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Politik – Kirche – politische Kirche (1919-2019)

2019
978-3-7720-5696-3
A. Francke Verlag 
Gisa Bauer

Die Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung 1919 eröffnete den deutschen evangelischen Landeskirchen erstmalig die Möglichkeit, sich eigenverantwortlich in der Gesellschaft und gegenüber der staatlichen Politik zu positionieren. Erste Umgestaltungen der Kirchen in Hessen und Nassau nach demokratischen Prinzipien kamen im Nationalsozialismus vorerst wieder zum Abbruch. Seit 1947 spielten viele der politischen und gesellschaftlichen Debatten in der EKHN eine große Rolle, z. B. die Diskussionen um die Wieder- und Atombewaffnung unter Kirchenpräsident Martin Niemöller, der Protest gegen den Bau der Startbahn West, der sowohl Helmut Hild als auch Helmut Spengler beschäftigte, oder die Frage nach dem Umgang mit dem Islam, der sich Peter Steinacker intensiv widmete. Anhand prägnanter Positionen kirchenleitender Persönlichkeiten zeigt der Band in sechs Beiträgen, wie die "Politisierung" der EKHN erfolgte und wie sie auf das Selbstverständnis innerhalb der EKHN zurückwirkte, eine der "politischen Landeskirchen" in Deutschland zu sein.

ISBN 978-3-7720-8696-0 Die Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung 1919 eröffnete den deutschen evangelischen Landeskirchen erstmalig die Möglichkeit, sich eigenverantwortlich in der Gesellschaft und gegenüber der staatlichen Politik zu positionieren. Erste Umgestaltungen der Kirchen in Hessen und Nassau nach demokratischen Prinzipien kamen im Nationalsozialismus vorerst wieder zum Abbruch. Seit 1947 spielten viele der politischen und gesellschaftlichen Debatten in der EKHN eine große Rolle, z. B. die Diskussionen um die Wieder- und Atombewaffnung unter Kirchenpräsident Martin Niemöller, der Protest gegen den Bau der Startbahn West, der sowohl Helmut Hild als auch Helmut Spengler beschäftigte, oder die Frage nach dem Umgang mit dem Islam, der sich Peter Steinacker intensiv widmete. Anhand prägnanter Positionen kirchenleitender Persönlichkeiten zeigt der Band in sechs Beiträgen, wie die „Politisierung“ der EKHN erfolgte und wie sie auf das Selbstverständnis innerhalb der EKHN zurückwirkte, eine der „politischen Landeskirchen“ in Deutschland zu sein. Gisa Bauer (Hrsg.) Politik - Kirche - politische Kirche Politik - Kirche - politische Kirche (1919-2019) Gisa Bauer (Hrsg.) Die evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau im Spiegel ihrer kirchenleitenden Persönlichkeiten Bauer_Umschlag.indd Alle Seiten 04.10.2019 17: 10: 50 Politik - Kirche - politische Kirche (1919-2019) Gisa Bauer (Hrsg.) Politik - Kirche - politische Kirche (1919-2019) Die evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau im Spiegel ihrer kirchenleitenden Persönlichkeiten Umschlagabbildung: Reflection of stained glass on the stone floor in church. © broek188. Adobe Stock-Illustration-ID 41782106. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gefördert von der Scio-Stiftung für Kirchen- und Kirchenzeitgeschichte am Helmut-Hild-Haus der EKHN. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Geschichte einer Selbstfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Julia Csehan / Malte Dücker Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 - Die Vorläufer der Kirchenpräsidenten: „Männer der Mitte“? . . . . . . . . . . . . 27 Jan Schubert Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . 89 Gisa Bauer Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Ute Dieckhoff Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart . . . . . . . 167 Gisa Bauer / Anette Neff Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“: Der Primat der Empathie in politisch polarisierender Zeit . . . . . . . . . . . . . 213 Sarah Jäger Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Geleitwort des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Kirchenpräsident Dr. Dr. h. c. Volker Jung Menschenrechte und Religionsfreiheit, Friedensethik und Antisemitismus - das waren Themen, die neben anderen auf der 7. Tagung der 12. Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) im Frühjahr 2019 intensiv diskutiert wurden. Diese Themen lassen darauf schließen, dass für die Synode klar ist: Das Evangelium von Jesus Christus hat immer auch eine politische Dimension, weil es um alle Bereiche unseres Lebens geht. Die verschiedenen theologischen Ansichten über das Verhältnis von Religion und Politik, von Kirche und Staat, Gemeinde und Gesellschaft füllen nicht nur Bücher, sondern ganze Bibliotheken. Die Beziehung der Kirchen zur Politik wird umso kontroverser diskutiert, je intensiver Kirchen an politischen Debatten der Gegenwart teilnehmen, sich in öffentliche Diskurse einbringen und damit Gesellschaft mitgestalten. Im öffentlichen Diskurs Position beziehen bedeutet angreifbar werden. Das hat sich in der jüngsten Zeit zum Beispiel bei eindeutigen kirchlichen Voten zur Flüchtlings- und Migrationspolitik gezeigt. Wenn Kirche in politischen Fragen das Wort ergreift, darf sie allerdings nicht parteipolitisch agieren oder sich parteipolitisch vereinnahmen lassen. Es geht darum, eine christliche Perspektive in die Meinungsbildung einer pluralen Gesellschaft einzubringen. Deshalb muss erkennbar sein, wie das im Evangelium begründete Verständnis des Menschen und der Welt die Argumentation trägt. Es muss zudem Raum dafür bleiben, dass es auch bei gemeinsamer christlicher Sicht unterschiedliche politische Optionen geben kann. Die Balance zwischen öffentlicher Positionierung und Profilierung und überparteilicher Gemeinschaft ist eine der dauerhaften Leitungsaufgaben auf allen Ebenen der Kirche. Die EKHN hat von ihrer Gründung an, geprägt von der starken Tradition der Bruderräte der Bekennenden Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus und unter der Kirchenpräsidentschaft von Martin Niemöller ein ausgeprägtes Bewusst- 8 Kirchenpräsident Dr. Dr. h. c. Volker Jung sein für öffentliche Theologie, diakonisch-gesellschaftspolitisches Engagement und reformorientierte Arbeit an den eigenen Kirchenstrukturen entwickelt. Das vorliegende Buch zeigt eindrücklich, dass diese besonderen Anliegen in der EKHN zurückgehen bis zu der Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung. Durch diese Trennung wurden die Kirchen aus der Vormundschaft des Staates entlassen. Das war in den Kirchen zunächst mit großer Zukunftsangst verbunden. Die Erfahrungen, die in den Vorläuferlandeskirchen der EKHN während der verschiedenen politischen Systeme und Umbrüche gemacht wurden, flossen schließlich ein in eine Haltung, die gesellschaftspolitischen Herausforderungen und Veränderungen aktiv begegnete. Dabei standen auch im innerkirchlichen Diskurs immer wieder kontroverse Positionen gegeneinander. Dieser Sammelband zeigt, dass und wie sich diese Haltung - mit zum Teil sehr unterschiedlichen Positionierungen - auch im Wirken der Kirchenpräsidenten der EKHN und ihrer Vorgänger widerspiegelt. Der Bogen reicht von dem hessischen Prälaten Wilhelm Diehl, dem nassauischen Landesbischof August Kortheuer, dem Landesbischof der nassauisch-hessischen Landeskirche Ernst Ludwig Dietrich über den ersten Kirchenpräsidenten der 1947 gegründeten EKHN Martin Niemöller bis hin zu dem bis 2008 amtierenden und 2015 verstorbenen Kirchenpräsidenten Peter Steinacker. Ihr jeweils individuelles Wirken ist immer verknüpft damit, wie die Kirche sich in den politischen Fragen ihrer Zeit engagierte und positionierte. Mit dieser Perspektive füllt das vorliegende Buch eine Lücke in der Wahrnehmung, Dokumentation und Forschung zur Geschichte der EKHN und ihrer Vorgängerlandeskirchen in Bezug auf das Verhältnis von Kirche und Politik. Ich danke allen, die zu diesem Werk beigetragen haben. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen anregenden Blick in die Vergangenheit, der dabei hilft, die Gegenwart mit ihren Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft und das eigene Handeln zu reflektieren. So trägt dieses Buch nicht nur dazu bei, den Bogen, der sich von 1919 bis in die Gegenwart spannt, in Erinnerung zu halten. Es führt ihn ebenso weiter, wie das durch Stellungnahmen, Resolutionen und kirchliches Engagement auf allen Ebenen und in den verschiedenen Gremien der EKHN geschieht. Es regt dazu an, immer wieder neu zu fragen, was im Sinne des Evangeliums gesagt und getan werden muss, damit gute Politik in der Verantwortung vor Gott und den Menschen gemacht werden kann. Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert. Geschichte einer Selbstfindung Gisa Bauer 1. Kirche im Staatskirchentum Mit dem knappen und angesichts seiner historischen Bedeutung essenziellen Satz „Es besteht keine Staatskirche“ beendete die Weimarer Verfassung in Art. 137, Abs. 1 die Jahrhunderte währende institutionelle Verknüpfung von Kirche und Staat auf dem Gebiet des Deutschen Reichs. Am 31. Juli 1919 beschlossen, am 11. August unterzeichnet und am 14. August verkündet legte die erste demokratische Verfassung Deutschlands mit dem später so genannten „Kooperationsmodell“, dem Terminus technicus für den sprachlich unschöneren Begriff „hinkende Trennung“ 1 , ein spezifisches Zusammenspiel von Staat und Kirche fest. Das beinhaltete zwar eine Reihe von verbindenden Elementen, löste aber rigoros das Staat-Kirche-Verhältnis auf, das in Bezug auf den Protestantismus knapp 400 Jahre zuvor begonnen hatte. Bereits seit der Antike gab es das Staatskirchenwesen, für das die prinzipielle Übereinstimmung der religiösen Weltanschauung sowohl bei den weltlichen als auch bei den geistlichen Machthabern charakteristisch war. Die Zugehörigkeit zum Herrschaftsgebiet und die Religions- oder Kirchenmitgliedschaft waren damit weitgehend identisch. Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen den Päpsten sowie den Königen und Kaisern des Heiligen Römischen Reichs um die Macht über die Kirche setzte sich im Mittelalter sukzessive das Verfügungsrecht weltlicher Herrscher über die Kirchen als Teil der Landeshoheit durch. Zwar war die Reichsgewalt auf den deutschen Gebieten zu schwach, um eine Nationalkirche wie beispielsweise in England oder Frankreich hervorzubringen, aber auch hier gab es schon vor der Reformation „Ansätze zu einem Landeskirchentum […] in denen sich der Zug zum Absolutismus zum Teil in einem 1 Die Bezeichnung „hinkende Trennung“ für das Staatskirchenrecht der Weimarer Reichsverfassung wurde 1926 von dem Kirchenrechtshistoriker Ulrich Stutz geprägt und hat sich seitdem eingebürgert. 10 Gisa Bauer recht energischen Landesherrlichen Kirchenregiment ankündigte“ 2 . Landesherren verstanden sich durchaus als „Papst, Erzbischof, Bischof, Archidiakon und Dekan“ 3 in ihren Territorien, wie beispielsweise Rudolph IV. von Österreich im 14. Jahrhundert selbstbewusst proklamierte. Als Martin Luther im frühen 16. Jahrhundert das Vakuum im leitenden geistlichen Amt, das mit dem Wegfall der römischen Bischöfe und Hierarchen auf den reformatorischen Territorien entstanden war, kompensierte, griff er auf bereits bestehende Konstellationen und Regelungen zurück. Vor dem Hintergrund der grundlegenden reformatorischen Vorstellung des „allgemeinen Priestertums“ bzw. „Priestertums aller Gläubigen“ und in Akzeptanz des bereits bestehenden Rechts und der Pflicht der Landesherrn, die Herrschaft auch über die Kirche auszuüben, ebenso wie den Schutz derselben zu gewährleisten, wurde diesen die Kirchengewalt auf den jeweiligen Territorien in der Art eines „Notbischofs“ verliehen. Ein Landesherr wurde so zum „Summus Episcopus“, zum „obersten Bischof “ der Kirche auf seinem Territorium, und übernahm in Personalunion beide Funktionen, die weltliche und kirchliche Leitung seiner „Landeskirche“. Dieser so genannte Episkopalismus verband sich mit dem Territorialismus, bei dem die Kirche Teil der weltlichen Macht bzw. Teil der Staatsorganisation wurde. Die Leitung der Kirche war nun Hoheitspflicht des Staates und die „cura religionis“, die „Sorge für die Religion“, besonders im Bildungsbereich, lag in den Händen des weltlichen Herrschers. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde das Aufsichtsrecht der Landesherren festgehalten und später im Westfälischen Frieden von 1648 noch einmal vertieft bestätigt. Hier erfolgte auch die Festlegung der bereits 1555 avisierten Regelung, dass sich die Gläubigen am Status der Konfession, d. h. dem römischen Katholizismus oder dem lutherischen oder reformierten Glauben des Landesherrn zu richten hatten und andernfalls auswandern mussten. Bekannt wurde dieser Grundsatz seit Ende des 16. Jahrhunderts unter dem Schlagwort „cuius regio, eius religio“. In der Praxis kam es zwar hin und wieder zu Ausnahmen, aber das Prinzip des Staatskonfessionalismus als Vorläufer des Staatskirchentums wurde damit auf reformatorischen Gebieten mit neuer Grundlegung bestätigt. Es blieb für die evangelischen Kirchen, trotz mancher Entwicklungen im 19. Jahrhundert, die ihnen punktuell eigene Spielräume eröffneten, bis zum Ende der Monarchie und der Trennung von Staat und Kirche in der Verfassung der Weimarer Republik 1919 kirchenrechtlich in Kraft. 2 Zippelius, Reinhold: Staat und Kirche. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 1997, 68. 3 Zitiert nach ebd., 69. Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert 11 2. Die Debatten um das Verhältnis von Staat und Kirche im Februar 1919 und die Verfassung des Deutschen Reichs (Weimarer Reichsverfassung) Mit der Weimarer Verfassung fand eine Trennung beider gesellschaftlicher Sphären statt. Zwangsweise versetzte sie die evangelische Kirche bzw. die evangelischen Landeskirchen erstmals in die Lage, frei im Sinne ihrer Maßgaben und Ziele zu agieren, ohne einen anverwandten Staat an der Seite, ohne Reglements und den sich daraus ergebenden vorauseilenden Gehorsam, aber auch ohne den Schutz einer Staatskirche. Das Verhältnis von Staat und Kirche wurde indirekt schon in der ersten Sitzung der verfassunggebenden Nationalversammlung am 6. Februar 1919 in Weimar aufgegriffen. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Friedrich Ebert, der in dieser ersten Sitzung zum ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt wurde, konstatierte in seiner Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung, „die alten gottgegebenen Abhängigkeiten“ seien für immer beseitigt. 4 Mit der Wahl Eberts zum Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs kam die Souveränität des durch die Abgeordneten repräsentierten Volkes zum ersten Mal zum Ausdruck. Eine der zentralen Gestalten im Blick auf die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche war der ehemalige Pfarrer Friedrich Naumann, der als Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) Mitglied der Nationalversammlung war, der Partei, die von liberalen Protestanten bevorzugt wurde. Naumann starb im August 1919, war aber tonangebend im „Ausschuss zur Vorberatung des Entwurfs einer Verfassung für das Deutsche Reich“ und trat in der Frage des Staatskirchenverhältnisses als Vermittler zwischen den kirchenfreundlichen Parteien und der SPD auf. Naumann sah den Staat in einer Rolle, die man später als „Kulturstaatsprinzip“ bezeichnet hat: Der Staat habe den gesellschaftlichen Kräften und Vereinigungen in ihm einen möglichst großen Freiraum zu geben. Naumanns Formel war „Selbständigkeit innerhalb der Staatshoheit“. Die Kirchen sollten ohne staatliche Bevormundung ihre Kultusaufgaben im weitesten, d. h. auch im sozialen und pädagogischen Sinne erfüllen können. Naumann sparte jedoch nicht mit Kritik an der Kirche und monierte besonders, dass sie das Jahr 1848 und dadurch ein Einüben in Demokratie versäumt habe. Vonseiten anderer Mitglieder des Verfassungsausschusses, etwa aus der Deutschen Volkspartei (DVP), wurde an die besondere Rolle der Kirchen erinnert, 4 Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar am 6. Februar 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Bd. 326. Stenografische Berichte. Berlin 1920, 1-3, hier 1. 12 Gisa Bauer die nicht mit anderen Organisationen auf eine Stufe gestellt werden sollten. Eine entsprechende Auffassung vertrat auch der als Gutachter hinzugezogene evangelische Kirchenhistoriker und Wissenschaftsorganisator Adolf von Harnack. Die römisch-katholische Deutsche Zentrumspartei strebte wie auch die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) eine bevorrechtigte Stellung der Kirchen an. Die SPD zeigte sich, jedenfalls in großen Teilen, entgegenkommend und wollte einen innenpolitischen Konflikt um das Problemfeld vermeiden. Sie verzichtete zugunsten einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche auf weiterführende Maßnahmen. Das gab im Verfassungsausschuss letztlich den Ausschlag dafür, dass den Kirchen ein besonderer Körperschaftsstatus zugebilligt wurde, den aber auch andere Weltanschauungsgemeinschaften für sich in Anspruch nehmen konnten. Die Kirchen erhielten das Besteuerungsrecht. Im Gegenzug sollten nach dem Wunsch der SPD alle Staatsleistungen eingestellt werden. Das ging zwar in den Art. 173 der Weimarer Reichsverfassung ein, wurde aber nie, wie gefordert, durch ein eigenes Gesetz geregelt. De facto leisteten die deutschen Länder in der Weimarer Zeit oft beträchtliche Zuschüsse an die Kirche. In der Frage des Körperschaftsstatus zeigte sich, dass hier für die Kirchen erhebliche Möglichkeiten lagen. Die Trennung von Staat und Kirche wurde nicht radikal vollzogen. Vielmehr wurden Staat und Kirche in ein Verhältnis gebracht, das schon bald als „hinkende Trennung“ bezeichnet wurde. Zwar war der Staat gegenüber den Kirchen neutral, doch entsprachen die mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Besteuerungs- und Selbstverwaltungsrechte nicht der Vorstellung einer rein privatrechtlichen Stellung der Kirchen. Vor allem blieb es bei einer vielfältigen Verflechtung von Staat und Kirche, u. a. durch den Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten. Die wesentlichen Bestimmungen zum Verhältnis von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung knüpften an die Verfassung der Frankfurter Paulskirche von 1848/ 49 an und fanden später Aufnahme im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und sogar in der ersten Verfassung der DDR von 1949. Wichtige Bestimmungen der Weimarer Verfassung sind in den Artikeln 135 bis 141 die uneingeschränkte Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Recht auf negative Religionsfreiheit, d. h. das Recht auf Austritt aus einer Religionsgemeinschaft, der schon erwähnte Körperschaftsstatus der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, ebenso die in Aussicht genommene Ablösung der Staatsleistungen, die Garantie der Sonntags- und Feiertagsruhe, das Recht auf freie Religionsausübung im Heer, in Krankenhäusern und in Gefängnissen. Die nächsten Verfassungsartikel befassten sich mit dem Schulwesen. Daraus resultierten in den folgenden Jahren die meisten Konflikte zwischen Staat und Kirche, obwohl im Juli 1919 mit knapper Mehrheit ein Kompromiss verabschiedet wurde, der drei Typen von Volksschulen und die Ausarbeitung eines Reichsschulgesetzes vorsah. Letzteres sollte die Fragen genauer regeln. Es wurde aber nie verabschiedet und blieb in der gesamten Weimarer Zeit auf der politischen Agenda. Mit Art. 137, Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung als Rüstzeug, in dem jeder Religionsgemeinschaft zugestanden wurde, ihre Angelegenheiten innerhalb der allgemeinen Gesetze selbständig zu ordnen und zu verwalten und ihre Ämter selbst zu benennen und zu verleihen, begannen die evangelischen Landeskirchen mit ihrer eigenen Neuorganisation. Dabei spielten zwei Fragen eine besondere Rolle: zum ersten die nach „Unionen“, die die evangelischen Kirchen angesichts der neuen, teilweise als Bedrohung empfundenen Situation stärken sollten, und zum zweiten die nach der Leitung der Kirchen nach dem Wegfall des Summepiskopats auf Grund der Absetzung der jeweiligen Landesfürsten. 3. Politik und Kirche: Weichenstellungen am Beginn der Weimarer Republik Es wird sich im Folgenden zeigen, dass die Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie, entgegen manchem zeitgenössischen Empfinden nicht zum Niedergang des Protestantismus führte. Im Allgemeinen verstellt der Umstand, dass sich die damalige Mehrheit evangelischer Christen im deutschnationalen Sektor des Parteien- und Milieuspektrums finden ließ und dementsprechende Berührungsängste mit der Weimarer Demokratie hatte, den Blick auf den kirchlichen Nutzen der Freiheit vom Staat. In der Tat waren die Art und Weise des Kriegsendes samt der existenziellen Notlage sowie der Beginn der Demokratie in einer Revolution, die Assoziationen zu zeitgleich verlaufenden extrem gewaltsamen, antichristlich agierenden politischen Umwälzungen in anderen Staaten weckte, weiterhin die Neuerungen der Weimarer Verfassung bis hin zu Details wie das erstmalig garantierte Recht auf Kirchenaustritt, das sofort die ersten großen Kirchenaustrittswellen nach sich zog, und der generell grassierende Kulturpessimismus, bei dem das Schlechte noch schlechter geredet und die Welt im Chaos ohne Gottesfurcht und Vaterlandsliebe gesehen wurde - all das war nicht dazu angetan, die (ehemaligen) Anhänger der Monarchie in den Kirchen für die neuen Verhältnisse zu begeistern. Nichtsdestoweniger nutzten die evangelischen Kirchen, wenn auch zunächst schwerfällig und ängstlich, so doch zunehmend geschickt, die neuen Spielräume. Dazu gehörte auch die Möglichkeit, Politik zu betreiben und zur Politik Stellung zu nehmen. Bereits im Vorfeld der Wahlen zur Nationalversammlung loteten die Kirchen aus, welche Parteien zu ihrem Vorteil agieren würden. Es zeigte sich, dass sich vor allem die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die von Friedrich Naumann Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert 13 14 Gisa Bauer geprägte Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) auf die Seite der evangelischen Kirche stellten bzw. deren Interessen aufnahmen. Die neu gegründete DNVP war schon ihrem Namen nach national und wollte die politischen Veränderungen in Grenzen halten. Den Versailler Vertrag lehnte sie radikal ab. Dass sie Jahre später eng an die Nationalsozialisten heranrücken sollte, war zu dieser Zeit noch nicht erkennbar. Die reformfreudige DDP war die Partei der liberalen Protestanten, die in sie eintraten oder für sie Wahlwerbung machten. Die SPD dagegen fand unter engagierten Christen und Theologen bis auf die kleine Gruppe der religiösen Sozialisten fast keinen Zuspruch. Durch das Frauenwahlrecht erschloss sich den Kirchen eine neue und vorwiegend konservative Klientel, zumal viele Frauen durch Stellungnahmen kirchlicher Frauenvereine in ihrem Wahlverhalten beeinflusst wurden. Auf den Versuch, eine evangelische Partei nach dem Vorbild der katholischen Zentrumspartei zu gründen, verzichtete man weithin. Entsprechende Anläufe waren schon im Kaiserreich gescheitert. Dezidiert evangelische Parteien erreichten in der Zeit der Weimarer Republik kaum mehr als 1 % der Wählerstimmen und blieben kurzlebige Erscheinungen wie die 1928 gegründete Deutsche Reformationspartei. Auch Brückenschläge zur Zentrumspartei verliefen im Sand, obwohl es durchaus Stimmen im Zentrum gab, die dafür plädierten, sich verstärkt protestantischen Wählern zu öffnen. Erst die Gründung der CDU nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte eine enge Zusammenarbeit christlicher Politiker der beiden großen Konfessionen. Hauptsächlich über die DNVP und teilweise die DDP agierten Vertreter der evangelischen Kirche, die sich nicht direkt an die Parteien band oder ihre offizielle politische Neutralität aufgab. Obwohl sich die Kirche angesichts der weltpolitischen und innerdeutschen Entwicklungen zu langsam von den politischen Vorstellungen des Kaiserreichs löste, fand relativ rasch ein Prozess der Politisierung der Kirche statt. An dieser Stelle setzt das vorliegende Buch ein. 4. Politik und „Politisierung“ Die folgenden Beiträge zeigen, wie drei deutsche Landeskirchen, die Vorläuferkirchen der EKHN, mit der neuen Situation umgingen, vor die sie die Weimarer Verfassung stellte, weiterhin wie die Evangelische Kirche Nassau-Hessen politisch im Nationalsozialismus agierte sowie die EKHN nach 1945. Es wird also diejenige der heutigen evangelischen Landeskirchen herausgegriffen, die sich selbst „seit jeher als eine streitbare fromme und politische Kirche“ 5 versteht, 5 Die Geschichte der EKHN, verfügbar unter: www.ekhn.de/ ueber-uns/ geschichte.html (15.3.2019). wie es auf der Homepage der EKHN unter der Darstellung ihrer Geschichte heißt. Das Grundmotiv der Politisierung einer Landeskirche, das diesen Band durchzieht, ist nicht nur, aber besonders ausgeprägt bei der EKHN zu finden. Sie steht an dieser Stelle paradigmatisch für den Umgang von evangelischen Landeskirchen mit Politik und für eine grundätzliche landeskirchliche Haltung zur Politik. In den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Bandes, die jeweils mehreren kirchenleitenden Personen oder einem Kirchenpräsidenten zugeordnet sind, werden die spezifischen politischen Attitüden von links bis rechts, von progressiv bis konservativ, dezidiert mit tagespolitischen Ereignissen beschäftigt oder eher mit den kirchenpolitischen Gemengelagen in Folge gesellschaftlicher Veränderungen befasst, behandelt und erörtert. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass politisches Handeln keineswegs nur das staatliche Vorgehen umfasst, sondern sich auf ganz verschiedene Lebenszusammenhänge bezieht und unterschiedliche Träger hat. 6 Somit ist das öffentliche Agieren kirchenleitender Gremien und Persönlichkeiten gleichermaßen „Politik der Kirche“ als auch innerkirchliche „Kirchenpolitik“. Beide Aspekte, die im Grundverständnis von Theologie und Kirche eng verbunden sind mit Moral und Ethik, betreffen zentral politisches Handeln. „Politisierung“ meint das zunehmende Interesse von Kirchenmitgliedern und Kirchenleitungen an den öffentlichen Angelegenheiten, an politischen Entscheidungen, an der Staats- und Parteienpolitik, aber auch „eine gewachsene politische Teilhabe jenseits der Partizipationsmöglichkeiten der repräsentativen Demokratie - also etwa in Gestalt von Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Hausbesetzungen o.ä.“ 7 Letzteres betrifft besonders die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat aber auch in der ersten Hälfte Relevanz. In der aktuellen historischen und kirchenhistorischen Forschung ist es unstrittig, dass die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt war von einer zunehmenden Politisierung der evangelischen Kirche. Was allerdings bisher noch nicht erschöpfend analysiert wurde ist der Zusammenhang der Vorstellung von „Politisierung“ mit spezifisch linkspolitischen oder progressivem politischen Handeln und der damit verbundenen, meist nur indirekt erschließbaren Konklusion, dass konservative oder staatskonforme Politik keine Formen von „Politisierung“ evoziere. Die Konnotation von „Politisierung“ als „linke Politik“ findet sich schon in den 1950er Jahren und zieht sich durch die gesamten 1960er und 1970er Jahre 6 Vgl. Honecker, Martin: Politik und Christentum, in: TRE 27 (1997), 6-22, hier 18. 7 Siegfried, Detlef: Politisierungsschübe in der Bundesrepublik 1945 bis 1980, in: Fitschen, Klaus / Hermle, Siegfried / Kunter, Katharina / Lepp, Claudia / Roggenkamp-Kaufmann, Antje (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011, 31-50, hier 31. Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert 15 16 Gisa Bauer bis in gegenwärtige rückblickende Bewertungen dieser Zeit. Der Historiker Stephan Linck konstatiert in seiner zweibändigen Untersuchung über den Umgang der Landeskirchen Schleswig-Holstein und Hamburg nach 1945 mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit, dass „Politisierung“ „spätestens ab 1968 zur festen Chiffre für linksprotestantische Strömungen [wurde], die innerhalb der Evangelischen Kirche vermehrt auftraten“, und dass in Reaktion darauf „eine konservative Gegenbewegung innerhalb der Kirche [entstand], die sich gegen eine ,Politisierung der Kirche‘ wandte, sie aber gleichwohl selbst betrieb.“ 8 An anderer Stelle verweist Linck darauf, dass die Vorstellung von Politik als „regierungskritisches Handeln“, bei der die eigene Nähe zu Parteien wie der CDU oder zur Regierungspolitik nicht als politisches Agieren wahrgenommen wurde, „tief in vordemokratischem Denken“ wurzelte, 9 und, das wäre zu ergänzen, paradoxerweise den dadurch repräsentierten Formen von Politik das „Politische“ abspricht. Die polarisierende Wahrnehmung einer „linken“, d. h. politisierenden oder politischen Kirche, und einer Kirche, die sich „nur“ „auf ihren Verkündigungsauftrag besinnt“, d. h. einer vermeintlich unpolitischen Kirche, zieht sich bis heute durch die Debatten. „Als zeitgenössischer Kampfbegriff“ besaß der Terminus „Politisierung“, wie Sven-Daniel Gettys, Autor eines Beitrags zu den Politisierungsdiskursen in protestantischen Zeitschriften um 1967/ 68 beschreibt, „ein außerordentlich hohes Konfliktpotenzial“ 10 . Seine ursprüngliche Bedeutung, so Gettys weiter, weiche „von seiner heutigen Verwendungsweise ab, insofern diese überhaupt reflektiert wird.“ 11 Besonders Letzteres ist auch innerhalb der zeithistorischen Kirchengeschichtsforschung nicht unproblematisch. Das fehlende Bewusstsein davon, dass das In-eins-Setzen von „Politisierung“ und „linker Politik“ eine Position ist, die eine Haltung in der Auseinandersetzung um die Politisierung der Kirche in den 1960er und 1970er Jahren darstellte, signalisiert weitgehendes Fehlen einer wissenschaftlich angezeigten Distanz zum behandelten Sujet. 8 Linck, Stephan: Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Bd. 2: 1965-1985. Kiel 2016, 232. 9 Linck, Stephan: Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Bd. 1: 1945-1965. 2., korr. Aufl. Kiel 2014, 314. 10 Gettys, Sven-Daniel: Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in protestantischen Zeitschriften (1967/ 68), in: Fitschen, Klaus / Hermle, Siegfried / Kunter, Katharina / Lepp, Claudia / Roggenkamp-Kaufmann, Antje (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011, 221-242, hier 221. 11 Ebd. In diesem Band wird der Begriff des Politischen und damit der Politisierung im oben genannten Verständnis jenseits des politischen Inhaltes, d. h. unabhängig von linker oder rechter bzw. konservativer Politik verwendet. Auf die einzelnen Politisierungsschübe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen werden. Meist wird bei Betrachtungen der Zunahme politischen Interesses und politischer Partizipation des Protestantismus die „longue durée“, die „lange Dauer“, die sich von der Trennung von Staat und Kirche 1918/ 19 an erstreckt, nahezu gänzlich vernachlässigt, der Zusammenhang von Politisierungsprozessen vor 1933 und nach 1945 kaum beachtet. Zu stark werden noch in kirchenhistorischen Studien der Nationalsozialismus und seine Implikationen für die evangelische Kirche in Deutschland als Zäsur verstanden. 12 Es ist richtig, dass die evangelischen Kirchen durch die Einführung einer nationalsozialistisch gleichgeschalteten Reichskirche dem Staat derartig bei- und untergeordnet wurden, dass sich ihr autonomer politischer Aktionsradius nahezu gänzlich auflöste. Trotzdem bietet sich der Blick auf die langfristigen Entwicklungslinien bei der Frage nach der kirchlichen Politisierung an, denn mit dem Auseinandergehen von Staat und Kirche setzte die eigenständige Beschäftigung der Kirche mit Politik ein. Sie begann zwangsläufig 1918/ 19, da die Kirche seit diesem Zeitpunkt gezwungen war, eine eigenständige Haltung zur Politik an den Tag zu legen sowie staatsunabhängiges, in diesem Sinne autonomes politisches Handeln zu definieren und zu entwickeln. Gemäß diesen Überlegungen spannt die Anlage dieses Bandes den Bogen der Betrachtung von der Trennung von Staat und Kirche mit der Weimarer Verfassung 1919 bis zum Wirken des vorletzten Kirchenpräsidenten der EKHN am Beginn des 21. Jahrhunderts unter Einbeziehung der Zeit zwischen 1933 und 1945. Durch die diachrone Reihung der Beiträge in diesem Band entsteht ein Bild, das erkennen lässt, wie sich die EKHN seit 1919 „idealtypisch“ politisierte und wie ihre kirchenleitenden Persönlichkeiten in den Politisierungsprozessen agierten und auf die Herausforderungen der verschiedenen politischen Systeme reagierten. 12 In der Allgemeingeschichte wird schon seit geraumer Zeit auf die über die Brüche hinausgehenden historischen Zusammenhänge im 20. Jahrhundert hingewiesen (vgl. u. a. Kundrus, Birthe / Steinbacher, Sybille [Hg.]: Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2013). Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert 17 18 Gisa Bauer 5. Die Vorläuferkirchen der EKHN und die EKHN im Spiegel ihrer kirchenleitenden Persönlichkeiten Die durch die kirchenleitenden Persönlichkeiten repräsentierten politischen Haltungen und Praktiken waren natürlich persönlich-individuell geprägt. Sie bilden aber zugleich Frömmigkeitsstile, Mentalitäts- und Milieuprägungen und damit aufs engste gekoppelt politische Positionen der Mitglieder bzw. von Gruppen der Mitglieder der jeweiligen Landeskirchen ab. Die im Fokus der Betrachtung stehenden Kirchenpräsidenten und ihre Vorgänger im Leitungsamt, bisher allesamt Männer, werden nicht als Einzelpersonen unter dem Gesichtspunkt ihres Einflusses auf die Landeskirche betrachtet, sondern als gewählte Repräsentanten mindestens eines Lagers, wenn nicht der gesamten Landeskirche. Dies gilt insbesondere für die Zeit seit 1947, da die EKHN auf Grund der Erfahrungen im Nationalsozialismus in ihre Strukturen „bruderrätliche“ Elemente einfügte, von denen demokratisierende Effekte ausgingen. Der Landesbischof - in der EKHN bewusst „Kirchenpräsident“ betitelt - wurde in der Kirchenleitung in ein kollegiales Gremium eingebunden. Der Kirchenleitung stand bis 2010 das „Leitende Geistliche Amt“ als Organ zur Seite, das eine gewisse geistliche Kontrollfunktion gegenüber der Kirchenleitung hatte. Die Mitglieder der Kirchenleitung wiederum werden grundsätzlich von der Kirchensynode gewählt und beauftragt. Der Synode steht ein Präses vor, der in vielen Fällen eine ebenso große Öffentlichkeitswirksamkeit wie der Kirchenpräsident ausstrahlt. Seit den 1970er Jahren kam in Form weiterer demokratischer Ausdifferenzierungen die Bildung von dauerhaften Ausschüssen der Synode hinzu, die eine kontinuierliche synodale Arbeit gewährleisten und das System der „checks and balances“ in der EKHN verstetigen. Aber auch in den hierarchischen und patriarchalischen Vorläuferkirchen der EKHN in der Weimarer Republik waren die kirchenleitenden Personen von den Landeskirchentagen gewählte Vertreter ihrer Kirchen, die Positionen und Haltungen ihrer Kirchen eher repräsentierten, als dass sie sie formten. Vor diesem Hintergrund versteht der vorliegende Band die kirchenleitenden Personen und Kirchenpräsidenten als Spiegel der Politisierungsprozesse in der gesamten Landeskirche. Die methodische Anlage dieses Bandes ist somit an dem grundlegenden Strukturprinzip der heutigen Landeskirche orientiert, gemäß dem die Leitung der Landeskirche von den Gemeinden geprägt wird. 6. Die kirchenleitenden Personen und Kirchenpräsidenten in den Beiträgen des Bandes In dem Aufsatz von Julia Csehan und Malte Dücker wird der Fokus auf „Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 - Die Vorläufer der Kirchenpräsidenten“ gelegt und zwar diejenigen der drei Vorläuferlandeskirchen der EKHN in der Zeit der Weimarer Republik, die Evangelische Landeskirche von Hessen, die Evangelische Landeskirche von Nassau und die Evangelische Landeskirche von Frankfurt am Main, sowie der Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen im Nationalsozialismus. Im Hinblick auf die kirchenleitenden Persönlichkeiten in der Weimarer Republik gehen Csehan und Dücker der Frage nach, ob es „Männer der Mitte“ waren. Erörtert wird das Wirken von Wilhelm Diehl, der von 1923 bis 1934 der Evangelischen Landeskirche von Hessen als Prälat vorstand, und von August Kortheuer, dem Landesbischof der Evangelischen Landeskirche von Nassau in der Zeit von 1925 bis 1933. Beispielhaft für die Evangelische Landeskirche von Frankfurt am Main, die eine „verwaltungstechnisch vielfältige Situation“ aufwies, stellen Csehan und Dücker das Engagement des Präsidenten der Landeskirchenversammlung Wilhelm Bornemann von 1925 bis 1933 dar und das des seit 1925 nebenamtlichen und seit 1932 hauptamtlichen Kirchenrats und Vorsitzenden des Frankfurter Landeskirchenrats Johannes Kübel. So verschieden die politischen und kirchenpolitischen - von den theologischen ganz zu schweigen - Haltungen der Genannten auch waren, so deutlich wird, dass bereits in den Anfangsjahren der Weimarer Republik die Landeskirchen politisch agierten. Nicht zuletzt wurde über die kollegial aufgestellten „Geistlichen Leitungen“ versucht, Befugnisse der kirchenleitenden Einzelpersonen einzuschränken und demokratische Strukturen einzuführen. Mit den politisch motivierten direkten Eingriffen der Nationalsozialisten in die Kirche und dem Beginn des Aufbaus einer Reichskirche wurden diese Organisationsformen wieder zunichte gemacht. Ein Ergebnis der Gleichschaltung war die Fusion der drei Landeskirchen zur Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen Ende 1933, Anfang 1934. Überlegungen zu einer solchen Vereinigung gab es bereits seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Sie wurden jedoch erst durch die nationalsozialistische Kirchenpolitik des aus Hessen stammenden Rechtswalters der Deutschen Evangelischen Kirche, August Jäger, mit Unterstützung der Deutschen Christen umgesetzt. Im Anschluss an die Fusion wurde Ernst Ludwig Dietrich als Landesbischof der neu gegründeten Landeskirche installiert. Er verlor allerdings mit der direkten Unterstellung der Landeskirche unter die Deutsche Evangelische Kirche schon ein Jahr später weitgehend seine Amtsbefugnisse, ebenso wie der Kirche die Souveränität und die politischen Handlungsspielräume massiv beschnitten wurden. Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert 19 20 Gisa Bauer Nachdem die Kirche nach Kriegsende unter alliierter Kontrolle wieder in ihre ursprünglichen Teile zerfallen war, beschloss der gemeinsame Kirchentag im September 1947 den Zusammenschluss unter dem Namen Evangelische Kirche von Hessen und Nassau. Gleichzeitig wählte der Kirchentag den ehemaligen KZ-Häftling und „persönlichen Gefangenen“ Adolf Hitlers, den aus Westfalen stammenden Pastor Martin Niemöller, zum ersten Kirchenpräsidenten. In Jan Schuberts Beitrag „Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung“ steht das Leben und Wirken Niemöllers im Mittelpunkt, der wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen das politische Profil nicht nur der EKHN, sondern der evangelischen Kirchen in Deutschland überhaupt prägte. Für Niemöller war das Fazit aus seinen Erlebnissen und Erkenntnissen im Kirchenkampf, dass die Kirche im Nationalsozialismus versagt habe, weil sie sich nicht in die Politik eingemischt, sondern „geschwiegen“ habe. Das grenzte ihn scharf ab von anderen ehemaligen Mitstreitern aus den Reihen der Bekennenden Kirche, die argumentierten, die Kirche habe versagt, weil sie „zu politisch“ geworden sei, wie das Beispiel der Deutschen Christen gezeigt habe. Mit Niemöller erhielt die EKHN eine der profiliertesten, politisch engagiertesten kirchlichen Führungspersonen der Nachkriegszeit als Kirchenleiter, mit einer derartigen Wirkung, dass sie in Folge immer wieder auch als „Niemöller-Kirche“ bezeichnet wurde. Die historische Zäsur für die EKHN im Jahr 1947 ergab sich nicht nur aus dem endgültigen Zusammenschluss der drei Vorgängerkirchen, sondern auch durch die theologisch-politische Prägung Niemöllers, der sowohl 1945 am „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ maßgeblich beteiligt war als auch 1947 am „Darmstädter Wort“. Er setzte sich in den folgenden Jahren national wie international für Versöhnung und Ökumene, für Frieden, gegen atomare Aufrüstung und für die Bewahrung der Schöpfung ein - oft und öffentlichkeitswirksam auch gegen Widerstand der politischen Führung der Bundesrepublik. Als Niemöller 1964 seinen vorzeitigen Rücktritt als Kirchenpräsident einreichte, folgte ihm sein Stellvertreter Wolfgang Sucker im Amt. In dem Aufsatz „Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur ,Evangelischen Selbstbesinnung‘“ schildert Gisa Bauer das Aktionsspektrum und die theologischen Hintergründe des in der EKHN eher als unpolitisch erinnerten Kirchenpräsidenten Wolfgang Sucker, der sich intensiv mit der säkularen Welt auseinander- und seine Kirche zu ihr ins Verhältnis setzen wollte. Im Diskurs mit dem Katholizismus seiner Zeit, der durch das Zweite Vatikanische Konzil selbst ein neues Verhältnis zur „Welt“ entwickelte, rief Sucker zur „Reformation in der Gegenwart“ und zur „evangelischen Selbstbesinnung“ auf. Der innerevangelischen Zersplitterung könne, so Sucker, nur ein „evangelisches Konzil“ wehren - die EKD sah er dazu nicht in der Lage. Obwohl Sucker im Verhältnis zu Niemöller kaum als politisch aktiver Kirchenpräsident galt, sah er den gesamten „Dienst der Christen“ als „politischen Dienst“ an und erweiterte damit das Verständnis von Politik. Nach Suckers unerwartetem, frühem Tod 1968 wurde Helmut Hild zum Kirchenpräsidenten der EKHN gewählt. Wie Ute Dieckhoff in der Untersuchung „Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart“ ausführt, sah Hild die Kirche in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Kontext vor zwei wesentliche Aufgaben gestellt: Zum einen der angsterfüllten und bedrohten Welt Hoffnung zu geben und zum anderen eine zeitbezogene Ethik zu erstellen, die Orientierung für die wissenschaftlich-technische Welt biete. Für Hild schlug sich christliche Nächstenliebe unter anderem in dem Bemühen um die Gesellschaft und in politischer Verantwortung nieder. Ähnlich wie sein Amtsvorgänger Sucker sah er in politischem Engagement keine private Beschäftigung, sondern eine Christenpflicht. Eine spezielle Rolle im öffentlichen politischen Diskurs spielten für Hild die Medien mit ihrer Darstellung extremer, polarisierender Positionen. Hild war einer der profiliertesten Vertreter des Protestantismus in den 1980er Jahren. Er engagierte sich in der Versöhnung Westdeutschlands mit Polen und der Sowjetunion - auch an diesem Punkt ähnelte er Niemöller - und vertrat Willy Brandts Ostpolitik. Er lehnte die Aufrüstungsspirale im Kalten Krieg ab und bezog Stellung in den Debatten um die Reform der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch („§ 218“), um die Bekämpfung des Rassismus - in seine Amtszeit fiel die Unterstützung des Antirassismusprogramms und des „Sonderfonds“ des ÖRK -, um Pfarrvikare in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und um den Bau der „Startbahn West“ des Frankfurter Flughafens. Die drei letztgenannten Themen bestimmten ebenfalls wesentlich die Amtszeit des auf Hild folgenden Kirchenpräsidenten, des ehemaligen Stellvertretenden Kirchenpräsidenten Helmut Spengler. Der Beitrag von Gisa Bauer und Anette Neff „Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der ,Einladenden Kirche‘: Der Primat der Empathie in politisch polarisierender Zeit“ widmet sich dem Engagement des pietistisch sozialisierten und häufig als „Pietist“ bezeichneten Kirchenpräsidenten seit 1985. Spengler entzog sich politischen und kirchenpolitischen Festschreibungen, da sein Augenmerk dem individuellen Menschen galt. Das schlug sich in der Schwerpunktsetzung seines Wirkens auf Seelsorge, Verkündigung und Psychologie nieder. Theologe zu sein bedeutete für Spengler im Kern „Menschen zu verstehen“, und Politik hatte ebenso wie Kirche - die eine „einladende Kirche“ sein sollte - für ihn eine dienende Funktion für den Menschen. Spengler war stets eine moderierende, abwägende Stimme in den politischen Polarisierungen der 1980er und frühen 1990er Jahre. Konkret zeigten sich diese politischen Frontstellungen für den Kirchenpräsidenten im Anti-Apartheitskampf, in der Problematik der DKP-Pfarrer und -Vikare, bei den Kontroversen um den Bau der „Startbahn West“ - die Themenfelder, mit denen Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert 21 22 Gisa Bauer sich bereits Helmut Hild auf seine Art auseinandergesetzt hatte - sowie in der Ablehnung der Aufrüstung und dem Ausgleich zwischen Ost- und West, in der Friedensbewegung und bei der Implementierung von Zielen der Frauenbewegung in der Kirche. Der Aufsatz basiert im Wesentlichen auf einem mehrteiligen, umfangreichen Zeitzeugeninterview von Anette Neff mit dem ehemaligen Kirchenpräsidenten in den Jahren 2002/ 03. Im Gegensatz zu der opulenten Forschungsliteratur über Martin Niemöller und der (punktuell) bestehenden Literaturgrundlage zu Wolfgang Sucker und Helmut Hild gibt es zu Spengler noch keine wissenschaftlichen Studien, so dass das Manuskript des Zeitzeugengesprächs vorerst die wesentliche Basis historiographischer Forschung zu Leben und Wirken dieses Kirchenpräsidenten ist. Ebenfalls eine erste Annäherung an Leben und Wirken eines Kirchenpräsidenten stellt der Aufsatz zu Peter Steinacker dar, dem Nachfolger von Helmut Spengler. Zu weiteren Untersuchungen der beiden Kirchenpräsidenten sei an dieser Stelle ausdrücklich aufgerufen. In dem Untersuchungsbeitrag „Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs“ nähert sich Sarah Jäger unter systematisch-theologischen, weniger kirchenhistorischen Gesichtspunkten dem Wirken des vorletzten Kirchenpräsidenten der EKHN. Dieses Vorgehen nimmt methodisch den Kern von Steinackers Engagement als Kirchenpräsident auf: sein theologisches Wirken. Weiterhin ergibt sich die Konzentration auf Steinackers systematisch-theologische Arbeit aus dem Umstand, dass seine Kirchenpräsidentschaft auf Grund der großen Nähe zur Gegenwart unter historischen Gesichtspunkten im Hinblick auf ihre Wirkungen momentan noch schwer einzuordnen ist. Deutlich tritt in dem Beitrag hervor, dass im Zentrum von Steinackers theologischem Ansatz die Klärung der ekklesiologischen Frage nach dem Grund der Kirche steht - in seiner Amtszeit wurde der Slogan „Evangelisch aus gutem Grund“ entwickelt -, nach ihrem Verhältnis zur Welt und wie die Kirche „ins gesellschaftliche Handeln kommen könnte“. Darüber hinaus war ein zentrales Element von Steinackers theologischer Beschäftigung der Islam, als Religion an sich und als gelebte Religion neben dem Christentum in Deutschland. Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich Steinacker intensiv u. a. mit dem sogenannten „Kruzifix-Urteil“ in Bayern 1995, mit der Vierten EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft, mit Fragen des Umgangs mit dem Islam, mit tagesaktuellen ethischen Problemfeldern und mit den innerkirchlichen Debatten um Homosexualität. Als dezidiert politisch wurde Steinacker eher nicht wahrgenommen und so sah er sich selbst nicht. Aber wie seine Vorgänger betrachtete auch er politisches Engagement als gesellschaftliche Teilhabe, als Verantwortungsübernahme für die Fragen der Zeit und damit als Herausforderung für Kirche und Christentum. 7. Die Selbstwahrnehmung der EKHN als „politische Landeskirche“ und das Paradigma der Wahrnehmungsgeschichte Die Selbstwahrnehmung innerhalb der EKHN, eine dezidiert oder im besonderen Maße „politische Landeskirche“ zu sein, ist Bestandteil der Identität der hessen-nassauischen Kirche. Der Themenbereich der Selbstcharakterisierung berührt eine in der Geschichtswissenschaft noch sehr junge und bisher kaum profilierte historiographische Perspektive: die Wahrnehmungsgeschichte als Teil der Kulturgeschichte, die sich aus einer sinnlich verstandenen Wahrnehmungsgeschichte entwickelte, wie sie teilweise in der Kunstgeschichte praktiziert wird. Wahrnehmungsgeschichtsschreibung fokussiert darauf, was von Menschen und Personengruppen wahrgenommen wird, was Zeitgenossen beobachten und wie sie die Beobachtung deuten, was empfunden wird und inwieweit Wahrnehmungen und deren Verarbeitung Auswirkungen auf die Ebene der Ereignisse haben. 13 Wahrnehmungsgeschichte ist ganz und gar subjektiv, d. h. Geschichte der Deutungen und der individuellen Inanspruchnahmen der Welt durch den Wahrnehmenden. Sie fokussiert nicht und sie basiert nicht auf den Realien, Fakten oder „Tatsachen“, sondern auf deren Wahrnehmungen. Demnach ist Wahrnehmungsgeschichte keine Mentalitätsgeschichte, keine Rezeptionsgeschichte, keine Ideen- oder Begriffsgeschichte, sondern prägender Vorlauf derselben - eine eigene Gattung innerhalb der Gliederung historiographischer Zugriffe, Paradigmen oder Methoden. Das Phänomen der EKHN als „politische Landeskirche“ lässt sich in einer dezidiert als Wahrnehmungsgeschichtsschreibung angelegten Betrachtung prototypisch auffangen. Das kann an dieser Stelle noch nicht geleistet, aber es soll darauf hingewiesen werden. Dazu bedürfte es weiterer Forschung, bei der die zielführende Fragestellung nicht ist, welche politischen Haltungen in der EKHN und speziell von ihrer Kirchenleitung präsentiert werden, sondern wie diese wahrgenommen und in die eigene Identität integriert werden. 8. Politisierung in der Bundesrepublik von den 1950er bis in die 1980er Jahre: Martin Niemöller und Helmut Hild - die beiden „politischen“ Kirchenpräsidenten Jenseits einer Wahrnehmungsgeschichte ist auffällig, dass es gerade die beiden „politischen Kirchenpräsidenten“ der EKHN, Martin Niemöller und Helmut Hild, waren, die jeweils über 15 Jahre in ihren Kirchenleitungspositionen 13 Vgl. paradigmatisch Gajek, Eva Maria / Lorke, Christoph (Hg.): Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945. Frankfurt am Main 2016. Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert 23 24 Gisa Bauer wirkten. Im Sinne der eingangs dargestellten Funktion der Kirchenpräsidenten als Spiegel der gesamten Landeskirche und deren Haltungen, politischen Positionen und frömmigkeitsspezifischen Festlegungen kann es durchaus als ein Ausdruck der politischen oder „politisierenden“ Mentalität(en) innerhalb der EKHN gewertet werden, dass sich die Landeskirche für eine vergleichsweise lange Zeit für Vertreter eines ausdrücklich politischen Agierens der Kirche als Kirchenpräsidenten entschied. Darüber hinaus haben Niemöller und Hild jeweils zwei Schübe der Politisierung in der Bundesrepublik begleitet und sogar vorantrieben. Die Politisierungsperioden im Protestantismus in Westdeutschland nach 1945 bis in die 1980er Jahre lassen sich mit Detlef Siegfried, Zeithistoriker an der Universität Kopenhagen, in vier Phasen einteilen: 14 1. Die „Inkubationszeit einer demokratischen politischen Kultur“ 15 in den 1950er Jahren, mit ersten Diskursfeldern der Zivilgesellschaft im Zeichen des Antikommunismus. Von einer „eigentlichen“ Politisierung kann hier noch keine Rede sein, da sie eher „von oben“, d. h. kirchenamtlich verordnet, erfolgte. 2. Der erste Politisierungsschub innerhalb der Kirchen war der Durchbruch von „Zeitkritik“ und von Reformen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre. 3. Der folgende Politisierungsschub in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren war ein Engagement- und gleichzeitig Polarisierungsschub. Bis 1960 hatten sich 30 % der Bundesbürger als politisch interessiert beschrieben, 1973 waren es 50 %, 16 1983 57 %. 17 Dieses sprunghaft gestiegene Interesse an Politik und die damit einhergehende politische Partizipation zeigte sich nicht zuletzt in den Kirchen. 4. Der Ausbau partizipatorischer Demokratie in den 1970er und 1980er Jahren und die gleichzeitige partielle „Rücknahme des Demokratisierungsversprechens“ 18 . Ausschlaggebend waren für diesen vierten Politisierungsschub die sogenannten „neuen sozialen Bewegungen“, die auch in die Kirchen Einzug hielten oder sich teilweise aus ihnen heraus entwickelten. Bei der Übertragung dieser Politisierungsphasen auf die Amtszeiten der Kirchenpräsidenten der EKHN fällt ins Auge, dass in die Zeit des Wirkens von Martin Niemöller der erste und zweite Politisierungsschub fallen. Da sein Nachfolger Wolfgang Sucker lediglich vier Jahre Kirchenpräsident war, kommt dessen 14 Siegfried, Politisierungsschübe, 31-50. 15 Ebd., 31. 16 Ebd., 39. 17 Ebd., 46. 18 Ebd., 44 u.ö. Schaffen, auch wenn es in eine der politisch am meisten aufgeladenen Epochen der Bundesrepublik fällt, keine weitreichendes Gewicht zu - im Gegensatz zu dem von Helmut Hild, der die folgenden beiden Politisierungsschübe in seiner Amtszeit erlebte. Die vierte Politisierungsphase betraf zu einem Teil auch noch die Kirchenpräsidentschaft von Helmut Spengler. Die zweite Hälfte der 1980er Jahre stand bereits im Schatten des politischen Ereignisses der 1980er und 1990er Jahre, das aber weniger für Westdeutschland als für Ostdeutschland einen enormen Politisierungsschub bedeutete: dem Ende der DDR und des gesamten Ostblocks sowie der deutschen Wiedervereinigung. Somit erlebten Niemöller und Hild als „politische Kirchenpräsidenten“ alle markanten Umbrüche der Politisierung in Westdeutschland und gestalteten diese aktiv mit. Das war ein wesentlicher Faktor für die Prägung der EKHN als „politische Landeskirche“. 9. Schluss „Politisierung“ bedeutete für die evangelischen Kirchen in Westdeutschland die Entwicklung eigener, durchaus divergierender Haltungen zu politischen, gesellschaftlichen, sozialen und ethischen Fragestellungen und damit eine Zunahme der Kontroversen. Dieser Umstand gerät immer wieder in die innerkirchliche Kritik, die Politisierung und Pluralismus als eminente Gefahr für die Kirche identifiziert. Darüber hinaus wird Politik in, mit und durch die Kirche immer wieder als Missachtung der „eigentlichen“, der Verkündigungsaufgabe von Kirche angeprangert. Eine solche Perspektive auf politische Teilhabe verstellt den Blick auf mögliche Implikationen eines gegenteiligen Verhaltens: der sektiererische, selbstgettoisierende Rückzug aus der Gesellschaft. Die in diesem Band dargestellten kirchenleitenden Persönlichkeiten, die zu einem wesentlichen Teil die Identität der EKHN abbilden, hätten das auf je eigene Weise als ein Verfehlen der Aufgaben von Kirche und Kirchenleitung bezeichnet. Quellen- und Literaturverzeichnis Die Geschichte der EKHN, www.ekhn.de/ ueber-uns/ geschichte.html (15.3.2019). Gajek, Eva Maria / Lorke, Christoph (Hg.): Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945. Frankfurt am Main 2016. Gettys, Sven-Daniel: Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in protestantischen Zeitschriften (1967/ 68), in: Fitschen, Klaus / Hermle, Siegfried / Kunter, Katharina / Lepp, Claudia / Roggenkamp-Kaufmann, Antje (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011, 221-242. Honecker, Martin: Politik und Christentum, in: TRE 27 (1997), 6-22. Einleitung - Die Politisierung der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert 25 26 Gisa Bauer Kundrus, Birthe / Steinbacher, Sybille (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2013. Linck, Stephan: Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Bd. 1: 1945-1965. 2., korr. Aufl. Kiel 2014. Linck, Stephan: Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Bd. 2: 1965-1985. Kiel 2016. Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar am 6. Februar 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Bd. 326. Stenografische Berichte. Berlin 1920, 1-3. Siegfried, Detlef: Politisierungsschübe in der Bundesrepublik 1945 bis 1980, in: Fitschen, Klaus / Hermle, Siegfried / Kunter, Katharina / Lepp, Claudia / Roggenkamp-Kaufmann, Antje (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011, 31-50. Zippelius, Reinhold: Staat und Kirche. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 1997. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 - Die Vorläufer der Kirchenpräsidenten: „Männer der Mitte“? Julia Csehan / Malte Dücker 1. Hinführung: Politische Kirchen - politische Kirchenleiter? „Seit jeher eine streitbare fromme und politische Kirche“ 1 - dieses Selbstverständnis formuliert die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau im Rahmen der historischen Übersicht, mit der auf der kircheneigenen Homepage die Geschichte der Landeskirche vorgestellt wird. Es sind dabei vor allem die zwei kurzen Worte am Beginn dieser Selbstverortung, die eine historische Dimension eröffnen, die sie für diesen Aufsatz relevant werden lassen. Die Zeitangabe „seit jeher“ beschreibt im Falle der EKHN mindestens ihre Geschichte seit 1947. Auch die historische Darstellung auf der landeskirchlichen Website beginnt mit der Gründung auf der Synode in Friedberg, verschweigt dabei aber nicht, dass jene Gründung im Wesentlichen eine Bestätigung der „umstrittene[n] Vereinigung“ von drei Landeskirchen gewesen ist, „die schon 1933 unter dem Druck der Nationalsozialisten erfolgt war“ 2 . Eine Übersicht über kirchenleitende Persönlichkeiten in Hessen und Nassau würde dementsprechend zu kurz greifen, würde man die Darstellung erst mit der Kirchenpräsidentschaft Martin Niemöllers ab 1947 beginnen lassen. Die Struktur, Verfasstheit und territoriale Gliederung der EKHN ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist vielmehr Ergebnis politischer Entscheidungen, gesellschaftlicher Strukturen und komplexer historischer Entwicklungen, die nicht erst mit der Vereinigung der Evangelischen Landeskirchen von Hessen , Nassau und Frankfurt am Main zur dem Führerprinzip verpflichteten Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen im Herbst 1933 begannen, sondern weit in die Kirchengeschichte der einzelnen Territorien zurückreichen. 1 Die Geschichte der EKHN. Blick in die Vergangenheit, www.ekhn.de/ ueber-uns/ geschichte.html (25.09.2018). 2 Ebd. 28 Julia Csehan / Malte Dücker Im Folgenden wird es darum gehen, die „Vorgeschichte“ der EKHN und ihrer Kirchenleitungen zu erzählen. Auch wenn es für die bessere Nachvollziehbarkeit mancher Zusammenhänge notwendig ist, den Blick gelegentlich noch etwas weiter in die Vergangenheit zu richten, soll diese Vorgeschichte mit der vielleicht folgenreichsten Zäsur für die Leitungsstrukturen der evangelischen Landeskirchen im 20. Jahrhundert beginnen, die freilich in unmittelbarem Zusammenhang mit den politischen Umbrüchen dieser Zeit steht: Als am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal von Versailles der Erste Weltkrieg und somit der Kriegszustand durch die Unterzeichnung des Versailler Vertrages offiziell als beendet galt, veränderten sich nicht nur die topographischen Bedingungen des ehemaligen Deutschen Kaiserreichs, sondern bald auch seine Verfassung. Mit der Einführung der Weimarer Verfassung am 11. August 1919 wurde aus dem wilhelminischen Reich mit seinen zentralistischen, auf den Kaiser fokussierten Strukturen eine föderative Republik, in welcher unterschiedliche Demokratiemodelle zusammenwirkten. Dazu gehörte etwa das Nebeneinander von plebiszitären Strukturen wie Volksentscheiden auf der einen Seite und repräsentativen Elementen wie dem Amt des Reichspräsidenten auf der anderen Seite. 3 Bereits im Jahr zuvor, am 9. November 1918, endete mit der Novemberrevolution die Herrschaft Wilhelms II., des damit letzten Kaisers des Deutschen Reiches. 4 Auch den übrigen Landesfürsten erging es nicht anders. Das Ende der Monarchie in Deutschland bedeutete für die evangelischen Landeskirchen vor allen Dingen das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments , das sich nach der Reformationszeit entwickelt und formal bis ins Kaiserreich Bestand hatte 5 . Im Kontext dieses Summepiskopats war die Leitungsgewalt der evangelischen Landeskirchen dem jeweiligen Fürsten zugeteilt gewesen, der diese - grob gesagt - in Kooperation mit Konsistorien und Superintendenten ausführte. Die weitgehende Trennung von Kirche und Staat durch die Weimarer Verfassung 6 stellte die Kirchen nun 3 Vgl. Wirsching, Andreas: Die Weimarer Republik: Politik und Gesellschaft. München 2010, 10. 4 Wilhelm II. lebte noch bis zu seinem Tod am 4. Juni 1941 im niederländischen Exil. Unmittelbar nach seinem Rücktritt entband er jedoch alle Beamten, Offiziere und weitere Untergebenen vom Treueeid. Nichtsdestotrotz fühlten sich ihm viele kaisertreue Protestanten bis zu seinem Tod verpflichtet, unter ihnen auch Martin Niemöller. Vgl. Machtan, Lothar: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht 1918. Darmstadt 2018. 5 Vgl. Wriedt, Markus: Von Geistlicher Gemeindeleitung und bischöflicher Administration. Ein diachroner Überblick zum Wandel evangelischer Vorstellungen zu kirchenleitenden Ämtern bis zum 17. Jahrhundert, in: Ders.: Scriptura Loquens. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des Spätmittelalters und der Reformationszeit. Leipzig 2018, 343- 366. 6 Die Weimarer Verfassung, die am 14. August 1919 in Kraft trat, formulierte in Art. 137 die Trennung von Kirche und Staat („Es besteht keine Staatskirche.“, §. 137.1 WRV), die Kirchen galten somit als Religionsgesellschaften und unterlagen im Grunde dem Vereins- Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 29 vor die Aufgabe, sich selbstständig zu verwalten. Auch wenn dabei durchaus an Entwicklungen aus dem 19. Jahrhundert angeknüpft werden konnte 7 , schuf diese Aufforderung für die Landeskirchen die Notwendigkeit, ihre eigenen Strukturen staatsunabhängig zu reformieren und Persönlichkeiten zu finden, die die Leitungsfunktion der Landesherren übernehmen konnten. 8 Für den Bereich der Vorgängerkirchen der EKHN sollen einige dieser Amtsträger im Folgenden vorgestellt werden. Die dabei nicht zu umgehende Fokussierung auf wenige Einzelpersonen ist nicht unproblematisch, läuft sie doch Gefahr, den verkürzenden Eindruck zu erwecken, die „hessische“ Kirchengeschichte zwischen 1918 und 1947 sei zentralistisch allein von den hier vorgestellten Männern gestaltet worden. Das Spektrum kirchenpolitisch relevanter Akteure war auch damals bedeutend vielfältiger und könnte von der einzelnen Gemeindeebene über die Synoden bis hin zu außerkirchlichen Einflussfaktoren diskutiert werden. Angesichts der facettenreichen Leitungsstrukturen der einzelnen Landeskirchen 9 kann dieser Beitrag aber nicht einmal all die Amtsträger ausführlich vorstellen, die innerhalb des knapp 30 Jahre währenden Untersuchungszeitraums in einer wie auch immer gestalteten Funktion kirchenleitende Tätigkeiten ausführten. Trotz dieser zwangsläufigen Verkürzung versucht die getroffene Auswahl die Leitungsstrukturen der EKHN-Vorgängerkirchen möglichst repräsentativ zu beleuchten und dabei auf Grundlage dieser Einzelbiographien das Verhältnis der Landeskirchen zu dem, was man „politisch“ nennen kann, beispielhaft zu diskutieren. Dabei wird es abschließend auch darum gehen, Kontinuitäten und Umbrüche im Hinblick auf die sich nach 1947 unter einem Kirchenpräsidenten Martin Niemöller als „politische Kirche“ entwickelnde EKHN anzudeuten. Als Repräsentanten des Politischen in den sich nach 1919 vom Summepiskopat mehr oder weniger emanzipierenden Landeskirchen werden also folgende, ganz unterschiedliche Amtstitel führende, kirchenleitende Persönlichkeiten vorgestellt: Für die Landeskirche in Hessen wird der ab 1923 mit der Amtsbezeichnung „Prälat “ in Darmstadt tätige Wilhelm Diehl (1871-1944) ausgewählt. Für Nassau gilt die Aufmerksamkeit dem ab 1925 als „ Landesbischof “ in Wiesbarecht. Die Art. 135-141 WRV ermöglichten u. a. das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde“ (§. 137.3 WRV). 7 Vgl. Mehlhausen, Joachim: Kirche zwischen Staat und Gesellschaft, in: Rau, Gerhard / Reuter, Hans-Richard / Schlaich, Klaus (Hg.): Das Recht der Kirche, Bd. II. Zur Geschichte des Kirchenrechts. Gütersloh 1995, 270 f. 8 Vgl. hierzu auch Jung, Martin H.: Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. III/ 5). Leipzig 2002, 121 f. 9 Vgl. Abschnitt 2 dieses Beitrags. 30 Julia Csehan / Malte Dücker den residierenden August Kortheuer (1868-1963) . Für die verwaltungstechnisch vielfältige Situation der Frankfurter Landeskirche fällt die Auswahl besonders schwer. Es seien beispielhaft Wilhelm Bornemann (1858-1946) und Johannes Kübel (1873-1953) hervorgehoben. Erster war seit 1905 „Senior“ des lutherischen Predigerministeriums 10 und bekleidete ab 1925 das Amt des Präsidenten der Landeskirchenversammlung, vertrat also die Frankfurter Landeskirche nach außen. Zweiter wurde zwar erst 1932 zum hauptamtlichen Landeskirchenrat berufen, übte aber bereits zuvor entscheidenden Einfluss auf die Leitung der Kirche aus. Abschließend wird für die 1933 aus den drei erstgenannten Kirchen hervorgegangene Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen Landesbischof Ernst Ludwig Dietrich (1897-1974) und sein schwieriges Verhältnis zur Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten vorgestellt. Für all diese Amtsträger gilt es zu untersuchen, wie sie ihre jeweiligen Landeskirchen durch die für „den deutschen Protestantismus“ 11 „schwierigste Epoche seit der Reformation“ 12 leiteten. Dabei soll jeweils ein politisches Profil entwickelt werden, das ihr kirchenleitendes Handeln pointiert zu charakterisieren versucht. Schließlich gilt es in diesem Zusammenhang auch zu prüfen, inwieweit sich das Selbstverständnis der EKHN als „seit jeher […] politische Kirche“ 13 auch auf ihre Vorgängerkirchen übertragen lässt. Will man sich dafür also mit der politischen Situation der Landeskirchen nach 1918/ 19 befassen, ist es zentral auch die mentalitätsgeschichtliche Dimension dieser Zeit zu berücksichtigen. Das Selbstverständnis protestantischer Eliten kann nach Kriegsende als massiv erschüttert betrachtet werden. Hatte im Kaiserreich die Nähe protestantischer Theologen zum preußischen Herrscherhaus die gesellschaftliche und kulturelle Prägung des Reiches stark beeinflusst 14 , wurde die Trennung von „Thron und Altar“ nun zum politischen Problem. Im Gegensatz zum politischen Katholizismus, der sich auf die Vertretung seiner Interessen durch die Zentrumspartei verlassen konnte, gab es keine parteipolitische Gruppierung, die die Anliegen der protestantischen Kirchen wirksam politisch einbringen und umsetzen konnte. 15 Der zuvorderst unternommene 10 Er befand sich also in den Fußstapfen von niemand geringerem als dem bekannten Pietisten Philipp Jakob Spener (1635-1705). 11 Freilich erweist sich der „deutsche Protestantismus“ bei genauerem Hinsehen auch im Kaiserreich bereits als deutlich vielfältiger als es dieser nicht unproblematische Kollektivbegriff suggeriert. Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm: Art. Protestantismus II. Kulturbedeutung, in: TRE 27 (1997), 551-580. 12 Jung, Protestantismus, 7. 13 Vgl. Anm. 1. 14 Vgl. Jung, Protestantismus, 38. 15 Vgl. Scholder, Klaus: Die Kirche und das Dritte Reich, Bd. 1. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977, 5. Versuch, sich dem Zentrum anzuschließen und sich in einer überkonfessionellen Christlichen Volkspartei zusammenzufinden, war gescheitert. Auch die Idee, durch die Gründung einer Evangelischen Volkspartei politisch an Einfluss zu gewinnen, blieb erfolglos. Anders als den Katholiken gelang es den Protestanten nicht, eine eigene Interessensvertretung zu etablieren, was „dem deutschen Protestantismus“ - so bereits Klaus Scholder - „den Weg in die neue Zeit wesentlich erschwert“ 16 habe. Bevor nun der Umgang der einzelnen „hessischen“ Kirchenleiter mit diesen politischen Herausforderungen beschrieben werden kann, sollen im folgenden Kapitel zunächst die historischen Entwicklungen der drei Landeskirchen Hessen , Nassau und Frankfurt am Main zwischen 1918 bis zu ihrer Vereinigung 1933 und ihre neuen Verfassungsstrukturen grob skizziert werden. Dabei gilt es insbesondere die Titel und Bedeutung der verschiedenen Leitungsämter in den Blick zu nehmen. 2. Prälaten, Präsidenten, Superintendenten, Bischöfe - Landeskirchliche Leitungsstrukturen in Hessen, Nassau und Frankfurt am Main und die Entwicklung hin zur Evangelischen Kirche in Nassau-Hessen 2.1. Vorgeschichte und Leitungsstrukturen der Landeskirchen unter dem Summepiskopat Wie bereits erwähnt verteilte sich das Gebiet der heutigen EKHN bis 1933 auf die Evangelische Landeskirche in Hessen , die Evangelische Landeskirche in Nassau und die Evangelische Kirche in Frankfurt am Main . Um diese territoriale Gliederung nachzuvollziehen, ist - angesichts der ja auch im Summepiskopat erkennbaren, engen Verbindung von Kirche und Staat - erneut der Blick in die politische Geschichte des vorausgegangenen Jahrhunderts hilfreich. 17 Die Grenzen der Kirchen stehen dabei in enger Beziehung zur politischen Gliederung einzelner Staatsgebilde. Für die Struktur der Gebiete, die heute dem Bundesland Hessen zugehörig sind, kommt vor allem dem Jahr 1866 eine besondere Bedeutung zu. Der preußisch-österreichische Krieg hatte die territoriale Ordnung, die dort seit dem Wiener Kongress herrschte, erheblich verändert: Kurhessen , das Herzogtum Nassau , die Landgrafschaft Hessen-Homburg und die Freie Stadt Frankfurt am Main verloren nach der Niederlage an der Seite Österreichs ihre Unabhängigkeit und wurden zu einem Teil des preußischen Staatsgebiets, das 16 Scholder, Kirche, Bd. 1, 6. 17 Vgl. hierzu Kroll, Frank-Lothar: Geschichte Hessen. München, 3. Aufl. 2017, 67-87. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 31 32 Julia Csehan / Malte Dücker zwei Jahre später den Provinznamen Hessen-Nassau tragen sollte. Nur das Fürstentum Waldeck-Pyrmont , das im Krieg auf der Seite Preußens gestanden hatte, und das Großherzogtum Hessen , dessen Fürst in Darmstadt residierte, konnten ihre Unabhängigkeit bewahren. Im Falle von Hessen-Darmstadt ist dies weniger dem Schlachtenglück - auch das Großherzogtum Hessen zählte zu den nominellen Verlierern des Krieges - als vielmehr einer weitsichtigen Heiratspolitik zuzuschreiben. Marie von Hessen-Darmstadt, Schwester des regierenden Großherzogs, war zugleich Zarin des Russischen Reichs. Der politische Druck Russlands ließ Preußen schließlich von einer Annexion absehen. 18 Auch nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 blieben die preußische Provinz Hessen-Nassau und das Großherzogtum Hessen als politische Einheiten innerhalb des geeinten Deutschlands bestehen und selbst Kriegsende und Novemberrevolution 1918/ 19 konnten diesen Verwaltungsstrukturen nichts anhaben. Als Teil des Freistaats Preußen bzw. als Volksstaat Hessen wurden sie in die demokratischen Strukturen der Weimarer Republik überführt und gerieten erst durch die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten auch territorial wieder in Bewegung. 19 Kirchenpolitisch lassen sich zunächst äquivalente Territorialgrenzen erkennen: Die Evangelische Kirche in Hessen war letztlich die Landeskirche des von Preußen unabhängig gebliebenen Großherzogtums Hessen als Nachfolger der ehemaligen Landgrafschaft Hessen-Darmstadt . Das landesherrliche Kirchenregiment oblag dort bis zum Ende der Monarchie dem Großherzog, zuletzt Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein, der heute vor allem für sein Engagement als Förderer der Darmstädter Künstlerkolonie bekannt sein dürfte. Sie machte die hessische Residenzstadt zu einem überregional bedeutenden Zentrum für die Kunst des Jugendstils. 20 Trotz der Annexion des Herzogtums Nassau im Jahr 1866 durch das preußische Militär blieb die Evangelische Landeskirche in Nassau selbstständig und wurde - wenngleich mit dem preußischen König als Summus Episcopus verbunden - nicht in die Evangelische Kirche der altpreußischen Union aufgenommen. Dementsprechend bewahrte sich auch die evangelische Kirche der ehemals Freien Stadt Frankfurt am Main trotz politischer Annexion durch Preußen ihre landeskirchliche Unabhängigkeit. Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle die - territorial ebenfalls unter preußischer Verwaltung stehenden - Landeskirchen Hessen-Kassel und Waldeck , die zwar heute die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck bilden, 18 Vgl. Kroll, Geschichte, 69 f. 19 Vgl. ebd., 83. 20 Vgl. Wolbert, Klaus (Hg.): Künstlerkolonie Mathildenhöhe Darmstadt 1899-1914. Das Buch zum Museum. Darmstadt 1999. aber immer wieder von auch im südlichen Hessen geführten Debatten über die Gründung einer potenziell gesamthessischen Kirche berührt waren. Über diese Fusionsbestrebungen wird im Laufe dieses Beitrags noch zu berichten sein. Alle drei „(süd-)hessischen“ Landeskirchen gaben sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts presbyterial-synodale Kirchenverfassungen. 21 Zwar war der Landesherr an die Vorgaben dieser Verfassungen gebunden, doch blieb das landesherrliche Kirchenregiment formal weiterbestehen. Der Großherzog von Hessen bzw. der König von Preußen verfügte über das Recht, Kirchengesetze zu verkünden und Verordnungen zu erlassen, die Synode einzuberufen sowie Pfarrstellen und Lehrstühle der Predigerseminare zu besetzen. 22 In der administrativen Praxis übernahmen diese Aufgaben freilich dem Fürsten unterstehende Behörden wie das Oberkonsistorium in der hessischen Landeskirche, sowie die königlich preußischen Konsistorien in Nassau und Frankfurt am Main. Das ranghöchste Amt innerhalb der hessischen Kirchenverwaltung hatte - selbstverständlich dem Großherzog unterstellt - der Präsident des Oberkonsistoriums inne. Zudem gab es das Amt eines Prälaten - ein Titel der nach 1922 innerhalb der hessischen Kirche noch Karriere machen sollten, dem im 19. Jahrhundert allerdings noch keine vergleichbare Bedeutung zukam. In Nassau gab es bereits seit 1810 das Amt des Generalsuperintendenten . Es darf als eine Besonderheit der nassauischen Landeskirche gelten, dass die hier tätigen Generalsuperintendenten ab 1827 vom Herzog den Titel Landesbischof verliehen bekamen, möglicherweise um einen repräsentativen Gegenpol zum neu gegründeten katholischen Bistum Limburg zu schaffen. 23 An der Spitze der Geistlichkeit des preußischen Konsistorialbezirks Nassau stand wiederum ein vom Konsistorium gewählter und vom König ernannter Generalsuperintendent. 24 In Frankfurt gestaltete sich die Kirchenorganisation ungleich komplexer, denn lange vor der Annexion Preußens, genauer gesagt bis zum 26. Juli 1728, wurde das gesamte Kirchenwesen Frankfurts durch den Rat der Stadt Frankfurt am Main geleitet. 25 Eben jener Rat bestand jedoch ausschließlich aus lutherischen Mitglieder, obwohl es im Stadtgebiet bereits ein Nebeneinander von lutherischen und reformierten Gemeinden gab. Schließlich wurde am 26. Juli 1728 erstmals eine Kirchenbehörde errichtet, das Konsistorium, welches aus weltlichen und geistlichen Mitgliedern bestand. Erst am 8. Februar 1820 kam zu dem bereits bestehenden Konsistorium 21 Vgl. Steitz, Heinrich: Geschichte der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Marburg 1977, 388-403. 22 Ebd., 396 23 Herbert, Karl: Durch Höhen und Tiefen. Eine Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt am Main 1997, 30. 24 Ebd., 399 f. 25 Vgl. Steitz, Geschichte, 507. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 33 34 Julia Csehan / Malte Dücker „für die religiösen, kirchlichen, Schul- und Erziehungsangelegenheiten der protestantisch-lutherischen Gemeinden“ das evangelisch-reformierte Konsistorium hinzu. 26 Als nun die Freie Reichsstadt Frankfurt von Preußen annektiert wurde, änderte sich im März 1882 die Bezeichnung in „Königliches Konsistorium“. 27 Nach dem gescheiterten Versuch, die lutherischen Gemeinden und Dörfer dem unierten Konsistorium in Wiesbaden zu unterstellen, wurde schlussendlich die konfessionelle und administrative Selbstständigkeit der Frankfurter Gemeinden anerkannt. Die alte Kirchenverfassung Frankfurts blieb bestehen; ausschließlich das Kirchenregiment wurde von der neuen Landesregierung ausgeübt. Der Vorsitzende des Konsistoriums wurde fortan vom Landesherrn ernannt. 28 Schließlich gab die erste Kirchengemeinde- und Synodalordnung von 1899 der evangelischen Kirche Frankfurts eine Struktur nach preußischem Vorbild. 29 Eine Folge dieser neuen Ordnung war die Errichtung eines gemeinsamen Konsistoriums. 2.2. Neue Leitungsstrukturen nach Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 2.2.1. Hessen-Darmstadt Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments traf die Landeskirchen also nicht gänzlich unvorbereitet. In Darmstadt übernahm nach der Novemberrevolution zunächst das bestehende Großherzogliche Oberkonsistorium die Aufgaben des abgesetzten Fürsten und entschied, diese Funktion übergangsmäßig gemeinsam mit dem Landessynodalausschuss auszuführen. 30 1919 ging das landesherrliche Kirchenregiment formal auf die Landessynode über. Es dauerte allerdings immerhin bis zum 1. Juni 1922, bis der verfassungsgebende hessische Kirchentag eine den neuen Umständen angepasste Kirchenverfassung verabschieden konnte. 31 Im 4. Paragraphen wird darin verkündet: „Als Körperschaft öffentlichen Rechts ordnet und verwaltet die Evangelische Landeskirche in Hessen ihre Angelegenheiten selbstständig.“ 32 Diese neue Selbstständigkeit hat sich 26 Vgl. ebd, 507-511. 27 Ebd. 28 Telschow, Jürgen: Die alte Frankfurter Kirche. Recht und Organisation der früheren evangelischen Kirche in Frankfurt. Frankfurt am Main 1979, 60. 29 Telschow, Jürgen: Ringen um den rechten Weg. Die evangelische Kirche in Frankfurt am Main zwischen 1933 und 1945. Darmstadt 2013, 3-5. 30 Vgl. Fix, Karl-Heinz / Nicolaisen, Carsten / Pabst, Ruth: Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918-1949. Organe - Ämter - Personen, Bd. 2: Landes- und Provinzialkirchen, Göttingen 2017, 222. 31 Ebd. 32 Kirchenverfassung der Evangelischen Landeskirche in Hessen, 1922, Auszug abgedruckt in: Kätsch, Ekkehard / Sterik, Edita: 50 Jahre Evangelische Kirche in Hessen und Nassau. nun in einer heute leider etwas unübersichtlichen erscheinenden Organisation der Kirchenleitung niedergeschlagen. Zentrales kirchenleitendes Organ blieb die Synode, die weiterhin unter dem Namen Landeskirchentag zusammentrat. Als deren permanente Vertretung fungierte der Landeskirchenausschuss. Weiterhin gab es die Kirchenregierung. Die Nachfolge des Großherzoglichen Oberkonsistoriums übernahm das Landeskirchenamt in Darmstadt. 33 Die „geistliche Leitung“ übernahm laut Kirchenverfassung das Kollegium der Superintendenten , das unter dem Vorsitz des Prälaten tätig sein sollte. 34 Insbesondere dieses oberste, von einer Einzelperson besetzte, kirchliche Leitungsamt steht im Folgenden im Fokus des Interesses. Der „Prälat “ ist in der Kirchengeschichte eine schon immer „schillernde“ 35 Amtsbezeichnung gewesen und war auch in der hessischen Kirchenverfassung - so bemerkte schon Heinrich Steitz - „eher angedeutet als klar umrissen“ 36 . Dort ist formuliert, dass der Prälat „in steter persönlicher Fühlung mit den lebendigen und tätigen Gliedern der Landeskirche auf allen Gebieten der kirchlichen Arbeit […] führend und fördernd tätig sein“ 37 solle. Für die konkrete Verwaltungsorganisation bedeutete dies, dass mit dem Prälatenamt in Personalunion zugleich die Präsidentschaft über die Kirchenregierung und das Landeskirchenamt verbunden war. 38 Angesichts dieser umfassenden Vorstandsfunktionen scheint die Einrichtung dieses höchsten Amts vor allem auch dem nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments nicht mehr eindeutig ausgefüllten Repräsentationsbedürfnis des landeskirchlichen Protestantismus in Hessen geschuldet zu sein. Im Juni 1923 wählte der Landeskirchentag den am hessischen Predigerseminar in Friedberg tätigen Professor Wilhelm Diehl zum Prälaten, der dieses Amt bis zum fusionsbedingten Ende der hessischen Landeskirche im Jahr 1934 ausführen sollte. Diehl war bereits zuvor als Präsident des verfassungsgebenden Kirchentags und des Landessynodalausschusses tätig gewesen und prägte auf diese Weise die hessische Landeskirche als zentrale kirchenleitende Persönlichkeit - von ihrer Verfassungsgebung bis zu ihrer Auflösung - wie kein anderer. 39 Katalog zur Ausstellung des Zentralarchivs der EKHN, Darmstadt 1997, 3. 33 Vgl. Fix / Nicolaisen / Pabst, Handbuch, 222. 34 Vgl. Steitz, Geschichte, 460-464. 35 Zapp, Hartmut / Mehlhausen, Joachim: Art. Prälat, in: TRE 27 (1997), 160. 36 Steitz, Geschichte, 462. 37 Kirchenverfassung der EKH, §. 119, zit. nach Steitz, Geschichte, 462. 38 Vgl. Fix / Nicolaisen / Pabst, Handbuch, 222. 39 Entsprechende Untersuchung in Kapitel 3.1. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 35 36 Julia Csehan / Malte Dücker 2.2.2. Nassau Nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments fanden in den Landeskirchen von Nassau und Frankfurt am Main parallele Entwicklungen zu der in Hessen-Darmstadt statt. Anders als dort waren Nassau und Frankfurt bis 1918 aber als Konsistorialbezirke der preußischen Provinz Hessen-Nassau direkt dem preußischen Kultusministerium zugeteilt. 40 Das landesherrliche Kirchenregiment war nach der Absetzung des deutschen Kaisers und Königs von Preußen zunächst auf das preußische Staatsministerium übergegangen. Dieses ordnete am 31. Dezember 1920 an, dass ein verfassungsgebender Kirchentag für den Konsistorialbezirk Wiesbaden eine Verfassung beschließen solle. Am 5. Dezember 1922 wurde die Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Nassau verabschiedet. Als kirchenleitende Organe waren darin der Landeskirchentag als „oberster Träger der der Landeskirche innewohnenden Kirchengewalt“ 41 , die Landeskirchenregierung als oberste Dienststelle, das Landeskirchenamt als gewissermaßen Geschäftsführung und Aufsichtsbehörde und schließlich der Landesbischof vorgesehen. 42 Mit dieser Bezeichnung für den leitenden Geistlichen sollte die Stellung des bisherigen Generalsuperintendenten gehoben und an die bereits erwähnte lokale Tradition aus dem 19. Jahrhundert angeknüpft werden. Die Besonderheiten dieses neu geschaffenen Amts, insbesondere die Bemühung um eine definitorische Abgrenzung gegenüber zuvor bestehenden Ämtern mit gleichlautenden Titeln, werden in einem an den noch unbekannten zukünftigen Landesbischof verfassten offenen Brief des nassauischen Pfarrers Martin Schmidt vom 24. Januar 1925 deutlich. 43 Dieser betonte, dass der neue Landesbischof „in ein völlig neues Amt“ 44 hineingewählt werde. Weder die Tätigkeit des vormaligen Generalsuperintendenten noch die des nassauischen Landesbischofs sei mit der des neuen leitenden Geistlichen vergleichbar. Insbesondere der „katholisierenden Gefahr“ 45 durch den Bischofstitel wird die Hoffnung entgegengehalten, der neue Landesbischof möge sein Amt insofern in „evangelische[m] Sinne“ 46 ausführen, dass das Kirchenvolk nicht durch einen vermeintlichen Nimbus des Bischofsamts geblendet werde. Schmidt scheint an dieser Stelle von der theologischen Sorge bewegt zu sein, das reformatorische 40 Vgl. ebd., 338. 41 Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Nassau, zit. nach: Steitz, Geschichte, 483. 42 Vgl. auch ebd., 481-484. 43 Schmidt, Martin: Offener Brief an den zukünftigen Herrn Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Nassau vom 24. Januar 1925, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, 50 Jahre EKHN, 12-14. 44 Ebd. 45 Ebd., 13. 46 Ebd., 14. Prinzip vom „Priestertum aller Gläubigen“ könnte unter einem zu starken kirchlichen Leitungsamt vergessen gehen. Nachdem die nassauische Kirchenverfassung mehr als zwei Jahre nach ihrer Verabschiedung durch den Landeskirchentag endlich in Kraft treten konnte, wurde am 19. März 1925 August Kortheuer zum Landesbischof gewählt. Nach dem Tod des ehemaligen preußischen Generalsuperintendenten Karl Ohly 47 hatte ab 1919 zunächst Konsistorialrat Anton Jäger die höchsten personalen Repräsentationsaufgaben der Landeskirche übernommen. Auch Kortheuer war seit 1919 Konsistorialrat und als Vertreter der kirchenpolitischen Rechten an der Entstehung der Nassauischen Kirchenverfassung beteiligt gewesen. Als Bischof repräsentierte er die Evangelische Landeskirche in Nassau in außergewöhnlicher Weise zwischen 1925 und 1933. 48 2.2.3. Frankfurt am Main Die angeführten Umstände forderten auch in der Stadt Frankfurt eine rechtliche Neuordnung der kirchlichen Strukturen. Diese doch zumindest zu einem Teil schon längst fälligen Änderungen der kirchlichen Verfassung wurden nun zur Notwendigkeit. Der Schutz der Kirche vor der vermeintlichen Willkür des neuen demokratischen Staates, der zunächst eine starke Trennung von Staat und Kirche forcierte, wurde zunehmend bedeutsamer. Hinzu kamen weitere ältere Reformwünsche, wie die Vereinfachung der kirchlichen Organisation im Ganzen, aber auch die Übertragung der Kirchengewalt auf das Kirchenvolk und die Einführung des Frauen- und des Verhältniswahlrechts. 49 Dies und die unterschiedlichen politischen Gruppen und Vereine scheinen den Beschluss der neuen Verfassung hinausgezögert zu haben. So dauerte es schließlich bis zum 30. Mai 1924, ehe die „Verfassung der Evangelischen Landeskirche Frankfurt am Main“ in Kraft treten konnte. In der Tat konstituierte die neue Verfassung eine freie und selbstständige Landeskirche, in der demokratische Strukturen durchaus zu erkennen waren. 50 Die Landeskirchenversammlung diente als legislative, der Landeskirchenrat als exekutive und das Landeskirchengericht als appellative Instanz. 51 47 Karl Julius Wilhelm Theodor Ohly (1860-1919), 1899 bis 1913 Hof- und Domprediger Wilhelms II., Anhänger von Adolf Stoecker, ab 1913 Generalsuperintendent der nassauischen Landeskirche, vgl. Zirlewagen, Marc: Art. Ohly, Karl ( Julius Wilhelm Theodor), in: BBKL 24 (2005), Sp. 1137-1140. 48 Ausführliche Darstellung in Kapitel 3.2. 49 Telschow, Frankfurter Kirche, 83. 50 Telschow, Ringen, 8-12. 51 Vgl. Steitz, Geschichte, 507. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 37 38 Julia Csehan / Malte Dücker Das oberste Organ der Frankfurter Landeskirche war die Landeskirchenversammlung (Frankfurter Synode). Ihr stand Wilhelm Bornemann, der an anderer Stelle dieser Studie noch vorgestellt wird, ab 1925 als Präsident vor. Nach dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments 1919 nannte sich der Landeskirchenrat bis zur Bildung des Landeskirchenrates am 11. Februar 1925 zunächst „Evangelisches Konsistorium“. Zudem war der Landeskirchenrat eine Kollegialbehörde, bestehend aus dem Präsidenten, zwei besoldeten Kirchenräten sowie 10 unbesoldeten Kirchenräten. Gewählt wurde der Präsident von der Landeskirchenversammlung für 12 Jahre. Erster Präsident des Landeskirchenrates war der Jurist Richard Schulin. 52 Ein stellvertretendes Amt des Präsidenten war zwar nicht vorgesehen, allerdings galt inoffiziell, dass das dienstälteste Kollegialmitglied als Stellvertreter des Präsidenten fungierte. Dies war Johannes Kübel, der als besoldetes Mitglied nebenamtlich in den Landeskirchenrat gewählt wurde und der nach dem Tod von Schulin 1932 hauptamtlicher Kirchenrat wurde.“ 53 Exemplarisch sollen deshalb im Folgekapitel für die Frankfurter Kirche die Biogramme Bornemanns und Kübels vorgestellt werden. Die Präsentation der Biographie Richard Schulins entfällt auch deshalb, weil Schulin Jurist war, der Schwerpunkt dieser Studie jedoch auf dem Wirken kirchenleitender Theologen liegt. Auch Johannes Kübels vielfältige publizistische Tätigkeit deutet auf einen (von ihm auch selbst beanspruchten) schon früh weitaus größeren theologischen Einfluss hin. 2.2.4. Fusionsbestrebungen und Gleichschaltung - Vorgeschichte und Entstehung der Evangelischen Kirche Nassau-Hessen Schon seit den Nationalstaatsbildungen des 19. Jahrhunderts hatte es im „deutschen Protestantismus“ die Idee gegeben, die evangelischen Landeskirchen zu einer gemeinsamen deutschen Reichskirche zu fusionieren. 