casibus ; habitude? ironie? Cf. les propos de Köster plus bas] pour que je ne brouille pas l’esprit à ceux qui ne savent pas de latin. En laissant ces mots infléchis, je crois avoir autant raison que ceux qui les fléchissent; en plus, j’évite ainsi le désagrément de me [Choffin emploie la forme de la troisième personne se ] livrer à la raillerie des pédants, qui exigent qu’une dame réussisse, sans instruction, ce qu’eux-mêmes, avec une peine étonnante, au terme de deux ou trois ans ont à peine compris, à savoir décliner le latin.) Quelques années plus tard, un autre grammairien des dames (terme forgé par Simonnin 1806: 49) explicite, lui aussi, que la confusion est provoquée par la variabilité multiple de la forme sous laquelle apparaît un seul terme latin, formes divergentes qu’il faut identifier avec un seul terme: nomen - nominis … Chez Köster (1761: 10-11) on lit: Die lateinische[n] Benennungen, die man bisher in der französischen Sprachkunst beybehalten hat, machen viele Schwürigkeiten. Sie verwirren den Schüler, wenn sie der Lehrer immer auf eine veränderte Art beybringt. Und diesem hält es wegen der langen Gewohnheit des Lateins schwer, sie ohne alle Veränderung in allen Fällen zu gebrauchen. (Les désignations latines qu’on continue à employer jusqu’à maintenant dans l’art d’enseigner le français, présentent beaucoup de difficultés. Elles confondent l’élève quand le maître les emploie chaque fois sous une forme différente. Et celui-ci, à cause de la longue habitude, a des difficultés de les employer dans tous les cas sans en varier la forme.) Vu l’acharnement avec lequel on discute, à l’égard de d aMes et de non graMMati sés , le problème des „termes ennuyeux de l’Ecole“ - formule du libraire(-éditeur) de l’ Éloquence du temps, enseignée à une Dame de qualité (1699: [-v r ]) - la question de la terminologie grammaticale mérite, sans aucun doute, une attention particulière dans le contexte des personnes non-grammatisées. 5 En guise de conclusion En comparaison avec Steinbrecher (1744), Choffin (1755-1756), Köster (1761), Thomas (1765), Herrmann (1809) et Lange (1824), qui plaident pour l’alternation de la forme germanisante ( Hauptwort ) et celle latinisante ( Substantiv ), Hase évite d’emblée tout terme technique et a recours à une présentation descriptive, voire paraphrastique (selon les idées de Condillac). Il part de la forme allemande Enseigner le français aux non-grammatisés dans les pays de langue allemande 183 pour dénommer les formes „correspondantes“ dans la langue cible, le français, sans se perdre dans la moindre insinuation théorique. En ce qui concerne le côté de l’application (lettres, dialogues, textes de lecture, vocabulaire, exercices etc.), Hase se détache de ses concurrents en offrant une grammaire à 100 % (sans tenir compte, à cet égard, des intérêts que suggèrent les constructa d aMes et non graMMatisés ). On résumera, donc, que, parmi les différents aspects que l’époque relie aux constructa d aMes et non graMMatisés , pour Hase, les termes de l’art l’emportent sur les parties „pratiques“, optique individuelle qui mérite d’être mise en évidence. Le choix individuel souligne l’importance de la re-composition des constructa : sans la nette conscience de l’existence de constructa , il serait à peine possible de contextualiser le choix personnel, c’est-à-dire de déterminer l’individuel à l’intérieur du contexte, de reconnaître des „lacunes“ et d’évaluer les prises de position individuelles. Ceci dit, il vaut la peine de souligner l’importance de la fonction emblématique des constructa : d’une part, l’évocation des „mots de passe“ tant que d aMes , non graMMatisés ou non - Latinisants affiche certaines caractéristiques et qualités; d’autre part, elle sert de justification pour accommoder le discours grammatical à cet éventail de caractéristiques et qualités qu’on lie (à l’époque et dans le contexte de la littérature de vulgarisation) aux concepts de d aMes , non graMMatisés , non - Latinisants . La fonction est donc (au minimum) double: celle d’affichage (c’est-à-dire „d’appât“) par rapport au public (en vue de la vente! ), et celle de justification par rapport au grammairien et son choix individuel à l’intérieur de la gamme des caractéristiques suggérées par les constructa . Pour conclure, il mérite de signaler que les deux constructa d aMes et non - Latinisants sont réunis par le trait [connaissances latines (préalables)]. d aMes évoque, pourtant, une autre idée encore, ce qui fait de d aMes les non - Latinisants + : au manque du latin s’ajoute la sociabilité, ce qui suggère une manière particulière de „travailler“ la matière grammaticale, à savoir selon les règles de le Monde , c’est-à-dire „en dépit des pédants“, comme nous explique le titre de l’ouvrage de Drobecq (1779): La Clé de la langue latine, ou moyen très simple, par lequel les personnes des deux sexes & de tous les âges, (particulièrement les Dames,) peuvent apprendre le latin; l’apprendre bien, l’apprendre en peu de temps, sans peine aucune; en dépit des pédants. 184 Gabriele Beck-Busse Références bibliographiques Antonini, Annibale (1726): Traité de la grammaire italienne, dedié à la Reine . Paris: Philippe-Nicolas Lottin. 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Kreolsprachen L’ Histoire naturelle des Indes 191 L’Histoire naturelle des Indes (« Drake manuscript », ca. 1600) à la croisée des langues de l’Amérique coloniale Silke Jansen L’ Histoire naturelle des Indes , élaborée par un auteur anonyme vers la fin du 16 e siècle, dépeint en 134 folios la flore et la faune du continent américain, ainsi que la vie quotidienne des Indigènes et des esclaves africains sous le régime colonial espagnol. Malgré la richesse d’informations contenues dans les descriptions et le charme qui se dégage de ses 199 illustrations colorées, le manuscrit demeure étrangement ignoré par les chercheurs. La présente contribution vise à atténuer cette négligence injustifiée en proposant une analyse linguistique des mots utilisés pour désigner les réalités du monde américain. L’ Histoire naturelle des Indes se révèlera alors être une image instantanée du brassage linguistique colonial, témoignage de l’interaction entre différentes langues européennes et amérindiennes dans l’espace colonial, et le rôle médiateur de la langue et de la culture hispaniques dans les processus de transculturation. 1 L’Histoire naturelle des Indes-- un mystère dans la documentation coloniale française L’ Histoire naturelle des Indes (désormais HNI ), aussi nommée Peck manuscript ou encore Drake manuscript (d’après le nom du fameux corsaire), fait aujourd’hui partie des collections de The Morgan Library & Museum à New York, qui le reçut en 1983, des legs de Sara S. Peck (Klingenborg 1996). Le manuscrit se divise en trois parties, qui traitent de la flore (ff. 2r-33r), de la faune (34r-69r) et des mœurs des Indigènes de différentes contrées en Amérique (81r-125r). 192 Silke Jansen L’identité de l’auteur 1 (désormais A) du manuscrit et les circonstances de sa rédaction restent largement inconnues. D’après les études précédentes, l’ HNI aurait été élaborée dans les dernières années du 16 e siècle, par un Français appartenant à l’équipage de Francis Drake, corsaire et explorateur anglais. Les éléments qui plaident en faveur de cette hypothèse sont deux références à Drake et à des événements de ses voyages (ff. 44r et 90r ; cf. Lestringant 1994: 94 ; Klingenborg 1996), ainsi que de nombreux toponymes qui se réfèrent à des endroits situés sur les trajectoires de la circumnavigation (1577-1580), et de l’expédition dans les Caraïbes en 1585-1586 (Klingenborg 1996 ; Janik 2012: 18-19). L’auteur anonyme s’est immortalisé dans un autoportrait sur le folio 111r (« Come les Yndiens Ont Ordinairem[ent] Des Illusions Du Maling Esprit »), qui montre un « homme barbu, en pourpoint et chapeau rond » (Lestringant 1994: 95) à côté d’un autochtone, en train d’affronter un démon. Le texte qui accompagne cette illustration contient une profession de foi dont le caractère clairement protestant, voire calviniste, permet de supposer que A était un Huguenot (Lestringant 1994: 95-97 ; Klingenborg 1996 ; Janick 2012: 19). Bien que les descriptions témoignent d’une connaissance approfondie du contexte américain, leur style simple et cru, voire fruste, et les nombreuses erreurs et inexactitudes dans la représentation des plantes et des animaux trahissent le dilettantisme d’A : The illustrator was neither artistically nor scientifically trained, since the drawings although spirited, are amateurish and the flora and fauna exhibit many errors in the morphology of plants and animals that a trained botanist or naturalist would not have made. ( Janick 2012: 14; cf. aussi Lestringant 1994: 94) L’arrivée de l’ Histoire naturelle à la Morgan Library ayant suscité un certain intérêt dans le monde académique, un groupe de recherche interdisciplinaire autour de l’ethnologue américain William S. Sturtevant fut instauré au milieu des années 1980 (Lestringant 1994: 102, note 1 ; Klingenborg 1996 ; Brochard / Chambon 1991: 405, note 2). Les résultats furent intégrés dans l’exposition Francis Drake and the Age of Discovery (présentée à la Morgan Library en 1988), et dans l’introduction à une édition fac-similé parue en 1996 (Klingenberg 1996). 2 Depuis, le silence s’est fait autour du manuscrit, avec la seule exception du travail récent de Janick (2012). 1 D’après Brochard / Chambon (1991: 406), l’ HNI est une œuvre collective, réalisée par au moins cinq auteurs différents (dont deux illustrateurs et trois scribes). Nous nous limitérons ici à parler de l’auteur du manuscrit, sans oublier que plusieurs personnes pourraient se cacher derrière cette expression globalisante. 2 Disponible en ligne sur le site de la Morgan Library (online : http: / / www.themorgan.org/ collection/ Histoire-Naturelle-des-Indes/ introduction; dernière consultation : 25. 03. 2017). L’ Histoire naturelle des Indes 193 Jusqu’à aujourd’hui, l’ HNI a fait l’objet d’une seule étude linguistique, dont le but a été d’identifier la provenance dialectale d’A. Sur la base de critères phonétiques, lexicaux et graphiques, Brochard et Chambon (1991) localisent l’origine du manuscrit en Normandie. Parmi les faits lexicaux, ils signalent, à part les morts occidentaux et atlantiques, « deux rencontres curieuses » (1991: 412) - à savoir, caiamant ‘caïman (ou crocodile)’ (mot d’origine indigène), et terracher ‘creuser un terrier (d’un animal)’, verbe qui ne semble pas attesté ailleurs en français dans cette acception (1991: 431). Or, bien au-delà de ces deux exemples, le document fourmille littéralement d’expressions « curieuses », d’hapax parfois difficiles à interpréter, qui semblent avoir échappé à l’attention des chercheurs pour des raisons obscures. Il s’agit de mots à sources multiples, mais dont la plûpart sont des emprunts directs à l’espagnol, ou des mots indigènes adoptés par l’intermédiaire de l’espagnol. Dans ce qui suit, nous nous proposons de les étudier dans le contexte de la documentation coloniale de langue française et espagnole du tournant du 17 e siècle, dans le but de reconstruire (dans la mesure du possible, certes) la biographie et la conscience linguistiques de l’auteur. Ainsi, l’analyse linguistique peut faire la lumière sur les circonstances de la rédaction de l’ HNI , et révéler des aspects méconnus de l’histoire linguistique dans les Amériques à la fin du 16 e siècle. Étude des cas : le vocabulaire botanique de l’HNI 2.1 La structure des entrées Devant la complexité du sujet, nous limiterons ici notre analyse à la première partie du manuscrit (ff. 2r-33r), relative à la flore. Ses 59 articles présentent aussi bien des espèces natives de l’Amérique que des plantes introduites par les Européens. Chaque article se compose de trois éléments : une illustration, une capture en capitales, et un commentaire en cursive. Plus ou moins détaillé selon le cas, le commentaire contient une description de la plante et des informations sur ses propriétés, son habitat et ses usages, souvent accompagnées d’un jugement de valeur à propos de son goût et son utilité. Il commence en général par une prédication, qui signale l’appartenance de l’espèce en question à une certaine catégorie de plante ou de produit végétal ( fruit, herbe, racine, arbre, grain ou gomme ). Voyons, en guise d’exemple, l’entrée prannonqves (folio 9r), une espèce d’agave ( Agave tequilana, selon Janick 2012: 16) : PRANNONQVES Est ung fruict qui croist dans les bois excellent est de grande substance les yndiens osten les feuilles dallentoure le pelen jusques a ce quils trouven le blanc du fruict puis le metten cuire a la braize et le mangen aiam le goust d’artichauh. 194 Silke Jansen Nous essayerons par la suite de déceler l’origine des noms botaniques contenus dans les captures et les commentaires, afin de mieux situer le manuscrit dans l’histoire linguistique et culturelle de l’Amérique. Il faut signaler dès le début que, parmi les 56 termes botaniques utilisés dans la première partie du manuscrit, six échappent encore à une analyse étymologique (cf. Honnes (fol. 4r), Petonnes (6r), Prannonques (fol. 9r), Bregele (17v), Madae (25r), Lacique (28r)). 2.2 Les mots français et dialectaux La proportion de termes français (y compris les mots dialectaux) est relativement faible. Ils se réfèrent dans leur majorité à des plantes américaines qui présentent quelque analogie avec une plante européenne. Prennelles ‘ Prunus orthosepala ’ 3 (5r) est une variante de fr. prunelles , et l’auteur lui-même signale la ressemblance avec le fruit français (« Ils sons semblables aux prunnes de ce pais de France 4 […] »). Derrière Pinevlles ‘ Melicoccus bijugatus ’ (7r), « fruict ayant goust de cerise », se cache peut-être le mot français pillorelle , ‘esp. de cerise exquise’ de la commune de Puilboreau, près de La Rochelle ( FEW , vol. 9, p. 521). Bien que les représentations de la Figvve savvage ‘ Ficus sp .’ (15v) et la Chatane des Indes ‘ Entada scandens ( SJ )’ (23r) soient peu explicites et le commentaire très concis, nous pouvons supposer qu’ils portent leur nom grâce à leur ressemblance avec la figue et la châtaigne connues en Europe. Mil ‘ Zea mays ’ (14v) était l’un des nombreux termes que le français colonial du 17 e siècle employait pour se référer au maïs (à côté de blé d’Inde, blé de Turquie , et maïs , précisément). 5 Nous interprétons torchales ‘ Cereus sp .’ (16r), capture qui accompagne le dessin d’un cactus, comme une dérivation de torche . Ce mot est documenté comme terme botanique dans le français colonial du 17 e siècle (cf., par exemple, « Gros chardon, nommé Torche ou Cierge », Rochefort 1681: 581 ; cf. aussi Breton 1999 [1665]: 122). Palme ‘Aracaceae spp.’ (33r) ‘palmier, dattier’ est attesté en français depuis le Moyen Âge ( FEW , vol 7, p. 514). Canbre ‘Cannabis ( SJ )’ (18v), plante à vertus médicinales, semble être une variante normande de fr. chanvre (cf. caombre , FEW vol. 2, p. 210). 3 Sauf indication contraire, nous utilisons les noms botaniques présentés par Janick (2012: 16). Les noms proposés par l’auteure du présent article sont indiqués par « SJ ». 4 Nota bene : Cette expression indique que le manuscrit a été rédigé, au moins en partie, en France. 5 Vu l’inclination d’A à utiliser des hispanismes (cf. ci-dessous), il est étonnant qu’il n’ait pas opté pour la variante maïs , d’autant plus que celle-ci est déjà courante dans les textes coloniaux vers 1600 (cf. Friederici 1960: 368-69). L’ Histoire naturelle des Indes 195 Les mots orientaux Deux termes, à savoir Venragiere ‘aubergine, Solanum melongena ’ (fol. 12v) et Covcheqvov ‘plante à graines (cf. fr. mod. couscous )’ (f. 31) sont d’origine orientale, respectivement arabe / persane (par l’intermédiaire du catalan, cf. TLF i, FEW vol. 19, p. 17) et berbère (par intermédiaire de l’arabe, cf. TLF i, FEW vol. 19, p. 100). De manière significative, toutes les occurrences de couscous dans les textes français du 16 e et du 17 e siècle (Gonneville 1505, Bruneau 1599, Mocquet 1617, Coppier 1645 ; cf. Arveiller 1963: 204), se réfèrent à un mets préparé par les Noirs du Cap-Vert. En effet, cet archipel est mentionné sur le folio 93r ( Lisle Appellee Fougue Ou Isle De Feu ), et fut visité par Francis Drake au cours de sa circumnavigation. Toutefois, nous ne sommes pas convaincue qu’A ait été présent à cette occasion : non seulement il confond le produit (la semoule) avec la plante, mais aussi l’illustration est peu explicite. 6 2.4 Les mots indigènes Acagova 7 ‘acajou, Anarcadium esculenta ’ (fol. 14r), et petvn ‘tabac, Nicotiana tabacum ’ (fol. 4v), sont des mots d’origine tupi, qui étaient courants en français depuis le milieu du 16 e siècle (cf. Arveiller 1963: 37-39, 407-409). Mennil (fol. 23r ; cf. aussi manil , fol. 122r) ʻmanioc, Manihot esculenta ʼ est probablement aussi un mot du Brésil, car une forme analogue est documentée dans une lettre de Nicolas Barré (1555), navigateur protestant qui avait participé à l’expédition de Villegagnon (« une racine qu’ils appellent maniel », cité dans Arveiller 1963: 329). En revanche, Casine ‘ Ilex cassina ’ (fol. 28v) provient d’une langue indigène de la Floride (le muscogee ou creek selon Friederici 1960: 113, et le timucua selon Cutler 2000: 10). Le mot est attesté en français depuis 1565 sous forme de cassinet , breuvage enivrant que les Indigènes de la Floride préparaient avec des feuilles d’un arbre local. À en croire le TLF i , la dérivation régressive cassine ne serait pas documentée en français avant 1630 (Aubigné), date qui doit être corrigée d’une trentaine d’années du fait de son apparition dans l’ HNI . 2.5 Les mots d’origine espagnole Bien plus nombreux que les mots français, orientaux et indigènes, les hispanismes sont le véritable signe distinctif de l’ Histoire naturelle des Indes . Parmi eux, nous 6 Selon Janick (2012: 16), elle montrerait la Vigna unguiculata, une espèce de haricot tropical. 7 La lettre <g> doit être interprétée ici comme une fricative, par analogie avec <g i,e >. Cf. aussi frigolles, hagis . 196 Silke Jansen distinguerons deux catégories : 1. les hispanismes que l’ HNI partage avec d’autres textes coloniaux, ainsi qu’avec le français moderne et les créoles de la Caraïbe, et 2. les hispanismes isolés, qui ne sont attestés nulle part ailleurs en français. 2.5.1 Les hispanismes du français colonial Grâce à leur rôle pionnier dans la colonisation de la contrée américaine, les contacts avec les Indigènes et l’exploitation des ressources naturelles du « Nouveau Monde », les hispanophones devinrent un important modèle d’acculturation linguistique pour les autres Européens. Pendant les 16 e et 17 e siècles, le français adopta un grand nombre de mots espagnols, relatifs surtout à la flore, la faune, au mode de vie des Indigènes de l’Amérique (cf. Brault 1961). Les mots espagnols entrèrent par deux voies distinctes, soit à travers les traductions des chroniques et relations espagnoles, devenues très populaires dans pratiquement tous les pays d’Europe dès le milieu du 16 e siècle, soit dans le contact direct entre marins et colons de provenances diverses dans la sphère maritime coloniale. Nous supposons que ces deux voies d’entrées étaient relativement indépendantes l’une de l’autre ; ce qui se reflète, par exemple, dans le degré d’intégration phonétique et accentuelle des copies 8 . Les hispanismes utilisés dans les traductions gardent normalement leur forme grapho-phonétique, et (si jamais ils arrivent à s’imposer dans la langue parlée) deviennent oxytons par le déplacement de l’accent sur la dernière syllabe (cf., par exemple, guayaba ‘goyave’, hicaco ‘icaque’ dans la traduction de l’ Historia general y natural de las Indias (Gonzalo Fernández de Oviedo) par Poleur [1555]). Or, les hispanismes qui apparaissent dans les récits de voyages rédigés directement en français par des auteurs ayant l’expérience personnelle de l’espace américain se caractérisent par un affaiblissement de la voyelle posttonique atone (cf. gouyaux [Crignon 1529], gouiaue [Champlain 1601-1603] ; cf. aussi Corbella / Real 1993: 66). Les hispanismes entrés dans le français par la voie orale ont dû être diffusés, au moins en partie, par intermédiaire d’un « jargon » commercial ou « baragouin » (Breton 1999 [1665]: vii ; Rochefort 1658: 392) que les Européens utilisaient dans leurs interactions avec les Indigènes (cf. Jansen 2012a: 116-117). Ce jargon apporterait une contribution substantielle au « langage des îles », variété du français caractéristique des habitants des Antilles à partir du 17 e siècle (cf. Breton 1999 [1665]) qui deviendrait la base du français et des créoles antillais modernes. Nous proposons ci-dessous la liste des hispanismes de l’ HNI qui sont documentés également dans d’autres sources du français colonial, avec leurs pre- 8 Nous utilisons ici le terme copie (engl. copy ), selon Johanson (2002), pour éviter la métaphore fallacieuse contenue dans le terme traditionnel emprunt . L’ Histoire naturelle des Indes 197 mières attestations (selon le FEW , le TLF i, le DECA , et Arveiller 1963). Dans les cas où un mot est d’abord attesté dans une traduction de l’espagnol, nous donnons deux dates. Pour les termes que l’espagnol a adoptés d’une langue indigène, nous spécifions la première origine ( taïno pour la langue indigène des Grandes Antilles (cf. Jansen 2012a), nahuatl pour la langue des Aztèques du Mexique central, et cumanagoto pour une langue caribe parlée sur la côte de l’actuel Venezuela). Il est important de noter que la plupart de ces mots sont des exotismes en français - c’est-à-dire des mots ayant pour dénotation une réalité propre au contexte américain, qui n’existait pas dans l’univers culturel européen avant l’expansion coloniale. Fol. Capture Épithète Nom botanique Etymon Français moderne 3r Icaqves fruict Chrysobalanus hicaco hicaco (taïno) icaque (1658) 3v Havoquates fruict Persea americana aguacate (nahuatl) avocat (1684) 7v Tomates fruict Solanum lycopersicum tomate (nahuatl) tomate (1598/ 1672) 8r Mamee fruict Mammea americana mamey (taïno) ma(n)men, (1555 / 1640) 8r Siroveles fruict Spondias purpurea ciruela siwèl (cr. haït., 1601-1603) 9 10r Goviaves fruict Psidium guajava guayaba (taïno) goyave (1529) 10v 18r 23v Patates (de la Marguerite) fruict Convólvulus batatas batata (taïno) patate (1525/ 1582) 11r Coqves fruict Cocos nucifera coco coco (1525/ 1529) 11v Plantainnes fruict Musa sapientum plá(n)tano plantain (1601-1603) 12r Papae fruict Carica papaya papaya (d’or. amérind.) papaye (1579/ 1601-1603) 9 C’est nous qui apportons cette attestation, dans Champlain (1870 [1601-1603]). 198 Silke Jansen Fol. Capture Épithète Nom botanique Etymon Français moderne 14r Palmites arbre Aracacea palmito palmiste (1601-1603) 17r Cabovcle arbre Furcraea andina cabuya (d’orig. controversée) 10 cabouille (1555 / 1776) 24v Pite arbre Bromelia ( SJ ) pita pite (1601-1603) 26r Carane gomme Protium Carana 11 ( SJ ) caraña (or. amérind.) caragne (1598/ 1694) 27r Mensenille arbre Hippomane mancinella manzanillo mancenille (1617) 12 27v Canifiste fruict Cassia fistula cañafístula canéfice (1577) 28r Sacafras 13 arbre Sassafras albidum sasafrás sassafras (1590) Au premier abord, il devient manifeste que l’ HNI offre une image du « langage des îles » bien plus précoce que la documentation connue jusqu’ici. Même en supposant, de manière prudente, que le manuscrit ait été rédigé en 1600, une partie importante des plus anciennes datations en français doivent toujours être corrigées, à savoir Havoquates, Icacqve, Plantainnes, Siroveles, Palmites, Pitte, et Mensenille . À cela il faut encore ajouter les hispanismes attestés pour la première fois dans un texte français qui ne soit pas une traduction de l’espagnol ( Tomates , Mamee , Papae, Cabovcle et Carane ). Dans la mesure où le lexique coïncide largement avec le vocabulaire utilisé par Samuel de Champlain dans son Brief discours (1870 [1601-1603]), l’ HNI semble donner une image réaliste des usages linguistiques de son époque. De manière remarquable, les variantes choisies par A sont souvent plus proches aussi bien du modèle espagnol que de la forme française (ou créole) actuelle (cf. Sirovelles (A) vs. serolles ( SC ) , Plantainnes (A) vs. plantes ( SC ) , Papae (A) vs. pappitte ( SC ) ; 10 Cf. Arveiller (1963: 102), DECA (p. 146-47) ; cf. aussi FEW (vol. 20, p. 59). 11 Cf. l’entrée caraña dans Friederici (1960: 137). Le DA donne Bursera acuminata. 12 L’attestation proposée par le TLFi comme la plus ancienne (dans une traduction française de la Celestina de Fernando de Rojas), n’est pas valable, car le passage ne se réfère pas au mancenillier américain, mais à la camomille (également appelée manzanilla en espagnol). 13 Probablement A a voulu écrire saçafras , avec cédille. L’ Histoire naturelle des Indes 199 cf. aussi Mamee (A) qui laisse déjà entrevoir mamen (avec la nasalisation progressive qui caractériserait le créole). Nous ne croyons pas pour autant que ce soient des copies spontanées, car A tient compte de quelques spécificités françaises (cf. l’emploi systématique de patate avec [p-], forme anomale par rapport au modèle espagnol batata , mais devenue courante dans le français des marins vers la fin du 16 e siècle ; cf. Arveiller 1963: 399-400). 14 Tout cela donne lieu à penser que A connaissait le lexique spécifique qu’utilisaient - déjà vers 1600, d’après le témoignage du manuscrit - les Français qui parcouraient l’espace colonial. 2.5.2 Les hispanismes isolés Voici la liste des mots dont l’ HNI contient une seule occurrence en français : Fol. Capture Epithète Nom botanique Etymon Glose 2r Ache des Indes ailles Allium sativum ajo ail 3r Anonne fruict Annona muricata anón, anona (or. taïno) corossol 4r Pinnes 15 fruict Ananas comosus piña ananas 5r Agovqves racine Manihot esculenta yuca (d’or. taïno) manioc 5v Agoviamme fruict Curcubita maxima, Curcubita moschata 16 auyama, ahuyama (or. cumanagoto) calebasse, gourde 8v Govnave fruict Annona muricata 17 guanabo (or. taïno) corossol 14 Cela n’empêche que la distinction entre copies spontanées et copies integrées était encore floue à l’époque. 15 Ce mot est aussi documenté chez Saintonge (1544), explorateur portugais qui écrit en français, sous forme de pyne (439). Nous sommes enclines à penser que les deux auteurs l’utilisent de manière indépendante. 16 L’illustration semble présenter ces deux espèces sur la même plante. Janick (2012) propose Curcubita pepa , nom qui désigne différents types de courges et courgettes. 17 Nous ne savons pas exactement à quelle espèce d’ Annona se réfèrent les termes Anonne et Gouvnave ici. Janick (2012: 16) les attribue à la même espèce ( Annona muricata ). Les illustrations de A coïncident toutefois avec la description dans Oviedo (1555: 119), selon laquelle l’ anón est vert, et la guanabana jaune. 200 Silke Jansen Fol. Capture Epithète Nom botanique Etymon Glose 10r Mamonne fruict Annona reticulata ou americana ? mamón (or. cumanagoto) 18 cachiman ? 11r Pimente hagis, poivre du Brésil Capsicum annum pimienta piment (fort) 12r Patille melon Citrullis vulgaris patilla pastèque, melon 13r Cibelles des yndes oignons Allium cepa cebolla oignon 15r Balce gomme Myroxylon balsamum ( SJ ) bálsamo baumier 18r Rovmerre herbe Rosmarinus officinalis ( SJ ) romero romarin 19r Frigolles febues Phaseolus vulgaris frijoles haricot 20r, 21r Avilannes blanches / noires gomites noix Jatropha curcas avellanas cr. haït. gwo medsiyen 22r Hagis poiure Capsicum frutescens ají (or. taïno) piment, poivre 19 24r Barbeqve arbre Canella winterana ( SJ ) barbasco , var. verbasco bois cannelle 30r Chuppe arbre Matisia cordata ( SJ ) 20 chupa chupa (Col.) sapote Apparemment, ces mots étaient inhabituels dans la bouche d’un homme de mer français du tournant du 17 e siècle, car ils ne sont attestés ni dans la documen- 18 La première attestation de mamón en espagnol se trouve dans un texte relatif à l’actuel Venezuela ( Relación de Pimentel , 1578). Comme le terme désigne aujourd’hui différentes espèces de fruits selon la région, nous avons des doutes qu’il s’agisse vraiment de l’ Annona americana (nom botanique proposé par Janick 2012: 16). 19 Rochefort (1658) cite Axi comme un mot non français (cf. la section 2.5). 20 Theobroma cacao , selon Janick (2012: 16). Toutefois, ni l’illustration ni la description ne semblent correspondre au cacaotier. Le nom botanique que nous proposons vient de Cortés (1897: 197). L’ Histoire naturelle des Indes 201 tation coloniale, ni dans le français et les créoles antillais d’aujourd’hui. Certes, anón / anona, axi, yuca et guanabo figurent dans les traductions françaises d’Oviedo, d’Acosta et de Gomara, mais ils ne semblent jamais avoir fait partie des pratiques communicatives effectives des francophones. Le « français des îles » assimila ces plantes à des espèces déjà connues, par analogie de fonction ( piment ) et / ou de forme ( calebasse, 21 gourde ), ou bien préféra d’autres copies (cf. corossol , de l’esp. corazón , attesté d’ailleurs pour la première fois chez Champlain (1870 [1601-1603]) ; manioc du tupi manioch, mani(h)ot, manihoca , documenté en français depuis le milieu du 16 e siècle ; cf. TLF i, FEW vol. 20, p. 71 ; Arveiller (1963: 329). Il est pourtant intéressant de noter qu’une importante partie des hispanismes isolés ne sont pas des exotismes, mais se réfèrent à des plantes européennes introduites en Amérique par les Espagnols ( Janick 2012: 15-16). Étant donné que ces plantes étaient parfaitement connues par n’importe quel Français de l’époque, il semble étrange qu’A utilise Ache , Cibelle , Avillanes, Patille et Frigolles et non pas Ail , Oignons, Noix, Melon et Fèves , d’autant plus que les équivalents français sont utilisés comme épithètes dans le texte courant. En effet, les traducteurs et les auteurs du 16 e et 17 e siècle optent systématiquement pour une solution française devant ce genre de choix (cf. par exemple pomme de pin ‘ananas’ et bausme ‘baumier’ chez Poleur, traducteur d’Oviedo, ou bien citrouille et melons chez Champlain 1870 [1601-1603]: 31-32). À notre avis, sa préférence affichée pour les hispanismes indique qu’A leur attribuait une fonction sémiotique propre, liée probablement à la spécificité des copies de connoter le contexte culturel dont ils proviennent. 2.6 Le « langage Indois » dans l’HNI Nous examinerons cette hypothèse en nous basant sur l’exemple du piment fort de l’Amérique. Quatre mots différents sont utilisés dans le manuscrit pour désigner cette plante : hagis, poivre (du Brésil), pimente et piment . Dans deux commentaires métalinguistiques (d’ailleurs les seuls dans tout le document), A oppose directement poivre , mot français, et hagis , expression qu’il attribue à la « langue dinde », aussi appelée « langage Indois » : pimente : Il sapelle en langage Indois hagis et en françois poivre de Bresil. ( HNI : fol. 11r) hagis roge , hagis ianne , hagis vert : Hagis vault autam adire en langue dinde comme poiure ( HNI : fol. 22r) 21 Calebasse est aussi un hispanisme en français, mais les premières documentations ne se réfèrent pas à un contexte américain (cf. TLFi ) . 202 Silke Jansen De toute évidence, le « langage Indois » n’est pas une langue indigène. Hagis (ou bien ají, en espagnol) a certes une origine primaire amérindienne (le taïno), mais le mot était parfaitement intégré dans l’espagnol depuis les débuts de la colonisation des Grandes Antilles. De plus, l’ensemble des hispanismes utilisés dans les captures reflète l’inventaire des exotismes courants en français et en espagnol du 16 e et 17 e siècle, plutôt que de donner une image cohérente d’une langue indigène américaine. 22 Or, A ne présente explicitement pas hagis comme un mot espagnol. Quelle réalité linguistique se cache donc derrière l’expression « langage Indois / langage dinde » ? Pour essayer de répondre à cette question, nous considérons d’abord l’emploi de pimente, poivre et piment dans la documentation coloniale. Dans les textes espagnols du 16 e siècle, ají coexiste encore avec pimienta , aujourd’hui tombé largement en désuétude dans l’acception ‘poivre fort des Amériques’ : raices […] conficionadas ó guisadas con aquella pimienta que, en lengua desta Isla [Española], se llamaba axí, […] y en la mexicana chile. (Las Casas, Historia de las Indias, 1527-1561) La capture pimente (fol. 11r) est apparemment dérivée de esp. pimienta, selon la procédure phonétique que nous avons décrite plus haut. Le français colonial utilisait indifféremment poivre ( des Indes, de l’Amérique, du Brésil, du Pérou, etc . ) ou piment pour se référer à la plante appelée ají en espagnol (cf. par exemple les nombreuses mentions de ces mots chez Breton 1999 [1665]). En écrivant poivre et piment 23 dans le texte courant, A ne fait donc qu’anticiper, une fois de plus, les usages linguistiques que Breton appellerait « langage des îles ». Afin de mieux cerner ce que A entendait par « langage Indois »/ « langue dinde », le passage suivant de l’ Histoire naturelle et morale des îles Antilles (Rochefort 1658) est très révélateur, malgré les 60 années environ qui séparent ce texte de l’ HNI : La Plante, que nos François appellent Pyman ou Poyure de l’Amerique, est la même que les naturels du païs nomment Axi ou Carive. (Rochefort 1658: 95) Étant donné que esp. caribe pouvait (et peut toujours, en République Dominicaine et au Venezuela, cf. DA ) être utilisé dans le sens de ‘fort (aliment), piquant’, il est fort probable que « les naturels du païs » soient des hispanophones, et non 22 De toute façon, la plupart des mots indigènes viennent du taïno, et A ne peut pas avoir rencontré des locuteurs de cette langue, car elle avait déjà disparu (cf. Jansen 2012a). 23 Piment n’apparaît pas dans les captures, mais uniquement dans le texte couran : « Canifiste, fruict bien bon pour Les Malades estant confit Lors quil est petit et en usent les Indiens avect du piment pour Remedier a Leurs maladies » ( HNI : folio 27). L’ Histoire naturelle des Indes 203 pas (comme on pourrait le penser) les Indigènes. Plus précisément, il s’agissait probablement des gens qu’on appelait criollos en espagnol, c’est-à-dire l’ensemble des personnes nées dans la colonie, quelle que soit leur origine ethnique (indigène, européenne ou africaine ; cf. Klimenkowa 2017: 173-174). Les criollos se distinguaient des nouveaux arrivés ( gachupines ) par leur connaissance du terrain et des mœurs de la colonie. Cent ans après l’arrivée des Espagnols, la langue hispanique avait déjà développé une physionomie propre en Amérique, et une conscience métalinguistique de la spécificité du lexique américain commençait à se dessiner. La maîtrise du « lenguaje criollo » pouvait alors signaler la familiarité du locuteur avec le contexte américain. Ce n’est probablement pas par hasard que les premières compilations d’américanismes virent le jour précisément au début du 17 e siècle, peu après la date probable de rédaction de l’ HNI . L’un de ces textes, la Tabla para la inteligencia de algunos vocablos desta Historia contenue dans les Noticias historiales de Fray Pedro Simón (1627), est particulièrement intéressant dans ce contexte, car il présente d’étonnants coïncidences avec l’ HNI : la majorité des exotismes botaniques utilisés par A (cf. Aguacates, Agi, Anones, Auyama, Cabuya, Cacique, Coco, Guayaba, Guanabanas, Hicacos, Mamei, Papaya, Piña, Pita, Platano, Tomate ), et tous les hispanismes américains utilisés en plus dans le texte courant ( Bohio, Canoas, Cazabe, Cimarrón, Cacique ) sont aussi repérés par Simón comme des mots dont l’usage était caractéristique des colonies. De manière significative, les Noticias historiales ont été rédigées à la Nouvelle-Grenade (actuelle Colombie), la région où A séjourna probablement (cf. ci-dessous). Il semble donc plausible que la fonction des éléments hispaniques dans le manuscrit soit avant tout de donner une image du « langage Indois », marque distinctive des personnes versées dans l’environnement naturel américain et le mode de vie de la colonie. La propension d’A à utiliser des hispanismes, courants en français ou pas, illustre que la langue espagnole symbolisait pour lui l’univers culturel et écologique de l’Amérique. 2.7 La localisation variationnelle des hispanismes En plus de donner des pistes pour explorer la conscience métalinguistique d’A, l’analyse des hispanismes permet de formuler quelques hypothèses concernant son rapport avec la langue espagnole et, donc, le contexte dans lequel il l’avait apprise. La réduction systématique de la syllabe posttonique à <-e> (donc, [ə~ø]) témoigne du caractère fondamentalement oral du contact linguistique. En même temps, les choix lexicaux reflètent un langage peu lettré, à saveur locale et rurale. L’adjoint gomite (20r, 21r) dans avilannes blanches / noires gomites se rattache au verbe gomitar , variante rural et vulgaire de vomitar ‘vomir’, qui est toujours 204 Silke Jansen en usage dans plusieurs pays de l’Amérique centrale et méridionale ( DA ). 24 Si nous avons raison de présumer que Barbeqve correspond à esp. barbasco (à partir de la forme originale verbasco , avec métathèse des voyelles → * barbesco ), la forme française trahit l’affaiblissement de la / -s/ en position implosive, caractéristique de l’espagnol péninsulaire méridional qui prospéra après en Amérique hispanophone. Chupa / chupo, mot espagnol qui devient Chuppe (30r) dans l’ HNI , est un mot inattesté dans la documentation coloniale espagnole, de probable origine amérindienne, dont l’usage se limite aujourd’hui à la Colombie (cf. Cortés 1897: 197). La présence d’une occlusive palatale dans Agoviamme suggère que le modèle espagnol était ahuyama (plutôt que auyama ), variante que le DA attribue à l’espagnol de Panama, de la Colombie et du Venezuela. Bien que la distribution géographique des variantes à la fin du 16 e siècle n’était pas forcément la même que dans l’actualité, l’ensemble de formes choisies 25 permet d’aboutir à la conclusion que la variété espagnole parlée par A peut être localisée entre l’Amérique centrale et le nord-est de l’Amérique du Sud. En outre, la grande majorité des toponymes américains qui figurent dans le manuscrit se distribuant le long de la côté atlantique de l’Amérique et sur les îles qui la bordent, avec une plus grande concentration en Colombie et au Panama actuels (cf. Janick 2012: 19), 26 il semble raisonnable de supposer que A séjourna dans cette région. C’est là probablement qu’il se familiarisa avec la langue espagnole et le contexte colonial hispanique, avant de se joindre peutêtre à un groupe de Huguenots qui s’embarquèrent avec Francis Drake à Cartagena de Indias en 1586 ( Janik 2012: 19). En tant que protestant en territoire de catholiques, il se tint probablement à la périphérie de la société coloniale, et fréquenta plutôt les marginalisés - d’où son intérêt et son intime connaissance des mœurs des Indigènes, et son espagnol peu formel. Le cachet régional du manuscrit plaide contre l’hypothèse selon laquelle A aurait participé à la circumnavigation, d’autant plus que la représentation des endroits en dehors de la Caraïbe et la côte atlantique de l’Amérique du Nord paraît peu réaliste. 27 Elle est probablement basée sur des informations de seconde main, que Drake et ses compagnons ont dû lui passer. D’origine normande, A était peut-être lui-même 24 Nous devons cette observation à Miguel Gutiérrez Maté, université d’Erlangen-Nürnberg. 25 Cf. auyama (Pa, RD, Co, Ve), bohío (Ho, ES, Ni, Pa, Cu, RD, PR, Ve, Pe), caraño (ES, CR, Pa), patilla (RD, PR, Co, Ve), sasafrás (Cu, Co); distribution géographique selon le DA . 26 Il est important de noter que l’île de La Margarita (fol. 18, 56 et 17), que Janick (2012: 19) localise au Pérou, se trouve dans la mer des Caraïbes, au nord-est de l’actuel Venezuéla. 27 Cela ne vaut pas seulement pour le Cap-Vert, mais aussi, par exemple, pour le Pérou (voir le folio 62r, « M ontons dv P erou », où A explique que les Espagnols se servaient des lamas en tant que bêtes de somme. L’illustration montre clairement des moutons européens ordinaires, qui portent des selles. L’ Histoire naturelle des Indes 205 un homme de la mer, et connaissait donc le langage des marins français, future base du « langage des îles. » Conclusion L’ Histoire naturelle des Indes a largement été ignorée dans la recherche sur l’histoire culturelle et linguistique de l’Amérique - à tort, car le manuscrit se révèle une mine abondante d’informations sur l’Amérique du tournant du 17 e siècle. Tout en étant un témoignage singulier, produit d’une biographie migratoire et d’un bilinguisme individuels, elle ouvre une fenêtre sur la situation linguistique dans la sphère coloniale : vers 1600, les marins et voyageurs français maniaient déjà un vocabulaire spécifique pour se référer aux ressources naturelles du « Nouveau Monde », où se dessinait déjà le lexique du « langage des îles » et, dans un avenir encore plus loin, du français et des créoles antillais modernes. C’était un brassage de français (dialectal), langues amérindiennes et espagnol, dans lequel l’élément hispanique était particulièrement important à cause du rôle pionnier des Espagnols dans l’expansion coloniale. Sur une échelle individuelle, la langue espagnole servait aussi de lingua franca à notre auteur anonyme dans ses échanges avec les Indigènes. Dans sa conscience métalinguistique (et peut-être aussi dans celle de ses contemporains), elle put ainsi devenir la « langue des Indes » par excellence. L ’Histoire naturelle des Indes refuse encore de livrer tous ces secrets - tâche que nous laisserons à de futures recherches. Bibliographie Anonyme (ca. 1600) : Histoire naturelle des Indes . Édition fac-similé de la Morgan Pierpoint Library. New York [online : http: / / www.themorgan.org/ collection/ Histoire-Naturelle-des-Indes/ 1; dernière consultation : 25.03. 2017]. Arveiller, Raymond (1963) : Contribution à l’étude des termes de voyage en français (1505-1722) . 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L’ Histoire naturelle des Indes 207 Dictionnaires FEW = Französisches etymologisches Wörterbuch. Hébergé par ATILF - CNRS & Université de Lorraine. Nancy [online : https: / / apps.atilf.fr/ ; dernière consultation: 25. 03. 2017]. TLF i = Trésor de la langue Française informatisé. Hébergé par ATILF - CNRS & Université de Lorraine. Nancy [online : http: / / www.atilf.fr/ tlfi; dernière consultation: 25. 03. 2017]. DA = Diccionario de americanismos . Hébergé par Asociación de Academias de la Lengua Española ( ASALE ). Madrid [online : http: / / www.asale.org/ recursos/ diccionarios/ damer; dernière consultation: 25. 03. 2017]. DECA = Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique. Deuxième partie : Mots d’origine non-française ou inconnue . Édité par Annegret Bollée (2017). Hambourg : Buske. Okzitanisch An der Schwelle zur Volkssprache 211 An der Schwelle zur Volkssprache Eine kommunikationsgeschichtliche Untersuchung überwiegend lateinischer Notarurkunden aus Südfrankreich Kathrin Kraller Le passage des langues vernaculaires à l’écrit au Moyen Âge a été longtemps considéré comme un processus linéaire. Les langues romanes remplaceraient dans cette conception progressivement le latin - processus qui se manifeste d’un point de vue formel par un latin devenant de plus en plus « roman ». Si cette variété n’a pas été perçue comme la preuve d’une décadence croissante de la latinité, elle fut à tout le moins considérée comme fortement influencée par le vernaculaire. Le présent article cherche à réfuter l’idée de la linéarité de ce processus et analyse dans ce but le passage à l’écrit des langues romanes dans une optique communicative-pragmatique. Cette étude prendra en considération de façon exemplaire le lexique de trois chartes notariées latines provenant de Moissac (domaine de la langue d‘oc) qui datent des années 1175 / 6, moment précédant immédiatement le passage à l’occitan dans les chartes notariées dans cette localité. 1 Einleitung Ab spätestens 1175 praktiziert in Moissac ein communis notarius 1 mit dem Namen Arnaudus (cf. Brunel 1926: 146). 2 Damit zählt die in der historischen Region Quercy gelegene Abteistadt Moissac zu jenen Orten des mittelalterlichen 1 Ganz grundlegend muss angemerkt werden, dass ein mittelalterlicher Notar - zumal zu diesem frühen Zeitpunkt - vielmehr ein Urkundenschreiber ist denn ein Amtsträger, der kraft dieses Amtes Urkunden beglaubigen kann. Notare sind außerdem Rechtspraktiker, keine theoretisch arbeitenden Juristen. Cf. hierzu Tock 2005: 281-285. Der mittelalterliche Notar agiert in einer überwiegend mündlichen Gesellschaft, deren Rechtspraxis auf (mündlich überlieferten) Rechtsgewohnheiten basiert. 2 Die Angaben in Brunel 1926 beziehen sich im Folgenden immer auf die Nummer der Urkunde. 212 Kathrin Kraller Okzitanien, in denen sich bereits ausgesprochen früh ein Notariat etablieren kann. Die konkreten Gründe dafür liegen bis heute weitgehend im Dunklen. Erstaunlich ist dabei aber, dass der Notar Arnaudus im Laufe seiner Tätigkeit eine volkssprachliche Urkundentradition begründet, ohne dabei an bereits bestehende lokale volkssprachliche Schreibtraditionen anzuknüpfen. Die soziokulturellen Bedingungen, die in Moissac die Etablierung eines Notariats begünstigen, scheinen also auch im Hinblick auf die Herausbildung einer Urkundenschriftlichkeit in der Volkssprache eine Rolle zu spielen. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der vorliegenden Untersuchung, den Übergang vom Latein zur Volkssprache im Bereich der notariellen Urkunden aus Moissac unter kommunikationsgeschichtlichen Gesichtspunkten zu beleuchten und dabei soziolinguistische bzw. soziokulturelle und pragmatische Aspekte zu berücksichtigen. Exemplarisch wird zu diesem Zweck die Lexik der Urkunden analysiert. 2 Latein und Volkssprache im Okzitanien des 12. Jahrhunderts: Eine Diglossiesituation Vorausgeschickt sei eine kurze Analyse der sprachlichen Situation im romanischen Mittelalter, die mit Ferguson als diglossisch charakterisiert werden kann. Unter Diglossie versteht Ferguson „a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of the language (which may include a standard or regional stan-dards), there is a very divergent, highly codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community, which is learned largely by formal education and is used for most written and formal spoken purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation.“ [im Original kursiv] (Ferguson 1972: 244-245) Die superposed variety (H-Varietät) stellt im romanischen Mittelalter das Latein dar, während die primary dialects of the language (L-Varietät) den volkssprachlichen (hier: okzitanischen) Varietäten entsprechen. Daraus ergeben sich gemäß der Definition Fergusons für das Lateinische auf der einen Seite, für die okzitanischen Varietäten auf der anderen Seite unterschiedliche Verwendungsdomänen in der kommunikativen Praxis, die sich anhand bestimmter medialer und konzeptioneller Profile kategorisieren lassen (cf. Koch 2008: 301; grundlegend etwa Koch / Oesterreicher 1985; 2011: 3-14). Während die medial wie konzeptionell schriftlichen Diskurstraditionen (cf. Koch 1997; Oesterreicher 1997; Lebsanft / Schrott 2016) dem Latein vorbehalten sind, fungiert die Volkssprache in den Bereichen der medialen und der konzeptionellen Mündlichkeit, wobei An der Schwelle zur Volkssprache 213 Latein und Volkssprache einen gemeinsamen espace communicatif (cf. Koch 2008: 298) bilden, innerhalb dessen sie - gemäß ihrer medialen und konzeptionellen Verortung - komplementäre Funktionen erfüllen. So dient die Volkssprache vorzugsweise für die Alltagskommunikation, während das Lateinische als Sprache des Rechts und der Liturgie eingesetzt wird. 3 Diglossiesituationen sind nicht als konfliktuell zu konzeptualisieren; dies ist ein Grund dafür, dass sie mit Ferguson als relatively stable beschrieben werden können. Die Kommunikation innerhalb der Gemeinschaft ist gesichert und problemlos möglich, 4 da die verschiedenen historischen Einzelsprachen und ihre Varietäten zwar funktional unterschiedlich, aber in kommunikativer Hinsicht sinnvoll und zielführend eingesetzt werden. Dies bedeutet, dass Texte, die einer bestimmten Diskurstradition angehören und einzelsprachlich betrachtet entweder dem Latein oder der Volkssprache zuzurechnen sind, in ihrer sprachlichen Gestaltung grundsätzlich als kommunikativ sinnvoll und effektiv zu beurteilen sind. Der Text, sei er nun lateinisch oder volkssprachlich, war in seiner originären Kommunikationssituation in genau dieser Form funktional. Es kann somit danach gefragt werden, in welchen außersprachlichen (kommunikativen) Kontexten genau diese individuelle einzelsprachliche Gestalt eines Textes zu analysieren ist, unter welchen außersprachlichen Bedingungen genau diese spezifische sprachliche Gestalt kommunikativ effektiv ist. 3 Die Verschriftlichung der Volkssprache im Bereich der Notarurkunden: mediale, konzeptionelle und pragmatische Aspekte Der Terminus Verschriftlichung meint nichts anderes als die Tatsache, dass die Volkssprache in konzeptionelle Domänen „vordringt“, die zuvor ausschließlich das Lateinische besetzt hat. Er ist damit zu unterscheiden von der rein medialen Transposition einer sprachlichen Äußerung (phonisch → graphisch), die keine konzeptionelle Verschiebung in Richtung Distanzsprachlichkeit zur Konsequenz hat. 5 Verschriftlichung kann mit Oesterreicher (1993: 272) folgendermaßen definiert werden: „Prozesse mit ihren Resultaten wären demgegenüber dann als Verschriftlichung zu bezeichnen, wenn sie auf Verschiebungen im konzeptionellen Kontinuum in Richtung auf Schriftlichkeit qua Distanzsprachlichkeit zielen, wenn also das konzeptionelle 3 Ausgenommen davon ist die Predigt, die seit dem Konzil von Tours in der Volkssprache gehalten wird (cf. Selig 2011: 263-268). 4 Dies bedeutet nicht, dass das inhaltliche Verständnis dabei für alle Beteiligten gesichert sein muss; in der rituellen Kommunikation ist dies beispielsweise gar nicht nötig. 5 Diesen Vorgang nennt Oesterreicher (1993) Verschriftung . 214 Kathrin Kraller Relief von Äußerungen, von Sprachmitteln oder Gattungen, aber auch Aspekte der dabei erforderlichen Aktivität des Sprechens betroffen sind.“ 6 Daraus ergibt sich, dass die Verschriftlichung in Bezug auf eine bestimmte Einzelsprache als ein Prozess zu konzeptualisieren ist, der - unter günstigen außersprachlichen Bedingungen - sukzessive so weit fortschreiten kann, dass diese historische Einzelsprache in allen distanzsprachlichen Domänen eingesetzt wird. Dieser Zustand ist bei den allermeisten europäischen Nationalsprachen heute eingetreten, beruht aber auf einem Prozess, der im Mittelalter seinen Beginn hat. Daraus ergibt sich die Frage, welche Beweggründe für einen Sprecher / Schreiber vorliegen, dass er anstatt auf die für eine bestimmte kommunikative Domäne (bzw. Diskurstradition) übliche Einzelsprache plötzlich auf die Volkssprache zurückgreift. „Man ginge völlig am Bewußtsein der jeweils beteiligten sprechenden / schreibenden Subjekte vergangener Zeiten vorbei, wenn man ihnen unterstellte, sie hätten zu irgendeinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, eine Einzelsprache X als g a n z e in die Schriftlichkeit zu überführen. Die Realität sieht demgegenüber so aus, daß die Träger einer bestimmten (schriftlich praktizierten) Diskurstradition ganz spezifische kommunikative Ziele verfolgten und nach diesen Zielen ihre einzelsprachlichen Mittel wählten. Wenn dies effektiver erschien, griffen sie dabei unter Umständen auch auf eine Einzelsprache / Varietät zurück, die bisher noch nicht in die betreffende Diskurstradition (und vielleicht auch überhaupt noch nicht in die Schriftlichkeit) Eingang gefunden hatte.“ (Koch 1997: 58) Um das Jahr 1179 tritt in Moissac die Situation ein, dass der Notar Arnaudus für seine Urkunden die okzitanische Volkssprache unter pragmatischen Gesichtspunkten als kommunikativ effektiver erachtet als das Lateinische; er geht im Bereich der Urkunden also zur Volkssprache über und führt diese damit in eine Diskurstradition ein, die noch kurze Zeit zuvor ausschließlich dem Latein vorbehalten war. In diesem Moment wiegt das Bedürfnis nach der Volkssprache aufgrund ihrer höheren kommunikativen Effektivität erstmals schwerer als die Tradition, die das Lateinische vorsieht. Stellt man sich diesen Prozess (als Arbeitshypothese) linear vor, würde dies bedeuten, dass der Notar in den Jahren unmittelbar vor 1179 für seine Urkunden eine Varietät des Lateinischen wählt, die der Volkssprache am nächsten kommt 6 Die Verschriftlichung bezieht sich damit auf die konzeptionelle Dimension sprachlicher Äußerungen. Zu bedenken gilt es allerdings, dass zwischen Medium und Konzeption Affinitäten herrschen; insofern ist auch der mediale Aspekt bei der Verschriftlichung nicht ganz zu vernachlässigen (cf. beispielsweise Koch / Oesterreicher 1985: 23). An der Schwelle zur Volkssprache 215 und damit maximal effektiv ist. Insbesondere ist dies dann relevant, wenn man bedenkt, dass die Urkunden vor den Zeugen laut verlesen wurden, und dieser Vorgang wesentlich zur Konstitution ihrer Autorität als rechtsrelevante Schriftstücke beitrug. Dabei konnten lateinische Urkunden - sofern dies zur Steigerung der kommunikativen Effektivität beitrug - auch volkssprachlich verlesen werden, indem sie durch Praktiken der ad hoc -Übersetzung beim Verlesevorgang (cf. bereits Wunderli 1965) in die Volkssprache übertragen wurden. 7 Das Ziel der folgenden Analyse ist es nun, das Latein der vorläufig „letzten“ 8 lateinischen Urkunden der Notare aus Moissac zu beschreiben und die Frage zu beantworten, wie die kommunikative Effektivität hergestellt wird, wenn noch nicht vollends auf die Volkssprache zurückgegriffen wird. Geschieht dies durch die Wahl einer lateinischen Varietät, die der Volkssprache maximal angenähert ist? Oder aber können andere Mechanismen ausfindig gemacht werden? 4 Fallbeispiel: drei lateinische Urkunden an der Schwelle zur Verschriftlichung der Volkssprache 4.1 Vorbemerkung: Das Desiderat der Überwindung einzelsprachlicher Grenzen Bis heute fallen lateinische Texte in den Zustandsbereich der Latinisten, volkssprachliche Texte hingegen in den der Romanisten. Dieser Zustand ist in Bezug auf das romanische Mittelalter äußerst unbefriedigend, da es diese (künstlichen) Grenzen in der natürlichen Kommunikation im Mittelalter - eben in einer diglossischen Situation - so nicht gab. Latein und Volkssprache interagierten in der konkreten Kommunikationssituation. Vernachlässigt man diese Komponente, so führt dies zu einem starren Bild mit im Prinzip verfestigten und undurchlässigen Grenzen bei der Betrachtung der historischen Einzelsprachen. Kommt es zu Interferenzen - in welchem Bereich auch immer - so wird dies als bemerkenswert erachtet, da offenbar von „unvermischten“ Sprachen ausgegangen wird. In Wirklichkeit hat man es aber mit einem äußerst dynamischen Verhältnis beider Sprachen zu tun. David Vitali (2007: 323) reißt dieses Problem 7 Dieses Szenario muss bei Weitem nicht auf alle lateinischen Urkunden der Zeit zutreffen. Für die folgende Analyse wurden aber nur Urkunden ausgewählt, für die angenommen werden kann, dass die formulierte Arbeitshypothese zutreffend ist. 8 Dies bezieht sich lediglich auf jenen Traditionsstrang, der ab 1179 volkssprachlich wird; daneben existieren auch weiterhin lateinische Traditionsstränge. 216 Kathrin Kraller in der Schlussbetrachtung seiner Arbeit zu volkssprachlichen (lexikalischen) Elementen in lateinischen Chartularen 9 aus der Westschweiz an: „Die pragmatisch-psychologische Erklärung des Phänomens [der Entlehnungsvorgänge], das ,warumʻ, ist eine wesentlich schwierigere, im Einzelnen fast unlösbare Aufgabe. […] Zweifellos ist die Sprachmischung, die bei diesen Dokumenten vorliegt, mehr als ein blosses Übergangsstadium. Sie scheint eine fachtechnische Komponente zu haben, widerspiegelt jedenfalls die damals bestehende Lateinkompetenz - Bezugspunkt des üblichen Erklärungsmusters - nur teilweise und allenfalls indirekt. Dass die vorgefundenen Interferenzerscheinungen mit der Ablösung des Lateins als Urkundensprache durch die Volkssprachen zu verbinden sind, wage ich daher zu bezweifeln. Nicht Symptome eines graduellen Übergangs, sondern Eigenschaften einer ganz bestimmten Fachsprache kommen hier zum Ausdruck. Deren Entstehung und Entwicklung nachzuzeichnen, ist allerdings eine Aufgabe, die noch zu leisten ist.“ Obwohl Vitali in seiner Schlussbetrachtung die wesentlichen Punkte nennt, die bei der Beschreibung von Sprachmaterial dieser Art miteinbezogen werden müssen, und sich dezidiert gegen die traditionellen Erklärungsmodelle und Begrifflichkeiten wendet, 10 so geht er doch nicht weit genug. 11 Die Analyse der Lexik dreier überwiegend lateinischer Originalurkunden soll nun einerseits zeigen, dass Vitali richtig liegt, wenn er zu dem Schluss kommt, dass es sich bei Texten dieser Art um Manifestationen einer bestimmten, noch zu spezifizierenden Art von Fachsprache handelt. Andererseits soll versucht werden, diese „Fachsprache“ näher zu charakterisieren und sie gleichzeitig in einen funktional-pragmatischen Rahmen einzuordnen. Dabei wird sich zeigen, dass die Kategorien Latein und Volkssprache lediglich als formales Distinktionsmerkmal einzelner sprachlicher Formen (seien es Morpheme, Lexeme, Sätze 9 Eventuell ist an dieser Stelle der Grund für das uneindeutige Ergebnis der Arbeit Vitalis zu sehen. Chartulare konstituieren sich aus Abschriften von Urkunden. Die in einem Chartular enthaltenen Urkunden stellen somit keine Originale in einem diplomatischen Sinn dar, wohl aber Originale in dem Sinn, dass sie in einer bestimmten Weise für eine neue Funktion - eben als Teil eines Chartulars, der für einen bestimmten Zweck erstellt wurde - angefertigt wurden. Dass sich dies auch auf die sprachliche Gestaltung der einzelnen Urkunden auswirkt, beweist Chastang 2013: 149. Dies kann soweit führen, dass ursprünglich volkssprachliche Urkunden in einer lateinischen Version in das Chartular eingetragen werden. 10 Insbesondere nennt Vitali (2007: 323) hier die Termini Fremdwort und Lehnwort , die er „für die Analyse von Situationen von historischem Sprachkontakt als ungeeignet“ erachtet. 11 Dies wird auch an der von ihm verwendeten Terminologie recht deutlich. Bereits im Untertitel seiner Arbeit spricht er von volkssprachlichem Einfluss, an anderer Stelle (Vitali 2007: 321) vom „Eindringen der Volkssprachen in lateinische Gebrauchstexte“. An der Schwelle zur Volkssprache 217 oder Texte) 12 dienen können; sie referieren allerdings nicht auf sprachliche Realitäten, die im Mittelalter im Bereich der Rechtspraxis mehr oder weniger getrennt voneinander existierten. 4.2 Bisheriger Stand: passage progressif und latin farci Der Übergang vom Latein zur Volkssprache im Bereich der Urkunden im okzitanischen Sprachgebiet wird unter formalen Gesichtspunkten als ein passage progressif (cf. Brunner 2009: 42-45.; siehe hierzu auch Selig / Frank / Hartmann 1993) beschrieben. Es gibt dort - im Vergleich zum z. B. (nord-)französischen Sprachgebiet - keine klare Grenze zwischen Latein und Volkssprache und keinen radikalen Bruch in der Geschichte des Sprachenwechsels; 13 vielmehr kann der Prozess mit Monfrin wie folgt beschrieben werden: „la langue vulgaire, depuis le Xe siècle, s'introduit comme subrepticement dans les textes d'une latinité plus qu'incertaine“ (Monfrin 1968: 620). Das Latein dieser Urkunden wird als latin farci (cf. Belmon / Vielliard 1997) bezeichnet. Dem muss allerdings hinzugefügt werden, dass nicht alle lateinischen Urkunden des 10. bis 12. Jahrhunderts in einem latin farci verfasst sind, sondern nur jene, die in bestimmten Gebrauchskontexten stehen und innerhalb dieser bestimmte kommunikative Bedürfnisse befriedigen sollen. Daneben existiert eine große Masse lateinischer Urkunden, die distanzsprachlichere Varietäten aufweisen. 14 Dieser Befund macht bereits deutlich, dass die Existenz von Texten in sog. latin farci wohl nicht der Unkenntnis der lateinischen Grammatik und des lateinischen Wortschatzes seitens der Schreiber geschuldet sein kann, sondern dass diese Varietät vielmehr bewusst eingesetzt wurde, weil sie kommunikativ effektiv war. 4.3 Präsentation der Urkunden Die Materialbasis der vorliegenden Studie konstituiert sich aus drei notariellen Urkunden. Es versteht sich daher von selbst, dass die Ergebnisse der Studie keinesfalls zu generellen Aussagen führen können, sondern lediglich exemplarisch einen Einzelfall des Übergangs vom Latein zur Volkssprache in einer bestimm- 12 Unter Text wird hier mit Koch / Oesterreicher (2011: 81) die „höchste konstruktionelle Ebene sprachlicher Zeichenfolgen“ verstanden. 13 Dies ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass die Karolingische Reform in Südfrankreich „keine zäsursetzende Reformbewegung“ (Selig 1995: 150) darstellte (cf. auch Martel 1993: 25-26), sodass sich die sprachliche Situation im Süden - im Vergleich zu der im Norden (cf. Wright 1982: 104-144) - weitgehend natürlich entwickeln konnte. 14 Der Notar Arnaudus, der im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts in Moissac praktiziert, verfasst beispielsweise - je nach Urkundentyp - sowohl Urkunden in sog. latin farci als auch Urkunden, die distanzsprachlichere lateinische Varietäten aufweisen. 218 Kathrin Kraller ten Urkundentradition beschreiben, die sich aufgrund der Überlieferungslage in diachroner Perspektive ausgesprochen gut verfolgen lässt. Zwei der Urkunden liegen bei Brunel (1926) in Edition vor. 15 Sie tragen bei ihm die Nummern 146 und 147 und datieren beide von 1175. 16 Ergänzt werden diese Urkunden durch eine weitere Urkunde des Notars Arnaudus aus dem Jahr 1176. Sie befindet sich - wie die beiden anderen Urkunden - in den Archives départementales de Tarn-et-Garonne in Montauban, und zwar in G 620. Aus Gründen der Vergleichbarkeit folgt die Edition weitgehend den Kriterien Brunels. ¶ Sciend um est q uo d anno ab i n carn ati one D omi ni .M. C. LXX . VI ., r egnante Lud ovico , rege [2] Fra n cor um , R., tol osano comite, G., cat ur ce n si ep iscop o, Arnaud us de Montalba emit [3] domu m et t er ra m de la carreira S an c t i Iacobi de uxore Petri de Rabastencs [4] .C. X. sol idos de morl anis , et mandavit guirentia m de hac empcione [5] de o mn ib us amparatorib us p re dicto Arnaudo de Montalba et ordinio suo. [6] Iteru m gazanavit ea m ad feudu m pro se et o mn i ordinio suo de B er nardo [7] de Vilanova, de cui us d omi nio e st cu m . VIIII . d enariis oblias a la Vinc u la et cu m [8] . XVIII . d enariis de reacaptacione. Testes s unt : Ponci us Fortaiz, Bertrand us [9] de Domasc, Steph anu s Geraldi, Steph anu s Cosis, Guill el m us Elias. Arnaud us , co m munis notari us de Moysiaco, scripsit. [Notarsignet] Im Folgenden wird die hier edierte Urkunde als Ad TG , G 620 bezeichnet; die beiden anderen als Brunel, 146 bzw. 147. 4.4 Methode Urkunden zeichnen sich einerseits durch ihre relativ starke thematische Fixierung aus (hier: Rechtsgeschäfte des Besitzwechsels), andererseits durch ihre Formelhaftigkeit. Will man nun diachron den Übergang vom Latein zur Volkssprache im Bereich der Urkunden verfolgen unter Berücksichtigung der originären Kommunikationssituation und setzt man dabei voraus, dass bestimmte lateinische Urkunden an der Schwelle zur Verschriftlichung der Volkssprache bereits volkssprachlich verlesen wurden, so bietet es sich an, in zeitlich und örtlich vergleichbaren Urkunden nach den - gewissermaßen - volkssprachlichen Zielformulierungen zu suchen. Im Rahmen eines breiter angelegten 15 Brunel nimmt diese überwiegend lateinischen Urkunden aufgrund kurzer volkssprachlicher Einschübe bzw. einiger lexikalischer Elemente in seine Sammlung der ältesten volkssprachlichen Urkunden aus dem okzitanischen Sprachgebiet auf. 16 Beide Urkunden wurden im Original eingesehen, wobei festgestellt werden konnte, dass die Editionen Brunels für die Analyse der lexikalischen Elemente ausreichend zuverlässig sind. An der Schwelle zur Volkssprache 219 Dissertationsprojektes 17 zu den Urkunden der communes notarii aus Moissac wurde ein Korpus notarieller Urkunden des 12. und 13. Jahrhunderts erstellt, das eine umfangreiche und dadurch zuverlässige Vergleichsbasis darstellt. Im Folgenden sollen die lexikalischen Elemente der Texte 18 der drei Urkunden unter Berücksichtigung ihres Kontextes zunächst exzerpiert werden. Unberücksichtigt bleiben dabei einige sog. Funktionswörter (insbesondere Präpositionen), die aufgrund ihres geringen semantischen Gehalts nicht in die Analyse miteinbezogen werden, sowie Eigennamen. In einem weiteren Schritt soll in den späteren volkssprachlichen Urkunden nach vergleichbaren Stellen Ausschau gehalten werden und danach gefragt werden, wie in diesen Urkunden die in den lateinischen Urkunden vorgefundenen Konzepte versprachlicht werden. Aus diesem Ansatz ergibt sich eine radikale Umkehrung der Sichtweise auf lateinisches urkundliches Sprachmaterial kurz vor dem Übergang zur Volkssprache. Zu erwarten ist gemäß diesem Ansatz eben gerade keine Lexik, die sich an der antiken bzw. spätantiken lateinischen Norm orientiert. Vielmehr wäre gerade dies das eigentlich Bemerkenswerte, denn man muss voraussetzen, dass die lateinische Urkunde derart gestaltet wurde, dass sie im Verlesevorgang möglichst fehlerfrei und unkompliziert in die Volkssprache übertragen werden konnte. Die Studie wird sich also auf die auf etymologischen Kriterien basierenden Abweichungen im Bereich der Lexik zwischen den lateinischen und den späteren volkssprachlichen Urkunden konzentrieren und versuchen, diese Abweichungen zu systematisieren und zu deuten, während die Übereinstimmungen als Normalfall betrachtet werden. 19 17 Die Arbeit an meinem Dissertationsprojekt zu den volkssprachlichen Urkunden der communes notarii aus Moissac habe ich 2014 an der Universität Regensburg aufgenommen. 18 Im Urkundentext werden die Rechtsgeschäfte versprachlicht. Ausgespart bleiben gemäß diesem Ansatz die Notificatio , die Datierung, die Zeugenliste sowie die Unterfertigung des Notars. 19 Sicherlich gibt es Fälle, in denen der Schreiber aufgrund der breiten Übereinstimmung des Lexikons zwischen Latein und Volkssprache nicht die Möglichkeit hatte, ein etymologisch von der volkssprachlichen Version abweichendes Lexem in der lateinischen Urkunde zu wählen. Diese Fälle müssen in der vorliegenden Studie unberücksichtigt bleiben. Denkbar wäre dann beispielsweise, dass beim Verlesen die latinisierte Variante beibehalten wurde, um einen ähnlichen Effekt wie durch die Wahl eines etymologisch von der volkssprachlichen Version abweichenden Lexems zu erzielen. Dies kann allerdings anhand des ausschließlich in schriftlicher Form überlieferten Materials nicht nachvollzogen werden. 220 Kathrin Kraller 4.5 Lexikalische Analyse Die Texte der drei Urkunden weisen eine ähnliche Anzahl von lexikalischen types auf. In Brunel, 146 konnten 37 types gefunden werden, in Brunel, 147 und in Ad TG , G 620 je 36. Ähnlich präsentiert sich auch die Anzahl der Abweichungen. In Brunel, 146 konnten vier Lexeme (10,81 %) ausfindig gemacht werden, die sich von ihren Pendants in den volkssprachlichen Urkunden etymologisch unterscheiden. In Brunel, 147 sind es drei (8,33 %), in Ad TG , G 620 sechs (16,67 %). 20 Zumindest für Brunel, 146 und 147 hat sich anhand des nur geringen prozentualen Anteils der Abweichungen die These bestätigt, dass die Urkunden - zumindest aus lexikalischer Sicht - größtenteils derart gestaltet sind, dass die lateinische Urkunde möglichst fehlerfrei und unkompliziert beim Vorgang des öffentlichen Verlesens in die Volkssprache übertragen werden konnte (cf. demgegenüber die Daten in Stefenelli 1992: 22-23). Betrachtet man die Ergebnisse aus einer qualitativen Perspektive heraus, so ergeben sich recht deutliche Strukturen in Bezug auf die Abweichungen, die in den folgenden Punkten erläutert werden sollen. Erstaunlicherweise scheint es nämlich so zu sein, dass Abweichungen gerade bei jenen Lexemen vorkommen, mit denen in höchstem Maße rechtsrelevante Inhalte versprachlicht werden. 4.6 Systematisierung der Abweichungen 4.6.1 Bestimmung der Natur des Rechtsaktes An erster Stelle sind hier die Verben bzw. die Substantive zu nennen, die die Natur des Rechtsaktes näher bestimmen. In Brunel, 146 wird das Konzept ( ET- WAS IN PFAND ) NEHMEN mit lat. accipere ( in pignus ) versprachlicht (cf. auch Stefenelli 1992: 125), während die volkssprachlichen Urkunden den Ausdruck prendre ( em pengs ) aufweisen (cf. z.B. Brunel 1926: 173, Z. 2); in der lateinischen Version wäre also - träfe die formulierte These zu - ein Ausdruck wie * prendere ( in pignus ) zu erwarten gewesen. In Brunel, 146 und 147 findet sich lat. concedere (cf. auch Stefenelli 1992: 62) in Kontexten, in denen die volkssprachlichen Urkunden autrejar aufweisen (cf. z.B. Brunel 1926: 244, Z. 44). Weiterhin findet man in Ad TG , G 620 lat. emere (cf. auch Stefenelli 1992: 145) bzw. emptio für die Konzepte KAUFEN bzw. KAUF , in denen die volkssprachlichen Urkunden comprar bzw. compra aufweisen (cf. z.B. Brunel, 1926: 239, Z. 3). All diese Lexeme haben gemeinsam, dass sie in den romanischen Sprachen keine erbwörtlichen 20 Nicht berücksichtigt wurden in den drei Urkunden die Präpositionen pro und cum , deren volkssprachliche Pendants per und a ( m ) b sind. An der Schwelle zur Volkssprache 221 Fortsetzer haben. Accipere ( FEW 24, 75a), concedere ( FEW 2, 998b) und emptio ( FEW 3, 224a) sind erst frühestens ab dem 15. Jahrhundert in Form von fachsprachlichen Lehnwörtern im Okzitanischen wieder belegbar. Bereits jetzt wird deutlich, dass es offenbar nicht an allen Stellen der Urkunde darum gehen kann, den Text im Sinne einer möglichst unkomplizierten und fehlerfreien ad hoc -Übersetzung zu gestalten, was insbesondere deswegen erstaunlich ist, da hier gerade jene Lexeme zu nennen sind, mit denen hochgradig rechtsrelevante Inhalte versprachlicht werden. 4.6.2 Bezeichnung der Güter In Ad TG , G 620 wird das verkaufte Gut mit lat. domus versprachlicht, während in einer volkssprachlichen Urkunde in diesen Kontexten cazal erwartbar wäre. In Brunel, 146 und 147 wird das veräußerte Gut hingegen auch in der lateinischen Urkunde mit einer Form von casalis versprachlicht. Fraglich ist also, ob es sich in Ad GT , G 620 gar nicht um ein cazal (wie in Brunel, 146 und 147) handelt oder aber, ob lat. domus hier bewusst anstatt des der Volkssprache nahen casalis gewählt wurde, aber trotzdem das Konzept CASAL (cf. Cuvillier 1983) ausgedrückt werden soll. Dafür spricht die Tatsache, dass es laut FEW 3, 135b keine erbwörtlichen Fortsetzer von lat. domus mit dieser Bedeutung gibt. Altokz. dom (< lat. domus ) ist nur in der Bedeutung ‚Dom, Kathedrale‘ belegt (cf. auch Stefenelli 1992: 45 und 148). 4.6.3 Benennung der am Rechtsakt beteiligten Personen Auffällig ist des Weiteren die Bezeichnung der EHEFRAU in Brunel, 147 und in Ad TG , G 620 mit lat. uxor . Dieses Konzept wird in den volkssprachlichen Urkunden mit molher versprachlicht; zu erwarten wäre an diesen Stellen in den lateinischen Urkunden also eine Form von lat. mulier gewesen, stattdessen kommt das klassisch lateinische Lexem für EHEFRAU zum Einsatz (cf. auch Stefenelli 1992: 148-149). Zwar listet FEW 14, 91b als erbwörtlichen Fortsetzer von lat. uxor altokz. oisor auf, allerdings wird EHEFRAU in den volkssprachlichen Urkunden der Notare aus Moissac immer mit molher versprachlicht, oisor hingegen ist nicht belegt. 4.6.4 Quantifikation Interessant ist weiterhin, dass für das Konzept ALLE keine Form von lat. totus , dessen Nachfolger in den volkssprachlichen Urkunden als tot ( s ) sehr zahlreich 222 Kathrin Kraller belegt sind, 21 gewählt wird, sondern eine Form von klat. omnes . Dies ist in allen drei analysierten Urkunden der Fall. Im klassischen Latein drückt totus eine Gesamtheit aus, während omnes (im Plural) vielmehr die Bedeutung 'jede(r / s) einzelne' hat (cf. Bertocchi / Maraldi / Orlandini, 2010: 121-126; Hofmann / Szantyr 1997: 203-204). Führt man sich die Kontexte von omnes (im Plural) kurz vor Augen, wird deutlich, warum omnes in diesen Kontexten äußerst effektiv ist. Im ersten Fall bestimmt omnes das Substantiv amparatores . Dem im beurkundeten Rechtsgeschäft Begünstigen wird Schutz vor jedem Einzelnen , der (unrechtmäßig) Anspruch auf die erworbenen Güter erhebt, zugesagt. In Brunel, 147 betrifft das Pfandgeschäft u. a. einige terras in einem Gebiet namens Tapias. Dabei wird offenbar Wert darauf gelegt zu betonen, dass wirklich jedes einzelne Stück Land gemeint ist, und nicht nur eine relativ unbestimmte Gesamtheit. Im Singular hingegen steht omnis mit einer Form von ordinium . Auch hier ist wohl weniger die Gesamtheit der Nachkommenschaft per se gemeint, sondern jedes einzelne Mitglied dieser Gruppe, für das beispielsweise im Erbfall die in der Urkunde vereinbarten Rechte und Pflichten Gültigkeit besitzen (cf. Bertocchi / Maraldi / Orlandini 2010: 123-124, insbesondere Beispiel 190c). Das Lateinische bietet mit omnis / es die Möglichkeit einer Präzisierung, über die die Volkssprache mit tot ( s ) alleine nicht verfügt. 22 4.6.5 Adverbien und Konjunktionen Für tamen ( si ) (Brunel, 146) und iterum (Ad TG , G 620) konnten auf den ersten Blick keine volkssprachlichen Entsprechungen gefunden werden. Vielmehr ist es so, dass in den frühen volkssprachlichen Urkunden auf Konjunktionen (insbesondere auch auf subordinierende) fast gänzlich verzichtet wird zugunsten von e , mit dessen Hilfe Parataxen zu teils vielgliedrigen Reihen verknüpft werden. Die in dieser Form versprachlichten Sachverhalte geben das rechtliche Geschehen als eine lineare Abfolge von Einzeletappen wieder, ohne dass temporale, kausale oder sonstige Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gliedern explizit versprachlicht werden. Erst im frühen 13. Jahrhundert sind durch e si eingeleitete Sätze auffindbar, in denen die mit dem Rechtsakt einhergehenden Bedingungen versprachlicht werden. 23 Ähnliches dürfte auch für 21 Lat. omnis scheint hingegen nur in der festen Wendung omne que an ‚chaque année‘ (FEW 7, 352b; LvP; Lv 5, 484a) fortgeführt zu sein. 22 In einer Urkunde des Notars Martinus de Cabrilhier von 1284 (AdTG, G 642) findet sich der Ausdruck „totas e senglas personas amparans e demandans“. JEDE / R/ S EINZELNE wird hier versprachlicht durch die Kombination aus einer Form von tot ( s ) und einer Form von sengle ( s ). 23 Belegt z. B. in einer Urkunde des Notars Stephanus aus dem Jahr 1203 in AdTG, G 615. An der Schwelle zur Volkssprache 223 satzinitiale Adverbien - wie hier iterum - gelten, die in den volkssprachlichen Urkunden kaum ins Gewicht fallen und wahrscheinlich innerhalb eines durch e angeschlossenen Satzes unterbleiben. An Stelle von iterum gazanavit ist in den frühen volkssprachlichen Urkunden e gazanhec (cf. z.B. Brunel 1926: 299, Z. 4; 307, Z. 3) zu erwarten. 4.7 Interpretation der Ergebnisse Die Analyse der Lexik der drei lateinischen Urkunden hat gezeigt, dass die Umkehrung der Perspektive in dem Sinne, dass das möglichst Volkssprachliche den Normalfall darstellt, während die klassisch lateinischen Lexeme als das Bemerkenswerte herauszustellen sind, durchaus fruchtbar ist. Die herausgearbeiteten Systematiken der Abweichungen in der Lexik zwischen lateinischen und volkssprachlichen Texten lassen die Vermutung zu, dass sie bewusst eingesetzt wurden, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Die Annahme, der Notar musste in Ermangelung gesicherter Lateinkenntnisse volkssprachlich schreiben, kann damit zumindest für den lexikalischen Bereich in Frage gestellt werden. Vielmehr sprechen die Befunde und vor allem deren Systematik dafür, dass der Notar an bestimmten Stellen des lateinischen Urkundentextes (insbesondere an den hochgradig relevanten) bewusst klassisch lateinischen Lexemen den Vorzug gegenüber einer gewissermaßen latinisierten Volkssprache gegeben hat. Man kann in den Urkunden also zwei Schichten festmachen, wovon die eine - nämlich die klassisch lateinische - bisher kaum Beachtung gefunden hat, weil sie als „normgerecht“ nicht kommentierungsbedürftig erschien. Sie ist aber das eigentlich Außergewöhnliche an diesen Urkunden: Inmitten einer überwiegend mündlichen Kultur, in der im Konfliktfall die Zeugen durch ihre Aussagen eine schriftliche Urkunde an Bedeutung überragen, finden sich fachsprachliche, eben klassisch lateinische Lexeme, die an das römische Recht und seine Expertenkultur erinnern und die in volkssprachlichen Texten erst Jahrhunderte später wieder in Form von Entlehnungen entdeckt werden können. Die andere, in ihrer Quantität wesentlich bedeutendere Schicht, ist geprägt durch die Nähe zur Volkssprache, die beim Verlesen den Parteien und den Zeugen den Inhalt durch eine ad hoc -Übersetzung zugänglich macht. Damit ist die Varietät, in denen diese Urkunden verfasst sind, treffender als ein occitan farci zu bezeichnen. 224 Kathrin Kraller 4.8 Exkurs: Zu den volkssprachlichen Passagen in Brunel, 146 Zusätzlich kann noch eine dritte Schicht ausfindig gemacht werden, nämlich eine unmittelbar volkssprachliche. Abgesehen von volkssprachlichen Toponymen und Patronymen finden sich in Brunel, 146 Z. 7 und 9 eindeutig volkssprachliche Passagen, in denen Verpflichtungen zur Einhaltung von Fristen in Bezug auf ein Pfandgeschäft formuliert werden. In Z. 7 geht es um die Frist, innerhalb derer das eingesetzte Geld nach Ankündigung zurückgegeben werden muss: deu li redre ab que lo fasa a sabent per unum mensem . In Z. 9 geht es um die Frist, innerhalb derer das in Pfand gegebene Gut wieder ausgelöst werden muss: E·l pengs deu om solvere de Martror e [ n ] Martror . 24 Offenbar ist die Volkssprache an diesen Stellen schon im Jahr 1175 kommunikativ effektiver als das Latein. Weiterhin auffällig ist die Tatsache, dass diese Passagen im Präsens formuliert sind, während der Rest der Urkunde im Perfekt steht. Diese Abschnitte des Urkundentextes sind also nicht Teil des (im Perfekt) nacherzählten Rechtsaktes, den die Urkunde dokumentiert, sondern sie drücken Verpflichtungen aus, die durch die Wahl des Präsens so lange aktuell bleiben, wie sie nicht erfüllt sind. Die Volkssprache ist hier ein effektives Mittel, um der schriftlich dokumentierten Verpflichtung größeren Nachdruck zu verleihen: Sie kann in einer volkssprachlichen Version beim Verlesevorgang auch von Laien wörtlich verstanden werden; Missverständnisse, die zur Nichteinhaltung der Verpflichtungen führen könnten, werden durch die Wahl der Volkssprache weitgehend ausgeschlossen. Auch an diesen Stellen kann die Wahl der sprachlichen Mittel durch den Notar zur Erreichung bestimmter kommunikativer Ziele als bewusst gelten, zumal es dem Notar gerade bei diesen Passagen wohl kaum Mühe bereitet hätte, sie auf Latein zu formulieren. 5 Fazit und Ausblick Die kommunikationsgeschichtliche Analyse der drei Urkunden unter lexikalischen Gesichtspunkten hat dazu beigetragen, deren fachsprachlichen Charakter näher zu bestimmen. Es konnten in Bezug auf die lateinischen Passagen zwei Schichten ausgemacht werden: Die quantitativ bedeutendere Schicht konstituiert sich aus der Volkssprache nahem lexikalischem Material. Auf diese Weise wird es möglich, der illiteraten Öffentlichkeit beim Verlesevorgang den Inhalt der schriftlichen Urkunde zugänglich zu machen und sie damit in die schriftlichen Teile des Rechtsaktes miteinzubeziehen. Darüber hinaus konnten insbesondere an den hochgradig relevanten Stellen der Urkunde einige Lexeme 24 Die Transkription dieser Stelle wurde anhand der Originalurkunde von mir erstellt; sie weicht in einigen Punkten von der Brunels ab. An der Schwelle zur Volkssprache 225 ausfindig gemacht werden, die keine erbwörtlichen Fortsetzer in der okzitanischen Volkssprache haben. Es handelt es sich hier um den bewussten Einsatz von Lexemen aus dem Vokabular des römischen Rechts, die die latinisierte Volkssprache auf diese Weise anreichern zugunsten einer höheren kommunikativen Effektivität und Präzision in der rechtlichen Kommunikation. Wenn zumindest der Notar Arnaudus diese klat. Lexeme mit Sicherheit kannte, stellt sich die Frage, warum in den frühen volkssprachlichen Urkunden an diesen Stellen kaum mehr direkt dem klassischen Latein entlehnte Lexeme vorkommen, sondern diese erst Jahrhunderte später in volkssprachlichen Urkunden als fachsprachlicher Wortschatz in einem zunehmend modernen Sinn auftreten. Wenn die Volkssprache ab ca. 1179 das Lateinische an kommunikativer Effektivität in allen Teilen des Urkundentextes übertrifft, dann besteht ihre Leistung ja gerade darin, dass die nun volkssprachlichen Urkunden beim Verlesen von den illiteraten Laien wörtlich verstanden werden können. Fachsprachlicher Wortschatz, der dann zwar in volkssprachlichem Kleid auftritt, aber der Öffentlichkeit in seiner Extension nicht zugänglich ist, stünde gerade dem Ziel des uneingeschränkten Verstehens im Wege. Die Möglichkeit des nunmehr wörtlichen Verstehens der Urkunde durch die Zeugen macht diesen Mechanismus der Herstellung von Glaubwürdigkeit der Urkunde unnötig: In einer überwiegend mündlichen Kultur bestätigen die Zeugen den korrekten Ablauf eines Rechtsaktes und sind dank der Verwendung der Volkssprache in den Urkunden nun auch in der Lage, die Korrektheit des Inhaltes der Urkunde zuverlässig zu bestätigen. In diesem Sinne muss die Urkunde bestmöglich von der Allgemeinheit verstanden werden und kann dementsprechend auf Fachwortschatz verzichten. Dies bedeutet allerdings keineswegs einen Rückschritt, sondern vielmehr einen Schritt in Richtung einer an schriftkulturellen Praktiken orientierten Rechtskultur. Die nun wörtlich verstandene Urkunde erfährt durch die vollständige Integration in die bestehenden, überwiegend mündlichen Rechtspraktiken als schriftliche Urkunde eine Wertsteigerung: Die Bestätigung der Korrektheit ihres Inhaltes durch die Zeugen macht sie im Kontext einer überwiegend mündlichen Kultur zum belastbaren schriftlichen Beweisstück. Erst in dem Moment, in dem die Zeugen durch allgemein anerkannte und in gefestigten institutionellen Strukturen organisierte Rechtsexperten, deren Wegbereiter die ersten notarii sind, in ihrer Funktion vollends abgelöst werden, kann sich wieder eine Fachsprache etablieren, die sich durch u. a. lexikalische Komplexität auszeichnet. Punkt 4.6.5 hat bereits ansatzweise gezeigt, dass auch die syntaktische Analyse des urkundlichen Materials in dieser Hinsicht vielversprechend ist. Der kurze Blick auf die Schnittstelle zwischen Lexikon und Syntax scheint die formulierte These zu bestätigen, dass bei den volkssprachlichen Urkunden das 226 Kathrin Kraller Erreichen eines möglichst barrierefreien Verstehens durch die hörende Zeugenschaft als Erklärungsmodell dienen kann, bei den lateinischen hingegen nur bedingt. Im Hinblick auf dieses Ziel versprachlicht der Notar die rechtlichen Inhalte mithilfe zahlreicher parataktischer Reihungen mit e und verzichtet auf komplexere syntaktische Konstruktionen, wie sie noch ansatzweise in den vorläufig letzten lateinischen Urkunden zu finden sind. Insgesamt kann die Gestaltung der analysierten lateinischen Urkunden als fachsprachlich bezeichnet werden, allerdings mit Einschränkungen nur in einem modernen Sinn. Vielmehr funktionierten die Urkunden innerhalb einer komplexen Interaktion zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie zwischen der Öffentlichkeit und dem ersten Notar, der ein Wegbereiter für schriftbasierte Praktiken im Bereich des Rechts ist. Die sprachliche Gestaltung der vorläufig letzten lateinischen Urkunden ist Ausdruck einer Gratwanderung zwischen dem Bedürfnis nach der Volkssprache im Rechtsleben und lateinischer Tradition, die sich niederschlägt in einer bewussten Auswahl des lexikalischen Materials durch den Notar, um der Urkunde mit genau dieser Gestaltung im Rahmen der kulturellen, gesellschaftlichen und sprachlichen Realitäten Glaubwürdigkeit zu verleihen. Literatur Belmon, Jérôme / Vielliard, Françoise (1997): „Latin farci et occitan dans les chartes du XI e siècle“, in: Bibliothèque de l’Ecole des Chartes 155, 149-183. 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An der Schwelle zur Volkssprache 229 Semicolti / Peu-lettrés Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 231 Nähesprachliche Elemente in Texten von semicolti? Untersuchung eines französischen Briefkorpus des 19. Jahrhunderts Stephanie Massicot En prenant pour base un corpus de lettres de requêtes françaises du 19 e siècle, rédigées par des scripteurs inexpérimentés, cet article remet en question - à l’instar du modèle de Koch / Oesterreicher (2011) - la validité de la thèse souvent avancée selon laquelle les textes des soi-disant « peu-lettrés » ou « semicolti » contiennent inévitablement des éléments d’oralité. À cet effet, on analysera - après une esquisse du concept du « langage à proximité » et un bref aperçu historique - le corpus à l’aide de quelques éléments universels de l’oralité conceptionelle. 1 Hinführung Fragt man nach Definitionen bzw. nach typischen Merkmalen des Schriftguts sogenannter semicolti 1 (dt. ~ ‚Schreibnovizen‘), so beziehen viele Forscher in dieser Frage eine eindeutige Position, indem sie immer wieder ausdrücklich die enge Verbindung zwischen „Semicoltitum“ und nähesprachlichem Kolorit unterstreichen. So konstatiert beispielsweise Koch: Unerfahrene Schreiber (‚Schreibnovizen‘) können das Eindringen von nähesprachlichen Elementen bzw. von - gleichermaßen signifikanten Hyperkorrektismen - in ihre Texte nicht verhindern […]. (Koch 2003: 107) Ferner erklärt diesbezüglich Schrott: 1 Nachfolgend soll dieser Terminus auch für die französischsprachigen „ungeübten Schreiber“ benutzt werden, und zwar vor allem deshalb, weil er in der Forschung allgemein etabliert ist und sich nicht auf Einzelbzw. kulturspezifische Phänomene bezieht. Die Frage nach der Adäquatheit des Begriffs sowie eine exhaustive Terminologiegeschichte können nicht Teil dieses Beitrags sein. 232 Stephanie Massicot Dabei schlagen sich Defizite in der Schreibkompetenz zum einen darin nieder, dass ein Schreiber Nähesprache und Distanzsprache nicht sicher genug differenzieren kann und nähesprachliche Elemente ungewollt in den schriftlichen Text übergehen. Ungeübte Schreiber sind gezwungen, auf nähesprachliche Traditionen zu rekurrieren, die in den Text einfließen, ohne als Stilelemente intendiert zu sein […]. (Schrott 2015: 486) Diese Aussagen suggerieren, dass präzise fassbare Elemente der Nähesprache als wesentliche Charakteristika des Schriftguts ungeübter Schreiber gelten können und rücken somit letztlich Semicoltitum in die Sphäre der Nähesprache. Mit dem vorliegenden, notwendigerweise skizzenhaften Beitrag, soll dieses Postulat nun auf den Prüfstand gestellt werden. Als Korpusgrundlage dienen bisher unedierte Bittbriefe französischer bagnards 2 und deren Angehöriger aus dem 19. Jahrhundert. Nach kurzen (Vor-)Überlegungen bezüglich des Konzepts der Nähesprache nach Koch / Oesterreicher (2011) und einer Präsentation des Korpus und seinem Kontext, werden die Bittbriefe anhand bestimmter Parameter der konzeptionellen Mündlichkeit analysiert. Es soll damit ein Einblick gegeben werden, inwieweit jene Suppliken unerfahrener Schreiber tatsächlich der Mündlichkeit zuzuordnen sind. Auf diese Weise soll zugleich die Validität der oben genannten Behauptungen überprüft und so gewissermaßen ein Stück weit ein Beitrag zur Sprachgeschichte des Französischen geleistet werden. Etwaige aus der Analyse ableitbare Schlüsse auf die gesamte Diskurstradition 3 ‚Bittbrief (eines ungeübten Schreibers)‘ müssen dabei freilich immer unter dem Vorbehalt der zugrundeliegenden beschränkten empirischen Basis gewertet werden, können aber dennoch bestimmte Tendenzen aufzeigen. 1.1 (Vor-)Überlegungen: Das Konzept ‚Nähesprache‘ Wenn bisher die Rede von ‚Nähesprache‘ war, dann immer im Sinne des von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entwickelten in den 1990er Jahren viel rezipierten Modells eines Kontinuums zwischen ‚Nähe- und Distanzsprache‘. Die Autoren beziehen sich dabei auf Ludwig Söll, der in seiner längst zu einem Standardwerk 2 Dieser Terminus bezeichnet die Gefangenen in den französischen kolonialen Arbeitsstrafanstalten, den sog. bagnes . Diese wurden unter dem letzten französischen Kaiser, Louis Napoléon III. Bonaparte, geschaffen. Ursprünglich bezeichnete dieser - aus dem Italienischen entlehnte - Begriff (cf. ital. il bagno ‚das Bad‘) die engen Käfige, in die die Verurteilten auf der Überfahrt gepfercht wurden (cf. Dion / Taillemite 2007: 10). 3 ‚Diskurstradition‘ wird hier verstanden im Sinne von Angela Schrott; diese bilden „ ein fuzzy concept , das es ermöglicht, sämtliche kulturelle Techniken des Sprechens und Schreibens von der einfachen Grußformel über den Privatbrief bis zur literarischen Gattung als Elemente eines Wissenstyps zu erkennen“ (Schrott 2015: 484). Cf. dazu auch die grundlegenden Arbeiten von Koch (1997) und Wilhelm (2001). Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 233 der Gesprochenen-Sprache-Forschung avancierten Publikation Gesprochenes und geschriebenes Französisch (1974 / 1985) jede sprachlichen Äußerung hinsichtlich zweier Ebenen untersucht: Auf der einen Seite bezüglich der Realisierungsform, d. h. des Mediums, auf der anderen Seite den sprachlichen Duktus betreffend, also was die Konzeption anbelangt (Söll 1985: 19-20). Koch / Oesterreicher sprechen in Bezug auf die konzeptionelle Mündlichkeit von „Nähe“ und in Bezug auf die konzeptionelle Schriftlichkeit von „Distanz“ (cf. Koch/ Oesterreicher 2011: 10). Nach Meinung der beiden Autoren umfasst das von beiden Polen abgeschlossene konzeptionelle ‚Nähe / Distanz-Kontinuum‘ eine Vielzahl von unterschiedlichen Kommunikationskonstellationen bzw. Bedingungen (z. B. den Grad an Öffentlichkeit der Kommunikation, den Grad an Spontaneität, den Grad der emotionalen Beteiligung etc.) (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 13). Bei der genauen Beschreibung der Nähesprache unterscheiden Koch und Oesterreicher zwei Typen von Sprachphänomenen: zum einen solche, welche der Spontaneität der Kommunikationssituation unterliegen, die nicht dem historischen Wandel verpflichtet sind und als sogenannte Universalia der gesprochenen Sprache gelten, und zum anderen solche, die für die (konzeptionelle) Mündlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt der Sprachgeschichte bedeutsam sind (cf. u.a. Ernst 1985: 13; Koch / Oesterreicher 2011: 4-5). Die vorliegende Untersuchung setzt sich insofern Grenzen, als sie - aufgrund der Entstehungszeit des Briefkorpus (19. Jahrhundert! ) - mit der Auswahl einiger universeller Parameter die historisch-kontingenten Charakteristika ausklammert und zwar deswegen, weil diese ja ipso facto an eine bestimmte Zeit gebunden sind, 4 während hingegen die Universalia nicht nur übereinzelsprachlichen, sondern auch überzeitlichen Charakter besitzen. Die hier zugrundeliegenden Briefe mit heutigen historisch-kontingenten Merkmalen der französischen Nähesprache beschreiben und bewerten zu wollen, wäre anachronistisch. 1.2 Korpusbasis 1.2.1 Generelle Charakteristika: Metadaten, situativer Kontext, Aufbau Die Herausarbeitung des nähesprachlichen Kolorits des Schriftguts französischer Schreibnovizen wird sich, wie erwähnt, auf französische Bittbriefe stützen. 4 So ist beispielsweise das vielbeachtete Phänomens des Ersatzes von ça durch cela heute zweifelsohne als Charakteristikum der Nähesprache anzusehen (cf. u.a. Koch / Oesterreicher 2011: 167; Krassin 1994: 118); in der Sprachgeschichte besaß dieses Phänomen aber keine diamediale, sondern eine diastratische Markiertheit (cf. hierzu Martinon 1950: 114-115). 234 Stephanie Massicot Die entsprechenden dossiers lagerten - bisher weitgehend unbekannt - in den Archives nationales d’outre-mer in Aix-en-Provence. Die empirische Grundlage der vorliegenden Untersuchung bilden dabei insgesamt 100 Briefe; die ersten sind bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, die letzten reichen bis in das Ende jenes Jahrhunderts zurück. Das Briefkorpus stellt nun aus mehreren Gründen einen „Glücksfall“ dar: Zum einen deshalb, weil in Frankreich nur das, was die „große“ Geschichte tangierte, als aufbewahrungswürdig erschien, so dass hier - im Gegensatz zu Spanien oder Italien - keine spezialisierten Archive für Alltagsgeschichte existieren (cf. Lyons 2013: 19-33). Dies macht eine systematische Suche nach Dokumenten solcher „Schreibnovizen“, die per definitionem Texte von „kleinen Leuten“ (Thun 2011: 365) produzieren, praktisch unmöglich und deren katalogisierten Erhalt besonders erstaunlich. 5 Auch weil diese Schreiber sich - als verurteilte Gefängnisinsassen 6 - stets in einer gesellschaftlichen Marginalposition befanden. 7 Mit ihrem Schriftgut können sie jedoch einen wichtigen Beitrag zu einer „Sprachgeschichte von unten“ (Elspaß 2011) leisten. 8 5 Das Phänomen der französischsprachigen semicolti wurde in der bisherigen Forschung nur marginal behandelt, am ehesten noch sind die sogenannten poilus , die Soldaten des 1. Weltkrieges, Gegenstand des Interesses gewesen (cf. z.B. Prein 1921). Erst in jüngster Zeit ist mit dem Projekt von Harald Thun ein umfassendes Korpus von semicolti -Dokumenten angelegt worden, welches allerdings größtenteils noch nicht veröffentlicht wurde (cf. Corpus Historique du Substandard Français (1789-1918), cf. auch Thun in vorliegendem Sammelband). Die Untersuchungsperspektive ist dabei jedoch primär eine andere, da der Schwerpunkt auf der Erfassung der français régionaux liegt. In der Projektbeschreibung wird deutlich, wie mühevoll die Suche nach semicolti -Schrifttum ist, wenn man nicht wie in vorliegendem Fall auf eine systematische Erfassung einer bestimmten Gruppe von semicolti zurückgreifen kann, was den Archivfund in Aix-en-Provence so wertvoll macht. 6 Bzw. deren Bekannte, Freunde und Verwandte. 7 So beschreibt auch Barbançon für den ersten Transport nach Neu-Kaledonien (1864), die Zusammensetzung der Deportierten wie folgt: „Majoritairement provinciaux (60 %), soidisant garantie de moralité, voleurs (112 sur 250), plus que criminels, les transportés […] étaient âgés en moyenne de 35 ans, plutôt célibataires (60 %), illettrés (59 %), souvent ouvriers du bâtiment. Ils étaient fréquemment multirécidivistes, indociles, tatoués pour 25 % d’entre eux. Bref, ‚les marginaux de toujours‘, dépourvus de moyens et de support familial“ (Barbançon 2003: 13). 8 Wenn D’Achille (1994: 49) außerdem betont, dass es sich bei diesem Schriftgut um ein Phänomen „dal basso“ handelt und auch Oesterreicher dies in gleicher Weise hervorhebt, so wird evident, dass auch die Bittbriefe in einem größeren, interdisziplinären Rahmen anzusiedeln sind. Als Texte, die eben nicht vorrangig die „große Geschichte“ im Blick haben, sondern vielmehr den Alltag von Strafgefangenen und ihren Angehörigen (bzw. von Migranten) in den Fokus rücken, repräsentieren sie „Geschichte von unten“ (cf. Oesterreicher 2005: 214) und reihen sich damit ein in die historiographische Diskussion einer „Geschichte des Alltags“, einer History from Below (cf. Thompson 1966). Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 235 Zum anderen handelt es sich auch deswegen um einen Glücksfall, weil diese im Gegensatz zu Texten, die nur noch in edierter Form überliefert sind, als Originale wertvolle paläographische Daten enthalten, die hier in diesem Kontext z. B. für die soziale Verortung der Handschrift (Stichwort: semicolto ! ) sehr wichtig sind. Zudem enthält das Gros der Briefe mit zahlreichen Orts- 9 und Datumsangaben sowie mit den Namen der Empfänger und Sender auch sogenannte Metadaten, die als „Schlüssel zu den Primärdaten“ (Lemnitzer / Zinsmeister 2006: 46) gelten können, da sie zusätzliche Informationen zum Hintergrund der Kommunikationssituation geben (cf. Lemnitzer / Zinsmeister 2006: 8, 44, 46). 10 Die äußere Form der Schriftstücke ist bei einer Analyse und sprachlich-sozialen Verortung von semicolti -Texten von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, lassen sich doch aus Merkmalen wie Sicherheit bzw. Unsicherheit der Handschrift, Spatien zwischen den Wörtern oder scriptio continua sowie dem Vorhandesein oder Fehlen von gliedernden Absätzen auch Rückschlüsse auf den Grad des Semicolitums ziehen. Bei der Konsultierung der unterschiedlichen Repertorien des Nationalarchivs wurden bestimmte Selektionskriterien angewandt. Einerseits wurde eine zeitliche Einschränkung vorgenommen. Aus historischen Gründen standen diejenigen Dokumente im Zentrum, die zwischen 1852 und 1896 entstanden sind, und zwar deshalb, weil im Jahr 1852 das erste bagne geschaffen wurde 11 und die flächendeckende Schulpflicht in Frankreich mit den sogenannten lois Ferry zu Beginn der 1880er Jahre eingeführt wurde. Die Wahrscheinlichkeit, in dieser Zeit Schriftgut von semicolti zu finden, stieg damit natürlich. Andererseits war für die Auswahl auch die hierarchisch klar gegliederte Beziehung zwischen Schreiber und Empfänger von größter Bedeutung. Denn im Gegensatz zu heute, wo die soziale Distanz die entscheidende Rolle spielt, war in der Geschichte das jeweilige Machtverhältnis zwischen Sender und Empfänger wesentlich, es ist also […] wichtig zu sehen, ob sozial Gleichgestellte miteinander kommunizieren oder ob die Gesprächsrichtung ungleich ist und von oben nach unten oder von unten nach oben verläuft. (Held 2006: 2304) 9 Der Großteil der Briefe stammt dabei aus der Hauptstadt. Es lassen sich auch weitere Orte wie Montpellier, Bordeaux, Rennes, Toulon etc. finden, doch nicht alle Briefe können genau lokalisiert werden. Eine zu vermutende diatopische Markiertheit läßt sich dabei jedoch für dieses Korpus nicht feststellen. 10 Eine so geartete Annäherung an die Texte wird von Jacobs / Jucker (1995: 11) als „pragmaphilology” bezeichnet. Laut ihnen beschreibt dieser Forschungszweig „the contextual aspects of historical texts including the addressers and addressees, their social and personal relationship, the physical and social setting of the text production and text reception, and the goal(s) of the text“ ( Jacobs / Jucker 1995: 11). 11 Cf. hierzu Kapitel 1.2.2 (Re-)Kontextualisierung des Briefkorpus des vorliegenden Beitrags. 236 Stephanie Massicot Ein asymmetrisches Beziehungsgeflecht wie in unserem Fall veranlasst nämlich die französischen Bittsteller dazu, sich eines sprachlichen Registers zu bedienen, mit dem sie nur wenig vertraut sind. Daher wurde hier die Sammlung H der fonds ministériels gewählt, in der sich insbesondere die Korrespondenzen zwischen staatlich-ministerialen Amtsträgern und den meist straffälligen Privatpersonen bzw. deren Angehörigen befinden, die ihre jeweilige (eigentlich distanzsprachlich auszulegende) Bitte formulieren. 