54 Diese Position erhielt im Zuge der verfassungsrechtlichen Neuordnung der Landeskirchen nach 1919 und der Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes 1922 55 neues Gewicht. Für die fünf „hessischen“ Landeskirchen gab es im Hinblick auf Fusionsmöglichkeiten noch eine ganz andere, historische Referenzgröße. Ein zentraler erinnerungskultureller Bezugspunkt der fünf Kirchen blieb die „hessische Reformation“ Landgraf Philipps des Großmütigen. 56 Dessen Landgraf- 52 Richard Schulin (1863-1932), Jurist und 1. Präsident des Frankfurter Kirchenrates, Leben und Wirken derzeit Forschungsdesiderat. 53 Vgl. Steitz, Geschichte, 507-511. 54 Vgl. Scholder, Kirche, Bd. 1, 355. 55 Vgl. Jung, Protestantismus, 123 f. 56 Vgl. Cahill, Richard Andrew: Philipp of Hesse and the Reformation (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschaft Hessen umfasste im 16. Jahrhundert territorial weite Teile der Gebiete der Landeskirchen von Hessen, Nassau und Hessen-Kassel . Zu diesem historischen Argument kamen etwa in Waldeck Überlegungen zu verwaltungstechnischem Reformbedarf, um das eigene auch finanzielle Überleben sichern zu können. 57 Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 400. Jubiläum der Homberger Synode im Jahr 1926 wurde schließlich der Entschluss gefasst, die Möglichkeiten einer vertieften Zusammenarbeit oder gar einer Kirchenfusion der fünf Landeskirchen konstruktiv zu beraten. Die zu diesem Zweck einberufene, nach ihrem Konstitutionsort benannte Marburger Konferenz tagte als gemeinsames Gremium regelmäßig zwischen 1926 und 1932 und erarbeitete relativ weitreichende Konzepte für eine Kirchenfusion 58 . Dass die Pläne für eine großhessische Kirche schließlich doch scheiterten, mag mit weiter bestehenden Eigenständigkeitsbedürfnissen einzelner Landeskirchen, mit dem verwaltungstechnischen Problem der territorialen Doppelstaatlichkeit des betreffenden Gebiets (Hessen und Preußen) und auch mit persönlichen Differenzen der leitenden Akteure zusammenhängen. 59 Erst die politischen Gleichschaltungsbestrebungen der Nationalsozialisten brachten wieder Bewegung in die Fusionsplanungen. Im Juli 1933 wurde der Deutsche Evangelische Kirchenbund in die Deutsche Evangelische Kirche (DEK) umgewandelt. Bei den sich anschließenden neuen reichsweiten Kirchenwahlen errangen die Deutschen Christen , die sich - freilich etwas verkürzt gesprochen - die Angleichung des Protestantismus an die nationalsozialistische Ideologie zum Ziel gesetzt hatten, mehr als zwei Drittel der Stimmen. 60 Diese „Glaubensbewegung“ wurde innerhalb der hessischen Landeskirchen nun zum entscheidenden Faktor für die Kircheneinigung. Nicht der Verfassungsentwurf der Abgesandten der Marburger Konferenz , sondern die Vorgaben des Ministerialdirektors im Preußischen Kultusministerium und späteren Rechtswalters schichte, Bd. 180). Mainz 2002 sowie Schneider-Ludorff, Gury: Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte; Bd. 20). Leipzig 2006. 57 Parker, Sebastian: Die Marburger Konferenz. Fusionspläne und Zusammenarbeit hessischer evangelischer Landeskirchen im 20. Jahrhundert (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 16). Darmstadt 2008, 14 f. 58 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Sebastian Parker. 59 Parker, Marburger, 61. 60 Vgl. Blaschke, Olaf: Die Kirchen und der Nationalsozialismus. Stuttgart 2014, 102 f. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 39 40 Julia Csehan / Malte Dücker der DEK August Jäger 61 wurden durchgesetzt. 62 Dessen im Sommer 1933 knapp drei Wochen währende Herrschaft über die preußischen Kirchen markiert gewissermaßen die Analogie zur nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik im Kontext der evangelischen Kirchen und ist von Klaus Scholder „zu den bewegtesten Zeiten der deutschen Kirchengeschichte“ 63 gezählt worden. Als Sohn des ehemaligen nassauischen Generalsuperintendenten Anton Jäger setzte der nationalsozialistische Kirchenkommissar alles daran, seine nach dem Führerprinzip gestaltete, aber bekenntnisfreie Musterkirchenverfassung für den NS- Staat in seiner hessischen Heimatkirche durchzusetzen. 64 Die neue Verfassung sah eine streng hierarchisch aufgebaute Landeskirche vor, an deren Spitze ein nun mit umfassenden Vollmachten ausgestatteter Landesbischof stehen sollte. 65 Nachdem Hessen-Kassel und Waldeck wegen Vorbehalten des kurhessischen NSDAP-Gauleiters Karl Weinrich 66 aus dem Vereinigungsprozess ausgestiegen waren 67 , wurde die Verfassung der Evangelischen Kirche in Nassau-Hessen schließlich in Wiesbaden, Frankfurt und nach kurz währenden Vorbehalten auch in Darmstadt angenommen. 68 Die Verfassung trat am 18. November 1933 in Kraft, fünf Monate später wurde die Evangelische Kirche in Nassau-Hessen gleichgeschaltet und ihre Befugnisse der Reichskirche unterstellt. Im Februar 1934 wurde Ernst Ludwig Dietrich von Reichsbischof Ludwig Müller ohne Rücksprache mit der Synode zum Landesbischof der neuen Kirche ernannt. Kortheuer war bereits im September 1933 in den Ruhestand versetzt worden, Kübel zurückgetreten. Die Zwangsverrentung Wilhelm Diehls ging mit der Amtseinführung Dietrichs einher. Im folgenden Kapitel wird daher neben den bereits erwähnten Personen abschließend eben jener Landesbischof Dietrich als Repräsentant der Evangelische Kirche in Nassau-Hessen vorgestellt. Dabei gilt es auch den Kontext einer zunehmenden Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten zu beachten, die als „Ein-Mann-Kirche“ schließlich gar nicht mehr 61 August Jäger (1887-1949), Jurist, ab 1933 Mitglied der NSDAP, SA und DC; 1933 Leiter der Kirchenabteilung im preußischen Kultusministerium, Staatskommissar für die Landeskirchen Preußens und Amtswalter für evangelische Kirchenangelegenheiten; 1934 Rechtswalter der DEK; im Zweiten Weltkrieg stellvertretender Reichsstatthalter in Posen, danach als „Henker Großpolens“ zum Tode verurteilt, vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? Frankfurt am Main 2003, 280. 62 Vgl. Parker, Marburger, 70. 63 Scholder, Kirche, Bd. 1, 453. 64 Vgl. ebd., 588 f. 65 Vgl. Fix / Nicolaisen / Pabst, Handbuch, 350. 66 Karl Weinrich (1887-1973), seit 1922 Mitglied der NSDAP, ab 1927 Gauleiter Hessen- Nassaus in Kassel (ab 1934 Kurhessen), vgl. Klee, Personenlexikon, 663. 67 Parker, Marburger, 71. 68 Vgl. Steitz, Geschichte, 541-548. von Theologen, sondern formal von dem Juristen Paul Kipper geleitet wurde, dessen biographische Untersuchung den Rahmen dieses Aufsatzes freilich überschreiten würde 69 . 3. Kirchenleitende Persönlichkeiten in Hessen, Nassau, Frankfurt am Main und Nassau-Hessen 3.1. Hessen: Prälat Wilhelm Diehl (1871-1944) 3.1.1. Einleitendes Der als „Kirchenmann, Gelehrter, Politiker“ 70 gerühmte Wilhelm Diehl ist die vielleicht bis heute in der EKHN bekannteste Person, die im Rahmen dieses Aufsatzes vorgestellt wird. Diehl war zwischen 1923 und 1933 kirchenleitender Prälat der Evangelischen Landeskirche in Hessen, wirkte aber zugleich auch als Professor für (regionale) Kirchengeschichte in Friedberg und Gießen. Dass er darüber hinaus auch als Politiker für den hessischen Ableger der DNVP im Landtag des Volksstaats saß, verleiht der in dieser Studie aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von Kirchenleitung und politischem Engagement zusätzliche Brisanz. Prälat Wilhelm Diehl (Bild: Zentralarchiv der EKHN) Die Bekanntheit des hessischen Prälaten spiegelt sich auch in der verhältnismäßig durchaus umfangreichen Literatur wider, die sich mit Diehl biographisch auseinandergesetzt hat. Eine erste umfassende biographische Arbeit veröffentlichte Ernst Gerstenmaier zu Beginn der 1970er Jahre im Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung. 71 Gerstenmaier kannte Diehl noch persönlich aus der gemeinsamen Zeit im Friedberger Predigerseminar und verstand „die nahe Kenntnis Diehls als ein[en] gute[n] Schlüssel“ 72 , um Person und zeitliche Hintergründe des Prälaten verstehen und dementsprechend angemessen darstellen zu können. 73 Diese unmittelbare Zeitzeugenschaft muss das 69 Paul Kipper (1876-1963), Richter in Wiesbaden, ab 1933 Mitglied der NSDAP, ab 1937 Präsident des Landeskirchenamtes der Evangelischen Kirche in Nassau-Hessen in Darmstadt, 1939 Mitbegründer des sogenannten „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Biographische Grundinformationen sind nachzulesen bei Grunwald, Klaus-Dieter: Kirchenkampf und Verwaltung aus gesamtkirchlicher Perspektive, in: Ders. / Oelschläger, Ulrich (Hg.): Evangelische Landekirche in Nassau-Hessen und Nationalsozialismus. Auswertung der Kirchenkampfdokumentation der EKHN. Darmstadt 2014, 97-103. 70 Dienst, Karl: Wilhelm Diehl. Kirchenmann - Gelehrter - Politiker, in: Ebernburg-Hefte 29, 1995, 173-193. 71 Gerstenmaier, Ernst: Wilhelm Diehl als Pfarrer, Synodaler, Professor und Prälat, 1. Teil in: JHKGV 22 (1971), 2. Teil in: JHKGV 23 (1972), 3. Teil in: JHKGV 24 (1973), 95-258. 72 Gerstenmaier, Diehl, 1. 73 Ebd. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 41 42 Julia Csehan / Malte Dücker Prälat Wilhelm Diehl (Bild: EKHN) Niedergeschriebene weder zwangsläufig verifizieren noch disqualifizieren 74 , es gilt die persönliche Bindung bei der Lektüre allerdings zu berücksichtigen. Anlässlich des 50. Todestages von Wilhelm Diehl präsentierte das Zentralarchiv der EKHN im Jahr 1994 eine Ausstellung im Stadtmuseum Groß-Gerau und veröffentlichte zahlreiche Quellenmaterialien in einem zugehörigen Katalog 75 , der für die nachfolgende Darstellung und Analyse die wichtigste Quellenbasis bildet. In zeitlichem Zusammenhang mit der Ausstellung erschienen außerdem Aufsätze von Karl Dienst. 76 In dessen Tradition hat Wolfgang Lück die bislang letzte biographische Untersuchung erarbeitet, 77 die sich aus der zeitlichen Distanz eines „Nichtzeitgenossen“ 78 Diehl als einem „der Gründerväter der EKHN“ neu annähern möchte. Lück trägt in seiner umfangreichen Arbeit vor allem edierte Quellen und Forschungsliteratur zusammen, eine quellenkritische Untersuchung von Wilhelm Diehls Nachlass aus dem Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt steht weiterhin aus. 3.1.2. Biogramm: Professor, Prälat, Heimatforscher Im Kirchenbuch der Gemeinde Groß-Gerau ist nachzulesen, dass der spätere Prälat der hessischen Kirche im Jahr der deutschen Reichseinigung 1871 als viertes Kind des Kreisbauaufsehers Johann Balthasar Diehl und seiner Frau Margaretha Elisabetha geboren und auf den Namen Georg Wilhelm getauft wurde. 79 Diehl entstammte keinem besonders akademischen Milieu, dennoch wurde ihm schon während der Schulzeit in Groß-Gerau und Darmstadt ein besonderes Interesse an Archäologie und Geschichte nachgesagt. 1890 begann er ein Theologiestudium in Tübingen, wechselte aber bereits nach einem Semester (den damaligen Regularien für hessische Pfarramtskandidaten entsprechend) an seine heimische Landesuniversität nach Gießen. Dort wurde er von Professoren wie Bernhard Stade 80 oder Johannes Gottschick 81 mit der in dieser Zeit enorm 74 Vgl. Sabrow, Martin: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen den Welten, in: Ders. / Frei, Norbert (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012, 13-32. 75 Kätsch, Ekkehard / Sterik, Edita (Bearb.): Wilhelm Diehl. 1871-1944. Ausstellung des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Darmstadt 1994. 76 Dienst, Diehl, 173-193. 77 Lück, Wolfgang: Wilhelm Diehl. Einer der Gründerväter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Darmstadt 2013. 78 Ebd., 12. 79 Vgl. Eintrag im Groß-Gerauer Kirchenbuch (KB 7, Pfarrarchiv Groß-Gerau), gedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 13. 80 Bernhard Stade (1848-1906), ab 1875 Professor für Altes Testament an der Universität Gießen, mehrfaches Rektorat, vgl. Smend, Rudolf: Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten. Göttingen 1989, 129-142. 81 Johannes Gottschick (1847-1907), ab 1891 Rektorat an der Universität Gießen, Gründer der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ und Schüler Albrecht Ritschels, vgl. Bautz, Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 43 44 Julia Csehan / Malte Dücker einflussreichen Theologie Albrecht Ritschels bekannt gemacht. 82 Obwohl die Biographen nicht damit geizen, Diehls außergewöhnliche Begeisterung für das geschichtswissenschaftliche Arbeiten hervorzuheben, entschied sich dieser trotz vorliegender Angebote an der Universität zunächst dafür, seine Pfarrerausbildung im hessischen Predigerseminar in Friedberg abzuschließen. 83 Dort erwarb er außerdem sein Lizenziat in Theologie und legte sein „Doktorexamen“ ab. Die (insbesondere territoriale) Kirchengeschichte blieb für den Theologen dennoch zeitlebens ein zentrales Thema, wovon zahlreiche Publikationen - häufig im Selbstverlag veröffentlicht 84 - zeugen. Seit 1895 ordiniert zog es Diehl nach einem Intermezzo im eigenen Angaben zufolge „mußereichen Hirschhorn“ 85 im Oktober 1907 als einer von fünf Stadtkirchenpfarrern zurück nach Darmstadt. Auch dort verfasst er - trotz eines vermeintlichen Vorsatzes der „Schriftstellerei auf eine Reihe von Jahren Valet zu sagen“ 86 - erneut zahlreiche Aufsätze zur örtlichen Stadtgeschichte. 87 Mit der Rückkehr ans Friedberger Predigerseminar 1913 wurde Diehl schließlich doch noch Professor, wenngleich er weiterhin pfarramtlich aktiv blieb und neben seinen Vorlesungen Taubstummengottesdienste leitete oder in der örtlichen Stadtkirche auf die Kanzel stieg. Der Erste Weltkrieg scheint für Diehl zunächst keinen besonderen biographischen Einschnitt markiert zu haben. 88 Er selbst spricht in einem Brief an Hermann Bräuning-Octavio 89 davon, den „Druck des Krieges“ nur in der Art zu spüren, dass er mehr arbeiten müsse. 90 Der Professor verbrachte die Kriegszeit in Friedberg und vertrat mehrere vakante Pfarrstellen, was ihm nach eigener Aussage „nicht lieb“ 91 gewesen sei, da er vielmehr am Ort des Kriegsgeschehens „gern dabei“ 92 gewesen wäre. Biograph Wolfgang Lück möchte diese Aussagen Friedrich Wilhelm: Art. Gottschick, Johannes, in: BBKL 2 (1990), Sp. 276-277. 82 Vgl. Gerstenmaier, Diehl, 11 sowie Lück, Diehl, 40-49; Grundlegendes zur Bedeutung Ritschels und der Reich-Gottes-Theologie vgl. Graf, Friedrich Wilhelm: Art. Ritschl, Albrecht, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 21. Berlin 2003, 649-650. 83 Lück, Diehl, 107 f. 84 Vgl. Kätsch / Sterik, Diehl, 76 f. 85 Diehl, Wilhelm: Alt-Darmstadt. Kulturgeschichtliche Bilder aus Darmstadts Vergangenheit in gesammelten Aufsätzen. Friedberg 1913, 1. 86 Ebd. 87 Versammelt ebd. 88 Vgl. Lück, Diehl, 68 f. 89 Den Verleger und Literaturhistoriker Hermann Friedrich Wilhelm Bräuning-Octavio (1888-1977) hatte Diehl als einen seiner Studenten an der Universität Gießen kennengelernt. Zur Biographie vgl. Franz, Eckhart G.: Art. Bräuning-Octavio, Hermann, in: Stadtlexikon Darmstadt. Stuttgart 2006, 99. 90 Diehl, Wilhelm: Brief an Hermann Bräuning-Octavio vom 2. März 1916, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 141. 91 Ebd. 92 Ebd. allerdings nicht als Ausdruck von Diehls Patriotismus und Begeisterung für das Militär verstanden wissen, sondern erkennt darin das karitative Verantwortungsbewusstsein eines Seelsorgers. 93 Lück verweist in diesem Sinne darauf, dass sich Diehl nach Kriegsende mehr über seine Nicht-Berücksichtigung bei der Besetzung des Direktorenpostens am Friedberger Predigerseminar empört habe als über den Untergang des deutschen Kaiserreichs. 94 Bereits seit 1907 gehörte Diehl der hessischen Landessynode an. Entscheidenden kirchenpolitischen Einfluss gewann er allerdings erst nach Ende des landesherrlichen Kirchenregiments. In der Synode, die ab 1919 mit dem Terminus Landeskirchentag bezeichnet wurde, hatte sich Diehl der sogenannten „Friedberger Konferenz“ 95 angeschlossen. Dort erwarb er sich rasch den Ruf, ein „Mann der Mitte“ 96 zu sein. In einer Rede der Synode betonte er „keine Revolution und keine Umstürzungen“ 97 einzufordern und unterstützte dennoch massiv die Ausarbeitung der neuen Kirchenverfassung, um „eine auf gesetzlicher Grundlage beruhende Landessynode“ 98 gestalten zu können. Diehls eher moderierender Stil scheint im Landeskirchentag Gefallen gefunden zu haben. Jedenfalls wählte ihn dieser im August 1920 mit großer Mehrheit zu seinem ersten Präsidenten. Auch die Veröffentlichung der neuen Kirchenverfassung am 25. März 1922 wird ganz maßgeblich dem Einsatz Diehls zugeschrieben. 1931 erhielt er für sein Engagement um die Kirchenkonstitution die Ehrendoktorwürde der juristischen Fakultät der Universität Gießen. 99 Es scheint vor diesem Hintergrund folgerichtig, dass der Präsident des Landeskirchentags 1923 schließlich zum Prälaten gewählt wurde und damit das höchste Amt der hessischen Kirche ausführte. Diehl war dank seiner Tätigkeit als Professor am Predigerseminar innerhalb der Kirche gut vernetzt. Die meisten der jüngeren Pfarrer waren in Friedberg seine Studenten gewesen. Bei Amtsantritt wandte sich der Prälat mit eindringlichen Worten an die Gemeinden, deren Gegenwart auch in Hessen durch die von Ruhrbesetzung und politischer Instabilität geplagte Tagespolitik der frühen Weimarer Republik bestimmt war. Die theologische Krisenrhetorik Diehls hätte kaum drastischer sein können: „Zum ersten Mal seit dem dreißigjährigen Krieg stehen die vier apokalyptischen Reiter wieder in deutschen Landen. […] In einer solchen erns- 93 Lück, Diehl, 71. 94 Ebd., 71 f.; vgl. auch Erklärung Diehls Ende März 1919 betr. Seine Erregung bei der Predigt am 15. März 1919 in Friedberg, Auszug abgedruckt in Kätsch / Sterik, Diehl, 65. 95 Zu der 1856 in Friedberg gegründeten kirchenpolitische Gruppierung der „Mitte“, vgl. Steitz, Geschichte, 389 f. 96 Vgl. Lück, Diehl, 164-171. 97 Diehl, Wilhelm: Synodalprotokoll vom 6. August 1919, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 141. 98 Ebd. 99 Vgl. Kätsch / Sterik, Diehl, 127. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 45 46 Julia Csehan / Malte Dücker ten und bösen, dabei durchaus unklaren und unsicheren Zeit an die Spitze einer Landeskirche […] zu treten, ist eine schwere Aufgabe.“ 100 Angesichts dieser für ihn apokalyptischen Krisenerfahrungen bittet der Prälat schließlich Gott, um das notwendige „Rüstzeug“ 101 , diese „schier übermenschliche Arbeitskraft“ 102 aufbringen zu können. Am nötigen Gott- und vielleicht auch Selbstvertrauen für die Aufgaben als Prälat scheint es Diehl also nicht gefehlt zu haben. Schon bei seiner ersten Predigt im höchsten geistlich leitenden Amt der hessischen Kirche betonte Diehl die historischen Ursprünge der Landeskirche in der Reformationszeit und die aus seiner Sicht herausragende Bedeutung Landgraf Philipps des Großmütigen. 103 In den ersten Jahren seiner Amtszeit wurde dann, wie Steitz betont, „fast jedes Jahr ein Reformationsjubiläum“ 104 begangen, das Diehl jeweils unermüdlich mit Vorträgen und Veröffentlichungen begleitete. Nun umfasste die Landgrafschaft Hessen, über die Philipp I. im 16. Jahrhundert geherrscht hatte, weit mehr Territorien als es die Landeskirche Hessen zur Zeit Wilhelm Diehls tat. Die aufkommenden Fusionsbestrebungen innerhalb der fünf „hessischen“ Landeskirchen fanden wohl auch aus diesem Grund im hessischen Prälaten einen ihrer stärksten Fürsprecher. In seiner Leitungsfunktion war er von Beginn an Teilnehmer der Marburger Konferenz und fungierte 1928/ 29 sogar als Vorsitzender des Fünferausschusses. 105 Diehl blieb dabei, anders als der spätere nassauische Landesbischof August Kortheuer von der schnellen Durchsetzbarkeit der hessischen Kirchenfusion überzeugt. In einem Brief an die Theologin Carola Barth 106 , mit der Diehl seit der gemeinsamen Arbeit im Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss eine enge Freundschaft verband, betonte der Prälat: „Er [Kortheuer] wünscht nur, dass die Vereinigung erst in vier Jahren kommt. Er will dann abgehen. Ich glaube aber, dass er sich täuscht. Die Sache wird wesentlich früher zum Klappen kommen.“ 107 100 Das Wort des ersten von dem hessischen Landeskirchentag gewählten Prälaten Wilhelm Diehl an die Gemeinden (Verordnungsblatt für die Evangelische Landeskirche in Hessen Nr. 11, 21.06.1923), Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 55. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Vgl. Lück, Diehl, 123 f. 104 Steitz, Geschichte, 473. 105 Der Fünferausschuss fungierte zwischen Oktober 1928 und Mai 1929 als führende Arbeitsgruppe der Marburger Konferenz, vgl. Parker, Marburger, 26-39. 106 Carola Barth (1879-1959): Evangelische (liberale) Theologin und Lehrerin. In der Weimarer Republik Mitglied der DDP, nach 1945 Mitbegründerin der CDU, zur Biographie vgl. auch Henze, Dagmar: Carola Barth (1879-1959). Karriere zwischen Engagement und Anpassung, in: Pithan, Annebelle (Hg.): Religionspädagoginnen des 20. Jahrhunderts. Göttingen 1997, 40-53. 107 Diehl, Wilhelm: Schreiben an Carola Barth vom 19. Dezember 1928, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 59. Nun sollte sich Diehl selbst an dieser Stelle täuschen. Die Verhandlungen gerieten mehr und mehr ins Stocken. Erst der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 sorgte für eine neue Dynamik in Bezug auf die Idee einer hessischen Großkirche. Diehl scheint sich zunächst um eine gewisse Nähe zu den Deutschen Christen bemüht zu haben, wenngleich er selbst nicht beitrat. 108 Er verfolgte dabei nach eigenen Angaben das Ziel, „möglichst viele vernünftige Menschen“ 109 zum DC-Beitritt zu bewegen, damit dort „keine Dummheiten gemacht werden.“ 110 Mit dieser im Nachhinein absurd erscheinenden Strategie war er zunächst durchaus erfolgreich. Die hessischen Abgesandten der Deutschen Christen stimmten im Sinne Diehls bei der Reichsbischofswahl im Frühsommer 1933 gegen den späteren Amtsträger Ludwig Müller für Friedrich von Bodelschwingh. 111 Auch das „kirchliche Ermächtigungsgesetz“ 112 vom 28. Juni 1933 bevollmächtigte zunächst den Prälaten selbst mit der Aufgabe eine Angleichung der hessischen Kirchenverfassung „an die Verfassung der kommenden Deutschen Evangelischen Kirche“ 113 vorzunehmen. Insbesondere die Fortsetzung der Marburger Konferenz mag für Diehl ein Beweggrund für sein weiteres kirchenpolitisches Vorgehen gewesen sein. Mit einem Verfassungsentwurf für die „großhessische Kirche“ reiste Diehl am 16. August mit einer Gesandtschaft nach Berlin, um den Entwurf dem nationalsozialistischen Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium August Jäger vorzulegen. 114 Ergebnis dieses Treffens, das - vermutlich auch auf Initiative Diehls 115 - ohne Beteiligung der rechtmäßigen Kirchenleitungen aus Hessen-Kassel und Nassau stattfand, war schließlich ein von Jäger vorgelegter Verfassungsentwurf, der das Führerprinzip zur Strukturgrundlage der neuen Landeskirche erhob. 116 Diehl verpflichtete sich ohne Rücksprache mit Darmstadt dazu, diese Verfassung in der hessischen Synode durchzusetzen. 117 Auch wenn es in der Darmstädter Synode dann bei der Durchsetzung durchaus zu Verzögerungen kam und Diehl selbst ein Verord- 108 Seinen Nichtbeitritt begründete Diehl in einem Brief an Carola Barth: „Ich selbst kann freilich nicht eintreten, nachdem in den früheren Richtlinien gestanden hatte, daß nur der Führer werden könne, der der Glaubensbewegung als Mitglied angehören würde. Ich hätte es als eine Selbsterniedrigung angesehen, wäre ich nach solchen Verlautbarungen Mitglied geworden“, Diehl, Wilhelm: Schreiben an Carola Barth vom 30.05.1933, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 149. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd., vgl auch Lück, Diehl, 142. 112 Vgl. Steitz, Geschichte, 537. 113 Ebd. 114 Vgl. Lück, Diehl 145 f. 115 Ebd. 116 Ebd., vgl. auch Parker, Marburger, 70 f. 117 Parker, Marburger, 71. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 47 48 Julia Csehan / Malte Dücker nungsblatt verantwortete, das der Verfassung nur „unter Vorbehalt“ einer Prüfung durch die DEK zustimmte 118 , wurde die neue Verfassung am 16. November 1933 auch in der hessischen Kirche per Verordnung in Kraft gesetzt. Diehls Rolle bei diesem Übergang ist durchaus problematisch. 119 Auch wenn er in Briefen persönliche Motive vehement zurückweist 120 , fällt es doch schwer, ein persönliches Interesse Diehls am Bischofsamt in der von ihm so lange herbeigesehnten großhessischen Kirche gänzlich von der Hand zu weisen. Dass im „Kampf wegen des Landesbischofs“ 121 - trotz offensichtlicher Unterstützung für den bisherigen hessischen Prälaten innerhalb der neu konstituierten nassau-hessischen Synode 122 - immer wieder Gegenkandidaten auftauchten, scheint diesem überhaupt nicht gefallen zu haben. 123 Endgültig zerschlagen wurden Diehls Hoffnungen, das Leitungsamt der neuen Landeskirche übernehmen zu können, mit der Ernennung Ernst Ludwig Dietrichs zum Landesbischof am 6. Februar 1934. Die „Beurlaubung“ des Prälaten folgte zwei Tage später. 124 Seine Verbitterung wird in einem kurz darauf formulierten Brief an wiederum Carola Barth deutlich: Wie Sie wissen, habe ich mich dazu hergegeben, mit einem anderen zusammen zu kandidieren, nachdem mir ehrenwörtlich versichert worden war, daß dieser andere nur aus formalen Gründen aufgestellt worden sei und unter allen Umständen zurücktreten werde. […] Das Ende vom Lied war, daß Sprenger das Placet zurückzog, und zwar mit der Begründung, daß ich Unruhen gestiftet habe […]. Das ist natürlich nicht richtig, denn bei uns herrscht absolute Ruhe; 99 % der Pfarrer waren für mich und gegen Dietrich und die Bevölkerung stand geschlossen hinter mir. Das wirkliche Motiv ist darin zu suchen, daß ich nicht Pg [Parteigenosse] bin. 125 An dieser Äußerung sind mehrere Dinge bemerkenswert. Es sind nicht moralische oder politische Bedenken, die Diehl gegen den neuen Bischof und die gleichgeschaltete Kirche vorbringt, sondern schlicht der Vorwurf parteipolitischer Vetternwirtschaft. Selbst einer solch autoritären Kirche als gewisserma- 118 Vgl. Steitz, Geschichte, 541-548. 119 Karl Herbert spricht von „Ungereimtheiten“, vgl. Herbert, Durch Höhen, 65. 120 Etwa Brief an Carola Barth vom 23.09.1933, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 150. 121 Ebd. 122 Vgl. Steitz, Geschichte, 555 f. 123 Vgl. Diehl, Wilhelm: Briefe an Carola Barth vom 23. September sowie vom 23. Dezember 1933, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 150. 124 Vgl. Geißler, Hermann Otto: Ernst Ludwig Dietrich (1897-1974). Ein liberaler Theologe in der Entscheidung. Darmstadt 2012, 120. 125 Diehl, Wilhelm: Brief an Carola Barth vom 15.02.1934, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 150. ßen „Kirchen-Führer“ vorzustehen, scheint für ihn bis zuletzt eine realistische Vorstellung geblieben zu sein. Und auch wenn sich der abgesetzte Prälat in diesem Fall auf eine Mehrheit beruft, scheute er sich offenbar nicht, seinen Führungsanspruch gegen demokratische Prinzipien auf Grundlage von „Ehrenworten“ und Ernennung „von oben“ (durch den Reichsbischof) durchzusetzen. Dieses Verfahren entsprach der neuen Verfassung, doch hatte Diehl selbst zu deren Durchsetzung beigetragen. Nach seiner Absetzung widmete sich der ehemalige Professor wieder verstärkt seiner großen Passion, der regionalen Kirchengeschichtsforschung. Auch wenn diese Lebensleistung im Rahmen dieses Aufsatzes nicht entsprechend gewürdigt werden kann, sei doch nicht ganz unterschlagen, dass Diehl zwischen 1921 und 1942 immerhin 11 Bände 126 seines Hauptwerks, der Hassia Sacra, herausbrachte und damit einen wichtigen Beitrag zur hessischen Kirchengeschichtsforschung seiner Zeit leistete. 127 All dieses Engagement für die Wissenschaft lässt schnell das Bild eines etwas entrückten Gelehrten entstehen. Diehls Biographen werden allerdings nicht müde zu betonen, dass Diehl mit seinem Humor und der besonderen Liebe zur hessischen Mundart, die Bodenständigkeit nicht verlorengegangen sei. 128 Letztlich eine vielleicht trügerische Volksnähe, die ihn sich der Illusion hat hingeben lassen, die 1933 an die Macht drängenden Nationalsozialisten für seine kirchenpolitischen Ziele nutzen zu können. Wilhelm Diehl starb in der Nacht zum 12. September 1944 bei der Zerstörung Darmstadts durch alliierte Bombenangriffe. 3.1.3. Politisches Profil: Abgeordneter, Regionalist, einsamer Entscheider Versucht man nun dieses Biogramm zu einem politischen Profil zu verdichten, lässt sich dies im Falle von Wilhelm Diehl auf verschiedenen Ebenen tun. Naheliegend scheint es, zunächst auf die bisher noch verschwiegene Tätigkeit des Prälaten als Abgeordneter im Landtag des Volksstaats Hessen zu verweisen. Schon seit 1919 hatte Diehl dort für den regionalen Ableger der Deutschnationalen Volkspartei einen Sitz inne. Diese „Hessische Volkspartei“ bildete gegen die Koalitionsregierung von SPD, DDP und Zentrum zunächst eine konservative Oppositionsfraktion. Die damit verbundene politische Selbstverortung Diehls hat in der biographischen Forschung durchaus für Irritationen gesorgt. Gerstenmaier spricht davon, dass es sich bei der Fraktionswahl Diehls um mehr oder weniger Zufall gehandelt habe 129 . Lück gibt hingegen zu bedenken, dass sich der aus bäuerlich-kleingewerblichen Verhältnissen stammende Diehl mit den politi- 126 Der 12. Band erschien posthum. 127 Diehl, Wilhelm: Hassia Sacra, 12 Bde. Friedberg (Bd. 1) und Darmstadt 1921-1951. 128 Zu Auftreten und persönlichem Erscheinungsbild vgl. Lück, Diehl, 72-80. 129 Gerstenmaier, Diehl, 94 f. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 49 50 Julia Csehan / Malte Dücker schen Forderungen der Hessischen Volkspartei - wenigstens in Teilen - durchaus auch politisch identifiziert haben mag. 130 Dazu zählt für Lück auch ein wohl ernstgemeinter hessischer Lokalpatriotismus, der dazu geführt habe, dass „weniger Deutschland […] eine politische Projektionsfläche für Diehl gewesen“ sei, „sondern vielmehr sein Land Hessen in den Grenzen, in denen es zur Zeit der Reformation von Landgraf Philipp dem Großmütigen beherrscht worden war.“ 131 Diehls Verhältnis zu außerordentlich problematischen Programmpunkten der DNVP - wie dem latenten Antisemitismus - ist bisher nicht abschließend geklärt. 132 Man kann das Engagement Diehls im Landtag freilich im Kontext der schon zu Beginn angesprochenen parteipolitischen Heimatlosigkeit des „deutschen Protestantismus“ betrachten. Diese Deutung legt eine interne Verlautbarung des Oberkonsistoriums der hessischen Landeskirche aus dem Dezember 1919 nahe, in dem Strategien entwickelt werden, um den politischen Einfluss der Kirche auch vor dem Hintergrund zu sichern, dass in der demokratischen Verfassung des Volksstaates Hessen nach 1919 kein ständiger Kirchenvertreter mehr im Parlament vorgesehen war. 133 Der Gang Wilhelm Diehls in das politische Tagesgeschehen der Weimarer Republik war also durchaus auch aus dem Motiv geschehen, verlorene Privilegien aus dem Kaiserreich mit den nun einmal vorgegebenen Mitteln der parlamentarischen Demokratie auszugleichen. In Diehl einen überzeugten Demokraten erkennen zu wollen, ist problematisch. Zwar hat der Prälat als „Brückenbauer“ 134 durchaus ungewöhnliche Allianzen nicht gescheut und sich etwa über die Beiträge des „sozialdemokratische[n] Staatspräsident[en] und [des] sozialdemokratische[n] Innenminister[s]“ in der Festschrift anlässlich seines 60. Geburtstags wohl besonders gefreut 135 , doch lassen sich bei Diehl auch mehrere republikskeptische Äußerungen ausfindig machen. 136 Insbesondere das demokratische Ringen um die richtige Position scheint ihm häufig zu wenig sachorientiert geschehen zu sein: „Es gibt in Deutschland sehr, sehr wenige sachliche Menschen, dafür unzählige viele Ichmenschen. Am besten lässt man von der Politik die Finger.“ 137 1933 hat sich der hessische Prälat - wie so viele der im Kaiserreich sozialisierten Eliten - nicht zum offenen Protest gegen das neue Regime durchringen kön- 130 Lück, Diehl, 184. 131 Vgl. ebd. 132 Ebd., 185 f. 133 Interner Entwurf einer Verlautbarung des Oberkonsistoriums „Noch nicht für die Öffentlichkeit“, in: Kätsch / Sterik, Diehl, 52. 134 Lück, Diehl,168. 135 24.12.1930, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 148. 136 Belegt bei Gerstenmaier, Diehl, 95. 137 Diehl, Wilhelm: Brief an Carola Barth vom 29.10.1929, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 148. nen, sondern vielmehr das Bündnis mit den Deutschen Christen gesucht - auch um seine kirchenpolitische Machtstellung zu verteidigen. Wohlmeinend könnte man auch darin den Versuch eines volksnahen Pragmatikers erkennen wollen, sich den veränderten politischen Rahmenbedingungen - vielleicht sogar im Sinne seiner Kirche - anzupassen. Sein konkretes Vorgehen im Ringen um die Großhessische Kirche und ihre Verfassung wirft aber auch einen Schatten auf das kirchenleitende Handeln des Prälaten. Die synodale Ordnung von 1922 hat er für die Vision einer hessischen Kirchenfusion ohne große Not gegen eine autoritäre Verfassung eingetauscht. Diehls vielzitierte Äußerung gegenüber Gerstenmaier „Was wollen Sie mit der Verfassung? Das ist doch alles egal, was da drin steht. Ich bin es doch, der sie auszuführen hat, und Sie kennen mich doch“ 138 offenbart ein Konzept von Politik, das nicht den demokratischen Diskurs schätzt, sondern die Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen zum Ideal der politischen Souveränität erklärt. Letztlich wird Wilhelm Diehl nicht zum Landesbischof, der die Verfassung ausführt, sondern zum „beurlaubten“ Prälaten, der mit Hilfe derselben abgesetzt wird. Das autoritäre System, das er auf diese Weise selbst mit heraufbeschworen hatte, wandte sich gegen ihn. Seine Entmachtung und sein Scheitern als Kirchenleiter scheinen damit - zumindest retrospektiv - nur folgerichtig. Die Evangelische Kirche in Hessen, die sich als „politische Kirche“ nach Ende des Summepiskopats - vielleicht auch mangels Alternativen - den neuen politischen Gegebenheiten der jungen deutschen Demokratie anpasste, sich eine synodale Verfassung gab und den Weg ins Parlament des Volksstaats suchte, begleitete die politische Neuorientierung Deutschlands nach 1933 ohne größere Widerstände. Für die von ihrer Leitung kirchenpolitisch angestrebte Fusion mit Frankfurt und Nassau, wurde der Preis von Gleichschaltung und einer autoritären Verfassungsstruktur in Kauf genommen. Mit der Anbindung der Evangelischen Kirche Nassau-Hessen an die Reichskirche ging schließlich die eigene kirchenpolitische Souveränität verloren. 3.2. August Kortheuer (1868-1963) - Landesbischof der Evangelischen Kirche in Nassau 3.2.1. Einleitendes Die Rezeption August Kortheuers, der von 1925 bis 1933 als Landesbischof in Nassau amtierte, steht innerhalb der EKHN durchaus im Schatten des als gewissermaßen verfrühten Gründervater interpretierten Wilhelm Diehl. Selbst Biograph Reiner Braun gibt zu bedenken, dass sich die überregionale historische Bedeutung Kortheuers, wenn überhaupt, dann mit den Umständen seiner 138 Gerstenmaier, Diehl, 221. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 51 52 Julia Csehan / Malte Dücker Absetzung im September 1933 begründen lässt. 139 Sein Porträt lässt dabei einen Mann mit spitzem Bart und wuchtigem Bischofskreuz erkennen, der das Bedürfnis nach amtsgemäßer Repräsentation auch nach Ende des Kaiserreichs nicht hinter sich lassen wollte. Landesbischof August Kortheuer (Bild: Zentralarchiv der EKHN) Die zitierte Dissertation von Reiner Braun stellt die umfangreichste Biographie Kortheuers dar, die auf einer breiten Quellenbasis erarbeitet wurde und sich sowohl mit Kortheuer als Theologen und Gemeindepfarrer als auch mit seiner Zeit als Landesbischof auseinandersetzt. 140 Da es bislang an weiteren Untersuchungen fehlt, bildet Brauns Darstellung auch eine zentrale Grundlage des nachfolgenden Biogramms. Darüber hinaus werden einzelne edierte Predigt- und Erinnerungstexte aus Kortheuers eigner Hand als ergänzende Quellengrundlage berücksichtigt. 3.2.2. Biogramm: Feldprediger, Missionar, Landesbischof Als gebürtiger Wiesbadener kam August Kortheuer am 3. Januar 1868 bereits als Preuße zur Welt. 141 Weniger das 1866 untergegangene Herzogtum Nassau als das Königreich Preußen bildeten zeitlebens den patriotischen Bezugspunkt des späteren Landesbischofs, was nicht zuletzt mit der Herkunft seines Vaters aus der seit dem Wiener Kongress preußischen Garnisonsstadt Koblenz zusammenhängen mag. 142 Dieser ebenfalls auf den Namen August hörende Kortheuer Senior betrieb in der Stadt Wiesbaden ein Kolonialwarengeschäft und ermöglichte seinem Sohn über das humanistische Gymnasium und unterstützende Privatlehrer den Weg zum Theologiestudium. Auch die von der Erweckungsbewegung geprägte Frömmigkeit der Familie Kortheuer mag zur Studienwahl des Sohnes beigetragen haben. 143 Ab 1887 besuchte er die Universitäten in Greifswald, Halle und Marburg. 144 Er hörte bei Carl Mirbt 145 und Wilhelm Herrmann. 146 139 Vgl. Braun, Reiner: August Kortheuer. Evangelischer Pfarrer und Landesbischof in Nassau 1893-1933 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. 4). Darmstadt 2000, 452. 140 Ebd. 141 Vgl. ebd. 19. 142 Vgl. ebd., 21. 143 Ebd., 22. 144 Vgl. ebd., 23-32. 145 Carl Mirbt (1860-1929), evangelischer Kirchenhistoriker, ab 1890 Professor an der Universität Marburg, ab 1912 in Göttingen; Engagement für die Mission in den deutschen Kolonien, 1918 Gründer der „Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft“, vgl. Schieffer, Rudolf: Art. Mirbt, Carl, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 17. Berlin 1994, 557. 146 Johann Georg Wilhelm Herrmann (1846-1922), evangelischer Theologe, Schüler von Ernst Ritschel, ab 1879 Professor für Systematische Theologie an der Universität Marburg, wichtiger Impulsgeber für Barth und Bultmann, vgl. Ott, Günther: Art. Herrmann, Johann Georg Wilhelm, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 8. Berlin 1969, 691-692. Insbesondere dem Neutestamentler Erich Haupt 147 wird dabei ein bleibender theologischer Einfluss auf den jungen Theologen zugeschrieben. 148 Nach dem Vikariat wirkte Kortheuer als Gemeindepfarrer zunächst in Eibelshausen, in der Nähe von Dillenburg, später in Hochheim und Flörsheim am Main. 1911 zog er zurück in seine Geburtsstadt Wiesbaden, um dort an der gerade erst eingeweihten Lutherkirche eine Pfarrstelle anzutreten. Der Erste Weltkrieg, den er als „Erweckungserlebnis“ 149 bezeichnete, war nicht nur Gegenstand zahlreicher Predigten, die Kortheuer als Pfarrer in Wiesbaden hielt. Bereits im Oktober 1914 meldete er sich freiwillig als Feldgeistlicher für den Einsatz an der französischen Westfront. Seine Erlebnisse verarbeitete er in einem Tagebuch, das später unter dem Titel „Erlebnisse eines freiwilligen Feldgeistlichen“ veröffentlicht werden sollte. 150 Wie für viele Theologen seiner Zeit war der Krieg auch für Kortheuer ein Ereignis von heilsgeschichtlicher Bedeutung, das er zunächst als göttliches Gericht über die als Kriegsverursacher verstandenen Alliierten interpretierte. Der Krieg sei zudem eine Bewährungsprobe, die den einzelnen Soldaten unmittelbare Gottesbegegnungen ermögliche. In seinem Kriegsbericht schrieb Kortheuer: „Nie habe ich mit solcher Freudigkeit gepredigt, wie in diesen Feldgottesdiensten, und ich predige doch immer gern. Aber man wird hier mitgerissen von dem elementaren Drang, mit dem Offiziere und Mannschaften nach dem lebendigen Gott fragen.“ 151 Die seelsorgliche Herausforderung als Feldprediger scheint für Kortheuer durchaus erfüllend gewesen zu sein. Seine Aufzeichnungen und Predigten aus der Kriegszeit zeugen insgesamt allerdings weniger von einer konsistenten Theologie, als - gerade im Hinblick auf das Kriegsende - vielmehr von typischen und wirkmächtigen Deutungsmustern auch kirchlicher Eliten, die 1918 die militärische Niederlage des Deutschen Reichs dem sogenannten „Dolchstoß“ vermeintlicher „Landesverräter“ aus den eigenen Reihen anzukreiden versuchten. 152 Insgesamt bilden Kortheuers Kriegspredigten aus heutiger Sicht angesichts ihres ausgezeichne- 147 Erich Haupt (1841-1910), evangelischer Theologe, Professor für Neues Testament in Kiel, Greifswald und Halle, betonte als theologische Gegenposition zur religionsgeschichtlichen Schule das „Ewige“ der hl. Schrift, kirchenpolitische Aktivität in der „Evangelischen Vereinigung“, vgl. Stephan, Christian: Erich Haupt (1841-1910), in: Ders. (Hg.): Die stumme Fakultät. Biographische Beiträge zur Geschichte der Theologischen Fakultät der Universität Halle. Halle 2005, 111-114. 148 Braun, Kortheuer, 32. 149 Ebd., 89. 150 Kortheuer, August: Erlebnisse eines freiwilligen Feldgeistlichen, 7 Bde. Herborn 1916- 1925. 151 Kortheuer, Erlebnisse, Bd. 1, 47 f. 152 Vgl. Hofmann, Andrea: „Jesus im Schützengraben“. Kriegspredigten in Nachlässen pfälzischer und hessischer Pfarrer, in: Arnold, Mathieu / Dingel, Irene (Hg.): Predigt im Ersten Weltkrieg. La prédication durant la „Grande Guerre“. Göttingen 2017, 41. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 53 54 Julia Csehan / Malte Dücker Landesbischof August Kortheuer (Bild: EKHN) ten, seriellen Überlieferungszustands vor allem einen ertragreichen Quellenkorpus, der von der historischen Predigtforschung durchaus nicht unentdeckt geblieben ist. 153 Nach Kriegsende kehrte Kortheuer am 15. November 1918 an die Lutherkirche in Wiesbaden zurück. Sein Engagement als Feldprediger erwies sich in Kombination mit seinen Aktivitäten in verschiedenen kirchlichen Vereinen als solide Grundlage, um von nun an innerhalb des nassauischen Konsistorialbezirks in gehobeneren Positionen kirchenpolitisch aktiv zu werden. 154 Im Mai 1919 wurde Kortheuer als „Mann von großer Frische“ und einer der „geschätztesten Kanzelredner[n] der Stadt“ 155 Wiesbaden zum Konsistorialrat ernannt. Als Mitglied des Konsistoriums in Wiesbaden beteiligte er sich fortan an der Ausarbeitung der neuen Kirchenverfassung, daneben fungierte er ab 1922 als Vorsitzender des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau und ab 1923 als Vorsitzender des entsprechenden Landesverbandes. Diese von Kortheuer mit Verweis auf den Begründer der Inneren Mission Johann Hinrich Wichern 156 definierte „Arbeit des heilerfüllten Volkes am heillosen Volk“ 157 mochte durch das Erweckungsbewegungen nahestehende Elternhaus geprägt worden sein, sollte ihm aber auch die auf Wilhelm Diehl zurückgehende Titulierung als „Missionshuber“ einbringen. 158 Jedenfalls blieb er dieser theologischen Heimat auch verbunden, nachdem er am 19. März 1925 schließlich zum Landesbischof von Nassau gewählt worden war. Die Wahl erfolgte einstimmig, auch da sich auf Seiten der „rechten“ Mehrheit innerhalb der Synode, der auch Kortheuer angehörte, keine anderen aussichtsreichen Kandidaten positioniert hatten. 159 Biograph Reiner Braun strukturiert die Amtszeit des Landesbischofs in drei Zeitabschnitte: Bis 1927 war Kortheuer hauptsächlich mit dem Aufbau der Landeskirche im Kontext ihrer neuen Verfassung beschäftigt und mühte sich um Kontakt zu den jeweiligen Ortsgemeinden. Zwischen den Landeskirchentagen 1927 und 1929 erarbeitete der Landesbischof verschiedene Initiativen zur Refor- 153 Vgl. ebd., 31-44. 154 Vgl. Braun, Kortheuer, 119 f. 155 Erklärung von Konsistorialrat Ernst an das Ministerium vom 22.05.1919, abgedruckt in: Braun, Kortheuer, 119. 156 Johann Hinrich Wichern (1808-1881): Gründer der Inneren Mission und des Rauen Hauses in Hamburg, vgl. Kaiser, Jochen-Christoph: Art. Wichern, in: RGG 4 8 (2005), Sp. 1511- 1514. 157 Vgl. Kortheuer, August: Predigt zur 75 Jahrfeier des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau, Wiesbaden, Lutherkirche, 8. November 1925, in: Ders: Von Festen und Feiern. Predigten und Ansprachen aus der Endzeit der Nassauischen Landeskirche. Wiesbaden 1934, 11. 158 Vgl. Braun, Kortheuer, 441. 159 Vgl. ebd., 152 f. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 55 56 Julia Csehan / Malte Dücker mierung von Liturgie und insbesondere kirchlicher Jugendarbeit. Danach blieb auch für Kortheuer die Frage nach der möglichen Gründung einer großhessischen Kirche eine zentrale Herausforderung seiner kirchenpolitischen Tätigkeit. Dabei gehörte der Landesbischof von Nassau allerdings nicht zu den treibenden Kräften einer Einigung, sondern übernahm eine ambivalente, insgesamt eher zögerliche und bremsende Rolle. 160 Weniger die großhessische Perspektive, als die Orientierung an der Kirche der altpreußischen Union galt dem gebürtigen Preußen dabei als Zielvorgabe. 161 Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler betonte Kortheuer zunächst die Bedeutung der staatlichen Unabhängigkeit der evangelischen Landeskirchen 162 , doch bewahrte ihn dies nicht davor, sich an anderer Stelle explizit zum Führer zu bekennen 163 oder etwa im Mai 1933 den „Wiederaufbau deutscher Kraft, deutscher Ehre und deutschen Glücks“ 164 durch die Nationalsozialisten öffentlich zu rühmen. Ähnlich wie Wilhelm Diehl suchte auch Kortheuer zunächst die Kooperation mit den Deutschen Christen. Dass diese Zusammenarbeit schließlich scheiterte, mag vor allem der persönlichen Auseinandersetzung des nassauischen Landesbischofs mit dem vorrübergehenden Staatskommissar der preußischen Kirchen August Jäger zuzuschreiben sein. Jäger stammte selbst aus dem nassauischen Diez, sein Vater wirkte als Generalsuperintendent in Nassau und war Kortheuers Amtsvorgänger als Vorsitzender des Vereins für innere Mission. Dabei blieb er bis zu seinem Tod dem nassauischen Landesbischof persönlich eng verbunden. 165 In der Gleichschaltungspolitik des Sohnes sah Kortheuer allerdings eine Verletzung des Neutralitätsprinzips des Staates und protestierte dagegen im Juni 1933 schriftlich, wenngleich erfolglos. 166 Auch in die Maßnahmen Jägers zur Gründung der großhessischen Kirche wurde Kortheuer - anders als Wilhelm Diehl - nicht einbezogen. Die Einberufung des nassauischen Landeskirchentages für den 12. September 1933, der das Einführungsgesetz der neuen Verfassung beschließen sollte, geschah nur auf besonderen Druck August Jägers und gegen den Willen des nassauischen Landesbischofs. 167 Dass Kortheuer für die betreffende Landessynode dennoch eine ausführliche Rede vorbereitet hatte, erklärt Braun mit der kirchenpolitischen Zielsetzung des Landesbischofs, für die in seinen Augen weiterhin zu bevorzugende Variante 160 Vgl. ebd., 293 f. 161 Vgl. ebd., 431. 162 Vgl. Scholder, Kirche, Bd. 1, 297. 163 Vgl. Braun, Kortheuer, 427 f. 164 Korthheuer, August: Rede zur 25-Jahrfeier der Erlöserkirche in Bad Homburg, 14. Mai 1933, in: Ders: Von Festen und Feiern, 50. 165 Vgl. Braun, Kortheuer, 337. 166 Ebd., 361. 167 Vgl. ebd., 390. eines Anschlusses an die altpreußische Kirche zu werben und sich selbst für den Posten eines Bevollmächtigten zur Durchsetzung der neuen Verfassung in Stellung zu bringen. 168 Halten sollte Kortheuer diese Rede freilich nicht mehr. Die Situation zwischen ihm und August Jäger eskalierte im unmittelbaren Vorfeld dieses Landeskirchentags wohl nicht nur aus politischen Beweggründen Jägers, sondern beinhaltete auch eine persönliche Komponente: Als Jäger den Bischof am Vortag der Verfassungsabstimmung noch einmal in dessen Dienstzimmer aufsuchte, beschuldigte er diesen, ihn wegen seiner Ehescheidung an höchster Stelle verleumdet zu haben. 169 Mit der Drohung, Kortheuer könne froh sein „nicht sofort in ein Konzentrationslager“ 170 gesperrt zu werden, forderte Jäger ihn auf, sofort ein Urlaubsgesuch einzureichen. Mit dem Hinweis „nur der Gewalt“ zu weichen 171 , gab Kortheuer dem Druck nach und erschien infolgedessen am kommenden Tag auch nicht auf dem Landeskirchentag. Dort wurde schließlich die sofortige Versetzung des Landesbischofs in den Ruhestand beschlossen und der neuen Verfassung und der Gründung der EKNH zugestimmt. Mehrere Protestschreiben Kortheuers (u. a. an Reichsbischof Müller) und juristische Schritte blieben erfolglos. Im Februar 1934 veröffentlichte der pensionierte Landesbischof schließlich einen publizistischen „Abschiedsgruß“ an die Gemeinden der ehemaligen nassauischen Landeskirche. 172 Darin beklagte er noch einmal seine „ohne Angabe von Gründen mit sofortiger Wirkung“ 173 vollzogene Zwangspensionierung und äußerte erneut sein Bedauern, dass es nicht zu einem Anschluss Nassaus an die altpreußische Kirche gekommen sei. 174 Nach seiner Absetzung blieb Kortheuer weiterhin Vorsitzender des Vereins für Innere Mission in Nassau - zwischen 1948 und 1959 dann innerhalb der EKHN - und übernahm nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs übergangsweise wieder den Vorsitz der vorläufigen Kirchenleitung in Wiesbaden, den er auf der Synode in Friedberg 1947 schließlich endgültig in die Obhut der EKHN übergeben sollte. Im hohen Alten von 95 Jahren starb der ehemalige Landesbischof von Nassau 1963 in Königsfeld im Schwarzwald und wurde in seiner Heimatstadt Wiesbaden beigesetzt. 168 Ebd., 394-396. 169 Ebd., 399. 170 Zitiert nach ebd., 400. 171 Zitiert nach ebd., 401. 172 Kortheuer, August: Von Festen und Feiern. Predigten und Ansprachen aus der Endzeit der nassauischen Landeskirche, Wiesbaden 1934. 173 Ebd., 5. 174 Ebd. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 57 58 Julia Csehan / Malte Dücker 3.2.3. Politisches Profil: Konservativer Theologe, autoritärer Bischof, überparteilicher Vermittler Versucht man ein politisches Profil für August Kortheuers zu entwickeln, mag man zunächst den konservativen Theologen erkennen. Seine eigene Zugehörigkeit zur kirchenpolitischen Rechten und sein Engagement in der kirchlich-positiven Vereinigung in Wiesbaden, die sich als Gegengewicht zur liberalen Theologie formiert hatte 175 , schlossen aber nicht aus, dass er sich als Landesbischof zugleich intensiv darum bemühte, zwischen abweichenden kirchenpolitischen Positionen zu vermitteln. 176 Dies hat Kortheuer etwa seitens des späteren Landesbischofs Ernst Ludwig Dietrich die abwertende Charakterisierung als „typischen Kompromißler“ 177 eingebracht. Ihm infolgedessen demokratische Tugenden zuzuschreiben, wäre an dieser Stelle allerdings abwegig. In vielerlei Hinsicht scheint der Landesbischof von Nassau ein typischer Vertreter der strukturkonservativen, protestantischen Eliten seiner Zeit gewesen zu sein, die das Ende der Monarchie bedauerten, sich in der Folgezeit zwar mit der Demokratie weitgehend arrangierten, - im Kern aber stets kaisertreu - schließlich nicht zu ihrer Verteidigung bereit waren. Als im Kaiserreich aufgewachsener Preuße blieb ihm der „Parlamentarismus“ der Weimarer Republik zeitlebens ein Dorn im Auge. Es war dementsprechend auch nicht die Einführung des Führerprinzips in die Verfassung der Evangelischen Kirche von Nassau-Hessen, die zum Konflikt mit August Jäger und schließlich zu Kortheuers Zwangspensionierung führte. Er selbst hatte ein betont episkopales Modell der Kirchenleitung innerhalb der nassauischen Landeskirche mitentwickelt 178 und führte dieses Amt laut Reiner Braun im Umgang mit einzelnen Gemeindemitgliedern und Pfarrern „autoritär und geradezu patriarchalisch“ 179 aus. Kortheuers Abneigung gegen die politische und persönliche Radikalität Jägers und seine Ablehnung der hessischen Kirchenvereinigung verhinderten vielleicht ein mögliches Bündnis mit den Deutschen Christen. Anders als Wilhelm Diehl gehörte Kortheuer aber ohnehin nie einer politischen Partei an. Sein Grundsatz „Die Kirche steht über den Parteien“ 180 widersprach einer allzu engen Bindung an die demokratische Ordnung der Weimarer Republik, später aber auch an den Nationalsozialismus. Vielleicht wird an diesem Punkt einmal mehr der im Wilhelminismus sozialisierte Preuße sichtbar, dessen episkopal-patriarchalischer Führungsstil einer monarchischen Grundgesinnung entstammen mag, die etwas über den Dingen 175 Vgl. Jung, Protestantismus, 59 f. 176 Vgl. ebd. 177 Zitiert nach Braun, Kortheuer, 438. 178 Als einzige der drei EKHN-Vorgängerkirchen nutzte Nassau den Titel „Bischof “. 179 Braun, Kortheuer, 447. 180 Zitiert nach Braun, Kortheuer, 451. zu stehen glaubte. Letztlich hat es Kortheuer nicht konsequent genug vermocht, den Herausforderungen der Weimarer Republik auf demokratischem Wege zu begegnen. Die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche beschränkte sich für ihn auf das sozial-karitative und missionarische Engagement der Inneren Mission. Dieser tendenziell eher an der vordemokratischen Vergangenheit orientierte Führungsstil hat dafür gesorgt, dass Kortheuer in der regionalen Erinnerungskultur der gegenwärtigen Landeskirche kaum als „Wegbereiter der EKHN“ verstanden wird, sondern eher als „letzter Bischof “ (bzw. Generalsuperintendent) Nassaus. 181 Vielleicht würde dies anders aussehen, hätte 1948 nicht auch Kortheuers fortgeschrittenes Alter seine Chancen auf das Kirchenpräsidentenamt der EKHN zunichte gemacht. 182 Die Frage nach der historischen Wirkung des nassauischen Landesbischofs auf die spätere hessisch-nassauische Landeskirche lohnt in jeden Fall eine weiterführende Untersuchung. 3.3. Wilhelm Bornemann (1858-1946) - Vorsitzender der Landeskirchenversammlung Frankfurt am Main 3.3.1. Einleitendes- Anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Wilhelm Bornemann druckte die Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 2. März 1928 ein Porträt des Jubilars mit entsprechender Würdigung von Hermann Dechent ab. Darauf zu sehen ist ein Mannmit hochgeschlossenem Kragen und Querbinder. Mit großem Kopf und tiefen Augenhöhlen, die Stirn leicht in Falten gelegt, blickt er etwas streng in die Kamera und schaut genau so aus, wie man sich einen Gelehrten zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorstellt. Die zu beobachtende Strenge scheint jedoch nur ein Teil seines Charakters gewesen zu sein, denn Bornemann beschreibt sich selbst als jemanden, zu dessen „Wesen auch die Empfänglichkeit für Heiteres gehört“ 183 . Zudem wird Bornemann in jener zum Foto gehörenden Würdigung 184 als besonnener und ruhiger Zeitgenosse beschrieben, der eher den Kompromiss suchte, statt sich einem Streit hinzugeben - aber auch als jemand, der sehr um- 181 Vgl. ebd., 454 f. 182 Vgl. dazu Brief von Georg Dahlem an Martin Schmidt, Vorsitzender des Verfassungsausschusses der EKHN vom 04.05.1948, zitiert nach: Borchmeyer, Doris: Die Bekennende Kirche und die Gründung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau - EKHN, Online-Publikation der Justus-Liebig-Universität Gießen 2011, 192, http: / / geb.uni-giessen. de/ geb/ volltexte/ 2011/ 8106/ (01.11.2018). 183 Bornemann, Wilhelm: Heitere Bilder aus Leben und Zeit, o. J. 184 R.: H. Dechent in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.03.1928, Universitätsarchiv Frankfurt, UAF, Abt. 14, Nr. 2696, Bl. 7. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 59 60 Julia Csehan / Malte Dücker triebig und tatkräftig war. Ein Mann der Mitte also, der stets um Vermittlung zwischen „Liberalen“ und „Positiven“ bemüht war. 185 Wilhelm Bornemann (Bild: Evang. Regionalverband Frankfurt a. M.) Zu einem ganz ähnlichen Urteil kommt auch Johannes Kübel. Dieser beschreibt seinen 15 Jahre älteren Freund als jemanden „der eine ungewöhnliche Arbeitskraft besaß, ruhig und besonnen schien, in der Synode zunächst zuhörte und erst gegen Schluss seine Meinung äußerte.“ Aufgrund des hohen Ansehens, welches er genoss, hätte seine Meinung häufig den Ausschlag gegeben. So hätten auch die Mitglieder anderer Gruppen Wert auf die Meinung eines Mannes gelegt, „der sein halbes Leben ausschließlich der Wissenschaft“ widmete. 186 Ungeachtet dessen mag Wilhelm Bornemann zu den heute eher unbekannteren Repräsentanten kirchenleitender Personen der Vorgängerkirchen der EKHN gehören. Darstellungen zu seinem Leben und Wirken liegen bisher nicht vor. Auch seine Autobiographie blieb fragmentarisch: Eher in Anekdoten und episodenhaft erzählt Bornemann in „Heitere Bilder aus Leben und Zeit“ Geschichten und Erlebnisse aus seinem Leben. In der Einleitung zu eben jenem Buch schrieb er, dass es ihm als eine Art Skizze zu einer möglichen Autobiographie dienen solle, sofern er noch dazu käme, sie zu schreiben. 187 Weil ihm dies nicht mehr gelungen ist, stützt sich das nachfolgende Biogramm auf einen Teil seines Nachlasses, der im Archiv der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt am Main verwaltet wird und auf eine von der Universität Marburg verantwortete Online-Zusammenfassung seiner Vita. 188 Zudem befindet sich eine weitere (Personal)-Akte im Universitätsarchiv der Goethe-Universität Frankfurt. Kürzere Anmerkungen können darüber hinaus in der Autobiographie von Johannes Kübel nachgelesen werden. 189 Um einen vertieften Einblick 185 Eine einheitliche Definition für die angeführten Begriffe zu gebrauchen ist problematisch, da sie bereits in der zeitgenössischen Literatur der 30er Jahre unterschiedlich verwendet wurden. Dennoch lässt sich die liberale Theologie als eine an der historisch-kritischen Bibelexegese Adolf von Harnacks orientierte Theologie verstehen, die starke Freiheitsansprüche des einzelnen proklamiert. Sie stand vor allem der dialektisch-theologischen Bewegung kritisch gegenüber. Die kirchlich-positive Richtung könnte als eine eher konservative, am Schriftprinzip orientierte Strömung verstanden werden. Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war der Apostolikumsstreit. Vgl. hierzu: Graf, Friedrich Wilhelm / Wolfes, Matthias / Schelander, Robert / Blaser, Klauspeter: Art. Liberale Theologie, in: RGG 2015, Onlineausgabe, sowie Assel, Heinrich: Art. Positive Theologie, in: RGG, Onlineausgabe. 186 Kübel, Erinnerungen, 76. 187 Bornemann, Wilhelm: Heitere Bilder aus Leben und Zeit. Frankfurt am Main 1932. 188 Vgl. Heinrich, Guido: Art. Bornemann, Friedrich Wilhelm Bernhard, in: Magdeburger Biographisches Lexikon, 2007, www.uni-magdeburg.de/ mbl/ Biografien/ 1796.htm (01.11.2018). 189 Kübel, Johannes: Erinnerungen. Mensch u. Christ, Theologe, Pfarrer u. Kirchenmann. Villingen-Schwenningen 1973. in Bornemanns Denken zu erhalten, lohnt sich auch ein Blick in sein umfassendes wissenschaftliches Œuvre. So z. B. der 1885 zunächst anonym erschienene Aufsatz über „Die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums in der Gegenwart“ 190 , der eine breite Debatte über zeitgemäße Inhalte und Didaktik des Theologiestudiums auslöste 191 ; die 1907 erschienene Monographie über „Konfuzius, seine Persönlichkeit und seine Grundanschauungen nach den Lun Yü“ 192 oder die 1926 erschienene Erzählung „Die Geschichte eines Übertritts“, in welcher Bornemann die Konversion des deutschen Malers Friedrich Wasmann zum Katholizismus beleuchtet. Dazu kommen weitere Aufsätze in „Der christlichen Welt“ und im Frankfurter Kirchenkalender. 3.3.2. Biogramm Wilhelm Friedrich Bornemann wurde am 2. März 1858 in Lüneburg geboren, wo er zusammen mit zwei Brüdern und einer jüngeren Schwester als Sohn eines Stadtsenators aufwuchs 193 . Nachdem Bornemann die gymnasiale Oberstufe in Lüneburg erfolgreich absolviert hatte, verließ er 1876 seine Heimatstadt, um zunächst ein Semester in Göttingen bei Albrecht Ritschl und danach bei Adolf von Harnack in Leipzig evangelische Theologie zu studieren. 1878 kehrte er nach Göttingen zurück und schloss im Alter von 20 Jahren seine Erste theologische Prüfung in Hannover ab. Von 1879-1882 arbeitete er als Hauslehrer zunächst in Bremen und wenig später in Medingen in der Lüneburger Heide. Im Oktober 1880 wurde Bornemann schließlich zum Mitglied des Predigerseminars in Lokkum berufen. Es folgte 1882 eine Anstellung als Stiftsinspektor an der theologischen Fakultät in Göttingen, bevor er dort zwei Jahre später mit einer Arbeit über Origenes im Fach Kirchengeschichte habilitiert werden konnte. Die darauffolgende Zeit als geistlicher Inspektor am Kloster Unserer Lieben Frauen in Magdeburg (1886-1898) scheint er hauptsächlich schriftstellerischen Tätigkeiten gewidmet zu haben und befasste sich dabei u. a. mit Predigten zu den Themen Freiheit und Frieden. Darüber hinaus beteiligte sich Bornemann an der 1886 erfolgten Gründung des Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutschen protestantischen Interessen in Erfurt sowie an der Gründung der Zeitschrift Die 190 Bornemann, Wilhelm: Die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums der Gegenwart. Ein Wort an Dozenten, Pfarrer und Studenten. Leipzig 1885. 191 Vgl. Hermelink, Jan: Die Spiritualität der Studienreform. Einige Beobachtungen zum historischen Horizont der Debatte um „Spiritualität“ im Theologiestudium, in: Hermission, Sabine / Rothgangel, Martin (Hg.): Theologische Ausbildung und Spiritualität. Göttingen 2016, 29. 192 Bornemann, Wilhelm: Konfuzius, seine Persönlichkeit und seine Grundanschauungen nach den Lun Yü. Berlin 1912 (2. Aufl. 1922). 193 Soweit sich dies aus der „Autobiographie“ Bornemanns ermitteln lässt, vgl. auch Heinrich, Art. Bornemann. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 61 62 Julia Csehan / Malte Dücker Wilhelm Bornemann (Bild: Evang. Regionalverband Frankfurt a. M.) Christliche Welt , welche sich unter Federführung seines langjährigen Freundes Martin Rade zum publizistischen Flaggschiff des Kulturprotestantismus entwickelte. 194 Neben seiner Tätigkeit als geistlicher Inspektor amtierte Bornemann „zugleich als Vorsteher und Studienleiter des klösterlichen Kandidatenkonvikts zur Ausbildung von Religionslehrern an höheren Schulen, als Religionslehrer am Pädagogium des Klosters, als Mitvorsteher des Klosteralumnats und ab 1891 auch als Prediger an der zuvor umfassend restaurierten und neueröffneten Klosterkirche St. Marien.“ 195 Bereits 1895 erhielt Bornemann den Ehrendoktortitel der Universität Kiel, 196 im Frühjahr 1898 folgte nach zwölfjähriger Dienstzeit in Magdeburg der Ruf an die Universität Basel. Rudolf Staehelin merkte dazu an, dass die Wahl wohl nicht ausschließlich deshalb auf Bornemann fiel, weil er bei Harnack gelernt hatte, sondern auch weil „seine Schriften zeigten, dass er nicht aufhörte, sowohl an den wissenschaftlichen als auch an den praktischen Aufgaben der Theologie weiter zu arbeiten“ 197 . Als Nachfolger von Franz Overbeck lehrte er Kirchengeschichte und Praktische Theologie und blieb dort, bis schließlich 1902 der Ruf an die Nikolaikirche nach Frankfurt am Main folgte, die er aufgrund der besser dotierten Stelle dankend und nach einer Gastpredigt annahm. Interessant ist, dass sowohl Johannes Kübel als auch Wilhelm Bornemann erst durch Losentscheid die Pfarrstelle erhielten. 198 So kann durchaus von Zufall gesprochen werden, dass Bornemann um 1909 die theologische Führung der Frankfurter Pfarrerschaft übernahm. 199 Das Pfarramt in der Nikolaikirche bekleidete Bornemann schließlich bis zu seinem Ruhestand 1932. Die letzten Predigtexzerpte lassen sich allerdings für das Jahr 1933 für zwei Predigten in Seckbach nachweisen. 200 Über seine Verpflichtungen als Pfarrer an der zunächst alten - und ein Jahr später an der neuen - Nikolaikirche wurde er 1906 zum Senior des evangelisch-lutherischen Predigerministeriums gewählt. Hermann Dechent gibt allerdings zu bedenken, dass Bornemann kein Mitglied des Konsistoriums, also des Kirchenrates war und seine Stellung als Senior deshalb „im Allgemeinen einflussloser wurde." 201 Dies könnte zumindest in Ansätzen erklären, weshalb sich Bornemann vor allem zu Beginn der 1930er Jahre mit seinen scheinbar auch 194 Vgl. Bornemann, Heitere Bilder aus Leben und Zeit, 122. 195 Ms Ff. Bornemann, Nr. 1 77-127, Brief Nr. 271 von E. Möller an Bornemann, Archiv der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg. 196 Ebd. 197 Vgl. Bonjour, Edgar: Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460- 1960. Basel 1960, 518-519. 198 Bornemann, Heitere Bilder aus Leben und Zeit, 130 und Kübel, Erinnerungen, 76. 199 Ebd. 200 Ms. Ff. Bornemann, 1, Archiv der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg. 201 Dechent, Hermann: Kirchengeschichte von Frankfurt am Main, Bd. II., 1921, 492-495. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 63 64 Julia Csehan / Malte Dücker in politischen Dingen liberalen und vermittelnden Ansichten nicht durchsetzen konnte. Weitere Ämter in der Stadtsynode folgten. Darüber hinaus war er ab 1922 Vorsitzender der Bezirkssynode 202 und in den vorbereitenden Ausschüssen der verfassunggebenden Kirchenversammlung tätig, bis er 1924 zum Präsidenten der neuen Frankfurter Synode gewählt wurde. Trotz einiger Bedenken seitens des zuständigen Dekanats im Hinblick auf sein fortgeschrittenes Alter 203 - Bornemann war bereits 54 Jahre alt - erhielt er 1922 im Rahmen des öffentlichen allgemeinen Vorlesungswesens 204 einen Lehrauftrag an der neugegründeten Frankfurter Universität. 205 An seine ehemalige Tätigkeit in Marburg anknüpfend hielt er Vorlesungen über Religionspädagogik und das Neue Testament. Darüber hinaus gab er Lateinkurse. 206 1932 mit nunmehr 74 Jahren legte Bornemann alle Ämter nieder und trat in den Ruhestand. Wilhelm Bornemann wurde 88 Jahren alt. Er verstarb am 30. Juni 1946 in Jugenheim. 3.3.3. Politisches und Theologisches Profil: Liberaler Theologe, Gelehrter, um Ausgleich bemühter Vermittler Aus dem vorangegangenen nun ein politisches und theologisches Profil Bornemanns zu formen, welches über oft zu kurz greifende Kategorien wie liberal/ orthodox oder links/ rechts hinausgehen soll, ist - nicht zuletzt auf Grund der fehlenden Forschung - kein leichtes Unterfangen. So gibt ein Lutherzitat, das Bornemann in das Erinnerungsbuch einer Konfirmandin schrieb, einen ersten Eindruck von seiner Frömmigkeit: „Schweig, leyd, meyd und Vertrag, / Deine Not keinem klag, / an Gott ja nicht verzag! / Dein Hülff kombt alle Tag. / Dein Seelsorger Wilhelm Bornemann“ 207 Klage niemandem dein Leid und verzage nicht an Gott, ist die Quintessenz, die Bornemann als Seelsorger an seine Konfirmandin weitergibt. Und auch als Pfarrer schien er seine Gemeinde moralisch unterstützen, trösten und ermutigen zu wollen. 208 So versuchte er z. B. am 15. September 1918 die Gemeinde moralisch zu stärken, indem er sich der Frage nach dem Sinn des Leides annahm. 202 Die im Zuge der angesprochenen Neuordnung nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments zur Landeskirchenversammlung (Synode) wurde. 203 UAF Abt. 130 Nr. 9, Blatt 9. 204 Möglicherweise das Vorgängerformat der heutigen „Bürgeruniversität“. 205 Zur Geschichte der Universität vgl. Hammerstein, Notker: Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. I: Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule 1914-1950. Göttingen 2012. 206 UAF Abt. 14 Nr. 2696. 207 Chronik von Elisabeth Rosenkranz, S5/ 457 BI./ S.48 BI, Stadtarchiv Frankfurt a. M. 208 Da Bornemann bereits 1933 in den Ruhestand eintrat, sind lediglich Predigten aus dem Ersten Weltkrieg erhalten. Er antwortet mit Ps 122,8-9: „Für das Vaterland, für unser Volk und für unser Geistesleben.“ 209 Gleichzeitig zeigt das Biogramm einen Mann, der im Kaiserreich unter dem landesherrlichen Kirchenregiment sozialisiert wurde. Wilhelm Bornemann scheint in diesem Punkt nicht anders gewesen zu sein als seine Zeitgenossen. Er war zwar kein Frontsoldat, leistete aber seinen Beitrag zum Ersten Weltkrieg in Form von „12 Kriegsliedern“, die für den gottesdienstlichen Gebrauch bestimmt waren. 210 Davon gänzlich unabhängig merkt Heinrich zu Bornemanns Predigten an, dass sich in diesen „der Ruf nach mehr Verständlichkeit, Menschennähe, Kommunikation und psychologisch differenzierter Predigtweise mit der nachhaltigen Forderung an seine Amtskollegen, sich in der theologischen Praxis auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen einzulassen“ 211 zeigte, und dass Bornemann neben einer Predigt wiederholt auch eine umfassende Parochialreform anregte, die der Rolle der Stadt als Brennpunkt sozialer Problemlagen besser gerecht werden sollte.“ 212 Als ein gemäßigter Vertreter des Kulturprotestantismus, der den modernen theologischen Strömungen der evangelischen Theologie stets aufgeschlossen blieb, war Bornemann an humanistischer Bildung sowie an naturphilosophischen Überlegungen interessiert. Dabei orientierte er sich an der historisch-kritischen Methode Albrecht Ritschls und den rational-ethischen Grundhaltungen Kants und Schleiermachers. 213 Dies und dass Wilhelm Bornemann als ein liberaler Theologe beschrieben wird, der stets eine Mittlerrolle zwischen positiven und liberalen einnahm, erscheint schlüssig. Zudem schien ihm sein Ruf als Herausgeber der „Christlichen Welt“ vorauszugehen, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das politische Selbstverständnis der Gruppen des liberalen Bildungsbürgertums ausübte. 214 Dass Bornemann ganz im Sinne des Kulturprotestantismus die humanistische Bildung zum Ideal erhob, zeigte sich auch darin, dass er bereits 1907 mit weiteren Vertretern der freieren kirchlichen Richtung (die Pfarrer Veidt, Förster und Oberlehrer Schuster) einen neuen Vortragszyklus mit dem Titel die „Frankfurter modern-theologischen Vorträge“ ins Leben gerufen hatte, die über die Gemeindegrenzen hinweg besondere Aufmerksamkeit erregten: „In ihren Vorträgen entfalteten die Theologen ein an aktuellen Themen orientiertes Programm moderner Theologie, in dem es ihnen in liberaltheologischer Ausrichtung um eine 209 Ms. Ff. Bornemann 1. 210 Dechent, Kirchengeschichte, 559. 211 Heinrich, Art. Bornemann. 212 Ebd. 213 Vgl. ebd. 214 Ebd. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 65 66 Julia Csehan / Malte Dücker Vermittlung von Religion und Kultur, von christlichem Glauben und moderner, säkularer Lebenswelt ging.“ 215 Bei all dem bisher Bekannten verwundert es nicht, dass Bornemann zwischen 1912 und 1919 einen Großteil seiner Zeit damit verbrachte, für die Angliederung einer theologischen Fakultät an die neugegründete Frankfurter Universität zu kämpfen. Auf der Bezirkssynode am 15.12.1916 bemängelt er zudem, dass die kirchlichen Organe der Stadt von dem Gründungskreis der Universität zu diesem Sachverhalt überhaupt nicht befragt wurden. 216 Es ging also um nicht weniger als die vorrangige Stellung der Kirche in Fragen der Erziehung und Bildung. Mindestens genauso wichtig war ihm das religiöse Bedürfnis der Menschen. In einem Artikel in der Universitätszeitung konkretisiert er seinen Standpunkt: „[…] dass man die Kirche nicht ändert, wenn man an einer einzelnen Universität die theologische Fakultät nicht zulässt. Am allerwenigsten vernichtet man so die Religion und das religiöse Bedürfnis der Menschheit.“ 217 Anzeichen für ein politisches Interesse Bornemanns finden sich darüber hinaus in seinen Vereinsgründungen, an denen er mitwirkte und die er zu einem Teil auch selbst initiierte. Besonders hervorzuheben ist hier der 1886 gegründete Evangelische Bund und auch der ehemals von Friederich Naumann unterstützte evangelische Arbeiterverein, für den sich Bornemann nach Kräften engagierte. 218 Bis zu seinem Ruhestand 1932 leitete und prägte Wilhelm Bornemann die Frankfurter Kirche. Wir können nur vermuten, dass die 1933 getroffenen Entscheidungen anders ausgefallen wären, wäre Bornemann noch in wirkmächtiger Position geblieben. Schließlich war er einer derjenigen, die zur Zeit des Nationalsozialismus der Bekennenden Kirche beitraten und sich sowohl von den Nationalsozialisten als auch von den Deutschen Christen distanzierte. 219 Insgesamt lässt sich vorerst das Bild eines liberalen Theologen zeichnen, der sicherlich dem Bildungsbürgertum zugeordnet werden kann und der sich mit zunehmendem Alter in die Wissenschaft zurückzog. Ausgehend davon, dass Wilhelm Bornemann in der Funktion des Präsidenten der Synode eben auch auf jene einwirkte, stellt sich die Frankfurter Kirche zwischen 1909 und 1932 als eine zunächst einmal bildungspolitisch engagierte stadtbzw. großbürgerliche Kirche dar. Die verschiedenen Gruppierungen, die einst aus dem Verein für christliche Freiheit hervortraten, schärften ihre Profile erst im Verlauf der dreißiger Jahre mehr und mehr, sodass sich ein zunehmender kirchenpolitischer Pluralismus entwickelte. Die politische Meinungsbildung, so scheint es, fand nicht in der Synode, son- 215 Ebd. 216 Ms Ff. Bornemann 5, Anlage XLVI. 217 Dechent, Kirchengeschichte, 541. 218 Vgl. Dechent, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. März 1928. 219 Heinrich, Art. Bornemann. dern in den vier christlichen Vereinen und deren publizistischen Organen statt. Dazu gehörten „Die Freunde der christlichen Welt“, „Der Frankfurter Kreis für entschiedenen Protestantismus“, „Die Deutsche Gruppenbewegung“ und „Die positive Vereinigung“. 220 Letzterer gehörte der spätere DC-Pfarrer Trommershausen und Pfarrer Veidt 221 an. Pfarrer Veidt schloss sich später der Bekennenden Kirche an. 222 Die Frage danach, welche kirchenleitenden Theologen nun den größten Einfluss auf die kirchlichen Organe hatten, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Frankfurter Geistlichen zumindest bis 1935 ein wirkmächtiges Netzwerk bildeten. Belege für diese These finden sich wiederum bei Johannes Kübel, der dazu folgendes festhielt: Mit der kirchlichen Rechten standen wir anfangs [Herv. d. Verf.] in gutem Verhältnis. Wir erkannten uns gegenseitig als gleichberechtigt an und begegneten uns mit freundschaftlicher Achtung. Die Ausstrahlung des Berliner Weltkongresses für freies Christentum im Jahre um 1910 und die Haltung unseres Kreises im Fall Jatho 223 führten zu ernstlichen Spannungen, vermochten aber die kirchliche Gemeinschaft nicht zu sprengen. 224 23 Jahre später sollte sich diese als harmonisch dargestellte und in ihren Strukturen gefestigte Gemeinschaft letztlich doch spalten. Und zwar weniger aufgrund religiöser Differenzen, sondern aus machtpolitischen Motiven. Zu diesem Zeitpunkt schien Bornemann für diese Art des Kirchenkampfes freilich zu alt gewesen zu sein. Und so bleibt sein größtes Erbe wohl die theologische Fakultät an der heutigen Goethe-Universität Frankfurt, die Bornemann über Jahre hinweg immer wieder thematisierte und auf deren Gründung er drängte - auch um den Protestantismus fest in der Gesellschaft zu verankern. 220 Detailliert ausgeführt in: Telschow, Ringen, 8-12. 221 Karl Veidt (1879-1946), zwischen 1918 und 1939 Pfarrer an der Frankfurter Paulskirche, 1919-1924 als DNVP-Abgeordneter Mitglied der Nationalversammlung bzw. des Reichstags, ab 1933 Führungsrolle der in Bekennenden Kirche in Frankfurt, ausführliche Biographie vgl. Becher, Werner: Karl Veidt (1879-1946): Paulskirchenpfarrer und Reichstagsabgeordneter. Darmstadt 2006. 222 Telschow, Ringen, 8-12. 223 Carl Jatho war ein evangelischer Pfarrer aus Köln, der wegen seiner antiorthodoxen Lehren, die sich an der Naturphilosophie Goethes und Spinozas orientierten, von seinem Amt entbunden oder seines Amtes enthoben wurde. Die Frankfurter liberalen Pfarrer sprachen sich gegen diese Amtsenthebung aus und pochten auf die Freiheit von Lehre und Verkündigung. 224 Vgl. Kübel, Erinnerungen, 49. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 67 68 Julia Csehan / Malte Dücker 3.4. Johannes Kübel (1873-1953) - Präsident des Landeskirchenrates Frankfurt am Main 3.4.1. Einleitendes Auch für das Leben und Wirken von Johannes Kübel ist bisher wenig zusammengetragen und erforscht worden. Die meisten Angaben beschränken sich auf Kübels autobiographische „Erinnerungen“. 225 Dass diese im Übrigen die wesentliche Grundlage für einen Großteil der historischen Arbeiten zur Frankfurter Kirche in dieser Zeit insgesamt bilden, zeigt, wie wichtig eine historisch-kritische Prüfung dieser Erinnerungen ist. Dies kann jedoch im Rahmen dieses Aufsatzes nur bedingt geleistet werden. Es lohnt sich deshalb ein Blick in die weiteren von Johannes Kübel selbst verfassten Schriften. Zu diesen zählen Berichte aus seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg ebenso, wie durchaus umstrittene und mit einem kritischen Echo hinterlegte Publikationen wie beispielsweise „Die Bekennende Kirche im Selbstgericht“ oder der Aufsatz „Brauchen wir Dogmen? “. Hinzu kommen eine ganze Reihe veröffentlichter Artikel im „Frankfurter Kirchenkalender“ und in der „Evangelischen Freiheit“. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich Johannes Kübel mit einer ganzen Reihe von Fragen auseinandersetzte, die häufig über reine Glaubensfragen hinausgingen und politische sowie kirchenpolitische Themen berührten. Davon zeugen nicht nur theologische Publikationen, sondern auch Veröffentlichungen zu seinem Steckenpferd, dem Kirchenrecht. Letzteres machte ihn nicht nur zu einem genauen Kenner des Frankfurter Kirchenrechts, sondern prädestinierte ihn auch für vielfältige Aufgaben innerhalb und außerhalb des Kirchenrates. 3.4.2. Biogramm Johannes Georg Kübel wurde am 20. September 1873 in Neustadt an der Aisch in Mittelfranken als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren und starb am 14. Juni 1953 in Bubenreuth unweit seiner Geburtsstadt. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Ansbach studierte der nach eigenen Aussagen sprachbegabte Kübel evangelische Theologie in Erlangen und Halle. Dort hörte er den Alttestamentler Köhler und den Kirchenhistoriker Theodor Kolde. 226 Auf der Höhe des Streits um das Apostolikum befand sich Kübel in Halle und kam durch Friedrich Armin Loofs 227 zum ersten Mal mit liberaltheologischen Überlegungen und historisch-kritischen Methoden in Kontakt. Zudem trat er der nichtschlagenden christlichen Studentenverbindung Uttenruthia bei und 225 Kübel, Johannes: Erinnerungen. Schwenningen 1973. 226 Ebd., 14-15. 227 Armin Loofs (1858-1928), Kirchenhistoriker, Schüler von A. v. Harnack und A. Ritschl, vgl. Kienzler, Klaus: Art. Friedrich Loofs, in: BBKL 5 (1993), Sp. 219-221. lernte in Erlangen auch Pfarrer Willy Veit 228 kennen, den späteren Pfarrer der St. Katharinengemeinde in Frankfurt, mit dem Kübel eine Freundschaft verband, die sich aber in den 30er Jahren zerschlagen sollte. 229 In seinen Erinnerungen erwähnt Kübel allabendliche politische Diskussionen in Erlangen, die ein erstes Interesse Kübels an politischen Themen erahnen lassen. 1895 legte Kübel das erste theologische Examen ab und vier Jahre später das zweite. Dazwischen „stand“ er ein Jahr lang „im Heer“, bevor er sich anschließend drei Jahre als Reiseprediger in der niederbayrischen Diaspora betätigte. 230 Noch in Niederbayern schrieb Kübel bereits für die „Christliche Welt“ einige Aufsätze. Von 1899-1901 war er als Hilfsgeistlicher in St. Lukas (München) tätig, daran schloss sich von 1901-1909 eine Tätigkeit als Militärgeistlicher ebenfalls in München nahtlos an. Letztlich mochten nicht nur die bereits bestehenden Kontakte zu Frankfurter Pfarrern den Ausschlag für einen Wechsel in den preußischen Konsistorialbezirk Frankfurt am Main gegeben haben, sondern auch theologische Differenzen mit der bayrischen Landeskirche, denen er sich als liberaler protestantischer Pfarrer ausgesetzt sah. So brauchte es schließlich zwei Bewerbungen und etwas Glück im Losverfahren, ehe Johannes Kübel mit 36 Jahren Pfarrer an der Frankfurter Weißfrauenkirche wurde und dies bis zu seinem Rücktritt 1938 auch bleiben sollte. Über seine ersten Eindrücke von Frankfurt schrieb er: Alles war mir neu und unbekannt: eine weltliche Stadt, die Menschen, der Geist, der preußische Staat und sein Gesetz und Recht, die Sitten und Bräuche des Volkes, und kirchlich die Verfassung, die Einrichtungen, die Behörde, die Gemeinden und die Pfarrer! […] Auch die kirchliche Organisation konnte ein Fremder kaum überblicken. 231 Die anfängliche Verwunderung, die Kübel gegenüber den Frankfurter Eigentümlichkeiten hegte, schlug mehr und mehr in ein freudiges Wohlgefallen um. Er schätzte den akademischen Austausch mit seinen liberalen „Frankfurter Freunden“ im sogenannten „Kränzchen“, das sich vierzehntägig traf. 232 Es dau- 228 Phillip Friedrich Wilhelm (Willy) Veit (1872-1940), nicht zu verwechseln mit Karl Veidt! , 1905-1933 Pfarrer an der St. Katharinengemeinde in Frankfurt am Main, zur Rolle im Ersten Weltkrieg vgl. auch Telschow, Jürgen: Kriegsbegeisterung - Kriegsnot - Friedenssehnsucht. Die Frankfurter evangelische Kirche im Kriegsalltag 1914 bis 1918. Vortrag vor dem Evangelischen Predigerministerium am 30. Oktober 2014, https: / / xn--jrgen-telschow-gsb.de/ ? p=172#sdfootnote12sym (01.11.2018). 229 Kübel, Erinnerungen, 47; 80 f. 230 Ebd., 19. 231 Ebd., 47. 232 Ebd., 48; 76. Zu seiner theologischen Gruppe zählte Kübel: Wilhelm Bornemann (St. Nicolaigemeinde, Frankfurt), Hermann Dechent (St. Paulsgemeinde, Weißfrauengemeinde, Lazarettgeistlicher, Frankfurt) Erich Foerster (Deutsch-reformierte Gemeinde, Frankfurt), Bernhard Heinrich Wilhelm Lueken (Deutsch-reformierte Gemeinde, Frankfurt), Willy Veit (St. Katharinengemeinde, Frankfurt), Friedrich Wilhelm Manz (St. Nicolaigemeinde Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 69 70 Julia Csehan / Malte Dücker erte nicht lange bis die Frankfurter das Potential in Kübel entdeckten, ihn 1911 in den Vorstand der Frankfurter Stadtsynode 233 zu wählen. Wenig später, mit der Mobilmachung im August 1914, meldete sich Kübel freiwillig zum Kriegsdienst und „zog mit der Waffe ins Feld“ 234 , was ihm - so äußerte er sich in seinen Erinnerungen - zu Beginn von seiner Gemeinde hoch angerechnet wurde. 235 Als er jedoch 1917 „mit aller Frische, allem vaterländischen Gefühl und mit dem unerschütterten Glauben an den deutschen Sieg“ heimkehrte, stieß er auf die allgemeine Kriegsmüdigkeit, die sich auch in seiner Gemeinde zeigte. 236 Das er seinem „vaterländischen Gefühl“ auch in seinen Predigten Ausdruck verlieh und gleichzeitig den Vorsitz in der DVLP übernahm 237 , brachte ihm den Ruf des Kriegstheologen und nationalistischen Hetzers ein. 238 Obendrein schien der Erste Weltkrieg für Johannes Kübel eine besondere Bedeutung gehabt zu haben. So zeigt ihn die Porträtaufnahme zu Anfang seiner Autobiographie mit Frontkämpferehrenkreuz im Knopfloch 239 , weshalb die Überlegung nahe liegt, dass er als ehemaliger Frontkämpfer wahrgenommen werden wollte. Noch während Kübel im Kriegsdienst stand, lies Martin Rade ihn in den Vorstand der „Freunde der christlichen Welt“ wählen. Die Zusammensetzung des Vorstandes mit Emil Fuchs (Sozialdemokrat), Rade selbst (Demokrat) und Kübel (deutsch-national) glich einem bunten Potpourri an politischen Strömungen. Man darf sich einmal mehr fragen, wieso es aus diesem Kreis trotz der politisch toleranten Vielfalt letztlich kaum Widerstand gegen die Gleichschaltung der Kirchen gegeben hat. 1919 wurde Johannes Kübel in die verfassunggebende Landeskirchenversammlung gewählt, dessen neue Ordnung er auch redaktionell betreute. Als nun die neue Verfassung in Kraft trat und der Kirchenrat eingesetzt wurde, wurde Kübel für 12 Jahre als beamtetes Mitglied nebenamtlich in den Kirchenrat gewählt, zu dessen „Vizepräsidenten“ er als Dienstältester automatisch wurde. 240 Retrospektiv sollte festgehalten werden, dass Kübel nicht nur inoffizieller Vize- und ab 1930 Philippus-Gemeinde, Frankfurt), Rene Heinrich Wallau (St. Petersgemeinde, Frankfurt). 233 Die Frankfurter Stadtsynode war der Verband der lutherischen Gemeinden. 234 Kübel, Erinnerungen, 63. 235 Ebd. 236 Ebd. 237 Die Deutsche Vaterlandspartei war eine rechtsradikale deutsche Partei, die sowohl konservative als auch nationalistische und antisemitische Ideologien vertrat. Kübel behauptete rückblickend bei der Übernahme des Vorsitzes überrumpelt worden zu sein, vgl. Kübel, Erinnerungen, 107. 238 Ebd., 63. 239 Ebd., Titelseite. 240 Ebd., 83. präsident (weil es diesen Posten formal gar nicht gab), sondern auch inoffizieller Präsident des Kirchenrates war. Die Vertretung der Landeskirche fiel ihm in den meisten Fällen selbst zu, da sowohl die Reisen als auch die Arbeit dem eigentlichen Präsidenten Schulin zunehmend „lästiger“ geworden seien. 241 Dabei mag auch das fortgeschrittene Alter Schulins eine Rolle gespielt haben. So kam es, dass Kübel bereits zwischen Januar 1930 und März 1931 18 Mal in Berlin war 242 und nach dem Tode Schulins schließlich die offizielle Leitung des Landeskirchenrates übernehmen konnte. Nach 1933 entbrannte laut Autobiographie „ein erbitterter Kleinkrieg“ 243 um die Führung der Frankfurter Landeskirche. Als nun die Frage im Raum stand das Führerprinzip in der Frankfurter Landeskirche unter dem Vorsitz von Georg Probst einzuführen, drohte Kübel mit seinem Rücktritt, sollte das Kollegium des Landeskirchenrates nicht hinter ihm stehen. So kam es, dass Kübel freiwillig aus dem Landeskirchenrat ausschied - was seinem Empfinden nach besser war, als sich wie Kortheuer in Wiesbaden und Diehl in Darmstadt vor die Türe setzen zu lassen. 244 Kübel hatte sich früh dem Pfarrernotbund und später der Bekennenden Kirche angeschlossen. Mit Letzterer war er - vor allem theologisch - nicht immer einverstanden: Im Frühjahr 1934 verdichtete sich der Pfarrernotbund zur Bekennenden Kirche. […] Dort hatten wir uns im Sommer 1933 und den folgenden Monaten gegen die Vergewaltigung der Kirche durch den Staat gewehrt. […] Jetzt meldete sich die Barthsche Theologie und suchte, die Kirche ihrer Gewalt zu unterwerfen oder durch eine neue Kirche abzulösen. Der Bekennerbund wurde zum Bekenntnisbund, die Kirche zur Gemeinschaft der Gläubigen, die auf ein bestimmtes dogmatisches Bekenntnis festgelegt waren. Das nahmen einige meiner liberalen Gesinnungs- und Arbeitsgenossen zum Anlass, sich vom Notbund zu trennen". 245 Sicherlich steckte in der Kritik Kübels an der Bekennenden Kirche auch eine grundsätzliche Kritik an der dialektischen Theologie Karl Barths, die es liberalen Theologen per se nicht einfach machte ein Mitglied der BK zu werden. 246 Das letzte Amt, welches Kübel angetragen wurde, war die Stelle des Seniors des Frankfurter Predigerministeriums. 247 241 Vgl. ebd., 85. 242 Ebd. 243 Ebd., 98. 244 Ebd., 104. 245 Ebd., 122. 246 Vgl. auch Ruddies, Hartmut: Karl Barth und die Liberale Theologie. Fallstudien zu einem theologischen Epochenwechsel. Göttingen 1994. 247 Jenes Amt brachte ihm nochmals Ärger ein, weil der Sohn Kübels mit einer „Halbarierin“ verheiratet war, Kübel demzufolge für ein Amt in der Kirche nicht tragbar gewesen sei. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 71 72 Julia Csehan / Malte Dücker Nachdem Kübel per Gesetz am 1. Oktober 1938 in den Ruhestand versetzt wurde, zog es ihn zurück nach Nürnberg, wo er seinen Lebensabend verbrachte. Eigenen Angaben zur Folge erlosch damit auch sein Interesse an der Bekennenden Kirche und an jeglicher Kirchenpolitik. 248 3.4.3. Politisches und theologisches Profil: „Politisch rechts, theologisch und kirchenpolitisch links“ In der Zusammenschau der vorangegangenen Vita gilt es zunächst zu berücksichtigen, dass sich die Ausführungen fast ausschließlich auf die Autobiographie Johannes Kübels stützen. Auf Grund der vielen Widersprüche, die mal deutlicher und mal undeutlicher herauszulesen sind, kann der Eindruck nicht gänzlich von der Hand gewiesen werden, dass die Erinnerungen Kübels auch ein Stück weit der Rechtfertigung des eigenen Handelns dienen sollten. Zudem gibt es - wie bei historischen Quellen häufig - keine korrektiven oder verifizierenden Schriften. So bleibt uns zunächst einmal nur die Möglichkeit den Kategorien zu folgen, die Kübel selbst wählte, um sich politisch und theologisch zu verorten. Sein politisches Interesse wurde durch Friedrich Naumann geweckt, und eben jenem evangelisch-sozialem Gedankengut fühlte er sich eigenen Aussagen zur Folge auch im Jahr 1947 noch verpflichtet. 