12 In der Vielzahl der Fälle befinden sich die Schreiber beim Verfassen der Bittbriefe in einer extremen, gar existentiellen Notlage: Sie wollen der Stigmatisierung der Gesellschaft durch die Deportation ins Kolonial-Exil entkommen, sie bitten - immer mit der unterschwelligen Todesfurcht - um Neuigkeiten ihrer Nächsten oder wollen, trotz widrigster und menschenunwürdigster Lebensumstände, ihren Liebsten in die Kolonien folgen. All die genannten Fakten beschreiben den situativen Kontext, der neben der allgemeinen Situation die beteiligten Kommunikationspartner sowie die Entstehungszeit und den Entstehungsort umfasst und insofern zentral für die Analyse ist, als er „die Funktion einer konkreten sprachlichen Handlung“ (Lemnitzer / Zinsmeister 2006: 29) determiniert und damit auch für einer Rekontextualisierung 13 des Schreibprozesses (cf. „recontextualisation“ bei Fleischman 1990: 37; Oesterreicher 2005) unabdingbar ist. Die Analyse des Kontexts der Kommunikationssituation wird aber dadurch erschwert, dass diese von großer Variabilität geprägt ist, was eine genaue Bestimmung problematisch macht. Trotz dieser schweren Fassbarkeit der Situation und des jeweiligen Schreibprozesses lassen sich in den Bittbriefen einige überindividuelle Gemeinsamkeiten festmachen. So sind diese Briefe nicht nur sprechakttheoretisch homogen (Bitte), 14 sondern besitzen (fast immer), der mittelalterlichen ars dictandi bzw. den 12 An dieser Stelle soll das Wort einer Schreiberin selbst erteilt werden, die sich in einem Metakommentar zur Schreibsituation äußert: „pardonner moi Monsieur le ministre/ / si si ne tourne pas par lettre mieux/ / je ne sais pas comme on doit vous écrire“ (Bernard 1 ANOM COL FM H 71). Diese Einschätzung der Situation ist insofern sehr interessant, als sich die Verfasserin darüber bewusst ist, dass sie eben nicht über die der Kommunikationssituation mit dem Minister angemessene Schreibkompetenz verfügt. 13 Im Zuge dieser Rekontextualisierung darf nicht nur die Sprache in den Betrachtungsfokus rücken, sondern auch zusätzliche Informationen, wie die Hintergründe der Entstehung eines Texts, die materielle Textgestalt (Papier, Schreibwerkzeug) und die äußere Form sind von größter Wichtigkeit. Es muss also zu einer „ganzheitlichen“ Textbetrachtung (cf. Raible 1995; Fesenmeier 2005) mit Hilfe von Nachbardisziplinen wie z. B. der Geschichtswissenschaft oder der Soziologie kommen. 14 So z. B. die Bitte um Versetzung in die Kolonien, um Neuigkeiten der Angehörigen, um den Erhalt der Sterbeurkunde, um das mögliche Nachfolgen ins koloniale Exil. Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 237 sogenannten Briefstellern 15 folgend, dieselbe Makrostruktur: a) die Eröffnung der Kommunikation durch eine salutatio (Kontaktaufnahme mit dem Empfänger), b) das Beschreiben des jeweiligen Anliegens / der Bitte, c) die Beendigung durch eine Schlussformel. Trotz jener Vorbilder wandeln die hier untersuchten Bittsteller diesen Aufbau dabei aber auch immer wieder ab, sodass der Aufbau dieser Briefe in vielen Fällen, als „kreisförmig“ zu etikettieren ist. 1.2.2 (Re-)Kontextualisierung des Briefkorpus Zur Rekontextualisierung des Schreibprozesses trägt freilich nicht nur der jeweilige - je nach Brief neu zu bestimmende - situative und diskurstraditionelle Kontext, sondern auch der übergeordnete, soziohistorische Kontext bei. Und so ist G. Held zweifellos zuzustimmen, wenn sie betont, dass nicht nur die Quellen an sich zentral seien, „sondern v. a. das Wissen um die handelnden Subjekte in ihrem historischen Kontext […]“ (Held 2006: 2303). Es ist also wesentlich, auch ein Bild des übergeordneten Bezugsrahmens zu erstellen, in dem diese Briefe entstanden sind. Ganz allgemein lassen sich die Bittbriefe dabei eingliedern in die Kolonial- und Strafverfolgungsgeschichte Frankreichs, da das gesamte hier untersuchte Schriftgut entweder von den bagnards selbst oder von ihren Bekannten, Freunden oder Verwandten stammt. Das System der bagnes coloniaux wurden unter Louis Napoléon III . Bonaparte geschaffen und dann während des Second Empire sowie in der III ème République weiter ausgebaut (cf. Barbançon 2003: 11-12, 63-73). 16 15 Es handelt sich hier um Anleitungen und Modelle zum Abfassen verschiedenster Brieftypen, die stilistische, sprachliche sowie textpragmatische Regeln beinhalten. Im Französischen werden diese mit Begriffen wie secrétaire, manuel épistolaire, manuel de correspondence oder modèles de lettre wiedergegeben (cf. Große 2003: 135, 138-139). Für unsere Zwecke wären hier beispielsweise zu nennen: Le Secrétaire de la Cour Impériale de France von 1813, der Traité sur la manière d’écrire des lettres von 1709 oder der Code épistolaire, contenant les règles, les principes et le cérémonial du style épistolaire von 1829. Eine umfassende Analyse zum Einfluß der Briefsteller auf die hier untersuchten Briefe und der konkrete praktische Nutzen dieser Vorlagen für die Schreiber würde in diesem Beitrag allerdings aufgrund der Komplexität der Relationen zu weit führen. Cf. dazu auch Radtke (1994). 16 Als die neue Verfassung von 1848 die Todesstrafe für die politischen Gefangenen abschafft, benötigt man eine Ersatzstrafe, die in einem Gesetz von 1848 beschrieben wird als „la déportation dans une enceinte fortifiée, hors du territoire continental de la République“ (zit. nach Dion / Taillemite 2007: 7). Deshalb wurden die Aufständischen der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution von 1848 zunächst nach Algerien und ab 1852 in die überseeische Strafkolonie Guyana transportiert. Neben dieser südamerikanischen Strafkolonie gab es ab 1863 auch ein bagne in Neu-Kaledonien. Dorthin wurden, nach der Niederschlagung der revolutionären Aufstände der Commune de Paris 1871, die 238 Stephanie Massicot Der Zweck der bagnes war vor allen Dingen pragmatischer Natur: ungeliebte Straftäter wurden abtransportiert und waren zugleich billige Arbeitskräfte. Das Leben in diesen Strafkolonien war dabei geprägt von harter Arbeit, Krankheit und Tod. Wer die wochenlange Überfahrt überlebte, der war dann meist den Lebensbedingungen in den Arbeitslagern nicht gewachsen. 17 Die lebensunwürdigen Zustände in den bagnes waren unseren Bittstellern wohl nicht oder nicht in diesem Ausmaß bekannt; zu inständig sind dafür die Bitten um eine Versetzung in eine der (Straf-)Kolonien. Oftmals erschien ihnen die Deportation als einziger Ausweg aus ihrer Misere, denn von der Gesellschaft stigmatisiert und von der Familie verstoßen, konnten sie im hexagonalen Frankreich gesellschaftlich nicht mehr Fuß fassen. 18 2 Analyse ausgewählter Charakteristika der Nähesprache anhand des Korpus französischer bagnards 2.1 Vorbemerkungen Die hier vorgestellten Briefe sind nun aber über die inhaltlichen (Makro-) Aspekte hinaus auch auf Mikroebene von außerordentlicher Bedeutung - vor allen Dingen bezüglich der Frage nach dem Auftreten nähesprachlicher Universalia in selbigen. Während Koch / Oesterreicher ein umfassendes Repertoire an solchen Elementen des gesprochenen Französisch vorlegen (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 41-133), soll hier der Fokus auf einigen ausgewählten universalen, besonders frequenten und damit aussagekräftigen Merkmalen liegen. Von großem Interesse ist dabei der erste hier behandelte Bereich der universalen Merkmale des gesprochenen Französischen: der der Textpragmatik. Die zu diesem Überpunkt gehörigen Gesprächswörter 19 bzw. die hierzu zu zählende Kategorie der sogenannten Gliederungssignale (1) sollen dabei neben der Allopolitisch Verurteilten gebracht (cf. u.a. Dion / Taillemite 2007: 8-9) - wobei ein großer Teil der Briefe aus dieser Zeit stammt. 17 So beschreibt Barbançon: „Implacable, la discipline passe par le travail sans frein ni trêve et par les châtiments physiques, qui ne reculent que très lentement, en dépit de la proposition de loi Schœlcher (1878), tant l’ingéniosité substitutive en la matière foisonnante. Crapaudine (pendaison par les pieds), poucettes, court-baril, fouet, isolement, privation de nourriture, marche ininterrompue durant des heures au soleil de la discipline…sont destiné à briser toute velléité de résistance. […] De la Nouvelle Calédonie on ne sort pas“ (Barbançon 2003: 12). 18 Cf. diesbezüglich insbesondere den Titel der (historisch ausgelegten) Publikation von Farcy (2005): „ je désire quitté la france pour quitté les prisons “ . Les requêtes de prisonniers pour obtenir leur exil (années 1870) . 19 Als solche werden von Koch / Oesterreicher (2011: 42) Ausdrücke bezeichnet, die eben direkt auf solche Instanzen und Faktoren im kommunikativen Kontext verweisen. Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 239 morphie / Allophonie zwischen [i] und [il] (2) im lautlich-morphosyntaktischen Bereich als typische universelle Phänomene der Nähesprache im Fokus vorliegender Analyse liegen. 2.2 Textuell-pragmatischer Bereich: Gliederungssignale Eines der zweifelsohne interessantesten Analyseparameter nähesprachlicher Universalia dürfte wohl der Gebrauch der Gesprächswörter sein; zumal hier eine große Bandbreite an Möglichkeiten vorliegt. Um nun den Gebrauch nähesprachlicher Gliederungssignale auf unser Briefkorpus anzuwenden, ist eine vorherige terminologische Klärung dieser strukturierenden Gesprächswörter unabdingbar. Für die Benennung des vorliegenden Gegenstandsbereichs gibt es - je nach Perspektive und Tradition - eine beträchtliche Anzahl an Termini, von denen nachfolgend lediglich eine Auswahl aufgelistet werden soll: „Diskursmarker“ (Fraser 1999; Waltereit / Detges 2007; Diwersy / Grutschus 2014 ) , „segnali discorsivi“ (Bazzanella 2011), „Konnektoren“ (Nølke 2014), „pragmatic markers“ (Brinton 1996), „Gliederungssignale“ (Gülich 1970; Koch/ Oesterreicher 2011). Obschon oftmals dieselbe Bezeichnung nicht garantiert, dass die gleiche Definition zugrunde gelegt wird, so soll für die vorliegende Analyse nähesprachlicher Elemente der Begriff der ‚Gliederungssignale‘ Anwendung finden, da dieser das Untersuchungsgebiet am besten fasst, insofern er den Bereich der konzeptionellen Mündlichkeit mit einschließt: Im gesprochenen Französisch gibt es eine Klasse von sprachlichen Elementen, die am Anfang und am Ende der Rede bzw. der Redeeinheiten verwendet werden und die im geschriebenen Französisch nicht oder sehr viel seltener vorkommen. Diese Elemente treten im allgemeinen in Verbindung mit prosodischen Faktoren, nämlich Pause und Melodieverlauf, auf und haben wie diese textgliedernde Funktion. Wir nennen sie daher Gliederungssignale und fassen sie als einheitliche Funktionsklasse auf, obwohl sie nach der traditionellen Grammatik verschiedenen Wortarten angehören. (Gülich 1970: 297; Hervorhebung S. M.) Während Gülich ihre Definition dahingehend eingrenzt, dass sie diese Signale als ein vorwiegend nähesprachliches Phänomen betrachtet, sind Koch und Oesterreicher der Ansicht, dass solche Elemente sowohl im Näheals auch im Distanzbereich vorkommen, sich ihr Auftreten im Gesprochenen aber vom Geschriebenen dahingehend unterscheidet, als in der gesprochenen Sprache „durch Gliederungssignale nur markiert wird, dass ein Diskursabschnitt anfängt oder aufhört, nicht aber immer eindeutig präzisiert wird, welcher.“ (Koch / Oesterreicher 2011: 43, Hervorhebungen im Original). In jedem Fall gehören nun aber solche Marker zu denjenigen sprachlichen Mitteln, die „über 240 Stephanie Massicot den Satz hinausweisen und deren Leistung nur aus der Rede verstanden werden kann […]“ (Gülich 1970: 16). 20 Im Nähediskurs existiert eine große Anzahl an typischen Gliederungssignalen wie puis, alors, et, enfin, oui, oh, ah, bien, quoi, hein, mais (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 43-47; Gülich 1970: 10-12). Diese Signale sind dabei oft monosyllabisch (cf. Chanet 2004: 98), leisten keinen Beitrag zur Proposition einer Äußerung, weisen einen hohen Grad an pragmatischem Gehalt 21 und einen geringen Grad an syntaktischer Integration auf und lassen sich in Anfangs- und Schlusssignale einteilen (cf. Weidenbusch 2014: 15-16; Koch / Oesterreicher 2011: 43-46; Gülich 1970: 10-11; Bazzanella 2011). Sucht man im Briefkorpus der bagnards und ihren Angehörigen nach solchen typischen „Verfahren zur Markierung des Aufbaus mündlicher Diskurse“ (Koch / Oesterreicher 2011: 43), so wird man zunächst mit einiger Enttäuschung feststellen müssen, dass keines der in den diversen Publikationen angeführten Lexeme (cf. puis, alors, enfin , mais etc.) der Einteilung und Strukturierung unterschiedlicher inhaltlicher Abschnitte in den Briefen dient. Wenn aber beispielsweise Bazzanella feststellt, dass solche Gliederungssignale „una classe non morfologica o lessicale ma funzionale” (Bazzanella 2011) darstellen, so wird evident, dass bei der Analyse die Form letztlich hinter die Funktion rücken muss und sich die Klasse dieser Marker nicht formal auf bestimmte Lexeme begrenzen lässt. Diese Signale sind durch eine starke Desemantisierung bei gleichzeitiger Pragmatikalisierung 22 (cf. u.a. Gülich 1970: 297; Erman / Kotsinas 1993: 80) charakterisierbar; sie haben also ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und geben dem Hörer - aus funktionaler Sicht - eine gewisse Orientierung im Diskurs, wobei sie zugleich dem Sprecher „als Hilfsmittel bei der Formulierung seiner Rede“ (Gülich 1970: 297) dienen und den Diskurs in unterschiedliche semantische Einheiten einteilen. Bezogen auf unsere Bittbriefe tritt in dieser textstrukturierenden-pragmatischen Funktion immer wieder ein Lexem, nämlich Monsieur (le Ministre) , 23 auf. Hier mögen einige Briefausschnitte der Illustration dienen, wobei die zentralen Passagen optisch durch Fettdruck hervorgehoben wurden: 20 Dass bei der Untersuchung dieser Phänomene vor allem der Bereich der Textlinguistik betroffen ist, beschreibt auch Söll: „Entscheidend an diesen (und anderen Aussagen) ist, dass das Problem der ‚Flickwörter‘ nicht im Satzrahmen behandelt werden kann“ (Söll 1985: 163). 21 Zum pragmatischen Gehalt bzw. dem damit verbundenen Terminus der ‚Pragmatikalisierung‘ s. unten. 22 Die Pragmatikalisierung wird hier verstanden im Sinne von Günthner / Mutz (2004) als die Herausbildung bzw. die Umfunktionierung eines bestimmten Lexems zur Steuerung der Kommunikation und des Gesprächs. 23 Bisweilen fungiert auch Excellence in ähnlicher Funktion (cf. z.B. Cheron 1 ANOM COL FM H 251). Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 241 (1) Sénéchal Monsieur le Ministre de la Marine à Paris Je vous adresse cette demande, comme Je suis bien dèsidé à me faire transportés à la Nouvelle Caledonie, […] Je voudrai partir au conte de l’état : et je voudrai partir à la première embarquation Monsieur le Ministre (a), Je dois me marier et partir avec ma femme. veuilliez Monsieur (b) me donnez des réponses si il et posible de partir Veuilliez agréer Monsieur (c) mes sincères est repectueuses salutation, votre tout devoué serviteur (Sénéchal) […] [Sénéchal 1 ANOM COL FM H 267] (2) Chaplain Maux, le 12 Juin 1884 A Monsieur le Ministre (a) dela Marine. Monsieur le Ministre (a) J’ai l’honneur de vous prier devouloir bien me fournir les renseignements suivants : Le sieur Chaplain Alexandre Chaplain Marie, serrurier, demt actuellement à Maux mais ayant demeuré en 1872 à Ferrières (Loire et Marne) a été condamné par jugement du 8me conseil de guerre séant à St Germain en Laye, en date du 2 janvier 1872, à la déportation simple pour participation à la commune. […]; je vais donc vous prier ; Monsieur le ministre (b), devouloir bien me faire connaître le plus tot possible, quelle est la position exacte du sieur Chaplain au point le ma (? ) de la condamnation qui l’a frappé Veuillez agréer, Monsieur le Ministre (c), l’assurance de mes sentiments respectueuses et dévoués H. Pîray [Chaplain 1 ANOM COL FM H 74] 242 Stephanie Massicot Dieses Monsieur (le Ministre) hier als - typisch nähesprachliches - Gesprächswort zu (re-)analysieren und damit in eine Reihe mit puis, oh, bien, etc. zu stellen ist insofern zu legitimieren, als diese Kategorie - dies betont auch Gülich - eine offene ist (cf. Gülich 1970: 10). Dazu kommt die augenfällige semantische Abschleifung von Monsieur in all den aufgeführten Beispielen: In keinem der genannten Fälle behält Monsieur nur sein eigentliches Denotat im Sinne von „höflicher Anredetitel“ oder wird dieses im Vergleich zur gliedernden Funktion zumindest sekundär und tritt hinter die (pragmatische) Funktion. 24 Betrachten wir hierfür Beispielbrief (1) genauer. Hier wird vor allen Dingen bei a), b) und c) das sogenannte semantic bleaching deutlich; Monsieur bzw. Monsieur le Ministre hat seine ursprüngliche Bedeutung weitgehend verloren und fungiert a priori als gliedernder Diskursmarker auf pragmatischer Ebene. Dass Monsieur dabei auch markiert, „dass ein Diskursabschnitt anfängt oder aufhört, nicht aber immer eindeutig präzisiert wird, welcher“ (Koch/ Oesterreicher 2011: 43, Hervorhebungen im Original) geht ebenfalls deutlich aus den Briefpassagen hervor und sei noch einmal anhand des Briefs (2) verdeutlicht, bei der Monsieur der Kontaktaufnahme (a), der Einleitung des eigentlichen Sprechakts der Bitte (b) sowie der Ankündigung der conclusio (c) dient. Monsieur wird in fast allen der Bittbriefe - und dies kann als Spezifikum der untersuchten Korrespondenzen der bagnards und ihrer Angehörigen gelten - eindeutig als Gliederungssignal gebraucht, das den Verfassen der Bittbriefe die kommunikative Aufgabe - hier den direktiven Sprechakt der Bitte - erleichtert. Hierauf verweisen nicht nur die für diese Art von Gesprächswörtern typischen Charakteristika wie Textgliederungsfunktion, semantic bleaching und Pragmatikalisierung, sondern auch das Merkmal der Polyfunktionalität (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 69). Oftmals ist nämlich bei diesem Diskursmarker nicht festzustellen, ob er hier der Überbrückung, der Kontaktherstellung 25 oder -erhaltung, dem Ausdruck von Emotionalität, der Überwindung des „ horror vacui des Anfangs“ (Schrott 2015: 487) oder der Textstrukturierung verpflichtet ist - und vielfach liegen freilich Überschneidungen vor. So ist beispielsweise im folgenden Briefausschnitt nicht 100 %ig auszumachen, ob der Schreiber bzw. die Schreiberin in den Ausschnitten a), b) und c) die (erneute) Kontaktaufnahme oder den Beginn eines neuen Abschnitts zum Ausdruck bringen will bzw. Monsieur besitzt hier eine Art Hybridcharakter: 24 Cf. hierzu W. Weidenbusch: „Leur [des marqueurs de discours] signifié n’est pas lexical, grammatical ou conceptionnel, mais pragmatique ou procédural“ (Weidenbusch 2014: 15). Zu sprachlichen Merkmalen der Höflichkeit im Französischen cf. Held (2008). 25 Diesbezüglich äußert sich u. a. Schrott: „Eine wichtige Voraussetzung zur Erzeugung von Nähe und Vertrautheit ist, dass es dem Schreiber gelingt, sich im Brief als vertraute Person darzustellen, der sich der Adressat verbunden fühlt“ (Schrott 2015: 479). Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 243 (3) Charbot Monsieur le Ministre 26 Veuillez je vous prie mexcuser si je viens me mettre sous votre protection et vous prier de bien vouloir me tirer dinquiétude en me donnant des nouvelles de mon mari Monsieur (a), mon mari sest trouvè comme beaucoup de malheureux comme lui, en traine dans le tourbillon fatal de la commune il a été arrètè et condamnè a la deportation au nouvelle caledonie […] Depuis le 8 Janvier que j’ai recu la lettre qui mapprenait quil était parti je nai plus recu aucunes nouvelles Monsieur (b) voici ladresse qui mas donne et la la quelles j’ai répondu sans avoir eut aucune nouvelles depuis. Monsieur Chabrot Pierre abord de Larne en rade de Brest partant pour la nouvelle Caledonie 15 Monsieur (c) je nai plus despoir qu’an vous, veuillez je vous prie jeter un regard de pitié sur une pauvre mére reste seule […] [Charbot 1 ANOM COL FM H 74] Mit einigen Problemen behaftet ist allerdings die Frage nach dem Grad der Nähesprachlichkeit durch Monsieur insofern, als es sich bei jenen gliedernden Ausdrücken sowohl bei Gülich (1970: 10) als auch bei Söll (1985: 162, 179) oder Koch und Oesterreicher (2011: 46) um Adverbien, Interjektionen oder Konjunktionen (cf. et , oui / ouais, mais, puis etc.) handelt, die typischerweise oft monosyllabisch sind - mehrsilbige Nomina wie in vorliegendem Fall besitzen laut ihnen nie diese für die Nähesprache typische Funktion der Textstrukturierung. In dieser engeren Definition kann Monsieur also nicht als typisches Gliederungssignal der gesprochenen Sprache 27 gelten bzw. ist es nicht klar, welchem der beiden Pole es zugeordnet werden soll. Dies wirft die Frage nach seinem Ursprung bzw. nach dem (distanz- oder nähesprachlichen) Einfluss des Gebrauchs von Monsieur in den Bittbriefen der bagnards auf. Als für die Beantwortung hilfreich erweisen sich zunächst die Anweisungen der damaligen Briefsteller. 26 Auch hier ist eine Doppelung der Funktion von Monsieur denkbar. So kann dieses anfängliche Monsieur le Ministre durch seine Formelhaftigkeit nicht nur der Überwindung des horror vacui dienen, sondern stellt zugleich den Kontakt und damit eine gewisse Nähe zwischen Sender und Empfänger her. 27 Diese wird hier verstanden im Sinne einer konzeptionellen Mündlichkeit (cf. Kapitel 1.1 (Vor-)Überlegungen: Das Konzept ‚Nähesprache‘ des vorliegenden Beitrags). 244 Stephanie Massicot Prima vista halten sich die Bittsteller bezüglich des Gebrauchs der Anredeformel an die Regeln; so heißt es in einem der wichtigsten Briefsteller ( Traité sur la manière d'écrire des lettres ), 28 man müsse diese so platzieren, […] qu’ils ne gâtent point la construction, qu’ils ne fassent point d’équivoque, & qu’ils ne choquent pas l’oreille. Il seroit fort impoli de n’emploïer ces termes qu’au commencement & à la fin d’une Lettre, pour observer simplement le Cérémonial; & cela ne se peut bienséamment pratiquer que dans les Lettres que l’on écrit à des inférieurs. (Grimarest 1709: 138) Auch in vorliegenden Briefen wird dieses Monsieur nicht nur als Eingangs- und Schlussfloskel verwendet, sondern es wird zur sozialen Distinktion gebraucht, dient der Bezeugung von Respekt 29 und untermauert die untergebene soziale Stellung. Problematisch ist aber der Befund, dass eine solche gehäufte Reihung der routinierten Anredeformeln dem, was die Briefsteller in schöner Regelmäßigkeit zur variatio des Gesagten anführen, diametral entgegensteht; so heißt es beispielsweise im Secrétaire de la Cour impériale : Les personnes qui écrivent le mieux, évitent les répétitions des mots; et du moins faut-il éviter d’employer deux fois le même tour ou la même pensée […]. (Anonymus 1813: 248) Ferner auch im Traité sur la minère d’écrire des lettres: Les répétitions font un mauvais effet dans le stile épistolaire […]. On fatigue le Lecteur; c’est-là tout le fruit que l’on remporte de cette multiplicité d’expressions. (Grimarest 1709: 30-31) Bei der in den Suppliken gegebenen Häufung von Monsieur , der, wie erörtert, primär der Strukturierung des Diskurses (und nicht allein als Respektsgeste) dient, handelt es sich dementsprechend um eine Abweichung von den (distanzsprachlichen) Präskriptionen der gängigen Briefsteller des 19. Jahrhunderts, zumal sein hochfrequentes Auftreten in vielen Fällen wohl gegen die Briefsteller- Regel, „qu’ils ne fassent point d’équivoque, & qu’ils ne choquent pas l’oreille“ (Grimarest 1709: 138) verstoßen dürfte. Vielmehr - dies die Hypothese - könnte diese stark repetitive Respektsbezeugung ein Anleihen aus dem mündlichen Diskurs sein, der dadurch nicht nur strukturiert wird, sondern zugleich die sozial sehr ungleiche Stellung und die Unterwerfung untermauert und damit 28 Cf. beispielsweise auch folgenden Hinweis aus einem weiteren Briefsteller, der sich auf die Anredeformel bezieht: „Monsieur; on s’en sert dans la première ligne de la lettre […]“ (Bernier 1829: 20). 29 Cf. die Anweisungen in einem der Briefsteller: „on donne aux Princes, & aux grands Seigneurs un titre d’honneur, pour leur parler avec plus de respect“ (Grimarest 1709: 107). Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 245 wiederum gegen eines der (Grund-)Prinzipen aller Briefsteller „on traite les grands avec respects, quoique sans bassesse“ (Anonymus 1813: 207) verstößt. Die Analyse des Gebrauchs von Gliederungssignalen in vorliegenden französischen Bittbriefen hat nun folgende Erkenntnisse gebracht: 1) Die für die Nähesprache als prototypisch geltenden Gliederungssignale des Französischen wie puis, alors , etc. sind für das zugrundeliegende Briefkorpus aus dem 19. Jahrhundert weitestgehend unbrauchbar, 2) die ungeübten Schreiber dieser Briefe haben mit Monsieur einen eigenen Diskursmarker etabliert, der eine sehr hohe Frequenz aufweist, viele der typischen Merkmale von Gliederungssignalen (s. oben) besitzt, aber zugleich auf eine ganz eigene Tradition der Gesprächsstrukturierung - fernab von den Präskriptionen der damaligen Briefsteller 30 und der engen Definition typisch nähesprachlicher Diskursmarker - zurückgreift. Der Gebrauch von Monsieur als Gliederungssignal lässt eine Zuordnung zum Pol der Nähe oder Distanz letztlich nicht eindeutig zu und dementsprechend stößt hier das Modell von Koch / Oesterreicher an seine Grenzen. Hier ist es angebracht, sich aus dem enggeschnürten Korsett der in der bisherigen Literatur anzutreffenden, typisch mündlichen Gesprächswörter zu befreien und statt einer „krampfhaften“ Suche solcher nähesprachlicher Signale den Blick zu weiten, da der für die Diskurstradition ‚Bittbrief ungeübter Schreiber‘ typische Textaufbau durch Monsieur eigenen Regelhaftigkeiten und Mustern folgt, die sich außerhalb der klassischen, bereits etablierten Kategorien von Nähe oder Distanz bewegen. 2.3 Lautlicher Bereich: Elision finaler Konsonanten Das „Verschlucken“ bestimmter Laute gehört zu den immer wieder genannten Eigenheiten des français parlé (cf. u.a. Koch / Oesterreicher 2011: 129-133, 156, 160, 165-167; Söll 1985: 117; Ernst 1985: 44, 59, 61-66). Will man nun, wie eines der hier angestrebten Analyseziele ist, die phonischen Besonderheiten der Nähesprache aus der graphischen Realisierung erschließen, so sollte man stets die folgenden Worte G. Ernsts beachten: Auch aus solchen Texten der Vergangenheit, die man sonst in die Nähe spontan gesprochener Sprache rücken kann […], erfährt man im allgemeinen nichts über ihre mögliche lautliche Realisierung. Der Schluß von der Graphie auf die Lautung ist dort aus verschiedenen Gründen riskant […]. (Ernst 1985: 35) Eventuelle Schlussfolgerungen, die wir aus den Bittbriefen über die konkrete (nähesprachlich markierte) Aussprache ziehen, sind also stets mit Vorsicht zu 30 Cf. hierzu Fußnote 15 des vorliegenden Beitrags. 246 Stephanie Massicot genießen. Dennoch lässt ein bei einer Bittstellerin immer wieder auftretendes Phänomen auf bestimmte Aussprachegewohnheiten schließen: Die (graphische) Realisierung von <il> als <i>, die mit großer Gewissheit auf die typisch nähesprachlich markierte (s. unten) Aussprache [i] zurückzuführen ist. 31 Obgleich diese Allomorphie in der Personalmarkierung ein hapax -Phänomen im Briefkorpus darstellt, ist sie - vor allen Dingen für das hier zugrundliegende vorwiegend qualitative Analyseverfahren - deswegen nicht minder interessant. Das Auftreten jener zwei Allomorphe, [il] und [i] sehen Koch / Oesterreicher zwar als einzelsprachliches Phänomen der französischen Nähesprache an (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 167), doch vor allem im Bereich der Lautung verläuft die Linie zwischen historisch-einzelsprachlichen und universell-übereinzelsprachlichen Phänomenen nicht immer trennscharf. Die beiden Autoren selbst erklären bezüglich der lautlichen Universalia der konzeptionellen Mündlichkeit: In allen Sprachen lässt sich eine Varianz der Artikulation von Zeichensignifikanten beobachten, in der man nicht den Effekt bloßer Versprecher erblicken darf, sondern die sich mit der Sprechgeschwindigkeit korrelieren lässt. Den genau artikulierten Lentoformen stehen hier die weniger sorgfältig artikulierten Allegro- oder gar Prestoformen gegenüber, bei denen Teile des Zeichensignifikanten lautlich ‚schrumpfen‘. So treffen wir auf Prozesse der sog. Entdeutlichung […]. (Koch / Oesterreicher 2011: 130, Hervorhebungen im Original) Insbesondere Sauvageot (1972) geht dabei auf die Elision wortfinaler Konsonanten vor konsonantischem Anlaut im Gesprochenen ein: La prononciation française de la variété dont il est question ici [le français parlé] se caractérise par plusieurs particularités. [….] Les groupes de consonnes en fin de mot sont constamment mutilés dans l’élocution courante […]. Par ailleurs, l’-l du pronom personnel tombe devant un verbe commençant par une consonne, devant la négation ou un pronom personnel objet […]. (Sauvageot 1972: 124-125; Hervorhebungen und Einfügung S. M.) Dieses Phänomen ist also - darin besteht Einigkeit - für das heutige Französisch nähesprachlich markiert, wobei auch in Texten mit nähesprachlichem Kolorit das entsprechende distanzsprachliche Pendant, also [il] vorkommen kann, jedoch umgekehrt, die nähesprachliche mündliche Variante [i] nie in distanzsprachlichen Texten auftritt (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 164-165). 31 So beschreibt Sauvageot, um ein Beispiel von vielen zu nennen: „Quand le débit se fait rapide, ou négligé, on a affaire à une redistribution plus ou moins complète des syllabes de l’énoncé“ (Sauvageot 1972: 123). Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 247 Diese Realisierung von il war aber auch Ende des 19. Jh. bereits nähesprachlich markiert, 32 während eine durchgängige Realisierung als [il] dem français soutenu - also der Distanzssprache - zuzuordnen war, wie Martinon deutlich macht: D’abord le pronom il . Ce mot avait amui son l depuis le XVI e siècle, sauf en liaison, bien entendu. […] Ni le XVIIe siècle, ni le XVIIIe n’ont rétabli cet l dans la pronociation courante, et le XVIII e siècle n’a cherché à le rétablir que dans le discours soutenu. Restaut reconnaît qu’il ne se prononce pas ailleurs. Depuis Domergue, les grammairiens veulent qu’on le prononce partout; mais dans l’usage courant et familier, les choses n’ont guère changé: où va-t-i (l), i (l) vient s’entendent presque uniquement à coté de i l a . L’enseignement seul maintient cet l dans la lecture et dans le langage soigné. (Martinon 1913: 259) Jene konzeptionell mündliche Allomorphie / Allophonie tritt nun - wie erwähnt - auch in vorliegendem Briefkorpus auf; und zwar immer in der Verbindung mit que , wie folgender Korpusausschnitt belegt: 33 (4) Brisson 8 Paris le 18 Mars 1879 Monsieur Le ministre Pardonnez moi la liberté que je prend pour vous écrire Je desirerais savoir si mon Mari auguste Brisson de st Arnaud est dans le nombre des deporrte graciès Il est dans une encinte fortifié à Noumèa S’est pour demander ma Séparation et qui ne me retourne plus à Paris […] [Brisson 8 ANOM COL FM H 73] Warum tritt nun dieses morphosyntaktische Element der Nähesprache ausschließlich in Kombination mit der Konjunktion que auf ? Wenngleich diese Frage freilich nicht mit 100 %iger Sicherheit beantwortet werden kann, so scheint doch die Existenz des (homophonen) Relativums qui eine entscheidende Rolle zu spielen. Dessen Graphie ist der entsprechenden Verfasserin bekannt und so 32 Klein (1982: 149) macht indirekt deutlich, dass es sich dabei auch schon damals um ein Phänomen der unmarkierten Nähesprache handelt; zumindest scheint dies durch, wenn er wiedergibt, dass zu Beginn des 20. Jh. - also nur zwei bis drei Jahrzehnte später als die vorliegenden Bittbriefe - auch Sprecher der gehobenen Schicht tendenziell eher [i] statt [il] realisierten. 33 Die entsprechenden Textpassagen wurden wiederum optisch mittels Fettdruck hervorgehoben. 248 Stephanie Massicot realisiert sie auch im genannten Beispiele <qu’il> als <qui>. In diesen Fällen entscheidet sich die unroutinierte Schreiberin aber nicht nur für das nähesprachliche [i] (anstatt des distanzsprachlichen [il]), sondern es kommt auch zu einer Agglutination bzw. zu einem „amalgame[s] graphique[s]“ (Ernst 2010: 61) - ein Phänomen, das im Übrigen sehr typisch für das Schriftgut von semicolti ist. 34 Betrachtet man das zugrundeliegende Korpus, so zeigt hier die Analyse des Verhältnisses zwischen [i] und [il] in der Gesamtschau zweifelsohne ein stark ausgeprägtes Übergewicht von [il]: Während der prozentuale Anteil von [i] nur etwa 16 % ausmacht, liegt derjenige von [il] dementsprechend bei 84 %. 35 Da nun [i] bzw. seine graphische Realisierung in <qui> in jedem Fall einen Einfluss der Mündlichkeit nahelegt, umgekehrt zwar [il] in <qu’il> oder <quil> aber sowohl der Mündlichkeit als auch der Schriftlichkeit zuzuordnen ist und folglich [il] bei nähesprachlich markierten Texten nicht auszuschließen ist (s. oben), können die Briefausschnitte (4) und (5) trotzdem durchaus dem Pol der Nähe zugeordnet werden - selbst wenn die Elision nicht in jedem Fall auftritt. Interessant ist, dass die Verfasserin der Briefe bei der Wahl der Pronomina eine Inkonsequenz an den Tag legt und sich in ein- und demselben Brief einmal für das distanzsprachliche [il], einmal für das nähesprachliche [i] entscheidet; bezüglich dieser Parameter besteht also nicht nur eine interindividuelle, sondern auch eine intraindividuelle Varianz, wie folgender Briefausschnitt (derselben Bittstellerin) belegt: (5) Brisson 7 Je me permet de vous ecrire pour vous dire que voilà environ 15 mois que je n’ait pas eu de nouvelle de M r Auguste Brisson dest Arnaud Mon Mari déporté en caledonie […] Mais cependant il lui était arriver qui fut mort, je desirerais bien le savoir, sa serait un grand bonheur pour lui et pour moi et toute sa famille car il à toujours été si mauvais sujet, qui ne serait pas beau coup regretté, Jes père 34 Dies belegen nicht nur zahllose Resyllabierungserscheinungen aus dem hier zugrundeliegenden Korpus, sondern auch in anderen Untersuchungen des Schriftguts von peulettrés , wie beispielsweise diejenigen zur Écriture des citoyens während der von Branca- Rosoff/ Schneider untersuchten Revolutionsphase (cf. Branca-Rosoff/ Schneider 1994: 42). 35 Untersucht wurden hier - aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit - die Vorkommen in Verbindung mit que , wobei in die Vergleichskategorie mit [il] sowohl die normkonforme Graphie <qu’il>, die 44 % des Gesamtvorkommens ausmacht, als auch die von der Norm abweichende agglutinierende Graphie <quil> mit knapp 56 % hineinzählten. Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 249 que la colonie Pénitènciére l’auras peut être changer, c’est tout a que je puisse y souhaiter Ce qui fait que je voudrais savoir de ses nouvelles Cest quil est possesseur de tout les papiers […] [Brisson 7 ANOM COL FM H 73] Zieht man Bilanz, so hat die Analyse auf phonetisch-morphosyntaktischer Ebene gezeigt, dass [il] im analysierten Korpus ein weit größeres Gesamtvorkommen besitzt als die entsprechende nähesprachliche Variante [i]; dennoch deutet das Auftreten bei einer der BriefverfasserInnen auf einen gewissen Grad an Nähesprachlichkeit hin - der überwiegende Teil der Briefe kann aber - trotz einer augenfälligen Unerfahrenheit beim Verfassen von offiziellem Schriftgut - im Hinblick auf diesen Parameter als distanzsprachlich gelten. Bezüglich des Gebrauchs von [i] und [il] herrscht eine große Varianz, nicht nur von Sprecher zu Sprecher, sondern auch auf intraindividueller Ebene. Ein- und derselbe Sprecher bzw. in vorliegendem Fall Sprecherin kann gleichsam im selben „Atemzug“ einmal [il] und einmal [i] verwenden. Betrachtet man alle Briefe Brissons, so tritt qui nie vor Vokal auf, was mit großer Gewissheit darauf zurückzuführen ist, dass in der gesprochenen Sprache, in der die allgemeine Tendenz zum Ausfall des auslautenden l im Französischen schon früh belegt ist (cf. Rheinfelder 1968: 302, § 816), durch die Realisierung eines auslautenden l vor Vokal eine Verbesserung der Silbenstruktur erreicht wird ( CVCV ). Interessanterweise tritt aber auch bei Brisson nicht immer der in älteren Grammatiken noch als normgerecht angesehene Wegfall des l vor Konsonant auf, 36 denn bisweilen verwendet sie auch vor konsonantischen Anlauten die Variante quil (cf. Brisson 3; Brisson 12), 37 was zweifellos auf eine Unsicherheit in Bezug auf die mündliche und schriftliche Norm hindeutet. Dass dieser typisch nähesprachliche Lautschwund aber kein generelles, in allen Briefen vorkommendes Phänomen ist, veranschaulicht nachfolgendes Beispiel (6) noch einmal deutlich; die Verfasserin gebraucht (in der Verbindung mit que ) stets das distanzsprachliche [il]: (6) Chèlaud Monsieur le Ministre Ayant lu dans le Petit (a) journal que les familles interessées au excilès trouveront au Ministère de l’interieur (a), (d) et dela (c) 36 Cf. dazu z. B. auch das Lehrbuch von Otliker (1702: 14, 23), der für qu’il aye die Aussprache [il] angibt, aber für qu’il parle die Aussprache [i]. 37 Die anderen Bittsteller hingegen verwenden durchweg quil bzw. qu’il sowohl vor Konsonant als auch vor Vokal. 250 Stephanie Massicot direction d la surté générale tout (b) les renseignement (b) utile (b) sur le conte (b) des rapatriès, J’ai (a) eut l’honneur dem’adressser (c) a (d) vous (d) Mon Mari (a) etant parti pour la guerre en 1870 ataché a (d) une embulance (b) anglaise trois mois après sont (b) depart par voie incertain l’on ma (c) apris sa mort l’on me disait qu’il était decèdè a Bloie Je me suis adressèe aMonsieur (c), (d) le Maire pour avoir une copie de l’acte de dèces quoi qu’incertin (b) J’ai obtenu restant Veuve (a) avec trois petits enfants[…] je me suis toujours figuree (d) qu’il nétait pas mort et il me reste encore cette espoir qu’il avait pu prendre part au malheureux desordre de la commune et qu’il pouvait ètre exciler (b) […] [Chèlaud ANOM COL FM H 262] Will man nun - um der eingangs formulierten Fragestellung nach der Korrelation zwischen semicolti -Schriftgut und Nähesprache auch gerecht zu werden - diesen Briefausschnitt hinsichtlich anderer typischer Merkmale der (konzeptionellen) Mündlichkeit (z. B. Kontaktsignale, Abtönungsphänomene, Anakoluthe, Onomatopoetika, hesitation phenomena , Kongruenz-„Schwächen“, Segmentierungserscheinungen etc.) 38 analysieren, so gelangt man schnell an seine Grenzen; keines der als typisch nähesprachlich geltenden Elemente tritt hier auf. Handelt es sich also hierbei - im Umkehrschluss zu den einleitenden Definitionen - nicht um einen Text eines unerfahrenen Schreibers, sondern haben wir es vielmehr mit einem Schreibexperten zu tun? Freilich ist diese Frage rhetorischer Natur, da es sich - trotz des Fehlens eines nähesprachlichen Duktus - unzweifelhaft um einen Brief eines semicolto handelt. Dies belegen allerdings andere, nicht genuin typisch nähesprachliche Elemente, wie beispielsweise nicht-normkonforme Groß- und Kleinschreibung (cf. a), 39 homophone, aber nicht-normkonforme Graphien (cf. b), Resyllabierungserscheinungen (cf. c) oder auch fehlende Interpunktion und Akzentsetzung (cf. d). 40 38 Cf. hierzu Koch / Oesterreicher (2011: 41-182). 39 All die beschriebenen Phänomene beziehen sich auf den Beispielbrief (6). 40 Es handelt sich dabei nicht um eine exhaustive Auflistung aller Phänomene und Vorkommen, sondern lediglich um einige ausgewählte Textpassagen, die der Exemplifizierung Nähesprachliche Elemente in den Texten von semicolti 251 Dieses Beispiel - und es handelt sich dabei um eines von vielen - belegt damit eindeutig, dass Elemente der konzeptionellen Mündlichkeit - obschon sie freilich in solchen Texten vermehrt auftreten - kein hinreichendes Definitionskriterium für das Schriftgut ungeübter Schreiber sind. Eine solche Erwartungshaltung muss demzufolge abgelegt werden - selbst wenn ungeübte Schreiber grosso modo häufiger Elemente der konzeptionellen Mündlichkeit verwenden als Schreibexperten. 3 Conclusio In der Zusammenschau der hier untersuchten Parameter ergibt sich nun hinsichtlich der eingangs formulierten Frage einer (scheinbar) unbestreitbaren Existenz nähesprachlicher Elemente in Texten ungeübter Schreiber ein weit differenziertes Bild: So ist - beim Betrachten der Gesprächswörter - mit dem Lexem Monsieur bisweilen zwar ein Element anzutreffen, das prima vista der konzeptionellen Mündlichkeit zuzuordnen ist, da es a) den Diskurs unterteilt und b) markiert, dass ein neuer Abschnitt beginnt, doch treffen nicht alle typischen Charakteristika nähesprachlicher Gesprächswörter auf dieses Gliederungssignal zu. Ferner hat die Analyse auf der morphosyntaktisch-lautlichen Ebene gezeigt, dass das Einfließen nähesprachlicher Elemente (cf. Elision des wortfinalen l bei il ) zwar ein Charakteristikum der Texte unroutinierter Schreiber sein kann, aber nicht zwingend sein muss und im vorgestelltem Briefkorpus bisweilen ein Randphänomen darstellt. Grundsätzlich wird außerdem die Antwort auf die Frage, welchen Stellenwert Elemente konzeptioneller Mündlichkeit in Texten ungeübter Schreiber spielen, nicht zuletzt davon abhängig sein, an welcher „Position“ zwischen colto und incolto sich der jeweilige Schreiber bzw. die jeweilige Schreiberin befindet, da freilich auch hier von einem Kontinuumscharakter auszugehen ist. Es gilt: Bei der Diskussion um die Rolle der Nähesprache im Schriftgut unerfahrener Schreiber zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass eine Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen „Schreibnoviziat“ (cf. Massicot 2017: 62) und Nähesprache nicht vertretbar ist. Freilich finden sich auch im Korpus der französischen bagnards , die allesamt als das gelten können, was in der linguistischen Forschung seit Längerem unter dem Begriff semicolti geführt wird, Elemente der Nähesprache. Doch spielen diese - und das hat die vorliegende Analyse gezeigt - meist nur eine untergeordnete Rolle. Wenngleich nun aber das Auftreten nähesprachlicher Elemente in einer großen Vielzahl der Briefe marginal ist bzw. solche Elemente zum Teil überhaupt nicht auftreten, sollte man - das hat der vordienen sollen. 252 Stephanie Massicot liegende Beitrag gezeigt - nicht davon ausgehen, dass es sich dabei zwangsläufig um Texte erfahrener Schreiber handelt. Dass wir es bei den Bittbriefen durchaus um Schriftgut von Schreibnovizen zu tun haben, belegt nämlich nicht nur die äußere Form der Texte (Unsicherheit der Handschrift, scriptio continua , Fehlen von gliedernden Absätzen, etc.), sondern auch die eigentliche sprachliche Seite (von der Norm abweichende Graphie, Umfunktionalisierung der Groß- und Kleinschreibung, Umstrukturierung von Diskursmarkern etc.). Das Faktum, dass die konzeptionelle Mündlichkeit in diesen Texten eine Nebenrolle spielt, verdeutlicht vielmehr die Vielschichtigkeit und die Komplexität, die dem Schriftgut ungeübter Schreiber inhärent ist und die nicht einfach mit dem Auftreten nähesprachlicher Elemente abgetan ist. Literatur Quellen Archives nationales d’outre-mer ( ANOM ). Aix-en-Provence: ANOM FM H 70-76, Fonds ministériels ( FM ). Archives nationales d’outre-mer ( ANOM ). Aix-en-Provence: ANOM FM H 248-262, Fonds ministériels ( FM ). 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Le CHSF dispose actuellement de plus de 65.000 documents écrits entre 1789 et 1918 dans une langue qui ne suit pas les normes du français standard. Ces textes déviants ou du substandard proviennent pour la plupart des couches populaires, donc de scripteurs populaires qui ont donné à la Révolution française le caractère d’une révolution de la communication. Cette révolution a engendré une nouvelle variété du français que nous appelons écriture populaire . Nous discutons les modalités de sa genèse et relèverons quelques-unes de ses caractéristiques constantes. Le CHSF inclut des textes d’usage quotidien écrits non pas en français mais dans une des langues régionales de la France, comme par exemple le basque ou le catalan. Ces textes constituent une alternative à l’intention d’écrire en français. C’est pourquoi nous les classons comme écriture alternative . Nos considérations théoriques et méthodologiques s’appuient sur des textes dont nous donnons une sélection à la fin de notre article. Les trois exemples que nous y présentons ont aussi pour but d’illustrer comment nous voulons organiser la publication imprimée et numérisée de notre CHSF. 258 Harald Thun 1 Geschichte und Charakteristika des CHSF 1.1 Ziel, Suche und Funde 1.1.1 Unerwartet reiche Ernte auf einem unbeackerten Feld Als vor ungefähr 10 Jahren meine Kieler Arbeitsgruppe und ich begannen, nach schriftlichen Gebrauchstexten aus der französischen Unterschicht zu suchen, war es unser Ziel, im Rahmen des Möglichen dazu beizutragen, dass endlich der Sprache der Bevölkerungsmehrheit Gerechtigkeit widerfahre und sie in der französischen Sprachgeschichtsschreibung den Platz erhalte, der ihr zusteht. Die „histoire de la langue française“ ist nämlich über weite Strecken nichts anderes als die Historiographie der Sprache einer kleinen, schreibkundigen Elite. Der Bevölkerungsmehrheit wird ein angemessener Platz nicht aus Böswilligkeit verweigert, 1 eher schon aus der Überzeugung, dass allgemeiner Quellenmangel herrsche. 2 Könnte es aber nicht sein, dass noch niemand systematisch gesucht hat? Das wollten wir nun tun. Und falls es diese Gebrauchstexte gäbe, wollten wir sehen, wie sie sich zum Standardfranzösischen verhielten. Als wir mit der Suche begannen, ahnten weder wir noch sonst jemand, welches Riesengebiet sich vor uns auftun würde. Dieses Gebiet war kaum erschlossen, ja, es wurde sogar an seiner Existenz gezweifelt, denn „ces gens-là ne savaient pas écrire“, also könne es auch keine Texte von ihnen geben, meinte ein französischer Archivar. Dennoch gibt es diese Texte und ein großer Teil von ihnen weicht deutlich von der Standardsprache ab. Wir haben eine solche Menge und Vielfalt an Gebrauchstexten aus der Unterschicht gefunden, dass wir uns ein wenig wie Peter Boyd Bowman fühlten, der in Sevilla Daten über 40.000 spanische Auswanderer im frühen 16. Jh. fand und damit die berühmte andalucismo -These auf eine neue Grundlage stellte (cf. Boyd-Bowman 1964-1968). 1.1.2 Neue Perspektiven für etablierte Disziplinen Es dürfte wohl so sein, dass sich mit dem Material des CHSF ebenfalls neue Perspektiven und dies für mehrere Disziplinen eröffnen. Wir gehen hier nur auf die Sprachwissenschaft und ihr nahestehende Disziplinen ein. 3 1 Obschon bei älteren Autoren wie F. Brunot der Stolz auf die so kunstvoll ausgebaute Gemeinsprache das Interesse an anderen Ausdrucksmöglichkeiten klein hält (Brunot 1939: Préface ). 2 Siehe die Forschungsübersicht in Thun (2011: 359-392). 3 Ausführlicher dazu Thun (im Druck). Substandard und Regionalsprachen 259 Was die Sprachgeschichte angeht, so ist die Französische Revolution von 1789 nach den bisherigen Ergebnissen der linguistischen Analyse eigentlich eine Enttäuschung. Der große politische, soziale und ökonomische Umbruch wird nicht von einem ähnlich tiefgreifenden Wandel der Sprachzeichen und der Sprachstruktur begleitet. Wenn wir das Zeichensystem verlassen, dann markiert am ehesten noch die Sprachpolitik etwas Neues. Bekannt sind die Versuche, den Gebrauch des Französischen in allen Teilen Frankreichs durchzusetzen und alle anderen Varietäten zu verdrängen. Wir meinen, dass die Französische Revolution noch aus einem anderen, ebenfalls sprachlichen Grunde eine Wegscheide ist. Mit der Revolution setzt das massenhafte Schreiben in der Unterschicht ein. Damit erschließen sich der Sprachgeschichtsschreibung bisher kaum bekannte Quellen, die das CHSF zugänglich machen will. Sie geben, um nur ein wichtiges Anwendungsgebiet zu nennen, Auskunft über die Geschichte der français régionaux. Diese sind es, nicht die Standardsprache und noch weniger die Dialekte oder Regionalsprachen, die ab dem 19. Jh. wohl die meistgebrauchten Varietäten wurden. Die historische Soziolinguistik bekommt durch das CHSF nun erstmals repräsentatives und authentisches Material aus der Unterschicht, wohlgemerkt aus der Bevölkerungsmehrheit, sie muss sich nicht mehr allein auf Kommentare aus den gebildeten Schichten oder auf literarisierte Mündlichkeit verlassen. Was die kollektive Alphabetisierung angeht, so hat sie früher eingesetzt als gemeinhin angenommen, 4 sie tritt nämlich schon mit der Revolution in Aktion und nicht erst im Laufe des 19. Jhs. Unsere Daten sind als vollständige Texte eine Art Pisa-Test und damit aussagekräftiger und sicherer als die Unterschriften unter Heiratsurkunden, die seit Louis Maggiolo die Hauptgrundlage für die Berechnungen der Alphabetisierung des französischen Volkes liefern (cf. Fleury / Valmary 1957). 5 Der Nutzen für die Geschichtswissenschaft und die Kulturanthropologie liegt auf der Hand. Wenn sie am Leben der Unterschichten in Krieg und Frieden interessiert sind, werden sie einige ihrer bisherigen Ergebnisse überdenken müssen. Werke wie La vie quotidienne au temps de la Révolution (Robiquet 1938) müssen teils umgeschrieben werden, da sie kaum Quellen aus der Unterschicht verwenden. 4 Furet / Ozouf (1977) setzen die Massenalphabetisation erst für den Verlauf des 19. Jh. an. 5 Daten zugänglich unter www.pédagogie.ac-toulouse.fr. 260 Harald Thun 1.1.3 Umfang und Inhalt des Corpus Zum jetzigen Zeitpunkt, nachdem wir alle französischen Archives départementales und etliche andere, auch belgische und deutsche, besucht haben, umfasst unser Corpus über 65.000 Dokumente. Davon sind mehr als die Hälfte Primärtexte, die anderen beziehen sich als Sekundärtexte auf die Schreiber der Primärtexte, wie es z. B. die rapports de police bei Straffälligen oder Verdächtigen tun. Die allermeisten Texte sind intentional auf Französisch geschrieben worden, nur wenige Dutzend in anderen Sprachen. Eine Ausnahme bilden aber unter letzteren die deutschen und auch die flämischen Texte aus den von der Révolution und Napoléon inkorporierten Gebieten Belgiens und Deutschlands einerseits und die deutschen Texte aus dem 1871 vom Deutschen Reich annektierten Elsass und Lothringen andererseits. 1.1.4 Ausgangspunkt einer retrospektiven Suche Wie kamen wir zu unserem CHSF ? Stufenweise. Der Ausgangspunkt unserer Suche waren Briefe der soldats du rang des Ersten Weltkriegs. Von diesen waren schon viele bekannt und z.T. auch hinsichtlich ihrer Abweichungen interpretiert, etwa von Henri Frei (1929). Aber vor zehn Jahren waren noch wenige dieser Briefe veröffentlicht, in Freis Werk z. B. ist kein einziger Brief vollständig reproduziert. Mir schien es eine Untersuchung wert, der Frage nachzugehen, ob diese intensive Schreibtätigkeit der Unterschichten wirklich so plötzlich im Jahre 1914 einsetzte oder ob es nicht schon früher ähnliche Schreibanlässe und Reaktionen darauf in Form von Privatbriefen gegeben hat. Wie schon ausgeführt, ist es so. Die kollektive Schreibtätigkeit in der französischen Unterschicht setzt mit der Revolution von 1789 und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ein. Davor gibt es nur vereinzelte Briefe aus der Unterschicht (oder einige Autobiographien, wie die von Gerhard Ernst zusammengestellten; cf. Ernst / Wolf (2005)). 6 Wir haben aus der Zeit von 1789 bis 1815, dem Ende des napoleonischen Imperiums, über 3000 Soldatenbriefe gefunden. Es gibt in jedem département solche Briefe 7 und interessanterweise ist ihre Anzahl auch 6 Das große von F. Martineau geleitete Projekt Le français à la mesure d’un continent: un patrimoine en partage mit dem Teilprojekt FRAN (= Français d’Amérique du Nord ) führt in der Liste complète der Briefe nur 14 vor 1789 geschriebene Briefe auf, davon lediglich 2 aus Frankreich. Die meisten Verfasser gehören vermutlich nicht zur Unterschicht (Corpus zugänglich im Internet; cf. Martineau: 2017 online). 7 Die beiden Pionierinnen der Erforschung von Bürgerbriefen an staatliche Instanzen, Branca-Rosoff und Schneider, bedauern, dass sie im département Bouches-du-Rhône, anders als Staes (1994) in den Pyrénées-Atlantiques, keine Privatbriefe von Soldaten der Revolutionszeit gefunden (cf. Branca-Rosoff/ Schneider 1994: 7). Solche lettres intimes gibt Substandard und Regionalsprachen 261 in solchen départements hoch, die wie die bretonischen nicht als Stätten der frühen Alphabetisierung gelten. So besitzen die Archives départementales der Côte-d’Armor 264 Briefe einheimischer Soldaten aus der Revolutionszeit. Dies deutet wohl darauf hin, dass auch in anderen départements viel geschrieben, aber weniger aufbewahrt worden ist. 1.2 Kennzeichen des CHSF 1.2.1 Das CHSF ist diachron und flächendeckend Mit diesen Funden in ganz Frankreich war die Idee unseres Corpus Historique du Substandard Français geboren. Wir wollten und konnten die Schriftlichkeit der französischen Unterschicht, genauer gesagt die écriture populaire , 8 nicht nur in einer Epoche, etwa dem Ersten Weltkrieg, dokumentieren, sondern in ihrer Entwicklung von den Anfängen bis zu der Zeit, in der sich die Sprachwissenschaft intensiv mit ihr befasst. Das ist bekanntlich der Erste Weltkrieg. Warum haben wir diese letzte Periode miteingeschlossen? Erstens weil es immer noch, trotz der Grande Collecte , der Sammlung Europeana und wichtiger Corpora wie dem Corpus 14, 9 viel zu wenig publizierte Privatbriefe gibt und von diesen nicht alle den Anforderungen einer diplomatischen Edition entsprechen. Zweitens, weil sich unsere Schreibergruppen über die Soldaten hinaus entschieden vermehrt haben. Drittens, weil sich auch im Ersten Weltkrieg die Funktionen der Unterschichtenschriftlichkeit von der privaten Fernkommunikation mit Angehörigen, Freunden oder Ehepartnern auf andere Bereiche erweitert haben, wie die Eingaben an Behörden (Petitionen, Denunziationen, Drohbriefe), die im Gegensatz zu den Privatbriefen bislang kaum veröffentlicht worden sind. Die Dokumentenmenge erwies sich als ausreichend, für die Zeit von 1789 bis 1918 ganz Frankreich abzudecken und dazu auch Belgien. es aber auch in Marseille und im städtischen Archiv von Arles. Sie sind in der Tat nicht leicht zu finden. Wir haben dort insgesamt 50 Privatbriefe von Soldaten aus der Zeit der Révolution gefunden. 8 Zur Terminologie cf. Kap. 3. 9 Unter der Leitung von A. Steuckardt; cf. Steuckardt (2015: online). 262 Harald Thun 1.2.2 Die wichtigsten sozialen Gruppen der scripteurs populaires Die wichtigsten sozialen Gruppen, aus denen unsere Texte stammen, sind: (1) Die einfachen Soldaten ( soldats du rang ) und ihre Angehörigen. (2) Die Findelkinder und die sie aufnehmenden fast ausschließlich kleinbäuerlichen Familien. Seit der Revolution kümmert sich der französische Staat um die enfants trouvés , orphelins oder enfants de l’assistance und archiviert ihre Akten. Die große Anzahl der Findelkinder überrascht und spricht für die Not der Unterschichten im ganzen 19. Jh. und darüber hinaus. Durch die Akten der Findelkinder kommen wir an die Schriftlichkeit der ländlichen Unterschichten heran und können das Übergewicht der männlichen Schreiber in der ersten Gruppe mindern. (3) Die Zivilgefangenen, unter denen die Deportierten ( bagnards ) den größten Block bilden. Insgesamt hat man den Eindruck, dass in der Gefangenenpopulation die Unterschicht ein überproportional großes Kontingent stellt. Auch in dieser Gruppe sind die weiblichen scripteurs gut vertreten, sei es durch Gefangene oder durch Angehörige. (4) Die Prostituierten, ihre Kundschaft und sich beschwerende Nachbarn. Diese Schriftlichkeit setzt in den 30er Jahren des 19. Jh.s ein. Wir haben sie nur für Paris erfasst, der „capitale de l’amour facile“. 10 Auch in anderen großen Städten Frankreichs, besonders in den Hafenstädten, dürfte die Prostitution dokumentiert sein. Durch die zunehmende behördliche Kontrolle der Prostitution schwillt die Dokumentenflut im 19. Jh. an. Vertreten ist fast ausschließlich die weibliche Prostitution. Die Kundschaft, die sich informieren will oder sich beschwert, ist, wie zu erwarten, hauptsächlich männlich. Unter den sich beklagenden Anwohnern finden wir männliche und weibliche scripteurs . (5) Die Auswanderer. Bekanntlich ist Frankreich schon im 19. Jh. Einwanderungsland. Auswandererbriefe dürften deshalb viel seltener sein als etwa in Italien oder Deutschland. Größere Bestände haben wir nur in den klassischen Auswandererregionen gefunden, wie etwa im Südwesten. Mehr Briefe als in den Archiven werden sich in Privatbesitz befinden. 11 10 Dies ist die Bedeutung des chinesischen Schriftzeichens für Paris. 11 Die meisten Auswandererbriefe, die wir in Archiven gefunden haben, befanden sich in Notariatskonvoluten. Es gibt sonst wenige Gründe, damit diese Privatbriefe in offizielle Institutionen gelangen. Zu Briefen in Privatbesitz cf. etwa Mehats (2005: 41, Anm. 43): „ces lettres, au nombre de cinq, nous ont été transmises par Mme Goyenetche qui les avait trouvé [sic] dans une ferme de Lekumberry qu’elle venait de racheter.“ Substandard und Regionalsprachen 263 (6) Kleinere Gruppen wie ausländische Einwanderer oder Anarchisten. Sie gehören in der Regel alle zur Unterschicht, wie man diese auch soziokulturell oder ökonomisch definieren mag. 1.2.3 Die wichtigsten Funktionen der Schriftlichkeit bei den scripteurs populaires Zu den wichtigsten Funktionen, die sich die Unterschichten mit der Schriftlichkeit erobert haben, zählt nicht nur die Fernkommunikation als Mitteilen gegenwärtiger Geschehnisse, sondern auch das Ordnen der eigenen Angelegenheiten, das die Gegenwart für die Zukunft festhält, das Bewahren vergangener Geschehnisse zum Zwecke der künftigen Erinnerung und das in die Zukunft greifende Eindringen in die Welt der Zeichen und Bedeutungen, das protokollhaft dokumentiert wird. Nach dem Material des CHSF sind es folgende Funktionen und Textsorten: 1. Fernkommunikation ( correspondance privée: lettres ) 2. Distanzkommunikation zur Verteidigung der eigenen Rechte gegenüber den Behörden oder als Reaktion auf ihre Aufforderungen ( fonction civique / correspondance particulière: pétitions, plaintes, dénonciations ) 3. Verwaltung des eigenen Besitzes oder oikos ( gestion du bien: livres de raison, recettes ) 4. Festhalten der Erinnerung ( mémoire ) 5. Eindringen in geistige Welten zu praktischen Zwecken („entrée dans le monde des signes et des idées“, z. B. Wörterverzeichnisse in anderen Sprachen, die sich ein Soldat zusammenstellt) 6. Schreiben in anderen Sprachen als dem Französischen ( écritures alternatives ) Es ist klar, dass diese Funktionen kombiniert werden können und z.T. sogar kombiniert werden müssen. Letzteres ist etwa der Fall bei den écritures alternatives , die immer einer der Funktionen 1. bis 5. dienen. 1.2.4 Aufgabe der Beschränkung auf den Privatbrief Aus der vorgehenden Aufstellung geht hervor, dass wir es bei der Suche nach devianten Texten nicht beim Privatbrief belassen haben. Während wir zunächst mit der Mündlichkeits-Schriftlichkeitsforschung der Ansicht waren, dass der Privatbrief eher mit geringem Planungsaufwand hergestellt wird, durch die Nähebeziehung ähnlich der mündlichen Rede Spontaneität begünstigt und damit weniger normative Selbstkontrolle verursacht, also potentiell mehr Devianz, sahen wir schnell, dass etwa Briefe an die Obrigkeit (Nr. 2, fonction civique ) keineswegs weniger Normabweichungen enthalten als Privatbriefe, sondern 264 Harald Thun eher mehr. Der Grund liegt wohl in der größeren Anspannung der Schreiber, die ein für sie sehr ernstes Anliegen antreibt, sich in einer ungewohnten Textsorte zu bewegen, und die, weil sie ihr Ziel besonders gut erreichen wollen, besonders häufig daneben zielen (cf. den zweiten und dritten Text in Kap. 6). 1.2.5 Präzisere Festlegung des Dokumentationsziels: deviante Texte der écriture populaire Bei der Auswahl der Texte im Archiv und dann, am eigenen Schreibtisch, bei der sprachwissenschaftlichen Interpretation der Dokumente, die publiziert werden sollten, sind die Standardnormen als tertium comparationis immer dabei. Es stellte sich nun die Frage, wie wir bei der Dokumentation vorgehen wollten. Es wäre verlockend gewesen, die gesamte Unterschichtenschriftlichkeit, die deviante und die Standardnormen entsprechende, zu dokumentieren. 12 Dies würde bedeuten, dass das nicht-sprachliche, vielmehr sprachsoziologische Kriterium der Schichtenzugehörigkeit an die oberste Stelle in der Kriterienhierarchie rückt. Das ist eigentlich sinnvoll, wenn man die Entwicklung der écriture populaire darstellen will. Während in der Zeit der Révolution und des Ersten Kaiserreichs fast jeder Soldatenbrief deviant ist, wird es in der Folgezeit immer schwieriger, wenn auch nicht unmöglich, deviante Texte zu finden. Damit würden wir uns aber einerseits zu viel vornehmen, andererseits zu wenig. Das Corpus der gesamten Schriftlichkeit der Unterschicht müsste auch die normgetreuen Texte einschließen. Diese nehmen im Laufe der rund 130 Jahre, die das CHSF abdeckt, immer mehr zu und stellen im Ersten Weltkrieg die Mehrheit der Texte. Ein solches Corpus könnten wir nicht in der Menge und noch weniger in der notwendigen begleitenden Interpretation bewältigen. Andererseits blieben die devianten Texte aus der Nicht-Unterschicht unberücksichtigt. Mancher Adlige schrieb abweichender als seine Haushälterin, mancher Revolutionsgeneral stand in der devianten Schriftlichkeit seinen Grenadieren in nichts nach. Solche Beispiele aus der Nicht-Unterschicht bestärken nach unserer Ansicht den Status der écriture populaire als Alternative, die nicht an eine soziale Schicht gebunden ist, zur normgesteuerten Schriftlichkeit. Aus diesen beiden Gründen, nämlich der Einsicht in die notwendige Begrenzung des Corpus und des typologischen Wertes devianter Texte aus der Nicht-Unterschicht, trat das Kriterium der Devianz an die oberste Stelle in der Kriterienhierarchie. Wer den Verlust der Monopolstellung der Unterschicht bedauert, der kann getröstet werden. Die allermeisten devianten Texte in unserem Zeitraum stam- 12 Denn auch die nicht-deviante Schriftlichkeit der Unterschicht ist der Sprachgeschichtsschreibung kaum bekannt. Substandard und Regionalsprachen 265 men aus der Unterschicht, deviante Texte aus anderen Schichten sind im ganzen gesehen vergleichsweise selten. So bleibt unser Corpus faktisch, aber nicht definitorisch, in der Hauptsache eine Sammlung von Unterschichtentexten, aber eben nicht ausschließlich. Das CHSF zeigt, dass für jeden, der keine ausreichende formale Alphabetisierung genossen hat, die écriture populaire eine Möglichkeit ist, auf schriftlichem Wege seine Kommunikationsziele zu erreichen. Durch den Entschluss, ausschließlich deviante Texte in das Corpus aufgenommen, setzt man sich dem Vorwurf aus, für die späteren Jahrzehnte die Schreibkünste der französischen Bevölkerungsmehrheit in ein schlechtes Licht zu rücken, weil vom Standpunkt der Standardsprache aus gesehen immer die schlechtesten Schreiber berücksichtigt werden und nie die guten, deren Zahl doch zunimmt. Das könne der Repräsentativität des Corpus nur schaden. Wir haben es trotzdem bei der Beschränkung auf deviante Texte belassen und noch dazu, wenn wir die Wahl hatten, die jeweils deviantesten ausgesucht. Aber wir haben uns zu einem Kompromiss entschlossen. Zwar reproduzieren wir die nicht-devianten Texte nicht, wir weisen aber in den Einleitungen zu jedem Kapitel, in dem die Texte nach départements geordnet sind, auf das Verhältnis von devianten zu nicht-devianten Dokumenten hin, soweit wir es aus den Archivbeständen erkennen konnten. Das gilt auch für die écriture alternative. So erläutern wir z. B. im Falle eines scripteur populaire , von dem wir mehrere nicht-deviante Briefe haben und nur einen in einer Regionalsprache: „seul texte écrit en gascon parmi plusieurs lettres en français non-déviant que le scripteur, soldat de la Première Guerre mondiale, a adressées à son épouse.“ Neben der Zielsetzung des Corpus und neben den als Ausgleich gedachten Hinweisen auf die Relation zwischen deviant und nicht-deviant gibt es noch einen dritte Rechtfertigung des Verzichts auf die Wiedergabe normgerechter Texte: Unsere devianten Texte können schon untereinander verglichen werden und sie können mit sich selbst verglichen werden. Keiner unserer abweichenden Texte ist in allen seinen Teilen deviant. Es werden immer Bausteine verwendet, die aus der Standardsprache stammen oder zumindest mit standardsprachlichen Elementen identisch sind. Je näher man dem Ende der von uns überblickten Zeit kommt, desto mehr nehmen abweichende Texte und Abweichungen in den Texten ab, ohne allerdings ganz zu verschwinden. Während die Devianz als oberstes Kriterium faktisch an der Zuordnung der meisten Texte im CHSF zur Unterschicht wenig änderte, führte die Erweiterung der Textsorten dazu, dass sich Privatbrief ( correspondance privée ) und Brief an eine staatliche Instanz ( correspondance particulière ) den ersten Platz auf der 266 Harald Thun Häufigkeitsliste teilen, 13 in weitem Abstand vor den Vertretern der übrigen genannten Textsorten ( mémoire, livre de raison , etc.). Beträchtlich zum jetzigen Umfang des CHSF hat auch der Übergang vom Privatbrief des soldat du rang zur schriftlichen Produktion des scripteur populaire aus allen oben genannten sozialen Gruppen geführt. 1.3 Zusammenfassung Das CHSF ist der Versuch, zur Schließung der großen Lücke in der französischen Sprachgeschichtsschreibung beizutragen. Diese Historiographie ist bislang über weite Strecken eine Geschichte der Sprache einer elitären Minderheit. Das CHSF steuert Material zur Sprachgeschichte der Mehrheit in einem Zeitraum von ca. 130 Jahren bei (1789-1918). Dokumentiert werden deviante Gebrauchstexte aller Art. In ihrer Mehrzahl sind sie in der Unterschicht entstanden. Die Dokumentation ist flächendeckend und diachron. Sie umfasst ganz Frankreich und das Gebiet der belgischen und deutschen (rhenanischen und moselanischen) départements , die zur Zeit der Revolution und des Premier Empire Frankreich angegliedert worden waren. Unsere diatopische Grundeinheit ist das département . Mehrere départements fassen wir in historischen Regionen zusammen, wobei wir uns an den Stand vor dem 17. Dezember 2014 halten, der Frankreich in 22 Regionen einteilte. Die darauf folgende Reduzierung auf 14 Regionen entspricht kaum noch den Verhältnissen im Ancien Régime und damit weniger der sprachlichen Vorgeschichte unserer écriture populaire . Chronologisch haben wir die Zeit von 1789 bis 1918 zunächst in drei Perioden eingeteilt, deren Länge von der Ergiebigkeit an Soldatenbriefen abhing und die deshalb eine sehr unterschiedliche Ausdehnung hatten. Besonders die 2. Periode war mit fast 100 Jahren viermal so lang wie die erste Periode und fünfundzwanzig Mal so lang wie die 3. Periode. Dieses Ungleichgewicht konnten wir verringern, weil das Devianzkriterium das Monopol der Soldatenbriefe und der Privatbriefe aufhob und andere Textsorten zuließ und weil wir das reiche Material entdeckten, das die Dossiers der bagnards in den Archives Nationales d’Outre- 13 In der Korrespondenz der Gefangenen überwiegt allerdings bei weitem die correspondance particulière vor der correspondance privée . Dies ergibt sich schon aus dem digitalen Katalog der ANOM. Ein Grund dafür ist vermutlich die Tatsache, dass jede Eingabe eines Gefangenen Teil seiner Akte wird, die aufbewahrt werden muss, während die Privatkorrespondenz durch Einschränkungen und Zensur behindert wird und die empfangene Korrespondenz des Gefangenen, wenn sie nicht konfisziert wird, zu seinem Eigentum wird, das er nach der Entlassung mitnehmen und so der Archivierung entziehen kann. Substandard und Regionalsprachen 267 Mer und die der Prostitution in den Archives de la Préfecture de Police de Paris bieten. Die Strafgefangenen und die Prostituierten kamen aus ganz Frankreich. Sie haben über einen langen Zeitraum geschrieben. Mit ihren Briefen und denen ihrer Angehörigen bzw. Kunden oder Nachbarn ließen sich diatopische und diachrone Lücken schließen und dazu eine bessere Balance zwischen männlichen und weiblichen Schreibern herstellen. Unsere Periodisierung sieht nun so aus: • Première Période: 1789-1815, Révolution et Premier Empire • Deuxième Période a): 1816-1869, De la Restauration jusqu’à la veille de la Guerre franco-allemande • Deuxième Période b): 1870-1913, De la Guerre franco-allemande jusqu’à la veille de la Première Guerre mondiale • Troisième Période: 1914-1918, La Première Guerre mondiale Vorrangiges Ziel ist die Bereitstellung zuverlässig edierter Texte in diplomatischer Transliteration, 14 die sprachwissenschaftlich und historisch kommentiert werden und den Zugang zum Original in Form eines digitalen Photos ermöglichen. Das CHSF erfasst auch Gebrauchstexte in den langues régionales Frankreichs, die nach den gleichen Prinzipien wie die devianten französischen Texte behandelt werden. 2 Drei allgemeine Erkenntnisse aus der Arbeit des CHSF 2.1 Die Französische Revolution ist eine révolution de la communication Die große Menge an Dokumenten, die wir schon für die Zeit der Revolution und für das Erste Kaiserreich gefunden haben, belegt, dass sprachlich gesehen die Grande Révolution eine révolution de la communication war. Ihr Träger ist die Unterschicht. Während der Vierte Stand in den politischen und sozialen Umwälzungen nur Instrument des Dritten Standes war und in den militärischen Aktionen Werkzeug des neuen Ersten Standes, wendet sich die beginnende Massenkommunikation oft gegen die staatlichen Interessen der Republik, des Ersten Kaiserreichs und der folgenden Staatsformen oder sie schafft zumindest Bereiche, aus denen die staatlichen Instanzen ferngehalten werden. Es wurde im Zuge dieser révolution de la communication von den Unterschichten nicht nur versucht, auf Französisch zu schreiben, sondern - allerdings 14 Auf dem Server der Universitätsbibliothek Kiel mit einem Link zu den jeweiligen Archiven. Um den konservativen Benutzern entgegenzukommen, zu denen auch der Verfasser dieses Artikels gehört, beabsichtigen wir auch eine Buchedition, die Dokumente aus 11 départements enthalten wird, also etwa ein Zehntel des Gesamtmaterials. 268 Harald Thun viel seltener - auch in den anderen Sprachen Frankreichs. 15 Unter diesen Texten interessieren uns wie im ganzen Corpus in erster Linie die Gebrauchstexte, da sie, wie Heinz Kloss (1978: 40-46) überzeugend gezeigt hat, deutlicher als die fiktionalen oder literarischen Werke die Vitalität einer Varietät bekunden. Es ist nicht erstaunlich dass in der neuen Histoire sociale des langues de France (cf. Kremnitz 2013) Unterschichtentexte wie die im CHSF versammelten nicht verwendet wurden. Sie waren ja nicht bekannt. Man wundert sich aber, dass abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie z. B. dem Baskischen, nicht einmal die Frage aufgeworfen wird, ob es Schriftlichkeit, die zu Gebrauchstexten führte, in den nichtfranzösischen langues de France nicht doch gegeben habe. Warum ist diese révolution de la communication nicht früher bemerkt worden? Erstens, weil zumindest die Sprachwissenschaft nicht nach ihr gesucht hat, 16 zweitens, weil sie es versäumt hat, in die Nachbardisziplinen, besonders in die Geschichtswissenschaft, zu schauen, 17 drittens, weil die Texte in den Archiven gut versteckt sind. Der Zusammenstellung unseres CHSF waren die Findbücher und Signaturgruppen der französischen Archive, trotz ihres für alle archives départementales identischen Systems, wenig hilfreich. Wären unsere Schreiber keine kleinen Leute ( petites gens ), sondern Dichter, Künstler, Diplomaten oder Generäle, so hätten sie eigene Kennungen erhalten. So aber mussten ihre schriftlichen Hinterlassenschaften in Konvoluten der verschiedensten Arten aufgespürt werden, z. B. in der correspondance passive irgendeines Notars, dessen Nachlass als Schenkung an das Archiv gegangen ist. Es gibt aber auch Ausnahmen. Wenn man erst einmal weiß, von welchen sozialen Gruppen innerhalb der Unterschicht man Texte erwarten kann, dann wird man in spezialisierten Archiven schnell fündig. So in den Archives Nationales d’Outre-Mer ( ANOM ) in Aix-en-Provence, die Akten über mehr als 70.000 Sträf- 15 Lajeunie (1981) vermutet, wohl zu Recht, dass für den citoyen die Wahl des Französischen als Schreibsprache ein Akt der Identifikation mit der Révolution und der Republik war. Bacconnier / Minet / Soler (1985: 19-20, Reproduktion) berichten in ihrer thematisch geordneten Darstellung nur von drei auf Okzitanisch geschriebenen Postkarten unter 6.583 Briefen. 16 Und wenn sie in Ausnahmefällen doch etwas gefunden hat, dann galten diese Texte als Einzelfälle. Ein anderer Grund liegt in der mangelnden Zusammenarbeit zwischen Sprach- und Geschichtswissenschaft (cf. Thun 2011). Es ist schon erstaunlich, dass auch ein Großcorpus von 1.183 Soldatenbriefen aus der Napoleonzeit, die in Liège lagern und die von Fairon / Heuse (1936) vorgestellt und ausgewertet werden, so weit ich sehe, nicht von der Sprachwissenschaft beachtet wurde. 17 Allerdings sind auch nicht wenige Historiker überzeugt, dass z. B. Soldatenbriefe aus unserer ersten Periode selten seien. So Tulard in der Préface zu Bouscayrol (1989: 7-8). Es muss zudem gesagt werden, dass die Texte in historischen Werken in der Regel korrigiert und modernisiert werden, so dass sie für sprachwissenschaftliche Zwecke kaum brauchbar sind. Substandard und Regionalsprachen 269 linge aufbewahren, die zwischen 1852 und 1953 nach Guyane oder Nouvelle Calédonie deportiert wurden. Über den digitalen Katalog kommt man bis zur Information, ob in den Akten eines Sträflings auch correspondance privée oder correspondance particulière (meist Gesuche an die Justizbehörden) enthalten sind. 18 Ähnlich gute Bedingungen gewähren die Archives de la Préfecture de Police in Paris, in denen die Dossiers über die Prostituierten und die Anarchisten leicht zu finden sind. 19 Nur muss man erst einmal auf den Gedanken kommen, dass Sträflinge, Prostituierte und politisch Radikalisierte Grund hatten, zu schreiben und dass diese Schriftstücke an zugänglichen Orten aufbewahrt worden sind. 2.2 Die révolution de la communication setzt plötzlich ein und wirkt langfristig Wie schon erwähnt, beginnt mit der Französischen Revolution die Massenproduktion von Texten in der Unterschicht. Für die Zeit davor gibt es aus der Bevölkerungsmehrheit nur Hinweise auf einzelne Schreiber (cf. Ernst 2005; v. supra FN 6). Die Massenproduktion hält mit unterschiedlicher Intensität bis zum Ersten Weltkrieg, einem Höhepunkt dieser Textproduktion, an und hört bis heute nicht auf. Als révolution de la communication setzt die Révolution française ein Massenphänomen de longue durée in Gang. Wenn man die einzelnen Textsorten betrachtet, dann fließt der Strom der Daten aber nicht gleichmäßig. Nach dem Premier Empire werden die Soldatenbriefe selten, bis sie im Ersten Weltkrieg sprunghaft zu gewaltigen Mengen anschwellen. Die Eingaben an Behörden hingegen bleiben häufig. 18 Das ist in ungefähr 14.000 dossiers individuels der Fall. Die Eingaben an Behörden ( correspondance particulière ) überwiegen bei weitem. Ihnen stehen etwa 1000 Dossiers gegenüber, die nur oder auch Privatbriefe enthalten. Die Zahl der einzelnen Briefe beider Kategorien ist größer, denn oft findet man mehrere Briefe in einem Dossier. Der digitale Katalog gibt keine Zahlen an, sondern informiert nur darüber, ob überhaupt correspondance particulière oder privée vorliegt. Die Gesamtzahl der Briefe dürfte bei über 30.000 liegen. Davon ist nach unserer bisherigen Erfahrung, die sich auf eine Woche Arbeit im ANOM stützt, vielleicht ein Drittel deviant. Dies alles nur als Beispiel, mit welchen Materialmengen man in einigen Archiven zu rechnen hat. Unser Ziel ist es, den Gesamtbestand des ANOM an devianten Briefen zu erfassen. 19 Besser gesagt: „gewährten“, denn leider sind seit kurzem auch die Archives de la Préfecture de la Police de Paris von der Krankheit betroffen, die fast alle neu eingestellten Archivare und Bibliothekare befällt: der Neuordnung der Bestände. Während man bis vor kurzem ganze Kartons ( boîtes ) mit Dutzenden von dossiers bekam, erhält der Benutzer heute nur noch die einzelnen dossiers und zwar in derselben Anzahl wie früher die Kartons. Da nur ein kleiner Teil der dossiers interessantes Material enthält, findet man, wenn das Glück einem nicht hold ist, an manchen Tagen gar nichts. 270 Harald Thun 2.3 Neben das français standard tritt als neue Varietät die écriture populaire (écriture populaire française und écritures alternatives) Die Massenproduktion von Texten aus der Unterschicht bedeutet nicht, dass wir alle Texte gebrauchen konnten. Unser Ziel war es, ein Corpus des Substandards zusammenzustellen. Viele Schreiber, die sich eindeutig als Unterschichtenangehörige identifizieren lassen, schreiben gemäß den Regeln des Standards. Und im Laufe der Zeit werden es immer mehr. Wir standen also vor der Aufgabe, Kriterien der Auswahl zu entwickeln. Diese Kriterien mussten leicht anwendbar sein, denn wegen der riesigen Materialmenge, der großen Anzahl der Archive und unserer begrenzten Zeit musste die Selektion zügig vonstatten gehen. Leicht war das Erkennen von nicht-französischen Texten ( écriture alternative ). Für die Identifikation von Texten des französischen Substandards haben wir recht bald einen Katalog von Kriterien aufgestellt, die alle visuell erkennbar sind und keine Struktur- oder Bedeutungsanalyse erforderten. Dazu gehören Besonderheiten der Segmentierung, Elemente der phonetischen Schreibung, fehlende Diakritika (Apostroph, Akzente) und Interpunktion. Auf einige dieser Merkmale wird weiter unten eingegangen. Unsere Suchkriterien und die spätere genauere Analyse der Texte führten direkt zur dritten allgemeinen Erkenntnis des CHSF : Die intentional auf Französisch geschriebenen Texte sind von so großer Zahl und so überraschend gleichartig in ihren Abweichungen von der normierten Standardsprache, dass wir glauben, nicht nur einige Einzelphänomene aufgespürt, sondern einen ganzen, relativ eigenständigen und in sich zusammenhängenden Komplex von Verschriftungstechniken und -traditionen entdeckt zu haben. Die révolution de la communication führte ab 1789 zur Herausbildung einer neuen Varietät. Man könnte von einem Pendant zu den französischen Kreolsprachen sprechen. Nur bewegen wir uns hier nicht in der Mündlichkeit, sondern in der Schriftlichkeit. Diese schriftliche Varietät , nennen wir sie zunächst français substandard , ist normfern, sie folgt eigenen Gesetzen und besetzt in der Schreibpraxis der Bevölkerung einen bedeutenden Platz neben dem français standard , das die staatlichen Bildungsinstanzen verbindlich zu vermitteln versuchen. Die révolution de la communication schlug zunächst nicht den Weg zum français standard ein, sondern bildete unter den Bedingungen des Bildungsnotstands und des dringenden Kommunikationsbedürfnisses ein français substandard aus. Dieses nähert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts dem français standard an, bleibt aber bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, und wohl noch darüber hinaus, in Gebrauch. Es baut allerdings viele normferne Besonderheiten ab und wird im Laufe der Zeit weniger verwendet. Substandard und Regionalsprachen 271 3 Terminologische Vorschläge 3.1 Bezeichnung der neuen schriftlichen Varietät Welchen Terminus soll man für diese Schriftlichkeit der Bevölkerungsmehrheit wählen? Écriture substandard wäre ein Kandidat. Der Terminus fasst alle Varietäten zusammen, die sprachsoziologisch unter dem Standardsprache stehen (v. infra Kap. 5.3). Aber es ist ein relationeller Begriff, der nicht passt, wenn es um die Autonomie dieser schriftlichen Varietät und um ihren Charakter als Massenphänomen geht. Man könnte auch an français inorthographique denken und sich dabei auf die Begriffsweite berufen, die orthographique in der Tradition der französischen Grammatikterminologie hat, wo von orthographe d’usage ( = lexicale ) und orthographe grammaticale gesprochen wird (cf. Rey 1998, s.v. orthographe ). Neben dem Vorteil, dass mit orthographique der Bezug zur Schriftlichkeit klargestellt wird, hat aber auch dieser Terminus Nachteile, und zwar gleich zwei gewichtige. Einerseits schließt er weder die niedrigste Ebene ein, die der einzelnen Grapheme, noch die höchste Ebene, die der Textgestaltung. Beide Niveaus müssen aber berücksichtigt werden, da auch auf ihnen, und nicht nur auf den Ebenen des Lexems und der grammatischen Konstruktionen, Besonderheiten entwickelt werden. Auf der Ebene des Graphems sind dies z. B. die Abwesenheit von Diakritika wie Akzente oder Apostroph oder aber die durchgängige Verwendung nur eines Akzents (meist des accent grave ). Auf der Ebene des Textes könnte man die explizite metasprachliche Ankündigung des Themenwechsels nennen („je vous dirai aussi que…“). Der zweite Nachteil besteht darin, dass inorthographique als Verneinung von orthographique wie substandard ein relationeller Begriff ist, der die Selbständigkeit der von uns erfassten Schriftlichkeit infrage stellt. Damit scheidet wie écriture substandard auch français inorthographique als allgemeiner, neutraler Begriff aus. Wir können aber beide Termini beibehalten, wenn es um den sprachsoziologischen Status oder um den linguistischen Vergleich mit dem schriftlichen Standard geht. Es deutet sich schon an, dass es wohl am besten ist, zwei Arten von Termini bereitzuhalten, je nachdem, ob die Varietät für sich betrachtet oder mit anderen Varietäten verglichen wird. Geht es darum, die weitgehende Selbständigkeit dieser Schriftlichkeit und ihren Charakter als Massenphänomen zu betonen, dann schlage ich vor, von écriture populaire zu sprechen. Die intentional auf Französisch geschriebenen Texte wären dann écriture populaire française, die in anderen Varietäten geschriebenen écriture populaire basque usw. Wird aber die Vergleichsperspektive eingenommen, dann bleibt, wie schon bemerkt, écriture substandard als relationeller Sammelbegriff brauchbar, und, wenn es nur um Le- 272 Harald Thun xeme und grammatische Konstruktionen geht, auch français inorthographique, basque inorthographique usw. 3.2 Bezeichnung der Schreiber dieser neuen Varietät Für die Verfasser der écriture populaire werden Termini wie peu-lettré, semicolto oder ungeübter Schreiber verwendet, von denen der letzte noch der beste ist, weil er nicht den doppelten Bezug auf ‚alphabetisiert‘ und ‚gebildet‘ einschließt, sondern nur den auf ‚alphabetisiert‘. Mit lettré und colto dürfte immer das Bildungsideal der Nicht-Unterschichten gemeint sein. Damit würde das Kulturgut der Unterschichten ausgeschlossen und die Bildung nach Mittel- und Oberschichtenvorstellungen zur einzig erstrebenswerten erklärt oder sogar für die einzig existierende gehalten. Es ist klar, dass man die Analyse der Texte der écriture populaire mit offenem Blick beginnen muss und nicht mit Blindheit für mögliche eigenständige Bildungsinhalte. ‚Ungeübter Schreiber‘ passt nur, wenn damit das Schreiben in der Standardsprache gemeint ist. In diesem Sinne schließen auch wir, wie in der Forschung üblich, solche Verfasser zunächst aus, die in ihrem Beruf häufig in der Standardsprache schreiben müssen, wie etwa öffentliche Schreiber, Anwälte und auch Kaufleute, es sei denn, ihre Texte sind dennoch deviant. ,Ungeübt‘ zielt aber an der Tatsache vorbei, dass auch Schreiber, die Substandardtexte verfassen, Übung in der écriture populaire erlangen können. Das sehen wir bei den nicht wenigen Unterschichtenangehörigen, von denen wir viele Briefe haben 20 oder etwa bei dem Schneider Pierre Bergez aus dem Örtchen Jurançon in den damaligen Basses-Pyrénées, der eine Geschichte der Revolutionen von 1789 und 1830 geschrieben, sich über gaskognische Zaubersprüche ausgelassen und über die Ausgaben für seinen Hausbau ausführlich Buch geführt hat (cf. Lajeunie 1981), dies alles in weit von der Standardnorm entfernter Sprache mit merklichem Einfluss des Gaskognischen. 21 Wir schlagen scripteur populaire vor , 22 oder, wenn der relationelle Aspekt im Vordergrund steht : scripteur du substandard . Diese Termini haben zumindest den Vorteil, dass sie nicht schichtenspezifische Merkmale in den Vordergrund 20 Besonders aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Aber schon in der Ersten Periode gibt es ausgesprochene Vielschreiber. 21 Eine erste, allerdings weniger sprachliche als geschichtliche Interpretation gibt Lajeunie (1981) (v. supra FN 15). Auch die Verfasser der Autobiographien, die Ernst (2005) herausgegeben hat, haben Übung erlangt. 22 Abgekürzt aus scripteur de l’écriture populaire . Ein deutsches Äquivalent zu finden, ist schwierig. ‚Volksschriftlichkeitsschreiber‘ ist zu kompliziert. Geeignet ist der relationelle Terminus ‚Substandardschreiber‘ . Substandard und Regionalsprachen 273 stellen. So wird verhindert, dass Schreiber, die nicht der Unterschicht angehören, aber deviant schreiben (v. supra) ausgeschlossen werden. Andererseits werden Unterschichtenangehörige, die nach den Regeln der Standardsprache schreiben, nicht eingeschlossen. 3.3 Bezeichnung der Einzelfakten der neuen Varietät: Devianz Auch der Terminus ‚Devianz‘ ist relationell. Wir verwenden ihn, wenn Einzelphänomene identifiziert werden sollen, z. B. die Infinitivendung statt des Morphems der zweiten Person ( vous minformer statt vous mʼinformez) und der Vergleich mit der Standardsprache heuristisch nötig ist. Das ist, wie schon bemerkt, bereits bei der Suche nach Texten der écriture populaire in der Masse der Archivdokumente nötig, später dann auch bei der Analyse. Das CHSF setzt sich dafür gewissermaßen die Brille des Standardfranzösischen auf und listet alles auf, was anders wäre, wenn der Text gemäß den Normen der Standardsprache geschrieben worden wäre. Natürlich nehmen wir nicht die wertende oder gar abwertende Haltung der rabiaten Normvertreter ein, sondern konstatieren nur und vermeiden Termini wie faute , erreur , barbarisme und selbst incorrect . In einem zweiten Schritt versuchen wir die devianten Einzelfakten zu klassifizieren und in einem dritten Schritt, sie zu erklären. Unter unseren Texten der écriture populaire sind allerhöchstens die der écriture alternative , also die in anderen Sprachen als Französisch geschriebenen, im Ganzen deviant, eben weil sie nicht auf Französisch geschrieben worden sind. Und auch hier finden sich Elemente aus der französischen Standardsprache, Gallizismen aller Art. Die Analyse dieser Texte aus der écriture alternative ist im Grunde erst vollständig, wenn der Vergleich mit dem Standardfranzösischen und der Vergleich mit der eigenen Standardnorm, falls eine solche existiert, durchgeführt wurde. Dafür geben wir im empirischen Teil ein Beispiel aus dem Katalanischen. Auf die Typen der Devianz gehen wir weiter unten noch einmal ausführlich ein. Bis auf sehr seltene Ausnahmen, die wohl pathologisch bedingt sind, ist keiner unserer intentional auf Französisch geschriebenen Texte durchgehend deviant. Die écriture populaire ist, nach der Herkunft ihrer Bestandteile zu urteilen, heterogen. Sie ist aus Elementen verschiedenen Ursprungs zusammengesetzt und dabei doch nicht chaotisch zusammengewürfelt, sondern mit wiederkehrenden Bestandteilen und nach erkennbaren Mustern gebaut. Unter den Bestandteilen und Mustern sind auch solche der Standardsprache. Hieraus folgt, dass ein Text der écriture populaire schon mit sich selbst verglichen werden kann, etwa nach dem Verhältnis standardsprachlicher und nichtstandardsprachlicher Elemente. Möglich und wichtig ist auch, und zwar in synchroner wie in diachroner Per- 274 Harald Thun spektive, der Vergleich der devianten Texte untereinander, um z. B. die Devianz in Texten aus unterschiedlichen sozialen Schichten zu vergleichen oder um den Abbau der Devianz zu verfolgen. Die Wahl der Perspektive des Standardfranzösischen als Vergleichsgrundlage entspricht drei gut erkennbaren Tendenzen: (1) Die meisten Schreiber wollen auf Standardfranzösisch schreiben („intentionales Standardfranzösisch“); es ist ihnen aber nicht oder nur zum Teil gelungen. 23 (2) Der Vergleich mit der Standardsprache entspricht im Großen und Ganzen den Machtverhältnissen in der französischen Alphabetisierungs- und Bildungsgeschichte seit der Révolution. Alles was nicht französisch und nicht korrekt oder orthographique ist, wird seitens des Staates bedrängt. (3) Im Verlauf der etwa 130 Jahre, die wir überblicken, nähert sich die écriture populaire der Standardsprache an, ohne allerdings ganz mit ihr zu verschmelzen. 4 Die écriture populaire weist Regelmäßigkeiten auf 4.1 Die écriture populaire ist kein Chaos Erste Versuche, unser Corpus im ganzen zu charakterisieren (in Vorlesungen), und erste Detailanalysen in Form von Qualifikationsschriften 24 zeigen, dass man nicht der puristischen Versuchung nachgeben darf, die Texte der écriture 23 Eine interessante Frage, die wir an anderer Stelle ausführlich zu beantworten versuchen, betrifft das Verhältnis zwischen écriture standard und écriture populaire im Bewusstsein ihrer Vertreter. Während die Normvertreter die écriture populaire diffamieren oder parodieren, haben die scripteurs populaires von der écriture standard oft wenig oder keine Ahnung. So schreibt ein gewisser C. J. Bayard um 1794 an die Société populaire de Reims: „èxcùsez Braves citôyens de la libèrté queje prênds […] jene puis pas mêxprimer autrement c’èst que n’ayant pas eu assez déducation pour pouvoir vous prouver ce quun autre pourroit dire“ (AM 51 Reims, FR 2i 87). Und der gaskognische Veteran Pené ( Premier Empire ) leitet seine Memoiren mit orthographischer Selbstkritik und mit Kritik am Schulwesen seiner Jugend ein: „Si quelqu’un veut prendre ̷ la ̷ peine / de ̷ lire le récit de ̷ mes ̷ promenades, qúil / ne soit pas surpris, s’il ný trouve pas / l’orthographe [das erste <h> und das zweite <o> nachträglich hinzugefügt], je ̷ nái pue la mêttre, attendu / que je ne ̷ l‘ai jamais Connue; ayant / quitté l’Ecole a ̷ 13 ans, jétait trop jeune / pour l’apprendre; au ̷ Surplus les / Instituteurs des campagnes, de ce temps / ne ̷ la connaissaient pas eux mêmes“ (der kleine Schrägstrich deutet in unserer Transliteration die scripta continua an, der große den Zeilenwechsel; der transliterierte Text ist veröffentlicht von Staes 1994: 273-319). 24 So in der abgeschlossenen aber bisher unveröffentlichten Kieler Habilitationsschrift von Joachim Steffen (2015) und in mehreren Dissertationen, die sich in Arbeit befinden. Substandard und Regionalsprachen 275 populaire für ein Riesenchaos neben dem wohlgeordneten Reich des français standard zu halten. Man täuscht sich ebenfalls, wenn man meint, sie sei konzeptionell ganz vom code oral gesteuert und materiell bei der Graphemwahl ganz vom phonischen Prinzip gelenkt. 25 Die écriture populaire ist in einer kollektiven Notlage entstanden, in der die private mündliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht nicht mehr möglich war und ein Mittel zur Fortsetzung der Mitteilung über weite Entfernungen hinweg gesucht wurde. Dann erwies sie sich auch für andere Zwecke als nützlich und erweiterte den privaten Bereich um den des Kontakts mit staatlichen Instanzen und den der Kommunikation mit Anderen um die monologische Beschäftigung mit den eigenen Angelegenheiten. Wir gehen zunächst auf die zeichentheoretische Voraussetzung der écriture populaire und auf die Unterschiede zur Standardverschriftung ein. Dann betrachten wir einige interne sprachliche Merkmale. 4.2 Zeichen- und kommunikationstheoretische Voraussetzungen Zunächst einige Bemerkungen zu den Charakteristika der écriture populaire im Ganzen: a) Alle Schreiber haben das Prinzip der Beziehung zwischen Laut und Graphem verstanden. 26 Im Grunde wiederholt sich in der Schriftlichkeit die vermutlich angeborene menschliche Sprachfähigkeit, die auf dem intuitiven Verständnis des Symbols als Verbindung aus Materie und gedachtem Inhalt beruht und zuerst zur mündlichen Kommunikation führt. 27 Alle Schreiber haben erkannt, sei es durch noch so kurzen Schulbesuch oder durch Selbststudium, dass man auf dieser Grundlage der Alphabetschrift jede sprachliche Äußerung und jede Sprache, auch z. B. die französische Regionalsprachen, verschriften kann. Wie hoch diese Erkenntnis geschätzt wird, zeigt sich darin, dass die Grapheme anfangs sehr deutlich geschrieben werden. 28 Die Kalligraphie kennzeichnet besonders die frühen Texte unserer Untersuchungsperiode. Je geübter die Schreiber werden und je mehr sie mit der Lesegewöhnung ihrer Leser rechnen können, desto stärker reduzieren sie die Form der Grapheme, manchmal sogar bis zur Vernachlässigung der distinktiven Merkmale der Schriftzeichen. 25 So dachte Bodo Müller (1975: 66) und so denkt auch D’Achille (1994 II: 41). 26 Dies ist in der aristotelischen Zeichentheorie der Aspekt der functio . Chervel spricht vom „code phono-graphique“ (1977: 31). 27 Die Erkenntnis des Symbols ist ein essentielles Universale (cf. Coseriu 1978: 156). 28 Aspekt der forma . 276 Harald Thun b) Die écriture populaire befriedigt, wie die Kreolsprachen, zu allererst und schnell das dringende Bedürfnis nach Kommunikation. Das gelingt ihr eigentlich immer, auch mit wenig „hortographe“, 29 wobei wir bei schwer zu verstehenden Passagen und schwierigen Texten nicht vergessen dürfen, dass diese Briefe oder Aufzeichnungen nicht für uns geschrieben worden sind und dass uns ein Teil des Weltwissens fehlt, das Schreiber und Adressaten teilen. Der erste Text im empirischen Anhang liefert dafür ein Beispiel. Was für uns streckenweise fast unverständlich ist, dürfte dem zeitgenössischen Adressaten weniger Mühe gemacht haben. c) Wegen des Vorrangs der Kommunikation spielt die Funktion der sozialen Selektion, wie sie durch eine komplizierte Standardsprache wie das Französische ausgeübt werden kann und auch wird, 30 in der écriture populaire keine Rolle. d) Die Hauptrolle der Kommunikation bewahrt die scripteurs populaires vor jener „malédiction qui frappe le français, et qui a pour nom l’orthographe“ (Chervel 1977: 33). e) Um die Gesamtheit der Mittel und Verfahren zu kennzeichnen, derer sich der scripteur populaire bedient, kann man auf den fruchtbaren, von Claude Lévi-Strauss (1962: 31) eingeführten Begriff des bricolage zurückgreifen. Der Schulbesuch unserer Schreiber war, wenn er überhaupt stattgefunden hat, mit Sicherheit zu kurz, um sie mit allem auszurüsten, was sie für das Verfassen schriftlicher Mitteilungen brauchten und dies noch dazu gemäß den Feinheiten der Standardnorm. Aber einiges haben sie doch mitbekommen. So das Verfahren der Segmentation nach gesprochenen Silben. Bei vielen Schreibern der ersten Jahrzehnte unseres Untersuchungszeitraums bleibt es dabei. Sie vollführen den zweiten Schritt, das Wiederzusammensetzen der Silben zu Wörtern nicht oder nicht normgerecht. So kommt es zur sog. fausse coupe oder zur fausse agglutination (Beispiele v. infra). Anderes muss sich der scripteur populaire aus der mündlichen Kommuni- 29 Es ist völlig klar, was der Pariser Anarchist, anonymer Schreiber eines auf den 30.Mai 1892 datierten Drohbriefs mitteilen will: „Ecouté / Je nait pas beaucoup d’hortographe / mais j’en aurais toujours assez / pour vous dire que vous aite / un tas de voleurs de propre / a rien escroqueur“ ( Archives de la Préfecture de Police de Paris , BA 508). Mit dem Schrägstrich zeigen wir den Zeilenwechsel an. 30 Hordé / Tanet (1998 II: 2495) fragen zu Recht, ob der Staat berechtigt sei, diese Selektion durch Orthographie zu fördern: „Le maintien des exigences orthographiques, dont on sait qu’il n‘est pas ,rentableʻ, ne semble pas relever, ou pas seulement, d’un attachement sentimental aux formes anciennes; la maîtrise de la graphie, avec d’autres éléments depuis deux décennies, continue de jouer un rôle de sélection sociale. Elle pose la question du droit de l’État à légiférer sur un aspect de la langue et celle des effets sociaux réels de telles législations.“ Substandard und Regionalsprachen 277 kation, aus Dialekten, aus dem Regionalfranzösischen beschaffen oder von anderen übernehmen. 31 Mit bricolage beschreibt Lévi-Strauss anschaulich das Verfahren, dessen „règle du jeu est de toujours s’arranger avec les ,moyens du bordʻ, c’est-àdire un ensemble à chaque instant fini d’outils et de matériaux, hétéroclites au surplus“ (Lévi-Strauss 1962: 31). Wenn er dann fortfährt und erläutert: „parce que la composition de l’ensemble n’est pas en rapport avec le projet du moment, ni d’ailleurs avec aucun projet particulier, mais est le résultat contingent de toutes les occasions qui se sont présentées de renouveler ou enrichir le stock, ou de l’entretenir avec les résidus de constructions et de destructions antérieures“ (ibid.) und dem bricoleur den ingénieur gegenüberstellt, dann gilt dies nicht mehr für den scripteur populaire . Er ist kein Sammler oder Bastler, der sich nur die Zeit vertreibt, sondern jemand, der eine dringende Aufgabe lösen und sich die Mittel dazu zusammensuchen muss. Der scripteur populaire hat sehr wohl ein „projet particulier“, nämlich die Mitteilung oder das Bewahren eines Inhalts. Dahinter kann als Großprojekt der Erhalt des „capital social“ stehen, um mit Pierre Bourdieu zu sprechen (cf. Bourdieu 1980). Seine Mittel erweisen sich als adäquat, weil die Kommunikation gelingt. Er erprobt und übernimmt Textverfertigungsverfahren und setzt Texttraditionen fort, fängt also nicht immer wieder von vorne an. Wahr ist, dass seine Mittel und Verfahren im Gegensatz zu denen des Ingenieurs nicht nach DIN genormt sind. Aber auch der Ingenieur reproduziert nicht nur, sondern kommt an den Punkt, wo er experimentieren und sich dafür neue Materialien suchen und neue Verfahren ausdenken muss. f) Unsere Texte belegen, dass die scripteurs populaires sehr bald bemerken, dass die Verschriftlichung nicht nur die Fernkommunikation möglich macht. Zur Funktion des Mitteilens im Privatbrief kommt die Funktion des Bewahrens durch Materialisierung der Inhalte mittels Papier und Tinte. Das Geschriebene wird zur Stütze der Erinnerung an Vergangenes. Es hilft auch, in der Gegenwart die eigenen Angelegenheiten zu ordnen und den Überblick zu behalten. Schließlich kann die Aufzeichnung als eine Art Protokoll auch in die Zukunft laufende Prozesse erleichtern, etwa Erkundungen im Reiche der Ideen oder Notizen in Form von Tagebucheintragungen. 31 Das dürften selten die bons auteurs sein, eher die Erinnerung an Predigten oder an empfangene Briefe. Nicht selten findet man in den auf Deutsch geschriebenen Briefen von napoleonischen Soldaten aus dem département de l’Ourte (Belgien) die Schlussformel „Amen“. Zum Einfluss der Predigten cf. auch Caspard (1979: 72-91). 