249 Zwischenzeitlich war er allerdings - wie bereits erwähnt - Mitglied der Deutschen Vaterlandspartei geworden. Letztlich lässt sich jedoch der Eindruck nicht verwehren, dass Johannes Kübel in der Weimarer Republik - wie viele Menschen seiner Zeit - politisch und theologisch schachmatt gestellt war. Als „politisch rechts, theologisch und kirchenpolitisch links“ 250 meinte Kübel zwar ein Unikum zu sein, verfolgt man die hier vorgestellten Lebensläufe aufmerksam, zeigt sich bei den im Kaiserreich sozialisierten und obrigkeitsstaatlich an Röm 13 orientierten Theologen jedoch oft ein ganz ähnliches Bild, das bei Kübel in einer Predigt aus dem Jahr 1929 deutlich erkennbar wird: „Dein Reich komme! […] Wir beugen uns in Ehrfurcht vor des Vaterlands Majestät. Wir haben 1914 mit heißer Liebe zum Schwert gegriffen […] Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt! “ 251 . Auf der anderen Seite hatte Kübel nach eigenen Angaben scheinbar nichts für die antisemitische Ideologie des Nationalsozialismus übrig: Die Judenpolitik widersprach der christlichen Ethik. Bei der Rassenpolitik vermisste ich den Beweis für die behauptete Schädlichkeit der arisch-jüdischen Mischehen […]. Vgl. Kübel, Erinnerungen, 102. 248 Ebd., 127. 249 Ebd., 107. 250 Ebd., 82. 251 Ebd., 70 f. Im Ganzen habe ich wohl gleich vielen anderen den Fehler begangen, mich spät und nicht ernstlich genug um die Bewegung (NSDAP, Anm. d. Verf.) zu kümmern. 252 Und zum Judenboykott schrieb Kübel ernste, aber doch selektierende Worte an das Kirchenbundesamt: […] dass wohl alle Landeskirchen furchtbar unter der Judenfrage litten. […] dass die Ehre des christlichen Namens und fundamentale Begriffe der christlichen Ethik verletzt werden, auch da, wo reine Juden diffamiert werden, dass es aber vollends unerträglich ist, wenn Familien bis ins dritte Glied zurück zur evangelischen Kirche gehören und gleichwohl plötzlich mit dem Makel des Judentums [Hervorh. d. Verf.] belastet werden. Die Kirche mache sich mitschuldig, wenn sie nicht im Namen des Christentums dagegen Einspruch erhebe; sie verleugne die Pflicht des barmherzigen Samariters, wenn sie nicht wenigstens ihre Glieder ‚gegen die Ressentiments unchristlicher Fanatiker‘ schütze. 253 Hier zeigt sich doch eine deutliche Diskrepanz zwischen dem ersten und dem zweiten Zitat. Die christliche Ethik, die im ersten Zitat im Widerspruch zur Judenpolitik stand, gilt im zweiten Zitat nur noch für die sogenannten Judenchristen. Darüber hinaus hatte Kübel kein Problem, jeden der es wünschte, mit Hitlergruß zu grüßen, 254 echauffierte sich an anderer Stelle jedoch darüber, dass Predigten von Hossenfelder 255 mit einem „Heil“ und dem Hitlergruß beendet wurden. 256 Über die Situation um 1933 schrieb Kübel, dass „die politischen Gegensätze in unserem Volk ein Ausmaß und eine Schärfe angenommen [haben], die uns ehemals unbekannt waren“ 257 . Kritisch merkte er zudem an, dass die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei über den sittlichen und gesellschaftlichen Wert eines Menschen entscheiden würde und ähnliches für die evangelische Kirche gelte, die von der Hoffnung und dem Argwohn politischer Parteien „aufs stärkste“ begleitet sei. So mahnte Kübel gleichzeitig, dass die Kirche als Volkskirche allen offen stehen müsse „ohne Rücksicht auf deren parteipolitische Einstellung“ und forderte die Pfarrer zu „größter Zurückhaltung“ in parteipolitischen Angelegenheiten auf - andernfalls drohe die Abwendung breiter Bevölkerungsschichten von der Kirche. Er begründet diese Entscheidung mit der zeitlichen Begren- 252 Ebd., 110. 253 Schreiben von Kübel an Hosemann vom 04.04.1933, zitiert nach: Scholder, Kirche, Bd. 1, 446. 254 Kübel, Erinnerungen, 111. 255 Joachim Hosfelder (1899-1976), Theologe, seit 1929 Mitglied der NSDAP, 1932 Mitbegründer der Deutschen Christen, vgl. Klee, Personenlexikon, 271. 256 Kübel, Erinnerungen, 101. 257 Ebd. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 73 74 Julia Csehan / Malte Dücker zung weltlicher Herrschaft im Vergleich zum ewigen Reich Gottes: „[…] um der ewigen Güter und der Stellung unserer Kirche im Volksleben willen bitten wir die Herren Geistlichen herzlich und ernstlich, sich diese Grundsätze 258 für ihr außerdienstliches Verhalten anzueignen." Die Situation um 1933 schien ein einziges Dilemma zu sein. Zuvor klar abgegrenzte Kategorien wurden konturlos - wer politisch rechts war, konnte theologisch links sein und umgekehrt. Was also trennte die verschiedenen kirchenpolitischen Lager und was verband sie, fragte sich auch Jürgen Telschow. Ihm ist zuzustimmen, dass die gemeinsamen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik elementar waren. Hinzu kam die Hoffnung, dass der Nationalsozialismus die Kirchen stärken und dadurch die Gesellschaft wieder zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen würde. Trennend wirkten sich hingegen die Fragen aus, in welche Abhängigkeit sich die Kirche zum Staat nochmals begeben sollte und wer die Kirche (an)führen sollte. 259 Abschließend bleibt noch zu Fragen, wie sich all dies auf die Frankfurter Kirche als eine genuin „politische Kirche“ auswirkte. Konnte man davon ausgehen, dass die Kirche zur Zeit Bornemanns noch politische Themen in die Kirche hineintrug und sie sich sozial und bildungspolitisch für die Gemeinde und ihre Mitglieder engagierte, so setzt sich ab den 1930er Jahren ein umgekehrter Trend fort. Von hier an wurde die Kirche selbst zu einem politischen Akteur. Eine für Bornemann negative Entwicklung, die er durchschaute und in einem undatierten Aufsatz kritisch hinterfragte in dem er darauf aufmerksam machte, dass „[…] die evangelische Kirche nicht nach Macht strebt, sondern von innerer Kraft lebt. Sie mischt sich nicht in die Politik [ein], aber sie darf auch nicht politisiert werden. […]“. 260 In den Vordergrund der nachfolgenden Debatten rückte die Frage nach einer politischen Theologie, die immer auch ein spezifisches Verständnis von dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat voraussetzte - ein Problem, das sich vor allem im sogenannten „Kirchenkampf “ widerspiegelte, der mit der Wahl Ernst Ludwig Dietrichs zum Landesbischof auch in Hessen und Nassau einen ersten Höhepunkt erreichen sollte. 258 Der Frankfurter Landeskirchenrat gab eine Verordnung heraus, die den Pfarrern untersagte sich im Amt oder als Privatperson politisch zu äußern. Vgl. Telschow, Ringen, 25. 259 Telschow, Ringen, 162. 260 Zitiert nach: Telschow, Geschichte der Evangelischen Kirche in Frankfurt am Main. Vom Anschluss Preußens bis zum Ende des NS-Staates. Bd. II, Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2019, 270. 4. Die Evangelische Kirche in Nassau-Hessen und Landesbischof Ernst Ludwig Dietrich 4.1. Einleitendes In der sich nun dem Ende entgegenneigenden Darstellung erscheint Ernst Ludwig Dietrich zunächst als die mit Abstand problematischste der aufgeführten kirchenleitenden Persönlichkeiten. Der nicht selten mit dem Schlagwort „Nazi-Bischof“ in Verbindung gebrachte Dietrich war nur knapp zwei Jahre, vom Februar 1934 bis November 1935, tatsächlich kirchenleitend aktiv tätiger Landesbischof der Evangelischen Kirche Nassau-Hessen. Bis 1945 führte er allerdings seinen Titel formal weiter, ohne dabei in der zunehmend gleichgeschalteten Kirche über tatsächlichen Einfluss zu verfügen. Das zunächst etwas einseitig erscheinende Bild vom „Nazi-Bischof“, welches sich in das kollektive Gedächtnis der heutigen EKHN eingeprägt haben mag, möchte Hermann Otto Geißler in seiner biographischen Studie über Dietrich um weitere Deutungsmuster ergänzen. 261 So rückt er vor allem die Veränderungen, die in Dietrichs politischem und theologischem Denken zwischen 1929 und 1974 stattgefunden haben, ins Zentrum seiner Studie. Auch wenn bereits vor der Dissertation Geißlers mehrere kurze biographische Skizzen zu Dietrich verfasst worden sind 262 , ist die Arbeit Geißlers am umfangreichsten und daher auch für die nachfolgenden Erörterungen von zentraler Bedeutung. 4.2. Biogramm: Theologe, Nationalsozialist, Bischof ohne Macht Biograph Hermann Otto Geißler beschreibt Dietrich als ehrgeizigen Perfektionisten, hinter dessen verschlossenem Erscheinungsbild sich ein zu heftigen Ausbrüchen fähiger, äußerst zwiespältiger Mensch verborgen haben soll. 263 Geboren wurde Ernst Ludwig Dietrich am 28. Januar 1897 in Groß-Umstadt als Sohn des Oberlehrers Prof. Michael Dietrich und seiner Frau Margarete Elisabeth geb. Weis. Aus Berufsgründen des Vaters zog die Familie nach Worms, wo der junge Dietrich geprägt von der Erinnerung an Martin Luther aufwuchs. Im Februar 1915, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, legte Dietrich sein Abitur ab. Geißler vermutet, dass eine Lungenerkrankung einen Fronteinsatz 261 Geißler, Hermann Otto: Ernst Ludwig Dietrich (1897-1974). Ein liberaler Theologe in der Entscheidung. Darmstadt 2012. 262 Vgl. Renkhoff, Otto: Nassauische Biographie: Kurzbiographien aus 13 Jahrhunderten, Wiesbaden 1992, 135.; Böcher, Otto: Hochschullehrer aus dem altsprachlichen Gymnasium, in: 1527-1977 - 450 Jahre Rudi-Stephan-Gymnasium. Worms 1977. 263 Vgl. Geißler, Dietrich, 518-522. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 75 76 Julia Csehan / Malte Dücker Ernst Ludwig Dietrich (Bild: EKHN) verhinderte. 264 Stattdessen begann der Abiturient im Sommersemester 1915 ein Studium der evangelischen Theologie und der Philologie der orientalischen Sprachen an der Universität Gießen. Während seines Studiums orientierte sich Dietrich theologisch an der sogenannten „religionsgeschichtlichen Schule“ 265 , die durch seine liberal-theologischen Lehrer Hermann Gunkel und Wilhelm Bousset vertreten wurde. 266 Nach gesundheitsbedingten Studienunterbrechung legte Dietrich im Sommer 1919 das Erste Theologische Examen ab. Im Herbst bezog er das Predigerseminar in Friedberg. Dort u. a. in Katechetik von Wilhelm Diehl unterrichtet, absolvierte Ernst Ludwig Dietrich am 1. September 1920 das Zweite Theologische Examen in Darmstadt. 267 Noch vor seiner Ordination in der Johanneskirche in Mainz wurde er zum Dr. theol. promoviert, zwei Jahre später folgte die Promotion zum Dr. phil. im Fach Orientalistik. Die Liebe zu den orientalischen Sprachen, insbesondere auch zum Hebräischen, begleitete ihn - für ein späteres NSDAP-Mitglied bemerkenswert - ein Leben lang. Auf die Heirat mit Gertrud Ohly 1921 und die Geburt seiner zwei Söhne (1923 und 1926) folgte ein kurzes Gastspiel als Pfarrer der Heiligengeistkirche in Hamburg-Barmbek, die er jedoch 1929 wieder verließ. Stattdessen zog es Dietrich in die nassauische Landeskirche. Er wurde im September von Landesbischof August Kortheuer in die renommierte Pfarrstelle an der Marktkirche in Wiesbaden eingeführt. Dort bot er neben den regulären Gottesdiensten eigene Vorträge an, bei denen er sich u. a. in antisemitischer Weise mit der „Judenfrage“ auseinandersetzte 268 , arbeitete aber zugleich auch am liberal-theologischen Publikationsorgan Das Evangelische Gemeindeblatt mit und äußerte sich dort z. B. durchaus positiv über Positionen des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. 269 Am 20. Januar 1932 stellte Dietrich den Antrag auf Aufnahme in die NSDAP, den er sechs Jahre später mit seiner „Hoffnung auf die Überwindung der Parteipolitik durch den Nationalsozialismus“ begründen sollte. 270 Zweifellos bedeutete die Annäherungen an die Nationalsozialisten für Dietrich zudem die 264 Ebd., 43. 265 Eine um 1890 in Göttingen gegründete Gruppe evangelischer Theologen, die sich von der historisch-kritischen Bibelexegese A. Ritschels löste und die sowohl philologische als auch altertumswissenschaftliche Einflüsse auf die Entstehung des Christentums nachzuweisen versuchte. Ein radikaler Historismus folgte aus diesen Überlegungen. Vgl. auch: Lüdemann, Gerd (Hg.): Die „Religionsgeschichtliche Schule“. Facetten eines theologischen Umbruchs. Frankfurt am Main 1996. 266 Geißler, Dietrich, 49. 267 Ebd., 48 f. 268 Vgl. ebd., 63. 269 Ebd., 62. 270 Dietrich, Ernst Ludwig: Erinnerungen an den Kirchenkampf, 1938, zitiert nach: Geißler, Dietrich, 65. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 77 78 Julia Csehan / Malte Dücker Möglichkeit, kirchenpolitisch aufzusteigen. Auch die Beziehung Dietrichs zu August Jäger, den er im November 1931 getraut hatte 271 , hatte ihren Anteil daran, dass der Pfarrer der Marktkirche auf dem nassauischen Landeskirchentag vom 12. September 1933 zum Bevollmächtigten für die Kirchenvereinigung in Nassau bestimmt wurde. Damit hatte er auch die Aufgabe, die dort beschlossene Zwangspensionierung August Kortheuers zu vertreten. Der Weg zum Bischofsamt der neu gegründeten EKNH brachte ihn anschließend auch in Konflikt mit Wilhelm Diehl, der sich selbst große Hoffnungen auf diese Position machte und lange die trügerische Annahme vertrat, Dietrich sei kein ernstzunehmender Bischofskandidat, sondern diene nur als „Strohmann“ 272 . Die Mehrheit der Synodalen war wohl tatsächlich von der Berufung Diehls ausgegangen 273 und selbst Reichsbischof Ludwig Müller scheint bis Weihnachten 1933 die Berufung des ehemaligen hessischen Prälaten geplant zu haben. 274 Insbesondere auf Intervention Jägers hin ernannte der Reichsbischof im Februar 1934 dann aber doch Dietrich zum ersten Landesbischof der neu gegründeten Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen, der als gewissermaßen erste Amtshandlung auch Wilhelm Diehl in den Ruhestand schickte. Mit dem Beschluss der Landessynode vom 27. April 1934, ihre legislativen Befugnisse an die Reichskirche zu übergeben 275 , schritt allerdings die Entwicklung der zentralistischen Gleichschaltungspolitik der NSDAP voran, die bereits im November 1935 zur faktischen Entmachtung des Landesbischofs führen sollte. In diesem Jahr wurde die Deutsche Evangelische Kirche und damit auch die formal noch existenten Landeskirchen direkt der Regierung unterstellt und das Reichsministerium für die Kirchlichen Angelegenheiten geschaffen. 276 Damit reagierte die politische Führung in Berlin auch auf den andauernden Konflikt zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche , den Hitler selbst als Gefahr der „politisierten Konfessionen“ betrachtete. 277 In Nassau war damit die Bildung des Landeskirchenrats und später des Landeskirchenausschusses verbunden, der die Befugnisse des Bischofs gegen 271 Dies war Jägers zweite Ehe, zu den genauen Umständen vgl. Geißler, Dietrich, 64 f. 272 Diehl, Wilhelm: Brief an Carola Barth vom 23. Dezember1933, Auszug abgedruckt in: Kätsch / Sterik, Diehl, 150 f. 273 Vgl. Steitz, Geschichte, 554 f. 274 Vgl. Geißler, Dietrich, 111. 275 Vgl. Grunwald, Klaus-Dieter: Kirchenkampf und Verwaltung aus gesamtkirchlicher Perspektive, in: Ders. / Oelschläger, Ulrich (Hg.): Evangelische Landeskirche in Nassau-Hessen und Nationalsozialismus. Auswertung der Kirchenkampfdokumentation der EKHN. Darmstadt 2014, 77 f. 276 Vgl. Besier, Gerhard: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 3, Spaltung und Abwehrkämpfe 1934-1937. München 2001, 287-336. 277 Vgl. ebd., 85. den Widerspruch Dietrichs massiv einschränkte. 278 Verschiedene Versuche Dietrichs, seinen kirchenpolitischen Einfluss wiederzugewinnen, scheiterten und sorgten für eine Verschärfung der Konflikte und seine zunehmende Isolation. Biograph Hermann Otto Geißler diagnostiziert in diese Zeit den „wachsenden Verlust seines [Dietrichs] Glaubens, an die Kirchenfreundlichkeit des Nationalsozialismus und Hitler.“ 279 An Weihnachten 1937 schrieb der promovierte Orientalist Dietrich pikanterweise in sein auch in hebräischer Sprache verfasstes theologisches Tagebuch, Hitler sei ein überheblicher Tyrann und Gewaltmensch. 280 Im Frühjahr des nächsten Jahres wurde die Landeskirche Nassau-Hessen schließlich endgültig in eine „Ein-Mann-Kirche“ unter Führung des Juristen Paul Kipper umgewandelt. 281 Auch wenn Dietrich weder seinen Titel als Landesbischof noch die NSDAP-Parteimitgliedschaft niederlegte 282 , kehrte er im Januar 1938 an seine Gemeindepfarrstelle an der Wiesbadener Marktkirche zurück. Er blieb trotzdem kirchenpolitisch aktiv: Am Ende des Jahres 1938 geschah etwas, das Karl Herbert - vielleicht etwas sehr emphatisch - als eine historische „Sensation“ beschrieb. 283 Angestoßen von weiteren Einigungsmaßnahmen des Reichskirchenministers Hanns Kerrl 284 , die offenbar der theologisch unbefriedigenden Situation einer einem Juristen unterstellten „Ein-Mann-Kirche“ geschuldet waren, schloss sich Dietrich im November 1938 mit dem Frankfurter Paulskirchenpfarrer und BK-Mitglied Karl Veidt und dem Diehl-Vertrauten Propst Friedrich Müller zusammen. Sowohl Müller, mit dem Dietrich im Landeskirchenrat mehrmals aneinandergeraten war, als auch Veidt - ehemals Vorsitzender des Landesbruderrats - mussten Dietrich während seiner Zeit als aktiver Landesbischof als Feind betrachtet haben und auch Dietrich wird es umgekehrt nicht anders gegangen sein. Diese „Überschreitung bisheriger Grenzen“ 285 führte zur Gründung des sogenannten „Kirchlichen Einigungswerks“. Dietrich verkündete am 25. Januar 1939 auf einem in diesem Zusammenhang einberufenen Pfarrertag in Frankfurt öffentlich, nicht mehr „auf der Durchsetzung des politischen Führerprinzips“ zu bestehen 286 . Der Anspruch des 278 Beschluss abgedruckt bei Geißler, Dietrich, 267 f. 279 Geißler, Dietrich, 39. 280 Dietrichs eigene Übersetzung wird zitiert von Geißler, Dietrich, 327. 281 Vgl. Grunwald, Kirchenkampf, 97-103. 282 Geißler, Dietrich, 335. 283 Herbert, Durch Höhen, 120. 284 Hans Kerrl (1887-1941), ab 1923 Mitglied der NSDAP und SA, ab 1934 Reichsminister ohne Geschäftsbereich, ab 1935 spöttisch „Minister für Raum und Ewigkeit“ genannt. Kerrls Kirchenpolitik mit dem Ziel einer gleichgeschalteten Reichskirche scheiterte, vgl. Klee, Personenlexikon, 305. 285 Geißler, Dietrich, 354. 286 Zitiert nach ebd., 371. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 79 80 Julia Csehan / Malte Dücker Einigungswerks, die geistliche Leitung über die Landeskirche zu übernehmen, und damit auch die sogenannte „AG Di-Mü-Vei“ scheiterte aber letztlich am Widerspruch des Reichskirchenministers. 287 Die kirchenpolitische Führungskompetenz verlieb bei Paul Kipper, der als „linientreuer Funktionär“ 288 die ideologische Positionierung der deutsch-christlichen „Godesberger Erklärung“ von 1939 vertrat - einem Schriftstück, das das Christentum völkisch-national und als „unüberbrückbare[n] religiöse[n] Gegensatz zum Judentum“ definierte. 289 Das Einigungswerk lehnte diese Erklärung ab und Dietrich entwickelte sich nach Geißler mehr und mehr zur „ persona non grata “ der Nationalsozialisten, die auch von Verhören durch die Gestapo nicht verschont blieb. 290 Ein Protest des Einigungswerk gegen die Verordnung über den „Ausschluss der rasse-jüdischen Christen“ aus der EKNH blieb aber aus. 291 Den Zweiten Weltkrieg verbrachte Dietrich als Gemeindepfarrer an der Marktkirche, die - trotz der verhältnismäßig eher geringeren Zerstörung der Stadt Wiesbaden - spätestens 1945 durch den Bombenkrieg erheblich in Mitleidenschaft gezogen war. Nach Kriegsende wurde Dietrich am 1. Juni 1946 vom Predigtdienst und vom Religionsunterricht beurlaubt. Die Spruchkammer in Wiesbaden urteilte am 20. September 1946 „Gruppe 4 - Mitläufer“. 292 Daraufhin erfolgte ein Berufungsverfahren im Juli 1947, welches Dietrich in die Gruppe 3 „Minderbelastete“ einordnete und eine zweijährige Bewährungsfrist verhängte, welche jedoch auf Grund eines Gnadenerlasses am 30. September 1948 aufgehoben wurde. Ein erstes Gespräch mit dem neugewählten Kirchenpräsidenten der - mittlerweile - EKHN Martin Niemöller brachte keine Annäherung. 293 Dennoch hob die Kirchensynode 1949 Dietrichs Beurlaubung auf. An alter Wirkungsstätte in Wiesbaden konnte er ab dem 11. November 1949 wieder predigen. Zudem hielt Dietrich Vorlesungen am Orient-Institut Frankfurt am Main und nahm einen Lehrauftrag an der dortigen Goethe-Universität wahr. Seine Hoffnung auf die Verleihung eines Professorentitels im Frühjahr 1969 zerschlug sich allerdings. Der ehemalige Landesbischof verstarb am 20. Januar 1974 im Alter von 77 Jahren. 287 Vgl. Stellungsnahmen abgedruckt in Steitz, Geschichte, 593. 288 Grunwald, Kirchenkampf, 100. 289 Godesberger Erklärung, in: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, 1/ 1271, Bl. 8ff. und: https: / / de.evangelischer-widerstand.de/ html/ view.php? type=dokument&id=63 (31.10.2018). 290 Vgl. Geißler, Dietrich, 386 ff. 291 Ebd., 404 f. 292 Vgl. ebd., 435 ff. 293 Ebd., 463 ff. 4.3. Politisches Profil: liberal, nationalsozialistisch, mittig Eine kohärente Profilierung Ernst Ludwig Dietrichs erscheint angesichts der dargestellten Vielschichtigkeiten nicht ganz einfach. Als von der religionsgeschichtlichen Schule geprägter, liberaler Theologe und Orientalist verfasste er selbst zur Hochzeit des Nationalsozialismus Tagebucheinträge in hebräischer Sprache. Dabei vertrat er die im zeitgenössischen Protestantismus nicht seltene Position, die Bedeutung der hebräischen Bibel sei hochzuhalten, dem einzelnen Juden mit Nächstenliebe zu begegnen, das Judentum als Ganzes aber in antisemitischer und rassistischer Weise als „Volksfeind“ zu verdammen. 294 Dietrichs theologische Liberalität verhinderte weder seinen mit antidemokratischen Argumenten begründeten Eintritt in die NSDAP, noch das kirchenpolitisch autoritäre Auftreten in seinen ersten Jahren als Landesbischof. Klaus Scholder urteilte entsprechend: Der junge nassau-hessische Bischof gehörte zu jener großen Gruppe von Deutschen, deren Wesen sich unter dem Einfluß des Nationalsozialismus von Grunde auf verändert zu haben schien. […] In wenigen Monaten hatte er sich […] zu einem deutschchristlichen Führer gewandelt, dessen rüdes Vorgehen selbst für diese Zeit ungewöhnlich war. 295 Nicht nur die Tatsache, dass Dietrich formal niemals den Deutschen Christen beigetreten ist - wie Geißler betont 296 - lassen das Bild aber komplexer erscheinen. Am Nationalsozialismus faszinierte ihn nach eigenem Bekunden, dass dieser „dynamisch - organisch - konkret“, die begeisternde Massenwirkung erzeugen konnte, die dem Protestantismus verloren gegangen sei. 297 Am autoritären Führerprinzip des Bischofsamts mag ihn die Verlockung angesprochen haben, in der Landeskirche unmittelbar selbst „für Ordnung“ sorgen zu können. Dass er als Landesbischof aber selbst von einer ganzen Reihe an Abhängigkeiten gegenüber dem NS-Regime bestimmt blieb 298 , musste ihm spätestens mit seiner im Zuge zunehmender Gleichschaltungstendenzen geschehenen, faktischen Entmachtung klar geworden sein. Seine auch kirchenpolitische Neuorientierung ließ Dietrich nach Geißler zu einem „Mann der Mitte“ 299 werden, der sich mit der Gründung des Einigungswerks nicht scheute, neue Allianzen zu schließen. Der Bekennenden Kirche blieb er allerdings - als liberaler Protestant auch aus 294 Vgl. ebd., 63. 295 Scholder, Kirche, Bd. 2, 162. 296 Geißler, Dietrich, 71. 297 Ebd., 505. 298 Vgl. ebd., 238 ff. 299 Ebd., 312. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 81 82 Julia Csehan / Malte Dücker theologischen Gründen - ebenso ablehnend gegenüber, wie er es ab Mitte der 1930er Jahre auch den Deutschen Christen gegenüber war. 300 Seine Selbstverortung innerhalb des „Widerstands“ gegen den Nationalsozialismus 301 muss man dabei nicht teilen. Insgesamt erscheint Dietrich als zunächst durchaus machtbewusster Kirchenführer, der sich mit Hilfe seiner Parteigenossen gegen die Amtsinhaber Kortheuer und Diehl durchsetzen konnte. Letztlich ereilte ihn aber das gleiche Schicksal wie seine Vorgänger. Im unkontrollierbaren System des Totalitarismus verlor er seinen Einflussbereich und schaffte es trotz intensiver Bemühungen um neue Bündnisse niemals, seine kirchenleitende Machtfülle wiederzuerlangen. Nach Kriegsende arbeitete er weitgehend isoliert als Gemeindepfarrer in Wiesbaden. Zu einem ernstzunehmenden Schuldeingeständnis ist es nie gekommen. 5. Kontinuität oder Neuanfang? Die „politische Kirche“ nach 1945 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebiet der heutigen Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau von den Amerikanern besetzt. Der Alliierte Kontrollrat setzte die staatliche und die kirchliche Gesetzgebung außer Kraft. Unweigerlich stellte sich deshalb auch die Frage, ob die Vereinigung der EKNH nun aufgelöst und die Kirche wieder in ihre ursprünglichen Teile „zerfallen“ sollte, was schließlich der Fall war. Alle drei Landeskirchen bildeten zunächst vorläufige Kirchenleitungen. 302 Erst auf dem gemeinsamen Kirchentag in Friedberg am 30. September 1947 bestätigten die 120 Delegierten den Zusammenschluss der drei Kirchen. Parker weist hier zurecht auf das Wort „bestätigt“ in der Erklärung hin, dass - anders als das Wort „Gründung“ - die Kontinuität und nicht den Neuanfang betont. 303 Für die in diesem Aufsatz vorgestellten kirchenleitenden Persönlichkeiten lässt sich diese Kontinuität allerdings nicht behaupten: Wilhelm Diehl, der heute am ehesten als „Gründungsvater“ der EKHN begriffen wird 304 , war 1944 im Bombenkrieg verstorben, Wilhelm Bornemann starb 1946, Johannes Kübel war bereits 1938 in seine fränkische Heimat zurückgekehrt. Ernst Ludwig Dietrich hatte am 18. Mai 1945 sein Amt niedergelegt und musste sich als ehemaliges NSDAP-Mitglied zunächst vor diversen Gerichten und Untersuchungskommissionen verantworten und um seine Rehabilitierung bemühen - an eine erneute kirchenleitende Tätigkeit in gehobener Position war nicht zu denken. Am 300 Vgl. ebd., 369. 301 Vgl. ebd., 390 f. 302 Parker, Marburger, 77. 303 Ebd., 78. 304 So etwa im Untertitel der Monographie von Wolfgang Lück. ehesten kann dem mittlerweile 77-jährigen August Kortheuer zugeschrieben werden, noch einmal - wenn auch nur für kurze Zeit - kirchenleitendes Gewicht erlangt zu haben. Dieser hatte von dem von den Alliierten ernannten Regierungspräsidenten eine Bestätigung erhalten, die ihn „mit der Leitung der kirchlichen Angelegenheiten im Bezirk der ehemaligen Landeskirchen Nassau und Frankfurt“ 305 betraute. Die vorläufige Kirchenregierung der hessischen Landeskirche stand unter dem Vorsitz des bereits erwähnten Friedrich Müller, der sich mit Dietrich und Veidt im kirchlichen Einigungswerk engagiert hatte. Müller übernahm im Juni 1945 auch den Vorsitz über den neu gegründeten Verbindungsausschuss der drei Landeskirchen, der das Ziel verfolgte, die Einheit von Hessen, Nassau und Frankfurt wiederherzustellen. 306 Das hohe Ansehen Müllers mag auch damit zusammenhängen, dass man ihm ausgehend von seiner Zusammenarbeit mit Dietrich und Veidt zutraute, die konträren, ehemaligen Fraktionen von Deutschen Christen und Bekennender Kirche vermittelnd wieder zusammenbringen zu können. 307 Auch auf Müller würde in diesem Zusammenhang das in diesem Aufsatz bereits mehrfach aufgetauchte Schlagwort vom „Mann der Mitte“ passen. Sowohl für Wilhelm Diehl 308 als auch - nach seiner Neuausrichtung - für Ernst Ludwig Dietrich 309 lässt sich diese kirchenpolitische Charakterisierung in der Literatur belegen. Auf Wilhelm Bornemanns um Kompromiss und Ausgleich bemühtes Wesen lässt sie sich ebenso übertragen, wie auf das überparteiliche Amtsverständnis des zunächst freilich in der kirchenpolitischen Rechten beheimateten August Kortheuer. Selbst Johannes Kübels Selbsteinschätzung, „politisch rechts, theologisch und kirchenpolitisch links“ 310 zu sein, offenbart eine weltanschauliche Bandbreite, die sich vorschnellen Eingrenzungen entzieht. Dass die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau letztlich keinen Kirchenpräsidenten bekam, der sich in dieser Traditionslinie bewegte, mag vor allem damit zusammenhängen, dass Friedrich Müller nur zwei Wochen vor Beginn der Friedberger Synode an einem Herzinfarkt verstarb. Mit Martin Niemöller wurde stattdessen ein Präsident gewählt, dem man eine kirchenpolitisch vermittelnde Amtsführung wohl kaum zuschreiben kann. Sein polarisierender, vom „Kirchenkampf “ geprägter, gesellschaftspolitisch engagierter Führungsstil entsprach vielleicht am ehestem dem, was heute mit dem Schlagwort „politische 305 Zitiert nach Herbert, Durch Höhen, 146. 306 Protokolle und Quellen zur Arbeit des Ausschusses finden sich in: Kätsch / Sterik, 50 Jahre EKHN, 120-128. 307 Vgl. Anonyme Erfahrungen eines Pfarrers, abgedruckt in: ebd., 180. 308 Lück, Diehl, 164 f. 309 Geißler, Dietrich, 312. 310 Kübel, Erinnerungen, 82. Hessische Kirchenleiter, Prälaten, Präsidenten von 1918/ 19 bis 1947 83 84 Julia Csehan / Malte Dücker Kirche“ verbunden wird. Dass die EKHN bzw. ihre Vorgängerkirchen in diesem Sinne „seit jeher“ politische Kirchen gewesen sind, lässt sich nicht bestätigen. Ob man die Vorgängerkirchen und ihre leitenden Persönlichkeiten in einem anderen Sinne als „politisch“ beschreiben möchte, hängt ganz von der Interpretation dieses Attributs ab. Diehl, Kübel und Dietrich waren selbst Mitglieder in politischen Parteien, doch verstanden sie sich keineswegs als Anhänger der Parteiendemokratie. Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments und die weitgehende Trennung von Kirche und Staat hatte die Kirchen und damit auch ihre Leitungsfiguren dazu gezwungen, ihre Rolle zur neu entstandenen Republik neu zu bestimmen. Der dabei verbreitete „Vernunftrepublikanismus“ und politische Pragmatismus eines Diehl oder im Kern stets kaisertreuen Kortheuer ließ sie mit den demokratischen Strukturen kooperieren, konnte sie aber in der Krise der Republik nicht zur Verteidigung der Demokratie mobilisieren. Alle vorgestellten Leitungspersönlichkeiten gestalteten ihren Führungsstil mehr oder weniger autoritär und trafen wichtige Entscheidungen im Zweifelsfall ohne Rücksprache mit den Synoden oder Kirchentagen im Alleingang. Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum verwunderlich, dass diese im Kaiserreich aufgewachsenen Theologen - wie viele ihrer Zeitgenossen - tendenziell für die Versprechungen von Ordnung und Durchschlagskraft anfällig waren, die mit dem nationalsozialistischen Führerprinzip in Verbindung standen. In der Extremform galt dies für Ernst Ludwig Dietrich, doch auch Wilhelm Diehl ließ sich von der Aussicht auf die Gründung einer großhessischen Kirche zur Kooperation mit den Deutschen Christen locken. Insgesamt hat sich aber auch gezeigt, dass sich die politische Profilierung der einzelnen kirchenleitenden Persönlichkeiten deutlich komplexer gestaltet, als es auf den ersten Blick erscheint. Theologische und politische Verortungen im „Parteienspektrum“ konnten durchaus voneinander abweichen, vermeintlich klare Positionierungen abgewandelt werden. Aus heutiger Perspektive verstehen wir die deutsche Geschichte zwischen 1918 und 1945 meist als eine Geschichte des dramatischen Scheiterns. Das gilt auch für die hessische Kirchengeschichte. Die vorgestellten Akteure tragen für dieses Scheitern eine nicht unerhebliche Mitverantwortung. Und dennoch bildet die vorgestellte Phase der kirchlichen Zeitgeschichte die historische Grundlage der heutigen Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Es gibt keinen Grund dazu, Diehl, Kortheuer, Bornemann, Kübel oder gar Dietrich zu „Kirchenvätern“ der EKHN zu verklären. Es gibt aber auch keinen Grund, ihre Geschichten zu vergessen, die so vieles über die Potenziale und Gefahren vom „Politischen“ in den Kirchen zum Ausdruck bringen können. Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalische Quellen aus den Beständen des Zentralarchivs der EKHN, Ahastraße 5a, 64285 Darmstadt. Archivalische Quellen aus den Beständen des Archivs der Johann Christian Senckenberg-Bibliothek, Bockenheimer Landstraße 134-138, 60307 Frankfurt a.M. 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Während Kirchenpräsident Volker Jung seinen Amtsvorgänger als einen wegweisenden evangelischen Theologen würdigte, dem die „großen Aufgaben der Versöhnung und der Sicherung des Friedens besonders am Herzen lagen“, betonte Präses Ulrich Oelschläger, dass Niemöller bis heute zur Identität der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau gehöre. 1 Kirchenpräsident Martin Niemöller (Bild: Zentralarchiv der EKHN) In der Tat, wenn die EKHN auch 2017 bisweilen noch als „Niemöller-Kirche“ bezeichnet wird, zeigt dies, welche Prägekraft ihr erster Kirchenpräsident auf sie ausgeübt hat, auch und gerade hinsichtlich ihrer Selbstwahrnehmung als „politischer Kirche“. Niemöller betrachtete es als unerlässlich, dass die Kirche und ihre Glieder als Konsequenz aus dem Glauben an Jesus Christus zu den zentralen politischen Entscheidungsfragen ihrer Zeit Position beziehen mussten. Er selbst ging in diesem Sinne voran - allerdings auf eine oft impulsive und zuspitzende Art und Weise, die nicht nur heftige innerkirchliche Spannungen hervorrief, sondern Niemöller darüber hinaus zu einer der kontroversesten öffentlichen Persönlichkeiten der frühen Bundesrepublik machte, was wiederum auch auf die Außenwahrnehmung der EKHN zurückschlug. Niemöllers Interventionen im politischen Raum ergaben sich dabei ganz wesentlich aus seiner Sorge für die Bewahrung der Schöpfung. Aus ihr heraus setzte er sich gegen die Westintegration und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ein, da er in der fortgesetzten Teilung Deutschlands eine existentielle Gefahr für den Frieden sah; aus ihr heraus wurde er angesichts des völlig neuartigen Zerstörungspotentials der Nuklearwaffen zum radikalen Pazifisten und 1 Vgl. den Pressebericht der EKHN zu diesem Festakt: www.ekhn.de/ aktuell/ detailmagazin/ news/ martin-niemoeller-gehoert-zu-hessen-nassaus-identitaet.html (08.07.2017). 90 Jan Schubert Kirchenpräsident Martin Niemöller (Bild: EKHN) Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 91 Pionier der Friedensbewegung; aus ihr heraus engagierte er sich für die gelebte Ökumene und den Dialog über alle politisch-ideologische Grenzen hinweg, um so Spannungen abzubauen und ein friedliches Miteinander von Menschen und Völkern zu ermöglichen. Im Folgenden wird dieses Engagement für Frieden und Versöhnung vor dem Hintergrund von Niemöllers Biographie dargestellt und in den Kontext seiner Amtszeit als Kirchenpräsident der EKHN eingeordnet. 2. Biographie 2.1. Vom U-Boot zur Kanzel Martin Niemöller wurde am 14. Januar 1892 als Sohn eines lutherischen Pfarrers im westfälischen Lippstadt geboren. Das Elternhaus war stark von deutschnationalen Einstellungen geprägt. Kaiserverehrung sowie die Begeisterung für Preußentum und alles Militärische, zumal für die aufstrebende kaiserliche Flotte, waren hier selbstverständlich und auch für den jungen Martin maßgebliche Einflüsse. Den Beginn des ersten Weltkrieges erlebte er - mittlerweile hatte er sich der Marine angeschlossen - wie so viele seiner Generationsgenossen als ein überwältigendes Ereignis der nationalen Einheit. 1915 meldete er sich zur U-Boot-Flotte, im Frühjahr 1918 betraute man ihn mit einem eigenen U-Bootkommando. Bis an sein Lebensende erinnerte er sich trotz der Schrecken des Krieges gerne an diese Jahre und insbesondere an das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Besatzungsmitgliedern zurück. 2 Die deutsche Kapitulation im November 1918 war für ihn ein Schock. Er konnte sie sich nur mit der von reaktionären Kräften vorgebrachten These des Dolchstoßes durch die Politiker an der Heimatfront erklären. 3 Dementsprechend stand er auch dem politischen Umsturz jener Wochen mit tiefer Ablehnung gegenüber. So weigerte er sich, als er im Dezember 1918 in den Kieler Hafen eingelaufen war, die rote Fahne der Revolution auf „seiner“ UC 67 zu hissen. Da es für ihn nicht in Frage kam, der Weimarer Republik als Soldat zu dienen, musste er sich neu orientieren. Nach kurzen Überlegungen, in die Landwirtschaft der westfälischen Heimat zu gehen oder nach Südamerika auszuwandern, entschied er sich, in Münster Theologie zu studieren. Dabei spielte sicherlich das Vorbild 2 Vgl. Stöhr, Martin: Zu Leben und Werk von Martin Niemöller, in: Martin Niemöller. Gewissen vor Staatsräson. Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Joachim Perels. Mit einem Nachwort von Martin Stöhr. Göttingen 2016, 275-333, hier 279. 3 So schrieb er 1934 rückblickend: „Auf die Bundesgenossen war kein Verlaß mehr; aber, daß gerade in diesem Augenblick im deutschen Volk die selbstmörderische Zwietracht geschürt wurde, das war das Verbrechen von 1918.“ Niemöller, Martin: Vom U-Boot zur Kanzel. Berlin 1934, 133. 92 Jan Schubert des Vaters und die christliche Sozialisation im elterlichen Pfarrhaus eine Rolle. Vor allem aber wollte er, wie er sich 1934 in seiner Autobiographie „Vom U-Boot zur Kanzel“ erinnerte, als evangelischer Pfarrer den Menschen vor Ort dienen, sie zu starken und freien Menschen machen und auf diese Weise zur Erneuerung des deutschen Volkes in seiner „trostlosen völkischen Lage“ beitragen. 4 Aus seiner patriotischen Gesinnung heraus war es für ihn essentiell, das Christentum als „konservative Ordnungsmacht“ gegen das neue demokratische System und seine liberalen Grundlagen in Stellung zu bringen: „Völkische Erziehung vermittelt durch die Kirche als eine der letzten Bastionen deutsch-nationaler Überzeugung, reaktionärer Wertevermittlung jenseits der Parteien“ - darin sah er, so Matthias Schreiber, „die Chance, die ungeliebte Republik zu überwinden“. 5 Nach knapp vier Jahren Studium und einem verkürzten Vikariat wurde er im Dezember 1923 - die Ordination erfolgte im darauffolgenden Jahr - zum zweiten Geschäftsführer der Inneren Mission in Westfalen berufen. Diese Arbeit gab ihm nach einer schwierigen materiellen Zeit finanzielle Sicherheit. Darüber hinaus konnte er hier bei umfangreichen Restrukturierungen der Inneren Mission sein organisatorisches Talent entfalten, unter anderem indem er die Gründung einer solide aufgestellten Darlehensgenossenschaft lancierte, die auch den Bankencrash von 1929 unbeschadet überstand. Eine Lebensaufgabe sah er in dieser Tätigkeit, die überwiegend aus Gremienarbeit, Managementverantwortlichkeiten und der Kontaktpflege zu den einzelnen Gemeinden bestand, jedoch nicht. Dankbar nahm er daher 1931 das Angebot an, als Pfarrer in den Gemeindebezirk Berlin-Dahlem zu wechseln, wo er als Prediger und Seelsorger bald breite Wertschätzung erfuhr. 2.2. Kirchenkampf und KZ Seine politische Grundeinstellung hatte sich in den Jahren der Weimarer Republik nicht geändert. In die Nationalsozialisten, denen er in allen Reichstags- 4 Dort hieß es: „Es war eigentlich kein theologisches Interesse, was dahinter steckte und den Ausschlag gegeben hätte. (…) Aber daß das Hören auf die Christusbotschaft und der Glaube an Christus als den Herrn und Heiland neue, freie und starke Menschen macht, dafür hatte ich in meinem Leben Beispiele gesehen, und das hatte ich aus meinem Elternhaus als Erbe mitgenommen. (…) Damit konnte ich, das war meine Überzeugung, meinem Volk aus ehrlichem und geradem Herzen dienen; und damit konnte ich ihm vielleicht mehr und besser helfen in seiner trostlosen völkischen Lage, als wenn ich still und zurückgezogen nur einen Hof bewirtschaftet hätte, wie ich mir das gedacht hatte.“ Ebd., 163. 5 Schreiber, Matthias: Martin Niemöller. Reinbek 2008, 36. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 93 wahlen seit 1924 seine Stimme gegeben hatte, 6 setzte er angesichts der sozialen Verwerfungen in Folge der Weltwirtschaftskrise große Hoffnungen. In einem Radiovortrag im Herbst 1931 fragte er: „Wo ist der Führer? (…) Wann wird er kommen? Unser Sehnen und Wollen, unser Rufen und Mühen bringt ihn nicht herbei. Wenn er kommt, kommt er als Geschenk, als Gabe Gottes.“ 7 Infolgedessen begrüßte er die politische Wende im Januar 1933. 8 Nachdem die neuen Machthaber aber sofort begannen, auch den kirchlichen Bereich „gleichzuschalten“ und den öffentlichen Einfluss der Kirchen und des Christentums insgesamt zu beschränken, wandelte sich seine Haltung. So stand er dem Ansinnen der Kirchenpartei der Deutschen Christen (DC), eine Reichskirche im Einklang mit der nationalsozialistischen Ideologie und unter Ausschluss aller „Fremdrassigen“ zu schaffen, von Beginn an mit scharfer Ablehnung gegenüber. Aus diesem Grund gehörte er nicht nur dem Vorstand der Jungreformatorischen Bewegung an, die sich in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen gegen die DC positionierte, sondern war im September 1933 auch Mitbegründer und erster Vorsitzender des Pfarrernotbundes, in dem sich evangelische Pastoren, kirchliche Amtsträger und Theologen gegen die Einführung des Arierparagraphen in der Deutschen Evangelischen Kirche zusammenschlossen. Durch diesen Einsatz wurde er schnell zu einer zentralen Figur der sich aus diesen Gruppierungen heraus entwickelnden Bekennenden Kirche, deren große Bekenntnissynoden in Barmen (Mai 1934) und Dahlem (Oktober 1934) seine ungeteilte Zustimmung fanden. 9 Aufgrund seiner exponierten Stellung im Kirchenkampf, vor allem aber nach einer persönlichen Konfrontation mit Hitler - auf einem Empfang von Kirchenführern im Januar 1934 hatte er diesem erklärt, der Kampf der Bekennenden Kirche um die Freiheit der Verkündigung geschehe aus „Sorge um das Dritte Reich“ - sah er sich freilich auch umfangreichen Repressalien durch das Regime ausgesetzt. Die Gestapo überwachte und verhörte ihn mehrfach. 1934 erhielt er ein Predigtverbot, das er in der Folge konsequent missachtete, was ihm wiederum dutzende gerichtliche Verfahren einbrachte. 6 Noch bei den Reichstagswahlen im April 1933 hatte Niemöller eigenem Bekunden zufolge NSDAP gewählt. Vgl. Schmidt, Dietmar: Martin Niemöller. Eine Biographie, erweiterte Neuausgabe. Stuttgart 1983, 186. 7 Zitiert nach Schreiber, Niemöller, 48. 8 Vgl. zu Niemöllers zustimmender Haltung zu zentralen Punkten des nationalsozialistischen Programms: Heymel, Michael: Martin Niemöller. Vom Marineoffizier zum Friedenskämpfer. Darmstadt 2017, 58. 9 James Bentley postuliert, dass es im Wesentlichen Niemöllers Verdienst gewesen sei, innerhalb von wenig mehr als einem halben Jahr die Bekennende Kirche aus der Taufe zu heben. Vgl. Bentley, James: Martin Niemöller. Eine Biographie. München 1985, 129. 94 Jan Schubert In vollumfänglicher Opposition zum NS-Regime befand er sich auch zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht, im Gegenteil: Vielen Elementen und Zielen des Nationalsozialismus konnte er ohne weiteres zustimmen. So gratulierte er Hitler im Oktober 1933 im Namen des Pfarrernotbundes nicht nur überschwänglich zum Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund, 10 auch die angeblichen innenpolitischen Verdienste des NS-Regimes vermerkte er regelmäßig mit Zustimmung. Sein 1934 erschienenes Erinnerungsbuch „Vom U-Boot zur Kanzel“ war stark von antiliberalem und deutschnationalem Gedankengut durchdrungen, was auch erklärt, dass es in den folgenden Jahren mehrere Neuauflagen erfuhr - die NS-Zensur konnte daran offenbar keinen Anstoß finden. Seine Fundamentalkritik an der NS-Kirchenpolitik und den Absichten des Regimes, auch den kirchlichen Bereich seinem Herrschaftsanspruch zu unterstellen, tat seiner Loyalität gegenüber dem Staat insgesamt also keinen Abbruch. Anders als Dietrich Bonhoeffer, der es schon im Juni 1933 für die Pflicht der Kirchen gehalten hatte, dem „Rad“ des Staates notfalls „in die Speichen zu fallen“, 11 lehnte Niemöller politischen Widerstand ab. Auch sein Protest gegen die NS-Rassenpolitik im Rahmen des Pfarrernotbundes bezog sich auf die Christen jüdischer Abstammung, nicht jedoch auf die verfolgten Juden im Ganzen, wie er auch generell nicht frei von antisemitischen und antijudaistischen Tendenzen war. 12 Ungeachtet der grundsätzlichen Treue zum Staat verstärkte sich zwischen 1934 und 1937 seine Oppositionshaltung zum Regime. Schrittweise wurde er zum Gegner nicht nur der NS-Kirchenpolitik, sondern auch der Methoden der Hitler-Diktatur und deren „Neuheidentum“ insgesamt - eine Entwicklung, die nicht zuletzt auf einen deutlichen theologischen Wandel bei ihm zurückzuführen ist. War er insbesondere durch die Eindrücke seines Theologiestudiums in Münster bis zu Beginn der 1930er-Jahre noch stark von der Theologie der „Schöpfungsordnungen“ geprägt, mit der auch die Deutschen Christen die Verabsolutierung von Kategorien wie „Rasse“ oder „Volk“ rechtfertigten, übernahm er ab 1934 immer konsequenter die „Wort-Gottes-Theologie“ Karl Barths für sich. Die von Barth maßgeblich mitformulierte Barmer Theologischen Erklärung (BTE) - und dabei vor allem deren erste These - wurde in den Jahren 10 Vgl. ebd., 102 f. 11 So Dietrich Bonhoeffer in seiner im Juni 1933 veröffentlichten Schrift „Die Kirche vor der Judenfrage“. Vgl. dazu: Schlingensiepen, Ferdinand: Dietrich Bonhoeffer 1906-1945. Eine Biographie. München 2005, 143 f. 12 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Leonore: Auseinandersetzung mit einem Stereotyp. Die Judenfrage Martin Niemöllers, in: dies. (Hg.): Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen. Frankfurt am Main 1994, 261-291. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 95 des Kirchenkampfes und darüber hinaus zum Fundament seiner Theologie. 13 In den Predigten seiner Dahlemer Zeit spiegelt sich der Versuch wider, die Implikationen von Barmen auch und gerade in Bezug auf die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland zu verkünden. Es war eine entscheidende Erkenntnis Niemöllers in diesen Jahren, dass die Politik nicht von der Kanzel ausgeschlossen werden dürfe. 14 Diese theologische Neuorientierung verband sich bei ihm mit einer tief verankerten Jesus-Frömmigkeit, einer Vorstellung von Jesus „als dem stets zur Zwiesprache bereiten Lehrer, Freund, Beschützer und Ratgeber“, 15 die ihm schon im Elternhaus mitgebeben worden war und die ihn sein Leben lang auf drängende ethische Problemstellungen die Frage stellen ließ: „Was würde Jesus dazu sagen? “. In der konkreten Situation der 30er-Jahre brachte ihn das immer mehr in Konflikt mit dem Regime. Nachdem in einer von ihm mitverantworteten Denkschrift vom 4. Juni 1936 erklärt wurde, dass die Kirchen die gezielte Entchristlichung des deutschen Volks durch den Nationalsozialismus nicht weiter ignorieren könnten, 16 bezichtigte er Hitler in einer Predigt vom 19. Juni 1937 in aller Öffentlichkeit des Wortbruches. 17 Dies gab am Ende wohl den Ausschlag für seine Verhaftung am 1. Juli 1937. Zwar verurteilte ihn ein Gericht rund acht Monate später lediglich zu einer Geldstrafe sowie zu Festhaftungshaft, die durch die Untersuchungshaft bereits als verbüßt galt, jedoch ließ Hitler ihn unmittelbar nach der Verhandlung erneut verhaften und als „persönlichen Gefangenen“ in das Konzentrationslager Sachsenhausen einliefern. Dort verbrachte er zunächst drei Jahre in Einzelhaft, bevor er im Juli 1941 nach Dachau verlegt wurde. Auch wenn ihm eine im Vergleich zu anderen Häftlingen privilegierte Behandlung zu Teil wurde, waren die knapp acht Jahre im KZ mit ihrer Ungewiss- 13 Später erklärte er, die erste These der BTE - „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ - sei in dieser Zeit zu seinem „einzigen theologischen Dogma“ geworden. Zitiert nach: Bentley, Niemöller, 134 f. 14 Vgl. Heymel, Michael: Martin Niemöllers Dahlemer Predigten. Editorischer Vorbericht, in: Niemöller, Martin, Dahlemer Predigten. Kritische Ausgabe, herausgegeben von Michael Heymel im Auftrag des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Gütersloh 2011, 15-74, hier 44. 15 Benad, Matthias: Trommeln, Pfeifen und Gewehr. Die Jahre bis 1910, in: Karnick, Hannes / Richter, Wolfgang (Hrsg.): Protestant - Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller. Frankfurt am Main 1992, 20. 16 Vgl. zu Inhalt und Entstehung dieser Denkschrift: Siegele-Wenschkewitz, Leonore: Was geht das einen Pfarrer an? Die Jahre von 1930 bis 1938, in: Karnick / Richter, Protestant, 61-108, 92 ff. 17 Vgl. zu dieser Predigt: Schreiber, Niemöller, 78 f. 96 Jan Schubert heit und Isolation eine einschneidende und sein weiteres Leben prägende Zeit 18 - auch und gerade in Bezug auf seine Ansichten über Kirche und seine eigene Rolle als Pastor. So war die Erfahrung des engen Zusammenlebens mit Katholiken in Dachau die „Geburtsstunde des ökumenischen Niemöllers“ 19 , die Wurzel seines umfangreichen ökumenischen Engagements nach 1945. Für eine kurze Zeit erwog er sogar, selbst zur römisch-katholischen Kirche zu konvertieren, was nicht zuletzt in einem zunehmend kritischen Blick auf die evangelischen Kirchen begründet lag. Mit ihrer Fokussierung auf Theologie und Schriftgelehrsamkeit hätten sich diese immer weiter vom Vorbild der biblischen Urgemeinde entfernt, indem sie die „Rechtfertigung aus Glauben“ als Herzstück protestantischer Theologie gepredigt, dabei aber die Dimension des Handelns, die sich aus dem Glauben notwendig ergeben müsse, vernachlässigt hätten. Letztendlich sah er von einer Konversion jedoch ab, denn er erkannte, „daß auch in der katholischen Kirche diese menschlichen Unzulänglichkeiten genauso schwer wiegen wie bei uns in der evangelischen Kirche“. 20 Schließlich war seine KZ- Zeit auch die Geburtsstunde des „Mythos Niemöllers“. Schon seine Verhaftung hatte international einen Sturm der Entrüstung ausgelöst und seinen Namen weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gemacht. In den folgenden Jahren wurde er - durch die Veröffentlichung seiner Dahlemer Predigten, aber auch und gerade durch diverse populärkulturelle Aneignungen wie Biographien und Filme - zum Sinnbild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. 21 2.3. Wiederaufbau nach dem Krieg Nach seiner Befreiung im Mai 1945 - auf einem Hinrichtungstransport mit anderen Gefangen nach Südtirol war er von einem Wehrmachtskommando befreit worden, das die Gruppe kurz darauf den Amerikanern übergab - trug er freilich selbst maßgeblich dazu bei, diesen Mythos wieder zu dekonstruieren. In einem Interview vom Juni 1945 betonte er, dass sein widerständiges Handeln primär religiös und nicht politisch motiviert gewesen war, was sicherlich stimmte, dem vor allem im englischsprachigen Ausland verbreiteten Niemöller-Bild allerdings diametral wiedersprach. Auch sein Bekenntnis, sich zu Anfang des Krieges freiwillig zur Marine gemeldet zu haben sowie seine Aussage, die angelsächsische 18 Unmittelbar nach dem Krieg erklärte er zu seiner Zeit im KZ: „Keine Feder, kein Film reicht aus, um das zu schildern. Und wenn man mich fragt: War es wirklich so schlimm? , dann kann ich nur sagen: Es war tausendmal schlimmer.“ Niemöller, Reden 1945-1954, 19 f. 19 Heymel, Niemöller, 111. 20 Zitiert aus: Schreiber, Niemöller, 91. 21 Vgl. Heymel, Niemöller, 105 ff. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 97 Demokratie tauge nicht als Vorbild für Deutschland, löste dort große Empörung aus. 22 Solange er als „schweigendes Symbol“ im Konzentrationslager saß, so James Bentley, konnte jedermann seine eigenen „Vorstellungen vom ‚guten Deutschen‘“ auf ihn projizieren. Sobald er jedoch wieder frei sprechen konnte, „entpuppte er sich wieder als das, was er früher gewesen war: ein Mann mit kompromißlosen und manchmal unpopulären Ansichten“. 23 Die Angriffe, die Niemöller auf seine Äußerungen hin in der Öffentlichkeit erleiden musste, trafen ihn, der von der achtjährigen KZ-Haft ohnehin noch körperlich und mental stark gezeichnet war, tief. 24 Dazu kam, dass die Monate nach Kriegsende sowohl in Bezug auf die schnell getroffenen kirchenpolitischen Grundsatzentscheidungen als auch hinsichtlich seiner persönlichen Perspektiven in den neu aufzubauenden Kirchen viele Enttäuschungen für ihn bereithielten. So war er während des Kirchenkampfes und der Zeit im KZ zu der Einsicht gelangt, dass sich die Kirchen angesichts des Geschehenen radikal erneuern müssten. Er plädierte für einen völligen Neuaufbau auf Basis der Bruderräte - jedwede „kirchliche Restauration“ müsse vermieden werden, so seine Überzeugung im Sommer 1945, „wenn nicht die ganzen Kämpfe, Leiden und Opfer der letzten zwölf Jahre umsonst [gewesen] sein sollen“. 25 Den historisch gewachsenen protestantischen Konfessionalismus wie auch das überkommene Staat-Kirche-Verhältnis hielt er für prinzipiell revisionsbedürftig. So prognostizierte er im November 1945 in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm: „Ich persönlich halte die ‚Landeskirchen‘ ohnehin für abbruchreif. (…) Ich zweifle nicht, daß die völlig staatsfreie Kirche auch in Deutschland Kirche der Zukunft sein wird, und sie wird an Lebendigkeit gewinnen, was sie an Einfluß zunächst wird abgeben müssen.“ 26 Tatsächlich aber musste er gewahr werden, dass sich die evangelischen Kirchen schnell wieder entlang traditioneller Bahnen institutionalisierten und konservative Kräfte die Überhand gewannen. Dazu kam, dass er selbst zunächst keinen prägenden Einfluss auf die Neuformierung der evangelischen Kirchen in Deutschland nehmen konnte, auch weil die amerikanischen Besatzer ihm nach dem erwähnten Interview mit großer Skepsis gegenüberstanden. 27 Die meisten Führungspositionen in den einzelnen Landeskirchen waren ohnehin schon sehr 22 Vgl. Benad, Matthias: Wir klagen uns an. Die Jahre 1945 bis 1949, in: Karnick / Richter , Protestant, 173-200, hier 175 f. 23 Bentley, Niemöller, 193. 24 Vgl. ebd., 195 f. 25 So in seiner Rede vor der Kirchenversammlung in Treysa Ende August 1945, abgedruckt in: Niemöller, Reden 1945-1954, 11-15, hier 11. 26 Abgedruckt in: ebd., 56-62, hier 59. 27 Vgl. Heymel, Niemöller, 116. 98 Jan Schubert schnell vergeben, ohne dass er dabei Berücksichtigung gefunden hätte. Auch eine Rückkehr auf seine Pfarrstelle nach Berlin-Dahlem, auf die er noch lange nach Kriegsende hoffte, kam letztendlich nicht zustande. 28 Zwar wurde er Ende August 1945 auf der Kirchenversammlung in Treysa, auf der die Evangelische Kirche in Deutschland ins Leben gerufen wurde, sowohl zum stellvertretenden Ratsvorsitzenden als auch zum Leiter des neu aufzubauenden Kirchlichen Außenamtes berufen. Er empfand sich damit aber, wie er ein knappes Jahr später in einem Brief bekannte, auf „ein totes Gleis“ geschoben: Wirklich an der Arbeit der EKD beteiligt würde er von deren Vorsitzendem, dem Bischof der württembergischen Landeskirche Teophil Wurm, nicht. 29 Trotz dieser Enttäuschungen erlangte er bald seine Gesundheit und seinen Elan zurück. Von November 1945 bis zum Mai 1948 residierte er auf Einladung des Fürsten von Isenburg-Büdingen, einem alten Dahlemer Gemeindemitglied, im hessischen Schloss Büdingen. Von hier aus reiste er durch ganz Deutschland, hielt Predigten und Vorträge. Sein zentrales Anliegen war es dabei, die Deutschen in ihrer Gesamtheit, aber auch die Kirchen und ihre Vertreter zum öffentlichen Bekennen ihrer Schuld und zu einem Neuanfang im Zeichen von Buße und Versöhnung aufzurufen. Schon in Treysa hatte er in einer viel beachteten Rede auf die Schuld der Kirche hingewiesen und erklärt, dass bei ihr sogar „die eigentliche Schuld“ liege, „denn sie allein wußte, daß der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat unser Volk nicht gewarnt, sie hat das geschehene Unrecht nicht aufgedeckt oder erst, wenn es zu spät war“. 30 Die Kirchen sollten daher vorangehen und durch ihr Schuldbekenntnis dem Volk ein Beispiel sein. Dies war nicht nur seine persönliche Ansicht, sondern auch von Seiten der internationalen Ökumene wurde dahingehend Druck ausgeübt und betont, dass nur auf der Grundlage eines klaren Wortes zur eigenen Schuld wieder ökumenische Beziehungen zu den Kirchen in Europa aufgenommen werden könnten. Eine solche Schulderklärung erfolgte schließlich im Rahmen der ersten Sitzung der EKD in Stuttgart am 17. und 18. Oktober 1945. Deren erster Satz, der ganz wesentlich auf Drängen Niemöllers aufgenommen wurde und ein vollumfängliches Schuldeingeständnis der Kirchen beinhaltete, lautete: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Auch wenn direkt darauf Sätze folgten, die die kirchliche Schuld wieder relativierten, 31 und auch die Verbrechen an den Juden keine explizite Erwähnung 28 Vgl. ebd . , 118 ff. 29 So äußerte er sich in einem Brief an Hans Asmussen im Juni 1946. Vgl. ebd., 155 f. 30 Zitiert aus: Niemöller, Reden 1945-1954, 12. 31 Der zweite Satz der Erklärung lautete: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht muti- Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 99 fanden, so war die Stuttgarter Schulderklärung für Niemöller in den unmittelbaren Nachkriegsjahren dennoch eine unverrückbare Orientierungsmarke. Unermüdlich sprach und predigte er in den folgenden Monaten und Jahren auf ihrer Basis über die Notwendigkeit, sich zur eigenen Schuld zu bekennen und hierfür Buße zu tun. Dabei stand für ihn außer Frage, dass er bei sich selbst den Anfang machen musste: Auch er sei schuldig geworden, weil er noch 1933 die NSDAP gewählt und in den Jahren darauf geschwiegen habe, als Scharen von politischen Oppositionellen verhaftet wurden. Und selbst im KZ sei er noch schuldig geworden, „denn wenn all die Menschen ins Krematorium geschleift wurden, habe ich mich in die Ecke gedrückt und habe nichts dazu gesagt, habe nicht einmal dazu geschrien“. 32 In der breiteren Öffentlichkeit stieß die Stuttgarter Erklärung auf große Empörung. Viele sahen in ihr ein Kollektivschuldeingeständnis, das an den Versailler Vertrag erinnere und eine ähnliche Schmach für das deutsche Volk bedeuten würde. Niemöller aber ließ sich nicht beirren: „Es gibt keine Kollektivschuld, es gibt eine Kollektivhaftung. (…) Laßt uns unsere Häupter verhüllen und nicht gegen die kollektive Haftung anreden - es muß gebüßt werden.“ 33 Mit seinen Schuldpredigten verfolgte er im Grunde ein seelsorgerisches Anliegen. Nur durch das Eingeständnis der eigenen Schuld und die Bereitschaft zur Buße könne ein „Weg ins Freie“, so der Titel einer im Juli 1946 von ihm gehaltenen Rede, 34 gefunden werden - für jeden Einzelnen, für die Kirchen und auch für das deutsche Volk im Ganzen. Dementsprechend war er im August 1947 auch an der Abfassung des so genannten Darmstädter Wortes beteiligt, in dem noch viel konkreter als in Stuttgart die Fehlentwicklungen des deutschen Protestantismus nicht nur in der Zeit des Dritten Reiches, sondern in der jüngeren deutschen Geschichte insgesamt benannt wurden. 35 So sehr er jedoch die individuelle Auseinandersetzung mit den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft anmahnte, den Entnazifizierungsmethoden der Siegermächte stand er äußerst skeptisch gegenüber. Durch sie würde ein Neuanfang in Deutschland behindert werden, zumal die Übertragung entsprechender Verfahren auf deutsche Spruchkammern Emotionen wie Rache und Vergeltung freien Raum ließe. Für ihn war das freie Eingeständnis der eigenen ger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Man habe also sehr wohl Widerstand geleistet - dieser sei nur nicht stark genug gewesen. Niemöller kritisierte diese Formulierung später; eigentlich hätte es heißen müssen: „Daß wir nicht mutig bekannt haben! “ Vgl. Heymel, Niemöller, 134 f. 32 Zitiert nach Schmidt, Niemöller, 186. 33 Niemöller, Reden 1945-1954, 19 f. 34 Abgedruckt in: ebd., 23-42. 35 Vgl. Benad, Wir klagen uns an, 194. 100 Jan Schubert Schuld entscheidend - das pauschale, aufgezwungene Aburteilen von Deutschen durch Deutsche könne weder den einzelnen Menschen gerecht werden, noch zur inneren Versöhnung und Befriedung als Grundlage eines wirklichen Neuanfangs in Deutschland beitragen. 2.4. Kirchenpräsident der EKHN Niemöllers Predigtreisen erstreckten sich über ganz Deutschland. Nach seiner Umsiedlung nach Büdingen und der Entscheidung, ein Glied der hessischen Kirche zu werden, wurde er aber immer mehr in die dortigen Gemeinden gerufen, um zu sprechen und zu predigen. Ihm war es zu verdanken, so Michael Heymel, dass die lautstarken Proteste gegen das Stuttgarter Schuldbekenntnis hier im Großen und Ganzen ausblieben. 36 Nachdem sein Verbleib in Hessen absehbar war, zeichnete sich zudem schnell ab, dass er hier, in der sich neu gründenden Kirche, eine tragende Rolle einnehmen würde. Schon im Oktober 1945 hatte ihm der Landesbruderrat geschrieben, „daß alle Pfarrer und Gemeinden der Landeskirche Nassau-Hessen Ihre Berufung in das leitende Amt der nassauisch-hessischen Kirche begrüßen würden“. 37 Wenige Monate später, im Februar 1946, wurde er zum Synodalen der Landesbekenntnissynode berufen, ab April 1946 fungierte er auch als Vorsitzender des Landesbruderrates. Am 30. September 1947 bestätigten Delegierte aus Hessen, Nassau und Frankfurt auf einem Kirchentag in Friedberg die kirchliche und rechtliche Vereinigung der Landeskirchen, die 1933 unter Druck der Nationalsozialisten erfolgt war, und wählten Niemöller schlussendlich zum ersten Kirchenpräsidenten der neuen Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Zudem erklärte sich der Kirchentag zur verfassungsgebenden Synode und setze einen Verfassungsausschuss ein, der eine neue Kirchenordnung erarbeiten sollte. Diese wurde im März 1949 verabschiedet, woraufhin die Kirchensynode im April 1950 zu ihrer ersten öffentlichen Tagung zusammentrat, auf der Niemöller als Kirchenpräsident bestätigt wurde. 38 In diesem schwierigen Prozess der Kirchengründung, in dem es nicht zuletzt auch darum ging, das Zusammenwachsen der drei vormals unabhängigen Kirchen zu gestalten, versuchte Niemöller unermüdlich, das Erbe des Kirchenkampfes in der neu zu schaffenden Kirchenordnung zu verankern. Dagegen gab es durchaus beträchtlichen Widerstand. So wurde darauf verwiesen, dass eine dezidierte kirchenpolitische Festlegung zu Auseinandersetzungen führen 36 Vgl. Heymel, Niemöller, 157. 37 Zitiert aus: Herbert, Durch Höhen, 350. 38 Vgl. zu dieser Entwicklung: ebd . , 144 ff. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 101 würde, für die in einer solchen Umbruchszeit, wie sie es die unmittelbaren Nachkriegsjahre darstellten, kein Raum sei. 39 Insgesamt konnten sich Niemöller und die Vertreter der Bekennenden Kirche - und dabei insbesondere die des bruderrätlichen Flügels - jedoch auf ganzer Linie durchsetzen. 40 Dies zeigte sich etwa in der Verabschiedung des „Grundartikels“, der die gemeinsame Bekenntnisgrundlage umschrieb, sowie in der Konstituierung des Leitenden Geistlichen Amtes als eines kollektiven, „bruderrätlichen Bischofsamtes“, das eine Hierarchisierung und eine reine Verwaltungskirche verhindern sollte. Die grundsätzliche Ablehnung einer hierarchischen Bischofskirche lag auch der Entscheidung Niemöllers zugrunde, sich gegen die Verwendung des Bischofstitels in der EKHN einzusetzen und stattdessen, nachdem es in dieser Frage zu intensiven Debatten gekommen war, den Titel des Kirchenpräsidenten anzunehmen. 41 Ein herausragendes Charakteristikum der 1949 verabschiedeten Kirchenordnung war zudem der Aufbau der Kirche von den Gemeinden, von deren Rechten und Pflichten aus. Die Intention hinter der Verankerung dieses „synodalen Prinzips“ war es vor allem, nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes eine starke Machtkonzentration in den Händen der Kirchenleitung zu verhindern. 1954 konstatierte Martin Niemöller, dass man die EKHN „als die wohl am meisten ‚demokratisch‘ verfaßte evangelische Landeskirche bezeichnen könnte“. 42 Dass er unter „demokratischer Verfasstheit“ jedoch keine Demokratie nach weltlichem Muster verstand, zeigte sich 1968, vier Jahre nach seinem Rücktritt vom Amt des Kirchenpräsidenten, als er unter Protest gegen eine geplante Verfassungsänderung, die mehr Demokratie in die Kirche bringen sollte, die Landessynode verließ. Ein wesentlicher Ertrag des Kirchenkampfes war für ihn die Erkenntnis, dass die sichtbare Kirche nicht einfach nach dem Vorbild der weltlichen Ordnung gestaltet werden könne. Eine Parlamentarisierung der Synode, die ausschließliche Ausrichtung der kirchlichen Ordnung an zweckmäßigen Gründen und nicht am Willen Jesu Christi, galt es aus seiner Sicht unbedingt zu vermeiden. 43 39 Vgl. Heymel, Niemöller, 153. 40 So äußerte Niemöller sich unmittelbar nach seiner Wahl in einem Brief an Propst Dr. Hans Böhm (Berlin) vom 07.10.1947 zuversichtlich, dass sich die EKHN „in der Linie der Bekennenden Kirche entwickeln läßt, ohne daß wir auf einen lutherischen, reformierten oder unierten Weg geraten müßten“. Zitiert nach: Dienst, Karl: Politik und Religionskultur in Hessen und Nassau zwischen „Staatsumbruch“ (1918) und „Nationaler Revolution“ (1933). Frankfurt am Main 2010, 256. 41 Vgl. Heymel, Niemöller, 171. 42 Niemöller, Reden 1945-1954, 310. 43 Der Kirchenpräsident und sein Stellvertreter sollten der geplanten Änderung zufolge nur noch nach ausdrücklicher Einladung an den Sitzungen von Synodalausschüssen teilneh- 102 Jan Schubert Was seine konkrete Amtsausführung anbelangt, hatte er zunächst durchaus Respekt vor dem Amt des Kirchenpräsidenten und fragte sich, ob er den kirchenleitenden Aufgaben in ihren rechtlichen und verwaltungsbezogenen Dimensionen auch gerecht werden könnte. 44 Es stellte sich aber heraus, dass diese Selbstzweifel unbegründet waren. Vielmehr entwickelte er geradezu eine Vorliebe für Kirchenrecht und Verwaltung und zeigte sich in den entsprechenden Aufgaben sehr versiert. 45 Das hieß aber keineswegs, dass er vollends in den kirchenleitenden Aufgaben aufging - im Gegenteil. Von seinem Selbstverständnis her blieb er immer Pastor. So hat er allein in seiner Zeit als Kirchenpräsident 331 Predigten ausgearbeitet. 46 Als Prediger wurde er an der kirchlichen Basis, unabhängig von den vielen Kontroversen, die sich ansonsten an ihm und seinem Wirken entzündeten, sehr geschätzt. Wenn eine Gemeinde zu einem besonderen Anlass um eine Predigt bat, kam er. 47 Das herausragende Merkmal seiner Predigten war dabei wie schon in der Dahlemer Zeit ihr Christozentrismus, ihre strikte Orientierung an der Bibel. Otto Dibelius sagte 1961 über ihn: „Man mag über Niemöllers politische Ansichten denken, wie man will, wer einmal unter seiner Kanzel gesessen hat, weiß, daß er das Evangelium verkündet und nichts weiter will, als das Evangelium zu verkünden.“ 48 Darüber hinaus waren die Predigten aber auch gekennzeichnet von ihrer unbedingten Ausrichtung auf die Gegenwart und die Lebenswirklichkeit der Menschen. Die Kirche, so sein Diktum in einem Vortrag zum Thema „Das Zeugnis des prophetischen Wortes an die Welt“ von 1965, habe „die Herrschaft Jesu Christi über alle Bereiche des menschlichen Lebens“ 49 zu verkündigen. Ein solch prophetisches Wort könne jedoch nur von demjenigen gepredigt werden, „der es zuvor als Wort des Herrn vernommen hat, und zwar als das Wort, das heute bezeugt sein will“. 50 Niemöller hielt sich durchaus, so Wolfram Wette, für einen Berufenen, der „kraft seines intensiven Jesusglaubens über höhere Einsichten men dürfen. Vgl. zu seinem Auszug aus der Synode: Heymel, Niemöller, 172 ff. 44 Ende 1947 schrieb er etwa an den württembergischen Bischof Theophil Wurm: „Ich traue meinen eigenen Gaben gerade im Blick auf kirchenleitende Aufgaben nur sehr bedingt.“ Zitiert aus: Herbert, Karl: Der Kirchenpräsident. Die Jahre 1947 bis 1964, in: Karnick / Richter, Protestant, 219-240, hier 221. 45 Vgl. ebd. 46 Insgesamt befinden sich im Zentralarchiv der EKHN, Best. 62, Nr. 466 zumeist Wort für Wort ausgearbeitete Predigten Niemöllers. Vgl. Heymel, Michael: Der Prediger Martin Niemöller und die EKHN, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 60 (2009), 21-31, hier 22. 47 Vgl. Heymel, Niemöller, 177. 48 Zitiert aus: Herbert, Der Kirchenpräsident, 230. 49 Die Rede ist abgedruckt in: Niemöller, Reden, Predigten, Denkanstöße 1964-1976, herausgegeben von Hans Joachim Oeffler. Köln 1977, 51-63, hier 56. 50 Ebd., 59. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 103 verfügte“. 51 Das galt auch und gerade für den politischen Bereich. Zwar unterschied er sehr genau zwischen Predigt und Vortrag, denn politische Fragestellungen waren für ihn auf der Kanzel nicht zu erörtern. 52 Er wollte aber auch die Gegenwart Christi so predigen, dass sie unmittelbar auf das Leben des einzelnen Christen im Hier und Heute bezogen werden konnte, weshalb sich implizite politische Aussagen sehr wohl auch in seinen Predigten wiederfanden, wohingegen er in seinen Vorträgen, in Interviews oder Diskussionsrunden ohnehin sehr prägnant und oft in deutlicher Zuspitzung seine persönliche Meinung zu aktuellen Fragen kundtat. Diese dezidierte Hinwendung zu politischen Fragen war das Ergebnis einer theologischen Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Politik als Resultat seiner Erfahrung des Kirchenkampfes und des KZ. 53 Die strikte Trennung der beiden Bereiche, mithin die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die er zuvor noch befürwortet hatte, war für ihn nach 1945 nicht mehr haltbar. Die Kirche habe in der Zeit des Nationalsozialismus versagt, „weil sie glaubte, es sei nicht ihre Sache, sich in die Politik einzumischen“. 54 Nicht noch einmal, betonte er daher unmittelbar nach dem Krieg, wolle er zulassen, dass „Staatsformen und Gesetze (…) einfach als gegebene Tatsachen erscheinen, mit denen wir uns stumm abzufinden haben“. 55 Auch wenn er die Autonomie des Politischen nicht prinzipiell verwarf - politische Entscheidungen wurden für ihn immer dann im Kern zu Glaubensentscheidungen, wenn sie mit dem Gehorsam gegenüber dem Evangelium nicht vereinbar schienen. 56 Das musste auch Auswirkungen auf „seine“ Kirche haben. Diese war Karl Dienst zufolge wegen des „allgemeinen linken hessischen Nachkriegsmilieu“ und der „auch durch die Besatzungsmächte bedingten fehlenden Einflußmöglichkeiten anderer kirchenpolitischer Gruppierungen“ ohnehin dafür prädestiniert, eine politisch besonders aktive Rolle einzunehmen. 57 So konnte man schon bald nach ihrer Gründung auch unabhängig von der Person Niemöller „eine wachsende Sensibilität für den Gewissensernst der politischen Entschei- 51 Wette, Wolfram: Seiner Zeit voraus. Martin Niemöllers Friedensinitiativen (1945-1955), in: Bald, Detlef (Hrsg.): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945-1955. Essen 2010, 227-241, hier 241. Karl Herbert führt in diesem Zusammenhang Niemöllers Worte an: „Ich meine aber auch, den Geist Gottes zu haben.“ Zitiert aus: Herbert, Kirchenpräsident, 234. 52 Vgl. dazu: Heymel, Prediger, 28 f. 53 Vgl. Hockenos, Matthew: Martin Niemöller, the Cold War, and His Embrace of Pacifism, in: Kirchliche Zeitgeschichte 27 (2014) 1, 87-101, hier 88. 54 Zitiert aus Wette, Friedensinitiativen, 234. 55 So in seiner Rede in Treysa im August 1945, zitiert aus: Niemöller, Reden 1945-1954, 15. 56 Vgl. Nicolaisen, Carsten: Martin Niemöller, in: TRE 24 (1994), 502-506, hier 505. 57 Dienst, Politik und Religionskultur, 258. 104 Jan Schubert dungsfragen feststellen“. 58 Niemöllers vehementes Eintreten für eine sich in politischen und gesellschaftlichen Fragen einmischende Kirche trug dennoch in gehörigem Maße dazu bei, dass die EKHN schon bald - positiv oder negativ bewertet - als besonders „politische Kirche“ galt. Das bedeutete freilich auch, dass es in regelmäßigen Abständen zu äußerst strittigen Debatten über Form und Inhalt politischer Interventionen der Kirche und ihrer Amtsträger kam. Dazu trug niemand mehr bei als Niemöller selbst, der oft ohne jegliche Absprachen mit kirchlichen Stellen und Institutionen in die Öffentlichkeit ging. Dies war zum einen eine Sache des persönlichen Temperaments, genau wie sein starker Hang zur Zuspitzung und zur Polarisierung. Zum anderen dürfte er nicht selten ganz bewusst zu provokativen Äußerungen gegriffen haben, um eine größere öffentliche Resonanz erzielen. In seinen Worten: „Aber wenn ichs nicht zugespitzt sage, hört ja keiner darauf hin! “ 59 Vor allem aber war die ausgeprägte Angriffslust in politischen und gesellschaftlichen Fragen das Resultat seiner Auffassung des Evangeliums. „Evangelium ist Angriff“, hatte er auf eine seiner Postkarten aus dem KZ geschrieben. Auf einer Sitzung des Reichsbruderrates 1952 erklärte er dazu: „Auch wo wir nicht sagen können: ‚so spricht der Herr‘, müssen wir zur Entscheidung und zum Tun aufrufen, müssen sagen: ‚Du musst deine Entscheidung treffen‘. Denn das Tun ist vom Evangelium absolut gefordert.“ 60 In der EKHN kam es aufgrund dieser Haltung und den sich aus ihr ergebenden öffentlichen Alleingängen, auf die im Folgenden näher einzugehen sein wird, immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen, die die Kirche mitunter bis an den Rand der Spaltung brachten und ihren paradigmatischen Ausdruck im Verhältnis Niemöllers zu Hans Wilhelmi fanden, der von 1946 bis zu seinem Tod 1970 als Präses der Landessynode vorstand. 61 Inhaltlich befand Wilhelmi sich als CDU-Mitglied und langjähriger Bundestagsabgeordneter - von 1960 bis 1961 fungierte er für eineinhalb Jahre sogar kurz als Bundesschatzminister im Kabinett Konrad Adenauers - ohnehin fast immer auf der entgegengesetzten Seite zu Niemöller. Als Präses war es hingegen seine primäre Aufgabe, eine sachliche Debatte zu ermöglichen und zu Ergebnissen zu gelangen, mit denen letztendlich alle leben konnten, was zumeist auch glückte. Dennoch: Mit seinem öffentlichen Betätigungsdrang traf Niemöller im Laufe der Jahre auf ein immer stärkeres Unverständnis von Seiten der Synodalen, so dass er 1958 nur mit äußerst knapper Mehrheit erneut zum Kirchenpräsidenten gewählt wurde. Sein 58 Herbert, Der Kirchenpräsident, 232. 59 Zitiert aus: ebd . , 236. 60 Zitiert aus: ebd., 235. 61 Vgl. zum Verhältnis der beiden: Lück, Wolfgang: Hans Wilhelmi. Rechtsanwalt, Politiker und engagierter Protestant in Frankfurt am Main. Darmstadt 2016, 82 ff. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 105 überraschender Rücktritt von diesem Amt 1964, zwei Jahre vor Ablauf seiner achtjährigen Amtszeit, dürfte nicht zuletzt auf diese konstanten innerkirchlichen Querelen und die damit zusammenhängenden Anfeindungen gegen seine Person zurückzuführen sein. 62 Der EKHN blieb er jedoch zunächst unter anderem als Mitglied der Kirchensynode treu. Auch ansonsten schränkte er seine Aktivitäten kaum ein. Insbesondere das zentrale öffentliche Anliegen seiner Zeit als Kirchenpräsident, der Einsatz für Frieden und Versöhnung in Deutschland, Europa und der Welt, sollte sein Leben mehr noch als bisher bestimmen. 3. Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung 3.1. Westintegration und Wiederbewaffnung Als Martin Niemöller Ende September 1947 Kirchenpräsident der EKHN wurde, waren durch die Verkündigung der Truman-Doktrin und die Initiierung des Marschall-Plans auf der einen und die Gründung der sowjetisch geführten Kominform auf der anderen Seite bereits große Schritte auf dem Weg hin zur verfestigten politisch-militärischen Blockbildung in Europa getan. Auch die Teilung Deutschlands, die auf politischer Ebene 1949 mit der Gründung der Bundespublik und der Deutschen Demokratischen Republik vollendet wurde, kündigte sich mit der immer stärkeren Kooperation der westlichen Besatzungszonen schon an. 63 Vor dem Kontext des so einsetzenden Kalten Krieges ist Niemöller kompromissloses Eintreten für Dialog, Versöhnung und Frieden sowie gegen die Teilung und Wiederaufrüstung Deutschlands zu verstehen. War er in der unmittelbaren Nachkriegszeit in all seinen Predigten und sonstigen öffentlichen Äußerungen für einen kirchlichen und gesellschaftlichen Neuaufbau im Zeichen der Buße, der Versöhnungsbereitschaft und des Diensts am Menschen eingetreten, sah er sich nun konfrontiert mit der Tatsache, dass die politischen Entwicklungen genau diesen Neuanfang unmöglich zu machen drohten. Im Dezember 1949 erzielten Äußerungen von ihm zu diesen Entwicklungen erstmals eine breite öffentliche Resonanz. In einem Gespräch mit der Journalistin Martina Higgins, das diese in einem Artikel in der New York Times in prägnanten Teilen wiedergab, erklärte er, dass er sich nicht an den Wahlen zum Bundestag beteiligt habe. Er trete für einen gesamtdeutschen Staat als Brücke zwischen Ost und West ein. Die Deutschen sähen das genauso, sie wür- 62 Vgl. zu den möglichen Gründen für seinen Rücktritt: Heymel, Niemöller, 173 f. 63 Vgl. zu dieser Entwicklung etwa: Morsey, Rudolf: Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, 5., durchgesehene Auflage. München 2007, 7 ff. 106 Jan Schubert den eine Einigung ihres Landes unter dem Kommunismus seiner fortgesetzten Spaltung vorziehen. Über die CDU-geführte Regierung Adenauers urteilte er, sie sei „empfangen im Vatikan und geboren in Washington“. 64 Diese Sätze - von denen Niemöller allerdings angenommen hatte, sie würden nicht veröffentlicht werden 65 - lösten empörte Reaktionen aus. Nun befand er sich, so Dietmar Schmidt, „endgültig im Strudel der großen Politik“. 66 Daraus zog er jedoch nicht den Schluss, nun von öffentlichen Positionierungen abzusehen, im Gegenteil. Auch in der ersten Jahreshälfte 1950 wiederholte er in diversen Artikeln und Reden seine Attacken gegen die Bundesrepublik und deren zunehmende Einbindung in das westliche Bündnissystem. Dabei stellte er nicht die grundsätzliche politische Ausrichtung des neuen westdeutschen Staates als einer auf liberalen Grundwerten beruhenden Demokratie in Frage - trotz mancher Vorbehalte, die er zum Teil nie ganz ablegte, ging er Matthias Benad zufolge bei der prinzipiellen Annäherung des deutschen Protestantismus an die Demokratie nach 1945 voran. 67 Vielmehr forderte er stets eine unverzügliche Wiederherstellung der deutschen Einheit, wobei er, wie schon im Interview mit Martina Higgins, die Vereinten Nationen als neutrale Garantiemacht der Unabhängigkeit Deutschlands ins Gespräch brachte. 68 Mit dem Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 verschärften sich die Auseinandersetzungen weiter. Nachdem Adenauer vor dem Hintergrund der nun noch einmal verstärkt wahrgenommenen Bedrohung durch den Sowjet-Kommunismus den Amerikanern unter Umgehung seines Kabinetts eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands angeboten hatte, warf Niemöller ihm in einem offenen Brief vor, die „Remilitarisierung Westdeutschlands“ 69 hinter dem Rücken des deutschen Volkes zu betreiben. Für ihn kamen daher nur Neuwahlen in Frage, denn wenn der gegenwärtige Bundestag über diese Frage entscheide, käme dies einem „Volksbetrug“ gleich, „da kein deutscher Wähler bei der Wahl im Sommer 1949 die Absicht gehabt hat, dem Deutschen Bund die Vollmacht zu einer Kriegsrüstung oder Kriegsbeteiligung zu geben“. 70 Die Kritik an Adenauer und seinem klandestinen Vorgehen war sicherlich berechtigt. Der Ton des Briefes erleichterte es dem Bundeskanzler aber, darüber hinwegzugehen, zumal sich Niemöller als Leiter des Kirchlichen Außenamtes weder mit den 64 Zitiert aus: Greschat, Martin: Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005). Leipzig 2010, 29. 65 Vgl. Heymel, Niemöller, 199. 66 Schmidt, Niemöller, 204. 67 Vgl. Benad, Wir klagen uns an, 187. 68 Vgl. Greschat, Protestantismus, 29. 69 Zitiert aus: Martin Niemöller. Ein Lesebuch, herausgegeben von Hans Joachim Oeffler u. a. Köln 1987, 166. 70 Ebd., 167. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 107 Ratsmitgliedern der EKD noch mit anderen kirchenleitenden Persönlichkeiten wie dem EKD-Präses und Bundesinnenminister Gustav Heinemann abgestimmt hatte. Als Letzterer sich dennoch nicht von Niemöller distanzieren wollte, entließ ihn Adenauer. 71 Wie schon der Higgins-Artikel zuvor löste dieser Vorstoß entrüstete Reaktionen aus. Adenauer bezichtigte Niemöller im Kabinett des Landesverrates und erklärte, er habe dem deutschen Volk im In- und Ausland „schwersten Schaden“ zugefügt. 72 Das Verhältnis zwischen dem Bundeskanzler und weiter Teile der CDU auf der einen und der Kreise um Niemöller und Heinemann auf der anderen Seite war damit unwiderruflich zerrüttet. 73 Auch in der EKD kam es zu Lagerbildungen zwischen lutherisch-konservativen Kreisen, die dagegen opponierten, politische Überzeugungen und Konzeptionen zu Glaubensfragen zu machen, und den im Kirchenkampf und durch die Theologie Karl Barths geprägten Pastoren und Theologen, die wiederum eine Trennung von kirchlicher Verkündigung und politischem Geschäft dezidiert ablehnten. 74 Aufgrund dieser theologischen Grundauseinandersetzung konnte eine klare Stellungnahme nicht erfolgen, wollte man nicht die innere Spaltung riskieren. 75 Auf einer Sondersitzung der Kirchenkonferenz und des EKD-Rat kam man daher zwar im Einklang mit Niemöllers Thesen zu dem Ergebnis, dass die politisch Verantwortlichen in einer solchen essentiellen Frage wie der Wiederaufrüstung in der Tat nicht gegen den Willen des Volkes entscheiden dürften. Gleichzeitig wurde aber auch versucht, die scharfen Gegensätze innerhalb der EKD mit der Formulierung zu überbrücken, „daß die Gemeinschaft im Glauben nicht die Einheitlichkeit der politischen Urteile einschließt“, 76 was letztlich hieß, dass man auf ein gemeinsames Zeugnis zur Wiederbewaffnung verzichtete. Damit konnte und wollte sich Niemöller nicht zufrieden geben. Weiterhin positionierte er sich öffentlich sowohl gegen die Wiederbewaffnung als auch gegen die Zurückhaltung der EKD in dieser Frage, wodurch sich die Fronten auch hier verhärteten. So zeigte sich der EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius im Juni 1952 - auch nach Niemöllers Reise nach Moskau, worauf noch einzugehen sein wird - nicht mehr zu Kompromissen mit dem hessisch-nassauischen Kirchenpräsidenten bereit, weil „Niemöller uns in diesen Dingen noch niemals 71 Vgl. Greschat, Protestantismus, 31. 72 Zitiert aus: Schreiber, Niemöller, 113. 73 Vgl. Greschat, Protestantismus, 33. 74 Vgl. dazu: Rausch, Wolf Werner / Walther, Christian: Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdebatte in der Bundesrepublik 1950-1955. Gütersloh 1978, 15 ff. 75 Vgl. Kleßmann, Christoph: Protestantische Kirchen und nationale Identität im geteilten Deutschland, in: Kirchliche Zeitgeschichte 12 (1999), 441-458, hier 450. 76 Zitiert aus : Rausch / Walther, Wiederaufrüstungsdebatte, 94. 108 Jan Schubert auch nur den kleinsten Schritt entgegengekommen ist“. 77 Umgekehrt lehnte Niemöller etwa seine Teilnahme am Stuttgarter Kirchentag im August 1952 ab, weil dieser durch die Teilnahme des CDU-Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers zu einem „Parteitag der CDU“ und der „Adenauer-Horde“ geworden sei. 78 Einen weiteren Höhepunkt fanden diese Auseinandersetzungen schließlich im Vorfeld der Bundestagswahl 1953, als Niemöller in einer Erklärung zur Unterstützung derjenigen politischen Gruppen aufrief, „die ohne einseitige (…) Bindung nach West oder Ost eine deutsche Politik der Wiedervereinigung und des Friedens zu treiben entschlossen sind“. 79 Das war ein mehr oder weniger expliziter Wahlaufruf für die von Gustav Heinemann neugegründete Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), die sich für ein neutrales, geeintes Deutschland einsetze, bei der Wahl aber eine herbe Schlappe erlebte. Adenauer wurde hingegen mit großer Mehrheit wiedergewählt, was er als Bestätigung seines Kurses der Westintegration begriff. Diese fand 1955 mit der Inkraftsetzung des Grundlagenvertrages, der endgültigen Schaffung der rechtlichen und vertraglichen Fundamente für die Wiederbewaffnung sowie durch den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO ihren vorläufigen Abschluss. Die EKD passte sich an die neuen Gegebenheiten daraufhin auch in personeller Hinsicht mehr oder weniger an. Heinemann, der sich in seinen politischen Betätigungen nicht zurücknehmen wollte, wurde 1955 als EKD-Präses abgewählt, Niemöller 1956 als Leiter des Kirchlichen Außenamtes abgesetzt. 80 Letztendlich waren die Proteste gegen die Teilung Deutschlands und die Wideraufrüstung folgenlos geblieben. Entsprechend verbittert erinnerte Niemöller sich später an die Zeit zwischen 1949 und 1954 als „die dunkelsten Jahre meines Lebens“ zurück - „dunkler selbst als die acht Jahre im Gefängnis und Konzentrationslager“. 81 Was waren aber seine Motive gewesen, sich so sehr in der öffentlichen Debatte zu exponieren und sich dadurch im kirchlichen Bereich, aber auch weit darüber hinaus massiver Kritik auszusetzen? Zunächst einmal war er nach wie vor ein überzeugter Patriot und sein Kampf gegen die Teilung Deutschlands speiste sich nicht zuletzt aus der Sorge, sein Heimatland könne bei einer militärischen Eskalation des Kalten Krieges zum Hauptschlachtfeld werden - eine Gefahr, die er durch die Wiederaufrüstung noch um ein Vielfaches potenziert sah. Für ihn verdichtete sich die Deutschlandfrage in der simplen Frage: „Kriegsschau- 77 So Dibelius auf der Sitzung des EKD-Rats am 19.06.1952, zitiert nach: Greschat, Protestantismus, 41. 78 Vgl. ebd., 42. 79 Die Erklärung ist abgedruckt in: Martin Niemöller. Ein Lesebuch, 188 f., hier 189. 80 Vgl. dazu: Greschat, Protestantismus, 59 f. 81 Zitiert nach: Schreiber, Niemöller, 124. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 109 platz oder Brücke? “ 82 Die Tatsache, dass Deutschland zur Verhandlungsmasse auswärtiger Mächte geworden war, konnte er nicht akzeptieren, was ihn im Privaten bis dahin verleitete, die Bundesrepublik als Diktatur oder Kolonie der USA zu bezeichnen. 83 Dabei war es kein rückwärtsgewandter Patriotismus, der ihn antrieb. 84 Vielmehr musste ein souveränes, geeintes Deutschland für ihn „wieder ein eigenes deutsches Wesen entwickeln, aber nicht das des Deutschland von gestern.“ 85 Seine Sorge um den Frieden zielte darüber hinaus auch auf den konfessionellen Frieden in Deutschland ab, da der Protestantismus gegenüber dem Katholizismus durch die Teilung und den Verlust der alten preußisch-protestantischen Landesteile sowie die Integration der Bundesrepublik in ein vorwiegend katholisch dominiertes Westeuropa erheblich geschwächt worden sei. Seine polemische Charakterisierung der Bundesrepublik als „empfangen im Vatikan und geboren in Washington“ insinuierte, dass diese Schwächung von Rom aus aktiv betrieben worden sei. Noch 1983 erinnerte er sich rückblickend: „Die Leute, die (…) die neue Verfassung machten, das waren keine Preußen, sondern das waren Menschen aus dem Rheinland und eben die Siegermächte.“ 86 Dementsprechend lehnte er auch die allenthalben propagierte Rede vom christlichen Abendland, das es gegenüber dem Osten zu verteidigen gelte, als Versuch der politischen Instrumentalisierung des Christentums durch konservativ-katholische Kreise vehement ab. 87 In einer im Frühjahr 1950 in Darmstadt 82 Zitiert aus: Niemöller, Reden 1945-1954, 173. 83 So schrieb er an den Journalisten Konrad Liesegang nach den Bundestagswahlen am 9. Oktober 1953: „Mit diesen Wahlen [hat sich] das deutsche Volk in eine Art Diktatur hineinbegeben (…), die nicht gebrochen werden kann.“ Und am 12.01.1955 beklagte er sich Liesegang gegenüber, dass seine Telefongespräche von den Geheimdiensten abgehört würden: „Das ist nun einmal der Zustand in einem Land, das praktisch den Status einer Kolonie hat und trotz aller ‚Souveränität‘ behalten wird.“ Zentralarchiv der EKHN, Best. 62, Nr. 483. 84 Vgl. Norden, Günther van: Martin Niemöller im Kalten Krieg, in: Düringer, Hermann / Stöhr, Martin (Hrsg.): Martin Niemöller im Kalten Krieg. Die Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit damals und heute. Frankfurt am Main 2001, 47-73, hier 49. Martin Greschat vertritt allerdings die These, dass sich Niemöller auch nach 1945 „nur partiell“ von seiner früheren nationalkonservativen Prägung habe lösen können. Greschat, Martin: „Rechristianisierung“ und „Säkularisierung“. Anmerkungen zu einem europäischen interkonfessionellen Interpretationsmodell, in: Kaiser, Jochen-Christoph / Doering-Manteuffel, Anselm (Hrsg.): Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland. Stuttgart 1990, 1-24, hier 17. 85 Zitiert aus: Niemöller, Reden 1945-1954, 299. 86 Zitiert aus: Schreiber, Niemöller, 198. 87 So betonte Adenauer in einer Grußbotschaft an den Evangelischen Kirchentag in Stuttgart 1952, im Kalten Krieg gehe es im Kern um den Bestand des christlichen Abendlandes. Sein Appell: „Wenn alle Christen zusammenstehen, sind wir unbesiegbar.“ Zitiert 110 Jan Schubert gehaltenen Rede mit dem Titel „Was kann die Kirche für den Frieden tun“ betonte er: „Die Kirche des Evangeliums darf sich nicht mit irgendeinem System oder Programm identifizieren, weder mit einem ‚christlichen‘ Kapitalismus noch mit einem ‚christlichen‘ Sozialismus; denn das hieße: das Gesetz an die Stelle des Evangeliums setzen, und das wäre unter allen großen Täuschungen die größte und verhängnisvollste.“ 88 Für ihn - und dieser Gedanke zieht sich durch fast alle seine Reden und Artikel in diesen Jahren - musste das ideologische Freund- Feind-Denken, das sich im Westen eben insbesondere in der Unterscheidung zwischen dem christliche Abendland und dem sowjetischen „Reich des Bösen“, mithin in einem forcierten Antikommunismus äußerte, über kurz oder lang in der Katastrophe eines weiteren Weltkrieges münden. Es sah es daher als eine elementare Aufgabe der Kirchen im Kalten Krieg an, allen Ideologien eine klare Absage zu erteilen und zu verkündigen, dass allein in Jesus Christus die ganze Wahrheit Gottes gegeben sei. Freilich wurde ihm selbst auch vorgeworfen, mit seinem Kampf gegen Westintegration und Wiederbewaffnung politische Ziele zu verfolgen und diese durch seine Rhetorik geistlich zu überhöhen. Mochte er selbst erklären, „der erste und wichtigste Beitrag der Kirche für die Friedensarbeit bleibt die Verkündigung des Evangeliums“ 89 - in der Öffentlichkeit wurde er durch seine Äußerungen zunehmend als „Politiker“ wahrgenommen und von seinen Kritikern und Gegnern als Parteigänger des Sowjetkommunismus bezichtigt. Bei allen polemischen und zum Teil sehr persönlichen Angriffen, denen er sich vor diesem Hintergrund ausgesetzt sah, 90 bot er allerdings auch immer wieder genügend Angriffsfläche für den Vorwurf, die christliche Botschaft zu politisieren und die der Kirche gebotene Neutralität zu verletzen. 91 Selbst Freunde Niemöllers wie der Bonner Theologieprofessor Helmut Gollwitzer ermahnten ihn, klarer zwischen prophetischer Rede und politischen Stellungnahmen zu nach: Benad, Matthias: Dazu kann man nur bedingungslos Nein sagen. Die Jahre bis heute, in: Karnick / Richter, Protestant, 241-282, hier 257. 88 Die Rede ist abgedruckt in: Niemöller, Reden 1945-1954, 159-169, hier 160. 89 Zitiert aus: Niemöller, Reden 1955-1957, 62. 90 Beispielsweise wurde 1952 auf dem Bonner Rosenmontagszug ein Wagen mitgeführt, der Stalin mit einem Trojanischen Pferd zeigte, aus dem unter anderem Martin Niemöller und Gustav Heinemann hervorschauten. Vgl. Gause, Ute: Kalter Krieg in Kirche und Gesellschaft und die Aufgabe des Friedens, in: Düringer / Stöhr, Martin Niemöller im Kalten Krieg, 29-46, hier 31. 91 So verabschiedeten der Bruderrat der Bekennenden Kirche und der SPD-Bundesvorstand auf Niemöllers Initiative hin eine gemeinsame Erklärung, in der auf der Linie seines wenige Wochen zuvor publizierten offenen Briefes an Adenauer Neuwahlen gefordert wurde, da die Frage der Wiederbewaffnung nur von einem neu gewählten Parlament beantwortet werden könne. Vgl. Schreiber, Niemöller, 113. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 111 unterscheiden. 92 Aber auch wenn er eingestand, dass „unsere ethischen und also auch unsere politischen Urteile (…) relativ und irrtumsfähig [sind]“, 93 zählte für ihn angesichts der Not der Menschen nur das konkrete Handeln. Das bedeutete für ihn im Hinblick auf den sich immer weiter zuspitzenden Kalten Krieg in allererster Linie, aktive christliche Solidarität mit den Menschen hinter dem Eisernen Vorhang zu üben. Sein ganzes politisches Denken, betonte er 1951, sei zunächst auf die Menschen in der Ostzone ausgerichtet und dann erst auf die in der Westzone. 94 Sie seien doch, wie er Anfang 1952 in einem Vortrag in Mainz über „Wege und Grenzen christlicher Solidarität“ erläuterte, auch Menschen, für die Christus starb, mit denen Gott sich in Jesus Christus solidarisch erklärt habe, weshalb es die Pflicht der westdeutschen Christen sei, „ihnen gegenüber unsere Solidarität erkennbar [zu] machen und [zu] betätigen“. 95 Niemöller dachte und argumentierte, das machen diese Sätze deutlich, immer von der Bibel ausgehend - „wie in den 1930er Jahren im Sinne der Konfrontation der bestehenden Verhältnisse mit der Wahrheit Gottes.“ 96 Er fühlte sich, so Martin Greschat, seinem Gewissen verpflichtet, gegen die Bedrohung und Unterdrückung des Menschen zu protestieren, was dann natürlich auch zur Folge hatte, „daß er sich über politische Fakten hinwegsetzen konnte, sie oftmals sogar - im Wissen um die Wahrheit Gottes - nicht einmal zur Kenntnis nahm“. 97 Nicht nur in der breiteren Öffentlichkeit und in der EKD, auch innerhalb der EKHN rief dieses primär gewissensgeleitete Engagement in den großen politischen Fragen der Nachkriegszeit immer wieder kontroverse Debatten hervor. So etwa auf der Synodaltagung Ende Oktober 1950. Zuvor hatte ein prominentes Mitglied des Synodalvorstandes und damit der Kirchenleitung, Ludwig Corne- 92 Vgl. Greschat, Protestantismus, 38. 93 So 1952 im Rahmen einer Grundsatzdebatte im Reichsbruderrat. Zitiert aus: Herbert, Kirchenpräsident , 235. 94 Vgl. Schreiber, Niemöller, 108. 95 Die Rede ist abgedruckt in: Niemöller, Reden 1945-1955, 209-218, hier 214. Ende 1952 erklärte er auf derselben Linie in einer Rede in Genf: „Wenn ich mich gegen die Bewaffnung deutscher Menschen - übrigens in West und Ost - so nachdrücklich und anhaltend ausgesprochen habe, dann deshalb und deshalb allein, weil ich an die Menschen denke. (…) Ich habe ein unruhiges Gewissen (…) im Blick auf jene 18 Millionen deutscher Menschen, die hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang ihrem Schicksal überlassen sind und die seit sieben Jahren die ganze Last tragen und bezahlen müssen. Und leider werden sie auch im Fall einer Wiederbewaffnung in Deutschland die eigentliche und größere Last zu tragen bekommen.“ Zitiert aus: Niemöller, Reden 1945-1954, 227. 96 Greschat, Martin: Martin Niemöller - Repräsentant des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert, in: Glauben und glaubwürdig handeln. Studientag und Festakt aus Anlaß des 100. Geburtstages am 14. Januar 1992. Hrsg. vom Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche von Westfalen. Münster 1992, 11-27, hier 22. 97 Ebd. 112 Jan Schubert lius Baron von Heyl, aus Protest gegen Niemöllers offenen Brief an Adenauer sein Amt niedergelegt. Auf der Tagung griff er den Kirchenpräsidenten mit den gängigen Vorwürfen aus dieser Zeit frontal an. Dieser sei zum „politischen Wanderprediger“ geworden, stelle seine Sichtweise als die einzig richtige dar und bekenne sich offen als „Gegner der Bundesrepublik“, weshalb er von der SED als einer der ihren gefeiert werden würde. Dabei werde er „überhaupt nur wahrgenommen wegen seiner kirchlichen Ämter und weil angenommen werde, daß er die Ansicht des evangelischen Kirchenvolkes vertrete“. 98 Niemöller verwies in seiner Replik darauf, dass er in der Möglichkeit eines Krieges zwischen West- und Ostdeutschen, „ein Unglück äußersten Ausmaßes“ sah, das zu verhindern er jeden Einsatz „nicht nur wage, sondern gewissensmäßig wagen muß“. 99 Nach einer emotionsgeladenen Debatte verabschiedete die Synode einen Grundsatzbeschluss, in dem zwar alle Amtsträger aufgerufen wurden, „in politischen Dingen (…) möglichst Zurückhaltung [zu] üben, unnötige Schärfen [zu] vermeiden und sich des brüderlichen Rates [zu] bedienen“. Gleichzeitig hieß es aber auch: „Jeder evangelische Christ [hat] die Freiheit und das Recht, zu den Fragen des öffentlichen Lebens Stellung zu nehmen. In der evangelischen Christenheit ist in früherer Zeit diese Verantwortung oft nicht ernst genug genommen worden.“ 100 Damit war für die EKHN eine Richtungsentscheidung getroffen. 101 Der Beschluss zeige, so Michael Heymel, wie Niemöller „seine“ Kirche gezwungen habe, sich mit gesellschaftlichen und politischen Problemen auseinanderzusetzen. 102 Auch ohne das Zutun des Kirchenpräsidenten wurden die großen politischen Entscheidungsfragen um Westintegration und Wiederbewaffnung in der Folge immer wieder aus der Kirche heraus diskutiert und hinterfragt. 103 Gleichzeitig konnte der Beschluss auch herangezogen werden, um Niemöller Grenzen zu setzen - soweit das überhaupt möglich war. So wurde nach dessen Wahlaufruf zur Bundestagswahl im Sommer 1953 auf einer Sondersynode 98 Kirchensynode der EKHN (Hrsg.): Verhandlungen der Kirchensynode. Erste Kirchensynode, 1. außerordentliche Tagung am 28. und 29. November 1950 in Frankfurt am Main, Rede des Synodalen Ludwig Cornelius Baron von Heyl, 20-22. 99 Rede des Kirchenpräsidenten Martin Niemöller, in: ebd., 23-31. 100 Zitiert nach: Herbert, Durch Höhen, 178. 101 Karl Herbert geht sogar so weit, den Beschluss als „eine der gewichtigsten Entscheidungen in der Geschichte der EKHN“ zu bezeichnen. Ebd . , 179. 102 Vgl. Heymel, Niemöller, 164. 103 So unterzeichneten Anfang 1955 rund 280 von damals 950 Pfarrern eine Erklärung, die den Bundestagsabgeordneten von der Unterzeichnung der Pariser Verträge, die unter anderem den Beitritt Westdeutschlands zur Nato beinhalteten, abriet, bevor nicht die Folgen einer Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ausreichend geklärt worden seien. Vgl. zu diesem Vorgang: Herbert, Durch Höhen, 196 f. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 113 mit Mehrheitsbeschluss festgestellt, dass er die Aufforderung der Synode vom November 1950, unnötige Schärfen in der öffentlichen Debatte zu vermeiden, verletzt habe und in Zukunft im Ton Zurückhaltung üben solle. 104 3.2. Atomrüstung und Pazifismus So vielschichtig die Gründe Niemöllers waren, sich gegen die Wiederbewaffnung, oder in seinen Worten, die „Remilitarisierung“ Deutschlands einzusetzen - pazifistische Motive im engeren Sinne waren hierfür zunächst nicht ausschlaggebend. So beteiligte er sich im Ökumenischen Rat der Kirchen im Juni 1950 am Entwurf einer Erklärung, in der die US-geführte Militärintervention in Korea befürwortet wurde. Im selben Jahr äußerte er sich in Bezug auf die fortgesetzte Teilung Deutschlands: „Wir können im Augenblick mit Gewalt nichts besser machen. Ja, wenn es so wäre, daß ich Aussicht hätte, wir könnten die Brüder im Osten heraushauen, weil es gar keine andere Möglichkeit gäbe, ich glaube, da ginge der alte Soldat wieder mit mir durch.“ 105 Und noch 1952 sagte er in Bezug auf seinen Kampf gegen die Wiederbewaffnung: „Vielleicht vermuten sie dahinter eine grundsätzlich pazifistische Einstellung; aber das wäre eine völlig irrige Vermutung.“ 106 Was bei ihm zum Umdenken führte, war die kontinuierliche Entwicklung und Verbreitung der Atombombe zu Beginn der 1950er-Jahre. Nachdem die USA im August 1952 und die Russen knapp ein Jahr später ihre jeweils erste Wasserstoffbombe gezündet hatten, erhoffte er sich von der EKD eine ähnlich klare Verurteilung der Nuklearwaffen, wie sie Papst Pius XII. in seiner Osterbotschaft 1954 für die römisch-katholische Kirche verkündet hatte. 107 Am 6. Juni 1954 kam es auf Niemöllers Initiative hin in Wiesbaden zu einem Treffen zwischen ihm, Otto Dibelius und Helmut Gollwitzer auf der einen, den Atomphysikern Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker auf der anderen Seite, das der Information aus erster Hand dienen sollte. Rückblickend erinnerte er sich, dass sich das Gespräch vor allem zwischen ihm und Hahn abspielte. Dieser habe erklärt, dass es keine Frage der Wissenschaft mehr sei, einen Apparat zu schaffen, der die Oberfläche des Planeten für Menschen unbewohnbar macht, sondern nur noch eine der Ingenieure. Wenige Wochen später berichtete Niemöller auf der zweiten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1954 in Evanston (USA) in einer „How I became a pacifist“ betitelten Rede von diesem Treffen und dem Wandel, den 104 Vgl. ebd., 212 f. 105 Zitiert nach: Schreiber, Niemöller, 119. 106 Zitiert aus: Niemöller, Reden 1945-1954, 226. 107 Vgl . Heymel, Niemöller, 215. 114 Jan Schubert es bei ihm ausgelöst hatte: Wäre er 1953 gestorben, in den Nachrufen hätte gestanden, er sei trotz seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus im Dritten Reich geistig immer dem militaristischen Denken seiner Marinezeit verhaftet geblieben. Nachdem ihm aber durch die Erläuterungen der Atomwissenschaftler die völlige Neuartigkeit der Nuklearwaffen bewusst geworden sei, konnte Krieg für ihn unter keinen Umständen mehr gerechtfertigt werden. 108 Das Gespräch mit Hahn, Heisenberg und von Weizsäcker war wohl nicht der Bekehrungsmoment, als den er ihn später darstellte. Vielmehr hatte er sich schon in den Jahren zuvor auf eine pazifistische Position hinbewegt, insbesondere durch seine engen Kontakte mit entsprechend engagierten Persönlichkeiten in der ökumenischen Bewegung wie etwa dem deutschen evangelischen Theologen Friedrich Siegmund-Schultze. 109 Dennoch, von 1954 an trat er in der Öffentlichkeit kompromisslos für einen radikalen Pazifismus ein. Ausschlaggebend dafür war, wie er sich später erinnerte, eine durch das Wissen um die Zerstörungskraft der Atombombe ausgelöste theologische Neubewertung der Frage von Krieg und Frieden gewesen. Die erneute Lektüre des Neuen Testament unter der Frage, wie die Heilsbotschaft Christi zur Gewaltanwendung von Menschen gegen Menschen stehe, habe ihn erstmals wirklich zur einem wahren Verständnis von Gottes gewaltloser Feindesliebe gebracht - und damit zum Pazifismus. 110 Die Überzeugung seiner frühen Jahre im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, dass „ein guter Christ (…) auch ein guter Soldat [ist], weil ein guter Christ auch ein guter Staatsbürger ist“, sei danach für ihn nicht mehr haltbar gewesen. 111 Gleichzeitig war es aber auch die Einsicht in die völlige Neuartigkeit der Nuklearwaffen und in deren zerstörerisches Potential, die ihn zum Umdenken brachte. Bei der Atombombe handle es sich nicht um eine Waffe zur Verteidigung, sondern zur Vernichtung allen Lebens, zum „Massenmord und Massenselbstmord.“ 112 Als Christ könne er daher nur zu dem Urteil gelangen, dass die neuen Waffen „eine unmittelbare Lästerung des lebendigen Gottes“ 113 seien, weshalb man „im Namen des Rechts und der Menschlichkeit, ja im Namen Gottes“ 114 gegen die atomare Rüstung kämpfen müsse. 108 Vgl. Hockenos, Niemöller, 99. 109 Vgl. zu diesem Prozess: ebd., 87 ff.; Bentley, Niemöller, 260 ff. 110 Vgl. Heymel, Niemöller, 217. 111 So Niemöller in einem im Oktober 1963 aufgezeichneten Fernseh-Interview mit Günter Gaus. Vgl. das im Internet zugängliche Transkript: www.rbb-online.de/ zurperson/ interview_archiv/ niemoeller_martin.html (08.07.2017). 112 Zitiert aus: Niemöller, Reden 1958-1961, 80. 113 Zitiert aus: Schreiber, Niemöller, 129. 114 Zitiert aus: Posser, Dieter: Entspannungspolitik als Arbeit für Frieden und Menschenrechte, in: Düringer / Stöhr, Martin Niemöller im Kalten Krieg, 14-28, hier 26. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 115 Die Frage der Atomrüstung wurde in der Bundesrepublik akut, als sich Bundeskanzler Adenauer im Frühjahr 1957 für eine Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen aussprach und dabei verkündete, diese stellten nicht mehr als eine „Weiterentwicklung der Artillerie“ dar. Obwohl sich gegen die veränderte Regierungspolitik bald zivilgesellschaftlicher Widerstand in Form der Aktion „Kampf dem Atomtod“ konstituierte und auch 18 namhafte Atomwissenschaftler mit der „Göttinger Erklärung“ sowie der allseits hochangesehene Albert Schweitzer mit einem Appell vor der Rüstung mit Nuklearwaffen und deren Verharmlosung warnten, sprach sich der Bundestag im März 1958 für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr aus. 115 Angesichts dieser Entwicklung kam es innerhalb des deutschen Protestantismus erneut zu kontroversen friedensethischen Debatten, wobei die Fronten weitgehend mit denen in der Wiederaufrüstungsdebatte wenige Jahre zuvor identisch waren. Als die EKD-Synode im April 1958 über die Thematik beriet, konnte sie im Ergebnis nur feststellen, dass in ihren Reihen tiefe Gegensätze bestanden, man sich von diesen aber nicht spalten lassen wolle: „Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen.“ 116 Während im westdeutschen Luthertum klare Stellungnahmen gegen die Atomrüstung als unzulässige kirchliche Grenzüberschreitungen gewertet wurden, verstanden die sich an der Theologie Karl Barths orientierenden kirchlichen Bruderschaften die Atomrüstungsdebatte als status confessionis - den Fall des Bekennens oder Verleugnens Christi. Besonders umstritten war die Feststellung in einer von den Bruderschaften herausgegebenen „Unterweisung der Gewissen“, wer die atomare Rüstung befürworte oder auch nur einen neutralen Standpunkt hierzu einnähme, verleugne alle drei Artikel des christlichen Glaubens. Auch Niemöller haute in dieselbe Kerbe, wenn er bei einer Kundgebung auf dem Frankfurter Römerberg im Juni 1958 postulierte, wer sich an der Aufrüstung mit modernen Massenvernichtungsmitteln beteilige, sei „praktisch ein Atheist“. 117 Diese Aussage erzeugte in der EKHN heftige Gegenreaktionen. Präses Wilhelmi fühlte sich als CDU-Bundestagsabgeordneter, der für die Atomrüstung gestimmt hatte, persönlich von Niemöllers Aussagen getroffen, die dieser ihm gegenüber in einem persönlichen Brief auch wiederholte: „Ich kann ihnen nur sagen, dass sie als Christenmensch auf einem ganz gefährlichen Weg gehen, und ich werde nicht aufhören, es Ihnen zu sagen, dass Sie praktisch als Atheist handeln, wenn Sie diesen Weg unterstützen bzw. ihn weitergehen.“ 118 Wilhelmi sah darin einen Verstoß gegen den Beschluss der EKD-Synode, bei allen 115 Vgl. Benad, Dazu kann man nur bedingungslos Nein sagen, 264 ff. 116 Vgl. Greschat, Protestantismus, 69 f. 117 Zitiert nach Heymel, Niemöller, 217. 118 Martin Niemöller an Hans Wilhelmi am 11. Juni 1958, ZA EKHN Best. 62, Nr. 1649. 116 Jan Schubert Differenzen unter dem Evangelium zusammen bleiben zu wollen und legte die Angelegenheit zur Klärung der Synode der EKHN vor, die im Dezember 1958 zusammentrat. Hier betonte er in der Aussprache, dass niemand, und schon gar nicht der Kirchenpräsident das Recht habe, anderen Christen ihren Glauben abzusprechen. Ziel müsse es vielmehr immer sein, das Gemeinsame zu suchen. 119 Niemöller wiederholte daraufhin noch einmal seinen Standpunkt, die Stellung der Kirche zu Fragen von Krieg und Frieden müsse angesichts der Atomwaffen völlig neu überdacht werden: „Menschen haben immer Menschenleben vernichten können und haben es auch getan; eins haben sie aber nicht gekonnt, und das können sie seit 1954, nämlich: das Leben vernichten.“ 120 Auch deren Verwendung zur bloßen Abschreckung sei schon als Lästerung der Güte Gottes zu betrachten. So sehr die inhaltlichen Gegensätze also bestehen blieben - am Ende konnten Wilhelmi und Niemöller einander doch die Hand reichen. Die Synode beschloss: „Es kann und darf keinem Glied unserer Kirche das Recht bestritten werden, seine christliche Erkenntnis zu bezeugen.“ Gleichzeitig wurde aber auch festgehalten: „Die Synode erwartet, dass sich ein jeder ernstlich bemüht, seine Auffassung so zu vertreten, dass er das Gebot der Liebe gegenüber denen, die seine Erkenntnis nicht teilen, nicht verletzt.“ 121 Eine dauerhafte Verständigung war damit allerdings nicht erreicht. Nur wenige Wochen später artikulierte Niemöller seinen pazifistischen Standpunkt auf eine Weise, die die Wogen erneut hochschlagen ließen. Am 25. Januar 1959 hielt er vor einer christlichen Friedensversammlung in Kassel einen Vortrag zum Thema: „Denn sie wissen, was sie tun! “. In der nicht nach Manuskript, sondern aus dem Stegreif gehaltenen Rede argumentierte er, dass von einem gerechten Krieg angesichts der Atombombe endgültig nicht mehr die Rede sein könne: „Jedes Mittel, womit man seinen Gegner kleinkriegen kann, kann angewendet werden. Und darum ist heute die Ausbildung zum Soldaten (…) die Hohe Schule für Berufsverbrecher.“ 122 Die öffentliche Empörung über diesen letzten Satz der 119 Kirchensynode der EKHN (Hrsg.): Verhandlungen der Kirchensynode. Zweite Kirchensynode, 3. außerordentliche Tagung, 01.-04. Dezember 1958 in Frankfurt am Main, Rede von Präses Hans Wilhelmi, 14-24. 120 Die Rede vor der Synode ist unter dem Titel „Gottes Gebot im Atomzeitalter“ abgedruckt in: Walther, Christian (Hrsg.): Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1954-1961. Dokumente und Kommentare. München 1981, 99. 121 Kirchensynode der EKHN (Hrsg.): Verhandlungen der Kirchensynode. Zweite Kirchensynode, 3. außerordentliche Tagung, 343. 122 Die Rede ist abgedruckt in: Martin Niemöller. Gewissen vor Staatsräson. Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Joachim Perels. Mit einem Nachwort von Martin Stöhr, Göttingen 2016, 137-155, hier 140. Zum weiteren Inhalt und zum Kontext der Rede vgl.: Heymel, Niemöller, 226 ff. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 117 Rede, die bald darauf gedruckt und in 400.000 Exemplaren verbreitet wurde, äußerte sich in scharfen publizistischen Attacken 123 und erreichte bald höchste Regierungskreise. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß stellte Strafantrag „wegen Beleidigung der Bundeswehr“, und selbst Bundespräsident Theodor Heuss bezichtigte Niemöller in einer Ansprache vor Soldaten der „christlichen Demagogie“. 124 Otto Dibelius beeilte sich zu versichern, dass Niemöller als Privatmann gesprochen und keine offizielle Position der EKD vertreten habe. Auch in der EKHN ging die Aussage ihres Kirchenpräsidenten vielen zu weit. Auf der nächsten ordentlichen Synode im April 1959 versuchte der Synodalvorstand, ihn zu einem Wort des Bedauerns über die durch seine Rede entstandene Unruhe und Verletzung vieler Christen zu bewegen. Er entgegnete jedoch, er würde das in Kassel Gesagte jederzeit wiederholen, weil es seinem Verkündigungsauftrag entspreche. 125 Viele Synodale beklagten den Unbedingtheits- und Absolutheitsanspruch Niemöllers, wobei auch wieder dessen Römerberg-Rede und die Problematik der Atomrüstung zur Sprache kam, etwa durch Präses Wilhelmi: „Man behandelt uns (…), die wir anderer Ansicht sind, einfach als Leute mit dieser Mattscheibe, die also freundlichst noch in der Kirche bleiben dürfen, aber keineswegs mehr Christen sind, sondern praktisch Atheisten.“ 126 In der Tat ging es Niemöller nicht darum, die andere Seite von seiner Meinung zu überzeugen. Es ging ihm um den konkreten Ruf zur Umkehr, der unbedingten Charakter haben musste, weil er für ihn im Namen Christi erfolgte und nicht, weil er die eigene Position behaupten wollte. 127 An Wilhelmi richtete er sich mit den Worten: „Es kann mich nicht bewegen, wenn der Herr Präses sagt, er habe eine andere Meinung. Er müßte mir sagen, weshalb er von Jesus Christus her und im Zeugnis für diesen unseren Herrn Jesus Christus eine andere Meinung hat. In dem Augenblick bin ich bereit, zu hören.“ 128 Mit dieser kompromisslosen Haltung brachte er viele in der Kirche gegen sich auf. Dennoch führte auch die Auseinandersetzung um die Kassler Rede nicht 123 So wurden 60.000 Exemplare des Pamphlets „Martin Niemöller: Bekenner, Politiker oder Demagoge“ kostenlos verschickt und in manchen Bundeswehrdienststellen offiziell verteilt. Vgl. Benad, Bedingungslos Nein, 277. 124 Das sich an den Strafantrag anschließende Verfahren wurde bald - zu Niemöllers Bedauern, denn er hätte gerne seinen Standpunkt öffentlich erläutert - fallengelassen. Vgl. Heymel, Niemöller, 228. Zur Auseinandersetzung mit Theodor Heuss vgl. Schmidt, Niemöller, 243. 125 Vgl. ebd., 249. 126 Kirchensynode der EKHN (Hrsg.): Verhandlungen der Kirchensynode. Zweite Kirchensynode, 4. ordentliche Tagung, 20.-24. April 1959, 58. 127 Vgl. Herbert, Durch Höhen, 228. 128 Kirchensynode der EKHN (Hrsg.): Verhandlungen der Kirchensynode. Zweite Kirchensynode, 4. ordentliche Tagung, 76. 118 Jan Schubert zum Bruch, zumal Wilhelmi, wie Niemöller sich später erinnerte, nach Hören der Tonbandaufnahme der Kassler Rede zugeben musste, dass es sich hierbei nicht um eine politische Rede, sondern eindeutig um eine Predigt gehandelt habe: „Ja, das war eine Predigt. Alles, was Niemöller sagt, wird zur Predigt.“ 129 Beiden, sowohl dem Kirchenpräsidenten als auch dem Präses, gelang es, auch nach diesem schweren Zerwürfnis im Interesse der Einheit der Kirche zwischen Person und Sache zu unterscheiden. 130 Auch wenn die Themen der Wiederbewaffnung, der atomaren Rüstung und - damit untrennbar zusammenhängend - auch der Militärseelsorge 131 Ende der 1950er-Jahre zunehmend aus der breiteren Öffentlichkeit und den kirchlichen Debatten verschwanden, so blieb die Frage von Krieg und Frieden für Niemöller ein Lebensthema, auch weit über seine Amtszeit als Kirchenpräsident hinaus. Innerhalb der deutschen wie auch der internationalen Friedensbewegung nahm er bis in die 1980er Jahre hinein eine ganze Reihe von Ämtern und Verantwortlichkeiten ein. So wurde er 1957 zum Präsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft, 1958 darüber hinaus zum Präsidenten der Internationale der Kriegsdienstgegner gewählt. Ab 1967 fungierte er als Präsident des Weltfriedensrates, ab 1974 - nach einer institutionellen Konsolidierung der Friedensbewegung - zudem als erster Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegner. Auch ansonsten erschöpfte sich seine pazifistische Grundüberzeugung nicht in theologischen Überlegungen, sondern brachte ihn buchstäblich auf die Straße. So wirkte er an unzähligen Mahnwachen und Demonstrationen für den Frieden mit, wo er oft nicht nur Reden hielt, sondern auch Flugblätter und Informationsbroschüren verteilte. An der Ostermarsch-Bewegung war er ebenso beteiligt wie etwa an den Protesten gegen die Neutronenbombe 1978. Noch 1980 partizipierte er 88jährig an den Beratungen zum Krefelder Appel gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa. 132 3.3. Ökumene und Versöhnung Bei allen Konflikten und Kontroversen, die Niemöllers Interventionen gegen Westintegration, Wiederbewaffnung und Atomrüstung in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit, innerhalb der EKD und der EKHN hervorriefen, darf nicht übersehen werden, dass sein übergeordnetes Ziel immer die Versöhnung unter den Menschen und Völkern blieb. In ihr sah er eine unabdingbare Voraus- 129 Zitiert nach Lück, Wilhelmi, 84. 130 Vgl. ebd., 90 f. 131 Vgl. zu den in diesem Zusammenhang geführten Debatten: Heymel, Niemöller, 234 ff. 132 Vgl. zu Niemöllers Aktivitäten nach seiner Kirchenpräsidentschaft: Benad, Bedingungslos Nein, 272 ff. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 119 setzung für die Bewahrung des Friedens in der Welt. Vor diesem Hintergrund ist zum einen sein ökumenisches Engagement nach dem Krieg zu verstehen, in seiner Funktion als Leiter des Kirchlichen Außenamtes, aber auch beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf, wo er als Mitglied des Exekutivkomitees (1948-1961) und als Co-Präsident (1961-1968) zwanzig Jahre lang tätig war. Zum anderen wird vor dieser Folie verständlich, warum er sich unermüdlich für den Dialog und die Kooperation über alle nationalen und politisch-ideologischen Grenzen hinweg einsetze. So unternahm er von Dezember 1946 bis Mai 1947 eine ausgedehnte Reise durch die USA, wo er viele Dutzend Vorträge und Predigten hielt und es ihm letztendlich gelang, die Grundlage für erneuerte ökumenische Beziehungen mit den amerikanischen Kirchen zu legen. Auch in Europa war er nach dem Krieg Pionier, als es darum ging, wieder vorsichtig Beziehungen zu den Nachbarländern aufzubauen. Im Februar 1946 reiste er erstmals nach Genf zum Ökumenischen Rat, wo er mit etlichen Kirchenvertretern aus Ländern zusammentraf, die schwer unter der deutschen Besatzung gelitten hatten, ihn als Deutschen aber dennoch im Geiste aufrichtiger Versöhnung empfingen. 133 Sowohl in den Niederlanden als auch in Norwegen war er bald darauf der erste Deutsche, der wieder öffentlich reden durfte. Der dänische Bischof Halfdan Högsbro erinnerte sich später: „Der damalige Pastor Niemöller war in dieser Stunde der einzig mögliche Botschafter seiner Kirche und seines Volkes.“ 134 Während seine ersten Reisen vor allem dem Ziel dienten, Deutschlands internationale Isolation aufzubrechen, sollten die späteren in erster Linie die Versöhnung und den Dialog unter den Völkern fördern. 135 Unter den Bedingungen des Kalten Krieges konnte es dabei nicht ausbleiben, dass Niemöllers unbedingte Bereitschaft zur Verständigung und Vertrauensbildung über alle Grenzen hinweg Auslöser weiterer „Niemöller-Skandale“ wurde. Seine „umstrittenste Reise“ 136 in diesem Zusammenhang erfolgte im Januar 1952, als er als erster prominenter Deutscher, der hohe kirchliche Ämter bekleidete, auf Einladung des Patriarchen Alexej von Moskau die Sowjetunion besuchte. Wenngleich er auch mit offiziellen Vertretern von Staat und Kirche über die Situation der deutschen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter sprach - sein Hauptanliegen war das brüderliche Gespräch mit den russischen Christen. Schon in den Jahren zuvor hatte er mehrfach betont, dass ihn die Frage umtreibe, ob es nach den Jahrzehnten der Unterdrückung noch ein wirkliches kirchliches Leben in der Sowjetunion gebe. In den Reiseberichten nach seiner Rückkehr erklärte er, dass 133 Vgl. ders., Der Weg ins Freie, 206. 134 Zitiert aus: ebd ., 208. 135 Vgl. Schreiber, Niemöller, 106. 136 Ebd . , 103. 120 Jan Schubert man diese Frage bejahen könne - mehr noch, die Russisch Orthodoxe Kirche sei „alles andere als eine ‚sterbende Kirche‘“, ihm sei hier „echtes geistliches Leben“ und eine tiefe Spiritualität begegnet. 137 Auch sei sie keinesfalls mit den gleichgeschalteten Kirchen der Hitlerzeit zu vergleichen. Ihr gehe es „um die christliche Gemeinde und nicht um bolschewistische Propaganda“. 138 Zwar unterliege die Christenheit in Russland auch den „politischen Parolen, mit denen die Öffentlichkeit beeinflußt wird“, 139 und mit Sicherheit sei die Kirche nicht frei, aber das sei sie in früheren Systemen auch nicht gewesen. Außerdem sei man schnell bereit, solche Abhängigkeiten bei anderen zu konstatieren und für sich selbst geflissentlich zu verneinen. 140 Es waren diese positiven Einschätzungen, auf die in Deutschland am kritischsten reagiert wurde. So äußerte Adenauer sein tiefstes Bedauern, „daß ein Deutscher in der Person des hessischen Kirchenpräsidenten Niemöller seiner Regierung auf diese Weise und zu diesem Zeitpunkt in den Rücken fällt“. 141 Selbst die SPD sprach von der Reise als einer „absolut unerfreulichen Aktion“. 142 Noch polemischer waren die Reaktionen in Teilen der Presse, wo Niemöller vorgeworfen wurde, er mache sich zum „nützlichen Idioten“ Moskaus und lasse sich von den Sowjets für ihre Propaganda benutzen. 143 Vor seinem Haus in Wiesbaden wurde gar ein Spruchband aufgehängt mit den Worten: „Zurück nach Moskau, du Towaritsch Niemöller, dawei, dawei“. Schließlich kam auch aus den Kirchen Gegenwind. In der EKHN wurde Niemöller auf der nächstfolgenden Synode im Februar 1952 für seine Reise scharf kritisiert. 144 Otto Dibelius solidarisierte sich als EKD-Ratsvorsitzender zwar öffentlich mit Niemöller und erklärte, der kirchliche Charakter der Reise sei offensichtlich und erst seine Gegner hätten daraus eine politische Aktion gemacht. Intern argumentierte er aber, hätte Niemöller ihn gefragt, hätte er ihm von der Reise abgeraten. 145 137 Vgl. den Reisebereicht: „Zu meiner Moskaureise“, abgedruckt in: Niemöller, Reden 1945- 1954, 203-208, hier 205. 138 So in seinem Bericht für das Magazin „Der Spiegel“: Der SPIEGEL, Nr. 3 vom 16.01.1952, 13. 139 Zitiert aus: Reden 1945-1954, 206. 140 Vgl. ebd. 141 Zitiert aus: Niemöller, Jan: Erkundung gegen den Strom. 1952: Martin Niemöller reist nach Moskau. Eine Dokumentation. Stuttgart 1988, 113. 142 Zitiert aus Benad, Der Weg ins Freie, 214. 143 Vgl. zu den Reaktionen in Presse und Öffentlichkeit: Heymel, Niemöller, 202. 144 Vgl. Herbert, Durch Höhen, 188 ff. 145 So in einem Brief an den Lordbischof von Chichester, George Bell. Dort gelangte er auch zu einer treffenden Charakterisierung von Niemöllers öffentlichen Interventionen: „Alle Unternehmungen Niemöllers haben eine erstaunliche Spaltungskraft. Was immer er tut, die eine Seite wird leidenschaftlich zustimmen, während die andere Seite leidenschaftlich ablehnen wird.“ Zitiert aus: Benad, Der Weg ins Freie, 213. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 121 Insgesamt lässt sich mit Martin Greschat konstatieren, dass Niemöllers Begeisterung für das religiöse Leben in Russland ihn den Grad der Unfreiheit der orthodoxen Kirche und ihrer Vertreter falsch einschätzen ließ, 146 auch wenn er sich der „Möglichkeit bewusster Täuschungen“ 147 durch seine Gastgeber durchaus bewusst war. Für die kommunistischen Machthaber war die Reise in jedem Fall ein Erfolg: „Nun war aus berufenem Mund bezeugt, dass die Kirche in Russland trotz mancher Einschränkungen frei agieren (…) konnte.“ 148 Die üblichen Attacken, in denen Niemöller als Parteigänger des Kommunismus diffamiert wurde, waren dennoch reine Polemik. Schon im November 1950 hatte er im Rahmen einer Rede in Frankfurt erklärt: „Wir haben allen Anlaß, von dieser Freiheit, die uns hier im Westen noch geblieben ist, hoch zu denken und dankbar für sie zu sein. (…) Und wir haben allen Anlaß, uns keinerlei Illusionen hinzugeben: was aus dem Osten auf uns zukommt (…) ist mehr, als Menschen tragen und ertragen können. Es geht nicht an, diese Gefahr irgendwie zu verharmlosen.“ 149 Vor allem darf man nicht übersehen, dass für Niemöller allein das Gespräch zählte. Nur auf diese Weise, hob er immer wieder hervor, könne christliche Bruderschaft erfahren, Koexistenz erprobt und Verbundenheit miteinander erzeugt werden. 150 Im Falle seiner Moskau-Reise zahlte sich dieses Vorgehen später aus. So dürfte sein Besuch mit dazu beigetragen haben, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche 1961 dem Ökumenischen Rat der Kirchen beitrat. 151 Das Reden mit „der anderen Seite“ war für Niemöller in Zeiten des Kalten Krieges, der zu jeder Zeit in einen heißen, alles vernichtenden Krieg umschlagen konnte, ein unmittelbarer Beitrag zur Entspannung und einem friedlicheren Miteinander. So reiste er immer wieder in Länder des kommunistischen Machtbereiches, in die DDR, nach Ungarn, Polen und auch noch einige Male in die Sowjetunion. Dergestalt wirkte er allerdings nicht nur in Ost und West, sondern ab den 1960er-Jahren zunehmend auch im „globalen Süden“, in den die Spannungen des Kalten Krieges immer mehr importiert und in Stellvertreterkriegen ausgetragen wurden. Im Juli 1965 reiste er ein Jahr nach Beginn der militärischen Intervention der USA als Vertreter des „Kirchlichen Notkomitees für Vietnam“ nach Südvietnam, 1966 als Gast der nordvietnamesischen Regierung nach Hanoi, wo er mit Ho Chi Minh zusammentraf. 152 Unmittelbar nach 146 Vgl. Greschat, Martin: „Er ist ein Feind dieses Staates! “ Martin Niemöllers Aktivitäten in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 114 (2003), 333-356, hier 351 f. 147 Niemöller, Reden 1945-1954, 204. 148 Greschat, Protestantismus, 46. 149 Zitiert aus: Schmidt, Niemöller, 209. 150 Vgl. Greschat, „Er ist ein Feind dieses Staates! “, 355. 151 Vgl. entsprechend: Bentley, Niemöller, 251 f. 152 Vgl. Heymel, Niemöller, 248 f. 122 Jan Schubert seiner Rückkehr verkündete er: „Die Amerikaner müssen Vietnam verlassen. Wenn sie weg sind, wird alles übrige sehr einfach sein. Die erste Vorbedingung für Verhandlungen ist, daß die Bombenangriffe aufhören.“ 153 Auch der Nord-Süd-Gegensatz als solcher, die Probleme von Hunger, Überbevölkerung und Rassismus nahmen einen immer größeren Raum bei ihm ein. 154 Der Einsatz für die so genannte Dritte Welt wurde zu einem elementaren Teil seines Kampfes für Frieden und Versöhnung in der Welt, wobei auch hier der Gedanke der Buße eine zentrale Rolle spielte. Nur wenn die „weißen Völker“ Buße täten im Sinne eines fundamentalen Umdenkens in Politik und Wirtschaft, könne ein wirklicher globaler Friede erreicht werden. So sehr er mit diesem umfassenden Engagement in der Heimat immer wieder aneckte, zumindest im weiteren Raum der internationalen Ökumene befand er sich damit ab den 1960er Jahren zunehmend im Mainstream wieder. 155 Das war für ihn jedoch kein Anlass, zurückzustecken, im Gegenteil. Die globale Ungleichheit und die erneute Aufrüstungsspirale des Kalten Krieges in seinen letzten Lebensjahren erzeugte bei ihm eher eine ausgeprägte Form von Altersradikalismus. Seinem Biographen James Bentley sagte er im Alter von 90 Jahren: „Am Anfang meines politisch bewußten Denkens war ich ein Ultrakonservativer. Ich wollte den Kaiser wiederhaben. Heute bin ich revolutionär. Ich meine das wirklich. Falls ich hundert Jahre alt werde, werde ich vielleicht Anarchist.“ 156 4. Martin Niemöller und die politische EKHN In den Nachrufen und Artikeln zu Niemöllers Tod 1984 wie auch zu späteren Gedenktagen nahm das Bild des Pazifisten, des Kämpfers für Frieden und Versöhnung zumeist eine große Rolle ein. Dabei wurde regelmäßig der Kontrast zu seiner militärischen und militaristischen Vergangenheit hervorgehoben, die ihm eine besondere Glaubwürdigkeit verlieh, wenn er gegen Krieg, Aufrüstung und Abschreckungslogik zu Felde zog. In den Worten Walter Jens’: „Welch ein Weg! Welch ein Leben! Die Reichskriegsflagge am Anfang, und am Ende die Fackel 153 So Niemöller unmittelbar nach seiner Rückkehr in einem Interview. Zitiert nach: Bentley, Niemöller, 274. 154 Schon 1956 hatte er in einem Vortrag zum Thema „Was haben die ‚Jungen Kirchen‘ der alten Christenheit zu sagen? “ betont: „Die nichtweißen Völker verlangen ihre nationale Freiheit, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, ihre eigene, von Fremdeinflüssen freie technische und kulturelle Entwicklung.“ Zitiert aus: Niemöller, Reden 1955-1957, 130- 136, hier 130. 155 Vgl. den Sammelband: Kunter, Katharina / Schilling, Annegreth (Hrsg.): Globalisierung der Kirchen. Der Ökumenische Rat der Kirchen und die Entdeckung der Dritten Welt in den 1960er und 1970er Jahren. Göttingen 2014. 156 Zitiert nach Bentley, Niemöller, 271. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 123 bei der Mahnwache für den Frieden; zuerst das Hohelied alles Soldatischen, und später die Verteidigung der Sanftmütigen und Barmherzigen.“ 157 Sein Lebensweg in all seinen Brüchen, Wendungen und Lernkurven wurde oft als sinnbildlich für das „Zeitalter der Extreme“ 158 , die Geschichte Deutschlands oder die des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert angesehen. In irgendeine Schublade, das wussten schon die Zeitgenossen wie etwa Karl Barth, ließ er sich aber nicht einordnen: „Unseren Orthodoxen wäre er zu weltlich, unseren Liberalen zu geistlich, unseren Sozialisten zu militärisch und uns allen zu preußisch.“ 159 Niemöller verstand seine öffentlichen Aktivitäten auch zu keinem Zeitpunkt als Folge eines konkreten politischen Programms. „Ich habe mich nie als Politiker verstanden“, 160 konnte er am Ende seines Lebens sagen. Vom Selbstverständnis her war er vielmehr Evangelist, Verkündiger der christlichen Botschaft, die für ihn im Kern eine Botschaft der Versöhnung war. Der schillernde Begriff des „Friedenskämpfer“, so Michael Heymel, habe bei Niemöller „ein urchristliches, emanzipatorisches Profil“ erhalten. 161 Ausgehend von dem sein Leben prägenden Grundsatz „Was würde Jesus dazu sagen“ war er auch dann, wenn er zu aktuellen Fragen öffentlich Stellung bezog, nicht in erster Linie von politischen Interessen getrieben, sondern von seinem an das Wort Christi gebundenem Gewissen und der Verantwortung um das christliche Zeugnis in einer ganz konkreten Situation. Das brachte ihn zunächst, in der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in die Rolle des Bußpredigers, des prophetischen Anklägers gegen die im Dritten Reich begangenen Verbrechen und gegen das Schweigen der großen Mehrheit der Bevölkerung und der Kirchen; unter den Bedingungen des sich zuspitzenden Kalten Krieges dann immer mehr in die des Streiters für Dialog, Kooperation und Vertrauensbildung und gegen jede Form des militärischen Denkens und Handelns. Auf diese Weise formte sich sein Bild in der Öffentlichkeit - aber auch das der Kirche, der er 17 Jahre als Kirchenpräsident vorstand. Das Bild von der EKHN als „politischer Kirche“, das sowohl für ihre Außenwahrnehmung als auch für ihr Selbstverständnis bis heute von maßgeblicher Bedeutung ist, wird immer noch ganz wesentlich mit der Person Martin Niemöller verbunden. Die „Niemöller-Kirche“ galt und gilt, so Karl Dienst, als „fort- 157 So Walter Jens zu Niemöllers 100. Geburtstag in einer Rede im hessischen Landtag. Jens, Walter: Ein Prophet des Friedens. Martin Niemöller zum 100. Geburtstag, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2 (1992), 160-170, hier 166. 158 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 7 2004. 159 Karl Barth zitiert nach: Wette, Seiner Zeit voraus, 229. 160 Zitiert nach: Herbert, Der Kirchenpräsident, 230. 161 Heymel, Niemöller, 250. 124 Jan Schubert schrittliche ‚Politische Kirche‘, als ‚Avantgarde‘ der Gesellschafts- und Kirchenreform“, als eine Kirche, die sich vor allem über Kirchenpolitik oder „nicht selten über Politik schlechthin“ definiert. 162 Zwar zielt der Begriff der „Niemöller-Kirche“ auch auf spezifische Elemente der Kirchenordnung ab, die maßgeblich auf Niemöller zurückzuführen sind - insbesondere auf das synodale Prinzip, den Aufbau der Kirche von den Gemeinden aus. In erster Linie geht er aber auf die von Niemöller ausgelösten oder zumindest verschärften Debatten um die großen politischen Themen der frühen Bundesrepublik zurück, auch weil dabei oft nicht nur der jeweilige Sachverhalt diskutiert, sondern stets auch grundsätzlich die Frage verhandelt wurde, ob, inwieweit und in welcher Form das Evangelium mit politischem Handeln in Beziehung zu setzen sei. Die so erwachsene innerkirchliche Streitkultur prägte die EKHN genauso über die Amtszeit ihres ersten Kirchenpräsidenten hinaus wie dessen Sensibilität für die brennendsten politischen Entscheidungsfragen der Gegenwart. Niemöllers zentrales Anliegen, die Bewahrung der Schöpfung, verstanden primär als Sicherung des Friedens in Europa und der Welt, war als solches unumstritten. Sein kompromissloses Beharren auf seiner Position, sein oft polemischer Stil wie auch seine vielen Alleingänge brachten ihn dagegen immer wieder auf Konfrontationskurs sowohl mit den politisch Mächtigen als auch mit Teilen der eigenen Kirche. Das radikale Eintreten für den aus seiner Sicht richtigen, da christlichen Weg implizierte darüber hinaus politische Auffassungen, mit denen er sich vom politisch-gesellschaftlichen Mainstream denkbar weit entfernte. So bedeutete seine Fundamentalopposition gegen Westintegration und Wiederbewaffnung in letzter Konsequenz die Ablehnung der Existenz der Bundesrepublik Deutschland. Indem er die Frage der Atomrüstung als Glaubensfrage interpretierte, waren alle, die dazu auch nur eine abwägende Haltung einnahmen, für ihn Atheisten. Auch dass er mit seinem unerschütterlichen Willen zum Dialog über den Eisernen Vorhang hinweg bisweilen zur Legitimation und zu Propagandaerfolgen totalitärer Regime beitrug, war für ihn zweitrangig. Was für ihn allein zählte, war in der Nachfolge Christi für Menschen in Not einzustehen und mit ihnen solidarisch zu sein. In dieser Haltung drückte sich freilich immer auch eine gewisse Geringschätzung des Politischen an sich aus, also des Abwägens von Standpunkten, des Austarierens von Interessen und der Kompromissfindung, letztendlich der parlamentarischen Demokratie. 163 Wenn er sich direkt im politischen Raum betätigte, dann - wie sich gerade in seinem späteren zivilgesellschaftlichen Engagement in der Friedensbewegung zeigte - 162 Dienst, Politik und Religionskultur, 255. 163 Vgl. entsprechend Greschat, „Er ist ein Feind dieses Staates! “, 355. Martin Niemöller (1892-1984) - Bewahrung der Schöpfung 125 als Mann der Straße, als Anhänger der außerparlamentarischen Willensbildung und der direkten Demokratie. Mit all dem machte er es seiner Kirche nicht leicht. So sehr er sie prägte, so sehr rieb er sich an ihr und sie sich an ihm. Seine äußerst knappe Wiederwahl 1958 zeigte eine zunehmende Erschöpfung von Seiten der Synodalen und nahm seinen vorgezogenen Rücktritt 1964 vorweg. Auch danach blieb er in vielem, wie sein Auszug aus der Synode 1968 zeigte, ein unbequemer Begleiter der EKHN. Dennoch wussten schon viele Zeitgenossen, was sie an ihm hatten. So erklärte der stellvertretende Präses der Synode Martin Schmidt nach Niemöllers heftigen Angriffen gegen die Wiederbewaffnung im Dezember 1950: „Können wir als Evangelische Kirche von Hessen und Nassau es uns leisten, einen solchen Kirchenpräsidenten, der so ist, wie er ist, zu tragen? Und ich meine, wir können uns das leisten. Ich meine, es gibt Kirchen in Deutschland, die können es sich nicht leisten. Aber ich glaube, daß eine Kirche hier bei uns, nach unserer Art, in unserem südwestdeutschen Raum sich das leisten kann, und vielleicht ist es für die Kirche auf die Dauer gar nicht so übel.“ 164 Quellen- und Literaturverzeichnis Benad, Matthias: Trommeln, Pfeifen und Gewehr. Die Jahre bis 1910, in: Karnick, Hannes/ Richter, Wolfgang (Hrsg.): Protestant - Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller. Frankfurt am Main 1992, 7-22. Ders.: Wir klagen uns an. Die Jahre 1945 bis 1949, in: Karnick, Hannes/ Richter, Wolfgang (Hrsg.): Protestant - Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller. Frankfurt am Main 1992, 173-200. Ders.: Der Weg ins Freie. Die Jahre ab 1945, in: Karnick, Hannes/ Richter, Wolfgang (Hrsg.): Protestant - Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller. Frankfurt am Main 1992, 201-218. Ders.: Dazu kann man nur bedingungslos Nein sagen. Die Jahre bis heute, in: Karnick, Hannes/ Richter, Wolfgang (Hrsg.): Protestant - Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller. 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Wette, Wolfram: Seiner Zeit voraus. Martin Niemöllers Friedensinitiativen (1945-1955), in: Bald, Detlef (Hrsg.): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945-1955. Essen 2010, 227-241. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ Gisa Bauer 1. Einleitung Wolfgang Sucker ist der Kirchenpräsident der EKHN, der zwischen der hageren Siegfriedgestalt des ehemaligen U-Boot-Kommandanten Martin Niemöller mit seinen klaren Ansichten zur politischen Welt vor Gott und der selbstsicheren Haltung eines mit der politischen Standortbestimmung seiner Kirche in den 1970er Jahren befassten Helmut Hild eigentümlich verschwommen wirkt. Er sei „ausgestattet mit reichen Gaben des Geistes“ gewesen und „erfüllt von der rastlosen Sorge um den rechten Weg und Dienst der Kirche in dieser Zeit“, heißt es recht allgemein und wenig originell in der Traueranzeige der Kirchenleitung der EKHN und der Synode nach Suckers überraschendem Tod am 30. Dezember 1968 nach nur vier Amtsjahren als Kirchenpräsident. 1 Er habe „sich bemüht“, „die reformatorische Botschaft von der Menschenliebe Gottes in Jesus Christus für Kirche und Welt, für Öffentlichkeit und Geistesleben, für Erziehung und Bildungswesen in der Gegenwart auszulegen“ und sei „ein unermüdlicher Rufer zur Einheit der Christenheit über alle trennenden konfessionellen Gräben hinweg“ gewesen. Zu einem gleich dreifachen „Rufer“ stilisierte ihn auch Propst Ernst Dondorf, ein langjähriger Freund Wolfgang Suckers. Der Kirchenpräsident habe sich als ein „unermüdlicher Rufer“ zur Aufklärung erwiesen, was die EKHN zu einer echten kirchlichen Progressivität geführt habe. Darüber hinaus charakterisierte Dondorf Sucker als einen „unermüdlichen Rufer“ zur Schrift, einen „frommen Mann“, der u. a. täglich Passagen aus dem Neuen Testament auf Griechisch las, und dadurch die Kirche in einer „echten Konservativität“ bewahrte. Und schließlich sei Sucker ein „einsamer Rufer“ zur Mitte gewesen, 1 [Traueranzeige] Kirchenpräsident Professor D. Wolfgang Sucker, gez. die Kirchensynode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Dr. Wilhelmi, Präses, und die Kirchenleitung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Herbert, Stellvertreter des Kirchenpräsidenten, Darmstadt, 31. Dezember 1968. Gedr., 1 Bl.; Zentralarchiv der EKHN, Best. 120A, Nr. 1056. 130 Gisa Bauer die den für ihn nicht leicht zu gewinnenden echten Standort darstellte. 2 Das Bild des „Rufers“ ist gleichermaßen das Bild des Propheten als das des Außenseiters, dem Anhängerschaft und Unterstützung fehlen. Kirchenpräsident Wolfgang Sucker (Bild: Zentralarchiv der EKHN) Dass von Sucker dieses Bild in das kollektive Gedächtnis der EKHN einging, ist umso erstaunlicher, als dass Sucker in mehreren Themengebieten heimisch und teilweise sehr gut spezialisiert war und auf verschiedenen Feldern jeweils veritable Anhängerschaften und Unterstützergruppen hatte. Trotzdem gilt Sucker als der „vergessene Kirchenpräsident“, der „keinen Platz im kollektiven Gedächtnis der EKHN“ gefunden habe, wie Holger Bogs, Leiter des Zentralarchivs der EKHN, in einem 2012 erschienenen Aufsatz konstatierte. 3 Auch Bogs bemerkt die häufige Bezeichnung Suckers als „einsamen Rufer in der Wüste“ und fragt irritiert nach der Ursache und den Umständen der fehlenden Passfähigkeit zwischen der sich im Zuge Niemöllers als „politische Landeskirche“ verstehenden EKHN und dem unpolitisch wirkenden Sucker. 4 Dagegen steht die Aussage des ehemaligen Mitarbeiters von Sucker und späteren Professors für Kirchengeschichte in Berlin und Kiel Gottfried Maron, Sucker sei neben Künstler, Dichter, Historiker und Pädagoge auch Politiker gewesen. 5 Das widerspricht zwar dem Eindruck, den Wolfgang Sucker in der EKHN hinterlassen hat, aber auch dieses Bild, gezeichnet von einem Zeitgenossen, hat seine Berechtigung. Aber wie kann nun Suckers Haltung zur Politik angemessen beschrieben werden? Ist das Motto seines Wirkens „evangelische Selbstbesinnung “ nicht hochgradig politisch, zumindest wenn es in ein weites Verständnis von Politik eingeordnet und seine Stoßrichtung der Überwindung der Konfessionsgrenzen beachtet wird? Lässt sich gar der Schluss eines „unpolitischen Politikers“ ziehen - wäre so etwas denkbar? 2 [Dondorf, Ernst: ] Gedenken an Wolfgang Sucker, in: Evangelisches Kirchenblatt für Rheinhessen vom 6.9.1970, Ausschnitt; Zentralarchiv der EKHN, Best. 120A, Nr. 1056. 3 Bogs, Holger (unter Mitarbeit von Stefan Schmunk und Marcus Stippak): Wolfgang Sucker - Entwurf eines ökumenischen Europabildes, in: Dingel, Irene / Tietz, Christiane (Hrsg.): Kirche und Staat in Deutschland, Frankreich und den USA. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Beziehung. XIV. Dietrich-Bonhoeffer-Vorlesung 2010 in Mainz. Göttingen 2012, 153-164, hier 155. 4 Ebd., 156. 5 Maron, Gottfried: Im Gedenken an Wolfgang Sucker 1905-1968, in: Bogs, Holger / Fleischmann-Bisten, Walter (Hrsg.): Erziehung zum Dialog. Weg und Wirkung Wolfgang Suckers. Göttingen 2006, 163 f., hier 163. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 131 2. Biographische Skizze 6 Am 21. August 1905 wurde Wolfgang Friedrich Heinrich Sucker in Liegnitz in Niederschlesien geboren. Seine Eltern, Heinrich und Margarete Sucker, geb. Wiesner, zogen in den folgenden Jahren auf Grund der beruflichen Tätigkeit des Vaters als Bankbeamter und später Abteilungsdirektor einer Bank mehrmals um - 1920 schließlich nach Berlin, wo Wolfgang Sucker das Gymnasium besuchte und 1924 mit dem Studium der Geschichte, Theologie und Germanistik begann. 1925/ 26 wechselte Sucker nach Greifswald, 1927/ 28 nach Gießen, wo er insbesondere die Arbeit des Praktischen Theologen Leopold Cordier und dessen „Institut für evangelische Jugendkunde und evangelische Erziehungswissenschaft“ kennenlernte. Der pädagogischen Arbeit und der Beschäftigung mit Fragen der Bildung blieb er zeit seines Lebens verpflichtet. Wichtige Kontakte und lebenslange Freundschaften knüpfte er in der evangelisch-theologischen Verbindung „Schmalkaldener Kartell“, die in Gießen durch den auf Adolf von Harnack zurückgehenden Akademisch-theologischen Verein (A.Th.V.) repräsentiert wurde. Ebenfalls in Gießen lernte Wolfgang Sucker seine zukünftige Frau Anna Schaffner kennen, die er 1933 heiratete. Ende des Sommersemesters 1929 legte Sucker in Gießen „mit gutem Erfolg“ 7 die 1. Theologische Prüfung ab und nach Absolvieren des Predigerseminars Friedberg im Frühjahr 1931 das 2. Theologische Examen in Darmstadt. Mit seiner Ordination am 14. Juni 1931 in Offenbach am Main wurde er Pfarrassistent an zwei Offenbacher Gemeinden. Im Zuge der Jugendarbeit in dem „damals als rot und freidenkerisch bekannten Offenbach/ M.“, in dem eine Gemeindearbeit gefordert war, die „dialogisch, sozial bestimmt, missionarisch geprägt, frei von der Illusion einer gesellschaftlich wohletablierten und damit ihres Anstoßes beraubten Kirche“ war, 8 lernte Sucker unter anderen seinen späteren langjährigen Freund Ernst Dondorf kennen, zu dem Zeitpunkt angehender Theologiestudent, später Propst von Nord-Starkenburg. Am 1. Mai 1933 trat Sucker in Gießen die Stelle des Studentenpfarrers und damit verbunden des Konviktleiters an. Die Stellenbesetzung war im Einvernehmen mit der Theologischen Fakultät der Landesuniversität, speziell in Absprache mit Leopold Cordier erfolgt, dessen Arbeit Sucker sehr schätzte und in 6 Instruktiv und ausführlich beschäftigen sich mit der Biographie Wolfgang Suckers: Bogs, Holger / Jordan, Alexandra: „Treue gegen Treue“. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Biografische Streiflichter, in: Bogs / Fleischmann-Bisten, Erziehung, 17-49. Eine Zeittafel zu Suckers Lebenslauf findet sich ebenfalls dort 179 f. 7 Ebd., 20. 8 Dienst, Karl: Kirche und Schule. Zu einem zentralen Thema Wolfgang Suckers, in: Bogs / Fleischmann-Bisten, Erziehung, 94-140, hier 96. 132 Gisa Bauer Kirchenpräsident Wolfgang Sucker (Bild: EKHN) Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 133 dessen Fußstapfen er hinsichtlich seiner eigenen Jugendarbeit und Pädagogik trat. Obwohl Sucker, wie er später erklärte, „der Ideologie des Nationalsozialismus […] vorher wie nachher ganz fern“ 9 stand, trat er im Sommer 1933 in die SA und in die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ ein. Zum einen wollte er dadurch „eine Zugangsmöglichkeit zur seelsorgerlichen Betreuung der Studentenschaft […] haben“, 10 die fast ausschließlich in der SA organisiert war. Zum anderen wollte Sucker „den Nationalsozialismus vor seine Verantwortung gegenüber Gott […] stellen“ 11 , wie er nach 1945 im Rückblick erklärte. Aus der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ trat Sucker im Herbst 1933 wieder aus. Der SA gehörte er bis 1945 an, ohne sich bei ihren Aktivitäten zu engagieren. In die NSDAP trat er 1937 ein, ebenfalls wegen der ihm „anvertrauten Sache“ 12 des Christentums, für die er innerhalb der Partei eintreten wollte. Im Frühjahr 1934 nahm Sucker den Ruf als Dozent für Evangelische Theologie und Methodik des Religionsunterrichts an die Hochschule für Lehrerbildung in Lauenburg in Pommern an und war seit Oktober 1934 kommissarisch und seit Frühjahr 1935 hauptberuflich in Pommern tätig. Hier geriet er auf Grund der von ihm vertretenen Prinzipien christlichen Religionsunterrichtes immer stärker mit den nationalsozialistischen Behörden in Konflikt. Nicht zuletzt deshalb, weil die Hochschule dezidiert als nationalsozialistische Lehrerausbildungsstätte konzipiert worden war und einige oppositionelle Dozenten dieses Aufstellungsmerkmal unterminierten, 13 wurde der Druck, unter dem auch Sucker stand, mit der Zeit größer. 1936 musste die Direktion die Hochschulzeitschrift „Pädagogische Warte“ auf Grund eines Aufsatzes von Sucker einstellen, 1937 versuchte der nationalsozialistische Studentenbund einen Boykott seiner Vorlesungen durchzusetzen, 1938 wurde er mit Redeverbot außerhalb der Hochschule belegt. Trotz dieser Vorkommnisse und trotz seiner Aversion gegen den Nationalsozialismus trat Sucker im Sommer 1937 in die NSDAP ein, da er sonst entlassen und seine Stelle gestrichen worden wäre. Der Stettiner Oberkonsistorialrat Heinrich-Ernst Boeters, Mitglied der Bekennenden Kirche in Pommern, hatte zuvor Sucker empfohlen, den Parteieintritt zu vollziehen „um das Amt der Verkündigung des Evangeliums an der Hochschule zu retten“ 14 . Parallel dazu baute Sucker illegale 9 Sucker, Wolfgang: [Eidesstattliche Erklärung]. O. O., o. J. [um 1946]. Kopie, maschinenschriftl., 7, hier 1; Zentralarchiv der EKHN, Best. 120A, Nr. 1055. 10 Ebd. 11 Ebd., 1 f. 12 Ebd., 4. Zu Suckers Haltung im Nationalsozialismus, die exemplarisch für seine Art des politischen Agierens war, vgl. besonders Abschnitt 4. 13 Zu der Lauenburger Hochschule für Lehrerbildung vgl. Bogs / Jordan, Treue, 24 f. und Sucker, [Eidesstattliche Erklärung], 3 f. 14 Ebd, 4. 134 Gisa Bauer Arbeitsgemeinschaften von Pfarrern und Lehrern in ganz Pommern auf, die die „Bekenner“ unter den Lehrern sammeln und untereinander in Kontakt bringen sollten. 15 Im Herbst 1947 wurde Sucker im Zuge der Entnazifizierungsverfahren von der Militärregierung als „Entlasteter, nicht schuldig“ eingestuft. 16 Im Sommer 1939 wurde der Bereich der Lehrerausbildung an der Hochschule in Lauenburg geschlossen, und obwohl die Hochschule formal bis Kriegsende Suckers Anstellungsträger war, hatte Sucker seit diesem Zeitpunkt keine Wirkungsstätte mehr. Inzwischen war er Vater von vier Kindern: 1934 wurde, noch in Gießen, die Tochter Elisabeth geboren, 1935, schon in Lauenburg, die Tochter Gertrud, auf die 1936 und 1939 die Söhne Gottfried und Reinhard folgten. Die Versorgung der Familie war durch den Wegfall der Lauenburger Dozentenstelle prekär geworden. Zunächst eröffnete sich mit der Avisierung der Nachfolge von Leopold Cordier an der Gießener Theologischen Fakultät eine für Sucker sehr erfreuliche Aussicht, die aber durch das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung torpediert wurde, indem man das Berufungsverfahren im Sande verlaufen ließ. Bis zum Frühjahr 1940 arbeitete Sucker in Berlin als Mitarbeiter beim Evangelischen Presseverband für Deutschland, u. a. zusammen mit Kurt Ihlenfeld und Jochen Klepper, sowie als Dozent am Domkandidatenstift, wobei der Oberkirchenrat die dauerhafte Übernahme von Sucker in den kirchlichen Dienst der APU betrieb. Aber die beruflichen Hoffnungen wurden durch die Einberufung Suckers zunichte gemacht. Bis Februar 1941 war er, zuletzt als Gefreiter, bei der 3. Kompanie des in Berlin stationierten Landesschützenbataillons 311, dann knapp zwei Jahre im Kriegsgefangenen-Mannschaft Stammlager III D ebenfalls in Berlin. Im Frühjahr 1943 erfolgte der Einsatz an der Ostfront: Sucker, inzwischen Unteroffizier, gehörte zur 3. Kompanie des Wach-Bataillons 591, das im März 1943 in der so genannten dritten Schlacht bei Charkow eingesetzt wurde, 17 dem letzten deutschen Sieg an der Ostfront. Sucker erlebte dann 1944 den Rückzug der Wehrmacht aus der Ukraine über Bessarabien, Rumänien, Ungarn und die Slowakei. Am 11. Mai 1945 kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er einen Monat später entlassen wurde. Suckers Frau Anna und die fünf Kinder - im November 1944 war die jüngste Tochter Christiane geboren worden - blieben bis 1945 in Lauenburg. Anfang März 1945 flohen sie auf einem der letzten Evakuierungsschiffe über die Ostsee nach Dänemark. Dort starb Ende März 1945 die kleine Christiane an den Strapazen der Reise. Wolfgang Sucker lernte seine jüngste Tochter nie kennen. 15 Ebd., 5. 16 Diverse Schreiben in der Personalakte Wolfgang Sucker; Zentralarchiv der EKHN, Best. 120A, Nr. 1055. 17 Vgl. Bogs / Jordan, Treue, 34 f. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 135 Er selbst wandte sich innerhalb der alliierten Besatzungszone, auf deren Gebiet er sich befand und dessen Grenze er zunächst nicht überschreiten durfte, an die Kirchenleitung der hessischen Kirche in Darmstadt. Seine Frau stammte aus Darmstadt und seine Schwiegereltern lebten nach wie vor hier. Schon im Juni 1945 wurde der „Ostpfarrer“ mit der Vertretung der Pfarrstelle in Weiterstadt bei Darmstadt betraut, während sich der dortige Pfarrer Gustav Heinrich in französischer Kriegsgefangenschaft befand. 18 Anna Sucker und die Kinder lebten bis März 1947 in verschiedenen Flüchtlingslagern, u. a. in Dronninglund-Slot in Nord-Jütland. Erst dann wurde ihnen, nach einem langen Kampf, den Sucker von Hessen aus führte und der sich zu einer Grundsatzentscheidung zwischen Kirchenleitungs- und Militärregierungsbürokratie ausweitete, 19 die Übersiedlung nach Hessen gestattet. Der gesamte Besitz der Familie war in Lauenburg verloren gegangen. Dazu gehörte auch Suckers Bibliothek und die wissenschaftlichen Vorarbeiten für eine historische Dissertation über die burschenschaftliche Bewegung und ihr Verhältnis zu religiösen Fragen sowie eine Arbeit über Bismarck. In beiden Studien kam, ebenso wie in einigen kleineren historiographischen Untersuchungen Ende der 1930er Jahre, sein Interesse an der Verknüpfung von historischer Biographie oder Bewegung mit Frömmigkeits- oder Theologiegeschichte zum Ausdruck. 1946 erhielt Sucker den Ruf auf eine Dozentur für Religionspädagogik und Religionsphilosophie an die neu etablierte Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Mainz, den er ablehnte. Er engagierte sich intensiv in der Jugendarbeit und der Einrichtung der Katechetischen Ämter als Vorläufer der Religionspädagogischen Ämter in der hessischen Kirche. Im Januar 1947 wurde er offiziell in den Dienst der Landeskirche Hessen-Darmstadt übernommen, die am 1. Oktober 1947 Teil der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau wurde, und zugleich als Leiter des Katechetischen Amtes für Starkenburg mit Sitz in Bensheim berufen. Die Arbeit im Katechetischen Amt stellte in vielerlei Hinsicht eine Fortführung seiner Lauenburger Tätigkeit dar, nun ohne die Zwänge der nationalsozialistischen Diktatur. Sucker bedachte, installierte und 18 Für diesen und weitere Hinweise danke ich herzlich Frau Elisabeth Spalt, der ältesten Tochter Anna und Wolfgang Suckers. 19 Vgl. dazu u.a.: Brief des Regierungspräsidenten Darmstadt, Regierungskommissar für das Flüchtlingswesen, Schreiben Nr. VI/ 10028/ 46-Fl./ E./ R., Betr.: Zuzugsgenehmigung für die Familie des Pfarrers Sucker, an die Evangelische Landeskirche in Hessen, Landeskirchenamt, Darmstadt, vom 6.9.1946. Maschinenschriftl., 1 Bl.; Brief der Ev. Landeskirche in Hessen, Landeskirchenamt, betr.: Zuzugsgenehmigung für die Familie des Pfarrers Wolfgang Sucker, Weiterstadt, an das Großhessische Staatsministerium, Herrn Minister für Kultus und Unterricht, vom 10.10.1946. Maschinenschriftl., V + R; Zentralarchiv der EKHN, Best. 120A, Nr. 1055. 136 Gisa Bauer strukturierte hier die landeskirchliche pädagogische Arbeit und setzte so sein Ideal von Bildung praktisch um. Wolfgang Sucker wohnte auf dem Neuhof, einem Gutshof am Rande von Allmendfeld bei Gernsheim am Rhein, der Georg und Anna Kümmerle, einer Cousine seiner Frau, gehörte. Im März 1947 trafen dort Anna Sucker und die Kinder aus Dänemark ein. Im November bezog die Familie in Bensheim, im ersten Stock in der Ernst-Ludwig-Str. 7, ihr neues Zuhause. Unter dieser Adresse firmierte seit November desselben Jahres auch das von Wolfgang Sucker und dem Heidelberger Kirchenhistoriker Heinrich Bornkamm gegründete Konfessionskundliche Institut, das wissenschaftliche Arbeitswerk des Evangelischen Bundes. Durch Bornkamm, Präsident des Evangelischen Bundes von 1935 bis 1963, war Sucker für den Bund gewonnen worden, dessen Zentralvorstand er seit 1936 angehörte. Seit 1947 hatte er den Vorsitz des hessen-nassauischen Landesverbandes inne. Der 1886 gegründete Evangelische Bund beschäftigte sich, v. a. in der Auseinandersetzung mit dem römischen Katholizismus, mit den christlichen Konfessionen und setzte bis in die 1920er Jahre den Kulturkampf fort, um schließlich zu einer gemäßigteren Haltung gegenüber dem Katholizismus überzugehen. Das Konfessionskundliche Institut stellte die Beschäftigung mit dem Katholizismus und mit der konfessionellen Lage in Deutschland auf wissenschaftliche und theologisch fundierte Grundlage. Sucker wurde Leiter des Instituts, dessen Arbeit sich in seinem eigenen Haus abspielte, und ab Oktober 1949 sogar von seiner Tätigkeit als Leiter der Katechetischen Ämter für die Arbeit im Evangelischen Bund beurlaubt. Mit viel Leidenschaft baute Sucker das Institut auf, richtete in den Anfangsjahren eine Dokumentationsstelle und Bibliothek ein, initiierte die Zeitschrift des Instituts, den „Materialdienst“, und kümmerte sich um praktische Aufgaben im Zusammenhang mit der konfessionellen Problematik, wie die Betreuung konfessionell gemischter Ehen - 1959 gab er zusammen mit Joachim Lell und Kurt Nitzschke ein Handbuch zur „Mischehe“ heraus - oder die Integration von Flüchtlingen mit von der Mehrheit abweichender konfessioneller Ausrichtung. Im Fokus seiner konfessionskundlichen Arbeit stand die „möglichst genaue Kenntnisnahme dessen, was im Katholizismus heute geschieht“ 20 . Durch seine Arbeit als Leiter der Katechetischen Ämter, speziell durch den Aufbau des Katechetischen Amtes für Starkenburg in Bensheim, und durch die Gründung des Konfessionskundlichen Instituts und dessen Aufbau wurde Wolfgang Sucker auf dem Gebiet der EKHN „sehr bekannt“ 21 . Das führte u. a. dazu, 20 Zitiert nach Fleischmann-Bisten, Walter / Grote, Heiner: Protestanten auf dem Wege. Geschichte des Evangelischen Bundes. Göttingen 1986, 208. 21 Bogs / Jordan, Treue, 42. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 137 dass Sucker 1950 von der hessen-nassauischen Synode in die Kirchenleitung gewählt wurde. Dem folgte 1955 die Wahl in die Synode der 1948 gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland. Im selben Jahr erhielt Sucker die Ehrendoktorwürde der Universität Marburg auf Grund seiner „Bemühungen um eine sachliche Berichterstattung über das innerliche Leben der römischen Kirche und die gewissenhafte Klärung der interkonfessionellen Probleme“ 22 . Nach und nach, scheinbar mehr nolens denn volens, betrat der pädagogisch und konfessionskundlich engagierte Sucker die kirchenpolitische Arena seiner Landeskirche, die durch das Wirken ihres ersten Kirchenpräsidenten Martin Niemöller geprägt war. Die EKHN befand sich durch die Auseinandersetzungen Niemöllers mit der zeitgenössischen Politik unmittelbar am politischen Puls der Zeit. Im März 1957 stand Wolfgang Sucker zusammen mit Karl Herbert zur Wahl zum Stellvertretenden Kirchenpräsidenten der EKHN. Karl Herbert, seit 1950 Propst für Nordnassau, galt als Repräsentant der Bekennenden Kirche - er war Mitglied des Landesbruderrates gewesen - und ganz auf der Linie Niemöllers stehend, während Sucker das Lager derer vertrat, die eher theologisch und interkonfessionell und damit weniger öffentlich streitbar waren. Der Wahl ging eine intensive Personaldiskussion voraus, die eine Polarisierung in der Synode deutlich werden ließ: „hier die ‚Fortschrittlichen‘ aus dem Lager der BK und dort die ‚konservative Opposition‘ aus dem Lager des Evangelischen Bundes“ 23 . Letztere konnte ihren Kandidaten durchsetzen: Sucker wurde mit 100 von 180 Stimmen zum Stellvertretenden Kirchenpräsidenten gewählt. Dass er sich gegen den „Niemöller-Kandidaten“ Herbert durchsetzen konnte zeigt u. a., welch starke Figur Sucker als Antipode inzwischen geworden war: nicht auf der Ebene der Politik und Kirchenpolitik, sondern auf der Ebene der Einflussnahme der Kirche auf die Gesellschaft im kulturellen Bereich und der Verkündigung, der konfessionellen Selbstbehauptung und nicht zuletzt des diplomatischen Umgangs. Trotz der Gegensätzlichkeit von Niemöller und Sucker arbeiteten beide sehr gut zusammen. Sucker war Niemöller verständnisvoll zugetan und unterstützte ihn loyal. Niemöller schätzte seinen Stellvertreter und sah schon nach relativ kurzer Zeit in ihm seinen Nachfolger. Während der Kirchenpräsident oft im Ausland unterwegs war, u. a. als einer der sechs Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen, „hielt Sucker ‚die Stellung‘ in Darmstadt und verhinderte die Entstehung eines Vakuums, das durch die vielen Abwesenheiten Niemöllers 22 Zitiert nach ebd., 43. 23 Ebd., 44. 138 Gisa Bauer drohte“. 24 Aber im Zuge der Tätigkeit als Stellvertretender Kirchenpräsident war Sucker nicht nur Stellvertreter Niemöllers, sondern auch theologischer Leiter der Kirchenverwaltung und mit zahlreichen Aufgaben der Kirchenleitung betraut. Auch theologisch-publizistisch betätigte sich Sucker in den folgenden Jahren intensiv: Allein für die dritte Auflage des „Handwörterbuches für Theologie und Religionswissenschaft“ „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG) schrieb Sucker zwischen 1957 und 1965 31 Beiträge. 25 Ein weiteres Aufgabenfeld ergab sich mit seiner Ernennung als Honorarprofessor für Konfessions- und Kirchenkunde an der Mainzer Universität. Den Ruf der Universität Marburg auf eine ordentliche Professur für Praktische Theologie 1963 lehnte Sucker dagegen Anfang 1964 ab, in erster Linie wohl auf Grund der Bitte der Synode, 26 die Sucker nicht verlieren wollte. Noch im März 1957 hatte Sucker bei Niemöller insistiert, die Anstrengungen der evangelischen konfessionskundlichen Arbeit müssten verstärkt werden angesichts der seitens der römisch-katholischen Kirche im Januar erfolgten Gründung des Paderborner Johann Adam Möhler-Instituts (für Konfessions- und Diasporakunde), mit ähnlichen konfessionskundlichen Zielen wie das Konfessionskundliche Institut, nur eben unter katholischer Perspektive. 27 Niemöller hatte dafür wenig Verständnis und teilte seinem Stellvertreter in spe im April mit, Sucker werde jetzt nicht mehr „sehr viel Zeit für andere Arbeit“ haben und könne nun kaum noch Leiter des Konfessionskundlichen Instituts sein. 28 Am 16. Mai 1957 trat Sucker seinen Dienst als Stellvertretender Kirchenpräsident an. Die Familie zog von Bensheim nach Darmstadt. Seit diesem Zeitpunkt war Sucker nur noch nebenamtlich als Leiter des Konfessionskundlichen Insti- 24 Ebd., 45. 25 Art.: Sucker, Wolfgang, in: RGG 3 Registerband (1965), 240 f. Eine Bibliografie der Publikationen Suckers bietet Christian Weise im Artikel „Sucker“ im BBLK: Weise, Christian: Sucker, Wolfgang Friedrich Heinrich, in: BBLK XXI/ Ergänzungen XVI (2008), 1411-1416, hier 1414 f. 26 Vgl. Fleischmann-Bisten, Walter: „Eine neue Gemeinschaft evangelischer und katholischer Christen ist im Wachsen.“ Wolfgang Suckers ökumenische Impulse, in: MD 4/ 2005, 74-77, hier 77, Fußnote 14. 27 Brief an den Kirchenpräsidenten D. Martin Niemöller, gez. S[ucker], vom 23.3.1957. Durchschlag, maschinenschriftl., 2 S., hier 1; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 52. 28 Brief der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der Kirchenpräsident, an Herrn Oberkirchenrat D. Wolfgang Sucker, Konfessionskundliches Institut Bensheim, gez. Niemöller, vom 9.4.1957. Maschinenschriftl., 1 S.; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 52. Hier wiederholte sich eine Situation, die sich schon 1949 ergeben hatte, als Niemöller nur auf Intervention von Heinrich Bornkamm hin Sucker zeitweise für die Arbeit am Konfessionskundlichen Institut von seiner Arbeit beim Katechetischen Amt freistellte, vgl. Scherf, Ulrike: Wolfgang Sucker und die Gründung des Konfessionskundlichen Instituts, in: MD 3/ 2015: Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Fleischmann-Bisten, 50-52, hier 51. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 139 tuts tätig. Als Bundesdirektor des Evangelischen Bundes wurde er von Joachim Lell abgelöst, der ab 1963 auch hauptamtlich Leiter des Instituts wurde. Sucker blieb der Arbeit des Instituts aber auch weiterhin aufs engste verbunden: 1957 wurde er zum Vizepräsidenten und 1963 zum Präsidenten des Evangelischen Bundes gewählt. Sucker engagierte sich bereits als Stellvertretender Kirchenpräsident intensiv auf EKD-Ebene. 1961 wurde er in den Finanzausschuss der EKD-Synode, 1962 in den Catholica-Ausschuss und 1965, nun schon Kirchenpräsident, in die Ehekommission der EKD gewählt. Außerdem kümmerte er sich intensiv um die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit sowohl in seiner Landeskirche als auch als Kuratoriumsmitglied des Evangelischen Pressedienstes. Im Juni 1964 erklärte Martin Niemöller, für viele in der EKHN relativ überraschend, er wolle nicht bis zum Ende seiner regulären Amtszeit 1966 als Kirchenpräsident tätig sein, sondern bereits am 1. Januar 1965 in Ruhestand gehen. Daraufhin übernahmen der Kirchensynodalvorstand der EKHN sowie ein Benennungsausschuss die Aufgabe, für das Amt des Kirchenpräsidenten in Frage kommende Kandidaten zu benennen und der Synode Wahlvorschläge zu unterbreiten. Das geschah in den folgenden Monaten, wobei die avisierten Kandidaten auch direkt gefragt wurden, ob sie überhaupt gewillt seien, das Amt anzutreten. Insgesamt wurden drei Kandidaten in Aussicht genommen: Wolfgang Sucker sowie der Professor für Systematische und Praktische Theologie in Bonn und ehemaliger Direktor des Predigerseminars in Herborn Walter Kreck und wiederum Propst Karl Herbert. Allerdings sagten Kreck und Herbert schon im Vorfeld ab, so dass der Synode am 3. November 1964 lediglich ein Kandidat, nämlich Sucker, zur Wahl präsentiert wurde. Das stieß bei den Synodalen auf Widerspruch und evozierte eine lange Diskussion, die deutlich machte, wie unvorbereitet die Situation einer offenen Kirchenpräsidentschaftswahl zu diesem Zeitpunkt die EKHN traf. 29 Zwar gab es Regularien, die auch erfüllt wurden - die nachträgliche Beschwerde eines Synodalen und Klage auf Annullierung der Wahl wurde vom Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgericht abgewiesen und die Wahl anerkannt - 30 , aber das Bewusstsein für demokratische Abläufe war seitens der Kirchenleitung offenbar relativ gering ausgeprägt, so dass es 29 Zweiter Sitzungstag [der Hessen-Nassauischen Kirchensynode] Frankfurt am Main, 3. November 1964, Vormittagssitzung. Durchschlag, maschinenschriftl., 166 S., besonders 1-52; Zentralarchiv der EKHN, Best. 359, Nr. 9. 30 Abschrift des Urteils der 1. Kammer des Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in der Beschwerdesache des Pfarrers A…K - Beschwerdeführer - gegen die Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau - Beschwerdegegnerin -, vom 31.3.1965. Maschinenschriftl., 10 S.; Zentralarchiv der EKHN, Best. 359, Nr. 9. 140 Gisa Bauer bei den Synodalen auf teilweise massive Kritik stieß. Die Situation erweckt im Rückblick den Eindruck, dass zumindest die Kirchenbehörde, die starke Hand Niemöllers gewohnt, ohne ihn kopflos war und nicht imstande, ohne größere Probleme eine Wahl zu seinem Nachfolger zu organisieren. Am 3. November 1964 wurde schließlich trotz erheblichen Widerstandes seitens einiger Synodaler die Wahl durchgeführt, die mit dem Ergebnis endete, dass von insgesamt 193 gültigen abgegebenen Stimmen sich 14 der Wahl enthielten und 134 auf Sucker, 21 auf Herbert und 20 auf Kreck sowie vier auf diverse andere Synodale fielen. Ungeachtet des bizarren Umstandes, dass Personen, die die Annahme des Amtes abgelehnt hatten, für das Amt des Kirchenpräsidenten gewählt wurden, erhielt Sucker die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit und nahm die Wahl an. 31 Stellvertreter Suckers wurde Karl Herbert, was das Kräftegleichgewicht zwischen den von beiden vertretenen Positionen herstellte. Auch Herbert und Sucker sollten in der Folgezeit gut zusammenarbeiten. Herbert schätzte an seinem Kirchenpräsidenten dessen weiten Horizont, seine Belesenheit und seine Kenntnis der Literatur und des Geisteslebens. Sucker habe, so Herbert, seine Zuhörer stets „teilnehmen lassen an dem Gespräch zwischen christlicher Botschaft und moderner Kultur und Geisteswelt, einem Gespräch, an dem er selbst intensiv beteiligt war“, und so für sie „die Fenster aufgestoßen“ 32 . Am 21. Dezember 1964 erfolgte in der Darmstädter Otto Berndt-Halle die Verabschiedung Martin Niemöllers und die Amtseinführung Wolfgang Suckers unter Anwesenheit der kirchlichen und lokalen Prominenz: An der Veranstaltung nahmen u. a. der Ratsvorsitzende der EKD Präses Kurt Scharf teil, Ministerpräsidenten und Kultusminister, Ludwig Prinz zu Hessen und bei Rhein und der Bischof von Mainz und spätere Kardinal Hermann Volk. 33 Am 1. Januar 1965 begann Wolfgang Suckers Amtszeit als Kirchenpräsident. Sie sollte lediglich vier Jahre währen. Im Vergleich dazu war Martin Niemöller vor ihm 17 Jahre lang Kirchenpräsident der EKHN, nach Sucker Helmut Hild 16 Jahre lang. In den vier Jahren, die ihm blieben, profilierte sich Wolfgang Sucker weiter in der von ihm eingeschlagenen Richtung. Den Dialog mit der römisch-katholischen Kirche setzte er fort, nun unter den Eindrücken des Zweiten Vatikanischen Konzils, dem gegenüber er ein „evangelisches Konzil“ zur Bündelung der Kräfte und zur Fokussierung der konfessionellen Arbeit in 31 Zweiter Sitzungstag [der Hessen-Nassauischen Kirchensynode] Frankfurt am Main, 3. November 1964, 52. 32 Herbert, Karl: Zum Gedenken an Kirchenpräsident Sucker [Das nachstehende Gedenkwort des Stellvertreters des Kirchenpräsidenten wurde am Neujahrstage über den Hessischen Rundfunk gesendet]. Durchschlag, maschinenschriftl., 4 S., hier 3; Zentralarchiv der EKHN, Best. 120A, Nr. 1056. 33 Vgl. diverse Schreiben und Unterlagen in Zentralarchiv der EKHN, Best. 359, Nr. 8. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 141 Auseinandersetzung mit der Moderne forderte. Auf einer seiner letzten Auslandsreisen, 1968 nach Großbritannien, sprach er auf der General Assembly der Reformierten Kirche in Schottland ein Grußwort, in dem er unterstrich, dass es eine unauflösliche Einheit der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen gebe und diese Kirchen „die Wahrheit ihres Glaubens gegenüber der römisch-katholischen Kirche neu formulieren“ 34 müssten. 1966 wurde Sucker durch Bundespräsident Heinrich Lübke in die „Bildungskommission“ des „Deutschen Bildungsrates“ berufen, deren Unterausschuss „Allgemeine Erwachsenenbildung und berufliche Weiterbildung“ er leitete. Das Thema Bildung floss ebenfalls in seine Arbeit in den EKD-Gremien ein: 1968 wurde er Vorsitzender der Kammer der EKD für „Kulturpolitik und Bildungsfragen“. Der Studentenbewegung und der 1968er Revolte stand Sucker gleichermaßen konservativ „irritiert“ als auch zugewandt gegenüber. Von der Art und Weise des öffentlichen Auftretens der Studenten fühlte er sich „überfordert“, 35 er warnte davor, „sich ‚von emotionalen Bewegungen fortreißen zu lassen’“ und hielt die ganze Bewegung für „nicht hinreichend immunisiert gegen den Totalitarismus“ 36 . Parallel dazu strich er aber immer wieder heraus, dass Revolution, wenn man darunter das Bemühen verstehe, „unerträglich gewordene Zustände zu wandeln“, eine „ständige Aufgabe der Gesellschaft“ bliebe. 37 In seiner oftmals kritischen Abrechnung mit dem zeitgenössischen Protestantismus ging Sucker soweit zu konstatieren, nachdem die Kirche aus Angst vor der Welt so lange „Weltverzicht“ geübt habe, sei sie nun von „Wirklichkeitshunger“ erfasst - 38 ein Gedanke, der den Aufbruch der 1968er Jahre durchaus aufnahm. Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Uppsala im Juli 1968 erlebte Wolfgang Sucker „tief bewegt“. 39 Die Themen der Vorträge, die Sucker in den Jahren 1967 und 1968 hielt, geben noch beredter als seine Aktivitäten Aufschluss über die Problemfelder, die er als wichtig erachtete: „Reformation“ - 1967 fand das 450. Reformationsjubiläum statt, anlässlich dessen Sucker u. a. fragte, ob Reformationsjubiläen überhaupt noch zeitgemäß seien -, „Religions- 34 Zitiert nach Bogs / Jordan, Treue, 48. 35 Ebd., 48. 36 Bogs, Sucker, 162. 37 Heinrich Stubbe in „Christ und Welt“, zitiert nach: In Memoriam Wolfgang Sucker, in: Der Evangelische Bund 1969, 1/ 2, 2-5, hier 3 f.; Zentralarchiv der EKHN, Best.120A, Nr. 1056. 38 Wolfgang Sucker in „Die alte und die neue Reformation“, zitiert nach Barth, Hans-Martin: Erst das Evangelium, dann die Ökumene! Zur Erinnerung an die ökumenische Bedeutung Wolfgang Suckers aus Anlass seines 100. Geburtstags, in: Bogs / Fleischmann-Bisten, Erziehung, 50-64, hier 58. 39 Bogs / Jordan, Treue, 48. 142 Gisa Bauer unterricht“, „evangelisch-katholisches Verhältnis“ und „Ökumene“ waren Elemente, zu denen er sich wiederholt äußerte. 40 Am 30. Dezember 1968 erlitt Wolfgang Sucker einen Herzinfarkt, an dem er 63jährig verstarb. Sein plötzlicher Tod löste tiefe Erschütterung in der EKHN aus. Die Trauerfeier am 5. Januar 1969 hielt sein Amtsvorgänger Martin Niemöller. 41 Am 23. März 1969 wurde Helmut Hild als Nachfolger Suckers zum Kirchenpräsidenten gewählt. 3. „Evangelische Selbstbesinnung“ oder: die Wirkungsbereiche Wolfgang Suckers 3.1. Protestantismus und Kirche in der gegenwärtigen Zeit Zu Recht konstatieren Holger Bogs und Alexandra Jordan in ihrer Biographie Wolfgang Suckers, ihm sei es durch seinen frühen und unerwarteten Tod verwehrt geblieben, „den Schlusspunkt seiner Arbeit selbst zu setzen“ und sein Lebenswerk sei „insofern unvollendet“. 42 Nichtsdestotrotz ist die Grundlinie des Denkens und der Haltung Wolfgang Suckers in der Gesamtheit seines Wirkens deutlich zu erkennen. Kern seiner christlichen Gesinnung war die unbedingte und mitunter radikal anmutende Offenheit zur Welt hin, in die hinein das Evangelium gebracht werden muss und in der das Evangelium seinen Anspruch hat. Die „Christenheit“ war für ihn „nicht eine in sich selbst verschlossene Gesellschaft […], sondern eine Dienerin der Welt.“ Vor diesem Hintergrund war ihm alle „Angst um den Verrat der Bibel an den Zeitgeist durch die Theologie“ nur „vordergründig“. Das Bemühen der Theologie gehe, so Sucker, „wie immer so auch heute, darum […], den Menschen unter dem Gesetz des jeweiligen Zeitgeistes, das zu den unerlässlichen Bedingungen seines Lebens gehört und von dem er sich darum nicht lösen kann, das Evangelium zu verkündigen.“ 43 Die säkulare Gesellschaft bildete immer wieder den Hintergrund für Suckers Überlegungen. So stellte z. B. Karl Herbert in seiner Gedenkrede zu Suckers Tod fest, es sei Sucker notwendig erschienen „gerade auch für den, der mit dem Wort des Evangeliums umgeht, […] sich mit dem Menschen zu beschäftigen, von dem Menschen zu erfahren, dem dieses Evangelium gilt. Denn das Heil, der Friede, die Freiheit - sie sollen ja den Menschen, dem sie zugedacht sind, er- 40 Vgl. diverse Vortragsmanuskripte in Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 245. 41 Vgl. diverse Dokumente und Notizen; Privatarchiv Dr. Walter Fleischmann-Bisten, Bensheim-Auerbach. 42 Bogs / Jordan, Treue, 49. 43 Interview mit Kirchenpräsident Professor D. Wolfgang Sucker - Darmstadt. Maschinenschriftl., 4 S., hier 1; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 245. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 143 reichen und verwandeln.“ 44 Und deshalb, so Sucker vor der Kirchensynode der EKHN im Dezember 1965, gehe es auch bei der Pfarrerfortbildung immer wieder „schlicht um die Erkenntnis der Lebensbedingungen des heutigen Menschen. Es geht hier um die Menschlichkeit seines Lebens, die man ja nicht zureichend beschrieben hat, wenn man die Worte Wohlstand und Wohlfahrt gebraucht. Die Kirche sucht den Menschen am Orte seines letzten Ernstes auf und muss zur Kenntnis nehmen, welche ungeheueren [sic! ] Leistungen der Mensch fertig bringt, sie muss die Sprache des heutigen Menschen kennen und sie sprechen lernen, denn die Inkarnation heute geschieht hinein in die Sprache des gegenwärtigen Menschen.“ 45 Gerade die Beschäftigung mit dem Menschen, dem das Evangelium gilt, führte Sucker zu mitunter harscher Kritik an der Kirche. In seinem letzten Aufsatz für den Evangelischen Bund, der 1969 gedruckt wurde, beschrieb er die Kirche „als eine die allgemeine Weltentwicklung verzögernde Macht noch fast bis heute im Gehäuse des Alten und längst Vergangenen beheimatet“, die mit der „abwartende(n), auf das erwünschte Ende der Neuzeit gerichtete(n) Haltung“ das „Uralt-Heilige einigermaßen heil über den Winter der Welt“ bringen will. Dieses Christentum aber gleiche dem Knecht, der nicht mit dem anvertrauten Pfund wuchere, sondern es vergrabe. 46 Das „Vergraben des Pfundes“ ging für Sucker einher mit einer zu laschen Verkündigung des Evangeliums. Mission und Evangelisation waren für ihn unmittelbare Aufgabe der Kirche in der Gegenwart. In einem Interview im Hessischen Rundfunk erklärte Sucker 1965: „Zwar ist in unserer Zeit uns […] sehr viel deutlicher geworden, daß wir in der Diaspora-Situation sind, daß wir Wenige sind, daß wir einen Status der Minderheit haben. Aber zugleich haben wir entdeckt, daß die Diaspora uns nicht daran hindern kann, zum Angriff zu kommen. Wir haben einen neuen Verstand vom […] imperialen Charakter des christlichen Glaubens, der Person, die hinter dem christlichen Glauben steht, gewonnen. Und insofern […] befindet sich die Christenheit in Anerkenntnis ihrer Diaspora-Situation, ihrer Situation als Minderheit zugleich in der Aufgabe einer unerhörten Missionierung, einer neuen Missions-Strategie, wie ich das wiederholt so ausgedrückt habe.“ 47 Dabei galt das „Zum-Evangelium-Rufen“ gleichermaßen der ganzen Christenheit - das sei, so Sucker 1953 auf der Generalversammlung des Evangeli- 44 Herbert, Zum Gedenken, 3 f. 45 Zitiert nach: Schäfer, Karl Heinrich: [Geleitwort] Verantwortung für Bildung: Wolfgang Sucker (1905-1968), in: Bogs / Fleischmann-Bisten, Erziehung, 10-13, hier 11. 46 Zitiert nach Barth, Evangelium, 58. 47 Professor Sucker 60 Jahre alt. [Interviewmitschrift, handschriftl. vermerkt: 22.8.1965]. Interviewer: Norbert Kutschki. Kopie, maschinenschriftl., 6 Bl., hier 2; Privatarchiv Dr. Walter Fleischmann-Bisten, Bensheim-Auerbach. 144 Gisa Bauer schen Bundes in Nürnberg, die ökumenische Verantwortung - 48 als auch der ganzen Welt. Letztere sei der Kirche verlustig gegangen, entgegen der allgemeinen Ansicht, Kirchlichkeit, Glauben oder Transzendenz gehe der Welt verloren. Der „Weltverlust“ der Kirche war für Sucker nicht nur ein wesentliches Theologumenon, sondern eine dauerhafte Anfechtung. Im gleichen Interview von 1965 betonte Sucker, die Kirche tue dem Volk einen großen Dienst, wenn sie Probleme in aller Offenheit, mit tiefem Ernst und in totaler Wahrheitsliebe darstelle. Er prognostizierte eine neue Intensität im Glaubens- und Gemeindeleben: „Wir erleben in unserer Zeit eine neue Einheit von Glauben und Intellektualität. Ich möchte das einmal so sagen: wir sind heute der Meinung, daß das sich nicht im Erbaulichen erschöpft, sich niemals darin erschöpfen darf. Ich habe es neulich einmal auf die Formel gebracht: Es ist uns zweierlei nötig: Beten und kritisches Denken.