278 Harald Thun g) Die durch die Révolution verstärkte Bürokratisierung des Lebens 32 zwingt den citoyen zum schriftlichen Verkehr mit den staatlichen Instanzen. Das ist unser Glück, denn sonst wären die Archive leer. Auf den scripteur populaire aber kommt eine schwere Aufgabe zu. Er ahnt, dass er sich, wenn er sein Anliegen durchsetzen will, Normen fügen muss, die er kaum kennt. Diese correspondance particulière ist etwas anderes als die correspondance privée oder die Aufzeichnungen für private Zwecke. 4.3 Sprachliche Konstanten Nun zu einigen sprachlichen Besonderheiten: Wenn man synchrone Schnitte durch unser Corpus legt oder es in seiner gesamten Diachronie überblickt, erkennt man auffällige Regelmäßigkeiten in den Devianzen. Ein paar Beispiele müssen genügen. Sie zeigen den Abbau, die seltene Verwendung einer eigentlich zu erwartenden Konstruktion und das konstante Vorkommen eines Phänomens. 1. Die Segmentierung nach Wortgrenzen bereitete den scripteurs populaires große Schwierigkeiten. Wie das folgende, in dieser oder ähnlicher Form hundertfach vorkommende Syntagma zeigt pour min forme dele tat de votre sans te = „pour m’informer de l’état de votre santé“, sind die sogenannte fausse coupe ( min forme, dele tat, sans te ) und die fausse agglutination ( min, dele ) häufige Lösungen. Aber synchron gehen sie nicht über Syntagmen- und Satzgrenzen hinaus, da sie vermutlich vom mot phonétique gesteuert werden, und sie kommen eher links als rechts vom Nukleus vor (cf. die typologische Entwicklung des Französischen von der Postzur Prädetermination). Diachron nimmt die fausse coupe schneller ab als die fausse agglutination . Die fausse coupe entspricht der syllabischen Methode, mit der den französischen Schülern das Segmentieren beigebracht wird, das dann wieder überwunden werden muss, um das graphische Wort zu formen. Die fausse agglutination beruht, wie schon gesagt, wohl auf der Intuition vom mot phonétique , und dieses ist beständig da in der gesprochenen Sprache. 2. Die einfache Verneinung ( pas statt ne pas ), die man aus der gesprochenen Sprache erwarten würde, kommt vor, ist aber im allgemeinen selten, was wohl beweist, dass auch die scripteurs populaires eine Ahnung von der standardsprachlichen Norm haben. Hier ein Beispiel: „ge lui est est ecris une lette il a pas daines ne Rande / Reponce“ („Je lui ai écrit une lettre, il a pas 32 Nennen wir als Beispiel nur die Rekrutierung der Soldaten im Zuge der allgemeinen Wehrpflicht oder die seit 1803 obligatorische Gesundheitskontrolle der Prostituierten. Substandard und Regionalsprachen 279 daigné me rendre réponse“; Côtes-d’Armor, 28 mars 1794; AD 22 5L136). Etwas häufiger ist einfaches pas in den Anarchistenbriefen, die wir als Vertreter des Anti-Standard betrachten (v. infra) und in einigen Soldatenbriefen aus dem Ersten Weltkrieg. In beiden Fällen können wir vermuten, dass sich die Schreiber bewusst von der Standardnorm abgrenzen wollen. Diese steht für sie stellvertretend für die herrschende Klasse, die sie bekämpfen, bzw. mit der sie nichts zu tun haben wollen. 33 Nirgends aber wird die doppelte Verneinung vollständig durch die einfache ersetzt, und oft ist man sich auch nicht sicher, ob man es wirklich mit einer absichtlich gesetzten einfachen Verneinung zu tun hat. Hier zwei Passagen aus einem Pariser Anarchistenbrief vom 30. März 1892: „que tu est toi une / putin comme on en voit / pas souvent […] quand meme que / pas de menagement pour / toi quand meme que tu ‘ne / les faisait pas travailler“ (Archives de la Préfecture de Police de Paris, B 508). Die einfache Verneinung in „on en voit pas souvent“ könnte im Nasalkonsonanten des vorausgehenden on nur graphisch versteckt, phonisch aber präsent sein. Unzweifelhaft einfache Verneinung, jedoch in einem fixierten Wortgefüge, auf die dann auch wieder eine vollständige Verneinung folgt, sehen wir hier: „vousotre borjois / auportunisse vou / fouter pas malle des / lois […] onnora jamet justisse des bourjois“ (anonymer Pariser Anarchistenbrief vom 27. April 1891, BA 508). Auch im folgenden Beispiel kann der vorangehende Nasal in turne „maison“ das ne aufgesaugt haben: „mai ce que tu ne sé pas cai [= c’est ] que nous savon que ta turne est pas chouaitement gardé“ (Paris April 1892, BA 508). Ein eindeutiges Beispiel aus dem Ersten Weltkrieg: „il ètè pas Mariè“ (Brief von der Front, Marne, AD 51, 10R 390). 3. Der Ersatz von être durch avoir als Hilfsverb ( jai restai = „j’ai resté“ statt „je suis resté“) ist konstant in der gesamten überblickten Zeit. Mit diesem Phänomen folgt die écriture populaire française als français avancé im Gegensatz zum konservativen français standard einer gesamtromanischen Entwicklung, die im Rumänischen, Spanischen und Portugiesischen schon abgeschlossen und im Katalanischen weit vorangeschritten ist. Hier zwei Beispiele: „ce qui lui avait arriver“ (Brief vom 24 mai 1794, Marne, Reims FR 2i 87); „le malheur qui lui a arrivé“ (lettre du front, 26 mai 1916, Côtes-d’Armor, Corpus Péronne n° 6). Diese und andere Regelmäßigkeiten in der Devianz erlauben es, von der écriture populaire française als einem Komplex mit innerem Zusammenhang zu sprechen. 33 Zu dieser Entsolidarisierung durch Sprache cf. Thun (2012: 21-40). 280 Harald Thun 5 Bemerkungen zur Devianz 5.1 Weiter Begriff Unser Devianzbegriff ist weitgefasst. Er orientiert sich an E. Coserius Klassifikation der Arten des sprachlichen Wissens über die Korrektheit. 34 Unter Devianz verstehen wir unbeabsichtigtes oder absichtsvolles Nichtbeachten von präskriptiven Normen einer Standardvarietät („idiomatisches Wissen“), von allgemeinen Textverfertigungsgrundsätzen („elokutionelles Wissen“, das zwischen kohärent und inkohärent unterscheidet) und rhetorischer Zweckdienlichkeit („expressives Wissen“, das einen Text danach beurteilt, ob die verwendeten Mittel adäquat oder inadäquat sind). Nach ihrer Bezugsgröße kann die Devianz innereinzelsprachlich, zwischensprachlich oder übereinzelsprachlich sein. 5.2 Innersprachliche Devianz Sie kommt auf allen Ebenen der sprachlichen und graphischen Strukturierung vor und wird von Coserius Kategorie des idiomatischen Wissens erfasst. 35 Sie reicht von der Form der Grapheme und der Wiedergabe von phonischen Segmenten über die Kennzeichung von Syntagmen- und Satzgrenzen (Interpunktion, Trennungsregeln, Akzente), über die Morphologie, Lexik und Syntax bis in die Transphrastik. Wir sind dabei, einen Katalog dieser Devianzen auszuarbeiten, der die Grundlage unseres „tagging“ sein soll. Dieser Katalog droht sehr umfangreich zu werden. Auf die Identifikation der innereinzelsprachlichen Devianz folgt die Klassifikation in Kategorien verwandter Phänomene (z. B. „Folgen der Anwendung des phonetischen Prinzips“). Danach wird versucht, die Devianz zu erklären. Wenn die Erklärung des devianten Phänomens durch die intendierte Varietät selbst möglich ist (z. B. phonetisches Schreiben von c’est als cai , v. supra Kap. 4.3, Abschnitt 2), dann sprechen wir von interner Devianz. Beruht die Devianz auf 34 Coserius Überlegungen zur „corrección idiomática“ sind weit weniger bekannt als sein Normbegriff. Zu diesem als der Gesamtheit des Üblichen bildet die sprachliche Korrektheit als Inbegriff des erstrebten Ideals den Komplementärbegriff, der über die präskriptive Norm hinausgeht, da er auch den logischen Aufbau und die rhetorische Angemessenheit der verwendeten Mittel einschließt. In der vollständigen Form ist El problema de la corrección idiomática ein Typoskript, 1956 in Montevideo verfasst, geblieben (cf. Coseriu 1956). Eine kürzere Fassung der Grundgedanken, das zweite Kapitel der Monographie, findet man in Coseriu (1988: 327-364). 35 Wobei wir mit der Form und Verknüpfung von Graphemen, mit der Gliederung des Textes in Abschnitte usw. Gesichtspunkte hineinbringen, die Coseriu, der sich in seiner Monographie mit dem Gesprochenen befasst, nicht interessieren. Substandard und Regionalsprachen 281 der Verwendung von Elementen aus einer anderen Varietät, was wegen des bricolage in der écriture populaire häufig ist, dann werten wir sie als externe Devianz. Dazu gehört z. B. der in Briefen von Schreibern aus dem Südwesten vorkommende präpositionale Akkusativ des Typs „Je vous salue à vous tous“, der einer Regel des Gaskognischen entspricht, die der scripteur populaire ins Französische übertragen hat. 5.3 Zwischensprachliche Devianz Diese liegt vor, wenn der Schreiber sich der écriture alternative bedient. Zwischensprachliche Devianz fällt auf, wenn Varietäten, die nicht standardfranzösisch sind, in Bereichen verwendet werden, die das staatliche Bildungssystem dem Standardfranzösischen vorbehält, also etwa, wenn das Okzitanische in unserem Zeitraum Anstalten macht, Sprache offizieller Verlautbarungen zu werden. So wurde in der Revolutionszeit eine Übersetzung der Droits de l’homme ins Okzitanische verfasst, dann aber offensichtlich nicht verbreitet. 36 Damit wurde sozusagen im letzten Augenblick die Abweichung von der sich verfestigenden Monopolisierung des Französischen vermieden. Deviant ist aber nicht nur der Gebrauch der sogenannten langues régionales , sondern auch der Gebrauch des Regionalfranzösischen, der Dialekte und des Argot. Da die regionalen Formen des Französischen per definitionem eine Mischung aus Standardsprachenelementen, aus älteren Bestandteilen der Gemeinsprache und aus dialektalen oder regionalsprachlichen Elementen sind, ist es eine Ermessensfrage, ob ein bestimmter Text im ganzen als zwischensprachlich deviant bezeichnet werden kann oder ob er nur eine Anhäufung von Einzelelementen, die extern deviant (v. supra) sind, darstellt. Während die écriture alternative in der Distanzkommunikation mit Behörden (Funktion 2 in der obigen Übersicht) sanktioniert oder unterbunden werden kann, entzieht sie sich im privaten Bereich (Funktionen 1, 3-5) der Kontrolle durch die Organe der staatlichen Sprachpolitik oder kann, wie im Falle der Anarchistenbriefe, nicht verhindert werden. Dennoch bleiben wir beim Begriff der zwischensprachlichen Devianz. Es wird zwar nicht gegen präskriptive Normen verstoßen aber doch gegen usuelle Normen. Für den citoyen galt wohl die Regel, dass Schreiben bedeutet, auf Französisch zu schreiben (v. supra, FN 15). Übrigens gibt es auch Anarchistenbriefe, die Drohungen übermitteln, ohne das Standardfranzösische zu verlassen. Hier nun unser Varietätenmodell, das français standard als einen Pol und substandard als Sammelbegriff für den anderen Pol der devianten Varietäten gegen- 36 Ein Exemplar mit kritischen Randbemerkungen zur sprachlichen Korrektheit haben wir in den Archives départementales de l’Ariège gefunden 282 Harald Thun überstellt. Den Argot bezeichnen wir als „anti-standard“, weil er die Standardsprache voraussetzen muss, um gegen ihre Normen verstoßen zu können. Die Subunterscheidung zwischen Non-Standard und Forstandard (unter Rückgriff auf eine altfranzösische Präposition, inspiriert von Tesnière (1959)) verbindet die sprachpolitische oder sprachsoziologische Unterordnung mit dem Kriterium des sprachgenetischen Abstands. Die Varietäten des Forstandard liegen weiter entfernt vom Standardfranzösischen als die des Non-Standard. Der größte Abstand besteht zum Baskischen. 5.4 Übereinzelsprachliche Devianz Um diese zu bestimmen, orientieren wir uns an den Kategorien des elokutionellen und des expressiven Wissens, die Coseriu formuliert hat (v. supra und Coseriu 1994: 56) und die wir von der Mündlichkeit auf die Schriftlichkeit übertragen. Mit seinem elokutionellen Wissen entscheidet der Hörer (oder Leser), ob ein Text logisch aufgebaut, kongruent / kohärent oder inkongruent / inkohärent ist. Hier geht es um die Textorganisation. Das expressive Wissen beurteilt einen Text nach dem Kriterium angemessen bzw. unangemessen. In diesem Bereich ist es am schwierigsten, Devianz festzustellen. Man könnte sie als Abweichung von Textsorten oder von Texttraditionen festlegen, die in den Schichten, die sich des Standardfranzösischen bedienen, für bestimmte Ausdrucksabsichten mehr oder weniger verbindlich sind. Die Normen allerdings sind weniger explizit. Substandard und Regionalsprachen 283 Die Grammaire scolaire und die Histoire de la grammaire scolaire (cf. Chervel 1977) pflegen sich mit ihnen nicht zu beschäftigen und hatten wohl auch während unsereres Untersuchungszeitraums wenig Anlass dazu. Während innereinzelsprachliche Devianz überall und sofort festgestellt werden kann und die zwischensprachliche ebenso leicht, setzt die übereinzelsprachliche Devianz aktive Produktion von Texten voraus. Das war nicht die Stärke der französischen Schule in unserem Zeitraum. Sie hat sich mit der Lehre vom Verfassen von Gebrauchstexten, wie etwa Briefen, schwergetan und blieb hauptsächlich eine Reproduktionsanstalt, in der die Schülerarbeiten copies hießen und z.T. noch heißen. Das eiserne Festhalten der Unterschichtenschreiber an immer denselben Formeln und dem immer gleichen Aufbau der Privatbriefe („Je saisis la plume pour m’informer de l’état de votre santé […]“) ist Zeuge der Unsicherheit auf dem Gebiet der Textgestaltung. Diese Invarianz löst sich sehr langsam auf. Spuren davon finden wir noch im Ersten Weltkrieg. Da wir nur ahnen können, was die Mitteilungsabsichten der Schreiber waren, an diesen aber die Adäquatheit der gewählten Ausdrucksmittel im Sinne des expressiven Wissens ermessen müssen, könnte einerseits gegenüber der Anpassung der Briefe von Nichtunterschichtschreibern an den Adressaten, an die Schreibumstände und an die eigenen Intentionen diese Starrheit im Ausdruck der Unterschichtenschreiber als Devianz gelten. Andererseits haben aber Formelhaftigkeit und gleichförmige Briefstruktur auch ihre eigene Logik und unterstreichen die Selbständigkeit der écriture populaire und ihrer Textsorten. 37 Kann es nicht sein, dass z. B. die Erkundigung nach dem Gesundheitszustand des Adressaten und die lange Liste der zu Grüßenden als notwendige rituelle Handlungen zur Bewahrung des capital social betrachtet wurden und eine der Hauptfunktionen des Briefes die war, ein Lebenszeichen zu geben? 38 Leichter als „inadäquat“ und damit deviant einstufen lässt sich die Textsortenmischung. Ein solcher Fall liegt in dem Antrag auf Rente vor, den eine 37 Es wäre kein guter Anfang für die Philologie der écriture populaire von der (veralteten) Theorie des aus den oberen Schichten in die untere gesunkenen Kulturguts auszugehen, so wie es ohne zu zögern der Soziologe Sorokin (1959) in Bezug auf die Unterschichtenkultur tut. 38 Ganz ähnlich wurden in der Zeit des Premier Empire , als wegen der häufigen Desertionen und der allgemeinen schlechten Organisation der Militärverwaltung nicht immer certificats de présence (dans l’armée) ausgestellt wurden, Briefe von Soldaten an ihre Eltern von der Zivilverwaltung als Beweise für die Anwesenheit bei der Truppe anerkannt. Diese Briefe interessierten also in erster Linie nicht wegen ihres Inhalts. Sie wurden als Beweisstücke zu den Akten gelegt, bei denen es z. B. um Anträge der Eltern auf Unterstützung ging. So sind diese Privatbriefe offizielle Dokumente geworden, die archiviert wurden und uns so erhalten sind. Cf. dazu Fairon / Heuse (1936: 9). 284 Harald Thun Witwe verfasst, die mit der Formel schließt Avec mes meilleures condoléances . Die Identifikation der übereinzelsprachlichen Charakteristika als Devianzen ist schon aus formalen Gründen schwierig, weil es sich um lange Zeichenfolgen oder auch um abwesende, zu erwartende Elemente (wie etwa Ort- und Datumsangabe in einem Brief) handelt. Damit wird auch das „tagging“ erschwert, weil es in guter alter positivistischer Tradition für kurze Sequenzen, weniger für Makrostrukturen, für materiell Vorhandenes und nicht für Fehlendes entwickelt worden ist. Sicher ist, dass sich die écriture populaire auch auf die Textgestaltung erstreckt. Im empirischen Teil geben wir weitere Beispiele für übereinzelsprachliche Devianzen. 6 Empirischer Teil 6.1 Vorbemerkungen Wir schließen drei Texte an, die einige der theoretischen Überlegungen des ersten Teils belegen und die gleichzeitig eine Vorstellung davon geben sollen, wie das CHSF diplomatische Transliteration, bei Texten der écriture alternative die Übersetzung ins Französische, das Faksimile und die historisch-sprachwissenschaftliche Analyse miteinander verbindet. Text 1 und 2 stammen aus zwei verschiedenen Perioden und aus zwei verschiedenen départements . Der erste Text ist ein Privatbrief ( correspondance privée ), der zweite gehört als Eingabe an eine Behörde zur correspondance particulière . Gemeinsam und Grund für die Auswahl ist der hohe Grad an Devianz, die auf allen Ebenen, also der idiomatischen, der elokutionellen und der expressiven zu beobachten ist. Text 3 ist ein katalanisches Beispiel für die écriture alternative. Der Übersetzung ins Französische fügen wir eine Übertragung ins moderne Katalanische bei, 39 um nicht nur die zwischensprachliche Devianz (Katalanisch und nicht Französisch), sondern auch die innereinzelsprachliche, katalanische Devianz (Regionalismen des Roussillonnais und externe Devianz in Form von Hispanismen und Gallizismen) zu illustrieren. Die Abkürzung AD bedeutet Archives départementales , ihr folgt die Nummer des département und die Signatur („cote“) des Dokuments. Zu beachten ist, dass die Bildrechte an den Faksimiles in allen Fällen bei den Archiven liegen. Erster Text Première Période ; Côtes-d’Armor = AD 22, 5L 136 39 Die wir unserer katalanischen Kollegin Cristina Portero verdanken. Substandard und Regionalsprachen 285 Commentaire Lettre d’Olivier Richard à sa mère, datée du 19 ventôse à Brest, sans indication de l’année, qui est probablement l’an II , ce qui correspondrait au 9 mars 1794. Olivier est marin et décrit les conditions misérables à bord du bateau la Fraternité. Il demande des vêtements à sa mère. Olivier a 19 ans en l’an II . Il dit dans une autre lettre qu’il apprend à écrire. Son écriture présente des traces profondes de la méthode syllabique. On dirait que son apprentissage s’est arrêté au moment où il fallait réunir les syllabes pour recomposer les mots. Ce sont ces très nombreuses fausses coupes qui, en concurrence avec l’absence totale de la ponctuation, rendent la lecture de la lettre difficile. En plus, la fausse coupe ne respecte pas toujours les limites de la syllabe : per o què l. 27. Par rapport aux fausses coupes, les fausses agglutinations sont en franche minorité : matres l. 3, sescon (pli mans) l. 10, etc. L’unité du mot est en outre mise en danger par la reprise consonantique, elle aussi presque systématique : je vous sècri l. 4, cous sins l. 9 pa su « pas eu » l. 13, nous sa ̷ von bien sudè « nous avons bien eu de » l. 22-23, un na maque l. 19, un namq l. 20, réalisation avec liaison. Le principe phonétique est amplement employé : cher mer l. 3, je par ti l. 7, la let l. 12, etc. La let l. 12, aut l. 25 et i [= il ] l. 10, 15 reproduisent une énonciation allegro et signalent par là la voie orale comme canal de transmission. La graphie <un> de l’article indéfini est elle aussi un cas d’écriture phonétique quand elle représente le genre féminin : au qun chos l. 28, un quslot l. 30 « une culotte ». Quant aux segments, on note des problèmes pour la graphie des sibilants et chuintants : je cous l. 18 = « je couche », agèter l. 19 = « acheter », dègirer l. 32 « déchirer », mavoi<y>eir l. 29 = « m’envoyer » (cf. l. 33). Comment expliquer ces phénomènes ? Lamballe, où vit la mère du soldat à laquelle la lettre est adressée, se trouve en zone gallo, fait qui n'exclut pas une influence bretonne à travers du français régional. Notre interprétation n'est rien d'autre qu'une hypothèse. Quant aux sibilants et chuintants mentionnés, le breton, contrairement au français, possède à côté du [s] et [z], du [ ʃ ] et [ ʒ ] les chuintants antérieurs ou alvéo-palataux [ ɕ ] et [ ʑ ]. Le locuteur se trouve par conséquent devant le problème de coordonner les deux consonnes du français avec les trois consonnes de sa variété maternelle. Ceci peut conduire à la perception d’un [ ʃ ] français comme un [s]. La consonne nasale comme marque graphique de la voyelle nasale manque à plusieurs reprises : chabre l. 15, mavoi<y>ier l. 29, cousis l. 38. Comme les sons nasaux du breton et du français régional comportent un élément consonantique, il se peut que le scripteur ait été convaincu que le fait d’écrire la voyelle implique la réalisation de la consonne nasale <m> ou <n>. Le scripteur oublie parfois des lettres (fer l. 5, 36 = « frères » ) , des syllabes ou des mots : je & te mala l. 21 = « j’étais malade », vousaves ceque sur mon cor l. 30, il invertit ou supprime des consonnes : je vousan bars l. 35, mon <onc> desmas & a mes cousis l. 38. Il utilise la ligature « & » avec la valeur phonique de son nom [e] : l. 7 et passim. La construction l. 24 « passer 286 Harald Thun de couler » est peut-être une périphrase verbale qui veut dire « nous avons failli couler ». La construction syntaxique est celle de la langue parlée à la l. 13 et devient incohérente à partir de la l. 32 Translittération diplomatique a brest Ce 19 ventose nº 24 [ autre main ] matres cher mer je vous sècri je sui en pen de vos nous vel 5 & in si qua mes fer & seur / matres cher mer je ne pas pus vous sècrir plus tos parcè que je par ti [ ou : par tè] le len demin que je & tè à la cains 40 / je suis à bor de la fratar ni te & mon cous sins crésar ausi 10 & i vous pris dè fer sescon pli mans à son per & à sa mèr & a ̷ ses fer & seur / matres cher mer la let que vous mavèdon<nè> pour portè au citoïns ca ̷ bus je nè ̷ pa ̷ su ̷ le ten de la por ter parceque je & té à bor ble landem 41 [ins: pli ] 15 je suis à la chabre à vec ̷ un ofisié / i sa pel le cioins vènos je re ̷ su troi moidavans vistèun livre sisous / je le don nes à gar der / jecous [= couche ] sur le plenchè par seque je nepeus pas agèter [= acheter ] un na maque & [ plusieurs mots rayés ] 20 je nes peus pas àgèter un namq niquoi mècouvrir / je & te mala / nous som ̷ à ̷ bres & nous sa ̷ von bien sudè la pein aï antre / nous savons pas ̷ sè dècouler à fons 25 un aut batimans nous sa [ lettre effacée ] casè 40 Un nom de lieu? 41 Le bord de la feuille plié couvre probablement les dernières lettres: ain ou in . Substandard und Regionalsprachen 287 notre cu de ̷ poul 42 & sèpatimans à casi sons per o què ons ne peus paságèter au qun chos / matres cher mer je vous pris de mavoi<y>eir quel ̷ que ̷ chos parsèque 30 vousaves ceque sur mon cor je un quslot qui fè [lettre barrée] tran bler un giles qui fes est tous dègirer / sivous sa vès ledessirs de man quel que chos de me len voi<y>eir tous et de suit / par ceque [ corr .] nous partiron 35 pètet [= peut-être ] tous [t corr .] de suit / je vousan bar mon ceur [ tache ] & mes fer & seur je fet biens mes complimes à mate dema & mon<onc> desmas & a mes cousis ausi / jefinis ans vous san ba san 40 ollivierichard Zweiter Text Troisième Période ; Marne = AD 51, 10R 390 Commentaire Lettre du soldat Émile Bernardon ou Bernadon écrite avant le 17 juin 1919, à un comité aidant les soldats de la Marne avec des colis. Le scripteur se trouve dans l'Allemagne occupée par les Français, à Kohlscheid près d'Aix-la-Chapelle. Bien que la date de la lettre soit ultérieure à la fin de la Première Guerre mondiale de quelques mois, nous intégrons ce texte dans le corpus car sa thématique et le statut de son auteur la rattachent toujours à notre Troisième Période. C’est un exemple, et un des plus déviants, de la très grande collection de demandes de soldats que conservent les Archives Départementales de la Marne. Malgré les nombreuses déviances, le message principal (demande d’aide) est exprimé de façon réussie, autrement dit, la lettre est en général correcte sur le niveau de la construction logique (niveau élocutionnel selon E. Coseriu). L’intention du scripteur se comprend. Le lecteur doit pourtant faire un effort car stylistiquement le message n’est pas bien exprimé , il n’est pas tout à fait adéquat à la tradition 42 « Extrémité arrière de certains petits bâtiments » (Willaumez 1825, s.v.). 288 Harald Thun discursive qui exige une expression claire et sans contradictions. Cette déviance sur le niveau du type de texte oblige le lecteur à tourner le contresens que produit la phrase à structure négative compliquée Je ne suie plue que seul Chermoie l. 7-9 en son contraire. De fait, le scripteur dit quelque chose comme « la situation de ma solitude n’existe plus ». Mais le contexte suggère qu’il veut dire : « Désormais, je n’ai personne. Je suis tout seul chez moi ». L’insertion de la signature dans la formule d’adieu et la répétition du nom sur la marge gauche pourraient être interprétées comme déviances graphiques liées à la gestion maladroite de l’espace disponible de la feuille. Sur le niveau transphrastique, on constate , à la l. 4, l’absence d’une transition explicite. Il y manque, après Salutation , un syntagme comme Cette lettre est … . De la même façon, le premier car ( l. 7 ) introduit de manière elliptique le motif pour lequel le scripteur se croit en droit de demander l’aide du comité : comme on a déjà vu, il n’a plus de proches parents. Quant aux phrases, elles sont séparées par des points, cependant ceux-ci ne sont pas placés sur la ligne de base mais plus haut. La virgule n’apparaît pas (voir la formule d’adieu). Le scripteur possède des notions de base de l’accentuation. Pour la forme, son accent aigu est identique au point et en outre à son apostrophe ( voir sˑil l. 5 ; âpriësen l. 10 ) . Son usage du circonflexe (aû l. 6 ; âpriësen l. 10 ) obéit à une fonctionnalité inconnue. L’emploi des majuscules est souvent déviant : Salutation, Vous l. 4, Pouriez l. 5, Marnes , Je l. 7, Chermoie, Je l. 9, Toujour l. 10, Mé l. 17 (voir aussi le I majuscule et minuscule dans Iinf . l. 11). On ne comprend pas pourquoi il barre le dernier mot de sa lettre : salution l. 17 . Est-ce qu’il s’est rendu compte que le mot contient une faute ? De toute façon, il ne complète pas sa phrase par la forme correcte salutation mais met un point après l’adjectif qui reste sans nom. Sur le niveau des syntagmes et des mots, on relève deux fausses coupes (sine saire l. 3 qui varie avec sinseres l. 17 , men voallié l. 6 ) et deux fausses agglutinations (men l. 6, Chermoie = chez moi l. 9 ) . La marque du pluriel manque dans Salutation l. 4 et l. 17. Ce phénomène, l’assimilation de l’infinitif à l’impératif (demandez l. 5 ) ou au participe du passé (men voallié l. 6 ) , la réduction du < rr > au <r> simple (Pouriez l. 5 ) , le phénomène contraire de la réduplication de < l > avec le résultat < ll > dans collit l. 6, obéissent au principe phonétique. Le digraphe < li > à la place de < ll > dans Mitralieuse l. 12 pourrait indiquer une prononciation toujours latérale de la palatale [ʎ] , donc ou bien une réalisation archaïsante par rapport au français commun au début du XX e siècle (« déviance interne ») ou bien un régionalisme phonétique et par là une « déviance externe ». Quoiqu’il en soit, la lettre témoigne comme beaucoup d’autres des incertitudes dans le domaine des palatales. Le digraphe hypercorrect < ll > dans men voallié ( = m’envoyer l. 6 ) relève de la graphie, non pas de la prononciation. La terminaison -es dans Marnes l. 7 signale des incertitudes dans la réalisation de -ais et de -é, problème qui affecte aussi bien les adjectifs que les verbes conjugués. suie (= suis) l. 8 et 10 , plue (= plus) l. 8, Chermoie l. 9 pourraient être un reflet gra- Substandard und Regionalsprachen 289 phique de la présence d’un -e [ǝ] instable non-étymologique dans la prononciation. La forme s’il l. 5 pour si qui est une des déviances les plus fréquentes dans les lettres des scripteurs populaires, constitue un cas compliqué. Nous l’interprétons à la fois comme phonétique et comme morphologique, plus exactement comme réaction hypercorrecte à la prononciation [i] du pronom personnel il qui se confond, dans le français régional du nord, avec la prononciation et probablement aussi avec la fonction du pronom adverbial y . Conscient de cette fusion, supposons nous, notre scripteur semble la diagnostiquer aussi dans la conjonction si qui est pour lui un s’y et qui doit être corrigé en s’il . Translittération diplomatique Samedi le <14> kolchied [= Kohlscheid, près d’Aix-la-Chapelle ] [ tampon, en partie caché, et remarques d‘ une autre main, écrites dans la lettre : Militaire reçu le: 17 / 6 1919 répondu le: 21. 6. 1919] Monsieur Recevez mes sine saire Salutation pour Vous 5 demendez s’il vous Pouriez men [ ou : mon] voallié un collit aù soldat Marnes car Je ne suie plue que seul Chermoie âpriësen [ ou : âpriëson] car Je 10 suie Toujour soldat aû [ en marge : Emile Bernardon] 168 em Reg.D. Iinf 1 er C. Mitralieuse 3 em Section Secteur P 41 914 15 Recevez [c]her Monsieur Emile Bernadon Mé sinsers salution 290 Harald Thun Dritter Text : Écriture alternative en catalan Première Période ; Pyrénées-Orientales = AD 66, L 1049 Commentaire Lettre de Rafel Albert Ymagi [= i Magi] au[x] représentant[s] 43 du peuple à l’armée orientale au sujet de son neveu Ramon. Comme nous ne savons rien sur la personne du scripteur, cette lettre de particulier à officiel peut appartenir à la catégorie 2 (scripteur appartenant aux classes populaires) ou 4 (scripteur issu d’un groupe social non populaire). Cependant, les déviances internes et les emprunts non-standard au français rendent plus probable une appartenance aux classes populaires. Les caractères utilisés qui hésitent entre une écriture liée et l’imitation des lettres imprimées ainsi que la variation interne et les lapsus (déviances d’inadvertance) signalent un scripteur peu habitué à écrire dans sa langue maternelle et peu accoutumé à contrôler son produit écrit. La lettre est datée du 5 février 1795. Bien que le lieu de la rédaction, Cadaqués, n’ait pas été intégré définitivement à la France, nous joignons cette lettre à notre collection parce que le scripteur semble convaincu du fait que l’occupation actuelle de la zone est le début de son avenir français (l.4-5). Cette conviction se reflète aussi dans sa langue. On peut, en effet, interpréter la présence massive de gallicismes dans la lettre comme effort - mal réussi - du scripteur de s’approcher de la langue des nouveaux maîtres. Le résultat est un catalan fortement francisé. Nous sommes d’avis que cette lettre mérite un commentaire assez complet vu que nous n’avons trouvé que trois documents en catalan, que celui-ci est le plus déviant et probablement le seul qui provienne d’un scripteur d’extraction populaire. a) Particularités du roussillonnais L’assimilation de la lettre aux autres textes qui proviennent de façon moins douteuse e du département des Pyrénées-Orientales se justifie aussi par la présence d’éléments linguistiques du roussillonnais ou au moins communs à cette variété et à celles de l’extrême nord du catalan de Catalogne. Ainsi les articles définis lo l.1, las l.8 à la place de el et les du catalan commun (il n’y a pas d’exemples pour le pluriel masculin qui est los dans le Roussillon et els dans les autres régions ; le féminin du singulier est partout la ). Du même type est la première personne du singulier du présent de l’indicatif qui est -i dans le roussillonnais : representi l.3-4, et represento ailleurs, me ha dresi l.9 qui correspond à m’adreço , Yo atendi l.13 = 43 L’adresse, écrite en français, emploie le pluriel, la lettre le singulier. Dans ce texte bien déviant, l’usage du singulier peut très bien être une déviance d’inadvertance ou une déviance externe due à l’influence du français transmis par voie orale. Les formes pronominales de politesse ne tranchent pas non plus la question. Elles sont les mêmes pour le singulier et le pluriel. Voir aussi f) Déviances pragmatiques . Substandard und Regionalsprachen 291 Jo atenc . 44 Le subjonctif du présent, deuxième personne du singulier, fasques l.10 qui serait faces ou facis en catalan de Catalogne, 45 rappelle par son infixe l’occitan. L’emploi de l’auxiliaire ser « être » avec le participe II dans es estat pres l. 5 et es estat Conduhit l.6 là où l’on s’attendrait à un ha estat ne peut pas être attribué exclusivement au catalan roussillonnais. Il s’agit d’un indice indirect, d’une hypercorrection, causé par l’incertitude qui règne en catalan mais aussi dans nombre de français régionaux par rapport au choix entre l’auxiliaire haver / avoir ou ser / être . On a partout tendance à généraliser avoir au détriment de être . La forme ho l.9 fonctionne en roussillonnais comme conjonction ( si ). 46 Ici la construction syntactique rend plus probable un emploi pronominal inusuel en catalan moderne (voir notre version qui se rapproche de la norme actuelle), calqué peut-être sur le français c’est … Il s’agirait alors d’un gallicisme et par là d’une déviance externe. Les possessifs son et sa au lieu de el seu , la seva dans son paӱs l. 12, sa familia l.2, l.11,ne doivent pas être interprétés comme régionalismes et moins encore comme gallicismes. Ce sont des variantes atones usuelles partout. b) Déviances internes Nous considérons comme déviances internes celles qui paraissent systématiques ou fréquentes et qui se distinguent par là des lapsus qui sont d’habitude d’attestation isolée (voir le paragraphe suivant). La forme intra dans fahintra l.11 au lieu de far entrar (voyelle initiale et perte du r final de l’infinitif) est liée à hapartinan l.4 par la même tendance à la fermeture vocalique étant donné que le e se transforme en i. Sont de la même catégorie des phénomènes fréquents les fausses coupes su signat l.1, ha dresi l.9 et les fausses agglutinations qui apparaissent parfois en combinaison avec la fausse coupe: q e .la l.1 = que ell ha, q e .le l.2 = que ell es , qua quel l.7 = que aquell , et parfois seules : sapella l.3, encorta l.10 (sur la base de en sorte ), fahintra l.11= fer entrar , ala l.12. La ponctuation et le tiret sont absents, l’accentuation en est à ses débuts et apparaît là où la langue moderne n’en mettrait pas : Ré/ / presenti l.3, àra l. 4 = ara, Repub/ / licá l.4-5, mais Repubblica l.8. L’emploi des majuscules et des minuscules en position initiale ne paraît pas toujours fonctionnel, voir Nebot l.2, Répresenti l.2-3, etc. tandis que Yo l.2 pourrait marquer, en l’absence d’un point qui devrait précéder, un début de phrase. L’ample emploi du graphème < h > qui sépare en quelque sorte des voyelles, renvoie peut-être au fait que le scripteur, peu sûr de son art d’écrire, a épelé les mots avant de les écrire. Voir àra hapartinan l.4, presonihe l.5, Conduhit l.6 , me ha dresi l.9 , fahintra 44 Le morphème - i „da carácter al rosellonés“ (Veny 1991: 251). 45 Cf. Badia i Margarit (1962 I: 364). 46 Cf. Veny (1991: 251). 292 Harald Thun l.11, familiha l.11, mais aussi Conduhit ha Selian l.6-7. Il ne paraît pas connaître le graphème < ç >, voir encorta l.10. c) Déviances d’inadvertance Nous classons sous cette rubrique les déviances qui ne paraissent motivées ni par la langue du texte (déviances internes) ni par une autre langue (déviances externes) mais qui sont probablement des lapsus personnels et momentanés (des « fautes d’inadvertance »). Les cas sont fréquents dans notre lettre : la variation entre nebot l. 2 « neveu », la forme normative, et nabot l.3 et nabat l.7, plat l.2 = plau en catalan « bien », pla ou pl- en occitan, manaster l.2 au lieu de menester « besoin », Repub/ / blicá l.4-5, Repubblica l.8,l.12, subre l.5 pour sobre , port l.8 pour portat , fabrer l.14 pour febrer , peut-être aussi le pluriel dans oriantales dans l’adresse écrite en français. La forme verbale dis l.1 s’explique difficilement. On s’attendrait à diu (3ième personne du singulier) ou à la rigueur, dans une constructio ad sensum, à dic , 1ière personne du singulier. Une confusion de < s > avec < c > (voir sitoyent ) n’est pas à exclure. d) Déviances externes, hispanismes À côté des gallicismes qui représentent les déviances externes les plus nombreuses, on note aussi l’influence de l’espagnol parlé. Ceci dans la graphie phonétique de vos comme Bos l.1 et 2 ou Bus l.9, ainsi que de vostra comme bostre l.13 et vist comme bist l.12. Voir aussi armas l.5 pour armes . e) Déviances externes, gallicismes Les gallicismes sont en effet frappants par leur nombre et par leur forme déviante. On pourrait parler d’une double déviance provoquée par le fait que ces mots ont une origine externe et qu’ils s’éloignent de la forme qu’ils ont dans leur langue d’origine. L’écriture phonétique qui apparaît parfois, par exemple dans le <s> de Sitoyent l.1 et Selian l.7 permet de supposer une transmission par voie orale. Gallicismes non assimilés : Sitoyent l.1 = Ciutadà , hapartinan l.4 = pertanyent , a fin q e . l.10 = a fi que . Gallicismes assimilés: su signat (< soussigné , croisé avec el sota signat ), sapella l.3 = es diu, presonihe l.5 < prisonnier x presoner , encorta que l.10 < en sorte que à la place de de manera que, aparteny l.12 < appartient x pertany, aquexa favor l.13 ( favor est du genre masculin en catalan). Peut-être que Bus l.9 a été influencé par le [u] de vous . Mais il peut s’agir aussi d’un croisement entre le us catalan et le vos espagnol écrit phonétiquement. De la même manière le possessif bostre l.13 au lieu de vostra peut avoir subi l’influence du votre français ou bien être une graphie phonétique de la prononciation catalane du a final qui se réalise comme schwa [ə] . Dans q e .le plat manaster l.2 au lieu de fe plau menester on peut supposer l’influence de la locution française qui est bien nécessaire. Substandard und Regionalsprachen 293 f) Déviances pragmatiques ou expressives La forme fasques l.10 « tu fasses » déjà interprétée comme trait du roussillonnais, représente en plus une incohérence ou déviance pragmatique. Si les pronoms d’adresse ( bos, bus, bostre ) fonctionnent comme pluriel, le singulier dans fasques serait une incohérence de nombre, peu importe si ces pronoms sont pensés comme adresse de distance ou de proximité. Si les pronoms sont du singulier ou du pluriel de distance, autrement dit: de politesse, fasques marquerait le passage incohérent du vouvoiement au tutoiement républicain. Translittération diplomatique Sitoyent Representan lo su signat bos dis q e . la un Nebot q e .le plat manaster per sa familia / Yo bos Ré presenti q e . aquel Nabot q e . sapella Ramon escoffer abitan de Cadaques àra hapartinan a la Repub 5 blicá, es estat pres presonihe de Guerra subre un bastiment marxant que es estat Conduhit ha Selian de la Droma qua quel nabat maÿ ha port las armas Contra la Repubblica ho es per axo q e . me ha dresi ana Bus 10 Representen à fin q e . fasques encorta [a corr .] de fahintra dins [ corr .] sa familiha lo dit escoffer bist q e . son paÿs aparteny ala Repubblica Yo atendi aquexa favor de bostre bondat Cadaques 5 fabrer de 1795 15 Rafel Albert <Ymagi> adresse Aux Citoyens Representans pres Larmée oriantales A figueres 294 Harald Thun Version en catalan standard moderne Ciutadà representant, el sota signat us diu que [ ha ] un nebot que fe plau menester per la seva família. Jo us represento que aquell nebot es diu Ramon Escoffer, habitant de Cadaqués ara pertanyent a la Repú- 5 blica, [ i que ] ha estat presoner de guerra sobre un bastiment marxant, que ha estat conduït a Calian de la Droma, que aquell nebot mai ha portat les armes contra la República. És per això que m’adreço a us, 10 representants, a fi que feu de manera que fer entrar dins de la seva família lo dit Escoffer vist que el seu país pertany a la República. Jo atenc aqueix favor de vostra bondat. Cadaqués, 5 de febrer de 1795 15 Rafel Albert i Magí adresse Als ciutadans Representants a prop de l‘exèrcit oriental A Figueres Traduction en français Citoyens représentants, le soussigné vous dit qu’il a un neveu qui est bien nécessaire à sa famille. Je vous expose que ce neveu-là s’appelle Ramon Escoffer, habitant de Cadaqués qui fait maintenant partie de la Répu- 5 blique, [ et qu’ ] il a été fait prisonnier de guerre sur un vaisseau marchand, qu’il a été conduit à Callian en Drôme, 1 que ce neveu n’a jamais porté les armes contre la République. Substandard und Regionalsprachen 295 C’est pour cela que je m’adresse à vous, 10 les représentants afin que vous agissiez de façon à ce que le dit Escoffer puisse rentrer dans le sein de sa famille, vu que son pays fait partie de la République. J’attends cette faveur de votre bonté. Cadaqués, 5 février 1795 15 Rafel Albert i Magí adresse Aux citoyens représentants auprès de l’Armée Orientale À Figueres Literatur Badia i Margarit, Antoni M. (1962): Gramática catalana . 2 Bände. Madrid. Gredos (= Biblioteca románica hispánica, 3. Manuales, 10). Bacconnier, Gérard / Minet, André / Soler, Louis (1985): La Plume au fusil. Les poilus du Midi à travers leur correspondance . Toulouse: Privat. 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Le présent article exploite une telle source du français populaire à la fin du XIXe siècle: les lettres de menace et d’insulte envoyées par anarchistes, principalement de lʼan 1892, qui font partie du Corpus Historique du Substandard Français (CHSF). Les missives sont caractérisées par des déviances intentionnelles, ou pour le moins conscientes, des normes du bon usage . Cela concerne presque tous les niveaux du langage: elles vont d’écarts d’orthographe à des violations des conventions du discours épistolaire et de la politesse verbale. Lʼobjectif de cette inobservation des règles du standard est de manifester la non-identité avec le groupe des capitalistes et bourgeois qui constituent les destinataires des missives. Parmi de tels actes verbaux de non-identité se singularisent des expressions argotiques, qui, en ce cas-ci, ne fonctionnent pas comme une langue sécrète, mais plutôt comme des éléments dʼun antistandard ritualisé. Cet article essaie de présenter un aperçu des particularités du langage des anarchistes de la fin du XIXe siècle et du cadre social dans lequel surgit lʼargot de ce groupe politique particulier dans le contexte général du français de cette époque. 1 Einführung Das Corpus Historique du Substandard Français ( CHSF ) enthält Briefe und andere Dokumente von ungeübten Schreibern ( peu-lettrés ) aus allen Départements Frankreichs und aus dem frankophonen Belgien (eingeteilt in drei Phasen: I. 306 Joachim Steffen 1789-1815 (Révolution et Empire); II . ca. 1816-1913; III . 1914-1918 (Grande Guerre)). Den Texten des Korpus gemein ist das Merkmal der Devianz von der französischen Norm. In den weitaus überwiegenden Fällen ist diese Abweichung in der Unkenntnis des Standards begründet, d. h. die Standardform, sei diese auf die Orthographie, Morphosyntax, Briefkonventionen oder Textordnung bezogen, wird angestrebt, aber nicht erreicht. Dabei spielen in den peripheren Regionen oft Interferenzen von Minderheitensprachen eine Rolle, da der mediale Wechsel von der gewohnten Phonie zur Graphie mit einem Varietätenwechsel verbunden ist. Anders als in diesen Fällen verhält es sich mit einem Subkorpus aus der Phase II , welches aus Drohbriefen von Anarchisten besteht, die in den Archives de la Préfecture de Police in Paris aufbewahrt werden (Signatur Ba 508-510) 1 . Diese Briefe liegen insgesamt knapp ca. 1500 Beschwerden von Bürgern bei, die diese bei der Polizei gemeldet haben. Sie stammen aus den 20 Arrondissements von Paris und fast ausschließlich aus dem Jahr 1892 (hauptsächlich von März bis Mai). 2 Oft bestehen die Drohungen aus Ankündigungen eines Sprengstoffanschlags auf das Haus oder die Fabrik oder einer reinen Morddrohung gegenüber dem Adressaten, der von den Anarchisten als Kapitalist und Ausbeuter identifiziert wurde. Mitunter wird diesem in Aussicht gestellt, dem angedrohten Schicksal durch Änderung seiner angeblichen Unterdrückungspraktiken zu entgehen. Eine Besonderheit der Briefe dieses Kontingents besteht darin, dass die 1 Artières (2004) liefert eine allgemeine Beschreibung dieser Anarchistenbriefe im politischen Kontext des ausgehenden XIX. Jahrhunderts. 2 Nach einigen theoreriebildenden Vorläufern (insbesondere Pierre-Joseph Proudhons Werk Qu’est-ce que la propriété? ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement von 1840, in dem er die Rechtmäßigkeit von Eigentum infrage stellt) formiert sich der Anarchismus als politische Bewegung im Jahrzehnt von 1860 bis 1870 als Ableger der Internationalen Arbeiterassoziation (1864 in London gegründet). Neben Italien und Belgien war besonders Frankreich ein fruchtbarer Boden für anarchistische Ideen, die sich ab 1870 weiter verbreiten. Dennoch bleibt der Anarchismus auch hier eine gesellschaftliche Randbewegung mit sektenartigem Habitus, was sich auch durch die politischen Repressionen durch die Obrigkeit während der Troisième République erklären lässt. In Frankreich rekrutierten sich die Anarchisten hauptsächlich aus Handwerkern mit einer höheren und mittleren Fachausbildung, von denen nicht wenige aufgrund der zunehmenden Industrialisierung gezwungen waren, ihre kleinen Handwerksbetriebe zu verlassen, um in größeren Fabriken zu arbeiten. Als weitere Gruppe innerhalb der anarchistischen Bewegung lassen sich modernistische und avantgardistische Künstler abgrenzen, die sich besonders mit der Ablehnung der traditionellen gesellschaftlichen Regeln und staatlichen Autoritäten identifizierten. Trotz ihrer insgesamt relativ kleinen Zahl und ihrer Verschwiegenheit gegenüber Außenseitern genossen die Anarchisten eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit, was u. a. mit der von ihnen verfolgten „Propaganda der Tat“, also terroristischen Anschlägen, und der polizeilichen Gegenwehr, die auch von der Presse interessiert begleitet wurde, zusammenhängt (cf. Bantman 2013: 13-19). Antistandard als politisches Manifest 307 Abweichungen von der sprachlichen Norm nicht aus reiner Unkenntnis geschehen, sondern z.T. als politische Botschaft und Affirmation einer Identität, die sich in der Abkehr von der herrschenden bürgerlichen Klasse konstituiert, zu deuten sind. 2 Sprachlicher Tabubruch als politisches Manifest Im Vergleich der romanischen Sprachen kann die präskriptive Norm des Französischen, die mit dem bon usage der Île-de-France identifiziert werden kann, sowohl als besonders stabil als auch als besonders einflussreich angesehen werden, da deren weltweite Hegemonie von den Sprechern selbst anerkannt und in der Regel nicht infrage gestellt wird (cf. Pöll 2005: 17; Schnitzer 1994: 128). Gerade diese Situation eines einheitlichen, starren Standards regt jedoch auch zum sprachlichen Widerstand an, wie es die Briefe der Pariser Anarchisten von 1892 belegen, denn in ihnen findet sich eine ganze Reihe von Devianzen auf verschiedenen Ebenen. Auch wenn im Einzelfall nicht immer klar ist, ob diese absichtsvoll zustandegekommen sind, können sie in ihrer Fülle doch nicht anders denn als Bekundung der Abneigung gegen das bürgerliche System und somit als Ausdruck der subversiven politischen Gesinnung betrachtet werden. 2.1 Graphische Abweichungen Die Orthographie des Französischen ist aufgrund ihrer Tiefe und ihrer zahlreichen morphosemantischen sowie historisch-etymologischen Bezüge ein Instrument der sozialen Selektion geworden, da graphisch regelmäßig mehr unterschieden und notiert als lautlich realisiert wird. 3 Andererseits bietet diese Distanz zwischen lautlicher und (ortho-)graphischer Ebene reichlich Gelegenheiten zum Regelverstoß, wie der nachfolgende Brief belegt: 3 Eine synchrone Vertiefung der Graphie findet über visuelle Bezüge zwischen paradigmatisch und syntagmatisch zusammengehörenden Strukturen statt, während diachrone Tiefe über Bezüge zum lateinischen Etymon bzw. der Schreibung zur Zeit eines früheren Sprachstandes erreicht wird (cf. Meisenburg 1996: 169). Dadurch werden in der Graphie beispielsweise Homonyme differenziert oder grammatische Information vermittelt, die in der Lautung nicht (mehr) vorhanden ist. Für eine detaillierte Charakterisierung des französischen Schriftsystems und der Orthographie siehe auch Meisenburg (2002) und Catach (1978). 308 Joachim Steffen Monsieur LeConcierge Les frères anarchiste on desidé de faire soté vote maison si vous chassé pas Fraissé lʼesploiteur 5 du pauve peupe, cest un voleur et un escroq. Dans vot intérêt y faut le faire partire médiatement san ca vous sauterai avecque cet crapule 10 Les ami a Ravachol vengeurs des pauv malheureux Vive lʼanarchie à mort les salos de borgeois ✞ Im Kontrast zur tiefen französischen Normorthographie ist eine betonte Tendenz zu phonetischer Schreibung erkennbar, die etwa in der Weglassung nichthörbarer Konsonanten ( on [ t ]; chassé [ z ]; san [ s ]; cet [ tte ]; ami [ s ]; etc.), sowie der Vereinfachung von komplexen Silbenkoden ( vote [ votre ]; pauve [ pauvre ]; peupe [ peuple ]) besteht. Ebenfalls als Zugeständnis an den phonischen Code (sowie gleichzeitig an die konzeptionelle Mündlichkeit) ist die Reduzierung der zweiteiligen Negation zu pas (cf. si vous chassé pas ) und die Substitution von il durch y (cf. y faut le faire ) zu sehen. Mit der phonographischen Ausrichtung kontrastiert die normabweichende und (nicht phonetische) Erhöhung der Grapheme in Einzelfällen ( partire [ partir ] avecque [ avec ]), aber streng genommen auch die textinterne Variation bei der Wiedergabe von gleichen Lauten bzw. Morphemen ( vot - vote [ votre ]; soté - sauterai ). Nicht alle Abweichungen des Briefes sind zweifelsfrei als absichtsvolle Normverstöße zu werten, aber der Wille zur phonetischen Schreibung ist eindeutig zu erkennen, selbst wenn er nicht konsequent umgesetzt ist, wie u. a. etwa die normkonforme Schreibung malheureux (Z. 11) zeigt. Gerade diese Tatsache weist darauf hin, dass dem Schreiber seine Devianzen nicht aus reiner Unkenntnis der Orthographie unterlaufen sind, zumal das Schriftbild eher auf eine ge- Antistandard als politisches Manifest 309 übte Schreibhand schließen lässt. Im nachfolgenden Beispiel (eines anderen Schreibers) wird die Abweichung von der Rechtschreibung explizit thematisiert: Ecouté Je nait pas beaucoup dʼhortographe mais jʼen aurais toujours assez pour vous dire que vous aite 5 un tas de voleurs de propre a rien escroqueur enfin tout ceux le la Bource son des canaille des filou mais votre compte et fait | vous 10 avez assé volé le genre humain vous avez assez tranpé le monde | avant le 1 e Juin vous arais cessé vos filouteri | vous allez soté comme des carpe 15 dans une poile [= poêle ] […] Selbst wenn die Absicht für jeden Einzelfall nicht nachgewiesen werden kann, so lässt sich doch immerhin feststellen, dass ein Bewusstsein für den Normverstoß vorlag, der jedoch bedenkenlos hingenommen bzw. an dieser Stelle gar trotzig verteidigt wird, da er gegenüber den vorgeworfenen moralischen Verfehlungen der Kapitalisten als nichtig erscheint. Wenn weiter oben die Abweichungen von der Orthographie als Tendenz zur phonetischen Schreibung bezeichnet wurden, bedeutet dies nicht, dass dadurch die Varianten reduziert würden. Im Gegenteil: durch die vielfachen Bezüge des französischen Schriftsystems sowohl in Bezug auf Graphem-Phonem-Korrespondenzen ( GPK ) als auch auf Phonem-Graphem-Korrespondenzen ( PGK ) bietet sich stets mehr als eine Möglichkeit der Lautwiedergabe. Beispielshalber soll der nachfolgende Brief verdeutlichen, dass die (vermeintlichen) 4 Anarchisten 4 Es lässt sich nicht ausschließen, dass unter den Schreibern auch einige Trittbrettfahrer sind, denen nicht politische Anliegen, sondern private Fehden die Feder geführt haben, wie in mehr als einem Polizeibericht gemutmaßt wird. 310 Joachim Steffen sich die zahlreichen Möglichkeiten, die das System zur Verfügung stellt, zunutze machen: le 30 avrile a Richar marchan des Ouvriers boulanger Je ne sui pas aussi fenian 5 que toi et puis que tes colegues ces pour sa que ge vien te dire que tu fase atension a ta po par ce que sa ne ce pasera pa come 10 tu p le croi | il i a acé lonten que tu nou volle | tu peu le dir ausi a berluge a la porete de page 2 sint deni a colin a tou 15 ceusla qui buvé notre sueure ces par ce gé pitié de vous que ge vou previen sen que nos ami 20 le save a biento de no nouvele et de bone | vou men aure plu auten que 25 vou nen ave u [= | vous m’en Antistandard als politisches Manifest 311 aurez plus autant que vous n’en avez eu ] GTXX voir bien sure que ce ne pa pour rire et que cet bien entendu entre nou Aus der Fülle von kreativen Schreibungen sollen hier nur einige Phänomene herausgegriffen werden, die die Hypothese der absichtsvollen Normdevianz stützen. So wird beim Syntagma j’ai praktisch keine Gelegenheit ausgelassen - [ʒ] als <g>, was vor <i, e> durchaus möglich ist; Verzicht auf den Apostroph; [e] als <é> (samt Kennzeichnung der Vokalschließung durch accent aigu ! ) - wobei die Graphie im Bereich der systemimmanenten PGK -Möglichkeiten bleibt. Für den Vorsatz spricht hier auch die Tatsache, dass Je weiter oben zunächst normgerecht geschrieben wurde (Z. 4), an anderen Stellen als <ge> ohne Kennzeichnung der Vokalschließung, also zu lesen als [ʒǝ] (Z. 7, 18). Ein weiteres Beispiel für den Einsatz des accent aigu zur Kennzeichnung des Öffnungsgrads des Vokals, hier zur Markierung der Person (2. vs. 3. Plural) beim Verb ist <buvé> [ buvez ] (Z. 15) vs. <save> [ savent ] (Z. 20) - erneut deviant, aber möglich gemäß GPK . Weitere Beispiele dieser Art stellen die Wiedergabe von [ɑ̃] als <en> in lonten [ longtemps ] (Z. 11) und auten [ autant ] (Z. 24), die Nichtberücksichtigung stummer Konsonanten sowie die Vereinfachung der Doppelkonsonanten bei <colegues> [ collègues ] (Z. 6), <nouvele> [ nouvelles, et de bonnes ] (Z. 22) dar. Der umgekehrte Fall - deviante Konsonantendoppelung - liegt vor bei <volles> [ volez ] (Z. 11). Etwas anders verhält es sich bei den Vereinfachungen von <ss> zu <s> (<tu fase> [ fasses ] (Z. 7); <atension> [ attention ] (Z. 8); <pasera pa come> [ passera pas comme ] (Z. 9); <ausi> [ aussi ] (Z. 12)), da das französische Schriftsystem zwar die Wiedergabe von [s] durch <s> zulässt, aber nicht in intervokalischer Position. Gerade bei der Repräsentation des Lautes [s] nutzt der Schreiber die besonders zahlreichen PGK -Optionen zur Devianz (z. B. <sa> [ ça ]; <atension> [ attention ] (Z. 8); <acé> [ assez ] (Z. 10)). Unter anderem an diesen Beispielen zeigt sich denn auch, dass es für den Schreiber kaum im Vordergrund stand, eine phonetische (oder phonologische) Graphie zu verwirklichen, die in einer ein-eindeutigen Buchstabe-Laut-Beziehung bestünde, sondern in erster Linie andere als die normgerechten Möglichkeiten der graphischen Wortwiedergabe zu nutzen - ohne dabei jedoch so weit abzuweichen, dass die Botschaft nicht mehr dekodierbar wäre. Diese notwendige Balance wird uns auch noch auf anderen sprachlichen Ebenen begegnen. Abschließend zum Thema 312 Joachim Steffen der Graphemwahl sei hier noch auf die kreative Ausnutzung der Lesbarkeit einzelner Buchstaben bei <tu p le croi> [ tu peux le croire ] (Z. 10) - man achte auf die Variation zwei Zeilen später: <tu peu le dir> [ tu peux le dire ] (Z. 12) - und <vou nen ave u> [ vous n’en avez eu ], wobei gerade im ersteren Falle interessant ist, dass nicht der Buchstabenname [ pe ] als Lautwert des Graphems <p> angenommen werden kann, sondern mutmaßlich eine Reduzierung des Vollvokals [ø] zu Schwa, was als weitere Konzession an den phonischen Code gesehen werden kann. Allen bisher behandelten Briefen ist gemein, dass auf Satzzeichen (fast) vollständig verzichtet wird. Satzzeichen sind als Textordnungssignale in erster Linie ein Zugeständnis an den Leser. Durch die visuelle Ordnung wird die Sinnentnahme erleichtert, da Zusammengehörigkeiten und Geschiedenheiten buchstäblich auf den ersten Blick deutlich werden. Sie sind aber andererseits nicht unabkömmlich zur Übermittlung der Botschaft. Zudem stellen sie eine rein visuelle, auf die Bidimensionalität des geschriebenen Texts beschränkte, Möglichkeit dar, die keine direkte Entsprechung in der Lautlichkeit hat. Im Lichte dieser beiden Eigenschaften ist ihr Fehlen in den Drohbriefen der Anarchisten zu interpretieren. Satzzeichen zu gebrauchen wäre eine Annäherung an die Konventionen des skripturalen Codes, indem die konzeptionelle Textorganisation visuell unterstützt wird. Zum anderen wäre es dadurch zugleich ein Entgegenkommen an den Leser, dessen Leseprozess man möglichst schwierig gestalten möchte, ohne ihn indes vollständig zu unterbinden. 2.2 Abweichung von Briefkonventionen Im Frankreich des XIX . Jahrhunderts hatte die Kunst des Briefschreibens einen auch im europäischen Vergleich besonders hohen Stellenwert. Eine Übersicht über die Manuels épistolaires im Zeitraum von 1830-1899 gibt Dauphin (1991: 250-268). Allein für diesen Zeitraum gibt sie eine Zahl von 195 Buchtiteln und 616 Editionen an (cf. Dauphin 1991: 211). Briefe zu verfassen unterlag also offensichtlich sozialen Konventionen, über die sich die Benutzer der Handbücher informieren wollten. Allerdings gilt gerade für das XIX . Jahrhundert das Paradox, dass diese sogenannten Secrétaires in der Regel für einen zunehmend individuellen Stil plädieren und sich somit eigentlich selbst überflüssig machen (cf. Kapp 1994: 20). Dennoch sind besonders für die geschäftliche Korrespondenz der Bourgeoisie relativ festgelegte Modelle und Formeln in Gebrauch: […] la différentiation entre plusieurs types de genres épistolaires et son corollaire linguistique, l’établissement d’une écriture épistolaire purement fonctionnelle qui tend à se figer dans les tournures fixes d’une phraséologie standardisée. La lettre d’affaire Antistandard als politisches Manifest 313 ou de commerce, qui figurait toujours dans les manuels épistolaires, s’émancipe alors complètement de la tutelle de l’art épistolaire (Kapp 1994: 15). Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass in den Secrétaires keine Anleitungen für Droh- oder Beleidigungsbriefe zu finden waren. Gleichwohl waren die Modelle der Bourgeoisie für die Herausbildung des Genres des Anarchistenbriefs von großer Bedeutung, wobei dazu drei Relationen infrage kommen, erstens die I m i t a t i o n , zweitens die A b w e i c h u n g vom konventionellen Vorbild, und drittens dessen F a r c e . Zu 1) Für die I m i t a t i o n eines konventionellen Briefes sind zwei Grundformen zu finden. Eine davon ist der Geschäftsbrief: Monsieur follot vous vous occupez tro de nos affaire si ravacholl il a 5 été areter cetai vote fote a vote sale gueul de cochon aussi con vous la casera si vou fouté 10 pas le camp de paris page 2 vous auré de la dinam ite dan le cu dicite [c corrigé en t] 8 jour 15 Sanguinario Die Anrede ist förmlich und distanzsprachlich, aber ansonsten diaphasisch weitgehend unmarkiert, d. h. sie ist weder vertraulich noch vermittelt sie ein bestimmtes Hierarchieverhältnis. Allerdings wirkt dadurch der Kontrast mit der anschließenden tabuisierten Sprache besonders deutlich ( sale gueul de cochon; si vou fouté pas; vous auré de la dinamite dan le cu ). 314 Joachim Steffen Die zweite Möglichkeit ist der offizielle Brief: Avis Pour le comité anarchiste je tiens a vous 5 prévenir qu’apres le ministère de la Guerre c’est a vous que l’on s’adresera 10 Nous allon faire sauter page 2 votre boite à malice et quand tout les 15 voleur y serons. Méfiez-vous hommes de bourse Réjot, Ramus, 20 du tilly, herbaut Cie. vous serez traité en page 3 frere avec 25 rotchil [= Rothschild] et votre maitre Antistandard als politisches Manifest 315 voleur Rouvier vive l anarchie 30 abat, la financee --votre grosse boite a colonne sautera avant 35 le 1 Mai Die fehlende Anrede sowie die Textbezeichnung als Avis geben dem Brief einen unpersönlichen und öffentlichen Anstrich, der durch unpersönliche sprachliche Konstruktionen ( c’est à vous que l’on s’adresera ) und distanzsprachliche Formulierungen ( je tiens à vous prévenir ) sowie den Anspruch für ein Kollektiv zu sprechen, noch verstärkt wird. Dadurch wird - besonders im Vergleich zu den im Brief erhobenen Vorwürfen - die eigene Integrität hervorgehoben, wobei gleichzeitig die moralische Integrität und das Prestige der bürgerlichen Adressaten infrage gestellt werden. Die Verwendung juristischer Diskurstraditionen dient dem Versuch, eine eigene gesellschaftliche Autorität zu etablieren. Die Imitation des konventionellen Briefes - ob ganz oder in Teilen - sollte daher nicht als Respektsbezeugung an den Adressaten oder Unterwerfung unter bürgerliche Normen missverstanden werden, sondern, wie gezeigt, als Herstellung der Distanz bzw. als Anspruch der eigenen Autorität. Diese Überlegungen zeigen auch, warum Édouard (1979) im Dictionnaire des injures nur teilweise Recht hat, wenn er schreibt: Remarquons à ce propos quʼen « injure » le tutoiement est pratiquement de règle. A la rigeur on peut cependant sʼadresser à lʼinteresse en lui parlant à la troisième personne : - Celui-là, ce quil peut être flemmard ! Mais le vouvoiement sied généralement mal à ce genre de badinage, peut-être parce quʼil renforce la barrière des différences sociales que lʼinjure sʼefforce précisément dʼabattre. (Édouard 1979: 18) Demnach spricht er zwar der dritten Person eine Eignung für Beleidungen zu, hält aber ansonsten den tutoiement für die Anrede der Wahl. Das trifft jedoch nur bei direkten und derben Beleidigungen zu, die eben gerade vom brutalen (sprachlichen) Einbruch in die Sphäre des anderen leben. Bei den Anarchisten- 316 Joachim Steffen briefen ist dies allerdings nur bei einem Teil der Briefe zu finden, der andere trachtet, wie wir gesehen haben, nach Distanz, die in der dritten Person bzw. dem vouvoiement eine passendere sprachliche Manifestation findet. Zu 2) Im Gegensatz zu den eben genannten Briefen lassen sich natürlich auch zahlreiche A b w e i c h u n g e n vom konventionellen Briefmodell finden, die nicht unbedingt in direkter Schmähung oder Herabwürdigung bestehen müssen, sondern z.T. einfach in der Weglassung erwartbarer Höflichkeitsakte: [rude behaviour] does not utilise politeness strategies where they would be expected, in such a way that the utterance can only almost plausibly be interpreted as intentionally and negatively confrontational. (Lakoff 1989: 103) Dazu gehört beispielsweise der Verzicht auf eine Anrede, wie bereits im verangenen Kapitel bei der Brieferöffnung mit dem Imperativ Écoutez gesehen. Das nachfolgende Beispiel vereint diese Strategie mit dem oben bereits ausgeführten unpersönlichen Stil, der in diesem Fall durch den Gebrauch des Passivs erreicht wird: Le citoyen Dupont ait prévenu quon fera sauté Sa maison d’ici le 1 er Avril prochain et lui 5 avec Un introuvable ancien ouvrier de la maison Noch klarer liegt der Fall des Verstoßes gegen die bürgerlichen Briefsitten natürlich bei Anreden und Schlussformeln, die direkte Beleidigungen enthalten, wie im folgenden Fall (man beachte hier auch die Anrede mittels tutoiement ): Sale Putin Si tu fais travailler tes ouvrierès le 1 e Mai 1892 gare à la bombe de dynamite | si tu veux dormir en paix tu n’a qu pas a les faire travailler et puis ‘quand meme qu elles ne travailleraient 5 pas, toi et tes petites apprenties putins dont tu est leur matrone en chef et que tu est toi une putin Antistandard als politisches Manifest 317 conms comme on en voit pas souvent | pas de menagement pour toi quand meme que tu ‘ne les faisait pas travailler la bombe te fera sauter toi 10 et ta [t corr. ; ou : la] maison | elle sera place a cote de ta port pour que tu puisse larecevoir toute | la Comme ca cer sa sera a 5 ½ du matin / dimanche ‘j’y rai j’irai vo passer par la car tu sera encore au lit et tu iras a la fenetre en chemise et je verrai ta braillette [= braguette] et ton trou d’balle 15 Ravachol auteur de la’attentat de la dynamite de la rue de chchy clichy et de Berlin aurevoir salope Neben der beleidigenden Anrede ( Sale Putin ; Z. 1) finden sich andere Vulgarismen wie tes petites apprenties putins (Z. 5); ta braillette (Z. 14), ton trou d’balle (Z. 14); aurevoir salope (Z. 17). Dass von dieser Möglichkeit der direkten, unmissverständlichen Abweichung auch häufiger Gebrauch gemacht wird, möge die folgende Auswahl von vulgären Anreden aus verschiedenen Briefen belegen: (a) Sale Putin (b) Vilain Singe (c) espèce de muffe 5 (d) vieux porquet, gros nichon (e) Vulgère commerçaire (f) Ma viel branche 6 (g) Aiglefin 7 (h) Vieille vache (i) Vieux fumier (j) Vieux pourri (k) ta peau de charogne (l) Sale voleur Zu 3) Neben der Imitation und der Abweichung gibt es noch die Möglichkeit der F a r c e eines konventionellen Briefes. Die Abgrenzungen zwischen den Kategorien sind natürlich nicht immer eindeutig, zumal auch die oben als Imitation 5 Visage laid ou grotesque, plus bestial quʼhumain (Delvau 1866, s.v.). 6 Ami, compagnon. Argot des faubouriens (Delvau 1866, s.v.). 7 Chevalier d’industrie, escroc du grand et du petit monde, vivant aux dépens de quiconque , (Delvau 1866, s.v.). 318 Joachim Steffen klassifizierten Texte nicht durchgehend konventionell sind. Allerdings gibt es in einer Reihe von Briefen eine darüber hinausgehende Sorte, bei der Form und Inhalt der Nachricht so weit auseinanderklaffen, dass hier nur von einer Farce des konventionellen Modells gesprochen werden kann. Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen: Messieurs Veuillez ne pas vous émotionnez à la térrible explosion de dynamite [ ou : dynamito] nitroglé 5 rine [i corr .] qui pourra fare trembler Votre Mazon Les Anarchistes E. [Malthus] Die Wirkung der Drohung soll hier gerade durch die Einhaltung der Höflichkeitskonvention erreicht werden, die im Widerspruch zum Schrecken des angekündigten Anschlags steht. Ähnlich verfährt der folgende Brief: Monsieur Nous vous ecrivons ces deux mots pour vous annoncer que nous 5 allons dynamiter votre usine [s corr.] | seulement [corr.] nous nous y prendrons encore mieux qu’au boulevard St Germain | En attendant nous avons 10 l’honneur de vous saluer Signe une Association d’anarchiste Paris le 15 Mars 1892 Antistandard als politisches Manifest 319 Der Effekt ist, dass neben die Drohung selbst noch die Verhöhnung der Adressaten tritt. Die Provokation liegt im lakonischen Stil und dem Spott über die Bourgeoisie sowie dem Abgrund zwischen Form und Inhalt der Nachricht. Hier wird nicht mehr, wie bei der Imitation, Herstellung von Distanz bewirkt, denn die distanzsprachlichen Elemente werden ironisch so gebrochen, dass sie unmöglich als solche verstanden werden können. Dies ist für die Ironie kennzeichnend, wie Weinrich ausführt: Zur Ironie gehört das Ironiesignal; man tut klein, und man gibt gleichzeitig zu verstehen, daß man kleintut. Man verstellt sich, gewiß, aber man zeigt auch, daß man sich verstellt. […] Ironiesignale, die durch geschriebene und gedruckte Texte wirken sollen, müssen vielfach aus der nuancenreichen gesprochenen Sprache erst in ein anderes Ausdrucksmedium übersetzt werden. Die Worte müssen so gewählt sein, daß man gar nicht anders kann, als sie mit einem gewissen ironischen Tonfall zu lesen. Das ist die Verschlüsselung und erneute Entschlüsselung des Ironiesignals. (Weinrich 1966: 60, 65) 2.3 Gebrauch von Argot als Antistandard Im vorangegangenen Kapitel wurden unter den beleidigenden Briefanreden bereits einige Ausdrücke zitiert, die dem Argot zugerechnet werden können, wie z. B. Aiglefin in der Bedeutung eines Industriellen, der auf Kosten anderer lebt (eig. 'Schellfisch'). Auch wenn seine Ursprünge als Gaunersprache in das Mittelalter zurückreichen, gilt das ausgehende XIX . Jahrhundert als die Hochzeit des Argots. Sein Auftreten ist im Allgemeinen im Zusammenhang zu sehen mit der Herausbildung geschlossener gesellschaftlicher Gruppen (cf. François-Geiger 1995: XV ). Damit ist jedoch noch nicht die Frage nach seiner Funktion geklärt. Unterschiede zeigen sich in diesem Zusammenhang besonders hinsichtlich der Frage, ob es sich um eine Art Geheimsprache handelt, die dem Außenstehenden unverständlich bleiben soll, wie es beispielsweise François Caradec (1977: 5) vertritt: „Lʼargot, avec lequel on confond souvent ce langage populaire, est au contraire un ,idiome artificiel‘ dont les mots sont faits pour n’être pas compris par les non-initiés.“ (cf. auch Dauzat 1946: 5 sowie Édouard 1979: 21). Dem steht die Auffassung gegenüber, wie sie bei Esnault (1965: 5) in folgendem Satz zum Ausdruck kommt: „Le mot argotique n’est ni conventionnel, ni artificiel, ni secret“. Die Frage muss sicher für den Einzelfall unterschiedlich beantwortet werden, da die Funktionen unterschiedlich sein können. Zumindest für die vorliegenden Anarchistenbriefe lässt sich diese Funktion recht deutlich beschreiben, wie anhand einiger Beispiele gezeigt werden soll: 320 Joachim Steffen a) […] jé vu a vot fenaite une tuniqe dofissié | si les laigume 8 nobbaiysse [= n’obéissent] pas au lois de leure paiyi nou pouront leure dirre 5 lette qant y sauront [= quand ils auront] le toupais 9 de nou comendés. on vousanvèra au tonqin avé vot jule féri b) Ma viel branche tu sèt que nous some en trein de fére le deusiéme: mai se que tu ne sét pas cai [= c’est ] 5 que nous savon que ta turne est pas chouaitemant. gardé | Come Je sui un bon zig 10 Je te previen de vaillè au grin [= veiller au grain ] 10 garde au camaro 11 ? Un bon zig? Die Absicht hinter dem Gebrauch der Argotausdrücke ( légume ; toupet ; branche; zig ; camaro ) sowie weiterer Wortspiele ( 5 lettres für merde ; on vous enverra au Tonkin avec votre Jules Ferry ) ist es, eine besondere Expressivität zu erreichen. Es wird deutlich, wie der Argot gegen Ende des XIX . Jahrhunderts (zumindest in Paris) in das français populaire eindringt und sich diese beiden Sprachstile 8 Fonctionnaire. Gros légume. Fonctionnaire puissant et haut placé (Delvau 1866, s.v.). 9 Toupet. Grande effronterie. - Jeu de mots. - Le toupet est supérieur au front (Delvau 1866, s.v.). 10 Ami, camarade de bouteille, - dans l’argot des faubouriens, qui font allusion aux zigzags du lundi soir (Delvau 1866, s.v.). 11 Camarade, ami - dans l’argot des faubouriens (Delvau 1866, s.v.) Antistandard als politisches Manifest 321 zunehmend vermischen. 12 Dies macht auch die Zuordnung zum Argot oder zum français populaire bei vielen Ausdrücken schwierig, da sie z.T. über den Argot in die Umgangssprache wandern. Dies kommt auch in dem Satz „En France, on parle peut-être français; mais à Paris on parle argot […]“, den Alfred Delvau im Vorwort seinem Dictionnaire de la langue verte voranstellt, zum Ausdruck (Delvau 1866: II ), denn er besagt im Grunde zweierlei: 1. Argot gehört zur allgemeinen Umgangssprache in Paris, ist also allgegenwärtig und nicht von dieser zu trennen; 2. Argot (in diesem Sinne) ist den Parisern zugänglich, bezeichnet also keinen geheimen Code. 13 Die Funktion der Verwendung von Argot in den Anarchistenbriefen ist demnach analog zu den Verstößen gegen die Orthographie zu sehen als eine Antithese zum bon usage , ein wohlkalkulierter Rückgriff auf die verbalen Traditionen des gesprochenen Pariser Französisch im Gegensatz zur Schriftnorm der Bourgeoisie. 2.4 Graphische Suprasegmentalia Laut Gauger (1999: 119) stehen drei Instrumentarien zur Mitteilung in der Sprache zur Verfügung: lexikalische, grammatische und suprasegmentale. Die ersten beiden davon stehen auch im graphischen Medium zur Verfügung und wie wir gesehen haben, besteht eine Strategie der Anarchisten zur Übermittlung ihrer Drohnachrichten darin, diese in jeglicher Hinsicht möglichst an die gesprochene Sprache anzunähern. Für Suprasegmentalia ist jedoch im graphischen Medium kein Platz. Gleichwohl spielen sie im Bereich der (phonischen) Beleidigungen eine besondere Rolle. Um dies wettzumachen, müssen sie durch visuelle Mittel kompensiert werden. 14 Viele Schreiber des vorliegenden Korpus verwenden dazu eine Strategie, die hier anhand nur eines Beispiels illustriert werden soll: 12 Hierin zeigt sich im Übrigen einer der wesentlichen Vorzüge dieses Korpus. Jänicke (1997: 86) beklagt den Quellenmangel bezüglich des Argots bis ins XIX. Jahrhundert hinein, den er mit dessen ausschließlich mündlicher Verwendung sowie dem lange herrschenden Desinteresse für die Sprache der Unterschichten begründet. Die Anarchistenbriefe stellen hier eine Ausnahme zu dieser ansonsten wohl zutreffenden Feststellung dar, indem sie einen seltenen direkten - also nicht über Literatur oder Sprachbeobachter vermittelten - Einblick in Formen des gesprochenen Pariser Französisch des XIX. Jahrhunderts bieten. 13 Was nicht für alle Argots zutreffen muss, zumal Delvau selbst stets versucht, eine genauere Zuordnung zu einem spezifischen Argot im Falle einzelner Wörter zu treffen. 14 Im Allgemeinen geschieht dies beispielsweise durch Verwendung von Kursivschrift, Fettdruck oder auch Satzzeichen, die einen intendierten Intonationsverlauf anzeigen können. 322 Joachim Steffen Abb. 1: Drohbrief an M. Cohen, 2.Mai 1892 (Archives de la Préfecture de Police, BA 508) Das Schriftbild ist auffällig häufig besonders unschön. Linien werden nicht eingehalten, weder horizontal noch vertikal; Tintenflecke scheinen bisweilen absichtlich eingefügt worden zu sein, Buchstaben sind ungleichmäßig und oft schwer leserlich; oft werden auch noch Symbole wie Totenköpfe oder Kreuze hinzugezeichnet oder ein Blatt mit schwarzem Trauerrand verwendet. Dies ist als suprasegmentales Mittel eine weitere Möglichkeit, seine Missachtung gegenüber dem Empfänger zu verdeutlichen. Auch hier darf es natürlich mit der Abweichung von der konventionellen Buchstabenform nicht so weit gehen, dass die Botschaft nicht mehr zu entziffern wäre. Man will es dem Leser bloß möglichst schwer dabei machen. 3 Schlussbemerkungen Coseriu weist wiederholt darauf hin, dass es keine Privatsprache geben kann, woraus sich neben der Kreativität und der Semantizität als wesentliche Universalie der Sprache deren Alterität ergibt (cf. Kabatek / Murguía 1997: 245-252). Unter dieser Perspektive lässt sich das sprachliche Verhalten der Anarchisten deuten. Sie nutzen die Kreativität, um sich auf vielfältige Weise von der Sprachverwendung des Klassenfeindes abzusetzen. So finden sich in den Briefen absichtsvolle Verweigerungen der Konventionen des bon usage auf der Ebene der Orthographie, der Textordnungssignale, der Konventionen der Briefkom- Antistandard als politisches Manifest 323 munikation sowie im Lexikon. Allerdings können sie dabei immer nur gerade so weit gehen, dass es nicht zum Zusammenbruch der Kommunikation kommt, da sonst die Wirkung als Drohung oder Provokation nicht zustande kommen würde. In diesem Sinne wird auch Argot hier nicht als Geheimsprache verwendet, gleichwohl auch nicht zur Herstellung der Alterität, also zur Erhöhung der Ähnlichkeit mit dem anderen in der sprachlichen Interaktion. Vielmehr dient sein Gebrauch der Betonung von Alietät, also der Demonstration der Unterschiedlichkeit vom anderen. 15 Der Verstoß gegen die Konventionen sowie die Verwendung eines dezidiert gruppenspezifischen Vokabulars wirken demnach gleichzeitig als gruppenstärkender „Act of identity“ (cf. Le Page / Tabouret- Keller 1985) wie auch als gruppenabgrenzender „Act of non-identity“. Dieser Sprachgebrauch bestätigt auch die sonstige Haltung der Pariser Anarchisten: Above all, social posturing was at the heart of anarchism and its image: the anarchist ethos was a mixture of diffidence, provocation, and humour, and a refusal to subject to any form of authority. (Bantman 2013: 20) Auf Gruppenebene wird hier also versucht, eine eigene schriftliche Norm zu etablieren, die ein komplexes Verhältnis zur Standardnorm hat. Als veritabler Antistandard bedarf sie gleichsam eines starken Standards, um sich als dessen Negativabbild zu konstituieren. Aus diesem Grunde ist es auch sicher kein Zufall, dass dieser gerade im Herzen der französischen Norm, nämlich in Paris, entsteht. Auch der Argot dieser Prägung bedarf ja gerade eines starken Standards, um als Substandard (und nicht als Geheimsprache) zu funktionieren. Literatur Artières, Philippe (2004): „Des mots pour faire peur. Des lettres de menace à Paris en 1892“, in: Terrain 43, 31-46. Bantman, Constance (2013): The French Anarchists in London. 1980-1914 . Exile and Transnationalism in the First Globalization . Liverpool: Liverpool University Press (= Studies in labour history, 1). Caradec, François (1977): Dictionnaire du français argotique et populaire. Paris: Larousse. Catach, Nina (1978): Lʼorthographe . Paris: Presses Universitaires de France (= Que saisje? ). Dauphin, Cécile (1991): „Les manuels épistolaires au XIX e siècle“, in: Chartier, Roger (Hrsg.): La correspondance. Les usages de la lettre au XIX e siècle . Paris: Fayard (= Nouvelles études historiques), 209-272. 15 Zur tiefergehenden Diskussion der Begriffe, die von alter (im Sinne von ‚der andere (von zweien)‘) bzw. alius (‚ein anderer‘) abgeleitet werden, cf. Thun (1988 und 2012). 324 Joachim Steffen Dauzat, Albert (1946): Les Argots . Caractères, évolution, influence . Paris: Delagrave (= Bibliothèque des chercheurs et des curieux). Delvau, Alfred (²1866): Dictionnaire de la Langue verte. Argots parisiens comparés . Deuxième édition entièrement refondue et considérablement augmentée. Paris: Dentu [ 1 1883]. Édouard, Robert (1979): Dictionnaire des Injures . Paris: Sand et Tchou. Esnault, Gaston (1965): Dictionnaire historique des argots français. Paris: Larousse. François-Geiger, Denise (1995), „Introduction“, in: Colin, Jean-Paul / Mével, Jean- Pierre / Leclère, Christian / Boudard, Alphonse (Hrsg.), Dictionnaire de l'argot , Paris: Larousse, XI - XVII . 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Jahrhundert) Gerda Haßler Dans cet article, les embrayeurs locaux, personnels et temporels seront analysés dans des lettres privées françaises de l’Amérique du Nord du XVIIIe et de la première moitié du XIXe siècle. L’analyse sera réalisée sur la base du corpus FRAN. Nous n’envisageons pas de mettre en valeur les différences du français de l’Amérique du Nord par rapport à d’autres variétés du français, mais d’effectuer un inventaire des moyens linguistiques qui servent à l’expression de relations locales, personnelles et temporales. Ceux-ci ainsi que leurs fonctions dans des lettres privées du XVIIIe et de la première moitié du XIXe siècle seront l’objet de cette étude. Nous focaliserons notre attention sur l’usage des déictiques locaux comme expression de l’identification avec la (nouvelle) patrie et sur les déictiques personnels qui présentent des différences dans leur usage en tant que moyens de prise de contact. La transformation de certaines collocations de pronom + verbe en marqueurs du discours sera analysée ainsi que l’usage métaphorique réciproque d’embrayeurs locaux et temporels. Finalement, nous essayerons de répondre à la question de savoir si la distance locale et temporelle des expéditeurs et des destinataires des lettres produit un décalage par rapport au centre déictique. 1 Einführung In diesem Beitrag sollen einige Überlegungen zur Untersuchung der lokalen, personalen und temporalen Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika, überwiegend aus oder nach Louisiana, vorgestellt werden. Louisiana war zwar nur relativ kurze Zeit im Besitz Frankreichs (1682-1763), doch weder die Herrschaft Spaniens über das Land (1682-1763) noch die englischen Kolonisation nach dem Verkauf Louisianas durch Napoléon Bonaparte im Jahr 1803 an die Vereinigten Staaten von Amerika hatten zunächst Auswirkungen 328 Gerda Haßler auf die französische Bevölkerung und ihre Sprache (Breitkopf 2009: 20). Die untersuchten Briefe wurden in einer Zeit geschrieben, die durch zahlreiche französischsprachige Zuwanderer geprägt war. Nach 1755 kamen viele der aus Neuschottland und Neubraunschweig vertriebenen Akadier nach Louisiana, nach der Revolution von 1789 flüchteten Franzosen nach Nordamerika. Diese Personen unterschiedlichen Bildungsgrades schrieben Briefe, die über den Ozean gingen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer rezessiven Entwicklung der französischen Sprache, und die Bevölkerung Louisianas entwickelte sich von einer fast ausschließlich frankophonen über eine bilinguale zu einer annähernd ausschließlich anglophonen Gemeinschaft Die Arbeit wurde auf der Basis des seit 2011 in Entwicklung befindlichen Korpus FRAN : Le Français à la mesure d’un continent (online) durchgeführt, das unter der Leitung von France Martineau an der Universität Ottawa erstellt wurde und seit 2014 zugänglich ist. Insgesamt wurden 86 Briefe aus diesem Korpus berücksichtigt, die von 1777 bis 1840 geschrieben wurden. Die Briefe wurden überwiegend in den Vereinigten Staaten geschrieben (61), zwei auf St. Vincent und den Grenadinen und der Rest wurde von in Louisiana geborenen Personen in Frankreich verfasst. Dabei wird nicht die Absicht verfolgt, das Differenzielle zu anderen Varietäten in den Mittelpunkt zu stellen, 1 sondern das Inventar der sprachlichen Mittel zum Ausdruck lokaler, personaler und temporaler Beziehungen und seine Funktionen in privaten Briefen des 18. und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf seine Verwendung bei transatlantischem Abstand zwischen dem Empfänger und dem Adressaten oder stattgefundener Mobilität zu untersuchen. 2 Deixis und zeitlicher Abstand Sprachliche Zeichen gelten als deiktisch, wenn ihre Referenz in systematischer Weise von der Sprechsituation abhängt bzw. die Referenz sich nur feststellen lässt, wenn man die Sprechsituation kennt. 2 In Briefen, die in den letzten Jahrzehnten des 18. und in den ersten des 19. Jahrhunderts über den Atlantik transportiert wurden, ist dieser Idealfall der Verwendung deiktischer Zeichen zweifellos nicht gegeben. Die Abhängigkeit der Referenz der Deiktika, die Nähe zum deiktischen Zentrum signalisieren, also ,ich‘, ,hier‘ und ,jetzt‘ bedeuten, bewirkt, dass die Referenz beim Sprecher keinesfalls mit der vom Adressaten 1 Cf. hierzu Ali-Khodja (2013), Ali-Khodja (2015), Ali-Khodja / Merkle / Morency / Thibault (2013), Amar (2015), Frenette / Rivard / St-Hilaire (2012), Gadet / Ludwig (2015), Neumann- Holzschuh (1987), (2003), (2008). 2 Zu den Deiktika und ihrem Gebrauch cf. Jungbluth (2002) und (2005). Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika 329 herzustellenden Referenz übereinstimmt. Auch die Deiktika der Distanz vom deiktischen Zentrum wechseln ihre Referenz im Kommunikationsprozess. In der mündlichen Kommunikation bezieht sich der bisherige Hörer und neue Sprecher häufig auf eine Referenz mit Deiktika der Nähe zum Sprecher, worauf sich der bisherige Sprecher mit Distanzdeiktika bezogen hat. Bei der Verwendung deiktischer Personalpronomen ist dies sogar der Regelfall: (1) A: Est-ce que vous allez dîner avec nous ? B: Je pars dans une heure. Sobald wir versuchen, dem dialogischen Charakter der Kommunikation Rechnung zu tragen, stellt sich jedoch das Problem der Unterscheidung des deiktischen Zentrums von Sprecher und Hörer oder, zum Beispiel im Brief, zwischen Schreiber und Leser. Im alten Rom war es üblich, aus Gründen der Höflichkeit das deiktische Zentrum des Empfängers zu wählen und die Tempora entsprechend anzupassen. So schrieb Cicero an Atticus mit einer Rückverlagerung der temporalen Bezüge: (2) […] cum mihī dixissit Caecilius puerum sē Rōmam mittere, haec scrīpsī raptim. ,Weil Caecilius mir gesagt hat [wörtlich: mir gesagt hatte], dass er einen Knaben nach Rom senden würde, schreibe [wörtlich: schrieb] ich dies in Eile.‘ (cf. Comrie 1985: 16) Hier wurden Verbformen gewählt, die die Handlungen zurück verlegen, womit der Tatsache Rechnung getragen wird, dass der Leser den Brief später erhalten wird. Diese Verwendungsweise etablierte sich jedoch nicht als Regel. Meist wird davon ausgegangen, dass das deiktische Zentrum des Produzenten und des Rezipienten der Äußerung identisch sind. Auf die Grammatik hat deren Unterscheidung jedenfalls keine Auswirkungen und auch in der Lexik werden sie überwiegend als identisch behandelt. Während in Alltagsgesprächen die Produktion und Rezeption von Äußerungen als gleichzeitig betrachtet werden kann, muss für bestimmte kommunikative Akte eine chronologische Differenz zwischen der Produktion und der Rezeption angenommen werden. Das ,Jetzt‘ des Produzenten kann für den Rezipienten zu einem Moment der Vergangenheit werden, während das ,Jetzt‘ des Rezipienten für den Produzenten noch ein Moment in der Zukunft war. Diese für Briefe zutreffenden Verhältnisse können auch Konsequenzen für die Verwendung des Verbalsystems haben. In Briefen ist eine vollkommene Vernachlässigung der temporalen Perspektive des Empfängers üblich. Daraus ergibt sich folgende normale Verwendung von Verbformen in einem Brief: 330 Gerda Haßler (3) Nous sommes dans cette ville cher cousin, depuis hier matin , nous nous sommes unpeu reposées car il y avait trois nuits et deux jours que nous étions dans cette diligence. Nous partirons dimanche à trois heures de l’après midi et nous arriverons à l’hotel. (1839-8-17. Lettre d’Amélie Duplantier à son cousin, à Lyon, le 17 août 1839. Lyon 17 aout 1839) Während die Autorin dieses Briefes den Aufenthalt in einer bestimmten Stadt als gegenwärtig und seit dem Morgen des Vortags andauernd erklärt und das Aufbrechen am Sonntag in der Zukunft verortet wird, gehören beide Situationen für den Rezipienten nach dem Erhalt des Briefes bereits zur Vergangenheit. Eine Orientierung der Verbformen am deiktischen Zentrum des Rezipienten würde für die heutigen romanischen Sprachen befremdlich wirken. Ihr würde die folgende Umformulierung entsprechen: (4) Je t’écrivais cette lettre quand nous étions dans cette ville, déjà un jour et demi, nous nous étions un peu reposées car il y avait trois nuits et deux jours que nous étions dans cette diligence. Nous partirions le prochain dimanche à trois heures de l’après-midi et nous arriverions à l’hôtel. Eine Einnahme des temporalen deiktischen Zentrums durch die Verfasser ist auch in den untersuchten Briefen in keinem einzigen Fall zu verzeichnen. Es soll jedoch überprüft werden, ob die Verwendung deiktischer Mittel ausgehend von der Origo des Briefschreibers diese möglicherweise anfällig für Bedeutungsveränderungen oder spezifische Verwendungen macht. Im erwähnten Beispiel (3) sind alle temporal-deiktischen Mittel, d. h. die Tempora, das Adverb hier und auch dimanche , das aufgrund des immer wiederkehrenden Charakters auch deiktisch ist, klar auf die Origo des Briefschreibers bezogen. Diese unbekümmerte Verwendung des Adverbs hier lässt sich in vielen Briefen finden, obwohl der damit bezeichnete Tag für die Empfänger der Briefe schon weit zurückliegt: (5) Nous passons notre tems a visiter les curiosités de paris, nous allons àpetites journées afin de ne pas nous fatiguer, J’écris quatre ou cinq lettres pour la Louisiane toutes les semaines. Je reçus une lettre de maman hier , elle se portait bien ainsi que mes frères et mes sœurs, ma pauvre mère trouve la nouvelle Orléans bien triste depuis que nous n’y sommes plus. Je verrai tous mes parents […]. (1839-7-27. Lettre d’Amélie Duplantier à sa tante Euphrosine Tivollier Allard Duplantier, à Paris, le 27 juillet 1839) (6) Hier a été p ourmoi unjour defête: une lettre venant directement du Plantier, etla premiere queje reçois devous, Mon cher Allard […]. (1839-5-19. Lettre d’Armand Duplantier fils à son cousin Antoine Frédérique Allard Duplantier, paroisse Saint-Jacques, 19 mai 1839) Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika 331 Der räumliche Abstand zwischen den Schreibern und den Adressaten der Briefe führt jedoch auch zu gehäuften referentiellen Zeitangaben, wie im folgenden Beispiel: (7) Ala Pointe Coupée province dela Louisianne Le 21. avril 1783. J’ay reçu mon très Cher frere, hier ſeulement Celle que vous m’avéz Ecrite le 26. may 82 . et Celle que vous avéz remise À M. manaut ne m’ont pas été rendüe Je n’En ſuis pas ſurpris, ou qu’il est prisonnier A la Jamaique quoique venȗ ſous pavillon Imperial Il Est dans […]. (1783-4-21. Lettre de Jean-Claude Trénonay à son frère, dans la paroisse de la Pointe Coupée en Louisiane, le 21 avril 1783) Ähnliches trifft auch auf die Verwendung von demain zu, das überwiegend für den Tag nach dem Schreiben des Briefes verwendet wird: (8) […] je profite, cher papa, dun batiment qui doit partir demain ſoit pour filadelphia ou pour Londre, on ne ſait pas pour Lequel des deux port, pour vous marquer combien jai été ſurpris en arrivant a La N eẹlle orléan. (1793- 5-5. Lettre d’Armand Duplantier père à son père Joseph Allard Duplantier, Nouvelle-Orléans, 5 mai 1793. nouvelle orléan ce 5. may 1793) Convient a hypolithe, il dit qu’il ne ſ ’eſt jamais mieux portes en europe. dis a mes enfants que je ne leurs écris pas par Cette occaſion, j’arrive ce ſoir et j’apprens que Loccaſion part demain matin, je les embraſſe tendrement par le premier B t. je leurs écrires. [long trait] (1805-2-20. Lettre de Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, le 20 février 1805) Interessant ist jedoch das folgende Beispiel, in dem die Schreiberin des Briefes sich möglicherweise der Problematik des Deiktikums demain bewusst wird und versucht, es durch das nichtdeiktische lendemain zu ersetzen, dessen Orthographie sie jedoch nicht beherrscht: (9) […] quoi-que sur simon Amiro dire le derniè dimanche je vai vous le dire Aussi-teau que vous fur parti je fu me cauche et lan demain Simon me de mandi quoi qui vous avai fai a nalez je di que je le savai point et il dit que cetait petête de safaute mais il le […]. (1869-5-23. Geneviève Babin écrit à Guillaume d’Entremont en Nouvelle-Écosse, à Pubnico-Ouest, en 1869. [Page 3]) Die Deiktika aujourd’hui und maintenant bezeichnen ein Zusammenfallen mit der temporalen Origo des Textproduzenten, wobei aujourd’hui ursprünglich das Intervall des laufenden Tages und maintenant den Moment der Äußerungsproduktion bezeichnet. In den Briefen sind solche streng deiktischen Verwendungen durchaus vorzufinden. Der Moment des Abfahrens der Kinder in Beispiel 332 Gerda Haßler (10) und die Information über den Gesundheitszustand in (11) werden im ʽJetztʼ des Briefschreibers verortet und auf den aktuellen Tag bezogen: (10) N eẹlle orlean Ce 3 juin 1802. Mes enfants parte aujourdhui , mon bon ami, pour aller te joindre je ne te dis pas tout Ce qu’il m’en coute pour me ſeparer d’eux, Le déſir de leur donner de l'Education, me fait faire ce ſacrifice, il faut une occaſion Comme Celle de M rṛ et 18. (1802-6-3. Seconde lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, à la Nouvelle-Orléans, le 3 juin 1802) (11) […] eſt arrivé ici tres fatigués de La traverſée, qui a été un peu Longue, Ce qui lui avoit occaſionné une fievre d’a[illisible], avec des ſoins et quelques remedes, il en a été quitte, il ce porte bien aujourdhui , jespere qu’il Continuraa jouir de La meilleure ſantée, il me dit qu’il écrit a Ces parens par cette occaſion. (1803-8-6. Lettre d’Armand Duplantier père à sa belle-soeur, Euphrosine Tivollier Allard Duplantier, à la Nouvelle-Orléans, le 6 août 1803) Im nächsten Beispiel bezieht sich maintenant auf den aktuellen Moment, in dem der Briefschreiber zu einem anderen Thema übergeht. Es übernimmt somit auch textdeiktische Funktion (cf. Maaß 2010), insofern es das neue Thema einleitet und auf dieses verweist: (12) […] a un Physique assez agréable un Caractere Charmant et une Education Soignée [trait] elle est assez Bonne musicienne, elle parle et Ecrit Correctement les Langue françaises et Anglaises. Voila mafille aînée, passons maintenant à ma petite Louise agée de 13 ans aprésent à Paris [trait] Louise est un Enfant charmant, Sans cette déviation dela colone vertébrale. (1826- 8-26. Lettre d’Armand Duplantier fils à sa tante Euphrosine Tivollier Allard Duplantier, Paris, 26 août 1826) In solchen rein deiktischen Verwendungen liegt eine egozentrische Setzung des Bezugspunkts als Origo des Briefschreibers vor, die der Adressat möglicherweise aufgrund seines Weltwissens nachvollziehen oder auch nicht deiktisch interpretieren kann. Im Beispiel (12) liegt für den Adressaten die textdeiktische Bedeutung nahe, die aber auch einen Bezug zu seinem deiktischen Zentrum ermöglicht. In der überwiegenden Zahl der Verwendungen von maintenant und aujourd’hui liegt jedoch keine deiktische Verwendung im strengen Sinne vor. Die beiden Adverbien bezeichnen einfach Aktualität und werden über den Moment der Äußerungsproduktion und die Origo des Schreibers hinaus verwendet. Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika 333 (13) […] tu pas par haſard, ſi cela ait, mon bonami, dépêche toi tu n’as pas detems a perdre, je tavoue frenchement que ſi je n’avois fait ce pas La, je me crois aujourdhui trop vieux et trop uſé pour le faire, ſuivant ce que me dit, andré gariot, aqui je ne ceſſe de faire des queſtion ſur vous autres tous, tu[tache d’encre] ais [f / t? ]rais [lettre illisible, corrigé à ‛bi’]en portant et.tu n’as pas comme moi Les cheveux blan, cela ne […]. (1793-1-26. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, Pointe-Coupée, 26 janvier 1793) (14) […] puis rien faire. Ma tante et moi, nous avons été très souffrantes ces jours passés, ma tante a eu un rhume qui l’a obligé de garder le lit pendant plus de quinze jours, etmoi toujours mal au gosier. heureusement que maintenant nous sommes très bien. Vous m’aviez promis cher cousin, deme donner Souvent des nouvelles dema bonne tante et vous l’avez fait une fois, vous oubliez votre nièce, c’est très mal. (1839-11-15. Lettre d’Amélie Duplantier à son cousin Antoine Allard Duplantier, à Paris, le 15 novembre 1839) Mitunter wird dabei auch ein Kontrast zu einem früheren Zeitraum präsupponiert. In Beispiel (15) wird der kritische Charakter der Bedingungen für ein Intervall festgestellt und es wird der weniger problematische Zeitraum davor präsupponiert: (15) […] eux mesme, nous nous flatons que nos compatriotes ne nous oublirons pas nous attendons tout d’eux; dieu veulle que ce ne ſoit pas envin, je te marquois auſſi que je t’envoyois.un peu d’indigot avec mon fils Les circonſtances ſont aujourdhui trop critique pour que je puiſſe Laſarder, tu peu conter qu’auſſitot que je pourres Le faire ſans courir autant de dangé je t’en feres paſſer, je te recomande de m’écrire par toutes Les ocaſion, […]. (1793- 5-25. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, Nouvelle-Orléans, 25 mai 1793) Maintenant referiert im folgenden Beispiel auf eine Situation des Exils, die dem vorher erfolgten Aufbau einer Beziehung gegenübergestellt wird: (16) […] depuis 24 ans, Cette circonstance cy avoit encore Resserré nos liens, tenant tous deux menage, nous nous ſuffisions l’un al’autre et etions Reciproquement laconsolation del’exil affreux ouje me trouve maintenant ſeul reduit. Pardon, Monsieur, je me livre aux Sentiments quim’affectent et je ne m’aperçois pas que je devrois Chercher les moyens d’adoucir le Coup dont je vais vous accabler. tombé malade, ainsi que Monsieur […]. (1780-10-1. DuChastelet écrit à propos de la mort d’Antoine de Trénonay, à Kingston, Saint-Vincent-et-les-Grenadines, dans les Antilles, en 1780) 334 Gerda Haßler Alle betrachteten temporalen Deiktika weiten in den Briefen also ihren Gebrauch über die Referenz auf das deiktische Zentrum hinaus aus, wobei bei den ursprünglich den aktuellen Zeitpunkt oder das aktuelle Intervall bezeichnenden Adverbien diese Verwendung sogar dominiert. 3 Die Verwendung lokaler Deiktika Im Folgenden soll die Verwendung der Deiktika ici und là in den untersuchten Briefen betrachtet werden. In seiner üblichen Bedeutung referiert ici auf den lokalen Standpunkt des Sprechers, des Autors oder des fingierten Sprechers. In dieser Bedeutung tritt es auch in der überwiegenden Zahl der Vorkommen im betrachteten Zeitraum in Frantext auf. Im folgenden Beispiel ist der deiktische Verweis auf den Standort des fingierten Sprechers besonders deutlich: (17) Ici , à cette place même, je les ai entendus profaner la Religion qu’ils professent. (Frantext, N369 - Mercier, Louis-Sébastien, La Destruction de la Ligue ou la Réduction de Paris, 1782, p. 84) In den Briefen dominiert jedoch eine Verwendung von ici , mit der neben dem lokaldeiktischen Bezug zugleich der Kontrast zu einem anderen Ort, dem des Adressaten, hergestellt wird. Dieser Kontrast kann durch die Benennung des Ortes, an dem der Briefschreiber sich befindet (18) oder früher befand (19) verstärkt werden, aber auch durch die Beschreibung der anderen Gewohnheiten und Verfahrensweisen in dem Land hergestellt werden (Beispiele (20) und (21)): (18) […] a mon arivé a La Loui ſ iane , et je vous mendois tout ce que javois ſouffert et combien javois eu de La peine pour me rendre juſqu’au pres de mon oncle, je ſuis arrivé ici dans Le mois d’avril. 81. je me ſuis marié environ quatre mois apres avec La belle fille a mon oncle. (1783-4-23. Lettre d’Armand Duplantier père à sa mère pour lui annoncer qu’il a reçu sa correspondance, le 23 avril 1783) (19) Je voudrois trouver une perſonne aſsèz ſolvable Et Exacte à remplir ſes Engagements Je lui abandonnerois volontiers les Biens que Je possede ici pour la Moitié du revenu que Je fais rendre En france pendant mon vivant, et qu’après moi Il remetteroit à mes parents la valeur Conformement à l’Inventaire Estimatif qui En ſeroit fait avant la Livraison du Bien. (Lettre de Jean-Claude Trénonay à son frère, dans la paroisse de la Pointe Coupée en Louisiane, le 21 avril 1783) (20) […] ſi on le vendait au comptant on ne tirerais pas le prix qu’il a été évalué qui ſe monte [trait] a . 50 000 . piaſtres, toutes les affaires ici ſe font a terme Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika 335 le numeraire étant for rare. je me conformerés abſolument a ceque vous me marquerés n’ayant rien tant a coeur que de prouver a mes parens combien je ſuis flaté […]. (1792-12-1. Lettre d’Armand Duplantier père à son père Joseph Allard Duplantier, Nouvelle-Orléans, 1 er décembre 1792) (21) Les biens ne vale plus, vous ſavés toutes Les horreurs qu’orélli a fait ici, ſon parens eſt de mesme il a adopté tous ſes principes il ne lui manquerais que Locaſion pour en faire autant, il a aujourdhui La plus grande crainte que Les habitants francais ici ne ſuive L’exemple de Leurs freres en europe en cherchent a ſe débarraſſer du jouc qui Les oprime et pour Le prevenir il rend L’habitant auſſi miſerable […]. (1793-5-24. Lettre d’Armand Duplantier père à son père Joseph Allard Duplantier, Nouvelle-Orléans, 24 mai 1793) Die kontrastive Darstellung kann auch durch den Vergleich mit anderen Orten verstärkt werden: (22) […] procure toi un bon Corespondent ſur Cette place, ou prens Ces Meſſ . rs , d’'apres les informations que tu en auras, pour tirer Le meilleur parti des Cotons, Lon nous dit ici qu’il ſ ’y vende mieux qu’a Bordeaux , jespere Cependant t’en envoyer auſſi pour Cette place, pour la quelle il doit partir d’ici le mois prochain, pluſieurs navires, et L on me promet, me prendre du Coton, ſi je puis trouver […]. (1803-2-4. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, à la Nouvelle-Orléans, le 4 février 1803) Die deiktische Qualität von ici geht in den Briefen teilweise verloren, insofern dieses Wort nicht einfach auf den Standort des Briefschreibers verweist, sondern das Land bzw. die Region, in der er sich befindet, bezeichnet. Im folgenden Beispiel wird ein Gesetz genannt, das für das Antreten eines Erbes in Louisiana unabhängig vom lokalen Standpunkt des Briefschreibers gilt: (23) […] rapellez moi je vous prie au ſouvenir de mes parens ma femme ſejoint a moi. aucas qu’il n ayent pas de teſtament La loi ici éxige que les héritier envois un extrait de mariage de mon grand pere et Lextrait de batême des freres et ſoeur héritier ſans quoi on ne leurs remetrais pas leurs biens. je vous écris celle ci par triplicata. (1792-8-2. Lettre d’Armand Duplantier père à son père, en Louisiane, à Pointe Coupée, le 2 août 1792) Ici wird zu einer Art Kurzbezeichnung für das Aufenthaltsland des Briefschreibers und es erhält neben seiner deiktischen Grundbedeutung vielfältige Konnotationen, die auf die Vorzüge und Nachteile der dortigen Lebensbedingungen zurückgehen. Ebenso wie das Pronomen (l)on im folgenden Beispiel zu einem Kollektivum zur Bezeichnung aller in dem Landstrich wohnenden Personen 336 Gerda Haßler wird, die von dem Nichteingreifen der Franzosen enttäuscht sind, erscheint ici als Bezeichnung des Landes, die Nouvelle Orléans ersetzt. Der Briefschreiber ist zwar dort verortet, verwendet aber ici zugleich auch als nichtdeiktische Bezeichnung für einen unsicheren und von den Franzosen im Stich gelassenen Ort: (24) Lon eſt ici toujours dans La plus grande incertitude, nous attendons les francais d’un jour a Lautre, et il n’arrive pas, perſonne n’auſe rien entre prendre, tout eſt mort, joins à Cela une raretée dèſpece […]. (1803-2-4. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, à la Nouvelle-Orléans, le 4 février 1803) Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die häufige Verwendung der Kollokation ce pays ici in den Briefen: (25) Cher papa, quevous voudrez bien me donner de vos nouvelle, decelle maman et de toute la famille, ce cera le plus grand plaiſir que je puiſſe avoir dans ce pay ici [tache d’entre] dans recevoir, joſe me flater que léloignement nevous fera point oublier, gradouble, pour moi rien ne mefera jamais oubli[tache d’encre sur le ‛e’]r vos bontées et celle de […]. (1781-5- 18. Lettre d’Armand Duplantier père à son père Joseph Allard Duplantier, à Pointe-Coupée, le 18 mai 1781) Dabei handelt es sich nicht um eine Variante des Nomens pays mit dem gespaltenen Demonstrativadjektiv ( ce pays-ci ), das im untersuchten Zeitraum bereits gefestigt ist, wie frühe Belege in Frantext belegen: (26) Puis que de ce lieu ci il me faut étranger, Que tu m’ottroie ailleurs un lieu pour me loger […]. (Frantext, S050 - La Péruse, Jean Bastier de, La Médée , 1556, p. 18) (27) Et puis en ceste villeci On voit ce commun badinage, De souffrir mieux un cocuage Que quelque amitié vertueuse. (Frantext, S133 - Jodelle, Étienne, L’Eugène , 1573, p. 21) Auch in den Briefen tritt dieses Demonstrativadjektiv in verschiedenen orthographischen Varianten auf, cf. cette circonstance cy in Beispiel (16). Sogar die Kollokation ce pays ci tritt in den Briefen auf, mit ihr wird gleichfalls auf das Aufenthaltsland des Briefeschreibers verwiesen: (28) […] le Cas ou il ny aurait pas de batiments prets a faire voile pour Ce pays Cy , il pourra passe […]. (1777-4-1. Lettre de Jean-Claude Trénonay à sa soeur Gabrielle Trénonay Duplantier à la Pointe Coupée en Louisiane, le 1 er avril 1777) Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika 337 Die Opposition von ce pays ci und ce pays ici scheint jedoch kein bloßes Phänomen der Variation zu sein. Die Briefschreiber hätten auch das Demonstrativum ce…ci verwenden können, das seit langem bereits zur Verfügung stand. Mit der Verwendung von ce pays ici nehmen sie jedoch über die deiktische Verortung in ihrer Nähe auch eine referentielle Zuordnung vor: es handelt sich um das Land mit seinen Charakteristika und Konnotationen. Die Kollokation ce pays ici scheint in den Briefen sehr gefestigt zu sein. Anders als bei der Verwendung des Demonstrativums wird ein noch stärkerer deiktischer Bezug zum Land, in dem sich der Briefschreiber aufhält, hergestellt, gleichzeitig erscheint diese Kollokation konnotativ aufgeladen. In Beispiel (29) steht ce pays ici als Objekt, das durch das Verb rendre mit dem Prädikativum agréable verbunden wird. In Beispiel (30) wird ce pays ici für die Bezeichnung des Ausgangspunkts von Aktivitäten verwendet. (29) […] que je feres tout ce qui dependrat de moi pour lui rendre ce pays ici agréable, et que je le ſervires en tout Ce que je pourres, votre recommendation, […]. (1803-8-6. Lettre d’Armand Duplantier père à sa belle-soeur, Euphrosine Tivollier Allard Duplantier, à la Nouvelle-Orléans, le 6 août 1803) (30) […] j’ais tout eſpoir que Lon remettras, mais je Crains que La Cargaiſon ſerat vendus en angleterre. un de mes amis M rṛ porteau part de ce pays ici pour faire de pareille reclamation, je le charge de mon pouvoir, pour me repreſenter de toute maniere dan[’s Cette a’ sur une tache]ffaire, et L’authoriſe de le paſſer a un autre, […]. (1804-1-20. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, à Bâton-Rouge, le 20 janvier 1804) Die Grammatikalisierung des Demonstrativums ce N-ci war zwar längst vollzogen, wurde aber für die Kollokation ce pays ici aufgehalten. Gegenüber ici ist die Verwendung des deiktischen Adverbs là weniger prominent. Es wird regelmäßig zum Hinweis auf Orte verwendet, die vom Briefschreiber entfernt sind: (31) Nous resterons deux jours aBagnères un jour a tarbes, deux [‛j’, corrigé à ‛o’]u trois jours à Toulouse et de là , nous nous dirigerons vers Voiron sans nous arrêter longtems dans les autres villes. (1840-8-27. Lettre d’Amélie Duplantier à son cousin Antoine Allard Duplantier, à Barèges, le 27 août 1840) In Beispiel (32) wird der Adressat des Briefes mit là verortet und gleichzeitig mit dem Personalpronomen vous bezeichnet, während der mit moi bezeichnete Briefschreiber deiktisch mit ici verortet wird: 338 Gerda Haßler (32) […] que vous furent de retour je commence a trouvè le temps bien long et annuiant de me voir si éloigné de vous je me resemble seulle au monde quand je pence vous la a moi ici mais je prand courage lèté secoule bien et jespaire que jarai le plaisir de vous revoir (1869-7-18. Justine d’Entremont, écrit à Mandé d’Entremont, son époux, en Nouvelle-Écosse, à Pubnico, en 1869) Ähnlich kontrastiv werden ici und là auch in einem Brief aus dem Jahr 1869 verwendet, der aber gleichzeitig auch von geringerer schriftsprachlicher Kompetenz und von Überlagerung durch das Englische zeugt: (33) […] vous lontemp mais jé ponsé que vous avais la tête broulé par votre belle maitreſse que vous avez par la je crois que vous ferez mieutde la mené la mené par Les fille de par ici commoncon avenir [mot effacé et remplacé par] firce [« fierce »] il y a une fille du « board » [effacement d’une lettre sous le ‛o’] de […]. (1869-10-11. Thadée d’Entremont écrit à son beau-frère, Guillaume d’Entremont, en Nouvelle-Écosse, à Pubnico, en 1869) 4 Personale Deiktika und das Zusammentreffen mehrerer Dimensionen der Deixis In den letzten Beispielen war bereits die Wechselwirkung lokaler und personaler Deiktika zu erkennen. Die Verwendung der deiktischen Personalpronomen in den Briefen folgt den längst etablierten Regeln und der Textsorte Brief, die auch eine Häufung des betonten Personalpronomens moi erwarten lässt. Hier seien lediglich einige typische Beispiele erwähnt. Die Aufforderung, Briefe an den Briefschreiber zu schreiben wird mit dem deiktischen Pronomen moi formuliert: (34) […] je te Le repete, mon bon ami ecris moi Le plus ſouvent que tu pourras, ſeſt le plus grand plaiſir que jaient ici de recevoir de vos nouvelles. (1793- 5-25. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, Nouvelle-Orléans, 25 mai 1793) Für die Topikalisierung der Bezeichnung des Briefschreibers wurde das in der gesprochenen Sprache übliche Verfahren genutzt: moi, je vous prie : (35) […] moi je vous prie au ſouvenir de tous mes parens en Leurs diſant Les choſes Les plus honnêtes et Les plus tendre pour moi, ne m’oublies aupres de mes anciens amis ſur tout notre ancien curé M rṛ perrin 1796-2-15. (Lettre d’Armand Duplantier père à son père, Joseph Allard Duplantier, à propos de la succession de Claude Trénonay, à la Nouvelle-Orléans, le 15 février 1796) Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika 339 (36) […] ma donné de vos nouvelles, et jai peur qu’elle devienne auſſi parreſſeuſe que toi; je Lḷavois bien prié de m’écrire et je n’ais reçu depuis aucune de ſes Lettres., ſi éduvige n’étoit pas plus vieille que moi je dirais que peut être elle ait amoureuſe et que ſ ’ait cequi Locupe, mais toi qui as toujours eu un peu cette maladie La ne le ſerois tu pas par haſard, ſi cela ait, mon bonami, […]. (1793-1-26. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, Pointe-Coupée, 26 janvier 1793) Ebenso wird der Adressat mit toi, tu topikalisiert: (37) […] toi, tu dois avoir recu mes precedentes, par Lesquelles je te marquois, ſi mes envois ce rendait, de me faire L’emplête du domain e de meyphrey […]. (1804-1-20. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère Guy Allard Duplantier, à Bâton-Rouge, le 20 janvier 1804) Das Pronomen vous wird zur Benennung der Adressaten der Briefe verwendet: (38) Combien mon coeur a été attendri et ſenſible en Liſant toutes Les inquiétude que vous avez eu pour moi, et toutes Les peines que vous vous êtes donné pour découvrir ou je pouvois être, […]. (1783-4-23. Lettre d’Armand Duplantier père à sa mère pour lui annoncer qu’il a reçu sa correspondance, le 23 avril 1783) Eine Übertragung auf andere, entfernte Personengruppen erfolgt nur in wenigen Fällen. So wird in Beispiel (39) eine Art Bohnen einer fernliegenden Gegend zugeschrieben, deren Bewohner mit vous benannt werden. In diesem Fall hat auch dieses Pronomen eine über seine deiktische Bedeutung hinaus ausgeweitete Bedeutung und verweist nicht mehr nur auf die andere personale Deixis, sondern auch auf lokale Ferne: (39) C’est aincy qu’on nomme les Espèces d’haricots que vous avèz à Chamfret que l’on accommode au vin […]. (1783-4-21. Lettre de Jean-Claude Trénonay à son frère, dans la paroisse de la Pointe Coupée en Louisiane, le 21 avril 1783) Die Verwendung der Possessivadjektive notre und votre beruht überwiegend auf verwandtschaftlichen Beziehungen des Briefschreibers (40) bzw. des Adressaten (41), auf Besitz- (42) oder Zugehörigkeitsbeziehungen (43), die auch emotionaler Art sein können (44): (40) […] jay engagé notre frere a ſe joindre a moy […]. (1777-4-1. Lettre de Jean- Claude Trénonay à sa soeur Gabrielle Trénonay Duplantier à la Pointe Coupée en Louisiane, le 1 er avril 1777)) 340 Gerda Haßler (41) […] depuis le depart de m rṛ votre fils nous navons eus au cunnes deſes [trait]nouvelles on pretend quil est resté a boston et quil ſert ches les inſul gents m rṛ Le c tṭe […]. (1781-4-3. Lettre de Charles Laurent Marquis de Mondion à Armand Duplantier père, à Béziers en France, le 3 avril 1781) (42) […] ſi notre fortune étoit un peu plus conſiderable je la déterminerais a paſſer en france, malgré toute La répugnance qu’elle a de traverſer La mer 1787-2-3. (Lettre d’Armand Duplantier père à son père Joseph Allard Duplantier, Pointe-Coupée, 3 février 1787) (43) Votre tres humble ettres obeiſſant ſerviteur et fils. duplantier jevous prie doffrir monrespect amatante et a notre cher curé, ambraſſé bien mon frere et ma ſoeur et lapetite [Indéchiffrable] pourmoi […]. (1781-5-18. Lettre d’Armand Duplantier père à son père Joseph Allard Duplantier, à Pointe- Coupée, le 18 mai 1781) (44) Cette lettre est la seule qui me ſoit parvenue depuis votre départ du deauphiné pour vous rendre a versailles, […]. (1792-2-4. Lettre de Jean-Claude Trénonay à son beau frère, Joseph Allard Duplantier, dans la paroisse de la Pointe Coupée en Louisiane, le 4 février 1792) Unter zahlreichen Briefen findet sich die Formel Votre trés humble & trés obéi ſſ ant ſ erviteur , die Verbundenheit ausdrückt. Mit votre werden dem Adressaten auch Eigenschaften zugeschrieben ( votre grant age ; votre génerosité , votre paresse ): (45) […] ſi Cette paix tant déſiré pouvoit ce faire, malgré votre grant age, je me flate que jaurais encore une fois Le plaiſir de vous embraſſer […]. (1799-7- 28. Lettre d’Armand Duplantier père à son père, Joseph Allard Duplantier, à la Nouvelle-Orléans, le 28 juillet 1799) (46) Ce qui l’interesse: que d’actions de graces n’ay je pas a vous rendre du Cadeau inaprétiable que votre génerosité ma procurée dans la Collection des grene que vous m’aves fait parvenir […]. (1787-1-3. Lettre de Jean-Claude Trénonay à son beau-frère, Joseph Allard Duplantier, dans la paroisse de la Pointe Coupée en Louisiane, le 3 janvier 1787) (47) Mettez votre paresse unpeu de coté et donnez moi [‛des’, corrigé à ‛de’] vos nouvelles plus souvent […]. (1839-11-15. Lettre d’Amélie Duplantier à son cousin Antoine Allard Duplantier, à Paris, le 15 novembre 1839) Notre kann aber auch die Verbundenheit mit dem Aufenthaltsort des Briefschreibers ausdrücken, wie im folgenden Beispiel, wo der Hafen als zum Briefschreiber gehörig dargestelllt wird: (48) […] rien [lettre illisible, corrigée à ‛n’]e luy ſera plus facile aujourduy que ſon embarquement, ſoit a bordeaux ou a la rochelle ou il pourra ſ ’embarquer pour Cette Colonie notre port étant ouvert a tous batiments francois et Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika 341 mesmes d[‛e’, corrigé à ‛a’]ns le Cas ou il ny aurait pas de batiments prets a faire voile pour Ce pays Cy […]. (1777-4-1. Lettre de Jean-Claude Trénonay à sa soeur Gabrielle Trénonay Duplantier à la Pointe Coupée en Louisiane, le 1 er avril 1777) Insbesondere in emotionalen Passagen von Briefen können mehrere Dimensionen der Deixis zusammentreffen und gemeinsam eine Situation deiktischer Nähe schaffen. In der folgenden Textstelle sind die ausgehend von der Origo des Briefschreibers verwendeten Deiktika markiert, wobei die die auf Nähe zu diesem kursiv und die auf das deiktische Zentrum des Adressaten verweisenden als Kapitälchen hervorgehoben sind: (49) […] [illisibles, corrigées à ‛ami’]cales pour nous , aſſure La de notre ſincere attachement, nous embraſſons de tout notre Coeur tes cher enfants, je ne puis te dire Combien je ſuis impatient de te rejoindre, jamais je ne me ſuis autant deplus que je le fais aujourdhui dans Ce pays ici , il me ſemble que Ce moment n’arriverat jamais, embraſſe éduvige tendrement pour nous , mes amities a tous nos parens en me rapellant a Leur ſouvenir! adieu, mon bon […]. (1804-1-23. Lettre d’Armand Duplantier père à son frère, en Louisiane, à la Nouvelle-Orléans, le 23 janvier 1804) Das Beispiel zeigt den hohen Anteil deiktischer Elemente, die in den Briefen eine durchaus sinntragende Rolle haben. Dieser hohe Anteil ergibt sich aus dem geographischen Abstand des Briefschreibers und des Empfängers und möglicherweise auch daraus, dass in allen Briefen Informationen über die Charakteristika des Aufenthaltsortes übermittelt wurden. 4. Zusammenfassung und theoretische Schlussfolgerungen Wie festgestellt werden konnte, betrifft das starke Auftreten von Deiktika jedoch nicht nur die lokale, sondern auch die temporale und auch die personale Deixis. Insbesondere bei der Verdeutlichung der Origo des Textproduzenten wirken lokale, temporale und personale Deiktika zusammen: lokale Deiktika personale Origo Deiktika temporale Deiktika 342 Gerda Haßler Deiktika können daher auch metaphorisch für die jeweils anderen Dimensionen der Deixis stehen. So kann das lokale Deiktikum der Nähe ici auch für zeitliche Nähe stehen. Die Bezugnahme auf die Origo des Sprechers kann auch zurücktreten und die eigentlich deiktischen Elemente können referentielle Bedeutung annehmen und das Land als solches oder eine ausgeweitete Gegenwart bezeichnen. Diese Tendenz tritt vor allem bei Nähe zum Sprecher bezeichnenden Deiktika auf. Referentielle Verwendungen finden sich vor allem bei lokalen Deiktika, etwas weniger bei temporalen, dagegen nicht bei personalen Deiktika. Unter referentieller Verwendung verstehen wir dabei solche Okkurrenzen eigentlich deiktischer Mittel, in denen ihnen auch unabhängig von der Origo des Sprechers oder Schreibers eine Bedeutung zugewiesen wird. Diese Bedeutung ergibt sich aus der immer wieder gleichen Verwendung bestimmter Deiktika mit Bezug auf einen bestimmten Ort oder ein Zeitintervall, wodurch die Bedeutung dieser Wörter referentialisiert wird und die deiktische Qualität zwar nicht verlorengeht, aber deutlich eingeschränkt wird. Die Bedeutung lokaler Deiktika ist dann nicht mehr auf den unmittelbaren Ort, an dem sich der Briefschreiber befindet, eingeschränkt, sondern die Wörter können auf ganze Regionen und Länder bezogen werden und deren Eigenschaften implizieren. Temporale Deiktika in referentieller Verwendung bezeichnen über den Produktionsmoment der Äußerung hinaus in der Regel nahe Zeitintervalle. Die untersuchten Briefe bieten eine Basis zur Untersuchung vielfältiger sprachhistorischer Probleme, von denen hier nur die Deiktika untersucht wurden. Interessant wäre auch eine Untersuchung des Kontakts der einzelnen Sprechergruppen, durch den die frankophonen Einwohner Louisianas die Kompetenz entwickelt haben, zwischen den einzelnen Varietäten des Französischen zu wechseln. Literatur Korpus FRAN = Corpus FRAN : Corpus du français en Amérique du Nord, France Martineau et collaborateurs. Élaboré dans le cadre du projet Le français à la mesure d’un continent: un patrimoine en partage (dir. France Martineau). Ottawa: Université d‘Ottawa [online: http: / / continent.uottawa.ca/ fr/ corpus-et-ressources-electroniques/ corpus/ ; letzter Zugriff am 25. 10. 2017]. FRANTEXT = Corpus FRANTEXT . Nancy: ATILF - CNRS / Université de Lorraine [online: http: / / www.frantext.fr; letzter Zugriff am 25. 10. 2017]. Sekundärliteratur Ali-Khodja, Mourad (Hrsg.) (2015): L’Étranger au prisme des cultures: expériences et problématisations . Québec: Presses de l’Université Laval. Deiktika in französischen privaten Briefen in Nordamerika 343 Ali-Khodja, Mourad (Hrsg.) (2013): Des Apories de l’universalisme aux promesses de l’universel . Québec: Les Presses de l’Université Laval. Ali-Khodja, Mourad / Merkle, Denise / Morency, Jean / Thibault, Jean-François (Hrsg.) (2013): Territoires de l’interculturalité . Québec: Les Presses de l’Université Laval. Amar, Marianne / Frenette, Yves / Lanouette, Mélanie / Pâquet, Martin (Hrsg.) (2015): Musées, histoire, migrations . Québec: Les Presses de l’Université Laval. 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Neumann-Holzschuh, Ingrid (Hrsg.) (1987): Textes anciens en créole louisianais . Avec introduction, notes, remarques sur la langue et glossaire. Hamburg: Buske (= Kreolische Bibliothek, 8). Die französischen Lehnwörter im Wolof 345 Die französischen Lehnwörter im Wolof Jürgen Lang Cet article peut être lu comme étant un commentaire de la liste de mots annexée qui contient tous les emprunts du wolof au français qu’enregistre le Dictionnaire wolof-français de Fal / Santos / Doneux (1990). Le nombre de ces emprunts est comparé à celui des emprunts wolof à l’arabe et au portugais. L’auteur étudie l’adaptation des mots d’origine française à la grammaire et à la phonétique du wolof ainsi que leur répartition dans différents domaines thématiques. Il insiste sur l’existence d’emprunts qui ne répondent pas à la nécessité de désigner des choses inconnues des Wolof avant l’arrivée des Français. 1 Einleitung In diesem Beitrag soll es schwerpunktmäßig um den Sprachkontakt zwischen dem Französischen und dem Wolof gehen. Dieser Kontakt hat sowohl im Französischen - und hier natürlich insbesondere im Französischen der Wolofsprecher - als auch im Wolof erhebliche Spuren hinterlassen. Ich beschränke mich auf eine Darstellung des Beitrags des Französischen zum Wortschatz des modernen Wolof. Um die Spezifika des französischen Lehnwortschatz im Wolof zu würdigen, werde ich gelegentlich auf den portugiesischen und den arabischen Lehnwortschatz im Wolof verweisen. 2 Das Wolof Das Wolof ist die nord-westlichste unter den sog. westatlantischen Sprachen, von denen der Ethnologue (2017: online, s.v. Wolof ) 63 kennt. Nach derselben Quelle wird Wolof von ca. fünfeinhalb Millionen Menschen gesprochen, von denen die meisten im Senegal, nur ca. 200.000 in Gambia und noch weniger in Mauretanien leben. 346 Jürgen Lang 2.1 Geschichte Wie die meisten Sprachen der Welt stand auch das Wolof im Lauf seiner Geschichte mit vielen anderen Sprachen im Kontakt. Mit den afro-asiatischen Berbersprachen, die nördlich des Flusses Senegal gesprochen werden und wurden, und mit anderen Niger-Kongo-Sprachen, nämlich einerseits mit anderen Sprachen der westatlantischen Gruppe wie Pulaar und Serer, und andererseits mit angrenzenden Mandesprachen wie Mandinka, Soninke usw. Welchen Anteil Lehnwörter aus diesen Sprachen und Dialekten am Wortschatz des modernen Wolof haben, muss hier völlig offen bleiben. Dagegen sind die Lehnwörter des Wolof, die seinem Kontakt mit der arabischen, der portugiesischen und der französischen Sprache geschuldet sind, in den größeren Wörterbüchern des Wolof als solche gekennzeichnet. Es ist denkbar, dass so etwas wie die Ausgliederung des Wolof im Rahmen der westatlantischen Sprachen und Dialekte erst im Gefolge der allmählichen Herausbildung des Wolofimperiums im 13., 14. und 15. Jahrhundert stattgefunden hat. In diesem Fall hätte der arabische Einfluss diese Ausgliederung von allem Anfang an begleitet, denn er setzt schon vor 1100 mit dem Einfluss der von den Sanhadscha-Berbern getragenen almoravidischen Glaubensbewegung ein. Und über den Islam dauert der arabische Einfluss auf das Wolof bis heute an. Der portugiesische Einfluss beginnt mit dem Jahr 1443, in dem Dinis Fernandes an den Senegalfluss und an das grüne Kap gelangt und die ersten Wolof nach Portugal bringt. Dieser Einfluss blieb aber weitgehend auf die Atlantikküste beschränkt und endet in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ziemlich abrupt. Ab dieser Zeit handeln fast nur noch Hölländer, Engländer und Franzosen an den Küsten Senegambias mit den Wolof, auch wenn dabei vorübergehend noch an der Küste niedergelassene und ein portugiesisches Kreol sprechende Zwischenhändler eine gewisse Rolle spielen. Der holländische Einfluss auf das Wolof blieb marginal, der englische dürfte im Wolof Gambias sehr viel bedeutender sein als im Senegal, wo er erst im Zeitalter des Internets stärker wird. Der Kontakt mit dem Französischen ist spätestens seit dem Jahr 1567 ununterbrochen (cf. Boulègue 2013: 182), obwohl auch er sich bis ins 19. Jahrhundert hinein weitgehend auf die Atlantikküste und das Tal des Senegalflusses beschränkte. Seit der Hochzeit des Kolonialismus im 19. Jahrhundert besteht er aber permanent im gesamten Gebiet, in dem Wolof gesprochen wird. Und der Einfluss des Französischen auf das Wolof dauert heute unvermindert an, weil gerade das Französische dem Senegal auch nach Erlangung der Unabhängkeit die Teilnahme am wissenschaftlichen Fortschritt und an der internationalen Kommunikation, weltweit und mit dem frankophonen Afrika, ermöglicht. Die französischen Lehnwörter im Wolof 347 2.2 Typologie Um die Modalitäten der Eingliederung von Wörtern nicht verwandter Sprachen in das Wolof zu verstehen, muss man einen Blick auf einige seiner hervorstechendsten typologischen Merkmale werfen. 2.2.1 Grammatik Was die Grammatik betrifft, so ist zunächst zu sagen, dass das Wolof (w.) wie die meisten westatlantischen Sprachen eine Klassensprache ist. Klassensprache bedeutet hier, dass die Substantive im Singular einer von acht und im Plural einer von zwei Klassen angehören. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse kommt durch einen klassenspezifischen Konsonant z. B. beim bestimmten und unbestimmten Artikel, bei den Demonstrativ- und bei den Relativpronomina zum Ausdruck. Diese Konsonanten sind im Singular k-, b-, j-, g-, l-, m-, s-, w- und im Plural entweder ñ- oder y- . 1 Während die Verteilung auf zwei Klassen im Plural eindeutig semantisch begründet ist ( ñnur für einige Bezeichnungen für Menschen, yfast nur für Bezeichnungen für Abstrakta, Unbelebtes und Tiere), ist die Verteilung auf die acht Klassen im Singular nur partiell semantisch bzw. phonisch begründet: z. B. k- nur für Bezeichnungen für Menschen, g- unter anderem für fast alle Baumbezeichnungen, s- vornehmlich für auch mit s- anlautende Substantiv usw. (cf. Sauvageot 1965: 7-5, Dialo 1983: 48-50, Diouf 2001: 130-133, Ngom 2003: 20-23). Für den nominalen Bereich ist noch darauf hinzuweisen, dass, was bei uns adjektivisch ausgedrückt wird, im Wolof weitestgehend durch Verben (v.) zum Ausdruck gebracht wird (also z. B. xonq v. ‚rot sein‘, gaaw v. ‚schnell sein‘ usw.). Charakteristisch für das Wolof ist schließlich die Tatsache, dass häufig ein und dasselbe Lexem bald substantivisch, bald verbal funktioniert, je nachem ob es mit substantivischen oder mit verbalen Morphemen kombiniert wird (z. B. reesal bi ‚die Verdauung‘ vs. reesal na ‚er hat verdaut‘). Hinsichtlich der Entlehnungen aus fremden Sprachen stellen sich somit vor allem die folgenden Fragen: 1. Nach welchen Kriterien werden Substantive aus fremden Sprachen, die nur zwischen zwei oder drei Genera unterscheiden, einer der Nominalklassen zugeordnet? 2. Werden auch Adjektive entlehnt, und was wird aus ihnen im Wolof ? 1 Für die Aussprache der Wolofwörter sind folgende Graphem - Lautentsprechungen zu beachten: <c> [c], <j> [ɟ], <x> [χ], <ñ> [ɲ], <ŋ> [ŋ], <q> [q], <a> [ɐ], <à> [a], <ë> [ə]. Verdoppelung eines Buchstabens zeigt Länge an: <é(e)> [e(: )], <e(e)> [ɛ(: )], <ó(o)> [o(: )], <o(o)> [ɔ(: )] usw. 348 Jürgen Lang 3. Spielt das Prinzip der verbalen und substantivischen Verwendung ein und desselben Lexems auch bei der Übernahme von Lehnwörtern aus Sprachen eine Rolle, in denen diese Fälle zwar vorkommen, aber seltener und weniger sichtbar sind? 2.2.2 Vokalsystem Hinsichtlich der Interpretation des Vokalsystems des modernen Wolof sind sich die Spezialisten offenbar heute nicht mehr ganz so einig, wie das nach Jean Léonce Doneux 1975 noch der Fall war (cf. Doneux 1975: 2). Gemäß den Transkriptionen im Dictionnaire wolof-français von Arame Fal, Rosine Santos und Jean Léonce Doneux selbst (cf. Fal / Santos / Doneux 1990) handelt es sich jedenfalls um ein ‚dreieckiges‘ System mit den sieben auf vier Öffnungsgrade verteilten oralen Vokalen [i], [e], [ɛ], [a], [o], [ɔ], [u], die alle kurz und lang vorkommen. Es gibt zusätzlich drei einfache mittlere Vokale: ein geschlossenes [ɐ], ein geschlossenes [ə] und ein nasales [ɑ̃]. Die übrigen von mir konsultierten Autoren erwähnen diesen einzigen Nasalvokal aber nicht. Gerundete Palatalvokale wie im Französischen gibt es im Wolof nicht. Und welche phonetische Qualität hier Vokale haben, denen im geschriebenen Wolof ein silbenschließender Nasalkonsonant folgt, ist mir nicht bekannt. Im Wolof gibt es keine Diphthonge. (Für etwas abweichende Darstellungen dieses Vokalsystems vergleiche man exemplarisch Ngom 2003: 9-10). Interessant wird also vor allem die Frage sein, wie die Wolofsprecher mit gerundeten Palatalvokalen, mit eindeutig nasalen Vokalphonemen und mit Diphthongen umgingen, wenn sie Wörter übernahmen, die solche enthielten. 2.2.3 Konsonantismus Die eingehendste Analyse des Konsonantismus des modernen Wolof scheint wiederum diejenige von Jean Léonce Doneux zu sein (cf. Doneux 1975). Demnach hat das Wolof einfache, doppelte (oder „starke“) und pränasalierte Konsonanten: Jean Léonce Doneux (1975: 23-24) ordnet sie wie folgt an: A. Des consonnes douces, simples ou lâches: 1. b d ɟ g 2. f t s Ø x 3. r 4. m n ɲ ŋ 5. w l j Die französischen Lehnwörter im Wolof 349 B. Des consonnes fortes, géminées ou tendues: 1. bb dd ɟɟ gg 2. pp tt cc kk q(q) 3. dd 4. mm nn ɲɲ ŋŋ 5. ww ll jj C. Des consonnes prénasalisées: 1. mb nd nɟ ng 2. mp nt nc nk (nq) 3. nd Die vier Nasalkonsonanten selbst ([m], [n], [ɲ] und [ŋ]) sowie [w], [l] und [j] können demnach doppelt (cf. B.4. und 5.), aber - im Falle der Nasalkonsonanten wenig überraschend - nicht pränasaliert vorkommen (die Reihen 4. und 5. fehlen in C.). Stimmhafte Frikative und palatale Frikative wie [ʃ] und [ʒ] fehlen ganz. Desgleichen - mit der einzigen Ausnahme von [t] - die einfachen stimmlosen Plosive. Anders gesagt: Die einfachen stimmlosen Konsonanten sind in der Regel frikativ (cf. A.2.), die entsprechenden Doppelkonsonanten dagegen alle okklusiv (cf. B.2.). Dem Schema nicht zu entnehmen: Die stimmlosen pränasalierten Konsonanten sind vom Anlaut ausgeschlossen. Stattdessen gibt es hier - aber nur hier - neben einfachem [t] auch einfaches [p], [c], [k]. Es gibt relativ viele aus zwei aufeinanderfolgenden Konsonanten bestehende Gruppen. Interessanterweise scheinen aber die für uns so einfach auszusprechenden Muta-cum-Liquida-Verbindungen, also [pl], [pr], [bl], [br] und ihre dentalen und velaren Entsprechungen in allen Positionen tendenziell ausgeschlossen. Mit Blick auf Entlehnungen interessiert also vor allem, wie die Wolofsprecher 1. mit stimmhaften Frikativen, 2. mit den palatalen Frikativen [ʃ] und [ʒ], 3. mit in- oder auslautendem, einfachem [p], [c] und [k] und 4. mit Muta-cum-Liquida-Verbindungen umgehen, sofern die Sprachen aus denen sie entlehnen, über diese Laute oder Lautsequenzen verfügen. 350 Jürgen Lang 3 Lehnwortschatz im Wolof (Statistik) Für den Lehnwortschatz des Wolof stütze ich mich hier ausschließlich auf das schon erwähnte Dictionnaire wolof-français suivi d'un index français-wolof von Arame Fal, Rosine Santos et Jean Léonce Doneux aus dem Jahr 1990. Mit seinen ca. 5600 Lemmata ist es inzwischen nicht mehr das umfangreichste (cf. z.B. das umfangreichere von Jean-Léopold Diouf von 2003). Es erlaubt mir aber von seinem Umfang her gerade noch eine vollständige Erfassung der Wörter, die dort durch die Zusätze (ar.), (port.), (fr.) als arabischer, portugiesischer oder französischer Herkunft gekennzeichnet sind. Die wenigen von mir selbst als Lehnwörter identifizierten Wörter bleiben statistisch irrelevant, und ich möchte annehmen, dass das auch für die noch von niemand als Lehnwörter aus diesen Sprachen identifizierten Wörter gilt. Nach meinen Auszählungen sind nun in diesem ca. 5600 Wörter umfassenden Kernwortschatz des Wolof mindestens 389 Wörter (und damit knapp 7 %) französischen und immerhin noch mindestens 170 (und damit etwas mehr als drei Prozent) arabischen Ursprungs. Portugiesichen Ursprungs sind dagegen nur ungefähr 20 Wörter, was einem Prozentsatz von ca. 0,35 entspricht. Dabei habe ich Wörter, die mehrere phonische Varianten aufweisen nur einmal gezählt, dagegen solche signifiants , die sowohl als Substantive wie auch als Verben fungieren können, zweimal. 4 Die französischen Lehnwörter 4.1 Ihre Verteilung auf Sachgebiete Zunächst nahm ich an, der französische Lehnwortschatz lasse sich - ähnlich wie der arabische im Spanischen - einer Reihe von Sachgebieten zuordnen, in denen der französische Einfluss das Leben im Senegal nachhaltig verändert hat, sei es weil die Franzosen Errungenschaften der modernen Welt dorthin gebracht haben, für die das Wolof noch keine Namen hatte, sei es dass sie einheimische Institutionen durch französische ersetzt haben, deren Namen miteingeführt werden mussten. Dies erwies sich einerseits als richtig, andererseits als unzureichend. Richtig insofern als tatsächlich ein großes Kontingent dieser Wörter die Einführung eines moderneren Gesundheitswesens, eines moderneren Schulwesens, moderner Verkehrsmittel und Verkehrsverbindungen 2 und einer französischen 2 Die Namen für die moderneren Verkehrsmittel sind vom welo b- über das moto b- , das oto b- , den kaar b- ‚autobus, minibus‘ bis hin zum Flugzeug französischen Ursprungs. Roppëlaan gfür das Flugzeug geht allerdings auf das in Frankreich länst überholte aéroplane zurück. Nur für den Zug hat sich mit saxaar g- eine einheimische pars pro toto Die französischen Lehnwörter im Wolof 351 Verwaltung (einschließlich Polizei und Militär) belegen. Man sollte anerkennen, dass sich die Kolonialmacht in diesen Bereichen einige Verdienste erworben hat. Wichtiger scheint es, eigens hervorzuheben, dass französische Lehnwörter keineswegs nur Dinge oder Tätigkeiten bezeichnen, ohne die ein modernes Leben kaum vorstellbar ist. Sie zeugen vielmehr auch von einer umfassenden kulturellen Überformung einer traditionell afrikanischen Gesellschaft. Die Bereiche auf die die meisten Lehnwörter meines Korpus entfallen sind deshalb nicht die bereits genannten, sondern z. B. die Ernährung, die Kleidung, die Mode und die Freizeitbeschäftigungen. Die Wohlhabenden haben sich auch vor Ankunft der Franzosen gut ernährt, gekleidet und amüsiert, aber eben anders. In mancherlei Hinsicht vielleicht sogar in den örtlichen Verhältnissen angemessenerer Weise. 3 Nur für einen der hier genannten Bereiche will ich einen größeren Teil der Entlehnungen aus dem Französischen aufzählen. Im senegalesischen Gesundheitswesen ist der doktoor bim loppitaan b- , also im Krankenhaus oder im disp-ñseer b- , d. h. im Sanitätsposten aktiv oder er führt wisit b- ‚Krankenbesuche‘ durch, wobei er z. B. pikkiir b- praktiziert, also ‚Spritzen verabreicht‘, und ordonaas b- ‚Rezepte‘ ausstellt, mit denen man dann zur farmasi b - ‚Apotheke‘ geht. Aspirin und Tabletten bezeichnet man mit französischen Lehnwörtern ( aspirin j- und pasti j- ). Feebar (b-) < fièvre ist zum allgemeinen Wort für ‚Krankheit‘ und ‚krank sein‘ avanciert und estomaa b- zum Namen für Bauchweh. Medizingeschichtlich interessant scheint die Tatsache, dass mit pest b- ‚Pest‘, asma j- ‚Asthma‘ und tasyoŋ b- ‚Bluthochdruck‘ französische Lehnwörter für Krankheiten stehen, die in Senegambia vor Ankunft der Europäer weitgehend unbekannt waren und zum Teil vor allem bei alten Menschen und in Industrie- Bezeichnung durchgesetzt (cf. w. saxar s- ‚Rauch‘). Ansonsten strotzt auch das Eisenbahnvokabular von französischen Lehnwörtern: cf. raay b- ‚Geleise‘, wago w- ‚Wagon‘, gaar b- ‚Bahnhof ‘ usw. 3 Erst mit den Franzosen hielten z. B. die miche de pain ( miis w -), die (Fisch)Boulette ( buléet b- ), die Mayonnaise ( mayonees b- ), der Weinessig ( bineegar b- ), der indische Pfeffer ( poobar b -), die Büchsensardine ( sàrdeñ s- ), der Krapfen ( beñe b -), der Keks ( m(b)iskit m- ), das Bier ( beer b -), der Kuchen ( ngato b -), und das Speiseeis und der Eiswürfel ( galaas g- ), der Weinstock ( reseñ g -), und die Rosine ( reseñseg j- ) ihren Einzug. Andererseits ist noch zu klären, ob die Wolof vor Ankunft der Franzosen wirklich keine grünen Bohnen ( ariko j- ), Karotten ( karoot b -), Radischen ( radi b -) ,radis‘, keinen grünen Salat ( salaat s- ) und keine Orangen ( sor-s s- ) kannten. Vielleicht aßen sie ohne Gabel ( fursét b -) und Teller ( aset b- , cf. aber hier 3.4). Aber mit einiger Sicherheit kannten sie schon die kulinarischen Techniken des (Fleisch oder Fisch) austopfens ( fàrsi v.), des Marinierens ( marine v.) und Pökelns ( sali j- ,gepökelter Fisch‘), des eine Soße Bindens ( soos v.), des Dämpfens ( tufe v. < (cuire à l’)étouffée ), des Brühens ( soode v. < échauder ). Und welche Notwendigkeit gab es, ein Wort für ,tierisches Fett‘ ( garees g-, cf. fr. graisse ), für die Soße ( soos b- ) oder für Gemüse ( léjum b -) zu entlehnen? 352 Jürgen Lang gesellschaften auftreten. Ersteres gilt für Asthma und Bluthochdruck, letzteres zumindest für den Bluthochdruck. Ähnliches wie für das Gesundheitswesen ließe sich für all die bisher genannten Sachbereiche ausführen, was hier aber unterbleiben soll. Besonders wichtig scheint es mir schließlich, gebührend zu unterstreichen, dass es im Wolof auch viele französische Lehnwörter gibt, für deren Übernahme nicht einmal Veränderungen in der Alltagskultur als Erklärung taugen. Ich meine Wörter, die offensichtlich nur deshalb ins Wolof eingesickert sind, weil die französischen Kolonialherren und die mit ihnen unmittelbar im Kontakt stehenden Einheimischen sie benutzten. Das gilt mit Sicherheit für Verben wie gañe ‚gewinnen, siegreich sein‘, garaandir ‚vergrößern‘, komaase , kumaase ‚beginnen‘, kontaan ‚zufrieden sein‘, kontine ‚fortfahren‘, kuloor ‚färben‘, leer v. ‚hell, leuchtend sein‘ (< fr. lueur ) und für Substantive wie màrse b- ‚Markt‘, marsandiis b- ‚Ware‘. Diese „unnötigen“ Entlehnungen erinnern an die große Menge „unnötiger“ französischer Lehnwörter im Englischen. Und die Erklärungen für deren Entlehnung ins Mittelenglische dürften auch in unserem Fall zutreffen. Angelika Lutz stellt für das Englische die etwas rhetorische Frage „should this massive borrowing of basic words be attributed to the fact that it occurs on unequal terms and that superstratal loans of the basic type carry more prestige in the recipient language than their inherited equivalents for this particular reason? “ (Lutz 2013: 571). Tatsächlich war das Französische sowohl im mittelalterlichen England wie im neuzeitlichen Senegambia nicht einfach Kontakt- oder Adstratsprache, sondern Superstratsprache. Die Wörter der herrschenden Schicht mussten deshalb nicht unbedingt Bezeichnungslücken füllen, um übernommen zu werden. Lutz beantwortet die Frage, warum das so ist, indem sie Uriel Weinreich zitiert: „[if] one language is endowed with prestige, the bilingual is likely to use what are identifiable loanwords from it as a means of displaying the social status its knowledge symbolizes“ (Lutz 2013: 571). Unter den hier angesprochenen (zumindest im Ansatz) zweisprachigen Sprechern dürfte übrigens in beiden Fällen eine bestimmte Gruppe eine herausragende Rolle gespielt haben. Hören wir noch einmal Angelika Lutz: „[…] in medieval England the replacement of inherited words with French loans was often due to the fact that, for an extended period of time, servants needed to know them in the language of their masters“ (Lutz 2013: 576, Hervorhebung von J. L.). Bei fast 7 % französischer Lehnwörter im Wolof ist gar nicht zu erwarten, dass irgendeine Wortart ganz frei davon ist. Tatsächlich gibt es in unserem französischen Lehnwortkorpus auch ein modales Adverb fokk ‚nécessairement‘ < faut que , das man z. B. in Sätzen des Typs Pour qu’il établisse le passeport, il faut que tu apportes ton extrait de naissance verwendet. Weiter finden wir hier Die französischen Lehnwörter im Wolof 353 eine kausale Konjunktion komka ‚weil, da‘, wohl aus comme quoi (in Sätzen des Typs Comme le poisson que je t’ai vendu est pourri, laisse-moi te rembourser! ). Und schließlich enthält unser Korpus eine Kopie der französischen Partikel alors (w. aloor ) (für Kontexte des Typs Il le lui a dit; alors, il partira ). Trotzdem dominieren natürlich in unserem Korpus die Substantive (305) und Verben (77). Die französischen Lehnwörter sind damit nicht nur viel zahlreicher, als die wenigen portugiesischen, die zum größten Teil auf die Handelskontakte an der Atlantikküste verweisen, sondern auch als die doch recht zahlreichen arabischen, die zu mehr als 90 % aus dem religiösen Bereich stammen bzw. im Wolof gerade nur im religiösen Kontext verwendet werden, wie z. B. das unter 4.3.3 erwähnte siyaare b- . 4.2 Ihre morphologische Integration Aufregend ist dann natürlich die Frage, wie die Wolofsprecher als Substantive aufgefasste Wörter aus dem Französischen auf ihre Nominalklassen verteilt haben. Unser Korpus enthält keine Substantive mit französischer Herkunft, die der l- Klasse zugeordnet worden wären. Die übrigen Singularklassen sind in absteigender Frequenz wie folgt vertreten: b- (246), g - und j - (jeweils 23), w- (6), s- (5) und m- (3). Im Plural gehören alle Lehnwörter der y- Klasse an, zu der auch die beiden pluralia tanta iskale y- ‚Treppe‘ und lunét y- ‚Brille‘ gehören. Mit der b- Klasse hat es also offenbar eine besondere Bewandnis. Von 318 Wolofwörtern unseres Korpus, die als Substantive aus dem Französischen entlehnt wurden, wurden nicht weniger als 76 % dieser Klasse zugewiesen. Das scheint zunächst nicht sehr aussagekräftig, wenn man bedenkt, dass von den 138 Substantiven des Wolof - Lehn- und Erbwörter zusammengenommen -, die in unserem Wörterbuch mit dem Buchstaben bbeginnen sogar ca. 85 % der b- Klasse angehören. Aber diese Dominanz der b- Klasse bei den Substantiven, die auch mit b- beginnen, hat auch mit der eingangs erwähnten Affinität zwischen Klassifikator und Anlautkonsonant zu tun. Von den 158 Substantiven, die in unserem Wörterbuch mit dem Buchstaben kbeginnen, gehören nämlich nur 62, also nur knappe 40 %, der b- Klasse an. Von den 122 Substantiven mit arabischer Etymologie gehören immerhin 32, von den 18 Substantiven mit portugiesischer Etymologie sogar schon 12 der b- Klasse an. Trotzdem: Die meisten Arabismen wurden der j- Klasse zugeschlagen (nämlich 45 gegenüber nur 32 der b- Klasse). Die b- Klasse dominiert also bei den Lehnwörtern je länger je mehr - bei den portugiesischen Lehnwörtern mehr als bei den arabischen, bei den französischen noch viel mehr als bei den portugiesischen. Aber sie war auch schon vor der massiven Aufnahme fran- 354 Jürgen Lang zösischer Wörter die bei weitem stärkste Klasse. Und gerade deshalb scheint sie allmählich zu so etwas wie der default -Klasse für Entlehnungen geworden zu sein, in die Wolofsprecher Substantive einordnen, deren Klasse sie nicht zu kennen glauben oder von denen sie wissen, dass sie in der Gebersprache gar keine Klasse haben (cf. Ngom 2003: 24; „The ,-bi‘ class is the one also used for almost all loanwords in Wolof “). Hier wird deutlich, wie der Kontakt mit anderen Sprachen ein Klassensystem unterminieren kann. Und wir erahnen auch einen der Gründe dafür, dass das vor allem von Wolofsprechern geschaffene portugiesische Kreol der Kapverdischen Inseln weder Klassen noch Genera kennt. Bei den französischen Lehnwörtern, die doch einer anderen Klasse zugeordnet wurden, müssen ältere Prinzipien weitergewirkt haben. Entweder das der phonischen Affinität zwischen Klassifikator und Anlautkonsonant (wie bei kees g- ‚Kasse‘ < caisse, mécce m - ‚Beruf ‘ < métier, sàrdeñ s- ‚Sardinen aus der Dose‘ < sardines ) oder das der Gruppierung nach semantischen Affinitäten (wie bei dimaas j- ‚Sonntag‘, pàntarkot j- ‚Pfingsten‘, paag j- ‚Ostern‘, ribijo ŋ j- ‚Weihnachtsabendessen‘ und sudula ŋ j- ‚Neujahrstag‘, die alle der j- Klasse angehören). Insoweit französische Adjektive zum Zwecke der Bezeichnung von Eigenschaften ins Wolof übernommen werden, werden daraus - gemäß der Art des Wolof, Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen - in der Regel Zustandsverben. Die Beispiele aus unserem Korpus sind: kontaan v. ‚zufrieden sein‘, soon v. ‚gelb sein‘ < jaune und wert v. ‚grün sein‘. Fr. pur wurde allerdings doch als echtes Adjektiv (‚particule adnominale‘) mit der Bedeutung ‚rein, unvermischt, authentisch‘ übernommen (cf. Soow piir lay jaay ‚Il vend du lait caillé naturel‘, Fal / Santos / Doneux 1990, s.v. piir ). Andere Adjektive wurden offenbar nur in substantivischer Verwendung entlehnt. So z. B. karceen b- ‚Christ‘ < chrétien und katolig b- ‚Katholik‘. Zustandsverben wurden aber auch aus französischen Substantiven gewonnen: so z. B. leer v. ‚hell sein‘ < fr. lueur und salte v. ‚dreckig sein‘ < fr. salté . Schließlich ist noch anzumerken, dass es genau wie im Erbwortschatz auch im französischen Lehnwortschatz viele Fälle gibt, in denen ein und derselbe signifiant bald als Verb, bald als Substantiv funktioniert, je nachdem, ob er mit Verbal- oder Nominalmorphemen verbunden wird. Im unserem französischen Lehnwortschatzkorpus gibt es dafür nicht weniger als 34 Beispiele (in der Liste im Anhang fett gesetzt). Ein paar davon seien genannt: in verbaler Verwendung bedeutet feebar < fièvre ‚krank sein‘, als Substantiv der b- Klasse ‚Krankheit‘; ganz analog bedeutet gereew (b-) < grève bald ‚streiken‘, bald ‚Streik‘, paan (b-) bald ‚eine Panne haben‘, bald ‚Panne‘, tànt (b-) bald ‚ein Zelt aufbauen‘, bald ‚Zelt‘. Während in diesen Fällen das Substantiv entlehnt, dann aber auch verbal gebraucht wurde, lief es bei peñe (b-) ‚kämmen, Kamm‘ und ähnlichen Fällen gerade umgekehrt. Die französischen Lehnwörter im Wolof 355 4.3 Ihre phonische Integration 4.3.1 Segmentierung Was die Lautgestalt der französischen Lehnwörter im Wolof betrifft, so sei zunächst auf Lehnwörter mit aus französischer Sicht falscher Segmentierung hingewiesen. Etwa solche, bei denen - natürlich nicht ganz zufällig - der ganze oder Teile des bestimmten Artikels oder des Teilungsartikels mit dem Wort verschmolzen sind: cf. laaj j- ‚Knoblauch‘ < lʼail , lekkool b- ‚Schule‘ < lʼécole , lempo b- ‚Steuer‘ < lʼimpôt , loppitaan b- ‚Krankenhaus‘ < lʼhôpital , sor-s s-/ g- ‚Orange / Orangenbaum‘ < (le)s oranges oder dute j- ‚Aufguss (de feuilles de quinquéliba)‘ < du thé . Aber auch andere Wörter wie das Verb dàkkoor ‚einverstanden sein‘ oder das Wort kurfeñ b- < coup de poing , das als Substantiv ‚Faustschlag‘ und als Verb ‚einen Faustschlag versetzen‘ heisst, gehören hierher. Sie verdanken ihre Aufnahme in das Wolof ganz offensichtlich nicht der zweisprachigen Elite, sondern Menschen, die nicht oder nur ganz mangelhaft Französisch sprachen. Diese schnitten Teile aus den Äußerungen ihrer Französisch sprechenden Gegenüber heraus, denen sie aufgrund der Gesprächssituation eine bestimmte Bedeutung zuordnen zu können glaubten. So verfahren auch Sprachlerner und die Schöpfer von Kreolsprachen mit den Reden in der jeweiligen Zielbzw. Basissprache, die sie hören und zumindest teilweise zu verstehen glauben. Was dann die phonische Behandlung der französischen Laute und Lautverbindungen im Einzelnen betrifft, so habe ich in 1.2.2 und 1.2.3 schon angedeutet, was die wichtigsten Fragen sind, die sich hier stellen. 4.3.2 Palatale, Nasale, Diphthonge, gelängte Konsonanten Die gerundeten Palatalvokale des französischen Typs [y], [ø], [ɶ] wurden in den französischen Lehnwörtern systematisch an Wolofvokale angeglichen. Überraschenderweise ging dabei bei [y] die Rundung, bei [ø] und [ɶ] dagegen die Palatalität verloren: fr. mur ‚Mauer‘ > w. miir b- ‚id.‘, aber fr. bleu ‚blau‘ > w. bulo b- ‚Waschblau‘ und fr. couleur und tailleur > w. kuloor g- ‚Farbe‘ und tayoor b- ‚Frauenkleid‘. Gelegentlich ist die Palatalität von [y] aber auch von dem Vokal auf den vorausgehenden Konsonanten übergegangen: cf. fr. écumoire ‚Schaumlöffel‘ > w. cumwaar g- ‚id.‘. Die Nasalität von französischem / ɑ̃/ hat sich nach Auskunft unseres Wörterbuches in drei französischen Lehnwörtern erhalten, nämlich in dep-s b- ‚für den Einkauf von Nahrungsmitteln bestimmtes Geld‘, disp-ñseer b- ‚Sanitätsposten‘ und sor-s s-/ g- ‚Orange / Orangenbaum‘. In dimaas j- ‚Sonntag‘, komaase, kumaase v. ‚beginnen‘ und ordonaas b- ‚Rezept‘ ist sie dagegen verschwunden. 356 Jürgen Lang Französische Diphthonge wurden im Zuge der Entlehnug letztlich immer zu Monophthongen oder sie wurden auf zwei Silben verteilt. Ersteres gilt z. B. für siis b- ‚Sitz‘ < siège, beer b- ‚Bier‘ < bière, iskale y- ‚Treppe‘ < escalier, leer g- ‚Helligkeit‘ < lueur, aset b- ‚Teller‘ < assiette, armoor b- ‚Schrank‘ < armoire, poo b- ‚Gewicht‘ < poids, pont b- ‚Spitze , Nagel‘ < pointe und sogar für cumwaar g- ‚Schaumlöffel‘ < écumoire, weil [w] im Wolof ein Konsonant ist. Letzteres gilt z. B. für musuwaar b- ‚mouchoir‘ , roosuwaar b- ‚arrosoir‘ , boyet b- ‚ boîte ‘ ‚Schachtel‘ und luye v. ‚louer‘. Der palatale Halbkonsonant eines steigenden Diphthongs hat aber nicht selten zur Palatalisierung und ggf. Affrizierung des vorausgehenden Konsonanten geführt: so z. B. in pañe b- ‚Korb‘ < panier, karceen b- ‚Christ‘ < chrétienʼ, kàrce b- ‚camp militaire, caserne‘ < quartier und mécce m- ‚Beruf ‘ < métier . Da das Wolof zu fast jedem kurzen Vokal eine lange Entsprechung aufweist, war zu erwarten, dass die phonetisch langen Vokale des Französischen, also einerseits alle betonten Nasalvokale und betonten [o] und [ø] in gedeckter Silbe und andererseits alle betonten Vokale vor den sog. consonnes allongeantes [r], [v], [z] und [ʒ] bei Entlehnung erhalten bleiben. Dies ist im Wesentlichen auch der Fall: cf. dimaas j- ‚Sonntag‘, afeer b- < affaire , eleew b- < élève , feebar b- ‚Krankheit‘ < fièvre , mayonees b- < mayonnaise , bagaas b- < bagages . Die französischen Lehnwörter im Wolof weisen aber noch weitere Langvokale auf, von denen nur wenige als Erhaltungen von Langvokalen des älteren Französisch erklärt werden können. Die meisten sind wohl das Ergebnis der Anwedung von mir unbekannten Distributionsregeln des Wolof auf das Lehngut. Ich erwähne ein paar Beispiele aus dem zweiten Buchstaben des Wörterbuches: baraag b- < baraque, baal b- < bal, boroos b- < brosse, bool b- < bol, buléet b- < boulette und buuse b- < boucher ‚Metzger‘. 4.3.3 Frikative, einfache Plosive im Auslaut, Muta cum Liquida Die Laute [v], [z] und [ʒ] hat es im Wolof offenbar nie gegeben. Bei Enlehnungen aus fremden Sprachen haben die Wolofsprecher [v] und [z] schon immer durch [b] und [s] ersetzt. Für [b] statt [v] vergleiche man altpg. chave ,Schlüssel‘ > w. caabi j- (und übrigens ganz entsprechend txábi im kapverdischen Kreol), und was Entlehnungen aus dem Französischen betrifft, bineegar b- ,Essig‘ < vinaigre , poobar b- ,Pfeffer‘ < poivre , und lasib v. ,Wäsche kochen‘ wohl aus lessive . Anstelle von französischem [v] tritt im Wolof allerdings auch noch [w] und im Auslaut gelegentlich sogar [f] auf. Für die Wiedergabe von [v] durch [w] seien waliis w- ,Koffer‘, piliweer / piloweer b- ,pull-over‘ und eleew b- ,Schüler‘, genannt, für die durch [f] kopperatif b - ,Koopérative‘ < coopérative . Für [s] statt [z] seien zu- Die französischen Lehnwörter im Wolof 357 nächst drei Entlehnungen aus dem Arabischen genannt: ar. az-zakāt ,Almosenabgabe‘ > w. asaka j- ,id.‘ und ar. ziyāra ,Besuch‘ > w. siyaare b- ,visite collective que lʼon rend périodiquement aux maraboux‘. Für die Entlehnungen aus dem Französischen sei von den zahlreichen Beispielen nur ein ganz modernes genannt: isin b- ,Fabrik‘. Auch die palatalen Frikative, also neben [ʒ] auch [ʃ], hat es im Wolof wohl nie gegeben. Deshalb wird aus beiden in Entlehnungen durchgehend [s]: cf. ar. šayṭān ‚Teufel‘ > w. seytaane s- ,id.‘, ar. šahida ,Zeuge sein (von), erleben‘ > w. seede ,se porter témoin‘, und für Entlehnungen aus dem Französischen einerseits sañse ,gute Karten haben, gut angezogen sein, sich umziehen‘ < (se) changer, sare(e)t b- ,Karren‘ < charrette und màrsandiis b- ,id.‘ < marchandise und andererseits bagaas b- < bagages, ordsabel b- < eau de Javel , sudulaŋ j- < jour de l’an ,Neujahrstag‘. Unter 2.1.2 haben wir gesehen, dass - im Gegensatz zu einfachem [t] - einfaches, intervokalisches [p], [c] und [k] im modernen Wolof vom Wortinlaut und Wortauslaut ausgeschlossen sind. Das gilt auch für den französichen Lehnwortschatz: Aus französisch auslautendem [-p] wird hier gelegentlich [-b] wie bei älterem fr. drap ['drap] ,Leintuch‘ > w. darab b-, aber meist wird [-p] zu [-pp] ,verstärkt, wie in w. kupp v. ,eine gewisse Anzahl von Karten nehmen‘ < coupe, supp b- ,Fleichsuppe‘ < soupe . Und aus auslautendem [-k] wird sehr oft [-g] wie in baraag b- ,Baracke‘, birig b- ,Ziegelstein‘ < brique , bitig b- ,Boutik‘, katolig b- ,Katholik‘, palastig b - ,Plastik‘, politig b - ,Politik‘, bag b- ,Fähre‘ < bac , saag b- ,Hand- oder Reisetasche‘ < sac , gelegentlich aber auch [-kk] wie in fokk ,notwendigerweise‘ < faut que oder pikk b- ,Picke‘ < pic . Auslautendes [-c] kommt in der Grundlage des französischen Lehnwortschatzes nicht vor. Auslautendes [-t], das ja auch in Erbwörtern des Wolof im Auslaut häufig ist, bleibt in französischen Lehnwörtern durchgehend erhalten. So in almet j- ,Streichhölzer‘ < allumettes , aset b- ,Teller‘ < assiette und vielen vielen anderen. Muta cum Liquida wird regelmäßig beseitigt. Meist durch Einschub eines Vokals, der oft den Artikulationsort des folgenden Vokals vorweg nimmt: cf. përis m- ,Tabak‘ < prise , permiyaabal b- ,wetterfestes Kleidungsstück‘ < imperméable , bulo b- ,Waschblau‘ < bleu , boroos b- ,Bürste‘ < brosse , feebar b- ,Krankheit‘ < fièvre, tereet b- ,Zeit des Ernteverkaufs‘ < traite, petarool b- ,Petrol‘ < pétrole, meetar b- ,Meter, Schulmeister‘ < mètre bzw. maître , montar b- ,Uhr‘ < montre, darab b- ,Leintuch‘ < drap, kalaame v. ,reklamieren‘ < réclamer, kiliyaan b- , Klient‘ < client, kurwaa b- ,Kreuz‘ < croix, garaandir v- ,vergrößern‘ < agrandir, gereew b- ,Streik‘ < grève, galaas g- ,Speiseeis, Eiswürfel‘ < glace, bineegar b- ,Essig‘ < vinaigre . In den Lehnwörtern aus dem Arabischen und Portugiesischen ist Muta cum Liquida dagegen sporadisch erhalten oder sogar im Zuge der Entlehnung entstanden: cf. w. ibliis m- ,Satan‘ < ar. ʾiblīsun und w. soble s- ,Zwiebel‘ < pg. cebola. 358 Jürgen Lang Insgesamt gewinnt man also den Eindruck, dass der Kontakt mit dem Französischen die traditionellen Distributionsregeln der Laute des Wolof weniger unterminiert als sein Klassensystem. 4.4 Ihr Alter Die immerhin 389 französischen Lehnwörter in unserem Wörterbuch sind natürlich nicht alle gleichzeitig ins Wolof aufgenommen worden. Schließlich besteht der Kontakt zwischen den beiden Sprachen schon seit mehr als 400 Jahren. Wenn das Lehnwort einen im Französischen inzwischen überholten Lautstand konserviert, spricht das für eine relativ frühe Übernahme. Das gilt z. B. für die französischen Lehnwörter mit dem stimmhaften palatalen Affrikaten [ɟ], in denen dieser auf den palatalen Lateral [ʎ] zurückgeht wie in laaj j- ,Knoblauch‘ < l'ail , pajaas b- ,paillasse‘ und ribijo ŋ j- ,réveillon de Noël‘. In gleicher Weise sind übrigens die Wolofsprecher, die auf den kapverdischen Inseln um 1500 das Portugisische kreolisiert haben, mit dem portugiesischen [ʎ] verfahren. Aus pg. filho ['fiʎu] ‚Sohn‘ haben sie kr. fidju ['fiɟu], aus pg. palha ['paʎɐ] ,Stroh‘ kr. pádja ['paɟɐ] gemacht usw. Dieses [ʎ] ist aber im Standardfranzösischen inzwischen einem konsonantischen [j] gewichen. Die Neuerung wird schon 1687 von dem Grammatiker Jean Hindret getadelt, setzt sich aber in der Standardsprache erst im 19. Jahrhundert endgültig durch (cf. Felixberger / Berschin / Goebl 1978: 107). Das neue konsonantische [j] wird dann als solches ins Wolof übernommen. So z. B. in giriyaas b - ,Gitter‘ < grillage und tayoor b - ,Kleid‘ < tailleur . Auch pasti j- ,pastille à usage médical‘ setzt ein Französisch voraus in dem [ʎ] schon zu [j] geworden ist. Diese Wörter wurden also erst relativ spät übernommen, was ja auch semantisch passt. In ähnlicher Weise kann man das offenbar früher übernommene musóor g- ,foulard / mouchoir de tête‘ dem wohl erst spät übernommenen musuwaar b- ,mouchoir‘ gegenüberstellen. Bei solchen Rückschlüssen ist freilich Vorsicht geboten, denn natürlich wurde [ʎ] nicht in allen französischen Dialekten zu [j] und wo das doch geschah, geschah es nicht unbedingt zur gleichen Zeit wie in der Literatursprache. Soweit Auslautkonsonanten im literarischen Französischen schon zu Beginn der Neuzeit verstummt sind, fehlen sie erwartungsgemäß auch in den französischen Lehnwörtern im Wolof. Deshalb möchte ich aus dem vereinzelten auslautenden [-t] von palaat b- ,assiette, plat‘ < plat keinen voreiligen Schluss ziehen. Hier könnte es zu einer Kontamination mit einem portugiesischen Lehnwort * paraat(u) < pg. prato ,Teller‘ gekommen sein. Diese Möglichkeit konzidieren auch die Verfasser unseres Wörterbuches. Schließlich wurde später auch noch fr. assiette übernommen (> w. aset b- ). Die französischen Lehnwörter im Wolof 359 Was den Entwicklungsstand der Nasalvokale in dem den Lehnwörtern zugrunde liegenden Französisch betrifft, so hatte dort - wenig überraschend - die Nasalsenkung in allen Fällen schon stattgefunden. Die spätestens beim nachfolgenden Verstummen der silbenschließenden Nasalkonsonanten erfolgte Phonologisierung der Nasalvokale kann ich dagegen nur für die französischen Vorläufer von dep-s b- ,für den Einkauf von Lebensmitteln reservierte Geldumme‘, sor-s s-/ g- ,Orange, Orangenbaum‘, dimaas j- ,Sonntag‘, komaase, kumaase v. ,anfangen‘ und ordonaas b- ,Rezept‘, also nur für [ɑ̃] vor [s] schlüssig nachweisen. In den letzten drei dieser Wörter ging die Nasalität des Vokals allerdings bei der Übernahme ins Wolof verloren. Der erste französische Grammatiker, der um 1700 von voyelles nasales sprach und damit wohl die inzwischen eingetretene Phonologisierung bestätigt, war laut Berschin / Felixberger / Goebl (1978: 102) Louis Dangeau (1643-1723) ). Sollte sie in dem nach dem Senegal exportierten Französisch etwa gleichzeitig erfolgt sein, so handelt es sich bei diesen fünf Wörtern um relativ junge französische Lehnwörter. Auch ihre Bedeutungen sprechen für diese Annahme. 5 Ergebnis Wir haben gesehen, dass die im Vergleich zu den arabischen und portugiesischen ungleich zahlreicheren französischen Lehnwörter im Wolof dort keineswegs nur alte Lücken oder modernen Entwicklungen geschuldete Lücken schließen, sondern auch traditionelle Wörter mit mehr oder weniger gleicher Bedeutung verdrängen. Während die lexikalischen Entlehnungen aus dem Französischen an der Phonetik und Phonologie dieser Sprache und sogar an bestimmten grammatischen Charakteristika derselben wie etwa der Bezeichnung von Eigenschaften mittels Verben oder der häufig vorkommenden phonischen Identität von Verben und Substantiven wenig geändert haben, gilt das nicht für das Klassensystem bei den Nomina. Denn hier haben sie das numerische Übergewicht der b- Klasse über alle anderen Klassen noch erheblich verstärkt. Die wenigen Andeutungen dieses Beitrags zum unterschiedlichen Alter der französischen Lehnwörter im Wolof hinterlassen das weite Feld ihrer Geschichte (Zeitpunkt und Umstände ihrer jeweiligen Entlehnung, Rückwirkungen auf den traditionellen Wortschatz, Bedeutungsveränderung bei der Übernahme und in der weiteren Geschichte des Wolof) weitestgehend unbearbeitet. 360 Jürgen Lang Literatur Berschin, Helmut / Felixberger, Josef / Goebl, Hans (1978): Französische Sprachgeschichte . München: Hueber. 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Die französischen Lehnwörter im Wolof 361 Französische Lehnwörter im Wolof nach Arame Fal, Rosine Santos und Jean Léonce Doneux Dictionnaire wolof-français, suivi d'un index français-wolof, Paris: Karthala 1990 (die alphabetische Reihenfolge ist die des Wörterbuches) afeer b- ,affaire‘ alamaan v. ,infliger une amende‘ alamaan b- ,amande‘ alkol j- ,alcool cirurgical‘ almet j- ,allumettes‘ aloor part. de liaison ,alors‘ ariko j- ,haricots verts‘ armoor b- ,armoire‘ aset b- ,assiette‘ asma j- ,asthme‘ aspirin j- ,aspirine‘ àngare j- ,engrais‘ bag b- ,bac (pour passer un cours d'eau)‘, Fähre‘ bagaas b- ,bagages, objets usuels‘ bal b- ,balle, ballon‘ baraag b- ,baraque‘ barigo b- ,fût, barrique' baal v. ,danser‘ baal b- ,danse d’origine étrangère, surprise-party‘ beñe b- ,beignets‘ beer b- ,bière‘ béey v. ,jouer aux billes‘ bineegar b- ,vinaigre‘ birig b- ,brique‘ bitig b- ,boutique‘ boroos v. ,nettoyer avec un brosse, brosser‘ boroos b- ,brosse‘ boyet b- ,boîte‘, ,Schachtel‘ bool b- ,bol, cuvette‘ boor b- ,bord, côté, abords, environs‘ buléet b- ,boulette (de poisson ...)‘ bulo b- ,bleu de lessive‘ butéel b- ,bouteille‘ oder eher < port. ? buuse b- ,boucher‘, ,Metzger‘ ceen g- ,chaînette (bijou), chaîne (lien métallique)‘ cumwaar gvar. cinwaar ,écumoire‘ cumwaar g- ,semoir‘ damyee v. ,jouer au jeu des dames‘ damyee b- ,jeu des dames‘ < damier darab b- ,drap de lit‘ < drap dàkkoor v. ,être d’accord‘ dep-s b- ,somme d’argent destinée à l’achat de la nourriture‘ dimaas j- ,dimanche‘ dippite b- ,député‘ disp-ñseer b- ,dispensaire‘ ,Sanitätsposten‘ doktoor b- ,médecin‘ dute j- ,décoction (de feuilles de ,quinquéliba)‘ duubal b- ,le double‘ duus b- ,toilettes, cabinet‘ < douche eleew b- ,élève‘ estomaa b- ,douleur gastriques‘ fanaal b- ,fanal‘ farmasi b- ,pharmacie‘ fasoŋ b- ,façon, manière‘ fàrsi v. ,farcir un poisson, préparer du poisson farci‘ feebar v. ,être malade‘ feebar b- ,maladie‘ feer b- ,fer à repasser‘ findfeer b- ,fil de fer‘ firisideer b- ,réfrigérateur‘ fobeere v. ,passer la serpillière, le faubert [der Schrubber]‘ fokk part. de liaison , ,nécessairement [il est nécessaire]‘ foraas b- ,forage [Schacht, Bohrung]‘ fulaar b- ,fichu porté sur la tête‘ furno b- ,brasero‘ < fourneau fursét b- ,fourchette‘ fuur b- ,four, boulangerie‘ galaas g- ,glace, glaçon‘ gañe v. ,gagner, vaincre, être victorieux‘ garaandir v. ,agrandir‘ garaandir b- ,poster, grande photo‘ garees g- ,graisse d’origine animale‘ gaar b- ,gare de chemin de fer‘ garaas b- ,garage, gare routière‘ gaas b- ,gaz (combustible)‘ gereew v. ,faire la grève‘ gereew b- ,grève‘ giriyaas b- ,grille (de séparation ou sur un foyer, gril)‘ gom b- ,amidon‘ gom b- ,gomme à effacer‘ 362 Jürgen Lang isin b- ,usine‘ iskale y- ,escalier‘ kabine b- ,toilettes, cabinet‘ kalaame v. ,porter plainte, faire une réclamation‘ kalpe b- ,portefeuille‘ kamisol b- ,robe traditionnelle ample‘ karceen b- ,chrétien‘ karosool b- ,corossol‘ karosool g- ,corossolier‘ karoot b- ,carotte‘ karyoŋ b- ,crayon‘ kaso b- ,cachot, prison‘ kastiloor b- ,casserole‘ katesis b- ,catéchisme‘ katolig b- ,catholique‘ kaybut b- ,caillebotis, treillis‘, ,Gitterwerk (Holz)‘ kaye b- ,cahier‘ kayit w- ,papier, billet‘ kànnaar b- ,cadenas‘ kàntin b- ,échoppe‘ kàrce b- ,camp militaire, caserne‘ < quartier kàrt w- ,carte postale‘ kaar b- ,autobus, minibus‘ kees g- ,(contenu d'une) caisse‘ kiliyaan b- ,fidèle client, marchand habituel‘ kilo b- ,kilo‘ kilmet b- ,kilomètre‘ kol g- ,écharpe, châle‘ kol g- ,colle‘ kole v. ,coller‘ komaase, kumaase v. ,commencer‘ komfi v. ,mettre en conserve‘ komfi g- ,légumes conservés dans du vinaigre‘ komka part. de liaison ,comme, puisque‘ kontar v. ,être contre, contrer‘ kontaan v. ,être content‘ kontine v. ,continuer‘ koñ b- ,coin, rue‘ koppe b- ,coopérative‘ kopperatif b- ,coopérative‘ kubéer g- ,couvercle‘ < couvert kuloor v. ,colorer‘ kuloor g- ,couleur‘ kupp v. ,prendre un certain nombre de cartes, couper‘ kurfeñ v. donner un coup de poing‘ kurfeñ b- ,coup de poing‘ kurs ? - ,course de chevaux, hippodrome‘ kurwaa b- ,croix‘ lañset b- ,lame de rasoir‘ lasib v. ,faire bouillir le linge‘ < lessive? laspeer g- ,lance-pierre, caoutchouc en général‘ làbbe b- ,prêtre‘ làmp b- ,lampe, phare‘ làntinoor b- ,entonnoir‘ laaj j- ,ail‘ lekkool b- ,école‘ lempo b- ,impôt‘ leer v. ,être clair, éclairé, lumineux‘ leer g- ,lumière, clarté, illumination, inspiration‘ leetar b- ,lettre, missive‘ léjum b- ,légume‘ liminaat, limonaat j- ,limonade‘ litkoloñ b- ,parfum liquide, eau de Cologne‘ liibar b- ,demi-kilogramme, livre‘ liiñ g- ,fil à linge, fil, ligne de canne à pêche‘ liitar b- ,litre‘ loppitaan b- ,hôpital‘ lunét y- ,lunettes‘ luye v. ,louer‘ marine v. ,faire mariner‘ marine b- ,marinade‘ mariñeer b- ,blouse de femme‘ < marinière masin b- ,machine‘ masoŋ b- ,maçon‘ mayonees b- ,mayonnaise‘ màrsandiis b- ,marchandise‘ màrse b- ,marché‘ màrto ? - ,marteau‘ maa(w) g- ,mât‘ maas v. ,faire masse‘ menaas v. ,passer la serpillière‘, ,scheuern, schrubben‘ meer b- ,maire‘ meer b- ,présidente d'une association de femmes‘ mees b- ,messe‘ (religion) mees g- ,mèche‘ (Haar) meetar b- ,mètre‘ meetar b- ,maître dʼécole‘ mécce m- ,métier, profession‘ m(b)iskit m- ,biscuit‘ miir b- ,mur‘ miis w- ,baguette de pain‘ < miche montar b- ,montre, horloge, réveil‘ morso b- ,morceau‘ moto b- ,motocyclette, moto‘ musóor g- ,foulard/ mouchoir de tête‘ musuwaar b- ,mouchoir‘ Die französischen Lehnwörter im Wolof 363 muul v. ,imprimer (un livre)‘ muul b- ,moule (pour donner une forme)‘ mbaseñ b- ,bazin‘ (Stoff, Material) niloŋ b- ,nylon‘ (Material) niwaakin j- ,nivaquine‘ (Heilmittel gegen das Sumpffieber) noos v. ,faire la noce‘ noos b- ,bombance, festin‘ ngato b- ,gâteau‘ ordonaas b- ,ordonnance, médicament prescrit‘ ordsabel b- ,eau de Javel‘ oto bautomobile, voiture‘ pajaas b- ,paillasse‘ paket b- ,paquet‘ palastig b- ,matière plastique‘ palaas b- ,endroit, place, emploi, poste‘ palaat b- ,assiette, plat‘ palto b- ,veste, paletot‘ pañe b- ,panier‘ parasool b- ,parasol, parapluie‘ pare v. ,terminer, se préparer, être prêt‘ pastel b- ,crayon à maquillage‘ pasti j- ,pastille à usage médical‘ pàntarkot j- ,Pentecôte‘ pàppa j- ,père, papa‘ paag j- ,Pâques‘ paan v. être en panne‘ paan b- ,panne‘ paase v. ,repasser‘, ,bügeln‘ paase b- ,repassage, linge à repasser‘ paaspoor b- ,passeport‘ pentuur v. ,peindre‘ pentuur b- ,peinture‘ peñ b- ,pain de sucre‘ peñe v. ,peigner‘ peñe b- ,peigne‘ perkaal b- ,percale‘ (Stoff) permi b- ,autorisation, permis‘ permiyaabal b- ,plastique vendu au mètre, vêtement imperméable‘ peroŋ b- ,perron, véranda‘ pert v. ,perdre, faire faillite, subir un dommage‘ pert b- ,perte, manque à gagner‘ pest b- ,peste‘ (Krankheit) petarool b- ,pétrole‘ petaar b- ,pétard‘ pey g- ,rétribution, salaire, paie, solde, horaire‘ peel b- ,pelle‘ peer v. ,être dégonflé, être penaud‘ peer b- ,paire‘ peese v. ,peser‘ përis m- ,tabac‘ < prise pikk b- ,pic‘, ,Picke‘ pikkiir v. ,faire une piqûre‘ pikkir (sic) b- ,piqûre‘ piliweer/ piloweer b- ,pull-over‘ piloot b- ,pelote‘, ,Knäuel? ‘ ping v. ,faire une injection‘ ping b- ,épingle, agrafe, seringue avec aiguille, piqûre médicale‘ pitoŋ b- ,Ring-, Ösenschraube‘ piil b- ,pile, ampoule de lampe de posche‘ piir part. adnominale ,pur, sans mélange‘ piis b- ,pièce détoffe, tissu‘ poli b- ,poulie‘, ,Windemaschine‘ polis b- ,commissariat de police‘ politig b- ,politique‘ pom b- ,pomme‘ pom b- ,pomme d'arrosoir‘ pom b- ,pont‘ pomaat b- ,pommade importée, onguent‘ pome v. ,être pommé‘ (mit Köpfen, Salat) pombiteer b- ,pomme de terre‘ pomp v. gonfler, vaporiser‘ pomp b- ,pompe‘ pompiye b- ,sapeur-pompier‘ pont b- ,pointe, clou‘ poñ b- ,point (de machine à coudre), œil (de bourgeon), nœud (de tige)‘ poñe v. ,empoigner, prendre au collet‘ portale v. ,photographier‘ portale b- ,photo‘ < portrait poson b- ,poison‘ posone v. ,empoisonner‘ post b- ,bureau de poste‘ pot b- ,pot, vase, pot de chambre‘ poto b- ,poteau‘ poo b- ,poids‘ poobar b- ,poivre' pool b- ,poêle à frire‘ poor b- ,port d'embarquement et de débarquement‘ pooro b- ,poireau‘ poos b- ,poche‘ poose v. ,porter des cheveux artificiels, porter une prothèse‘ < fausser? poose b- ,faux cheveux, faux ongles, fausses dents, prothèse‘ puudar v. ,(sau)poudrer‘ puudar b- ,poudre de beauté, talc‘ puus v. ,pousser‘ puutar b- ,poudre à canon‘ 364 Jürgen Lang radi b- ,radis‘ rajo b- ,Office de la Radio, post récepteur de radio‘ raŋ v. ,se mettre/ être en rang‘ raŋ b- ,rang, file‘ rato b- ,râteau‘, ,Rechen‘ raay b- ,rail, voie ferrée‘ regle v. ,régler, corriger (quelqu'un)‘ regle b- ,inventaire‘ reseñ g- ,vigne‘ reseñseg j- ,raisin secs‘ ribijoŋ j- ,réveillon de Noël‘ riime v. ,empiler, arrimer, ranger‘ robine b- ,robinet, fontaine‘ robb b- ,robe‘ rond v. ,faire une ronde‘ rond b- ,ronde, brigade de surveillance‘ roño b- ,rognon‘ (Niere) roppëlaan g- ,avion‘ < aéroplane vx. roose v. ,arroser‘ roose b- ,arrosage‘ roosuwaar b- ,arrosoir‘ ruu b- ,roue‘ salaat s- ,salade verte‘ sali j- ,poisson séché et salé‘ salte v. ,être sale‘ salte b- ,saleté‘ sankilo b- ,quintal, cent kilo‘ sañse v. ,porter de beaux atours, être bien habillé, se changer‘ sarbet b- ,serviette (de table ou de toilette) ‘ sare(e)t b- ,charrette‘ sàndarma b- ,gendarme‘ sàppo b- ,chapeau‘ sàrdeñ s- ,sardine en boîte‘ sàrse v. ,charger, remplir de marchandises‘ sàrt b- ,loi, règlement‘ < charte sàttumbar w- ,septembre‘ saag b- ,sac à main, cartable, sac de voyage‘ saal b- ,salon, salle de séjour‘ seng v. ,couvrir de tôles ondulées‘ seng g- ,tôle ondulée‘ sentuur g- ,ceinture‘ seede v. ,céder‘ seef b- ,chef‘ seel b- ,échelle‘ séllur b- ,serrure‘ si b- ,scie‘ sigare(e)t b- ,cigarette‘ simis b- ,chemise‘ simoŋ s- ,ciment‘ sinemaa b- ,cinéma‘ siro s- ,sirop‘ sisir v. saisir les biens, confisquer‘ siso b- ,ciseaux‘ siwo b- ,seau‘ siif b- ,suif‘ siiraas b- ,cirage‘ siis b- ,siège‘ sold b- ,salaire, solde‘ soldaar b- ,soldat‘ sondeel b- ,chandelle, bougie‘ sor-s s- ,orange‘ sor-s g- ,oranger' soode v. ,échauder‘ (im heißen Wasser) soon v. ,être jaune‘ soos v. ,lier (une sauce), finir (une sauce)‘ soos b- ,sauce‘ sooy b- ,soie, tissu soyeux‘ sófóor b- ,chauffeur‘ sudulaŋ j- ,jour de l’an‘ sufurle v. ,mettre un faux ourlet‘ sulaar b- ,ivrogne, soulard‘ supp b- ,soupe de viande‘ suppeer b- ,soupière‘ suppome b- ,chou pommé‘ suude v. souder‘ suukare v. ,sucrer‘ tali v. ,aménager une voie (autrefois bordée de talus) ‘ tali b- ,voie aménagée‘ tamaate, kamaate b- ,tomate‘ tamaate, kamaate j- ,concentré de tomate‘ tamaate-fàrsi b- ,grosse tomate ronde‘ tame b- ,tamis‘ taŋ b- ,temps, époque, moment‘ taseer b- ,étagère‘ tasyoŋ b- ,(hyper)tension artérielle‘ taybaas b- ,corsage ajusté à la taille et généralement prolongé par un volant, se portant avec un pagne‘ tayoor b- ,tailleur‘ tàmpe, tàmpoŋ v. ,estamper, tamponner, heurter‘ tàmpe, tàmpoŋ b- ,tampon‘ tànt v. ,dresser un e tente‘ tànt b- ,tente‘ tànta j- ,tante maternelle‘ tàrde v. ,être en retard‘ taabal j- ,table‘ taar b- ,tare, poids de l’emballage ou du récipient‘ tele b- ,télévision, téléviseur‘ tembar b- ,timbre-poste, timbre fiscal‘ Die französischen Lehnwörter im Wolof 365 teraas b- ,terrasse, bâtiment à toit en terrasse‘ tereet b- ,traite, période de commercialisation des récoltes, grand sac en sisal pour les charges importantes‘ termoos b- ,bouteille thermos‘ tirbinaal b- ,tribunal‘ tiitar b- ,marque d'honneur, références, titres, vanité, orgueil‘ tombe v. ,coïncider, tomber à (une certaine date)‘ tors b- ,lampe de poche, lampe torche‘ toof b- ,étoffe‘ tufe v. ,cuire à l’étouffée‘ turne b- ,tournée de travail‘, ,Schicht‘ wago w ,wagon‘ waliis w- ,valise‘ watiir b- ,calèche, voiture hippomobile pour le transport des passager‘ wànteer v. ,solder, liquider après inventaire‘ wànteer w- ,solde, liquidation' < inventaire welo b- ,vélo‘ wert v. ,être vert‘ weer b- ,verre, verre à boire‘ wisit b- ,visite médicale, agent sanitaire ambulant‘ wote v. ,voter‘ wote b- ,élection‘ Zum Französischen in Genf im Zeitalter der Reformation 367 Zum Französischen in Genf im Zeitalter der Reformation Philipp Burdy Dans l’article il est question de la langue des Registres du Consistoire de Genève et donc d’un document en langue française remontant à l’époque de Calvin (milieu du 16 e siècle). Nous traiterons, d’une part, des traits dialectaux trouvés dans ce texte. D’autre part, nous montrerons dans quelle mesure les bases du français romand actuel sont à rechercher dans le français écrit dans la même région à l’époque de la Réforme. 1 Einführung Vor bald siebzig Jahren schrieb Paul Aebischer in der Einleitung seiner frankoprovenzalischen Anthologie Folgendes: Si haut qu’on peut remonter dans le temps, à Lyon, à Grenoble, en Savoie, dans ce qui fait aujourd’hui la Suisse romande, on constate que l’idéal de qui écrivait peu ou prou était le français, ou, au pis aller, le bourguignon. (Aebischer 1950: 5) Das Ergebnis dieser Bemühungen der mittelalterlichen Schreiber war eine mal mehr, mal weniger stark regional geprägte Schreibsprache, die sogenannte frankoprovenzalische Skripta (cf. Vurpas 1995). Neuere Untersuchungen zu dem Thema bestätigen, dass auf dem Gebiet der frankoprovenzalischen Westschweiz der schriftliche Gebrauch des Französischen und dessen passive Beherrschung auch durch Schreibunkundige nicht erst mit der Reformation einsetzen (Skupien Dekens 2013: 263-267; Kristol 2014: 279). Dennoch scheint sich mit dem 16. Jahrhundert ein Umbruch zu vollziehen, da zum einen in dieser Epoche erstmals eine bewusst gestaltete frankoprovenzalische Dialektdichtung auftritt, die wohl in keinem Zusammenhang mit der mittelalterlichen Skripta steht (cf. Marzys 1978: 204-212), zum anderen das geschriebene Französisch offenbar weiter entregionalisiert wird, so dass praktisch keine dialektalen Züge mehr übrig bleiben (cf. Skupien Dekens 2013: 269, 272). Die folgenden Ausführungen sollen dazu 368 Philipp Burdy dienen, die sprachliche Realität in Genf in den Anfangsjahren der Reformation anhand eines konkreten Textzeugnisses näher zu beleuchten. 2 Das Consistoire de Genève Im Mittelpunkt der Analyse werden die ältesten Protokolle des Consistoire de Genève stehen, einer im Zuge der Reformation im Jahre 1541 durch Calvin gegründeten Institution, die die sittliche Überwachung der Gemeindemitglieder sowie die Unterdrückung des alten Glaubens zur Aufgabe hatte. In den wöchentlichen Sitzungen dieses Gerichtshofes werden nicht nur Fälle von Ehevergehen behandelt, sondern es müssen auch Säufer, Ketzer, Wucherer, Bettler, Gaukler, Quacksalber und Wahrsager Rede und Antwort stehen. Weiterhin werden zahlreiche Genfer Bürger über ihre tägliche Gebetspraxis, über den Gottesdienstbesuch und ihre Kenntnis der Reformation befragt. Die von Genfer Notaren verfassten Protokolle dieser Sitzungen ( registres ) sind im Original überliefert und stellen keine nachträgliche Redaktion dar. Sie sind mithin eine hervorragende Quelle für spontan geschriebenes Französisch dieser Epoche. Mit den Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin , herausgegeben in bis jetzt 9 Bänden (1996 ff.) von Th. A. Lambert und I. M. Watt (= Reg. Consist. Genève ), liegt eine Textausgabe dieser Protokolle vor, die zwar für geschichtswissenschaftliche Zwecke erstellt wurde, aber auch für philologische Fragestellungen dienstbar gemacht werden kann. Ediert werden die registres aus Calvins Genfer Jahren (1541-1564), schwer lesbare Handschriften, die heute im Staatsarchiv Genf aufbewahrt werden ( Reg. Consist. Genève 1: VIII ). In der Ausgabe bleiben die Graphien unverändert, nur der accent aigu auf Endsilben wird hinzugefügt sowie Cedille und Apostroph. Ferner führen die Herausgeber eine moderne Worttrennung, Interpunktion sowie Groß- und Kleinschreibung durch ( Reg. Consist. Genève 1: XXV ). Als Vergleichstexte werden wir einige Auszüge aus französischen Chroniken, die etwa zur gleichen Zeit auf dem Gebiet der heutigen Westschweiz verfasst wurden, heranziehen, und zwar die Chroniken von Bonivard, Pierrefleur, Fromment und von Jeanne de Jussy (alle Mitte 16. Jh.). Diese liegen auszugsweise in der Edition Bossard / Junod 1974 (= Chroniqueurs ) vor. Zunächst soll ein kurzer Auszug aus den Protokollen des Consistoire einen Eindruck dieses Textzeugnisses vermitteln ( Reg. Consist. Genève 1: 22 [ohne Anmerkungen]). Jeudi 30 marcii 1542. Remis au vendredi, jour ensuyvant, derrier de mars. Le Sr Egrege Porralis. Calvin, Viret, Henri, Champereaulx. Gerbel, Rages, Pensabin, Tacon, Frochet, Britillion, Blandin, l’officier Vovrey. Jaques Emyn . Zum Französischen in Genf im Zeitalter der Reformation 369 Az esté demander a rendre debvoir de sa foy. Lequelz az respondu avoir ung peu profiter et dictz Pater, « Nostre Père etc. », et la creance quatre motz. Le Consistoyre est de l’advis, luy ayant fayctes les hon[nestes] amonicions, qu’il pregne ung magister et qu’il luy instruye a la foy et construyre les mots qu’il signifient et donner a entendre qu’est de Dieu. Et qu’on luy remonstre ung peu mye[u]lx apres et qu’il vienne tous les jours ou plus souvent a la predication pour myeulx profiter. [f. 11] Et qu’on les faces venir aupres de la chayre pour myeulx entendre la Parolle de Dieu et qu’on luy refuse de recepvoir le saincte Cene s’il ne se acquite aultrement. Et qu’on luy balliera magister, homme de bien, et s’il ne sçayt devant Pasques rendre mellieur debvoir de sa foy. Jaquemaz, relexie de Claude Camparet. Az esté interrogué sus la frequentation des sermons etc. et de l’enfant que son filz az heu de saz servante. Respond que l’enfant, elle l’a mys a nurrissage. Interrogué de sa foy, dictz ainsi le Pater en le coustume nouvelle Reformation, et le Credo ne sçayt dire. Et qu’elle az gardé son mari six ans en maladie et que son filz. Et qu’elle fust au sermon dymenche au matin et que se fust Monsieur Calvin comme elle croy. Et que son filz elle ne sçayctz. Le consistoyre l’a remis az frequenter les sermons et ap[prendre? ]. Es steht damit außer Frage, dass es sich bei den Protokollen des Consistoire um nichts anderes als Französisch handelt. Wir wollen nun eine genauere linguistische Analyse des ältesten Teils dieser Quelle (Protokolle der Jahre 1542-1546) versuchen. Die Herausgeber der Textausgabe äußern sich in den Einleitungen der Bände nur knapp zu sprachlichen Auffälligkeiten (1: XXV und 2: XVII-XVIII); auch die beigegebenen Glossare (1: 409-412 und 2: 381-382) sind vom philologischen Standpunkt kaum brauchbar. In unserer eigenen Analyse wird es um folgende Aspekte gehen: • Spuren der mittelalterlichen frankoprovenzalischen Skripta • Einflüsse des gesprochenen frankoprovenzalischen Dialekts • Wörter, die im Regionalfranzösischen der Westschweiz bis in jüngere Zeit erhalten blieben • Besonderheiten der Verbalmorphologie • Phonetische Besonderheiten • Unsicherheiten im Gebrauch der französischen Schriftsprache • Unklare Wörter Die zahllosen Personennamen, die die Quelle liefert, würden eine separate linguistische Untersuchung verdienen und bleiben hier ausgespart. Die im Anschluss gegebenen Beispiele entstammen nicht einer exhaustiven Auswertung der Registres du Consistoire de Genève und der Vergleichstexte (cf. supra), sondern einer kursorischen Lektüre. Sie könnten dementsprechend in Anschlussuntersuchungen noch vermehrt werden. 370 Philipp Burdy 3 Sprachliche Analyse der Registres du Consistoire de Genève 3.1 Spuren der mittelalterlichen frankoprovenzalischen Skripta Der Text weist durchaus noch Relikte mittelalterlicher Schreibgewohnheiten aus dem frankoprovenzalischen Sprachgebiet auf. 1 3.1.1 Graphisches -z im Wortauslaut (fast nur beim Schreiber der Jahre 1542 - 1544) 2 Et az rendu compte de sa foy et creance. La Maurise, saz mere, a dit qu’elle n’entend point que lad. Claude, saz fillie, aye consentu en point de mariage (…) ( Reg. Consist. Genève 1: 4) Respond qu’elle n’az pas prise point de nyblaz . (…) Respond qu’elle ne veult pas estre ydolastraz (…) (1: 26) grand dijoz (1: 27) bastardaz (1: 43) Et vaz aux sermons. Et est de Vendoeuvres et marié et az des enfants (1: 44) filliestraz (2: 45) foudaz (2: 54) 3.1.2 Graphisches -tz im Wortauslaut Et se plaintz de la mayson et de ceulx que ont detiré saz fillie (…) ( Reg. Consist. Genève 1: 12) fayctz (1: 28) (…) et qu’il n’en ontz poinctz (…) Et ontz ditz le Pater, confession grossement (1: 40) retiratz (2: 62) qu’il ne l’aymeratz jamais; (…) qu’il feratz un maulvais coupt; atrutz (2: 176) Interroguee se elle ne allatz pas dire à monsieur Calvin qu’elle se allatz opouser (…) (2: 250) 3.1.3 Graphisches -t im Wortauslaut (…) et vat aux messes tous les ans ( Reg. Consist. Genève 1: 23) quoyt [= quoi ] (1: 32) (…) qu’il la tuerat et feroyt deshonneur (…); coupt (2: 176) 1 Zur frankoprovenzalischen Skripta allgemein cf. Vurpas (1995). 2 Das Graphem -z kennzeichnet vor allem unbetonte Auslautvokale und ist das charakteristischste Merkmal der frankoprovenzalischen Skripta (cf. Vurpas 1995: 401). Zum Französischen in Genf im Zeitalter der Reformation 371 certaint (2: 64) allors la frappat (2: 262) sert [= soir ] (2: 90 u. 236) artoyt [= orteil ] (2: 203) beaucoupt , beaucoubt (1: 43 u. 275, 2: 254) trent , traint [= train ] (1: 33 u. 2: 57) 3.1.4 Sonstiges compagni (Reg. Consist. Genève 2: 64 u. 70); seygneuri, seigneuri (2: 56 u. 59) FEW 11: 450b: adauph. segnori , seinnori ‘puissance, domination, autorité du seigneur’; Hafner (1955: 127-129 § 30): -ía > frpr. -i fillie ‘fille’ (1: 11 u. passim) GPSR 7: 447a: fil(l)ie Vd 1416, G 1527 u. a. 3.2 Einflüsse des gesprochenen frankoprovenzalischen Dialekts Es folgen Wortformen, die ihren Ursprung im regionalen frankoprovenzalischen Dialekt haben. 3 atru , atrutz (1: 21, 2: 176), malastru (1: 275) FEW 25: 631b-632b: adauph. austruc , for. atru ‘heureux’, stéph. atrut ‘bien venu’, afrpr. malastrui ‘malheureux, misérable, infortuné’ blasfemateri (2: 51) ‘blasphématrice’; deest GPSR . Cf. infra: cureri (2: 186) brietta (2: 340) GPSR 2: 748a: brayette , brayè̩ta ‘pantalon’. Anc. brayet(t)e G 1557 u. a.; FEW 1: 479a: Schweiz braietta ‘petite braie’ briez (2: 299) GPSR 2: 785a: bri ‘berceau’. Anc. briez N 1481, bryez Vd 1548 u. a. (ne preche que de) carquevelles (2: 44) Cf. FEW 2: 455b: mdauph. karkavelá ‘bavardage’, Gren. carcavelamen ‘babil’ chescun (2: 154) Cf. GPSR 3: 346a: chaque , tsa̩kǝ . Anc. chesque F 1416 cheu (1: 12 u. passim), chieux ( Chroniqueurs , 29) GPSR 3: 555a: chez , tsi . Anc. chieu(x) Vd 1545, 1550 crinquallié (2: 76) FEW 2: 785b: sav. crinquailler ‘marchand de quincaille’ 3 Die Band- und Seitenangaben verweisen auf Reg. Consist. Genève , wenn nichts anderes angegeben ist. 372 Philipp Burdy croyvecol (2: 343) GPSR 4: 494a: couvre col ‘partie du vêtement qui recouvre le cou’. Anc. coyvre col G 1580, crove col G 1527 cureri (2: 186) GPSR 4: 682a: currery N 1367 ‘curatrice’; cf. GPSR 7: 276b: feneri̩ ‘faneuse’. Anc. fenery F 15. Jh.; Hafner (1955: 139 § 35): -atrice > -eri deman (2: 89) GPSR 5: 271b: demain , dèma̩n . Anc. deman Vd. ca. 1520 le grand dijoz (1: 27) FEW 5: 78a-b: frprov. dezo ‘jeudi’, achamp. alothr. jour du grand jeudi ‘jeudi saint’ donne ( Chroniqueurs , 235) GPSR 5: 848b: dò̩na ‘dame’. Anc. donne Vd 1530-1550 u. a. droble (2: 54 u. 69) GPSR 5: 888b: double , dò̩blyo . Anc. droble Vd 1406 u. a. estrable (2: 67) GPSR 6: 770b: étable , ètrā̩blyo . Anc. estrablo(z) G 1278, estrable G 1547 u. a.; cf. trable (2: 77), droble (2: 54 u. 69) filliestre , filliestra(z) (1: 16 u. passim) GPSR 7: 457a: Anc. filliestre G 1534, F 1385 u. a. ‘fils ou fille d’un mariage précédent de l’un des conjoints’ gota (1: 21) GPSR 8: 539: goûter , goutā̩ ‘léger repas’ u. a. Anc. gota Vd 1546 u. a. joyer (1: 2) FEW 5: 36a: abourg. joyer , adauph. joier ‘se divertir, s’amuser’ mutz (2: 262) FEW 6 / 3: 302a: [frpr.] muts u. a. ‘qui est sans cornes ou qui n’en a qu’une’. - Hier in der Bedeutung ‘stumpf ’; unrichtig die Angabe im Glossar (2: 382) ‘mie (adv. de négation)’ nyblaz (1: 26) FEW 7: 70a: afrb. nible ‘oublie’, ‘pain à cacheter’ (1444) olla (1: 200) FEW 7: 200b: afrb. oulla ‘grand pot, marmite’ (15. Jh.), asav. olla peyrolier (1: 87 u. 175) FEW 7: 656b: Annecy pêroli , Gren. perolié ‘chaudronnier’ relexie (1: 21) FEW 5: 224a: afrb. relexee ‘veuve’ (15. Jh.), abern. aneuch. awaadt. relaissée (1449-1735) sonjon (1: 173) FEW 12: 427a: aneuch. songeon ‘sommet’ (1360), asav. songion (1341) Zum Französischen in Genf im Zeitalter der Reformation 373 3.3 Wörter, die im Regionalfranzösischen erhalten blieben Die folgenden Wortformen haben ihren Ursprung zwar ebenfalls im Dialekt, sind aber darüber hinaus auch für das Regionalfranzösische belegt. acarré (Chroniqueurs, 160) GPSR 1: 240a: akara̩ ‘pousser dans un coin’. G fr. rég. acarrer adomeschait ( Chroniqueurs , 171) GPSR 1: 124b: adòmetsi̩ ‘apprivoiser’. G fr. rég. adomécher buyé (2: 84), lies buye 4 GPSR 2: 894a: bu̩ya ‘lessive’. Anc. buye Vd 1577-1630, G 1542 u. a. Pierrehumbert (1926: 88-89): buye vieilli SR fr. est-sud-est charopes ( Chroniqueurs , 234) FEW 2: 386b: Afrb. charopa (16. Jh.) ‘t. d’injure’, Genf saropǝ ‘paresseux’. Pierrehumbert (1926: 112): charoupe , charope ‘terme d’injure’ (SR), ‘fainéant, paresseux’ Vd-F-G-V-Sav cheneve (1: 172) GPSR 3: 330b: chanvre , tsenè̩vo . Anc. che(s)neve u. a. Vd 1492-1612 G 1527-1562 u. a. Pierrehumbert (1926: 120): chenève ‘chanvre’. Sorti de l’usage fege , feyge (1: 48 u. 2: 154) GPSR 7, 225a : fè̩dzo ‘foie’, ‘dureté, egoisme’, ‘colère, hostilité’. Anc. fege F 1400, N 1611 u. a. Pierrehumbert (1926: 243): fèdge , fèdze , fège noch gelegentl. Vd N foudaz (2: 54) GPSR 7: 152b: faodā̩ ‘tablier’. Anc. foudar(t) , -d Vd 16. Jh. u.a. Pierrehumbert (1926: 267): fudar , foudar u. a. noch gelegentlich bei alten Sprechern im Regionalfr. paches (1: 215) FEW 7: 461: afrb. pasche awaadtl. pache . Pierrehumbert (1926: 402): pache ‘marché’, ‘convention, accord’ SR -Sav-Lyon-Prov pege (1: 71 u. 275) Pierrehumbert (1926: 419): frpr. pèdj , pèdzǝ ‘poix’. In der Bed. ‘matière collante quelconque’ noch heute im Regionalfr. reloge (1: 7) FEW 4: 483a-b: reloge Vaud (16. Jh.), [frpr.] rǝlœdzo u. a. Pierrehumbert (1926: 612): ‘horloge’ vieilli SR , Fr. Est, Sud, Centre toutage (1: 269; Chroniqueurs , 88) FEW 13 / 2: 123a: totage ‘totalité, assemblage de plusieurs choses considérés comme un tout’, [ostfr. frpr.] toutage , totéje u. a. Pierrehumbert (1926: 612): toutage noch im 19. Jh. SR (Vd). 4 In der Ausgabe fälschlich mit Akzent auf dem auslautenden e . Tatsächlich trägt die erste Silbe den Ton. 374 Philipp Burdy 3.4 Besonderheiten der Verbalmorphologie 3.4.1 Partizipien offendu ( Chroniqueurs , 147), consentu (1: 4), sentu (1: 25), voulsu (1: 172), lissu (2: 163) Cf. Wißler (1909: 40): regionalfr. G, N, Vd sentu 3.4.2 Infinitiv toussir (2: 239) Wißler (1909: 40): regionalfr. G, N, Vd toussir ; Fouché (1981: 221): bis 17. Jh. 3.4.3 Perfekt (…) laquelle dissit aussi senblables parolles (2: 262) Fouché (1981: 295): disi bei H. Estienne («dictum fuit olim») (…) et volsi poyer ung potz de vin (2: 343); voulsit ( Chroniqueurs , 239) Fouché (1981: 330): Seit der 1. Hälfte des 16. Jhs. ersetzt durch Typ voulut (…) la volli tuer (2: 262) (…) qu’il se jectarent tout nuz dedens le Rosne (2: 88); conspirarent ( Chroniqueurs , 22) Fouché (1981: 254): Wohl ostfr. Form. In der Literatur bis 16. Jh. 3.4.4 Konjunktiv Präsens (…) qu’on leur doibge bailler le serment (1: 11), avons ordonné qu’icelui (…) doije être mis en prison ( Chroniqueurs , 146) Fouché (1981: 208): -ge subj. prés.: doige Ysopet de Lyon (frpr./ frcomt. 2. Hälfte 13. Jh.) 3.5 Phonetische Besonderheiten Ausfall von r vor Dental: oddre [= ordre ] (2: 89 u. passim), Girad (2: 73 u. passim), Bernad (2: 58 u. passim). - Nur beim Schreiber der Jahre 1545-1546. Cf. FEW 7: 406a: Ollon ǭdrǝ und andere frpr. Formen ohne vorkonsonantisches r . u vor Nasal > o : ong [= un ] (2: 54); cf. Hafner (1955: 79-80 § 17) Ausfall von n nach a : chageur [= changeur ] (2: 76), chassons [= chansons ] (2: 63 u. 123). Cf. alyon. chacon ( FEW 2: 235a) sowie vereinzelte dialektale Formen von changer ohne -n- ( GPSR 3: 311b). Schwanken zwischen den Suffixen -eur und -oir , die im Frpr. der Westschweiz lautlich in iour zusammenfallen, cf. Hafner (1955: 141-142 § 35): mocheur , [pl.] mocheux [= mouchoir ] (2: 151), dormiteur [= dortoir ] ( Chroniqueurs , 164), gr[i]eur , grioir (1: 305 u. 378) Zum Französischen in Genf im Zeitalter der Reformation 375 3.6 Unsicherheiten im Gebrauch der französischen Schriftsprache 3.6.1 Verwechselung der Endungen -é und -er (…) pour aller demoré avec luy (1: 46) Et n’a pas voulu renuncé a la messe (1: 24) Interroguer s’elle cognoyt point (…) Nye s’estre lever du pres de la fille (2: 343) Ne veult confessé (2: 41) (…) avoir veu entré et sorti (2: 42) veriter (2: passim) [= vérité ] desperer (2: 176) [= desperé ‘désespéré’] 3.6.2 Sonstiges nepveur (1: 38 u. 41) [= neveu ] mouri , ouvri , sorti , ouy , querri (2: passim) [Infinitive] (…) ne c’est pas presenté (…) Elle c’est moqué (1: 37) concentir (2: 65) sependant (2: 69) ensainte [= enceinte ] (1: 8) Qu’on advise (…) qu’on les convencre il venir tous les jours (1: 38), Et que sa femme il vaz (1: 44) [= y ] 3.7 Unklare Wörter quand il ont appas d’y aller (1: 132) Unrichtige Angabe im Glossar (1: 409): apè ‘énergie, entraine, courage’. - Vielmehr ap(p)as ‘pas, dégré, marche’ (Gdf 1: 325). cypaz (1: 198) Cf. Glossar (1: 410): ‘cyprin (poisson)’? - Unwahrscheinlich (Erstbeleg für cyprin 1783, cf. TLF i s.v.) gr[i]eur (1: 305), grioir (1: 378) Cf. Glossar (1: 410): ‘maçon, tailleur de pierres’. - Eher GPSR 8: 819b: grijou ‘teinturier’ 4 Schlussfolgerungen und Ausblick Die Registres du Consistoire de Genève der Jahre 1542-1546 weisen noch einige wenige Schreibgewohnheiten auf, die der altfrankoprovenzalischen Skripta zuzuschreiben sind (cf. Kap. 3.1). Hierzu zählen die graphischen Auslautkonsonanten -z , -tz und -t . Der Schreiber der Jahre 1542-1544 schreibt gerade bei 376 Philipp Burdy einsilbigen Wörtern noch sehr häufig -z (z. B. saz , vaz , az ). Vom ersten zum zweiten Protokollanten des Consistoire ist ein Rückgang dieser Skriptamerkmale erkennbar, aber -tz und -t ( allatz , beaucoubt u. a.) bleiben greifbar, ferner noch typisch frankoprovenzalisches seygneuri , compagni . Zahlreich sind hingegen bei beiden Schreibern die lexikalischen Regionalismen. Hier kann man aus der Retrospektive zwischen rein dialektalen Wörtern (cf. Kap. 3.2) und solchen, die später im gesprochenen français régional fortbestehen (cf. Kap. 3.3), unterscheiden. Auffällig ist, dass einige der Dialektalismen stärker in das frankoprovenzalische Südgebiet und nach Savoyen verweisen ( atru , carquevelles , crinquallié , peyrolier ). Dies gilt auch für das graphische t ( traint , coupt u. a.; cf. Kap. 3.1 und Vurpas 1995: 401). Bestimmte Besonderheiten der Verbalmorphologie (cf. Kap. 3.4) lassen sich noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im français régional der französischen Schweiz nachweisen, etwa die Partizipien auf -u ( sentu ), oder der Infinitiv toussir. Einige Perfektformen (z. B. dissit , volsi , jectarent ) entstammen dem älteren Französisch und gelten bereits im 16. Jahrhundert als archaisch. 5 Die Form doibge (Konj. Präs.) ist zweifellos dialektaler Herkunft. Weitere phonetische bzw. graphische Auffälligkeiten (cf. Kap. 3.5) sind z.T. eindeutig dem Frankoprovenzalischen geschuldet, so u. a. das Schwanken zwischen eur und oir und die Form ong (= un ). Beide Schreiber zeigen deutliche Unsicherheiten in der Verwendung des Französischen (cf. Kap. 3.6), was zahlreiche regelmäßig wiederkehrende Schreibversehen belegen, vor allem die Verwechselung von -é und er (z. B. veriter ), von s und c ( sependant ) sowie von il und y , ferner fehlendes oder hyperkorrektes -r ( ouvri , nepveur ). Unsere Vergleichstexte, also Auszüge aus Chroniken des 16. Jahrhunderts aus dem Gebiet der Suisse romande , weisen insgesamt ähnliche regionale Einflüsse auf, vor allem in der Lexik, allein die alten Skriptamerkmale und die Schreibversehen fehlen. Es ist hierbei zu beachten, dass die Chroniken sicherlich sorgsamer redigiert sind als die Protokolle des Consistoire . 6 Dennoch können auch Chronisten wie Bonivard und Pierrefleur ihre sprachliche Herkunft nicht völlig verbergen. Die Kommunikationssituation der Verhöre vor dem Consistoire , wo offenbar teils im frankoprovenzalischen Dialekt, teils auf Französisch gesprochen, 7 aber auf Französisch protokolliert wurde, thematisiert unsere Quelle nicht. Dies ist in anderen zeitgenössischen Quellen der Region übrigens ebensowenig der Fall: Es finden sich keinerlei Hinweise auf Verständigungsprobleme (cf. Skupien Dekens 5 Zum älteren Französisch als eine der Grundlagen des français romand cf. Knecht (1979: 251) u. Knecht (2000: 166). 6 Hinzu kommt, dass in der Ausgabe der Chroniqueurs orthographische Mängel gebessert werden ( Chroniqueurs , 154). 7 Der Pikarde Johannes Calvin sprach sicherlich nicht im Genfer Dialekt! Zum Französischen in Genf im Zeitalter der Reformation 377 2013: 268; Marinoni 2013: 196). Hieraus kann mit Recht geschlossen werden, dass zur Zeit der Ankunft der Reformation im Gebiet der heutigen Suisse romande auch in der breiteren Bevölkerung eine gewisse passive Kenntnis des Französischen bereits vorhanden war; die Predigt auf Französisch wurde offenbar verstanden (Skupien Dekens 2013: 267-269). 8 Schreibkundige wie die städtischen Notare waren in der Lage, spontan französische Texte zu produzieren, doch deuten die Ergebnisse unserer sprachlichen Analyse der Quelle (cf. Kap. 3) darauf hin, dass die Aneignungsphase des Schriftfranzösischen in Genf um die Mitte des 16. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen war. Von einer fast vollständigen Entregionalisierung der Schriftsprache, wie sie Skupien Dekens (2013: 272) für Neuchâtel um 1530 beobachtet, kann noch nicht die Rede sein. Wenn auch das Französische bereits vor dem Eintreffen der Reformation auf dem Gebiet der heutigen Westschweiz präsent war, so kann dessen zunehmende aktive Beherrschung wohl als Konsequenz der Tätigkeit der Reformatoren betrachtet werden, die auf französisch predigten und das Schulwesen mit Französisch als Unterrichtssprache beförderten (cf. Kristol 2009: 74; Marinoni 2013: 182 u. 189; Skupien Dekens 2013: 269 u. 274). Der Beginn eines gesprochenen Regionalfranzösisch in der Westschweiz ist laut Knecht (2000: 164) für das 17. Jahrhundert anzunehmen. Ganz offensichtlich ist, dass die Grundlage des gesprochenen Regionalfranzösisch das français écrit ist (cf. Voillat 1971: 219-220), und zwar das français écrit der Region. Dies zeigt unsere sprachliche Analyse der Registres du Consistoire und der Chroniqueurs eindeutig, denn sprachliche Merkmale, die sich in diesen Texten des 16. Jahrhunderts finden, bleiben z.T. im gesprochenen Regionalfranzösisch der Suisse romande bis ins 20. Jahrhundert erhalten (cf. Kap. 3.3, 3.4). Im Laufe der letzten hundert Jahre ist hingegen eine Entregionalisierung des français romand zu beobachten (cf. Knecht 2000: 168): Keines der noch von Pierrehumbert 1926 gebuchten Wörter, die in den hier untersuchten Textzeugnissen vorkommen (cf. Kap. 3.3), ist im Dictionnaire suisse romand von 2004 ( DSR ) mehr verzeichnet. Auch die Eigentümlichkeiten der Verbalmorphologie (cf. Kap. 3.4), die Wißler 1909 z.T. noch aufführt, sind heute nicht mehr fassbar (cf. Voillat 1971). Insgesamt kann mit einigem Recht gesagt werden, dass dem 16. Jahrhundert durchaus eine besondere Stellung in der Sprachgeschichte der Westschweiz zukommt, jedoch nicht etwa, weil in dieser Zeit die französische Sprache erstmals in dieses Gebiet eindränge, sondern weil in dieser Epoche die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die ihr in den folgenden Jahrhunderten zum endgültigen Durchbruch verhelfen. 8 In Genf gab es offenbar ab 1541 schulischen Französischunterricht unter Sebastian Castellio, cf. Marinoni (2013: 192). 378 Philipp Burdy Literatur Aebischer, Paul (1950): Chrestomathie franco-provençale . Recueil de textes franco-provençaux antérieurs à 1630 . Berne: Francke. Chroniqueurs = Bossard, Maurice / Junod, Louis (Hrsg.) (1974): Chroniqueurs du XVI e siècle . Bonivard, Pierrefleur, Jeanne de Jussie, Fromment . Lausanne: Payot (= Bibliothèque romande). DSR = Thibault, André / Knecht, Pierre ( 2 2004): Dictionnaire suisse romand. Particularités lexicales du français contemporain . Carouge-Genève: Editions Zoé. 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(1307 - 1327) Jessica Stefanie Barzen Cet article présente une analyse phonographique de la scripta anglo-normande tardive à l’aide d’un corpus de textes provenant des rouleaux parlementaires anglais en langue anglo-normande sous le règne d’Édouard II d’Angleterre (1307-1327). Ces textes donnent un aperçu des particularités phonographiques de la scripta administrative pendant la période finale du Moyen Âge en Angleterre. L’analyse se basera sur la thèse de Merrilees / Pagan (2009), selon laquelle la présence de formes franciennes dans un texte anglo-normand permet, entre autres facteurs, de fournir des dates clés pour la périodisation de la scripta anglo-normande. Compte tenu des traits caractéristiques des textes précoces, le corpus sera analysé sur la base de quatre traits qui se différencient en francien et en anglo-normand: 1) l’absence des diphtongues ou et eu du français médiéval standard (réalisées en anglo-normand par u ), 2) la tendance anglo-normande à la réduction de la diphtongue ie à e , 3) le maintien de ei (en français médiéval standard oi ), et 4) la vélarisation de la voyelle nasale an qui est représenté graphiquement par aun dans l’anglo-normand tardif. En conclusion, on peut noter une forte présence des formes graphiques franciennes dans les rouleaux parlementaires. Même si des traits graphiques caractéristiques de la scripta anglo-normande sont toujours présents, les formes franciennes dominent dans le corpus. Cela montre qu’une analyse phonographique se basant sur le degré de présence de formes franciennes dans un texte anglo-normand serait utile pour une périodisation de la scripta anglonormande. 382 Jessica Stefanie Barzen 1 Einführung: Anglonormannischer Dialekt und anglonormannische Skripta Die Frage der sprachlichen Charakteristika des Anglonormanischen wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert. Bereits bei der Namenswahl der altfranzösischen Varietät herrscht Uneinigkeit: Während manche Linguisten das Anglonormannische lediglich als sekundären Dialekt des Normannischen und somit als ein „normand exporté“ (Zink 1990: 27) betrachten, sind andere der Meinung, dass es sich vielmehr um eine eigenständige Varietät handle, bei der auch die wesentlichen Einflüsse des Alt- und Mittelenglischen, die als jeweilige Adstrate fungierten, nicht außer Acht gelassen werden dürften. Da sich das Anglonormannische als eine „langue composite, comportant de nombreuses variantes individuelles, et inégalement soumis aux influences rectificatrices venues du Continent“ (Zumthor 1964: 367) definieren ließe, dürfe der Name keine scheinbare strukturelle Nähe zum Normannischen implizieren - aus diesem Grunde wurde bereits in mancher Forschungsliteratur eine Umbenennung dieser altfranzösischen Varietät in ‚Anglofranzösisch‘ oder français insulaire 1 vorgeschlagen (cf. Wogan-Browne 2009: 1). 2 Auch bei der Periodisierung des Anglonormannischen gibt es hinsichtlich möglicher Unterscheidungskriterien unterschiedliche Standpunkte. So schlägt Pope (1966: 424) basierend auf sprachexternen Kriterien zwei Hauptperioden vor: eine frühe Phase, die sie als „period of development“ bezeichnet und welche grob den Zeitraum ab der normannischen Eroberung Englands 1066 1 Beide Termini sind als alternative Benennungen des Anglonormannischen (engl. Anglo-Norman , cf. Menger 1904) in der Forschung jedoch schon seit Langem in Gebrauch, so findet sich beispielsweise ‚Anglofranzösisch‘ bereits bei Gröber (1902: 572-574); zur Frage der adäquaten Bezeichnung cf. auch Carles / Glessgen (2015: 112). 