“ 49 3.2. Bildung und Pädagogik als Aufgabenfeld evangelischer Selbstbesinnung 50 Kritisches Denken ist eng mit Bildung verknüpft. Für Sucker war Bildung das Element, das der Fehlorientierung von Menschen an falschen Heilsversprechen und Totalitarismen am wirkungsvollsten entgegenwirken konnte. 51 1963 schrieb er in dem Aufsatz „Die Christenheit und Europa“, er erhoffe sich besonders von der Schule „eine Immunisierung des jungen Menschen gegen die sich ständig anbietenden Absolutismen und Totalitarismen. Für das Kommende brauchen wir kritische Menschen - unter dem Gesetz des Gewissens und der Vernunft.“ 52 Als Sucker in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre mit dem Aufbau der Katechetischen Ämter begann, „die den Graben zwischen Pädagogik und Theologie, zwischen Lehrern und Pfarrern überwinden sollten“ 53 , herrschte infolge der Auswirkungen des Nationalsozialismus in der EKHN ein eklatanter Religionslehrermangel. Anfang 1964, knapp ein Jahr bevor Sucker Kirchenpräsident wurde, prägte Georg Picht den Begriff der „Bildungskatastrophe“, der die 48 Vgl. Fleischmann-Bisten, Walter: „Die Aufgabe einer neuen Evangelisierung“. Wolfgang Suckers Beitrag zum missionarischen Erziehungsauftrag der Kirche, in: Bogs / Fleischmann-Bisten, Erziehung, 141-154, hier 147. 49 Professor Sucker 60 Jahre alt, 3. 50 Zu dem Themenbereich Bildung und Pädagogik bei Sucker vgl. den instruktiven Beitrag „Kirche und Schule“ von Karl Dienst in dem von Holger Bogs und Walter Fleischmann-Bisten herausgegebenen Sammelband zum 100. Geburtstag von Wolfgang Sucker, 94-140. 51 Bogs, Sucker, 162. 52 Wolfgang Sucker in „Die Christenheit und Europa“, zitiert nach Bogs, Sucker, 162. 53 Helmut Hild in „Auf dem Fundament des Evangeliums“, zitiert nach Dienst, Kirche, 100. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 145 Bildungskrise der westdeutschen Republik beschrieb. Suckers Beschäftigung mit Bildung und Pädagogik geschah über Jahrzehnte hinweg unter dem Vorzeichen der Krisenhaftigkeit. Der 1966 ins Leben gerufene „Deutsche Bildungsrat“, 54 in den Sucker von Anfang an berufen wurde, wirkte wegweisend für Umstrukturierungen des Bildungswesens im Zuge der zahlreichen Reformen, mit denen man auf die Bildungskrise zu reagieren versuchte. Ausgangspunkt der Überlegungen war nicht ein neues Bildungsideal, sondern die Erkenntnis, dass Bildungseinrichtungen stärker auf die Gegenwart und deren Anforderungen an die Kinder und Jugendlichen ausgerichtet werden müssten. Bildungspolitik entwickelte sich rasch zur Arena auseinandergehender Interessen und verwirrender Glaubenskämpfe um die Wertung von Individuum und Gesellschaft. Sucker war involviert in die zahlreichen Fragen und Verästelungen von Reformanliegen verschiedener Bildungsbereiche. Grundsätzlich war für ihn die Schul- und Bildungsproblematik nicht nur eine Frage der Kultur-, sondern der Sozialpolitik: „Vermittlung von Grundwissen und Grundfertigkeiten, so unter anderem die Fähigkeit zur ständigen Weiterbildung, entscheidet über die soziale Stellung des einzelnen in der Gesellschaft von morgen“ 55 , führte er im Bericht des Kulturpolitischen Ausschusses vor der EKD-Synode im Oktober 1968 aus. In erster Linie aber war für Sucker die Schule der Ort, wo Menschen zur Freiheit erzogen werden und das meinte: ein Ort, an dem Menschen „unverführbar“ werden. Das wiederum, so Sucker, sei ein Dienst an der Demokratie, die erst in Ordnung ist, „wenn ihre Menschen unverführbar sind“ 56 . Seine grundlegenden Ansichten zu Bildung aus christlicher Sicht führte Sucker in einem Vortrag aus, den er 1967 auf der Generalversammlung des Evangelischen Bundes hielt. Anlässlich des Reformationsjubiläums fand diese Generalversammlung in Worms statt, und Sucker umriss unter dem Titel „Ein evangelisches Wort zur Schulfrage“ 57 in einem fulminanten Panorama die Situation der Kirche in der Moderne, in die sich die Bildungsproblematik einbettet. Gleich zu Beginn in medias res führte Sucker aus, Säkularisation auf dem Gebiet der Schule müsse von der evangelischen Christenheit bejaht werden, denn die Schule könne und solle nicht in den Herrschaftsbereich der Kirche zurückkehren - ansonsten werde die evangelische Christenheit „ihrem reformatorischen Prinzip untreu“. 54 Zu der Arbeit des „Deutschen Bildungsrates“ vgl. Dienst, Kirche, 118-120. 55 Sucker, Wolfgang: [Bericht des Kulturpolitischen Ausschusses vor der Synode der EKD, Oktober 1968]. Auszug aus dem Synodenprotokoll, maschinenschriftl., 258-265, hier 258; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 245. 56 Wolfgang Sucker in „Die höhere Schule - heute“, zitiert nach: Dienst, Kirche, 123. 57 Sucker, Wolfgang: Ein evangelisches Wort zur Schulfrage. 1967. Durchschlag, maschinenschriftl., 11 S.; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 245. 146 Gisa Bauer Säkularisation sei in dieser Perspektive „Befreiung“. 58 In der an den Vortrag anschließenden Diskussionsrunde führte Sucker diesen Gedanken noch einmal detaillierter aus: „Die Kirche bejaht die Säkularisierung, d. h. sie bejaht die Freisetzung der verschiedenen Gestaltungs- und Wirkgebiete des Menschen. Sie setzt diese Gebiete frei und überlässt sie der menschlichen Vernunft.“ 59 Im Vortrag ging Sucker im Folgenden auf den gesamten gegenwärtigen Umbruch im gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich ein, der gekennzeichnet sei von zwei großen, insbesondere geographischen Auseinandersetzungen: der Ost-West-Auseinandersetzung und dem Nord-Süd-Konflikt. 60 Vor diesem Hintergrund unterstrich Sucker die Globalität der Welt und betonte, man könne Revolutionen nicht regional beschränken: „Glauben wir wirklich, daß das, was im Osten sich ergeben hat, ohne Einfluß auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Westens bleiben wird? “ 61 Der Nord-Süd-Gegensatz wiederum sei „der Gegensatz der Satten und der Hungrigen“. Angesichts dieser Lage könne es der evangelischen Bildungsarbeit nicht darum gehen, etwas für sich zu gewinnen, sondern nur darum, zu helfen. Damit kam Sucker zum Kern seiner Ausführungen: „Ja, wozu eigentlich helfen? Wenn man das auf eine letzte Formel bringen wollte, dann könnte man sagen, der evangelischen Christenheit geht es, ich wähle eine bezweifelbare und anspruchsvolle Formulierung, geht es in ihrem selbstlosen Dienst um die Menschlichkeit des menschlichen Lebens. Sie möchte dazu helfen, dass überall das menschliche Leben menschlicher werde.“ 62 Hier klingt der hohe ethisch-politische Anspruch, den die EKHN in der Selbstwahrnehmung und durch das Wirken ihrer Kirchenpräsidenten auszeichnet, nicht nur an, sondern er bildet den Fluchtpunkt der Überlegungen. Sucker fuhr fort: „Die Kirche ist interessiert daran, dass die Vernunft gebraucht wird, und sie ist keine Feindin des Denkens, sondern im Gegenteil, sie möchte das Denken forcieren.“ 63 Aber zu einseitig positiv will Sucker die menschliche Vernunft wiederum auch nicht sehen: „Wir haben ja einen solchen vernichtenden Erfolg ausgeuferten Vernunftgebrauchs unter uns. Das ist die Atombombe. Wir brauchen den Gebrauch der Vernunft und müssen uns hüten vor seiner Ausuferung, die in der Bildung auch von Spekulationen und Theorien geschieht.“ 64 Zurück zum Bildungswesen im engeren Sinne konstatierte Sucker, in der Demokratie 58 Sucker, Wort, 2. 59 Sucker, Wolfgang: [Antworten auf Fragen im Anschluss an den Vortrag „Ein evangelisches Wort zur Schulfrage“]. Durchschlag, maschinenschriftl., 3 S., hier 3; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 245. 60 Sucker, Wort, 4 f. 61 Ebd., 5. 62 Ebd., 6 f. 63 Ebd., 7. 64 Ebd., 8. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 147 habe das Schulwesen insofern eine immense Bedeutung, als dass der Staat „hier etwas betreibt, wodurch die Menschen ihm gegenüber kritisch werden. Es ist sehr wichtig, sich das deutlich zu machen, dass der Staat, wenn er eine Schule aufbaut und hält, damit es [sic! ] seinen eigenen Bürgern ermöglicht, gegen ihn kritisch zu werden.“ 65 Eben das gestattete Sucker auch der evangelischen Bildung und dem Religionsunterricht gegenüber der evangelischen Kirche: Menschen zu erziehen, die kritisch der Kirche gegenüber sind. Das bedeutete für ihn aus der Reformation erwachsene Freiheit. 3.3. Konfessionelle Selbstbesinnung 3.3.1. Kirche und Reformation Die Reformation war für Sucker in erster Linie eine gegenwärtige Selbstbestimmung des Protestantismus bzw. ein fortlaufender Prozess der sich reformierenden Kirche, weniger ein historisches Phänomen. Ausgangspunkt war für den historisch bewanderten Sucker zwar in der Tat die Epoche der Reformation, aber ausschlaggebend war für ihn der Zusammenhang zwischen dem Wirken Martin Luthers und der Reformatoren und der Situation der Kirche in der Gegenwart: „Die Reformation ist keine reine Historie […] sie ist eine Gegenwartsfrage.“ 66 Sucker sah in Luther den „schärfste[n] Kritiker der Religion der Kirche“ und deshalb ziele die „zweite Reformation, wenn wir nun einmal das Geschehen dieser Zeit im Bereich der Kirche, das nach ihrer Verwandlung trachtet, so nennen wollen“ ebenfalls auf „radikale Kritik des Christentums in unserer Zeit“ 67 . Die Kirche verfehle ihre Aufgabe, „wenn sie sich als religiöser Verein, als Kultverein, oder als Verein zur Verbreitung religiöser Weltanschauung versteht und etabliert.“ Im Gegenteil: Suckers Vorstellung einer echten Kirche der Reformation ging dahin, dass sich „die radikale Kritik an der Religion der Kirche“ werde „erweitern müssen zur Kritik an jedem zur Quasi-Religion werdenden Absolutismus und Utopismus in der Welt von heute“. Insgesamt hänge in der heutigen Kirche alles daran, „daß die Leute der ersten Reformation und die der zweiten Reformation sich finden und vereinigen “ 68 . Für diese Vereinigung fand Sucker immer wieder erfreuliche Indizien. So schrieb er z. B. im Sommer 1967 an einen 65 Ebd., 9. 66 Wolfgang Sucker auf der Generalversammlung des Evangelischen Bundes 1955, zitiert nach Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 77, Fußnote 20. 67 Zitiert nach Dienst, Kirche, 133. Wie Hans-Martin Barth zutreffend feststellt, ist Suckers Verwendung von „Religion“ als Antagonistin von „Evangelium“ oder „Kirche“ usw. eine Entlehnung von Karl Barth, „mit dem ihn ja sonst nicht so sehr viel verband - ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger im Amt des Kirchenpräsidenten, Martin Niemöller“ (Barth, Evangelium, 59). 68 Zitiert nach Dienst, Kirche, 133. 148 Gisa Bauer in Brasilien wirkenden Auslandspfarrer über die Arbeitsgemeinschaft „Bibel und Gemeinde“ auf dem Kirchentag in Hannover, es sei deutlich geworden, „dass ein so ernster und tiefgründiger Theologe wie Käsemann auf eine Bejahung stiess, die für den Fortgang der Reformation im Protestantismus Gutes erhoffen lässt“. 69 Auch über die Arbeitsgemeinschaft „Politik“ könne er ähnliches sagen. Nun gelte es, die Dynamik beider Arbeitsgemeinschaften „in das Leben unserer Gemeinden zu holen […]. Das ist nicht ganz leicht, weil unsere Gemeinden in ihrem soziologischen, intellektuellen Zustand oft gar nicht in der Lage sind, zu einem Boden zu werden, auf dem miteinander gesprochen und beieinander zu Aktionen aufgebrochen wird. Der sicher nicht zu verachtende normale Betrieb der Gemeinden ist leider zu oft auf die Bewahrung und Behütung eines unselbständigen Menschentyps aus. Hier werden wir in Zukunft viel zu tun haben.“ 70 Nicht nur in Bezug auf die Gemeinden und die Gemeindeglieder hatte Sucker den Eindruck, dass noch eine Fülle von Arbeit vor ihm oder seiner Landeskirche läge, sondern auch im Hinblick auf die Pfarrer, speziell das „eigentümliche Mißverhältnis zwischen der erforderlichen Beweglichkeit der Pfarrer heute und ihrer u. a. durch unser Pfarrerrecht gegebenen Unbeweglichkeit“ 71 . Eine gewisse Auflösung dieses Widerspruchs erhoffte er sich von der Einrichtung von „Mittelpunktpfarrämtern“, analog zu „Mittelpunktschulen“, „von denen aus immer neue […] volksmissionarische Aktivitäten in die Umgebung ausgehen müssen“. 72 Aber trotz aller Kritik im Detail war Sucker optimistisch, was den Gang des Evangeliums durch die Zeiten und die Kraft der immerwährenden Reformation anbelangte. In einem seiner letzten Aufsätze schrieb er, für die gegenwärtige Zeit sei charakteristisch, dass „durch die Christen die ganze Welt entdecken soll, wem sie gehört“. Das „ewige Evangelium“ sei „am Werke und macht die Geschichte der Christenheit, dieser undankbaren und unfähigen Christenheit, zu einer unablässigen Folge von Reformationen, in denen das Evangelium sich unerschöpflich als Jungbrunnen der Kirche erweist“. 73 69 Brief an Pfarrer Dr. Gerhard Barth, Brasil, gez. S[ucker], vom 18.7.1967. Maschinenschriftl., 2 S., hier 2; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 62. 70 Brief an Pfarrer Dr. Gerhard Barth, Brasil, gez. S[ucker], vom 18.7.1967, 2. 71 Brief an Pfarrer Dr. Gerhard Barth, Brasil, gez. S[ucker], vom 19.12.1966. Maschinenschriftl., 2 S., hier 1; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 62. 72 Ebd. 73 Wolfgang Sucker in „Die Alte und die neue Reformation“, zitiert nach: Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 77. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 149 3.3.2. Katholizismus und Ökumene aus protestantischer Sicht Im Hinblick auf den Dialog der Konfessionen und das ökumenische Miteinander war „Reformation“ für Sucker ein zentrales Moment protestantischer Selbstvergewisserung, gleichermaßen wie ein Phänomen, vor das alle Konfessionen gestellt sind. Die Beschäftigung mit Konfessionskunde charakterisierte er wie folgt: „Die Grundlage der konfessionskundlichen Arbeit, wie sie als Aufgabe aus der Geschichte und Gegenwart dem Evangelischen Bund gestellt ist, ist die Frage nach dem wahren Fundament und Bau der Kirche. Die Arbeit ist eine theologische Aufgabe, mit der die nichts verschonende Frage nach der einen Wahrheit unauflöslich verknüpft ist. Erst von der theologischen Erkenntnis her ergibt sich der rechte Blick, verborgene Wurzeln und offenbare Erscheinungen des heutigen Katholizismus darzustellen.“ 74 Dabei war das Ziel keineswegs, den Katholizismus zu missionieren oder feindliche Fronten aufzurichten - gerade mit der kontroverstheologischen Haltung des 19. Jahrhunderts wollte er brechen. Den evangelisch-katholischen Gegensatz müsse man ernstnehmen, so Sucker, aber der „evangelische Christ wird […] immer wissen, daß es im Ringen mit den katholischen Brüdern nicht um seinen Sieg geht, sondern um den Sieg der Wahrheit Gottes; nicht um den Übertritt der anderen auf unsern Weg - sondern um das Evangelium, das jeden Menschen auf seinem, eben dieses Menschen Wege zu finden weiß.“ 75 An anderer Stelle sprach Sucker davon, die reformatorische Verantwortung bestünde darin, „selbst“ die „Konversion zum Evangelium [zu] vollziehen“ 76 . Von seinen Gesprächspartnern forderte er, „endlich den ökumenischen Charakter der Reformation [zu] begreifen“ 77 , und fragte sich beunruhigt, „woher das eigentümliche Unwirksamsein der von der Reformation herkommenden Theologie in der Welt der Oekumene eigentlich“ komme. 78 Es ging Sucker bei seiner konfessionskundlichen Arbeit um die nicht verzerrte Darstellung des Katholizismus. Das Konfessionskundliche Institut sollte sich „vom evangelischen Standpunkt mit dem Katholizismus positiv auseinandersetzen“ 79 . 74 Wolfgang Sucker in „Der Evangelische Bund“, September 1949, zitiert nach Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 76. 75 Sucker, Wolfgang: Über die Toleranz. Manuskript, maschinenschriftl., 9 S., hier 9; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 143. 76 Zitiert nach Barth, Evangelium, 58 und Fleischmann-Bisten, Aufgabe, 147. 77 Wolfgang Sucker in „Die Zukunft der Kirche - Evangelisch? Katholisch? Ökumenisch? “, zitiert nach Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 76. 78 Brief an Pfarrer Dr. Gerhard Barth, Brasil, gez. S[ucker], vom 3.7.1965. Maschinenschriftl., 1 S.; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 62. 79 Bogs / Jordan, Treue, 40. 150 Gisa Bauer Dabei sprachen im Wesentlichen fünf, historisch bedingte Gründe gegen eine feindselige Attitüde dem römischen Katholizismus gegenüber: Erstens war Sucker als gebürtiger Schlesier mit dem Katholizismus aufgewachsen und mit ihm vertraut. 80 Zweitens bildeten die Erfahrungen von Ökumene im Krieg und nach dem Krieg ein verbindendes Element und einen harmonisierenden Hintergrund der konfessionellen Arbeit. Drittens machte es die konfessionelle Vermischung durch Flüchtlinge und Alliierte in der Nachkriegszeit und auch noch in den 1950er Jahren zwingend nötig, sich mit dem konfessionell Anderen mit Blick auf Integration auseinander zu setzen. Dass das nicht einfach war und dazu manche Gräben überwunden werden mussten, zeigt ein Briefwechsel, den Sucker mit dem damals 33jährigen Pfarrer der Gemeinde Westerburg Helmut Hild führte. 1957 - Sucker war einige Monate zuvor Stellvertretender Kirchenpräsident geworden und weder an seine noch an Hilds spätere Kirchenpräsidentschaft war nur zu denken - trat Hild an Sucker mit der Bitte heran, den Antrag auf finanzielle Bezuschussung des Baus eines Gemeindesaals in Westerburg zu unterstützen. Dieser Bau war vor folgendem Hintergrund in Angriff genommen worden, wie Hild schilderte: Westerburg ist als Kreisstadt nach der Einbeziehung des Oberwesterwaldkreises in das ueberwiegend katholische Rheinland-Pfalz mit der dadurch bedingten Besetzung der Behoerden durch Katholiken, die jetzt einen wesentlichen Teil der geistigen Oberschicht des Ortes ausmachen, zu einem Brennpunkt katholischer Aktion geworden, zumal die hiesige katholische Kirche eine weithin bekannte Marienverehrungsstaette ist. Um einer zunehmenden Katholisierung der ehemals hundertprozentig evangelischen Stadt (1900 etwa 15 Katholiken, heute rund 700! ! ) zu begegnen, ist nicht nur intensive Gemeindearbeit in den Werken und Verbaenden noetig, sondern auch ein aktives Wirken in die Oeffentlichkeit. Dazu aber muessen entsprechende Einrichtungen vorhanden sein. So draengt auch die konfessionelle Situation zur Verwirklichung des Vorhabens […]. 81 Konfessionelle Neuformatierungen wie diese waren in zahlreichen Gebieten Deutschlands nach 1945 an der Tagesordnung und erzwangen bis in die 1960er Jahre die Beschäftigung mit der eigenen und der anderen Konfession. Sucker rannte bei Hild denn auch offene Türen ein, als er für die Arbeit des Evangelischen Bundes warb. Hild schrieb ihm im September 1957: „[G]ern bestaetige ich Ihnen meine Bereitschaft zur Mitarbeit in Schrift und Wort, die einer Leiden- 80 Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 76. 81 Brief an den Direktor des Konfessionskundlichen Instituts, Herrn Pfarrer Wolfgang Sucker, vom Evangelischen Pfarramt Westerburg / Westerwald, gez. Helmut Hild, vom 18.2.1954. Maschinenschriftl., 1 S.; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 46. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 151 schaft fuer die Sache des Evangelischen Bundes und die kontroverstheologischen Probleme entspringt.“ 82 Ein weiterer, vierter Aspekt sprach gegen eine feindselige Haltung Suckers dem römischen Katholizismus gegenüber: Mit der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 wurde deutlich, dass zukünftig der ökumenische Dialog eine Rolle in den Kirchen spielen würde. Kirchenleitungen benötigten Informationen für diesen sich abzeichnenden ökumenischen Dialog. 83 Auch dies bedeutete die Notwendigkeit einer unvoreingenommenen Haltung gegenüber dem römischen Katholizismus, und zwar sowohl in seiner Erforschung als auch bei der damit im Zusammenhang stehenden Selbstverortung des Protestantismus. Darüber hinaus sah Sucker alle Konfessionen in der gleichen Situation der Welt gegenüber - ein Punkt, der als fünfter eine historische Gemengelage widerspiegelte, die ausschlaggebend für seine Haltung dem römischen Katholizismus gegenüber war. Sucker ging davon aus, die Welt, die Öffentlichkeit, die Gesellschaft stelle an die zeitgenössische Christenheit einen ganz neuen Anspruch, vor dem innerkirchliche und interkonfessionelle Verschiedenheiten verblassten. In diese Situation, so Sucker, „sind wir Evangelische und Katholiken hineingestoßen, den Weltverlust wegzubringen, den wir erlitten haben und ein neues Verhältnis zur Welt als des Feldes zu finden, auf dem wir zu arbeiten haben und für das wir verantwortlich gemacht worden sind.“ 84 Im Zuge der „zwingende[n] Notwendigkeit“ einer „neuen Missionierung und Evangelisierung Europas“ warnte Sucker vor der „Bestandssicherung und Machterweiterung von Konfessionen“ und forderte die „gesamtchristliche Strategie in ökumenischer Verbundenheit“. 85 Konkrete Aufgaben in der konfessionskundlichen und ökumenischen Forschung und Arbeit sah Sucker in Weiterführung der Überlegungen des Straßburger Weihbischofs Arthur Elchinger in vierfacher Hinsicht: Elchinger habe „hingewiesen: 1. auf das Problem der Rechtfertigung, das zwischen den Konfessionen verhandelt werden muß. [2.] Auf die Frage des kirchlichen Amtes, des kirchlichen Auftrags und seiner Darstellung heute. Und schließlich 3. hat er hingewiesen auf die Frage nach der Einheit der Kirche und in dieser Frage steckt ja zugleich auch die Frage nach der Kirche selbst und schließlich ergibt sich zwischen den Konfessionen, ich meine, als das wesentliche Problem, ihre rechte Beziehung zur Heiligen Schrift. Diese vier Probleme sind es, die uns in 82 Brief an Oberkirchenrat D. Wolfgang Sucker von Helmut Hild, Pfarrer, vom 2.9.1957. Maschinenschriftl., 2 S., hier 1; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 46. 83 Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 76. 84 Professor Sucker 60 Jahre alt, 5. 85 Wolfgang Sucker in „Die Christenheit und Europa“, zitiert nach: Fleischmann-Bisten, Aufgabe, 151. 152 Gisa Bauer den nächsten Jahren und Jahrzehnten […] zwischen Evangelischen und Katholiken intensiv beschäftigen werden.“ 86 Es sei nun die „Zeit der öffentlichen Zwiesprache“ vorüber - es müsse „eine Zeit der harten Arbeit kommen“ 87 . Allerdings sorgten Suckers wiederkehrende Kritik an römisch-katholischen Verlautbarungen, 88 sowie speziell die Gründung des Konfessionskundlichen Instituts auf Misstrauen gegenüber seinen Absichten. In einem Artikel der „Welt“ konstatierte Werner Stratenschulte im August 1957, auf römisch-katholischer Seite könne man nur schwer daran glauben, dass Sucker keine antikatholischen Wirkungen erzielen wolle. Der Bensheimer „Materialdienst“ sei das Gegengewicht zur katholischen „Herder-Korrespondenz“, die Angriffe auf den römischen Katholizismus durchaus polemisch. 89 Sucker selbst wiederum sah die Gründung des römisch-katholischen Johann Adam Möhler-Instituts - das allerdings seine Entstehung in erster Linie der Existenz des evangelischen Konfessionskundlichen Instituts verdankte - 90 im Januar 1957 nicht unproblematisch. Diese Gründung, so schrieb er an Niemöller, „wird die evangelische Christenheit in Deutschland vor die Frage einer Intensivierung der Arbeit des Bensheimer Instituts stellen“. 91 Auch Suckers Vorschlag der Einberufung eines evangelischen Konzils, geboren aus der intensiven Beschäftigung mit dem II. Vatikanischen Konzil, war zum Teil der Versuch, eine evangelische Sammlung angesichts des homogenen römischen Katholizismus und eine evangelische Standortbestimmung herbeizuführen. 3.3.3. Die Idee eines „evangelischen Konzils“ 92 1966 sprach sich Sucker in mehreren Vorträgen und Rundfunkinterviews, die von der Presse rasch aufgenommen wurden, für die Abhaltung eines „evangelischen Konzils“ in Analogie zum II. Vatikanischen Konzil der römisch-katholischen Kirche aus. Zunächst wurde dieser Gedanke als weltweites Konzil interpretiert, dann konkretisierte ihn Sucker selbst als Konzil für die Evangelische Kirche in Deutschland, unter Einbezug der Freikirchen. Mit dem Konzil wollte Sucker ein wirksames Instrument schaffen gegen die Zersplitterung des deutschen Protestantismus: Die EKD, so Sucker laut einem Bericht der Frankfurter 86 Professor Sucker 60 Jahre alt, 4; vgl. auch Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 76. 87 Professor Sucker 60 Jahre alt, 3. 88 Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 76. 89 Stratenschulte, Werner: Der Nachfolger Niemöllers? Wolfgang Sucker verkörpert evangelisches Selbstbewußtsein, in: Die Welt Nr. 199 vom 28.8.1957, 3. 90 Fleischmann-Bisten / Grote, Protestanten, 210 und 212. 91 Brief an den Kirchenpräsidenten D. Martin Niemöller, gez. S[ucker], vom 23.3.1957, 1. 92 Vgl. dazu Frieling, Reinhard: Brauchen wir ein Evangelisches Konzil? Wolfgang Suckers frühe Impulse für die evangelische Stimme in Europa, in: Bogs / Fleischmann-Bisten, Erziehung, 65-74, hier 70-73. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 153 Rundschau, „zeige einen allzu großen Kräfteverschleiß“, der daran zweifeln lasse, „daß diese Organisation in der Lage sei, eine ,Armee mit imperialen Aufgaben‘ zu werden, was [Sucker] bei der heutigen Situation für notwendig hielte“. Eines der ersten Ziele eines evangelischen Konzils solle eine „landeskirchliche Flurbereinigung“ sein und die „Verwirklichung der Abendmahlsgemeinschaft“. Dass es die noch nicht gibt war laut Sucker die „größte Schande der evangelischen Christenheit in Deutschland“. 93 Auch wenn Suckers Idee auf viel Unverständnis und Irritation bei seinen Zeitgenossen stieß - u. a. äußerte sich Hermann Dietzfelbinger, der Landesbischof der bayerischen Landeskirche und damalige EKD-Ratsvorsitzende, öffentlich kritisch dazu - und sich nicht umsetzen ließ, war seine Überlegung ein „wichtiger Mosaikstein auf dem Weg zur Leuenberger Konkordie von 1973“ 94 . 4. Wolfgang Sucker und die Politik Suckers Vorstellungen einer neuen Reformation der wahren Kirche sowie von Mission und Evangelisation richteten sich, wie bereits dargestellt, zu einem großen Teil darauf, ein Bollwerk gegen totalitäre Ideologien bilden zu können. Hier zeigt sich einmal mehr, wie tief Sucker von den Erlebnissen in der Zeit des Nationalsozialismus geprägt war. Ebenfalls massiv von seinen Erfahrungen im Nationalsozialismus geprägt war sein Verhältnis zur Politik. In einer eidesstattlichen Erklärung, die er um 1945/ 46, möglicherweise als Anhang zu dem obligatorisch auszufüllenden „Fragebogen an alle Geistlichen und Kirchenbeamten“ von 1945, verfasste, stellte Sucker sein Verhältnis zum Nationalsozialismus und damit indirekt und exemplarisch sein Verhältnis zur Politik dar: 1933 konnte man noch hoffen, dass es möglich sein würde, wenigstens gewisse Kreise des Nationalsozialismus vom christlichen Glauben her zu erfassen und damit den deutschen Dingen, deren gefährliche Möglichkeiten mir von vornherein bewusst waren, eine Wendung zu geben, die Deutschland vor dem Absturz bewahren konnte. Ich argumentierte so: Jeder Deutsche, der durch die Botschaft des Evangeliums getroffen an Gott als Vater Jesu Christi glauben lernte, ist durch diesen Glauben immun gegen alle weltanschaulichen Ideologien, die in ihrer Konsequenz zur Entmenschung des Menschen führen und eine Welt ins Chaos stürzen. […] Ich fragte mich, ob es nicht möglich sein könnte, den Nationalsozialismus vor die Gottesfrage zu stellen und ihn so vom wiedergewonnenen Gewissen her zur Selbstbegrenzung zu bringen. Ich sah es als eine Schuld der Kirche an, dass ihre Verkündigung so lahm und kraftlos war und 93 Frankfurter Rundschau vom 28.2.1966, Zeitungsausschnitt, Kopie; Privatarchiv Dr. Walter Fleischmann-Bisten, Bensheim-Auerbach. 94 Fleischmann-Bisten, Gemeinschaft, 76. 154 Gisa Bauer so wenig die Geister der Tiefe bannende Macht besass. Ich erhoffte mir viel von einer grossen inneren Missionierung des deutschen Volkes. Diese Hoffnung hat mich neben vielen anderen Theologen, die gleich mir durch die Theologie Karl Barths bestimmt waren, zum Eintritt bei der sogenannten ‚Glaubensbewegung Deutsche Christen‘ veranlasst. Man darf sagen, dass der hessische Kreis der ‚Deutschen Christen‘ im Frühjahr und Sommer 1933 die für die Not von Kirche und Welt besonders aufgeschlossenen jungen Theologen der hessischen Landeskirche umfasste. Wir alle waren der Meinung, dass die Bewegung der ‚Deutschen Christen‘ sich noch in einem chaotischen Gärungsprozess befinde und dass es gerade durch die strenge Theologie der Gegenwart gelingen müsse, ihr eine Form zu geben, die sie befähigte, den Nationalsozialismus vor seine Verantwortung gegenüber Gott zu stellen. Dem kirchenpolitischen Fanatismus der Berliner ‚Deutschen Christen‘ standen wir völlig fern, ebenso der Personalpolitik, die dort getrieben wurde; wir wollten nichts werden, denn wir waren schon das, was uns über alles ging: evangelische Pfarrer. 95 Suckers feste Überzeugung, nahezu sein Glaube daran, dass das Evangelium vor einer Vereinnahmung durch totalitäre Regimes oder auch Politik generell schütze und dass es politische Systeme grundsätzlich ändern könne, hat zwar im Rückblick auf den Nationalsozialismus etwas sehr Kurzsichtiges, bildete aber auch nach 1945 das Grundgerüst von Suckers Haltung zur Sphäre des Politischen. 1945/ 46 fuhr Sucker in seiner „Erklärung“ mit einer im Rückblick fast kabarettistisch anmutenden Episode fort: Ich erinnere mich, dass wir […] Ende Juni 1933 mit dem damaligen Generalsuperintendenten der Kurmark, jetzigem Bischof von Berlin D. Dr. Otto Dibelius, einem der führenden Männer der bekennenden Kirche, der damals schon in schwerem Kampf mit dem Gauleiter seines Sprengels Kube stand, zusammensassen […]. Wir sprachen die kirchliche Lage in rückhaltloser Offenheit durch und entwickelten ihm unsere Absichten. Er sagte daraufhin, dass ihm solche ‚Deutschen Christen‘ wie wir noch nicht vorgekommen seien; er möchte wünschen, dass uns unser Vorhaben der Reinigung dieser Bewegung gelingen möge, aber aus seiner Kenntnis der Berliner Verhältnisse gab er uns keine Hoffnung. 96 Man mag sich Dibelius’ Gesichtsausdruck vorstellen, als er von diesen Plänen einer deutsch-christlichen Revolution in Hessen hörte. Als Sucker einige Jahre später in Lauenburg vor der Entscheidung stand, entweder seine Dozentur an der Hochschule für Lehrerbildung zu verlieren sowie die Hochschule den Repressalien der Nationalsozialisten auszuliefern oder in 95 Sucker, [Eidesstattliche Erklärung], 1. 96 Ebd., 1 f. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 155 die NSDAP einzutreten, entschied er sich für Letzteres. Im Nachgang erklärte er die Entscheidung so: „Hätte ich das nicht getan, so wäre nach meinem Ausscheiden mein Lehrauftrag einfach erloschen, die Dozenten- und Studentenschaft wäre ohne jede Begegnung mit dem Evangelium geblieben. Meine Tätigkeit wurde je mehr und mehr zum Sammelbecken - heute würde man sagen: zum Widerstandsnest - für all diejenigen Studenten, die nicht gewillt waren, sich dem auszuliefern, was man die Weltanschauung des NS nannte. Ich versuchte, die jungen Menschen in ihrem Protest zu stärken und ihr Gewissen gegenüber dem, was auf sie eindrang, zu schärfen.“ 97 Widerstand aus dem System heraus - das war Suckers Richtlinie. Bis zuletzt hielt er an dem „Irrglaube an die Macht des christlichen Wortes in totalitären Milieus“ 98 fest. Nach 1945 war ihm das christliche Wort dann die Macht, die die Entstehung von Totalitarismus verhindern konnte. Aber neben dem Glauben gibt es nach Sucker ein weiteres Element, das gegen Ideologien immunisierte: der menschliche Freiheitswille, „der weiß, daß in der unkommandierten Innerlichkeit des Menschen sich Heil oder Unheil seines ganzen Lebens entscheiden und daß er hier wirklich er selber sein muß. […] In der Kraft des Freiheitswillens entdeckt sich der Mensch auf einem neuen Boden, dem der Kirche, auf dem er in der Begegnung mit der Verkündigung Jesu Christi die wahre Freiheit beginnt.“ 99 Der Staat aber hat grundsätzlich den einzelnen Menschen zu respektieren: „Von Toleranz im Blick auf den Staat sprechen heißt also von der Grenze des Staates an der menschlichen Innerlichkeit sprechen.“ 100 In Bezug auf das Staat-Kirche-Verhältnis unterstrich Sucker, dass der Staat die Kirche auf Grund der großen Bedeutung, die die Kirche für ihn habe, achten und es sein höchstes Interesse erregen müsse, was die Kirche tue. Er müsse um die Autonomie der Kirche besorgt sein, denn „indem der Staat der Verkündigung Jesu Christi freien Raum gewährt, tut er sich selbst etwas Gutes; er bewahrt sich vor seiner Entartung zum totalitären Leviathan, er anerkennt damit, daß es ihm unzugängliche Bereiche der menschlichen Existenz gibt, die sich zuletzt seiner Herrschaft und Verwaltung entziehen.“ 101 Hier folgte Sucker der „reformatorische[n] Erkenntnis, daß der Glaube ein in der Freiheit Gottes stehendes Geschenk ist - er ist darum grundsätzlich der Sphäre des Staates entzogen, in der Macht und Gesetz gelten und gelten müssen“. 102 Oder, etwas anders formuliert: „Die kirchlichen Ziele entziehen sich der Politik - denn zuletzt geht es 97 Ebd., 4. 98 Bogs / Jordan, Treue, 28. 99 Sucker, Toleranz, 3. 100 Ebd., 3. 101 Ebd., 4. 102 Ebd., 4. 156 Gisa Bauer in der Kirche um ein Handeln Gottes, wir sagten schon: um das Geschenk des Glaubens und nicht um ein Tun des Menschen.“ 103 Zusammengefasst gesagt: Sucker ging hinsichtlich der Politik von der Zwei-Reiche-Lehre aus mit ihrer Vorstellung der Trennung eines „weltlichen“ und „geistlichen Regiments“. Allerdings - und das dürfte eine Lehre aus den zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur samt ihrer Kirchenpolitik gewesen sein - müsse die Kirche heute die Toleranz des Staates bewahren und schützen: „[W]ir können, gerade nach den Erfahrungen, die wir gemacht haben und in weiten Teilen Deutschlands noch machen müssen, uns nur einen Staat denken, dem das Gewissen seiner Bürger heilig ist. Und für sein rechtes Wachstum und seine Ausgestaltung werden wir uns - gerade als Christen - einzusetzen haben, d. h. als solche, denen der Einbruch der Macht in die Sphäre des Glaubens ein Greuel ist - komme dieser Einbruch vom Staat her oder von einer in ihrem Selbstverständnis irregeleiteten Konfession.“ 104 Insofern ist „der Dienst des Christen […] schon immer ein politischer Dienst […], in dem es um die Befreiung des Menschen aus seinem selbstzerstörerischen Wahn geht.“ 105 An diesem Punkt dürfte die Diskrepanz zwischen Wolfgang Sucker und Martin Niemöller, die sich in der Wahrnehmung Niemöllers als „politischer“ Kirchenpräsident und Suckers als „unpolitischer“ Kirchenpräsident niederschlagen, ihren theologischen Ursprung haben: Sucker schwankte zwischen einer konventionellen Zwei-Reiche-Lehre und einer erweiterten Zwei-Reiche-Lehre, Niemöller, von Barth und dessen Vorstellung der Königsherrschaft Christi beeinflusst, fragte direkt nach der Ethik in der Politik. Suckers grundlegende Haltung zur Politik war eine andere als die Niemöllers, auch wenn Niemöllers politisches Engagement ebenfalls ganz und gar von einer christlichen Grundhaltung her verstanden werden muss. Ganz zugewandt formulierte Sucker in einem Beitrag zu Niemöllers 75. Geburtstag im Januar 1967 - dem Jahr unter der Jahreslosung „Uns, Herr, wirst du Frieden schaffen; denn auch alles, was wir ausrichten, das hast du für uns getan“ ( Jes 26,12) -: „So können wir das Leben Martin Niemöllers in diesen Jahren beschreiben als Friedensdienst im Namen des Friedefürsten, der den Friedensstiftern den Besitz der Erde verheisst, die doch dem sehr handgreiflichen Augenschein nach in den Händen derer ist, die in Kriegen siegen.“ 106 Bei allem Pazifismus, dem Sucker zugeneigt war, stellte das aber nicht seine Option dar. Beim „politischen Auftrag der Kirche heute“ ging es nach ihm „zunächst und 103 Ebd., 5. 104 Ebd., 5. 105 Sucker, Wolfgang: Unsere Zeit ist schnellebig … [Manuskript ohne Titel]. Maschinenschriftl., 13 S., hier 9; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 143. 106 Sucker, Wolfgang: Martin Niemöller zum 75. Geburtstag, maschinenschriftl., 2 S., hier 1; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 245. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 157 allein um […] die innerste Aufgabe“ der Kirche, nämlich die „der Verkündigung des Evangeliums; denn daraus kann sich die Frucht des rechtfertigenden Glaubens ergeben; und dieser Glaube versetzt den Menschen im Entscheidenden seiner Existenz in die Passivität, weil nur Gott selbst das Elend des Menschen wenden kann.“ 107 Alles andere, jedwede menschlichen Versuche, sich selbst aus Existenznöten herauszuarbeiten, waren für Sucker durch Werke betriebene Erlösung, d. h. Werkgerechtigkeit, und führten zu einem „religiösen Säkularismus“ oder zur „Verwandlung der Politik zur Heilslehre“. 108 Trotzdem hat Sucker zu politischen Aufgaben und Fragen seiner Zeit konkret Stellung bezogen - stets mit deutlichem Rekurs auf seine apolitische theologische Haltung. So führte er in einem Interview 1967 hinsichtlich der Arbeitsgemeinschaft „Politik“ auf dem zurückliegenden Kirchentag in Hannover aus, dass es bei „Frieden […] um die aller Politik gegebene Aufgabe“ gehe und Friedenspolitik „nicht nur eine Sache der Berufspolitiker bleiben“ könne, sondern sich jeder dafür verantwortlich zeigen müsse. „Dazu gehört“, so Sucker, „einmal die Umwandlung der ethischen Gesinnung und zum anderen ein durch ständige Information befruchtetes Denken, das zu einem politischen Handeln führt, dessen Ziel es ist, zunächst die möglichen Friedensstörungen, z. B. die wirtschaftliche Not vieler Völker und ganzer Weltgegenden zu beseitigen.“ 109 Wenn heute in der Friedensethik von dem „Gerechten Frieden“ gesprochen wird und damit der Komplex der gerechten und gerechtigkeitsstiftenden Vorbedingungen von Frieden in den jeweiligen Ländern und Regionen wie die wirtschaftlich-ökonomische, politische, soziale Balance im Sinne von „Zum Frieden gehört mehr als das Schweigen von Waffen“ gemeint ist, dann ist das eine Fortführung von dem, was Sucker 1967 andeutete. Auch seine Unterstützung des Gedankens eines konfessionsübergreifenden Friedensforschungsinstituts sind bis heute interessant, da ein solches Institut nicht umgesetzt wurde, trotz seines zukunftsweisenden Potentials: „Es ist bemerkenswert, dass in diesem Zusammenhang auf dem Kirchentag öfters von der Notwendigkeit eines Instituts zum Studium des Friedensproblems und der geistigen Durchdringung der Voraussetzungen des Weltfriedens gesprochen wurde. Es ist bezeichnend, wie sogleich auch die Frage auftauchte, ob nicht die beiden Konfessionen in Deutschland ein solches Institut gemeinsam gründen und unterhalten müssten.“ 110 Allerdings bleibt festzuhalten, dass Sucker offenbar erst durch die Wahrnehmung der Massen von jungen Menschen, die für Frieden, v. a. angesichts des Vietnamkrieges, votier- 107 Sucker, Unsere Zeit, 10 f. 108 Ebd., 12. 109 Interview mit Kirchenpräsident Professor D. Wolfgang Sucker, 2. 110 Ebd. 158 Gisa Bauer ten, auf dem Kirchentag 1967 in Hannover zu dieser Stellungnahme bewegt wurde, wohingegen er sich hinsichtlich der Auseinandersetzungen um Wiederbewaffnung und Atomwaffenverbot in den 1950er Jahren nahezu ausschließlich zurück gehalten hatte. Ob diese Zurückhaltung dem dafür umso mehr herausragenden Engagement „seines“ Kirchenpräsidenten Martin Niemöller geschuldet war oder genuin auf Suckers Politikreserve zurückgeht, lässt sich nicht exakt bestimmen. Wahrscheinlich ist beides. Einen weiteren tagespolitischen Bezug weisen Suckers Ausführungen zu Europa auf, 111 die er speziell in dem bereits erwähnten Aufsatz von 1963 „Die Christenheit und Europa“ 112 darlegte. Dieser Zeitpunkt war für die harten Auseinandersetzungen um Europa im Zusammenhang mit der Westintegrationspolitik Adenauers zu spät. Aber der Abschluss der „Römischen Verträge“ 1957/ 58, in denen die „Europäische Atomgemeinschaft“ und die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ - auf Grund der von Frankreich diktierten Agrarmarktordnung zwischen 1962 und 1964 bereits in der Krise - institutionalisiert wurden, dürfte in der Tat Anlass für weiterführende Überlegung gewesen sein, wie denn ein unter christlichem Blickwinkel entwickeltes Europabild aussehen sollte. Ganz auf der Linie seines generellen theologischen Ansatzes sah Sucker eine Einheit Europas nur durch den gemeinsamen Glauben gegeben, durch eine intensive Ökumene der „Christentümer“ Europas. 113 Dabei wäre aber nichts fataler, so Sucker, „als die Verwandlung des christlichen Glaubens zur Weltanschauung oder zu einem praktikablen Weltgesetz, mit dessen Hilfe allein das große Werk der Rettung Europas zu bewerkstelligen sei“. 114 Die Rückbindung an die Verkündigung erfolgte also auch bei seinen Vorstellungen zur Europapolitik. Er kam dann auch zu dem Schluss, wenn „das Christentum an Bedeutung verliere, komme dies einem ,Ende Europas‘ gleich: ,Europa ist dort, wo die Verkündigung des Evangeliums eine öffentliche Macht ist‘“ 115 . Eine prononcierte Meinung hatte Sucker, der „größte Kenner des Katholizismus“, 116 auch zur Parteipolitik der CDU/ CSU in den 1950er Jahren. 1953 hatte die Union bei der Bundestagswahl bei einem Stimmenzuwachs von über 14 % mit fulminantem Wahlerfolg aufwarten können, 1957 erreichte sie sogar die absolute Stimmenmehrheit. Die Partei, die noch in den Nachwirkungen der 111 Vgl. zu Suckers Europavorstellungen Bogs, Sucker. 112 Sucker, Wolfgang: Die Christenheit und Europa, in: Der Evangelische Bund 1963, H. 1, 1-3. 113 Bogs, Sucker, 153. 114 Sucker, Unsere Zeit, 9. 115 Bogs, Sucker, 161. 116 U.a. in Professor Sucker 60 Jahre alt, 3. Diese Zuschreibung erscheint häufig im Zusammenhang mit der Person Wolfgang Suckers. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 159 ökumenischen Zusammenarbeit in der nationalsozialistischen Zeit als echte interkonfessionelle Partei gegründet worden war, hatte unter ihren Mitgliedern eine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ungleich höheren Anteil an Katholiken, was angesichts ihres Wahlerfolges 1953 zu Ängsten auf protestantischer Seite vor einer katholischen Überformung führte. In einem Aufsatz von 1954 beanstandete Sucker einerseits, die katholische Kirche dürfe „nicht so tun, als sei die CDU/ CSU ihre Partei, die ständig zur Wahrung ihrer Interessen bereitsteht“. 117 Andererseits erweise sich in der CDU der „universalistische Geist des Katholizismus“ 118 , der sich im Katholizismus in den letzten Jahren immer stärker ausgeprägt habe. 119 Sucker lobte die CDU/ CSU als Ort der interkonfessionellen Zusammenarbeit, an dem man offensichtlich keine „Furcht vor dem Indifferentismus“ habe. 120 Da für ihn der Dienst am Volk sowieso nicht in Parteienarbeit aufging gab Sucker dem „protestantischen Parlamentarier“ den Hinweis auf den Weg, der Staat sei nicht das „Schlachtfeld […], auf dem Interessenhaufen ihre Konkurrenzkämpfe mit allen Mitteln ausfechten“ und auf dem durch politisches Handeln eben kein „ewiges Reich“ aufgerichtet werde. 121 Dadurch war eine Toleranz gegenüber der Meinung des konfessionell andersdenkenden Parteigenossen gewährleistet. Zwar müsse „jeder Gedanke an ein ‚Ins-Schlepptau-Nehmen‘ des evangelischen Teils [der CDU/ CSU] ausgeschaltet werden“, aber gerade „in der vorbildlichen Austragung der in ihr [der Partei] vorhandenen Spannungen und Gegensätze tut sie einen wichtigen Dienst an unserer Zukunft“. 122 Dieser Kurs des Ausgleichs und der Mitte, der Aufruf zu Toleranz und Kompromiss kam letztlich der Politik Adenauers sehr entgegen, der beide Kirchen für sich zu gewinnen suchte, um die interkonfessionelle Einheit der Partei zu sichern und damit die innenpolitische Dominanz der CDU aufrecht zu erhalten. 123 „Es lebt wohl auch heute noch im evangelischen Christentum ein differenziertes Gefühl für den politischen Dienst, der sich nicht erschöpfen kann im Dienst einer Partei, sondern der ohne die Form der Partei die Verwirklichung 117 Sucker, Wolfgang: Christliche Zusammenarbeit in der Politik? [1954]. Maschinenschriftl., 11 S., hier 6; Zentralarchiv der EKHN, Best. 163, Nr. 143. 118 Ebd., 3 119 Ebd., 4 120 Ebd., 5. 121 Ebd., 9. 122 Ebd., 10. 123 Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm: Religionspolitik im Kalten Krieg. Die Bedeutung des Militärseelsorge-Vertrags von 1957 in der antagonistischen Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik und der DDR, in: Doering-Manteuffel, Anselm / Nowak, Kurt (Hrsg.): Religionspolitik in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65. Geburtstag. Stuttgart, Berlin, Köln 1999, 261-272, hier 267. 160 Gisa Bauer eines echten Dienstes für das Ganze von Volk und Staat sucht.“ 124 Resümierend bleibt festzuhalten, dass Sucker in dieser Äußerung zum Verhältnis von Protestantismus und Politik sich selbst gemeint und seine eigene Haltung pointiert beschrieben hat. 5. Sucker und die „politische EKHN“ In dem eingangs erwähnten Aufsatz von Holger Bogs über Suckers ökumenisches Europabild führt Bogs zwei evidente Argumente für die Außenseiterposition Suckers in der kollektiven Wahrnehmung der EKHN ins Feld: Zum ersten die Trennung von Weltlichem und Geistlichen bei dem Verfechter der Zwei-Reiche-Lehre und zum zweiten die kurze Dauer von Suckers Kirchenpräsidentschaft, die noch dazu in eine Zeit des Umbruchs und der massiven Transformationen fiel und Sucker als „Übergangskirchenpräsidenten“ erscheinen lassen. 125 Zu beiden Annahmen kommen weitere Aspekte hinzu, die in Suckers (undankbarer) Rolle als Gegengewicht zu Niemöller zusammenlaufen. Der schon im Nationalsozialismus geprägte theologische Ansatz Suckers in Bezug auf Kirche und Politik harmonisierte in den 1960er Jahren mit der optimistischen, reformorientierten Atmosphäre innerhalb des kirchlichen Protestantismus, der auf die ersten kritischen Anfragen durch Gesellschaft oder im Hinblick auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren musste. 126 Zwar erschien Suckers Haltung nach außen als ein politischer Rückzug, aber theologisch und kirchenpolitisch stellte er den Gegenpol zu Martin Niemöller dar, der sich in einer direkten politischen Auseinandersetzung mit Adenauer und den dessen Politik mit dem zentralen Element der Westintegration Westdeutschlands sowie der daraus resultierenden Aufrüstungspolitik vertretenden Politikern befand. Niemöller, Gustav Heinemann oder auch „politisch motivierte Gefolgschaften Karl Barths“ verstießen gegen die Direktive der Bonner Kirchenpolitik, die „gesamtdeutsche Rücksichten nur auf Schauplätzen [nahm], die seitab des zentralen Aktionsfeldes der Westintegration lagen“ 127 , was ihnen politisch und gesellschaftlich offene Feindschaft einbrachte. Suckers politischer Standpunkt dagegen war außerhalb der Politik angesiedelt, was ihn immer wieder zu einem als unpolitisch wahrgenom- 124 Sucker, Christliche Zusammenarbeit, 9. 125 Bogs, Sucker, 156 f. 126 Zu den kulturgeschichtlichen, politischen und kirchlichen Entwicklungen in den 1960er Jahren vgl. besonders McLeod, Hugh: European Religion in the 1960s, in: Hermle, Siegfried / Lepp, Claudia / Oelke, Harry (Hrsg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Göttingen 2007, 35-50. 127 Doering-Manteuffel, Religionspolitik, 267. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 161 menen Theologen machte - obwohl seine Ansichten durchaus nicht unpolitisch waren, wie aus dem bisher Dargestellten hervorgeht. Aber Sucker kämpfte nicht in der politischen und gesellschaftlichen Arena, sondern erscheint stromlinienförmig angepasst an die politischen Themen seiner Zeit. Selbst im Hinblick auf die Bildungspolitik, immerhin Aspekt eines seiner Spezialfelder, und in den 1960er Jahren Ausgangspunkt eines „Politisierungsschubs“, da sich die Forderungen nach einer Bildungsreform bald als „Teil einer Gesellschaftsreform, als demokratisches Projekt zur Verbesserung der ‚Chancengleichheit‘“ 128 ausweiteten, blieb er unter politischen Gesichtspunkten merkwürdig blass. Kirchenpolitisch aber war Suckers Haltung der Mitte und des Ausgleichs in der Zeit der Polarisierungen innerhalb des westdeutschen Protestantismus ungemein hilfreich und integrativ. In den aufreißenden Fronten zwischen dem politischen, „linken“, den neuen sozialen Bewegungen nahestehenden und dem konservativen, auf Verkündigung und vermeintlichen Rückzug aus der Politik fokussierten Flügel war Sucker mit seinem theologischen Ansatz ein Vermittler. Als illustratives Beispiel dafür kann die Diskussionsrunde im Anschluss an den schon erwähnten Vortrag „Ein evangelisches Wort zur Schulfrage“ auf der Generalversammlung des Evangelischen Bundes 1967 gelten. Sucker beantwortete hier Fragen aus dem Auditorium und erklärte zum Verhältnis von Kirche und 1968er Revolution: „Es darf heute keinen mehr unter uns geben, der sich nicht einmal denkerisch mit diesen Ideen [der Revolution] auseinandergesetzt hat. Ich würde sagen, wer einen Bücherschrank besitzt, in dem Goethe steht und nicht Karl Marx, das ist ein falscher Bücherschrank. […] Man muss sich nicht dafür entscheiden, aber wir müssen doch das kennen, wenn wir in einen Dialog geraten wollen, der ja glücklicherweise da und dort angehoben hat […].“ 129 Der nächste Fragebeitrag ging in eine prinzipiell diametral entgegengesetzte Richtung und monierte die Überbewertung von menschlicher Vernunft gegenüber Gott. Sucker antwortete: „Unter Vernunft [zu stehen ist] nicht so wichtig wie unter Gesetz Gottes [zu stehen]. Das ist eine These, die ich voll unterschreibe. Nur, wie das Gesetz Gottes vernehmbar wird, da würde ich mich mit dem betreffenden Fragesteller gerne einmal unterhalten und würde ihm deutlich zu machen versuchen, dass in unserer Vernunft das Gesetz Gottes vernehmbar wird.“ 130 Die beiden Fragen, einmal nach der linken Politik und den Kirchen, zum anderen nach der Verortung der der menschlichen Vernunft entzogenen 128 Siegfried, Detlef: Politisierungsschübe in der Bundesrepublik 1945 bis 1980, in: Fitschen, Klaus / Hermle, Siegfried / Kunter, Katharina / Lepp, Claudia / Roggenkamp-Kaufmann, Antje (Hrsg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011, 31-50, hier 37. 129 Sucker, Antworten, 1. 130 Ebd., 2. 162 Gisa Bauer Offenbarung, spiegeln den Spannungsbogen wider, unter dem der Protestantismus seit den 1960er Jahren in Deutschland steht. Sucker suchte in dieser Spannung die Mitte. „Aller Beharrung und Orthodoxie war er feind“, so schrieb Ernst Dondorf in dem bereits eingangs zitierten Nachruf über den Freund, „gleichermaßen hielt er aber auch Schwärmerei und Utopien für Irrwege. Um ihn breitete sich ein weiter Raum von Toleranz.“ 131 Dondorf kommt schließlich zu dem Schluss, Sucker sei ein „unermüdliche[r]“ und „einsame[r] Rufer zur Mitte“ gewesen. Der Standpunkt der Mitte und der Toleranz war in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in der Zeit der sich abzeichnenden und ihren Höhepunkt erreichenden Studentenbewegung der Bundesrepublik, des Auseinanderklaffens der kirchlichen und theologischen Lager, der gesellschaftlichen und kirchlichen Polarisierungen und der sich verdichtenden Politisierung in der Kirche in der Tat ein wenig populärer und schwierig zu haltender Standpunkt. Aber war Sucker letztlich in der „politischen EKHN“ wirklich „einsam“? Schon bei seiner ersten kirchenpolitischen Wahl in der EKHN 1957 zum Stellvertretenden Kirchenpräsidenten, als Gegenkandidat zu Karl Herbert, zeigte sich die gespaltene Haltung der Synode zu dem amtierenden Kirchenpräsidenten Martin Niemöller und seinem politischen Agieren. Während diejenigen, die hinter Karl Herbert standen, der als ehemaliger Kirchenkämpfer ganz die Niemöllersche Linie vertrat, auch Niemöllers Haltung goutierten, vertrat die moderate Mitte eher eine (offensichtlich) theologische Haltung als eine (offensichtlich) politische - auch Niemöllers politisches Agieren war ja Ausdruck einer Glaubensentscheidung und nicht per se Politik. Die Synode entschied sich letztlich bei der Wahl für eine eher diplomatische als spaltende Attitüde 132 und für die Stärkung des protestantischen Selbstbewusstseins in der Auseinandersetzung der Konfessionen bzw. für die Stärkung der ökumenischen Zusammenarbeit als für den selbstbewussten Kampf des Protestantismus mit politischen Gegnern. In der Zeitung „Die Welt“ wurde die Wahl direkt als „Niederlage für Niemöller“ gedeutet - in Sucker hätten „jene Protestanten ihren Sprecher [gewählt], die Niemöllers politische Rolle mißbilligten“. 133 Die Rolle als Opponenten war von den Protagonisten selbst am allerwenigsten gewollt und gewählt, und wurde in der praktischen Arbeit zur gegenseitigen Ergänzung. Aber von der EKHN, vertreten und repräsentiert durch ihre Synode, wurde Suckers konfessionskundliche und ökumenische Arbeit, sein Insistieren auf eine protestan- 131 [Dondorf, Ernst: ] Gedenken. 132 So formulierte Otto Dibelius im Zusammenhang mit Niemöllers Russlandreise 1952: „Alle Unternehmungen Niemöllers haben eine erstaunliche Spaltungskraft.“ (Zitiert nach: Niemöller, Jan: Erkundung gegen den Strom. 1952: Martin Niemöller reist nach Moskau. Eine Dokumentation. Stuttgart 1988, 32). 133 Stratenschulte, Nachfolger. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 163 tische Selbstbesinnung und darauf, in der konfessionellen Auseinandersetzung, bei aller ökumenischen Verbundenheit, den Protestantismus gut aufgestellt zu wissen, stärker als Niemöllers politische Kämpfe als bedeutsam für die weitere kirchliche Entwicklung und am Puls der Zeit empfunden. Möglicherweise hatte Niemöller zu dem Zeitpunkt bereits begonnen sich von seiner Landeskirche zu entfremden. Ein Jahr später wurde er mit nur einer Stimme über die notwendige absolute Mehrheit hinaus für das Amt des Kirchenpräsidenten wiedergewählt, das er zwei Jahre vor Ablauf der regulären Amtszeit niederlegte. Als 1964 Wolfgang Sucker zum Kirchenpräsidenten der EKHN gewählt wurde, kommentierte der „Spiegel“: „Wenn Niemöller am Jahresende aus dem Amt scheidet, wird Oberkirchenrat Wolfgang Sucker die Nachfolge antreten, ein Theologieprofessor ‚rechts von der Mitte‘ (‚Frankfurter Allgemeine‘), aber ‚durchaus keine hessische Version eines Dibelius‘ (‚Frankfurter Rundschau‘). Ihm sagt man nach, woran es Niemöller stets mangelte: diplomatisches Geschick.“ 134 „Nachdem doch eine sehr, sehr geprägte - wie soll man es nennen? - ein sehr geprägtes Stadium Nachkriegshessen-Kirchengeschichte nun vorbei ist“ 135 , wie ein Synodaler im Zuge der Diskussion um die Kirchenpräsidentschaftswahl am 3. November 1964 recht gewunden formulierte, war klar, dass jeder, der die Nachfolge von Niemöller antreten würde, „ein sehr schweres Amt [hat], mag er sein, wer er will“ 136 , wie ein anderes Mitglied der Synode betonte. Sucker stand zwar zeit seiner Kirchenpräsidentschaft im Schatten Niemöllers, aber gerade der Umstand, dass er in der Wahrnehmung innerhalb der EKHN bis heute ohne das Hintergrundpanorama von Niemöllers Wirken nicht verstanden wird, macht eines deutlich: die EKHN benötigte Sucker und seinen theologischen und kirchlichen Ansatz, um das politische Schwergewicht Niemöllers auszugleichen. Sucker fand, so wie andere, die nicht in einer der vielen Fronten ganz vorn standen, oder die in einer Zeit des Umbruchs zum Ausgleich riefen, keinen oder nur einen kleinen Platz in der kollektiven Erinnerung. Seine politische Durchschlagkraft wurde in der sich als „politisch“ definierenden EKHN an der Niemöllers gemessen und für zu schwach befunden. Aber gerade als das „unpolitische“ Gegengewicht zu Niemöller was Sucker kirchen politisch für die EKHN ausgesprochen bedeutsam. 134 Zitiert nach Heymel, Michael: Martin Niemöller. Vom Marineoffizier zum Friedenskämpfer. Darmstadt 2017, 173. 135 Zweiter Sitzungstag [der Hessen-Nassauischen Kirchensynode] Frankfurt am Main, 3. November 1964, 17. 136 Ebd., 31. 164 Gisa Bauer Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalische Quellen aus den Beständen des Zentralarchivs der EKHN, Ahastraße 5a, 64285 Darmstadt. Archivalische Quellen aus den Beständen des Privatarchivs Dr. Walter Fleischmann-Bisten, Bensheim-Auerbach. Barth, Hans-Martin: Erst das Evangelium, dann die Ökumene! Zur Erinnerung an die ökumenische Bedeutung Wolfgang Suckers aus Anlass seines 100. Geburtstags, in: Bogs/ Fleischmann-Bisten, Erziehung, 50-64. Bogs, Holger/ Fleischmann-Bisten, Walter (Hrsg.): Erziehung zum Dialog. Weg und Wirkung Wolfgang Suckers. Göttingen 2006. Bogs, Holger (unter Mitarbeit von Stefan Schmunk und Marcus Stippak): Wolfgang Sucker - Entwurf eines ökumenischen Europabildes, in: Dingel, Irene/ Tietz, Christiane (Hrsg.): Kirche und Staat in Deutschland, Frankreich und den USA. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Beziehung. XIV. Dietrich-Bonhoeffer-Vorlesung 2010 in Mainz. Göttingen 2012, 153-164. Bogs, Holger/ Jordan, Alexandra: „Treue gegen Treue“. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Biografische Streiflichter, in: Bogs/ Fleischmann-Bisten, Erziehung, 17-49. Dienst, Karl: Kirche und Schule. Zu einem zentralen Thema Wolfgang Suckers, in: Bogs/ Fleischmann-Bisten, Erziehung, 94-140. Doering-Manteuffel, Anselm: Religionspolitik im Kalten Krieg. Die Bedeutung des Militärseelsorge-Vertrags von 1957 in der antagonistischen Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik und der DDR, in: Doering-Manteuffel, Anselm/ Nowak, Kurt (Hrsg.): Religionspolitik in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65. Geburtstag. Stuttgart, Berlin, Köln 1999, 261-272. Fleischmann-Bisten, Walter/ Grote, Heiner: Protestanten auf dem Wege. Geschichte des Evangelischen Bundes. Göttingen 1986. Fleischmann-Bisten, Walter: „Die Aufgabe einer neuen Evangelisierung“. Wolfgang Suckers Beitrag zum missionarischen Erziehungsauftrag der Kirche, in: Bogs/ Fleischmann-Bisten, Erziehung, 141-154. Fleischmann-Bisten, Walter: „Eine neue Gemeinschaft evangelischer und katholischer Christen ist im Wachsen.“ Wolfgang Suckers ökumenische Impulse, in: MD 4/ 2005, 74-77. Frieling, Reinhard: Brauchen wir ein Evangelisches Konzil? Wolfgang Suckers frühe Impulse für die evangelische Stimme in Europa, in: Bogs/ Fleischmann-Bisten, Erziehung, 65-74. Maron, Gottfried: Im Gedenken an Wolfgang Sucker 1905-1968, in: Bogs/ Fleischmann-Bisten, Erziehung, 163 f. McLeod, Hugh: European Religion in the 1960s, in: Hermle, Siegfried/ Lepp, Claudia/ Oelke, Harry (Hrsg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Göttingen 2007, 35-50. Niemöller, Jan: Erkundung gegen den Strom. 1952: Martin Niemöller reist nach Moskau. Eine Dokumentation. Stuttgart 1988, 32. Wolfgang Sucker (1905-1968) - Kirche herausgefordert zur „Evangelischen Selbstbesinnung“ 165 Schäfer, Karl Heinrich: [Geleitwort] Verantwortung für Bildung: Wolfgang Sucker (1905-1968), in: Bogs/ Fleischmann-Bisten, Erziehung, 10-13. Scherf, Ulrike: Wolfgang Sucker und die Gründung des Konfessionskundlichen Instituts, in: MD 3/ 2015: Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Fleischmann-Bisten, 50-52. Siegfried, Detlef: Politisierungsschübe in der Bundesrepublik 1945 bis 1980, in: Fitschen, Klaus/ Hermle, Siegfried/ Kunter, Katharina/ Lepp, Claudia/ Roggenkamp-Kaufmann, Antje (Hrsg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011, 31-50. Stratenschulte, Werner: Der Nachfolger Niemöllers? Wolfgang Sucker verkörpert evangelisches Selbstbewußtsein, in: Die Welt Nr. 199 vom 28.8.1957, 3. Sucker, Wolfgang: Die Christenheit und Europa, in: Der Evangelische Bund 1963, H. 1, 1-3. Weise, Christian: Sucker, Wolfgang Friedrich Heinrich, in: BBLK XXI/ Ergänzungen XVI (2008), 1411-1416. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart Ute Dieckhoff Helmut Hild war der dritte Kirchenpräsident der EKHN. Seine Amtsperiode (1969-1985) steht für eine Wendezeit, einen Wechsel der Generationen und Standorte. Schon bei seiner Wahl wurden Erwartungen in dieser Richtung geäußert, zum Beispiel in einem Wahlslogan, der damals kursierte: „Willst Du weiter alte Zeit? Wähle Herberts ‚Herr‘-lichkeit! Theologisch schweres Brot, - hochgelehrt, abstrakt? Wähl’ Stoodt! Willst Du alles neu und mild? Beste Lösung: Wähle HILD! “ 1 1. Biographische Skizze Helmut Hilds Jugend war bestimmt durch seine Herkunft aus einem Pfarrhaus und durch seinen Kriegseinsatz im Zweiten Weltkrieg. Diese beiden Momente hatten zwar tiefen Einfluss auf seine Lebensgestaltung, jedoch nicht im Sinne eines unabänderlichen Automatismus. Der Sohn, Enkel und Neffe von Pfarrern strebte zunächst einen anders gearteten Beruf im journalistischen Bereich an, erst nach den Erschütterungen durch seine Kriegserlebnisse wandte er sich dann ebenfalls der Theologie zu. Seine Zeit als Soldat machte ihn nicht zum Militaristen oder Nationalisten, er erlebte dort aber Kameradschaft. Kirchenpräsident Helmut Hild (Bild: Zentralarchiv der EKHN) Helmut Wilhelm Hild wurde am 23. Mai 1921 in Weinbach/ Oberlahn als jüngstes von drei Geschwistern geboren. Der Vater Eugen Hild war Pfarrer, auch Hilds Mutter Luise stammte aus einem Pfarrhaus. Ihr Vater war der Pfarrer und Dekan Adolf Scheerer 2 . Im Alter von sechs Jahren wurde Helmut Hild in Weinbach eingeschult. 1929 übernahm der Vater die Pfarrstellen von Kubach 1 Zentralarchiv der EKHN, Best. 94, Nachlass Helmut Hild, Nr. 416. Zu den genannten Mitbewerbern siehe unten Anm. 25. 2 Zentralarchiv der EKHN, Best. 120, Personalakten der EKHN, Nr. 2891; Helmut Hild, Jugendjahre in Kubach, in: Cubach Kubach 1000-2000. Ein altes Dorf mit großer Vergangenheit, Red. Hans-Helmut Hoos, Weilburg-Waldhausen 2000, 123-143, hier 124; Best. 94, Nr. 254. Scheerer war Hofprediger von Großherzog Adolph von Luxemburg, der zuvor bis 1866 Herzog von Nassau gewesen war. Scheerer versah dieses Amt von Weilburg aus. 168 Ute Dieckhoff Kirchenpräsident Helmut Hild, 10. Januar 1985. Foto: Christoph Rau Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 169 und Hirschhausen zusammen mit der Leitung des Dekanats Weilburg. Die Familie zog nun nach Kubach, in dem dörflichen Umfeld verlebte Helmut Hild eine unbeschwerte Kindheit 3 . In der Rückschau bezeichnete Hild sein Elternhaus als liberal. Die Erziehung war dennoch durch die konservative Tradition der Kaiserzeit geprägt 4 . Im Mittelpunkt stand die Vorstellung der Kirche als staatstragender Säule 5 . Der Lehrer der nur zweiklassigen Volksschule in Kubach ermöglichte es dem begabten Schüler Helmut bereits Ostern 1930 mit noch nicht neun Jahren auf das Gymnasium Philippinum in Weilburg zu wechseln. Das Philippinum war noch dem klassisch-humanistischen Bildungsideal verschrieben, der Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern war knapp 6 . Dem angehenden Abiturienten Hild empfahl der Deutschlehrer Studienrat Laermann „Lessing“ als Spezialgebiet im Wahlfach Deutsch. Er forderte hierbei auch Kenntnisse über Nathan den Weisen sowie über die Einflüsse jüdischer Freunde auf Lessings Werk. Hild urteilte später, dass ihn dies gegenüber der nationalsozialistischen Weltanschauung gestärkt habe: „Dem Rat meines Lehrers und dem Studium Lessings verdanke ich vornehmlich, daß ich dem Judenhaß nicht anheimfiel und Toleranz nicht für Schwäche halten konnte“ 7 . Die Eltern Eugen und Luise Hild standen dem NS-Regime kritisch gegenüber. 1938 verurteilte der Vater öffentlich die Vorfälle in der Reichspogromnacht und geriet dadurch in Schwierigkeiten mit den Vertretern des Regimes. Helmut gehörte in Kubach dennoch dem Deutschen Jungvolk an und wurde dort 1935 Jungenschaftführer, später Jungzugführer. Er selbst wertete dies später aber als reine Jugendveranstaltung ohne nationalsozialistische Indoktrination in der Tradition der bündischen Jugend vor 1933. Mit 16 Jahren legte Helmut Hild das Abitur ab. Anschließend schwankte er zwischen dem Wunsch, Germanistik und Sport zu studieren oder sich lieber als Journalist dem Feuilleton zuzuwenden. Zunächst musste er allerdings zum 4. 3 Best. 120, Nr. 2891; Hild, Jugendjahre, 123; Best. 94, Nr. 231, Nr. 68, Nr. 99, Nr. 107, Nr. 18. 4 Best. 94, Nr. 254, Nr. 81, Nr. 231; Hild, Helmut: Ich glaube an die heilige christliche Kirche, in: Helmut Hild, Verantwortung aus Glauben. Ausgewählte Vorträge und Predigten, hg. vom Evangelischen Bund in Hessen und Nassau. Darmstadt 1991, 167-189, hier 170. 5 So war etwa in Hilds Familie die Tausendjahrfeier der Stadt Weilburg von 1906, an der der deutsche Kronprinz teilgenommen hatte, noch lange in der Erinnerung präsent. Obwohl Helmut Hild erst 15 Jahre nach diesem Ereignis geboren wurde, war sie auch ihm ein Begriff: „Ich erinnere mich an eine Äusserung meines Grossvaters, der sagte: Pfarrer und Offiziere bedürfen keiner weiteren Legitimation, um an einer Tafel mit kaiserlichen Hoheiten zugelassen zu werden“ (Best. 94, Nr. 325, Referat „Die Evangelische Kirche und die Soldaten“, Mainz, 2.12.1985). 6 Best. 94, Nr. 231. 7 Best. 94, Nr. 325, Vom Nutzen des Lesens. Vortrag zur Feier des 300-jährigen Bestehens der Bibliothek des Gymnasium Philippinum zu Weilburg an der Lahn, 18.10.1985. 170 Ute Dieckhoff April 1938 den Reichsarbeitsdienst antreten und absolvierte die sieben Monate in einem Bauzug in Montabaur. Die harte Arbeit beim Fällen von Bäumen und Roden von Wurzelstöcken stärkte ihn körperlich, sensibilisierte ihn aber zugleich für die Anstrengungen einfacher Handarbeit. Im Anschluss an den Arbeitsdienst meldete sich Hild freiwillig bei einem Wehrmachts-Artillerie-Regiment in Frankfurt. Wegen seiner Jugend wurde er allerdings von dort zu einem Flakregiment nach Dortmund vermittelt 8 . Obwohl das Kasernenleben nicht mit dem Stil seines Elternhauses übereinstimmte, entsprach es auf der anderen Seite doch Hilds „idealistischen Erwartungen vom deutschen Soldatentum“ 9 . Erzogen in der Tradition, dem „Vaterland“ mit ganzem Einsatz zu dienen, stand Hild dem Militär eher positiv gegenüber: „So habe ich im Frieden und dann auch in der ersten Kriegszeit das Soldatsein sozusagen als eine hohe Bewährung des Guten erlebt und stand doch im Dienst von Verbrechern. Das ist ein Stück meiner Erfahrung“ 10 . Nach dem Kriegsausbruch nahm Hild an einem Schnelllehrgang für Reserveoffiziersanwärter teil; er wurde bereits im Mai 1940 zum Leutnant der Reserve befördert und mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet. In den folgenden Monaten wurde er persönlicher Begleitoffizier des Kommandierenden Generals August Schmidt, Befehlshaber des Luftgaus VI (Münster). Diese Zeit prägte ihn stark 11 : „Hier lernte ich in grösseren Masstäben denken, als ich es bis dahin gewohnt war. Zugleich wurde mir an meinem General, der mir ein väterlich-freundschaftliches Verhältnis gewährte, bewusst, welch unerträgliche Spannungen verantwortliche Menschen in dieser Zeit ausgesetzt und wie sie oft genug gezwungen wurden, ihr wahres Wesen zu verleugnen“ 12 . Auch wenn fraglich bleibt, inwieweit Hild über die Tätigkeit von General Schmidt, der 1947 als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, nähere Einblicke gehabt hat, wird deutlich, dass er den General zwanzig Jahre nach dem Krieg doch positiv beurteilte. An dieser Stelle wie auch im Briefwechsel mit ehemaligen „Kriegskameraden“ erscheint der Soldat Hild ambivalent. Die Korrespondenz beschränkte sich inhaltlich auf Kriegserlebnisse. Schuldgefühle wurden in diesem Zusammenhang weder von Hild noch von den Korrespondenzpartnern artikuliert. Hild wurde im Herbst 1942 auf eigenen Wunsch zu einer Einheit an die Ostfront versetzt 13 und musste in den schweren Kämpfen bei Moskau rasch seine 8 Best. 94, Nr. 231, Nr. 122; Best. 120, Nr. 3576. 9 Best. 94, Nr. 231, Lebensbericht von Hild vor dem Rotary Club, Frankfurt a. M., 2.12.1965. 10 Hild, Ich glaube, 171. 11 Best. 94, Nr. 231, Nr. 91, Nr. 13; Best. 120, Nr. 3576, Nr. 2891. 12 Best. 94, Nr. 231, Lebensbericht von Hild vor dem Rotary Club, Frankfurt a. M., 2.12.1965. 13 Best. 94, Nr. 34, Nr. 72, Nr. 91, Nr. 108; Best. 120, Nr. 3576, Lebenslauf, 9.6.1948. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 171 „idealistischen Vorstellungen vom Krieg […] revidieren“ 14 . In dieser Zeit entstand seine Leidenschaft für die russische Literatur. Während einer kurzen Ruhezeit im Winter 1942 las er „Schuld und Sühne“ von Dostojewski und war tief beeindruckt. Im Herbst 1943 wurde Hild zur vierten Fallschirmjägerdivision nach Italien versetzt. Dort wurde er als Batteriechef mehrfach verwundet. In dieser Zeit trat er dem Bund Christlicher Offiziere bei, geleitet durch den Grafen Kanitz. Der Graf gab in Celle „Sternbriefe“ heraus, aus denen Hild nach eigener Einschätzung geistig großen Gewinn zog. Bei einer Verschüttung zog sich Hild im Sommer 1944 eine schwere Gehirnerschütterung zu, die ihn fast ein halbes Jahr ins Lazarett brachte. Nach der Genesung übertrug man ihm im November 1944 die Aufstellung einer Artillerie-Abteilung, die er fortan als Kommandeur führte. Zu seiner Hochzeit erhielt er am Jahresende Heimaturlaub. Seine Braut Hildegard Hesse hatte er bereits im Juni 1940 in Dortmund kennen gelernt. Sie stammte aus einer Kaufmannsfamilie in Schwerte und arbeitete damals als Grafikerin; eigentlich war sie von Beruf Volksschullehrerin. Ende April 1945 wurde Hild durch eine Abteilung südafrikanischer Panzereinheiten in der Nähe von Vicenza gefangen genommen und wegen eines Streifschusses zunächst für einen Monat in ein Lazarett verbracht. Anschließend befand er sich bis Ende Juli 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft 15 . In einem der letzten Briefe, die ihn von seiner Ehefrau erreichten, erfuhr er, dass sie ein Kind erwartete. Hild selbst hatte damals das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen: „Ich hatte nichts und konnte nichts, fast nichts ausser dem Handwerk, das ich jetzt sieben Jahre betrieben hatte. Seelisch herrschte eine grosse Leere. Die nationalen Ideale waren längst zerbrochen, die humanistischen von der Wirklichkeit Lügen gestraft. Der Schmerz der Ohnmacht und Enttäuschung, das langsam keimende Gefühl der Schuld bohrten in der Brust“ 16 . In Livorno schloss er sich der von Pfarrer Hermann Diem geleiteten evangelischen Lagergemeinde an - zunächst nur, weil er als Pfarrerssohn dort eine gute Gemeinschaft vermutete. Nach eigener Wahrnehmung wurde ihm jetzt zum ersten Mal die Kraft des Glaubens an Christus deutlich, so dass langsam der Entschluss in ihm reifte, Pfarrer zu werden. Im Sommer 1945 wurde Hild aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Er zog zu seinen Eltern nach Löhnberg, wo seine Ehefrau Hildegard bereits während des Krieges untergekommen war. Im Herbst wurde der Sohn Klaus geboren. 14 Best. 94, Nr. 231, Lebensbericht von Hild vor dem Rotary Club, Frankfurt a. M., 2.12.1965. 15 Best. 94, Nr. 108, Nr. 69, Nr. 102, Nr. 60, Nr. 231, Nr. 1, Nr. 91; Best. 120, Nr. 3576, Nr. 2891. 16 Best. 94, Nr. 231, Lebensbericht von Hild vor dem Rotary Club, Frankfurt a. M., 2.12.1965. 172 Ute Dieckhoff Der Entschluss, Pfarrer zu werden, bestimmte nun den weiteren Lebensweg Helmut Hilds. Er begann an der Universität Marburg mit dem Studium der Theologie. Da er allerdings noch an den Folgen einer Verwundung und unter der schlechten Ernährung litt, musste er das Studium zeitweilig für Monate unterbrechen. Inhaltlich war er anfangs enttäuscht, da die Lehrveranstaltungen in vielem an Vorkriegsstandards anschlossen 17 . Im dritten Semester trat dann allerdings nach dem Besuch eines Kollegs bei Rudolf Bultmann ein Umschwung ein 18 . Die Wochenenden verbrachte Hild meist bei seiner Familie in Löhnberg. Er unterstützte den Vater bei der Arbeit für das Evangelische Hilfswerk der Inneren Mission, half bei der Durchführung Evangelischer Männerabende, leitete die Jungmännerarbeit und hospitierte beim Kindergottesdienst. Im Frühjahr 1948 wurde der zweite Sohn Martin geboren. Nach wie vor kamen Helmuts Eltern überwiegend für den Unterhalt der gesamten Familie auf. Obwohl Hild nach dem Abschluss des Studiums gern promoviert hätte, musste dieser Gedanke aus äußeren Gründen aufgegeben werden. Im Herbst 1949 legte er die Erste Theologische Prüfung in Herborn ab. Es folgte der Besuch des Theologischen Seminars Herborn, an den sich von April bis September 1950 ein halbjähriges Lehrvikariat in Limburg bei Pfarrer Ernst Friedrich (Fritz) Chun anschloss. Da das Pfarrhaus mit 13 Personen restlos überbelegt war, wurde Pfarramtskandidat Hild bei einem älteren Ehepaar in der Stadt einquartiert. Das Mittag- und Abendessen nahm er im monatlichen Wechsel bei Pfarrer Chun und bei Pfarrer Hermann Idelberger ein. Die Tagebucheinträge weisen darauf hin, dass es dem Pfarrerssohn Hild leichtfiel, sich in das Pfarrhausleben einzufügen 19 . Von November 1950 bis März 1951 folgte abschließend der Besuch des Theologischen Seminars Friedberg. Die Professoren beurteilten Helmut Hild als ruhigen, reifen und gesammelten Menschen, vorzüglichen Katecheten, guten Prediger und ernsthaften Theologen, der nichts ungeprüft übernehme. Im Juli legte er seine zweite Theologische Prüfung in Wiesbaden ab. Das Thema „Krieg“ war für ihn nicht abgeschlossen, es beschäftigte ihn nach wie vor - auch theologisch. Eine seiner Hausarbeiten für die zweite Theologische Prüfung trug den Titel „Die Wertung des Krieges im Alten Testament“ 20 . Propst Karl Herbert ordinierte Helmut Hild am 12. August 1951. Da er in Westerburg als Pfarrverwalter angestellt wurde, konnte er nun endlich mit seiner Familie zusammenziehen. Zu der Kreisstadt gehörten kirchlich noch drei vorwiegend evangelische und 14 katholisch bestimmte Dörfer. Die Gemeinde- 17 Best. 94, Nr. 60, Nr. 231, Nr. 70; Best. 120, Nr. 3576. 18 Best. 94, Nr. 231, Lebensbericht von Hild vor dem Rotary Club, Frankfurt a. M., 2.12.1965. 19 Best. 120, Nr. 3576, Nr. 2891; Best. 94, Nr. 231. 20 Best. 120, Nr. 2891, Nr. 3576. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 173 glieder erwarteten von ihrem neuen Pfarrer vor allem einen Schwerpunkt in der Seelsorge. Hild übernahm auch die Geschäftsführung des Landesverbandes für Kindergottesdienst in Nassau. In Westerburg lernte Hild Wolfgang Sucker kennen, bei dem seine Frau Hildegard in den dreißiger Jahren als Studentin des Pädagogischen Instituts in Lauenburg/ Pommern studiert hatte. Aus dieser Bekanntschaft entwickelte sich bald eine Freundschaft und ein enges Verhältnis zum Evangelischen Bund. Zum 1. August 1954 wurde Helmut Hild zum Pfarrer auf Lebenszeit ernannt und Inhaber der Pfarrstelle Westerburg. Im Laufe seiner Dienstzeit dort wurde allerdings der Wunsch nach Veränderung stärker. Hild wechselte im Frühjahr 1957 auf die zweite Pfarrstelle in Frankfurt-Unterliederbach. Hier wirkte er nun drei Jahre lang mit seinem ehemaligen Lehrpfarrer Chun zusammen, der ebenfalls nach Unterliederbach gewechselt war. In dem Höchster Vorort arbeiteten die Bewohner überwiegend in den nahegelegenen Farbwerken; Hild entwickelte in diesem Umfeld ein besonderes Interesse für die Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft - auch dieser Themenkomplex begleitete ihn weiterhin 21 . 1960 errichtete die EKHN ein Pfarramt für Öffentlichkeitsarbeit bei den Dekanaten in Frankfurt a. M. - zunächst für die Dauer von sechs Jahren. Helmut Hild bewarb sich als einziger und wurde von der Kirchenleitung mit dem Aufbau und der Verwaltung der neuen Pfarrstelle beauftragt. Den Schwerpunkt seiner Arbeit setzte er in den Ausbau des Informationswesens für die Öffentlichkeit, für die Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen, besonders beschäftigte ihn das Problem der kirchlichen Werbung. Daneben bemühte er sich verstärkt um Kontakte der Kirche mit Institutionen und Verbänden im politischen, sozialen und kulturellen Bereich, er suchte regelmäßig das Gespräch mit den politischen Parteien. Außerdem arbeitete Hild in Rundfunk und Fernsehen mit. 1961 absolvierte er hierfür ein halbjähriges Volontariat im Fernsehen des Hessischen Rundfunks. Hild war einer der Mitinitiatoren der Evangelischen Telefonseelsorge, des Frankfurter evangelischen Kulturgesprächs und der täglichen Kurzandachten in der Katharinenkirche. Er nahm an zahlreichen ökumenischen Tagungen des World Council of Christian Education teil. Zudem war er für die Zusammenarbeit mit den katholischen Institutionen im Stadtbereich Frankfurt zuständig 22 . 21 Best. 120, Nr. 2891; Best. 94, Nr. 231, Nr. 1, Nr. 253; Zentralarchiv der EKHN, Best. 155, Kirchenverwaltung der EKHN, Nr. 169. 22 Best. 155, Nr. 3563; Best. 94, Nr. 231, Nr. 253; Verhandlungen der Kirchensynode der EKHN, 4. Kirchensynode, 4. Tagung, 1969, 154 f. Im Folgenden werden die Verhandlungen der Kirchensynode abgekürzt mit „KS EKHN, KS, Tag.“ 174 Ute Dieckhoff 1964 erkrankte der Vorsitzende des Evangelischen Gemeindeverbandes Frankfurt, Pfarrer Arthur Zickmann, schwer. Zum Nachfolger wählte der Gemeindeverband Helmut Hild. Die neue Tätigkeit kam überraschend für ihn, er nahm sie allerdings mit wachsendem Interesse wahr und sah vor allem die Möglichkeit, „manche Erkenntnisse der früheren Arbeit in die Tat umzusetzen, weil der Einsatz von Geld mitunter leichter Strukturen verändert als alle theoretische Einsicht“ 23 . Das Amt des Vorsitzenden galt formal als Nebenamt, Hild wurde daher zugleich Pfarrer an der Luthergemeinde in Frankfurt, erhielt aber keinen eigenen Seelsorgebezirk. Er setzte sich in seinem neuen Tätigkeitsfeld besonders mit den Problemen der Gemeindestruktur in der Großstadt auseinander und begann mit Kooperationsmodellen im Nordweststadtbereich. 1968 wurde Hild in die Vierte Kirchensynode der EKHN gewählt und zum Mitglied des Finanzausschusses bestellt. Ende des Jahres verstarb ganz plötzlich Kirchenpräsident Wolfgang Sucker, der sich in seinem Amt sehr viel zugemutet hatte 24 . Die Kirchensynode wählte Helmut Hild im März 1969 nach fünf Stunden Debatte im dritten Wahlgang mit einer Mehrheit von 86 Stimmen zum Kirchenpräsidenten 25 . Hilds Vorstellungsrede galt dem Thema „Das Für und Wider kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit“ 26 . Er war zu diesem Zeitpunkt über die Grenzen Frankfurts hinaus kaum einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und galt weder als „Rechter“ noch als „Linker“. Als Öffentlichkeitspfarrer mit den Medien vertraut, gab er im Mai 1969 mehrere Interviews, in denen er als Mann der Mitte auftrat und gleichzeitig einen Generationenwechsel ankündigte. So berichtete der „Andreas-Bote“ in Frankfurt-Eschersheim: „Nach Martin Niemöller und Wolfgang Sucker nun Helmut Hild - heißt das soviel wie nach ‚links von der Mitte‘ und ‚rechts von der Mitte‘ nun die Mitte schlechthin? […]. Seine Rede strahlt nichts aus von pastoraler Würde, nichts von professoraler Belehrung. 23 Best. 94, Nr. 231, Lebensbericht von Hild vor dem Rotary Club, Frankfurt a. M., 2.12.1965. 24 Best. 94, Nr. 253. Suckers Tod war für Hild eine Mahnung, mit seinen eigenen Kräften hauszuhalten (Best. 94, Nr. 22). Hild wurde selbst immer wieder von Krankheiten geplagt und benötigte Kuraufenthalte, nicht zuletzt, weil auch ihm sein Amt physisch und psychisch viel abverlangte (Best. 94, Nr. 41, Nr. 68, Nr. 25, Nr. 46, Nr. 27, Nr. 23, Nr. 70). 25 Best. 120, Nr. 2891; Best. 94, Nr. 168. Mit Hild kandidierten OKR Dr. Karl Herbert und Professor Dr. D. Dieter Stoodt aus Herborn sowie auf einen Vorschlag aus dem Plenum hin Propst Rainer Schmidt. Herbert war von 1950-1964 Propst für Nord-Nassau und seit 1965 stellvertretender Kirchenpräsident der EKHN. Stoodt hatte 1959 das Frankfurter Theologische Konvikt mitbegründet und war von 1964 an Professor am Theologischen Seminar in Herborn. Rainer Schmidt, seit 1955 Pfarrer in Buchschlag, war auf der Synode frisch zum Propst von Süd-Starkenburg gewählt worden (KS EKHN, 4. KS, 3. Tag., 1969, 29 ff.; Zentralarchiv der EKHN, Best. 287, Dokumentation zur Geschichte der EKHN [Personen]). 26 KS EKHN, 4. KS, 3. Tag., 1969, 20. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 175 Der Ton ist kühl, sachlich, nüchtern. […] Der hochgewachsene Kirchenmann könnte durchaus Wirtschaftsmanager sein, Public-Relations-Beauftragter eines weltlichen Verbandes“ 27 . Hild bewährte sich als Kirchenpräsident. Am 1. November 1976 bestätigte die Fünfte Kirchensynode ihn für weitere acht Jahre im Amt. 181 von 196 Synodalen stimmten mit „Ja“, also 92 Prozent, acht enthielten sich und nur sieben stimmten gegen ihn. Er reagierte dennoch sehr bescheiden, indem er darauf verwies, dass man in einem solchen Amt nicht daran vorbeikomme, „Fehler zu machen und ins Zwielicht zu geraten“ 28 . Neben seinem Amt als Kirchenpräsident nahm Hild noch Funktionen in verschiedenen Gremien der EKD wahr. Von 1971 bis 1977 war er Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags, anschließend bis 1980 Mitglied in dessen Präsidialversammlung. Eine Kandidatur für den Vorsitz im Evangelischen Bibelwerk lehnte er mit dem Hinweis auf seine ständige Zeitnot 1972 ab 29 . Die Wahl zum stellvertretenden EKD-Ratsvorsitzenden 1973 nahm er zwar an, kommentierte dies aber innerhalb der Familie mit der Feststellung: „ein Amt, das neue Aufgaben und Lasten mit sich bringt. Aber einer unter den Kirchenpräsidenten und Bischöfen muß es ja machen“ 30 . Innerhalb der EKD genoss seine Amtsführung mit klaren theologischen Stellungnahmen, einem hohen Integrationswillen und einer klaren Haltung allgemeinen Respekt und Anerkennung 31 . Bereits zwei Jahre vor Ablauf seiner zweiten Amtszeit als Kirchenpräsident erklärte Hild allerdings gegenüber dem Kirchensynodalvorstand, dass er nicht mehr für eine weitere Kandidatur zur Verfügung stehe. Gegenüber dem Heidelberger Theologen Edmund Schlink gab Hild vor allem die Kluft der Generationen als Begründung für diese Haltung an: „diejenigen Pfarrer, die den Krieg noch miterlebt haben, mußten existentielle Erfahrungen mit Schuld, Leiden und Tod sammeln, die sie aufgeschlossen machten für die zentralen Aussagen 27 Best. 94, Nr. 168, Horst Schreitter-Schwarzenfeld, Art. „Kein Rechter und kein Linker, sondern Moderator“, Andreas-Bote. Frankfurt-Eschersheim, Mai 1969. Auch in der Leitung der Kirchensynode vollzog sich ein Wechsel. 1969 legte der langjährige Präses Hans Wilhelmi sein Amt im Alter von 70 Jahren aus gesundheitlichen Gründen nieder. Wilhelmis Nachfolger wurde der Jurist Dr. Otto Rudolf Kissel. Nach viereinhalb Jahren wurde Kissel 1974 als Präses bestätigt (KS EKHN, 4. KS, 4. Tag., 1969, 44-48, 59; KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 27). 28 KS EKHN, 5. KS, 6. Tag., 1976, 30. 29 Biografische Notizen, in: Hild, Helmut: Die Welt braucht Frieden - den nächsten Krieg gewinnt der Tod. Kirchliche Verantwortung für praktische Friedensfragen. Vier Reden, Stuttgart 1983, 95; Best. 94, Nr. 25. 30 Best. 94, Nr. 85, Schreiben von Hild, 10.7.1973. 31 Kissel, KS EKHN, 5. KS, 6. Tag., 1976, 28. 176 Ute Dieckhoff des Evangeliums und folgerichtig dazu führten, der Verkündigung und der biblischen Lehre Priorität vor allen anderen Inanspruchnahmen zu geben. Der Nachkriegsgeneration fehlen diese Erfahrungen. […] Ich sehe mit sehr großer Sorge, wie sich eine neue Gesetzlichkeit unter den Theologen ausbreitet“ 32 . Hilds Amtszeit als Kirchenpräsident endete zum 23. März 1985. Auf eigenen Wunsch gehörte er auch der Kirchensynode anschließend nicht mehr an. Helmut Hild verstarb am 11. September 1999 nach längerer schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren in Darmstadt 33 . Vergleicht man das Ende von Hilds Amtszeit als Kirchenpräsident mit deren Beginn, ergibt sich ein deutlicher Unterschied. Während der über sechzigjährige Hild sich für die Kirche „theologisch mehr Tiefgang“ 34 wünschte, signalisierte der Endvierziger der Öffentlichkeit seinen Amtsantritt als sichtbaren Einschnitt gegenüber seinen Vorgängern, indem er einen aufgeschlossenen neuen Führungsstil mit Diskussionsbereitschaft propagierte. Er setzte dies in seinen Berichten vor der Kirchensynode fort, „nüchtern und zugleich selbstbewußt, ohne Beschönigungen und Selbstverteidigung wird die Situation der Kirche untersucht, werden die theologischen und strukturellen Mängel bloßgelegt und dabei die entscheidenden Fragen herausdestilliert“ 35 . In seiner Zeit als Kirchenpräsident musste Hild sich allerdings mit zahlreichen Konfliktfällen auseinandersetzen, die ihn schwer belasteten. Im Zentrum sollen hier diejenigen Probleme stehen, die in der Öffentlichkeit über die mediale Vermittlung am stärksten wahrgenommen wurden. Sie zeigen zugleich, wie Hilds zunächst eher positives Verhältnis zu den Medien brüchiger wurde. Bevor diese Auseinandersetzungen hier näher dargestellt werden, sollen seine theologischen Grundsätze angesprochen werden. Denn daraus ergibt sich Hilds Stellung zum Verhältnis von Kirche zu den politischen Ereignissen seiner Gegenwart. 2. Die Gegenwart als Zeit des permanenten Umbruchs In den 1960er und 1970er Jahren ließ sich nicht nur in der EKHN, sondern in den evangelischen Kirchen überhaupt eine Tendenz wahrnehmen, sich stärker der Gesellschaft zuzuwenden. Dieser Vorgang wird auch mit dem nicht unumstrittenen Begriff der „Säkularisierung“ der Arbeitsfelder der Kirche sowie der 32 Best. 94, Nr. 124, Schreiben von Hild, 11.4.1983. 33 Kissel, KS EKHN, 6. KS, 11. Tag., 1985, 121; Best. 120, Nr. 2891. 34 Best. 94, Nr. 124, Schreiben von Hild, 11.4.1983. 35 Best. 155, Nr. 169, René Leudesdorff, Prioritäten für die Kirche. Bericht von der Hessen-Nassauischen Kirchensynode, gesendet im Hessischen Rundfunk, 1970. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 177 „Politisierung“ der Kirche beschrieben 36 . Hild stand diesen Transformationsprozessen eher pessimistisch gegenüber 37 . Er sah die moderne Gesellschaft einem rasanten und permanentem Umbruch unterworfen, der auch an der Kirche nicht vorbeigehe. Diesen Einschnitt verglich er mit dem in der historischen Forschung ebenfalls stark diskutierten Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hild griff in diesem Zusammenhang mehrfach ein Zitat aus Shakespeares Hamlet auf, worin dieser Umbruch mit dem anschaulichen Satz charakterisiert wird: „Die Welt ist aus den Fugen“ 38 . In der modernen Naturwissenschaft habe man entdeckt, dass der Mensch auch mit den besten wissenschaftlichen Methoden die Natur nie in ihrer Wirklichkeit fassen, sondern diese immer nur so wahrnehmen könne, wie sie sich in der Beziehung zu ihm stelle. Damit gebe es keine ein für alle Mal gültige Erkenntnis 39 . Für Hild bestätigte sich damit die Aussage des Apostels Paulus in 1 Kor 13: „Unser Wissen ist Stückwerk und unsere Prophetie ist Stückwerk“ 40 . Bei diesen Feststellungen handelt es sich um Fragen der Aufklärung, die bereits in der Theorie der Frankfurter Schule wieder aufgegriffen und in ihren Folgen für die Gegenwart untersucht wurden: „die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ 41 . Durch den Fortschritt in den Naturwissenschaften und in der Technik drohten nach Hilds Auffassung unvergleichlich größere Katastrophen als dies je zuvor der Fall war. Die Schöpfungsgeschichte könne im Hinblick auf die Erde und 36 Vgl. hierzu Sebastian Tripp, Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970-1990 (Geschichte der Religion in der Neuzeit, 6). Göttingen 2015, insbesondere mit weiterführender Literatur sowie der Problematisierung des Begriffs „Politisierung“, 12-13. 37 Der Kirchenzeithistoriker Harry Oelke kennzeichnet Helmut Hild als den typischen Vertreter der um 1925 geborenen „skeptischen“ oder als „Flakhelfer“ bezeichneten Generation (Oelke, Harry: Westdeutsche Kirchengeschichte 1945-1989, in: Kunter, Katharina / Schjørring, Jens Holger [Hrsg.]: Europäisches und Globales Christentum. Herausforderungen und Transformationen im 20. Jahrhundert. Göttingen 2011, 171-202, hier 191). 38 Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 188; Best. 94, Nr. 47; Hild, Helmut: Die Bergpredigt - Wegweisung in unserer Zeit, in: Ders.: Brücken schlagen. Theologische Beiträge zu Fragen unserer Zeit, Göttingen 1981, 9-23, hier 17; Hild, KS EKHN, 4. KS, 9. Tag., 1971, 212. Vgl. Hild, KS EKHN, 6. KS, 11. Tag., 1985, 18; Hild, KS EKHN, 9. Tag., 1971, 212, oder Hild, „Persönliche Erfahrungen mit der Demokratie“, 15.11.1985 (Best. 94, Nr. 325). 39 Best. 94, Nr. 320, Nr. 233. 40 Best. 94, Nr. 325, Helmut Hild, Die Aufgaben der Kirche heute. Referat für die Dekanatssynoden in Wiesbaden, 6.2.1985, und Gießen, 8.2.1985. 41 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Leipzig 1989, 40. 178 Ute Dieckhoff die Menschen rückgängig gemacht werden 42 : „Wenn wir uns die militärischen Ergebnisse der Atomforschung oder die strategische Bedeutung des Wettkampfes um den Weltraum klar machen, begreifen wir: In diesem Boot sitzt die ganze Menschheit 43 . Gleichzeitig klaffe zwischen der technisch-militärischen und der ökonomischen Entwicklung einerseits und der politischen Organisation der Welt andererseits ein Graben, der sich ständig verbreitere. Solange die Hälfte der Weltbevölkerung dem Hunger ausgeliefert sei, habe der Frieden keine Chance. Er hielt es deswegen für die wesentliche politische Aufgabe dieser Zeit, den Hunger in der Welt zu überwinden 44 . Hild folgerte: Der Kirche erwüchsen hieraus zwei bedeutende Aufgaben. Zum einen sollte sie der bedrohten angsterfüllten Welt ein Zeugnis der unbedingten Hoffnung geben. Im Evangelium sah Hild die Botschaft, die Glauben wecken und Handeln hervorrufen wolle: Gott liebe den Menschen und nehme sich seiner an 45 . Hieraus ergab sich für ihn eine Quelle der Kraft: „Wer sich der Zusage ewigen Lebens gewiß ist, der hat Mut zur Zukunft und wird ihn auch nicht sinken lassen, wenn die Lebensumstände widrig sind“ 46 . Zum anderen sollte die Kirche durch eine zeitbezogene Auslegung des biblischen Wortes an der Ausbildung einer Ethik mitwirken, an der sich die Verantwortung der wissenschaftlich-technischen Welt orientieren könne. Kirche müsse nach Kräften dazu beitragen, dass so das rechte Maß für Wissenschaft und Technik gefunden werden könne. Diese würden sich nicht willkürlich beschränken lassen: „Die seit dem Ende des Mittelalters steil aufsteigende Linie der Herrschaft des Menschen über die Natur wird sich krümmen müssen, wenn nicht ein jäher Absturz folgen soll. Auf eine einfache Formel gebracht: Der Mensch kann nicht alles wollen, was er kann“ 47 . Hild war davon überzeugt, dass die von außen an die Kirche herangetragenen Erwartungen immer wachsen würden. Weil der Auftrag der Kirche allen Menschen in allen Lebensbezügen gelte, sei er immer größer als die Möglichkeiten der Kirche. Sie war damit immer genötigt, Schwerpunkte in ihrer Arbeit zu 42 Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 169. Die schlimmste Versuchung bestand für Hild darin, mit den Möglichkeiten der Biochemie und der Gentechnik auf die Erbsubstanz der Menschen selbst einwirken zu wollen (Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 175). 43 Best. 94, Nr. 320, Vortrag von Helmut Hild, Die EKD im Spannungsfeld der Gegenwart, 6.4.1972. 44 Best. 94, Nr. 233, Nr. 18. 45 Hild, Helmut: Das Amt der Versöhnung. Vortrag im Hessischen Rundfunk, Pfingsten 1982, in: Hild, Welt, 79-93, hier 88 f.; Hild, Helmut: Der Atheismus im Lichte des Evangeliums, in: Hild, Brücken schlagen, 158-176, hier 175. 46 Hild, Helmut: Mut zur Zukunft. Evangelische Christen vor der Zukunftsfrage, in: Hild, Verantwortung, 149-165, hier 158. 47 Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 176. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 179 setzen und eine Diskussion um die künftigen Prioritäten zu führen. Die Veränderungen inhaltlicher Art bedingten es, dass Kirche ihre organisatorische Struktur und ihre Arbeitsformen immer wieder der Zeit anpassen und sie reformieren müsse. Kirchenreform wurde damit für Hild zu einem Dauergebot. Ihr Auftrag selbst war allerdings zeitlos, immer derselbe: die Verkündigung der Botschaft Jesu Christi 48 . Der Auftrag der Kirche galt den Menschen in der jeweiligen Zeit und war damit zeitbezogen 49 . Kirche müsse sich darum „dem geschichtlichen Prozeß öffnen und mit aller Konsequenz Kirche der jeweiligen Zeit sein“ 50 . Sie würde damit zu einer dynamischen Größe und könne nur dann ihren Dienst in der Gesellschaft erfüllen, wenn sie die Probleme der Zeit aufnehme und auch in ihren Lebensformen den Zeitverhältnissen gerecht würde. Kirche musste sich nach Hilds Verständnis um der Menschen willen, denen das Interesse Gottes galt, den gesellschaftlichen Fragen stellen, Weltflucht war keine Lösung. Damit konnten die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen an der Kirche nicht vorbeigehen 51 . Trotz aller gegensätzlichen Auffassungen mussten die Christen sich dabei brüderlich zu einander verhalten. Gerade nach den Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus legte Hild ein besonderes Augenmerk auf die Gefahren, „die von dem Geist einer Sprache ausgehen, die nicht mit der Liebe Christi vereinbar ist“ 52 . Er reagierte sehr sensibel auf verbale Entgleisungen und sprach sich vehement gegen die Verwendung der Nomenklatur des sogenannten Dritten Reichs aus 53 . Da die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen nach Hilds Auffassung stärker von der jungen Generation als von älteren Menschen getragen wurden 54 , nahm er zwischen Jung und Alt große Interessengegensätze wahr. Die Kirche müsse dazu beitragen, diese „Gegensätze zu überwinden oder wenigstens ihre Spannungen auszuhalten“ 55 . Kirche selbst lebte für Hild in keinem kritikfreien Raum, sondern sollte erkennen lassen, wozu sie da sei und welche Wahrheit sie vertrete. Wenn sie in einer säkularisierten und pluralstrukturierten Meinungsgesellschaft ihren öffentlichen Auftrag erfüllen und gehört werden wolle, könne sie sich nicht auf allgemeine Aussagen beschränken, sondern müsse konkret 48 Hild, KS EKHN, 4. KS, 12. Tag., 1972, 54; Hild, KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 74; Hild, KS EKHN, 4. KS, 11. Tag., 1971, 105; Hild, KS EKHN, 4. KS, 4. Tag., 1969, 33; Best. 94, Nr. 314. 49 Hild, KS EKHN, 4. KS, 16. Tag., 1973, 135. 50 Hild, Helmut: Der Stellenwert des Politischen im kirchlichen Leben und Handeln, in: Hild, Brücken schlagen, 132-148, hier 139. 51 Best. 94, Nr. 231, Nr. 314, Nr. 91. 52 Best. 94, Nr. 93, Schreiben von Hild, 6.6.1983. 53 Best. 94, Nr. 35. 54 Best. 94, Nr. 66. 55 Hild, Versöhnung. 84. 180 Ute Dieckhoff - und das hieße, unter Parteinahme - reden 56 . Neben der Formulierung der eigenen Position stand allerdings die Aufgabe, sich seinerseits nicht durch eine erstarrte Haltung bestimmen und einengen zu lassen: „Und so sind die, die es mit Pluralität wagen wollen, sehr schnell dem Vorwurf der Unentschiedenheit und des Opportunismus ausgesetzt“ 57 . Der Umgang mit Pluralität müsse gelernt und eingeübt werden. Auch hierbei könne Kirche einen beispielhaften Dienst tun, musste doch auch die Gemeinschaft der Menschen „als gottgegebene Verschiedenheit begriffen und als versöhnte Vielfalt gelebt werden“ 58 . Der Kirche kam nach Hilds Auffassung die Funktion eines Wächteramts zu, er betrachtete sie als „Partner im Konzert dieser Gesellschaft“ 59 . Sie musste dabei aber um ihres Dienstes willen bereit dazu sein, sich selbst aufs Spiel zu setzen, durfte sich selbst nicht als obersten Wert bestimmen. Hild sah die christlichen Gemeinden von der zunehmenden Säkularisation zwar bedrängt, war jedoch zutiefst davon überzeugt, dass deren Existenz nicht grundlegend bedroht sei und dass gerade die gegenwärtige Zeit den christlichen Glauben benötige 60 . So wies Hild 1971 entschieden eine These des bayerischen Landesbischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Hermann Dietzfelbinger zurück, der die Kirche in der Gegenwart in einem Glaubenskampf sah, gegenüber dem der Kirchenkampf in der Zeit des Nationalsozialismus nur ein Vorhutgefecht gewesen sei. Nach Hilds Ansicht befand man sich weder in einem Glaubenskampf noch in bloßen zeitbedingten Schwierigkeiten: „Der Weg der Kirche führt in einer so entscheidungsgeladenen Zeit über einen schmalen Grat, auf dem ein Sturz in den Abgrund einer sterilen Orthodoxie ohne Bezug auf die brennenden Probleme der Gegenwart ebenso droht wie der Sturz in den Abgrund einer puren Anpassung unter Aufgabe der Substanz“ 61 . Für Hild war es daher konsequent, die Rolle der Kirche in der Gesellschaft auch wissenschaftlich zu untersuchen. Er gab für die EKHN zusammen mit der EKD, dem Evangelischen Gemeindeverband Frankfurt/ Main beziehungsweise 56 Best. 94, Nr. 70, Nr. 54. 57 Best. 94, Nr. 235, Bericht von Hild bei der Dekanekonferenz in Arnoldshain, 14.10.1980. 58 Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 215. 59 Hild, KS EKHN, 4. KS, 5. Tag., 1970, 112. Zu den Wurzeln dieser kirchlichen Haltung nach 1945 vgl. Oelke, Kirchengeschichte, 182. 60 Hild, KS EKHN, 4. KS, 3. Tag., 1969; Best. 94, Nr. 34. Hild hielt die Reformation selbst für den Ursprung der Säkularisation: „Sie versteht den Glauben wieder als persönliche Beziehung zu Gott, in welcher der Mensch zu sich selbst findet und zur wahren Freiheit durchdringt. Damit bricht sie der individuellen Entfaltung des Menschen neue Bahn. Der Mensch ist nicht mehr allein auf das Haus angewiesen, das sein Erbe enthält. Er kann sein eigenes Denkgebäude errichten. Wenn er will, sogar ohne Gott“ (Hild, Helmut: Das Bekenntnis der Kirche und die Konfessionen, in: Hild, Brücken schlagen, 24-44, hier 38). 61 Hild, KS EKHN, 4. KS, 9. Tag., 1971, 220; vgl. 213. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 181 der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zwei Umfragen in Auftrag, die 1974 und 1984 veröffentlicht wurden: „Wie stabil ist die Kirche? “ und „Was wird aus der Kirche? “ 62 . Obwohl die Kirche große Probleme lösen musste, entschied sich ihr Weg für Hild letztlich nicht daran, ob man Angst habe oder mutig sei, auch nicht einmal daran, ob man fleißige Hände einsetze und guten Willen mitbringe: „Das alles ist ungeheuer wichtig, aber der Weg der Kirche ist der Weg ihres Herrn, und der sagt: ‚Siehe, ich mache alles neu! ‘ Darauf dürfen wir bauen in allem was wir tun“ 63 . 3. Die Stellung der Kirche zu Staat und Öffentlichkeit, Politik und Demokratie Helmut Hild befürwortete grundsätzlich ein offenes und eher partnerschaftliches Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Sie seien zwar in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich voneinander getrennt, die Bürger des demokratischen Staates seien aber zugleich auch die Glieder der Kirche. Allein schon um der demokratischen Rechte ihrer Mitglieder willen dürfe sich Kirche nicht in das Schneckenhaus privater Religion zurückziehen 64 . Während die Kirche für Thomas von Aquin noch das Idealbild einer perfekten Gesellschaft gewesen sei, konnte sie für den Protestanten Hild nur noch eine geschichtliche Größe darstellen, die als Vereinigung von Menschen stets einem Entwicklungsprozess unterlag 65 : „Die Kirche glich immer und wird bis zum Ende der Zeiten dem sinkenden Petrus gleichen, der sich aus eigener Kraft nicht über Wasser halten kann. Denn in der Kirche sind nur Menschen am Werk, die die Fülle Christi täglich in Anspruch nehmen müssen, um in sie hinein Schuld und Versagen abzuladen und aus ihr heraus Kraft zum Leben und zum Handeln zu nehmen, und eben das macht ihre Gemeinschaft zur Kirche“ 66 . Die Reformation hatte das Verhältnis zwischen Mensch und Gott allein durch den Glauben begründet. Damit stand der Mensch für Hild auch in seinem Verhältnis zur Welt nicht unter einer Vormundschaft der Kirche, sondern trat ihr selbstän- 62 Hild, Helmut (Hg.): Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsbefragung. Gelnhausen, Berlin 1974; Hanselmann, Johannes / Hild, Helmut / Lohse, Eduard (Hrsg.): Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1984. 63 Hild, KS EKHN, 4. KS, 9. Tag., 1971, 225. 64 Hild, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 83; Hild, Helmut: Partnerschaft und Freiheit. Zum Verhältnis von Kirche und Staat, in: Hild, Verantwortung, 81-95, hier 82. 65 Hild, Helmut: Protestantismus - seine Verantwortung für morgen, in: Hild, Brücken schlagen, 53-72, hier 61; Hild, KS EKHN, 4. KS, 12. Tag., 1972, 47. 66 Hild, KS EKHN, 4. KS, 12. Tag., 1972, 46. 182 Ute Dieckhoff dig gegenüber. Weltliche Institutionen und Traditionen waren für Hild gleichfalls überprüfbar: „Auch sie müssen sich an den Einsichten messen lassen, die aus dem Evangelium gewonnen werden, und können kritisiert, verändert und gegebenenfalls auch abgeschafft werden“ 67 . Auch die Institution Kirche stand nach Hilds Auffassung unter der Kritik des Evangeliums; nur das Evangelium selbst war „die einzige Autorität von absolutem Charakter“ 68 . Die individuelle Existenz des Menschen in der Zeit war für Hild nicht von dessen gesellschaftlicher Existenz zu trennen. Damit konnte der kirchliche Auftrag zum Dienst am Menschen keinen Unterschied zwischen dem irdischen und dem geistlichen menschlichen Leben machen. Das persönliche Schicksal des Einzelnen hänge stark von den politischen Bedingungen, den sozialen Strukturen sowie den Arbeits- und Bildungschancen ab. Nächstenliebe führe damit zwingend zur politischen Verantwortung 69 und werde „nicht nur im Umgang von Mensch zu Mensch realisiert, sondern sie findet ihren Niederschlag auch im Feld der Bemühungen um die Gesellschaft, um ihre Strukturen, Gesetze und Verhaltensweisen - und eben dies alles ist im Bereich der politischen Verantwortung anzusiedeln“ 70 . Politische Verantwortung war für Hild somit eine abgeleitete Aufgabe der Kirche, resultierend aus der zentralen Pflicht zur Verkündigung des Evangeliums 71 . Hild entwickelte das Erbe der Bekennenden Kirche damit gedanklich weiter. Der kirchliche Auftrag ging für ihn über die Verkündigung und die Seelsorge hinaus, die Kirche musste in der Gesellschaft wirksam werden. Es gehörte auch in einer Demokratie zur Verantwortung jedes Christen, als mündiger Bürger die politischen Entscheidungen geistlich zu prüfen: „Politisches Engagement ist keine Privatbeschäftigung, der man nachgehen, die man aber auch lassen kann, sondern Christenpflicht“ 72 . Kirche sollte nach Hild die Mündigkeit des Einzelnen und mit ihr die Entwicklung der Demokratie fördern. Mit der Aufgabe, politisch Stellung zu beziehen, geriet die Kirche allerdings in ein Feld voller Konflikte. Hild nahm wahr, dass zahlreiche Menschen von der Kirche erwarten würden, akute Missstände zu beseitigen und den Schwachen zu helfen, gestanden ihr aber nicht zu, politische Aktivitäten auszuüben und den Problemen an die Wurzel zu gehen. Dies werde 67 Hild, Protestantismus, 64. 68 Best. 94, Nr. 18, Antworten von Hild auf 10 Fragen, 1969. 69 Hild, KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 73; Best. 94, Nr. 325. 70 Best. 94, Nr. 40, Schreiben von Hild, 10.10.1977. 71 Hild, Helmut: Kirche im demokratischen Staat. Das Bekenntnis von Barmen und wir, in: Hild, Verantwortung 59-79, hier 74. „Wer meint, dieser Dienst habe hinter der Bewältigung aktueller Probleme - und seien sie noch so schwerwiegend - zurückzutreten, hat das Wesen der Kirche nicht verstanden“ (ebd.). 72 Best. 94, Nr. 238, Vortrag von Helmut Hild, Gefährdet politisches Engagement die Stabilität der Kirche? , 6.9.1986. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 183 häufig mit der Ansicht verbunden, dass Politik die Kirche nichts angehe und dass Christus keine Politik betrieben habe. Diesen Standpunkt habe auch die marxistische Ideologie eingenommen, welche die Religion strikt zur Privatsache erklärt habe. Hild hielt dem jedoch entgegen, dass Christus seine Gemeinde für die Mitmenschen verantwortlich gemacht habe 73 : „Das Christentum würde sich selbst verfehlen, wenn es nicht auf politische Veränderungen in dieser Welt zur Verbesserung und Humanisierung der Lebensbedingungen drängte“ 74 . Die Hinwendung zum Menschen als Individuum und als Gemeinschaftswesen machte für Hild das Ganze des kirchlichen Auftrags aus, es galt dem individuellen Menschen, wie dessen gesellschaftlicher Existenz, in seiner geistigen, seelischen und körperlichen Not: „Darum ist, auch wenn es völlig ungewohnt, vielleicht sogar schockierend klingt, eine unparteiische Kirche im Raum des Politischen ebenso wenig denkbar wie eine wertneutrale Kirche auf dem Gebiet der Weltanschauungen und Religionen“ 75 . Der Dienst der Kirche sei nicht nur Dienst am Menschen, sondern habe einen doppelten Bezug, er sei auch Dienst für Gott: „Davon können wir uns auch nichts abmarkten lassen; weder durch politische Forderungen, die die Kirche auf eine Kultfunktion und die Beschäftigung mit der frommen Innerlichkeit beschränken möchten, noch durch theologische Engführungen, die den Dienst der Kirche allein unter dem gesellschaftspolitischen Aspekt sehen“ 76 . Für die innerhalb der Kirche ebenfalls notwendige Entwicklung hielt Hild den häufig verwendeten Begriff der „Demokratisierung“ jedoch für unglücklich, wenngleich die Forderung selbst inhaltlich richtig sei. Das Evangelium ermögliche demokratische Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche, weil es auf einen gemeinsamen Grund verbinde, so dass man „brüderlich streitend“ die besten Lösungen suchen könne. Einzig das Evangelium könne sich nicht „demokratischen Entscheidungen“ unterwerfen 77 . Hieraus ergaben sich für Hild ein inhaltlicher sowie ein struktureller Unterschied zwischen Kirche und einer demokratischen Gesellschaft. Obwohl Kirche auf der Gemeinde aufbaue und ihre Meinungs- und Entscheidungsbildungen in demokratischer Form verwirkliche, verkörpere sie nicht die Demokratie: „Die Demokratie ist am Ausgleich unterschiedlicher Interessen orientiert, die Kirche an ihrem Auftrag. In diesem Auftrag ist sie nicht selbstbestimmt, sondern an das Wort Gottes gebunden. Kirchlicher Dienst ist ein Zeugnis von der Liebe und 73 Best. 94, Nr. 18, Nr. 238, Nr. 325, Nr. 69; Hild, KS EKHN, 4. KS, 15. Tag., 1973, 23; Hild, KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 89. 74 Best. 94, Nr. 18, Antworten von Hild auf 10 Fragen, 1969. 75 Hild, Stellenwert, 144; vgl. auch 138. 76 Hild, KS EKHN, 4. KS, 15. Tag., 1973, 20. 77 Best. 94, Nr. 231, Nr. 18; Hild, KS EKHN, 4. KS, 4. Tag., 1969, 34. 184 Ute Dieckhoff dem Vertrauen, das Gott in die Gemeinde der Glaubenden setzt. Während in der Demokratie dem Vertrauen sachliche Grenzen gezogen sind, weil die Wahrnehmung der Interessen um der Allgemeinheit willen begrenzt werden muß, lebt die Kirche von ständig neuen Impulsen des Vertrauens“ 78 . Aufhalten ließ sich der inhaltlich notwendige Prozess der „Demokratisierung“ innerhalb der Kirche nach Hilds Auffassung nicht, er bringe allerdings auch Veränderungen mit sich, die nicht in allem positiv seien: „Wir sind dabei, aus einer Kirche mit einer brüderlichen Ordnung auf der Basis brüderlicher Zusammenarbeit, und das heißt vertrauensvoller Zusammenarbeit, zu einer Kirche demokratisierter Strukturen zu werden, die, wie es sich für eine Demokratie, in der Interessengegensätze sinnvoll ausgetragen werden müssen, gehört, ganz stark von dem Mißtrauen bestimmt sind, daß bestimmte Interessen gegenüber anderen Interessen mit Macht durchgesetzt werden können“ 79 . Hild stellte aufgrund der zunehmenden Demokratisierung somit gleichzeitig zunehmende Kontrollmechanismen fest. Er wünschte sich stattdessen eine Rückkehr zum Geist einer brüderlichen Kirchenordnung und hielt Vertrauen für besser als Kontrolle. Das hier artikulierte Vertrauen galt auch für die Umsetzung des politischen Auftrags der Kirche nach außen. Sie musste diesen für Hild in dreifacher Form realisieren, indem sie den Abbau von Polarisierungen und Sachlichkeit einfordere, einen angemessenen Umgang der Politiker unter einander verlange und diejenigen, die das politische Geschäft wahrnahmen, persönlich begleite. Der Begriff des „Politischen“ ist bei Hild somit nicht im Sinne der Parteipolitik oder des Parlamentarismus, sondern im Hinblick auf den Menschen als politischem Wesen zu verstehen. Pfarrerinnen und Pfarrer waren für Hild deswegen in ihrem Verkündigungsauftrag zur Parteilichkeit in allen Fragen verpflichtet, die die Menschen und deren Schicksal beträfen. In der gegenwärtigen Demokratie war dies für ihn allerdings zugleich mit der Verpflichtung zur parteipolitischen Neutralität verbunden. Hild verbot eine parteipolitische Bindung von Pfarrern natürlich nicht, mahnte aber zur Zurückhaltung, da der Seelsorger sich nicht bestimmten Klassen verpflichtet fühlen dürfe, sondern die Gemeinschaft und Gemeinsamkeit bewahren müsse. Die Predigt durfte sich für Hild durchaus zu Sachfragen äußern, um unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen und um zu verhindern, dass 78 Hild, KS EKHN, 6. KS, 11. Tag., 1985, 22. 79 Best. 94, Nr. 234, Bericht von Hild bei der Dekanekonferenz am 23.11.1977. Ein falsch verstandener Wille zur Demokratisierung in der Kirche hatte nach Hilds Einschätzung sogar fatale Folgen. Demnach war das für die Kirchenordnung der EKHN so wichtige Vertrauen in den 30 Jahren ihrer Entwicklung schwächer geworden, während das Misstrauen an Gewicht gewonnen habe (Hild, KS EKHN, 5. KS, 10. Tag., 1978, 33). Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 185 diese absolut gesetzt würden 80 . Letztlich ging es in der Predigt jedoch um etwas anderes, nicht um die bürgerliche Freiheit des Pfarrers, zu sagen, was er denke, sondern um die Verkündigung, den kirchlichen Beitrag zum Leben der Menschen: „Wir haben dafür kein anderes Mittel als das zerbrechliche, mißverständliche Wort, in dem sich das Wort Gottes an uns spiegeln soll“ 81 . Da das Evangelium allen Menschen gelte, könne Kirche nicht im programmatischen Sinn Sachwalter von Gruppeninteressen sein wie die Parteien 82 . Zudem machte Hild immer wieder deutlich, dass Christen verschiedene Meinungen über politische Programme und Methoden haben könnten. Die Aufgabe der Kirche sah er deswegen vornehmlich darin, „das Gespräch zwischen den verschiedenen Positionen zu ermöglichen, es weiterzuführen, die Christen immer wieder auf ihre politische Verantwortung anzusprechen, die Situationen aufzuzeigen, in denen Veränderungen notwendig sind, und die politisch Mächtigen an ihre Pflichten zur Veränderung inhumaner Zustände zu erinnern“ 83 . Christus selbst habe sich nicht für bestimmte Aufgaben und Prinzipien, sondern für den Menschen entschieden: „Er ist für jeden einzelnen gestorben und hat jeden einzelnen damit zu einem obersten Wert erklärt und er will, daß sich jeder einzelne in seiner Gemeinde zu Wort melden muß und entwickeln kann“ 84 . Hild warnte vor der Herabsetzung des politischen Gegners durch ein Schwarz- Weiß-Denken, das sich selbst der gerechten Sache verschrieben sehe, die andere Seite aber verteufle. Nach seiner Auffassung konnte man der Realität nur selten gerecht werden, wenn man in vereinfachender Weise Eindeutigkeit und Einhelligkeit fordere. Er war gegen faule Kompromisse, hob aber die Chancen des bewussten Kompromisses hervor. Hild betrachtete Konflikte zugleich als Lernprozesse, die man aushalten und bewältigen müsse. Darüber hinaus sollte Kirche auch inhaltlich ihren eigenen Beitrag leisten und bei politischen Entscheidungen Anstöße aus dem Evangelium beitragen 85 . Der Auftrag der Christen ließ sich für Hild nicht allein auf politische Verantwortung beschränken. Sie werde vielmehr „nur dort recht wahrgenommen […], wo sie sich aus der Botschaft von Kreuz und Auferstehung motiviert“ 86 . 80 Hild, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 15; KS EKHN, 4. KS, 15. Tag., 1973, 127; Best. 94, Nr. 18, Nr. 1, Nr. 7; Hild, Kirche, 75 f. 81 Hild, KS EKHN, 6. KS, 5. Tag., 1982, 27. 82 Hild, Stellenwert, 147. 83 Best. 94, Nr. 18, Antworten von Hild auf 10 Fragen, 1969. 84 Hild, KS EKHN, 4. KS, 10. Tag., 1971, 145. 85 Best. 94, Nr. 15; Hild, KS EKHN, 6. KS, 3. Tag., 1981, 81; Hild, KS EKHN, 4. KS, 15. Tag., 1973, 35; Hild, Helmut: Glaube als Motiv und Maßstab politischer Verantwortung, in: Hild, Helmut: Verantwortung aus Glauben, 13-33, hier 27. 86 Best. 155, Nr. 4355, Schreiben von Hild vom 5.10.1972. 186 Ute Dieckhoff Hild war sich des Zwiespalts bewusst, in den Politiker immer wieder gerieten. Dies galt aber auch für die Kirche selbst, auch sie entspreche nur höchst unvollkommen den Möglichkeiten, die Gott mit dem Evangelium begründet habe. Kirche und Politik müssten sich in ihrer Verantwortung für die Mitmenschen und die Welt immer wieder zwischen dem geringeren und dem größeren Unrecht entscheiden: „Eine weiße Weste hat keiner und behält keiner“ 87 . Aus diesem Wissen heraus vertrat Hild bewusst die Position der Mitte als Position der Vermittlung. Diese Haltung zog jedoch immer wieder Kritik nach sich. Bereits nach dem ersten Bericht des Kirchenpräsidenten vor der Kirchensynode waren einige Synodale unzufrieden. Einer prägte den Spruch: „der Kirchenpräsident steht auch mit jedem Bein fest auf einem anderen Standpunkt“ 88 . Hild hielt dem entgegen, dass die Position der Mitte nicht faul sei. Es sei vielfach leichter als Kirchenpräsident eine eindeutige Position zur Linken oder zur Rechten zu beziehen. Man müsse jedoch den Prozess der Konziliarität oder des Bemühens um Konsens in Gang bringen: „Es geht bei dieser Mittelposition, von der ich nicht bestreite, daß sie auch meiner Mentalität entspricht, um eine zentrale Aufgabe […]. Es geht nicht um angepaßte Lösungen, es geht nicht um schlechte Kompromisse, sicher sehr oft um gute Kompromisse, es geht um eine Haltung, die ich einmal nennen möchte: eine kämpferische Mitte, die eben darin ihr Ziel sieht, Gemeinsamkeit herzustellen und zu vertreten, wo immer sie erreichbar ist“ 89 . Der Begriff der Konziliarität wurde von Hild auch bei anderen Gelegenheiten verwendet. Abgeleitet von der kirchlichen Institution Konzil verkörperte Konziliarität ein Verhalten, das vom gemeinsamen Hören der Christen auf die Heilige Schrift, vom Hören auf Mitchristen, auf ihre Einsichten und Traditionen und vom Gespräch unter dem Ziel bestimmt sei, sich gegenseitig zu mehr Wahrheitserkenntnis zu verhelfen 90 . Der eigene Standpunkt müsse vertreten werden, dem anderen müsse man aber zuhören und ihn zu verstehen versuchen, ihm sogar „auch die Chance geben, daß am Ende dabei herauskommt, daß man selber in Frage gestellt worden ist“ 91 . Gemeinsam konnten die Kontrahenten nach Hilds Einschätzung so über sich selbst hinauswachsen und damit mehr erreichen, als ihnen allein möglich gewesen wäre: „Wer sich auf den Dialog einläßt und den Partner ernst nimmt, erlebt vor Ort, daß unser Wissen Stückwerk ist, 87 Hild, Glaube als Motiv, 27; vgl. 26 sowie Hild, Ich glaube, 174. 88 Neff, KS EKHN, 6. KS, 3. Tag., 1981, 42. 89 Hild, KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 216. 90 Hild, KS EKHN, 6. KS, 5. Tag., 1982, 24. 91 Hild, KS EKHN, 4. KS, 5. Tag., 1970, 137. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 187 das eigene wie das der anderen. Die Wissenschaft hat längst begriffen, daß die Wahrheit nur in Annäherung und häufig nur komplementär zu fassen ist“ 92 . Konflikte waren für Hild somit notwendig, um zu klareren Erkenntnissen und zu vernünftigen Schritten zu kommen 93 . Hierin sah er die Möglichkeit, Grenzen wahrzunehmen: „Wer Grenzen erkennt, wird dadurch gleichzeitig veranlaßt, wieder auf die Mitte stärker zu schauen […], denn uns ist die Überwindung von Grenzen nur möglich, wenn wir gleichzeitig ganz fest in der Mitte verankert sind“ 94 . Es ging Hild nicht um Ausgewogenheit an sich - die er durchaus für wünschenswert hielt, die Pflicht zum Hören auf den Mitchristen hatte eine viel tiefere Wurzel: „Sie geht davon aus, daß auch der Mitchrist vom Wort Gottes bestimmt sein will und auf es hört und auch für seine Einsichten um Erleuchtung durch den heiligen Geist betet“ 95 . Seine Haltung wurde in dieser Tiefe indessen häufig nicht wahrgenommen, sondern als reiner Hang zur Kompromissbereitschaft in der Kirchensynode immer wieder kritisiert, weil er das konkrete Handeln eher blockiere. Man bat ihn, stärkere Akzente zu setzen: „Sie steigen sozusagen von der Metaphysik der Kirche wohl dotiert und wie eine Monade herab zu irdischen Gefilden, (Heiterkeit) um dann aber die eigentliche Normierung und den theologischen Handlungskanon für die Physika und die Ökumenika tatsächlich offenzulassen“ 96 . Trotz vereinzelter Kritik war das gegenseitige Verhältnis zwischen der Kirchensynode und dem Kirchenpräsidenten in Hilds Amtszeit im Ganzen gut. Hild selbst nannte das Zusammenspiel von Synode, Kirchenleitung und Kirchenverwaltung „brüderliche Gemeinsamkeit“ 97 . Präses Kissel bestätigte dem Kirchenpräsidenten seinerseits, dass Hild den Primat der Kirchensynode nie ernsthaft in Zweifel gezogen und Respekt vor deren Entscheidungen bewiesen habe 98 . Der Kirchenpräsident und Theologe Hild nahm sich vor der Kirchensynode deutlich zurück, indem er ihr eine eigene geistliche Leitungskompetenz zuwies: „Die Synode ist die geistliche Leitung unserer Kirche und sie muß entscheiden, in welchem Maß sie diese geistliche Leitung gegenüber der Kirchenleitung wahrnehmen will“ 99 . Dennoch gab es bei den synodalen Verhandlungen immer wieder heftige Diskussionen und Spannungen. Hild reagierte im Laufe der Zeit feinfühliger 92 Hild, KS EKHN, 6. KS, 11. Tag., 1985, 20. 93 Hild, KS EKHN, 6. KS, 2. Tag., 1980, 124. 94 Hild, KS EKHN, 5. KS, 15. Tag., 1979, 316. 95 Hild, KS EKHN, 6. KS, 5. Tag., 1982, 25. 96 Oppel, KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 112; vgl. Schmidt, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 90 97 Hild, KS EKHN, 4. KS, 16. Tag., 1973, 371. 98 Kissel, KS EKHN, 4. KS, 16. Tag., 1973, 367; Kissel, KS EKHN, 5. KS, 6. Tag., 1976, 28. 99 Hild, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 208. 188 Ute Dieckhoff und empfindlicher. So blieb er etwa 1972 der Debatte um das „Kirchengesetz zur Änderung des Kirchengesetzes zur Angleichung der Besoldung der Pfarrer, der Pfarrer im kirchlichen Hilfsdienst und der Kirchenbeamten an das Besoldungsrecht in Bund und Ländern“ fern, weil seitens der Synode eine schriftliche Votierung beantragt worden war. Hild sah darin den unausgesprochenen Vorwurf, er hätte eine öffentliche Abstimmung kontrollieren wollen. Er fühlte sich für die Mitarbeitenden in der Kirchenverwaltung verantwortlich, gestand aber der Synode auch in diesem Fall zu, den Gegenstand sachlich verhandeln zu können 100 . An anderer Stelle betonte Hild, dass es für ihn als Sprecher der Kirchenleitung und Repräsentanten einer Kirche, in der es über die meisten Fragen auch in ihrer Unterschiedlichkeit begründbare Auffassungen gebe, gerade zur Pflicht gehöre, die unterschiedlichen Auffassungen zur Sprache zu bringen, damit sie behandelt und bedacht werden könnten. Ein großes Problem bestand für ihn allerdings darin, dass Aussagen der Kirchenleitung oder des Kirchenpräsidenten in der Öffentlichkeit zwar wahrgenommen, aber häufig sehr verkürzt dargestellt würden: „Und infolgedessen fühle ich mich jedenfalls verpflichtet, sehr sorgfältig abzuwägen, was ich vertrete und in welcher Form ich es vertrete. Das beruht nicht auf einem Prinzip der Ausgewogenheit, sondern auf einem Prinzip der Verantwortung“ 101 . Hild wollte innerhalb der Kirche keine „ Maulkörbe “ empfehlen. Er war der Überzeugung, dass man auch öffentlich kontrovers diskutieren könne. Zugleich wies er aber darauf hin, dass das Bild vieler Menschen von der Kirche von deren Veröffentlichungen bestimmt werde: „Eine ständig nur in Kontroversen erscheinende Kirche muß Zweifel an ihrer Aussagekraft wecken, von der Glaubwürdigkeit ihres Auftrages, die biblische Weisung weiterzugeben, ganz zu schweigen“ 102 . In der öffentlichen politischen Debatte ergab sich nach Hilds Auffassung für die Kirche ein besonderes Problem, weil der kirchliche Dienst in den Massenmedien vor allem dann gewürdigt werde, wenn es sich um extreme politische Auffassungen handle: „Wenn unter 20.000 Demonstranten drei Pfarrer im Talar mitlaufen, dann wird sich das Fernsehen dieses Schauspiel mit Sicherheit nicht entgehen lassen“ 103 . Er selbst erfahre immer wieder, dass geistliche Aussagen keine journalistische Beachtung fänden, während die Ansichten von sehr kleinen Minderheiten ausführlich berücksichtigt würden 104 . Das äußere Bild von der Kirche sei jedoch nur dann zutreffend, wenn es Differenzierungen enthalte. Dies sei aufgrund der Gesetzmäßigkeiten der modernen Veröffentlichungen schwer, 100 Neff, KS EKHN, 4. KS, 14. Tag., 1972, 268 f.; Hild, KS EKHN, 4. KS, 14. Tag., 1972. 101 Hild, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 135 f. 102 Hild, KS EKHN, 5. KS, 10. Tag., 1978, 35. 103 Best. 94, Nr. 87, Schreiben von Hild, 17.8.1977. 104 Best. 94, Nr. 90. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 189 indem Medien nur das Wichtige, Interessante und Neue schnell und kurz berichten würden: „Deshalb ist zwischen dem öffentlichen Bild, das die Kirche selber schafft, und dem veröffentlichten Bild zu unterscheiden“ 105 . Für den Pfarrer, den Propst und den Kirchenpräsidenten, der in die Öffentlichkeit trat, ergab sich hieraus eine besondere Verantwortung: „Aber die Frage darf uns nicht loslassen, was in der Wahrnehmung dieser Freiheit zum Guten dient und was nicht“ 106 . Die Inanspruchnahme von Freiheit war für Hild also nicht immer mit dem Raum der Freiheit identisch: „Es ist uns alles erlaubt, sagt der Apostel Paulus, aber es dient nicht alles“ 107 . 4. Aussöhnung mit Polen und der Sowjetunion Die EKD-Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ vom 1. Oktober 1965 markierte im kirchlichen Bereich einen Einschnitt im Verständnis über das Verhältnis der Bundesrepublik zu deren östlichen Nachbarländern. Sie forderte die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und begründete hiermit gedanklich eine neue Phase der deutschen Außenpolitik gegenüber Polen. Konkret realisiert wurde sie schließlich in der heftig diskutierten Ostpolitik und in den Ostverträgen der Regierung Brandt-Scheel 108 . Kirchenpräsident Hild befürwortete diese deutlich. Er trat auch an Bundeskanzler Willy Brandt persönlich heran und lobte im Dezember 1970 in einem Schreiben dessen mutige Haltung und Würde beim Abschluss des Warschauer Vertrages: „Sie haben einen Schritt der Versöhnung getan, der nach meinem Urteil nur ausserhalb der parteipolitischen Auseinandersetzung recht gewürdigt werden kann und für die Genesung unseres Volkes wie für den Frieden in Europa und der Welt historische Bedeutung hat“ 109 . Während der Rat der EKD noch am 20. März 1972 erklärte, dass es nicht Aufgabe der Kirche sei, in der Frage der Ratifizierung der Ostverträge durch den Bundestag für oder gegen eine der beiden Seiten Stellung zu nehmen, be- 105 Hild, KS EKHN, 6. KS, 9. Tag., 1984, 19. 106 Hild, KS EKHN, 5. KS, 10. Tag., 1978, 36. 107 Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 82. 108 Best. 94, Nr. 279. Zu den Abläufen vgl. Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der beiden deutschen Staaten. München 1998, 171. 109 Best. 94, Nr. 7, Schreiben von Hild, 21.12.1970. Hild und Brandt kannten sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht persönlich. Das geht aus einem Schreiben Brandts an den Darmstädter Oberbürgermeister Ludwig Metzger (SPD) hervor, in dem der Bundeskanzler sich über die Information zum Bericht des Kirchenpräsidenten vor der Kammer für Mission und Ökumene der EKHN bedankt und Metzger darum bittet, Hild bei Gelegenheit seinen Dank und beste Wünsche zu übermitteln (Best. 94, Nr. 287, Schreiben von Brandt, 14.10.1971). 190 Ute Dieckhoff schritt Kirchenpräsident Helmut Hild einen anderen Weg. Er warb gemeinsam mit dem Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland Karl Immer und dem braunschweigischen Landesbischof Gerhard Heintze bei bekannten evangelischen Persönlichkeiten um Unterschriften unter eine Erklärung zugunsten der Ratifizierung. Diese wurde am 29. März 1972 von 25 Theologen und Laien gemeinsam veröffentlicht. Unter den Unterzeichnern befanden sich unter anderen der hannoversche Landesbischof Eduard Lohse, der Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg Kurt Scharf, der Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages Heinz Zahrnt, der Generalsekretär der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland Horst Bannach sowie Professoren verschiedener Universitäten wie Jürgen Moltmann, Heinz Eduard Tödt und Carl-Friedrich von Weizsäcker 110 . Innerhalb der EKD löste die Erklärung kritische Diskussionen aus 111 . Für Hild erwiesen sich in der Beurteilung der Frage der politischen Verantwortung der Kirche und der Christen sowie der politischen Konsequenzen aus der Bindung an das Evangelium sehr tiefe Gegensätze innerhalb der evangelischen Landeskirchen: „Ich halte sie für tiefer und folgenreicher als Unterschiede in spezifischen dogmatischen Auffassungen, obwohl sich gewisse Verbindungen zwischen der Bekenntnisstruktur und der Einstellung zur politischen Verantwortung der Kirche feststellen lassen. Der Problemkreis bedarf ganz dringend der Diskussion. […] In der Tat ist die Kirchengemeinschaft an diesem Punkt stärker gefordert als in den Bekenntnisfragen“ 112 . Das öffentliche Eintreten für Brandts Ostpolitik brachte Hild sowohl Zustimmung als auch heftige Kritik ein. Diese kam vor allem aus Bereichen außerhalb der EKHN. Man warf ihm und der Kirchenleitung vor, die Toleranz nach links zu übertreiben 113 . Es wurde sogar behauptet, dass die EKHN organisatorisch mit linken Kadern durchsetzt sei und sich „in steigendem Maße als williges Werkzeug östlicher und marxistischer Propaganda“ 114 erweise. Hild ließ sich 110 Erklärung des Rates der EKD zur Diskussion um die Ostverträge, in: Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 10, 1972, 328; Erklärung zur Ratifizierung der Ostverträge, in: Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 9, 1972, 298. 111 Der Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber verurteilte die Erklärung scharf und wertete sie als Versuch, das eindeutige Votum des Rates der EKD zu unterlaufen (Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 9, 1972, 299). 112 Best. 155, Nr. 4356, Stichworte für den Bericht des Kirchenpräsidenten vor der Kirchenkonferenz am 8.6.1972. 113 Best. 94, Nr. 50, Nr. 18; Best. 155, Nr. 4354, Nr. 4356. 114 Best. 94, Nr. 21, Schreiben von Hild, 29.12.1972. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 191 hiervon nicht irritieren und blieb mit Willy Brandt auch nach dessen Rücktritt als Bundeskanzler 1974 in Verbindung 115 . Hilds erste Fühlungnahme mit den evangelischen Kirchen in Polen knüpfte an eine Tagung des World Council of Christian Education in Wapienica 1967 an. An dieser nahm er als Frankfurter Pfarrer und Verantwortlicher für die Kindergottesdienstarbeit teil. Nach den ersten Erfahrungen seiner Polenreise 1967 bemühte sich Hild als Kirchenpräsident besonders um Verbindungen zur Lutherischen Kirche und zum Polnischen Ökumenischen Rat. 1971 unterstützte er einen Kongress in Frankfurt zum Thema „Frieden mit Polen“ und leitete im November 1971 eine EKHN-Delegation nach Polen, zwei Jahre später eine EKD-Delegation. 1974 wurde unter Hilds Vorsitz ein Kontakt-Ausschuss zwischen der EKD und dem Polnischen Ökumenischen Rat der Kirchen gegründet 116 . Hilds Bemühungen um Versöhnung sowie sein Einsatz als Kirchenpräsident der EKHN und als Mitglied des Rates der EKD für die ökumenische Zusammenarbeit der Kirchen in Deutschland mit denen in Polen wurden von der Christlich-Theologischen Akademie in Warschau besonders ausgezeichnet. Diese feierte im Oktober 1974 ihr 20jähriges Bestehen und verlieh Hild bei dieser Gelegenheit die Ehrendoktorwürde. Die Akademie würdigte, dass Hild als erster Vermittler für die Schaffung von Beziehungen zwischen Westdeutschland und Polen und für die Versöhnung nach dem Krieg eingetreten sei und in seinen Veröffentlichungen die Verantwortung der christlichen Kirche angesichts der Ungerechtigkeiten im gesellschaftlichen Bereich zum Ausdruck gebracht habe. Hild reiste in dem Zeitraum von 1967 bis 1984 siebzehn Mal nach Polen. Den in diesem Zusammenhang auftauchenden Gerüchten über angebliche politische Aufträge hielt er entgegen, dass man hier nicht auf einen Kirchenmann angewiesen sei und dass seine Funktion lediglich darin bestehe, im Auftrag des Rates der EKD Verbindung mit der Minderheit der evangelischen Christen in Polen zu halten und diese zu unterstützen. In der Bundesrepublik verstrichen einige Jahre, ehe das Engagement Hilds in der Ostversöhnung gewürdigt wurde. Im November 1985 erhielt er zusammen mit 31 weiteren Personen den rheinland-pfälzischen Verdienstorden für seinen Einsatz um die Verständigung 115 Brandt suchte Hild im Oktober 1974 persönlich in seinem Haus auf. Er wirkte auf Hild gealtert und erschöpft. Die beiden sprachen ausführlich vor allem über Grundsatzfragen politischer Ethik und deren Rolle für das SPD-Parteiprogramm sowie über das FDP-Kirchenpapier, das Brandt ablehnte (Best. 94, Nr. 288). 116 Best. 94, Nr. 253, Nr. 199, Nr. 123; Herbert, Karl: Durch Höhen und Tiefen. Eine Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, hg. von Leonore Siegele-Wenschkewitz unter Mitarbeit von Gury Schneider-Ludorff. Frankfurt 1997, 314. 192 Ute Dieckhoff zwischen den christlichen Kirchen und für sein Wirken für die Aussöhnung zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk 117 . Hild reiste auch mehrfach in die Sowjetunion. So besuchte er im April und Mai 1973 auf Einladung des Moskauer Patriarchats die Städte Moskau, Leningrad und Sagorsk. Hiermit wollte er bewusst an die bereits seit Kirchenpräsident Martin Niemöller bestehenden Verbindungen zwischen der Russisch-Orthodoxen Kirche und der EKHN anknüpfen. 1982 nahm er im Juni an einer Reise einer Delegation des Rates der EKD in die UdSSR teil und folgte damit Einladungen der Russischen Orthodoxen Kirche sowie der Evangelisch-Lutherischen Kirchen Lettlands und Estlands 118 . Das Engagement Hilds für ein gutes Verhältnis der EKHN zum Polnischen Ökumenischen Rat, aber auch zu der Russischen Orthodoxen Kirche, stand unter dem Gesamtziel, die Sprachlosigkeit und Spannungen des Ost-West-Verhältnisses im Kalten Krieg durch eine Gemeinschaft und Kooperation der Kirchen zu überwinden. Der Besuch an den Gräbern der Opfer, die bei der Belagerung Leningrads gestorben waren, erschütterten ihn 1982 tief: „Gefühle der Schuld und der Scham, ein Rad gewesen zu sein in der Maschine, die millionenfach den Tod produzierte, ein Sterben in Grauen und Angst; Gefühle der Trauer um die Menschen, die vom Räderwerk der Todesmaschine zermalmt wurden“ 119 . Sein Leben lang plagte ihn wegen seiner Beteiligung als Soldat und Offizier an den Kriegshandlungen ein Unrechtsbewusstsein. Er reiste mehrmals nach Auschwitz: „Die Gefühle, denen man dort als Deutscher, als einer, der zu jener Zeit selbst in Hitlers Uniform steckte, ausgeliefert ist, lassen sich kaum beschreiben: quälende Scham, ohnmächtiger Zorn, Angst vor den Abgründen in uns selber“ 120 . Zugleich sah Hild im Evangelium aber die Botschaft, dass man mit Versagen nicht durch eigene Rechtfertigung fertig werden, sondern nur dann Befreiung erlangen könne, wenn man sich zu seiner Schuld bekenne 121 : „Wir alle haben für die schweren Fehler und die Verbrechen unserer Staatsführung, der wir in guten Absichten dienten, zahlen müssen. Wenn wir aber zurückblicken, dürfen wir doch dankbar sein, daß wir zu denen gehörten, die die Chance bekamen, neu anzufangen und für den Frieden in der Welt zu arbeiten“ 122 . Hilds Eintreten für die Versöhnung kann damit als Teil der Buße seiner Generation 117 Best. 94, Nr. 99, Nr. 30, Nr. 279, Nr. 265; Best. 120, Nr. 2891. 118 Best. 94, Nr. 264, Nr. 273. 119 Entwurf einer Ansprache zum Gedenkgottesdienst für die Opfer des Zweiten Weltkrieges am 22. Juni 1982 in Leningrad, gehalten am 23.6.1982, zit. nach: Kratz, Wolfgang: Person und Glaube. Predigten und geistliche Ansprachen aus 15 Jahren, in: Kissel, Wahrheit, 25-59, hier 54; vgl. Best. 94, Nr. 253, Nr. 6. 120 Best. 94, Nr. 232, Referat von Hild, „Ernstfall Frieden“, 1.9.1971. 121 Best. 94, Nr. 6. 122 Best. 94, Nr. 102, Schreiben von Hild, 24.1.1983. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 193 angesehen werden. Gegenüber seiner Haltung in den sechziger Jahren und direkt nach dem Krieg lässt sich seit den siebziger Jahren eine stärkere persönliche Aufarbeitung seines Handelns im Zweiten Weltkrieg erkennen. Vor der Synode der EKD in Lübeck-Travemünde 1984 bekannte Hild öffentlich, dass auch er als Teil des Systems in der Zeit des Nationalsozialismus eine persönliche Verantwortung trug, eine persönliche Schuld auf sich lud und hierfür der Vergebung bedurfte 123 . Im Oktober 1985 nahm Hild an einem Symposion zum 20jährigen Jubiläum der Ostdenkschrift der EKD in Warschau teil. Er hielt dort eine Predigt, in der er eingestand, dass die Deutschen, die infolge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren, einen besonders hohen Preis für das Unrecht ihres Volkes hätten zahlen müssen. Zugleich erteilte er aber den vor allem von Vertriebenenverbänden erhobenen Ansprüchen auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete eine deutliche Absage. Er nahm in Polen die Sorge um die Infragestellung der Unveränderlichkeit der Oder-Neiße-Grenze auf deutscher Seite wahr, erkannte aber auch, dass mit der CDU-/ CSU-Fraktion keine eindeutige Entschließung des Bundestages zu erwarten sei. Im Anschluss an diese Reise überlegte er deswegen, ob die EKD die Denkschrift in einer Form fortschreiben könne, bei der auch die Unklarheiten des Textes von 1965 ausgeglichen werden könnten 124 . 5. Südafrika 1969 arbeitete der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen den „Plan eines oekumenischen Programms zur Bekämpfung des Rassismus“ aus. Zugleich wurde ein Sonderfonds eingerichtet, mit dem man Organisationen finanziell unterstützen wollte, die sich gegen die Rassendiskriminierung wehrten. Hierunter befanden sich allerdings auch Gruppen, die ihrerseits Gewalt anwendeten, vor allem im südlichen Afrika. In Westeuropa und in der EKD war der Sonderfondsbeschluss deswegen sehr umstritten 125 . In der EKHN diskutierte die Herbstsynode 1970 sehr kontrovers darüber, ob sie den Sonderfonds finanziell unterstützen solle. Kirchenpräsident Hild nahm auf der Seite der Gegner wie der Befürworter echte Sorge wahr. Er selbst wollte Gruppen, die der Gewalt ausgesetzt seien und sich dagegen wehren würden, ein Stück christliche Solidarität mit ihrem Leiden bezeugen. Für ihn war dabei selbstverständlich, dass das kirchliche Geld nur humanitären Zwecken dienen 123 Kirchenamt der EKD in Hannover (Hg.): Lübeck - Travemünde 1984. Bericht über die siebte Tagung der sechsten Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 4. bis 8. November 1984. Hannover 1985, 280. 124 Best. 94, Nr. 279. 125 Tripp, Fromm, 37 ff. 194 Ute Dieckhoff dürfe. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kirche und Gewalt wurde in der Folge diskutiert. Am Ende entschied sich die Kirchensynode der EKHN mit 90 zu 78 Stimmen dafür, den Sonderfonds des Ökumenischen Rates der Kirchen mit 100.000 DM aus kirchlichen Mitteln zu unterstützen 126 . Hild sah Auseinandersetzungen bereits voraus und behielt damit Recht. Kritik kam sowohl von anderen Kirchen der EKD wie auch von einzelnen Gemeindegliedern in- und außerhalb Hessens. Bis Anfang Dezember 1970 wandten sich 225 Einzelpersonen schriftlich an den Synodalvorstand und die Kirchenleitung. Die Einsendungen stammten zu 80 Prozent aus dem Kirchengebiet der EKHN. 176 Personen lehnten den Beschluss ab, 16 teilten ihren Austritt mit, 45 überlegten dies, 11 Personen waren neutral und nur 38 pflichteten der Entscheidung der Synode bei. Weitere - vor allem ablehnende - Stellungnahmen gingen bei der Kirchenverwaltung ein. Außerdem äußerten sich sieben Dekanatssynoden, vier stimmten gegen den Beschluss, drei dafür. Der Kirchenpräsident und sein Stellvertreter sowie das Amt für Mission und Ökumene stellten sich der Thematik bei zahlreichen Veranstaltungen 127 . Die Gegner des Beschlusses machten vor allem deutlich, dass Kirche keiner Gewalt Vorschub leisten dürfe. Außerdem tauchte das auch in anderen Fällen verwendete Argument auf, dass Kirche zu politischen Fragen keine Position beziehen solle. Man warf der Synode und der Kirchenleitung der EKHN vor, sich zu stark von der Aktualität bestimmen zu lassen und dabei die notwendige Beständigkeit der kirchlichen Traditionen wie die Gemeinsamkeit kirchlichen Handelns aus dem Auge zu verlieren. Für Hild entsprang diese Diskussion ungeklärten theologischen Grundsatzfragen: Wie solle sich Nächstenliebe dazu verhalten, dass Veränderungen oft nur dann zu erwarten seien, wenn Mittel zum Einsatz kämen, die der Nächstenliebe widersprechen würden? 128 . Für viele Gegner des Beschlusses stellte sich die berechtigte Frage nach der sinnhaften Verwendung der Kirchensteuern. Hier bot die Kirchenleitung der EKHN den Steuerpflichtigen allerdings an, ihre Kirchensteuergelder für 1971 zweckgebunden zu deklarieren - von dem Angebot wollten jedoch nur zwei Personen Gebrauch machen 129 . Die Presse heizte die Diskussionen ihrerseits an. So griff der Spiegel einen der Vorwürfe mit dem plakativen Untertitel „Kirchensteuer für Guerillas“ auf und hielt Hild in aggressivem Ton zusammen mit dessen Amtsvorgänger Martin Niemöller deren militärische Vergangenheit vor: „Wie U-Boot-Kommandant 126 Hild, KS EKHN, 4. KS, 7. Tag., 1970, 218; Best. 94, Nr. 31; KS EKHN, 4. KS, 7. Tag., 1970, 205. 127 Best. 94, Nr. 36; Hild, KS EKHN, 4. KS, 8. Tag., 1970, 307. 128 Hild, KS EKHN, 4. KS, 8. Tag., 1970, 308 f.; Hild, KS EKHN, 4. KS, 9. Tag., 1971, 211 f. 129 Tripp, Fromm, 70 ff. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 195 Niemöller war auch Fallschirmjäger Hild erst Offizier, bevor er Theologie studierte“ 130 . Für Hild war dies nur ein Beispiel problematischer Medienarbeit, weil Interviews von der Presse nur in Auszügen verbreitet würden. Hild sah hier ein mögliches Strukturproblem in der öffentlichen Meinungsbildung, bei der die theoretische Beschäftigung mit Fakten nur ein geringes Interesse fände 131 . Die Auseinandersetzungen um das Antirassismusprogramm nahmen die Kräfte der Kirchenleitung für fast drei Monate überaus stark in Anspruch. Auf der Kirchensynode der EKHN im Dezember wurde erneut über den Beschluss der vorhergehenden Tagung diskutiert. Mittlerweile war auch Klage beim Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgericht eingereicht worden. Die Kirchensynode bestätigte indessen ihren Beschluss vom Oktober, stellte aber fest, dass die Entscheidung keine Zustimmung zu Gewaltanwendungen bedeute. In der gesamten EKD gab es schwere Bedenken gegen das Antirassismusprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen. Weitere Mittel stellte die EKHN hierfür dann nicht mehr zur Verfügung 132 . 6. Pfarrvikare in der DKP In den 1970er Jahren setzten sich Kirchenleitung und Kirchensynode der EKHN mit einem weiteren Konfliktfeld intensiv auseinander: mit der Frage der Vereinbarkeit von Pfarrberuf und DKP-Mitgliedschaft. Bereits Anfang 1972 behandelte die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland diese Thematik. In der EKHN wurde die Parteimitgliedschaft einiger Pfarrvikare erst bekannt, nachdem diese bereits im aktiven Dienstverhältnis der Landeskirche oder unmittelbar vor dem Abschluss ihrer praktischen Ausbildung im Spezialvikariat standen, die Examina also bereits hinter sich hatten 133 . Die Kirchenleitung behandelte diese Fälle nicht schematisch, sondern überprüfte jeden Einzelfall: theologisch in der Begründung und in der Praxis seelsorgerlich: „Wir tun uns sehr schwer mit dieser 130 Best. 94, Nr. 261, Art. „Vertrauen ist christlicher als Kontrollieren“, Der Spiegel, Nr. 47, 1970, 57-62, hier 57. Zum Medienecho vgl. Tripp, Fromm, 64 ff. 131 Best. 94, Nr. 30; Hild, KS EKHN, 4. KS, 8. Tag., 1970, 310. 132 Hild, KS EKHN, 4. KS, 9. Tag., 1971, 213; KS EKHN, 4. KS, 8. Tag., 1970, 298 ff., 326 f.; Herbert, Höhen, 282; Best. 94, Nr. 89. Der Sonderfonds wurde weiter aufrechterhalten, bezog seine Mittel nach den heftigen Diskussionen dann allerdings aus freiwilligen Spenden von Kirchen, Persönlichkeiten und Institutionen (Best. 94, Nr. 123). Sebastian Tripp führt den Beschluss der EKHN vor allem auf deren ökumenische Tradition zurück. In der EKD sagte abgesehen von der EKHN nur die Evangelisch-Reformierte Kirche in Nordwestdeutschland eine finanzielle Unterstützung zu (Tripp, Fromm, 75, 84). 133 Herbert, 286; Best. 94, Nr. 234. Auch in anderen evangelischen Gliedkirchen gab es Diskussionen und Konflikte um die DKP-Problematik, etwa in Württemberg oder in Bayern (vgl. Best. 155, Nr. 2111; Best. 94, Nr. 234, Nr. 87). 196 Ute Dieckhoff Sache, weil sich einerseits gegen die Unvereinbarkeit im Grundsätzlichen kaum Gründe nennen lassen, während wir andererseits sehen, dass die Motive für das Engagement junger Theologen in kommunistischen Organisationen durchaus in ihrem christlichen Glauben beruhen können“ 134 . Um keinen Alleingang zu unternehmen, wandte sich die Kirchenleitung der EKHN im Juni 1972 an die Kirchenkonferenz der EKD und bat um eine gutachtliche Äußerung und um Empfehlungen für ein gemeinsames Handeln der Gliedkirchen. Über ein halbes Jahr später lag dazu allerdings noch nichts vor. Die betroffenen hessen-nassauischen Kandidaten und Pfarrvikare stimmten nach eigenem Bekunden dem Atheismus in der DKP nicht zu, sondern hielten „lediglich die polit-ökonomischen Ziele dieser Partei für richtig“ 135 . Die Pfarrvikarin Ute Knobloch erregte 1972 öffentliches Aufsehen, weil sie sich in Frankfurt-Harheim bei der hessischen Kommunalwahl für die DKP aufstellen ließ 136 . Nun diskutierte auch die Kirchensynode das Thema grundsätzlich. Hild äußerte sich auf der Novembersynode 1972 zunächst abwartend. Die Frage der Vereinbarkeit der Mitgliedschaft in der DKP mit dem kirchlichen Dienst war für ihn noch nicht abschließend entschieden und sollte einer weiteren Prüfung unterzogen werden. Im Februar 1973 setzte die Kirchensynode der EKHN die Diskussionen fort. Hild verdeutlichte, dass der Marxismus-Leninismus zwar den Anspruch auf eine verbindliche Wahrheit erhebe und den Kirchen nur eine Kultfunktion zuweise, dass die betroffenen DKP-Mitglieder im kirchlichen Dienst aber die atheistischen Begründungen des Marxismus-Leninismus von sich weisen würden. Um herauszufinden, ob der Atheismus für das Programm der DKP konstitutive Bedeutung habe, richtete Hild eine öffentliche Anfrage an die Landesleitungen der Partei in Hessen und Rheinland-Pfalz. Während die rheinland-pfälzische Landesleitung überhaupt nicht antwortete, gab es von der hessischen nur eine relativ unverbindliche Aussage, die Hild nicht zufriedenstellte. Er persönlich zog den Schluss, dass ein Theologe im Dienst der Kirche nicht zugleich Mitglied der DKP sein könne. Die übrigen Mitglieder der Kirchenleitung schlossen sich dem an. Man war sich allerdings klar darüber, dass es hier in erster Linie nicht um ein rechtliches Problem gehe. Hild machte deutlich, dass sich die Auffassung der Kirchenleitung nicht am Erlass der Ministerpräsidenten der Bundesländer orientiere, der die Tätigkeit von Mitgliedern radikaler Parteien im öffentlichen Dienst verhindern wollte. Die Urteilskriterien der Kir- 134 Best. 94, Nr. 24, Schreiben von Hild, 26.6.1972. 135 Hild, KS EKHN, 4. KS, 15. Tag., 1973, 31; Best. 94, Nr. 63. 136 Art. „Schlag nach bei Lenin“, Der Spiegel, Nr. 47, 1972, 65-68, http: / / magazin.spiegel.de/ EpubDelivery/ spiegel/ pdf/ 42805440 (14.08.2017). Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 197 chenleitung der EKHN seien theologischer Natur und müssten allein vor dem Bekenntnis der Kirche verantwortet werden 137 . Für Hild schlossen sich der Marxismus und das Christentum grundsätzlich aus, weil Ersterer den Atheismus als Grundbestandteil seiner Weltanschauung betrachte. Dem kirchenleitenden Handeln gegenüber den Pfarrvikaren stand hier allerdings eine weitere sehr schwerwiegende Frage entgegen: „Welche Schuld wäre grösser - Menschen auszustoßen, mit denen uns vielleicht doch die Verpflichtung gegenüber dem gleichen Herrn und ganz bestimmt seine Liebe verbindet, oder Menschen im kirchlichen Dienst zu lassen, mit denen es keine Gemeinsamkeit gibt? “ 138 . Das Leitende Geistliche Amt war um laufende Gespräche mit den der DKP angehörenden Pfarrvikaren bemüht. Man hoffte, diese über den Widerspruch zwischen dem Dienst in der Kirche und ihrer Parteimitgliedschaft aufklären zu können. Hild hatte im Ganzen das Gefühl, dass sich die Auffassung der Kirchenleitung und der Kirchensynode bewährte. Er hielt es für richtig, die Grundsatzfeststellung über die Unvereinbarkeit nicht formalistisch zu befolgen, sondern jeden Fall für sich und seelsorgerlich zu behandeln. Bei allem Verständnis für die jungen Pfarrvikare nahm er aber auch wahr, dass zugleich viele Gemeindeglieder verwirrt waren. Die Diskussion über die DKP auf der November-Synode der EKHN 1974 dauerte mehr als fünf Stunden. Es gab etwa 50 Beiträge hierzu. Da wegen des Todes des RAF-Terroristen Holger Meins als Folge von dessen Hungerstreik Zwischenfälle befürchtet wurden, wurde das Frankfurter Dominikanerkloster als Tagungsort der Synode von der Polizei bewacht, Präses Kissel stand unter direktem Polizeischutz 139 . Die hessische DKP benutzte den Konflikt ihrerseits. Deren Bezirksvorsitzender Sepp Mayer veröffentlichte zu Beginn des Jahres 1975 eine umfangreiche Stellungnahme zu Hilds Ansprache vor der Synode. Er warf der Kirchenleitung der EKHN vor, die Berufsverbote der Ministerpräsidenten im kirchlichen Raum fortzuschreiben und ein Klima zu erzeugen, das dem in der Zeit des Nationalsozialismus entspreche: „Hat die Kirchenführung nichts gelernt aus dem Versagen der Kirche angesichts des Hitlerfaschismus? […] Von wirklicher Theologie ist in diesen Ausführungen keine Spur. Dafür trifft man auf Schritt und Tritt auf die 137 Hild, KS EKHN, 4. KS, 14. Tag., 1972, 283 f.; Hild, KS EKHN, 4. KS, 15. Tag., 1973, 27 ff. 138 Best. 94, Nr. 63, Schreiben von Hild, 8.11.1972. Vgl. Best. 94, Nr. 18. Der DKP-Pfarrvikar Rolf Trommershäuser wurde im Januar 1973 entlassen. Hild betonte, dass hierfür nicht dessen Parteimitgliedschaft ausschlaggebend gewesen sei. Auch in der Rheinischen Kirche war Trommershäuser zuvor bereits abgelehnt worden (Knigge für Rote, Der Spiegel, Nr. 11, 1973, 65-67, http: / / magazin.spiegel.de/ EpubDelivery/ spiegel/ pdf/ 42645562 [14.08.2017]); Hild, KS EKHN, 4. KS, 15. Tag., 1973, 32; Hild, KS EKHN, 5. KS, 2. Tag., 1974, 317). 139 Best. 94, Nr. 288; Hild, KS EKHN, 5. KS, 2. Tag., 1974, 211 f., 309. 198 Ute Dieckhoff von den Meinungsinstrumenten des Großkapitals erzeugten antikommunistischen Vorurteile“ 140 . In dem bis dahin schwebenden Verfahren wurden erst auf der Herbstsynode 1975 endgültige Entscheidungen getroffen: Die Kirchensynode beschloss, von der Ernennung von Pfarrvikaren, die der DKP angehörten, zu Pfarrern auf Lebenszeit künftig abzusehen. Hild selbst konnte bei der Synode nicht anwesend sein, da er an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Nairobi teilnahm. Er persönlich hielt die Entscheidung der Kirchensynode für unglücklich. Die Kirchenleitung hatte nun keine Möglichkeit mehr, die Betroffenen in das definitive Pfarramt zu übernehmen. Die jeweiligen Kirchengemeinden standen überwiegend hinter ihren Vikaren und hätten diese gerne als Pfarrer gehabt. Die so genannte „DKP-Debatte“ zog in der EKHN nun bis 1977 eine umfangreiche Presse-Fehde nach sich 141 . Am 30. September 1977 lief die Frist für die unständige Dienstzeit von einigen der Pfarrvikare aus, die der DKP angehörten, aber nach wie vor nicht austreten wollten. Nach dem Pfarrergesetz hätten alle Betroffenen Ende Oktober entweder aus dem Dienst ausscheiden oder definitive Pfarrer werden müssen. Auch in Auftrag gegebene Gutachten konnten keine eindeutige Klärung erzielen. Die Mehrheit der Kirchenleitung wie auch der Kirchensynode der EKHN hielt indessen an der Unvereinbarkeitserklärung fest und sah sich natürlich an den Synoden-Beschluss von 1975 gebunden. Gleichzeitig befürchtete man bei einem Ausscheiden der Betroffenen aus dem Dienst das Wiederaufbrechen der Gräben. Die Kirchenleitung wollte den Pfarrvikaren deswegen zumindest die Möglichkeit bieten, im Angestelltenverhältnis beschäftigt zu werden. Dies entsprach auch dem Wunsch der beteiligten Kirchenvorstände, die in der Mehrzahl hinter den Pfarrvikaren standen. Es lagen keine Beanstandungen ihrer Verkündigung im Amt vor 142 . Nach weiteren Gesprächen traten schließlich alle vier betroffenen Vikare aus der DKP aus. Hild hatte den Eindruck, dass sie erkannt hätten, dass eine Entscheidung, die sie glaubten subjektiv verantworten zu können, der großen Breite der Gemeindeglieder nicht verständlich zu machen war und Rücksichtnahmen erforderte. Er wurde jedoch „eines Besseren“ belehrt. Am 1. August, als die Vikare zu Pfarrern ernannt wurden, erschien eine Erklärung in verschiedenen Zeitungen. Sie machte deutlich, dass die Betroffenen nach wie vor zu ihrer Mitgliedschaft standen und unter Druck ausgetreten seien und dagegen klagen würden. Außerdem wurden die Namen einiger Synodaler genannt, die eine 140 Best. 94, Nr. 266, Bezirksvorsitzender der DKP Hessen, Sepp Mayer, 30.1.1975. 141 KS EKHN, 5. KS, 8. Tag., 1977, 41; KS EKHN, 5. KS, 4. Tag., 1975, 25; Best. 94, Nr. 234, Nr. 31. 142 KS EKHN, 5. KS, 8. Tag., 1977, 41-47; Best. 94, 234, Nr. 86. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 199 Beschwerde beim Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgericht eingelegt hätten. Diese Erklärung hatte sich der Vorstand des Komitees „Freiheit für Wort und Dienst in der Kirche“ erbeten und dann veröffentlicht. Es ließ sich im Nachhinein allerdings nicht feststellen, ob die Pfarrvikare mit der Veröffentlichung einverstanden gewesen waren. Hild nahm die Erklärung als Akt der Selbstrechtfertigung wahr, die keine Rücksicht auf jene Menschen nahm, die sich zuvor für die Pfarrvikare eingesetzt hatten. Zugleich hätten sie ihr Versprechen gebrochen, vor öffentlichen Schritten zunächst mit der Kirchenleitung zu reden. Andere teilten die Einschätzung des Kirchenpräsidenten. Die rheinland-pfälzische Kultusministerin Hanna-Renate Laurien hielt Hild für desavouiert, auch der hannoversche Landesbischof Professor Eduard Lohse kam zu dem Schluss, Hild sei betrogen worden 143 . Hild wandte sich dienstlich an die vier frisch ernannten Pfarrer und sprach als Dienstvorgesetzter einen Verweis aus, der zu den Personalakten genommen wurde. Er fügte einen persönlichen Brief hinzu, in dem er seine Enttäuschung zum Ausdruck brachte. Innerhalb eines Vierteljahres antworteten drei der Betroffenen überhaupt nicht, der vierte erklärte lediglich, dass die Sache wohl etwas unglücklich verlaufen sei. Der Kirchenpräsident war hierüber stark ernüchtert, „daß man wirklich betrogen wird, und daß es offensichtlich nicht möglich ist, in bestimmten Fällen dienstrechtliche Probleme ganz auf der seelsorgerlichen Ebene abzuhandeln. […] Es gibt einen Fanatismus der subjektiven Wahrheit, der nach der Öffentlichkeit drängt und das Darstellungsbedürfnis hat, öffentlich zu erscheinen. Und wenn wir an diesem Punkte nicht wirklich lernen und echte Umkehr üben, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir selber die Volkskirche zerstören“ 144 . Dieser Punkt zielt auf einen Kern im Denken und Glauben Helmut Hilds: Kirche verkörperte sich für ihn vor allem in der Volkskirche. Diese war für Hild nicht nur die Form von Kirche, der der überwiegende Teil der Bevölkerung angehörte und die aufgrund ihres Umfangs einen gewissen Verwaltungsapparat und eine öffentliche Präsenz benötigte 145 . Sondern sie bot für Hild den breitesten Rahmen der kirchlichen Verkündigung, war Angebot und Anspruch, „für alle 143 Best. 94, Nr. 234; Herbert, 290. Das Komitee „Freiheit für Wort und Dienst in der Kirche“ hatte sich 1975 als Protestbewegung nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss der Kirchensynode der EKHN gegründet. Mitglieder waren zahlreiche Pfarrer und Pfarrvikare, aber auch Studenten, Professoren und vereinzelt Küster sowie Angehörige weiterer Berufsgruppen. Eines der maßgeblichen Gründungsmitglieder war der Herborner Theologieprofessor Dieter Stoodt, der Hild 1969 in der Kirchenpräsidentenwahl unterlegen war (Best. 155, Nr. 2111); siehe oben Anm. 25. 144 Best. 94, Nr. 234, Bericht von Hild bei der Dekanekonferenz am 23.11.1977. 145 Hild, Helmut: Die Kirche an der Basis, in: Hild, Brücken schlagen, 112-131, hier 118. 200 Ute Dieckhoff da zu sein“ 146 - für Zweifler, Distanzierte und Interessierte 147 . Hierdurch ermöglichte sie den Dienst an Menschen, „denen wir sonst nicht dienen könnten, sie ermöglicht es uns auch, das Wort in einer großen Breite zu verkündigen und unter die Leute zu bringen“ 148 . Volkskirche verwies für Hild auf den konziliaren Weg, er hielt sie insgesamt nicht für die absolute und möglicherweise auch nicht für die beste Form der Kirche, „aber bei uns und unseren Bedingungen ist sie derzeit die beste Form, um den missionarischen und diakonischen Auftrag zu erfüllen“ 149 . Für Hild durfte die Inanspruchnahme individueller Rechte nie höher gewertet werden, als das Recht der Kirche im Ganzen. Ein Mensch in der Öffentlichkeit müsse nicht nur sein Handeln an sich, sondern auch die Wirkungen bedenken. Der Unvereinbarkeitsbeschluss des Pfarrdienstes in der EKHN mit einer Mitgliedschaft in der DKP löste innerhalb der EKD Diskussionen aus, die es in ähnlicher Form bis dahin noch nicht gegeben hatte. Die EKHN verzeichnete eine stark gestiegene Zahl von Kirchenaustritten. Neben einer Flut von Briefen, Anrufen und Gesprächsaufforderungen traten Proteste und Drohungen. Vorwürfe wurden sowohl aus dem linken wie auch aus dem konservativen Lager erhoben. Hild sah sich mit der Kirchenleitung zwischen allen Fronten. Zudem machte er auch bei dieser Thematik erneut die Erfahrung, dass die tatsächlichen Ereignisse in Zeitungsmeldungen oft missverständlich dargestellt würden 150 . Dies traf ihn auch persönlich schmerzvoll, so dass er ungewohnt bitter reagierte: „Es ist zwar erlaubt, einer Kirchenleitung und einem Kirchenpräsidenten in die Fresse zu hauen. Aber es ist nicht erlaubt, die Frage zu stellen, ob vielleicht ein Journalist ganz richtig wiedergegeben hat, was sich ereignet hat“ 151 . 7. Paragraph 218 - Leben bewahren Anfang der siebziger Jahre gab es weitere heftige Diskussionen, die das Verhältnis von Kirche und Staat ebenfalls berührten. Die Strafrechtsreform des §. 218 StGB betreffend Schwangerschaftsabbruch veranlasste die Evangelischen Kirchen im Interesse der Seelsorge Stellung zu nehmen. Es ging um die Indika- 146 Hild, KS EKHN, 5. KS, 13. Tag., 1979, 67. 147 Best. 94, Nr. 54. In Zweifelnden sah Hild immer potentiell Glaubende, problematischer waren für ihn diejenigen, die sich aus Gleichgültigkeit von der Kirche distanzierten oder sich überhaupt nicht betroffen fühlten. 148 Hild, KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 222. Hild grenzte dabei deutlich Pluralität mit einem differenzierten Denken von unverbindlichem Pluralismus ab (Hild, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 74-75). 149 Hild, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 73. 150 Best. 94, Nr. 234, Nr. 12, Nr. 31. 151 Best. 94, Nr. 234, Bericht von Hild bei der Dekanekonferenz am 23.11.1977. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 201 tionsregelung beziehungsweise das Fristenmodell. Nach der ersten Bundestagsdebatte im Mai 1973 steigerte sich das öffentliche Interesse. Das ARD-Magazin Panorama plante die Ausstrahlung eines detailreichen Beitrags über eine illegale Abtreibung. Der rheinland-pfälzische Kultusminister Bernhard Vogel sowie Julius Kardinal Döpfner, Vorsitzender der katholischen Bischofskonferenz, verlangten vom Intendanten des NDR die Absetzung dieses Beitrags. Auf Beschluss der ARD-Intendanten unterblieb die Ausstrahlung 152 . Zu Beginn des Jahres 1974 begannen zahlreiche Frauengruppen der „Aktion 218“ zeitgleich mit einem öffentlichen Aktionsprogramm. Dies wirkte nach dem Panorama-Streit wie eine Reaktion auf die katholisch-kirchliche Einflussnahme. Slogans wie „Mein Bauch gehört mir“, prägten das Bild. Ein geplanter kollektiver Austritt aus den Kirchen wurde zum Höhepunkt der Aktionswoche. Kirchenpräsident Helmut Hild erarbeitete mit dem Informationsbeauftragten der EKHN Dr. Hans Weißgerber ein Flugblatt, das bei einer Demonstration in Frankfurt gegen den §. 218 verteilt wurde 153 . Hild machte darin deutlich, dass auch die Kirche ihre Meinung zu der anstehenden Reform äußern dürfe. Jeder, der diese Gedanken nicht teile, könne aus der Kirche austreten. Den Aufruf von Frankfurter Frauen zum massenhaften Kirchenaustritt wertete er als Versuch, die Meinungs- und Gewissensfreiheit einzuschränken: „Er reiht sich bezeichnenderweise den Versuchen solcher Kreise an, die wegen des Eintretens der Kirche für die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn des deutschen Volkes und wegen der Haltung der Kirche gegenüber der Dritten Welt, insbesondere der kirchlichen Entwicklungshilfe und des Antirassismusprogramms, ebenfalls zum Kirchenaustritt aufriefen“ 154 . Hild wies darauf hin, dass es gerade in der Evangelischen Kirche sehr differenzierte Meinungen über die Reform des §. 218 gebe und dass die Erklärungen des Rates der EKD allein von der Sorge bestimmt seien, illegale Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern. Nur deswegen würde sie das Hauptgewicht auf soziale Maßnahmen legen, die dem Zwang zum Schwangerschaftsabbruch entgegenwirken sollten 155 . Auch auf der Frühjahrstagung der Kirchensynode der EKHN 1974 wurde über die Reform des §. 218 debattiert. Nach Hilds Auffassung war jeder Schwanger- 152 Mantei, Simone: Nein und Ja zur Abtreibung. Die evangelische Kirche in der Reformdebatte um §. 218 StGB (1970-1976) (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Bd. 38). Göttingen 2004, 45 ff., 360 ff. 153 Ebd., 366 ff.; Best. 94, Nr. 288. 154 Best. 94, Nr. 257, Flugblatt „Wegen §. 218 aus der Kirche austreten? Stellungnahme des evangelischen Kirchenpräsidenten“. 155 Best. 94, Nr. 257. Obwohl Hild persönlich Abtreibungen nicht befürwortete, erscheint sein Verhalten etwa gegenüber dem hamburgischen Bischof Hans-Otto Wölber, einem konservativen Lutheraner und CDU-Mitglied, sehr zurückhaltend (vgl. Mantei, Abtreibung, 369 f. sowie zu den Positionen der einzelnen evangelischen Landeskirchen, 379 ff.). 202 Ute Dieckhoff schaftsabbruch vor dem Willen Gottes sündhaft. Er gestand aber zu, dass es in Notfällen unumgänglich sein könne, zwischen dem Leben der Mutter und dem des Kindes zu entscheiden. Er hielt eine Neufassung des Paragraphen 218 für richtig, da sie auf diese Notlagen einging. Entscheidender als die Frage der Strafrechtsnovelle sei allerdings die Frage, was man tun könne, um zu verhindern, dass sie angewendet werde. Kirche müsse durch ihren Dienst und angemessene soziale Maßnahmen illegalen Schwangerschaftsabbrüchen Einhalt gebieten und so das Leben von Mutter und Kind bewahren. Ein Antrag auf der Kirchensynode, drei Millionen DM für flankierende Maßnahmen zum §. 218 bereit zu stellen, scheiterte allerdings an der nicht mehr gegebenen Beschlussfähigkeit der Synode 156 . Hild setzte sein Anliegen dennoch um, indem er sich an der Gründung der kirchlichen Stiftung „Für das Leben“ beteiligte. Diese sollte werdenden Müttern durch finanzielle Hilfe und durch Beratung die Annahme ihres Kindes erleichtern. Es handelte sich hierbei um ein erstes Projekt dieser Art in der Bundesrepublik. Die EKHN stellte die Summe von drei Millionen DM dafür bereit 157 . 8. Der Konflikt um den Bau der Startbahn West Der Beginn des Konflikts um den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens begann nicht erst in den 1980er Jahren. Die Start- und Landebahnen des Flughafens verliefen parallel zu einander und konnten daher von modernen Düsenflugzeugen wegen deren Wirbelschleppen nicht gleichzeitig angeflogen werden. Der Flughafen ließ sich in dieser Form auf die Dauer nicht wirtschaftlich betreiben und musste entweder umgebaut oder komplett verlegt werden. 1965 stellte die Flughafengesellschaft Frankfurt Main AG beim Hessischen Minister für Wirtschaft und Verkehr daher den Antrag zum Bau einer neuen Startbahn. Hiergegen gab es bereits fast 4000 Einwände. Aufgrund der engen Frankfurter Stadtbebauung entschied man sich für den Bau einer neuen Bahn, für die ein Waldgebiet gerodet werden sollte. Anteilseigner der Flughafengesellschaft waren mit etwa 45 % das Land Hessen, mit etwa einem Drittel die Stadt Frankfurt und etwa einem Viertel die Bundesrepublik Deutschland. Nach mehreren Ver- 156 Hild, KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 83, 223; Best. 94, Nr. 288. Jeder Fall eines Schwangerschaftsabbruchs konnte nach Hilds Ansicht im Grunde nicht rechtlich, sondern nur sozial und seelsorgerlich gewürdigt werden (Hild, KS EKHN, 6. KS, 9. Tag., 1984, 91). 157 Best. 120, Nr. 2891; Hild, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 16. An anderen Stellen in diesem Bereich erscheint Hilds Wahrnehmung stärker zeitgebunden. So hielt er die Homosexualität für den Ausdruck einer seelischen Erkrankung, der sich die Homosexuellen entgegenstellen müssten. Auch hier ging es ihm vor allem darum, Menschen in einer Notsituation seelsorgerlich zu helfen (Best. 94, Nr. 70; Hild, KS EKHN, 5. KS, 3. Tag., 1975, 152). Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 203 waltungsgerichtsurteilen gab das Bundesverwaltungsgericht in Berlin 1978 den Weg zum Bau grundsätzlich frei 158 . Der außergerichtliche Protest der Startbahngegner formierte sich. Im Herbst 1980 begannen sie mit der Anlage eines Hüttendorfes in einem Waldstück, das für den Startbahnbau gerodet werden sollte. Positionen der Ökologie wurden der Ökonomie entgegengestellt. Eigentümerin des Grundstücks war zu dieser Zeit noch die Stadt Flörsheim, die das Hüttendorf stillschweigend duldete. Der hessische Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry (FDP) beschloss im Juli 1980, trotz eines noch ausstehenden Urteils des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes, den Beginn der Baumaßnahmen. Dies verstärkte die Proteste 159 . Der Kirchenvorstand der Evangelischen Kirchengemeinde Mörfelden beriet im November 1979 zum ersten Mal darüber, ob sich die Kirchengemeinde zum Bau der Startbahn äußern solle. Die katholischen Gemeinden in Mörfelden und Walldorf lehnten dies ab, da sie religiöse, aber keine politischen Ziele hätten. Am 16. April 1980 verfassten der evangelische Pfarrer Walter Bohris aus Mörfelden und Kirchenvorstandsmitglieder der benachbarten Gemeinden einen Brief an den hessischen Ministerpräsidenten Börner. Gemäß Kirchenordnung der EKHN und dem Kirchenvertrag mit dem Land Hessen wäre hierfür die Kirchenleitung zuständig gewesen, die wurde allerdings nicht vorab informiert, sondern erfuhr erst aus den Zeitungen von dem Schreiben. Die Dekanatssynoden Groß-Gerau und Rüsselsheim stellten an die Kirchensynode der EKHN den Antrag, das Thema Startbahn-West auf der Herbsttagung im November 1980 zu behandeln und sich mit den Startbahngegnern zu solidarisieren. Bei den dort folgenden Diskussionen wurde jedoch deutlich, dass die Mehrheit der Synodalen eine vermittelnde Position vertrat und keine endgültige Entscheidung für oder gegen die Startbahn treffen wollte. Diese Position vertrat auch Kirchenpräsident Hild, der in diesem Konflikt vor allem als Moderator wirkte. Die Kirchensynode verfasste eine Resolution, die dazu aufrief, die tiefe Betroffenheit der Menschen ernst zu nehmen, die Gutachten zum Bau der Startbahn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und den begonnenen Klärungsprozess weiter zu fördern. Am 2. November 1980 nahmen 14.000 Menschen an einer Protestkundgebung in Walldorf teil, auch ein Gottesdienst fand dabei statt. Auf Initiative von Mörfeldener und Walldorfer Kirchenmitgliedern wurde im Hüttendorf eine Kapelle gebaut, die allerdings nicht als Sakralgebäude geweiht wurde. Die Kirchenverwaltung der EKHN in Darmstadt verwies ausdrücklich darauf, dass der Bau 158 Johnsen, Hartmut: Der Startbahn-West-Konflikt. Ein politisches Lehrstück? Zeitzeugen ziehen Zwischenbilanz. Frankfurt 1996, 16 ff., 27, 33. Der Planfeststellungsbeschluss von 1971 und die Gerichtsurteile verpflichteten die Flughafengesellschaft, die gerodete Fläche in gleicher Größe wieder aufzuforsten (ebd., 22). 159 Ebd., 20, 32. Zum Mord an Karry vgl. ebd., 37. 204 Ute Dieckhoff illegal sei. Weil die Gemeinde Flörsheim den Kapellenbau allerdings ebenfalls stillschweigend duldete, versuchte die Kirchenleitung nicht, die Andachten zu unterbinden, sondern vertraute darauf, dass die Pfarrer die Friedfertigkeit des Protestes stärken würden. Sie wirkte aber auf die Pfarrer ein, dort nicht im Talar zu predigen. 1981 änderten sich die bisherigen Besitzverhältnisse des Geländes, neue Eigentümerin wurde nunmehr die Frankfurter Flughafengesellschaft. Sie verlangte die Räumung des Hüttendorfes und die Beseitigung der Hüttenkirche. Die Kirchenleitung der EKHN führte Gespräche mit den betroffenen Pfarrern und Kirchenvorständen und forderte in einem Rundschreiben an die Kirchenvorstände in Rüsselsheim und Groß-Gerau den Verzicht auf Gottesdienste in der Kapelle sowie auf alles, was zur Gewaltanwendung nötige. Kirchenpräsident Hild akzeptierte, dass die Flughafen AG als neue Besitzerin des Grundstücks die Beendigung der Gottesdienste im Hüttendorf verlangen konnte 160 . Die Kirchenleitung der EKHN erklärte am 16. Oktober 1981, dass die Kirche nicht in der Lage sei, im Konflikt um den Startbahnbau zu dem Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen Erfordernissen und der Notwendigkeit, natürliche Lebensgrundlagen zu erhalten, ein abschließendes Urteil abzugeben. Sie rief die Kirchenvorstände und Pfarrer dazu auf, Rechtsverletzungen zu vermeiden und an der Gewaltlosigkeit festzuhalten. Gleichzeitig könne aber niemand Pfarrer von der Verpflichtung entbinden, Menschen in schweren Konfliktsituationen zu begleiten. Deshalb sei es denkbar, dass auch in Zukunft Versammlungen mit einem gottesdienstlichen Charakter stattfinden würden 161 . Diese Erklärung rief mehrfache Kritik hervor, Innenminister Ekkehard Gries (FDP) warf der Kirche einen Verstoß gegen die hessischen Verfassungsbestimmungen vor und forderte sie auf, sich einseitiger Einmischung in Staatsbelange zu enthalten. Sogar Präses Dr. Rudolf Otto Kissel beurteilte die Erklärung der Kirchenleitung in einem Interview in der FAZ als „unausgewogen und parteiisch“ 162 . Auf der Herbsttagung der Synode der EKHN im November 1981 wurde mehrere Stunden über die Erklärung der Kirchenleitung vom Oktober diskutiert. Über vierzig Synodale melden sich zu Wort, inhaltlich stimmte die Mehrheit der Erklärung zu, eine Schlussabstimmung fand nicht statt. Kirchenpräsident Hild betonte, dass die Kirchenleitung von Anfang an deutlich gemacht habe, dass 160 Ebd., 89-96, 35, 41, 99, 41, 65, 100; Hild, KS EKHN, 6. KS, 3. Tag., 1981. 161 Erklärung der Kirchenleitung der EKHN zum Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens vom 16. Oktober 1981, in: Hild, Helmut / Huth, Hans / Odin, Karl-Alfred: Das christliche Gewissen. Von der Verantwortung der Christen (Bensheimer Hefte, hg. vom Evangelischen Bund, Heft 57). Göttingen 1982, 50-53, 50 ff. 162 Johnsen, Startbahn-West-Konflikt, 111. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 205 sie die Übernahme der Verantwortung für die von Privatleuten erbaute Hüttenkirche durch zwei Kirchenvorstände für falsch gehalten habe. Sie habe die Gottesdienste aber begrüßt, weil sie den Menschen im Wald Zuspruch und Trost brachten und in Richtung einer friedlichen Austragung des Konflikts gezielt hätten. Gleichzeitig habe die Kirchenleitung ihre Stellungnahmen aus Solidarität mit den betroffenen Gemeinden in der Regel nicht veröffentlicht. Obwohl die überwiegende Mehrheit der Einzelmitglieder der Kirchenleitung zu der Erkenntnis gekommen sei, dass der Bau der Startbahn West nicht erfolgen solle, sei dies nicht ausgesprochen worden, sondern nur die Bitte um eine weitere Aufschubfrist und deren Nutzung zum Nachdenken und zum Dialog 163 . 9. Eintreten gegen die Aufrüstungsspirale Hild sah in der atomaren Nachrüstung der Nato seit 1980 eine Verschärfung der Konfrontation zwischen Ost und West. Angesichts der enormen Zerstörungskraft der modernen Waffensysteme wurde die Versöhnung auch hier für ihn zu einer der wichtigsten globalen Aufgaben. Er hielt Rüstungsproblematik überwiegend für ein psychologisches Problem: Wenn der Überdruck der Angst zu groß werde, liege das Ventil, als erster loszuschlagen und durch den Vorsprung seine Überlebenschancen zu vermehren, am nächsten. Hild betonte, dass das System der Abschreckung an seine Grenzen geraten sei, weil inzwischen jeder Machtblock über ein Mehrfaches an Fähigkeit verfüge, den anderen völlig zu vernichten. Statt größerer Sicherheit habe man vielmehr ein größeres Sicherheitsrisiko erreicht 164 . 163 Ebd., 113, 117; Hild, KS EKHN, 6. KS, 4. Tag., Bd. 2, 1981, 163 f. Die Startbahngegner konnten den Bau nicht aufhalten. Das Hüttendorf wurde mit Polizeieinsatz am 2. November 1981 geräumt. Während die Hütten eingerissen wurden, zerlegte man die Hüttenkirche und transportierte sie nach Mörfelden. Die neue Startbahn wurde am 12. April 1984 in Betrieb genommen, 1986 erhielt die Kirche einen neuen Standort am Stadtrand von Walldorf. Der Konflikt um die Startbahn löste allerdings noch einmal deutschlandweites Entsetzen aus, als am 2. November 1987, dem 6. Jahrestag der Hüttendorf-Räumung, zwei Polizeibeamte durch einen vermummten Demonstranten erschossen wurden ( Johnsen, Startbahn-West-Konflikt, 69, 21, 49, 129; Herbert, Höhen, 299). 164 Hild, Helmut: Atomare Rüstung und kirchlicher Friedensdienst. Überlegungen zum Gespräch zwischen Vertretern des Nationalen Kirchenrates in den USA und dem Rat der EKD, Berlin, Februar 1983, in: Hild, Welt, 31-58, hier 54; Hild, Helmut: Brücken schlagen - Versöhnung als Aufgabe der Christen, in: Hild, Brücken schlagen, 45-52, hier 45; Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 181 f.; Hild, Helmut: Die Friedensverantwortung der Kirche in der Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland. Referat in der Geistlichen Akademie Sagorsk, Juni 1982, in: Hild, Welt, 9-29, hier 16 f.; Hild, KS EKHN, 6. KS, 5. Tag., 1982, 19. 206 Ute Dieckhoff Für Hild gab es keinen „gerechten“ Krieg, sondern bestenfalls eine Notwehrmaßnahme, um größeres Unglück zu verhindern 165 . Christen müssten den Wert des Menschen von Christus her begreifen: „So kann es für den christlichen Glauben ein Freund-Feind-Denken nicht geben, auch dort nicht, wo die ideologischen oder sozialen Gegensätze in die Augen springen“ 166 . Hild stellte die Verwendung von Billionen für die Rüstung dem gleichzeitigen Hunger in der Welt gegenüber: „Alle vernünftigen Menschen stimmen überein, daß das Ganze eine Mathematik des Teufels ist und geändert werden muß. Aber wie? Und wer fängt an? Es ist eine echte Aufgabe der Kirchen, die den Frieden Gottes verkündigen, auch dem Frieden unter den Menschen verpflichtet zu sein“ 167 . Hild war allerdings auch kein bedingungsloser Pazifist. Er bemühte sich um ein gutes Verhältnis zwischen der Kirche und der Bundeswehr. Als Kirchenpräsident besuchte er mehrfach Kasernen, diskutierte mit Offizieren und Soldaten, hielt Soldatengottesdienste ab und stand im regelmäßigen Austausch mit dem Befehlshaber und Stab des Wehrbereiches IV. Hild wusste aus eigener Erfahrung, dass sich viele Soldaten Gedanken über die Berechtigung des Krieges machten. Die Seelsorge in der Bundeswehr war ihm wie auch die an Kriegsdienstverweigerern eine spezifische Form des Friedensdienstes der Kirche. Beide dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Bundeswehr hielt Helmut Hild in der politischen Situation zur Friedenswahrung für angemessen, hoffte aber dennoch, dass die politische Entwicklung in der Zukunft von einem Instrumentarium der Vernunft bestimmt sein werde, das Armeen und Rüstungen überflüssig mache. Er selbst rang zeit seines Lebens mit der Frage der Legitimation von Gewaltanwendung durch Christen. Seiner Einschätzung nach konnte ein Friede auf Dauer nicht militärisch, sondern nur politisch gesichert werden 168 . Die Nuklearrüstung schuf zudem besondere Bedingungen, weil die Alternative zu politischen Verhandlungen nur in einem gemeinsamen Untergang bestünde. Mahnend gab er einem seiner Vorträge den Titel: „Die Welt braucht Frieden - den nächsten Krieg gewinnt der Tod“ 169 . An dieser Stelle war für Hild der status confessionis erreicht: „Denn die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage, weil die Schöpfung Gottes und die Existenz seiner Menschheit auf dem 165 Hild, KS EKHN, 6. KS, 7. Tag., 1983, 95. 166 Hild, KS EKHN, 4. KS, 12. Tag., 1972, 51. 167 Hild, KS EKHN, 5. KS, 7. Tag., 1977, 81. 168 Best. 94, Nr. 125, Nr. 325, Nr. 21, Nr. 82; Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 179; Best. 120, Nr. 2891; Hild, KS EKHN, 5. KS, 1. Tag., 1974, 81; Hild, Friedensverantwortung, 20. Hild griff in diesem Zusammenhang auf den Begriff der intelligenten Feindesliebe des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker zurück (ebd., 24). 169 Hild, Die Welt braucht Frieden, in: Hild, Welt, 59-77; Hild, Atomare Rüstung, 56; Best. 94, Nr. 238. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 207 Spiele stehen“ 170 . Die Aufgabe der Kirche bestand für Hild darin, im atomaren Zeitalter eine Friedensethik zu entwickeln 171 . Diesen Gedanken setzte er in konsequentem Eintreten für den Frieden um. Die Kirchenleitung der EKHN veröffentlichte 1983 als einzige Kirchenleitung innerhalb der EKD ein ausdrückliches Votum gegen die Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen in Westeuropa 172 . 10. Hild und die politische EKHN Helmut Hild war in den 1980er Jahren einer „der profiliertesten Sprecher des deutschen Protestantismus“ 173 . Der langjährige Präses der Kirchensynode der EKHN Dr. Otto Rudolf Kissel beurteilte ihn als einen umfassend und uneingeschränkt anerkannten Kirchenpräsidenten. Für sein Engagement wurde Hild mehrfach geehrt, so 1973 mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen, 1977 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz und vier Jahre später mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern 174 . Die Pflichten des Kirchenpräsidentenamts brachten Hild mitunter an seine Grenzen. So resümierte er bereits 1973: „Überhaupt bringt ein Amt wie das meine heute mehr Ärger als Freude“ 175 . In ruhigeren Momenten erkannte er aber auch an, dass er als Kirchenpräsident Gutes bewirken könne und dass ihm die Tätigkeit Freude bringe, „weil man doch ständig neu erfahren darf, dass sie auch gesegnet wird“ 176 . Das Vertrauen auf Gott, das er als Pfarrer und Seelsorger den Christen nahebringen wollte, wurzelte im eigenen Erleben selbst angesichts des Druckes, der auf ihm lastete. Gegenüber seinem Stellvertreter Helmut 170 Best. 94, Nr. 238, Helmut Hild, Gefährdet politisches Engagement die Stabilität der Kirche? , 6.9.1986. 