2 „Anglo-Norman is the term commonly used for the variety of French used in Britain between 1066 and the middle of the fifteenth century. That term harks back to the time when the language was regarded as being the regional dialect of the Norman invaders who came across the Channel with William the Conqueror. Yet there are good grounds for holding that the generic term ,Anglo-French‘, or ,The French of England‘, perhaps better reflects the reality of the situation. Those alternative terms take into account the heterogeneous composition of William’s army, which included many men from different regions of France, and the fact that over the following three centuries the language must have been used in Britain by all manner of people from dissimilar ethnic backgrounds, whose linguistic competence, to judge by the writings which have survived, ranged from a native mastery of French down to an [ sic ] mere elementary acquaintance. The title of this revised edition of the Dictionary preserves the old name purely in order to maintain continuity with the first edition, which adopted ,Anglo-Norman’ as being the term in current use in academic circle […]” (Rothwell 2006: online). Wie auch Rothwell hier aus pragmatischen Gründen an dem überkommenen Terminus ,Anglornormannisch‘ festhält, soll dies auch in folgender Arbeit gehandhabt werden; Begriffe wie français insulaire werden jedoch synonym verwendet. Die Rolls of Parliament 383 bis 1203 / 1204 umfasse, als England die Normandie und weitere französische Provinzen verlor. Während dieser ersten Phase könne das Anglonormannische noch als vitaler französischer Dialekt betrachtet werden, „e.g. as a living local form of speech, handed down from generation to generation, albeit one that was progressively modified by the peculiar conditions in which it found itself “ (Pope 1966: 424). Die zweite Phase ab 1203 / 1204, der sie keinen klaren Endpunkt zuordnet, bezeichnet sie als eine Periode des sprachlichen Niedergangs des Anglonormannischen, in welcher die Varietät kontinuerlich an Gebrauchsdomänen verlor und nicht mehr die Erstsprache der Nachkommen der französischen Eroberer darstellte - eine Sprache, die ab diesem Zeitpunkt lediglich als Zweitsprache in den Schulen und Universitäten unterrichtet wurde: 3 […] it gradually became a ,deadʻ language, one that had ceased to be the mothertongue of anybody and had always to be taught; a ,faus franceis d’Angleterreʻ, a sort of ,Low Frenchʻ, characterized by a more and more indiscriminate use of words, sounds and forms, but half-known, markedly similar in its debasement to the ,Low Latinʻ of the Merovingian period in Gaul. (Pope 1966: 424) Die Frage, ob das spätere Anglonormannisch tatsächlich eine Sprache im Verfallsprozess darstellte, die ähnlich dem Merowingerlatein nur noch artifiziell unterrichtet und nicht mehr weitergegeben wurde, ist mittlerweile in der Forschungsliteratur sehr umstritten (cf. Ingham 2010b: 8-9). 4 Zudem erscheint eine Periodisierung basierend allein auf sprachexternen Kriterien (z. B. Verlust der kulturellen und sprachlichen Bindung an das ehemalige Heimatland) ohne Berücksichtigung der internen Sprachentwicklung nicht unproblematisch. Die vorliegende Arbeit verfolgt deshalb einen anderen Ansatz: Anhand einer Analyse sprachlicher Charakteristika der anglonormannischen Skripta sollen Anhaltspunkte für eine Periodisierung erarbeitet und damit sprachinterne Kriterien in den Fokus gerückt werden. Dabei beschränkt sich die folgende Untersuchung in der Tradition der diachronen Sprachbeschreibung und der Dialektforschung auf die lautlichen Merkmale als die salientesten zur Bestimmung von Sprachwandelprozessen und des sprachlichen Abstandes zwischen Varietäten. Entsprechend der historischen Konstellation seien diese Merkmale als phonographisch zu charakterisieren, d. h. es sind primär graphische, die jedoch sekun- 3 Zu verschiedenen Aspekten der Mehrsprachigkeit während der Periode des Anglonormannischen in England cf. Jefferson / Putter (2013). 4 Sprachmerkmale, die in älteren Studien als Beweis einer imperfekt erworbenen Sprache, welche kurz vor dem Sprachtod steht, galten, werden heute, im Licht jüngerer Studien zu Sprachkontakt- und Spracherhalt, generell als „part of a language system produced perfectly naturally by a society which simultaneously deployed a number of languages in everyday life“ (Trotter 2013: 143) betrachtet. 384 Jessica Stefanie Barzen där ebenfalls Anhaltspunkte über die gesprochene Sprache liefern. 5 Zunächst sei deshalb bestimmt, welche phonographischen Merkmale in der bisherigen Forschungsliteratur generell als Merkmale des Anglonormannischen gelten. Die ersten Texte, die uns in anglonormannischer Skripta vorliegen, sind im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts entstanden. Schriftsteller wie Benoît (Benedeit) (z. B. Voyage de Saint Brendan , 1106 / 1121), Philippe de Thaon (z. B. Bestiaire , 1121 / 1135) und Geffrei (Geoffroy) Gaimar (z. B. Estoire des Engleis , 1135 / 1140) liefern uns erste literarische Zeugnisse, die darauf hinweisen, dass das Anglonormannische eine eigenständige Varietät mit klaren dialektalen Merkmalen war, anhand derer man es von anderen altfranzösischen Varietäten unterscheiden konnte (cf. Short 2013: 23). 6 Auch wenn die graphischen Besonderheiten der anglonormannischen Texte weder ausschließlich für das Anglonormannische gelten, noch durchgängig uniforme Charakteristika aufweisen müssen, lässt ihre gemeinsame Präsenz doch eindeutig darauf schließen, dass es sich um einen anglonormannischen Text handelt. 7 Als salienteste Merkmale der anglonormannischen Skripta werden von Short (2013) die folgenden genannt: 1. „the replacement of Standard Medieval French ( SMF ) o or ou in all positions by u , as in duner (= doner ), tut (= tot ), lur (= lor ), curt (= cort )“ sowie „the absence of the SMF primary diphthong eu as in flur (= fleur ), seignur (= seigneur )“ (Short 2013: 45). Diesen Graphiekonventionen liegt eine Realisierung der Laute u , ü , ǫu , üi als [u] zugrunde (cf. Kapitel 3.3.), die als eine der charakteristischsten Merkmale des anglonormannischen Dialekts gilt (Short 2013: 66, cf. Pope 1966: 472, § 1285). 2. Als weiteres Merkmal nennt Short eine „retention of ei where SMF develops oi , as in fei (= foi ), creire (= croire ) […]“ (Short 2013: 45). Der Diphthong ei , der sich aus vlat. ẹ́ in offener Silbe entwickelte, dissimilierte zwar auch im Anglonormannischen zu oi , allerdings fand diese Entwicklung im Vergleich zum 5 Da eine Skripta als „,landschaftliche Schreibtradition‘ […] den wirklichen Dialekt, d. h. die damals gesprochene Mundart, lediglich in mehr oder minder hohem Maße durchscheinen lässt“ (Gossen 1967: 14-15), unterliegt der Nachweis von gesprochenen Charakteristika anhand dieser zwar gewissen Beschränkungen, allerdings können ausgehend von gewissen regelhaften Erscheinungen in der anglonormannischen Schreibtradition durchaus Vermutungen über das gesprochene Anglonormannische angestellt werden. 6 Zur diasystematischen Variation im Anglonormannischen cf. auch Trotter (2015), zu Standardisierungstendenzen cf. Trotter (2017). 7 Zu „continual pressure and influence from the continent on its insular neighbour“ cf. Trotter (2013: 161), was sich unter anderem darin äußert, dass sich im Anglonormannischen auch Formen aus anderen Varietäten als dem Franzischen finden lassen, insbesondere solche aus dem Pikardischen. Die Rolls of Parliament 385 kontinentalen Französisch später statt (cf. Short 2013: 83), wie in Kapitel 3.2. ausgeführt wird. 3. Ergänzend führt Short (2013: 49) aus, dass auch die anglonormannische Schreiberpraxis, <an> durch <aun> zu ersetzen, eines der charakteristischsten Merkmale anglonormannischer Texte sei, die sich allerdings erst Mitte des 13. Jahrhunderts verbreitete und somit als ein Kennzeichen der späteren anglonormannischen Skripta gelten kann (cf. Kapitel 3.4.). Diese graphische Besonderheit wird auf eine Velarisierung des Nasalvokals ɑ̃ zu ɔ ̃ zurückgeführt (Short 2013: 49, cf. Pope 1966: 442, § 1152). 4. Abschließend führt Short eine generelle Tendenz zur Reduzierung gewisser Digraphen in der anglonormannischen Skripta an (cf. Kapitel 3.1.), wie bspw. ie > e , so wie in cel (= ciel ) und ben (= bien ) (cf. Short 2013: 45). Dieser graphischen Besonderheit liegt eine Monophthongierung des Diphthongs i̭ ę́ zu e zugrunde, „one of the recognised dialectal features of Insular French“ (Short 2013: 52), die vermutlich dadurch begünstigt wurde, dass j nach Konsonant im Englischen selten auftrat (cf. Pope 1966: 443, § 1155). Abgesehen von der Graphie <aun> sind die von Short (2013) genannten Merkmale besonders bezeichnend für die frühe anglonormannische Skripta. In späteren Schriften kommt es allerdings vermehrt zu einer Beeinflussung durch fremde Formen aus anderen Skriptatraditionen, besonders durch solche aus der franzischen Skripta. In Bezug auf die Franzisierung des Anglonormannischen sei nun zusätzlich die Untersuchung von Merrilees / Pagan (2009) berücksichtigt, die phonographische, lexikalische und insbesondere morphosyntaktische Besonderheiten anglonormannischer literarischer Texte des 12. bis 14. Jahrhunderts analysieren. Sie teilen die Skriptatradition des français insulaire in zwei Perioden ein. Hierbei zeichne sich die erste Periode vor allem hinsichtlich literarischer Texte durch einheitliche Charakteristika aus und könne durch diese eindeutig von anderen Festlandvarietäten unterschieden werden. Der späteren Phase bescheinigen sie heterogenere Züge, „which can in part be attributed to an increasing influence of continental French 8 and a perspective that there was a model of which some writers were more aware than others“ (Merrilees / Pagan 2009: 119). Während die Autoren Angaben zu Besonderheiten der späten anglonormannischen Skripta machen und dies mit Beispielen aus Werken des 14. Jahrhunderts belegen, machen sie allerdings keine Angaben darüber, ab welchem Zeitpunkt man eigentlich von „später“ anglonormannischer Skripta sprechen kann, und anhand welcher Kriterien dies festzulegen sei. 8 Mit continental French beziehen sich Merrilees / Pagan (2009) insbesondere auf den Einfluss der Skripta der Île-de-France, d. h. des Franzischen. 386 Jessica Stefanie Barzen Die folgende Untersuchung soll nun genau diese Lücke schließen. Es wird also der Frage nachgegangen, in welchem Maße die Präsenz franzischer phonographischer Formen in anglonormannischen Texten Aufschlüsse über mögliche Periodisierungsansätze der anglonormannischen Skripta in frühe und späte Texte liefern kann. Als Korpus wurden fünf Texte der Parlamentsrollen aus der Regierungszeit des englischen Königs Eduard II . (1307-1327) ausgewählt, die auf phonographische Besonderheiten der administrativen anglonormannischen Urkundensprache des spätmittelalterlichen England untersucht werden. 9 Hierbei werden diachrone Faktoren der verschiedenen altfranzösischen Skriptae sowie deren regionale Unterschiede in der Untersuchung bis zu einem gewissen Grad berücksichtigt; denn während manche phonographischen Merkmale des français insulaire spezifisch anglonormannischer Natur sind, stehen andere stellvertretend für allgemeine Tendenzen der westfranzösischen Skriptae (cf. Zink 1990: 27). Ausgehend von den bei Short genannten Charakteristika der frühen anglonormannischen Skripta werden exemplarisch vier dieser Merkmale in diesen späteren anglonormannischen Texten untersucht: 1) das Nichtauftreten der Digraphen SMF ou / eu (agn. = u ), 2) die Reduktionstendenz des Digraphs ie zu e , 3) der graphische Erhalt von agn. ei ( SMF oi ) und 4) die graphische Realisierung von SMF an als agn. aun . Nach einem Vergleich des Verhältnisses zwischen der Präsenz franzischer und anglonormannischer Formen in den Texten wird dann der entscheidenden Frage nachgegangen, inwiefern ein großes Vorkommen anglonormannischer bzw. franzischer Formen Ansatzpunkte für eine Periodisierung anglonormannischer Texte liefern kann und welche Zäsuren bestimmt werden können. In diesem Rahmen kann dann auch eine erste Charakterisierung und damit auch Zuordnung der Parlamentstexte aus der Regierungszeit Eduards II . vorgenommen werden. 2 Die Rolls of Parliament Die offiziellen Aufzeichnungen der Versammlungen des englischen Parlaments von der Regierungszeit Eduard I. (1272-1307) bis Heinrich VII . (1485-1509) befinden sich auf den so genannten Rolls of Parliament . Zum ersten Mal wurden sie als Rotuli Parliamentorum ( RP ) im 18. Jahrhundert herausgegeben (cf. RP bzw. Strachey 1767-1777), wobei in dieser Edition der Zeitraum von 1278 bis 1509 erfaßt wurde. Abgesehen von zwei weiteren Ausgaben der gleichen Edition 9 Exemplarisch sei hier eine im Anhang mitabgedruckt (York Parliament Oktober 1318), das Gesamtkorpus würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. Die Rolls of Parliament 387 (1783, 6 vols.; 1832, 6 vols. + index) blieb dies lange Zeit die einzige. Aus diesem Grund wurde 1997 das PROME -Projekt(= The Parliament Rolls of Medieval England) in die Wege geleitet, in welchem basierend auf der Edition von Strachey und den Originalmanuskripten die Texte der Rotuli Parliamentorum aus dem Zeitraum von 1275 bis 1504 neu editiert, ergänzt und mit einer englischen Übersetzung versehen wurden. 10 Zusätzlich wurde alles auch in digitalisierter Form veröffentlicht (cf. PROME ; Givon-Wilson 2005: online), was die primäre Korpusgrundlage vorliegender Untersuchung bilden soll. Die in den Rolls of Parliament verzeichneten Parlamentssitzungen (Ansprachen, Beschlüsse und Petitionen) sind zunächst ausschließlich in lateinischer Sprache festgehalten; nach und nach finden sich jedoch ab Ende des 13. Jh. vermehrt Passagen und dann ganze Texte auf Französisch (Anglonormannisch), 11 das im Folgenden zunehmend dominiert, vor allem ab der Regierungszeit Eduard III . (1327-1377) (cf. Lusignan 2009: 21). Die Kommunikationssprachen des Parlaments während der Regierungszeiten von Eduard I. (1272-1307) und Heinrich IV . (1399-1413) waren ausschließlich Anglonormannisch und Latein. Erst mit der Thronbesteigung von Heinrich V. (1413-1422) änderte sich die sprachliche Situation zugunsten des Englischen maßgeblich. 12 Heinrich war auch der erste König mit Englisch als Muttersprache. Ein erstes Anzeichen für eine Änderung im offiziellen Gebrauch war die Dekretierung des Englischen als Sprache der Justiz unter Eduard III . im Jahre 1362 (cf. Berschin / Felixberger / Goebl 1978: 220). Ein Beispiel zum diglossisch unterschiedlichen Gebrauch beider Sprachen liefert die Eröffnungsrede desselben Jahres 1362, die zwar von dem obersten Justizbeamten der King’s Bench , Sir 10 Darüber hinaus werden in diesem Projekt Parlamentsaufzeichnungen und Petitionen berücksichtigt, die seit dem 18. Jahrhundert entdeckt und bis heute nach und nach publiziert wurden. Unabhängig davon, ob die Originalrolle erhalten blieb, wurde außerdem zu jeder Parlamentssitzung zwischen 1275 und 1504 ein kurzer Einführungstext über die politischen Zusammenhänge angefertigt. 11 So datiert beispielsweise die erste petitio in parliamento , die vollständig auf Französisch ist (die verzeichnete Antwort des Parlaments ist jedoch auf Latein), auf das Jahr 1278. 12 „Henry V has long been known for his role in the adoption of English as a medium of written communication: as the brewers’ guild of London so memorably and famously put it […]: ‚our excellent lord, King Henry V, has in his letters missive and divers affairs touching his own person, more willingly chosen to declare the secrets of his will, and for the better understanding of his people has, with a diligent mind, procured the common idiom (setting aside others) to be commended by the exercise of writing“ (Ormrod 2003: 784-785). Zum Gebrauch des Französischen am englischen Hof cf. allgemein Lusignan (2004). 388 Jessica Stefanie Barzen Henry Green, auf Englisch vorgetragen wurde, später jedoch auf der Rolle in französischer Sprache vorzufinden ist. 13 Der erste parlamentarische Akt, der auf Englisch niedergeschrieben wurde, stammt aus dem Jahre 1417; danach wurden die englischen Parlamentsaufzeichnungen immer zahlreicher, während die anglonormannischen stetig abnahmen. 14 Im Jahre 1488 wurde das français insulaire schließlich gänzlich vom Englischen abgelöst (cf. Lusignan 2009: 21). Insgesamt kann also festgehalten werden, dass das Anglonormannische vor allem im 14. Jh. und zu Beginn des 15. Jh. die dominierende Sprache der Rollen war, die die trilinguale Sprachsituation (Latein, Französisch, Englisch) des mittelalterlichen England und den Ablöseprozeß der jeweiligen schriftsprachlichen high variety widerspiegeln, bevor es dann vom Englischen abgelöst wurde. 15 3 Phonographische Untersuchung der Parlamentsrollen aus der Regierungszeit Eduards II. (1307 - 1327) Als Korpus der Analyse wurden exemplarisch fünf Texte der Parlamentsrollen aus der Regierungszeit des englischen Königs Eduard II . (1307-1327) ausgewählt: zwei Petitionen aus den Januar-Sitzungen des Parlament von 1315, die Beschlüsse des so genannten Treaty of Leake von 1318, eine Ansprache des Chancellors von 1320 und eine Ansprache des Königs von 1324. Die Texte sind also der Epoche des späten Altfranzösischen bzw. des frühen Mittelfranzösischen zuzuordnen (cf. Barzen 2011: 42). 16 13 Cf. Ormrod (2005: online): 1362 October Introduction und die Parlamentsrolle dieses Parlaments, C 65 / 20, Membrane 1, die auf Französisch verfasst ist. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Parlamentseröffnungen von nun an nur noch in englischer Sprache erfolgten. Rábade berichtet von zwei Parlamentssitzungen, 1363 und 1365, bei denen auf der Rolle vermerkt wurde, dass „en Engleis“ (Rábade 1992: 96) kommuniziert wurde. Diese explizite Anmerkung lässt jedoch darauf schließen, dass dies ein außergewöhnlicher Umstand war und es deshalb auf der Rolle vermerkt wurde. Bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts wurde weiter Französisch gesprochen und geschrieben. 14 Der Sprachwechsel vom Französischen zum Englischen lässt sich gut durch das sich verändernde Verhältnis der Sprachen zwischen den 1420er und 1440er Jahren ablesen. Waren beispielsweise 1422 noch 35 Dokumente der Rolls auf Französisch, gegenüber 6 auf Englisch und 5 auf Latein, liegen 1444 nur noch 8 auf Französisch und 13 auf Latein, aber 34 auf Englisch vor (cf. Kibbee 1991: 67). 15 „The extent to which the administration of Britain was carried on in French may be judged by the sheer quantity of Anglo-French in the trilingual records of Parliament“ (Rothwell 2006: online). 16 Zur Entwicklung des englischen Parlaments im Spätmittelalter cf. den Überblick bei Sarnowsky (2002: 205-216), zur Regierungszeit Eduard II. und speziell zum Treaty of Leake cf. Haines (2003: 109-117). Die Rolls of Parliament 389 Die Selektion dieser Texte aus dem 14. Jahrhundert, dem „Golden Age of the King’s French“ (Lusignan 2009: 22), erschien aus zwei Gründen angebracht: Zunächst war es wichtig, Texte einer noch erhaltenen Parlamentsrolle untersuchen zu können. Dies traf für die Rollen aus der Regierungszeit Eduards I. nur in sehr geringem Maße zu. Ausschlaggebend für die Wahl der Texte war allerdings letztendlich die sprachliche Komponente: In den Texten aus dieser späten altfranzösischen Epoche konkurrieren die Formen des français insulaire maßgeblich mit denen des francien. Die folgende Analyse soll Aufschlüsse über das Verhältnis der anglonormannischen und franzischen Formen geben. 3.1 ie > e Der bereits kurz nach dem Quantitätenkollaps im 5./ 6. Jahrhundert aus dem freien betonten ę́ des Vulgärlateins entstandene steigende Diphthong [i̭ę́] (z. B. pęde > * p i̭ ę́de > afr. p i̭ ę́t > pied (cf. Wolf / Hupka 1981: 72-73, § 125)) monophthongierte im Anglonormannischen zu e . Diese Entwicklung wird oft darauf zurückgeführt, dass das Auftreten von j nach Konsonant im Englischen ungewöhnlich war: […] the use of j after consonants was unfamiliar in English speech and consequently the passage of jẹ to ẹ and of jē to ē was greatly accelerated in insular French and from the later twelfth century on becomes a marked feature of Anglo-Norman, cf. Comput , 17 marchels : icels 551; Debat , desconseillee [sic! ]: nee , presenter : mestier , etc. (Pope 1966: 443, § 1155; Hervorhebungen im Original) 18 Die Reduktion des Diphthongs konnte sich in der anglonormannischen Skripta analog auch graphisch ( ie > e ) niederschlagen. Im Franzischen trat die Monophthongierung nicht ein, und dementsprechend wurde der Digraph in der franzischen Skripta beibehalten (cf. Gossen 1967: 122). In den Parlamentstexten kann man drei unterschiedliche graphische Realisierungen des Lautes beobachten. Vorzufinden sind: a) graphische Varianten, die durchgängig in der zu erwartenden anglonormannischen Form realisiert werden, b) Varianten, die konsequent im Schriftbild des francien realisiert sind, und c) Varianten, deren graphische Darstellung zwischen beiden Schrifttraditionen alterniert: 17 Hierbei handelt es um ein Werk Philippe de Thaons, welches außer als Comput auch unter den Titeln Li compuz oder Livre des Creatures verzeichnet wird und auf ca. 1113 / 1119 zu datieren ist. 18 Wie man anhand des Reimes presenter : mestier erkennen kann, wurde die tatsächliche Aussprache [e] allerdings nicht immer in die Graphie übernommen. 390 Jessica Stefanie Barzen (1) En primes come les prelatz, contes et barons du roialme assemblez a cesti parlement eussent debatu entre eux la manere du commencement de meisme le parlement, fut vis a touz qe en primes chef serroit a requere nostre seignur le roi […]. 19 (York Parliament 1318, 1-3) (2) […] et apres, par divers empeschemenz et excusacions de par le roi de France, si failli le dit jour de Mi Quaresme et fut continue de temps en temps jeqes a la Nativite Seint Johan le Baptistre, a queu temps il fut a Amiens et fit son homage et ses autres bosoignes bien et beal, la Dieu merci, issi qe par cestes enchesons ne se poait mi le dit parlement tenir a Westm’ as dites oitaves de la Trinite. Par quei nostre seignur le roi a seon returner en Engleterre, eant grant desire et volonte a faire totes les choses qe a bon seignur appendent au profit de seon reaume et de seon poeple, ordena de tenir son parlement ci a Westm’ a ces oitaves de la seint Michel, a plus eise ben de son reaume et plus covenable temps pur son poeple apres la seson d’Agst […]. (Westminster Parliament 1320, 13-16) Insgesamt gibt es acht Realisierungen von manere im Korpus, welche durchgehend in der anglonormannischen Form auftreten; keine der Varianten ist in der franzischen Form maniere aufgeführt. Anders verhält es sich bei den Formen aus lat. bene > afr. bien und lat. capu > afr. chief (cf. engl. chief ), 20 deren Formen in den Parlamentstexten alternieren. Es sind allerdings die franzischen Formen, die im Text überwiegen: Während 10 der Formen aus lat. bene in franzischer Schreibtradition realisiert werden (darunter aussibien mit der Variante aussi bien ), taucht die anglonormannische Variante ben nur einmal auf (cf. Barzen 2011: 49). Auch bei den Formen chief vs. chef ist es die franzische Form, die im Text dominiert, wenn auch nur mit zwei Varianten chief gegenüber einer anglonormannischen Variante chef . Lat. rem > afr. rien wird mit insgesamt sieben Formen im Korpus konsequent in der franzischen Form realisiert: (3) Qant a touz ceux qe furent deintz la Ryole od mon soignur le counte, dioms qe nous ne veismes, ne seumes, ne aparceusmes qe nul feist chose forsqe bien, sauve qe murmure de poeple fu contre Vidau de Cons et Raymon del Avison, borgeys de la Riolle, q’il avoient eu parlaunce od le sire de Lebret, pur quoi il furent arestu en chastel, mais riens de certein ne fu trove contre eux […]. (London ,Parliament‘ 1324, 30-34) 19 Sofern nicht anders gekennzeichnet, sind die Hervorhebungen im Text von der Verfasserin des vorliegenden Beitrags ( J. B.). 20 Wolf / Hupka (1981: 64, § 110; 95, § 174) nennen hierbei als Zwischenstufen vlt. capus > afr. chies - chief [tʃ]. Die Rolls of Parliament 391 Die ältere anglonormannische Form ren(s ) findet man u. a. in der Anglo-Norman Pseudo-Turpin Chronicle 21 : (4) Ferragu apporta se espeye, mes rens ne ly valoyt, kar Rolland aporta un bastoun retors gros e long, e en fery tot le jour le jeaunt mout graunt coups […]. Mes il le blesça mout poy e si ly fery mout dé grosses peres ke estoyent eu chaump, e reyn ne valust. [ ANPTC , 720-24] 22 Das graphische Gesamtbild des Textes wird bereits von den franzischen Graphieformen bestimmt. Die generelle Dominanz des franzischen Digraphs wird im Korpus ebenfalls an Hapax legomena des Textes wie dieu (Westminster Parliament 1320, 12), siege (London ,Parliament‘ 1324, 27) und meschief (London ,Parliament‘ 1324, 51) ersichtlich, die in älteren anglonormannischen Texten hauptsächlich mit Monograph realisiert werden: (5) Pur cest siecle le ciel cumquis, Bel e purprin, Entre martirs el sege 23 mis. (S Thom, 24 2020) (6) E diseit ke ceo fust grant meschef 25 De balme a cele lampe trover. (Mir N-D, 26 35.80) (7) Barinz out nun cil ermite, Murs out bons e sainte vitte; Li fedeilz Deu 27 en bois estout, Tres cenz moines od lui i out […]. (S Brend, 28 75-78) Interessanterweise treten zuweilen hyperkorrekte Formen wie „il prient qe tiel torcenouse demaunde soit oste“ (Westminster Parliament 1315, 14) auf. Der Grund für die Präsenz dieses Digraphs ist zweifellos der Wille zur Anpassung an die franzische Skripta, die in Bezug auf dieses Merkmal hier bereits dominiert. 29 21 Im AND wird das Dokument auf das Jahr 1215 datiert. 22 Wie in diesem Beispiel erkennbar, wird das Zweikasus-System hier bereits nicht mehr durchgehend realisiert; während rens in Vers 721 korrekt im casus rectus realisiert ist, fehlt in Vers 724 das Suffix - s , das entweder den casus rectus Singular oder den casus obliquus Plural anzeigt. 23 Die verschiedenen graphischen Varianten für einzelne Wörter in anglonormannischen Texten sind im AND vorzufinden. Unter dem Eintrag ‚sege‘ werden folgende graphische Varianten aufgeführt: sege, seege, seiege, sige, siege, segoy, seinge . 24 Datierung im AND auf 1184. 25 Graphische Varianten im AND (s.v. meschief ): méchef; mescheef, meschef, meschefe; mescheif; mescheve; meschieff, meschiefe, meschieve, meschif; mieschief, mieschieve; mischef, mischief, mischieve, mischif, mischiff; myschef, myschief, myschieffe, myschif. 26 Im AND wird das Dokument auf das Jahr 1240 datiert. 27 Graphische Varianten im AND (s.v. deus ): deu, dé, dee, deus, deux, dex, di, diex, dieux, dieuxz, dieu, diez, diu, du . 28 Datierung im AND auf ca. 1100-1125. 29 Auch im AND (s.v. tel ) werden die graphischen Varianten tiel , tiell , tieu aufgeführt. Es scheint sich trotzdem nicht um eine phonographische Variante zu handeln, die auf einer tatsächlichen Lautentwicklung im Anglonormannischen beruht, sondern eher um eine 392 Jessica Stefanie Barzen 3.2 ei ≯ oi Der fallende Diphthong [ẹ́i̭], der sich vermutlich durch fränkischen Einfluss zwischen dem 6. und 8. Jh. aus betontem lateinischen é entwickelte, wurde zwischen dem 10. und 12. Jh. zunächst in den östlichen Dialekten und dann im Zentrum zu [ọ́i̭] dissimiliert: „Die beiden Bestandteile des Diphthongs werden dann einander angenähert [óe], im 13. Jh. verlagert sich der Akzent auf das schallstärkere Element [oé], das [o] wird dadurch zum Halbvokal: [ṷę́]“ (Wolf / Hupka 1981: 73-74, § 127). Während sich im kontinentalen Altfranzösischen die Lautung von [oi̭] also nach dem 13. Jahrhundert zu [u̯eͅ] weiterentwickelte, kam die Orthographie bei [oi̭] zum Stehen. Im Anglonormannischen weist das Fehlen von Reimen zwischen <ei> und <oi>, die im kontinentalen Französisch ab den 1170ern nachweisbar sind und dort die lautliche Entwicklung [ei̭] > [oi̭] widerspiegelt, darauf hin, dass sich der Diphthong [ei̭] zumindest in einer frühen Phase noch nicht zu [oi̭] dissimiliert hatte (cf. Short 2013: 85). Dementsprechend taucht der Digraph oi in frühen anglonormannischen Texten selten auf, wie man am Beispiel des Guigemar aus den Lais der Marie de France erkennen kann: (8) Guigemar apele en riant: ‚Sireʻ, fet il, ‚si vus pleseit, Ceste pucele essaiereit Vostre chemise a despleier, Së ele post riens espleiter.ʻ[…] La dame conut bien le pleit; Mut est sis quors en grant destreit […] (Lais, 30 790-794, 801-802) Spätere Texte weisen eine vermehrte Präsenz des franzischen Digraphs auf, was durch einen wachsenden Einfluss des Franzischen sowohl auf graphischer als auch auf lautlicher Ebene erklärt wird: The influence of francien was strong enough, especially when supported by the northern pronunciation, to influence spelling considerably and to introduce some forms and pronunciations that displaced, partially or wholly, those current in Anglo-Norman which were of western origin […]. oi for ei or e. - oi, the central and northern French Hyperkorrektur, die sich innerhalb der späteren Texte ausbreitet. Zudem listet Pope (1966: 154, § 388) zwar eine Variante tieus für den Plural auf, welche sich aus der Lautentwicklung tales > teɫs > tẹeus > tieus ergeben hat; allerdings wird keine analoge Tendenz zur Palatalisierung für den Singular angeführt. 30 Entstehungszeitpunkt zwischen 1155 und 1189 laut AND. Die Rolls of Parliament 393 form of the diphthong ei […], sometimes displaced A. N. ę < ei, e.g. loial for earlier lęal or lęęl […]. (Pope 1966: 451, § 1187-1188; cf. Merrilees / Pagan (2009: 122). Dabei ist nicht eindeutig zu klären, ob die lautliche Entwicklung [ei̭] > [oi̭] im Anglonormannischen nur partiell auftritt oder flächendeckend den ganzen Dialektraum erfasst. 31 In den Texten aus der Regierungszeit Edward II . ist festzustellen, dass die kontinentalen Formen die anglonormannischen bereits fast verdrängt haben. Bei einer Gesamtzahl von 169 graphischen Varianten ergibt sich ein Verhältnis von 142 <oi>-Graphien (84 %) zu 27 <ei>-Graphien (16 %). Interessant ist ein Vergleich der verschiedenen Schreibweisen von nfrz. roi 32 und royaume 33 in den Parlamentsrollen 34 : (9) Fait a remembrier qe come nadgairs certeyns prelatz, contes et barons de la volente nostre seignur le roi et assent des plusurs grantz du roialme, et autres du conseil le roi lors esteauntz a Norhampton’, fusseynt alez devers le conte de Lancastr’ de parler et treter ovesqe [li] sur le profit et l’onur de nostre seignur le roi et de son reaume. (York Parliament 1318, 9-12) In den untersuchten Rollen wird roi mit insgesamt 40 Okkurenzen konsequent in der Schreibung oi realisiert; nfrz. royaume taucht fünf Mal in der Form reaume , sieben Mal in der Form roialme und einmal in der Form roiolme auf. Die unterschiedlichen Schreibweisen weisen ebenfalls darauf hin, dass es sich in dieser Zeit weiterhin nur um Tendenzen einzelner Skriptae handelt, abhängig auch von Vorlieben einzelner Schreiber. Dies beweist auch, dass man hier keinesfalls von einer etablierten Orthographie, auch nicht innerhalb der jeweiligen Skriptatraditionen, sprechen kann. 31 Weder Short (2013: 83, § 12; 88, § 13) noch Pope (1966: 451, § 1188; 458, § 1223) äußern sich diesbezüglich so eindeutig, dass daraus eine Gesamtentwicklung ableitbar wäre. 32 Im AND (s.v. rei2 ) sind folgende Schreibweisen angeführt: rei , rai , raie , ree , roe , roi , roie. 33 AND (s.v. realme ): realme, realm, reaum, reame, reaume, rewme, reawme; reialme, reiaume, reiulme; roeulme, roalme, roialme, roiame, roiaume; roilme, reume, reoume, ralme; reuame. 34 Auch wenn den beiden nfrz. Formen roi und royaume nicht die gleichen Lautwandelprozesse zugrunde liegen (bei roi handelt es sich um einen Lautwandel, der durch die Kombination Vokal + g + i,e ausgelöst wurde: rēge > * rẹ i̯ e > afrz. rei > roi , (cf. Rheinfelder 1976 I: 276, § 740); bei royaume handelt es sich vermutlich um eine Kreuzung aus regimen und * regálimen (cf. FEW: s.v. regimen) bzw. „Altér. par croisement avec royal * de lʼa. fr. reiame “ (TLFi s.v. royaume )), können ab dem Zeitpunkt des Belegs von afrz. reiame / reialme (laut TLFi ca. 1100) auch hier die jeweiligen altfranzösischen Varianten auf die graphische Opposition ei vs. oi hin untersucht werden. 394 Jessica Stefanie Barzen Festzuhalten ist, dass das Merkmal ei ≯ oi in den späteren Texten nicht mehr als charakteristisch für das Anglonormannische gelten kann. 35 3.3 ou/ eu > u Während sich geschlossenes [ọ́] in betonter Silbe im 6.-9. Jahrhundert zum fallenden Diphthong [ọ́ṷ] entwickelte, der daraufhin „zunächst im Pik. […], dann im Franzischen und Champ. im 11. Jahrhundert zu [ẹ́ṷ] dissimiliert wurde und im 13. Jh. zu [ö] monophthongierte“ (Wolf / Hupka 1981: 74, § 128), entwickelte sich der Laut in den westfranzösischen Dialekten und im Anglonormannischen zu [u]. Dadurch, dass unabhängige Lautentwicklungen spezifisch anglonormannischer Natur zusätzlich dazu führten, dass sich weitere Laute ebenfalls zu [u] entwickelten, wurde der [u]-Laut zu einem der salientesten Merkmale des français insulaire : „In Later Anglo-Norman the sounds u, ü […], ǫu […], üi […] had all fallen together under u“ (Pope 1966: 472, § 1285; Hervorhebung im Original). Während [ou] (< [o] + [ɫ]) beispielsweise auch im kontinentalen Französisch zu [u] tendierte, war der Übergang von [y] zu [u] (und als Vorstufe die Entwicklung [yj] > [y]) ein spezifisch anglonormannischer Prozess: „Velarisation of ü to u appears early and is frequent, e.g. Brendan , 36 murs : flurs […] and is so differentiated from French ü“ (Pope 1966: 440, § 1142; Hervorhebung im Original). Der [u]-Laut als eines der hervorstechendsten Merkmale des anglonormannischen Dialekts wurde in der Skripta mit zahlreichen Graphievarianten realisiert, wie beispielsweise u , ou , ui oder eu : „[…] thus düt pronounced dut might be written dut , dout , duit , deut “ (Pope 1966: 472, § 1285). Gossen, der sich für die Untersuchung der anglonormannischen Skripta auf eine Briefsammlung aus dem 13. und 14. Jahrhundert stützt, kommt zu dem Resultat, dass in den untersuchten Briefen <u> die älteste und bis zum Ende des 14. Jahrhunderts verbreiteste Graphiepraxis der anglonormannischen Skripta ist (cf. Gossen 1967: 68). Allerdings werde sie „von den vom Festland importierten Graphien ou und in geringem Ausmaß auch von eu konkurrenziert“ (Gossen 1967: 93). Ein Blick in die Anglo-Norman Voyage of St. Brendan zeigt, dass in den Texten des frühen 12. Jahrhunderts die Graphie <u> tatsächlich maßgeblich dominiert: (10) Ço fud Mernoe, qui ert frerre Del liu u cist abes ere, 35 Bei einem kurzen Blick auf das verbale Tempussystem ist auffällig, dass die Formen im Konditional und Imperfekt ebenfalls durchgängig in der franzischen Form realisiert werden, z. B. ferroit (York Parliament 1318, 81), purroit (York Parliament 1318, 81), disoient (London ‚Parliament‘ 1324, 29). 36 Hierbei wird auf die Voyage de Saint Brendan von Benoît verwiesen (v. supra). Die Rolls of Parliament 395 Mais de ço fud mult voluntif. Que fust ailurs e plus sultif. Par sun abeth e sun parain En mer se ist, e nun en vain, Quer puis devint en itel liu U nuls n’entret fors sul li piu […]. (S Brend, 85-92) Bei der Untersuchung der Texte der Parliament Rolls zeigt sich allerdings bereits der Einfluss des français continental : (11) […] qe les chartres de relees et acquitances fuissent simples et sanz condicion, et sur meilliour seurte purroit estre trove pur eux au procheyn parlement feust faite a eux, et illoesqes afferme devant nostre seignur le roi et son barnage, nostre seignur le roi par assent des prelatz, contes et barons et communaute de son roialme. (York Parliament 1318, 83-87) Während purroit , pur und seignur 37 in der anglonormannischen Schreibweise vorzufinden sind, werden meill(i)our mit dem Digraph <ou> und eux mit <eu> in der franzischen Graphie realisiert und nicht in der anglonormannischen allein mit <u>. Das Lexem (h)onur wiederum, entstanden aus lat. honōrem , erscheint vier Mal ausschließlich in der typischen anglonormannischen Schreibweise. Des Weiteren wurden die Rollen auf die Formen des lateinischen Etymons illōrum untersucht. Drei Formen der Demonstrativbzw. Possessivpronomen wechseln sich im Text ab, davon sieben Mal leur , neun Mal lour und einmal die rein anglonormannische Form lur . Eine Untersuchung der Formen aus lat. tōtus , die sich im kontinentalen Altfranzösischen ( SMF ) regulär zu dem Paradigma toz / tote (Mask. Sg. Rekt. toz > tous , Mask. Sg. Obl. tot > tout , Mask. Pl. Rekt. tuit , Mask. Pl. Obl. toz > tous ; Fem. Rekt./ Obl. tote , Fem. Pl. Rekt./ Obl. totes ; cf. Rheinfelder 1976 II : 180, § 396) entwickelt haben, ergibt, dass in den Parlamentsrollen folgende Okkurrenzen auftreten: Formen auf <ou> ( touz, toutes, tout, toucz ) erscheinen insgesamt 29 Mal, Formen auf <o> ( tot, tote, totes ) 8 Mal und Formen auf <u> ( tut, tutes ) 7 Mal. 38 Dies belegt, dass die franzischen Formen bereits überwiegen, wobei auch die genuin anglonormannischen Formen auf <u> weiterhin präsent sind. Dies stimmt überein mit der Untersuchung von Merilees / Pagans (2009), die die anglonormannische Chronik des Brutus , welche in einem Zeitraum von min- 37 Das lateinische Etymon seniōre ( M ), welches sich größtenteils in der formellen Anrede „nostre seignur le roi“ findet, ist mit 42 Gesamtokkurenzen konsequent in der altanglonormannischen Graphieform seignur realisiert. 38 Die Formen tuit und toz sind in den untersuchten Parlamentsrollen nicht belegt. 396 Jessica Stefanie Barzen destens 50 Jahren angefertigt wurde (ca. 1272-1332, eventuell bis 1350), unter dem gleichen Aspekt analysierten (cf. Merilees / Pagans 2009: 119). Sie kommen ebenfalls zu dem Resultat, dass zum Entstehungsende der Chronik die franzischen Graphieformen bereits verbreiteter sind: There is some hesitation between the use of o and u in such words such as [ sic ] tute / tote or lung / long with Douce, the later manuscript, preferring the - o or more modern orthography. The digraph ou for u has been adopted, such as in the word plusours or jour though moult is rare in the text and appears most often as mult . (Merilees / Pagan 2009: 121) Es zeigt sich also bezüglich dieses Kriteriums der Lautentwicklung eine Veränderung der Graphie-Präferenzen vom 13. zum 14. Jahrhundert, wie Merilees / Pagans (2009) belegen. Dies deckt sich weitgehend mit den dominierenden franzischen Formen ou und eu in den Parlamentsrollen zu Beginn des 14. Jahrhunderts, wobei die anglonormannischen Formen mit u weiterhin präsent sind, wohl eher begrenzt auf spezifische Lexeme wie z. B. seignur . 3.4 an > aun Ein weiteres Kennzeichen der anglonormannischen Skripta ist die Realisierung des Nasalvokals [ɑ̃]. Dieser Laut wurde im kontinentalen Französisch mit der Graphie <an> repräsentiert. Ab dem 13. Jahrhundert erfuhr der Nasalvokal im Anglonormannischen eine „gradual velarisation and rounding of the sound through ɑ̃ to õ ̨: (ɔ̃: )“ (Pope 1966: 442, § 1152). Dieser lautlichen Innovation wurde auch graphisch Rechnung getragen, in dem ein <u> in die Graphie <an> eingefügt wurde. Dieses Merkmal ist besonders in den späteren anglonormannischen Texten ausgeprägt: „In the spelling of words containing - […] the graphie aun comes into use in the early thirteenth century in words in which the vowel was pronounced in the same syllable as the nasal consonant“ (Pope 1966: 442, § 1152; cf. Merrilees / Pagan 2009: 122). Short weist daraufhin, dass dieses Phänomen gänzlich inexistent in Texten aus dem 12. Jahrhundert ist, was es als Datierungskriterium für die frühe anglonormannische Skripta besonders bedeutsam mache (cf. Short 2013: 49-51). 39 In den untersuchten Rollen findet sich ein sehr heterogenes Bild bezüglich der Graphiewahl: 40 39 Cf. dazu auch die Untersuchung von Trotter (2015), der den möglichen Einfluss des Englischen auf die alternativen Formen - aun - und - an untersucht, dabei jedoch zu einem negativen Ergebnis kommt. 40 Gossen (1967: 80) benutzt hierfür den Ausdruck „Schreiberlaunen“. Die Rolls of Parliament 397 (12) Et issi tut jours la demaunde court saunz fyn faire fors par brief de respit iesqes sur l’acounte le visconte, ou jesqes al parlement, ou rien n’en cret au roi fors daunger des ministres. Dont il prient qe tiel torcenouse demaunde soit oste. (Westminster Parliament 1315, 11-14) (13) Et l’avantdit counte de Lancastr’ ad [grante] q’il [fra] relees et acquitance a touz ceux qe devers nostre seignur le roi sont, que demaunder le voudront de ce qe [a lui apent de trespas fait] a sa persone, et ce si tost come cestes choses avantdites soient affermees. (York Parliament 1318, 39-41) In den Texten findet sich ein Verhältnis von 49 Graphien realisiert als <aun> (44 %) zu 63 Graphien realisiert als <an> (56 %). Dadurch, dass sich die anglonormannischen Formen erst ab dem 13. Jahrhundert verbreiten, in Konkurrenz zu den Standardformen der oïl -Dialekte treten und letzten Endes in späteren Texten überwiegen, gibt dementsprechend in diesem Fall nicht die hohe Präsenz franzischer, sondern anglonormannischer Formen Aufschlüsse über die Zugehörigkeit eines Textes zur frühen oder späten anglonormannischen Skripta. Es kann außerdem festegehalten werden, dass die Velarisierung des Nasalvokals und dessen graphische Realisierung eine Innovation darstellen, die nur im Anglonormannischen stattgefunden hat. 4 Kontextualisierung und Ergebnisse Die Analyse verschiedener graphischer Varianten in fünf Parlamentstexten aus der Regierungszeit Eduards II. hat gezeigt, dass deren Schriftbild durch eine große Varianz geprägt ist. Sowohl archaischere Graphien, wie bspw. ben , reaume , lour , acquitance als auch innovative, wie bien , roialme , leur , demaunde können in den Texten gefunden werden. Für Pope ist diese mangelnde Konformität im Schriftbild eines der charakteristischsten Merkmale der späten anglonormannischen Skripta. Die Alternanz zwischen verschiedenen Graphieformen führt sie auf unterschiedliche Faktoren zurück: The scribal traditions of three schools conflicted - English, French and Latin; variant forms were numerous, and though a few eleventh-century archaisms were preserved, tradition was weaker than on the Continent and this led at times to a relatively rapid recognition of sound changes and, especially in Later Anglo-Norman, to a most disconcerting interchange of symbols used with shifting value. (Pope 1966: 455) Die lautlichen Entwicklungen im Anglonormannischen als einen der Gründe für eine sich verändernde Schreibung anzuführen, scheint auf den ersten Blick einleuchtend. Eine Skripta spiegelt schließlich insofern auch die lautlichen Ten- 398 Jessica Stefanie Barzen denzen der gesprochenen Sprache wider, als sich die mittelalterlichen Schreiber bei der graphischen Realisierung von Phonemen auf die ihnen bekannte Aussprache, und somit auf ihren eigenen Dialekt, stützten. Hinsichtlich der graphischen Realisierung von ei vs. oi und an vs. aun spiegeln die Graphien oi und aun im Korpus auch wahrscheinlich partiell den postulierten Sprachstand des späten Anglonormannischen wider. 41 Insgesamt konnte in der vorliegenden Untersuchung allerdings gezeigt werden, dass im Korpus graphische Merkmale überwiegen, die eben gerade nicht auf verschiedene Lautwandelprozesse im Anglonormannischen zurückgeführt werden können: So wurden zwei der salientesten Merkmale des anglonormannischen Dialekts, ie > e und ou / eu > u , im Korpus nicht vorwiegend mit <e> bzw. <u> realisiert, sondern ebenfalls (und im Falle von ie vs. e überwiegend) mit <ie> und <ou>/ <eu>. Die lautlichen Entwicklungen waren also vermutlich nur einer der geringfügigeren Beweggründe, die die endgültige Wahl des Schreibers „parmi toutes les possibilités d’être couchées par écrit“ (Goebl 1979: 357) beeinflussten. Abgesehen davon, dass die Schreiber ihr eigenes mehr oder weniger konsequentes Schriftsystem besaßen, kann man davon ausgehen, dass sie angesichts der „Existenz verschiedener Schreibtraditionen in den verschiedenen Nachbarlandschaften […] mehrere solcher Systeme kannten oder gar beherrschten und […] das eine oder andere anzuwenden vermochten“ (Gossen 1967: 37). Daraus ist zu folgern, dass die Schreiber oft eben nicht ihr eigenes System anwandten, sondern jenes, welches zu diesem Zeitpunkt das größte Prestige besaß. Der ausschlaggebende Punkt ist also „d’ordre moins linguistique que plutôt socioculturel“ (Goebl 1979: 358). Die anglonormannische Skripta gehörte gemeinsam mit der pikardischen lange Zeit zu jenen, die sich durch Anzahl und Qualität ihrer literarischen Werke vor den anderen Skriptae auszeichneten. Literarische Werke, die Ende des 11. Jahrhundert / Anfang des 12. Jahrhunderts entstanden, weisen die meisten „alt“-anglonormannischen Kennzeichen auf, z. B. die Vie de saint Alexis , die Voyage de Saint Brendan und die Oxforder Version der Chanson de Roland . In der Regierungszeit Eduards II . war es aber bereits eine andere Schreibtradition, die nun langsam begann, mehr und mehr Einfluss auszuüben - die franzische Skripta: 41 An dieser Stelle soll allerdings noch einmal festgehalten werden, dass die Tendenz ei in der späten Skripta als oi zu realisieren, einen Prozess widerspiegelt, der im kontinentalen Französisch seinen Anfang nahm und mit einer gewissen zeitlichen Versetzung auch im Anglonormannischen stattfand, während der Schreibung aun anstatt an ein genuin anglonormannischer Lautwandel zugrunde liegt. Die Rolls of Parliament 399 The Plantagenet courts of western France, notably in Normandy and Anjou, ceased to exist in the thirteenth century, while during this period the wealth of the Picard towns initially created alternative prestige models in the north of France. Subsequently the growing demographic and economic weight of Paris caused an apparently irreversible shift in perceptions about where the ,best French’ was to be heard. (Ingham 2010a: 2) Dies bedeutet für die untersuchten Texte, dass sich die Schreiber zu diesem Zeitpunkt der Prestigeform der späteren Île-de-France bewusst geworden waren und versuchten, sich in ihrer Schreibweise tendenziell mehr zur franzischen Skripta hinzubewegen: „The influence of francien was strong enough […] to influence spelling considerably and to introduce some forms and pronunciations that displaced, partially or wholly, those current in Anglo-Norman which were of Western origin.“ (Pope 1966: 451). Als erstes Ergebnis der vorliegenden Analyse kann demgemäß festgehalten werden, dass sich der Einfluss der franzischen Prestigeform in der vorliegenden Untersuchung von fünf Parlamentstexten aus der Regierungszeit Eduards II . (1307-1327) sehr deutlich zeigt. Die Analyse vierer Variablen (1. ie vs. e , 2. ei vs. oi , 3. ou / eu vs. u und 4. an vs. aun ), deren graphische Realisierung sich in der franzischen und anglonormannischen Skripta unterscheidet, hat ergeben, dass die franzischen Formen in den Parlamentstexten dominieren. Allerdings ist die Präsenz typisch anglonormannischer Formen weiterhin hoch, so dass die Texte ihren anglonormannischen Stempel nie völlig verlieren. Diese Tatsache erscheint als ein wichtiges Charakteristikum der Parliament Rolls und verweist auf eine zwar franzisierte, aber dennoch eigenständige Varietät des Anglonormannischen, auch in einer späteren Phase, d. h. zu Beginn des 14. Jahrhunderts. In Bezug auf das zweite Anliegen vorliegender Untersuchung, der Versuch einer Periodisierung aufgrund sprachinterner Kriterien, ist zu konstatieren, dass die Präsenz franzischer Formen, die in späteren Texten sehr viel stärker ausgeprägt ist als in frühen Texten, ein hohes Potential als eines von möglichen Periodisierungskriterien der anglonormannischen Skripta aufweist. 42 Die zunehmende Präsenz franzischer Formen wird als mögliches Periodisierungskriterium in der Fachliteratur zwar erwähnt (am explizitesten bei Merilees / Pagan 2009, v. supra), allerdings werden diesbezüglich keine genauen Datierungsvorschläge gemacht, anhand derer man die frühe Skripta von der späten abgrenzen könne. 42 An dieser Stelle soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass ein höherer Anteil von graphischen Repräsentierungen velarer Nasalvokale mit <aun> anstelle von <an> in diesem Falle nicht bedeutet, dass der Text der frühen Skripta zugeordnet werden kann. Da sich diese Realisierung erst ab dem 13. Jahrhundert in England verbreitete, wird ein häufigeres Vorkommen der anglonormannischen Formen generell als Zeichen der späten Skripta des 13. und 14. Jahrhunderts gedeutet. 400 Jessica Stefanie Barzen Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass die franzischen Formen in der Urkundensprache des beginnenden 14. Jahrhunderts bereits überwiegen. Ausgehend von der in der Forschung bekannten Tatsache, dass in den (hier nicht untersuchten) frühesten anglonormannischen Texten aus dem 11. und 12. Jahrhundert noch keine Einflüsse aus der bis dahin wenig prestigereichen franzischen Skripta festzustellen sind, kann man eine Zäsur zur Mitte des 13. Jahrhunderts ansetzen. 43 Ein Periodisierungsmodell ergäbe damit anhand des sprachinternen Kriteriums des Grades der Franzisierung zumindest eines mit zwei Phasen, eine frühe Periode ohne bzw. mit wenig franzischen Interferenzen (11.-Mitte 13. Jh.) und eine späte Periode mit zunehmendem Einfluß der nun prestigereichsten Varietät des Altfranzösischen (Mitte 13. Jh.-Ende 14. Jh.). Ein Desiderat für weitere Arbeiten würde darin bestehen, Texte aus dem späten 13. Jahrhundert zu untersuchen, um so zu einer noch schärferen Abgrenzung der frühen und der späten Skripta zu gelangen. Literatur Primärliteratur ANPTC = Short, Ian (1973) (Hrsg.): The Anglo-Norman Pseudo-Turpin Chronicle of William de Briane . Oxford: Blackwell for the Anglo-Norman Text Society. Lais = Micha, Alexandre (1994) (Hrsg.): Lais de Marie de France . Édition bilingue. Paris: Flammarion (= GF -Flammarion, 759). London ‚Parliament‘ Oktober 1324 = Given, Wilson (Hrsg.): The Parliament Rolls of Medieval England: London ‚Parliament’ Oktober 1324 . E 30/ 1582, Membrane 1&2, Nr. 1 . Hosted by The National Archives. Scholarly Digital Editions. Leicester [online: http: / / www.sd-editions.com/ PROME / home.html; letzter Zugriff am 25. 10. 2017]. 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There are no numbers on the roll or in Cole’s edition: the numbers that appear here have been provided by the present editors En primes come les prelatz, contes et barons du roialme assemblez a cesti parlement eussent debatu entre eux la manere du commencement de meisme le parlement, fut vis a touz qe en primes chef serroit a requere nostre seignur le roi q’il affermast les articles contenuz en une endenture faite a Leek’ le .ix. me jour d’Aust derrein passe par entre les messages nostre seignur le roi envoiez depar li au conte de Lanc’ d’une part, et meisme le conte d’autre part, la tenure de quele endenture est ci desoutz escript, dont depar eux touz fut le dit nostre seignur le roi de ce requis, qui bonement lotria, commandant qe enroulement se feist de lour requeste et de son grant en la forme qe s’ensuyt: Fait a remembrier qe come nadgairs certeyns prelatz, contes et barons de la volente nostre seignur le roi et assent des plusurs grantz du roialme, et autres du conseil le roi lors esteauntz a Norhampton’, fusseynt alez devers le conte de Lancastr’ de parler et treter ovesqe [li] sur le profit et l’onur de nostre seignur le roi et de son reaume, et en la parlaunce et tretiz euz entre les ditz prelatz, countes et barons et le dit conte de Lancastr’, parle et trete fut qe evesqes, contes et barons feussent demorantz devers nostre [seignur] le roi pur li conseiller es busoignes qe lui touchereynt tanqe en son precheyn parlement, et de ceo et d’autres choses endenture faite en la fourme qe s’ensuit: Fait a remembrier qe come nadgairs certeyns prelatz, contes et barons de la volente nostre seignur le roi et assent des plusurs grantz du roialme, et autres du conseil le roi lors esteauntz a Norhampton’, fusseynt alez devers le conte de Lancastr’ de parler et treter ovesqe [li] sur le profit et l’onur de nostre seignur le roi et de son reaume, et en la parlaunce et tretiz euz entre les ditz prelatz, countes et barons et le dit conte de Lancastr’, parle et trete fut qe evesqes, contes et barons feussent demorantz devers nostre [seignur] le roi pur li conseiller es busoignes qe lui touchereynt tanqe en son precheyn parlement, et de ceo et d’autres choses endenture faite en la fourme qe s’ensuit : Ceste endenture tesmoigne coment les honurables pieres l’ercevesqe de Dyvelyn et les [evesqes] de Norwicz, Ely et Cicestr’, et les contes de Penbrok’ 406 Jessica Stefanie Barzen et d’Arundel, monsire Roger de Mortimer, monsire Johan de Someri, sire Barthemeu de Badelesmer, monsire Rauf Basset et sire Johan Botetourt de la volunte et l’assent nostre dit seignur le roi unt parle ove le conte de Lanc’ sur les choses touchantes le profit nostre seignur le roi et du reaume en la forme qe s’ensuit: c’est a savoir qe les evesqes de Norwiz, Cicestr’, Ely, Salesbur’, Seint David, Cardoil, Hereford’ et Wircestr’, les contes de Penbrok’, Richemound’, Hereford’ et Arundel, sire Hugh de Curteny, sire Roger de Mortimer, sire Johan de Segrave, sire Johan de Grey, et un des barenetz le conte de Lancastr’, q’il voudra nomer pur un quarter demoergent pres de nostre seignur le roi tanqe al prochein parlement, issent qe deux des evesqes, un des contes, un des barons, et un des barenetz le dit conte de Lancastr’ au meyns demoergent pres du roi adesseement, et qe toutes choses, qe acharger facent, qe se purront et deveront faire santz parlement, se facent par lour assent, et si autrement soient fait, seit tenu [purnent,] et adresce en parlement par agard des piers, et toutes choses convenables soient redressees par eux, et au parlement soient esluz de eux et de autres qui deivent demorrer pres de nostre seignur le roi par quarters, selonc ce q’il serront esluz, et assigne en parlement a faire et conseiller nostre seignur le roi en la fourme avauntdite. Et les susditz prelatz, contes et barons de la volente et l’assent le dit nostre seignur le roi unt empris qe le roi fra au dit conte de Lancastr’, et a ses gentz, et ses meignees, relees et acquitaunces de toutes maneres de felonies et trespas faitz contre sa pees, tantqe au jour de Seint Jakes cest an, et qe les chartres de relees et aquitaunces soient simples et saunz condicion, et si meillour seurte pust estre trove pur eux, al dit precheyn parlement, seit [fait] a eux et illoesqes afferme evaunt nostre seignur le roi et son barnage. Et l’avantdit counte de Lancastr’ ad [grante] q’il [fra] relees et acquitance a touz ceux qe devers nostre seignur le roi sont, que demaunder le voudront de ce qe [a lui apent de trespas fait] a sa persone, et ce si tost come cestes choses avantdites soient affermees, et ne fra seute [de felonie vers nul d’eux] del heure q’il averont ses lettres, sauve au counte de Lancastr’ toutes les quereles, accions [et sutes q’il ad vers le conte de Garenn’] et a touz y ceux qe furent assentaunz et eidauntz as felonies et trespas qe le [dit counte de Garenn’] lui [ad fait] contre la [pees] nostre seignur le roi. Et qe les ordinaunces soient tenuz et [gardees solonc ce qe eles] sont [contenuz soutz] le grant seal nostre seignur le roi. Et qe cestes choses susdites se frount et [tendront en touz] poyntz [come avant] est dit, unt leaument empris de la volunte et l’assent nostre dit seignur le roi, [les honurables] pieres en dieu l’ercevesqes de Canterbir’ et de Dyvelyn et les evesqes de Norwiz, Ely, Cicestr’, Salesbur’, [Cestr’,] Wyncestr’, Hereford’, et Wircestr’, et les conte Mareschal, Esmond son frere et les contes de Penbrok’, Richemound’, Hereford’, Ulvester, Arundel et Anegos, sire Roger de Mortimer, sire Johan de Somery, sire Johan de Hasting’, sire Johan de Segrave, sire Henry de Beaumont, sire Hugh le Die Rolls of Parliament 407 Despenser le fuiz, sire Johan de Grey, sire Richard de Grey, sire Bartholmeu de Badlesmere, sire Robert de Mouhaut, sire Rauf Basset, sire Wautier de Norwiz. En tesmoigne de queu chose, les prelatz, contes et barons avantditz ount mys lour seaux al une partie de ceste endenture, et le dit conte de Lancastr’ al autre partie ad mis son seal. Escrite a Leek’ le .ix. jour d’Augste l’an du regne du dit roi Edward duzisme. Et ore a commencement de cesti parlement la dite endenture eit este lewe en presence de touz assemblez a meisme le parlement, et toutes choses contenues en meisme l’endenture par eux diligeaument regardees, les prelatz, contes et barons se assenterent, pur le honur du roi, et le profit de lui et de son roialme, de li prier et requere qe pur les grosses busoignes qe lui touchent et avenent de jour en autre, li pleise d’assenter, qe dieux evesqes, un conte, un baron et a ceux un baron ou banret du menage le dit conte de Lanc’ por meismes le conte en noun de lui, par les quarters soient adesseement pres du roi, entendauntz a deliverer et conseiller en due manere sur totes busoignes chargeauntes qe le roi avera a faire et qe se purront ou deveront deliverer sanz parlement, tantqe autre foitz en parlement soit autrement ordine, issint qe riens de ceux choses ne soit delivres sanz le conseil et l’assent des prelatz, contes et autres, qe ensi demorreint pres du roi selonc la fourme de la dite endenture, et si teles choses autrement se feissent, fuissent tenues pur nules, sicome en meisme l’endenture est contenu: et de cestes choses requisterent nostre seignur le roi. Nostre seignur le roi, entendue cele requeste, desirant estre conseille par toutes les maners, qe pount et deyvent torner al honur et au profit de li et de son roialme et eaunt regard a ce, qe au temps q’il resceut le governement de son roialme, il trova sa terre d’Escoce de guerre contre lui, la quele guere se ad puis en cea continue et fait uncore, et estre ceo puis son temps ad guere este mene contre lui en sa terre d’Irlaunde, et plusurs autres empeschementz avenuz la et ailliours en sa seignurie, et uncore avenent, dount lui semble qu’il en ad bien bosoigne par celes enchesons d’aver pres du lui pluis grant et plus suffisant conseil, se acorde et voet aver pres du lui prelatz, contes et barons de lui conseiller en la fourme avantdite, issint tote foitz qe ses ministres ja le meyns facent lour offices, solonc ce qe faire deveront, solonc la ley et les usages du roialme et come en la dite endenture soit contenu qe les prelatz, contes et barons en [cele] endenture nomez de la volente et l’assent nostre seignur le roi aveynt empris, qe le roi ferroit au dit conte de Lancastr’, et a ses gentz, et a ses meignees, relees et acquitances de tutes maners de felonies et trespas [fait] contre sa pees tanqe al jour du Seint Jakes cest an, et qe les chartres de relees et acquitances fuissent simples et sanz condicion, et sur meilliour seurte purroit estre trove pur eux au procheyn parlement feust faite a eux, et illoesqes afferme devant nostre seignur le roi et son barnage, nostre seignur le roi par assent des prelatz, contes et barons et communaute de son roialme en 408 Jessica Stefanie Barzen son [dit] parlement granta de pardoner au dit conte et a ses meignees la suite de sa pees et quanqe li appendeit par [reson de sa] suite [de] toutes maners de felonies et de trespas faitz contre sa pees, jesqes au septisme jour d’Augste [derrein passe] et de [pardoun] de utlagarie, a ceux qe le demaundereient s’il nule fust pronuncie en eux avant la faceon de [lour chartres, et comanda] al avantdit evesqe de Ely, [adonqe] son chaunceler, qu’il de ceo feist chartres soutz son [grant] seal simples et sanz [condicion] ou pur le dit conte de Lancastr’ [et] pur ceux [qe] le dit conte par ses lettres nomereyt au [dit] chaunceller. Item come en meisme l’endenture soit contenu qe les ordinances soient tenues et gardees solonc [ce qe] eles sont contenues soutz le grant seal nostre seignur le roi, meismes nostre seignur le roi voet [et grante] q’eles [soient] tenues et gardees en la forme avauntdite, et qe toutes les choses susecrites soient enroulez en roulle de parlement [et] de illuqes envoie en sa chauncellerie et illoesqes enroulees, et de illoeqes par bref de son grant [seal] envoies [a] les places de l’eschequier et del un banke et del autre ove commandement de enrouller les illoqes [et a tenir] les [et a garder] en la fourme avantdite Eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland 409 La France hors de France-- eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland Nelson Puccio Bien qu’ils soient localement fixés et monoréférentiels, les noms de lieux sont continuellement sujets à des procès d’emprunt et de transmission linguistique. Le présent article s’intéresse à un domaine de la recherche sur le contact linguistique longtemps négligé, en élaborant une typologie des noms de lieux d’origine ou à l’inspiration françaises en Allemagne basée sur leur stratification historique et de leur fonction dénominative sociopragmatique. „When languages are in contact the transfer of names is inevitable.“ (Nicolaisen 1996: 554) „In Langnau im Emmental gab es ein Warenhaus. Das hieß Zur Stadt Paris. Ob das eine Geschichte ist? “ (Bichsel 1997: 7) 1 Einführung Ein klassisches Betätigungsfeld der historischen Sprachkontaktforschung stellt die Betrachtung lexikalischer Lehnbeziehungen dar, um beispielweise in Korrelation zum interkulturellen Abstand bzw. Gefälle epochen-, quantitäts- oder begriffssphärenspezifische Aussagen über die Art und Dynamik des jeweiligen Sprachaustauschs zu treffen. Im Analysefokus steht dabei in erster Linie der appellative Wortschatz, an dem aufgrund seiner relativen Systemoffenheit Transferenzvorgänge in hohem Maße manifest werden (cf. Stanforth 2002: 813). Der Umfang und die Intensität der Entlehnungen kann grundsätzlich als Indiz für die kulturelle Strahlkraft der entsprechenden Spendersprache interpretiert werden: Unter diesem Aspekt verwundert es nicht, dass seit dem Mittelalter das Französische - als die „dominante Sprache Europas“ (Baum 2000) - einen weitreichenden, umfassenden Einfluss geltend machen konnte, der erwartungsgemäß auch seinen Niederschlag im Lexikon des Deutschen gefunden hat. 410 Nelson Puccio Auch wenn sich die Geschichte bzw. chronologische Schichtung des französischen Lehnguts im Deutschen als nicht restlos befriedigend, so doch aber wenigstens in Teilaspekten als solide dokumentiert sowie analysiert ausnimmt, 1 so bleibt im Kontext der Untersuchungen zu besagten Adstrateinflüssen das propriale Teilsystem des Lexikons - und hier konkret: der Ortsnamenschatz - weitgehend unterrepräsentiert bzw. außerhalb des wissenschaftlichen Fokus. 2 Dies ist allerdings keine Besonderheit, die allein bei der Betrachtung des französisch-deutschen Spracheinflusses zu Tage tritt, denn generell werden die vielfältigen Formen der Weitergabe und Eingliederung von Eigennamen aus einem Sprachsystem in ein anderes nur unter ausgewählten Gesichtspunkten beleuchtet. Hierbei werden im Rahmen der (historischen) Interferenzbzw. Sprachkontaktonomastik in erster Linie sogenannte ‚Namenentlehnungen‘ behandelt, die - ihrer vermeintlich weiten Definition zum Trotz, die darunter generell den „Prozess der Übernahme und Integration von Eigennamen von einer Ausgangssprache in eine Zielsprache“ (Windberger 2015: online, s.v. Namenentlehnung ) fasst - lediglich die Fälle koarealer Namenübermittlung wie auch interlingualer Allonymie berücksichtigen 3 (cf. Sperber 1967; Eichler 1976) und zudem vornehmlich sprachstukturell ausgerichtet sind (cf. Zabrocki 1961). Die definitionsabweichende Gebrauchslimitierung des Konzeptes ‚Namenentlehnung‘ lässt oftmals - verstärkt bzw. erst hervorgerufen durch den sys- 1 Besonders die (germanistische) Aufarbeitung des besagten Sprachkontakts in mittelhochdeutscher Zeit darf als verhältnismäßig profund und publikationsreich eingestuft werden (cf. Kramer 1992: 48). Für nachfolgende Epochen ist ein spürbarer Ausdünnungseffekt für kleinmaßstäblich angelegte Studien konstatierbar, wie auch Müller (1986: 68) nüchtern feststellt: „Je weiter man in der Diachronie heraufsteigt, desto mehr parzelliert sich die Forschung in das Beackern von Einzelproblemen, desto mehr fehlen Synthesen und Standortbestimmungen“. 2 Dieser Umstand mag insofern verwundern, als es sich bei Eigennamen um „die am weitesten verbreitete Kategorie fremden Sprachgutes“ (Schmitt 1973: 12) handelt; die empirische Unverträglichkeit eines gleichzeitig lexikologischen wie auch (top)onomastischen Untersuchungsanspruchs ist - trotz der Interdependenz und paradigmatischen Nähe beider Teildisziplinen (cf. Schippan 2002: 62-65) - mit forschungspraktischen Gründen zu erklären, wie Post (1982: 33 n.3) (aus lexikologischer Perspektive) darlegt: „Eine Miteinbeziehung des gesamten Namenmaterials verbietet sich aus arbeitstechnischen (Fülle des Materials) und methodischen Gründen (hier wäre an eine eigene umfassende namenkundliche Untersuchung mit Einbeziehung aller historischen Belege zu denken)“. 3 In der toponomastischen Praxis erfährt der Begriff ‚Namenentlehnung‘ somit eine starke konzeptionelle Reduzierung, da er nur auf Übernahmen von Ortsnamen angewandt wird, bei denen entweder die Übermittlung zwischen zwei Kulturgruppen in ein und demselben Siedlungsgebiet stattfindet oder die Benennung ein und desselben Referenzobjektes in zwei verschiedenen Sprachgemeinschaften betroffen ist; unter letzteres fallen Namenpaare, die - je nach Betrachtungsrichtung - sowohl eine ‚endonymische‘ als auch ‚exonymische‘ Form aufweisen (siehe frz. Nice / dt. Nizza oder dt. Nürnberg / frz. Nuremberg ). Eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland 411 temlinguistischen Anspruch wie auch die oftmals geographische oder zeitlich-periodische Begrenztheit der entsprechenden Studien 4 - übergreifende Zusammenhänge und Motive des zwischensprachlichen toponymischen Austauschs aus dem Blick geraten. Bei aufmerksamer Begutachtung der deutschen Namenlandschaft fällt allerdings auf, dass sich hier reichhaltige Spuren französischer oder französisch beeinflusster Toponymie wiederfinden, die in keiner Weise als ‚Namenentlehnungen‘ (im engen forschungspraktischen Sinne) klassifizierbar sind. Die Geschichte des französisch-deutschen Kulturkontakts ist geprägt von einer Varianz unterschiedlicher Formen und Phasen interlingualer Übernahmen, wonach die Benennung von heimischen (in diesem Fall: deutschen) Örtlichkeiten nach ausländischen (französischen) Vorlagen, Bildungsmustern oder sonstigen Referenzquellen erfolgt ist. Transfertypologisch sollen darunter alle Fälle subsumiert (und als ‚französisch induziert‘ bezeichnet) werden, bei denen entweder ein bereits bestehender französischer Ortsname zur Bezeichnung einer deutschen Örtlichkeit verwendet wird - ein Verfahren, für das sich in der deutschsprachigen Literatur die Begriffe ‚Namenübertragung‘ (cf. Helleland 1996: 1389) sowie ‚Nachbenennung‘ (cf. Rentenaar 1996) etabliert haben 5 - oder ein deutscher Ortsname eindeutig einen Frankreich-bezogenen Gehalt aufweist. Das Spektrum der hier beschriebenen toponymischen Gallizismen ist dementsprechend so weit gefasst, dass eine möglichst umfängliche Taxonomie derartig kontaktbedingter Ortsnamen 6 in Deutschland 7 erarbeitet 4 Aus romanistischer Perspektive soll hierfür exemplarisch auf die Untersuchungen von Pitz (1994) und Besse (1997) sowie auf den Sammelband von Haubrichs / Ramge (1983) zu ausgewählten Konstellationen wie auch toponymischen Charakteristika des Sprachgrenzkontakts verwiesen werden. 5 Auch wenn die Namenübertragung im toponymischen Bereich bei Weitem nicht so häufig auftritt wie in der Anthroponymie, lässt sich grundsätzlich konstatieren, dass die Überführung geographischer Namen - entgegen ihres eigentlich ortsgebundenen und mono- / direktreferentiellen Charakters - von einem Ort an einen anderen immer „auf eine besondere historisch-zeitgeschichtliche oder siedlungsgeschichtliche Motivation zurückgeht“ (Sonderegger 2004: 3416), wobei die Wahl stets „auf der Basis der mit dem Namen verbundenen sekundären Konnotationen oder assoziativen Bedeutung statt[findet]“ (Rentenaar 1996: 1013). 6 Im Folgenden soll der Terminus ‚Ortsname‘ nicht in seiner möglichen Minimalkonzeption (‚Siedlungsname‘) verwendet werden, sondern ein Synonym zu ‚Toponym‘ bilden und somit hyperonym für die identifizierende bzw. individualisierende Bezeichnung jeglicher geographischer Einheiten - unabhängig von deren Größe oder dem Besiedlungsstatus - stehen. 7 Die hier vorgenommene Ortsnamenanalyse behandelt ausschließlich toponymisches Material der Bundesrepublik Deutschland in den aktuellen Staatsgrenzen; Gebiete, die heute zu Frankreich gehören, im Verlauf der bewegten, z.T. konfliktreichen deutsch-französischen Geschichte aber einmal einen Teil Deutschlands oder seiner Vorgängerstaaten bildeten - siehe klassischerweise Elsass und Lothringen -, sind von der Untersuchung 412 Nelson Puccio werden kann, wobei allerdings die bereits thematisierten ‚Namenentlehnungen‘ in der vorliegenden Untersuchung explizit keine Rolle spielen. Ausgehend von der Frage, inwiefern die aus Frankreich übertragenen oder durch einen Frankreich-Bezug inspirierten Namen mittels Nahkontakt oder Ferneinfluss in die deutsche Topographie eingegangen sind - soll heißen: ob eine substantielle fremdkulturelle (d. h. französische) Präsenz in situ für das Vorhandensein des entsprechenden Toponyms verantwortlich gemacht werden kann oder es zu einer Prägung in absentia gekommen ist -, lassen sich die Örtlichkeitsnamen hinsichtlich ihres geschichtlichen Entstehungsbzw. Vergabekontextes (beispielsweise im Rahmen von Migration, Okkupation oder ideeller Bezugnahme durch Evokation / Imitation) sowie des jeweiligen Benennungsmotivs (z. B. kohärenzstiftende Identifikation, herrschaftliche Legitimation oder Kommemoration) klassifizieren. Der vorliegende Artikel macht es sich zur Aufgabe, einen Systematisierungsversuch der seit dem Hochmittelalter 8 in Deutschland nachweisbaren französisch induzierten Ortsnamen - in Abhängigkeit von deren historischen Vermittlungssituation und soziopragmatischen Funktionen - zu präsentieren, ohne dabei auf Kriterien der formalen Integration bzw. Struktur der Toponyme einzugehen. Die Übersicht kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern möchte anhand ausgewählter Fallbeispiele kleinräumiger Distribution vielmehr die Komplexität der Phänotypologie und gleichwohl die Unerforschtheit der Materie aufzeigen; sie versteht sich daher in erster Linie als Anregung, weiße Flecken auf der toponomastischen Landkarte stärker in den analytischen Fokus zu rücken und einer systematisch(er)en, großflächigen Bearbeitung unter kulturhistorischen Gesichtspunkten zuzuführen. ausgenommen. (Unberücksichtigt bleiben auch Sonderfälle wie Saarlouis , dessen französischer Namensursprung dem Umstand geschuldet ist, dass es sich bei der so benannten Stadt um eine Gründungsinitiative König Louis XIV im seinerzeit zu Frankreich gehörenden Lothringen handelte). 8 Nicht einbezogen werden infolgedessen sämtliche Toponyme, die in ihrem (gallo)romanischen Ursprung als Erbe der Romania submersa angesehen werden können. Als terminus a quo für die Betrachtung der französisch-deutschen Namenbeeinflussungen soll demnach die zweite Hälfte des 11. Jahrhundert angesehen werden - der Zeitpunkt, ab dem sowohl die germanisch-romanische Sprachgrenze im Westen des deutschen Sprachgebietes als lineare Einheit konsolidiert erscheint (cf. Haubrichs 2004: 3340), der Untergang der letzten romanischen Reliktzonen bzw. Sprachinseln innerhalb der Germania definitiv vollzogen ist (cf. Haubrichs 2003) als auch nachweislich die ersten französischen Lehnwörter ins Deutsche übernommen werden (cf. Zollna 2004: 3196). Eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland 413 2 Transferierte Namen durch Nahkontakt 2.1 Migration In der Frühen Neuzeit stellten religiöse Ressentiments und Repressionen den politischen wie auch gesellschaftlichen Regelfall in Europa dar und zeichneten sich für zahlreiche Bevölkerungsverschiebungen - besser gesagt: Fluchtbewegungen - konfessioneller Minderheiten verantwortlich. Speziell in Frankreich führte die Verfolgung protestantischer Glaubensgruppen wie den Hugenotten und Waldensern im 16. sowie 17. Jahrhundert zu mehreren Emigrationswellen, die verschiedene reformierte Territorien auf deutschem Boden (z. B. Brandenburg-Preußen, die Landgrafschaft Hessen-Kassel, die Kurpfalz etc.) als Anlaufpunkt hatten und vielfach in eine dauerhafte Ansiedlung der Exulanten mündeten. Unter rein quantitativen Gesichtspunkten stellten die Hugenotten (auch Réfugiés genannt) den mit Abstand größten Anteil an Neuankömmlingen (cf. Kiefner 1993: 40-42), eine nachhaltigere Wirkung auf die deutsche Ortsnamenlandschaft - insbesondere im Bereich der Makrotoponymie - ist dagegen den populationsschwächeren Waldensern zu attestieren. 9 Diese zeichneten sich in erster Linie durch ihre herkunftsbedingte und sozioökonomische Homogenität (Bergbauern aus den Cottischen Alpen) aus, wobei sie grundsätzlich darauf bedacht waren, sich vorwiegend in räumlich abseitig bis isoliert gelegenen Dörfern und Weilern anzusiedeln, um ihre gruppenspezifische Kohärenz und Eigenständigkeit zu wahren (cf. Asche 2010: 1089). Dem Wunsch - oder vielmehr der Forderung -, sich in der Diaspora wieder als geschlossene Verbände in eigenen Kolonien niederlassen zu dürfen, wurde im Zuge der (grundsätzlich wohlwollenden) Privilegienpolitik der jeweiligen Landesherren für reformierte Glaubensflüchtlinge prinzipiell stattgegeben und dies führte zu einer generell langfristigeren Wahrung des kulturellen Sonderbewusstseins, was sich wiederum namenstechnisch bemerkbar macht. Paradigmatisch kann das an den zwischen 1699 und 1701 neu gegründeten Siedlungen im damaligen Herzogtum 9 Aufgrund der bisweilen fragmentarischen Quellen- und Archivlage ist es aus heutiger Perspektive äußerst schwer, zu exakten Befunden im Hinblick auf die Anzahl, Vielfalt und Heterogenität der protestantischen Flüchtlingsgruppen zu gelangen. So scheint auch in der historischen Migrationsforschung bezüglich konfessional-kollektiver Unterscheidungen und Etikettierungen kein Konsens zu existieren - man vergleiche die Aussagen „Die Waldenser zählen zu den Hugenotten im weiteren Sinne“ (Gresch 2015: 167) vs. „Waldenser waren und sind […] keine Hugenotten“ ( Jakob 2016: 189) -, weswegen im Folgenden (um der überblicksorientierten Ausrichtung des vorliegenden Artikels gerecht zu werden) notgedrungen mit Simplifizierungen gearbeitet wird. 414 Nelson Puccio Württemberg demonstriert werden, die durch die Niederlassung französischer 10 Waldenser aus dem Hochdauphiné (primär dem Val Pragela) einschließlich des damals von Frankreich besetzten (vormals savoyischen) Val Pérouse entstanden sind: Die frankophonen Ortsnamen Perouse (< La Pérouse ), Pinache (< Pinache ), Serres (< Serres ) oder Groß - / Kleinvillars (< Le Villar de Pérouse ) verdeutlichen, dass die Ansiedlung in der Fremde durch eine Wiederaufnahme bzw. Übertragung des Namens der jeweiligen Ursprungssiedlung auch symbolisch - also in Form von „Sehnsuchts- oder Erinnerungsnamen“ (Blok 1971: 7) - ausgedrückt werden sollte. 11 Die Aneignung des neuen Lebensraums durch die Waldenser erfolgte selbstverständlich auch mikrotoponymisch, wie Untersuchungen zu den Flurnamen, die innerhalb der Dorfgemeinschaften über Generationen mündlich tradiert wurden, erkennen lassen (cf. Hirsch 1935; 1963: 84-101). Wie viele Zeugnisse davon sich allerdings nach dem Sprachtod des waldensischen Patois in Südwestdeutschland in den 1930er Jahren (cf. Hirsch 1935: 134-135) gegenwärtig noch in der amtlichen Kartographie wiederfinden - Metz (1970: 373) spricht diesbezüglich unspezifisch von „zahlreiche[n] Flurnamen“ -, bedarf einer detaillierten Klärung; vereinzelt haben sich alte Mikrotoponyme in Form von Wohnstraßenbenennungen erhalten, wie die Beispiele Im Vallon (Perouse) und Im Rivoir (Pinache) nahelegen. Im Gegensatz zu den Waldensern, die sich folglich durch eine prinzipiell identitätskonstituierende Toponymisierung hervortaten, sind die hugenottischen Namenspuren in Deutschland sowohl zahlenmäßig (vergleichsweise) bescheidener als auch typologisch anders zu klassifizieren: Abgesehen davon, dass es aufgrund der diversen Ansiedlungskontexte und -konstellationen der 10 Diese Bezeichnung ist in diesem Kontext vorrangig geographisch-politisch zu verstehen, denn „die auf deutschem Boden dauerhaft ansässig gewordenen Waldenser [waren] so gut wie ausschließlich französische Staatsbürger“ (Schmitt 1996: 2). Unter linguistischer Betrachtung muss dahingehend präzisiert werden, dass das Französische zwar in den betreffenden Talabschnitten seinerzeit als Amts-, Schul- und Kirchensprache fungierte (cf. Hirsch 1963: 45-47), die Bevölkerung aber das Okzitanische - genauer gesagt: einen alpenprovenzalischen Dialekt - als häusliche Umgangssprache benutzte (cf. Kramer 1992: 83). 11 Zur sinnstiftungsorientierten, i.w.S. kommemorativen Namengebungspraxis der Waldenser vermerkt Hirsch (1963: 81): „In der Art, wie die Siedler die Kolonien benannten, ist deutlich ein charakteristischer Zug dieses Völkchens erkennbar: das zähe Festhalten am Altüberkommenen. […] Die einzelnen Landmannschaften setzten es durch, daß die Namen ihrer Herkunftsorte auch in der neuen Heimat ihren alten Klang bewahrten und in Umlauf blieben“. Ausnahmen von der letztgenannten Aussage bilden Palmbach (< La Balme ), das nur partiell auf eine galloromanische Etymologie zurückzuführen ist, sowie die Siedlungsnamen Neuhengstett und Nordhausen , bei denen sich die anfänglichen Nachbenennungsnamen für den gesamten Ort ( Bourset ) oder für verschiedene Ortsteile ( Fenestrelle , Mentoules , Usseaux ) nicht durchsetzen konnten. Eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland 415 Réfugiés in den jeweiligen Aufnahmeorten / -gebieten 12 faktisch unmöglich ist, allgemeingültige Aussagen zu treffen, die über Plattitüden der Art „Die Eingliederung der Hugenotten in die sprachlich, kulturell und oft auch konfessionell fremde Umgebung dauerte lange“ (Gresch 2015: 71) hinausgehen, so fällt bei der Betrachtung der überkommenen Namen von Örtlichkeiten mit hugenottischer Geschichte auf, dass die Benennung der neuheimatlichen Wohnstätten tendenziell nicht eigeninitiiert - oder präziser: nicht selbstbezogen - erfolgte, sondern vielmehr als Akt der Alteritätskonstruktion durch die bereits ansässige, majoritäre Aufnahmegesellschaft zu interpretieren ist. Davon zeugen beispielsweise die ehemaligen Siedlungsnamen Welsch-Neudorf (heute: Neu- Isenburg ) oder Welschneureut (heute: Karlsruhe-Neureut Süd ) sowie die heute noch gebräuchliche Bezeichnung Französisch Buchholz für einen Ortsteil im Bezirk Berlin-Pankow. 13 Diese toponymischen Signaturen der Differenz sind kein ausgesprochenes Spezifikum, das nur die Hugenotten-bezogene Ortsnamenvergabe charakterisiert(e) - auch im waldensischen Siedlungsgebiet finden sich z. B. Flurnamen, die das Determinans Welsch(en) - 14 (oder Varianten davon) enthalten und von den Bewohnern der umliegenden Nachbargemeinden geprägt wurden (cf. Keinath 1951: 175); überraschend erscheint hier jedoch der verhältnismäßige Mangel an identitätsdefinierenden (Übertragungs-)Namen. 15 12 Die Eingliederung der Hugenotten hing von einem breiten Spektrum kultureller, logistischer, (kirchen)rechtlicher, wirtschaftlicher sowie politisch-administrativer Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen ab, die im Einzelfall unterschiedlich zum Tragen kommen konnten (cf. Lachenicht 2010: 218). 13 Wenn es innerstädtisch zu religiös-ethnischen Konzentrationsprozessen kam, konnte die Fremdattribuierung auch kleinräumiger mittels Straßennamen erfolgen, wie an der Franzosenstraße in Berlin-Mitte nachzuvollziehen ist, die 1706 „nach den verfolgten französischen Reformierten (Hugenotten) benannt [wurde], die hier Aufnahme und Wohnungen fanden“ (Lais / Mende 2004: 135). 14 Konsequenterweise muss jeweils einzelfallspezifisch untersucht werden, ob die zahlreich in der deutschen Namenlandschaft vorkommenden Welsch(en) -Orts- und Flurnamen auf mittelalterliche oder neuzeitliche Entstehung zurückgehen, da ahd. walhisk und seine Weiterentwicklungen epochenübergreifend im deutschen Sprachraum als „Inbegriff volklicher Andersartigkeit“ (Weisgerber 1948: 105) zur Kennzeichnung des Romanentums verwendet wurde. Die Inventarisierung und sprachgeschichtliche Einordnung der hiesigen Welschen - / Walen -Namen ist bis dato zumeist nur mit regionaler Ausrichtung erfolgt, was sich an den entsprechenden Untersuchungen mit beispielsweise bayerischer (cf. Jochum-Godglück 2012), südwestdeutscher (cf. Kleiber 1960: 351-356) und hessischer bzw. westfälischer (cf. Kuhn 1973) Schwerpunktsetzung erkennen lässt. 15 Die wohl bekannteste Ausnahme von diesem Tatbestand stellt der Orts(teil)name Moabit (Berlin-Mitte) dar, der Anfang des 18. Jahrhunderts von Hugenotten geprägt wurde und alttestamentarisch - in Anlehnung an das Nomadenvolk Moab - motiviert ist; bei der etymologischen Namensbasis dürfte es sich um das Syntagma (la terre) moabite ‚Moabiter (Land)‘ handeln (cf. Schlimpert 1984: 309-310). Bei der von französischen Glaubensflüchtlingen gegründeten Gemeinde Gethsemane in Osthessen handelt sich um keinen 416 Nelson Puccio Wenn man davon ausgeht, dass beispielsweise im Halbjahrhundert zwischen den 1680er und 1730er Jahren in Brandenburg-Preußen an insgesamt 250 Orten Hugenotten angesiedelt wurden (cf. Lachenicht 2010: 179), die wiederum lokal in wirtschaftlicher wie auch geistig-intellektueller Hinsicht bisweilen eine maßgebliche Rolle spielten, 16 muss man sich fragen, warum heute nur wenige toponymische Spuren aus dem historischen Migrations- und Kolonisierungskontext der Réfugiés vorhanden sind, inwiefern die Sachlage seinerzeit eine andere war und wann bzw. warum das einstige Namenkorpus eventuell überprägt wurde. 17 2.2 Okkupation Ortsnamen mit fremdkulturellem Bezug oder Inhalt müssen nicht im Kontext von Migrationsbewegungen „importiert“ worden sein - auch im Zuge von politisch-militärischen Auseinandersetzungen kam es zum Kontakt mit Externem, wobei die Implementierung einer neuen Namengebung häufig der symbolischen Legitimierung der territorialen Besetzung / Aneignung diente. Im Laufe der durch zahlreiche Konflikte geprägten Geschichte der französischdeutschen Beziehungen kann ein Zeitraum herausgegriffen werden - die Jahre zwischen 1794 und 1814 -, in dem die französische Fremdherrschaft über deutsche Territorien (und zwar das gesamte Gebiet westlich des Rheins) lang genug andauerte, um den Obrigkeitsanspruch sprachpolitisch 18 , d. h. im Besonderen ortsnamentlich auszudrücken. Während es im Bereich der Makrotoponymie zu keiner nennenswerten Französisierung kam, die nicht in der bloßen graphianalogen Fall selbstvergebener Koloniebenennung; der biblisch inspirierte Name dürfte vielmehr auf die volksetymologische Umformung des bereits vor der Ansiedlung der Hugenotten bestehenden Gemarkungsnamens Götzmann zurückzuführen sein (cf. Lausberg 2007: 190). 16 Man denke hierbei an die bisweilen verklärte Mythenbildung zum hugenottischen Einfluss auf die Berliner Stadtgeschichte / -entwicklung: „Der Aufschwung Berlins von einem eher verträumten Ackerbaustädtchen zu einer Kapitale mit europäischem Anspruch und Zuschnitt wäre ohne die Hugenotten […] kaum vorstellbar gewesen“ (Duchhardt 1993: 282). 17 Die deutliche Namenknappheit steht in auffälligem Kontrast zur damaligen Mittlerfunktion der protestantischen Religionsflüchtlinge bei lexikalischen Transferenzerscheinungen; heutzutage kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass hierbei „die gebietsweise intensiven Sprachkontakte durch Migrantengruppen eine entscheidende Rolle gespielt haben“, was wiederum hieße, „dass ein erheblicher Teil der Entlehnungen aus dem Französischen in die deutsche Sprache durch konkreten Bevölkerungskontakt ausgelöst wurde“ (Hoinkes 2009: 176). 18 Einen Einblick in den Sprachalltag im Linksrheinischen während der sogenannten Franzosenzeit, der von der Einführung des Französischen als alleiniger Verwaltungs- und Gerichtssprache geprägt war, liefert Kramer (1990). Eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland 417 schen Adaption (wenn überhaupt) oder bestenfalls der Übersetzung 19 bestehender Örtlichkeitsnamen bestand (cf. Kramer 1993: 225-228), so war die Reform der Straßennamengebung (wenigstens temporär, d. h. für die Zeit der Annexion) tiefgreifender: Hier kann die wörtliche Übertragung durchaus als usuelle Verfahrensweise angesehen werden, wie Kramer (1985: 11-14) exemplarisch an den Städten Neuss, Bonn, Koblenz und Aachen demonstriert, wo zwischen 40 und 80 Prozent der existierenden Straßennamen ins Französische übersetzt wurden. Einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang Köln dar, wo zum ersten Mal eine planmäßige Neubzw. Umbenennungsaktion in großem Umfang durchgeführt wurde, die darauf abzielte, eine politisch-propagandistisch motivierte Straßennomenklatur zu etablieren. Die Französisierung zeichnete sich dadurch aus, dass (neben echten Übersetzungen wie auch freien Wiedergaben) bestehende Namen ausgetauscht und durch solche ersetzt wurden, die besonders Frankreich-affin erschienen - z. B., weil sie auf Persönlichkeiten aus der Römer- und Frankenzeit rekurrierten und damit auf ein gemeinsames (französisch-rheinisches) Kulturerbe Bezug nahmen ( Place Jules César , Rue Auguste , Place Clovis , Place Charlemagne etc.) oder weil sie den Personenkult um Napoleon und seiner Familie befeuerten ( Place Napoléon , Port de l’Empereur , Rue Marie-Louise etc.). 20 Auch wenn der Etablierung dieser kohärenten, ideologisch fundierten Straßennamengebung langfristig kein Erfolg beschieden war - die auf die Franzosen als Besatzungsmacht nachfolgenden Preußen machten große Teile der Umbenennungen wieder rückgängig -, so kann das Kölner Fallbeispiel doch als historischer paradigmenbildender Versuch gewertet werden, das Straßennamenbild einer deutschen Stadt mit politischem Impetus und dem Anspruch geschichtlicher Bewusstseinsbildung zu formen. 21 19 Einziges Beispiel diesbezüglich stellt der Name des neu eingerichteten Départements Mont-Tonnerre dar, für dessen Prägung auf das Oronym Donnersberg zurückgegriffen wurde. 20 Einen exhaustiven Einblick in dieses singuläre Kapitel deutscher Straßennamengeschichte gibt Kramer (1984); entsprechende politisch ausgerichtete Eingriffe in die onymische Textur einer Stadt wurden in französischer Zeit außer in Köln sonst nur - wenngleich in viel geringem Maße - in Mainz vorgenommen (cf. Heuser 2008: 609-610). 21 Einen rezenteren, aber weniger umfangreichen allochthonen Eingriff in die urbane Straßenbenennung lässt sich in Berlin ausmachen, wo die Franzosen als alliierte Siegermacht nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Besatzungsstatus auch dadurch onymisch symbolisierten, dass sie im Kontext der Errichtung von vier Wohnsiedlungen für ihre Streitkräfte ( Cité Foch , Cité Guynemer , Cité Joffre und Cité Pasteur ) insgesamt 30 französische Straßennamen vergaben (cf. Lais / Mende 2004). Auch nach ihrem endgültigen Abzug 1994 sind diese Spuren ihrer einstigen Präsenz (bis auf wenige Umbenennungen) heute noch immer vorhanden; prototypisch erscheint dabei der Anspruch, den expliziten Heimatbezug durch die Bildung thematischer Namenfelder herzustellen, die die Bedeutung Frankreichs in ausgewählten Bereichen der Kulturgeschichte unterstreichen sollen - 418 Nelson Puccio So wie die Mikrotoponymie durch direkten Bevölkerungsbzw. Völkerkontakt (hierarchisch betrachtet: „von oben“) geprägt werden kann, um im Zuge von Eroberungen emblematisch Macht zu markieren, so lassen sich Reflexe militärischer Offensiven oder Okkupationen auch anderweitig aufspüren, nämlich als von der autochthonen Bevölkerung vergebene Flurnamen, die „über ihre Ortsbezogenheit, ihre Geschichte und ihre sprachliche Form Träger der Erinnerung über die Zeiten hinweg“ (Ramge 2003: 253) darstellen. Gewannbezeichnungen fungierten somit über lange Zeiten als zentrale Elemente in der bäuerlichlokalen Kommunikationssowie Gedächtniskultur, anhand derer sich prägnante Ereignisse wie z. B. die Begegnung mit fremden Völkern und Kulturen onymisch konserviert finden (cf. Riecke 2004). Im Rahmen diverser kriegerischer Anlässe drangen französische Truppen wiederholt in deutsches Territorium ein - man denke an den Dreißigjährigen, den Pfälzischen sowie Spanischen Erbfolge-, den Polnischen Thronfolge-, den Siebenjährigen Krieg wie auch die napoleonischen Koalitionskriege -, sodass sich mit dem Bestimmungswort Franzosen gebildeten Flurnamen, die i. d. R. von einstigen Militärhandlungen, Lagerplätzen oder Marschierwegen etc. zeugen, über weite Teile Deutschlands verteilt finden. Eine genaue Quantifizierung oder Verteilungsbestimmung dieses Flurnamentyps ist allerdings nicht möglich, dafür beschränken sich die mikrotoponymischen Studien allzu oft auf Untersuchungsareale von örtlicher bis kleinräumiger Dimension. Eine Flurnamengeographie, die sich der sozial-historischen Determiniertheit und pragmatisch-kommemorativen Funktion dieser i.w.S. auch als Ereignisnamen klassifizierbaren Sprachzeichen - immerhin verweisen sie allesamt auf eine bestimmte, auf fremdkulturellen Kontakt zurückzuführende Begebenheit an der entsprechenden Örtlichkeit - annimmt und dabei gleichzeitig ihre areale, (über)regionale Streuung mitberücksichtigt, bleibt nach wie vor ein wissenschaftliches Desiderat. 22 siehe dazu die Motivgruppen ‚Schriftsteller‘ ( Place Molière , Rue Diderot , Rue Racine etc.), ‚Flugpioniere‘ ( Avenue Jean Mermoz , Rue Joseph le Brix , Rue Nungesser et Coli etc.) und ‚Mediziner‘ ( Rue Hyacinthe Vincent , Rue René Laennec etc.). 22 Im mittlerweile digitalisierten Hessischen Flurnamenarchiv Gießen, das die Projektergebnisse des Südhessischen wie auch Mittelhessischen Flurnamenbuchs online konsultierbar zur Verfügung stellt und sich durch seine computergestützte, großräumige Kartierung von Flurnamen auszeichnet, sind insgesamt 76 Belege für Mikrotoponyme mit dem determinierenden Bestandteil Franzosen - (z. B. Franzosenacker , berg , buche , feld , grab , grund , hecke , höhle , loch , -schanze , schlag , weg , wiese etc.) registriert (cf. Hessisches Flurnamenarchiv online). Eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland 419 3 Transferierte Namen durch Ferneinfluss 3.1 Ideelle Bezugnahme durch Evokation Ortsnamen mit klarem Frankreich-Bezug, die allerdings nicht von einer französischen Präsenz in Deutschland ableitbar, sondern selbstvergeben sind, reflektieren bisweilen das historisch ambivalente Verhältnis zwischen den beiden Nachbarkulturen. Vor allem die moderne politisierte Straßennamengebung eignet sich, den urbanen Raum einer ideologisch fundierten Semiotisierung zu unterziehen, die mentalitätswie auch zeitgeistspezifischen Präferenzen unterliegt. Straßennamen werden zwar administrativ ausgewählt und auch amtlich vergeben, aber sie „wirken im Unterbewußtsein der Benützer weiter [und] sind wohl nach den V[ornamen] die Onyme, die stark in die emotionale Sphäre reichen“ (Koß 2002: 153). Als Kristallisationspunkte des kulturellen Gedächtnisses mit hohem Evokationspotential lassen sich an ihnen paradigmatisch verschiedene Phasen der deutsch-französischen Geschichte (zwischen Konfliktualität und dem Streben nach Versöhnung) ableiten. Die erste besonders produktive Etappe der französisch induzierten Straßenbenennungen lässt sich im Anschluss an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870 / 71 ausmachen: Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurden in mehreren deutschen Städten durch Wohnraumerweiterung neue (gründerzeitliche) Viertel errichtet, deren Straßen dem Sieg über den vermeintlichen Erbfeind onymische Denkmale setzen sollten. Ein anschauliches Beispiel für die Etablierung einer solchen (heute noch bestehenden) zelebrativen Cluster-Benennung liefert München, wo im Stadtteil Haidhausen seinerzeit das sogenannte Franzosenviertel entstand - „so benannt, weil die neuen Straßen die Namen denkwürdiger Schlachtenorte und Begebenheiten des Feldzuges erhielten“ (Heerde 1974: 57). Allein im Jahre 1872 wurden kommemorativ u. a. eine Belfort- , Orleans- , Sedan- 23 , Weißenburger und Wörthstraße dem Stadtplan zugefügt (bei den im gleichen Jahr benannten Pariser Straße und Pariser Platz kam wohl vielmehr ein chauvinistisch-annexionistischer Anspruch zum Tragen); im Laufe der Zeit folgten kohärenterweise eine Bazeilles -, Metz -, sowie Gravelottestraße (cf. Dollinger 2016). 24 23 Heutzutage ist die Stadt in den Ardennen immer noch der häufigste Frankeich-inspirierte Namengeber für deutsche Verkehrswege - es existieren in der Bundesrepublik nach eigenen Recherchen insgesamt über 100 Sedanstraßen , wege und plätze (cf. http: / / www. strassen-in-deutschland.de/ strassen-suchen.html; letzter Zugriff am 26. 03. 2017) -, was mit ihrer (einstigen) patriotischen Symbol- / Evokationskraft in Verbindung stehen dürfte. 24 Auch im Anschluss an den Ersten Weltkrieg kam es (obgleich unter veränderten Vorzeichen) zu einer neuen Ausrichtung nach Frankreich - mit verstärktem Fokus auf Elsass und Lothringen - in der Straßenbenennung: „In vielen dt. Städten […] wurden 420 Nelson Puccio Die im Kontext des europäischen Einheitsgedanken vollzogene Annäherung / Fraternisierung zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Benennungsmotivation zwar grundlegend verändert, sie trägt mikrotoponymisch aber nicht minder zahlreiche Früchte: Wenn man davon ausgeht, dass in den Jahren zwischen 1950 und 2000 auf kommunaler Ebene über 2000 deutsch-französische Partnerschaften und Kooperationen geschlossen wurden (cf. Filipová 2015: 357) und vielerorts dieser jumelages ehrenhalber durch die Widmung einer nach der Partnergemeinde / -stadt benannten Straße (oder vergleichbares) gedacht wird - davon zeugen Namen wie Toulonplatz (Mannheim), Montpellierbrücke (Heidelberg), Nancystraße (Karlsruhe), Mentonring (Baden-Baden) oder Besançonallee (Freiburg) -, so darf man (auch wenn diesbezüglich genaue Zahlen fehlen) eine durchaus stattliche Anzahl Frankreich-bezogener Straßennamen über Deutschland verteilt erwarten. 3.2 Ideelle Bezugnahme durch Imitation Vergleichbar mit der lexikalischen Entlehnung, bei der das Ausmaß des in eine Nehmersprache eingedrungene fremdsprachliche Wortgut grundsätzlich mit dem epochenabhängigen Prestigewert der entsprechenden Quellsprache in Korrelation steht, finden auch in der Toponymie adstratisch bedingte Transfererscheinungen statt, die durch „kulturelle Beeinflussung, also durch Kulturübertragung […] erfolgt, ohne daß […] eine nennenswerte Umgruppierung von Menschen dabei stattfände“ (Bach 1954: 404). Die Analogie beinhaltet auch die zeitlich-historische Parallelität der Übernahmepraktiken, was für die hier untersuchte Thematik bedeutet, dass es zu Nachbenennungen deutscher Örtlichkeiten nach französischem Vorbild besonders in den „Hochzeiten der Frankophilie“ (Zollna 2004: 3199) - also im 12. / 13. Jahrhundert und während der Frühen Neuzeit (Hoch- / Spätbarock) - kam. Die erste Welle an Übertragungsnamen im Kontext der hochmittelalterlichen Ausrichtung nach Frankreich ahmt die dortigen höfisch-feudalen Kultur- und St[raßennamen] vergeben, die an das ‚Deutschtum im Ausland‘ erinnern soll[t]en, also an die in Folge des Krieges verlorenen oder besetzten Gebiete“ (Heuser 2008: 616). Diese territorial-nationalistische Namenpolitik wurde auch bzw. besonders nach der Machtergreifung Hitlers fortgeführt, obgleich deren Zeugnisse nach dem Zweiten Weltkrieg bisweilen wieder beseitigt wurden. Die bis heute überdauernden Benennungen vom Typ Lothringer Straße oder Elsässer Straße können somit gemeinhin einem Etablierungszeitraum zugeordnet werden, der sich vom Ende des Deutsch-Französischen Kriegs bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs erstreckt und somit onymisch entweder durch autoglorifizierende oder revanchistische Motivationen geprägt ist; musterhaft wird dies an der Namenvergabe für die entsprechenden Straßen in München (1872 respektive 1897; cf. Dollinger 2016) und Stuttgart (beide 1938; cf. Häussermann 2007) nachvollziehbar. Eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland 421 Lebensformen nach: „Wie so viele Äußerungen des staufischen Rittertums ihren Ursprung im französischen Westen hatten, so führen auch die Spuren der neuaufkommenden Burgennamen ins westliche Nachbarland“ (Schnelbögl 1956: 213). Als einer der frühesten Namenimporte kann die 1180 errichtete Burg Montclair bei Merzig angesehen werden (cf. Bach 1954: 234); ein zeitgleiches Beispiel für Namentransposition stellt das 1182 bezeugte Pirremont dar - 1185 bzw. 1191 auch als Pyerremont wie auch Pierremont belegt (< Petri mons ‚Petersberg‘) -, auf welches das heutige (Bad) Pyrmont im Weserbergland zurückzuführen ist (cf. Berger 1999: 231). 25 Einige Wehrbautennamen lassen sich als Übertragungen aus dem Heiligen Land interpretieren, die durch französische Vermittlung im Kontext der Kreuzzüge aus Palästina nach Deutschland transferiert wurden: Darunter fallen z. B. Montfort (1184) in der Nordpfalz, Montjoie (1198) - heute: Monschau in der Rureifel - sowie Montabaur (< Mons Tabor , 1217) im Westerwald (cf. Bach 1954: 233-234; Nick 1935: 169). Gemeinhin scheint seinerzeit die französierende Benennungsmode so inspirierend gewesen zu sein, dass zahlreiche deutsche Burgennamen als Übersetzungen aus dem Französischen - wie beispielweise Starkenburg / berg (< Montfort ) oder Scharfenberg / Schartenberg (< Aspremont ) - angesehen werden können (cf. Schröder [1927] 1944: 207-208; Walther 2004: 40). Nicht nur in der weltlichen Sphäre machte sich im Mittelalter der toponymische Einfluss Frankreichs bemerkbar, so kann darauf auch die ab ca. 1200 aufkommende kultisch-mystisch motivierte Benennung von (vornehmlich) Frauenklöstern des Zisterzienser- und Augustinerordens zurückgeführt werden: „Es liegt somit nahe, für unsere erfundenen Klosternamen an Frankreich als Heimat zu denken, haben doch auch die damaligen Orden dort ihren Ausgang genommen“ (Schnelbögl 1933: 89). Während die Verwendung sakral-spiritueller Begriffe bei der klösterlichen Namengebung in Frankreich bereits seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar ist - siehe La Cour-Dieu (1123), Le Montdieu (1151), La Bénisson-Dieu (1160) oder La Charité (1178) (cf. Vincent 1937: 352-353) -, so treten vergleichbare Namen in Deutschland erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auf: Himmelspforten (1231), Engelthal (1240), Gotteszell (1286) (cf. Reitzenstein [1985] 1996: 369-370). Einige Jahrhunderte später war die kulturelle Strahlkraft Frankreichs erneut dergestalt, dass die durch Louis XIV personifizierte und vollendete Herrschaftsform der absolutistischen Monarchie zahlreiche Epigonen in Europa fand; im späten 17. wie auch über weite Teile des 18. Jahrhunderts galt das Schloss von Versailles und das dort gepflegte Hofleben architektonisch wie auch rituell- 25 Dieselbe etymologische Basis ( Pirremont , Erstnennung 1225) kann auch für die Burg Pyrmont in der südlichen Eifel angesetzt werden (cf. Nick 1935: 169). 