171 Hild, Atomare Rüstung, 38. Hild trat der Vorstellung eines notwendigen Krieges energisch entgegen: „Wer sich dem Gedanken hingibt, dass ein Krieg unvermeidbar sei, ist schon im Banne des Krieges“ (Hild, KS EKHN, 6. KS, 1. Tag., 1980, 179). 172 Best. 94, Nr. 91. 173 Best. 120, Nr. 2891, „Ein großer Kirchenführer“, FAZ, 13.9.1999. 174 Kissel, KS EKHN, 5. KS, 6. Tag., 1976, 28; Best. 94, Nr. 55, Nr. 6; Kissel, Otto Rudolf, Zum Geleit, in: Kissel, Wahrheit, 7-11, hier 11. Wirken in der Öffentlichkeit. Dazu aber vgl. jüngst Schäfer, Karl Heinrich: Otto Rudolf Kissel. Ein Leben in christlicher Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Festgabe für Bundesarbeitsgerichtspräsident a.D. Präses a.D. Prof. Dr. Otto Rudolf Kissel zum 90. Geburtstag am 8. Januar 2019. Darmstadt 2019, 119. 175 Best. 94, Nr. 68, Schreiben von Hild, 9.2.1973. 176 Best. 94, Nr. 1, Schreiben von Hild, 4.1.1972; vgl. Best. 94, Nr. 91. 208 Ute Dieckhoff Spengler gestand er: „Ich habe seit meiner Amtsführung erst richtig beten gelernt - jedenfalls mit einer noch anderen Dringlichkeit als in früheren Jahren“ 177 . Hilds eigene Gesamteinschätzung seiner Amtszeit nahm sich wertschätzend und realistisch aus. Er habe als Kirchenpräsident keinen schweren Gang angetreten, sondern die EKHN habe sich als Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern erwiesen: „Mitunter wird die Freude getrübt durch Vorgänge, die den Geist der Brüderlichkeit vermissen lassen, durch Veröffentlichungen und die Reaktionen darauf. Man darf jedoch die Kirche nicht mit idealisierenden Augen betrachten“ 178 . Innerhalb der EKD wurde Hild häufig als „Linker“ eingeordnet, seine Selbstwahrnehmung war jedoch eine andere. Er führte diese Einschätzung darauf zurück, dass er Verständnis dafür habe, als Gesprächspartner herausgefordert zu sein. Er litt während seiner 16jährigen Amtszeit am meisten darunter, ständig Antworten geben zu müssen und Stellungnahmen zu Äußerungen abzugeben, bei denen er lieber noch abgewartet hätte, weil er noch nicht das Gefühl hatte, die Warte erreicht zu haben, die ihm den nötigen Ausblick sicherte. Der Leiter der Personalverwaltung der EKHN Dr. Roman Roessler schrieb Hild deswegen als typische Denkfigur die Ellipse zu, die immer zwei Brennpunkte habe 179 . Helmut Hild war ein Mann des Ausgleichs. Vor seiner Wiederwahl zum Kirchenpräsidenten fasste Präses Kissel seine Eigenschaften wie folgt zusammen: Hild sei ein „sachlich argumentierender Disputant, für die Argumente anderer aufgeschlossen - der im Andersdenkenden und -handelnden immer den Bruder sieht“ 180 . Der Synodale Wilhelm Aichert bescheinigte ihm eine integrative Wirkung: „ja, ich weiß nicht, ob es genau stimmt, ich kann fast feststellen, daß zu der Zeit, als Herr Niemöller Kirchenpräsident war, der Widerstand in den Gemeinden und die Kritik an dem Amt des Kirchenpräsidenten wesentlich deutlicher war als sie in irgendeiner Form an Ihnen geübt wird, Herr Kirchenpräsident“ 181 . Hilds Pflichtgefühl, das er für sich selbst lebte, wurde in seiner Umgebung auch als Strenge wahrgenommen. Er war daher in der Kirchenverwaltung eher gefürchtet als geliebt. Sein langjähriger Stellvertreter und nachheriger Amtsnachfolger Helmut Spengler resümierte: „Die unduldsame öffentliche Äußerung 177 Zit. nach: Spengler, Helmut: Vertrauen ist besser. Gemeinsame Sache mit dem Menschen und Christen Helmut Hild, in: Kissel, Wahrheit, 13-23, hier 15. 178 Hild, KS EKHN, 6. KS, 11. Tag., 1985, 17. 179 Best. 94, Nr. 253; Hild, KS EKHN, 6. KS, 10. Tag., 1984, 15; Roessler, Roman: Kirche und Gesellschaft. Synodalreden aus den Jahren 1969-1984, in: Kissel, Wahrheit, 79-115, hier 82. 180 Kissel, KS EKHN, 5. KS, 6. Tag., 1976, 29. 181 Aichert, KS EKHN, 6. KS, 9. Tag., 1984, 45. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 209 eines Mitarbeiters oder Briefe, die dem Sachzusammenhang der kirchlichen oder politischen Wirklichkeit nicht gerecht werden und damit zugleich den betroffenen Menschen Unrecht tun, können ihn zornig zum Telefon greifen lassen“ 182 . Hild konnte in Konflikten scharf reagieren, wenn er das Gefühl hatte, dass Ordnung und Dienstaufsicht vernachlässigt würden. Nach Auseinandersetzungen war Hild allerdings allerdings auch zur Versöhnung bereit 183 . Wie keiner seiner Vorgänger musste Hild auf die Herausforderungen einer besonders unruhigen Gegenwart Antwort geben. Unter dem Blickwinkel der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau als politischer Kirche war Hilds Eintreten für eine Politik der Versöhnung der Bundesrepublik mit den Ländern in Osteuropa von besonderer Bedeutung und nachhaltigem Einfluss über die heimische Kirche hinaus. Die Ostverträge waren für ihn kein parteipolitisches Problem, sondern eine grundsätzliche Frage, die von ihm als Christ und Kirchenpräsident ein engagiertes Handeln forderte. Dies belegt deutlich seine folgende Aussage: „Es ging um die Frage, ob die Aussöhnung mit den von uns schwer geschädigten Völkern im Osten politisch ermöglicht wird oder nicht; um die Frage, ob das Prinzip der Auseinandersetzung um Recht und Recht haben oder das Ziel der Ermöglichung von Frieden die Politik bestimmen; auch um die ganz praktische Frage, ob die Christen in den betroffenen Ländern die häufigen Beteuerungen ihrer Brüder in Westdeutschland zum Wunsch nach Versöhnung für glaubwürdig halten können oder nicht. Aus diesen Gründen habe ich persönlich gesprochen und dabei auch bewusst mein Amt in die Waagschale geworfen. Dass dadurch mein Amt nicht ruhiger und leichter wurde, war mir von Anfang an klar“ 184 . Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalische Quellen aus den Beständen des Zentralarchivs der EKHN, Ahastraße 5a, 64285 Darmstadt: Verhandlungen der Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Protokoll der Verhandlungen, hg. von der Kirchenleitung der EKHN (KS EKHN): Vierte Kirchensynode: 3. Tagung 23.-26.3.1969; 4. Tagung 9.-14.11.1969, Teil 1; 5. Tagung 8.-11.3.1970; 7. Tagung 23.-25.10.1970; 8. Tagung vom 4.-8.12.1970; 9. Tagung 5.-9.3.1971; 10. Tagung 2.-4.7.1971; 11. Tagung 26.-30.11.1971; 12. Tagung 18.-20.2.1972; 14. Tagung 15.-18.11.1972; 15. Tagung 16.-18.2.1973; 16. Tagung 26.- 29.11.1973; 182 Spengler, Vertrauen, 16. 183 Ebd.; Hild, KS EKHN, 4. KS, 14. Tag., 1972, 269. 184 Best. 155, Nr. 4355, Schreiben von Hild vom 5.10.1972. 210 Ute Dieckhoff Fünfte Kirchensynode: 1. Tagung 29.3.-1.4.1974; 2. Tagung 10.-15.11.1974; 3. Tagung 28.2.-2.3.1975; 4. Tagung 30.11.-5.12.1975; 5. Tagung 26.-28.3.1976; 6. Tagung 1.- 5.11.1976; 7. Tagung 4.-6.3.1977; 8. Tagung 3.-4.6.1977; 10. Tagung 4.-5.3.1978; 15. Tagung 26.-29.11.1979; 13. Tagung 17.-18.3.1979; Sechste Kirchensynode: 2. Tagung 24.-28.11.1980; 3. Tagung 27.-28.3.1981; 4. Tagung 9.-13.11.1981, Bd. 2; 5. Tagung 19.-21.3.1982; 7. Tagung 11.-13.3.1983; 8. Tagung 28.11.-3.12.1983; 9. Tagung 16.-18.3.1984; 10. Tagung 3.-7.12.1984; 11. Tagung 15.- 16.3.1985. Erklärung der Kirchenleitung der EKHN zum Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens vom 16. Oktober 1981, in: Hild, Helmut / Huth, Hans / Odin, Karl-Alfred (Hrsg.): Das christliche Gewissen. Von der Verantwortung der Christen. Göttingen 1982, 50-53. Kirchenamt der EKD in Hannover (Hg.): Lübeck - Travemünde 1984. Bericht über die siebte Tagung der sechsten Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 4. bis 8. November 1984. Hannover 1985. Hanselmann, Johannes / Hild, Helmut / Lohse, Eduard (Hrsg.): Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1984. Herbert, Karl: Durch Höhen und Tiefen. Eine Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, hg. v. Leonore Siegele-Wenschkewitz unter Mitarbeit v. Gury Schneider-Ludorff. Frankfurt 1997. Hild, Helmut (Hg.): Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsbefragung. Gelnhausen, Berlin 1974. Ders.: Brücken schlagen. Theologische Beiträge zu Fragen unserer Zeit. Göttingen 1981: Die Bergpredigt - Wegweisung in unserer Zeit, 9-23, Das Bekenntnis der Kirche und die Konfessionen, 24-44, Brücken schlagen - Versöhnung als Aufgabe der Christen, 45-52, Protestantismus - seine Verantwortung für morgen, 53-72, Die Kirche an der Basis, 112-131, Der Stellenwert des Politischen im kirchlichen Leben und Handeln, 132-148, Der Atheismus im Lichte des Evangeliums, 158-176. Ders.: Die Welt braucht Frieden - den nächsten Krieg gewinnt der Tod. Kirchliche Verantwortung für praktische Friedensfragen. Vier Reden. Stuttgart 1983: Die Friedensverantwortung der Kirche in der Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland. Referat in der Geistlichen Akademie Sagorsk, Juni 1982, 9-29, Atomare Rüstung und kirchlicher Friedensdienst. Überlegungen zum Gespräch zwischen Vertretern des Nationalen Kirchenrates in den USA und dem Rat der EKD. Berlin, Februar 1983, 31-58, Die Welt braucht Frieden - den nächsten Krieg gewinnt der Tod. Ansprache zum Antikriegstag des DGB Rheinland-Pfalz, Mainz, 1. September 1981, 59-77, Das Amt der Versöhnung. Vortrag im Hessischen Rundfunk, Pfingsten 1982, 79-93. Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart 211 Ders.: Verantwortung aus Glauben. Ausgewählte Vorträge und Predigten, hg. vom Evangelischen Bund in Hessen und Nassau. Darmstadt 1991: Glaube als Motiv und Maßstab politischer Verantwortung, 13-33, Kirche im demokratischen Staat. Das Bekenntnis von Barmen und wir, 59-79, Partnerschaft und Freiheit. Zum Verhältnis von Kirche und Staat, 81-95, Mut zur Zukunft. Evangelische Christen vor der Zukunftsfrage, 149-165, Ich glaube an die heilige christliche Kirche, 167-189, Was spricht heute dafür, Christ in der Evangelischen Kirche zu sein, 191-212. Ders.: Jugendjahre in Kubach, in: Cubach 1000, Kubach 2000. Ein altes Dorf mit großer Vergangenheit, Red. Hans-Helmut Hoos. Weilburg-Waldhausen 2000, 123-143. Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Leipzig 1989. Johnsen, Hartmut: Der Startbahn-West-Konflikt. Ein politisches Lehrstück? Zeitzeugen ziehen Zwischenbilanz. Frankfurt 1996. Kissel, Otto Rudolf (Hg.): Helmut Hild - die Wahrheit trennt nicht. Zeugnisse, Reflexionen und Reden 1969-1984. Festgabe aus Anlaß der Verabschiedung von D. Helmut Hild als Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Darmstadt 1985: Kissel, Otto Rudolf, Zum Geleit, 7-11, Kratz, Wolfgang, Person und Glaube. Predigten und geistliche Ansprachen aus 15 Jahren, 25-59, Roessler, Roman, Kirche und Gesellschaft. Synodalreden aus den Jahren 1969-1984, 79-115, Spengler, Helmut, Vertrauen ist besser. Gemeinsame Sache mit dem Menschen und Christen Helmut Hild, 13-23. Mantei, Simone: Nein und Ja zur Abtreibung. Die evangelische Kirche in der Reformdebatte um §. 218 StGB (1970-1976). Göttingen 2004. Oelke, Harry: Westdeutsche Kirchengeschichte 1945-1989, in: Kunter, Katharina / Schjørring, Jens Holger (Hrsg.); Europäisches und Globales Christentum. Herausforderungen und Transformationen im 20. Jahrhundert. Göttingen 2011, 171-202. Pötzsch, Horst, Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der beiden deutschen Staaten. München 1998. Schäfer, Karl Heinrich: Otto Rudolf Kissel. Ein Leben in christlicher Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Festgabe für Bundesarbeitsgerichtspräsident a.D. Präses a.D. Prof. Dr. Otto Rudolf Kissel zum 90. Geburtstag am 8. Januar 2019. Darmstadt 2019. Tripp, Sebastian: Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970-1990. Göttingen 2015. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“: Der Primat der Empathie in politisch polarisierender Zeit Gisa Bauer / Anette Neff 1. Einleitung Es ist ein Gemeinplatz zu behaupten, dass die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) wenn schon nicht die , dann doch eine der politischsten Landeskirchen im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland ist. Zwar beklagen nicht wenige der Mitglieder dieser Landeskirche von Zeit zu Zeit und von Konfliktfall zu Konfliktfall dieses Image, es scheint jedoch auch eine Quelle des Stolzes und der kritischen Selbstvergewisserung vieler in der EKHN zu sein. Diverse kirchenleitende und/ oder prägende Personen werden bei einer Aufzählung der Diskurse, in denen das Beziehungsgeflecht zwischen Politik und Kirche, zwischen Handeln und Glauben jeweils neu bestimmt wurde, immer wieder genannt. Dazu gehört das politische Schwergewicht Martin Niemöller, 1 für den es nach eigenem Verständnis keine höhere Berufung als das Pfarrersein gab und der keiner Auseinandersetzung auswich, wenn er sie als theologisch notwendig erachtete. Dazu gehört weiterhin der Theologe des Industriezeitalters Horst Symanowski, 2 der von der Gossner Mission kommend mit seinem Projekt eines Seminars für Industriearbeit im hessen-nassauischen Kirchengebiet heimisch und von der Landeskirche finanziert wurde - der „red brother between the church 1 Vgl. den Beitrag von Jan Schubert „Martin Niemöller (1892-1984)“ in diesem Band. 2 Für Horst Symanowski wurden verschiedentlich Festschriften von Weggefährten und Weggefährtinnen aufgelegt. Eine Mischung aus seinen - neuabgedruckten - Texten und Beiträgen anderer Autoren bietet: Huft, Wilhelm / Müller, Jörg / Schröder, Christian (Hrsg.): Horst Symanowski. Kirche und Arbeitsleben: getrennte Welten? Impulstexte aus 1950-2000 und ihre bleibende Herausforderung. Münster 2005 (= Entwürfe zur christlichen Gesellschaftswissenschaft, 17). Der Titel „red brother“ wurde Symanowski in einer BBC Dokumentation, die am 8. März 1967 ausgestrahlt wurde, verliehen (A Viewpoint film. Vernon Sproxton talked with Horst Symanowski, BBC 1967). 1966/ 67 wurden mindestens drei Beiträge zu Horst Symanowski in den Radio- und Fernsehkanälen des BBC gesendet. 214 Gisa Bauer / Anette Neff and the world“ der evangelischen Kirche in Deutschland, wie ihn die BBC in den 1960er Jahren bezeichnete. Zu nennen ist auch der Grenzgänger Herbert Mochalski, 3 der als einer der führenden Figuren der Prager Friedenskonferenz im Getümmel des Kalten Krieges eine Position einnahm, die von der offiziellen Politik der Bundesrepublik Deutschland nicht geteilt wurde, die er aber dennoch mit publizistischen Mitteln und dem Rückhalt durch seinen Freund Niemöller zu verbreiten wusste. Oder der Frankfurter Propst Dieter Trautwein, ein Freund von Oskar Schindler, der einerseits als Kirchenliederneuerer vordergründig unpolitisch wahrgenommen wurde, 4 andererseits aber als „Gesprächaufrechterhalter“ selbst zu Extremisten wie RAF-Terroristen immer in Gefahr stand, mit deren Position in eins gesehen zu werden. Eine ebenfalls wesentliche Rolle bei der „Politisierung“ der EKHN spielte die Riege „starker“ Theologinnen, die eine ganze Reihe von „erstmals“-Positionen einnahm, wie die erste Dekanin im Bereich der EKD, Waltraud Frodien, die erste Pröpstin in Deutschland, Helga Trösken, die erste Direktorin einer evangelischen Akademie, Leonore Siegele-Wenschkewitz, und viele andere mehr. 5 Sie alle stehen als Ausweis für die frühe und große Resonanz der Zweiten Frauenbewegung in der EKHN. 3 Über Herbert Mochalski wurde bisher wenig gearbeitet. Als meinungsfreudiger, publizistisch aktiver Theologe findet er jedoch wiederholt Erwähnung in Lexika wie dem Personenlexikon des deutschen Protestantismus, dem Munziger Archiv oder dem Darmstädter Stadtlexikon, aber auch in Veröffentlichungen im Feld der kirchlichen Zeitgeschichte: Braun, Hannelore / Grünzinger, Gertraud (Bearb.): Personenlexikon zum deutschen Protestantismus 1919-1949. Göttingen 2006, 176; www.munzinger.de/ search/ portrait/ Herbert+Mochalski/ 0/ 6549.html; Stadtlexikon Darmstadt, hrsg. vom Historischen Verein für Hessen im Auftrag des Magistrats der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Darmstadt 2006, 636 f.; Müller, Josef: Die Gesamtdeutsche Volkspartei. Entstehung und Politik unter dem Primat nationaler Wiedervereinigung, 1950-1957 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 92). Düsseldorf 1990, 418; Süselbeck, Heiner: Niemanden verloren geben: Briefwechsel zwischen Helmut Gollwitzer und Hermann Schlingensiepen 1951-1979. Berlin 2014, passim. 4 Die meisten Publikationen von und zu Dieter Trautwein sind Liedsammlungen. Seine Autobiographie konnte er vor seinem Tod 2003 noch selbst beenden, erschienen ist sie post mortem (Trautwein, Dieter: Komm Herr segne uns: Lebensfelder im 20. Jahrhundert. Frankfurt/ Main - Butzbach 2003). 5 In den einschlägigen Lexika findet sich nichts von oder über Waltraud Frodien oder Helga Trösken. Trösken ist mit einem eigenen Eintrag in Wikipedia zu finden. Sie war auch mehrfach Gegenstand von Pressemitteilungen der EKHN und beide sind aufgenommen worden in deren Webseiten zur Frauenbewegung in der EKHN (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Helga_Trösken; www.ekhn.de/ ueber-uns/ geschichte/ frauenbewegung-in-der-ekhn. html). Leonore Siegele-Wenschkewitz als publizierende Theologin ist wesentlich besser recherchierbar. Zudem wurde ihr ein Erinnerungsband gewidmet (Düringer, Hermann / Weintz, Karin [Hrsg.], Leonore Siegele-Wenschkewitz: Persönlichkeit und Wirksamkeit. Frankfurt am Main 2000) und nach ihr wurde ein Preis benannt, der alle zwei Jahre für Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 215 Diese Reihe ließe sich noch lange fortführen. Während all diese Personen als Exponenten und Exponentinnen von dezidierten politischen Meinungen und Positionen wahrgenommen werden, fällt eine eindeutige Festlegung seiner Position innerhalb der politischen Sphäre bei Kirchenpräsident D. Helmut Spengler schwer. Typisch für seine Einordnung im kommunikativen Gedächtnis der EKHN ist die Würdigung durch seinen Amtsnachfolger Volker Jung, der ihn anlässlich seines 85. Geburtstags als „politischen Vermittler und Theologe[n] der Aussöhnung“ charakterisierte, und der betonte, dass Spengler jemand sei, „mit dem man einfach gerne redet“. 6 Dies passt auch zu Spenglers eigener Darstellung, der von sich selbst sagt: „Ich war nicht so politisch wie andere.“ 7 Spenglers Überlegungen in den 1960er Jahren, in die SPD einzutreten, sofern es zu keinem politischen Wechsel in Deutschland käme, der die gegebenen Verkrustungen auflöse, 8 sind Ausweis eines vorhandenen genuinen politischen Interesses. Sie zeigen ihn aber gerade nicht als politisch Aktiven. Brandts Kanzlerschaft machte diesen Schritt für Spengler als Staatsbürger obsolet. Die folgende biographische und wirkungsgeschichtliche Skizze versucht herauszuarbeiten, inwiefern das ihm zuerkannte politische Vermitteln und theologische Aussöhnen seiner jeweiligen Rolle oder seinem persönlichen Wollen entsprang oder ob es gar überhaupt keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Positionen bei Helmut Spengler gegeben hat. Eine Besonderheit ergibt sich bei der Würdigung seines Wirkens durch seine vielen Amtsjahre als stellvertretender Kirchenpräsident von 1973 bis 1984, also in politisch stark bewegten Zeiten in Hessen. Diese Zeit als Stellvertreter von Kirchenpräsident Helmut Hild, mit dem ihn nicht nur der Vorname verband und dem er loyal zuarbeitete, konfrontierte ihn mit wichtigen politischen Themen. In der Funktion des Stellvertreters blieb er in der öffentlichen Wahrnehmung im Hintergrund. Doch für eine Abwägung von Helmut Spenglers politischer Einstellung und Wirkung sind diese Jahre zentral, da viele Maßnahmen der Kirchenleitung der EKHN auf der Arbeitsebene von ihm vorbereitet und vom Kirchenpräsidenten aufgenommen wurden. Es muss nicht nur bei einigen Themen gefragt werden, was Arbeiten in Feministischer Theologie bzw. Gender Studies in der Theologie vergeben wird (www.verein-fem-theologie.de/ lswpreis/ der-preis). 6 Pressemitteilung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau vom 16.04.2016, https: / / unsere.ekhn.de/ detail-unsere-home/ news/ spengler-politischer-vermittler-undtheologe-der-aussoehnung-wird-85.html. 7 Zeitzeugengespräche D. Helmut Spengler mit Anette Neff am 2.12.2002, 28.1.2003 und 12.8.2003, Transkription der Gespräche, Ms., Darmstadt 2003, ZA EKHN, Best. 331 „Erzählte Geschichte der EKHN“, hier 32. Im Folgenden werden die Zeitzeugengespräche unter dem Kurztitel „Zeitzeugengespräch“ und der entsprechenden Seitenzahl der Transkription geführt. 8 Zeitzeugengespräch, 32. 216 Gisa Bauer / Anette Neff daran Helmut Hilds Aktivitäten zuzuschreiben oder eventuell auch auf Helmut Spengler zurückzuführen ist, 9 sondern vor dem Hintergrund einer bisher fehlenden Darstellung und Würdigung seines Wirkens als Kirchenpräsident ganz gezielt diese Vorläuferzeit als Stellvertretender Kirchenpräsident in den Blick genommen werden. Kirchenpräsident Helmut Spengler (Bild: EKHN, Öffentlichkeitsarbeit) Für seine Prägung ist, und das mag als erste These zu Helmut Spengler gelten, seine Biographie von entscheidender Bedeutung. Konfrontiert seit frühester Jugend mit „unbedingten“ Werthaltungen 10 gesellschaftspolitischer und religiöser Natur vor dem Hintergrund eigener Zweifel an deren verbindlichem Erklärungsgehalt, entwickelte sich Helmut Spengler zu einem Suchenden, der verstehen und durchaus gestalten, aber nicht ideologisch festlegen wollte. Dazu fehlte ihm die völlige Überzeugung von gefundenen Lösungen. Helmut Spengler ist insofern das Gegenteil eines Extremisten. Vielleicht macht seine größte Qualität - als Kirchenpräsident wie als Mensch - aus, Widersprüche aushalten zu können und an deren allmählichen, möglichst viele Menschen einbindenden Überwindung zu arbeiten. 2. Biographie Bis auf einige biographisch untermauerte Würdigungen Helmut Spenglers anlässlich von Geburtstagen oder Ehrungen steht eine Biographie des vierten Kirchenpräsidenten der EKHN noch aus. 11 Die folgenden Ausführungen zu seinem persönlichen Werdegang beruhen daher im Wesentlichen auf seinen eigenen Aussagen in mehreren Gesprächen mit Anette Neff, Mitautorin dieses Beitrages, in den Jahren 2002 und 2003. 9 Helmut Hild wurde anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand eine Festschrift übergeben, zu der Helmut Spengler beigetragen hatte (Kissel, Otto Rudolf [Hg.]: Helmut Hild - Die Wahrheit trennt nicht: Zeugnisse, Reflexionen und Reden. 1969-1984. Festgabe aus Anlaß der Verabschiedung von D. Helmut Hild als Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Frankfurt a. M. 1985). Für Helmut Spengler liegt leider kein ähnliches Werk vor, so dass der spannende Vergleich der zugeschriebenen Schwerpunkte und real erledigten Arbeitsfelder ausbleiben muss. 10 Auch wenn der Begriff des „Unbedingten“ von Michael Wildt ursprünglich für die leitende Generation einer Schaltzentrale des NS-Systems entwickelt worden ist, kann er u. E. als pointiertes Signum auch für andere „Generationen“ und für andere Werthaltungen in der NS-Zeit gelten (vgl. Wildt, Michael: Generation des Unbedingten: Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002). 11 Dementsprechend sind die Einträge zu Helmut Spengler in Wikipedia, im „Munzinger Archiv“ und im „Who is who“ ausgesprochen knapp. In der Reihe der ehemaligen Kirchenpräsidenten auf der Webseite der EKHN ist seine Würdigung mit Abstand die kürzeste („Helmut Spengler“ von Stephan Krebs, www.ekhn.de/ ueber-uns/ aufbau-der-landeskirche/ leitung-der-kirche/ kirchenpraesident/ ehemalige-kirchenpraesidenten.html). Das dabei ausgebreitete familiäre Tableau ist ausgesprochen vielfältig mit einer fundamentalen Spannung zwischen bürgerlichem Herkommen, der Kindheit bzw. Jugend im Arbeitermilieu sowie der pietistischen Lebenswelt; das alles in der Zeit des Nationalsozialismus und mit einer engen Anbindung an die Nachbarn, deren Familienvorstand, gleichzeitig auch Vater seines besten Freundes, strikt atheistisch war. Der erwähnte bürgerliche Hintergrund geht auf Helmut Spenglers Großeltern väterlicherseits zurück. Sein Großvater arbeitete als Ingenieur in der Firma für Sanitätsanlagen eines Onkels, der europaweit Geschäfte tätigte. Bei einer seiner dienstlichen Reisen begegnete er Ende des 19. Jahrhunderts in Weißrussland der späteren Großmutter Helmut Spenglers. Der Großvater überzeugte die 17jährige, ihm nach Deutschland zu folgen. Sie wurde daher von ihren Eltern enterbt, obwohl es zu einer formalen Eheschließung kam und ein Sohn, der Vater Helmut Spenglers, geboren wurde. Die Ehe scheiterte und die Großmutter kehrte 1914 ohne den Sohn ins Russische Reich zurück. Sie wurde als deutsche Staatsbürgerin nach Kriegsausbruch in Sibirien interniert, hatte aber als Erzieherin für Musik und Kunst in einem Arzthaushalt ihr Auskommen. Diese Beschäftigung wurde durch die Russische Revolution beendet. Daraufhin zog sie wieder ins Deutsche Reich. Nach finanziell relativ guten Jahren als Klavierlehrerin in Dresden verarmte Helmut Spenglers russische Großmutter in den Jahren der Inflation und lebte dann vor allem von der musikalischen Begleitung von Stummfilmen. Ihr Sohn Heinrich blieb beim Vater und begleitete ihn zu Baustellen in ganz Europa; zumindest außerhalb der Schulzeiten, die er in einem Internat der Brüdergemeinde verbrachte. Die Situation änderte sich grundlegend, als sich der Vater mit seinem Onkel, dem Firmenleiter, überwarf. Das führte dazu, dass Heinrich Spengler die Schule verlassen musste. Als 17jähriger wurde er im Ersten Weltkrieg zum Kriegsdienst eingezogen. Die eigentlich angedachte Karriere als Maschinenbauingenieur ließ sich unter den neuen Bedingungen nicht verwirklichen. Er wurde nach dem Ende des Krieges Schweißer im Bereich des Sanitäranlagenbaus. 1920, auf Montage in Oberschlesien, lernte er seine spätere Frau Gertrud kennen. Die Mutter Helmut Spenglers war als 18jährige Vollwaise geworden und trug die Verantwortung für sechs jüngere Geschwister. Die Familie war fest verwurzelt im preußischen Pietismus in Oberschlesien, während der Vater Helmut Spenglers wohl erst im Internat der Brüdergemeinde intensiver mit christlicher Glaubenspraxis in Berührung gekommen war. Ursprünglich also eher säkular, tolerierte er jedoch das Frömmigkeitsleben seiner Frau. Die beiden Eheleute zogen nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Oberschlesien zwischen den Deutschen des „Schlesischen Selbstschutz“, mit dem Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 217 218 Gisa Bauer / Anette Neff Kirchenpräsident Helmut Spengler (Bild: EKHN) Heinrich Spengler sympathisierte, und polnischen Aktivisten in den Westen, nach Wetzlar. Dort erlebte Heinrich Spengler Mitte der 1920er Jahre eine als dramatisch empfundene Bekehrung. Er und seine Frau fanden in deren Folge in einer Marburger Gemeinschaft auf der Jäcksburg ihre geistliche Heimat und ihren Lebensmittelpunkt. Finanziell waren es sehr schwierige Jahre, da Heinrich Spengler zwischenzeitlich arbeitslos war. Die Frömmigkeit der Eltern, die ihnen half, kulturelle und mentalitätsbedingte Unterschiede in der Ehe zu bewältigen, begründete aber auch manche Konflikte, z. B. hinsichtlich der Sexualität. Empfängnisverhütung war in pietistischen Kreisen nicht gestattet, doch die Eltern Spengler waren sich nicht sicher, ob sie Kinder in den unsicheren Zeiten Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre würden aufziehen können. Helmut Spengler äußerte im Rückblick leicht amüsiert, er sei mit großen Bedenken am 19. April 1931 ins Leben gebracht worden. 12 Man habe sich gefragt, ob das denn gehe: zwei Kinder - gemeint waren Helmut Spengler und die drei Jahre ältere Schwester Ilse - und der Vater arbeitslos. Dank der Solidarität in der Glaubensgemeinschaft, die sich in anonymen Spenden auf der Türschwelle in Form eines Sackes Kartoffeln oder einer Schwarte Speck manifestierte, überstanden die Spenglers jedoch die härtesten Zeiten. Vor diesem Hintergrund war der beruflich bedingte Umzug der Familie nach Lollar im Jahr 1934 ein harter Bruch, da dadurch vielfältige Verbindungen getrennt wurden. Lollar bei Gießen war ein sozialdemokratisch geprägtes Dorf, das von zumeist nicht-kirchlichen Buderus-Arbeitern bewohnt wurde. Die Familie Spengler kam im Haus des Schneidermeisters Zeug, der aus der Kirche ausgetreten war, unter. Die Eheleute Zeug hatten ebenfalls einen Sohn und eine Tochter. Trotz weltanschaulicher Differenzen fanden die Atheisten und die Pietisten im Haus über die Musik zusammen. Helmut Spengler hat in dieser Zeit Geige spielen gelernt, eine lebenslange Leidenschaft, und der Sohn der Familie Zeug, Dieter Zeug, wurde sein bester Freund. 13 Beide galten in Lollar als Außenseiter, weil die Mütter nicht aus der näheren hessischen Umgebung stammten. Helmut Spenglers Mutter kam wie erwähnt aus Oberschlesien und Dieters Zeugs Mutter aus Elberfeld bei Wuppertal. Zu dieser angenehmen häuslichen Umgebung kam der Anschluss an eine Chrischona-Gemeinschaft im Nachbardorf Wißmar. Dort fanden die „frommen“ Spenglers ihre neue geistliche Heimstatt. Die Eltern waren besonders in den Chören in Wißmar aktiv - Heinrich Spengler leitete den Gemeinschafts- und Gemeindechor. Nach den Worten Helmut Spenglers war die spezifische Kom- 12 Zeitzeugengespräch, 7. 13 Die Freundschaft zu Dieter Zeug ist Helmut Spengler bis heute sehr wichtig: „Das hat mein Leben sehr stark geprägt: eine Frömmigkeitsgeschichte und ein atheistischer bester Freund.“ (ebd.). Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 219 220 Gisa Bauer / Anette Neff bination aus pietistischer Frömmigkeit und musikalischem Dienst der Eltern in den Chrischona-Gemeinschaften in Wißmar wie im ganzen Gießener Land Grundlage seiner kirchlichen Sozialisation. Die Reflexion dieser Erfahrungen und die Entwicklung einer weniger strikten, weltoffeneren Glaubenspraxis haben laut seiner Angabe viele Jahre seines Erwachsenenlebens gedauert. Die Bindung an die Chrischona-Gemeinschaft ebenso wie die zur Familie Zeug implizierte Loyalitäten, die vom nationalsozialistischen Regime in Frage gestellt wurden. 1934 war der unkirchliche, aber sehr geschätzte Vermieter Zeug im Dorf als Landesverräter verhöhnt und kurzzeitig in einem der frühen Konzentrationslager inhaftiert worden. Dagegen war Heinrich Spengler bei Buderus zum Vorarbeiter und Leiter der Lehrwerkstatt aufgestiegen. Die Nationalsozialisten machten ihn zu einem ihrer sogenannten Amtswalter in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und übertrugen ihm die Verantwortung für die Werksbibliothek in Lollar. Angebote, darüber hinaus „etwas zu werden“, waren daran gekoppelt, dass er seine nicht-nationalsozialistischen Beziehungen aufgab. Zunehmend bauten NS-Parteikader Druck auf, um ihn zu einem Eintritt in die Partei zu bewegen. Unterpfand war dabei die erreichte Stellung eines Amtswalters, die ihm entzogen werden sollte, wenn er sich nicht deutlicher zum nationalsozialistischen Regime bekannte. Die Diskussion um diese Parteimitgliedschaft wurde in der Familie und auch im Haus offen geführt. Während die Nachbarn Zeug und die eigene Ehefrau vehement dagegen argumentierten, entschied sich Heinrich Spengler 1941 Parteimitglied zu werden. Dabei mag eine gewisse Reverenz dem „Führer“ gegenüber, dem er das Ende seiner Arbeitslosigkeit zuschrieb, eine Rolle gespielt haben, wie auch die Überzeugung, innerhalb des Systems „etwas Gutes bewirken zu können“. Dieser Entschluss fiel, obwohl sich in der Familie Spengler niemand, auch nicht Heinrich Spengler, Illusionen über die Kirchenferne der Nazis machte. Das wurde spätestens im Nachgang der sogenannten „Reichskristallnacht“ deutlich, den antijüdischen Pogromen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Helmut Spengler erinnert sich, dass seine Mutter danach gesagt hat: „Wer Juden antastet, der tastet Gottes Augapfel an“, und auch Heinrich Spengler soll in diesem Zusammenhang geäußert haben: „Das Heil kommt von den Juden.“ Eine antisemitische Grundierung der Entscheidung, Parteimitglied zu werden, kann - nicht nur wegen dieser Bemerkung - ausgeschlossen werden. Auch Helmut Spengler war als Mitglied im Deutschen Jungvolk, als „Pimpf “ im „Fähnlein 31“, Teil des nationalsozialistischen Systems. Allerdings fielen er und sein Freund Dieter Zeug keineswegs durch willige Erfüllung ihrer Dienstpflicht auf. Das wurde zum Thema, als 1943 ein Fanfarenzug der Hitlerjugend gebildet werden sollte. Zwar stufte der Fähnleinführer die beiden als die musikalischsten Pimpfe ein, aber er musste gegenüber dem Kulturbeauftragten des Bannes eingestehen, dass sie nicht regelmäßig zum Dienst erschienen. Trotz der Begründung, sie müssten in der Schneiderei dem Vater bzw. im Garten der Mutter helfen, wurden sie vom Kulturbeauftragten vor versammeltem Fähnlein harsch gerügt. Diese Szene, die Helmut Spengler im Zeitzeugengespräch als „ein plakatives Ereignis“ bezeichnet, das symptomatisch für die Situation im Nationalsozialismus stehe, wurde ihm erst von seinem Freund Dieter Zeug in den 1970er Jahren in die Erinnerung zurückgerufen. Bemerkenswert ist die spätere Prominenz der Protagonisten dieser Episode: Pimpf Dieter Zeug wurde als Jurist Leitender Staatsanwalt in Kassel, Pimpf Helmut Spengler wurde als Theologe Kirchenpräsident der EKHN und der Kulturbeauftragte des Bannes, Scharführer Hans-Jochen Vogel, ging als Jurist aus der Verwaltung in die Politik und wurde Oberbürgermeister von München, Bundesminister und Kanzlerkandidat sowie Vorsitzender der SPD. Alle drei übernahmen also Führungspositionen in der Bundesrepublik Deutschland und von allen dreien ist bekannt, dass sie sich mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben. Allerdings konnte oder wollte Hans-Jochen Vogel sich an die beschriebene Szene nicht erinnern, als er in den 1970er Jahren von Kirchenpräsident Helmut Hild in Bonn darauf angesprochen wurde. 14 Das Kriegsende war für Helmut Spengler in vieler Hinsicht ein Neuanfang. Er war 1944 konfirmiert worden und litt zunehmend unter der kirchlichen Bevormundung durch seine Eltern. Gleichzeitig war er dankbar, dass sie ihm die weitere schulische Ausbildung ermöglichten - er wechselte nach Gießen auf das alte Realgymnasium - und entsprach deswegen ihrem Wunsch, im Gemeinde- und Gemeinschaftschor mitzusingen, während er das innerlich abgelehnte. Die Diskrepanz zwischen pietistischer Frömmigkeit und einer zumeist kirchenfernen Lebensumwelt war groß. Helmut Spengler wollte an der weltlichen Seite der Welt teilhaben, geriet dadurch aber in Konflikt mit den Regeln, denen seine Eltern willig folgten und die sie ihren Kindern auferlegten. Seine Schwester durfte die Haare nicht kürzer schneiden, sie wie er konnten nicht in die Tanzstunde gehen und ein Besuch der Kirchweih war ebenfalls verboten. In der Schule wurde er von Lehrern geprägt, die voller Idealismus den demokratischen Neuanfang in Deutschland begrüßten. Es sei eine veritable Umerziehung durch sehr beeindruckende Lehrerpersönlichkeiten gewesen, konstatiert Spengler im Nachgang. Diesen Lehrern haben er und seine Mitschüler fast alles geglaubt, auch dass es nie wieder Krieg geben würde. Mit dem induzierten intellektuellen Aufbruch aus der Engstirnigkeit und Formiertheit des Nationalsozialismus korrespondierte bei Helmut Spengler rebellisches Verhalten gegen die pietistischen Werte seiner Familie. Diese Phase der Auseinandersetzung 14 Ebd., 11. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 221 222 Gisa Bauer / Anette Neff endete im Februar 1948, als er sich im Verlauf einer Jugendfreizeit der Chrischona-Gemeinschaft nach intensiver Bibelarbeit, die ihn seine Elternkonflikte überdenken ließ, zusammen mit einigen anderen durch ein Sündenbekenntnis bekehrte. Typisch für den späteren Kirchenpräsidenten ist die reflektierte, aber auch hintersinnig-selbstironische Art und Weise, wie er diese Szene, die ihn aus der Rebellion zurück in den Pietismus führte, in ihren Abläufen schildert und dann zu interpretieren versucht. Er attestiert sich selbst eine gewisse „Autosuggestion“ und bemerkt zugleich, dass er sich nach der Bekehrung wohl fühlte, weil er nun in den Gebetsgemeinschaften laut mitbeten konnte - und mit Vertreterinnen des anderen Geschlechts auf Tuchfühlung sitzen konnte. Seine Eltern waren von dieser Entwicklung begeistert, seine Mitschüler dagegen schüttelten den Kopf. Helmut Spengler versteht diese Episode als ein Schlüsselerlebnis, das ihn noch einmal tief in den Pietismus hineingeführt hat, bevor er sich allmählich davon löste. Nach eigenen Worten war er bis in die Abiturzeit hinein sehr aktiv im Deutschen Jugendverband Entschieden für Christus (EC) 15 , bis ihn der dort geltende Absolutheitsanspruch immer mehr störte. Zudem wurden seine Anfragen innerhalb des Jugendbundes nicht gut aufgenommen oder ausreichend beantwortet: „Ich bin dann zu einem Fragenden und zu einem Suchenden geworden.“ 16 Seine Suche führte ihn ins Gießener Amerikahaus, wo er in der Bibliothek auf Werke Carl Gustav Jungs und auf „Offenbarung und Vernunft“ von Emil Brunner stieß. Beide Autoren berührten ihn sehr und beeinflussten ihn in der Folgezeit. Mit dem festen Willen, Menschen in ihrem Innersten verstehen zu wollen, und der noch nicht gefestigten Überzeugung, dass die Verbalinspirationslehre nicht notwendig für das Bibelverständnis sein muss, begann er daher 1951 sein Studium der Theologie in Marburg. Dort hinterließen Emil Balla und Rudolf Bultmann, in Bethel Herbert Girgensohn sowie die Psychiater Gerhard Schorsch und Walter Schulte bleibenden Eindruck bei ihm. Nach seinen eigenen Worten etablierte sich so seine neue religiöse und theologische Identität, die immer nach dem Menschen und 15 Der EC ist der deutsche Zweig der, Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entstandenen Jugendbewegung Christian Endeavour (CE) und stellt die Jugendorganisation der Gemeinschaftsbewegung in Deutschland dar. Eine umfassende Forschungsarbeit zum EC steht bisher aus. Selbstdarstellungen finden sich auf der Internetseite des deutschen Verbandes (www.ec.de) sowie in den Büchern des langjährigen EC-Mitarbeiters Arno Pagel (Pagel, Arno [Hg.]: Der Jugendbund für Entschiedenes Christentum. Geschichte, Grundsätze, Organisation. Kassel 1954; ders. [Hg.]: Sie wiesen auf Jesus. Marburg an der Lahn 1975; ders.: EC weltweit. Entschieden für Christus. Ereignisse und Gestalten aus einer hundertjährigen Geschichte. Kassel 1981). 16 Zeitzeugengespräch, 16. nach der horizontalen Situation des von Gott in die Welt gestellten Menschen in seiner Religiosität fragt. 17 Helmut Spengler wurde in dieser Entwicklung von Christiane Nohl, seiner späteren Frau, begleitet, die er in der Zeit des Abiturs im EC kennengelernt hatte. Obwohl die beiden die pietistischen Moralvorstellungen soweit beachteten, dass sie sich vor dem ersten Kuss bereits die Ehe versprochen hatten und keineswegs offensiv ihre Gemeinsamkeit darstellten, provozierten sie Ablehnung in ihrer pietistischen Umwelt. Helmut Spengler wurde noch dazu nachgesagt, ein Bultmann-Schüler zu sein, was seinen Ruf in diesem Umfeld weiter beschädigte. Helmut Spengler und Christiane Nohl verlobten sich schließlich offiziell vor dem Hamburger Kirchentag von 1953, um offener mit ihrer Beziehung umgehen zu können. Auch Christiane Nohl löste sich während ihres Studiums - sie wollte Volksschullehrerin werden - von ihren pietistischen Wurzeln. Helmut Spengler absolvierte schließlich 1956 in Marburg sein Erstes theologisches Examen mit dem Hauptfach Systematische Theologie und einer Examensarbeit zur Haltung des bedeutenden biblizistischen Theologen des 19. Jahrhunderts Martin Kähler zur Bibelfrage. Im selben Jahr wurde er in das Theologische Seminar aufgenommen. Er erinnert sich intensiv an sein Lehrvikariat in Wiesbaden, wo ihn sein Lehrpfarrer, der spätere Propst Gerhard Hagel gefordert und gefördert hat. Eine Szene aus dieser Zeit ist von besonderer Bedeutung für ihn, weil sie den Zusammenbruch seiner idealistischen Vorstellungen von der Welt, wie sie nach dem Krieg sein sollte, markiert. In der Markuskirche in Wiesbaden-Biebrich fand eine Militärtrauung statt, nach Spenglers Vermutung die erste in der neugegründeten Bundeswehr. Zu diesem Zweck kam ein Militärpfarrer aus Wien nach Wiesbaden. Helmut Spengler war von Pfarrer Hagel gebeten worden, auf seiner Geige zusammen mit der Organistin ein Stück zu spielen. Er beschreibt, wie ihm die Tränen kamen, als er die Männer in Uniform in der Kirche gesehen habe. Auch seine ehemaligen Mitschüler seien von der Entwicklung in der Nachkriegszeit sehr enttäuscht gewesen. Sie werteten die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, den Koreakrieg, vor allem die bundesdeutsche Wiederbewaffnung sowie später den Vietnamkrieg als Belege dafür, dass die Welt entgegen ihrer Hoffnungen und festen Erwartung nicht friedlicher, sondern sogar noch bedrohter wurde. 18 Helmut Spengler sah sich in Wiesbaden als Lehrvikar besonders auf den Gebieten der Seelsorge und Verkündigung herausgefordert. In der Offenbacher Markusgemeinde war das erneut der Fall und er musste sich in der Praxis bewähren. Er traf dort er auf einen engagierten Vorsitzenden des Gemeindever- 17 Ebd., 19. 18 Ebd., 12. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 223 224 Gisa Bauer / Anette Neff bandes, der als arbeitsamer Pfarrer und charismatischer Leiter auffallend viele junge Menschen um sich scharte und sie durch enge Abhängigkeitsverhältnisse an sich band. Helmut Spengler sah sich schließlich gezwungen, den Propst für Starkenburg, Felix Rau, vertraulich über die Vorgänge in der Gemeinde zu informieren. Er bat Rau, ihn länger in der Markusgemeinde zu belassen, damit er eine Lösung der Situation herbeiführen konnte, bevor ein neuer Vikar dort ebenfalls in den Konflikt hineingeraten würde. Allerdings waren mittlerweile verschiedene Ebenen der EKHN, vom Dekan über den Propst bis hin zum Kirchenpräsidenten von dem Problem in Kenntnis gesetzt. Es kam trotz Gesprächen mit dem Betreffenden zu keiner Lösung, weil alle Vorwürfe abgestritten wurden und die Gemeindeglieder, die sich im Vier-Augen-Gespräch geöffnet hatten, keine offiziellen Aussagen machen wollten. Es sollte daher noch weitere zehn Jahre dauern, bis die Geschehnisse publik wurden und für massives Aufsehen sorgten; ein zwischenzeitliches Disziplinarverfahren war aufgrund des allgemeinen Schweigens im Sande verlaufen. Für Helmut Spengler war das eine Auseinandersetzung, bei der er Verantwortung für alle beteiligten Personen empfand und ihm die Fragilität der Würde des Menschen und seiner Beziehungen noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt wurde. Darüber hinaus verlief seine theologische Entwicklung als Vikar in Wiesbaden und Offenbach organisch: Es war ein allmähliches „Sich-Abseilen“ vom Pietismus. 19 Die Auseinandersetzung mit dem Pietismus wurde noch einmal virulent, als Spengler am 1. November 1958 von Offenbach nach Breidenstein in die Propstei Nord-Nassau versetzt wurde. Zum einen kam er in einen Ort, in dem 1961 neben einer römisch-katholischen Gemeinde (ihr gehörten rund 15 % der Einwohner an) drei Gruppierungen aus dem protestantischen Feld das Glaubensleben prägten: die volkskirchliche, evangelisch-lutherische Gemeinde, eine freie Gemeinschaft und eine darbystische Versammlung. Das heißt, hier hatte ein pietistisches Umfeld starken Einfluss in der Gemeinde. Zum anderen war der Start in Breidenstein davon überschattet, dass der bisherige, sehr beliebte Pfarrer, Dieter Trautwein, der spätere Frankfurter Propst, die Gemeinde überstürzt verlassen musste, um in Limburg eine Stelle anzutreten. Aber die Spenglers 20 richteten sich in einem halb fertig gebauten Pfarrhaus schnell ein, und Spengler nahm neben dessen Fertigstellung auch den Bau des Gemeindezentrums in Angriff. Die Verhältnisse vor Ort waren nicht einfach. Es gab die erwähnten 19 Ebd., 26. 20 Christiane Spengler war seit der Geburt des ältesten Kindes im November 1957 nicht mehr im Grundschuldienst tätig. In dieser Zeit waren berufstätige Frauen noch eine Ausnahme. Die EKHN erwartete und formulierte explizit, dass eine Pfarrfrau an der Seite ihres Mannes zu arbeiten habe. Helmut Spengler meint, dass es für ihn wichtig gewesen sei, diese „unselige Art“ patriarchalischen Denkens - zumindest später - zu erkennen. konfessionellen Gruppen in der Kommune, die untereinander durch vielfältige verwandtschaftliche Beziehungen verbunden waren. Die volkskirchliche Gemeinde sah sich dabei unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck, fromm zu sein - oder zumindest einen frommen Pfarrer zu haben. Insofern gab es einige Konflikte zwischen Gemeindegliedern und dem neuen Pfarrvikar, der nicht nur in Oberhessen, sondern in ganz Nordnassau den Ruf hatte, ein Bultmann-Schüler zu sein. Sein Besuch einer Kirmes führte gar zum Einholen eines Gutachtens beim bekannten pietistischen Missionspfarrer Wilhelm Busch, ob die theologischen Argumente Helmut Spenglers für seine Teilnahme stichhaltig wären. Trotz eines negativen Bescheids von Busch und manch anderer Schwierigkeiten konnte sich Helmut Spengler gut in der Gemeinde etablieren. Er amtierte in Breidenstein vom 1. November 1958 bis zum 30. Juni 1960 als Pfarrvikar, und seit dem 1. Juli 1960 als ordinierter Pfarrer auf Lebenszeit. 1962 übernahm Spengler zusätzlich die Funktion eines Dekanatsjugendpfarrers. Auch dies war ein Unterfangen, das in pietistischen Kreisen durchaus Irritationen auslöste. Bis dahin war es üblich gewesen, dass Jugendarbeit vom CVJM durchgeführt wurde. Nun wurden alternative Strukturen aufgebaut, die zudem auf Anklang bei den Jugendlichen stießen. Es erwies sich vor diesem Hintergrund als günstig, dass Helmut Spengler gleichzeitig Vorstandsmitglied im Kreisverband des CVJM war. 21 Er arbeitete als Dekanatsjugendpfarrer intensiv mit dem Dekanatsjugendpfleger zusammen und zog für sich persönlich Gewinn aus dieser Arbeit, wie er im Rückblick bemerkt: „Das war zum Teil auch ein Stück Befreiung, weil wir gemerkt haben, nur [dort], wo die Mitarbeiter und Pfarrer mit den Jugendlichen solidarisch leben und an deren Problemen teil[haben], nur da wächst wirklich [eine] eigenständige christliche Haltung, Frömmigkeit oder Spiritualität, wie immer man das nennen will.“ 22 Nach fünfeinhalb Jahren Tätigkeit als Pfarrer im ländlichen Raum leiteten Propst Ernst zur Nieden und der Pfarrer der Bad Homburger Erlösergemeinde, Heinz Bergner, den Wechsel Helmut Spenglers nach Bad Homburg in eine neugegründete Stadtrandgemeinde, die Gedächtnisgemeinde II, ein. Auch dort wartete das Bauprojekt eines Gemeindezentrums auf Spengler, aber wichtiger als Steine waren Helmut Spengler nach eigener Aussage immer die Menschen. Die Spenglers - der Plural ist bewusst gewählt, da Christiane Spengler einen großen Anteil an der Gemeindearbeit ihres Mannes hatte -, fanden auch in Bad Homburg schnell direkten Zugang zu den Gemeindegliedern. Die soziale Zusammensetzung der Kirchengemeinde unterschied sich allerdings sehr von Offenbach und vor allem von Breidenstein. Die Spannbreite der sozialen Schichten 21 Zeitzeugengespräch, 106. 22 Ebd. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 225 226 Gisa Bauer / Anette Neff war groß, und der Anteil von Akademikern wie der von leitenden Angestellten und Führungspersönlichkeiten in Banken und in der Industrie hoch. Es gab in dieser Kirchengemeinde anfangs zwei Hauskreise von Akademikern; Spenglers gründeten noch einige mehr, und bei einigen waren sie selbst Mitglieder. Privat komplettierte sich die Familie Spengler in Bad Homburg: Zu den drei Kindern, zwei Söhne und eine Tochter, die 1957, 1960 und 1963 in Breidenbach zur Welt gekommen waren, gesellte sich in Bad Homburg Ende 1970 als Nachzüglerin und als leicht verfrühtes Weihnachtsgeschenk eine zweite Tochter. Im Rückblick bewertet Helmut Spengler die Zeit in Bad Homburg, also die Jahre von 1964 bis 1973, als die schönste und wichtigste Zeit seines Lebens. 23 Dabei waren die Aufgaben in Bad Homburg anspruchsvoll, denn weitaus stärker als das hessische Hinterland war der Vordertaunus beeinflusst von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Dynamik Südhessens. Helmut Spengler fasst das in dem Satz zusammen: „Die Gemeinde hat sehr gegärt.“ 24 Neben einem eher evangelikalen Flügel von „Fackelträgern“ und CVJMlern gab es Gruppen wie die „Lupe“ und den „Radius“, in denen sich Menschen mit Gott und Kirche auseinandersetzten, die zum Teil auch beim Spartakusbund in Frankfurt aktiv waren. Dieses weite Spektrum sorgte für eine entsprechende Spannung in der Gedächtnisgemeinde, die nur deshalb ausgehalten werden konnte, weil in den Räumen der Gemeinde über alle wichtigen Zeitfragen diskutiert werden konnte, ohne darüber die Rückbindung an Jesus Christus zu vergessen. Der Name „Gedächtnisgemeinde“ war insofern nicht nur eine Erinnerung an das Gründerpaar und Stifter der Kirche. Spengler und seinem Amtskollegen Ernst Hotz war es wichtig, dass der Altarraum mit der Inschrift „Halt im Gedächtnis Jesus Christus“ geschmückt wurde. So war es möglich, in der Taufkapelle Marx zu lesen und im Hauptschiff einen Gottesdienst zu halten. An diese sehr spezifische Situation in den turbulenten, aber auch spannenden und zukunftsoffenen Zeiten Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre erinnerte Spengler die Gedächtnisgemeinde in seiner Predigt am 1. Dezember 2002 anlässlich der Einweihung der Kirche. Der Gottesdienst blieb für Helmut Spengler das entscheidende Element des aktiven Gemeindelebens. Um ihn zu stärken, lud er u. a. die vielen Hauskreise der Gemeinde ein, sich an Gottesdiensten zu beteiligen. Es gab bis zu 12 verschiedene Hauskreise mit bis zu 14 Teilnehmenden. Außerdem weitete er die Palette an Gottesdienstformen durch die Einführung von Jugend- und Familiengottesdiensten aus. Die Vielfalt an Überlegungen und Lebenshaltungen in der Gemeinde wurde von Spengler rückgeführt auf das für ihn zentrale Element 23 Ebd., 33. 24 Ebd., 34. der Verkündigung, das er wiederum in seinen Formen modernisierte und für Beiträge aus der Gemeinde öffnete. Obwohl er wiederholt nach dem Gottesdienst in der Sakristei aufgesucht wurde mit den Worten: „Also Herr Pfarrer, so können Sie das wirklich nicht sagen! “, war sein Auftreten in theologischer wie wohl auch in politischer Hinsicht nach eigener Einschätzung nicht radikal oder ideologisch genug, um wirklich anstößig zu wirken. Bad Homburg verbindet sich für Helmut Spengler zudem mit zwei wichtigen übergemeindlichen Aktivitäten. Deren erste steht nach seiner Wahrnehmung in einer direkten Verbindung zu seinen seelsorgerlichen Qualitäten. Mit seinem Bad Homburger Kollegen Heinz Bergner hatte er sich darüber ausgetauscht, dass die seelsorgerliche Aus- und Vorbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen, deren Zahl allmählich zunahm, unzureichend sei. Der Gedanke aus Marburger Studienzeiten ‚Du musst die Menschen verstehen‘, trieb Helmut Spengler weiterhin an. Auf der Suche nach Möglichkeiten zur Fortbildung in diesem Bereich kontaktierten er und Bergner Tobias Borcher, den damaligen Professor für Sozialpsychologie an der Frankfurter Universität und Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie. 25 Borcher, einer der ersten deutschen Analytiker, die einen gruppentherapeutischen Ansatz vertraten, vermittelte eine Balint-Gruppen-Arbeit. Im klassischen Sinne stellt diese Arbeit eine Plattform für Ärzte dar, um sich über das Arzt-Patientenverhältnis mit Kolleginnen und Kollegen unter Leitung eines Psychotherapeuten auszutauschen und über die Interaktionen klar zu werden. In diesem Fall besprach die Gruppe, die von Heinz Bergner und Helmut Spengler aktiviert worden war und hauptsächlich aus Pfarrern und Pfarrerinnen bestand, Seelsorgefälle aus der Gemeindearbeit. Geleitet wurde diese Balint-Gruppe, die sich fünf Jahre lang wöchentlich traf, von Hermann Argelander, dem damaligen Leiter der Ambulanz des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt und späteren Nachfolger Alexander Mitscherlichs auf dem Lehrstuhl für Psychoanalyse. 26 Ein Ergebnis dieser gemeinsamen Arbeit ist die Publikation „Konkrete Seelsorge“, die 1973 unter der Herausgeberschaft Argelanders veröffentlicht wurde. 27 Helmut Spengler konnte in Folge seiner Beschäftigung mit den neuen psychoanalytischen Ansätzen 25 Zu Brocher, der seit 20 Jahren verstorben, aber immer noch aufgelegt und rezipiert wird, gibt es keine biographische Studie. Ein längerer Nachruf in „Forum der Psychologie“ gibt Auskunft über die Grunddaten seines Lebens; Tobias Brocher 21.04.1917-30.10.1998, in: Forum der Psychoanalyse, Bd. 15, 1/ 1999, 85-87. 26 Die 10. Ausgabe der „Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis“ ist ein Themenheft zu Argelanders 75. Geburtstag. Zu Argelander vgl. Kutter, Peter: Laudatio für Hermann Argelander, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis X (1995), H. 1, 3-10. 27 Argelander, Hermann (Hg.): Konkrete Seelsorge. Balintgruppen mit Theologen im Sigmund-Freud-Institut Frankfurt (Main). Stuttgart, Berlin 1973. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 227 228 Gisa Bauer / Anette Neff eine deutlich erhöhte Annahme seiner seelsorgerlichen Angebote feststellen. Außerdem habe er wiederholt gehört, so Spengler im Rückblick, dass er anders predige, dass die Menschen das Gefühl hätten, er verstehe sie besser. In seiner Erinnerung zieht Helmut Spengler von diesen Erfahrungen ausgehend eine direkte Linie zu seinem verstärkten Interesse an Kirchenreformen. Daneben waren auch sein Coetus und eine Theologische Arbeitsgemeinschaft, 28 der er angehörte, Ausgangspunkte für sein Interesse an der Mitarbeit in Kirchengremien, speziell in der Synode. Diese Theologische Arbeitsgemeinschaft, in der sich vor allem oberhessische Pfarrer zusammengefunden hatten, war eine Reaktion auf die Überlegungen der sogenannten „Frankfurter Gruppe“, zu der u. a. der spätere Kirchenpräsident Helmut Hild und die späteren Oberkirchenräte Wolfgang Kratz und Roman Roessler gehörten. Die „Frankfurter“ waren den Mitgliedern der Theologischen Arbeitsgemeinschaft zu progressiv, denn es sei ihnen, zugespitzt gesagt, um die „Totalsäkularisierung der Kirche“ 29 gegangen. Diese Befürchtung wurde beispielsweise laut, als über ein neues Ordinationsformular diskutiert wurde, das der Mainzer Professor für Praktische Theologie Gert Otto, der zur Frankfurter Gruppe gehörte, 1970 in die Synode einbrachte. Nach Meinung der Theologischen Arbeitsgemeinschaft hätte man mit den Formulierungen auch einen leitenden Angestellten in einer Firma einführen können; ein religiöser Bezugsrahmen war für sie nicht mehr erkennbar. Helmut Spengler wurde Ende 1967/ Anfang 1968 von der Bad Homburger Dekanatssynode nach einer Kampfabstimmung gegen den amtierenden Dekan in die Vierte Kirchensynode der EKHN entsandt. Gleich zu Beginn, am ersten Tag der ersten Tagung am 26. März 1968, ergriff er das Wort, um die Kandidatur von Karl Dienst zum stellvertretenden Präses der Synode zu unterstützen; 30 allerdings ohne Erfolg. Außerdem wurde er sofort in den Benennungsausschuss gewählt 31 und im weiteren Verlauf der Synode auch noch in den Theologischen Ausschuss, nachdem Propst Arthus Rühl daraus ausgeschieden war. Helmut Spenglers Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit in kirchlichen Leitungsgremien wurde durchaus registriert. Viele konservative Synodale hofften auf- 28 Mitglieder der Theologischen Arbeitsgemeinschaft waren u. a. Otto Stroh (Professor im Friedberger Seminar), Karl Zeiss (Pfarrer in Frankfurt/ Main, schon bekannt als „Olympiapfarrer“ und engagierter Synodaler), Helmut Kern (Pfarrer in Ingelheim, später Propst von Rheinhessen) und Karl Dienst (Pfarrer in der Gießener Petrusgemeinde, später als Oberkirchenrat Theologischer Leiter für schulische und außerschulische Bildung). 29 Zeitzeugengespräch, 36. 30 Verhandlungen der Kirchensynode, 4. Kirchensynode, 1. Tagung, 43. 31 Ebd., 21 f. Die Aufgabe des Benennungsausschusses war es, Kandidaten und Kandidatinnen für Ämter in der EKHN, die von der Synode gewählt wurden, zu finden, Bewerbungen zu sichten sowie zu bewerten und der Synode dann begründete Vorschläge zu unterbreiten. grund Spenglers pietistischer Herkunft und seiner Mitgliedschaft in der Theologischen Arbeitsgemeinschaft auf einen energischen, jüngeren Vertreter ihrer Position. Tatsächlich war seine Haltung keineswegs eindeutig. So war er - ähnlich wie die „Frankfurter“, aber auch viele andere jüngere Synodale - der Meinung, dass ein Generationswechsel nötig war, dass die alten Kirchenkämpfer ihre Führungspositionen nicht unendlich prolongieren sollten. 32 Dagegen teilte er die Befürchtung von vielen konservativen Synodalen, dass beim Reformprozess in der Kirche deren Grundlage, die Bibel, aus dem Blick gerate. 33 Während ihn daher einige auf dem pietistischen Flügel der Synode verorteten, sah er sich selbst eher bei den Barthianern. Im ersten großen Konflikt der Vierten Kirchensynode der EKHN, der sich um das Antirassismusprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und dessen finanzieller Unterstützung durch die EKHN entzündete, war Spengler aktiv und als Debattenredner sowie als Antragssteller beteiligt. In der Synode wurde er anfangs eindeutig als Gegner des Programms - das zeitgenössisch mit dem allgemein stark diskutierten Thema „Gewalt“ verknüpft wurde - 34 wahrgenommen, da er die Maßnahmen des ÖRK als Entscheidung „für mögliche Gewaltanwendungen“ interpretierte. Er selbst nimmt für sich in Anspruch, dass er eine vermittelnde Position vertreten habe, wobei er in der eigenen Gemeinde eher als Befürworter der Position des ÖRK aufgetreten sei. Karl Herbert konzediert in seiner autobiographisch gefärbten Studie zur Geschichte der EKHN „Durch Höhen und Tiefen“, dass Helmut Spengler in der Dezembersynode 1970 einen von 54 weiteren Synodalen unterstützten Antrag eingebracht habe, der verhindern sollte, dass Kirchensteuermittel an gewaltbereite afrikanische Befreiungsorganisationen flossen, und zwar „in einer von allen Seiten anerkannten, um Verständigung bemühten Weise“. 35 Damit ließ Spengler erfolgreich die festen Erwartungen und klaren Gruppenzuschreibungen hinter sich, die sich auf seine Person bezogen, auch wenn der Antrag selbst keinen Erfolg hatte. Dennoch wurde sein Name bald als möglicher Nachfolger von Karl Herbert, dem Stellvertretenden Kirchenpräsidenten, von konservativen Synodalen gehandelt. 36 Auch im Benennungsausschuss, in dem er selbst Mitglied war, wurde er frühzeitig von dessen Vorsitzenden Wilhelm Fresenius, einem kirchlichen Laien 32 Helmut Spengler nennt die mehrheitliche Ablehnung der Wiederwahl von Propst Felix Rau durch die Synodalen ein „Fanal, das Zeichen des Neuwerdens“, vgl. Zeitzeugengespräch, 37. 33 Ebd., 129. 34 Tripp, Sebastian: Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970-1990. Göttingen 2015, 79. 35 Siegele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.): Karl Herbert: Durch Höhen und Tiefen. Eine Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Frankfurt am Main 1997, 282. 36 Dies und die folgenden Ausführungen vgl. Zeitzeugengespräch, 39-41. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 229 230 Gisa Bauer / Anette Neff und CDU-Mitglied, dahingehend angesprochen. Spengler erbat sich Bedenkzeit und entschied zusammen mit seiner Frau, diese Position nicht übernehmen zu wollen. Nach seiner förmlichen Absage telefonierte Wilhelm Fresenius zuerst mit Christiane Spengler und dann mit Kirchenpräsident Helmut Hild. Hild informierte seinen (Vor-)Namensvetter über die Aufgaben eines Stellvertreters und appellierte zudem an Helmut Spengler, die endgültige Entscheidung der Synode und dem lieben Gott zu überlassen, denn schließlich gäbe es auch noch andere Kandidaten und es sei gar nicht sicher, ob er gewählt würde. 37 Am 1. Juli 1972 trat Spengler gegen Walter Liefke aus dem Kirchensynodalvorstand und gegen den Propst von Nordhessen Karl Zöllner zur Wahl an. Im ersten Wahlgang entfielen von 178 Stimmen 88 auf ihn, 52 auf Propst Zöllner und 36 auf Pfarrer Liefke, so dass Spengler die erforderliche einfache Mehrheit von 89 Stimmen nur sehr knapp verfehlte. Die 99 Stimmen für ihn im zweiten Wahlgang waren zwar kein Erdrutschsieg, aber doch eindeutig, und so trat er zum 1. Januar 1973 das Amt des Stellvertreters des Kirchenpräsidenten an. 38 Aufgrund seiner Wiederwahl im November 1980 sowie seiner Amtszeit als Kirchenpräsident von 1985 bis 1993 nahm Spengler, sofern er nicht aus guten Gründen verhindert war, an allen Sitzungen der Kirchenleitung der EKHN in den nächsten 20 Jahren teil. 39 Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass der vordergründig als wenig politisch wahrgenommene Helmut Spengler für zwei Jahrzehnte eine der zentralen Personen in dieser als politisch wach und diskursfreudig geltenden evangelischen Landeskirche gewesen ist. So ist eine These dieser Erststudie über Spengler zu bedenken: Spengler war gerade dank seiner politisch nicht fixierten Position ein akzeptierter kirchenleitender Vertreter der gesellschaftspolitisch aktiven EKHN - nach innen wie nach außen. Seine Zeit als Stellvertreter war im Hinblick auf die drängenden politischen Fragen anspruchsvoll und vielfältig, auch wenn Helmut Hild das starke politische Profil der EKHN in der Außenwirkung verkörperte. Das war verknüpft mit der Position des Kirchenpräsidenten der EKHN in der EKD und mit seinem Interesse an der Aussöhnung mit den Völkern in Mittel- und Osteuropa, insbesondere mit Polen. In Zeiten massiver Friedensgefährdungen durch den latent heißen Kalten Krieg, wurden die über den Eisernen Vorhang hinwegreichenden Versöhnungsversuche der EKHN in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit durch Helmut Hild personifiziert. Die vielen weiteren - auch kirchenleitenden - 37 Laut Spengler habe Hild gesagt, er, Spengler, sei doch Pietist gewesen und immer noch ein bisschen Pietist, dann könne er das doch aus der Hand Gottes nehmen, falls die Synode ihn wähle (Zeitzeugengespräch, 41). 38 Verhandlungen der Kirchensynode, 4. Kirchensynode, 13. Tagung, 39-43. 39 Vom 15. Januar 1973 bis zum 16. März 1993 ist Helmut Spengler in den Protokollen der Kirchenleitung als Teilnehmer vermerkt. Personen aus Hessen und Nassau, die sich auf diesem Feld engagierten, wurden eher innerhalb der Landeskirche wahrgenommen. Das Verhältnis zwischen Helmut Hild und Helmut Spengler als seinem Stellvertreter war ein anderes als das zwischen Helmut Hild und Karl Herbert. Vor Helmut Spengler war Oberkirchenrat Karl Herbert als ehemaliger Propst und langjähriger Kenner der Kirchenverwaltung mit seinem Rückhalt in den Kreisen der Bekennenden Kirche in den vier gemeinsamen Jahren Hild ein fordernder Stellvertreter gewesen. 40 Helmut Spengler wiederum sah sich eher von Helmut Hild gefordert, der aufgrund seiner Auslandskontakte und EKD-Funktionen immer wieder abwesend war und seinem Stellvertreter das Tagesgeschäft überließ. Dazu gehörten auch manche unangenehme, da konfliktreichen Aufgaben, die der Kirchenpräsident an ihn delegierte. Das zeigte gleichzeitig das große Vertrauen Hilds in Spenglers stellvertretendes Handeln. Helmut Hild habe zu ihm gesagt: „Du bist mein Alter Ego, sozusagen mein anderes Ich“. 41 Daher verbinden sich manche Themen, die in die Zeit der Kirchenpräsidentschaft Hilds fielen, auch mit dem Namen Spengler. Teilweise wurden sie bereits im Beitrag zu Helmut Hild aufgeführt. Doch seien sie hier noch einmal kurz dargestellt, um sie in den Kontext von Spenglers Biographie zu stellen. Gleich in seiner ersten Kirchenleitungssitzung wurde der neue Stellvertreter mit der Aufgabe betraut, das schon lange ausstehende Lehrbeanstandungsgesetz vorzubereiten. 42 Dieses Gesetz sollte nach den Bestimmungen der Kirchenordnung von der Synode erlassen werden, die damit die Aufgaben und Befugnisse des sogenannten Spruchkollegiums festlegte. Es war jedoch nie dazu gekommen und nun forderte der seit 1969 amtierende Präses Rudolf Kissel, ein profilierter Jurist, von der Kirchenleitung das Gesetz oder zumindest seine Vorbereitung. Dieses Anliegen war nicht nur seiner Meinung nach dringend geworden. Mittlerweile hatten sich mehrere Vikare öffentlich zu ihrer Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) bekannt und einen Wahlaufruf unterschrieben. Das führte vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts zu jahrelangen kircheninternen Auseinandersetzungen und Grundsatzdiskussionen über die Vereinbarkeit von Pfarramt und parteipolitischem Amt. Helmut Spengler war in seiner Funktion als theologischer Grundsatzreferent der Kirchenleitung damit durchgehend intensiv beschäftigt und dies nicht nur im Hinter- 40 Helmut Spengler beschreibt dies anhand der Südafrika-Problematik: „Er [Hild] stand unter Druck des damaligen Stellvertreters und Ökumenereferenten Herbert. Der hat ihn sozusagen so am Schlafittchen genommen, dass er gedacht hat, das geht nicht anders.“ Hild habe ihm das später erzählt (Zeitzeugengespräch, 40). 41 Ebd., 118. 42 Ebd., 42. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 231 232 Gisa Bauer / Anette Neff grund. Wiederholt sprach er zu diesem Thema vor der Synode. 43 Im Rückblick bezeichnet er diese Aufgabe als seine „Taufe als Stellvertreter“, 44 auch wenn es bis zur endgültigen Einbringung des Gesetzes über das Spruchkollegium noch bis 1976 und bis zur Beschlussfassung bis 1977 dauern sollte. Dass ihm das das Gesetz politisch wie auch theologisch nicht leicht fiel, wird an seinen Aussagen in der Novembersynode 1976 deutlich: „Wenn Sie mich als Berichterstatter um meine persönliche Meinung fragen, so erwidere ich: ich bin für diese Vorlage mit einfacher Mehrheit meiner inneren theologischen Synode dahin gekommen, dass dieser Weg theologisch gangbar ist.“ 45 Helmut Spengler betont im Gespräch, wie sehr aufgrund der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit die Themen „Rassismus“, „Anti-Apartheid“, „DKP-Vikare“ und „Startbahn West“ - auf die im Folgenden auch noch genauer eingegangen werden wird - das Erinnern an die 1970er und 1980er Jahre in der EKHN dominieren. Bei einer solchen Betrachtung würden die immens wichtigen, jedoch mit wesentlich geringerer medialer Beachtung und eher allmählich abgelaufenen Prozesse der Kirchenreform hin zu einer Demokratisierung der kirchlichen Ebenen ungerechtfertigter Weise zu wenig beachtet. 46 Ein ebenfalls kaum wahrgenommenes Thema sei der Kampf der Pfarrerinnen wie auch der von anderen Frauengruppen in der Kirche um völlige Gleichstellung mit den Männern. Die zeitgenössisch so genannte „Frauenfrage“ wurde schon lange vor Helmut Spenglers Zeit als Stellvertreter virulent. 47 Er nimmt für sich in Anspruch, die Berechtigung der Anliegen der Frauen im Gegensatz zu Hild wenn auch nicht sofort, dann aber umfänglich erkannt und begleitet zu haben. 48 Wie auch in anderen Fällen verband er seine eigenen Erfahrungen mit dem Interesse für eine Aufgabe: „Von meiner Biographie her hatte ich ein Gespür für diese Frauenfrage, 43 Verhandlungen der Kirchensynode, 4. Kirchensynode, 15. Tagung, 139-141; Verhandlungen der Kirchensynode, 5. Kirchensynode, 2. Tagung, 241-243; Verhandlungen der Kirchensynode, 5. Kirchensynode, 4. Tagung, 96-101; Verhandlungen der Kirchensynode, 5. Kirchensynode, 5. Tagung, 203; Verhandlungen der Kirchensynode, 5. Kirchensynode, 8. Tagung, 79 und 93-95. 44 Zeitzeugengespräch, 42. 45 Verhandlungen der Kirchensynode, 5. Kirchensynode, 6. Tagung, 203. 46 Zeitzeugengespräch, 45. 47 Obwohl 1970 die rechtliche Gleichstellung von Pfarrerinnen und Pfarrern in der EKHN erreicht worden war, führte das nicht zu einem Abebben der Frauenbewegung innerhalb der Landeskirche. Ganz im Gegenteil: Engagierte Frauen wiesen die Männer in der Kirche immer wieder darauf hin, dass das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes kirchenintern nicht umgesetzt war. Der Diskurs, der in der EKHN parallel zur Zweiten Frauenbewegung - nicht erst danach! - geführt wurde, bekam seine spezifisch kirchliche Konnotation durch theologische Argumente, die auf je spezifisch ausgelegte Bibelstellen rekurrierten. 48 Zeitzeugengespräch, 47. weil ich als Junge in einer im Wesentlichen von Frauen geprägten christlichen Gemeinschaft aufgewachsen bin. Die Männer waren im Krieg und als Junge bin ich im Winter von meiner Mutter mitgenommen worden, die von Lollar nach Wißmar zu den Bauern in die Spinnstuben gegangen ist und da von ihrer Kindheit erzählt hat.“ 49 Diese persönliche Erfahrung verband sich mit der Wahrnehmung patriarchalischer Überheblichkeit in Kirchengremien, die Spengler offenbar weniger als homo politicus denn als homo amans 50 zutiefst störte. Privat mussten er und seine Frau ihr Leben mit dem Umzug nach Darmstadt umstellen. In den vorhergehenden Pfarrstellen ihres Mannes hatte sich Christiane Spengler trotz ihrer Aufgaben als Mutter sehr stark in die Gemeindearbeit eingebracht. In Vielem hatten die beiden Hand in Hand gearbeitet. Als Frau des Stellvertretenden Kirchenpräsidenten war die Situation von Christine Spengler eine andere. Zwar war die Anwesenheit der Frauen kirchenleitender Persönlichkeiten innerhalb der Landeskirche wie bei überregionalen Ereignissen nicht nur üblich, sondern auch erwünscht. Sie war aber eher repräsentativer, nicht inhaltlicher Natur. Nachdem die beiden Spenglers ihre eigene Rollenverteilung neu ausgerichtet hatten, und spätestens als Helmut Spengler Kirchenpräsident geworden war, stellten sie bei Treffen „mit Ehefrau“ deren Funktion als schweigende „Dekoration“ in Frage. Helmut Spengler beschreibt die Auseinandersetzung mit solchen patriarchalischen Atavismen als eine „feministische Programmierung“ ganz eigener Art. 51 Kirchenintern war Spengler als theologischer Grundsatzreferent mit vielen Aufgaben betraut, die Konfliktpotential hatten. Auch wenn bereits innerhalb der Kirchenleitung und des Leitenden Geistlichen Amtes die damit zusammenhängenden theologischen und kirchenpolitischen Implikationen intensiv diskutiert worden waren, so war das Einbringen der Themen in der Synode ein sich immer neu wiederholender Test, ob die Kirchenleitung mit ihren Positionen auf Zustimmung stoßen würde. Bei Fragen der Ökumene und der Zusammenarbeit zwischen den evangelischen Landeskirchen, beispielsweise als 1973 das vorgeschlagene gemeinsame Ordinationsformular der Kirchen der Arnoldshainer Konferenz diskutiert wurde oder die Grundordnung und die Frage des „Kirche-Seins“ der EKD auf der Herbstsynode 1975, brachen auch in den 1970er Jahren noch Verletzungen aus der Kirchenkampfzeit auf, traf bruderrätlicher Gestaltungswille auf den Schwung einer neuen Generation, die demokratischere Strukturen einforderten und eine verbesserte kircheninterne Kommunikation anmahnten. 49 Ebd., 82. 50 Der Begriff homo amans wurde von dem österreichischen Neurologen und Psychiater Viktor Frankl geprägt. 51 Zeitzeugengespräch, 51. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 233 234 Gisa Bauer / Anette Neff Helmut Spengler brachte in der ersten Amtszeit als Stellvertretender Kirchenpräsident manche ehemaligen Anhänger mit seiner moderierenden und abwägenden Haltung durchaus zum Verzweifeln. So gab es z. B. im Anschluss an sein Votum, DKP-Vikarinnen und -Vikare zu Pfarrerinnen und Pfarrern auf Lebenszeit ernennen, viel Erregung in der Synode und ein Synodaler vom konservativen Flügel sagte ihm: „Wir wollten dem Hild eine Korsettstange reinziehen und Sie sind ja noch viel schlimmer als der Hild.“ 52 Trotzdem wurde er am 26. November 1980 mit 162 Ja-Stimmen bei 8 Nein-Stimmen und 4 Enthaltungen wieder zum Stellvertreter des Kirchenpräsidenten der EKHN gewählt. 53 Der Spagat zwischen Ethik und Politik wurde für Spengler in den folgenden Jahren als Stellvertreter des Kirchenpräsident noch herausfordernder und größer, da die Auseinandersetzungen um den Bau der Startbahn West, die Frage der Kernkraftnutzung und die Friedensfrage aufgrund der geplanten Stationierung von Pershing-Raketen in Westdeutschland als Antwort auf die Dislozierung von SS-20-Raketen in Ostdeutschland als stets existentielle Fragestellungen im Hinblick auf das Überleben der Menschheit geführt wurden. 54 Auch die EKHN sah sich genötigt zu diesen Punkten dezidiert Stellung zu beziehen, was von der „Gegenseite“, in diesem Fall besonders die Landesregierung, nicht immer gern gesehen wurde. Als 1984 die Wahlen für die Kirchenpräsidentschaft anstanden, drängten sowohl Helmut Hild als auch Martin Niemöller Spengler zu einer Kandidatur. 55 Spengler strebte dieses Amt nicht an. Als am 3. Dezember 1984 die Wahl erfolgte, stand Spengler nur ein Kandidat gegenüber, Dr. Martin Stöhr. Der Direktor der Evangelischen Akademie in Arnoldshain der EKHN galt politisch als progressiver. Spengler konnte sich gegen Stöhr durchsetzen. Das Wahlergebnis von 130 Stimmen für Spengler, 76 für Stöhr und 2 Enthaltungen war ein gutes für Spengler. 56 Die Synodalen wussten, was sie an ihm hatten. Am 23. März 1985 wurde Helmut Spengler feierlich in Darmstadt in das Amt eingeführt, das er bis 1993 innehatte. Ebenfalls von 1985 bis zum Eintritt in den Ruhestand 1993 amtierte Hans-Martin Heusel als Stellvertretender Kirchenpräsident und war daher Spenglers engster Mitarbeiter in der Leitung der Kirche. Nach Ablauf seiner Amtszeit am 23. März 1993 blieb Helmut Spengler noch ein Jahr als Oberkirchenrat im Bereich Missionarische Dienste und Gemeindeaufbau, bevor er zum 30. April 1994 in den Ruhestand ging. Weiterhin nimmt er regen Anteil an der Entwicklung seiner Kirche, sein Coetus bleibt eine Bezugs- 52 Ebd., 75. 53 Verhandlungen der Kirchensynode, 6. Kirchensynode, 2. Tagung, 129. 54 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Ute Dieckhoff zu Helmut Hild in diesem Band. 55 Zeitzeugengespräch, 53. 56 Verhandlungen der Kirchensynode, 6. Kirchensynode, 10. Tagung, 32. größe für ihn sowie sein Kontakt zu Heusel. Lange Zeit hielt er noch Reden und Predigten. Er ist der einzige der ehemaligen Kirchenpräsidenten, der das kommunikative Gedächtnis an sich selbst noch jetzt prägt. Ihn hebt aus der Reihe der Kirchenpräsidenten der EKHN in erster Linie nicht heraus, dass er lebt, sondern dass er damit aus der Formung von Erinnerungskultur herausfällt. Vor diesem Hintergrund ist eine Einschätzung seines Wirkens als Kirchenpräsident, der Bedeutung und Reichweite seiner Entscheidungen, der Motive seines Handelns und der Außenwirkung der EKHN in der Zeit, in der er sie repräsentierte, noch nicht vollumfänglich möglich. 3. Helmut Spengler als Kirchenpräsident Die außen- und öffentlichkeitswirksamen Arbeitsfelder Helmut Spenglers in seiner Amtszeit als Kirchenpräsident standen in engem Zusammenhang mit der jeweiligen aktuellen politischen Lage und den gesellschaftlichen Debatten um tagespolitische Ereignisse. In Abschnitt 3 wird darauf näher eingegangen. Kirchenintern bildeten inhaltliche Schwerpunkte seines Wirkens die Bibelübersetzungen (revidierte Einheitsübersetzung, feministische Übersetzung), die Diskussionen um das Visitationsgesetz und das Übernahmegesetz für Vikarinnen und Vikare. Wichtig waren ihm die Militärseelsorge und der Religionsunterricht (GKA) sowie die Änderung des Grundartikels der EKHN, ausgehend von der Frage der Judenmission, die um 1986 neu diskutiert wurde. Eine wichtige Entwicklungsphase in der EKHN stellten die Jahre unter Spenglers Kirchenpräsidentschaft im Hinblick auf den Prozess innerkirchlicher demokratischer Umstrukturierungen und einer Stärkung der Kirchenleitung gegenüber dem Leitenden Geistlichen Amt dar. Das Leitende Geistliche Amt bereitet kirchenrechtlich die Beschlüsse in personalpolitischer und personeller Hinsicht der Kirchenleitung vor, die dann von der Kirchenleitung bestätigt werden. In der Amtszeit von Spengler kam es zu einer Neujustierung der Rollen dieser Gremien, die ein größeres Selbstbewusstsein der Kirchenleitung bewirkte. 57 Es brachen dadurch aber auch wiederholt tiefgehende Meinungsverschiedenheiten auf, die bisweilen Krisensitzungen an einen „neutralen“ Ort wie der Akademie Arnoldshain nötig machten. 58 Helmut Spengler gilt als der Kirchenpräsident, der wie kein anderer das vermittelnde Element in die Arbeit einbrachte, da er in einer Debatte die verschiedenen Positionen, auch die gegensätzlichen, nachvollziehen und mitfühlend verstehen konnte. Für ihn als Theologen und Kirchenmann stand stets 57 Vgl. Zeitzeugengespräch, 84 f. 58 Ebd., 85. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 235 236 Gisa Bauer / Anette Neff der Mensch im Mittelpunkt. Spengler nahm grundsätzlich den Menschen, den Mitmenschen und Mitchristen, ernst und forcierte das Gespräch mit Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche. Wie bereits erwähnt, hatte er während seiner Amtszeit in Bad Homburg eine Balint-Ausbildung absolviert. Dadurch wurde sein Blick auf den Menschen und für das Menschliche auch professionell geschärft. 3.1. Das Konzept der „einladenden Kirche“ Vor dem Hintergrund dieser Zugewandtheit zu den Menschen sollte Kirche für Spengler von jeher „einladende Kirche“ sein. Diese ist nicht im Sinne einer Marketingstrategie gedacht, sondern als Einrichtung, die auf Menschen offen, gesprächsbereit und einladend wirkt, eine Einrichtung, die Menschen gern aufsuchen. Er selbst führt dieses Konzept wie folgt aus: Ich habe 1986 (in) meine[m] ersten Kirchenleitungsbericht […] versucht, von der ‚Einladenden Kirche‘ im Sinne eines intransitiven Begriffes des Wortes ,Einladen‘ zu sprechen. Die Kirche soll also nicht werbefähiger sein, werbewirksamer sein, indem sie fleißig einlädt und auf die Hecken und Zäune und Straßen geht, sondern sie selbst soll auf die Menschen einladend wirken und die Menschen sollen das Gefühl haben: Oh, da werde ich angehört, da werde ich ernst genommen. Das ist eine Institution, der es wirklich nur um mich geht und um sonst nichts anderes. Also der orientierungs- und heimatlose Mensch soll sich in einer Kirche (wiederfinden), in der sehr viele unterschiedliche Gruppen leben, und er soll sich Gruppen aussuchen können und er soll sich in diesen Gruppen oder meinetwegen auch in der Institution als Ganzem wohlfühlen können. Er soll sich als ernst genommen erleben können. In seinem Alltag lebt er im Wesentlichen in der Welt des Konsums, der Wirtschaft im Wesentlichen. Durch die Globalisierung sind heute die Fragen des Konsums immer stärker ausgeprägt und die Werbung spricht ihn an, als wolle sie ihm helfen. Im Grunde aber wollen oder müssen die Unternehmer Geld verdienen. Und die Kirche steht also jenseits oder muss jenseits dieses Profitinteresses stehen. Ihr Interesse muss der Mensch sein, so wie er lebt. Das muss sie anhören können, sie muss es verstehen können, sie muss es verstanden haben und ihm zurückgeben können und (sie) muss ihm helfen. Deswegen muss sich die Kirche auch davor hüten, Ideologien zu vertreten. In ihrer eigenen Dogmatik darf sie kein festgefügtes Lehrgebäude (aufweisen bzw. mit einem) Lehrgebäude auf die Menschen zugehen. Auch mit vorgefertigten ethischen, sozialethischen und politischen Gedankengebäuden (oder) mit fertigen Ergebnissen darf sie nicht auf ihn zugehen, sondern (sie) muss mit ihm reden können und muss auch seine Position verstehen können. Das bedeutet nicht, dass die Kirche nun alles gelten lässt und sagt: wir sind für euch gesprächsfähig und so. Selbstverständlich muss sie auch ‚Nein‘ und auch ‚Ja‘ sagen können zu bestimmten Wegen. Aber das darf nie geschlossen vertreten werden. 59 Der erste Kirchenleitungsbericht von 1986 verkörperte das Programm Spenglers für die gesamten acht Jahre, in denen er als Kirchenpräsident agierte. 60 Die „einladende Kirche“ war dabei nicht nur ein Aspekt unter vielen, sondern wiederspiegelt letztlich die Haltung Spenglers: er lebte diesen Begriff, auch als Kirchenpräsident. Ihm ging es um das Ernst-Nehmen des Menschen, um eine Kirche, die in Verbindung mit dem Menschen steht. In diesem Zusammenhang war für ihn ein Argument für die Volkskirche und gegen eine Freiwilligenkirche auf Spendenbasis, dass Letztere sich zu sehr der Auseinandersetzung mit der Welt entziehen könne: „[…] wenn die Pfarrer sich dann auf ein kleines Häufchen der religiös Interessierten, der Frommen oder wie man sie auch immer [nennen will] reduzieren, […] dann sind sie zu einem verheerenden Selbstbetrug in der Lage.“ 61 Für Spengler steht Kirche im besten Falle mitten in der Welt, sie „gehört dahin, wo es um den Menschen geht“. 62 Dass das oft nicht der Fall ist, hat ihn bekümmert. „‚Die Distanzierten sind nicht draußen‘, pflegte er besonders den Hardlinern der Kerngemeinde immer wieder zu predigen“, 63 erinnert sich der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der EKHN Joachim Schmidt in seiner Würdigung zur Verabschiedung Spenglers als Kirchenpräsident. Da die Kirche auf die Menschen eingeht, gebe sie selbst ein „schillerndes Bild“ ab und überfordere Menschen oft mit ihrer Vielfältigkeit. Deshalb müsse sie konstante feste Punkte haben. Das seien ihre Gottesdienste, Gebete, die Anrufung Gottes und Jesu Christi. Damit ist, so Spengler, Kirche „offen und festgebunden“ zugleich. 64 Aber auch in anderer Hinsicht müsse Kirche den Menschen einen Halt bieten: Also Kreuz und Auferstehung. Und an dieser Stelle muss weitergearbeitet werden und es wird ja auch gearbeitet. Die Evangelische Kirche ist ja nicht nur so ein Gemischtwarenladen für alles. Da gibt es […] die Erklärung und die Erklärung. Und das würde ich schon sagen, dass das eine Kirchenleitung ihren Pfarrerinnen und Pfarrern zumuten muss […: ] ‚Ihr müsst Euch mit diesen Texten beschäftigen und müsst Euch von 59 Ebd., 57. 60 Vgl. ebd., 112. Der Kirchenleitungsbericht findet sich in: Verhandlungen der Kirchensynode, 7. Kirchensynode, 1. Tagung, 48-69. 61 Zeitzeugengespräch, 116. 62 Ebd., 91. 63 Schmidt, Joachim: Helmut Spengler - Mut zum Brückenbau, in: Allgemeine Zeitung Mainz vom 22.12.1992, zitiert nach dem Manuskript des Verfassers, Privatbesitz Dr. Walter Fleischmann-Bisten. 64 Vgl. Zeitzeugengespräch, 61. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 237 238 Gisa Bauer / Anette Neff diesen Texten wieder zur Bibel (bewegen)‘ - die Bibel ist ja lebendiger als kirchliche Erklärungen. ‚Und (ihr) müsst (mit) der Bibel im Leben steh(en) und (ihr) müsst dann für die Welt, in der ihr lebt, in der Bibel auch wieder hellsichtig sein. (Ihr) müsst sehen, was die Menschen bewegt, […] was von dem Konsumismus alles verschleiert (und) unter den Teppich gekehrt wird. Das müsst ihr finden. Ihr müsst bei den Menschen sein, die arm und elend sind. 65 3.2. Der Brückenbauer Das tiefe Verständnis für die menschliche Natur, das menschliche Wesen, seine Empathie und seine Anteilnahme hatten ihre Schattenseiten dort, wo Helmut Spengler die diametral gegenüberstehenden Positionen nicht nur selbst nahezu zerrissen, sondern wo er als professioneller Brückenbauer vermeintlich nicht deutlich, akzentuiert oder profiliert genug auftrat. Er war ein „bedeutender politischer Vermittler und Theologe der Aussöhnung“ 66 , wie ihn sein Nach-Nachfolger im Amt, Volker Jung, bezeichnete. Spengler konnte „bis zur Selbstaufgabe“ freundlich und gesprächsbereit sein. „Dass ihn das auch angreifbar und erpressbar machte, war ihm bewusst. Dennoch hat er sich im Zweifel stets für das nerven-und kräftezehrende Gespräch und gegen die knappe Anordnung entschieden.“ 67 Das war nicht unproblematisch, wie Joachim Schmidt in seiner bereits zitierten Würdigung schildert. Es habe Spengler „getroffen“, „dass in den Stasi-Wirren nach der Vereinigung ein sogenanntes Gesprächsprotokoll eines Besuchs als Kirchenpräsident bei einer staatlichen Stelle in Magdeburg auftauchte, das ihn in der Position eines anbiedernden Weichmachers erscheinen ließ. Dabei war er lediglich sich selbst treu geblieben: auch dem verklemmten ideologischen Gegner gegenüber mit einem freundlichen Gesprächsangebot.“ 68 Dass Spengler unter der Gegensätzlichkeit und den Paradoxien, Disharmonien und konkurrierenden Weltsichten, v. a. aber der fehlenden „Liebe zum Leben“ seiner Mitmenschen litt, zeigt eine von ihm geschilderte Episode im 65 Ebd., 2.12.2002, 97. 66 Pressemitteilung der EKHN zum 85. Geburtstag von Helmut Spengler, Darmstadt 18.4.2016 (www.ekhn.de/ aktuell/ detailmagazin/ news/ spengler-politischer-vermittler-und-theologeder-aussoehnung-wird-85.html, 1.5.2019). 67 Schmidt, Helmut Spengler. 68 Ebd. Spengler selbst äußerte sich in dem Zeitzeugengespräch am 12.8.2003 zu Ungenauigkeiten in dem Protokoll, das er nie gegenlesen oder gar korrigieren konnte, sowie zur bundesrepublikanischen, medialen Aufgeregtheit rund um seinen gemeinsamen Besuch mit Bischof Christoph Demke beim Bezirksvorsitzenden von Magdeburg in den letzten Jahren der Existenz der DDR (Zeitzeugengespräch, 146-151). Zusammenhang mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt am Main 1987: Dann die Demonstrationen vor der Deutschen Bank. Man musste sich klarmachen, man musste dann wieder anderen Leuten sagen, dass man mit dieser Art, sich als Christ darzustellen, nichts zu tun haben wollte. Wenn ich auch in der Sache übereinstimmte, das war nicht meine Art. […] Ich habe die Dorothee Sölle - die ist ja unbestreitbar berühmt und unverzichtbar für die deutsche Kirchengeschichte -, abends hier in einer Fernsehsendung eifern sehen, und eifern kann sie, nicht? […] Mir sind fast die Tränen geflossen, weil das nicht meine Art war. Aber auf der anderen Seite wollte ich, dass solche Stimmen in der Kirche lebendig sind. Weil die andere Seite - also wenn man mal in Extremen spricht - [das waren] die Bischöfe und die Hannoveraner, die Oberkirchenräte mit dem Aktentäschchen und mit dem immer ernsten Gesicht und immer wichtig […]. Das konnte ich auch nicht. 69 An anderer Stelle konstatiert Spengler im Hinblick darauf, dass er mitunter im gleichen Moment von innerkirchlichen Gruppen als konservativ und progressiv wahrgenommen wurde: „Es ist so ungemein schwer, sich in den unterschiedlichen Gruppierungen verständlich zu machen.“ 70 Aber selbst die Verwirrung, das Gefühl des „Durcheinanders“ angesichts der vielen, sich teilweise widersprechenden Positionen innerhalb der Kirche, konnte er nachvollziehen: Ich habe natürlich versucht, die Menschen zu verstehen, die nicht mit Durcheinander leben können. Durcheinander kann man ja nur ertragen, wenn man mit sich selbst oder mit seiner Sache identisch ist […]. (Wie) jetzt bei den homosexuellen Trauungen. Das reicht ja so tief in die Seele der Menschen, in ihre eigene psychische Vergangenheit und Verwandtschaften hinein. Dann hat man plötzlich Sehnsucht und sagt, wie mir das jetzt auch ein sehr prominenter Darmstädter Bürger gesagt hat. (Er) habe eigentlich Lust, jetzt katholisch zu werden, nachdem das in der Evangelischen Kirche so aussieht und so weiter. Solche verunsicherten Menschen tun mir dann auch wieder leid, aber ich muss es ihnen, also ich als Kirche, muss es ihnen zumuten und muss ihnen auch helfen. Ich darf sie also nicht nur kaputtmachen und sagen, ihr seid verrückte Evangelikale und so weiter. Sondern (ich) muss ihnen entgegen kommen. Aber wenn ich sage, ein homosexueller Mensch darf nicht als Sünder gebrandmarkt werden, dann muss ich da natürlich hart sein. Das müssen die dann auch ertragen. 71 69 Zeitzeugengespräch, 91. 70 Ebd., 95. 71 Ebd., 62. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 239 240 Gisa Bauer / Anette Neff Er durchlebte Auseinandersetzungen nicht nur theoretisch, sondern er kämpfte alle Positionen selbst durch. Den Freiheitsgewinn, den er dabei selbst fand, gestand er auch allen anderen zu. Aber auf diese Art und Weise, mit dieser grundsätzlichen Haltung, stand Helmut Spengler oft zwischen den Fronten. Von außen betrachtet fehlte ihm die Zuordenbarkeit zu innerkirchlichen und zu politischen Lagern. Besonders die Termini „konservativ“ und „liberal“ erfuhren auch in theologischer Hinsicht durch Spenglers verbindende Haltung eine Auflösung. Der folgende Gesprächsauszug zeigt das paradigmatisch: „Das ist der Fehler, den Theologinnen und Theologen, besonders jüngere Leute, machen, dass sie sagen, ‚Na ja, wenn alles mythologisch ist, brauche ich alles nicht mehr so ernst zu nehmen.