422 Nelson Puccio zeremoniell als Maß aller Dinge. Der konzeptionell-kulturellen Hegemonie des dortigen Königshofs nacheifernd wählten deutsche Regenten oder Adelige für ihre Residenzen, Jagdbzw. Lustbauten wie auch Parkanlagen häufig französische Namen, bei denen es sich fast ausnahmslos um Abstrakta handelt: Bellevue (Berlin), Belvedere 26 (Weimar), Eremitage , Fantaisie (beide Bayreuth), Favorite , Monrepos (beide Ludwigsburg), Monaise (Trier), Sanssouci (Potsdam), Solitude (Stuttgart) und weitere mehr. Die seinerzeit vorherrschende Ortsnamenmode beschränkte sich allerdings nicht nur auf genuin französische Begrifflichkeiten, sondern verwendete die Kernkonzepte der barocken Hofkultur, die zwischen repräsentierender Öffentlichkeit / Weltlichkeit und reklusiver Privatheit / Weltflucht, d. h. zwischen plaisir und repos oszillierte, toponymisch zunehmend mit den deutschen Entsprechungen: „Es war das Jahrhundert, in welchem sich das Zeitalter der Revolutionen vorbereitete, als die Grossen der Erde ihre Lieblingsörter [sic] vorzugsweise nach der Ruhe und der Lust benannten“ (Förstemann 1863: 297). Als Grundwörter (lust , ruhe ) begegnen uns diese Calques vermehrt in Kombination mit einem Personennamen aus der schlosserbauenden Landesfürstenfamilie - siehe Sophienlust (Meiningen / Thüringen), Clemensruhe (Bonn- Poppelsdorf) oder Friedrichsruhe (Zweiflingen / Hohenlohe); bisweilen war das neue Herrscherdomizil auch gleichzeitig namengebend für die mitkonzipierte barocke Planstadt, wie an den Beispielen Karlsruhe (Baden) und Ludwigslust (Mecklenburg) nachzuvollziehen ist. 27 Auch in der industrialisierten Moderne - im Rahmen der komplexen soziokulturellen Transformationsprozesse, die zu einer „Verbürgerlichung des Adels“ bzw. „Feudalisierung des Bürgertums“ führten - wurde eine aristokratisch und damit auch französisch inspirierte Lebensform noch als Leitbild angesehen: Allerdings war jetzt nicht mehr das Adelsschloss, sondern das Hotel - das „Schloß des Großbürgertums“ (Enzensberger [1958] 1973: 202) - das neue Zielobjekt eines prestigesteigernden und damit selbstaufwertenden Gallizismengebrauchs. Auf diese Weise blieben die ästhetisierenden Suggestivnamen vom 26 Auch wenn die Schreibung klar auf die italienische Herkunft dieses anlagen- und wirkungsspezifisch nicht festumrissenen Bautypus verweist, so werden heutzutage die damit benannten Schlösser oder (Aussichts-)Pavillons im deutschsprachigen Raum alltagssprachlich in der Regel französisierend ausgesprochen, wie beispielsweise auch die orthoepische Festschreibung [belveˈdeːə] für den Wiener Repräsentanten demonstriert (cf. ÖWB 2006: 101, s.v. Belvedere ). 27 Da im Laufe der Zeit eine regelrechte „Profanisierung“ dieses Ortsnamentyps stattfand, die dazu führte, dass nicht nur Residenzen oder Ansitze, sondern nahezu jegliche Art von Lokalität oder Behausung damit bedacht werden konnte, ist deren Anzahl mittlerweile Legion. Neben den abstrakten Bezeichnungen lust und ruhe ließen sich prinzipiell auch die weit weniger häufigen Determinata freude , fried(en) , glück , güte , huld oder wille zum selben toponymischen Wortfeld zählen. Eine Typologie der französisch induzierten Toponymie in Deutschland 423 Typ Bellevue und Belvédère weiterhin im Umlauf; darüber hinaus pflegten sich luxuriöse Häuser entweder mit dem französischen Epitheton Grand Hotel selbst zu noblieren oder ihre Namen wiesen - wie Förstemann (1863: 208) als Zeitzeuge feststellt -„[d]ie vornehmste Bezeichnung, das unvermeidliche Hôtel de —“ auf. So wie es gastgewerbliche Usance war, sich bei der Namengebung der französischen Sprache zu bedienen oder sich gar mit konnotationsstarken Toponymen aus der Fremde zu schmücken, 28 so basiert das (seinerzeit wie heute) im touristischen Kontext häufig angewandte Prinzip der ‚metaphorischen Eigennamenverwendung‘ (cf. Thurmair 2002) ebenfalls darauf, sich die markanten, prototypischen Eigenschaften eines Bildspenders zur eigenen Imageaufwertung zunutze zu machen: Mit den Antonomasien Nizza des Nordens (u. a. Wiesbaden, Heringsdorf / Usedom), Klein-Paris (u. a. Leipzig, Düsseldorf) oder Côte d’Azur Deutschlands (Sylt) wird auf plastisch-effektive Weise (Welt-)Wissen über die Refererenzorte vermittelt. Der Grad der Usualisiertheit kennt dabei ganz unterschiedliche Abstufungen (von ad-hoc -Bildungen über okkasionelle Verwendungen bis hin zum lexikalisierten Gebrauch) und kann bis hin zur (volksmündlichen 29 ) Benennung tatsächlicher Örtlichkeiten reichen: „ Nizza ist der Name sonniger Parkanlagen in Marburg, Gießen, Frankfurt, Bad Ems“ (Will 1939: 281). 4 Fazit Die hier präsentierte Übersicht zu den toponymischen Gallizismen, die sich im Laufe der Jahrhunderte entweder durch Nahkontakt oder kulturellen Ferneinfluss in der deutschen Sprachlandschaft sedimentiert haben, versteht sich als Anstoß, die traditionellerweise lexikologisch untersuchten Entlehnungsprozesse im französisch-deutschen Sprachaustausch um eine umfassende toponomastische Analysedimension zu erweitern. Dabei wurde der Fokus auf den soziopragmatischen wie auch -historischen Aspekt gelegt, d. h. die diversen Phasen und Typen der französisch induzierten Ortsnamengebung wurden primär nach 28 Eine keinesfalls repräsentative, aber doch illustrative Stichprobe zu den Berliner Hotelnamen Mitte des 19. Jahrhunderts verrät, dass die Hälfte aller unter der Kategorie ‚Gasthöfe erster Klasse‘ geführten Beherbergungsetablissements sich durch eine französische Benennung wie Hotel de France , Hotel de Rome , Hotel de l’Europe , Hotel Bellevue , Hotel Impérial etc. auszeichnete (cf. Springer 1861: 80-81). 29 Im Volksmund bedient man sich der Ortsnamenmetaphern auch gerne zur expressiv-ludischen Herabsetzung, wie Moser (1950: 181) am Beispiel Klein-Paris demonstriert, das einem allein im Schwäbischen ein gutes Dutzend Mal begegnet: „Mit diese[m] Namen verspottete man einzelne Gemeinden, die sich durch ihre Stattlichkeit von ihrer Umgebung abhoben und sich darauf etwas zugute taten; meist sind es Sitze früherer Grundherren mit Schlössern“. 424 Nelson Puccio dem Kriterium ihrer Funktion und Vermittlungssituation systematisiert und begutachtet. Die bis dato nur rudimentär erfolgte Aufarbeitung der einzelnen (hier vorgestellten / -geschlagenen) Namenkategorien - in Form von Toponymen, die entweder im direkten Kontakt (z. B. durch Migration bzw. Okkupation) oder aufgrund von Ferneinfluss mit einer ideellen Bezugnahme (z. B. durch Evokation bzw. Imitation) transferiert wurden - macht mehr als tendenzielle Aussagen zur epochenspezifischen Produktivität oder geographischen Diffusion der betreffenden Ortsnamen unmöglich; hier stünde es an einer kulturgeschichtlich interessierten, überregional vergleichenden Toponomastik die unerlässliche Grundlagen-, d. h. Quellenarbeit vorzunehmen, um die komplexe Formenvielfalt i.w.S. allochthoner Ortsnamen und ihrer symbolischen Bedeutung zu Tage zu fördern. Bibliographie Asche, Matthias (2010): „Waldenser in Mitteleuropa seit der Frühen Neuzeit“, in: Bade, Klaus J. / Emmer, Pieter C. / Lucassen, Leo / Oltmer, Jochen (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart . Paderborn / München: Schöningh / Fink, 1087-1090. Bach, Adolf (1954): Die deutschen Ortsnamen . Band 2.2: Die deutschen Ortsnamen in geschichtlicher, geographischer, soziologischer und psychologischer Betrachtung. Ortsnamenforschung im Dienste anderer Wissenschaften. Heidelberg: Winter. 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Ce purisme atteignit, cependant, une nouvelle qualité quand il fut combiné, à l’époque napoléonienne, avec un patriotisme, voire un nationalisme plutôt agressif. Un des représentants de ce courant est Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), connu encore aujourd'hui comme le fondateur du mouvement gymnique allemand ( Turnerbewegung ). Cet article traite de la relation entre sa conception du « peuple » et son purisme radical, qui visait à l’élimination de tout emprunt à une langue étrangère. Son isolationnisme radical ne correspond pourtant pas à la définition du nationalisme linguistique ( Sprachnationalismus ) de Garth, puisque l’idée d’une supériorité de sa propre langue (et par conséquent de son peuple) est à peine présente. En revanche, son isolationnisme a des traits émancipateurs et résolument anti-impérialistes, incluant une attitude protectrice envers les peuples et les langues menacés et un regret pour les langues déjà éteintes qui fait penser au concept de glottophagie de Calvet. Le purisme de Jahn n’eut d’ailleurs pas beaucoup d’effets immédiats; la nouvelle vague puriste après la fondation de l’Empire allemand se tourna vers d’autres sources, et le régime nazi fut, curieusement, expressément favorable aux emprunts ( Fremdwörter ). La relation purisme - nationalisme n’est donc, au moins en Allemagne, pas aussi évidente qu’on pourrait le croire. 1 Einleitung Sprachpurismus - die Bemühung also, eine Sprache möglichst frei von fremdsprachigen Elementen zu halten - ist eine übliche Reaktion auf als übermäßig empfundenen Einfluss fremder Sprachen. So gab es in Frankreich im 16. Jahrhundert Widerstand gegen die Welle von Italianismen und im 20. Jahrhundert gegen die zahlreichen Anglizismen bzw. Angloamerikanismen (cf. Klare 432 Barbara Schäfer-Prieß 1998: 102-104, 172-176). Für das Deutsche, seit dem Mittelalter immer mehr Nehmerals Gebersprache, sind puristische Aktivitäten seit dem 17. Jahrhundert kontinuierlich belegt. Dabei sind anders als in den romanischen Ländern auch die als fremd empfundenen Latinismen Objekt der Kritik gewesen - ansonsten aber von Anfang an hauptsächlich die Gallizismen, denn das Französische stellte bis zum 19. Jahrhundert, als das Englische immer mehr zur Konkurrenz wurde, den überwältigenden Anteil der Entlehnungen aus lebenden Sprachen. Mit der Geschichte des deutschen Sprachpurismus haben sich naheliegenderweise in erster Linie Germanisten befasst (als Standardwerk kann hier weiterhin Kirkness 1975 gelten). In der französischen Sprachgeschichte haben schon die Gallizismen in den diversen Sprachen nicht allzu viel Beachtung gefunden 1 , noch weniger aber die Versuche, sich ihrer zu entledigen. Eine Ausnahme aus romanistischer Perspektive stellt Kramer (1992: 113-130) dar, der ein ganzes Kapitel seines Buches Das Französische in Deutschland der „Entwelschung“, der „Jagd auf französische Wörter“ widmet, sich dort aber auch nur auf germanistische Literatur berufen kann. 2 Die Zeit um 1800 ist für die Purismusforschung aus verschiedenen Gründen besonders interessant. Laut Kirkness (1975: II , 421-422) kam es hier zu einen Umbruch, da die Bemühungen um Sprachreinigung ab dann nicht mehr nur auf die Sprache der Literatur und Wissenschaft ausgerichtet gewesen seien, sondern seit Campe 3 ein „öffentlicher Kampf gegen Elemente fremdsprachlicher Herkunft“ stattgefunden habe, der die gesamte Sprachgemeinschaft betroffen habe. Außerdem hätten sich die Motive geändert: Während die Puristen des 17. und 18. Jahrhunderts die Sprache um ihrer selber willen betrachtet hätten - ein wichtiges Ziel war dabei der Ausbau einer Standardsprache -, seien ihre Nachfolger von nationalistischen Motiven geleitet gewesen. „Sie schätzten die Sprache als den Spiegel der Nation, weniger um ihrer selbst willen“ (Kirkness 1975: II , 424). Ein wichtiger Repräsentant des Sprachpurismus dieser neuen Ausrichtung ist Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), der heute noch einer größeren Öffentlichkeit bekannt ist, wenn auch nicht als Sprachkritiker, sondern als Begründer der Turnerbewegung, als „Turnvater Jahn“. Tatsächlich stehen seine Bemühungen um ein reines Deutsch nicht für sich, sondern sind weit mehr als bei seinen 1 Eine wichtige Ausnahme stellt der Band VIII (1934) von Ferdinand Brunots monumentaler Histoire de la langue française dar. 2 Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang noch die Diskussion um die Sprachreinigungsbemühungen unter deutschsprachigen Philologen zur Zeit des 1. Weltkriegs, an der sich auch Romanisten wie Leo Spitzer, Elise Richter, Eugen Lerch und Hugo Schuchardt beteiligten (cf. Balnat / Kaltz 2007). 3 Joachim Heinrich Campe (1746-1818), cf. Kirkness (1975: I, 94). Sprachpurismus und Nationalismus bei Friedrich Ludwig Jahn 433 Vorgängern (und auch den meisten seiner Nachfolger) in ein Gesamtkonzept eingebunden, das - je nach Perspektive - als Patriotismus, Nationalismus oder „blinder Chauvinismus“ (Kramer 1992: 120) bezeichnet wird. Auf diesen Zusammenhang zwischen Purismus und Nationalismus (im weiteren Sinne) in den Schriften Jahns soll im Folgenden näher eingegangen werden. 2 Leben und Werk Friedrich Ludwig Jahn wurde in Lanz bei Lenzen in der West-Priegnitz am 11. August 1778 geboren. Nach dem Schulbesuch in Salzwedel und in Berlin studierte er seit 1796 an verschiedenen Universitäten, allerdings offenbar ohne einen Abschluss, und arbeitete einige Jahre als Hauslehrer in Mecklenburg. Seine erste Schrift Ueber die Beförderung des Patriotismus im deutschen Reiche erschien 1800 in Halle (unter dem Namen O. C. C. Höpffner), 1806 folgte als erste germanistische Publikation die Bereicherung des hochdeutschen Sprachschatzes, versucht im Gebiete der Sinnverwandtschaft, ein Nachtrag zu Adelung’s und eine Nachlese zu Eberhard’s Wörterbuch (Leipzig 1806) und vier Jahre später die Schrift Deutsches Volksthum (Lübeck 1810). Jahn war zu dieser Zeit in Berlin als Lehrer tätig und gründete dort 1811 in der Hasenheide den ersten deutschen Turnplatz. 1813 kämpfte er im Lützowschen Freicorps. Im Jahre 1814 veröffentlichte Jahn Die Runenblätter , 1816 zusammen mit Ernst Eiselen Die deutsche Turnkunst . Im Zuge der Demagogenverfolgung wurde die Turnbewegung als staatsgefährdend eingeschätzt, Jahn selbst kam 1819 für fast sechs Jahre in Haft, durfte nach seiner Entlassung nicht mehr nach Berlin zurück und blieb bis 1840 unter Polizeiaufsicht. Unter Friedrich Wilhelm IV . (1840-1861) erfolgte seine Rehabilitation, 1848 wurde er in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Zu den nach seiner Berliner Zeit entstandenen Werken gehören die Neuen Runenblätter (1828) und die Merke zum deutschen Volksthum (1833) (cf. Angerstein 1881: 662-664; Ueberhorst 1974: 301-303). Im Folgenden werde ich mich auf die für das Thema ‚Purismus‘ wichtigsten Schriften, das Deutsche Volksthum von 1810 und die Merke zum deutschen Volksthum von 1833 beziehen. 3 Jahn und seine Zeit Jahn erlebte die napoleonische Zeit in Deutschland als junger Mann: 1801 die Annexion der linksrheinischen deutschen Territorien, 1803 die Reichsreform mit Verminderung der Kleinstaaterei, 1805 den Sieg Napoleons über Österreich und Russland bei Austerlitz und Gründung des Rheinbundes und 1806 die Ab- 434 Barbara Schäfer-Prieß dankung von Franz II . (1792-1806) als Kaiser der Heiligen Römischen Reichs. Polenz (1999: III , 10-11) schreibt zur Reaktion auf die „Franzosenzeit“: Das Napoleonische Besatzungsregime hat sich auf die politische Meinungsbildung in Deutschland zwiespältig ausgewirkt: Auf der einen Seite setzten aufgeklärt, kosmopolitisch und frankophil Gesonnene ihre Hoffnung auf eine belebend modernisierende Wirkung der französischen Besatzungs- und Bündnispolitik; positive Beispiele waren der ins Deutsche übersetzte Code Napoléon und gelungene Reformen in den Rheinbundstaaten. Auf der anderen Seite entstanden antifranzösische Einstellungen in Teilen der gedemütigten alten Oberschicht und in der durch Kriegskosten und Besatzungshärten bedrückten Bevölkerung. So wurde Preußens Widerstand nach Napoleons Niederlage in Russland mit frühnationalistischer Propaganda (Fichte, Arndt, Jahn […]) gegen den noch zögernden König eingeleitet. In den Befreiungskriegen (1813 / 15) entstand ein ethnozentrisches deutsches Nationalgefühl, das sich vom humanistisch-aufklärerischen Patriotismus ebenso wie vom westeuropäischen politischen Begriff der ‚Staatsbürgernation‘ zunehmend entfernte. Polenz sieht den „Franzosenhass“, mit dem teilweise auch eine antijudaistische Haltung verknüpft war, bzw. die Fremdenfeindlichkeit überhaupt als „wesentlichen Bestandteil des deutschen Nationalismus“, der allerdings politisch erst später gewirkt habe (Polenz 1999: III , 11-12). Jahn ist von seinen stark durch die Franzosenzeit geprägten Ansichten, die er 1810 im Volksthum formuliert hat, in seinen während der Restauration veröffentlichten Schriften nicht abgewichen. 4 Nationalismus und Purismus im Deutschen Volksthum (1810) und in der Merke zum deutschen Volksthum (1833) 4.1 Verständnis von Volk und Völkern Zentral für Jahns Ideologie ist der Begriff des Volkstums, den er selbst geprägt hat. Er definiert ihn folgendermaßen: Es ist das Gemeinsame des Volks, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit. Dadurch waltet allen Volksgliedern ein volksthümliches Denken und Fühlen, Lieben und Hassen, Frohsein und Trauern, Leiden und Handeln, Entbehren und Genießen, Hoffen und Sehnen, Ahnen und Glauben. Das bringt alle die einzelnen Menschen des Volks, ohne dass ihre Freiheit und Selbstständigkeit untergeht, sondern gerade noch mehr gestärkt wird, in der Viel- und Allverbindung mit den Übrigen, zu einer schönverbundenen Gemeinde. ( Jahn 1810: 7-8) Sprachpurismus und Nationalismus bei Friedrich Ludwig Jahn 435 Jahn löst sich hier ebenso wie und wahrscheinlich nach dem Vorbild von Ernst Moritz Arndt, bei dem er in Greifswald studiert hatte, vom Konzept der Kulturnation, wie es sich z. B. bei Schiller findet, indem er dem „Volkstum“ mythischromantische Züge verleiht (cf. Sørensen 2003: 295), und vertritt stattdessen das Konzept einer Volksnation. Laut Sørensen löst Jahn sich auch vom Ideal der Humanität, wie es bei Herders Volksbegriff noch präsent gewesen war: 4 „Statt dessen wurden national bedingte Haßgefühle legitimiert. Arndt z. B. wandte sich mit folgender Aufforderung an seine Landsleute: ‚Lasst uns die Franzosen hassen. Als Deutsche bedürfen wir dieses Gegensatzes‘“ (Sørensen 2003: 295). Neben dem Konzept der Volksnation bringt Jahn das der Staatsnation ein: „Nichts ist ein Staat ohne Volk und ein Volk ohne Staat“ ( Jahn 1810: 18). 5 Für Jahn gibt es die Menschheit nur in Form der verschiedenen Völker, aus denen sie besteht: „Denn nirgends erscheint die Menschheit hienieden abgesondert und rein, immer wird sie nur durch Volksthümer vorgestellt und vertreten“ ( Jahn 1810: 15). Die Existenz verschiedener Völker sei eine Notwendigkeit, der Untergang von Völkern ein Unglück (cf. ibid. 1810: 29). Was die Beziehung zwischen den Völkern angeht, so akzeptiert er alle anderen „Volkstümer“, sofern sie unvermischt sind: „Je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger“ (ibid. 1810: 26). „Welch edel Volk der eigentliche Kaffer , welch gute harmlose Natur der Hottentott ; und wieder welche Teufelswesen die Bastarde und Buschmänner “ (ibid. 1810: 28). 6 Ansonsten hält Jahn sich mit Wertungen oder Hierarchisierungen zurück und vermittelt vorrangig die Ansicht, dass die Völker zwar unterschiedlich, aber grundsätzlich gleichwertig seien (sofern sie unvermischt sind). Hier findet 4 Der Einfluss Herders auf Jahn wäre näher zu beleuchten. Jahn (1810: 12) beruft sich an anderer Stelle auf ihn und seine Qualifizierung der Deutschen als „die ungewordene Nation“. 5 Gellner (1999: 55) beschreibt den Übergang von der vorindustriellen Gesellschaft zu den Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts mit einer Metapher: „In der agrarischen Welt bestehen viele kulturelle Abstufungen: Sie gleichen Regentropfen in einem Sturm, die man nicht zählen kann. Aber wenn sie alle auf einen Boden fallen, fließen sie nicht etwa zu einer großen Pfütze zusammen, wie es beide Lager dieser universalistisch-internationalistischen Theorie [Liberalismus und Marxismus] erwartet hätten, noch bleiben sie getrennt; tatsächlich bilden sie eine Reihe von größeren Pfützen, die nicht an einer Vereinigung interessiert sind. Der von den Internationalisten prognostizierte Zusammenfluß, die Auflösung der Pluralität findet tatsächlich statt, doch er hinterlässt nicht etwa eine einzige große, sondern eine Reihe kleinerer Kulturpfützen.“ 6 Jahn propagiert hier eine Auffassung die man heute als Ethnopluralismus bezeichnet (frz. ethno-différencialisme ) und die vor allem von der Neuen Rechten bzw. Nouvelle droite vertreten wird. Es würde zu weit führen, hier einer möglichen Kontinuität nachzugehen, doch ist zu bemerken, dass Henning Eichberg, ein Protagonist der Neuen Rechten, der den Begriff Ethnopluralismus geprägt hat, sich mit dem Werk Jahns befasst hat (cf. Wellner 2008: 116). 436 Barbara Schäfer-Prieß sich eine Parallele beispielsweise zu Alexander von Humboldt, der „von einer Klassifizierung in höhere und niedere Menschenracen nichts wissen [will] und erklärt, daß alle Rassen [ein Begriff, den Jahn noch nicht verwendet] in gleicher Weise ‚zur Freiheit bestimmt‘ sind“ (Gardt 2000: 255). Jahn bezeichnet allerdings dennoch Griechen und Deutsche als „der Menschheit heilige Völker“, da sie sich „am Meisten der Menschheit genähert“ (ibid. 2000: 21) hätten 7 . Auch sind die Eigenschaften, die er den Deutschen zuordnet, auffällig schmeichelhaft: „Vollkraft, Biederkeit, Gradheit, Abscheu der Winkelzüge, Rechtlichkeit, und das ernste Gutmeinen“ (ibid. 2000: 10). Auch mit einer solchen Auffassung steht er zu seiner Zeit nicht allein; so hält beispielsweise August Wilhelm Schlegel u. a. Natürlichkeit, Aufrichtigkeit und Beständigkeit für charakteristische Eigenschaften der Germanen, speziell der Deutschen (Gardt 2000: 256) und fügt sich damit wie Jahn in eine Tradition ein, die sich schon im 17. Jahrhundert entwickelt hatte, als den Deutschen beispielsweise „Trew / Glaub vnd Redlichkeit“ als charakteristisch zugeordnet wurden 8 (Brunt 1983: 62), was laut Brunt auf die Rezeption von Tacitusʼ De Germania seit der Renaissance zurückgeht: „The Germanic past of heroic deeds and honest, courageous and straightforward men was contrasted by MOSCHEROSCH and his contemporaries with the francized, overrefined and hypocritical younger generation, which not only imitated the fashions of the French, but even spoke their language“ (Brunt 1983: 63). Auch bei Schlegel stehen den positiven germanischen Eigenschaften negative romanische gegenüber, so z. B. Oberflächlichkeit, Unehrlichkeit und Affektiertheit. Allerdings fehlt bei den früheren Autoren, die solche Einordnungen vornehmen, wie Gardt (2000: 249) zu Recht feststellt noch die Aggressivität, die den durch Franzosenzeit und Befreiungskriege geprägten Jahn charakterisiert. Jahns persönliche Erfahrungen dürften dazu beigetragen haben, dass er imperialistischen Ansprüchen sehr kritisch gegenübersteht, indem er z. B. mit Bezug auf Klopstocks Gedicht „Mein Vaterland“ das Römische Reich als „für die Menschheit eine nimmersatte Völkerhölle“ ( Jahn 1810: 11) bezeichnet und den Deutschen Zurückhaltung und Friedensliebe bescheinigen möchte. Bei Jahn ist das Nationalistische noch eng verbunden mit einer Befreiungsideologie, mit 7 Es handelt sich hier laut Stamm-Kuhlmann (2012: 27) um eine zu seiner Zeit gängige Auffassung, die auf die Vorstellung von drei heiligen Sprachen - Hebräisch als Sprache des Alten Testaments, Griechisch als die des NT und Deutsch als Sprache der Reformation - zurückging. 8 Die „deutsche Treue“ war aber auch Gegenstand des Spottes, wie in Heines Harzreise : „Andere Völker mögen gewandter sein und witziger und ergötzlicher, aber keins ist so treu wie das treue deutsche Volk. Wüßte ich nicht, daß die Treue so alt ist wie die Welt, so würde ich glauben, ein deutsches Herz habe sie erfunden“ (Heine 1997: 24-25). Sprachpurismus und Nationalismus bei Friedrich Ludwig Jahn 437 der Forderung nach nationaler Selbstbestimmung ohne expansionistischen Anspruch. Die Freiheit sieht er nicht nur durch andere Nationen - im spezifischen Fall Frankreich 9 - bedroht, sondern speziell auch durch den Internationalismus, wie ihn „Jesuiten und andere Orden, die unbekannte Obern durch alle Völker und Staaten gängeln“, repräsentierten ( Jahn 1810: 26). In all diesen Punkten geht Jahn weitgehend mit Arndt konform, wobei letzterer allerdings eine noch aggressivere Haltung einnimmt (cf. Schiewe 2012: 115-120). 4.2 Ansichten zur Sprache Das für Jahn so zentrale Konzept der Unvermischtheit findet sich auf die Sprache bezogen bereits bei Autoren des 17. Jahrhunderts. Laut Justus Georg Schottelius z. B. ist das Deutsche die älteste und reinste der europäischen Volkssprachen und steht wie das Hebräische der lingua adamica , der Ursprache, am nächsten. Das Französische hingegen sei eine der „Bastardsprachen“, eine Mischung aus Lateinisch und Deutsch (cf. Brunt 1983: 63; Polenz 2013: II , 120). Es ist wahrscheinlich, dass Jahn solche Theorien kannte, als er 1833 in der Merke schrieb: Die Vielspracherei ist der Sündenpfuhl, woraus aller Büchernebel dunstet. Was einer Sprache recht bleibt, ist der andern - und der eignen zumahl, auch wohl billig. Was eine lebendige Sprache um Leib und Leben bringt, sollte man ihr doch nicht zu Leide thun. Nimmermehr wird die deutsche Sprache eine Mangsprache werden. Noch immer behauptet sie im siegreichen Kriege ihr Unrecht als Ursprache. Ihr ist Wortmengerei - Armuth, Reinheit - Reichthum und Reinigung - Bereicherung. Die Fremdsucht ist ihr Galle, Gift und Greuel, ein Irrleuchten im Dämmer und Nebel. Fremdwörter gehen als solche, und wenn sie hunderttausend Mal eingebürgert heißen, nie in Gut und Blut über. Ein Fremdwort bleibt immer ein Blendling ohne Zeugungskraft; es müsste dann sein Wesen wandeln und selber als Urlaut und Urwort gelten können. Ohne ein Urwort zu werden, läuft es als Aechter durch die Sprache: Wälschen ist Fälschen, Entmannen der Urkraft, Hemmen der Weiterbildsamkeit und gänzliche Sprachsinnlosigkeit. ( Jahn 1833: 187) In dem Kapitel mit dem vielsagenden Titel „Heiligkeit der Muttersprache“ wird die Sprache sowohl als ein eigener Organismus beschrieben als auch als „Abbild des Volkes“, das sie spricht: 9 Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es eine zeitnahe französische Übersetzung des Volksthums von Lortet gibt ( Jahn 1825), die einer näheren Betrachtung wert wäre. 438 Barbara Schäfer-Prieß Jede Sprache ist das vollständigste und genaueste Abbild des Volkes, das sie spricht, in sich trägt, und dem Lernenden überliefert, zwar unbewußt und unbemerkt der Jugend, deren heilige Einfalt man eben deshalb durch Vielspracherei nicht brechen soll. ( Jahn 1833: 177) Die Vorstellung, dass die Sprache ein Abbild des Volkes sei, ist wiederum bereits seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland verbreitet. Sie findet sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispielsweise bei Arndt und Fichte (cf. Schiewe 2012: 116). Jahn selbst hatte beide Gedanken bereits 1806 in der Bereicherung des hochdeutschen Sprachschatzes kombiniert („In seiner Muttersprache ehrt sich jedes Volk. […] Ein Volk, das seine Sprache verlernt, giebt sein Stimmrecht in der Menschheit auf, und ist zur stummen Rolle auf der Völkerbühne verwiesen […]“ ( Jahn 1806: XII ; cf. Schiewe 2012: 115)). Sprache und Volk bilden bei Jahn eine solch unzertrennbare Einheit, dass Sprachtod mit Ethnozid gleichgesetzt wird: Ein Volk lebt, webt, steht und vergeht mit seiner Sprache. Die Sprache ist die Seelenwanderung des Volksthums. Mit dem Untergange der Sprachen sind die Völker verschollen. ( Jahn 1833: 212) Die Urwohner Südspaniens hatten lange vor der Römerzeit Lieder und Gesänge, auch Geschichten ihrer Thaten. Nichts wissen wir dennoch von ihnen, als was ihre Unterjocher, Ausrotter, Ein- und Umschmelzer beiläufig von ihren Todeskämpfen berichten. […] Durch Altrom und Neurom sind mancherlei Sprachen untergegangen. Lieder und Schriftenthum haben Beide aus der Welt geschafft, weil sie jeder Volksthümlichkeit Erb- und Erzfeinde gewesen und geblieben. ( Jahn 1833: 213-214) Es liegt nicht fern, hier an das Konzept der Glottophagie, der Sprachenfresserei im Sinn von Calvet (2002) zu denken. Was für die romanisierten Völker die Römer waren, sind für Jahn Deutschland betreffend die Franzosen; Wer mit dem wälschen Sprachteufel buhlt, giebt sich selber auf, Namen und Ahnen, Kinder und Enkel. Sie löschen sich selber aus dem Lebensbuch der Geschichte, setzen ein Brandmahl an ihre Stirne und zerknicken die Lebenshalme der Zukunft. ( Jahn 1833: 182) Das Französische wird erst dann zum „wälschen Sprachteufel“, wenn es die Integrität anderer Sprachen (und damit von deren Völkern) bedroht. Grundsätzlich richtet sich Jahns Zorn weniger gegen andere Nationalsprachen, also auch nicht gegen die französische, als gegen die Abwesenheit von Nationalität, die er einer vage definierten internationalen Elite zuordnet, die sich des Französischen als Verständigungssprache bedient: Sprachpurismus und Nationalismus bei Friedrich Ludwig Jahn 439 Es giebt vornehme Leute, die ihre Vornehmheit als ein geschenktes Welthandwerk ansehen, sich als hochwürdige Meister, erleuchtete Gesellen und wackere Diener von einem großen Weltorden betrachten, der überall zu Hause ist, aber nirgends volklich. Diese Vornehmlinge leiden nicht, dass ihre Kinder Vater und Mutter rufen, und guten Tag, und ruhige Nacht grüßen, Lebewohl und Glück auf wünschen. Daraus kommt auch der Sprachwirrwarr, dass die vielsprachernden Leute nicht mehr reden können, und sich mit Geschwabbel und Geschnatter behelfen, was Conversation heißt. ( Jahn 1833: 176) Das „Geschwabbel und Geschnatter“ der „Vornehmlinge“, wie Jahn es wahrnahm, mag dem entsprochen haben, was Brunot (1934) mit Bezug auf von Lyncker beschreibt: Von Lyncker, dans ses Souvenirs, nous raconte quʼà la Cour de Weimar, „le bon ton exigeait que lʼallemand fût embelli de phrases ou tout au moins de mots français et que tout le monde des beaux Messieurs et des belles dames se pliait à cette exigence, sauf à lâcher force contre-sens“. Dʼoù venait cette aberration? […] (Brunot 1934: 682) Combien seraient comiques quelques phonographies de réunions, de rencontres, de salutations même, avec leur français bariolés dʼaccents, accompagnées de cinématographies des attitudes et des révérences! (Brunot 1934: 683) Die Deutschen, so Jahn, verachteten ihre eigene Sprache und hätten deshalb schon immer versäumt, sie angemessen zu kultivieren. Dies könne sich jetzt nach dem Sieg über Napoleon endlich ändern: Die Klage wider die Wortmengerei ist sehr alt, und nicht erst von gestern, wie die wälschsüchtigen Manghänse gelfern. Die Deutsche Sprache und und das Deutsche Volk haben nur noch immer nicht ihr Recht finden können. Jahrhunderte dauert schon der Kampf mit der Ausländerei aller Art. Doch die Leipziger Schlacht hat uns Hand und Mund frei gemacht. Beide wollen wir dann auch nach unsrer Väter Art fromm und fest gebrauchen, und uns wacker und weidlich weisen. ( Jahn 1833: 187-188) Jahn geht so weit, dass er jeden schulischen Fremdsprachenunterricht ablehnt: Durch das Schulgedrill der Schulkinder in der Lebensfrühe lernen sie sich aus der Deutschheit heraus und werden fertig gemacht, erfolglichen Falls, gleich als Undeutsche bei der Hand zu seyn, wie Zeitungsschreiber und Zeitschriftler. ( Jahn 1833: 179) Fremde, lebende Sprachen in den Schulen sind ein Molochsverdient, wo die unschuldigen Kinder der Höllengluth geopfert werden. Das ist ein grauenvolles Blut-, Schimpf-, Schand- und Fluchopfer der Ausländerei, der Erbärmlichkeit, der Eitelkeit, dem Irrlicht der Allerweltsbürgerei gebracht. Durch fremde, lebende Sprachen in Deutschen 440 Barbara Schäfer-Prieß Volksschulen werden wir Deutschen Leibeigene auf eigenem Boden, Frohnknechte und Sprachsklaven fremder Völker. […] Die Aeltern, so ihre zarten Kinder zu wälschem Gesprach zwingen, ächten, verbannen und enterben die unmündigen, machen sie rechtlos, schutzlos, schirmlos, arm und bloß, rauben ihnen das Pflichttheil der Muttersprache. Deutschlands Töchter sind doch wohl nicht dazu bestimmt, um mit den Einlagerern fremder Völker zu hübschen. Zur Zeit der französischen Zwingherrschaft deutschen Jungfrauen französisch beizubringen, war das beste Mittel, sie zu Hübscherinnen zu entweihen. Und jeder Schulhalter, und jede Schulhalterin soll lieber die Schule schließen, als Sprachunzucht und wälschen Frevel leiden. ( Jahn 1833: 181-182) Fremdsprachenunterricht ist also für Jahn kein Beitrag zur Völkerverständigung, sondern Ausdruck der Unterwerfung („Hinterhalt zum Ueberfall für den Feind“ (ibid. 1833: 179), „Mit der fremden Sprache lagert sich eine fremde Besatzung in Kopf und Herzen“ (ibid. 1833: 180)). Statt Fremdsprachen solle in den Schulen Naturkunde gelernt werden, „die doch der Mensch nie auslernt“ (ibid. 1833: 180), und wer eine Fremdsprache wirklich brauche - der Gelehrte, Kaufmann oder Seemann - solle sie zu diesem Zweck lernen, wenn er sie benötigt (cf. ibid. 1833: 180). Der Krieger brauche ohnehin keine Fremdsprachen („die Sprache, in der man mit Feinden nur einzig reden darf, ist handgreiflich und fühlbar“, Jahn 1833: 181). Konkret wendet sich Jahn gegen fremdsprachige Schilder und Aufschriften. Hier kommt das in puristischen Diskursen öfter vertretene Argument, dass die Verwendung fremdsprachiger Ausdrücke die einfache Bevölkerung benachteilige (cf. Polenz 1967: 80, v. infra, Exkurs ), zum Ausdruck: Schilder oder Deutsche Inschriften kann man von Rechtswegen überall in Deutschland, an Speichern, Waarenlagern, Kellern und Läden erwarten, zumahl neu und jetzt. Jede Ausländerei ist hier übel angebracht, einsprachig oder mehrsprachig - gleich schlecht. Es sind die Nachwehen der Verbildung, die unter der Schmiegsamkeit unter das fremde Joch eine Allerweltshoheit fühlte. Es ist hart, dass ein armer Deutscher noch eine fremde Sprache lernen muß, um sich in Deutschen Städten zurecht zu finden, und nothdürftig zu erfahren, wo ein Schuhmacher und Schneider wohnt. ( Jahn 1833: 215-216) Diese Bemerkungen sind auch insofern interessant, als sie, selbst wenn man eine gewisse Übertreibung einräumt, Rückschlüsse auf die starke Präsenz des Französischen im öffentlichen Raum zu dieser Zeit zulassen. Sprachpurismus und Nationalismus bei Friedrich Ludwig Jahn 441 5 Sprachpatriotismus oder -nationalismus? Wie ist nun Jahns Einstellung zu Sprache und Nation zu beurteilen? Nach den Definitionen von Gardt (2000: 247-248) erfüllen seine Ansichten auf jeden Fall die Bedingungen für Sprachpatriotismus, nämlich „das emphatische Lob der eigenen Sprache sowie deren Hypostasierung“ und „die Übereinanderblendung […] der Bereiche des Sprachlichen mit denen des Kulturell-Ethnischen […], des Politischen […], in Teilen auch des Anthropologischen“. Was die zusätzliche Bedingung für die Einstufung als Sprachnationalismus betrifft, so ist der Befund ambivalent, denn „die pointiert bis aggressiv formulierte Behauptung der Überlegenheit der eigenen Sprache und damit, aufgrund der erwähnten Übereinblendungen, der eigenen kulturell-ethnischen […], politischen und anthropologischen Gemeinschaft über andere Gemeinschaften“ ist bei Jahn wie zu sehen war nur schwach ausgeprägt, wogegen „die Behauptung der Gefährdung der Integrität bzw. Identität der eigenen Sprach-, Volks- und Kulturgemeinschaft durch fremde Sprachen, Völker, Rassen, Nationen und Kulturen“ (Gardt 2000: 248) natürlich eindeutig festzustellen ist. Dass sich allerdings „als Folge dieser Behauptungen die z.T. aggressive Abwertung des sprachlich (und zugleich kulturell-ethnisch, politisch und anthropologisch) Fremden“ ergibt, sehe ich im Falle von Jahn nicht gegeben. Seine oft sehr sprachgewaltig artikulierten Aggressionen richten sich im Allgemeinen nicht gegen andere Nationen bzw. Sprachgemeinschaften - außer wenn sie durch Expansionsbestrebungen zur Gefahr für die Integrität anderer Nationen werden -, sondern eher gegen einen elitären Kosmopolitismus und gegen Sprachmischungen jeder Art. Sein - durchaus unrealistisches - Ideal ist eine Menschheit, die aus ungemischten, klar voneinander abgegrenzten Völkern besteht, die einander in Ruhe lassen, was auf die Sprachen bezogen bedeutet, dass sie, ebenso unrealistisch, möglichst nicht in Kontakt miteinander kommen sollen. Wahrscheinlich kann kaum eine von Jahns Ideen Anspruch auf Originalität erheben. Er kann einerseits aus dem umfangreichen Fundus der Sprachpuristen der zurückliegenden zwei Jahrhunderte schöpfen und sich andererseits auf die patriotischen und nationalistischen Ideen, die während der Franzosenzeit weite Verbreitung gefunden hatten, beziehen. Diese verbindet er zu einer weitgehend kohärenten, wenn auch aus heutiger Sicht abenteuerlich anmutenden Theorie, die einen radikalen politischen wie sprachlichen Isolationismus in den Mittelpunkt stellt, der Jahn nach den Erfahrungen mit dem kulturellen und militärischen Expansionismus der Franzosen offenbar als beste Möglichkeit für ein friedliches Zusammenleben erschien. 10 10 Wie in der Dissertation von Wellner (2008), die sich mit der Jahn-Rezeption zwischen 1933 und 1945 sowie anschließend bis 1990 in den beiden deutschen Staaten befasst, ge- 442 Barbara Schäfer-Prieß Spezifisch für Jahn ist die Radikalität bei der Bekämpfung ausländischer Wörter. In seinen eigenen Schriften hält er sich, von Irrtümern abgesehen, streng an die Vermeidung jeglichen Fremdwortes, 11 was der Rezeption seines Werkes nicht unbedingt zuträglich war: „Die Eigentümlichkeiten seines eigenen Stils riefen bei den Gegnern der Sprachreiniger berechtigten Spott hervor und hatten eine nachteilige Wirkung auf seine puristischen Bestrebungen“ (Kirkness 1975: I, 211). Dennoch hat ein Teil seiner Neubildungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden konnte, sich dauerhaft im Deutschen etabliert (cf. Kirkness 1975: I, 211 und II , 417). Exkurs: Purismus und Nationalismus im späteren 19. und im 20. Jh. Polenz schreibt zum Zusammenhang zwischen Purismus und Nationalismus: Der Sprachpurismus hat sich in Deutschland - wie in anderen Ländern - immer mit einer politischen Aktivierung des Nationalgefühls zu Höhepunkten gesteigert: Nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach dem Niedergang der napoleonischen Herrschaft, nach der Reichsgründung von 1871 und beim Ausbruch des 1. Weltkrieges. In Deutschland wurde dieser Kampf gegen den fremdsprachlichen Einfluß besonders heftig geführt, da die sprachsoziologische Entwicklung des Deutschen vom Mittelalter her bis ins 18. Jahrhundert von der kulturellen Vorherrschaft des Lateins und des Französischen belastet war, anders als etwa in Frankreich oder England, wo der Weg der Landessprache zur anerkannten nationalen Hochsprache viel früher und leichter möglich war. (Polenz 1967: 80) zeigt wird, lassen seine politisch-ideologischen Aussagen einen beachtlichen Interpretationsspielraum: „Jahn wurde im Nationalsozialismus heroisiert und idealisiert. Dabei ist eine Konzentration auf den männlichen, kraftvollen, aber auch gebildeten Kriegshelden zu beobachten. Zentrale Eigenschaft des stilisierten Helden war zudem seine Opferbereitschaft für das Volk. Jahn erlangte in der Reihe der Kriegshelden einen besonderen Status, da er, wie Hitler, nicht aus dem Adel stammte“ (Wellner 2008: 254). Diese Deutung wurde in der Bundesrepublik zunächst beibehalten, während in der DDR ab 1952 andere Punkte hervorgehoben wurden: „Fremdenhasser oder Völkerfreund? Zwischen diesen beiden Antipoden schwankte die Sichtweise auf Jahn im geteilten Deutschland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die DDR fand zu einem relativ plausiblen und monolithischen Jahnbild zwischen diesen Eckpunkten. Dies lässt sich vereinfachend so rekonstruieren: Grundsätzlich habe Jahn „Bestrebungen, andere Nationen anzufeinden und zu vernichten“ verurteilt und er sei gegen die Vernichtung eines einzelnen Volkstums gewesen. Jahn sah Deutschlands Rolle als Friedensstifter in Europa und er wendete sich gegen jegliches Völkermorden“ (Wellner 2008: 130). 11 Dabei irrt er sich ausgerechnet bei der Etymologie des Wortes turnen , dem er germanischen statt französischen Ursprung zuschreibt (cf. Wellner 2008: 128). Sprachpurismus und Nationalismus bei Friedrich Ludwig Jahn 443 Die zweite puristische Phase des 19. Jahrhunderts nach der postnapoleonischen war geprägt durch die Tätigkeit des 1885 gegründeten Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Anders als in der ersten Phase kam es hier nun tatsächlich zu einer weitreichenden Eliminierung von Fremdwörtern aus der deutschen Sprache (ein prägnantes Beispiel ist die Eisenbahnterminologie, wo Gallizismen wie Coupé , Perron , Billet etc. schließlich amtlicherseits durch deutsche Ausdrücke ersetzt wurden). Außer nationalistischen Motiven spielte dabei z.T. auch die Ablehnung eines elitären, nicht für alle Deutschen verständlichen Wortgebrauchs eine Rolle (cf. Polenz 1967: 80). Nach dem 1. Weltkrieg kehrte man zunächst wieder zu einer toleranteren Einstellung gegenüber Fremdwörtern zurück, doch stieg, wie Polenz (1967: 82) es formuliert, in der Zeitschrift Muttersprache des Sprachvereins im Laufe der zwanziger Jahre „die Fieberkurve des Purismus allmählich wieder an“ und erreichte ihren Höhepunkt nach 1933. Allerdings wurden die puristischen Bestrebungen durch die Nationalsozialisten, deren Fremdwortgebrauch den Sprachreinigern ein Dorn im Auge war, kaum unterstützt bzw. sogar ausdrücklich abgelehnt. Es bestand also die kuriose Situation, dass ausgerechnet die Nationalsozialisten, oder zumindest wichtige Repräsentanten wie Hitler, Goebbels und Himmler (cf. Polenz 1967: 87) durchaus fremdwortaffin waren, was weder mit ihrem Nationalismus noch mit einem Anspruch auf Volkstümlichkeit in Übereinstimmung zu bringen war. Dazu heißt es im Kommentar zu Hitlers Mein Kampf : Überraschend sind […] die annähernd 700 Fremdwörter in Mein Kampf , Begriffe wie „suggestiv“, „Jargon“, „Agitator“, „eklatant“ und „okkupierend“ sollten dem Buch und seinem Autor wohl den Anstrich von Bildung und Belesenheit verleihen - ein Versuch, der eigentümlich mit Hitlers gleichzeitigem Bemühen kontrastiert, keinesfalls zu den als feige, passiv und selbstzufrieden geltenden „Intellektuellen“ gerechnet zu werden. Dass Hitler kein Feind von Fremdwörtern war, geht auch aus einer Äußerung im vertrauten Kreis seiner Mitarbeiter vom 7. März 1942 hervor: „Seien wir doch froh, über möglichst viele Ausdrucksmittel zur Nuancierung zu verfügen! Seien wir dankbar für die Klangfarben der uns zu Begriffen gewordenen Fremdworte! “ [Kommentar] (Hitler 2016: 23) Dies verwundert umso mehr, als Hitler in Mussolini, der den Fremdwortgebrauch im Italienischen zu bekämpfen versuchte (cf. Polenz 1967: 86), ein Vorbild gehabt hätte. Der wegen seines Purismus sowieso kritisch betrachtete Sprachverein fiel 1937 völlig in Ungnade, als bekannt gemacht wurde, dass das Ehrenmitglied Eduard Engel, von Polenz (1967: 94) als der „radikalste[r] aller deutschen Puristen der Wilhelminischen Zeit“ bezeichnet, Jude war. Es erfolgte eine Warnung 444 Barbara Schäfer-Prieß der Reichskulturkammer, durch die die „deutschtümelnden Sprachakrobaten“ belehrt wurden, „daß die Deutschheit aus dem Wesen unseres Volkes und nicht aus einer erdachten Theorie abgeleitet werden muß“ (Polenz 1967: 86-87). In den nächsten Jahren kamen wieder fremdwortfreundliche Stimmen zu Wort, und im 2. Weltkrieg, nach der Besetzung europäischer Länder, glaubte man dann, „,europäischer‘ denken“ (Polenz 1967: 96) zu müssen, was auch zur Abschaffung der deutschen Schrift führte. Im November 1940 wandte sich Hitler in einem Erlass des Reichsministeriums ausdrücklich gegen die Verdeutschung von Fremdwörtern. „Dies war das Ende des deutschen Sprachpurismus, ein Ende durch Verbot von Seiten der politischen Macht, der er ja eigentlich hatte dienen wollen“ (Polenz 1967: 96). Polenz führt die Ablehnung des Purismus durch die Nationalsozialisten darauf zurück, dass die Fremdwörter, mit denen sie (so auch die Einschätzung Victor Klemperers 12 ) der Bevölkerung zu imponieren versuchten, zu ihrem Propagandakonzept gehörten. Mit besonderem Nachdruck wurden archaisierende deutsche Ersatzwörter wie z. B. die germanischen Monatsnamen, die zeitweise in nationalistischen Kreisen wieder verwendet worden waren, bekämpft. So heißt es schon in Mein Kampf : Wenn irgend etwas unvölkisch ist, dann ist es dieses Herumwerfen mit besonders altgermanischen Ausdrücken, die weder in die heutige Zeit passen noch etwas Bestimmtes vorstellen, sondern leicht dazu führen können, die Bedeutung einer Bewegung im äußeren Sprachschatz aufzuzeigen. Es ist dies ein wahrer Unfug, den man aber heute unzählige Male beobachten kann. (Hitler 2016: 925) Im Jahre 1935 verfügte Goebbels entsprechend, dass Begriffe wie Thing, Kult 13 , kultisch sowie die germanischen Monatsnamen aus der Presse verschwinden sollten, sie seien zu altmodisch („überholt und tot“) für die „wirklichkeits- und lebensnahe“ nationalsozialistische Bewegung (cf. Polenz 1967: 98). Man kann Friedrich Ludwig Jahn also zumindest nicht anlasten, in sprachlicher Hinsicht ein Ideengeber der Nazis gewesen zu sein. Tatsächlich hätten seine puristischen und z.T. rückwärtsgewandten Verdeutschungen dort nicht die geringste Chance gehabt. 12 „Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das Dritte Reich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte: ‚Garant‘ klingt bedeutsamer als ‚Bürge‘ und ‚diffamieren‘ imposanter als ‚schlechtmachen‘ (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und auf den wirkt es dann erst recht“ (Klemperer 1980: 15)). 13 Warum der offensichtliche Latinismus Kult (< cultus ) als archaisierender Germanismus betrachtet wurde, lässt sich nicht ermitteln. Dies legt aber nahe, dass eher intuitive Urteile gefällt wurden als dass man auf seriöse etymologische Studien zurückgegriffen hätte. Sprachpurismus und Nationalismus bei Friedrich Ludwig Jahn 445 Was nun die Einstellung der Nationalsozialisten zur Sprache angeht, so fügt der Kommentar der Mein Kampf -Ausgabe von 2016 dem bei Polenz Ausgeführten noch einen wichtigen Aspekt hinzu: Hitler löste die seit Jahrhunderten postulierte enge bzw. notwenige Beziehung zwischen einem Volk und seiner Sprache auf, indem er die „Rasse“ als konstituierendes Merkmal des Volkes betrachtete. Da nun - und vielleicht hat hier der Fall Eduard Engel eine Rolle gespielt - Deutsch auch die Sprache der deutschen Juden war, konnte sie nicht gleichzeitig distinktiv für das deutsche Volk sein. So lautet ein Kommentar in der Mein Kampf -Ausgabe von 2016: Mit dem Aufkommen des biologischen Rassismus veränderte sich auch das Verständnis von Sprache. Hatten die Philosophen der Aufklärung noch verkündet, die Sprache sei das wichtigste Merkmal einer Nation, behaupteten völkische Rassisten nunmehr, lediglich das Blut bzw. die „Rasse“ habe Bestand; die Sprache sei hingegen ein „Gewand“, das gewechselt werden könne. ([Kommentar] Hitler 2016: 814) Dies mag neben den genannten praktischen Erwägungen auch dazu beigetragen haben, dass ausgerechnet die nationalistischste Regierung der deutschen Geschichte den Ideen von Pflege und Reinhaltung des Deutschen desinteressiert oder sogar feindlich gegenüberstand. 6 Fazit Jahn gehört mit seinem noch vorrangig emanzipatorischen Patriotismus bzw. Nationalismus zu den frühen Protagonisten einer wenn auch diskontinuierlichen und heterogenen Tradition, in der Purismus und Nationalismus eng verbunden sind und die ihren Höhepunkt zwischen der Reichsgründung (1871) und dem 1. Weltkrieg (1914-1918) erreicht. Dass ausgerechnet die Nationalsozialisten mit dieser Tradition brachen und die bis dahin übliche Assoziation von Volk und Sprache explizit auflösten, ist ein Umstand, dessen genauere Hintergründe einer näheren Betrachtung wert wären. Literatur Primärliteratur Heine, Heinrich (1997): Die Harzreise . Mit einem Nachwort von Friedrich Sengle. Textrevision und Anmerkungen von Manfred Windfuhr. Stuttgart: Reclam (= Universal- Bibliothek, 2221). Hitler, Adolf (2016): Mein Kampf . Herausgegeben von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel. Unter Mitarbeit von Edith Raim, 446 Barbara Schäfer-Prieß Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Mooser. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte. München / Berlin: Institut für Zeitgeschichte. Jahn, Friedrich Ludwig (1806): Bereicherung des hochdeutschen Sprachschatzes versucht im Gebiethe der Sinnverwandtschaft. Ein Nachtrag zu Adelung's und eine Nachlese zu Eberhardʼs Wörterbuch . Leipzig: Böhme. 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Les passages en roman sont un mélange de différents dialectes, l’attribution à une famille de langues n’est pas toujours claire. Cette contribution vise à proposer une attribution plus concrète à l’aide des corpus Nouveau corpus d’Amsterdam (pour l’ancien français) et OVI Opera del vocabolario italiano (pour l’ancien italien). 1 Entstehungsgeschichte Als Entstehungszeit des Codex Buranus wird die Zeit um 1230 angenommen, Entstehungsort ist vermutlich Südtirol, diskutiert wurde auch eine mögliche Herkunft aus Kärnten oder der Steiermark, die aber aufgrund sprachlicher Fakten mittlerweile ausgeschlossen wird (zur Diskussion cf. Steer 1983). Unterscheiden lassen sich zwei Schreiber h1 und h2, deren Herkunft und Muttersprache umstritten sind. CB 118 wurde von h2 niedergeschrieben, vermutlich als Kopie eines im französischen Sprachraum entstandenen Originals. Vollmann (1987: 1104) nimmt einen deutschen Schreiber an, da die „nicht immer der Schulgrammatik [entsprechenden Partien] gewiß weitgehend auf Unkenntnis des deutschen Schreibers zurückzuführen [sind]“. Sayce (1992: 63) vermutet in h2 dagegen einen romanischen Schreiber, dessen Muttersprache die langue d’oïl 450 Frank Paulikat ist. 1 Bertoni 1912 nimmt wiederum an, dass CB 94, 95 und 118 aufgrund des Erhalts des auslautenden - a in dama (afrz. dame ), amia (afrz. amie ) und zevaleria (afrz. chevalerie ) sowie der dem friaulischen plànzi entsprechenden Form planszer (afrz. plaindre ) zunächst im lombardisch-friaulischen Sprachraum zirkuliert sein muss, bevor es in die CB aufgenommen wurde (oder h2 einen norditalienischen Dialekt als Muttersprache hatte). Das Gedicht steht in der Gruppe der Liebesklagen (CB 103-131), hier in der der Strophenlieder (CB 110-121). Hilka (1941: 195) definiert das Thema des Gedichts als „quälende Zweifel eines in Frankreich Studierenden an der Treue der in der Heimat (Deutschland? ) zurückgelassenen Geliebten, Ringen mit dem Entschluß, Studium und Studiengenossen zu verlassen und heimzukehren“. Vollmann (2011: 1104) vermutet, „dass der ausländische Dichter ( exul ) das Französische nicht vollkommen beherrschte oder dass ein (französischer) Student sich den Spaß erlaubte, einem ausländischen Kommilitonen (dem er seine französische Freundin missgönnte? ) ein Gedicht in den Mund zu legen, das ihn als erfolglosen Liebhaber und als sprachunkundigen Barbaren bloßstellen sollte“. Offensichtlich handelt es sich hier vor allem in den romanischen Passagen um eine Parodie mit Versatzstücken aus der bekannten Troubadour- und Trouvèredichtung. 2 Vergleich der Texteditionen Das Manuskript wird in der Bayerischen Staatsbibliothek unter der Signatur clm 4660 aufbewahrt, ein Scan steht seit 2014 online zur Verfügung. Der Text der Carmina Burana wurde zuerst nach der Entdeckung des Manuskripts 1803 vollständig von Johann Andreas Schmeller 1847 ediert. 2 Die erste textkritische Ausgabe mit umfangreichem Apparat, in der auch die noch heute gültige Zählung der Lieder vorgenommen wurde, stammt von Alfons Hilka und Otto Schumann auf der Basis der Vorarbeiten von Wilhelm Meyer aus dem Jahr 1930 (mit neuhochdeutscher Übersetzung von Hugo Kuhn 1974). Die - neben zahlreichen Vulgarisierungen und Bearbeitungen - heute verbreitete Edition stammt von Klaus Vollmann (ausführlicher zur Editionsgeschichte cf. Vollmann 1987: 915-923). Teileditionen von CB 118 liegen zudem von Bartsch (1871) und Sayce (1992) vor. 1 Sayce (1987: 63) schreibt: „Like the first scribe, the second scribe can be shown to be a Romance speaker, but in this case all the evidence, direct and indirect, indicates that his native tongue is the langue d’oïl of Northern France.“ Für wertvolle Hinweise danke ich Herrn Klaus Vogelsang (Universität Augsburg). 2 Die Edition von Schmeller ist online verfügbar auf der Homepage der bayerischen Staatsbibliothek (cf. Carmina Burana 1847). Die Zusammengehörigkeit der Textpassagen 82v und 50r wurde von Schmeller noch nicht erkannt, so dass sich das Gedicht auf zwei Textpassagen aufteilt. Romanisches in der Carmina Burana 451 Das Lied ist im Manuskript auf zwei Blätter verteilt, wobei sich f. 82v die Textstelle von Z. 1 ( Doleo quod nimium …) bis Z. 5 der Edition (… si non redit gaudium ) befindet, während f. 50r mit Z. 6 ( cui tant a ben ) beginnt. Diese Einteilung ergibt sich offenbar aus einer früheren Umkollationierung, bei der die Seiten vermutlich im 15. Jahrhundert neu gebunden wurden und damit der Zusammenhang auseinanderfiel. Der Originaltext zeigt keine Verseinteilung, die von den Editionen aus metrischen Gründen bzw. zur Hervorhebung der romanischen Textpassagen eingeführt wurden (hier zur Übersichtlichkeit beibehalten). Abb. 1: Carmina Burana 118 [online: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0008/ bsb00085130/ images/ ; letzter Zugriff am 25. 11. 2017] 452 Frank Paulikat Hilka 1941 Vollmann 1987 Sayce 1992 1234567 910 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 I. Doleo, quod nimium patior exilium. pereat hoc studium, si m’en iré, si non redit gaudium, cui tant abé! III. Prohdolor, quid faciam? ut quid novi Franciam? perdam amicitiam de la gentil? miser corde fugiam de cest pays? IV. Cum venray in mon pays, altri drud i avra bris. † podyra mi lassa dis me miserum! suffero par sue amor supplicium. V. Dies, nox et omnia michi sunt contraria. virginum colloquia me fay planszer. † oy suvenz suspirer plu me fay temer. VI. O sodales, ludite! vos qui scitis, dicite; michi mesto parcite: grand ey dolur! attamen consulite per voster honur! VII. Amia, pro vostre amur doleo, suspir et plur; par tut semplant ey dolur grande d’amer. Fugio nunc; socii, lassé m’aler! II. Tua pluchra facies me fay planser milies; pectus habet glacies. a remender statim vivum fierem per un baser! I. DOLEO quod nimium pacior exilium. pereat hoc studium! si m ‘en ire, si non redit gaudium, cui tant ab e . II. Proh dolor, quid faciam? ut quid noui Franciam? perdo amicitiam de la se gentil, miser corde fugiam de ces t pay s . III. Cum ueray in mo n pays, altri drud i aura bris. po dyra: mi lass a dis! me miserum! suffero per su amor supplicium. IV. Dies, nox et omnia michi sunt contraria, uirginum colloquia me fay planszer; oy suuenz suspirer - plv s me fay temer. V. O sodales, ludite! uos, qui scitis, dicite, michi mesto parcite, grand ey dolur! attamen consulite per uoster honvr! VI. Amia, pro uostre honur doleo, suspir et plu r ; per tut semplan ey grande dolur de am e r. fugit t e nunc socii lasser a m er! VII. Tua pulchra facies me fey planser milies, pectus habens glacies a remender. statim uiuus fierem per un baser! I. Doleo, quod nimium pacior exilium. pereat hoc studium siuenire, si non redit gaudium cui tant a ben. II. Prohdolor, quid faciam ut quid noui Franciam. p(er)do amicitiam de la segentil. miser corde fugiam decespay. III. Cum ueray in montpays, atridrudi aurabris. podyra mi lassa dis. me miseru(m) suffero p(er)su amor supplicium. IV. Dies, nox (e)t omnia michi sunt contraria. uirginum colloquia me fay planszer. oy suuenz suspirer plu me fay temer. V. O sodales, ludite uos qui scitis, dicite, michi mesto parcite. grand ey dolur attamen consulite per uoster honur VI. Amia, p(ro) uostre honur doleo, suspirer plu per tut semplan ey grande dolur de amur. fugite nunc, socii, lassem aller. VII. Tua pulchra facies me fay planser milies, pectus habens glacies aremender statim uiuus fierem per un baser! Tab. 1: Vergleich der Texteditionen Romanisches in der Carmina Burana 453 Vollmann übersetzt folgendermaßen: Ich bin unglücklich, weil ich schon allzulang / unter der Verbannung leide. / Zum Teufel mit dem Studium! / Ja, ich ziehe fort, / wenn sie mir keine Freude schenkt, / nach der ich mich so sehr sehne. Weh und Ach! Was soll ich tun? / Warum mußte ich Frankreich kennenlernen? / Verliere ich die Freundschaft / dieses edlen Mädchens, / werde ich mit traurigem Herzen / aus diesem Land fliehen. Wenn ich dann in meine Heimat reise, / hat sie vielleicht einen anderen Geliebten genommen. / Nur dies wenige wird sie sagen: Laß mich / für immer in Ruhe! / O ich Unglücklicher! Wegen meiner / Liebe zu ihr erleide ich Todesqualen. Der Tag, die Nacht und überhaupt alles / ist gegen mich. / Mädchengeplauder - / das ruft bei mir Tränen hervor; / oft höre ich sie seufzen - dies / verstärkt noch meine Befürchtungen. Ach, ihr Freunde, vergnügt euch nur, / macht Gedichte - ihr versteht euch darauf -, / aber laßt mich Unglückseligen damit in Frieden / - ich empfinde großen Schmerz! / Doch steht mir bei / um eurer Ehre willen! Freundin, um Eurer Ehre willen / leide, seufze und weine ich. / An meinem ganzen Körper habe ich große Schmerzen, / die von der Liebe herrühren. / Du bemerkst nicht, wie dein Freund / jetzt in Bitternis abgekämpft ist. Dein schönes Antlitz / entlockt mir Ströme der Tränen / und deine Brust, die kalt wie Eis ist, / wenn es darum geht, Trost zu spenden. / Doch ein einziger Kuß würde mich wieder / zum Leben erwecken! Während die Edition von Sayce weitgehend diplomatisch ist und nur behutsam Worttrennungen einfügt, differieren die älteren Editionen von Hilka und Vollmann teilweise stark, häufig mit dem Anliegen der „Verbesserung“ des trotz einiger verderbter Stellen gut lesbaren Originals in Metrik und Grammatikalität. Hier spielt offenbar auch die Vorstellung der grundlegenden romanischen Sprache eine Rolle, insbesondere bei Hilka und Vollmann werden einige Passagen stark französiert. 3 Kommentar der romanischen Textpassagen Sayce (1992: 72-79) unterscheidet in CB 118 lateinische, okzitanische, französische und italienische Passagen, wobei sie auf zahlreiche vergleichbare Belege aus okzitanischen Quellen der Troubadourlyrik verweist. Die Zuweisung der französischen und italienischen Formen bleibt allerdings häufig pauschal. Eine 454 Frank Paulikat dialektale Differenzierung der altfranzösischen sowie altitalienischen Formen unterbleibt. Ihre Ausführungen zum Italienischen berufen sich mit Contini (1960) sowie Panvini (1962 / 1964) auf Textsammlungen, Wiese (1904) entspricht nicht dem Forschungsstand von 1992, zudem wird häufig eine standarditalienische - häufig zudem neuitalienische - Form postuliert. Die Ausführungen von Sayce sollen im Folgenden systematisch überprüft werden. Hierzu wurde das altfranzösische Textkorpus Nouveau corpus d’Amsterdam herangezogen, für das Italienische die Datenbank des Opera del Vocabolario Italiano OVI und für das Okzitanische das DAO / DAG . Bei Z. 4 siuenire ‚wenn ich reise (Vollmann)‘ steht - e offenbar wie Sayce annimmt phonetisch für - ai als Flexionsendung des Konditional. Hilka vermutet eher ein Futur ( si veniré ) und rekonstruiert eine in der französischen Vorlage belegte Form si m’en iré , zudem interpretiert er si als Konjunktion: ‚und ich werde fortgehen‘. Der Kopist hätte hier also durch das irrtümliche Ersetzen eines u für m an eine italienische Infinitivform uenire gedacht. Ebenso zu uenire gehört die Form Z. 15 ueray , bei der eindeutig ein analytisches Futur auf - ay erkennbar ist. Die rätselhafte Z. 6 cui tant a ben könnte ebenfalls auf eine Umformulierung des Kopisten zurückgehen und eine häufig belegte Form cui tant amet zugrunde liegen. Z. 11 de la segentil geht vermutlich auf das italienische gentile zurück, altfranzösisch wäre als Adjektiv gente , hier also de la si gente . Hilka und Vollmann ergänzen Z. 13 bei decespay das den Obliquus Singular des Demonstrativpronomens markierende - t und ergänzen entsprechend - s bei pay , das im Manuskript nicht erscheint. Problematisch wird die Passage, wenn man einen Reim mit gentil Z. 11 annimmt. Vermutlich wurde hier das auslautende - s aus Analogie zu Formen des Obliquus Singular ausgelassen (und dies wohl schon im Original). Das bei mont (Z. 14) an das Personalpronomen mon angehängte -t bereitet einige Interpretationsschwierigkeiten. Etymologisch lässt sich der Buchstabe nicht erklären, ebenso ergibt sich eine für die romanischen Sprachen untypische Häufung von drei aufeinanderfolgenden Konsonanten, was gegen eine Epenthese spricht. Möglich wäre ein Unverständnis der Textpassage durch den Kopisten, der an die häufigere Form mont < mundum gedacht haben könnte, was allerdings ein völliges Unverständnis des Textabschnitts bedeuten würde. Sayce (76) liest altridrudi (Z. 15) als Pluralform von it. altro drudo , Hilka und Vollmann trennen das auslautende i als Adverb ab, was allerdings zu einer fehlenden Pluralmarkierung des Nomens führt, die in keiner romanischen Sprache üblich wäre (okzitanisch wäre im Obliquus Plural drutz , altfranzösisch drus ), aber offenbar dem Anliegen entspricht, eher französische und okzitanische Formen zu sehen. Im Italienischen ist die Form drudo relativ häufig belegt, der Romanisches in der Carmina Burana 455 OVI führt 55 Treffer an, vor allem im norditalienischen Sprachraum und in der Toskana. Die Wendung autres drutz ist häufig in der Troubadourlyrik belegt, so bei Folquet de Marseille und Peire d’Alvernha. 3 Der Kopist neigt offenbar zu einer spontanen Sonorisierung satzphonetisch zwischenvokalischer stimmloser Konsonanten, wie Z. 15 aurabris ( aura pris ), die sich auch in einigen Verbesserungen im Manuskript zeigt (z.B. Z. 14 montpays und Z. 23 fayplanszer , bei denen früheres b zu p korrigiert wurde). Besonders problematisch erscheint die Form podyra (Z. 16). Sayce (76s.) sieht hier die dritte Person Singular Futur von potere mit einer analogen Infinitivbildung auf - ir , was allerdings recht unwahrscheinlich ist. Wahrscheinlicher erscheint eine zusammengesetzte Form aus dem Adverb po[i] in Verbindung mit der dritten Person Singular Futur dira (Vollmann interpretiert offenbar po[co] dira ). Das nachfolgende mi lassa dis wäre dann als direkte Rede zu verstehen, wobei a dis nach Sayce als ades ‚nun, für immer‘ zu interpretieren ist. Bartsch liest poder ai „mi las! “ a dir , Hilka schlägt als alternative Lesart po dura, laissa jadis ‚kurze Zeit nur blieb sie treu, schon längst gab sie (mich Armen) auf ‘ vor. Die Form suffero (Z. 18) wird in den Editionen als lateinische Form im romanischen Kontext markiert, wahrscheinlicher ist hier eine Kreuzung der italienischen Form soffero mit dem französischen souffrir . Bei per su amor lässt sich durch die Elidierung des auslautenden Vokals beim Personalpronomen das Genus von amor nicht feststellen, was zu einer Differenzierung einer italienischen (männlich) und einer französisch / okzitanischen Form (weiblich) geführt hätte. Die Formen planszer (Z. 23) und planser (Z. 39) sind für Sayce (76) norditalienisch, planser erscheint allerdings nur in einem marchegianischen Text ( Laude della Scuola Urbinate ), 4 planszer ist nicht belegt. Bertoni (1912: 44) verweist auf eine bei Pirona belegte friulanische Form plànzi und vermutet daher eine Verbindung des Manuskripts mit dem friulanischen Sprachraum. Französisch ist die Passage oy suuent suspirer plu me fay temer (Z. 24 / 25) übersetzt von Vollmann ‚ich höre Seufzen und Weinen‘, suspirer plu liest Sayce ebenso wie Hilka und Vollmann als konjunktional verbundene Nomina suspir et plur , wobei trotz des offensichtlichen Obliquus Plural hier keine wie im Altokzitanischen und Altfranzösischen übliche Markierung durch auslautendes -s stattfindet ( suspirs et plurs ), zudem wäre die altfranzösische Entsprechung eher suspirs et lermes . Hybrid ist me fay temer (Z. 25), da temer vor allem norditalienisch und toskanisch belegt ist (im OVI 146 Belege), aber nicht im Französischen 3 Zu Folquet de Marseille cf. Harvey / Paterson (2010: 368); zu Peire d’Alvernha cf. Zenker (1977: 737). 4 Cf. dazu Bettarini (1960: 539). 456 Frank Paulikat vorkommt (im Gegensatz zur Annahme von Sayce, die temer als französisch identifiziert). Dem Reim und Versmaß entsprechend wäre eine Zäsur nach suspirer sinnvoll: oy suuenz suspirer, plus me fay temer ‚ich höre oft Seufzen, (noch) mehr läßt (es) mich erschaudern‘. Französisch ist grand ey dolur (Z. 29) und per uoster honur (Z. 31), mit dem Versatzstücke aus der Trouvèrelyrik aufgenommen werden. Im Französischen ist dolur häufig mit dem Adjektiv grant belegt, aber auch italienisch bei Bonvesin de la Riva. 5 Auffällig ist hier wieder die Sonorisierung des - t , vermutlich assimilierend zum folgenden stimmhaften Konsonanten. Im Gegensatz zur fast gleichlautenden Z. 23 ist suspirer plu[r] in Z. 33 die Verbindung zweier konjugierter Verbformen. Aufgrund des Reims ist - r zu ergänzen. Strophe VI / VII entspricht em ehesten der okzitanischen Liebeslyrik. Die klassischen Reime honur / plur / dolur / amur werden hier in vier aufeinanderfolgenden Zeilen genutzt. Z. 32 amia ist vor allem im norditalienischen Sprachraum belegt (allerdings in der Bedeutung ‚Tante‘ TLIO s.v. amita ), denkbar ist hier eine latinisierende oder italianisierende Form des afrz. amie . Auffällig ist die Entsonorisierung von - bl - zu - pl - in semplan (Z. 34, Hilka ergänzt altfranzösisch auslautendes - t , okzitanisch wäre auslautendes - s zu erwarten), die ausschließlich im Altokzitanischen belegt ist ( DAG 1,1100 sowie FEW 11,626a). Z. 29 nimmt dann das bereits in Z. 23 ey grande dolur , diesmal umgestellt und direkt gereimt mit amur , wieder auf. Die Editionen von Hilka und Vollmann verändern u in e und damit die Wortart, was allerdings durch den Kontext nicht notwendig ist (offenbar erscheint der Reim hier zu reich). Bei Z. 37 lassem aller sieht Sayce einen auf - e verkürzten Imperativ des altfranzösischen laissiez m’aller (entsprechend ediert Hilka lassé m’aller ). Im Manuskript erscheinen unter dem ersten aller Tilgungspunkte, die in den Editionen (außer bei Schmeller) berücksichtigt wurden. Z. 39 me fay planser nimmt Z. 23 orthographisch variiert wieder auf. Z. 23 planszer wird in der Orthographie planser wiederholt, was aber vermutlich die gleiche phonetische Realisierung wiedergibt. Sayce führt aremender (Z. 41) auf afrz. remender zurück, das allerdings nicht belegt ist. Hilka legt hier afrz. au racointier ‚beim Wiederbegegnen‘ zugrunde. Möglich ist allerdings auch a ramender ‚wiedergutzumachen‘ ( TL s.v.) oder ein okzitanisches remanre ‚zurückbleiben‘. Bei Z. 43 per un baser ist im Vergleich zu afrz. baisier das Fehlen der beiden Diphthonge auffällig, das bei Sayce angeführte baiser ist im Altfranzösischen allerdings nur einmal belegt. 5 Zu Bonvesin da la Riva cf. Contini (1941: 138). Romanisches in der Carmina Burana 457 4 Zusammenfassung Aufgrund der Thematik und der sprachlichen Charakteristika der romanischen Textpassagen ist anzunehmen, dass dem Text ein von einem französischsprachigen Schreiber verfasstes Original zugrunde lag. Die zahlreichen italienischen Einflüsse lassen aber vermuten, dass h2 aus dem italienischen Sprachraum stammt, den Text ohne tiefergehendes Verständnis der französischen und okzitanischen Passagen kopiert hat und dabei phonetische, morphologische und lexikalische Charakteristika seiner Muttersprache einfließen ließ. Literatur Editionen Carmina Burana (1847): Lateinische und deutsche Gedichte einer Handschrift des 13. Jahrhunderts aus Benedictbeuern. Hrsg. von Andreas Schmeller. Stuttgart: Literarischer Verein [online: https: / / babel.hathitrust.org/ cgi/ pt? id=mdp.39 015 059 701 444; view=1up; seq=5; letzter Zugriff am 25. 10. 2017]. Carmina Burana (1941). Mit Benutzung der Vorarbeiten Wilhelm Meyers. 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Les lettres de suppliques sont écrites dans un français qui n’appartient pas à la catégorie sociale supérieure, qui est utilisé hors de France et qui représente plutôt un français datant du XVIIe siècle. Cette étude est composée d’une analyse linguistique exemplaire (graphie et syntaxe) ainsi que d’une analyse de la structure des suppliques. Une datation de ces lettres sera également proposée, vu qu’il est indiqué dans les archives qu’il s’agit de manuscrits non datés. Le français utilisé peut être décrit comme un français écrit plutôt phonétiquement, mais cependant assez correct au niveau grammatical. On peut en déduire que celui qui écrit ou le signataire maîtrise la langue française à l’oral, mais que, dès qu’il est obligé de passer à l’écrit, il ne parvient plus à appliquer les règles d’orthographe et de syntaxe qu’il n’a pas apprises ou qu’il ne connaît que superficiellement. De plus, on constate que la structure des suppliques suit un schéma strict ; elles emploient des formules de politesse assez répétitives, ce qui laisse penser qu’un modèle de lettre a été utilisé. 1 1 An dieser Stelle möchte ich Frau Dr. Susanne Wolf vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv dafür danken, dass sie mich zu den vorliegenden Bittschriften gebracht hat. Außerdem gilt mein Dank Frau Dr. Britta Kägler (Abteilung für Bayerische Geschichte der Ludwig- Maximilians Universität München) für die gewinnbringende Diskussion. 460 Matthias Schöffel 1 Einleitung […] Jée prit lardiese hier 26 giemme Julliet 1703 de me mettre au piée de Madame la prent sesse pour suppliyé dentersédée ä ma faveur au prêt de vottre A.l.E. tres Serée Nisime Madame ä fent que je puise ettre re tirée de la miger se qui serat coge que vos Jaltesse he lecque toral conetteront le gel et lestime que gée tou jou he hu pre Mie re ment […]. (Bay HS tA 708 1 / 3) So beginnt Jacques Aubert, ein Bittsteller zu Beginn des 18. Jahrhunderts seinen an Therese Kunigunde von Bayern gerichteten Bittbrief. Aus dem weiteren Verlauf wird ersichtlich, dass er um ein Zimmer, Essen und Trinken bei der Kurfürstin bittet. Die Feststellung, dass diese und weitere Bittschriften auf Französisch verfasst sind, scheint zunächst trivial zu sein. Aber angesichts der Tatsache, dass sich Untertanen in Bayern um ein Französisch bemühen, stellt sich die Frage, warum überhaupt die Bittschriften auf Französisch angefertigt worden sind. Die vorliegende Arbeit möchte einen Einblick in ein Französisch geben, das nicht von einer Oberschicht stammt und darüber hinaus außerhalb Frankreichs verfasst wurde. Zunächst wird eine knappe Übersicht zur Forschungslage gegeben, der die Vorstellung der 45 Bittschriften folgt. Da sie undatiert sind, wird ein zeitlicher Rahmen für die Abfassungszeit mit der Absicht vorgeschlagen, das Französisch zeitlich einordnen zu können. Im Anschluss daran geht es speziell um Therese Kunigunde von Bayern (1676-1730) und die Situation des Französischen während ihrer Zeit in München. Abschließend werden exemplarisch markante Merkmale des Französischen in den Bittschreiben vorgestellt, bevor ein Fazit gezogen wird. 2 Aktuelle Forschungslage Die Forschungslage wird aus der Sicht der semicolti -Forschung und der Briefstellerliteratur betrachtet. Hinzu kommt eine allgemeine Darstellung der Situation des Französischen außerhalb Frankreichs. 2.1 Aus der Sicht der semicolti-Forschung Zunächst ist auf die Forschungslage zum Phänomen der semicolti hinzuweisen. Dabei handelt es sich um Schreiber, die per definitionem zwar alphabetisiert sind, aber sich nicht regelmäßig mit der Schriftkultur auseinandersetzen müssen. In der Forschung werden die in den Texten solcher Schreiber festzustellenden Abweichungen von der Norm meist als Defizit betrachtet. Zu den Ersten, die sich Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 461 mit diesem Untersuchungsgegenstand befassten, gehört Spitzer ([1921] 1976), der als Wegbereiter der semicolti -Forschung in der Italianistik gilt und sich mit der Analyse von Briefen italienischer Kriegsgefangener beschäftigt hat. Der Begriff semicolti wurde hingegen erst später geprägt und geht auf Francesco Bruni (1978) zurück. Berruto (1983) wertet Texte von semicolti im Rahmen eines sprachlichen Vereinfachungsprozesses in Bezug auf die Strukturierung und Kodierung aus. Neben dem aktuellen Standardhandbuchartikel von D’Achille (1994) zum italiano dei semicolti beschäftigt sich in neuester Zeit beispielsweise Testa (2014) mit diesem Phänomen. In seiner Arbeit zielt er darauf ab, die Zeugnisse der semicolti im Kontinuum zwischen der italienischen Kultursprache und den Dialekten einzuordnen. Auch in der Hispanistik entstanden Arbeiten zur semicolti -Forschung. So beschäftigt sich Stoll (1997) mit den diskurstraditionellen und textpragmatischen Aspekten spanischer Konquistadoren als neue Trägergruppe für die Historiographie. Außerdem ist Oesterreicher (1994) zu nennen, der sich der Schreibkompetenz von semicultos im Rahmen der indianischen Historiographie widmet. Schaut man sich nun die frankoromanistische Forschung an, so finden sich ebenso nur wenige Beiträge. Hier sei vor allem auf die frühen Arbeiten von Prein (1921) und Frei (1929) verwiesen. Ihr Fokus liegt dabei ebenfalls auf Soldatenbriefe. Ähnlich verhält es sich bei der aktuellen Untersuchung von Schrott (2015). Neueren Datums ist die Arbeit von Massicot (2017), deren Augenmerk im Gegensatz zu Spitzers (1976) Defizit-Ansatz darin liegt, dass sie diejenigen Strategien herausarbeitet, die im Sinne des Verfassers zum Erreichen seiner Kommunikationsabsichten zielführend sind. Außerdem werden im Rahmen des DFG -Projekts Corpus Historique du Substandard Français ( CHSF ) unter der Leitung von Harald Thun an der Universität Kiel Unterschichtenprivatbriefe aus ganz Frankreich untersucht. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich hierbei von 1789-1918, d. h. von der Französischen Revolution bis zum 1. Weltkrieg (cf. Thun 2011). 2 Schließlich wurden im DFG / FWF -Projekt Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaisers Rudolfs II . (1576-1612) innerhalb einer Kooperation zwischen der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Karl-Franzens-Universität Graz Bittschriften systematisch erfasst und in einer Datenbank präsentiert. Der Fokus dieser Arbeit bestand in der Rekonstruktion, Analyse und Erklärung des Handlungsmusters zwischen dem Kaiser und den Untertanen (cf. Haug-Moritz 2015). 2 Zu den jeweiligen Projekten und Forschungsansätzen von Massicot sowie Thun cf. auch deren entsprechende Beiträge in vorliegendem Sammelband. 462 Matthias Schöffel 2.2 Aus der Sicht der Briefstellerliteratur Betracht man Bittbriefe als Subkategorie der Brieftheorie, so ist die Überblicksdarstellung von Steinhausen (1889) zu nennen, der sich vor allem auf den deutschsprachigen Raum konzentriert. Ein weiteres wichtiges Werk in diesem Zusammenhang ist von Nickisch (1969) verfasst worden. Dabei geht er unter anderem auf den französischen Einfluss auf die deutsche Briefstellerliteratur ein. Im Bereich der neueren Forschung ist in diesem Zusammenhang auf Große (2003) und Furger (2010) hinzuweisen. Große (2003) untersucht französische Briefsteller auf diskurstraditionelle Gemeinsamkeiten hin, indem sie exemplarisch einen Briefsteller jeweils aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert betrachtet. Furger (2010) geht auf die Gattung Briefsteller aus dem 17. und 18. Jahrhundert ein. Die von Große (2017) kürzlich erschienene Arbeit zur Briefstellerliteratur vom 16. bis in das 21. Jahrhundert wurde für diese Arbeit noch nicht berücksichtigt. Bei den bisherigen Untersuchungen fällt jedoch auf, dass die jeweilige Sprache vor allem im Land selbst untersucht wird. Wie aber beispielsweise das Französische im Kontext der semicolti von Sprechern außerhalb Frankreichs aussieht, bleibt gänzlich offen. Einerseits kann das Französische von Sprechern verwendet werden, die Französisch als Muttersprache haben und nach Deutschland gekommen sind. Anderseits kann es sich um ein erlerntes Französisch durch Französischunterricht handeln (cf. Kuhfuß 2014). Es kann zudem auch durch die Konsultation von zweisprachigen Briefstellern geprägt sein, wie sie in Bayern durchaus im Umlauf gewesen sind (cf. Glück 2013). 2.3 Allgemeine Situation des Französischen im Deutschland des späten 17. Jahrhunderts Nach einer kurzen Übersicht zur Forschungslage aus der Sicht der semicolti - Forschung und als Teil der Briefstellerliteratur fehlt der Aspekt der Bedeutung des Französischen außerhalb Frankreichs. Auch wenn der französische Einfluss auf die deutsche Sprache vielschichtig ist, lassen sich im Zusammenhang dieser Analyse wichtige Einflussfaktoren benennen und kategorisieren. Allgemein lässt sich feststellen, dass der Einfluss des Französischen auf das Deutsche im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts stetig gestiegen ist. Hierbei spielt der französische Hof unter Ludwig XIV . eine entscheidende Rolle. Nach dem 30-jährigen Krieg befindet sich das Heilige Römische Reich in einem locker verbundenen Staatenbund von ca. 350 Höfen (cf. Kuhfuß 2008: 341). Bedenkt man, dass das Deutsche noch keine einheitliche Schriftsprache aufweist, wird Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 463 schon hier plausibel, dass Französisch als ein überregionales Kommunikationsmittel aufgrund seiner Standardisierung Verwendung findet. Auf politischer Ebene wird Frankreich als Vorbild betrachtet. Seit dem Pyrenäenfrieden von 1659 löst Frankreich Spanien als Hegemonialmacht in Europa ab. Der höfische Absolutismus wird zum Vorbild für alle Fürsten in Europa. Im gesellschaftlichen Bereich spielt der honnête homme 3 als ein Ideal an deutschen Höfen ebenso eine zentrale Rolle. Der als gebildet, galant und höflich zu charakterisierende Kavalier gilt als neue Richtlinie in Europa, wobei Paris bzw. Versailles als Zentrum angesehen wird. Die Sprachpolitik unter Ludwig XIV . fordert das Französische in Deutschland, wie folgendes Zitat von Colbert, contrôleur général unter Ludwig XIV , zeigt. Es soll von Kindheit an Französisch in Deutschland gelernt werden. Comme il est de consequence d’accoustumer les peuples des pays cédés au Roy par le traité de Munster à nos mœurs et à nos coustumes, il n’y a rien qui puisse y contribuer davantage qu’en faisant en sorte que les enfants apprennent la langue françoise, afin qu’elle y devienne aussy familière que l’allemande […]. (Brunot 1917: 111-112). In Deutschland selbst werden bereits Kinder nach Frankreich geschickt, um dort Französisch auf Kavalierstouren zu lernen. Außerdem werden Hauslehrer und Gouvernanten angestellt, um die Sprache des Nachbarlandes zu erlernen (cf. Kuhfuß 2014). Ebenso tragen Ritterakademien zur Verbreitung des Französischen in Deutschland bei. Dort erlernen Adelige nicht nur Fechten, Reiten und Tanzen, sondern auch Französisch. Wie sich zeigen wird, stellt Max Emanuel (1662-1726, Kfs. 1679-1726) in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Im Zeitraum von 1600-1800 finden Lehrbücher einen großen Absatz in Deutschland, wie folgende Tabelle 1 zeigt. Zeitraum Zahl der Editionen 1601-1650 56 1651-1700 106 1701-1750 170 Tab. 1: Anzahl der Französischlehrbücher nach Stengel (1976) und Chervel (2006: 137) 3 Das französische Konzept des honnête homme , welches vor allem ab dem 17. Jh. in Europa rezipiert wurde, hat sein Vorbild in Italien und wurde maßgeblich durch den Cortegiano (1528) von Baldassare Castiglione (1478-1529) beeinflusst, der im 16. Jh. u.a. in Frankreich weite Verbreitung fand. 464 Matthias Schöffel Auch im Bereich der Literatur nimmt die Zahl der auf Französisch verfassten Werke zu (cf. Christ 1996). Man erlernt Französisch jedoch nicht nur aus rein anwendungsbezogenen Gründen, sondern auch aus Prestigegründen, wie Polenz (2013) zusammenfasst: „Die Landesfürsten dagegen benutzen das Französische zur Symbolisierung ihrer modernisierenden Souveränitätsauffassung gegen die Reichsgewalt und um international etwas zu gelten“ (Polenz 2013: 68). In diesem Zusammenhang spielt das Konsumverhalten deutscher Fürstenhöfe hinsichtlich moderner Luxuswaren aus dem fortschrittlichen Frankreich aufgrund seines merkantilistischen Systems eine wichtige Rolle (cf. Massicot 2015): „Hier war also […] modernisierendes europäisches Kulturprestige das Motiv für den Gebrauch des Französischen“ (Polenz 2013: 68). Man erkennt hier deutlich die Übermacht des Französischen in Europa. So gilt Französisch als Konversations- und Briefsprache des Adels (cf. Lieselotte von der Pfalz) sowie als lingua franca der europäischen Oberschichten auf ihren Reisen und ihre Bedeutung als Wissenschaftssprache (z. B. Leibniz). Polenz (1994) stellt in diesem Zusammenhang zum Spracheinfluss des Französischen auf das Deutsche fest, dass er „noch stärker gewesen [sei] als der heutige angloamerikanische“ (Polenz 1994: 50). Mattheier (1995) schwächt diese Ansicht jedoch ab, indem er sagt, dass das „Französische weniger gebraucht [worden sei] als es die Quellen suggerieren“ (Mattheier 1995: 477). Aufgrund der selektiven Wahrnehmung von französischen Berichterstattern beispielsweise entsteht ein verzerrtes Bild der französischen Sprache innerhalb Deutschlands. Hier sei auf die auf Kuhfuß (2014) und Braun (2008) verwiesen. Beide zitieren hierfür Samuel Chappuzeau, der für seine Herrscherpanegyrik bekannt ist. Braun (2008) führt zudem an, dass gerade Vorworte französischer Grammatiken oder Wörterbücher eher als Werbetext aufzufassen seien als dass es eine tatsächliche Abbildung der sprachlichen Realität sei (Braun 2008: 182). Arbeiten mit Formulierungen der Art „Europa sprach Französisch“ (cf. Weller 1980: 148) oder mit dem Titel Quand l’Europe parlait français (Fumaroli 2001) zeigen großräumige Tendenzen, was jedoch für kleinteilige Untersuchungen nicht gelten muss. So zeigt beispielsweise Fromms Arbeit Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen speziell für das 18. Jahrhundert, dass deutsche Übersetzungen französischer Schriften deutscher Verfasser weit verbreitet waren, wofür er speziell das Verzeichnis B angefertigt hat (cf. Fromm 1953: 333-410). Daraus lässt sich einerseits auf die Bedeutung der französischen Kultur schließen, es liefert anderseits jedoch auch den Hinweis darauf, dass die Kenntnisse des Französischen weniger verbreitet waren als angenommen, zumal deutsche Übersetzungen überhaupt angefertigt worden sind und daher notwendig für das Verständnis waren. Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 465 Außerdem behandeln diese Untersuchungen vor allem das Französisch einer weitgehend frankophonen Oberschicht, in der der Zugang zum Französischen verhältnismäßig leicht möglich ist. Kramer (2002: 210) stellt fest, dass man „von der Präsenz des Französischen außerhalb der Residenzen“ noch wenig weiß. Dieser Beitrag möchte daher sowohl das Französisch behandeln, das nicht einer Oberschicht angehört, was sie somit mit der semicolti -Forschung gemeinsam hat, als auch sich als Teil der Brieftheorie verstehen. Schließlich bietet dieser Ansatz einen weiteren Vorteil, da hier ein Französisch außerhalb Frankreichs untersucht wird, was zu einer lokalen Sprachdifferenzierung beitragen kann. 3 Das Französische unter Kurfürst Max Emanuel (1679 - 1736) 3.1 Die allgemeine Situation Der französische Einfluss auf Bayern ist nicht erst beim Kurfürsten Max Emanuel zu suchen, sondern lässt sich bereits beim Kurfürsten Maximilian I. (Hz. 1597-1651, Kfs. ab 1623) nachweisen. So heiratet sein Sohn Ferdinand Maria (Kfs. 1651-1679) die Prinzessin Adelaide Henriette von Savoyen (1636-1676), wodurch eine Verbindung zwischen den Wittelsbachern und den Bourbonen entsteht (cf. Schrott 1966: 124). Dabei handelt es sich bei ihr um die Tochter des Herzogs Victor Amadeus von Savoyen (1587-1637) und der französischen Königstochter Christine von Frankreich (1606-1663). Auf diese Weise gelangt ein starker italienischer sowie französischer Einfluss nach Bayern. Dies spiegelt sich darin wider, dass Bayern ein absolutistischer Fürstenstaat nach französischem Vorbild wird, was auch auf Adelaide als Vermittlerin zurückzuführen ist. Außerdem kommen vermehrt Künstler, Maler, Baumeister, Musiker, Hofdamen, Lakaien und Köche nach Bayern, so dass auch auf diesem Wege die französische Lebensweise importiert wird. Auf politischer Ebene schließen Ferdinand Maria und Ludwig XIV . (Kg. 1661-1715) einen Vertag ab, in dem dieser dem bayerischen König Geldzahlungen für die Armen und den Hof versprochen hat. Als Gegenleistung muss Ferdinand Maria jeglichen Durchzug der Truppen des Kaisers durch sein Herrschaftsgebiet untersagen. Der Höhepunkt dieses französischen Einflusses zeigt sich beim Kurfürsten Max Emanuel. 4 Nach der Regierungszeit von Ferdinand Maria verringert sich 4 Zu den einzelnen Phasen des französischen Einflusses auf Bayern in politischer, kultureller und sprachlicher Hinsicht vom 17.-19. Jh. cf. den Überblick bei Massicot (2015: 165-169), zum „Höhepunkt der Frankophilie“ unter Max Emanuel im Besonderen cf. ibid. (2015: 167-168). 466 Matthias Schöffel der italienische Einfluss, bis man von einer rein französischen Phase spricht. Bereits die Erziehung Max Emanuels ist französisch geprägt. So erhält er Unterricht neben Italienisch auch in Französisch (cf. Schröder 1980: 115). Dies geht aus den Instruktionen (8. 4. 1678) des bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria an den Hofmeister des Herzogs Joseph Clemens hervor. Abschnitt 47: Unter andern unnseres Sohn studien soll auch die erkhlerung der Italian: und Französischen sprach sein, sowol zum reden alß schreiben, zu welchem Endte wür schon seiner Zeit gehörige verordtnung thuen werden. (Schmidt 1892: 197) Außerdem lässt er den Architekten Enrico Zuncalli (1642-1724) 1684 in Paris die französische Architektur studieren, woraufhin das Schlösschen Lustheim (1684-1688) und das Schloss Schleißheim (1701-1704) entstehen. Ähnlich verhält es sich in der Malerei und in der Komödie. Daneben werden regelmäßig Bälle nach dem Vorbild des Pariser Hofkomponisten Jean-Baptiste Lully veranstaltet. Der Hof in Versailles dient als Modell für Theater- und Opernauftritte. Selbst beim Essen werden Weine aus dem Burgund und der Champagne importiert (cf. Tröger 1998: 52-53). Schließlich verbündet sich Max Emanuel im Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) mit Frankreich. Schaut man sich den Münchner Hof noch weiter an, so stellt man fest, dass Elemente unterschiedlicher Herkunft den Alltag prägen. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lässt sich eine grobe Einteilung vornehmen. Folgt man Bauer (1993), so ergibt sich folgende Einteilung: Küche, Mode und die elegante Lebensführung stammen aus Frankreich, während Tapeten, Textilien, die offizielle Hofbekleidung eher spanisch-italienischen Einfluss aufweisen. Tänze, Wirtschaften und die Umgangssprache sind eher deutsch geprägt (cf. Bauer 1993: 113). 3.2 Therese Kunigunde von Bayern (1676 - 1730) Nach der allgemeinen Situation des Französischen unter Max Emanuel ist im Hinblick auf die Bittschrift speziell Therese Kunigunde von Bayern (eigentl. Teresa Kunegunda Karolina Sobieska) von zentraler Bedeutung. Auch sie trägt in einem besonderen Maß dazu bei, dass am Münchner Hof Französisch eine besondere Stellung zugeschrieben werden muss. Sie ist die Tochter des polnischen Königs Johann III . Sobieski von Polen (1629-1696) und der aus Nevers stammenden Mutter Maria Kazimiera d’Arquien de la Grange (1641-1716). Als Max Emanuel 1692 Witwer wird, kommt aufgrund einer möglichen hohen Mitgift die polnische Prinzessin Therese Kunigunde als zweite Ehefrau in Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 467 Frage. Auch Ludwig XIV . heißt diese Heirat gut und aus polnischer Sicht stellt sie ebenfalls eine gute Partie dar, da die Wittelsbacher zu den ältesten Adelsgesellschaften Europas gehören. Im Jahre 1694 wird schließlich in Żólkiew der Ehevertrag per procurationem unterschrieben und 1695 treffen sich Therese Kunigunde und Max Emanuel dann zum ersten Mal in Wesel am Rhein. Von dort aus reisen sie beide nach Brüssel, wo Max Emanuel seit 1691 Generalstatthalter der Spanischen Niederlande ist (cf. Kägler 2016: 102). Therese Kunigunde spricht neben ihrer Muttersprache Polnisch auch Französisch, Italienisch und Lateinisch (cf. de Schryver 2003: 167-168 und Czarkowski-Golejewski 1974: 847). In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass sie zeitlebens kaum Deutsch gelernt hat, wie der Wiener Hof bemängelt (cf. Kägler 2009). In Gesandtenkreisen heißt es etwa 20 Jahre nach ihrer Heirat: „die Churfürstin red nichts als Französisch und Wällisch 5 “ (zitiert nach Kägler 2011: 381, HHS tA, HA , Familienakten K. 41, 3. Konv., fol. 138r). Allerdings sollte dies kein Hindernis für die Kommunikation zwischen Max Emanuel und Therese Kunigunde darstellen, wie dieser selbst sagt: „[es habe] nichts zu bedeuten, was man entlich fir eine Sprach rede“ (cf. Bay HS tA, Geheimes Hausarchiv, Korrespondenz Akten 701, fol. 92v). Auch die zahlreichen Korrespondenzschreiben zwischen Therese Kunigunde und Max Emanuel sind auf Französisch verfasst. Brunot (1934) charakterisiert Max Emanuels Französisch folgendermaßen: En Bavière - L’Électeur de Bavière Max-Emanuel […] écrivait à Villars dans un français très correct en 1702-1715. L’Électeur écrit de même en français à son ambassadeur à Paris, le comte de Monasterol, qui était Savoyard; celui-ci répondait naturellement dans la même langue. […] La mère de l’Électeur, Adélaïde de Savoie, était, il est vrai, française d’éducation. Elle avait donné pour précepteur à son fils un Français, le marquis de Beauvau, et des compagnons natifs de Savoie; de sorte qu’on parlait français ou italien dans l’intimité de l’Électeur. (Brunot 1934: 585) Therese Kunigunde ist daher nicht gezwungen, Deutsch zu reden. Während ihrer Zeit in den Spanischen Niederlanden hat sie ein französischsprachiges Umfeld, so dass ihr auch in diesem Kontext Französisch für die Kommunikation ausreicht (cf. Kägler 2009). Dies liefert eine mögliche Erklärung für die Sprache der Bittschriften. Mangels Deutschkenntnissen sind Untertanen gezwungen, ihr Anliegen auf Französisch zu formulieren. Als Therese Kunigunde nach München geht, reist auch ihr Hofstab mit, so dass das Französische für sie eine größere Bedeutung hat als das Deutsche, auch wenn ausländisches Personal am Münchner Hof ungern gesehen wird (cf. Kägler 2011: 86). Tabelle 2 zeigt die regionale Herkunft der Hofmeisterinnen 5 Wällisch bezeichnet in diesem Zusammenhang die italienische Sprache. 468 Matthias Schöffel und Hofdamen. Nach einer stärker italienisch geprägten Phase unter Henriette Adelaide nimmt das Französische im Umfeld von Therese Kunigunde deutlich zu. Unter Maria Amalia dagegen nimmt das frankophone Personal wieder ab, was auf den Umstand zurückzuführen sein dürfte, dass sie kein Französisch sprach (cf. Orlop 2006: 389). Herkunftsregion Henriette Adelaide (1651 - 1676) Therese Kunigunde (1685 - 1730) Maria Amalia 6 (1722 - 1756) Absolute Zahl 26 22 36 Bayerischer Adel 58 % 50 % 78 % Fränkischer Adel - - 3 % Schwäbischer Adel 4 % 9 % 3 % Oberpfälzischer Adel - - - Reich 7 11 % - 5 % Italien 27 % - 8 % Frankreich/ Niederlande - 36 % 3 % Polen - 5 % - Tab. 2: Regionale Zusammensetzung der Hofmeisterinnen und Hofdamen (Kägler 2011: 87) Wie also festzustellen ist, kommt dem französischen Personal und damit auch der französischen Sprache angesichts des verhältnismäßig großen Anteils des frankophonen Personals am Münchner Hof eine besondere Bedeutung zu. Das Französische dient als gängiges Kommunikationsmittel auch außerhalb des Adelskreises im engeren Sinn. 6 Maria Amalia von Österreich (1701-1756), Kurfürstin von Bayern und Kaiserin, ist die Frau von Karl Albrecht von Bayern (1697-1745), Sohn von Max Emanuel und Therese Kunigunde. 7 Hiermit werden diejenigen Adeligen zusammengefasst, die an Altbayern (Ober- und Niederbayern) grenzen und aus der reichsunmittelbaren Ritterschaft Südwestdeutschlands stammen (cf. Kägler 2011: 85-86). Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 469 4 Korpusvorstelllung 4.1 Allgemeine Feststellungen zu den Bittschriften Bei den hier vorgestellten Bittschriften handelt es sich um insgesamt 45 auf Französisch verfasste Bittbriefe 8 , die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv unter Fürstensachen 708 1 / 3 archiviert sind. Sie tragen den Titel Bittschriften von Untertanen an die Kurfürstin Therese Kunigunde von Bayern . Des Weiteren wird angegeben, dass sie undatiert und durch eine Auktion 1981 in den Besitz des Bayerischen Hauptstaatsarchivs gelangt sind. Der Umfang einer Bittschrift beträgt maximal eine DIN A4-Seite. Jeder der Bittschriften verfügt über eine Adressierung, allerdings nicht notwendigerweise über einen Absender. Hinzu kommt, dass jede Bittschrift zweimal gefaltet worden ist, so dass der Empfänger immer auf einem Viertel des Blattes platziert wird. Alle Briefe sind in lateinischer Schrift geschrieben worden. Was die Handschrift angeht, so ist sie meist sorgfältig und gleichmäßig. Die Zeilenführung ist klar, so dass der Eindruck einer reflektierten Darstellung entsteht. Was den Inhalt betrifft, so lässt sich hier eine nahezu klare Zweiteilung feststellen. Entweder wird um finanzielle Hilfe gebeten oder man bewirbt sich um eine Stelle als fille de chambre oder valet de chambre . Der Beweggrund für eine finanzielle Unterstützung rührt vor allem daher, dass sich der Bittsteller in einer finanziellen Notlage befindet. Im Falle der Bewerbung ist den Bittstellern bekannt geworden, dass eine Stelle am Hof als fille de chambre bzw. valet de chambre neu zu besetzen ist. Diese Information wurde in erster Linie über einen Verwandten kommuniziert, der am Münchner Hof gearbeitet hatte: George Riederer, mon grand pere ayant seruit S. A. S. […] ‚George Riederer, mein Großvater, der Ihrer Durchlaucht gedient hat […]‘ Alternativ wird diese Information ohne eine Quellenangabe durch aiant appris que […] ‚Nachdem [ich] erfahren habe […]‘ gegeben. 4.2 Datierung der Bittschriften Eine Datierung einzelner Bittschriften ist nahezu unmöglich, da der Absender nicht angegeben wird. Zudem ist es äußerst schwierig, weitere Informationen zur Person ausfindig zu machen, da sie als Untertanen sonst am Hof nicht weiter in Erscheinung treten. Dennoch lassen sich die Bittschriften in ihrer Gesamtheit aufgrund außertextlicher Bezüge datieren. 8 Hinzu kommt ein Bittbrief, der auf Lateinisch verfasst ist, aber in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt wurde. 470 Matthias Schöffel Für einen terminus post quem ist zunächst Therese Kunigundes Anwesenheit in München notwendig. Da das Kurfürstenpaar zunächst in Brüssel gewesen ist und erst zu Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges, d. h. 1701 nach Bayern kommt, stellt dies den frühest möglichen Zeitpunkt der Abfassung eines Bittbriefes dar. Eine etwas spätere Datierung scheint jedoch wahrscheinlicher zu sein, da Therese Kunigunde erst im Laufe der Zeit etwas mehr Einfluss auf die Politik genommen hat und somit über Entscheidungsgewalt verfügt (cf. Kägler 2009). Als es infolge des Spanischen Erbfolgekrieges in Bayern zu Verwüstungen kommt, wird verstärkt um Spenden gebeten. Neben einem terminus post quem lässt sich auch einen terminus ante quem festlegen. Für diesen spricht der Februar 1705, da zu diesem Zeitpunkt Therese Kunigunde nach Venedig reist, um dort mit ihrer verwitweten Mutter über die Regentschaft zu beraten, nachdem Max Emanuel Niederlagen am Schellenberg (2. Juli 1704) und bei Höchstädt (13. August 1704) hinnehmen musste und deswegen ohne seine Ehefrau in das Exil in die Spanischen Niederlanden gegangen ist. Er überträgt ihr daraufhin die Entscheidungsgewalt in militärischen sowie politischen Fragen. Als aber Therese Kunigunde nach München wieder zurückreisen will, lassen die Habsburger sie nicht nach Bayern zurückkehren, so dass sie bis 1715 im Exil verbringen muss (cf. Kägler 2009). Fasst man nun dies zusammen, so ist davon auszugehen, dass die vorliegenden Bittbriefe zwischen 1701 und 1705 verfasst wurden. Dieser Zeitraum ist auch mit dem einzigen Datum, nämlich 26. Juli 1703, konsistent, das im eingangs zitierten Bittbrief enthalten ist (cf. Kap. 1). Eine paläographische Untersuchung der Handschriften ist in diesem Zusammenhang noch notwendig, um eventuell weitere Informationen bezüglich Herkunft angeben zu können. 5 Exemplarische Analyse der Bittschriften 5.1 Inhaltliche Aspekte der Bittbriefe Für die Untersuchung der Bittbriefe lassen sich zunächst einige Feststellungen aufführen, die die Heterogenität des Korpus hervorheben, wodurch Aussagen zu einer allgemeinen Tendenz erschwert werden. Zu den vorliegenden Bittschreiben lässt sich nur in wenigen Fällen die exakte Herkunft angeben. Dennoch erfährt man vereinzelt aus den Bittbriefen selbst, dass die Bittsteller vor allem aus Bayern stammen: Augsburg, München, Amberg, Bernau und Menzing. Daneben findet sich ein Bittbrief aus Köln. Geht man vom Namen (z. B. Marie Antoine Dupont, Jacque Aubert oder Michel Aubet) aus, so liegt der Anteil der Franzosen bei etwa 20 %, wobei dieser Wert mit einer Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 471 gewissen Unsicherheit behaftet ist, da nicht alle Bittbriefe einen Absender bzw. Unterschrift haben. Während die Herkunft eher eine nebensächliche Information zu sein scheint, wird dagegen der Beruf des Bittstellers klar hervorgehoben. Diese Angabe dient als wichtige Referenz, um seine Chancen zu erhöhen, Unterstützung von der Kurfürstin zu bekommen. Daher wird diese Information möglichst am Anfang eines jeden Schreibens gegeben. Über den Beruf wird versucht, eine Nähe zum Hof zu konstruieren. Ziel ist es dabei, eine möglichst vorteilhafte Verbindung aufzuzeigen, um die Aussicht auf Gewährung der Bitte zu maximieren. So finden sich folgende Berufe: Berater, Diener, Kellermeister, Schneider, Wäscher, Pfleger, Kammermusiker und Verwalter. Auch Eltern stellen im Namen ihrer Kinder eine Bitte. Bedienstete, die bereits 60 Jahre im Dienst gewesen sind, sowie Ministranten zählen ebenfalls zu den Bittstellern. Es sind somit alle Altersklassen der Bevölkerung (unabhängig vom Geschlecht) in diesen Bittschriften vertreten. Aufgrund der Altersverteilung dürften die Bittschriften trotz ihrer Abfassungszeit im 18. Jahrhundert eher ein Französisch des 17. Jahrhunderts widerspiegeln. Bei der konkreten Analyse ist man vor mehrere Schwierigkeiten gestellt. Zunächst ist nichts zum Bildungshintergrund bekannt. Dies wäre gerade in Bezug auf die Französischkenntnisse von zentraler Bedeutung. Es lassen sich dennoch Vermutungen bezüglich Herkunft und der Französischkenntnisse anstellen, sofern Bittbriefe mit einem Absender versehen sind. Bei dem eingangs zitierten Jacques Aubert darf ein französischer Hintergrund aufgrund seines Namens vermutet werden. Ähnlich verhält es sich bei Marie Antoine Dupont, Pierre Boudin, Marie Françoise Marichal im Gegensatz zu Thomas Staindel, Mathias Glas, Wolfgang Zeller oder Georg Riederer, die einen deutschen Hintergrund haben und aus dem bayerischen Raum stammen. Bei Marie Antoine Dupont wird sogar explizit formuliert, dass sie Deutsch und Französisch beherrscht: „[…] deux langues francoise et allemande quelle possede […]“. Aufgrund solcher eher punktuellen Auffälligkeiten ist daher eine Verallgemeinerung grundsätzlich nicht möglich. Fasst man nun zusammen, so lässt sich aus dem Inhalt der Bittschriften ableiten, dass dort alle Altersklassen vertreten sind. Ausgehend von den Namen sind höchstwahrscheinlich sowohl Franzosen als auch Deutsche im vorliegenden Korpus vertreten. Bezüglich der Herkunft kann von einem Schwerpunkt um München herum ausgegangen werden. Von den Sprachkenntnissen selbst erfährt man nur, dass Deutsch und Französisch vorhanden sind. Die Möglichkeit, dass in manchen Fällen professionelle Schreiber bei der Abfassung der Supplikationen involviert waren, freie oder Angehörige der Hofkanzlei oder einer anderen Kanzlei (cf. Blickle 2005: 303), ist grundsätzlich ebenfalls in Betracht zu ziehen, allerdings schwer beweisbar. 472 Matthias Schöffel 5.2 Makrostruktur einer prototypischen Bittschrift Was die Struktur einer prototypischen Bittschrift angeht, so lässt sich hier ein schematischer Aufbau erkennen. Nickischs (1969) brieftheoretische Überlegungen zum 17. Jahrhundert basieren auf dem mittelalterlichen Schema der ars dictaminis , welche aus fünf Teilen besteht: salutatio (Gruß), exordium (Eingang), narratio (Erzählung), petitio (Bitte) und conclusio (Schluss) (cf. Nickisch 1969: 21). Dieser relative starre Aufbau wird, wie aus Furger (2010) hervorgeht, im deutschen Sprachraum nicht in aller Strenge eingehalten. Bei August Bohse (1692) oder Johann Kaspar Suter (1662), die selbst Briefsteller verfasst haben, lassen sich beispielsweise neun bzw. zwölf Elemente nachweisen (cf. Furger 2010: 149). Furger (2011) gibt für den deutschen Sprachraum im späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts an, dass die Vorlagen nicht identisch kopiert werden müssen, sondern lediglich als eine Anleitung zu verstehen sind. Der Bittbrief selbst beginnt zunächst entsprechend der salutatio mit einer Adressierung an die Kurfürstin, ohne dabei explizit den Namen der Kurfürstin zu nennen A son Altesse ‚An Ihre Hoheit‘ oder A son Altesse Electorale Madame Electrice ‚An Ihre kurfürstliche Hoheit Frau Kurfürstin‘. Man stellt bei der Adressierung fest, dass kaum Abweichungen in der Formulierung vorhanden sind, so dass hier ein formelhafter Charakter entsteht. In seltenen Fällen findet sich nur ein Madame . Die Graphie ist ebenso sehr einheitlich. Lediglich Abkürzungen dieser Formel der Art A S. A. ‚A Son Altesse‘, V. A. E. ‚Votre Altesse Électorale‘ oder S. A. E . ‚Son Altesse Électorale‘ scheinen hier gängig zu sein. Therese Kunigundes Titel Madame (l’) Électrice ‚Frau Kurfürstin‘ wird häufig hinzugefügt. Geht es um einen pronominalen Bezug zur Kurfürstin, so wird die Großschreibung verwendet, z. B. Elle ‚Ihr‘, Luy ‚Ihr‘. Die Stelle dieser Adressierung auf dem Briefbogen scheint fest zu sein, da sie in allen Fällen oben links zu finden ist. Nach einem kurzen Abstand folgt eine direkte Anrede mit Madame . Eine graphische Abtrennung vom folgenden Text durch ein Komma etwa findet sich selten. Auch hier wird der Name der Kurfürstin in keinem der Bittbriefe explizit genannt. Mit dem exordium , in dem es darum geht, im Sinne einer captatio benevolentiae „mit geschickten Einschmeichelungen die Gunst [des Gegenübers] zu gewinnen“ (Furger 2010: 150) beginnt das eigentliche Schreiben. In den meisten Fällen lässt sich jedoch die narratio nicht strikt vom exordium trennen. Zunächst wird der um Hilfe Bittende eingeführt, indem der Name explizit genannt wird. Die Verwendung der 1. Person Singular tritt genauso auf wie die Nennung des Vornamens und Nachnamens. Hinzu treten kann die Angabe des Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 473 Alters. Außerdem wird durch eine Erweiterung das Verhältnis zum Münchner Hof hergestellt, was die Funktion einer Referenz haben soll. Die Formulierung der Bitte besteht obligatorisch aus zwei Elementen, aus dem Verb supplier ‚bitten‘ und einer adverbialen Erweiterung très humblement ‚in aller Bescheidenheit‘. Eine Steigerung durch très scheint dabei obligatorisch zu sein, da alle Briefschreiben diese Komponente enthalten. Dies hängt mit dem Rang der Kurfürstin zusammen. Zusätze können durch Partizipialkonstruktionen oder Adverbialausdrücke erweitert werden. Häufig treten formelhafte Konstruktionen hinzu pour se jeter aux pieds de Votre Altesse ‚um sich zu Füßen Ihrer Hoheit zu werfen‘. Nicht selten wird ein weiterer Satz hinzugefügt: J’espère que V. A.E aura la bonté de me pardonner la liberté, que ie prens de la treshumblement supplier de m’accorder la grace […] ‚Ich hoffe, dass Ihre kurfürstliche Hoheit die Güte hat, mir die Freiheit zu verzeihen, die ich nehme, um mit aller Bescheidenheit darum zu bitten, mir die Gunst zu erweisen […]‘. Im Anschluss daran wird die eigentliche Bitte vorgetragen. Dort wird der Umstand erläutert, der zum Anlass der Bitte geführt hat, was der narratio entspricht. Die Formulierungen fallen hier individuell aus. Auch die Länge variiert stark. So kann die Formulierung beispielsweise aus einer kurzen Lebensbeschreibung bestehen, aus der das Motiv für das Bittschreiben ersichtlich wird. An diesen Teil schließt der im Vergleich zu den vorherigen Teilen umfangreichste Abschnitt des Schreibens. In dieser Passage treten gehäuft Höflichkeitsformel auf, die das hierarchische Verhältnis widerspiegeln. Eine typische Formulierung ist in diesem Bereich: il ne cessera d’offrir ses prieres au Seigneur pour la conservation et prosperités de Votre Altesse Electorale ‚er wird ununterbrochen seine Gebete dem Herrn für den Erhalt und das Wohlergehen der kurfürstlichen Hoheit vorbringen‘. Am Ende des Bittbriefes befindet sich auf der rechten unteren Seite des Blattes der Name, dem eine Höflichkeitsformel vorausgeht: très humble et très obéissant serviteur ‚Ihr sehr demutsvoller und sehr gehorsamer Diener‘. Auch diese Formel scheint obligatorisch zu sein, da sie ausnahmslos eingesetzt wird. Am rechten unteren Ende des Briefes befindet sich die Unterschrift, die meistens sehr klein im Vergleich zum Text selbst erscheint. Diese Darstellung zeigt, dass verschiedene Elemente eines an die Kurfürstin gerichteten Bittbriefes obligatorisch sind. Dazu zählen die Anrede und die explizite Formulierung der Bitte durch das Verb supplier zusammen mit der adverbialen Bestimmung très humblement. Ebenso sind Höflichkeitsformeln obligatorisch. Eine strenge Einhaltung der ars dictaminis konnte im Zusammenhang dieser Analyse nicht nachgewiesen werden. Durch teilweise sehr einheitliche 474 Matthias Schöffel Formulierungen dieser Elemente entsteht der Eindruck, dass Briefsteller (cf. Kap. 2.2.) als Vorlage gedient haben könnten. 5.3 Sprachliche Phänomene der Bittschriften Die sprachlichen Phänomene können zwei typischen Kategorien zugeordnet werden. Einerseits geht es in den Bittschriften um sprachliche Auffälligkeiten, die sich durch Interferenzen mit dem Deutschen erklären lassen, andererseits um Phänomene, die zwar auf eine muttersprachliche Kompetenz hinweisen jedoch mangelnde Orthographiekenntnisse der Verfasser erkennen lassen. Bei dieser Einteilung ist jedoch eine eindeutige Zuweisung nicht in allen Fällen gegeben. Außerdem wird lediglich eine Auswahl an sprachlichen Auffälligkeiten gegeben. Eine genaue Analyse steht jedoch noch aus. 5.3.1 Französisch mit Interferenzen aus dem Deutschen Bei Marie Terese Plessin ist beispielsweise aufgrund der Anordnung der Satzglieder ein deutscher Hintergrund zu erwarten: „[…] com’elle l’annèe passè avoit suppliè […]“. Dadurch, dass die temporale Bestimmung zwischen dem Subjektpronomen und dem Prädikat steht, lässt sich eine deutsche Syntaxstruktur annehmen. Im weiteren Verlauf ihrer Bittschrift ist jedoch keine weitere Auffälligkeit dieser Art zu finden. Tritt im passé composé ein Pronomen vor das konjugierte Verb, so wird hier im Falle eines Feminins ein accord gemacht: je m’ay vüe ‚ich habe mich gesehen‘, allerdings wird anstatt einer erforderlichen Form von être das Verb avoir verwendet, was auf deutschen Einfluss hindeutet. Dies ist plausibel, da der Brief mit einem deutschen Namen, nämlich Marie Clara Flenhasterin, unterzeichnet wurde. Einen ähnlichen Fall findet sich bei je suis étée anstatt ‚j’ai été‘. Diese als deutsch beeinflusst erscheinende Bildung des passé composé ist schwer nachzuvollziehen, da der Bittbrief von einem Verfasser mit dem französisch anmutenden Namen Michel Albet stammt. Außerdem verwendet er in seinem Text ein deutsches Wort, wo er das Französische nicht zu wissen scheint: pendant le temps que je suis été Pfleger ‚während der Zeit, als ich Pfleger gewesen bin‘. 9 Ähnlich verhält es sich bei drei Ministranten ( Joseph Geiger, Fernand Bastion und Franz Stern), die das französische Wort für Ministrant nicht zu kennen 9 In diesem Kontext könnte ‚Pfleger‘ auch als Fachterminus verwendet worden sein bzw. im Sinne einer kontextgebundenen Berufsbezeichnung eine bewusste ad-hoc Entlehnung vorliegen. Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 475 scheinen: tous les trois Ministrants a la chappelle Electorale se prosternent. Man würde hier servants oder enfant de chœur anstatt ‚Ministrants‘ erwarten. Des Weiteren stellt man bei Deutschen fest, dass das falsche grammatikalische Geschlecht verwendet wird, was möglicherweise auf eine Unsicherheit in Bezug auf die Kenntnis des Genus zurückzuführen ist. So finden sich beispielsweise bei den erwähnten Ministranten leurs tres humbles services faites anstatt ‚leurs tres humbles services faits‘. Im Falle von Joseph aus Wolfwisen stellt man eine unsichere Kenntnis bezüglich der Angleichung des participe fest, das eine Ergänzung bei sich hat. So gleicht er beispielsweise direkt nach der Anrede Madame das participe passé mit einer Ergänzung an das vorausgehende Nomen an: Mes ancêstres ayants eu l’honneur […] anstatt ‚Mes ancêstres ayant eu l’honneur […]‘. Daneben lässt sich eine weitere Unsicherheit in der Verwendung des Demonstrativpronomens ce erkennen. So fehlt ein obligatorisches Nomen nach ce , was auf deutschen Einfluss zurückzuführen sein dürfte: ce ne doute point que . In diesem Zusammenhang würde man ein celui-ci erwarten, da Joseph aus Wolfwisen einen Bezug zu einer Person im vorangehenden Satz herstellt. 5.3.2 Französisch mit muttersprachlichen Kompetenzen Die in den Bittschriften vorzufindene Akzentsetzung ist, sofern vorhanden, nahezu einheitlich. In denjenigen Fällen, in denen beispielsweise der accent aigu gesetzt wird, dient er dann relativ einheitlich zur Angabe eines [e]. Lediglich in einem Fall wird hier das participe passé durch einen accent grave statt aigu angegeben. Außerdem tritt häufig die Markierung des Infinitivs durch die Verwendung des accent aigu auf: pour suppliyé anstatt ‚pour supplier‘, was zwar einem gesprochenen [e] entspricht, aber nicht dem Schreibusus. Dadurch, dass im Französischen die Phonem-Graphem-Relation nicht eindeutig ist, findet man hierzu auch zahlreiche Beispiele: jespaire anstatt ‚j’espère‘. Homophone werden teilweise nicht unterschieden: après ça mort anstatt ,après sa mort‘ oder ça clemence anstatt ,sa clémence‘ . Sie werden nur selten durch Akzente unterschieden: z. B. ou ‚oder‘ vs. où ‚wo‘. Nasalierungen und m / n -Geminationen werden häufig durch <— m> bzw. <n -> markiert: <co— me> für comme oder <no— mé> für nommé . Das Adverb wird oft folgendermaßen angezeigt -— m t , z. B. successive — m t . Im vorliegenden Korpus treten auch Resyllabierungsphänomene auf, vor allem an denjenigen Stellen, wo der Apostroph nicht gesetzt wird. Der am Anfang zitierte Jacques Aubert stellt in diesem Zusammenhang ein extremes Beispiel dar. Als Folge von unstabilen Wortgrenzen kommen Agglutinationen, z. B. dentersédée anstatt ‚d’intercéder‘, bzw. Deglutinationen zustande, z. B. print sesse 476 Matthias Schöffel anstatt ‚princesse‘, he lecque toral anstatt ‚Électoral‘ oder ocque menter anstatt ‚augmenter‘. Des Weiteren stellt man die Tendenz fest, dass aux pieds in der Formel se jeter aux pieds bei Deutschen (z. B. Balthazar Scherer, Mathias Glas) korrekt geschrieben wird. Hingegen findet sich bei Franzosen (z. B. Marie Antoine Dupont) eher die durch die Mündlichkeit geprägte Schreibung aux piez . Diese Phänomene deuten darauf hin, dass diese Verfasser ihre Französischkenntnisse vor allem über das Mündliche erworben haben, was bei Muttersprachlern evident ist, während diejenigen, die anzunehmenderweise keine native speaker sind, ganz oder teilweise durch die Schriftlichkeit geprägt sind. Trotz dieser Abweichungen muss auch auf die Vielzahl korrekter Konstruktionen und Schreibungen hingewiesen werden, was einem standardisierten schriftsprachlichen Französisch entspricht. 5.3.3 Offene Fälle Trotz dieser Klassifikation treten Fälle auf, die sich nicht in diese beiden Kategorien eindeutig einordnen lassen. In der Schreibung fallen beispielsweise vor allem zahlreiche Konsonantendopplungen auf, z. B. quallitté anstatt ‚qualité‘, instruitte anstatt ‚instruite‘, toutte anstatt ‚toute‘, dépensse anstatt ‚dépense‘, serray anstatt ‚seray‘ oder grattiffier anstatt ‚gratifier‘. Derartige Fälle können dabei sowohl bei Franzosen als auch bei Deutschen auftreten, die dem Namen nach als solche identifiziert werden können. In vereinzelten Fällen besteht der Bittbrief aus nur wenigen Zeilen, die sich im Wesentlichen aus einer Eingangs- und Schlussformel zusammensetzen (cf. Kap. 5.2). Der Inhalt der Bitte wird in diesem Fall durch eine gérondif -Konstruktion eingeschoben: en me receuant pour valet de chambre ‚indem Sie mich als Kammerdiener aufnehmen‘. Durch den hohen Grad an Einheitlichkeit der Höflichkeitsformulierungen lässt sich nur sehr schwer eine Angabe zur Herkunft und den tatsächlichen Französischkenntnissen treffen. Eine weitere Unsicherheit in der Zuordnung besteht beispielsweise bei der Analyse von Cepourquoy, das die Witwe von Franz Gebhart verwendet, um ihre Schlussformel einzuleiten, nachdem sie um eine finanzielle Unterstützung gebeten hat. Das scheinbare Fehlen des Verbes être für die korrekte Formulierung C’est pourquoy lässt sich durch eine durch Mündlichkeit geprägte Schreibung erklären (hier: ce = c’est ), was möglicherweise auf eine französische Muttersprachlerin hindeutet. Darauf weist auch die Zusammenschreibung hin, die eine von der Mündlickeit geprägte Segmentierung widerspiegelt. Da jedoch der Namen in diesem Brief an keiner Stelle explizit erwähnt wird, könnte man Französische Bittschriften von Untertanen an Therese Kunigunde aus Bayern 477 hier bestenfalls vermuten, dass Franz Gebhart eine Französin geheiratet hat, die sich mit ihrer Bitte an die Kurfürstin wendet. In diesem Fall würden vermutlich biographische Informationen zu Franz Gebhart weitere Rückschlüsse auf seine Frau erlauben. 5.3.4 Zwischenergebnis-- sprachliche Phänomene Wie diese Auswahl an sprachlichen Phänomenen zeigt, lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Briefe der Bittsteller in ihren Abweichungen grundsätzlich zwei Gruppen zugeordnet werden können. Bei einer Herkunft aus Deutschland lassen sich in den französischen Bittbriefen Germanismen bzw. deutsche Einflüsse belegen, die sich vor allem in der Syntax und der Grammatik widerspiegeln. Bei mutmaßlichen französischsprachigen Bittstellern findet sich dagegen eine gewisse Tendenz zu einer phonetisch basierten Orthographie bei grundsätzlich normkonformer Grammatik. Schließlich ergeben sich bei der Analyse Fälle, bei denen offen ist, welcher sprachlicher Einfluss anzunehmen ist. Das Spektrum der Bittschriften zwischen einem durch die Mündlichkeit geprägten Französisch und einem in Sinne eines standardisierten schriftsprachlichen Französisch ist sehr groß. So finden sich beide Extreme in den Bittschriften wieder. 6 Fazit und Ausblick Die vorliegende Arbeit hat zunächst die auf Französisch verfasste Bittschriften selbst und deren Kontext vorgestellt. Durch außertextliche Argumente konnten sie auf einen Zeitraum 1701-1705 datiert werden. Dass sie auf Französisch verfasst wurden, ist vermutlich auf den Umstand zurückzuführen, dass die Kurfürstin nur wenig Deutsch konnte, so dass sich die Untertanen gezwungen sahen, sich auf Französisch auszudrücken. Die Analyse des Korpus ergibt auch, dass sowohl Franzosen als auch Deutsche sich an die Kurfürstin richteten. Dabei sind alle Altersklassen vertreten. Inhaltlich wird entweder um eine finanzielle Unterstützung gebeten oder man bewirbt sich um eine frei werdende Stelle als fille de chambre oder valet de chambre . Das stärker französisch geprägte Umfeld dürfte ein entscheidender Grund sein, weshalb sich auch Franzosen (ca. 20 % der Bittsteller im vorliegenden Korpus) am Münchner Hof bewerben (cf. Kap. 3.2). Betrachtet man nun die Syntax bzw. die (Ortho-)Graphie, so stellt man eine eher phonetisch basierte Graphie fest. Mit anderen Worten: verfügt ein Untertan im vorliegenden Korpus über vorwiegend mündlich erworbene Französischkenntnisse, so äußert sich dies - wie bereits in der semicolti -Forschung festgestellt wurde (cf. Kap. 2) - durch mangelnde Schreibkompetenz, die unter- 478 Matthias Schöffel schiedlich stark ausgeprägt sein kann und verschiedene sprachliche Ebenen betrifft, so dass das sprachliche Spektrum in den Bittschriften recht groß ist. Außerdem ließen sich auch Interferenzen aus dem Deutschen nachweisen. Dies konnte in der Syntax durch einen Einschub einer temporalen Bestimmung zwischen Subjektpronomen und Prädikat festgestellt werden. Außerdem wurde teilweise das passé composé von avoir mit être gebildet. Ebenso wurde nach deutschem Vorbild das passé composé mit einem reflexiven Pronomen je m’ay vüe mit avoir gebildet, anstatt être zu verwenden. Auch fehlerhafte Angleichungen und Unsicherheiten in der Lexik konnten festgestellt werden. Schließlich bleibt bei einem Teil der Bittschriften offen, woher der Bittsteller stammt. Dies liegt daran, dass bei kurzen Bittbriefen im Wesentlichen nur stark standardisierte Höflichkeitsformeln verwendet werden. Auch mangels biographischer Informationen lassen sich keine sicheren Aussagen bezüglich Herkunft und Französischkenntnisse treffen. Bei der Untersuchung der Makrostruktur der Bittbriefe ließen sich Elemente der ars dictaminis finden, die jedoch relativ frei eingesetzt werden. Der formelhafte Charakter einzelner Elemente lässt den Eindruck entstehen, dass ein Briefsteller (cf. Kap. 2.2) als Vorlage genutzt wurde. Ein Vergleich von Bittbriefen aus Frankreich der gleichen Epoche würde weitere Kenntnisse bezüglich einer sprachlichen Vorlage und des Aufbaus zu Tage fördern. 10 Literatur Primärliteratur Bay HS tA (= Bayerisches Hauptstaatsarchiv): Fürstensachen 708 1 / 3. Bay HS tA, Geheimes Hausarchiv: Korrespondenzakten 701. HHS tA (= Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien), HA (= Hausarchiv): Familienakten K. 41, 3. Konv. (Matrimonialia, 12. April 1722-19. Dezember 1722). Sekundärliteratur Bauer, Volker (1993): Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang 18. Jahrhunderts: Versuch einer Typologie . Tübingen: Niemeyer (= Frühe Neuzeit, 12). Berruto, Gaetano (1983): „L’italiano populare e la semplificazione linguistica”, in: Vox Romanica 42, 38-79. Braun, Guido (2008): Von der politischen zur kulturellen Hegemonie Frankreichs 1648-1789 . Band 4: Deutsch-Französische Geschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bruni, Francesco (1984): L’italiano. 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Matthias Waldinger La présence d’un grand nombre de gallicismes dans les langues et idiomes européens est incontestable. À ce sujet, le Moyen Âge central et l’époque dite « Alamode » jouent un rôle primordial, étant donné que le prestige de la langue française y était à son apogée et que la vogue des gallicismes avait atteint un niveau exceptionnel. En ce qui concerne l’état de l‘allemand standard d’un point de vue synchronique, l’époque dite « Alamode » représente la phase d’emprunts au français la plus importante à cause de la francisation presque totale des cours allemandes. Par conséquent, on repère même de nos jours une multitude de gallicismes datant des XVIIe et XVIIIe siècles dans le vocabulaire allemand. De plus, la présence de mots français dans l’allemand utilisé par les couches sociales allemandes les plus hautes a exercé une influence décisive sur les dialectes allemands, comme par exemple le bavarois. Toutefois, ce fait n’a que peu retenu l’attention dans la recherche linguistique jusqu’à présent. C’est pourquoi une étude dans ce domaine en philologie romane pourrait constituer une première étape et être éventuellement le prélude à des études plus approfondies. 1 Einleitung Dialekte und Minderheitensprachen haben in vielen Ländern eine tiefgreifende Marginalisierung erfahren und wurden konsequent und systematisch aus dem öffentlichen Bereich verdrängt. So ist es nicht verwunderlich, dass die Gefahr des Sprachentodes bei vielen dieser Dialekte und Sprachen immanent ist. Dem Atlas of the World’s Languages in Danger der UNESCO zufolge wird in Deutschland beispielsweise der Status des Saterfriesischen als „severely endangered“ 1 , 1 „[L]anguage is spoken by grandparents and older generations; while the parent generation may understand it, they do not speak it to children or among themselves“ (Moseley 484 Matthias Waldinger der des Sorbischen als „definitely endangered“ 2 eingestuft. Auch das Bairische wird in dieser Liste aufgeführt, jedoch lediglich als „vulnerable“ 3 betrachtet. 4 In den Untersuchungsergebnissen einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, gemäß welcher im Jahre 2015 in Bayern „noch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung (ca. drei Viertel) den Dialekt ihrer Region“ (Hochholzer 2 2015: 64) beherrschte und auch aktiv sprach, wird der Status des Bairischen sogar noch positiver bewertet. Zudem ist das Bairische bei den Deutschen generell sehr beliebt. In einer früheren Umfrage des Allensbacher Instituts aus dem Jahre 2008, in welcher geklärt werden sollte, welchen Dialekt die Deutschen besonders gerne hören, wurde es an die erste Stelle gewählt (cf. Statista 2017: beliebte Dialekte ). Dies mag unter Umständen auch darin begründet liegen, dass [d]er bairische Dialekt […] bis heute einen Teil […] [seines] Charmes aus den französischen Einsprengseln [bezieht], die als solche oft nicht mehr zu erkennen sind. (Kratzer 2013: 2) In diesem Kontext mag die unter Umständen nicht sehr fest im allgemeinen Bewusstsein verankerte Tatsache, dass Bayern und Frankreich „[p]artout eine besondere Liasion“ (Raab 2016) miteinander haben, eine bedeutende Rolle spielen. Der oberbayerische Autor Josef Martin Bauer 5 sagte in diesem Kontext sehr treffend: „Das intimste Verhältnis haben wir Bayern, wie man aus der Sprache heraushört, mit den Franzosen und mit dem Französischen“ (zitiert nach Wittmann 1997: 16). Bezüglich der Präsenz von Gallizismen im Bairischen soll in der folgenden Darstellung zunächst der Stand der linguistischen Forschung erläutert werden. Im Anschluss daran werden einige weitverbreitete Theorien und neuere Forschungsansätze hinsichtlich des besonders starken Einflusses des Französischen auf das Bairische thematisiert, bevor auf die Frage nach der Existenz spezifisch bairischer Gallizismen eingegangen wird, die anhand einer empirischen Untersuchung beantwortet werden soll. 2010: online). 2 „[C]hildren no longer learn the language as mother tongue in the home“ (Moseley 2010: online). 3 „[M]ost children speak the language, but it may be restricted to certain domains (e.g., home)“ (Moseley 2010: online). 4 Zu dem diesen Einschätzungen zugrundeliegenden Schema der graduell angelegten Kategorien der „Lebendigkeit“ von Sprachen bis hin zum nach und nach eintretenden „Sprachtod“ cf. Moseley (2010: online). 5 Weltweite Berühmtheit erlangte er mit seinem Roman So weit die Füße tragen (1955) (cf. Bayerische Staatsbibliothek: Josef Martin Bauer ). Gallizismen im Bairischen 485 2 Stand der Forschung In Bezug auf den Stand der linguistischen Forschung gilt es die Frage zu klären, inwieweit die Gallizismen in der deutschen Standardsprache sowie in den deutschen Dialekten, hier speziell im Bairischen, in der romanistischen und der germanistischen Linguistik bisher Beachtung fanden. Eine Untersuchung des Bestandes der verfügbaren Literatur zu diesem Thema führte zu dem Schluss, dass der französische Einfluss auf die deutsche Hochsprache grosso modo gut erforscht ist. Es finden sich verschiedene wissenschaftliche Arbeiten, die sich konkret mit diesem Thema befassen, so unter anderem Emil Öhmanns Studien über die französischen Worte im Deutschen im 12. und 13. Jh. (1918) oder Richard Brunts umfangreiche Untersuchung The Influence of the French Language on the German Vocabulary (1983). Zudem wurden diverse einschlägige Einführungen und Standardwerke zur deutschen Sprachgeschichte hinsichtlich der Frage konsultiert, ob galloromanisches Lehngut behandelt wird oder nicht. Hier sind unter anderem Hans Eggers’ vierbändige Reihe Deutsche Sprachgeschichte (1963, 1965, 1969, 1977) und Peter von Polenz’ umfangreiche Arbeit Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Band I (1991) und Band II ( 2 2013), zu nennen. In fast allen untersuchten germanistischen Sprachgeschichten wird der französische Lehneinfluss auf die deutsche Hochsprache in diachroner Perspektive, nämlich vom Mittelalter bis in die Neuzeit, untersucht und auch in unterschiedlichem Maße ausführlich dargestellt. Weiterhin finden auch bestimmte Dialekte des Deutschen in verschiedenen Arbeiten Beachtung und werden hinsichtlich des auf sie durch das Französische ausgeübten Einflusses betrachtet. 6 Im Gegensatz dazu sind im Bereich der Gallizismen im Bairischen nach wie vor sehr große Forschungslücken auszumachen. Dieser Zustand wurde auch wiederholt in der Forschungswelt bemängelt, so zum Beispiel in einem Sonderheft der Münchner Charivari Verlagsgesellschaft, das die bayerisch-französischen Beziehungen zum Thema hat. Es wird die Frage nach den Gründen für den […] Tatbestand [gestellt], daß ausgerechnet die Altbayern soviele Fremdworte aus dem Französischen vereinnahmt haben, wie kein anderer deutscher Stamm (von den Elsässern natürlich abgesehen) (Wittmann 1997: 16) und auch direkt darauf verwiesen, dass weder die Dialektologen noch die Sprachwissenschaftler bisher Antworten darauf gegeben haben. Auch wurde 6 Cf. beispielsweise Stein (1990) oder Windisch (1990); zu einem Überblick bezüglich der Forschung zum französischen Einfluss auf einzelne deutsche Dialekte cf. Waldinger (2017: 21-26). 486 Matthias Waldinger der Forschungsrückstand aufgrund der Tatsache evident, dass selbst in einschlägigen Arbeiten zum Bairischen, wie beispielsweise Das bairische Dialektbuch von Ludwig Zehetner (1985) oder Die bairische Sprache. Studien zu ihrer Geographie, Grammatik, Lexik und Pragmatik (2004), herausgegeben von Albrecht Greule, Rupert Hochholzer und Alfred Wildfeuer, nicht oder nur in wenigen Sätzen auf den französischen Einfluss im Bairischen eingegangen wird. Zudem werden die Gallizismen in den deutschen Dialekten auch in keiner der angesprochenen germanistischen Arbeiten zur Sprachgeschichte behandelt. Diesbezüglich stellten Kramer / Winkelmann (1990: 8) fest, dass „[l]’étude des éléments français entrés dans les dialectes allemands après le XVII e siècle est encore un domaine ouvert […].“ Diese Aussage hat bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren. Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich des Forschungsstandes der Gallizismen im Bairischen festhalten, dass dieses Thema bisher sowohl in der Germanistik als auch in der Romanistik keine nennenswerte Beachtung fand. Aktuell finden sich lediglich vereinzelte Aufsätze, Sonderausgaben von Zeitschriften oder universitäre Abschlussarbeiten in diesem Bereich. Eine Aufsatzsammlung oder eine Monographie stellen nach wie vor ein Desiderat dar. 3 Weitverbreitete Theorien und neuere Forschungsansätze Allgemein weist das Bairische eine Vielzahl von Entlehnungen aus anderen Sprachen auf, wobei „die größte Menge von Lehnwörtern […] gar nicht aus dem Italienischen oder dem Tschechischen [kommt], sondern aus dem Französischen“ (Rowley 2005: 3-4), obwohl Italianismen und Tschechismen aufgrund des Arealkontakts mit Bayern in diesem Kontext wohl naheliegender wären. In der Folge sollen hierfür einige weitverbreitete Theorien dargelegt sowie neuere Forschungsansätze vorgestellt werden. 3.1 Weitverbreitete Theorien Die gemeinhin wohl am weitesten verbreitete Theorie führt die Präsenz der Gallizismen im Bairischen auf den napoleonischen Einfluss zurück. In der Tat waren Truppendurchzüge und Einquartierungen von Soldaten auch in Bayern etwa zwischen 1800 und 1809 immer wieder Teil der Lebenswirklichkeit und begünstigten die Übernahme französischen Lehnguts aus der Soldatensprache direkt ins Bairische (cf. Knoerrich 2003: 169). Zudem ermöglichte auch die rheinbündische „Waffenbrüderschaft […] vielen tausenden […] [bayerischen] Soldaten[,] die Sprache der Bundesgenossen im alltäglichen Umgang“ (Wittmann 1997: 17) zu erlernen. Dass dieser direkte Sprachkontakt wohl Spuren im Gallizismen im Bairischen 487 bairischen Dialekt hinterlassen haben kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Jedoch dürfte er wohl nur selten über eine starke regionale Begrenzung hinausgegangen sein und kann somit nicht als einziger und ausschlaggebender Grund für die massive Präsenz von Gallizismen im Bairischen betrachtet werden. Des Weiteren wird auch die Theorie, dass durch den Dreißigjährigen Krieg eine hohe Anzahl von Gallizismen ins Bairische gelangte, immer wieder angeführt. Auch Polenz ( 2 2013: 63) bestätigt in Bezug auf das Deutsche im Allgemeinen, dass von dieser Theorie „oft zu lesen ist“. Allerdings dürfte die Reichweite der daraus resultierenden Entlehnungen ins Bairische ebenfalls sehr stark regional begrenzt gewesen sein. Zwar sind einige dieser Gallizismen auch zu einer überregionalen Verwendung gelangt, so beispielsweise a parte, Adresse oder Armee , die während oder kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg entlehnt wurden (cf. Knoerrich 2003: 22, 23, 32), aber die Masse von Gallizismen im Bairischen ist wohl auch nicht darauf zurückzuführen. In einer letzten weitverbreiteten Theorie hinsichtlich der hohen Quantität von Gallizismen im Bairischen wird angenommen, dass […] diese Masse von französischen Lehnwörtern […] vielmehr in die Zeit zurück[geht], als das Französische die Sprache der deutschen Aristokratie war. Sie sind […] gesunkenes Kulturgut, das heißt, Übernahmen aus der Sprache der (meist einheimischen) besseren Kreise am Hof. (Rowley 2005: 4) Es handelt sich also bei der Theorie des „gesunkenen Kulturguts“ um einen indirekten Entlehnungsweg, über den Gallizismen in den dialektalen Sprachgebrauch der niederen Schichten gelangten. Da die Französisierung der deutschen Höfe in der Alamode- Epoche natürlich auch in Bayern (sowie im ebenfalls bavarophonen Österreich) Einzug hielt (cf. Rowley 2005: 4), weshalb der bayerische Adel seine Lebensweise nach französischem Vorbild gestaltete und die französische Sprache eine bedeutende Rolle einnahm, hat diese Theorie durchaus auch hier ihre Berechtigung. So ist in Bayern der Höhepunkt der Frankophilie unter der Herrschaft des Kurfürsten Max Emanuel (1679-1726) anzusetzen. Während seiner Regierungszeit, welche größtenteils in die Zeit der Herrschaft König Ludwigs XIV . fiel, kam es zu einer bedingungslosen Ausrichtung des höfischen Lebens auf das französische Vorbild. Folglich waren auch in Bayern die Rahmenbedingungen für ein Durchsickern von Gallizismen vom Sprachgebrauch der höheren Schichten auf den der niederen gegeben (cf. Massicot 2015: 167). So kam es unter anderem über die Residenzstädte München, Passau oder Neuburg an der Donau sowie über den Reichstagssitz Regensburg zur Verbreitung des französisierten höfischen Sprachgebrauchs und zur Einwirkung auf die Grundmundart (cf. Knoerrich 2003: 130). In Bezug auf die deutschen Dialekte im Allgemeinen kann der Prozess des Durchsickerns von 488 Matthias Waldinger der deutschen Hochsprache in den dialektalen Sprachgebrauch als das „wohl wichtigste Einfallstor für Gallizismen“ (Massicot 2015: 160) angesehen werden. Jedoch bedarf diese Theorie durchaus noch einiger Spezifizierungen. So stellt beispielsweise Knoerrich (2003: 130) in diesem Kontext die Frage nach einem „gesellschaftlichen Bindeglied, wie z. B. eine städtische Bürgerschicht, die die Diffusion des Lehngutes hätte vorantreiben können“ und Wittmann (1997: 16) äußert dahingehend Kritik an der Theorie im Allgemeinen, indem er schreibt, dass […] Altbayerns Hauptstadtbürger, Hopfenbauern und Provinzhandwerker, kleinstädtische Dreiquartlprivatiers und Fuhrknechte dieses noblige Idiom quasi als „gesunkenes Kulturgut“ übernommen hätten, kann niemand ernstlich mutmaßen. In der Tat werden die Dialektsprecher der niederen Gesellschaftsschichten, sei es in Bayern oder in anderen deutschen Staaten jener Zeit, gewiss nicht das „noblige Idiom“ an sich übernommen haben, sondern es sickerten lediglich vereinzelte Gallizismen in ihren Sprachgebrauch durch. 7 Des Weiteren finden sich auch keine konkreten Zahlen oder Statistiken, die diese Theorie in ihrer vermeintlichen Stellung als Hauptgrund für die massive Präsenz von Gallizismen im Bairischen eindeutig bestätigen könnten. 3.2 Neuere Forschungsansätze Als neuerer beziehungsweise noch weitgehend unerforschter Ansatz, der einen französischen Einfluss auf das Bairische zu begründen vermag, lässt sich die vermeintliche Rolle der dynastischen Verbindungen zwischen den Herrscherhäusern Wittelsbach und Bourbon anführen. Während diese nämlich aus historisch-politischer Sicht größtenteils gut erforscht sind, haben ihre sprachlich-kulturellen Auswirkungen auf das Bairische zwar bereits Erwähnung in der Forschungsliteratur gefunden, allerdings wurden diesbezüglich bisher keine tiefergehenden Untersuchungen durchgeführt. Da es sich bei den dynastischen Verbindungen um einen „spezifisch bayernweite[n] Einfluss Frankreichs“ (Massicot 2015: 160) handelt, stellen Forschungen in diese Richtung ein weiteres Desiderat dar. Denn das Potential von Eheschließungen zwischen den Herrscherhäusern hinsichtlich der Verbreitung der französischen Sprache, Kultur und der gesamten Lebensweise ist durchaus vorhanden, da derartig enge Beziehungen den Weg für eine gewisse Offenheit gegenüber allem französischen ebneten. 7 Zur möglichen Beteiligung von Hausangestellten bei der Vermittlung von Gallizismen in die Dialekte cf. infra Kap. 3.2. Gallizismen im Bairischen 489 Des Weiteren soll ein Ansatz neueren Datums betrachtet werden, welcher zwar nicht in erster Linie den französischen Einfluss auf das Bairische begründen kann, da er sich auf ein „patois franco-provençal“ (Guichonnet 1997: 83) bezieht, allerdings ist nicht auszuschließen, dass im Zuge dieser Beeinflussung auch französisches Lehngut ins Bairische kam. Die Hypothese referiert auf die bedeutenden Migrationsbewegungen der Savoyards innerhalb des Alpenraums, die etwa zwischen dem Ende des Mittelalters und der Französischen Revolution stattfanden und zahlreiche Migranten, vor allem aus den savoyischen Bergen und aus südlich des Monte Rosa Gebirgsmassivs gelegenen Gebieten sowie aus dem Aostatal und den Piemontesischen Alpen, unter anderem nach Baden, Vorarlberg und vereinzelt bis Polen und Ungarn führten, wobei ihre Ziele stets katholisch geprägt sein mussten. Dieser Umstand trug dazu bei, dass Bayern „une terre d’accueil particulièrement fréquentée par ces émigrants“ (Guichonnet 1997: 80) darstellte, ebenso wie die Tatsache, dass mit Bayern schon seit dem 11. Jahrhundert enge freundschaftliche Beziehungen bestanden hatten, wobei wiederum Eheschließungen innerhalb der Adelshäuser ausschlaggebend waren. Im Allgemeinen konnten sich die Savoyards im Laufe der Jahrhunderte in den Gesellschaften der Zielländer etablieren, weshalb sich in Bayern seit Generationen ansässige Familien mit savoyischen Vorfahren unter anderem in München, Augsburg, Kempten, Füssen, Freising und Neuötting finden (cf. Guichonnet 1997: 80-84). So ist die Annahme eines gallo-romanischen Einflusses auf das Bairische durch die Savoyards und ihre Nachfahren keineswegs abwegig und könnte einen vielversprechenden Forschungsansatz darstellen. Eine letzte neuere Theorie (cf. Waldinger 2017: 64-67) bezieht sich auf die Rolle, welche möglicherweise Hausangestellte in vornehmen deutschen Familien bei der Verbreitung der Gallizismen in den Dialekten eingenommen haben. 8 Die Hypothese ist hierbei, dass die Bediensteten im Rahmen ihrer Tätigkeit und in der alltäglichen Konversation mit den sozial höhergestellten Familienmitgliedern ihrer Arbeitgeber direkt mit dem Französischen in Kontakt kamen und bestimmte Gallizismen in ihren Sprachgebrauch übernahmen. Durch den Kontakt mit ihrer eigenen Familie und ihren Freunden könnten die Gallizismen dann eine weitere Verbreitung innerhalb der niederen sozialen und dialektal geprägten Schichten erfahren haben. Dies kann allerdings nicht nur auf das Bairische bezogen werden, sondern auf die deutschen Dialekte im Allgemeinen. 8 Cf. außerdem beispielsweise Bochsler / Gisiger (1989: 13, 172-173) oder Polenz (2013: 109). 490 Matthias Waldinger 4 Gibt es spezifisch bairische Gallizismen? 4.1 Vorbemerkungen Wie bereits erwähnt wurde, gibt es in nahezu allen deutschen Dialekten Gallizismen, deren Großteil indirekt über die deutsche Schriftsprache entlehnt wurde. Allerdings finden sich in Bezug auf dieses Lehngut in der konsultierten Literatur oftmals Aussagen hinsichtlich Gallizismen, die für den jeweiligen Dialekt spezifisch sein sollen und folglich nicht in der deutschen Hochrespektive Schriftsprache oder in anderen deutschen Dialekten zu finden sind, wie beispielsweise ambäten ‚belästigen‘ > embêter oder Depanksen ‚Ausgaben‘ > dépenses aus dem saarländischen Dialekt um Saarlouis (cf. Kramer 1992: 150-151), „die anderswo im deutschen Sprachraum nicht Fuß fassen konnten“ (Kramer 1992: 150). Auch in Bezug auf das Bairische finden sich derartige Aussagen, weshalb im Rahmen einer empirischen Untersuchung versucht wurde, veritable spezifisch bairische Gallizismen auszumachen, die weder in einem anderen deutschen Dialekt noch in der deutschen Hochsprache zu finden sind oder waren. Allerdings sind die Vorzeichen hier durchaus als ungünstig zu betrachten, da „das Bairische vom Französischen in großen Teilen nur mittelbar über das Hoch- und Schriftdeutsche beeinflusst wurde“ (Knoerrich 2003: 128). In jedem Fall gilt es zu berücksichtigen, dass diese Untersuchung aufgrund des begrenzten Rahmens keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 4.2 Schwierigkeiten bei der diachronen Einordnung direkter und indirekter Entlehnungen in die deutschen Dialekte In den konsultierten Arbeiten, welche den französischen Lehneinfluss auf deutsche Dialekte und Mundarten behandeln, wird mehrfach ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Entlehnungszeitpunkte der Gallizismen, die Art ihrer Entlehnung - also durch direkten Sprachkontakt oder indirekt über die deutsche Hochrespektive Schriftsprache, aber auch über benachbarte deutsche Dialekte (cf. Kramer 1992: 154) - sowie „ihr jeweiliger Weg im allgemeinen kaum mehr genau rekonstruieren“ (Stein 1990: 195) lassen. Dies bestätigt unter anderem Kramer (1992: 21), indem er schreibt, dass […] Kriterien für eine Abgrenzung direkter Entlehnungen aus dem Französischen von indirekten noch ebenso ein Desiderat sind wie sichere Erkenntnisse über die Wanderwege französischer Wörter innerhalb Deutschlands. Diese Problematik führt folglich dazu, dass für die heutige Forschung Gallizismen im Bairischen 491 […] eine wesentliche Schwierigkeit darin [liegt], ursprünglich mundartliche Elemente von solchen zu trennen, die auch im Hochdeutschen allgemein verbreitet […] sind. (Stein 1990: 195) Dies stellt exakt die Problematik dar, welche auch für die Einstufung von Gallizismen als „spezifisch bairisch“ in hohem Maße relevant ist, da für eine derartige Attribuierung natürlich eine direkte Entlehnung von Gallizismen aus dem Französischen ins Bairische zugrunde liegen muss und dieses Lehngut auch in der Folge keine weitere Verbreitung in der deutschen Hochsprache oder in anderen deutschen Dialekten gefunden haben darf. Allerdings ist es wohl als Tatsache anzusehen, dass [n]ur bei ganz wenigen Wörtern […] direkte Entlehnung vor[liegt]; die Hauptquelle stellt vielmehr die deutsche Schriftsprache besonders des 17. und 18. Jh. dar (Alamode- Sprache) […]. (Kramer 1992: 157) Auch Kratz (1968: 476) stimmt der Annahme zu, dass „[d]er weitaus größte Teil der Gallizismen […] über die deutsche Schriftsprache hereingekommen [ist]“. Folglich dürfte die Anzahl spezifisch bairischer Gallizismen generell wohl nicht allzu hoch sein, was die Suche erschwert. So gilt es bezüglich der Gallizismen im Deutschen und insbesondere in den deutschen Dialekten ohne Arealkontakt zum Französischen, zu denen auch das Bairische zählt, 9 festzuhalten, dass es […] nicht leicht [ist], eine Unterscheidung zwischen den französischen Elementen, die sozusagen den Normalbestand im Deutschen darstellen, und den spezifischen Wörtern durchzuführen. Auch hier kann nur die Einzelforschung weiterhelfen, die bei jedem Wort genau die regionale Verbreitung untersucht. (Kramer 1992: 158) Deswegen sollte im Rahmen der Untersuchung versucht werden, zumindest für das Bairische eine erste derartige „Einzelforschung“ für einige ausgewählte Gallizismen anzustellen. In der Folge wird die Korpusgrundlage dieser Untersuchung dargestellt und die Verfahrensweise erläutert. 4.3 Korpusgrundlage Zunächst galt es, ein Korpus in Form einer Liste mit Gallizismen zu erstellen, die für eine Attribuierung als „spezifisch bairisch“ in Frage kommen könnten. Hierfür wurde zu Beginn der Recherche eine erste Liste angelegt, in die sukzessive Gallizismen eingetragen wurden, welche in der konsultierten Literatur 9 Die zeitweise direkte Nachbarschaft zwischen bayerischem und französischem Territorium nach der Inbesitznahme der Pfalz durch das Königreich Bayern im Jahre 1816 soll hier nicht berücksichtigt werden. 492 Matthias Waldinger Erwähnung fanden. Zudem wurden explizit Gallizismen aus den beiden, speziell auf das Bairische bezogenen, empirischen Arbeiten von Knoerrich (2003) und Mayr (2009) ausgewählt und auch Zehetners Lexikon ( 3 2005) wurde einer eingehenden Untersuchung hinsichtlich französischen Lehnguts unterzogen. 10 So entstand eine ursprüngliche Liste mit 124 Gallizismen. Es stellte sich dann die Frage, welche dieser Gallizismen für eine genauere Untersuchung in Betracht kommen sollten. Hierbei handelte es sich zum einen um Gallizismen, die in der konsultierten Literatur konkret als „bairische Besonderheiten“ (Schmid 2012: 160) bezeichnet werden, zum anderen lagen der Auswahl gewisse Kriterien zugrunde, da sie nicht ad libitum erfolgen konnte: So wurden aus der Dissertation von Isabel Knoerrich Gallizismen ausgewählt, deren Lemma in dem von ihr erstellten „gesamtbairischen Wörterbuch“ (Knoerrich 2003: 22-73) keine konkrete Angabe zur Verwendung im Standarddeutschen enthält oder bei denen explizit auf eine Verwendung im bairischen Sprachgebiet hingewiesen wird. Des Weiteren wurden auch Gallizismen aus Knoerrichs „Lemmaliste“ (Knoerrich 2003: 74-81) ausgewählt. Da in dieser Liste allerdings in sehr vielen Fällen keine zusätzlichen Informationen angegeben sind, wurden die für das vorliegende Korpus in Frage kommenden Gallizismen vor ihrer Auswahl hinsichtlich ihrer Präsenz im Duden Universalwörterbuch ( 8 2015) sowie im Duden Fremdwörterbuch (1994) überprüft. Waren sie dort nicht zu finden, wurden sie in das Korpus aufgenommen, da eine Attribuierung als „spezifisch bairisch“ möglich erschien. Aus Mayrs (2009) Untersuchung wurden Gallizismen für das finale Korpus ausgewählt, die nicht in der von ihr verwendeten Ausgabe des Deutschen Universalwörterbuchs ( DU ) von Duden ( 3 1996) aufgeführt sind, so beispielsweise Budschamperl : „Im DU findet es keine Verwendung“ (Mayr 2009: 60). Eine Auswahl erfolgte zudem bei Gallizismen, in deren Lemma bei Mayr keinerlei Angabe zum DU gemacht wird, wie beispielsweise bei dischkriern (cf. Mayr 2009: 69), sowie Gallizismen, die nur in dem von Mayr verwendeten Referenzwerk zum Bairischen, Zehetners Lexikon Bairisches Deutsch ( BD ) ( 3 2005), zu finden sind, so zum Beispiel sackerisch : „Das Lexem wird nur im BD aufgeführt […]“ (Mayr 2009: 138). Bei den Gallizismen aus Zehetners Lexikon, welche nach der Durchsicht durch den Autor eine Attribuierung als „spezifisch bairisch“ vermuten ließen, wurde ebenso wie bei den Gallizismen aus Knoerrichs Lemmaliste vorab eine Überprüfung im Duden Universalwörterbuch ( 8 2015) sowie im Duden Fremd- 10 Es mag jeden bairischen Dialektforscher verwundern, warum in dieser Aufzählung Johann Andreas Schmellers Bayerisches Wörterbuch (Erstauflage Teil 1 und 2 1827, Teil 3 und 4 1837) nicht zu finden ist. Dies liegt daran, dass bereits Knoerrich eine beachtliche Vorarbeit geleistet hat, indem sie „[d]as Wörterbuch von Schmeller […] annähernd erschöpfend bearbeitet[e]“ (Knoerrich 2003: 18). Gallizismen im Bairischen 493 wörterbuch (1994) durchgeführt. Waren sie dort nicht aufgeführt, wurden sie in das finale Korpus aufgenommen. Die Auswahl weiterer Gallizismen aus der konsultierten Literatur erfolgte aufgrund einer wiederholten oder im Allgemeinen emblematischen Anführung als Beispiele für französisches Lehngut im Bairischen in verschiedenen Quellen oder bei einer lediglich singulären Erwähnung. Quellenübergreifend wurden zudem Gallizismen ausgewählt, die dem Verfasser, selbst bavarophon, gänzlich unbekannt waren oder deren Verwendung im Bairischen ihm nicht bekannt war und welche zudem in der heutigen deutschen Hochsprache nicht geläufig sind. Für alle in der finalen Wörterliste aufgeführten Gallizismen wird der jeweilige Grund für die Aufnahme (multiple Begründungen möglich) explizit angegeben. 4.4 Verfahrensweise Nach der Fertigstellung des Korpus ging es um die Frage, wie eine mögliche Attribuierung als „spezifisch bairisch“ zu rechtfertigen wäre. Hierzu wurden zwei von Kramer (1992) vorgeschlagene Kriterien zum Nachweis direkter Entlehnungen herangezogen: Zum einen das Kriterium, dass „[n]ur in einer einzigen Mundart belegte Französismen […] im allgemeinen direkte Entlehnungen sein [dürften]“ (Kramer 1992: 154) und zum anderen, dass [b]ei Wörtern, die in der deutschen Schriftsprache gut bezeugt sind und überdies in einer großen Zahl grenzferner Dialekte vorkommen, […] die Annahme einer Entlehnung aus der deutschen Schriftsprache näher[liegt,] als die Vermutung direkter französischer Herkunft. (Kramer 1992: 155) Vor dem Hintergrund dieser Kriterien wurde folgende Verfahrensweise angewandt: Es handelt sich um einen Vergleich bairischer (und auch bayerischer) Wörterbücher mit gesamtdeutschen Wörterbüchern sowie mit Wörterbüchern anderer deutscher Dialekte und einer darauf basierenden Attribuierungsrespektive Ausschlusswahrscheinlichkeit für spezifisch bairische Gallizismen. Hierfür wurde zunächst die Präsenz beziehungsweise die Absenz jedes einzelnen Gallizismus in zwei gesamtdeutschen Wörterbüchern, nämlich im Duden Universalwörterbuch ( 8 2015) und im Duden Fremdwörterbuch (1994) überprüft, welche den synchronen Sprachstand des Deutschen repräsentieren. Es sei darauf hingewiesen, dass stets alle in der konsultierten Literatur verwendeten Schreibweisen sowie evidente, davon ableitbare Varianten nachgeschlagen wurden. War der jeweilige Gallizismus in einem der beiden Wörterbücher aufgeführt, war keine weitere Untersuchung notwendig, da eine gesamtdeutsche Verwendung vorlag. 494 Matthias Waldinger Anders verhielt es sich bei Gallizismen, die entweder nicht aufgeführt waren oder deren Lemma die Markierungen „bes. südd.“, „bayr.“, „österr.“, „landsch.“ 11 oder eine Kombination davon enthielt. Hier wurde die Überprüfung in einem weiteren gesamtdeutschen Wörterbuch fortgeführt, welches einen älteren Sprachstand des Deutschen darstellt. Die Rede ist vom Deutschen Wörterbuch ( DWB ) der Gebrüder Grimm, welches den „hochdeutschen schriftsprachlichen Wortbestand […] in seiner Entwicklung und seinem Gebrauch von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Bearbeitungsgegenwart“ (Kompetenzzentrum Trier 2017) repräsentieren soll. Für den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand ist dies natürlich von Vorteil, da somit auch die deutsche Hochsprache der Alamode -Epoche berücksichtigt wird. Konkret wurde nun so weiter verfahren, dass die nach der ersten Überprüfung verbliebenen Gallizismen im Grimmschen Wörterbuch nachgeschlagen wurden. Waren sie dort vorhanden, schieden sie als „spezifisch bairische“ Gallizismen aus, waren sie nicht aufgeführt, wurde im nächsten und letzten Schritt der Untersuchung ihre Präsenz in einem fränkischen und einem schwäbischen Dialektwörterbuch untersucht, um auszuschließen, dass sie in einem deutschen Nachbardialekt des Bairischen Verwendung finden respektive fanden. Hierzu wurde für das Fränkische das Fränkische Wörterbuch ( WBF ) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu Rate gezogen, welches online verfügbar ist. Für das Schwäbische wurde das von Hermann Fischer bearbeitete und von Wilhelm Pfleiderer weitergeführte Schwäbische Wörterbuch (sieben Bände, erschienen zwischen 1904 und 1936) konsultiert. Zudem wurde Hinweisen in der konsultierten Literatur bezüglich der Verwendung eines bestimmten Gallizismus in anderen deutschen Dialekten nachgegangen, so zum Beispiel im Badischen (cf. Rowley 2005: 4). Gallizismen, die auch dort nirgends zu finden waren, konnten somit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als „spezifisch bairisch“ eingestuft werden, da sie nicht in der deutschen Hochsprache verwendet werden respektive wurden und auch die Weitergabe von Dialekt zu Dialekt durch direkte Nachbarschaft als unwahrscheinlich zu bewerten ist. Allerdings manifestierten sich im Laufe der Untersuchung auch einige fragliche Fälle, beispielsweise bei nicht gänzlich gesicherter Etymologie oder durch semantische Unterschiede zwischen Dialekt und deutscher Hochsprache. Diese Fälle wurden im Rahmen des jeweiligen Lemmas explizit gekennzeichnet. Es sei in jedem Fall darauf hingewiesen, dass eine Attribuierung als „spezifisch bairisch“ nur dann mit abschließender Sicherheit erfolgen kann, wenn 11 „Lässt sich ein nur regional verwendetes Wort bzw. eine Wendung nicht eindeutig einer bestimmten Region zuordnen, wird die Markierung landsch . (= landschaftlich ) verwendet“ (Duden 8 2015: 19). Es ist folglich nicht auszuschließen, dass dies bei einem Gallizismus eine spezifisch bairische Verwendung bedeutet. Gallizismen im Bairischen 495 alle deutschen Dialekte und Mundarten sowie gemeindeutsche Wörterbücher aus allen Sprachepochen seit der mittelalterlichen Entlehnungswelle detailliert und ausnahmslos überprüft werden, was allerdings im Rahmen einer Einzelstudie nicht zu leisten war und generell eine außerordentlich umfangreiche Aufgabe darstellt. Hier könnten allerdings künftige Forschungsvorhaben mit einem größeren Rahmen anknüpfen. Des Weiteren gilt es noch zu erwähnen, dass im Verlauf der Untersuchung für den Fall, dass bei einem Gallizismus weitere Informationen eingeholt werden mussten, Schmeller ( 2 1872-1877 / 1985), die zwei bisher erschienenen Bände des Bayerischen Wörterbuchs ( BWB ) (2002, 2012), Zehetner ( 3 2005), die bisher erschienenen Bände des Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich ( WBÖ ) (fünf Bände, 1970, 1976, 1983, 1998, 2015), das Badische Wörterbuch (fünf Bände, erschienen 1940, 1942 / 1974, 1975-1997, 1999-2009, 2012) sowie die online Wörterbücher Duden online , Larousse online und PONS online konsultiert wurden. Nachfolgende Beispiele stellen einige exemplarische Fälle einer umfangreicheren Studie dar (cf. Waldinger 2017), die einen ersten Überblick über eine mögliche Verfahrensweise zur Isolierung spezifisch bairischer Gallizismen gibt sowie die dabei entstehenden Probleme und die dadurch erzielten Ergebnisse aufzeigt. 4.5 Vorbemerkungen zur Wörterliste und Abkürzungsverzeichnis Für die Erstellung der Wörterliste wurde nach einer vorgegebenen Maske vorgegangen, deren Aufbau sich wie folgt darstellt: Gallizismus: (Artikel bei Subst.) (ggf. weitere Schreibweisen) (Wortart) Bedeutung(en) (Quellenangabe) Bsp.: ggf. Beispielsatz / Beispielsätze (Quellenangabe) Etym.: Angaben zur Etymologie (Quellenangabe) GfA: Grund / Gründe für Aufnahme in die Wörterliste AU : Anmerkungen zur Untersuchung Fazit: Ergebnis der Untersuchung Lit.: Konsultierte Literatur Innerhalb der Lemmata wurden folgende Abkürzungen und Symbole verwendet 12 : 12 In diesem Abkürzungsverzeichnis werden lediglich die Abkürzungen erläutert, die in den hier dargestellten Lemmata zu finden sind. Das ursprüngliche Abkürzungsverzeichnis enthält mehr Abkürzungen und Erläuterungen. 496 Matthias Waldinger afrz. altfranzösisch allgem. allgemein althd. althochdeutsch AU Anmerkungen zur Untersuchung BadW Badisches Wörterbuch bair. bairisch Bsp. Beispielsatz / Beispielsätze BWB Bayerisches Wörterbuch d. Kommission f. Mundartforschung DF Duden Fremdwörterbuch dial. dialektal DU Duden Universalwörterbuch DWB Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm Etym. Etymologie frz. französisch GfA Grund / Gründe für Aufnahme (in die Wörterliste) it. italienisch kelt. keltisch landsch. landschaftlich lat. lateinisch Lit. Angaben zur konsultierten Literatur Subst. Substantiv SW Schwäbisches Wörterbuch ugs. umgangssprachlich V. Verb WBF Fränkisches Wörterbuch 4.6 Liste der untersuchten Gallizismen-- eine Auswahl Bandaler, das (Subst.) Sonnenvordach aus Stoff ( BWB ) Bsp.: „Geh, lass s’Bantalea owa, wei d’Sunn gor a so schticht.“ ( BWB ) Etym.: Herkunft unsicher, vielleicht aus frz. bandoulière ‚Tragriemen‘ oder it. dial. pantaliara ‚Dachvorsprung‘ ( BWB ) Gallizismen im Bairischen 497 GfA: In Lemmaliste bei Knoerrich ohne zusätzliche Information; deshalb Vorabprüfung im DU und DF , darin nicht belegt. AU : Nicht im DWB ; nicht im WBF (allerdings im BWB Angabe, dass vereinzelt in Oberfranken verwendet); nicht im SW . Fazit: Lediglich in bairischem Wörterbuch belegt, allerdings mit Hinweis auf vereinzelte Verwendung in Oberfranken; dies konnte nicht verifiziert werden; 13 zudem nicht gesicherte Etymologie (möglicherweise frz. oder it.); falls von frz. bandoulière ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass es sich um einen spezifisch bairischen Gallizismus handelt; als fraglicher Fall einzustufen. Lit.: BWB I (2002: 1025); Knoerrich (2003: 75). Botschamperl, das (auch: Budschamperl) (Subst.) Nachttopf (Zehetner) Etym.: frz. pot de chambre + bair. Diminutivendung (Zehetner) GfA: Laut Schmid eine bairische Besonderheit; generell emblematische Anführung als bairischer Gallizismus (u. a. in Wittmann, Knoerrich, Mayr); laut Mayer findet es im DU keine Verwendung. AU : Nicht im DU ; nicht im DF ; nicht im DWB ; nicht im WBF ; im SW belegt als Potschamber : „Nachttopf, allgem. gewählter als Hafen, Nachtgeschirr , daher in gebildetem Mund mehr scherzhaft“; im BadW ebenfalls als Potschamber belegt (Hinweis darauf in Rowley). Fazit: Auch in Dialektwörterbuch eines Nachbardialekts des Bairischen sowie im Badischen belegt; kein spezifisch bairischer Gallizismus; Aussagen aus Literatur somit widerlegt. Lit.: BadW I (1925-1940: 301); Knoerrich (2003: 60); Mayr (2009: 60); Rowley (2005: 4); Schmid (2012: 160); SW I (1904: 1326); Wittmann (1997: 17); Zehetner ( 3 2005: 270). Goggolori, der (auch: Gogalari, Gagalori, Goggolore) (Subst.) 1) witziger, alberner, nicht recht ernst zu nehmender Kerl, Hanswurst, Hansdampf (Zehetner) 2) in ganz Altbayern ein Spottname für einen Hanswurst, einen Kasperl; in Nordbayern auch für einen Angeber oder Gecken (Rowley) Etym.: evtl. zu afrz. la gogue (Zehetner) ‚Scherz, Spaß, Spott‘ (Lommatzsch); weitere Deutungen: lat. oder kelt. Herkunft oder lediglich scherzhafte Weiterbildung zu einer Mundartform des schriftdeutschen Worts Gaukler , das bereits in althd. Zeit bezeugt ist; letztlich Herkunft aber unklar (Rowley) 13 Hierzu wurde das oberfränkische Wörterbuch von Bär / Bär (2005) konsultiert. Darin ist Bandaler nicht belegt. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um ein populärwissenschaftliches Wörterbuch handelt. Ein wissenschaftlich fundiertes Wörterbuch des Oberfränkischen existiert bisher nicht. 498 Matthias Waldinger GfA: Aus Zehetner, deshalb Vorabprüfung im DU und DF , darin nicht belegt; Zur Erklärung des Titels der Beilage zum BWB : Es sollte „ein allgemein bekanntes Wort gesucht [werden], von dem auch der Nichtbayer sagen muß: das kommt mir bairisch vor.“ (Rowley) und die Wahl fiel auf Goggolori . AU : Nicht im DWB ; nicht im WBF ; nicht im SW . Fazit: Lediglich in bairischem Wörterbuch belegt, allerdings nicht gesicherte Etymologie (möglicherweise frz., lat., kelt., althd.); falls von frz. la gogue ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um einen spezifisch bairischen Gallizismus handelt; als fraglicher Fall einzustufen. Lit.: Tobler / Lommatzsch IV (1960: 413); Rowley (1997 / 1998: 1); Zehetner ( 3 2005: 155). Karmonadl (keine Angabe zum Genus) 1. Bezeichnung für ein Getränk; zudem Verweis auf das Fleischgericht „Carbonade“ (Knoerrich) 2. Rippenstückchen ( côtelette ), auf dem Rost über Kohlen gebraten (Schmeller) Etym.: von frz. la carbonade (Schmeller); frz. carbonade , eventuell kontaminiert mit Limonade (Knoerrich) GfA: Bei Knoerrich keine konkrete Angabe zur Verwendung im Standarddeutschen; dem Autor gänzlich unbekannt. AU : Nicht im DU ; nicht im DF ; nicht im DWB ; nicht im WBF ; nicht im SW . Fazit: Lediglich in bairischen Wörterbüchern belegt. Die Wahrscheinlichkeit ist gegeben, dass es sich um einen spezifisch bairischen Gallizismus handelt. Lit.: Knoerrich (2003: 42); Schmeller II ( 2 1872-1877 / 1985: 1292). karriolieren (V.) kutschieren, karriolen (Zehetner) Etym.: frz. carriole ‚zweirädriger Karren‘ (Zehetner) GfA: Aus Zehetner, deshalb Vorabprüfung im DU , darin nicht belegt; im DF belegt, allerdings als karriolen : „1. (veraltet) mit der Briefpost fahren. 2. (landsch. ugs.) herumfahren, unsinnig fahren“. Aufnahme in Korpus als Sonderfall, da im Bairischen anderes Wortbildungssuffix für den Infinitiv, weshalb nicht einfach von einer bavarisierten Schreibweise die Rede sein kann. AU : Nicht im DWB ; nicht in WBF ; in SW lediglich Karriole für Kutsche belegt. Fazit: Auf demselben Etymon basierendes Verb auch in gesamtdeutschen Wörterbuch belegt, allerdings mit abweichender Infinitivbildung; die Wahrscheinlichkeit ist gegeben, dass es sich bei der Infinitivbildung mit dem Suffix -ieren um einen spezifisch bairischen Gallizismus handelt. Lit.: DF (1994: 705); SW IV (1914: 236); Zehetner ( 3 2005: 204). Malizen, die (Subst.) Gallizismen im Bairischen 499 Unannehmlichkeiten, Gebrechen, Bosheiten (Zehetner) Etym.: wohl von frz. malicieux ‚schelmisch, verschmitzt, spitzbübisch‘ respektive dem entsprechenden Substantiv malice ‚Schalkhaftigkeit, Böswilligkeit‘ (siehe jeweils PONS online) (sonst keine Angabe in konsultierter Literatur) GfA: Aus Zehetner, deshalb Vorabprüfung im DU und DF , darin jeweils lediglich das auf dasselbe Etymon zurückgehende maliziös ‚boshaft‘ (< frz. malicieux < lat. malitiosus ) belegt; unterschiedliche Wortart Bairisch-Standarddeutsch, deshalb als Sonderfall in das Korpus aufgenommen. AU : Nicht im DWB ; nicht im WBF ; im SW als maliziös belegt. Fazit: In zwei gesamtdeutschen Wörterbüchern sowie in einem Dialektwörterbuch eines Nachbardialekts des Bairischen ist lediglich ein auf demselben Etymon basierendes Adjektiv belegt. Das untersuchte Substantiv ist nur in einem bairischen Wörterbuch belegt. Die Wahrscheinlichkeit ist gegeben, dass es sich um einen spezifisch bairischen Gallizismus handelt. Lit.: DF (1994: 854); DU ( 8 2015: 1159); PONS online (2017); SW VI / II (1936: 2514); Zehetner ( 3 2005: 235). 4.7 Untersuchungsergebnis - Auswertung und Fazit Die gesamte, hier stichprobenartig vorgestellte Untersuchung (cf. Waldinger 2017: 72-108) ergab folgendes Resultat: Von den 124 Gallizismen der ursprünglichen Wörterliste konnten lediglich 48 die erläuterten Kriterien zur Aufnahme in das Korpus erfüllen. Davon kamen 42 nach eingehender Prüfung nicht mehr als „spezifisch bairisch“ in Betracht, da sie wenigstens in einem gesamtdeutschen Wörterbuch oder einem Dialektwörterbuch eines Nachbardialekts (sowie in zwei Fällen im Badischen) belegt waren. Des Weiteren ergab die Untersuchung in einem Fall, dass es sich nicht um einen Gallizismus handelt ( Persevant ) und in vier weiteren Fällen, dass wohl kein französisches Etymon zugrunde liegt (bei sackrisch , Sackra , Säh und tratzen ). Drei Gallizismen wurden als „fragliche Fälle“ markiert, da bei ihnen entweder in der konsultierten Literatur ein Hinweis auf die Verwendung in einem anderen deutschen Dialekt vorlag, welche nicht verifiziert werden konnte (so bei Bandaler für das Oberfränkische) oder da sich in der konsultierten Literatur ein Hinweis fand, dass es sich bei dem entsprechenden Gallizismus nicht um eine bairische Besonderheit handelt, was allerdings nicht weiter belegt wird und auch im Rahmen der Untersuchung nicht verifiziert werden konnte (so bei Böfflamott , bei welchem allerdings aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Wortschatz der Küche und einer damit in der Regel einhergehenden weiten Verbreitung eine Attribuierung als „spezifisch bairisch“ eher unwahrscheinlich ist). Außerdem trug bei zwei der drei fraglichen Fälle auch eine nicht mit abschließender 500 Matthias Waldinger Sicherheit geklärte Etymologie zu dieser Kategorisierung bei (so bei Bandaler und Goggolori ). Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um spezifisch bairische Gallizismen handelt, ist nur bei drei der 48 untersuchten Fälle gegeben, nämlich bei Karmonadl , karriolieren und Malizen . Während Karmonadl weder in einem der gesamtdeutschen noch in einem der Dialektwörterbücher der zwei Nachbardialekte belegt war und somit einen potentiell spezifisch bairischen Gallizismus darstellt, verhielt es sich bei den beiden anderen Gallizismen etwas anders: Malizen war nur in einem bairischen Wörterbuch belegt, allerdings fanden sich sowohl in zwei gesamtdeutschen Wörterbüchern als auch in einem Dialektwörterbuch eines Nachbardialekts des Bairischen das auf demselben Etymon basierende Adjektiv maliziös . Allerdings ist das Substantiv Malizen per se wohl als potentiell spezifisch bairisch zu betrachten. Ebenso war karriolieren lediglich in bairischen Wörterbüchern belegt, während sich in einem gesamtdeutschen Wörterbuch das auf demselben Etymon basierende Verb karriolen fand. Gleichwohl ist bei dem Gallizismus mit dem Suffix -ieren die Wahrscheinlichkeit einer spezifisch bairischen Verwendung gegeben. Abschließend bleibt nun Folgendes zu konstatieren: Obgleich die Anzahl der untersuchten Gallizismen wohl nur bedingt als repräsentativ zu betrachten ist, vermag die Tatsache, dass etwa zwei Drittel der Gallizismen der ursprünglichen Liste die Kriterien für eine Aufnahme in das endgültige Korpus gar nicht erst erfüllten, aufzuzeigen, dass bereits die Auswahl potentiell spezifisch bairischer Gallizismen für eine genauere Untersuchung eine gewisse Schwierigkeit darstellt und zudem eine äußerst hohe Verlustquote erzielt wird. Eine weitere Schwierigkeit lag wie erwartet in der Tatsache begründet, dass für Dialekte mangels einer Normierung eine Vielzahl multipler Schreibweisen für die Dialektwörter existiert. Wie bereits in den Vorbemerkungen erwähnt, wurde diesbezüglich nach bestem Wissen und Gewissen versucht, ein möglichst vollständiges Repertoire von Varianten zu berücksichtigen. Die Untersuchung ergab zum einen, dass es sehr viele Faktoren zu berücksichtigen gilt, bis eine potentielle Attribuierung als „spezifisch bairisch“ ausgesprochen werden kann, und lässt zum anderen darauf schließen, bei lediglich drei von 48 Gallizismen, dass spezifisch bairische Gallizismen generell wohl eine Rarität darstellen. Der heutige Eindruck, dass das Bairische wie auch andere deutsche Dialekte auffällig mehr Gallizismen aufweist als die Hochsprache, lässt sich damit erklären, dass die Regermanisierungsmaßnahmen Ende des 19. Jh. (cf. Ernst 2012: 218-220) hauptsächlich die Standardsprache erreichten, während die Gallizismen in den Dialekten in viel höherem Maße erhalten blieben. Gallizismen im Bairischen 501 5 Schlussbetrachtung und Fazit Hinsichtlich des Forschungsstandes wurde evident, dass in erster Linie die deutschen Dialekte, und hier insbesondere das Bairische, vor dem Hintergrund des französischen Lehneinflusses sowohl in der romanistischen als auch in der germanistischen Forschungswelt bisher keine nennenswerte respektive keine Beachtung fanden, weshalb erhebliche Forschungslücken zu verzeichnen sind. Die Darstellung weitverbreiteter Theorien in Bezug auf die massive Präsenz von Gallizismen im Bairischen ergab, dass sich diese nicht auf eine spezifische Begründung zurückführen lässt, sondern wohl in einem Zusammenwirken der erläuterten Theorien begründet liegt. Die Untersuchung, welche sich mit der Frage befasste, ob es spezifisch bairische Gallizismen gibt, war von Schwierigkeiten, die in der Forschungswelt allgemein anerkannt sind, begleitet. Kramer (1992: 160) fasst diese sehr treffend zusammen: Das Kernproblem bei der Beurteilung von Französismen in deutschen Dialekten […] besteht [darin], den Entlehnungsweg zu klären: Stammt ein Element direkt aus dem Französischen, stammt es aus der deutschen Schriftsprache oder stammt es aus einem Nachbardialekt, der es seinerseits direkt oder indirekt aus dem Französischen bezogen hat? Diese Frage ist prinzipiell in jedem Einzelfall gesondert zu klären […]. Eine solche Einzelfallprüfung wurde bei 48 Gallizismen durchgeführt, wonach nur für drei eine Attribuierung als „spezifisch bairisch“ mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu rechtfertigen ist, da wie erwähnt weitaus umfangreichere Analysen nötig wären, um eine derartige Attribuierung mit abschließender Sicherheit aussprechen zu können. Wie könnte nun die Forschung in Bezug auf die Gallizismen im Bairischen weiter verfahren? Zunächst wäre die Weiterführung der vorliegenden Untersuchung in einem größeren Rahmen denkbar und auch auf andere deutsche Dialekte übertragbar. Weiterhin wurden im Rahmen der Darstellung des Forschungsstands erhebliche Forschungslücken aufgezeigt, weshalb sich verschiedene Desiderate manifestierten. So weist beispielsweise Kramer (1992: 160) darauf hin, dass es […] im Bereich der deutschen Dialekte […] um die Voraussetzungen zu worthistorischer Forschung wegen des weitgehenden Fehlens von Belegwörterbüchern mit Erstdatierungen und wegen der unzureichenden sprachgeographischen Aufarbeitung des Lehnwortschatzes schlecht bestellt [ist]. 502 Matthias Waldinger Ein solches Wörterbuch wäre auch für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand von großem Vorteil gewesen und stellt generell ein bedeutendes Desiderat dar. Für Kramer (1992: 157) wäre zudem […] ein Wörterbuch, das die Französismen aller deutschen Dialekte nach dem Etymon geordnet sammeln würde (in der Art des FEW ) und so den Nachweis der Wanderwege bereitstellen würde […]. ideal. Ebenso relevant wäre eine Aufsatzsammlung oder eine Monographie, welche das Gesamtbairische umfasst und bestenfalls auch den fremdsprachigen Lehneinfluss inkludiert. Weiterhin könnten die rekurrierenden Ereignisse im Kontext des französischen Einflusses auf die deutschen Lande und vornehmlich auf Bayern, nämlich der Dreißigjährige Krieg sowie die Herrschaft Napoleons, explizit auf sprachlicher Ebene untersucht sowie der Fokus auf die soziale Vernetzung Bayerns und Frankreichs durch dynastische Beziehungen und sonstige Bündnisse gerichtet werden. Auch die Migrationsbewegungen der Savoyards sowie die Rolle der Bediensteten könnten bedeutende Erkenntnisse liefern. Im Allgemeinen ist der Nachholbedarf der Forschung im Bereich der Gallizismen im Bairischen sehr hoch und bietet vielversprechende Ansatzpunkte. Vor diesem Hintergrund bleibt nun nur noch, mit Otto Maussers (1939 / 1985: 17) Worten zu schließen: „Solche Arbeit ist eigentlich eine Arbeit ohne Ende.“ 14 Literatur Wörterbücher BadW = Ochs, Ernst (1925-2012 ff.): Badisches Wörterbuch. Herausgegeben mit Unterstützung des Badischen Ministeriums des Kultus und Unterrichts. Vorbereitet von Friedrich Kluge, Alfred Götze, Ludwig Sütterlin, Friedrich Wilhelm, Ernst Ochs. Bearbeitet von Ernst Ochs. 5 Bände. München: Oldenbour / Lahr: Schauenburg. Bär / Bär = Bär, Kurt / Bär, Hertha (2005): Ich bin ein Oberfrange. Ein oberfränkisches Wörterbuch und mehr. Landau: Bär [Selbstverlag]. BWB = Bayerische Akademie der Wissenschaften, Kommission für Mundartforschung (Hrsg.) (2002-2012 ff.): Bayerisches Wörterbuch ( BWB ). 2 Bände. Bearbeitet von Josef Denz, Bernd Dieter Insam, Anthony R. 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Cet article abordera, après avoir donné un bref aperçu des étapes de lʼinfluence française et des facteurs qui la favorisaient, la représentation de la francomanie dans les comédies réalistes de trois auteurs, Costache Facca (vers 1801-1845), Vasile Alecsandri (1821-1890) et Ion Luca Caragiale (1852-1912), une attention particulière étant consacrée aux aspects linguistiques. 1 Einführung Das Rumänische erfuhr in den Fürstentümern Walachei und Moldau Ende des 18. Jhs. und vor allem im 19. Jh. einen beträchtlichen Einfluss des Französischen. Dieser in seiner ersten Etappe (1780-1830) vorwiegend indirekte, über das Neugriechische und das Russische, 1 und in der zweiten (1830-1863 / 66) 2 und 1 Der französische Einfluss begann bereits in der Phanarioten-Epoche (1711-1821), denn diese griechischen Statthalter, ehemals Dolmetscher der Pforte aus dem Stadtteil Phanar in Konstantinopel, sprachen selbst Französisch und förderten die französische Kultur. Nach dem russisch-türkischen Krieg (1769-1774) und dem Frieden von Küčuk-Kainargi (1774) wurde französischer Einfluss auch durch die in Moldau und der Walachei stationierten zweisprachigen russischen Offiziere ausgeübt. Die direkten Kontakte mit Frankreich waren vereinzelt (cf. Eliade 3 2006: 115-134, 147-150; Rosetti / Cazacu / Onu 1971: 577-581). 2 Die Beziehungen zu Westeuropa, insbesondere zu Frankreich, verstärkten sich nach dem russisch-türkischen Krieg von 1828 bis 1829 und dem Frieden von Adrianopel (1829), der den rumänischen Fürstentümern unter anderen die Freiheit der Schifffahrt und des Innen- und Außenhandels auf der Donau und im Schwarzen Meer zurückgab, wenn auch 508 Aurelia Merlan dritten Etappe (nach 1863 / 66) 3 direkte Einfluss spielte - neben dem lateinischen und italienischen - eine bedeutende Rolle im Prozess der Modernisierung der rumänischen Lexik und Syntax, der Herausbildung der modernen rumänischen Schriftsprache ( limba literară ) und der Entstehung und Entwicklung der Funktionalstile (cf. Gheţie / Seche 1969: 285). Der Wortschatz des Rumänischen integrierte innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten, in denen wichtige soziale, politische, wirtschaftliche und vor allem kulturelle Neuerungen stattfanden, unzählige Gallizismen, so wie in keiner anderen vorherigen Epoche: Bedürfnis- und Luxuslehnwörter, Lehnbildungen, aber auch Wörter, die ihre originale Lautung, Schreibung und Flexion konservierten (Fremdwörter). Diese Entlehnungen, von denen manche die alten - slawischen, türkischen und neugriechischen - Entlehnungen ersetzten, führten zu einer Kluft zwischen der Sprache der Elite und der Volkssprache der Bauern mit einem traditionellen Wortschatz. 4 Frankreich stellte allerdings für die rumänischen Fürstentümer - insbesondere nach 1830 - nicht nur ein Sprach-, sondern auch ein Kultur- und Gesellschaftsmodell dar. Lebensstile, Kleidermode, Möbel, Essgewohnheiten und Manieren wurden vorwiegend aus Frankreich importiert. Im Kreis der Großgrundbesitzer (Bojaren) und der reichen Bourgeoisie las man vor allem französische Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, von denen manche direkt aus Paris kamen, in den Fest- und Ballsälen verliefen die Gespräche gewöhnlich auf Französisch und für die Korrespondenz wurde manchmal das Französische bevorzugt. Außerdem wurden französische Gymnasien gegründet und viele Bojarensöhne - darunter zukünftige Fürsten und Schriftsteller, von denen viele als aktive Teilnehmer an der Revolution von 1848 und an der Vereinigung der Fürstentümer und später als Politiker und Diplomaten wirkten, sowie zukünftige Künstler, Anwälte, Ärzte, Ingenieure, Mathematiker, Agronomen, Journalisten - gingen (auch nach der Gründung der Universitäten in Iaşi, 1860, und Bukarest, 1864) zum Studium nach Paris 5 (cf. Giurescu 2000: 247, 270; Goldiş-Poalelungi 1973: 17-19; Craia 1995: 21). Nach dem Vorbild der Pariser Presse entstand und entwickelte sich von 1829 an auch eine rumänische Presse, die - neben den zahlreichen Übersetunter russischer Besatzung (bis 1834), russischem Protektorat (bis 1856) und türkischer Oberhoheit (bis 1877). 3 In den 1860er Jahren verminderte sich der französische Einfluss in gewissem Maße. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die 1863 in Iaşi ( Jassy) gegründete Gesellschaft Junimea (< junime ‚Jugend‘), die sich als Ziel unter anderen „ein Eindämmen des Französischen und derart ‚mechanischen‘ Einflusses“ (Bochmann / Stiehler 2010: 175) setzte, sowie die Ernennung 1866 von Karl I. (Carol) von Hohenzollern-Sigmaringen als Fürst Rumäniens. 4 Zum Kontakt des Rumänischen mit anderen romanischen Sprachen cf. Şora (2006). 5 Allein in den 1860er Jahren befanden sich in der Hauptstadt Frankreichs laut Giurescu (2000: 270) circa 500 rumänische Studierende. Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 509 zungen 6 - das Eindringen von (Tausenden von) Gallizismen am meisten begünstigte (cf. Puşcariu 1976: 387; Ursu / Ursu 2004: 215-220), und nach dem Vorbild des französischen Theaters bildete sich ein Nationaltheater heraus (cf. Ciopraga 1968: 7-8). Auch die romantische Literatur stand bis in die 1860er Jahre fast ausschließlich unter dem Einfluss der französischen Romantik. Frankreich bot außerdem Muster für die Institutionen des neuen, 1859 entstandenen einheitlichen rumänischen Nationalstaats, für die Reformen im Steuer-, Gebiets-, Rechts- und Bildungssystem sowie „für den Aufbau einer Nationalkultur und den Ausbau der Nationalsprache“ (Bochmann / Stiehler 2010: 107; cf. auch Iordan 1977: 268). 7 Die pro-französische Orientierung, die die ersten Jahrzehnte des 19. Jhs. charakterisierte, wuchs bis um die Jahrhundertmitte zu einer regelrechten Frankomanie aus, die auch danach nicht sofort verebbte (cf. Goldiş-Poalelungi 1973: 169-176; Bochmann / Stiehler 2010: 107). Sie betraf allerdings nur bestimmte soziale Schichten. Hinweise dazu bieten Debatten im Parlament, Zeitungsartikel, Memoiren, der Briefwechsel zwischen Schriftstellern sowie verschiedene literarische Texte. In vorliegendem Aufsatz soll die Repräsentation der Frankomanie - unter besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Aspekte - in den Komödien dreier Autoren, die zu drei unterschiedlichen Generationen gehören, analysiert werden. Es handelt sich dabei um Costache Facca (ca. 1801-1845): Comodia vremii ( Die Komödie dieser Zeit ), 1833 verfasst und 1835 uraufgeführt 8 , und die Conversaţii ( Unterhaltungen ), einen dreiseitigen dramatischen Text (cf. Band Primii noştri dramaturgi , 1960), um Vasile Alecsandri (1821-1890): Iorgu de la Sadagura ( Iorgu aus Sadagura , 1844), Chiriţa în Iaşi ( Chiriţa in Iaşi , 1850), Chiriţa în provincie ( Chiriţa in der Provinz , 1852) und Chiriţa în voiaj ( Chiriţa auf Reisen , 1863), und um Ion Luca Caragiale (1852-1912): O noapte furtunoasă ( Eine stürmische Nacht , 1878), Conul Leonida faţă cu Reacţiunea ( Herr Leonida und die Reaktion , 1880), O scrisoare pierdută ( Der verlorene Brief , 1884) und D-ale carnavalului ( Faschingstreiben , 1885) sowie einige Skizzen. Diese als realistisch einzustufenden 6 Zwischen 1830 und 1860 wurden z. B. insgesamt 615 Buchübersetzungen durchgeführt, davon 443 aus dem Französischen (die meisten in den Fürstentümern), darunter neben schöner Literatur Werke zu Geschichte, Geographie, Politik, Philosophie, Rhetorik und Mathematik (Ferro / Ţâra 2006: 1355). 7 Zur Herausbildung der rumänischen Standardsprache cf. außerdem Schroeder (1987) sowie speziell zum Beitrag des Bildungssystems cf. Erfurt (2008). In der Walachei reorganisierte der Fürst Alexandru Ipsilanti bereits 1775 das Unterrichtswesen nach französischem Muster und führte das Französische als Unterrichtsfach neben dem Griechischen, Altkirchenslawischen, Lateinischen und Rumänischen ein (cf. Hristea 1981: 47). 8 Faccas Komödie wurde unter dem Titel Franţuzitele ( Die Französelnden ) erst 1860 von Ion Eliade Rădulescu veröffentlicht. 510 Aurelia Merlan Komödien vermitteln ein glaubwürdiges Bild über den Sprach- und Kulturimport in diesem rumänischen 19. Jahrhundert der abrupten Okzidentalisierung sowie über die unterschiedlichen Jargons. Wie die Autoren selbst zugeben, war das auch ihr Hauptziel. 9 Facca erläutert in seinem Vorwort an die Leser, dass er in der Comodia vremii das Vergeuden der Zeit mit Nichtigkeiten ( fleacuri ) und die schlechten, in der Gesellschaft seiner Zeit verbreiteten Sitten ( năravuri cele răle ) satirisiert: „Eu de fire / ş-omenire / ca să râz nu voi nicicum, / decât fleacuri / şi năravuri / cele răle de acum“ 10 ( CV , 55). Alecsandris Komödien und cânticele comice (‚komische Lieder‘) sollen als Dokumente der damaligen Epoche für die Nachkommen dienen: „Pentru urmaşii noştri de vor fi curioşi a ave o idee de timpul actual, aceste cânticele le vor înfăţişa portreturi fotografice“ 11 (zitiert nach Piru 1961: VII ). Caragiale bezieht sich nicht explizit auf das Ziel seiner Komödien. Dass sie realistisch sind, ergibt sich unter anderem aus verschiedenen Details: realen historischen Ereignissen und realen Orts-, Straßen- und Gartennamen, die eine genaue Lokalisierung der Handlung ermöglichen, Namen französischer und rumänischer Zeitungen, die in der damaligen Epoche erschienen, sowie Personennamen. Als realistischen Schriftsteller charakterisieren ihn auch verschiedene Literaturkritiker, darunter G. Ibrăileanu, T. Vianu, Ş. Cioculescu 12 und G. Călinescu (²1985: 490), die in seinem Werk eine unentbehrliche Quelle für die Rekonstruktion der Epoche der aufstrebenden Bourgeoisie sehen. 2 Repräsentation der Frankomanie in Faccas Komödien Costache Facca war ein Kleinbojar griechischer Herkunft aus der Walachei, der trotz mancher liberaler Ideen ein Verteidiger des alten Regimes blieb - wie übrigens viele andere Kleinaristokraten seiner Zeit, die die so genannte Gruppe der tombatere ‚Personen mit rückständigen Ideen‘ (< ngr. ton patéra ) bildeten. Sie betrachteten mit kritischen Augen die Okzidentalisierung und die fortschrittlichen Ideen der jungen städtischen Aristokraten, die als nemţi ‚Fremde‘, capete stropşite ‚verrückte Köpfe‘ und franţuzi ‚Franzosen‘ verspottet wurden. Facca 9 Alle in diesem Aufsatz zitierten Textausschnitte aus der Primär- und Sekundärliteratur werden mit der aktuellen rumänischen Orthographie geschrieben. Ins Deutsche werden sie von der Verfasserin dieses Aufsatzes übersetzt, mit Ausnahme der Textausschnitte aus Caragiales Komödien, deren Übersetzung aus dem Band I. L. Caragiale (1962): Werke (im Folgenden W abgekürzt) entnommen wurden. 10 ‚Über die Welt / und die Menschheit, / darüber will ich keinesfalls lachen, / nur über die Nichtigkeiten / und die schlechten Angewohnheiten / unserer Zeit.‘ 11 ‚Unseren Nachkommen, falls sie neugierig sein werden, von der jetzigen Zeit eine Idee zu haben, werden diese Lieder fotographische Porträts darstellen.‘ 12 Einen Überblick über die Meinungen dieser und anderer Literaturkritiker bezüglich des Realismus von Caragiale findet man bei Papadima (1996: 18, 32-33). Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 511 war ein gebildeter Mann, der höchstwahrscheinlich die griechische Schule besucht hatte. Neben Griechisch- und Rumänischhatte er auch gute Französischkenntnisse (cf. Călinescu ²1985: 195-196). In der Comodia vremii (im Folgenden CV abgekürzt) und in den Conversaţii (im Folgenden C abgekürzt) satirisiert er den exzessiven Import der französischen „Formen“ Anfang des 19. Jhs. sowie den Snobismus und die rumänisch-französische Mischsprache der Aristokratie. Die Kritik zielt auf die zwei Gruppen, die sich in dieser Epoche für die exzentrischsten Moden des monarchistischen Frankreichs (womit sie allerdings nur indirekt in Kontakt kommen), für die Möbel und Manieren à l’européenne und für das - wenn möglich à la russe gesprochene - Französisch besonders begeistern, nämlich die Frauen und die jungen Bojaren (cf. Eliade 3 2006: 278). Exponenten dieser Gruppen sind in Faccas Komödien les précieuses ridicules Elenca und Luxandra (in CV ), die zwei Töchter des Kleingrundbesitzers Ianache, und Elenca und Smaranda (in C), zwei Damen der „guten“ Gesellschaft, bzw. die Hofmacher von Ianaches Töchtern: der Bojarensohn Dimitrache, der Kapitän Simion und der Offizier Panaiotache. Die Familie von Ianache lebt in der Bukarester Vorstadt, was darauf hinweist, dass in den 1830er Jahren der französische Einfluss nicht nur die Groß-, sondern auch die Kleinaristokratie der walachischen Hauptstadt erreicht hatte. Elenca und Luxandra bekommen eine moderne Erziehung, die nach Ansicht ihrer Mutter mit derjenigen der jungen Damen in Frankreich ( educaţionul franţuzesc ) hätte rivalisieren sollen. Dazu gehört - wie die Mode es verlangte - Französisch sprechen, Klavier spielen und französische Tänze kennen. Ianaches Töchter haben folglich Hauslehrer für Französisch und nehmen Tanzunterricht mit einem in der rumänischen aristokratischen Gesellschaft vom Anfang des 19. Jhs. berühmten französischen Lehrer namens Duport. Klavier spielen können sie zwar nicht, aber sie wünschen sich Gitarrenunterricht: [Ianache] Dascăl vor de franţozească şi-apoi te pune pe foc / Să le iai şi de chitare ş-alt dascăl iar pentru joc. ( CV , 69); [Smaranda] Cu toate astea gândesc / Că li-or fi educaţionul leit ca un franţuzesc. ( CV , 72-73); [Luxandra] Ia vezi, mama, nişte pasuri care m-a-nvăţat Diupor, / Şi l-aş face şi mai bine, dar mă doare un picior. / Anavande şi cu solo la catriliu franţuzesc, / Fac mai bine decât toate; ah, ce joc împărătesc. (CV, 72) 13 13 ‚[Ianache] Sie wollen Französischlehrer und dann bestehen sie darauf, / Auch einen Gitarrenlehrer zu haben und einen anderen für den Tanz.‘; ‚[Smaranda] Jedoch denke ich / Dass ihre Bildung mit der französischen identisch ist.‘; ‚[Luxandra] Schau mal, Mutter, einige Tanzschritte, die mir Diupor beigebracht hat, / Und ich würde sie noch besser machen, aber mir tut ein Bein weh. / Anavande [ en avant deux ] und mit Solo bei der französischen Quadrille, / Ich tanze besser als alle anderen; o! was für ein königlicher Tanz.‘ 512 Aurelia Merlan Elenca und Luxandra verwenden Lorgnetten, ziehen sich à la française an und lesen französische Modezeitschriften. Dadurch informieren sie sich über die Pariser Damenmode, mit der sie Schritt halten wollen, und kommen in Kontakt mit den französischen Ausdrücken aus dem Modebereich: [Elenca] Voi să-mi fac o pălărie, cu blonduri şi an velur, / Căci îmi vine a merveliu cu boaua dă samur. / […] / Mă şer, unde mi-e lorneta, că nu-ş cine trece a pie. / […] Ah! mă şer, să-mi vezi mantela, mai suplim, mai lucru fen / O dublură-nfricoşată şi faţă amur san fen. ( CV , 58-59); [Luxandra] Ş-a mea nu este urâtă, am ales-o samoa. / […] / În jurnalu după urmă, e ceva deosebit, / D’abor o demoazela, cân se află an vizit, / Este de bonton la modă să aibă capot deschis, / În mână cu portofeliu şi cu belader închis. / Iar când mergem la plimbare, voale verzi ne trebuiesc, / Ba de soa şi bodine ca-n jurnalu franţozesc. ( CV , 59) 14 Zur Empörung ihres Vaters führen die zwei jungen Damen ein sorgloses mondänes Leben. Sie verbringen viel Zeit vor dem Spiegel, fahren mit der Kalesche durch die Stadt, besuchen regelmäßig die Modeläden, gehen in Klubs und nehmen an Soirees ( soarele ) und an den Adelsbällen teil, organisieren selbst dandanale ‚Vergnügen‘ (< tk. tantana ), wie Ianache sie nennt ( CV , 57), setzen ihren Gästen Tee mit Rum oder Milch und Löffelbiskuits vor, kennen Gesellschaftsspiele und wollen noch dazu das Reiten lernen: [Ianache] Cum să scoală, la găteală, şi să nu le zici ceva, / Că peşim încep cu gura şi-ţi spun că e mod-aşa. ( CV , 70); [Smaranda] Apoi le-am scos şi la clupuri, la masche, la nobil bal / Ş-acum vor să mai înveţe cum să-ncalice pă cal. ( CV , 73); [Elenca] Ascultă, mă şer Luxandra, aş vrea să mă plimb pe pod / Ş-apoi să stau cu calească la madam marşand de mod. ( CV , 58) [Zur Dienerin] Măriuţo, vezi găteşte pesmeţi, lapte pentru ceai, / Nu uita, la cin-o cere rom, pişcoturi să le dai.“ ( CV , 71); [Luxandra] Pohtiţi să jucăm pă urmă de peti je inosan? ( CV , 73) 15 14 ‚[Elenca] Ich will mir einen Hut machen lassen mit Seidenspitze und an velur , / Denn er steht mir a merveliu mit dem Kragen aus Zobelpelz. / […] / Mă şer , wo ist meine Lorgnette? Denn jemand - ich weiß nicht wer - geht a pie vorbei. / […] / Oh, mă şer , du solltest meinen Mantel sehen, so wunderschön, so fein, / Ein ungewöhnliches Futter und die Außenseite amur san fen [ amour sans fin ].‘; ‚[Luxandra] Auch meiner ist kein bisschen hässlich, ich habe ihn samoa [ chamois ] ausgewählt. / […] / In der neulich erschienenen Zeitung steht etwas Spezielles, / D’abor , wenn eine demoazela an visit ist / Ist es bonton und modern, dass sie einen offenen Mantel trägt, / In der Hand eine Brieftasche und [auf den Schultern] einen geschlossenen belader [ bayadère ]. / Und wenn wir spazieren gehen, brauchen wir grünen Voile, / Ba de soa und bodine [ bottines ] wie in der französischen Zeitung.‘ 15 ‚[Ianache] Sobald sie aufstehen, gleich zum Schmücken, und man darf ihnen nichts sagen, / Denn sie erteilen dir gleich eine Lektion und sie sagen dir, dass so die Mode ist.‘; ‚[Smaranda] Danach habe ich sie auch in die Klubs sowie zu Masken- und Adels- Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 513 Die junge Generation bevorzugt die Beleuchtung des Hauses mit Lampen statt mit den üblichen Talgkerzen sowie westeuropäische Möbel: [Ienache] Cum nu puţea mai-nainte lumânările de său? (CV, 70); [Elenca] Adu lămpile din casă, pune apă-n samovar. / […] / Eu zic, ma şer, c-ar fi bine să se pună un tapi, / Şi foteliu lângă masă cu oglinda vizavi. ( CV , 71) 16 Die Komödie fokalisiert einerseits den in den 1830er Jahren vertieften Konflikt zwischen den Generationen, zwischen den alten konservativen Kleinbojaren, den tombatere , und der jungen Generation, die sich schnell für alles, was französisch ist, begeistert, andererseits den Konflikt zwischen den Geschlechtern. Ianache sieht mit Misstrauen das übertriebene Interesse seiner Töchter für die westlichen Muster, das Zeitvergeuden und ihr liberales Verhalten, er fühlt sich auch entehrt und verbietet zum Schluss die franţozoaia (ein Augmentativ mit pejorativer Nuance) ‚den französischen Lebensstil‘ in seinem Haus. Die Mutter, Smaranda, ist hingegen stolz auf ihre Töchter und unterstützt deren „Europäisierung“: [Ienache] N-auzeai mai înainte de bonton, ceai şi pălării / […] / Casă nu mai voi deşchisă, franţozoaia n-o pohtesc. ( CV , 56-57); [Smaranda] Cum ştiu ele după modă toate câte trebuiesc! / Ǎstor fete li să cade măritiş evropenesc. ( CV , 71) 17 In den 1830er Jahren war dieser Emanzipationsprozess der Frauen in vollem Gange, wie auch Eliade ( 3 2006: 278) unterstreicht: Während die Bojaren auf die breiten orientalischen Schalwaren und die Kalpaken noch nicht zugunsten der westeuropäischen Hosen und Hüte verzichten wollten, hatten die Frauen längst die französische Mode und den französischen Lebensstil angenommen. In Faccas Komödie ergibt sich das auch aus dem ironischen Kommentar eines Dieners: bällen gebracht / Und nun wollen sie auch das Reiten lernen.‘; [Elenca] ‚Hör mal, ma şer Luxandra, ich möchte auf der Brücke spazieren gehen / Und danach möchte ich mit der Kalesche bei madam marşand de mod bleiben.‘; ‚Mariechen, sieh zu, dass du Zwieback und Milch für den Tee zubereitest, / Vergiss nicht, demjenigen, der Rum verlangt, gibst du auch Löffelbiskuits.‘; ‚[Luxandra] Haben Sie Lust darauf, de peti je inosan [ des petits jeux innocents ] zu spielen? ‘ 16 ‚[Ianache] Früher fanden sie doch den Geruch der Talgkerzen nicht scheußlich.‘; ‚[Elenca] Bring die Lampen aus dem Haus und fülle den Teemacher mit Wasser! ‘; / […] / ‚Ich denke, ma şer , dass es gut wäre, einen tapi hinzulegen, / Und den Sessel neben den Tisch gegenüber dem Spiegel zu stellen.‘ 17 ‚[Ianache] Man hörte früher nichts von bonton , Tee, Hüten. / […] / Mein Haus will ich nicht mehr offen haben, den französischen Lebensstil auch nicht.‘; ‚[Smaranda] Wie gut sie wissen, was alles je nach der Mode nötig ist / Diese Mädchen verdienen eine [west] europäische Heirat.‘ 514 Aurelia Merlan [Stan] Că e lucru anevoie muierea s-o mulţumeşti. / Va telegari şi calească, va mantele, pălării, / Ş-îmbrăcată după moadă, s-o duci tot la sindrofii. / Casa-i trebuie deşchisă, croitorii să nu stea. ( CV , 57) 18 Die jungen Hofmacher sind nicht weniger von der Okzidentalisierungswelle betroffen. Auch sie führen ein mondänes Leben und haben „französische Manieren“, wie in der damaligen Epoche die russischen Offiziere (cf. Eliade 3 2006: 147-150). Sie verbeugen sich vor den Damen, begrüßen sie und verabschieden sich von ihnen mit Handküssen und flüstern ihnen „des douceurs“ (Călinescu ²1985: 197) zu. Wenn sie keinen Helm und keine eşarf ( CV 61; < frz. écharpe ) tragen, entschuldigen sie sich für die unpassende Kleidung. Ihr affektiertes Benehmen macht sie allerdings lächerlich: [Dimitrache] Madmazel, cu plecăciune! ş-încă iertăciune cer / Să-ţi recomanduiesc astazi pă tânărul ofiţer / Şi pe domnu căpitanu din întâi batalion, / Al cărui nume este monsiu, monsiu Simion. ( CV , 61); [Simion] Madmazel, ce norocire ca să mă învrednicesc / La persoana d-voastră, să mă recumanduiesc. / N-am chivăra şi eşarfu, căci aşa ne este dat / Să-ndrăznim l-astfel dă case, dar mă rog să fiu iertat. ( CV , 61) 19 In C steht im Fokus der Konflikt zwischen den „emanzipierten“ und den konservativen Damen ( cocoane ). In den Figuren von cocoana Elenca und cocoana Smaranda verspottet Facca den Snobismus und Kosmopolitismus der „feinen“ Gesellschaft seiner Zeit, die die rumänischen Theateraufführungen, die einer cocoana Catinca gefielen, als nicht würdig genug für die städtische noblesse betrachtete. Die zwei „emanzipierten“ Damen gehen nur zu den Aufführungen ausländischer Theatertruppen, auch wenn sie davon (insbesondere von den Aufführungen auf Deutsch) kaum etwas verstehen. Mehr noch: sie verachten auch die rumänische Sprache: [Cocoana Elenca] Fi donc! ce spui, verişoară? poate că vrei să glumeşti? / La Paris se dau vreodată piese d-ale româneşti? / Caliopi, Andronescul se pot socoti actori / Vrednici s-amusarisească nişte nobli privitori? (C, 79); [Cocoana Smaranda] În sfârşit, în orice limbă, numai străină d-o fi, / O tragedie se poate prea frumos pasarisi. / Numai limbele străine pot vorbi de santiman; / Numai nemţii şi francezii pot avea de amiu- 18 ‚[Stan] Denn es ist schwer, die Frau zufrieden zu stellen. / Sie will Pferde und Kalesche, sie will Mäntel, Hüte, / Und, gemäß der Mode angezogen, will sie, dass man sie zu Festen ausführt. / Ihr Haus muss offen sein, ihre Schneider sollen sich nicht erholen.‘ 19 ‚[Dimitrache] Madmazel , mit Verbeugung! und ich bitte um Erlaubnis / Ihnen heute den jungen Offizier zu empfehlen / Und Herrn Kapitän aus dem ersten Bataillon, / Dessen Name monsiu , monsiu Simion ist‘; ‚[Simion] Madmazel , was für eine Ehre / Mich bei Ihnen empfehlen zu dürfen. / Ich trage nicht meinen Helm und meine Schärpe, denn nur so sollten wir es wagen / In solch noblen Häusern zu erscheinen, aber ich bitte Sie mir zu verzeihen.‘ Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 515 zan. / […] / [Zu cocoana Catinca] Adevărat, ai dreptate, niciuna nu ştim [germana] mai mult [decât pantoful tău], / Însă oricum, soro-mi place mai bine la nemţi s-ascult. / […] / Ş-operele foarte mare impresioană îmi fac. / Seara-ndată le las toate, la teatru ca să viu, / Dar nu-ş ce-am că de căscare imposiblu să mă ţiu; / Ba la opera cea nouă Ţimerman când a cântat, / Eu de plesir adormisem şi târziu m-am deşteptat. (C, 80) 20 Faccas Texte geben ein glaubwürdiges Bild auch über die Mischsprache der franţuzite und franţuzi sowie über den Einfluss des Französischen auf die rumänische Sprache im Zeitraum 1780-1830. 21 Die Gallizismen, die bereits in den 1830er Jahren zahlreich sind, sind häufig - wie Ivănescu (1980: 625) unterstreicht - nach Lautung und Flexion in das rumänische Sprachsystem nicht integriert, sondern sie behalten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. die Aussprache und Morphologie der Gebersprache. Das lässt sich auch in CV und in C bemerken. Sie treten gehäuft in der Sprache der précieuses auf, die von Fremdausdrücken Gebrauch und Missbrauch machen. Für die ältere Generation, die sich weiterhin eines traditionellen Wortschatzes bedient, bleiben die meisten unverständlich (Pavel: „Dar că au nişte cuvinte, nişte vorbe franţuzeşti, / Otnoşănii, ofis, delle, de nu le mai isprăveşti“ 22 , CV , 70). Die französischen Wörter erscheinen sowohl in CV als auch in C mit rumänischer Ortographie (cf. oben die Textbeispiele): <ş> statt <ch>: marşand (frz. marchande ), <c> statt <qu>: catriliu (frz. quadrille ), <u> statt <ou>: amur (frz. amour ), <e> statt <eu> oder <eux>: je (frz. jeux ), <iu> statt <u>: amiuzan (frz. amusant ) etc. Durch die Verwendung der rumänischen Orthographie scheint Facca die phonetischen Interferenzen in der Rede der franţuzite und der franţuzi 20 ,[Frau Elenca] Fi donc ! was sagst du, Cousine? Vielleicht willst du einen Scherz machen? / Werden in Paris jemals rumänische Theaterstücke von denen aufgeführt? / Caliopi, Andronescu - kann man sie als Schauspieler betrachten, / Die fähig sind, solche nobles Zuschauer zu amüsieren? ‘; ‚[Frau Smaranda] Also: eine Tragödie kann in jeder Sprache sehr schön aufgeführt werden, unter der Bedingung, dass diese fremd ist. / Nur die fremden Sprachen können über santiman sprechen; / Nur die Deutschen und die Franzosen können amüsieren. / […] / [Zu Frau Catinca] Das ist wahr, du hast Recht, keine von uns [ich und Elenca] kennt sie [die deutsche Sprache] besser [als dein Schuh] / Aber mir gefällt es, Schwester, auf jeden Fall besser, bei den Deutschen [die Aufführungen] zu hören. / […] / Und die Opern haben einen starken Eindruck auf mich. / Abends lasse ich schnell alles beiseite, damit ich ins Theater gehe, / Aber ich weiß nicht, was ich habe, denn es ist mir imposiblu , mich des Gähnens zu enthalten; / Bei der neuen Oper, als Ţimerman [Zimmermann] gesungen hat, / Bin ich aus plesir sogar eingeschlafen und bin spät aufgewacht.‘ 21 Im Folgenden wird die Etymologie der Wortbeispiele nach DEX angegeben. Wenn für ein Wort im DEX eine Mehrfachetymologie ( etimologie multiplă ) angegeben wird, das erste Etymon jedoch französisch ist, wird nur dieses im vorliegenden Aufsatz erwähnt. 22 ‚[Pavel] Und sie [die jungen Männer und Frauen] verwenden solche Wörter, solche französischen Ausdrücke, / Otnoşănii [? ], ofis [office], delle , die man nicht alle aufzählen kann.‘ 516 Aurelia Merlan seiner Zeit anzuzeigen und zu ironisieren, insbesondere die Aussprache französischer Laute ohne Entsprechung im Rumänischen mit einem rumänischen Akzent: [y] als [ju]: Diupor (frz. Duport ), [ø] als [e]: die (frz. Dieu ), [ɑ̃] als [an]: san (frz. sans ), [ɔ̃] als [on]: bonton (frz. bon-ton ), [ɛ̃] als [en]: fen (frz. fin ), [ə] als [e]: peti (frz. petit ) und wahrscheinlich auch [ʁ] als [r]: şer (frz. chère ). Die Graphie mancher Französismen spiegelt eine „deformierte“, d. h. modifizierte Aussprache wider: 23 a merveliu (frz. à merveille ), belader (frz. bayadère ), bodine (frz. bottines ), suplim (frz. sublime ), impertinenda (frz. impertinente ) ( CV , 64), monsiu (frz. monsieur ), dezegriman (frz. désagrément ) ( CV , 74), plesir (frz. plaisir ) (C, 81). Solche „deformierten“ Gallizismen sowie die Komposita mit agglutinierten Elementen vom Typ bonton , anavande (frz. en avant deux ) und Pleonasmen wie a fi de bonton la modă ‚von bon-ton modern sein‘ sind Beweise der oberflächlichen französischen Kenntnisse ihrer Benutzer. Viele Fremdausdrücke, die im Mund der précieuses und ihrer Hofmacher erscheinen, fanden keinen Weg in den rumänischen Wortschatz: d’abor (frz. d’abord ), san fen (frz. sans fin ), ba de soa (frz. bas de soie ), samoa (frz. chamois ), a pie (frz. à pied ), anşante (frz. enchanté ) ( CV , 63), tapi (frz. tapis ), du (frz. doux ) (C, 80) etc. Sogar französische Ausdrücke mit häufiger Verwendung im 19. Jh. in der Sprache der Aristokraten und später auch der städtischen Bourgeoisie (cf. Abschnitt 3 und 4), wie ma şer (frz. ma chère ), madam (frz. madame ), madmazel (frz. mademoiselle ), monsiu , marşand de mod (frz. marchande de modes ) oder bonton werden sich nicht durchsetzen. Der Grund dafür ist, dass die meisten von ihnen „überflüssige“ Modewörter waren - denn sie hatten Entsprechungen im Rumänischen - die aus Snobismus und Kosmopolitismus verwendet wurden: ma şer! anstelle von rum. draga mea! (< asl. dragŭ ), madam anstelle von rum. doamnă (< lat. domĭna -), madmazel anstelle von rum. domnişoară (ein Derivatum von doamnă ), monsiu anstelle von rum. domn (< lat. domĭnu -), tapi anstelle von rum. covor (< rus. kovior , ukr. kover ), a pie anstelle von rum. pe jos (< lat. Per deorsu -), bonton anstelle von rum. bun gust (< lat. bonu gūstu -), du anstelle von rum. dulce (< lat. duLce -). Die précieuses sprechen auch diejenigen Wörter à la française aus, die bereits in Texten der Phanariotenepoche als integrierte Entlehnungen erscheinen. Sie sagen z. B. bile (C, 80), ide ( CV , 59), santiman , vizit statt bilet < frz. billet , idee < frz. idée , sentiment < frz. sentiment , vizită < frz. visite (cf. Ursu / Ursu 2004: 44, 64, 117; id., 2006: 441). Manche französischen Fremdwörter, von denen sie Gebrauch machen, werden später, nach 1830, an das lautliche und morphologische Sprachsystem des Rumänischen angepasst: amiuzan wurde zu amuzant < frz. amusant , 23 Im Folgenden werden die entsprechenden Seiten aus CV und C nur für diejenigen Wörter bzw. Ausdrücke angegeben, die in den oben zitierten Textbeispielen nicht erscheinen. Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 517 fidelité (CV, 64) zu fidelitate < frz. fidélité , inosan zu inocent < frz. innocent , neglije ( CV , 62) zu neglijeu < frz. négligé (cf. Ursu / Ursu 2006: 94, 274, 322). In CV und C sind allerdings auch bereits integrierte Gallizismen (Lehnwörter) belegt. An ihrer Lautung kann man sehen, dass sie in dieser ersten Epoche des französischen Einflusses auf das Rumänische vorwiegend durch das mündliche Medium entlehnt wurden. Nur wenige, wie z. B. galant ( CV , 60) < frz. galant oder imposiblu (C, 81; später imposibil ) < frz. impossible , scheinen über das schriftliche Medium eingedrungen zu sein. Die meisten dieser Lehnwörter wurden zusammen mit den französischen Lebensstilen und Ideen deswegen importiert, weil der rumänische Wortschatz in seiner ersten Phase der Modernisierung über keine passenden Lexeme zur Bezeichnung der neuen Konzepte verfügte. Sie stellen also Bedürfnisentlehnungen dar. In CV erscheinen manche in einer graphischen und lautlichen Form, die sie bis heute behalten haben: bal < frz. bal , jurnal < frz. journal , soare(a) ( CV , 68; Pl. soarele , CV , 76) < frz. soirée , lorneta (heute auch lornieta ) < frz. lorgnette , velur < frz. velours . Manche bekamen jedoch nach 1830 / 40 oder in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. eine andere (orthographisch-)phonetische und / oder morphologische Form - distretă ( CV , 71) < frz. distraite , später distrată , pasionă , Pl. pasione ( CV , 73) < frz. passion , später pasiune , voal , Pl. voale ( CV . 59) < frz. voile , später mit der Pluralform voaluri - oder sie verschwanden: blonduri < frz. blonde , boaua < frz. boa . Unter den angepassten Gallizismen der Epoche 1780-1830 gibt es allerdings auch Luxusentlehnungen. Bei Facca sind z. B. belegt: amurezat ( CV , 66), später amorezat , ein Derivatum von amurez ‚Geliebter, Liebhaber‘ < frz. amoureux , das heute nur noch ironisch verwendet wird; demoazelă < frz. demoiselle , heute ebenfalls nur noch ironisch verwendet; parolist ‚ein Mann von Wort sein‘ (Pl. parolişti , CV , 63), ein Derivatum von frz. parole ; tualetă ( CV , 62; heute toaletă ) < frz. toilette , ein Gallizismus, den die jungen aristokratischen Damen gegenüber dem alten, auch in der Volkssprache vorhandenen Substantiv găteală (von gata mit unbekannter Etymologie), das z. B. der alte Bojar Ianache weiterhin verwendet ( CV , 70), bevorzugen. Die Formen, in denen manche Gallizismen auftreten, zeigen, nach welchen morphologischen Normen Entlehnungen im Zeitraum zwischen 1780 und 1830 integriert wurden. Verbalformen wie apreasiarisim (Elenca: „Ştim persoana d-voastră s-o apreasiarisim“, 24 CV , 62), te jenariseşti (Panaiotache: „Şi mă rog, şăzi, coconiţă, să nu te jenariseşti“, 25 CV , 63), recomanduiesc / recumanduiesc , samusarisească und pasarisi (cf. oben die Textbeispiele), von denen manche bis 24 ‚[Elenca] Wir wissen Ihre Person zu schätzen.‘ 25 ‚[Panaiotache] Und ich bitte Sie, gnädige Dame, sich zu setzen und sich nicht zu genieren.‘ 518 Aurelia Merlan gegen Mitte des 19. Jhs. gebräuchlich waren, beweisen, dass französische Verben auf -er durch das Hinzufügen des neugriechischen Suffixes -isi mit der Variante -arisi bzw. des Suffixes slawischen Ursprungs -ui , die in der Epoche produktiv waren, in die 4. Konjugation (die umfangreichste bis 1830 / 40) integriert und wie die Verben mit Stammerweiterungssuffix konjugiert wurden: frz. apprécier > rum. apresiarisi , frz. se gêner > rum. se jenarisi , frz. amuser > rum. amusarisi , frz. passer > rum. pasarisi und frz. recommander > rum. se recomandui . Später, insbesondere nach 1840 / 50, wurden die meisten französischen Verben auf -er in die erste Konjugation integriert, wie Ion Eliade Rădulescu 1828 im Vorwort seiner Gramatică românească dies empfehlt: aprecia statt apresiarisi , (se) jena statt (se) jenarisi etc. (cf. Ursu / Ursu 2004: 340-341). Gallizismen mit hoher Frequenz in der Sprache der jungen Aristokraten verbreiteten sich auch in der Sprache der älteren Generation, die sie manchmal falsch aussprach. In CV spricht auch die Mutter von clup(uri) < frz., engl. club und educaţion < frz. éducation (statt educaţie ) und verabschiedet sich von ihrem Ehemann mit adie ( CV , 76) < frz. adieu . Der Vater seinerseits kann die Wörter bonton und soarele ( CV , 76) nicht mehr vermeiden, genauso wenig wie sein Vertrauter, Pavel, Beamter in einem Gericht, die Gallizismen prezident < frz. président und depertament ( CV , 70; statt departament ) < frz. département . Manche treten sogar in der Sprache der Diener und Dienerinnen in Erscheinung, meist in verstümmelter Form. Măriuţa übernimmt das Verb apresiarisi aus der Sprache der Aristokraten, das sie aprerisi ( CV , 62) ausspricht, und Stan empfiehlt sich mit mă răcomenduiesc ( CV , 75), wobei er seinen Herrn nur approximativ imitiert ( mă recomenduiesc ), und spricht von moadă (mit betontem [o] zu [o̯a] nach dem Muster lateinischer Erbwörter wie coadă < lat. cōda - diphthongiert) statt modă . 3 Repräsentation der Frankomanie in Alecsandris Komödien Vasile Alecsandri war ein Bojar aus der Hocharistokratie mit Studium in Paris und einer der wichtigsten Vertreter der jungen moldauischen Elite der 1848er mit pro-französischer Orientierung. Außerdem war er der wichtigste Dichter und Dramatiker dieser Epoche und einer der Gründer des Nationaltheaters in der Moldau. Auch wenn er selbst zur Generation der bonjurişti - wie gegen Mitte des 19. Jhs. die aus Frankreich zurückgekehrten Jungen verspottet werden, weil sie nun mit bonjur (< frz. bonjour ) grüßten - gehört, ironisiert er in seinen Komödien den Zivilisationswandel der rumänischen feudalen Gesellschaft vor und nach der Revolution von 1848. Im Vergleich zu Facca zielt seine Ironie auf den Provinzadel. Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 519 Iorgu de la Sadagura (im Folgenden IS ), 1844 uraufgeführt und veröffentlicht, ist eine Sittenkomödie, die ein glaubwürdiges Bild über die Kontraste und Kontradiktionen innerhalb der rumänischen Gesellschaft der 1840er Jahre aus der Moldau gibt: über den Konflikt - einschließlich den Ideenkonflikt - zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern, über den Kontrast zwischen Tradition und Innovation und zwischen den alten und den neuen Gewohnheiten. Alecsandri verspottet im gleichen Maße den Konservativismus der alten Bojaren auf dem Lande wie den Snobismus und Kosmopolitismus der eingebildeten, oberflächlichen bonjurişti und der Frauen mit lächerlichen Emanzipationsansprüchen. Die alten Bojaren, wie Damian und seine Freunde, die den „guten Gewohnheiten“ ( obiceiuri bune ) von früher treu bleiben und der Okzidentalisierungswelle feindlich gegenüberstehen, tragen weiterhin osteuropäische Kleidung, schätzen die traditionellen Gerichte, Weine und Sitten und sprechen einen mit altslawischen, türkischen und neugriechischen Lehnwörtern gefärbten moldauischen Dialekt. Der Mode können sie sich jedoch nicht völlig enthalten, denn sie schicken ihre Nachkommen - wie die städtische Großaristokratie - zum Studium ins Ausland, wobei sie die Hochschulen im eigenen Land missachten (cf. Pienescu 1961: 455). Als Verteidiger der traditionellen, feudalen Verhältnisse, die sie sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb der Familie behalten wollen, gehören sie zur selben sozialen Schicht, die Alecsandri auch anderswo ironisierte und im Vergleich zu den emanzipierten Jugendlichen charakterisierte: [P]entru noi, tinerii întorşi din străinătate, societatea… a inventat o categorie deosebită: noi suntem pantalonari ( sans culottes ), bonjurişti şi duelgii . Noi nu sărutăm mâna tuturor căftăniţilor ce se zic pe greceşte simandicoşi , fiindcă avem obrăznicia de a o considera ca o labă. Noi pregătim revoluţii în ţară, pentru că purtăm plete lungi şi cravate de carbonari. Noi, în lipsă de sevas , abordăm pe evghenişti nu cu formula smerită de sărut talpele , ci cu un simplu bonjur . Noi nu mai avem lege, suntem eretici, provocăm boierii la duel, mâncăm oameni, criticăm abuzurile, dispreţuim drăgălaşa chiverniseală, cercăm a forma o opinie publică… Prin urmare, suntem buni de înfundat pe la mănăstiri sau de trimis peste Dunăre. (Alecsandri, Opere complete. Teatru , S. IX , zitiert nach Pienescu 1961: 457-458) 26 26 ‚Für uns, die aus dem Ausland zurückgekehrten Jugendlichen, hat die Gesellschaft… eine besondere Kategorie erfunden: Wir sind Freiheitsschwärmer ( sans culottes ), Bonjour- Leute und Duellanten . Wir küssen nicht die Hand aller Kaftantragenden, die sich mit einem Wort griechischen Ursprungs als simandicoşi [feine Leute] bezeichnen, weil wir die Frechheit haben, sie als Pfote zu betrachten. Wir bereiten Revolutionen im Land vor, weil wir lange Haare haben und Carbonarokrawatten tragen. Wir sprechen die evghenişti [die Bojaren aus der Phanariotenepoche, die respektvoll mit ngr. evghenía + Possessivum begrüßt wurden], weil wir keinen sevas [Respekt] haben, nicht mit der demütigen For- 520 Aurelia Merlan Die Frauen aus dem Provinzadel, wie Gahiţa (40 Jahre alt), und die jungen Männer, wie Iorgu, Damians Enkel, imitieren hingegen westeuropäische Muster und haben fortschrittliche - allerdings übertriebene - Ideen. Sie bevorzugen neue Ess- und Verhaltensgewohnheiten (kaum in die Heimat zurückgekehrt behauptet Iorgu, das Essen, die Getränke, die Musik und den Tanz aus Sadagura, einer kleinen Stadt südlich von Tschernowitz, nicht weit von der nördlichen Grenze Moldaus, schon zu vermissen), sind pretiös angezogen, verachten den traditionellen Lebensstil sowie ihr Heimatland, sprechen eine mit fremden Wörtern ausstaffierte Sprache und französisieren ihren Namen: Iorgu wird zu Georges , den Nachnamen wird die Präposition de vorangestellt: Gahiţa de Rozmarinovici . Gahiţa macht vom Fächer Gebrauch, während Iorgu zum großen Erstaunen der alten Bojaren Lorgnon trägt: „[Gângu] Ce dracu are de să uită la mine prin geam? ! “. 27 Diese Generation, die als emanzipiert und geistig überlegen gelten will, kennt allerdings die westeuropäische Zivilisation nur oberflächlich, entweder nach einem kurzen Kontakt mit dem in die Großstädte längst importierten Lebensstil oder nach ebenfalls kurzen Aufenthalten im benachbarten Ausland: Gahiţa hatte die Hauptstadt Moldaus, Iaşi, besucht sowie Tschernowitz - damals, in den 1840er Jahren, Teil des österreichischen Reichs - und Iorgu war zwei Jahre beim Studium in Sadagura gewesen. Mit Paris und mit den französischen Mustern hat dieser junge Provinzadel offensichtlich - im Gegensatz zu den (jungen) Damen und Herren aus den großaristokratischen städtischen Familien - keinen direkten, sondern einen indirekten, durch den Cernowitzer und den Jassyer Adel vermittelten, Kontakt: [Iorgu] Apoi, ce să-ţi spun, mon cher oncle ? … Când au trăit cineva într-un târg civilizat ca Sadagura, şî când este sâlit, în urmă, a veni într-o ţară ticăloasă ca a noastră, contrastul i să pare atât de piramidal, încât nu poate găsî cuvinte destul de energice, pentru ca să esplice ceea ce sâmţăşte înlăuntru.; [Gahiţa] Rezon,… are rezon, monsiu Georges! … Iaca, de pildă, eu, care am voiajarisât, şî care am fost la Cernăuţi… nu pot să mă deprind nicidecum cu Moldova… Of! … de-aş scăpa mai degrabă de ţara asta… ( IS , 19) 28 mel sărut talpele [ich küsse die Fußsohle] an, sondern mit einem einfachen bonjour . Wir haben kein Gesetz mehr, sind häretisch, fordern die Bojaren zum Duell heraus, fressen Menschen, kritisieren die Exzesse, verachten die niedliche Versorgung, versuchen eine öffentliche Meinung zu bilden. Folglich verdienen wir in den Klöstern weggesperrt oder über die Donau [d. h. ins Osmanische Reich] geschickt zu werden.‘ 27 ‚[Gângu] Was zum Teufel ist mit ihm passiert, dass er mich durch ein Glas anschaut? ! ‘ 28 ‚[Iorgu] Aber was soll ich Ihnen, mon cher oncle , sagen? … Wenn jemand in einer solchen zivilisierten Kleinstadt wie Sadagura gelebt hat und wenn er danach gezwungen ist, in ein solch zurückgebliebenes Land wie unseres zurückzukommen, scheint ihm der Kon- Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 521 Durch den Gebrauch französischer Brocken 29 versuchen die „emanzipierte“ Gahiţa und der „studierte“ Iorgu sich von den rückständigen Bojaren zu distanzieren und gleichzeitig sich gegenseitig zu beeindrucken. Unter den französischen Ausdrücken fehlt weder der Gruß bonjour noch die Anrede mon cher , beide diesmal auch an die alten Bojaren adressiert. Sie lassen sich als Ansprüche der neuen Generation auf die Verbreitung von Solidarität anstelle der feudalen Machtverhältnisse innerhalb der Familie und des Freundkreises verstehen: [Iorgu] Mon cher oncle, cât sunt de fericit! ( IS , 16); Eu sunt, au contraire, votre serviteur , madamă ( IS , 18); Ainsi donc! Iată viitorimea ce mă aşteaptă ( IS , 22); Gahiţo! Te iubesc! Sas agapo! Ich liebe ihnen! je vous aime! ( IS , 25); [Gahiţa] Bonjour, mon cher arhon pitar… ( IS , 7); Elei ! mon cher arhon pitar, tare eşti arriéré . ( IS , 8); Aici, în provinţie, nu poţi giudeca reformaţâia care s-au întrodus în ţară; dar du-te, je vous prie , în capitalie ( IS , 10); Îmi vine nu ştiu ce să-i fac… Quel manant , oh, ciel ! ( IS , 12); par conséquence , mă grăbesc a-ţi declinarisî numele meu… eu mă numesc Gahiţa de Rozmarinovici, votre servante . ( IS , 18); Eşti cu adevărat indisposé ? ( IS , 23); Ah, quel bonheur! Mă iubeşte! ( IS , 25); Mă duc să fiu îngerul tutelaire a lui mon cher Georges! ( IS , 26) 30 Die zwei Vertreter der neuen Generation machen auch von vielen integrierten Gallizismen Gebrauch, was auf eine schon fortgeschrittene „Reromanisierung“ des rumänischen Wortschatzes in den 1840er Jahren hinweist. In den Augen der Provinzbojaren sprechen sie eine unverständliche Sprache: trast so pyramidal, dass er nicht genügend energische Worte finden kann, um zu erklären, was er tief drinnen fühlt.‘; ‚[Gahiţa] Das stimmt,… er hat Recht, monsiu Georges! … Ich, zum Beispiel, die gereist und in Tschernowitz gewesen bin,… kann mich auf keinen Fall an die Moldau gewöhnen… Uff! … wenn ich doch nur bald aus diesem Land weggehen könnte…‘ 29 Sie erscheinen in Alecsandris Komödie kursiv geschrieben. 30 ‚[Iorgu] Mon cher oncle, wie glücklich ich bin! ‘; ‚Ich bin, au contraire, votre serviteur , meine Dame‘; ‚ Ainsi donc ! Schau mal die Zukunft, die mich erwartet‘; ‚Gahiţo! Ich liebe Sie! Sas agapo! Ich liebe ihnen! je vous aime! ‘ [Mit diesem Satz versucht Iorgu Gahiţa seine angebliche Viersprachigkeit zu beweisen.]; ‚[Gahiţa] Bonjour, mon cher arhon [griechische höfliche Anredeform an einen Bojar] Hofbäcker‘; ‚Ohe! mon cher Bojar, Sie sind aber sehr arriéré ‘; ‚Hier, in der Provinz, können Sie nicht die Veränderung schätzen, die im Land angefangen hat; aber gehen Sie, je vous prie , in die Hauptstadt‘; ‚Ich bin an dem Punkt, ihm etwas anzutun. Quel manant , oh, ciel! ‘; ‚ par conséquence , ich beeile mich Ihnen meinen Namen anzugeben… ich heiße Gahiţa de Rozmarinovici, votre servante ‘; ‚Bist du wirklich indisposé ? ‘; ‚ Ah, quel bonheur! Er liebt mich! ‘; ‚Ich gehe, der tutelaire Engel von mon cher Georges zu sein.‘ 522 Aurelia Merlan [Damian zu Gahiţa] Superfliur sau nesuperfliur… nu ştiu… dar că nu te înţeleg… asta-i adevărat…! ( IS , 9) [Zu seinem Freund, Gângu] Măi Gângule, înţălegi tu ce limbă vorbeşte Iorgu cu Gahiţa? ( IS , 18) 31 Unter den integrierten Gallizismen (Lehnwörtern) befinden sich zahlreiche Abstrakta: eleganţă ( IS , 8) < frz. élégance , sublimitate ( IS , 8) < frz. sublimité , amabilitate ( IS , 10) < frz. amabilité , compliment ( IS , 10) < frz. compliment , briliant ( IS , 11) < frz. brillant , infamie ( IS , 13) < frz. infamie etc. Viele Lehnwörter haben eine moldauische Färbung, was den komischen Effekt steigert: [i] wird als [ɨ] realisiert, wie in învitaţâie ( IS , 7, 8) < frz. invitation , reputaţâie ( IS , 8) < frz. réputation , perfecţâie ( IS , 10) < frz. perfection , admiraţâie < frz. admiration (= invitaţie , reputaţie , perfecţie , admiraţie ); Wörter wie delicateţa ( IS , 8) < frz. délicatesse , bujâi ‚Kerzen‘ ( IS , 11) < frz. bougies werden mit hartem [t] bzw. [ʒ] ausgesprochen (= delicateţea , bujii ). Manche französischen Nominalstämme bekommen ein rumänisches Suffix und / oder den bestimmten enklitischen Artikel, z. B. uvrajelor ( IS , 17) < frz. ouvrages + Pluralsuffix -e + Artikel -lor ; dezirul ( IS , 18) < frz. desir + Artikel - (u)l ; madamă (IS, 18) < frz. madame + Femininsuffix -ă ; omajurile (IS, 18) < frz. omage + Pluralsuffix -uri- + Artikel -le ; voiajuri ( IS , 25) < frz. voyage + Pluralsuffix -uri . Französischen Verbalstämmen werden neugriechische ( -isi , allerdings moldauisch ausgesprochen) oder rumänische Suffixe (z. B. -t ) hinzugefügt: siuportarisî < frz. supporter , ecrazarisî < frz. écraser , se închietarisî < frz. inquiéter , reflectarisi < frz. refléter , educarisi < frz. éduquer , developat < frz. développé : [Iorgu] Mon cher oncle , cetirea necontenită a uvrajelor mi-au cam slăbit puterea razelor vizuale ( IS 17); Ah! Gahiţo! … […] nu mă ecrazarisî cu astfel de vorbe ( IS , 25); [Gahiţa] fără a vă închietarisî de urechile damelor ( IS , 10); Du-te, mai ales, de vezi damele acele educarisâte ( IS , 11); care îţi reflectarisăsc tot trupul ( IS , 11); să vede că doreşti ca să ies din casa d-tale, de vreme ce siuportarisăşti o astfel de infamie ( IS , 13) 32 Von diesen Gallizismen blieben einige als Lehnwörter erhalten, wie manche Verben auf -er , die in die 1. Konjugation integriert wurden (frz. refléter > rum. reflecta , frz. présenter > rum. prezenta ), oder manche Substantive (frz. voyage > 31 ‚[Damian zu Gahiţa] Überflüssig oder nicht überflüssig, das weiß ich nicht…, aber, dass ich Sie nicht verstehe…, das ist wahrhaftig…‘; ‚[Zu seinem Freund, Gângu] Gângu, verstehst du, in welcher Sprache sich Iorgu mit Gahiţa unterhält? ‘ 32 ‚[Iorgu] Mon cher oncle, das pausenlose Lesen der Werke hat meine Augen geschwächt‘; ‚Oh, Gahiţa, zerdrücke mich nicht mit solchen Worten.‘; ‚[Gahiţa] Ohne sich Sorgen zu machen, dass die Damen es hören könnten.‘; ‚Gehen Sie dorthin [in die Hauptstadt], um vor allem jene gebildeten Damen zu sehen.‘; ‚die jemandem seinen ganzen Körper widerspiegeln.‘; ‚es ist offensichtlich, dass Sie wollen, dass ich Ihr Haus verlasse, wenn Sie eine solche Infamie erlauben.‘ Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 523 rum. voiaj ). Viele waren jedoch ephemere Erscheinungen und charakterisieren auschließlich die Frankomanie-Epoche. Romanische und lateinische Wörter, die bis 1820 / 30 ins Rumänische eingedrungen waren, wiesen am Anfang nicht nur eine griechische Lautung auf, sondern auch griechische Suffixe (wie das Verbalsuffix -isi oder das Adjektivsuffix -icesc < ngr. -ikós , lat. icus ). Nach 1830 wurden diese Formen durch die Initiative rumänischer Schriftsteller (wie Ion Eliade Rădulescu, cf. oben, 2), die nach der besten phonetischen und morphologischen Anpassung der Neologismen suchten, zugunsten derjenigen ohne Suffix beseitigt (cf. auch Ivănescu 1980: 630). Die Tatsache, dass die bonjurişti und franţuzite der 1840er Jahre aus der Provinz die alten, während der Phanariotenepoche verbreiteten Formen weiterhin verwendeten oder Gallizismen nach den alten Mustern gräzisierten, zeigt, dass die neuen, in der Sprache der städtischen Eliten sich durchgesetzten „entgräzisierten“ Formen der Neologismen die Provinz noch nicht erreicht hatten. Diese Menschen hatten allerdings auch nur rudimentäre französische Kenntnisse, wie auch Pleonasmen beweisen: z. B. a cozarisi împreună ‚miteinander plaudern‘ < frz. causer (Gahiţa: „Îi superfliu să mai cozarisâm împreună“ 33 , IS , 9) oder pasâia amoriului ‚die Leidenschaft der Liebe‘ < frz. passion , amour (Gahiţa: „Acu-i vremea să-i dovedesc ce este pasâia amoriului“ 34 , IS , 26). Im Mund der alten Bojaren tauchen die ihnen völlig fremden französichen Wörter und die Neologismen französischen Ursprungs, wenn überhaupt, in einer „verstümmelten“ Form auf: frz. arriéré wird als rierel (IS, 8) ausgesprochen, sublimitatea wird zu bliblitatea ( IS , 8), eleganţa zu ganţ ( IS , 8), delicateţa (= delicateţea ) zu cateţâie ( IS , 8), civilizaţi ‚zivilisiert‘ zu civirasâlisâţi ( IS , 9). Der moldauische Provinzadel, diesmal in den postrevolutionären Jahren, wird auch in den Komödien von 1850, 1852 und 1867 - Chiriţa în Iaşi (im Folgenden CI abgekürzt), Chiriţa în provincie ( CP ) und Chiriţa în voiaj ( CV ) - satirisch betrachtet. Die Hauptfigur, Chiriţa Bârzoi, ist eine Vertreterin der ungebildeten Bojarenfrauen, die aber den Zivilisationswandel in der Hauptstadt entdeckt, sich darüber begeistert und ihn auf dem Lande durchsetzen will: „Am hotărât să întroduc în provinţie obiceiurile din Ieş, doar ne-om mai roade puţântel şi noi…“ 35 ( CP , 228). Der Konflikt zwischen den Frauen mit emanzipatorischen Ambitionen und den konservativen Bojaren wird erneut thematisiert. Chiriţa weigert sich, wie früher zu leben. Sie lernt das Reiten, modernisiert ihre Bekleidung (sie trägt Korsett, später auch Krinoline und exzessiv geschmückte 33 ‚[Gahiţa] Es ist überflüssig, zusammen zu plaudern.‘ 34 ‚[Gahiţa] Jetzt ist der passende Moment, ihm zu zeigen, was die Leidenschaft der Liebe ist.‘ 35 ‚[Chiriţa] Ich habe mich entschieden, die Gewohnheiten aus Iaşi in die Provinz einzuführen, vielleicht zivilisieren wir uns auch ein bisschen.‘ 524 Aurelia Merlan Kappen und reitet im Reiterinnenanzug), tanzt Cancan („Ah! monsiu Şarlă… te rog îmi spune / Dacă gioc frumos cancan“, 36 CP , 292), raucht, um Schritt mit der Mode zu halten („aşa-i moda. Dacă sunt armazoancă, trebuie să mă deprind cu ţâgările…“ 37 , CP , 272), ersetzt die alten Möbel durch westeuropäische, führt die Zuckerwürfelzange ein und verlangt vom Hausdiener, die Briefe auf einem Tablett hereinzubringen: „Nu ţi-am spus c-acum îi moda să s-aducă răvaşele pe talgere? …“ 38 ( CP , 227). Ihrem Mann zwingt sie auf, den Kaftan ( anteriul ) und das lange Bojarenobergewand ( giubeaua ) durch straie nemţăşti ‚fremde Kleidung‘ zu ersetzen und auf die alten Essgewohnheiten zugunsten den westeuropäischen zu verzichten: [Bârzoi] Arde-le-ar focu straie nemţăşti, că-mi vin de hac ( CP , 250); Las’ că dumneiei, cucoana, nu să mai catadicsăşte să caute de gospodărie… […]. Şăde toată zâua pe tandur, la tauletă, şî din blanmanjăle, din bulionuri, din garnituri nemţăşti nu mă slăbeşte ( CP , 252) 39 Chiriţa stellt außerdem einen Französischlehrer, monsiu Şarlă [Charles], für ihren Sohn ein, lernt allein ein bisschen Französisch, das sie allerdings fehlerhaft spricht („ j’ai apprendré toute seulette le français “, CP , 226), lässt sich einen Reisepass ausstellen, reist nach Paris („de m-aş porni mai degrabă la Paris! … că m-am săturat de Moldova“, 40 CP , 250) und bringt auch ihren Sohn Guliţă in die Hauptstadt Frankreichs zum Studium („Am fost la Paris de mi-am aşăzat plodu la şcoală, ca să înveţe politica“, 41 CV , 301). Ihr Ehemann ist hingegen rückständig, wie Chiriţa selbst ihn charakterisiert, sehnt sich nach den alten Gewohnheiten und kann auf Französisch - ausgenommen vom rumänisierten madamo! ( CP , 287) - kein einziges Wort sagen: 36 ‚[Chiriţa] Oh! monsiu Şarlă [Charles]…, sagen Sie mir bitte / Ob ich schön Cancan tanze.‘ 37 ‚[Chiriţa] So ist die Mode. Da ich Reiterin bin, muss ich mich auch an Zigarretten gewöhnen.‘ 38 ‚[Chiriţa] Habe ich dir nicht gesagt, dass es jetzt die Mode ist, die Briefe auf Tabletts hineinzubingen? …‘ 39 ‚[Bârzoi] Das Feuer soll sie vernichten, diese fremde Bekleidung, denn sie macht mich fertig.ʼ; ‚Abgesehen davon, dass sie, die Dame, sich nicht mehr herablässt, sich um das Haus zu kümmern… [...] Sie sitzt den ganzen Tag auf dem Stuhl, um ihre Toilette zu machen, und erspart mir nicht mehr die blanmanjăle [ blanc-manger ], die Tomatensoßen und die fremden Beilagen.‘ 40 ‚[Chiriţa] Würde ich endlich einmal nach Paris aufbrechen, denn ich habe Moldau satt.‘ 41 ‚[Chiriţa] Ich fuhr nach Paris, um mein Kind auf die Hochschule zu schicken, damit er Politik studiert.‘ Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 525 [Chiriţa] Cât îmi bat eu capul să-l mai cioplesc… să-l mai chilesc… pace! […] las’ că bodogăneşte că n-ar trebui să deie ceai la iuli, pe călduri… dar ce face? … ie zahàru cu degitele din zaharniţă ş-apoi îl pune în cleşte… ( CP , 255-256) 42 Alecsandri ironisiert in Chiriţa den Emporkommenswunsch der Frauen aus dem Provinzkleinadel (Chiriţa will unbedingt, dass ihr Ehemann Bezirkshauptmann - ispravnic - wird und sie isprăvniceasă ) und ihren kosmopolitischen Hochmut und damit erneut die Frankomanie gegen Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Es ist aber zweifellos so, dass sich durch diese emanzipationsbewegten Frauen die neuen Muster und die fortschrittlichen Ideen auch auf dem Lande verbreiten konnten und sie nicht ein Vorrecht der städtischen Oberschicht blieben. Diese Bojarenfrauen vom Lande entwickeln sich - wie sich das bei Chiriţa bemerkbar macht. Sie versuchen sich die neuen „guten Manieren“ anzueignen, ihr sprachliches Repertoire zu modernisieren und Französisch zu sprechen. Das Ergebnis ist allerdings ein rumänisch-französischer Jargon, der mit dem rumänisch-griechischen konkurriert. In der ersten Komödie, in der der Provinzadel in den 1850er Jahren beobachtet wird, ist die Sprache von Chiriţa ähnlich der einer moldauischen Bäuerin, mit dem Unterschied, dass sie immer wieder von neugriechischen und türkischen Fremd- und Lehnwörtern Gebrauch macht. Die wenigen Gallizismen, die sie kennt, verwendet sie „deformiert“. Sie fragt Parle franse, madmuzel? statt Parlez-vous français, mesdemoiselles ? ( CI , 209), Le pleze vu monsio? statt Plaisez-vous le monsieur? ( CI , 209), sagt răzor ( CI , 134) < frz. ressort wegen der Analogie mit răzor ‚Beet‘ (< bg. razor ), pasion ( CI , 157) statt - damals - pansion (heute pension ) < frz. pension , gubernată ( CI , 157), das sie anscheinend mit gubernator in Verbindung bringt, statt guvernantă < frz. gouvernante , ftiatru ( CI , 159), also in einer gräzisierten Form, statt teatru < frz. théâtre usw. Nur wenige französische Lehnwörter wie z. B. tualetă ( CI , 159), cadril ( CI , 161) tauchen in ihrem Mund in der (damals) richtigen Form auf. Ihre Töchter und ihr Sohn haben - im Gegensatz zu den Bojarenkindern aus der moldauischen Hauptstadt (wie Luluţa) - ebenfalls nur rudimentäre französische Kenntnisse. Sie entstellen fast jeden französischen Ausdruck: frz. laissezbien wird zu lezebon ( CI , 168), frz. quel bonheur! zu chel bonior! ( CI , 178), frz. cancan wird durch regressive Dissimilation zu carcan ( CI , 190) etc. Lächerlicher jedoch als Chiriţa und ihre Nachkommen sind die eingebildeten bonjuri cu lungi plete ( CI , 170) ‚Bonjour-Leute mit langen Haaren‘ aus der Hauptstadt, die die 42 ‚[Chiriţa] Egal, wie viel Mühe ich mir gebe, ihn zu ziselieren… zu zivilisieren… vergeblich! […] nicht nur, dass er murrt, dass man im Juli bei der Hitze keinen Tee anbieten sollte, … aber was macht er noch? … er nimmt die Zuckerwürfel aus der Zuckerdose mit den Fingern und danach legt er diese in die Zuckerzange…‘ 526 Aurelia Merlan französischen Ausdrücke nicht weniger „deformieren“: frz. satin turc , frz. gros de Naples und frz. mi-coton werden als satintur , grudinap und micaton (CI, 174) ausgesprochen und anscheinend als Simplizia betrachtet; frz. sept lève , frz. quinze lève und frz. charmante demoiselle klingen in ihrem Mund setlevà , chenslevà ( CI , 176) bzw. siarmantă demuazelă ( CI , 178). In den nächsten zwei Komödien, in denen dieselbe Chiriţa Jahre später vorkommt, ist ihr Repertoire an Neologismen etwas reicher, auch wenn sie sie nicht alle richtig beherrscht. Sie sagt agilitaua ( CP , 217), sântimentabibilă ( CP , 258), împresionabibilă ( CP , 258), flatariseşte ( CP , 257), mit neugriechischem Suffix, statt agilitatea < frz. agilité , flatează , 3. Pers. Präsens von flata < frz. flatter , sentimental(ă) < frz. sentimental , impresionabil(ă) < frz. impressionable . Andere Neologismen französischen Ursprungs werden wie früher moldauisch ausgesprochen, z. B. pretenţâie ( CP , 221), ambiţâie ( CP , 231), sâguranţâie ( CP , 247). Jetzt kann sie jedoch auf Französisch auch Syntagmen und sogar ganze Sätze aussprechen. Häufig allerdings übersetzt sie wörtlich aus dem Rumänischen, z. B.: boire une cigarre = rum. umgs. a bea o ţigară ,eine Zigarette rauchen‘; (devenir / être) un tambour d’instruction = rum. umgs. (a fi) tobă de carte / învăţătură ,sehr gelehrt (sein)‘, ,ein gelehrtes Haus sein‘; envoyer (qn) dedans = rum. a trimite înăuntru ,(jmd.) rein schicken‘, d. h. ,(jmd.) nach Westeuropa schicken‘; 43 (perdre son temps) pour des fleurs de coucou = rum. umgs. (a-şi pierde timpul) de florile cucului ,seine Zeit vergeuden‘; donner (à qn) de l’argent pour du miel = rum. umgs. a da (cuiva) bani pe miere ,(jmd.) ausschimpfen, tadeln‘; parler (une langue) comme l’eau = rum. umgs. a vorbi (o limbă) ca apa ,(eine Sprache) fließend sprechen‘; (être heureux) par dessus la mesure = rum. a fi fericit / bucuros peste măsură ,über die Maßen glücklich / froh sein‘: Voulez-vous aussi boire une cigarre ? ( CP , 224); Monsiu Şarlă… ian dites-moi, je vous prie: est-ce que vous êtes… mulţămit de Guliţă [,mit Guliţă zufrieden‘]? C’est qu’il est tres … zburdatic [,unbändig‘]…, mais avec le temps je suis sûre qu’il deviendra un tambour d’instruction ( CP , 224); Et alors nous l’enverrons dedans . ( CP , 225); Et voyes-vous, monsieur Charles, je ne voudrais pas qu’il perde son temps pour des fleurs de coucou . (CP, 43 Die Ausdrücke a trimite înăuntru und a călători înăuntru werden schon in der Phanariotenzeit mit der Bedeutung ‚(jmd.) nach (Zentral-/ West-)Europa schicken‘ bzw. ‚nach / durch (Zentral-/ West-)Europa reisen‘. Wie das Substantiv Evropa / Europa , das als Bezeichnung für alle zivilisierten westeuropäischen bewunderten Ländern gebraucht wurde, und evropeni / europeni , womit die Franzosen, Italiener, Österreicher und Deutschen benannt wurden, sowie das Adjektiv evropenesc / europenesc und das Adverb evropeneşte / europeneşte , zeigen diese Ausdrücke, dass bis gegen Mitte des 19. Jhs. die rumänische Aristokratie aus den zwei Fürstentümern ihr Land als unzivilisiertes betrachtet. Es gehörte also nicht zum zivilisierten Europa. Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 527 225); Aussi, je vous prie… quand il se paressera… de lui donner de l’argent pour du miel ! ( CP , 225); N’est-ce pas, monsieur Charles, qu’il parlera comme l’eau ? ( CP , 226); Ah, oui, monsiu Şarlă… je suis heureuse par dessus la mesure … ( CP , 232) Metathesen, wie in manejărie ( CP , 218) statt (mold.) menajărie (= menajerie ), Kalauer und Volksetymologien wie in flacornul (CP, 243), analogisch zu corn ‚Horn‘ (< lat. cornū ), statt flaconul oder (cigarres de) Halvanne ( CP , 224), analogisch zu halva ‚Halwa‘ ( < tk. halva ), statt Havanne lassen sich ebenfalls in der Sprache dieser „zivilisierten“ Bojarenfrau beobachten. 4 Repräsentation der Frankomanie in Caragiales Komödien Der walachische Dramatiker I. L. Caragiale stammt aus dem Kleinbürgertum. Er war Mitglied der Gesellschaft Junimea und hatte keine pro-französische Orientierung. In seinen Komödien satirisiert er nicht mehr die bonjurişti und Französelnden aus der rumänischen Aristokratie, sondern das nachrevolutionäre liberale Kleinbürgertum der Vorstädte wie auch die „Provinzgrandezza“ (Bochmann / Stiehler 2010: 166) und die „Kitsch-Menschen“ (Cazimir 1988) seiner Zeit - die moftangii und moftangioaice (< moft , Pl. mofturi ‚Faxen‘ < tk. müft + Suffix), wie er sie treffend bezeichnet. Was Caragiale in dieser Welt karikiert, ist nicht nur die Frankomanie, sondern auch das Aufsteigertum, die Immoralität, die Korruption, die Demagogie, den Opportunismus, den Snobismus und die korrumpierte Sprache. Die Französelei und das Trachten nach „Verfeinerung“ stellen Merkmale des emporgekommenen Kleinbürgertums aus der Bukarester Vorstadt dar. In den 1870er Jahren gehören zu dieser Gruppe in erster Linie die jungen „multitalentierten“ Studiosi und die Frauen mit mondänen Ansprüchen und aristokratischen Ambitionen. Sie werden in der Komödie O noapte furtunoasă (im Folgenden NF ) in den Figuren der jungen innamorati Rică Venturiano und Ziţa satirisiert. Rică Venturiano, der mit 25 Jahren „Archivar beim Friedensgericht des ersten Bezirks, lyrischer Poet, Mitarbeiter der Zeitung Die Stimme des Nationalpatrioten , Publizist und Studiosus der Rechte“ (W, 92) ist, ist nichts anderes als ein politischer Demagoge, der sich als Patriot und Intellektueller mit fortschrittlichen Ideen betrachtet, die er wöchentlich in politischen Zeitungsartikeln zu veröffentlichen pflegt. Als Ausdruck seiner Position trägt er Zwicker, Zylinderhut und Schnupftuch ( NF , 14). 44 Ziţa ist eine geschiedene junge Dame 44 Diese Art sich zu kleiden und sich zu verhalten charakterisierte anscheinend die meisten bonjurist en aus der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Mihai Eminescu (1850-1889) karikiert sie im Gedicht Ai noştri tineri… ( Unsere Jugendlichen… ): „Ai noştri tineri la Paris învaţă / La gât cravata cum se leagă, nodul, / Ş-apoi ni vin de fericesc norodul / Cu chipul lor isteţ de 528 Aurelia Merlan mit drei Jahren „Pangsionat“, die sich mit dem Leben im Haus eines Kaufmanns nicht mehr zufriedengibt. Sie nimmt an Aufführungen ausländischer Theatertruppen teil, auch wenn sie, wie die meisten ihresgleichen, nichts davon versteht („Ce, pentru comèdiile alea mergem noi? Mergem să mai vedem şi noi lumea. Ce adică, toţi câţi merg acolo înţeleg ceva, gândeşti? “, 45 NF , 35) und ist eine eifrige Leserin der romantisierenden, nach Eugène Sues Mystères de Paris verfassten volkstümlichen Feuilletons („Dramele Parisului“, câte au ieşit până acum, le-am citit de trei ori“, 46 NF , 32). Als „gebildete“ und „emanzipierte“ Menschen verzieren beide ihre Sprache mit Französismen, die meist als „Barbarismen“ erscheinen: frz. sans façons wird zu sanfasò , frz. au revoir zu alevoa , frz. par plaisir zu pamplezir , frz. pour l’amour de Dieu zu per l’amour di Dieu etc.: [Ziţa] „Bonsoar-bonsoar“, şi ştii, aşa deodată sanfasò ( NF , 32); Ei, ţaţo, eu mă duc, bonsoar, alevoa ( NF , 34); Merg numai aşa de un capriţ, de un pamplezir; de ce să nu mergem şi noi ( NF , 35); Ţaţo! per l’amour di Dieu! Portiţa dinspre maidan e încuiată. ( NF , 67) 47 Seinerseits signalisiert Rică seine intellektuelle „Überlegenheit“ und „Raffiniertheit“ durch die Anhäufung von Neologismen in seinen politischen Artikeln, Liebesbriefen und Reden. In nur einem Satz treten richtig gebrauchte sowie „deformierte“ Lehnwörter auf: democraţiune (analog zu Substantiven mit der Endung -iúne < frz. -ion , wie constituţiune ) anstelle von democraţie < frz. démocratie ; pact < frz. pact ; persuada < frz. persuader , eine Luxusentlehnung, die oaie creaţă. / / La ei îşi cască ochii săi norodul / Că-i vede - în birje - răsucind mustaţă, / Ducând în dinţi ţigara lungăreaţă… / Ei toată ziua bat de-a lungul Podul. / / Vorbesc pe nas, ca saltimbănci se strâmbă: / Stâlpi de bordel, de crâşme, cafenele, / Şi viaţa lor nu şi-o muncesc; şi-o plimbă. / / Ş-aceste mărfuri fade, uşurele, / Ce au uitat pân’ şi a noastră limbă, / Pretind a fi pe cerul ţării - stele.“ Dt. Übers.: ‚Unsere Jugendlichen lernen in Paris / Wie man die Krawatte knotet, / Und danach kommen sie zurück, das Volk glücklich zu machen, / Mit ihrem klugen Gesicht wie das eines krausen Schafs. / / Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie das Volk an, / Denn es sieht sie - in Droschken - ihren Schnurrbart drehend, / Zwischen den Zähnen eine lange Zigarette rauchend… / Sie streichen den ganzen Tag herum. / / Sie reden durch die Nase, verzerren sich wie Seiltänzer: / Bordell-, Kneipen-, Cafésäulen. / Und ihr Leben nicht mit Arbeit vergeuden, sondern es spazieren führen. / / Und diese faden, konsistenzlosen Waren, / Die sogar unsere Sprache vergessen haben, / Behaupten auf dem Himmel unseres Landes Sterne zu sein.‘ 45 ‚[Ziţa] Wie, gehn wir denn der Komödi zulieb? Wir gehn doch, um unter Menschen zu kommen. Glaubst du vielleicht, daß alle, die hingehen, was davon verstehen? ‘ (W, 77). 46 ‚[Ziţa]„Die Dramen von Paris“, alle Fortsetzungen, so viele bisher herausgekommen sind, hab ich schon dreimal gelesen‘ (W, 74). 47 ‚[Ziţa] „ Bongsoar , bongsoar “, und so auf einmal, weißt du, sanfasso .‘ (W, 74); ‚Also, meine Liebe, ich gehe, Bonsoar , alevoa ‘ (W, 76); ‚Sie gehn nur so, aus par Kapriz , zum par Pläsier , warum sollen wir nicht auch hingehn? ‘ (W, 77); ‚Schwester, per l’amour di Dieu , das Pförtchen ist ja zugesperrt‘ (W, 100). Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 529 er dem vorhandenen Verb convinge (< lat. convincere ) gegenüber bevorzugt; costituţiune statt constituţiune (< frz. constitution ); fundamentale , in einer italianisierten Form, statt fundamental (< frz. fondamental ); der Französismus mânca (< frz. manquer ), der falsch nach dem Muster lateinischer Erbwörter (wie lat. cantāre > cânta ) adaptiert und somit homonym zu mânca (< lat. manducāre ) wird und das nach dem Muster der italienischen und französischen Modaladverbien erfundene Derivatum solemnaminte anstelle von solemn (< lat. sōllemnis ): [Rică Venturiano] Democraţiunea romană, sau mai bine zis ţinta Democraţiunii romane este de a persuada pe cetăţeni, că nimeni nu trebuie a mânca de la datoriile ce ne impun solemnaminte pactul nostru fundamentale, sfânta Costituţiune. ( NF , 24) 48 Bei Veta, Ziţas Schwester, die er in der Dunkelheit des Zimmers mit seiner Geliebten verwechselt, entschuldigt er sich ebenfalls mit einem Satz voll von Neologismen französischen Ursprungs und Lehnübersetzungen: damă < frz. dame , venerabilă , ein Derivatum von frz. vénération , (a) profita de ocaziune (heute ocazie ) < frz. profiter d’occasion , vă rog să primiţi asigurarea înaltei stime şi profundului respect nach frz. je vous prie de recevoir l’assurance de la haute estime et du profond respect , a avea onoarea (de / a) nach frz. avoir l’honneur de : [Rică Venturiano] Cocoană, eşti o damă venerabilă; profit de ocaziune spre a vă ruga […] să primiţi asigurarea înaltei stime şi profundului respect, cu care am onoarea a fi al domniei-voastre prea supus şi prea plecat, Rică Venturiano ( NF , 55) 49 Von Gallizismen machen jedoch auch andere Exponenten der Bukarester Vorstadt Gebrauch: Beamte mit etwas politischer Bildung wie der Polizeiwachtmeister Nae Ipingescu, Holzhändler, die sich in der ersten Phase ihres Aufstiegs befinden, wie Dumitrache, und gelegentlich sogar Ladengehilfen, wie Chiriac, und Ladenjungen, wie Spiridon, die die zukünftigen Emporkömmlinge darstellen (cf. Iosifescu 1962: 12). Besonders wenn sich diese Menschen an in ihren Augen gebildete Personen wie Rică Venturiano wenden und sie deren Sprache nachahmen wollen, verlieren sie sich in höflichen Anredeformeln und sie häufen in ihren Sätzen Neologismen an. Im folgenden Textausschnitt sind die (richtig oder falsch verwendeten) Gallizismen kursiv geschrieben: 48 ‚[Rică Venturiano] Die romanische Demokratie ist, die Mitbürger zu persuadieren, daß niemand an den Pflichten zehren darf, die uns solennerweise von seiten unseres Grund- und Fundamentalpaktes auferlegt wurden, von seiten der heiligen Kostitution .‘ (W, 68). 49 ‚[Rică Venturiano] Gnädige Frau, Sie sind eine verehrungswürdige Dame, ich benutze die Gelegenheit, um Sie zu bitten […], die Versicherung meiner größten Hochachtung und meines tiefsten Respekts entgegenzunehmen, womit ich die Ehre habe zu verbleiben Euer Hochwohlgeboren ergebenster und untertänigster Rică Venturiano […].‘ (W, 92). 530 Aurelia Merlan [Ipingescu] Rezon ! aia ziceam şi eu. [cătră Rică] Onorabile domn, permite -mi pentru ca să-ţi prezant pe cetăţeanul Dumitrache Titircă, comersant , apropritar şi căpitan în gvarda civică . ( NF , 76) 50 Die Vorstadt mit ihrer gemischten Bevölkerung wird auch in zwei weiteren Komödien unter die Lupe genommen: im Einakter Conul Leonida faţă cu Reacţiunea (im Folgenden CL ), dessen Hauptfigur der Kleinbürger, und zwar der Rentner Leonida, ist, und in D-ale carnavalului (im Folgenden DC ), wo die bunte Welt des Kleinbürgertums der Vorstädte, das der „guten“ Gesellschaft nachzueifern versucht (cf. Iosifescu 1962: 26), erneut auf die Bühne tritt: ein Barbier, der seinen eigenen Friseurladen hat (Nae Girimea), sowie sein Geselle (Iordache), ein ehemaliger Polizeioffizier und jetzt Berufsspieler (Iancu Pampon), ein Händler (Mache Telemac), Kokotten (Miţa Boston und Didina Mazu) und ein Volontär vom Steueramt (Catindatul). Im Gegensatz zu diesen zwei Komödien sind die meisten Figuren in O scrisoare pierdută (im Folgenden SP ) Vertreter der sozialen und politischen Prominenz aus der städtischen Provinz: Tipătescu ist der Bezirkspräfekt, Trahanache der Präsident verschiedener Komitees und Kommissionen, Zoe ist seine Gattin und Tipătescus Geliebte, Farfuridi und Brânzovenescu sind Anwälte und Mitglieder verschiedener Komitees und Kommissionen und Caţavencu ist Advokat, Chefredakteur und Eigentümer einer Zeitung sowie Gründer und Präsident eines Vereins. Die kleinen Angestellten werden durch den Polizeimeister Pristanda vertreten. Auch in der Sprache dieser so unterschiedlichen sozialen Schichten treten zahlreiche Gallizismen in Erscheinung. Der hochstudierte Bezirkspräfekt aus der reichen Aristokratie macht häufig und korrekt von aus dem Französischen entlehnten Neologismen Gebrauch. Seine Sprache unterscheidet sich kaum vom heutigen Rumänisch, was zeigt, dass die meisten neuen Wörter längst an das phonologische und morphologische System des Rumänischen angepasst wurden und sie als Lehnwörter in der Sprache der aristokratischen Elite der 1880er Jahre üblich waren. Weder französische Fremdwörter noch „Barbarismen“ (modifizierte Gallizismen) treten in seiner Sprache auf. Das Kleinbürgertum und die kleinen Angestellten der Bukarester Vorstadt sowie die meisten Vertreter der sozialen und politischen Provinzprominenz und die Provinzbeamten, die keine gebildeten Menschen waren, sprechen hingegen die neuen Wörter häufig à la française aus oder sie „deformieren“ sie: 51 ambetată < frz. embêter ( NF , 32; DC , 265), depand 50 ‚[Ipingescu] Sehr räsonabel! Das sagte ich auch. ( Zu Rică ) Verehrter Herr, gestatten Sie mir, Ihnen den Bürger Dumitrache Titircă, Kaufmann, Hausbesitzer und Hauptmann in der Bürgergarde zu präsantieren .‘ (W, 107). 51 Eine ausführliche Analyse der Sprache von Caragiales Figuren führt Iordan (1977: 263-301) durch. Cf. auch Şora (1992: 327-336), die verschiedene Strategien der Sprachkomik in Caragiales Komödien untersucht. Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 531 ( NF , 32) statt depind , 1. Pers. Sing. von depinde < frz. dépendre , prezant ( NF , 76) statt prezint , 1. Pers. Sing. von prezenta < frz. présenter , comersant ( NF , 76) < frz. commerçant statt comerciant , apropitar ( NF , 76) statt proprietar < frz. propriétaire , asinuitate ( NF , 24) statt asiduitate < frz. assiduité , odicolon , Pl. odicoloane ( DC , 248) < frz. eau de Cologne . Wie früher sind viele Gallizismen „überflüssige“ Modewörter: afront (NF, 32) < frz. affront , das vor den schon vorhandenen Lehnwörtern jignire (< skr. žignuti ) und insultă (< frz. insulte ) bevorzugt wird; pardon ( NF , 13, SP, 113, DC, 335) und a pardona (NF, 160), das vor dem Erbwort ( a) ierta (< lat. libertāre ) bevorzugt wird; (a face) fasoane ( NF , 9) < frz. façon anstelle von (a face) nazuri (< tk. năz ), rezon ( NF , 10, 11 etc.), musiu ( NF , 15; DC , 345), bonsoar ( NF , 21, 34; DC , 288), parol ( NF , 35; DC , 289), marşandă ( DC , 290), madam / madamă , madamo! (NF, 20, 51; DC, 335). Manche sind heute veraltet, wie marşandă , andere werden bis heute (eventuell nur ironisch) verwendet. Nicht wenige Gallizismen werden gemäß phonetischen Regeln der rumänischen Volksprache ausgesprochen, z. B. ezirciţ (NF, 18) statt exerciţiu < frz. exercice , revuluţie ( CL , 94, 97; DC , 278) statt revoluţie < frz. révolution , docoment ( SP , 121) statt document < frz. document , poblic ( NF , 17) statt public < lat. PubLicus , frz. public , foncţie ( SP , 117) statt funcţie < frz. fonction , dicoraţie , Pl. dicorăţii ( NF , 22) statt decoraţie , Pl. decoraţii < frz. décoration , viritabil ( NF , 26) statt veritabil < frz. véritable , dipotat ( NF , 77) statt deputat < frz. député , giuben ( NF , 12) statt joben < frz. Vorname Jobin , bampir ( SP , 107) statt vampir < frz. vampire , bagabont ( NF , 9, 10) statt vagabond < frz. vagabond . Andere stellen hyperkorrekte Varianten dar, wie cremenal ( NF , 10, 25), cremenală ( DC , 334) statt criminal , -ă < frz. criminel . Häufig wird die phonetische „Deformierung“ durch Metathesen, Epenthesen und Synkopen verursacht: ceferticat ( NF , 17) statt certificat < frz. certificat , catrindală ( SP , 112) statt catedrală < frz. cathédrale , catindat ( DC , 253) statt candidat < frz. candidat , grandirop ( DC , 300, 308) statt garderob < frz. garde-robe , plebicist ( SP , 183) statt plebiscit < frz. plébiscite , compromentez ( DC , 251) statt compromit , 1. Pers. Sing. von ( a) se compromite < fr. se compromettre , complectat ( DC , 340) statt completat , Partizip von ( a) completa < frz. compléter , pasion ( NF , 19) statt damals pansion , später pension < frz. pension . Die „Deformierung“ ist manchmal morphologischer Natur. Nach dem Muster rumänischer Adjektivpaare (Diminutiva) wie mask. mititel , Diminutiv von mic ‚klein‘ - fem. mititea , bekommen auch aus dem Französischen entlehnte Adjektive das feminine Suffix -ea : mask. fidel (< frz. fidèle ) wird zu fem. fidea . Somit entsteht eine Homonymierelation zum Substantiv fidea ‚feine Nudeln‘ (< ngr. fidés ) mit komischem Effekt: „[Miţa] amantul meu, fidelul meu amant, căruia eu ( obidită ) i-am fost întotdeauna fidea“ 52 ( DC , 277). 52 ‚[Miţa] mein „treuer“ [treuloser] Liebhaber, dem ich ( kummervoll ) immer treuvoll gewesen bin‘ (cf. W, 255). 532 Aurelia Merlan Auf der semantischen Ebene sind die Volksetymologie, die Verwechslung von Paronymen, Homonymen und Homographen auffällig, sowie die zahlreichen Pleonasmen und Oxymora, woran Gallizismen beteiligt sind. Die Volksetymologie ist eine der Ursachen für die phonetische Deformierung der Neologismen: lăcrămaţie ( NF , 16) wird statt reclamaţie (< frz. réclamation ) nach dem Vorbild des ähnlich klingenden vertrauten Wort lacrimă ‘Träne’ verwendet; fandacsie ( CL 95) statt fantezie (< frz. fantaisie ) nach (a se) fandosi ‘sich zieren’ und fandoseală ; renumeraţie (SP, 109, 113) statt remuneraţie ( < frz. rémunération ) nach număr ‚Nummer‘; scrofulos (SP, 160) statt scrupulos (< frz. scrupuleux ) nach scrofuloză ‚Skrofulose‘ oder eher nach scroafă ‚Sau‘; intrigatoriu ( DC , 216) statt interogatoriu (< frz. interrogatoire ) nach intrigă (< frz. intrigue ) und vermult ( DC , 295) statt vermut (< frz. vermouth < dt. Wermut ) nach mult ‚viel‘. Die verwechselten Paronyme sind entweder beide Gallizismen oder das eine ist ein französisches Lehn- und das andere ein lateinisches Erbwort: pietate < frz. piété wird anstelle von (nicht entlehntem) frz. pitié verwendet, impresie < frz. impression anstelle von expresie < frz. expression , iluzie < frz. illusion anstelle von aluzie < frz. allusion , ( a) importa < frz. importer anstelle des „Barbarismus“ (a) se amporta < frz. s’emporter oder violentă < frz. violente anstelle von violetă < frz. violet : [Rică Venturiano] fii mizericordioasă; aibi pietate! ( CNF , 51); [Ipingescu] Jupân Dumitrache, adică să am pardon de impresie ( NF , 13); [Efimiţa] Bravos, bobocule! nu m-aşteptam ca tocmai dumneata să te pronunţi cu aşa iluzii. ( CL , 94); [Leonida] Bine, Miţule, stăi, nu te importa degeaba. ( CL , 94); [Catindatul] Aş! aia a fost cerneală violentă, am cunoscut-o după miros. ( DC , 331) 53 Durch die Entlehnung von französischen Wörtern ist die Zahl der Homonyme und der Homographe im Rumänischen gestiegen. Von den halb- und ungebildeten Menschen wurden (und werden) sie häufig verwechselt. Das lässt sich auch in Caragiales Komödien bemerken. So wird z. B. masă < frz. masse mit masă ‚Tisch‘ < lat. mēnsa verwechselt, das Paroxyton comedie (comedìe) < frz. comédie mit dem Proparoxyton comedie (comèdie) ‚Possen, komischer Vorfall‘ < tk. komedya und sufragiu (sufràgiu) < frz. suffrage mit sufragiu (sufragìu) ‚Tafeldecker‘ < tk. sofraci : 53 ‚[Rică Venturiano] Seien Sie miserikordiös ; haben Sie doch eine Pietät! ‘ (W, 89); ‚[Ipingescu] Herr Dumitrache, pardon, entschuldigen Sie, daß ich diesen Eindruck [statt Ausdruck ] habe.‘ (W, 58); ‚[Efimiţa] Schön, Jungchen, das hätt ich nicht erwartet, dass ausgerechnet du mir solche Illusionen in die Schuhe schiebst.‘ (W, 122); ‚[Leonida] Schön, Miţa, warte, reg dich nicht unnötig auf.‘ (W, 122); ‚[Der Volontär] Unsinn. Das war violente Tinte! Ich habe sie gleich am Geruch erkannt.‘ (W, 294). Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 533 [Ipingescu] spune el… „Sfânta Costituţiune şi mai ales cei din masa poporului… mai ales cei din masa poporului“ […] adică să şadă numai poporul la masă, că el e stăpân. ( NF , 24-25) [ Jupân Dumitrache] În sfârşit, se isprăveşte comèdia ( NF , 12); [Rică Venturiano] nu vom putea intra pe calea viritabilelui progres, până ce nu vom avea un sufragìu universale… ( NF , 26) 54 Dass das Kleinbürgertum der Vorstädte und die kleinen Angestellten von Neologismen Gebrauch und Missbrauch machten, ohne dass sie deren Bedeutung überhaupt kennen, sieht man auch an den zahlreichen Pleonasmen, die Gallizismen enthalten: madam cocoană! ,Madam, (gnädige) Frau‘, e în stare a fi capabil (wörtl.) ‚er ist imstande, fähig zu sein‘, musiu, domnule! ‚ Musjö Herr‘, monşerul meu! ‚mein Monscher ‘, să ne onoreze cu cinste (wörtl.) ‚uns mit Ehre zu beehren‘, bunioară de par examplu ‚beispielweise par exampel [par exemple]‘, îmi dă în gând ideea < îmi dă în gând ‚ich verfalle auf einen Gedanken‘ + îmi vine ideea ‚ich komme zur Idee‘, numaidecât momental (statt momentan < frz. momentané ) ‚augenblicklich momentan‘ etc.: [Rică Venturiano] Te iubesc la nemurire. Je vous aime et vous adore: que prétendezvous encore? ( NF , 30); Al tău pentru o eternitate şi per toujours ( NF , 30); Madam, cocoană! ai mizericordie de un june român în primăvara existenţii sale! ( NF , 56); Mă duc; scuzaţi, pardon, bonsoar! ( NF , 55); [Veta] Bărbatu-meu sufere grozav de gelozie şi e în stare a fi capabil să te omoare ( NF , 55); Musiu! domnule! m-ai nenorocit ( NF , 56); [Ipingescu] Aprob pozitiv ( NF , 62); [Ziţa] Vai de mine! monşerul meu! mi-l omoară! ( NF , 67); [Spiridon] Domnule, musiu, tot aici eşti? ( NF , 69); [ Jupân Dumitrache] Dacă dumnealui cabulipseşte să ne onoreze cu atâta cinste… de! ( NF , 79); [Leonida] Omul, bunioară, de par egzamplu, […], intră la o idee ( CL , 102); [Pristanda] Eu, cu gândul la datorie, ce-mi dă în gând ideea? ( SP , 114); Ba nu, coane Zahario, vine numaidecât momental, e dincolo… ( SP , 117) 55 54 ‚[Ipingescu] er sagt es schon… „der heiligen Kostitution , und besonders die aus den Massen des Volkes“ […] das heißt, dass nur das Volk zu Tisch sitzen soll, denn es allein ist Herr im Land.‘ (cf. W, 68); ‚[Herr Dumitrache] Endlich ist die Komödi zu Ende! ‘ (W, 58); ‚[Rică Venturiano] wir werden den Weg des veritablen Fortschrittes nicht beschreiten können, bis wir nicht allgemeine Elektionen haben werden.‘ (W, 69) 55 ‚[Rică Venturiano] Ich liebe Dich bis zur Unsterblichkeit. Je vous aime et vous adore: que prétendez-vous encore ? ’ (W, 72); ‚Der Deine für alle Ewigkeit und per toujours ‘; ‚Madam, gnädige Frau, empfinden Sie doch Mitgefühl mit einem rumänischen Jüngling im Frühling seiner Existenz‘ (W, 93); ‚Ich gehe, Entschuldigung pardon, bonsoar ! ‘ (W, 92); ‚[Veta] Mein Mann leidet schrecklich an Eifersucht, er ist imstande fähig zu sein Sie umzubringen‘ (cf. W, 91); ‚ Musjö ! Herr! Jetzt sitz ich Ihretwegen in der Klemme! ‘ (W, 92); ‚[Ipingescu] Ich approbiere positiv‘ (W. 97); ‚[Ziţa] O weh! Mein Monscher ! die bringen ihn mir um! ‘ (W, 100); ‚[Spiridon] Herr, Musjö, Sie sind noch immer hier? ‘ (W, 102); ‚[Herr Dumitrache] Wenn der Herr uns mit einer so großen Ehre zu beehren geruht… freilich! ‘ (cf. W, 109); ‚[Leonida] Zum Beispiel fasst der Mensch, par egzampel , […] eine 534 Aurelia Merlan Dasselbe beweisen die Oxymora, an denen Gallizismen beteiligt sind, wie rezon fără motiv ‚ raison ohne Grund‘, a maltrata (pe cineva) cu o vorbă bună ‚(jmd.) mit einem guten Wort mißhandeln‘, a căpăta un refuz ‚eine Weigerung erhalten‘: [Chiriac] nu cunosc la un aşa rezon fără motiv ( NF , 18); [ Jupân Dumitrache] N-o mai maltrata, domnule, măcar cu o vorbă bună. ( NF , 19); [Iordache] D-l Nae, ştii, mai galant […] i-a făcut un moral bun, din porc şi măgar nu l-a mai scos, i-a tras vreo două palme şi l-a scos pe uşă afară. ( DC , 248); [Nae] Crez că nu o să capăt un refuz. ( DC , 343) 56 Deswegen, weil die Sprecher die genaue Bedeutung der neuen Wörter nicht kennen, verwenden sie sie auch aus syntaktischer Sicht falsch. So werden z. B. transitive Verben wie a compătimi ‚bemitleiden‘ (< com + pătimi , nach dem frz. compatir ) als intransitiv, reflexive wie a se sinucide (< sine + ucide nach frz. se suicider ) als aktiv, transitiv und aktive, transitive Verben wie a onora (< lat. honōrāre , frz. honorer ) als reflexiv betrachtet: [Veta] musiu Rică şi cu Ziţa compătimesc împreună. (NF, 78); [Ziţa] mitocanul scosese şicul de la baston pentru ca să mă sinucidă. ( NF , 33); [Caţavencu] Mă onorez a zice că o merit. ( SP , 198) 57 Im Jargon dieser Menschen interferieren die Sprachregister. Französismen werden im selben Satz mit umgangssprachlichen Ausdrücken - Interjektionen wie zău! ‚wirklich, bei Gott! ‘, ei! ‚na, so was! ‘, mă! ,hey! ‘, Verbalperiphrasen wie a nu avea parte (de cineva) ,(an jmd.) keine Freude haben‘, să mă-ngropi ‚du willst mich ja ins Grab bringen‘ und Schimpfwörtern wie pastramagiu ‚ordinärer Kerl‘ - sowie mit Regionalismen, wie ţaţă ‚Schwester‘ (Diminutiv ţăţică ), kombiniert: Idee‘ (W, 128); ‚[Pristanda] Ich denke immerzu an meine Pflicht und Schuldigkeit - und da bringt mich dieser Gedanke auf eine Idee‘ (W, 135); ‚Nein, Herr Zaharia, er kommt augenblicklich momentan, er ist nebenan…‘ (W, 138). 56 ‚[Chiriac] ich kenn’ keine solche Räsong ohne Motief ‘ (W, 62); ‚[Herr Dumitrache] Nie hat er sie auch nur mit einem einzigen guten Wort malträtiert , Herr.‘ (W, 64); ‚[Iordache] Herr Nae, wissen Sie, machte die Sache galanter: er […] hielt ihm eine tüchtige Moralpredigt, in der es von „Schweinehund“ und „Lump“ nur so wimmelte, dann haute er ihm noch zwei Ohrfeigen herunter und warf ihn hinaus.‘ (W, 236-237); wörtl. ‚[Nae] Ich denke, ich werde doch keine Weigerung erhalten. / Sie werden uns doch keinen Korb geben.‘ (W, 302). 57 Wörtl. ‚[Veta] Musjö Rică und Ziţa bemitleiden zusammen‘/ ‚Musjö Rică und Ziţa haben doch ein Mitgefühl füreinander‘ (W, 109); ‚[Ziţa] der Grobian hat schon die Klinge aus seinem Stockdegen herausgezogen und hat mich damit selbstmorden wollen…‘ (W, 76); wörtl. ‚[Caţavencu] Ich ehre mich, sagen zu dürfen, daß ich ihn verdiene.‘ (cf. W. 199). Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 535 [Ziţa] Aide, nene, zău! parol! să n-ai parte de mine şi de Veta! ( NF , 14); Uf! ţăţico, maşer, bine că m-a scăpat Dumnezeu de traiul cu pastramagiul. ( NF , 33); Atunci, alevoa, bonsoir, ţaţo! (NF, 35); Zău! ţăţico, parol! să mă-ngropi! (NF, 35); Ţaţo! per l’amour di Dieu! Portiţa dinspre maidan e încuiată. ( NF , 67); [ Jupân Dumitrache] Ce pofteşti, mă musiu? ( NF , 72) 58 Die Französelei und die Ansprüche der emporgekommenen Bourgeoisie auf Verfeinerung vertieften sich von einer Generation zur anderen (cf. Iosifescu 1962: 37-38). Während in den 1870er und 1880er Jahren die Frauen aus der Kleinbourgeoisie der Bukarester Vorstadt, wie Ziţa in NF und Miţa Baston und Didina Mazu in DC , ihre Sprache mit französischen Brocken färben, sprechen die Rrumäninnen aus der „feinen“ Gesellschaft der Jahrhundertwende, die Caragiale in verschiedenen Skizzen, wie Rromânca ( Die Rrumänin , im Folgenden RR ), Five o’clock ( FC ) und High-life ( HL ), karikiert, Rumänisch nur noch avec les domestiques , sonst ausschließlich Französisch, und sie nehmen auch Englischunterricht. Sie können nur in zwei Städten, in Paris et Bukarest , leben, sind an jedem Bal du monde anwesend, wo sie luxuriöse Kleidung tragen, gehen in die klassischen Konzerte, weil sie fort en vogue sind, machen regelmäßig un tour au bois , suchen täglich in den Läden eşantiioane (< frz. échantillon ), finden allerdings malheureusement niemals, was sie brauchen, haben die mondäne französischsprachige Zeitung L’Indépendance roumaine , die zu jener Zeit in Bukarest erschien, abonniert und wollen unbedingt vom damals berühmten Modejournalisten bei dieser Zeitung und gossip columnist Claymoor (Pseudonym von Mişu (Mihail Ion) Văcărescu), erwähnt werden ( RR , 805-808). Diese „moftangioaice“ (‚Faxenmacherinnen‘) französisieren ihre Namen ( Maria wird zu Mari , Smaranda Episcopescu zu Esméralde Piscopesco , Aglaia Popescu zu Aglaé Poppesco ) und wollen auch durch ihre großen Hüte bleu gendarme mit Bändern in vieux rose beeindrucken. Sie mögen la causerie und haben wöchentlich einen jour fixe , wenn sie um five o’clock Besuch bekommen, worüber sie ihre Bekannten durch eine Anzeige in der erwähnten französischen Zeitung informieren (z. B. „Madame Esméralde Piscopesco, five o’clock tea toujours les jeudis“, FC , 518). Ihre Gäste empfangen sie in den in reinem Louis XV-Stil möblierten Salons ihrer prächtigen hôtels (hier mit der Bedeutung ‚Villen‘), wo die Diener mit Frack und weißen Handschuhen den Tee in den Tassen silberner Services mit Monogramm 58 ‚[Ziţa] Komm, Onkelchen! Schau, wirklich! Ehrenwort! Sonst sollst du an mir und an Veta keine Freude mehr haben.‘ (W, 59); ‚Ach, Schwesterchen, Mascher , ein Glück, dass mir Gott das Weiterleben mit dem ordinären Kerl erspart hat.‘ (W, 75); ‚Also dann, alevoa [au revoir], bonsoar , meine Liebe‘ (W, 77); ‚Geh, Schwesterchen, wirklich, Ehrenwort! Wills du mich ins Grab bringen? ‘ (W, 77); ‚Schwester, per l’amour di Dieu , das Pförtchen ist ja zugesperrt.‘ (W, 100); ‚[Herr Dumitrache] Was wünschen Sie, Sie Musjö ? ‘ (W, 104). 536 Aurelia Merlan und Grafenkrone auftragen. Ihre bescheidene Herkunft und ihre wahre Natur können sie allerdings nicht völlig verbergen, denn sie machen das Tratschen zu ihrer Lieblingsbeschäftigung, sie beleidigen sich gegenseitig mit den niedrigsten Ausdrücken, weil sie sich eigentlich nicht ertragen können („Ah! ma chère, je ne puis la sentir! “, RR , 808) und sind grob in der Art und Weise, wie sie ihre Diener und Hausmädchen behandeln ( FC , 518-523). 5 Fazit Der französische Einfluss auf die rumänische Sprache, Kultur und Gesellschaft begann in den rumänischen Fürstentümern Moldau und Walachei Ende des 18. Jhs., erreichte seinen Höhepunkt gegen Mitte des 19. Jhs., als sich die Frankophilie zu einer regelrechten Frankomanie auswuchs, und verlor in gewissem Maße an Intensität nach 1863 / 66. Ein glaubwürdiges Bild dieses Einflusses in seinen drei unterschiedlichen Etappen (1780-1830, 1830-1863 / 66 und nach 1866) und vor allem der Frankomanie geben die realistischen Komödien der Dramatiker Constantin Facca, Vasile Alecsandri und Ion Luca Caragiale. Durch die kontrastive Analyse ihrer Komödien kann man in gewissem Maße die allmähliche Verbreitung - im Raum, in den sozialen Schichten, bei verschiedenen Generationen und unter den Geschlechtern - der importierten Muster in den verschiedensten Lebensbereichen und der Gallizismen in der rumänischen Sprache beobachten. Im Raum verbreiteten sich die neuen Lebensformen und die neuen Wörter von der Hauptzur Vorstadt und später zur Provinz. In den sozialen Schichten verbreiteten sie sich - durch Imitation - von der zweisprachigen Großzur vorstädtischen Kleinaristokratie in den Anfängen des 19. Jhs., gegen die Jahrhundertmitte beim Provinzkleinadel und später, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs., von der Elite zum emporgekommenen Kleinbürgertum der Vorstädte und den städtischen kleinen Angestellten. Das Landvolk bleibt weit entfernt von diesem Einfluss. Die alte und neue Generation und die Geschlechter reagierten unterschiedlich gegenüber dem französichen Einfluss: die Jugendlichen und die Frauen begeisterten sich für alles, was aus Frankreich kam, und spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der französischen Wörter und der neuen Lebensstile, während die alte Generation, insbesondere die Kleinbojaren, eher feindselig reagierten. Viele Gallizismen - manche Bedürfnis-, andere nur „überflüssige“ Modewörter - erscheinen in der ersten Etappe des französischen Einflusses in ihrer originalen Lautform und Flexion. Der Gebrauch und Missbrauch solcher - manchmal „verstümmelter“ - Fremdwörter bei den Französelnden und franţuzi bzw. bonjurişti , beim ungebildeten Provinzadel und bei den Exponenten der halbgebildeten Bourgeoisie der Vorstädte ist ein Zeichen ihres Snobismus, ihres Kosmopolitismus und / oder ihres Emporkommens. Frankophilie und Frankomanie in den rumänischen Fürstentümern im 19. Jh. 537 Nach 1830 werden die meisten Entlehnungen an die phonetischen und morphologischen Regeln des Rumänischen angepasst, wobei manche allerdings mehrere Varianten aufweisen. Formen, die sich später endgültig durchsetzen werden, koexistieren im 19. Jh. eine Weile mit alten, die an die neugriechische oder russische Vermittlung erinnern. Die Französelnden, die franţuzi bzw. bonjurişti und die Emporkömmlinge sprechen manchmal die Neologismen à la française aus, manchmal als integrierte Wörter, jedoch nicht selten phonetisch „deformiert“, und manchmal verwenden sie sie mit falscher Bedeutung. Die Gallizismen (ob Lehnwörter, Fremdwörter oder „Barbarismen“), von denen viele den Platz alter Entlehnungen einnehmen, führen innerhalb von 100 Jahren zu einer Veränderung der etymologischen Struktur des rumänischen Wortschatzes. Ihre Zahl in Caragiales Komödien ist viel höher als in Faccas und Alecsandris Komödien. Das griechische Französeln einer coana Chiriţa ist gegen Ende des 19. Jhs. vorbei. Literatur Primärliteratur Alecsandri, V[asile] (1961): Chiriţa în Iaşi sau Două fete ş-o neneacă. Teatru . Vol. I: Comedii . Bucureşti: Editura pentru Literatură. Caragiale, Ion Luca (1971): Opere . Vol. I: Teatru şi Momente . Bucureşti: Editura Minerva. Caragiale, Ion Luca (1962): Werke . Bukarest: Meridian. Facca, Costache (1960): Comodia vremii und Conversaţie , in: Niculescu, Alexandru (Hrsg.): Primii noştri dramaturgi . Ediţie îngrijită şi glosar de Al. Niculescu. Antologie, studiu introductiv şi note biobibliografice de Florin Tornea. 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Le présent article donne d’abord un bref aperçu des critiques au DG, espécialement de la part d’Andrés Bello et Henri Peseux-Richard, pour se centrer plus tard sur la position de Baralt envers les « mauvais » traducteurs - les « zarramplines » - et se poser, finalement, la question s’il est possible de récupérer les noms des traducteurs qui Baralt, délibérément, cache. 1 Esperando al Diccionario de galicismos En 2010 se conmemoraba el segundo centenario del nacimiento del filólogo, escritor, historiador, militar y periodista venezolano Rafael María Baralt (Maracaibo, 1810 - Madrid, 1860). A su actividad profesional se unió, en 1853, el honor de ser el primer hispanoamericano elegido académico de número de la Real Academia Española. 1 Aunque solo fuera por esta distinción, la RAE debería haber celebrado la efemérides. En la obra de Baralt, tan polifacética como la trayectoria profesional de su autor, destaca, entre otros trabajos, el Resumen de la historia de Venezuela (1841), mientras que en el terreno filológico el venezolano ha pasado a la historia por su Diccionario de galicismos ( DG ), el primero de la lengua española. Pese a sus innegables deficiencias, el DG sigue constituyendo una referencia indispensable para los estudios de lexicología y lexicografía históricas del español, y 1 Su compatriota Andrés Bello era miembro honorario de la RAE desde 1851, pero nunca obtuvo el rango de académico de número (cf. RAE 2017: online). 542 Inmaculada García Jiménez también - como pretendo demostrar en el presente artículo - para la historia de la traducción. El DG se publicó en Madrid en 1855 bajo el título completo de Diccionario de galicismos, ó sea de las voces, locuciones y frases de la lengua francesa que se han introducido en el habla castellana moderna, con el juicio crítico de las que deben introducirse, y la equivalencia castiza de las que no se hallan en este caso. 2 La expectación con que fue acogido en los círculos expertos del mundo hispanohablante es perfectamente comprensible, ya que se trataba del primer diccionario de galicismos del español, si bien no del primero aparecido en la Península Ibérica. Efectivamente, cuarenta años antes, en 1816, Francisco de S-o Luís Saraiva había editado en Lisboa su Glossário das palavras e frases da lingua franceza que por descuido, ignorancia, ou necessidade se tem introduzido na locuç-o portugueza moderna; com o juizo critico das que s-o adoptaveis nella . La similitud de título entre el DG y su predecesor portugués es evidente. 3 Entre los que dieron la bienvenida al DG se encontraba el también académico Juan Eugenio Hartzenbusch (1806-1880), quien, en su prólogo al DG , no se abstuvo, sin embargo, de recriminar benévolamente a su colega Baralt cierta intolerancia prescriptiva: El Sr. D. Rafael María Baralt en este DICCIONARIO trata de guiar á nuestros escritores por un camino medio, atinado y seguro. No proscribe todo lo nuevo; escoge, sí, de las novedades las que tiene por útiles; no patrocina ciegamente lo antiguo, ántes rebusca los que le parecen defectos hasta en los autores más venerables. Demasiadamente severo se muestra diversas veces; acaso lo hará porque contando con la poca docilidad que suele haber para acomodarse á la doctrina de un catecismo literario reciente, pide mucho para conseguir una cosa arreglada. ( DG 1995 [1855]: XX ) 4 Esta mesurada crítica contrasta con los incisivos juicios de opinión de años posteriores, que Baralt, sorprendido por la muerte, no tuvo que afrontar. 2 ¿Galicismos? ¿Qué galicismos? Entre las críticas más negativas destacan, en primer lugar, las de su compatriota, el insigne Andrés Bello (1781-1865). En sus comentarios inconclusos al DG , 2 He conservado la ortografía original de todos los títulos y citas directas. 3 Sobre la orientación teórica de ambos diccionarios, cf. Schäfer-Prieß (2010). 4 En su artículo sobre el prólogo de Hartzenbusch Busson-Préau (1991: 233) afirma: “[…] il s’agit du prologue de Juan Eugenio Hartzenbusch, académicien et écrivain espagnol, à l’édition de 1874 du Diccionario de Galicismos de Rafael María Baralt.” Esta información puede conducir a error, pues ya la primera edición del DG de 1855 contiene el prólogo mencionado. Sobre galicismos y “zarramplines” en el DG (1855) 543 redactados en los últimos diez años de su vida y publicados póstumamente, 5 Bello reconoce la necesidad de una obra como el DG , por su relevancia tanto para España como para los restantes países hispanohablantes, y, tras coincidir con Hartzenbusch en la amenidad del DG como lectura, saca a relucir los puntos débiles del mismo: […] hallo de cuando en cuando excesiva la severidad, no enteramente segura la doctrina, y algo arbitrarios los fallos. (Bello 1951 [1855-1865]: 187) El primero, la severidad, era ya conocido a través de Hartzenbusch, pero, además, Bello atribuye al método baraltiano algo más grave; se trata de dos características opuestas a la labor científica: ignorancia doctrinal y arbitrariedad crítica. A esta misma línea argumental se adscribe, años más tarde, el filólogo francés Henri Peseux-Richard, quien se muestra implacable al afirmar: Malheureusement sa science [de Baralt] ne répond pas toujours à sa bonne volonté et il suffit de jeter un coup d’oeil sur le livre pour voir qu’il est fort au-dessous de sa renommée. (Peseux-Richard 1879: 32) La siguiente cita ejemplifica con claridad la crítica de Bello contra la argumentación de Baralt: En general, lo que deja más que desear en este libro es la conversión de frases que se condenan justa o injustamente como galicismos 6 a frases castellanas. ¿A quién satisfacerá [sic], que, en lugar de desilusionar , se diga, no ya desengañar , que se le acerca ciertamente, aunque no alcance a significar lo mismo, sino ilustrar , instruir , advertir ? (Bello 1951 [1855-1865]: 189) En páginas posteriores (ibid. 1951 [1855-1865]: 191-192) el crítico desmonta los frágiles argumentos baraltianos contra la aceptación del verbo desilusionar . La inexistencia de ilusionar , que, según Baralt (s. v. DESILUSIONAR ), desaconsejaba la formación del antónimo prefijado, no constituye, en opinión de Bello, argumento suficiente, pues, aun aceptando tal carencia, habría que considerar desilusionar como un ejemplo más, entre tantos otros, de formación parasintética en español. Aparte de esto - continúa Bello -, tampoco hay motivo para suponer que ilusionar no sea de uso en la lengua española: Además, yo no veo por qué no pudiera usarse en ocasiones oportunas ilusionar , que de seguro sería entendido de todos, aunque no hubiese saludado el francés. (Bello 1951 [1855-1865]: 192) 5 Los comentarios de Bello no pasaron del comienzo de la letra b , siendo BATIR la última entrada que trató. 6 El subrayado es mío en todos los casos. 544 Inmaculada García Jiménez Las partes subrayadas en las dos citas precedentes dejan entrever un defecto esencial del DG , a saber, que no todas las entradas o acepciones presentadas como galicismos lo son en realidad; y es que, siguiendo a Peseux-Richard (1879: 35, 37), los déficits del DG se deberían también en gran parte a los limitados conocimientos del francés por parte de Baralt: […] Baralt ne savait pas assez le français pour mener à bien une œuvre de ce genre. (Peseux-Richard 1879: 35) O, dicho de otro modo, pero igualmente radical: Sachant si peu le français, on ne doit pas s’étonner qu’il l’apprécie mal, et les jugements qu’il porte sur ce point perdent de ce fait toute autorité. (Peseux-Richard 1879: 37) No pretendo en este trabajo valorar el grado de conocimiento de la lengua francesa que tenía Baralt. Basándome en la crítica que acabo de exponer, sí me interesa, en cambio, destacar lo engañoso del título que el filólogo venezolano da a su obra. En efecto, ¿hasta qué punto puede admitirse que las entradas del DG son realmente galicismos? Y, los que sí lo son, ¿son tan “modernos” como se anuncia en el título? Declaraciones como la siguiente (s. v. SUFRIR ) ponen de manifiesto claras contradicciones en la concepción que da sustento al DG : […] apénas hay galicismo que no lo esté igualmente en los antiguos libros españoles, por la razon muy sencilla de que cuanto más remontamos á los orígenes de nuestro romance, más afinidad, ó si decimos, identidad notaremos entre él y los idiomas frances é italiano, nacidos de la misma cuna. De la cita se desprende una noción confusa de galicismo, que subyace a la obra como hilo conductor. Si, como nos explica el Diccionario de la lengua española de la Real Academia Española ( DRAE ) en su décima edición, de 1852 - la más próxima al año de publicación del DG -, moderno es “Lo nuevo y reciente, ó que ha sucedido de poco tiempo á esta parte” ( NTLLE , s. v. MODERNO ), la inclusión en el DG de lemas y acepciones registrados desde antiguo en español resulta improcedente. Más aún cuando muchas de esas formas son de origen común al español y otros idiomas románicos, como el propio Baralt reconoce. Etiquetarlas de galicismos es, pues, erróneo, como lo es también considerar de origen francés expresiones claramente tomadas del italiano. Peseux-Richard (1879: 38) menciona, p. ej., la paremia Todo el mundo es país ( Tutto il mondo è paese , cf. DG , s. v. PAÍS ) o el fraseologismo al hacer del día ( sul far del giorno , cf. DG , s. v. HACER , II ). En esta línea, otras entradas, como ABATE , dejan entrever que Baralt no apura todas las posibilidades en el uso de las fuentes a su alcance. El autor define ABATE conforme a la edición de 1852 del Diccionario académico: Sobre galicismos y “zarramplines” en el DG (1855) 545 El clérigo, por lo comun de órdenes menores, vestido de hábito clerical á la romana. ( NTLLE , s. v. ABATE ) Sin embargo, para los objetivos de Baralt, una consulta retrospectiva habría resultado, indudablemente, más fructífera y correcta, como el Diccionario de Autoridades ( DA ) demuestra: Palábra Italiana introducida modernamente para denotar al que anda vestido con cuello clericál, casáca, y capa corta. ( DA , s. v. ABATE ) Igualmente contradictorio es incluir supuestos neologismos dejándose llevar simplemente por las preferencias personales (p. ej. SABROSEAR o HABLISTA ), cuando las formas en cuestión carecen de filiación francesa: SABROSEAR GALLARDO (D. BARTOLOMÉ ) inventó este verbo; y le usaba con bastante frecuencia para expresar la idea de saborear una cosa sabrosa de suyo, repastándose en ella . Es expresivo y gracioso. ( DG , s. v.) HABLISTA No se trata aqui de ningun galicismo sino de una voz nuevamente formada, y ya de uso general en el habla moderna castellana. ( DG , s. v.) No deja de resultar curioso que Hartzenbusch, quien en el prólogo al DG (Hartzenbusch 1995 [1855]: XX ) igualmente resalta el origen español de hablista (“se deriva naturalmente de habla ”), no critique su inclusión en el DG . Baralt aprovecha el lema HABLISTA para, como a menudo, hacer alarde de erudición, sin desperdiciar la ocasión de criticar a algunos intelectuales de la talla de Gregorio Mayáns (1699-1781) o a escritores contemporáneos, como Alberto Lista (1775-1848) o Félix José Reinoso (1772-1841). Como se puede ver, no es raro que Baralt escoja los lemas con la única intención de rebatir su supuesto origen francés. Así ocurre también con la siguiente entrada: SUJETO He oido tachar de galicano el uso de este vocablo en la acepcion de materia, asunto ó tema de lo que se habla ó escribe . Es vocablo castellano que consta así en nuestros diccionarios autorizados; salvo que ya ha caido en desuso, acaso por los equívocos á que puede dar lugar. ( DG , s. v.) No faltan ejemplos de inconsecuencia argumentativa dentro de un mismo lema. Así, de ZIGZAG se admite su uso técnico, pero no el cotidiano: 546 Inmaculada García Jiménez Vocablo frances […]. Entre nosotros es hoy de uso como vocablo técnico militar […]. Es galicismo inadmisible en el lenguaje vulgar. Y así, por ejemplo, „Un camino hecho en zigzag “ se dice en castellano Un camino de revueltas , ó Un camino que culebrea, que hace culebra, que hace eses , como se lee en Quevedo. ( DG , s. v.) De esta y otras citas se infiere que para Baralt los autores clásicos, las autoridades - en este caso Quevedo - constituyen el punto de referencia del buen uso lingüístico. Pero la evolución de la lengua ha discurrido frecuentemente por derroteros opuestos a los deseados por Baralt, y, así, - como en tantos otros ejemplos del DG - el uso que el filólogo venezolano consideraba “vulgar” o rechazable es el que al final se ha impuesto, de manera que hoy los caminos pueden hacer zigzag en español, mientras que hacer eses se asocia con el movimiento de las personas en situaciones especiales, por ej. de embriaguez o indisposición, así como con el de los vehículos conducidos por ellas. Los ejemplos anteriores ponen de manifiesto que Bello (1951 [1855-1865]: 192) no se equivocaba al concluir que la pretensión de Baralt era, en realidad, “darnos un Diccionario de neologismos (viciosos, se entiende)”. Pero no solo eso. La selección de los lemas transmite la impresión de falta de planificación sistemática, como afirma Peseux-Richard: Tout d’abord le plan adopté se justifie difficilement. (Peseux-Richard 1879: 33) Otro aspecto central que Bello rechaza abiertamente es la actitud antigalicista de Baralt, que lo impulsa a protestar con vehemencia: No parece bien que la lengua francesa sea una sentina de donde nada bueno puede venirnos, sino infección y peste […]. (Bello 1951 [1855-1865]: 192) El patetismo de la cita de Bello no es exagerado, teniendo en cuenta que Baralt prefiere, a menudo, polemizar en lugar de argumentar de manera constructiva, y que pasa con fluidez de una exhortación pedagógica neutra como “No seamos galiparlistas sin necesidad.” ( DG , s. v. ABORDAR ) a utilizar un estilo panfletario y peyorativo respecto al francés, como se constata en este ejemplo: ABORDAR […] es verbo malamente tomado del frances, á cuya lengua no tenemos para qué envidiar la impropia y violenta metáfora que envuelve. ( DG , s. v.) De lo expuesto hasta aquí se desprende que alinear a Baralt en una de las dos tendencias principales que, desde el s. XVIII , aglutinaron a escritores, intelectuales y estudiosos del lenguaje, el casticismo y su cara negativa, el purismo, no resulta difícil. Si el rechazo a “la intromisión de vocablos nuevos, procedentes de otras lenguas o de una creación personal” constituye, según Fernando Lázaro Sobre galicismos y “zarramplines” en el DG (1855) 547 Carreter (1985 [1949]: 259), la principal característica del purismo, no cabe duda de que el académico venezolano se manifiesta mucho más purista que casticista. Este purismo, unido a una viva afición a la polémica, retrata a Baralt con más exactitud que el “camino medio” en el que Hartzenbusch (1995 [1855]: XX ), benévolamente, lo ubicaba. Pero es a Peseux-Richard a quien debemos el resumen valorativo más contundente del DG : […] le seul intérêt véritable de lʼoeuvre de Baralt réside dans les exemples tirés des bons auteurs […]. Pour tout le reste, c‘est-à-dire pour ce qui concerne les emprunts de lʼespagnol au français, le dictionnaire des gallicismes est encore à faire. (Peseux- Richard 1879: 38) 3 Las fuentes implícitas del Diccionario de galicismos Como constata Peseux-Richard, el DG reúne un buen elenco de ejemplos extraídos de obras clásicas, desde los orígenes de la literatura española hasta las autoridades de los Siglos de Oro; desde Alfonso el Sabio (1221-1284) hasta Quevedo (1580-1645), pasando por Santa Teresa (1515-1582) y Cervantes (1547-1616). Además de en las autoridades clásicas, Baralt fundamenta su argumentación en diversos autores ligeramente anteriores a su época, como los ilustrados Juan de Iriarte (1702-1771) y Antonio de Capmany (1742-1813), o incluso contemporáneos, como los escritores Bartolomé José Gallardo (1776-1852), Vicente Salvá (1786-1849) y Antonio Alcalá Galiano (1789-1865), entre otros. El erudito Mayáns es mencionado únicamente bajo el lema HABLISTA , y solo para discrepar, mientras que de su paisano Andrés Bello no hay noticia alguna en el DG . Tan interesante o, incluso, más que la referencia a determinadas fuentes resulta la omisión de la mayor parte de aquellas de las que Baralt extrae los ejemplos que con mayor acritud critica. La doble estrategia subyacente consistiría, según Peseux-Richard, en evitar herir susceptibilidades, de un lado, y en restar oportunidades a la crítica, de otro. 7 Entre las fuentes ocultadas intencionadamente abundan periodistas y traductores del francés. En especial estos últimos venían constituyendo el blanco de los ataques puristas desde el siglo anterior, por ser considerados los máximos responsables de la corrupción y decadencia de la lengua y cultura españolas. Son numerosos los calificativos despectivos que se 7 Peseux-Richard (1879: 33): “On pourrait regretter que Baralt n’ait pas cru devoir indiquer les noms des auteurs des phrases citées comme exemples de gallicismes. C’eût été là sans doute éveiller de nombreuses susceptibilités, mais aussi assurer une portée plus grande à la critique.” 548 Inmaculada García Jiménez les aplican, 8 reprochándoseles a menudo un escaso conocimiento del idioma de origen y un gran desinterés por el resultado, es decir, por la traducción al español, ya que, al parecer, se guiarían principalmente por el afán de lucro. Sería injusto, sin embargo, obviar que, en su empresa, los malos traductores no estaban solos. Así, Mariano José de Larra (1809-1837) reconoce en su artículo Don Cándido Buenafé o El camino de la gloria (1833) la complicidad, además, de editores, libreros y lectores en la difusión del fenómeno criticado: […] ajústese usted con un par de libreros, los cuales le darán a usted cuatro o cinco duros por cada tomo de las novelas de Walter Scott, que usted en horas les traduzca; y aunque vayan mal traducidas, usted no se apure, que ni el librero lo entiende, ni ningún cristiano tampoco. (Larra 1843: 111; citado según Martinell 1994: 114) Siguiendo a Capmany, Lázaro Carreter (1985 [1949]: 276) concluye acerca de los traductores que “eran, sin duda, los más irresponsables introductores de neologismos”, advirtiendo de que no es suficiente el conocimiento de la lengua de partida y la lengua meta para hacer una buena traducción, sino que, además, hay que entender de los temas y disciplinas que se traducen (cf. ibid.). Esto, que parece evidente por lo que respecta a la traducción científica y técnica, afecta en igual medida a la literaria. En este ámbito la producción editorial se fue intensificando a medida que avanzaba el siglo, de manera que, como indica M a . Aurora Aragón Fernández (1992: 144), en la última década del s. XVIII el porcentaje de obras literarias traducidas del francés había aumentado un 19 %, en detrimento, p. ej., de la traducción de obras religiosas, que, pese a la importancia conservada todavía, representaba ‘únicamente’ la tercera parte del total traducido. Es lógico que dentro de la traducción literaria se concentrara la atención especialmente en la edición de obras que, ya de entrada, prometían un éxito de ventas. Tal es el caso de la novela didáctica de Fénelon (1651-1715), publicada por primera vez en 1699, Les aventures de Télémaque , fils d ’ Ulysse, de la que, según Jacques Le Brun (2009: 133), en apenas dos siglos se habían hecho hasta 550 ediciones y 170 traducciones a lenguas muy diversas, e incluso dos versiones españolas en un mismo año, 1798: una de José de Covarrubias y otra, bilingüe, de Agustín García de Arrieta (cf. Aragón Fernández 1991: 532). 9 La pulsante actividad traductora en la España del s. XVIII y primera mitad del XIX 8 Martinell (1994: 113-115) recoge algunos de ellos en autores como el Padre Isla (1703-1781), Tomás de Iriarte (1750-1791) o Juan Pablo Forner (1756-1797), entre otros. Para más calificativos despreciativos, cf. también García Garrosa / Lafarga (2004: 57). 9 García Garrosa / Lafarga (2004: 42, 111) sitúan la traducción de Covarrubias en 1797. De García de Arrieta mencionan una traducción de 1796, mientras que según García Bascuñana (2010: 3) la traducción de Covarrubias se imprimió entre 1797 y 1798, la de García de Arrieta en 1799. Sobre galicismos y “zarramplines” en el DG (1855) 549 había alcanzado en 1840, en opinión del escritor Ramón de Mesonero Romanos (1803-1882), límites insospechados: La manía de la traducción ha llegado a su colmo. Nuestro país, en otro tiempo tan original , no es en el día otra cosa que una nación “traducida”. (Mesonero Romanos 1842: 228; citado según García Garrosa 2002: 141) Ya lo había anticipado el Padre Isla (1703-1781) cuando décadas antes, en 1768, se burlaba del exceso de traductores: En los tiempos que corren es desdichada la madre que no tiene un hijo traductor. (Isla 1768: 133, Lib. IV ; citado según García Garrosa / Lafarga 2004: 56) En realidad, no era la labor de traducción la criticada o ridiculizada, sino la de los malos traductores, en general, de ahí que fueran profesionales como el propio Isla los que más alababan las buenas y más denostaban las malas traducciones (cf. García Garrosa / Lafarga 2004: 55). Pues bien, también Baralt destina una buena parte de su energía crítica a atacar en el DG a los malos traductores. 4 Baralt y los traductores “zarramplines” En 1855, quince años más tarde de la hiperbólica caracterización de España debida a Mesonero Romanos, Baralt se ensaña en el DG - entre otros responsables de los malos usos lingüísticos - con los traductores. Como era de esperar, tampoco en esta ocasión el autor se molesta en facilitar el nombre de los agraviados. Excusas como la falta de espacio le impedirían hacerlo, manifiesta s. v. AIRE : Pudiera citar multitud de textos de traducciones modernas que pasan por buenas, y de obras originales que realmente lo son, inficionadas de los galicismos referidos; por abreviar no los pongo. ( DG , s. v.) Sería interesante saber qué traductores se ocultan tras los nombres omitidos, sobre todo los más criticados. Con tal fin he buscado información en aquellos pasajes del DG que contienen los sustantivos traducción y traductor , incluidos sus plurales. Se trata de comprobar cómo califica Baralt la labor de los “malos” traductores y, al mismo tiempo, de intentar reconstruir datos biográficos a partir de las referencias indirectas esparcidas en el DG . En las tablas siguientes se presentan los lemas que contienen uno o dos de los sustantivos mencionados; los números romanos hacen referencia a la acepción correspondiente. 550 Inmaculada García Jiménez traducción / traducciones A usada por de ESTAR (I) MIRA ADJETIVO EXTREMO NÚMERO AIRE FAZ PARTICIPIO ARTÍCULO FOCO PODER ( IV ) BOCA FORJA ( III ) POTENCIA CARTERA GIRO ( III ) PUNTO CONCISIÓN GOBERNAR QUE (I) CONTRASENTIDO GRUESO , SA REALEZA DADO , DA HABER (I) SABER DEJAR HOTEL SEGUIDA DELIBERACIÓN ILUSTRAR SER ( VIII ) DESARROLLO INCONVENIENTE SICOMORO DESGRACIOSO , SA JUGAR SOBREVENIMIENTO DIA JUVENTUD SOI - DISANT ÉL , ELLA LARGO , GA TAMBIÉN EMINENCIA MANEJO VIABILIDAD EN ( VII ) MARCHA MEDIDA Tab. 1: Lemas que contienen el sustantivo traducción traductor / traductores ARTÍCULO GERUNDIO ( III ) QUE (I) AZAR GOBERNAR RECONOCER BAJO , JA HABER (I) SUBLEVAR BASTANTE IMBÉCIL SUFRIR CONCISIÓN INCONVENIENTE TURNO DE ( III ) MORDER DELIBERACIÓN OCUPAR (I) Tab. 2: Lemas que contienen el sustantivo traductor Sobre galicismos y “zarramplines” en el DG (1855) 551 Traductor aparece siempre en masculino; el DG no deja constancia de la actividad traductora de ninguna mujer. traducción / traducciones + traductor / traductores ARTÍCULO GOBERNAR QUE (I) CONCISIÓN HABER (I) DELIBERACIÓN INCONVENIENTE Tab. 3: Lemas que contienen los sustantivos traducción y traductor ¿Cómo caracteriza Baralt a los traductores que no son de su agrado? A continuación se exponen los resultados de analizar el contenido de los lemas, excepto los de la tabla 1, que serán objeto de trabajos futuros. 10 Del análisis se concluye el uso de calificativos que abarcan desde los directamente negativos, como “malos traductores”, hasta fingidamente benévolos, p. ej. “el bueno del traductor”, sin faltar descalificaciones agresivas, como “bestia” 11 o “detestable”. La tabla 4 recoge todas las posibilidades: 10 En ellos se analizarán asimismo los datos extraídos de los numerosos pasajes que contienen el verbo traducir , tanto en infinitivo como en sus formas conjugadas. 11 Alusión indirecta s. v. GOBERNAR. 552 Inmaculada García Jiménez Caracterización y atribuciones de los malos traductores según el DG Aparentemente benévolas (ironía) Negativas (neutras) Negativas (agresivas o denigrantes) “El bueno del traductor” (1 caso) 12 Creadores de barbarismos (2 casos) 13 Bestia (1 caso) 14 “Con singular esmero” (1 caso) 15 Desorientado “sin saber adónde iba” (1 caso) 16 “Detestable traductor moderno” (1 caso) 17 Introducción de malos usos “merced á los traductores” (1 caso) 18 “Incuria e ignorancia” (1 caso) 19 Majadero (1 caso) 20 “Pobre traductor” (1 caso) 21 “Malos traductores” (4 casos) 22 “Malhadado traductor” (1 caso) 23 “Señor traductor” (3 casos) 24 “Traductores zarramplines” (2 casos) 25 Tab. 4: Los malos traductores según el DG Como se desprende de la tabla, la caracterización que con más frecuencia se constata es la de “mal traductor”. Estos malos traductores introducen barbarismos en el español, son ignorantes y negligentes e, incluso, en ocasiones, traducen de forma desorientada. En determinados pasajes del DG Baralt se apiada irónicamente de ellos, tratándolos de señores, además de ‘agradecerles’ haber introducido malos usos en el español, y ello con aplicación. El filólogo venezolano muestra aparente condescendencia hacia ellos, los buenos de los traductores, los pobres traductores. Esta postura fingida contrasta abiertamente con un des- 12 S. v. DELIBERACIÓN. 13 S. v. DE (III) y SUFRIR. 14 Indirectamente s. v. GOBERNAR. 15 S. v. IMBÉCIL. 16 S v. QUE (I). 17 S. v. AZAR. 18 S. v. INCONVENIENTE. 19 S. v. HABER (I). 20 S. v. MORDER. 21 S. v. GERUNDIO (III). 22 S. v. ARTÍCULO, MORDER, BAJO, JA y BASTANTE. 23 S. v. TURNO. 24 S. v. ARTÍCULO, QUE (I) y RECONOCER. 25 S. v. OCUPAR (I) y SUBLEVAR. Sobre galicismos y “zarramplines” en el DG (1855) 553 precio sin rodeos hacia los desgraciados traductores modernos, necios como las bestias. Entre los calificativos dedicados a los malos traductores llama particularmente la atención uno en apariencia suave: “zarramplín”. Suena expresivo y gracioso; no es de extrañar, pues, que este adjetivo y sustantivo se encasille en un registro familiar, como informa la RAE en la sexta edición del Diccionario académico, de 1822: ZARRAMPLIN s. m. fam.: Fargallon, chafallon, chapucero, el hombre de poca habilidad en cualquiera profesion ú oficio. ( NTLLE , s. v.) Ser chapucero o zarramplín no constituye precisamente una buena recomendación profesional, pero, a primera vista, puede parecer menos negativo que ser un traductor “detestable” o “majadero”. Sin embargo, la descripción de los traductores zarramplines que hace Baralt ( DG , s. v. SUBLEVAR ) es mucho más drástica que la definición de la RAE , de ahí mi decisión de incluir zarramplín en la tercera columna de la tabla. En opinión de Baralt (cf. ibid.), los traductores zarramplines son “eternos prevaricadores del buen lenguaje” y personas “en sublevación permanente […] contra la lengua”. Aunque la primera aparición de zarramplín en el Diccionario académico es de 1822, la palabra está documentada ya con anterioridad en la Loa para la comedia ‘La vida es sueño’ , de 1772-1773, obra del dramaturgo Vicente García de la Huerta (1734-1787), según el Corpus del Nuevo Diccionario Histórico del Español ( CNDHE ), igualmente de la RAE . El siguiente ejemplo que proporciona el CNDHE es de 1871, pero, a pesar del gran intervalo temporal, no cabe duda de que la palabra tuvo que seguir utilizándose durante el siglo que media entre ambas fechas, ya que existe todavía hoy. 26 Una búsqueda en Internet permite constatarla, además, en el fustigador Comentario con glosas críticas y joco-serias sobre la nueva traduccion castellana de Las aventuras de Telemaco publicada en la Gazeta de Madrid de 15 de mayo del presente año , es decir, de 1798. En él Capmany ofrece esta caracterización: Los traductores zarramplines, que no tienen estilo propio ni ageno, es decir, que ignoran su lengua, porque no la estudiaron en fuerza de la comparacion con otras, se 26 Así se encuentra en la última edición online del DRAE (s. v.): “zarramplín: 1. m. Pelagatos, pobre diablo. 2. m. coloq. Hombre chapucero y de poca habilidad en una profesión u oficio.” Un caso curioso de uso en un texto literario de finales del s. XX lo constituye la Jácara de los zarramplines (1978), del escritor y pintor malagueño Joaquín Lobato (1943-2005), ya que, fuera del título y de la contraportada de la versión impresa, no se menciona ni una sola vez la palabra zarramplín . 554 Inmaculada García Jiménez dexan llevar, como cuerpos muertos, de la corriente del lenguage del original francés: y asi nos presentan duras, frias, y arrastradas versiones para estomagar á los que por fortuna conservan sanos y puros los sentidos, no viciados con los toques y retoques franceses. (Capmany 1798: 104) Casi sesenta años después de la publicación del Comentario dos rasgos destacados de este habrían de caracterizar, a su vez, al DG : 1. un estilo agresivo y provocador, 2. la anonimización del traductor criticado, pues tampoco en línea alguna del Comentario se menciona al traductor del Telémaco . Ambos fenómenos, unidos a la fuerte influencia que las ideas de Capmany ejercieron sobre Baralt - en el DG se hace referencia explícita a él en diez ocasiones -, me llevan a concluir que también la denominación “traductores zarramplines” forma parte de la ‘herencia’ que el venezolano había recibido de Capmany. De hecho, incluso la comparación implícita de los traductores con las bestias citada en el DG (s. v. GOBERNAR ) está extraída del Comentario , al igual que parte del contenido del lema TURNO , donde Baralt, nuevamente por boca de Capmany, critica a un “malhadado traductor”. 27 Podemos, pues, afirmar que la concepción baraltiana de los malos traductores es claramente polifónica: si bien, en general, es la voz de Baralt la que guía la argumentación, el autor deja, con gusto, hablar también a otros por su boca, ante todo a Capmany, quien, nunca mejor dicho, lleva en este asunto la voz cantante. Antes de finalizar queda todavía por responder una pregunta: ¿se puede reconstruir la identidad de los traductores anónimos criticados en el DG ? La respuesta es parcialmente afirmativa. Hay casos que sí hacen posible la reconstrucción; p. ej. las entradas ARTÍCULO y GOBERNAR , con sus referencias a Capmany, proporcionan una información muy valiosa en este sentido. En el primero de dichos lemas Baralt cita la frase “ Inundan la España de traducciones ”, que Capmany censuraba a un “mal traductor de su tiempo”. Por su parte, en la entrada GOBERNAR se incluye un ejemplo más extenso y con un dato cronológico preciso: No puedo resistir al deseo de poner aquí la crítica que hizo CAPMANY (año 1798) de cierta mala traduccion de su tiempo, hecha del frances al castellano. ( DG , s. v. GOBERNAR ) 27 Respectivamente: “Gobernar ganados como si fueran hombres, es lo mismo que apacentar hombres como si fueran bestias, aunque los hay que debieran andar en cuatro piés.” (DG, s. v. GOBERNAR, citado del Comentario de Capmany 1798: 62) y “Censurando esta frase de un malhadado traductor de su tiempo dice CAPMANY: “En España se habla, mas no se piensa por turno […].” (DG, s. v. TURNO, citado del Comentario ; Capmany 1798: 22). Sobre galicismos y “zarramplines” en el DG (1855) 555 La fecha de 1798 conduce directamente al año de publicación del Comentario de Capmany, una obra en la que, como sabemos (García Garrosa / Lafarga 2004: 18), el autor arremete contra la traducción de las Aventuras de Telémaco realizada por Covarrubias, sin nombrarlo ni una sola vez. Reconocido este hecho, resulta fácil probar que el traductor anónimo aludido en el DG (s. v. ARTICULO) es, de nuevo, Covarrubias, ya que la oración “ Inundan la España de traducciones ” 28 sirve de punto de partida a Capmany para disertar en las páginas 13-14 sobre el uso correcto del verbo inundar y del artículo determinado en español, entre otros temas, criticando el empleo que de ellos se hace en la traducción del Telémaco de 1798 , mientras que en la página 62 del Comentario se ridiculiza el uso de gobernar por parte del mismo traductor, tal como se critica en el DG bajo el lema homónimo. Siendo Covarrubias el traductor en el punto de mira de los ataques baraltianos, no cabe duda de que era él también en quien pensaba Capmany cuando definía a los “traductores zarramplines” en su Comentario . Covarrubias, por el contrario, tenía una imagen bien distinta tanto de su método como del resultado obtenido: Viendo el traductor que ninguna de las traducciones españolas de esta obra corresponde al mérito del original, ni ha llenado los deseos de los amantes de la pureza de nuestra lengua, determinó trabajar la presente con el cuidado y esmero posible para que salga verdaderamente poética y castellana. (Aragón Fernández 1992: 128) Aunque nada más lejos de conseguirlo, opina Capmany de forma demoledora: En ninguna cláusula ni palabra de esta decantada ó encantada traduccion se reconoce ni rastro de la índole de nuestra lengua, ni la casta de la diccion castellana: y se injuria en tanto extremo á la gramática, y á la comun locucion, que podriamos creer que el hombre se burla de sus lectores, ó que delira. En fin, ha logrado que nadie le entienda, y que todos le conozcan. (Capmany 1798: 8) Volviendo al DG , es muy interesante que Baralt no realice una crítica personal de la traducción de Covarrubias y se ciña por completo a la argumentación airada de Capmany. Baralt no solo asume la crítica del catalán, sino, más aún, ‘actúa’ como su portavoz, lo deja hablar por su boca; y esto, casi sesenta años después del Comentario , es ciertamente llamativo. Teniendo en cuenta que, entre finales del s. XVIII y 1855, fecha de edición del DG , habían aparecido varias traducciones nuevas de Les Aventures de Télémaque (cf. García Bascuñana 2010: 4), resulta claramente anacrónico que Baralt centre su atención en un texto tan alejado del 28 Capmany (1798: 13) analiza tanto el ejemplo más complejo „En tantos traductores que inundan todos los dias la España de traducciones no ha habido siquiera uno que […]” como su forma reducida, adoptada por Baralt, “Inundan la España de traducciones” (ibid. 1798: 14). 556 Inmaculada García Jiménez uso lingüístico habitual a mediados del s. XIX . Ello vuelve a poner de relieve lo poco afortunado de considerar “modernos” los ejemplos del DG , a pesar de la opinión de su autor. Por otro lado, y al margen de que la crítica de Capmany a Covarrubias estuviera o no - y en qué medida - justificada, 29 al transmitirla sin valoración propia ni objeción alguna Baralt no solo asume, una vez más, la voz del erudito catalán, sino que, al mismo tiempo y de forma implícita, da la razón a sus máximos detractores, Bello y Peseux-Richard. Bibliografía y fuentes Aragón Fernández, M a . 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Así, García Garrosa / Lafarga (2004: 9) destacan que Covarrubias, guiado por el principio de la fidelidad al texto original, estaba decidido “a llevar a sus últimas consecuencias esa máxima”, siendo su motivación tal vez “el sumo respeto […] por el original que traducen y que no se atreven a alterar lo más mínimo […]”, aunque critican claramente tal actitud ante la traducción, calificándola de “pueril apego al texto de partida” (ibid., nota 8). A pesar de las críticas de Capmany, la traducción de Covarrubias cosechó “un cierto éxito de librería”, según García Bascuñana (2010: 3), quien reconoce también aciertos en la aproximación del traductor al original de Fénelon: “[…] a pesar de ciertas debilidades e imperfecciones del texto de Covarrubias, hay que subrayar su conocimiento del Télémaque así como su interés y simpatía por el texto de Fénelon, lo que le sitúa lejos de los traductores movidos exclusivamente por la búsqueda de beneficio económico” (ibid.). 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Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Barbara Schäfer-Prieß, Roger Schöntag (Hrsg.) 37,9 18118_Schaefer-Priess_Umschlag.indd 3 24.05.2018 11: 49: 52