‘ Da würde ich sagen: ‚Doch! Doch.‘ Denn in den Mythen kommen unsere Ursprünge zur Sprache und in der Bibel zieht sich trotz all der Verquertheit und Verkehrtheiten ein Gottesbild (wie ein roter Faden) durch, (nämlich) die Humanität Gottes und (dass) der Mensch seinen Mitmenschen Befreier und nicht Unterdrücker werden muss. Und wenn ich Gott so verstehe, kann das für den Irakkrieg und gegenüber dem fundamentalistischen Islamismus doch sehr relevant werden. So dass ich sage, in dieser Situation der Welt verbietet das biblische Gottesbild, modern verstanden, all den Leuten, die (wegen) den Islamisten und Fundamentalisten jetzt wieder Sicherheit haben wollen, diese Regression, dass ich nun auch anfange, konservativ zu werden. Sondern die Abrahamsgeschichte ist so, (dass) der aus seinem Land ausziehen und die Wüste aushalten muss.“ 72 Bereits in seiner Vorstellungsrede zum Amt des Kirchenpräsidenten hatte Spengler betont, „man müsse die Bibel mit Aufklärung und Pietismus lesen, mit Barth und Bultmann und nicht ohne Marx und Freud.“ 73 Dieser Ansatz, Antagonismen zusammenzubringen, war programmatisch und sollte bestimmend für sein Wirken als Kirchenpräsident bleiben. 3.3. Der Theologe In seiner Ansprache anlässlich des 80. Geburtstages von Helmut Spengler verwies Kirchenpräsident Volker Jung auf Spenglers Rede zur Einführung seines 72 Ebd., 94. 73 Jung, Volker: Einleitung zum Vortrag von Dr. Werner Bohleber „Zwei Arbeiter im Weinberg - zum gegenwärtigen Verhältnis von Psychoanalyse und Religion“, in: Dokumentation zur Feierstunde der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zum 80. Geburtstag von Kirchenpräsident i.R. D. Helmut Spengler am 4. Mai 2011, Redaktion Joachim Schmidt. Darmstadt 2011, 5. Im Original heißt es bei Spengler: „Bibel lesen, also mit Augustin und Luther, mit Aufklärung und mit Pietismus, mit Barth, Bultmann, Bonhoeffer und nicht ohne Karl Marx und Sigmund Freud! “ (Verhandlungen der Kirchensynode, 6. Kirchensynode, 10. Tagung, 29). Nachfolgers Peter Steinacker. Darin formulierte Spengler „die Summe seiner Überzeugungen“: Wenn Sie nach dem Reich Gottes trachten, werden Sie nie Tischtücher zerschneiden. Sie werden zum Dialog einladen, und auch der Abbruch eines Gesprächs und auch ein zorniges Votum wird Einladung zum Gespräch sein müssen. Alle Menschen sollen im Reich Gottes Chancen von Kindern haben: zu wachsen, zu lernen, Meinungen zu ändern, zu widersprechen, zu streiten und zu experimentieren. Denn den Kindern gehört das Himmelreich. Und dessen Gerechtigkeit besteht darin: Wir sollen zur Güte Gottes umkehren dürfen. 74 Wegweisend war für Spengler nach eigener Aussage Röm 2,1, wo es heißt: „Darum bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch, wer du seist, der du richtest! Denn indem du den andern richtest, verdammst du dich selbst; denn du verübst ja dasselbe, was du richtest! “, oder in einer älteren Variante, die Spengler häufig zitiert: „Darum kannst du dich, oh Mensch, nicht entschuldigen, wer du auch seist, sintemal du eben dasselbe tust, was du dem anderen vorwirfst.“ In Spenglers Deutung heißt das, dass er „nicht von irgendeiner Warte her zu den Menschen kommen“ kann, sondern dass er genau „der Mensch“ sei, „der die anderen sind und die anderen sind die Menschen, die du bist.“ Für Spengler bedeutete Theologe zu sein letztendlich, „den Menschen zu verstehen“. 75 Trotzdem fühlte er oft die beengenden „Milieugrenzen“ zwischen sich und seinen Mitmenschen, die sich für ihn daraus ergaben, dass er durch die „Kirche vereinnahmt“ wurde, durch eine jahrhundertealte Institution, die Abgrenzung gegenüber Menschen schafft. Sein „ganzes Theologenleben und Pfarrerleben und Kirchenpräsidentenleben“ so Spengler im Gespräch, sei „eigentlich ein Leiden“ daran, so „festgefügt in dem kirchlichen Milieu drin“ zu sein. 76 Diese „Milieugrenzen“ versuchte er stets aufs Neue zu sprengen: „[…] wenn man Milieugrenzen durchbricht und mit anderen Menschen gemeinsames Leben wagt, will (man) die jetzt nicht missionieren, sondern (man will) ein gemeinsames Leben. (Dazu gehört), dass man sagt: ‚Ich bin in der Kirche tätig, Du bist (woanders) tätig. Du musst nicht jeden Sonntag in die Kirche kommen, ich komme (ja) auch nicht zu jedem Fußballspiel.‘ Die Gesellschaft ist so plural 74 Jung, Volker: Ansprache, in: Dokumentation zur Feierstunde der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zum 80. Geburtstag von Kirchenpräsident i.R. D. Helmut Spengler am 4. Mai 2011, Redaktion Joachim Schmidt. Darmstadt 2011, 1-4, hier 4. 75 Zeitzeugengespräch, 102. 76 Vgl. ebd. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 241 242 Gisa Bauer / Anette Neff strukturiert, aber trotzdem ziehen wir an einem Strick, wenn wir den Menschen Gutes wollen.“ 77 Von liberalen Theologen, Pfarrern und kirchenleitenden Personen wurde Helmut Spengler oft als „Pietist“ wahrgenommen und eingeordnet. Zum Beispiel habe, so erinnert sich Spengler, Peter Steinacker, sein Nachfolger als Kirchenpräsident, geradeheraus gesagt: „Spengler ist ein Pietist“. 78 Auch in anderen Zusammenhängen wird Spenglers pietistische Herkunft immer wieder thematisiert. Diese Prägung hat Spenglers Frömmigkeit und seine theologische Ausrichtung zweifelsohne beeinflusst. Die „pietistischen“, d. h. konservativen, neupietistischen Glaubensinhalte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber teilte Spengler schon lange nicht mehr. Er vermutete sogar, dass ihn in diesem „Milieu“ einige dafür hassen würden, dass er für Homosexuelle eintrete. 79 An anderer Stelle erläuterte Spengler, warum er sich mit den „heutigen Evangelikalen“ nicht mehr verständigen könne: Gegen ‚Idea‘ (zum Beispiel) kann ich eigentlich nur Proteste einlegen. Ich habe ‚Idea‘ treu gelesen und habe Gespräche versucht. Ich habe es jetzt (aber) abbestellt, als ich auf dem ersten Blatt las, ‚Kommt Augstein in die Hölle? ‘ Das habe ich ihnen nicht vorgehalten, ich habe nur gesagt, ich möchte das nicht mehr lesen. Und das kann man eigentlich nicht mehr (verantworten). Das werfe ich eigentlich auch der EKD vor, dass sie die Auseinandersetzung mit den Evangelikalen nicht hinreichend sucht. Denn was evangelikale Frömmigkeit ausrichtet, das haben wir ja im Irak-Krieg gesehen, das sehen wir im ganzen Vorderen Orient und bis hin zu Afghanistan und bis zur Person des amerikanischen Präsidenten [George W. Bush]. Für mich ist das unerträglich. 80 Fundamentalisten, so Spengler weiter, könne er keine „Christlichkeit mehr zuerkennen“. Sie entfernten sich immer weiter von dem Jesus, „der die Menschen eigentlich gewarnt hat, an Positionen festzuhalten“. Als Kirchenpräsident habe er immer auf die „Vielfalt des Neuen Testamentes gepocht“ und darauf, dass Christen diese Vielfalt aushalten müssten. Es gehe nicht an, dass man sich immer nur zu den Gleichgesinnten geselle, sondern „Gleich und Ungleich, das ist [das] eigentlich Christliche“. Evangelikale aber hätten sich darauf zurückgezogen, nur unter sich zu sein. 81 Die seit Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm virulente und durch die evangelikale und christlich-fundamentalistische Kritik emotional sehr umstrittene Frage nach der Auslegung der Heiligen Schrift beschäftigte Speng- 77 Ebd., 99. 78 Vgl. ebd., 106. 79 Vgl. ebd., 100. 80 Vgl. ebd., 106. 81 Vgl. Zeitzeugengespräch, 107. ler auf mehreren Ebenen. 2003 konstatierte er im Gespräch, die Kirche sei ihm „zu religiös“, „zu brav“ und „in der Frage, was Bibel und Bekenntnis anbetrifft, zu konservativ“. Er sei mit zunehmendem Alter ein „Zweifler“ geworden und erläutert das auch ausführlich: […] wir als moderne Menschen [müssen] damit leben […], dass die Welt soundso viel Milliarden Jahre alt ist. (Dabei) ist das doch alles nicht mehr vorstellbar, dass man (an) einen persönlichen Gott (glaubt), der sich um dieses Stäubchen am Rande unserer Milchstraße kümmert und der zugleich Gott dieser Nicht-Unendlichkeiten (ist), vom Urknall anfangend, (der) Gott dieses Weltalls sein soll. Das macht uns doch Schwierigkeiten. Und wenn ich Bücher lese über (die) Entstehung der Welt, über Astronomie und dass es ganze Universen aus Antimaterie gibt, die, wenn sie mit der Materie zusammenkämen, (eine) kosmische Katastrophe auslösen (würden) und vieles andere mehr, dann soll ich (trotzdem) noch in den Denkformen glauben, in denen die Bibel geschrieben ist? Da muss ich sagen, eine Kirchenleitung, die so tut, als ob das alles miteinander zu vereinbaren wäre, die betrügt, oder wir als Kirche betrügen. Schon 300 Jahre müssten wir aufbrechen und müssten sagen, wir müssen in diesem furchtbaren Zwiespalt leben, dass das Buch, dem wir vertrauen, in den Denkformen vor 2000 Jahren geschrieben ist. In dieser Spannung müssen wir leben. Wir müssen heute den Menschen klarmachen, also theologisch gesprochen, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens uns traditionell in Mythen überliefert ist. Und dass wir heute als Kirche den Auftrag haben, den Menschen dies zu sagen und zugleich deutlich zu machen, dass in den Mythen tatsächlich eine Realität auf uns zukommt, die sich auch gar nicht anders äußern kann als mythisch. Denn dieser Gott ist ja ein Gott des gesamten Weltalls. Also wenn er sich zu diesem Stäubchen Erde offenbaren will, kann das nur mythisch geschehen. Wir reden sehr oft davon. Dass die Kirche das nicht öffentlich macht, Kirchenaustritte in Kauf nimmt, […] das nehme ich mir und der Kirche übel, (ebenso wie), dass ich das nicht hinreichend offen propagiert habe. Und ich freue mich immer, wenn ich […] Pfarrer oder andere Leute sehe, die das in ihrer Gemeinde offen darstellen. Mein Sohn versucht das in der Gemeinde. Er kann es allerdings auch in seiner Gemeinde machen, weil er nicht viele Pietisten in der Gemeinde hat. 82 Die Schwierigkeiten, die mit der Verkündigung einer historisch-kritischen Theologie - die für Spengler noch stark mit dem Name Rudolf Bultmann verbunden war - einhergehen, waren ihm deutlich bewusst. Besonders virulent sah er das Problem in der Kinder- und Jugendarbeit und -bildung: Diejenigen, die „unmittelbar mit Heranwachsenden und mit Kindern zu tun haben“, brauchen die „Zuwendung der Kirche ganz besonders“, so Spengler, da sie „Bibelkritik“ 82 Ebd., 91 f. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 243 244 Gisa Bauer / Anette Neff betreiben und gleichermaßen überlegen müssen, wie diese in die „verschiedensten Phasen des menschlichen Heranwachsens“ umgesetzt werden könne. (Denn) einem Kind kann man nicht beibringen, dass Jesus nicht auf dem Wasser gegangen ist. Ein Kind glaubt daran, genauso wie es an Märchen glaubt. Und jetzt dem Kind (das Gegenteil zu sagen), das (sich) dann in dem Prozess auch das Enttäuscht-sein (wiederfindet), ‚Was? Das, was ich mal geglaubt hat(te), ist nur symbolisch zu verstehen? ‘, (die) Kinder (da) zu begleiten und ihnen das Vertrauen zur Bibel als dem lebendigen Wort Gottes zu erhalten, in dem Gott die Menschen sprechen (und) Symbole gebrauchen lässt aufgrund ihrer religiösen Tradition, das alles zu verstehen, ist ein sehr schwieriger Prozess. 83 Hand in Hand mit der Ablehnung historisch-kritischen Denkens geht die Ablehnung jedweden Denkens, und auch an dieser Stelle, in der theologischen Verflachung sieht Spengler eine Gefahr: Es ist ungemein schwierig, das [historisch-kritische Denken] in die Kirche einzubringen. Nicht wegen der Kirche (an sich), sondern weil man gegenüber breiten Strömungen in der Kirche (agieren muss). (Ein) Beispiel: Die junge Theologengeneration hat mit dem Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns gar nichts mehr im Sinn. Die sagt: ‚Wir benutzen die biblischen Begriffe. Das machen wir alles [und das genügt uns].‘ In der Prüfung habe ich mal einen Vikar gefragt, ‚Was haben Sie denn für einen Text genommen bei dieser Beerdigung? ‘ […] Er sagt(e): ‚Offenbarung 21.‘ (Da) sag(te) ich: ‚Was haben Sie denn für theologische Gründe gehabt, Offenbarung 21 zu nehmen: <Und der Gott wird abwischen alle Tränen>? ‘ - ‚Ich habe gedacht, das tut den Leuten gut‘, sagt(e) er. Hinterher habe ich dem Kollegium gesagt: ‚Eigentlich hätten wir den durch das Examen fallen lassen müssen.‘ Also wenn ein Theologe schon nicht mehr weiß, warum er das und das tut (ist das inakzeptabel). 84 Im Anschluss an diese Überlegungen führte Spengler wiederholt das an, was ihn als Person und Kirchenleiter ausmacht und als Charakteristikum seiner Kirchenpräsidentschaft gelten kann: Das Verständnis für gegensätzliche Personen und das Unverständnis Außenstehender für dieses Verständnis: „Man kommt zu der einen Seite und kann sich ihr gegenüber nur (verständlich) machen, indem man sagt: ,An dem Mythos Auferstehung ist doch (et)was dran‘. Da äußert sich eine Wirklichkeit, die mich herausfordert. Dann klingt das wieder konservativ. Dann heißt es meinetwegen, ‚Ja, der Spengler [… ist] konservativ.‘ Gehe ich zu den Konservativen und spreche mit denen, dann sagen die: ,Ja, der redet den 83 Ebd., 114. 84 Ebd., 95. jungen Vikarinnen (und) Vikaren das Wort.‘“ 85 Vor diesem Hintergrund mag es kaum erstaunen, dass Spengler im engeren Sinne kein politischer Kämpfer war: Er konnte nicht polarisieren oder sich auf die Seite einer politischen Position schlagen. Politik wurde von ihm „menschenfähig“ gemacht, und im Raum der Politik konnte der theologische Vermittler eben „nur“ einen politischen Vermittler hervorbringen. 4. Wesentliche politische Themen während der Kirchenpräsidentschaft Helmut Spenglers 4.1. Startbahn West Das Mitte der 1980er Jahre zwar nicht mehr so brisante, aber noch immer Konfliktstoff bergende Problem des Ausbaus des Frankfurter Flughafens zur „Startbahn West“ übernahm Spengler von seinem Amtsvorgänger Helmut Hild. 86 Er war jedoch bereits in seinem Amt des Stellvertretenden Kirchenpräsidenten mit dem seit den 1960er Jahren virulenten Projekt beschäftigt gewesen, in dessen Mittelpunkt die so genannte Walldorfer „Hüttenkirche“ und das Wirken des Mörfelder Pfarrers, ersten Umweltpfarrers der EKHN und später auch Umweltbeauftragten der EKD Kurt Oeser stand. Der geplante Bau der „Startbahn West“ hatte eine der größten Bürgerbewegungen der Bundesrepublik provoziert, aber da die Dynamik des Widerstandes seit den Protesten aufgrund ihrer Genehmigung 1980 nachließ, stellte sie 1985 nicht mehr wie noch 1981 ein zentrales politisches Thema dar, an dem sich die EKHN abarbeitete. Im April 1984 wurde die „Startbahn West“ übergeben und der Flugverkehr aufgenommen. Der Widerstand erstreckte sich nun auf die seit den 1970er Jahren durchgeführten so genannten „Sonntagsspaziergänge“, die wöchentlich an der die Startbahn umgebende Betonschutzmauer erfolgten, und auf Demonstrationen zur Erinnerung an die Räumung des von der Bürgerbewegung errichteten Hüttendorfes und des gesamten Geländes im November 1981. Im Zusammenhang mit einer dieser Erinnerungsdemonstrationen kam es überraschenderweise zu einem Ereignis, der das ganze Land erschütterte: Am 2. November 1987 wurde auf Polizeibeamte geschossen, von denen zwei starben. In der Folge kam es zu zwei Festnahmen, wobei bis heute Unklarheit über die Motivation des Schützen herrscht. Auch der Rest der Protestbewegung gegen die „Startbahn West“ brach daraufhin zusammen. 85 Ebd., 95. 86 Vgl. den Beitrag von Ute Dieckhoff „Helmut Hild - Der Ort der Kirche in der Gegenwart“ in diesem Band, speziell Kap. 8. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 245 246 Gisa Bauer / Anette Neff Helmut Spengler, der seit 1985 Kirchenpräsident war, hielt im Trauergottesdienst für die beiden getöteten Polizeibeamten die Predigt. Diese für ihn immens schwere Aufgabe beschäftigte ihn lange. Seiner Meinung nach wurde in dieser Situation 1987 die Frage der Mitverantwortung der Kirche und ihres geistlichen Auftrages angesichts der Eskalation erneut gestellt. Er hinterfragte sein eigenes Handeln und Position der EKHN zur „Startbahn West“. Dass sich die hessen-nassauischen Kirchenleitung nicht eindeutig gegen die Startbahn positionierte, wurde seit Anfang der 1980er Jahre an der Basis der Landeskirche vermehrt kritisch gesehen. Die Synode von 1980 hatte sich nicht, wie von einigen Synodalen gefordert, klar gegen die Startbahn West ausgesprochen, sondern eine „eher vermittelnde Position“ 87 eingenommen. Kirchenpräsident Helmut Hild verwies im März 1981 darauf, „dass auch die Kirche und die Gemeinden verpflichtet seien, ,sich an die rechtsstaatliche Rechtsordnung zu halten‘“. 88 Helmut Spengler, der 1981 an einem Gottesdienst in der „Hüttenkirche“ teilgenommen hatte, argumentierte, dass die Kirche keine Institution sei, „die zugunsten bestimmter politischer Forderungen mit religiöser Begründung“ 89 operieren dürfe. Doch auch von der anderen Seite, von den Befürwortern der „Startbahn West“, wurde die Kirchenleitung kritisiert. So kam es mit dem Präses der Kirchensynode Rudolf Kissel nach Spenglers Aussage fast „zu einem persönlichen Zerwürfnis zwischen ihm als Startbahnbefürworter und mir als, wenn man so will, Startbahngegner.“ 90 Der Jurist und Präsident des Bundesarbeitsgerichts Kissel kam mit seiner Kritik an den Gegnern der Startbahn, die seiner Meinung nach mit Rückendeckung der Kirchenleitung „existenzielle Rechtsprinzipien“ 91 verletzten, „der Argumentation der Landesregierung recht nahe“ 92 . Spenglers Intention war - durchaus im Gegensatz zu Hild, der über die radikalen Gegner entsetzter als er war - auch bei den Ereignissen um die „Startbahn West“ das vermittelnde Gespräch zu suchen: Die Jugendarbeit habe ich als Oberkirchenrat (und) auch als Kirchenpräsident sehr konfliktreich erlebt. […]. [Der Landesjugend-Delegiertenrat hat] sich an der Startbahn(kontroverse) beteiligt und [sie] haben in ihrem monatlich oder vierteljährlich 87 Schmitz, Henrik: Startbahn West: „Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, evangelisch. de, 4.11.2009, www.evangelisch.de/ inhalte/ 96778/ 04-11-2009/ startbahn-west-wer-nichtkaempft-hat-schon-verloren. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Zeitzeugengespräch, 88. 91 Schäfer, Karl Heinrich: Otto Rudolf Kissel. Ein Leben in christlicher Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Darmstadt 2019, 128. 92 Ebd., 129. (erscheinenden) Organ […] offen überlegt, ob Attentate oder Beschädigungen von […] diesen Stromleitungsmasten und so weiter (gerechtfertigt seien). Das alles haben (sie) offen diskutiert. […] Ich bin auf diesen Landes-, Jahrestreffen des Jugenddelegiertentages (gewesen), aber ich habe die vier, fünf Leute des Rates auch oft eingeladen und mit ihnen gesprochen, mit ihnen diskutiert und so weiter. 93 Die Bedeutung der „Startbahn West“ und des Protestes dagegen reichte in den 1970er, 80er Jahren über die Neubestimmung des Verhältnisses einer Bürgerrechtsbewegung zum Staat hinaus. Die Bewegung war ein Symbol für die stärkere Wahrnehmung der Interdependenzen des Menschen mit seiner Umwelt und die Anerkennung eines eventuell nötigen Verzichts auf wirtschaftliche Expansion innerhalb der Kirche und innerhalb der gesamten Gesellschaft. Bürger aus allen Gesellschaftsschichten engagierten sich hier gemeinsam gegen Fluglärm und für Umweltschutz. Dieses Thema war nach dem Bau der Startbahn nicht erledigt, wenn auch weniger polarisierend im Bewusstsein. Fast zeitgleich waren die Auseinandersetzungen um Atomkraftwerke abgeflaut, da der Bau neuer AKWs nicht mehr durchsetzbar war. Proteste entzündeten sich allerdings weiter an der Frage der Endlagerung und kamen bei den Aktionen um die Castor-Transporte und die Diskussionen um Gorleben zum Ausdruck. Allerdings verlagerte sich die Auseinandersetzung mit Umweltfragen nicht völlig von den Diskussionen der hessen-nassauischen Landeskirche weg hin zu einer Partei wie den „Grünen“, deren Etablierung in Südhessen gut mit zu verfolgen war. Die Beschäftigung mit Umweltschutz aus Schöpfungsverantwortung verblieb auf der Agenda der EKHN. 4.2. Kirche und Kommunismus oder: Die Ost-West-Beziehungen im Wandel In die Zeit der Kirchenpräsidentschaft von Spengler fällt das wohl bedeutendste und folgenreichste Ereignis nach 1945 in Europa: der Zusammenbruch des Ostblocks und das vorläufige Ende des Kalten Krieges; in Deutschland konkret die friedliche Revolution in Ostdeutschland und die deutsche Wiedervereinigung. Dem ging seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zwar der Beginn der Reformprozesse in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow voraus, gleichermaßen aber auch die Ablösung der Politik des ostdeutschen realsozialistischen Regimes von den Moskauer Direktiven und damit eine (kurzzeitige) Verschärfung des innerdeutschen Verhältnisses. Die Konstellationen aus den langen Jahren des Ost-West-Konfliktes begannen sich zwar zu verschieben, zeitigten aber bis zum 93 Zeitzeugengespräch, 118. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 247 248 Gisa Bauer / Anette Neff Ende der DDR keine Entspannung auf der deutsch-deutschen Ebene. Das stellte eine Verlängerung der angespannten Lage in der ersten Hälfte der 1980er Jahre dar, als auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die Angst vor einem (Atom) Krieg stark ausgeprägt war und das Engagement von Friedensbewegungen sowohl in den ostdeutschen kirchennahen Oppositionskreisen als auch in Westdeutschland wuchs. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist es bemerkenswert, dass Helmut Spengler in Bezug auf den Ost-West-Konflikt ähnlich verfuhr wie Martin Niemöller, mit dessen polarisierender Politiknähe ihn ansonsten wenig verband. Spengler war bereits als Stellvertretender Kirchenpräsident in der Sowjetunion gewesen. Im ersten Amtsjahr als Kirchenpräsident, 1985, folgte er erneut einer Einladung in die Sowjetunion. Die letzte Reise unternahm er ein Jahr vor der politischen Wende in Deutschland. Spengler erinnert sich an seine Motive dieser Verbindung hinter den Eisernen Vorhang: Ich habe das sofort im ersten Jahr aufgenommen, also praktisch aus den Händen von Helmut Hild, der auch in der Sowjetunion gewesen ist. (Und) in der Linie Martin Niemöllers habe ich - ich hätte (ja) auch absagen können -, die Verpflichtung gefühlt, du musst dahin fahren, um den Frieden deutlich zu machen. (Und) um auch deutlich zu machen, dass die Kirche im Westen nicht nur die NATO-Kirche ist, die NATO-Parolen oder politische Parolen nachbetet, sondern dass wir sehr selbständig auch agieren, im Sinne unserer Botschaft. 94 An anderer Stelle vertieft er diese Gedanken im Hinblick auf die EKHN: Ich bin drei Mal in der Sowjetunion gewesen und das, was ich erzählt habe, muss unter (den) Punkt einladende Kirche, offene Kirche. Hier (in Deutschland) haben wir die Verfestigung des Antikommunismus und der antiöstlichen Stimmung gesehen. Besonders in der CDU haben es sich die Ideologen sehr einfach gemacht, das ‚Reich des Bösen‘ und so weiter. Wir von der EKHN wollten da wirklich einen Gegenpunkt setzen um des Evangeliums willen, um des Friedens und des Weltfriedens willen. Man muss sagen, wir sind eine kleine Kirche, wir sind einzelne Menschen, wir begegnen Einzelnen. Es fahren aber noch Leute aus anderen Kirchen nach dem Osten und wenn wir viele einzelne Menschen treffen, (sie) bewegen und sie lernen uns kennen, dann wird das Gesamtklima besser. Und mit der Niemöller-Stiftung haben wir ja auch wirklich prominente Gesprächspartner gehabt, die Multiplikatoren waren. […] (Man) hat dann auch an seinen Gesprächspartnern ein Stück Kirche kennen gelernt, was in das marxistisch-religionskritische Schema nicht reinpasste. 95 94 Ebd., 64. 95 Ebd., 74. Die Resonanz auf seine Reisen war in Westdeutschland und in der EKHN eher negativ. Spengler gab nach seiner Rückkehr 1985 eine Pressekonferenz, auf der er über seine Erfahrungen berichtete. Es ging ja dann (schon) auf die Wende zu. […] Gorbatschow war schon an der Regierung. In der Sowjetunion war von Perestroika die Rede. Und die Stimmung, die wir in der Sowjetunion erfahren und erlebt haben, habe ich in der Pressekonferenz wiedergegeben und habe gesagt: Es bewegt sich etwas in der Sowjetunion. (Ich) habe dann auch deutlich gemacht, die Kirchen, also die Lutherische Kirche im Baltikum und die Baptisten im Baltikum, haben Hoffnung und nehmen sich selbst auch schon größere Freiheiten. […] Die haben uns davon erzählt. (Im) damaligen Leningrad haben wir auch schon einen Jugendchor singen hören, obwohl das ein paar Jahre vorher noch strengstens geahndet worden war. Ich bin nach Mainz gekommen und habe das zusammengefasst wiedergegeben. Sofort stand ein Leserbrief in der FAZ, der blauäugige Spengler und so weiter. […] Und dass ich (von) der DDR missbraucht worden wäre. […] Das musste man dann schon auf sich sitzen lassen. 96 Aber so unbedarft, wie er in der Öffentlichkeit dargestellt wurde, war Spengler gegenüber der Lage in der Sowjetunion nicht: „Dass der eine (im) NKWD [Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten und Geheimdienst der Sowjetunion] war, das war uns klar. Hild hat mich, da war ich noch Stellvertreter, als ich mit der Niemöller-Stiftung hinfuhr, gewarnt und gesagt, ‚Sei vorsichtig’, Nomenklatura und so weiter. Das war mir schon klar.“ 97 Trotzdem blieb Spengler selbstkritisch: „Wir waren auch blauäugig. Das muss ich sagen. Die Dämonie, diese(n) Zwiespalt des Systems und der Menschen haben wir in dieser Wucht aufgrund der Gespräche und des Miteinanders nicht immer wahrgenommen.“ 98 Im Hinblick auf seine damalige Stellung in der EKHN resümiert er: „Ich habe (es in Kauf) genommen, (danach) hier in Hessen als Kommunist abqualifiziert zu werden. Wer mich gekannt hat in meiner (näheren Umgebung), als Kirchenpräsident, in der Synode und so weiter, dem ist (es) nicht eingefallen, mich so zu beschimpfen. Aber Leute, die etwas entfernter waren, haben gesagt, ‚Das kann der doch nicht machen.‘“ 99 In den 1990er Jahren erfolgte ein Wechsel in der Aufmerksamkeit Spenglers weg von den militärischen Fragen des „Ostens“ hin zu denen des „Nahen Ostens“, der immer stärker in den Fokus des Westens rückte. 96 Ebd., 64 f. 97 Ebd., 66. 98 Ebd., 70. 99 Ebd., 62. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 249 250 Gisa Bauer / Anette Neff 4.3. Friedensbewegung und Pazifismus Spengler agierte, neben der ihm eigenen, bereits erörterten Brückenbauerhaltung, aus einem, wie er selbst betonte „nicht ideologischen“ Pazifismus heraus: „Als Christ und Kirchenpräsident bin ich immer der Meinung des Ökumenischen Rates in Amsterdam (gewesen) ,Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein‘. Im Krieg werden alle schuldig.“ 100 Das brachte ihm „dramatische“ Diskussionen mit Offizieren der Bundeswehr ein, die von ihm den Segen nicht der Waffen, aber ihres Tuns verlangten. 101 Gleichermaßen aber war der Kirchenpräsident kein Radikalpazifist oder mit seinen Worten: „ideologischer Pazifist“, sondern der Meinung, dass „es Übergangszustände gibt, in denen die Menschheit Armeen, Soldaten, Polizei braucht, die auch Gewalt ausüben müssen.“ Das bedeute aber nicht, dass „die gewaltausübenden Menschen dann sagen [dürfen], wir tun jetzt Gottes Willen.“ 102 Spenglers Mittelposition wird charakterisiert durch das Inkaufnehmen des Schuldig-Werdens durch die notwendige, d. h. „Not wendende“ Haltung des sich abgrenzenden Wehrhaften. Im Zeitzeugengespräch umreißt Spengler seine Position folgendermaßen: Ich habe auch nie einem Soldaten gesagt, ‚Du bist zwar ein Christ, aber in Sachen dieses springenden Punktes bist du nur ein Christ zweiten Grades.‘ Sondern ich habe versucht zu sagen, ‚Du tust deine Pflicht und wirst aber auch schuldig. Und wenn ich Pazifist bin, werde ich auch schuldig, weil ich Teil dieser Menschheit bin.‘ Insofern habe ich auch nie das Radikale (vertreten). 103 In dem Sinne fuhr er fort: Also ich bin kein ideologischer Pazifist. Ich bin ein Pazifist, der in der historischen Situation sagt, ‚So, ich muss das jetzt vertreten. Wenn ein anderer zu einer anderen Überzeugung kommt, dann muss er das vertreten. Wir sind in einer Übergangssituation, aber Übergangssituationen sind auf das Nein angewiesen als Gegenüber zu einem Ja.‘ 104 100 Ebd., 77. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Ebd., 79. 4.4. Pfarrer und Vikare als Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) Eine der größten innerkirchlichen Kontroversen in der EKHN wurde in den 1970er Jahren um die Frage der Vereinbarkeit von Pfarrberuf und Mitgliedschaft in der DKP ausgetragen. Im Beitrag über Helmut Hild in diesem Band werden die Abläufe im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung bereits ausführlich in Bezug auf Spenglers Vorgänger geschildert. 105 Spengler, der die Konflikte als Stellvertreter des Kirchenpräsidenten erlebte, nahm eine nuanciert andere Haltung zu der gesamten Fragestellung ein als Hild. Der Präses sagte zu mir, ‚Helmut, wir erwarten jetzt von Dir, dass Du die Kirchenordnung, (d. h.) den Verfassungsauftrag erfüllst, dass es ein Spruchkollegium gibt. Du musst der Synode ein Gesetz vorlegen. Du musst das entwickeln und machen‘, und so weiter. Das war mein erster Konfliktpunkt. Von meiner geistlichen Tradition her war ich auf der einen Seite eher gegen ein solches Gesetz eingestellt. Obwohl es jetzt merkwürdig klingt, dass ich als alter Pietist gegen ein Lehrbeanstandungsgesetz bin, aber das entsprach (einfach) nicht (meinen Ansichten), dass man da um persönliche(r) Überzeugung(en wegen) vor einem Kirchengericht erscheinen muss. Auf der anderen Seite zerfloss damals aber sehr vieles in der Kirche. Es gab Vikar- und Vikarinnen-Gruppen, die gesagt haben, Jesus bedeutet uns überhaupt nicht(s). De(r) Streit um Jesus ist der Streit um des Kaisers Bart. […] Eine Kirche muss sich [deshalb] ein Verfahren ausdenken, (damit) die Leute, die nach Meinung der Kirchenleitung mit dem Grundartikel (bzw.) Grundbekenntnis der Kirche in Konflikt geraten (waren), nicht disziplinarisch abgeurteilt werden, sondern vor ein Gremium müssen, (das) für Lehr- (und) Glaubensfragen zuständig ist. 106 Zufrieden war Spengler mit dem Prinzip einer Lehr- und Gewissenskontrolle aber nicht. Ich wollte die Andersdenkenden nicht moralisch abqualifizieren. Sie sollten vor ein Gremium, das wirklich nur Glaubensfragen behandelt. Ich wollte, dass das Gesetz eben auch sichert, dass die Leute nicht ins Abseits gestellt werden. Ich wollte, dass das Gesetz sichert, dass die Leute bis zum Lebensende ihr Ruhegehalt bekommen. Selbst wenn sie nicht mehr auf die Kanzel dürfen, dürfen sie um ihrer Glaubensfragen willen (keine) finanzielle(n) Nachteile haben. Es kann sein, dass ihnen die Kirche verbieten muss, ihre Lehre von der Kanzel zu vertreten. Aber sie sollen dadurch auf dem materiellen Sektor nicht so gestellt werden, dass die Allgemeinheit sagt, ‚Na, der 105 Vgl. in diesem Band Ute Dieckhoff: Helmut Hild (1921-1999) - Der Ort der Kirche in der Gegenwart, besonders Abschnitt 6 „Pfarrvikare in der DKP“. 106 Zeitzeugengespräch, 74 f. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 251 252 Gisa Bauer / Anette Neff ist aber schön abgesägt worden‘. Insofern habe ich der Synode die Vorlage gemacht und der theologische Ausschuss hat das Gesetz dann weiterentwickelt. Das ist auch heute so, dass ich sagen kann, ich kann das vertreten, dass die Kirche sich so - ich sage mal - schützt. Ja, das war also zu erledigen. Dann kamen die Mitgliedschaften der jungen Leute in der DKP. Da stand ich auf der Seite derer, die der Meinung waren, die schmeißen wir nicht raus. (Sondern) wir müssen mit denen sprechen, dass (die) Mitgliedschaft eines volkskirchlichen Pfarrers in dieser Partei - ich sage mal - kirchenpädagogisch nicht zu vermitteln ist. […] Ich hatte an sich nichts dagegen, dass die da drin sind. Aber da muss man wirklich schon akademisch gebildet sein, um zu begreifen, dass so etwas möglich ist, dass ein Christ sich aus seiner Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit einer Partei anschließt, die sagt, die Privatisierung der Banken muss (ebenso) aufgehoben werden (wie) die Privatisierung der Grundstoffindustrien. Ein Teil der Kirchenleitung war dagegen, dass die Pfarrer bleiben können, wenn sie in der Partei sind. Ein anderer Teil sagte, wir geben ihnen noch eine Chance. Sie sollen die Möglichkeit haben, in der Kirche zu bleiben, Pfarrer zu bleiben, wenn das der Kirchenvorstand will. Wenn der Kirchenvorstand ihnen vertraut, dann sollen sie Pfarrer bleiben, aber wir werden ihnen immer in den Ohren liegen, dass es nicht geht, in einer atheistischen Partei zu sein. Nicht mit kirchlicher Macht, aber sie müssen mit uns im Gespräch bleiben. […] Dann kam eine Synode, in der (ich) - Hild war auf einer Weltkirchenkonferenz und ich hatte die Synode zu leiten - der Kirchenleitung einen Zwischenbericht über die Mitgliedschaft von DKP-Pfarrerinnen und Pfarrern, also Vikarinnen und Vikaren in der DKP abgestattet habe. Am Ende meines Vortrags habe ich gesagt: ‚Ich bitte die Synode, zu beschließen, dass diese Leute Pfarrerinnen und Pfarrer werden. Dass wir sie auch zu Pfarrerinnen und Pfarrern auf Lebenszeit ernennen.‘ Nach meinem Vortrag gab es dann einen großen Auflauf in der Synode und die Leute, die mich zum Stellvertreter des Kirchenpräsidenten gewählt hatten, weil sie dachten, der Spengler ist ein konservativer Mann, der war gegen das Antirassismusprogramm, (waren empört). 107 Ein erzürnter Synodaler beschied Spengler: „Wir wollten dem Hild jetzt eine Korsettstange reinziehen und Sie sind ja noch viel schlimmer als der Hild.“ 108 Für Spengler waren solche Kontroversen schwer zu ertragen. Aber er habe gewusst, dass er sie ertragen müsse, „um des Evangeliums willen“. 109 107 Ebd., 75. 108 Ebd., 76. 109 Ebd. 4.5. Anti-Apartheidskampf Den Kampf gegen Apartheid, für die Überwindung rassistischer, kolonialer und grundsätzlich elitärer Überzeugungen verfolgte Helmut Spengler seit Beginn seines Engagements in den kirchenleitenden Gremien der EKHN, konkret seit seinem Wirken als Synodaler der 4. Kirchensynode. 1970 war das Antirassismusprogramms des ÖRK und insbesondere der „Sonderfonds“ dieses Programms als Thema in der Kirchensynode virulent. Als einzige westdeutsche Landeskirche unterstützte die EKHN den Fonds nach intensiven und kontroversen Diskussionen mit einem dem hohen Betrag von 100.000 DM. 110 Beim Amtsantritt Spenglers als Kirchenpräsident war das Thema Apartheid noch immer präsent. Mit dem Präses der Synode Rudolf Kissel reiste Spengler nach Südafrika, um sich ein unmittelbares Bild von der Situation zu machen. Seine Anliegen fand er wieder in der Erklärung des Rates der EKD vom September 1985, dass gezielte Sanktionen gegen Südafrika nötig seien, ebenso wie im Beschluss der Synode der EKD zur „Situation in Südafrika“ vom 8. November 1985. Spengler führte dies in der darauf stattfindenden Tagung der Synode der EKHN Anfang Dezember 1985 aus. 111 Bei dieser hessen-nassauischen Synodentagung kam es zu einer ausführlichen und teils sehr kontroversen Diskussion. Dabei wurden auch Bezüge hergestellt zur Reaktion der Kirche zu Ereignissen im Ostblock bzw. Afghanistan, zum Gebot der Einmischung oder Nicht-Einmischung in eigenständige Kirchen, zur besonderen Verpflichtung einer deutschen Kirche, die im eigenen Land Rassismus in seiner schlimmsten Ausprägung erlebt hatte u. a. mehr. 112 Im Zusammenhang mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 1987 in Frankfurt a. M. verschärften sich die Diskussionen erneut. Spengler erinnert sich: Schon im Vor(feld) gab es im Präsidium des Kirchentags, an dessen Sitzungen ich als Präsident der Kirche, die den Kirchentag beherbergt, teilnehmen konnte, erhebliche Spannungen. Denn die Mehrheit der Kirchentagspräsidiumsmitglieder wollte die Konten bei der Deutschen Bank, bei der Commerzbank oder (bei der) Dresdner Bank nicht kündigen. Das hatten aber verschiedene Gruppierungen des Kirchentags, auch die Frauen [der Aktion] ‚Kauft keine Früchte der Apartheid‘, gewollt. Ich persönlich war der Meinung, in der Kirche muss es nach dem Grundsatz des Augsburgischen Bekenntnisses gehen, ‚Non vi sed verbo‘ - nicht mit Gewalt, sondern durch das Wort müssen wir überzeugen. Die Frankfurter Gemeinden haben dann die Mitarbeit in der 110 Vgl. dazu die instruktive Untersuchung von Sebastian Tripp, Fromm und politisch, 76-82. 111 Verhandlungen der Kirchensynode, 6. Kirchensynode, 12. Tagung, 224-226. 112 Ebd., 224. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 253 254 Gisa Bauer / Anette Neff Quartierfrage zur Debatte gestellt und haben gesagt, wir arbeiten in der Quartierfrage für diesen Kirchentag nur noch mit, wenn der Kirchentag die Konten bei de(n) Bank(en) kündigt. Das habe ich dann in dem Kirchenleitungsbericht des nächsten Jahres thematisiert und habe auch mit (Verweis) auf ,Non vi sed verbo‘ gesagt, ,Ihr übt einen Druck auf das Kirchentagspräsidium aus, der mit dem Druck des Wortes und der überzeugenden Argumente so nichts mehr zu tun haben kann. Ihr setzt ein Mittel politischer Macht ein und Ihr wollt den Kirchentag zwingen, denn er ist auf die Frankfurter Quartiere angewiesen.‘ Auch in der Synode wurde das unwahrscheinlich (intensiv) debattiert. […] Die Mehrheit der Gemeinden hat dann aber gesagt, wir fordern das von dem Kirchentag, aber wir wollen die Zusammenarbeit nicht aufkündigen. Das habe ich dann in der Synode zur Sprache gebracht und habe gesagt, ‚Ihr Frauen kauft keine Früchte. Ihr könnt das tun, aber ihr könnt es nicht von mir verlangen. Und ihr könnt auch nicht sagen, dass ist jetzt im Südafrikakonflikt das absolut Christliche. Es ist für euch das Christliche, aber andere sind unter Umständen anderer Meinung.‘ 113 Die Aktion „Kauft keine Früchte der Apartheid! “ beeindruckte Spengler, auch das v. a. weibliche Engagement, das hinter ihr stand: Ich habe es Frau Trautwein [Ursula Trautwein, die Ehefrau des Frankfurter Propstes Dieter Trautwein], die mit Winnie Mandela ein geradezu inniges Verhältnis angestrebt hat, später nie mehr gesagt, weil ich manchmal gedacht habe, sie ist so aktiv gewesen mit dem ,Kauft keine Früchte der Apartheid‘ und du hast dich als Kirchenpräsident gegenüber dieser direkten, fraulichen Art, diese Sache zu betreiben (schwer getan). Die Frauen haben ja nicht alle Argumente erst schön aufgelistet und haben gesagt, wir machen (jetzt das und dann das), (sondern) die haben das Gefühl gehabt, wir müssen gegen die Apartheid sein und wir können das jetzt nur so […]. Aber die Frauen haben solche Konflikte auch gesucht und waren auch ungemein mutig. (Denn) wir von der herrschenden Männerclique, da rechne ich mich also mit dazu, wir haben ihnen vorgehalten, dass das auch Südafrika schaden kann. Also von der Ratio her hat man diese Frauen lächerlich gemacht und man hat sich viel zu wenig Mühe gegeben, diese Frauen in ihrer Hilflosigkeit zu verstehen. Sie waren ja eine verachtete kleine Gruppe, auf Kirchentagen kamen sie groß raus, aber in ihren Landeskirchen waren sie vereinsamt. 114 4.6. Feminismus und Frauenemanzipation in der Kirche In die Amtszeit Helmut Spenglers als Kirchenpräsident fällt die sukzessive Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern, die Frauenförde- 113 Zeitzeugengespräch, 85 f. 114 Ebd., 87 und 89. rung und die Aufnahme feministischer Anliegen in die Strukturen der EKHN auf allen Ebenen. Dieser Prozess trat gesamtgesellschaftlich verstärkt in den 1970er Jahren in den Fokus. Durch die Implementierung zahlreicher Gremien, Ausschüsse, Werke, Organisationen und Arbeitsstellen fand er in der EKHN den 1990er Jahren einen gewissen Abschluss. Helmut Spengler nimmt an verschiedenen Stellen des Zeitzeugengesprächs das Thema der Gleichstellung von Theologinnen oder generell der Frauen in der Kirche auf und konstatiert, dass bis heute eine vollständige Gleichstellung nicht erreicht wurde. Andererseits wendet er sich gegen extreme Positionen der feministischen Theologie: Ich habe auch das hämische Lachen der älteren Dekane miterlebt, als die erste Dekanin in der Dekanekonferenz auftauchte. Wie die mit Frauen umgegangen sind. Das fand ich furchtbar, so dass ich im Grunde der Frauenbewegung sehr offen gegenüber stand. Nun kamen die aber mit Göttin und so weiter. […] Bei der inklusiven Sprache war ich der Meinung, das ist sachgemäß, das muss so sein, das muss jetzt verändert werden. In (meinem) ersten Jahr (als) Kirchenpräsident hat es gleich die Frauenanhörung gegeben […]. (Auf die) Frauen habe ich manchmal schillernd gewirkt, weil ich dem einen (Postulat) widerstand und der anderen Äußerung nachgegeben und sie auch befürwortet habe. 115 Prinzipiell sei er, so Spengler in seiner Selbstwahrnehmung, dafür gewesen, Anliegen, die sich aus der „Frauenfrage“ ergaben, in der Kirche umzusetzen und zu begleiten: Ich habe es grundsätzlich bejaht, dass das Verhältnis zwischen Frauen und Männern und Männern und Frauen in der Kirche anders werden muss. Und das ist eines meiner wichtigsten Anliegen gewesen. Es ist nach außen hin nicht so erkennbar gewesen […]. Weil ich mich gegenüber extremen Einstellungen kritisch verhalten musste und zwar gegenüber extrem-feministischen Einstellungen, die mit einer inklusiven Sprache auch die Bibel verändern wollten. […] Ich musste mich dagegen wehren, dass aus ‚Gott‘ eine ,Göttin‘ und heidnische Übergriffe gemacht wurden. Aus Amerika kommend sind da ja (teilweise) sehr extreme Sachen vertreten worden. (Dessen ungeachtet) war es mir ein Anliegen, dass das (Verhältnis der EKHN zu den Frauen) dringend verändert werden muss, (zumal) ich aufgrund meiner psychologischen Fortbildungsarbeit gemerkt habe (und) mir das bei meinem Amtsvorgänger Hild sehr klar geworden (ist), wie die Männereinstellungen die Theologie (und) die Auffassung von Kirche geprägt ha(ben). Das war (eben) die alte Generation. Das waren (ehemalige) Soldaten, die die Soldatenzeit ohne Frauen (erlebt) haben. Dann haben sie beim Militär ja sehr 115 Ebd., 83. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 255 256 Gisa Bauer / Anette Neff übel (über) Frauen (gesprochen und) Witze (gemacht) und so weiter. Das hat diesen Männergruppierungen eine gehemmte Einstellung gegenüber Frauen, zum Teil auch eine zynische Einstellung gegenüber Frauen, eingebracht, die sie nicht haben ablegen können, auch christlich nicht verarbeiten konnten. Da war es mir von vornherein (klar), ich sagte, ‚Es gehört zum Wesen der Kirche, dass Männer und Frauen eins und gleich sind.‘ […] Und das sehe ich natürlich besonders kritisch in der Katholischen Kirche bei (den) Päpsten, Bischöfen und Priestern, die mit der Bibel, mit dem Willen Jesu Christi eine Haltung kaschieren, die ihr Problem ist. […] Also etwas Psychisches wird theologisch kaschiert und theologisch aus sich herausgesetzt. 116 Für Spengler ist es „unvorstellbar“, dass es in der progressiven EKHN bis 1970 dauern musste, ehe die ersten Frauen ordiniert wurden. Die eigene biographische Prägung hatte bei ihm eine deutlich progressive Haltung erzeugt, mit der er hin und wieder zwischen allen Fronten stand: Also in Bad Homburg haben wir das (gewissermaßen) gemeindlich durchexerziert. Nicht dass wir eine Pfarrerin angestellt hätten. Das gab es damals ja noch nicht (und) es trat auch nicht ins Blickfeld. […] Aber für Frauen im Kirchenvorstand habe ich mich in Bad Homburg stark gemacht und so weiter. Das habe ich dann in Darmstadt fortgesetzt und habe darüber gestaunt, wie schwer sich die älteren Herren Pröpste und mein Amtsvorgänger getan haben, mit Frauen in der Kirchenleitung umzugehen. (Für mich) war das überhaupt kein Problem […]. Ich war zehn Jahre jünger als Helmut Hild (und) gehörte (demnach) zu einer (anderen) Generation. (Außerdem) kam ich aus der Chrischona-Gemeinschaft. Die war (zwar) patriarchalisch strukturiert, (dennoch) hatten die Frauen da eine (starke Position). […] Jedenfalls war es so, dass ich sehr früh sagen konnte, das ist doch furchtbar gewesen, dass meine (ältere) Schwester nicht auf die Oberschule hat gehen dürfen, weil meine Mutter gesagt hat, ‚Das kann nur der Helmut. Für dich haben wir kein Geld mehr und außerdem‘ - dann kam es - ‚Du heiratest ja sowieso.‘ […]. Ich habe dann auch meiner Frau gegenüber Schuldgefühle gehabt. Ich sage mal Schuldgefühle, weil ich wusste, sie hatte ihren Beruf aufgegeben. Dann habe ich in der Wohnung gesehen, ich hatte ein Arbeitszimmer. (Es gab noch) das Wohnzimmer und Esszimmer, (aber) meine Frau hatte im Pfarrhaus und auch später kein eigenes Zimmer, das ihre Prägung hat tragen können. […] Und ich habe dann [meiner Tochter] geschrieben, ‚Liebe Susanne, ich wünsche Dir, dass Du das anders machst in deinem Leben.‘ […] Ich habe einmal - da war ich längst Kirchenpräsident - in der EKD-Synode, (wo über) das Thema verhandelt wurde, und da war ich (bei) einer synodalen Studientagung eingeladen worden (darüber zu sprechen), wie (Kirchenmänner) im Verhältnis zu Frauen erzogen worden sind. Das gleiche Thema musste dann jeder eine Viertelstunde (erörtern), auch eine Frau, eine Tochter eines Gene- 116 Ebd., 47 f. ralsuperintendenten und Botschafterfrau. Die anwesenden Tagungsmitglieder der Synode in Arnoldshain waren, nachdem ich gesprochen hatte, fassungslos, vor allen Dingen die Feministinnen waren fassungslos, (weil) sie gemerkt haben, der Spengler hat eigentlich das gesagt, was wir von einer Frau erwartet hatten. […] Und die Leute waren von dem, was ich dann sagte, so beeindruckt, dass sie gesagt haben, da(rüber) wollen wir jetzt nicht miteinander sprechen. Das muss noch jeder mal bedenken. […] (Zu) meinem 50-jährigen Abitursjubiläum war ich […] voriges Jahr in Gießen eingeladen, vor den grünen Abiturienten wieder eine Rede zu halten. In der Rede habe ich damit angefangen, das Wesentlichste wäre doch, dass die Mädchen (von) heute dankbar sein könnten, dass sie gleichberechtigt in der Schulbank sitzen. […] (Auf der) Tagung der Leitenden Geistlichen haben wir uns damit auseinandergesetzt, warum die Frauen der Bischöfe da nicht sprechen (und) abends ihre Männer in diesem Konzilium reden lassen. […] Ich war überrascht, dass (es) von meinen Bischofskollegen niemand für nötig hielt, (das) zu bearbeiten, warum die Bischofsfrauen da gehorsam am Tisch saßen. Es ist unfasslich. Es ist unfasslich […], was sich in der Kirche heute noch an Unterdrückung ereignet. 117 5. Spengler oder: Die politische Dimension des eigentlich Unpolitischen und die „politische EKHN“ - Versuch einer Einordnung Helmut Spengler sieht sich selbst zwar als politisch interessiert, aber nicht als politisch aktiv; vor allem nicht im parteipolitischen Sinne. Dennoch wird sowohl in seiner „Lebenserzählung“ wie auch in den vielen Debattenbeiträgen in der Synode, in der Kirchenleitung und anderen Gremien sowie in seinen Reden immer wieder deutlich, dass er sich nicht nur der Bedeutung der politischen Sphäre als solcher wie als Gegenüber der verfassten Kirche bewusst ist, sondern dass er sich als Bürger als Teil der politischen Welt versteht. Seine Aussagen bei der Festveranstaltung zur Verabschiedung seines Vorgängers Helmut Hild aus dem Amt und seiner eigenen Einführung in das Amt des Kirchenpräsidenten, dass man den Menschen helfen müsse, „nicht so ängstlich zu sein, wenn sie Staat und Kirche in einem lebhaften Dialog entdecken“, schafften es als Überschrift „Dialog Staat - Kirche nicht ängstlich führen“ in die regionale Tageszeitung Darmstadts. 118 Dieser Titel greift Spenglers Überlegungen nur verkürzend auf, doch er transportiert zumindest ansatzweise die Relationalität, mit der Helmut Spengler die Menschen, Kirche und Politik wahrnimmt und die bei ihm im Kern 117 Ebd., 51. 118 „Darmstädter Echo“ vom 25. März 1985. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 257 258 Gisa Bauer / Anette Neff charakterisiert ist von der Vorstellung, dass Kirche nicht im Sinne einer Partei fungieren könne, sondern Menschen zusammenbringen müsse. Allerdings sei ein Missverständnis, dass sie sich die Hände nicht schmutzig machen könne oder solle: Kirche, so Spengler, muss den Mut haben, Position zu beziehen, aber es muss anders sein, als dass man seinen Feind als Lügner verdammt, so wie wir das wunderbar jetzt im Wahlkampf in Hessen […] wieder erleben. […] [Es] kann nicht darum gehen, (dass) die Kirche zu allem Ja und Amen sagt. Es müssen Positionen gesetzt werden, aber es darf nicht so sein, wie es politische Parteien oder auch Bürgerbewegungen machen müssen. Deswegen unterscheidet sich auch die Kirche immer von einer Bürgerbewegung. 119 Kirche muss in diesem Sinne zu politischen Positionen und Ereignissen Stellung beziehen, aber nicht auf die Art und Weise des politischen Agierens. An diesem Punkt zeichnet sich Spengler als politischer Vertreter von Kirche aus. Grundsätzlich aber haben für den vordergründig unpolitischen Spengler sowohl Politik als auch Kirche keinen Selbstzweck, sondern eine dienende Funktion für den Menschen. Die bereits erwähnte Selbstdiagnose „nicht so politisch wie andere“ zu sein, ist zudem keine starre Zuschreibung Spenglers. So wie er sich persönlich weiterentwickelte, so verstand er auch zunehmend die politische Rolle der EKHN und nahm sie an. Dabei ging es ihm gerade nicht darum politisch zu agieren, sondern sich aus guten Gründen für etwas zu engagieren und dann die Reaktion auszuhalten. Als Kürzel für diese Situation benutzt er den Terminus „Niemöller-Kirche“: „ That is Niemöller church . Und da erlebt man auch, dass man zwischen allen Stühlen […], aber unter dem Schirm des Höchsten sitzt.“ 120 Bemerkenswerterweise kam Spengler zu der Wahrnehmung der EKHN als „Niemöller church“, d. h. als streitbare politische und damit „lebensnahe“ Landeskirche, auf dem Umweg des Eindrucks, den er von der institutionellen Seite der Kirche, speziell der EKD als der Dachorganisation der Landeskirchen gewann: Wenn ich an die Gottesdienste zu Beginn von Synoden denke, wie dann die Oberkirchenräte mit ihren Aktenköfferchen da angekommen sind und sich steif in die Kirchenbank gesetzt und die Liturgie des Gottesdienstes gestaltet haben. Das hat meinen Bad Homburger Erfahrungen (förmlich) ins Gesicht geschlagen […]. Als Stellvertreter bin ich dann Vorsitzender des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz geworden, und habe dann diese, sozusagen, ja EKD-Mafia kennen gelernt und habe nur mit dem Kopf geschüttelt und gestaunt, wie konservativ, also lebens- 119 Zeitzeugengespräch, 60 und 58. 120 Ebd., 65. konservativ, die Lutheraner in der EKD, wie konservativ diese Leute gewesen sind, wie zurück hinter dem Leben. […] Deswegen, also von diesem Erleben der EKD her, habe ich dann auch eine Identität mit der Geschichte der EKHN (und) mit Martin Niemöller bekommen. 121 Das Problem der Kluft zwischen dem institutionellen Leben von verfasster Kirche und dem kirchlichen Sein an der Basis einer Landeskirche sowie der damit verbundenen Rückkopplung auf die Selbstwahrnehmung von Mitgliedern einer Landeskirche ist ein eigenes, bisher kaum erforschtes Thema kirchlicher Wahrnehmungsgeschichte - möglicherweise ein stark unterschätztes. An dieser Stelle soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass es in Helmut Spenglers Wirken als Kirchenpräsident eine relativ große Rolle spielte. Eine der größten gesellschaftspolitischen Leistungen der EKHN war es, einen Diskursraum in der bundesdeutschen Gesellschaft seit Ende der 1960er bis weit in die 1990er Jahre - und darüber hinaus - offen gehalten zu haben. Auf der gemeinsamen Basis war es Gemeindegliedern, Synodalen, Leitungspersonen und Mitarbeitenden möglich, jenseits parteipolitischer oder weltanschaulicher Grabenkämpfe und Rhetorik über politikbestimmende, extrem konfliktreiche Themen zu sprechen. Auch in der EKHN gab es widerholt Ankündigungen, „das Tischtuch zu zerschneiden“ oder zerschneiden zu wollen, aber Helmut Spengler in seinen Funktionen als Synodaler, als stellvertretender Kirchenpräsidenten und als Kirchenpräsident war einer derer, die im Zuhören, im Verstehen-Wollen und im Rückgriff auf die biblische Botschaft offen waren für neue Entwicklungen, sie gefördert und an ihnen festgehalten haben, wenn sie - oft am Ende eine langwierigen Prozesses - als gerechtfertigt beurteilt wurden. Allein schon dadurch, dass sich Helmut Spengler all den politischen Themen seiner Dienstzeit gestellt hat, wirkte er politisch. Dies tat er ohne konfrontativ sein zu wollen, auch wenn sich manche gerade an seiner Mittlerposition stießen. Er hatte keine feste parteipolitische Bindung und kann auch keinem politischen Lager zugerechnet werden, aber er dachte und handelte als Kirchenpräsident eminent politisch. Sobald er sich für eine Position entschieden hatte, übernahm er die damit zusammenhängenden Aufgaben und stellte sich den Herausforderungen. Er war als Leiter, Vertreter und Repräsentant der evangelischen Kirche, der sich Menschen mit den unterschiedlichen biographischen, sozialen und politischen Hintergründen öffnete, politisch wirksam. Insofern ist Spengler selbst eine Verkörperung des von ihm propagierten Konzepts der „einladenden Kirche“. Eine „einladende Kirche“ ist zwar auch politische Kirche, geht jedoch über Politik im engeren Sinne weit hinaus. 121 Ebd., 51. Helmut Spengler (*1931) - Sein Konzept der „Einladenden Kirche“ 259 260 Gisa Bauer / Anette Neff Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalische Quellen aus den Beständen des Zentralarchivs der EKHN, Ahastraße 5a, 64285 Darmstadt: Zeitzeugengespräche D. Helmut Spengler mit Anette Neff am 2.12.2002, 28.1.2003 und 12.8.2003, Transkription der Gespräche, Ms., Darmstadt 2003, ZA EKHN, Best. 331 „Erzählte Geschichte der EKHN“. 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In seine Amtszeit fielen damit entscheidende gesellschaftliche und kirchliche Strukturveränderungen, etwa die Folgen der deutschen Wiedervereinigung mit großen Hoffnungen für das kirchliche Leben und darauffolgende Enttäuschungen und tiefgreifende kirchliche Reformbemühungen, die vor allem auf sinkende finanzielle Ressourcen zu reagieren suchten. Jahrzehntelang hatten die Kirchen von steigenden Kirchensteuerinnahmen profitiert, dieser Trend änderte sich seit Anfang der neunziger Jahre deutlich. So wurde allenthalben das Ende der Volkskirche konstatiert. So stellte etwa Wolfgang Huber, Bischof von Berlin-Brandenburg und dann Ratsvorsitzender der EKD fest, dass die evangelische Kirche nur noch eine Minderheit darstelle und deshalb etwa das Parochialsystem, also die Präsenz an allen Orten aufgeben müsse. 1 Steinacker setzte sich in seinem theologischen Arbeiten intensiv mit den Entwicklungen seiner Gegenwart auseinander. 1 Vgl. Huber, Wolfgang: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche. Gütersloh 1999 2 , 244-265. 264 Sarah Jäger Kirchenpräsident Peter Steinacker (Bild: EKHN) Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 265 Peter Steinacker ist eine spannende Figur, war er doch zugleich begeisterter wissenschaftlicher Theologe und engagierter Kirchenmann. Gerade im Blick auf die Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaften betont er, dass weder der Konflikt noch Harmonisierungsversuche zwischen Glauben und Wissen weiterführen, denn Theologie ebenso wie Naturwissenschaft könnten beide keine umfassenden Perspektiven auf die Welt bieten. Theologische Reflexion sei nun aber im Zusammenspiel mit naturwissenschaftlichen Einsichten durchaus in der Lage, ein ethisches Orientierungswissen zu schaffen. 2 So ist es sicher kein Zufall, dass die Marburger Festschrift zu seinem 60. Geburtstag 2003 genau diesen Titel trägt: „Theologie und Kirchenleitung“ 3 . Diese Tatsache hat zur Folge, dass auch im Mittelpunkt seines kirchenleitenden Nachdenkens zwei Faktoren standen: die Frage nach dem Christentum als Religion und das ekklesiologische Nachdenken immer verbunden mit der Frage, wie Kirche dann ins gesellschaftliche Handeln kommen könnte. Aus diesen beiden Bereichen lässt sich dann auch die politische Dimension seiner Kirchenpräsidentschaft ableiten. Liegt diese doch - anders als bei seinen Amtsvorgängern - nicht mehr offen sichtbar auf der Oberfläche. Spricht man von Steinackers Engagement als Kirchenpräsident in einer politischen Weise, so kommt seinem Interesse am interreligiösen Dialog und vor allem am Islam eine entscheidende Rolle zu. Hier aktualisiert sich sein Kirchenverständnis je neu im gesellschaftlichen Kontext. Diese genannten drei Parameter strukturieren den vorliegenden Aufsatz. An seinem Beginn steht eine biographische Annäherung, die auch zeitgenössische Aspekte in den Blick nimmt. Danach folgen einige theologische Skizzen, die mit wenigen Pinselstrichen für Steinacker wichtige Vergewisserungen des christlichen Glaubens andeuten. Im Zentrum stehen sodann ekklesiologische Fragestellungen und der Zusammenhang für eine „Kirche des Dialogs“, der sich für Steinacker in gesellschaftliche und interreligiöse Begegnungen ausdifferenzierte. „Evangelisch aus gutem Grund“ - dieses werbende Motto wurde in der EKHN in Steinackers Amtszeit entwickelt und es fasst wie kein anderes das zusammen, wofür Steinacker mit seiner Person und seiner Theologie stand: Ausgehend von einem geklärten theologischen Selbst- und Kirchenverständnis seine Gesellschaft und seine Zeit verstehen und mit ihr ins Gespräch zu kommen und ihr dabei immer auch mitzuteilen, welchen Schatz die christliche religiöse Tradition - der Protestantismus - in sich trage und wie diese fruchtbar entfaltet werden könne - das war es, was Steinacker antrieb. In seinen Worten: 2 Vgl. Steinacker, Peter: Alles andere als intelligent. Warum ich die „Intelligent-Design-Bewegung“ ablehne, in: Zeitzeichen 8/ 11 (2007), 48-50, hier 50. 3 Deuser, Hermann / Linde, Gesche / Rink, Sigurd (Hrsg.): Theologie und Kirchenleitung. Festschrift für Peter Steinacker zum 60. Geburtstag. Marburg 2003. 266 Sarah Jäger „Es muß uns sowohl gelingen, Kirche Jesu Christi im modernen Pluralismus zu bleiben als auch eine evangelische Kirche zu bleiben und zu werden, die sich einen Pluralismus, der auf einem gemeinsamen Fundament beruht, zulässt und ausdrücklich befördert.“ 4 2. Lebenslinien 5 „Mit Peter Steinacker verliert die evangelische Kirche einen klar profilierten Theologen des offenen und kontroversen Dialogs. Ich persönlich verliere mit ihm einen kollegialen Ratgeber und guten Freund“, mit diesen Worten reagierte der amtierende Kirchenpräsident Volker Jung auf den Tod Peter Steinackers. 6 Dieser stand - so seine Worte - „für eine weltoffene, theologisch anspruchsvolle, gesellschaftlich engagierte und zugleich dialogbereite Kirche.“ 7 Steinacker war vielfältig engagiert, zum Beispiel im Deutsch-Polnischen Kontaktausschuss der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), als Vorsitzender des Kontaktausschusses des Rates der EKD mit dem Evangelisch-theologischen Fakultätentag, als Mitglied des Beirates der Seelsorge an Soldaten der Bundeswehr, im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags und im Bereich der Entwicklungspolitik. Ein zentrales Bemühen Steinackers war es, die Kirche mit unterschiedlichen Gruppen und Bereichen ins Gespräch zu bringen, hier zeichnete ihn vielfältiges Engagement aus. Wörtlich sagte Jung weiter: „Sehr wachsam hat Peter Steinacker die gesellschaftlichen und kirchlichen Veränderungen wahrgenommen und die Herausforderungen aufgegriffen, die sich daraus für die EKHN ergaben.“ 8 Während der Amtszeit Steinackers seien die Folgen der neu gewonnenen deutschen Einheit zu bewältigen gewesen und seien Deutschland sowie die Kirchen danach zunächst in heftige wirtschaftliche Turbulenzen geraten. Außerdem hätten neue internationale Herausforderungen durch Flüchtlinge, Migranten und die Globalisierung der Wirtschaft das Denken 4 Aufgabe der Kirche in der Gesellschaft - Die Situation in der EKHN. Vortrag von Prof. Dr. Peter Steinacker, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, beim Besuch des „DIT Memorial Resource Centre“ in Amritsar, Indien im April 1998, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 231. 5 Einen ganz anderen Zugriff auf die Person Steinackers bietet der Briefwechsel zwischen ihm und Karl Heinz Symon, entstanden in seiner letzten Lebenszeit: Symon, Karl Heinz: Abendröte. Primo vespere. Für Peter Steinacker. Marburg 2015. 6 Vgl. Art.: Der frühere Kirchenpräsident Peter Steinacker ist tot, www.evangelisch.de/ inhalte/ 121025/ 15-04-2015/ der-fruehere-kirchenpraesident-der-ekhn-peter-steinacker-isttot (1. Juni 2017). 7 Ebd. 8 Vgl. Art.: „Profilierter evangelischer Theologe des offenen und kontroversen Dialogs“, www.ekhn.de/ aktuell/ detailmagazin/ news/ profilierter-evangelischer-theologe-des-offenen-und-kontroversen-dialogs.html (1. Juni 2017). Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 267 bewegt und sei die Bundeswehr erstmals aktiv an Kriegshandlungen beteiligt gewesen, so Jung. Zugleich habe der naturwissenschaftliche Fortschritt zahlreiche bio- und medizinethische Fragen aufgeworfen und sei das Verständnis von Homosexualität gesellschaftlich neu bewertet worden. Zudem hätten sich die Medien durch das Internet und andere mediale Innovationen dramatisch verändert. Nicht zuletzt habe sich während der Amtszeit Steinackers auch die soziale Frage zugespitzt. 9 Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, würdigte Steinacker als weltoffenen und leidenschaftlichen Theologen: „Ich bin Peter Steinacker zum ersten Mal beim Arbeitskreis Kirche und Sport begegnet. Darin zeigt sich die Vielfalt seines Engagements. Was ihn besonders auszeichnete, war eine besondere Verbindung von Zeitzugewandtheit und Menschenzugewandtheit“, so Bedford-Strohm. 10 Es war das Bemühen um Verständigung auf allen Ebenen, das Steinacker vor allem auszeichnete. Der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier hat betroffen auf den Tod von Peter Steinacker reagiert. „Er wird uns fehlen als ein herausragender Theologe, als ein Mann des fruchtbaren Dialogs, als kluger Kopf, aber auch als kritischer Geist, wenngleich der Konsens stets das Ziel seines Engagements gewesen ist. Peter Steinacker hat sich nicht nur als Kirchenpräsident dafür stark gemacht, die unterschiedlichsten Gesprächspartner an einen Tisch zu bringen und neue Wege zueinander zu finden. Sein Beitrag zu einem weltoffenen und toleranten Hessen wird weiterleben“, erklärte der Hessische Ministerpräsident. 11 Peter Steinacker wurde am 12. Dezember 1943 als Sohn des Rechtsanwalts Fritz Steinacker und seiner Frau Else in Frankfurt geboren, in der Stadt am Main ist er mit 71 Jahren am 14. April 2015 gestorben. Er legte in seiner Heimatstadt das Abitur ab und studierte in Frankfurt, Tübingen und Marburg evangelische Theologie und Philosophie. Sein persönlicher Werdegang führte ihn zunächst in die wissenschaftliche Theologie. In Marburg wurde er mit einer Arbeit über „Das Verhältnis der Philosophie Ernst Blochs zur Mystik“ bei Carl Heinz Ratschow (1911-1999) promoviert, der ihm bis zu dessen Tod ein verehrter Lehrer blieb. 12 Die Grundthemen seiner ersten Veröffentlichungen und vor allem seiner Qualifikationsschriften legten die Spur für seine späteren theologischen Interes- 9 Ebd. 10 Vgl. Art.: Zahlreiche Wegbegleiter und Persönlichkeiten würdigen Peter Steinacker, http: / / unsere.ekhn.de/ detail-unsere-home/ news/ zahlreiche-wegbegleiter-und-persoenlichkeiten-wuerdigen-peter-steinacker.html (1. Juni 2017). 11 Vgl. ebd. 12 So setzte er sich immer wieder mit der Lehre Ratschows auseinander, etwa in: Steinacker, Peter: Luther und das Böse. Theologische Bemerkungen im Anschluß an Luthers Schrift „De servo arbitrio“ (1525), in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 33 (1991), 139-151. 268 Sarah Jäger sen und besonders auch für seine Schwerpunktsetzungen als Kirchenpräsident. Am Anfang seiner Dissertation stand die Begriffsbestimmung der deutschen Mystik. Für diese sei der Gottesgedanke zentral. Für die Begriffsbestimmung müssten das Erlebnis Gottes, die Lehre und die Wege dorthin gleichermaßen zusammengehalten werden. 13 Mystik liege dann vor, „wenn ein Individuum, das sich selbst und alles Seiende als heillosen Gegensatz zu einem einenden Prinzip erkannt hat, durch ein die Person veränderndes Identitätserlebnis […] sich zum notwendigen Postulat einer latenten Einheit alles Seienden mit seinem Grund geführt weiß“ 14 . Den Ausgangspunkt bei Ernst Bloch setzt Steinacker in seinem Ideologiebegriff. Bloch unterscheidet zwischen zwei Arten der Ideologie, den herrschaftsstabilisierenden Illusionen und dem kulturellen „Überschuß“ im Sinne von Unabgegoltenem, das von der Revolution beerbt werde könne, wie etwa auch die Religion und besonders die Mystik. Hier seien im Besonderen die Konzentration auf das Kleine, die Korrelation Augenblick - Reich und der Zielinhalt Identität attraktiv. 15 „Mystik ist deshalb beerbbar, weil die Einheit des Mystikers mit dem Weltgrund in der unio mystica ein Vorschein des erfüllten Augenblicks ist, in welchem die Utopie in erreichten Inhalt sich auflöst und die Fülle des endlich Verwirklichten herrscht.“ 16 Die Mystik arbeitet nun zentral mit dem Gottesbegriff, an seine Stelle tritt bei Bloch aufgrund seiner Entfremdungstheorie die Materie. Diese zuvor einheitliche Materie verwandele sich nun und trete sich dialektisch selbst gegenüber in zwei unterschiedlichen Polen, die sich dann dialektisch gegenüberstehen. Diese Erfahrung der Differenz wurzele nun in der Differenz von Sein und Bewusstsein. Diese Annahme verbinde sich mit Blochs Vorstellung eines gestuften Ablaufs der Geschichte, die am Ende durch die Revolution zu einem Augenblick der totalen Identität führe. 17 Steinacker kommt schließlich zu dem Schluss, dass Blochs Philosophie nicht mystisch sei, sondern vielmehr versuche, mystische Inhalte für einen neuen Marxismus fruchtbar zu machen. Im Anschluss an seine Promotion trat er eine Assistentenstelle an der Marburger theologischen Fakultät an und wechselte 1975 auf eine Assistentenstelle an der Gesamthochschule Wuppertal. Seine Schwerpunkte dort waren das Alte Testament und die Systematische Theologie. Mit einer ekklesiologischen Arbeit unter dem Titel „Kennzeichen der Kirche“ habilitierte er sich 1980 in Marburg, 13 Vgl. Steinacker, Peter: Mystischer Marxismus? Das Verhältnis der Philosophie Ernst Blochs zur Mystik, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 17 (1975), 39-60, hier 40. 14 Ebd., 41. 15 Vgl. ebd., 44. 16 Ebd., 45. 17 Vgl. ebd., 55. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 269 wo er später auch Honorarprofessor für Systematische Theologie wurde. Seine Antrittsvorlesung im Januar 1981 wurde unter der Überschrift „Gott, der Grund und Ungrund der Welt. Reflexionen zum Verhältnis von Welterfahrung und Gottesbild am Beispiel der Mystik Jakob Böhmes“ veröffentlicht. Durch die Säkularisierung sei der Zusammenhang zwischen der Erfahrung der Welt und dem Gottesbild neu herausgefordert. Der Religion scheine nur noch die Funktion einer Illusion zuzukommen, die das wirkliche Leben erträglicher mache. 18 Über dieses Problem neu nachdenken möchte Steinacker nun mit Jakob Böhme als Gesprächspartner, einem Mystiker des 17. Jahrhunderts. Zentral war für Böhme die Frage nach der Einheit der Welt. Gott als „Ungrund“ sei nun mit sich so identisch, dass er völlig verschlossen sei. Lediglich sein Wille bilde eine Brücke zur Schöpfung. Dieser Wille habe die Welt und auch das Begehren hervorgebracht. Um aus der Sünde errettet zu werden, müsse der Mensch zur Einheit mit Gott wiedergeboren werden. 19 Gott begreift Böhme dabei als prozesshaft mit einem unendlichen Machtbereich. Der Mensch könne Gott nun überall in der Welt erfahren und eröffnet dem Menschen den Raum zu seiner Selbstverwirklichung als Glaubensvollzug. Auf diese Weise habe Böhme einen starken Begriff des neuzeitlichen Individuums, das Subjekt trägt alle Bedingungen des Heils in sich selbst, Staat und Kirche werden depotenziert. 20 Dieses ganzheitliche Weltsystem ist nun - so Steinacker - für unsere Gegenwart zerbrochen, die funktionale Differenzierung scheint unumkehrbar. Daraus folge für die Gegenwart, dass der christliche Glaube Anteil habe an der gegenwärtigen Welt und zugleich das neue Kommen Gottes erwarte. „Die vollzogene Aufklärung hat das Individuum tief verwundet und die Gott weckende Klage ist nur als kollektive Klage der einander tragenden Gemeinde lebbar.“ 21 So brauchen Menschen heute die Gemeinschaft der christlichen Gemeinde, um Gottes Gnade präsent zu halten. Erst nach seiner Habilitation führte Steinacker sein Weg in die Kirche. Er wurde in der Rheinischen Kirche ordiniert und arbeitete ab 1985 bis 1993 als Gemeindepfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde Unterbarmen-Mitte in Wuppertal. Steinacker war mit der Psychotherapeutin Inge Steinacker verheiratet, er hatte eine Tochter und drei Enkelkinder. 1993 wurde Steinacker von der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zum Kirchenpräsidenten gewählt. Nach der Wiederwahl 2000 dau- 18 Vgl. Steinacker, Peter: Gott, der Grund und Ungrund der Welt. Reflexionen zum Verhältnis von Welterfahrung und Gottesbild am Beispiel der Mystik Jakob Böhmes, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 25 (1983), 95-111, hier 95. 19 Vgl. ebd., 99 f. 20 Vgl. ebd., 104. 21 Ebd., 110. 270 Sarah Jäger erte seine Amtszeit bis Ende 2008, sein Nachfolger wurde Volker Jung. Es war die Zeit nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die mit einem Mal den Bevölkerungsanteil der Christinnen und Christen in der Bundesrepublik von 84 % auf 72 % sinken ließ und damit auch die Kirchen der alten Bundesländer vor völlig neue Herausforderungen stellte. Wichtige innerkirchliche Strukturveränderungen fielen in die Amtszeit Steinackers: So wurden die Dekanate als übergemeindliche Zusammenschlüsse gestärkt und profiliert, der Kooperationsprozess mit der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck begonnen und der Kirchenreformprozess „Perspektive 2025“ angestoßen. Dessen Ziel ist die Entwicklung eines realistischen Handlungskonzeptes im Angesichte sinkender Mitgliederzahlen. Dazu werden in sieben Punkten des zugrundeliegenden Positionspapieres, das die Synode 2007 verabschiedet hat, unterschiedliche Regionen innerhalb der EKHN differenziert und eine Ausdifferenzierung des Gemeindelebens vorgeschlagen. Steinacker war in herausragender Weise international engagiert: Er initiierte beispielsweise ein Studienprogramm, in dem regelmäßig Pfarrer der EKHN ein Studienjahr an der Al-Azhar-Universität Kairo verbringen, um Islamische Theologie zu studieren. Ein Schwerpunkt seiner Amtszeit lag auf der Stärkung der Beziehungen zu den Partnerkirchen der EKHN in Afrika und Asien sowie in der Unterzeichnung einer Partnerschaftsvereinbarung mit der United Church of Christ 2008. In der Nachfolge seines Vor-Vorgängers als Kirchenpräsident Helmut Hild verantwortete Steinacker die dritte und vierte EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft als Mitherausgeber, darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Er war zudem im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages. 3. Was das eigene Leben trägt - theologische Splitter Die Bedeutung der Theologie liege darin, Glauben für Gegenwart und Zukunft neu zu formulieren. 22 Mit diesen Worten beschreibt Steinacker sein eigenes Theologieverständnis und zeigt damit auch einen Schlüssel zum Verständnis seines Wirkens auf: Es ist das Bemühen, die eigene Gegenwart wahrzunehmen und besser zu verstehen und diese ins Gespräch zu bringen mit der kirchlichen Botschaft des Evangeliums. 22 Vgl. Die Bibel ist nicht Gottes Wort. Interview mit Kirchenpräsident Peter Steinacker über die Bedeutung der Heiligen Schrift, in: Zeitzeichen 6/ 11 (2005), 39-42, hier 40. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 271 3.1. Die Bibel „Die Bibel ist nicht Gottes Wort“ 23 , so positionierte Steinacker sich eindeutig. Das Wort Gottes sei kein Buch, sondern vielmehr ein lebendiges Geschehen. „Es ist überall in der Welt zu vernehmen, auch nonverbal, zum Beispiel in der liebevollen Zuwendung zu einem anderen Menschen, wie es in der Diakonie geschieht.“ 24 Die Bibel bilde nun gewissermaßen einen Orientierungsrahmen, der dazu verhelfe, das Wort Gottes je neu zu verstehen. Dabei bilde Jesus Christus das Zentrum des christlichen Glaubens. Hinzu trete der Heilige Geist, mit dem sich der Vorgang beschreiben lasse, in dessen Rahmen Gottes Wort uns ergreife. 25 Eine solche Auffassung trage auch dazu bei, etwa Wundergeschichten besser zu verstehen, wenn davon die Rede sei, dass sich in der Begegnung mit Jesus Christus das Leben zum Besseren, zum Heil verändere. Der christliche Glaube nimmt in besonderer Weise die Welt, das Ideelle wie Materielle ernst und denke beides zusammen. Historisch-kritische Exegese könne nun gerade diese Geschichtlichkeit des Glaubens und seine Wandlungsfähigkeit vor Augen führen. 26 „In einer pluralen Gesellschaft und im Gespräch mit Menschen, die wissen, dass alles geschichtlich entstanden ist, kommt man aber auf Dauer ohne die historisch-kritische Methode nicht aus, wenn man auf der Höhe der Zeit mit seinen Zeitgenossen reden will.“ 27 Die Wirkung des Heiligen Geistes offenbare sich auch darin, wie beispielsweise der Kanon entstanden sei. Als Kirchenpräsident war Steinacker auch Vorsitzender des Beirates der „Bibel in gerechter Sprache“, jener Bibelübersetzung, die sich in den Jahren 2001 bis 2006 um eine Neuübersetzung der biblischen Texte bemühte, die stärker befreiungstheologischen, feministischen, sozialethischen Dimension sowie Aspekten des jüdisch-christlichen Dialogs Rechnung trug. Steinacker unterstützte und förderte das Projekt, da es für ihn auch zeigte, wie schwierig der Übersetzungsprozess als solcher sei. Allerdings wollte er selbst nicht dafür werben, die Bibel auch im liturgischen Bereich zu verwenden. 28 23 Ebd., 39. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. ebd., 40. 27 Ebd. 28 Podiumsgespräch: Was bedeutet das Hohelied für die Kirchen von heute, in: Jung-Kaiser, Ute (Hg.), Das Hohelied. Liebeslyrik als Kultur(en) erschließendes Medium? Bern 2007, 329-343, hier 331. 272 Sarah Jäger 3.2. Theologie und Erfahrung Der junge Peter Steinacker setzte sich in einem seiner ersten Artikel aus dem Jahr 1982 mit dem Zusammenhang zwischen Theologie, Metaphysik und Erfahrung in Aufnahme und Abgrenzung von Eilert Herms auseinander. Die theologische Gegenwart sei davon gekennzeichnet, dass die Dimensionen der Lehre und Verkündigung zugunsten von Erfahrungen immer weiter in den Hintergrund treten würden. 29 Für diese Betonung der Erfahrung werde dann der Begriff der Religion, als bestimmten Bereich des Erfahrbaren, verwendet. Damit werde der Begriff der Offenbarung jedoch nicht aufgehoben: „Die göttlichen Offenbarungen zeigen sich ja alle erst in menschlichen Erfahrungen, die in bestimmten religiösen Traditionen ihre konkrete Gestalt finden.“ 30 Diese je neue Aktualisierung geschehe nun in einer elementaren Sprachschicht, in welcher der christliche Glaube als Frömmigkeit lebte. Hier seien nun eine Reihe von verschiedenen Sprachebenen denkbar, doch zentral bleibe die „Doppelschichtung von Glaubensvollzug und Glaubensreflexion“ 31 . Jene Glaubenserfahrung bleibe dann - wie jede andere Erfahrung auch - lehr- und lernbar. 4. Ekklesiologische Spurensuche Die Beschäftigung mit dem Thema der Kirche zieht sich als roter Faden durch das theologische Werk Peter Steinackers. Von seiner Habilitation ausgehend bleibt die Ekklesiologie zentrale Bezugsgröße seines theologischen Argumentierens. Seine Gedankengänge und Schwerpunktsetzungen hier zu verstehen, öffnet den Weg hin auch zu seinen anderen theologischen Überzeugungen. Die Ekklesiologie der Gegenwart sei in besonderer Weise herausgefordert durch die „Dialektik der Aufklärung“. Auf diese Herausforderung habe die Theologie reagiert, indem sie ihre zentralen Inhalte in Denkprojekte gefasst hat, die vor der Vernunft bestehen können. Dies äußere sich in einer grundlegenden Verunsicherung der Kirche in ihrem Selbstverständnis. 32 Diese lasse sich näher fassen in die Begriffe der Subjektivierung und Individualisierung, welche die Ekklesiologie herausfordern. Solche Prozesse schlagen sich nun auch auf der gesellschaftlichen Ebene nieder, beispielsweise durch das Wegbrechen entlas- 29 Vgl. Browarzik, Ulrich / Deuser, Hermann / Steinacker, Peter: Theologie, Metaphysik und Erfahrung. Bedenken zu Eilert Herms’ theologischer Skizze, in: Evangelische Theologie 42 (1982), 484-491, hier 485. 30 Ebd., 485. 31 Ebd., 486. 32 Vgl. Steinacker, Peter: Der „angefochtene Glaube“ und die Kirche - ein schwieriges Verhältnis. Zu Carl Heinz Ratschows Lehre von der Kirche, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 43 (2001), 25-37, hier 25. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 273 tender Strukturen wie Moral, Sitte oder Religion. 33 Versteht man mit Niklas Luhmann die Aufgabe von Religion vor allem darin, Sinn zu gestalten, so könne der Vollzug des Lebens selbst als religiös verstanden werden. Kirche könne nun leicht als Dienstleistungsbetrieb missverstanden werden, dies konstatiert mit dem weitreichenden Anspruch der Kirchen auch auf das Privatleben von Menschen. Menschen kämen darin mit ihrer „Lebenspraxis und Welterfahrung“ 34 nicht mehr vor. Die Folge sei oft eine Art der „wohlwollenden Distanz“. Die Herausforderungen der Gegenwart lassen sich seiner Habilitationsschrift folgend auch als Vereinheitlichungsprozess auf der einen Seite, was Grundprobleme der Welt angeht und auf der anderen Seite als Prozess des kulturellen Widerspruchs gegen vor allem europäische Wertvorstellungen beschreiben. 35 Diese veränderte Lage habe die christlichen Kirchen in eine tiefe Krise gestürzt, so sei nun die Theologie besonders zu einer Weiterentwicklung ihrer Ekklesiologie aufgerufen. Ziel dieser Arbeit war es für ihn, folgende Arbeitshypothese zu verifizieren: „Die Kennzeichen der Kirche, ihre Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität sind evangelisch aus dem prozeßhaften Glauben in jeweils neuer historischer Situation zu begründen.“ 36 Jene Zeichen der Kirche seien unsichtbar und sichtbar zugleich: Unsichtbar, in dem Maße, in dem auch der Glauben verborgen ist und sichtbar, insofern menschliches Tun und Denken der Erkenntnis zugänglich ist. Die einzelnen Kennzeichen könnten sich in ihrer Gestalt durch Aneignung und Anwendung von Tradition verändern, was der Kirche die Möglichkeit zu einer je neuen Anpassung gebe. Sie seien somit eindeutig und offen für neue Füllungen zugleich, hier gelte es mit der radikalen Geschichtlichkeit ernst zu machen. 37 Die Form des Glaubens, die in christlichen Kirchen gelebt wird, bezeichnet Steinacker auch als Religion. Dabei gelte: „Religion gibt es nur in den Religionen. Nicht alle Religion ist dabei institutionalisiert, es gibt die veränderte Sozialform der ‚unsichtbaren‘ Religion 38 , eines Produktes der Selbstmodernisierung als Privatisierung und Individualisierung des Glaubens.“ 39 Und weiter „Was Religion als solche ist, lässt sich nicht abstrakt, auch nicht funktional unter 33 Vgl. Steinacker, Peter: Kirche, die Institution der Befreiung. Reflexionen zum Verhältnis von Kirchenbegriff und kirchlicher Wirklichkeit, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 27 (1985), 290-314, hier 292. 34 Ebd., 295. 35 Vgl. Steinacker, Peter: Die Kennzeichen der Kirche. Eine Studie zu ihrer Einheit, Heiligkeit und Apostolizität. Berlin 1982, 1. 36 Ebd., 9. 37 Vgl. ebd., 300. 38 Bezug auf Thomas Luckmann: Ziemann, Benjamin: Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M. / New York 2009, 161. 39 Steinacker, „Erlösung ward der Welt zuteil“, 16. 274 Sarah Jäger Nützlichkeitserwägungen oder religionspsychologisch von der Wirkung auf Menschen her gedacht angemessen definieren.“ 40 Die starke Fokussierung auf den Begriff der Religion fällt im Werk Steinackers auf. Diese verbindet sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen, in denen sich die allgemeine Wahrnehmung des religiösen Feldes öffnete. Gerade in der öffentlichen Diskussion wandelte sich seit den siebziger Jahren das Verständnis dessen, was unter Religion zu verstehen sei. Vor allem in den neunziger Jahren wurde immer deutlicher, dass es neben den beiden großen christlichen Konfessionen vielfältige andere Sozialformen gelebter Religiosität gab. 41 Das Ende der Metaphysik als Begleiterscheinung der Aufklärung, wie Steinacker diagnostizierte, drohe immer wieder zu einer Versteinerung der Kirche zu werden, wenn sie nur noch auf ihre Tradition blicke. Zugleich sei das Sein mehr als Entwurf oder Noch-nicht, so müsse zwangsläufig das gegenwärtige Handeln Gottes entgleiten. 42 Kirchen in ihrer realen Gestalt seien weiter eingebunden in die pluralistische Gesellschaft, die sich durch Demokratie und Konkurrenz auszeichne. Somit sei das Christentum eine Religion unter vielen geworden. Für die Kirche zu klären sei ihr Verhältnis zur Ökonomie der demokratischen Gesellschaft, da darüber die Kirche auch Anteil an der Unterdrückung von Menschengruppen gewinne. 43 In Auseinandersetzung mit verschiedenen ekklesiologischen Konzepten entwickelt Steinacker das Paradigma der Kirche als Institution der Befreiung. Darin stecke der doppelte Gedanken der Notwendigkeit einer institutionellen Verfassung und einer Überwindung und Überholung der Kirche durch den Heiligen Geist. 44 Die Kirche als Institution sei besonders ausgezeichnet: „Die Utopie der Freiheit von Sünde und Gesetz und die Utopie der Freiheit zu Autonomie und Liebe ist ihre Ständigkeit.“ 45 Die Befreiung, die im Rechtfertigungsgeschehen gründe, bleibe notwendigerweise brüchig und kontrafaktisch. Christliche Freiheit sei immer auf dem Weg zur Befreiung. Im Dienste dieser Befreiung stünden alle Mittel, über welche die Kirche infolge ihrer langen Geschichte verfüge: Schrift, Taufe und Abendmahl, Diakonie, Gemeinschaft der Christinnen und Christen, Mission und die vielfältigen Formen der gesellschaftlichen Präsenz der Kirche. 46 40 Steinacker, Peter: Beide in verklärter Gestalt. Richard Wagner und die Religion - oder Eros und die Evangelien, in: Zeitzeichen 14/ 5 (2013), 55-57, hier 55. 41 Vgl. Großbölting, Thomas: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Göttingen 2013, bes. 181 ff. 42 Steinacker, Der „angefochtene Glaube“, 28. 43 Vgl. Steinacker, Kirche, die Institution der Befreiung, 294. 44 Vgl. ebd., 308. 45 Ebd., 310. 46 Vgl. ebd., 312. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 275 Die doppelte Struktur des kirchlichen Amtes von Befreiung und Institution aktualisiert sich für Steinacker immer neu im Dienst der Verkündigung und in den kirchlichen Verwaltungs- und Repräsentationsaufgaben. 47 Ein Feld war es, das in besonderer Weise Steinackers ekklesiologische Interessen zusammenband, seine eigene Gegenwart zu beobachten und auf die Kirche hin zu fokussieren und damit sein kirchliches Handeln am Evangelium und an der soziologisch erfassbaren Wirklichkeit zugleich zu orientieren: dies zeigt etwa seine Beteiligung an der dritten und vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Er stand dieser theologisch nahe, ohne federführend zu sein. Die dritte Erhebung, veröffentlicht 1997, stand unter dem Titel „Fremde Heimat Kirche“. 48 Im Unterschied zu den vorherigen Untersuchungen wurden hier erstmals auch 28 ausführliche Erzählinterviews ausgewertet. Bei der Repräsentativumfrage wurde erstmals das ganze Gebiet des wiedervereinigten Deutschlands berücksichtigt. Zentral war die Wahrnehmung des subjektiven Blickwinkels der befragten Personen und besonders im Fokus standen diejenigen, die am Leben der Ortsgemeinde kaum teilnehmen. In die ersten Jahre der Kirchenpräsidentschaft Peter Steinackers fielen entscheidende gesellschaftlich-strukturelle Wandlungsprozesse, die vor allem auch die Kirchenzugehörigkeit betrafen und in Korrespondenz mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen wie Mobilisierung, Pluralisierung und Individualisierung standen. Steinacker ging in seiner Auseinandersetzung mit der vorfindlichen Gestalt der Kirche immer davon aus, dass sich unsere Welt in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess befindet. Diese Prozesse verlaufen dabei je nach Kontinent sehr unterschiedlich. „Die gesellschaftliche Aufgabe der Religion ist dabei, im Rahmen komplexer Vorgänge Angebote zur Deutung von individuellen und kollektiven Situationen zu geben, um Gewißheiten zu geben, die man für Handlungen braucht und die Handlungen orientierend leiten.“ 49 Dazu könnten auch Institutionen nötig sein. Diese, wie etwa auch die Kirche, seien geschichtliche Größen, keine überzeitlichen, sie seien veränderbar. Die Kirchen stehen für die symbolische Repräsentanz eines Inhaltes und müssen über diesen zu erkennen sein. Die Ordnung der Kirche sei wandelbar, müsse sich aber stets dem Inhalt anpassen, wie etwa der Tatsache, dass die evangelische Kirche kein durch Gott eingesetztes Bischofsamt kennt. Daraus entstehe eine strukturelle Schwäche: „Sie kann diese Identität als Organisation nie aus göttlicher Anord- 47 Vgl. Steinacker, Der „angefochtene Glaube“, 30. 48 Vgl. Engelhardt, Klaus / von Loewenich, Hermann / Steinacker, Peter: Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1997. 49 Die Evangelische Kirche in der Identitätskrise? (Vortrag gehalten vor dem Königsteiner Forum am 04.09.1995), ZA EKHN, Best. 285, Nr. 231. 276 Sarah Jäger nung legitimieren und nie garantieren. Daß dort, wo sie wirkt, Gott wirkt. Das kann sie nur glauben.“ 50 Was ist nun der Kern der inhaltlichen Identität der Kirche? Die Antwort Steinackers lautet: „Ich sagte schon: Wesen und Auftrag der Kirche ist, der Welt und allen Mächten und Gewalt das Evangelium von Jesus Christus nahezubringen. Ich ergänze jetzt: dies kann und soll in Wort und Tat geschehen.“ 51 Steinacker setzte sich intensiv mit dem Kruzifix-Urteil vom Sommer 1995 auseinander, welches die Vorschrift des bayrischen Schulrechts, dass in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen sei, für verfassungswidrig erklärte. Dieses Urteil zog eine breite Auseinandersetzung, nicht nur in der kirchlichen und politischen Öffentlichkeit, sondern auch in der Bevölkerung, nach sich. In seiner Beschäftigung mit diesem Urteil setzt Steinacker in der Vergangenheit an. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich durch Johann Gottlieb Fichte und Sören Kierkegaard eine religiöse Auffassung, die vor allem das Individuum und seine je eigene Gottesbeziehung in den Mittelpunkt stellte. In der Gegenwart sei Kirche jedoch in sehr viel höherem Umfang auch der Welt gegenüber zu ihrer Gestaltung verpflichtet. „Setzt sich das Individuum undialektisch in seiner Frömmigkeit über die Vergesellschaftung des Glaubens, sind also nicht mehr die Mächte und Gewalten und ‚alles Volk‘ der Kontext des Glaubens, dann ist dies ein Krisenzeichen für die evangelische Kirche.“ Diese Krise lasse sich auch deuten als funktionale Krise der Religion. Jede Gesellschaft bestimme sich über die vier gleichursprünglichen Grundaufgaben: Religion, Wissenschaft, Politik und Ökonomie. Gerade, wenn eine Gesellschaft im Umbruch ist, müsse auch nach der religiösen Steuerungsfunktion gefragt werden. In diesem Aufgabengeflecht verändere sich nun etwas, insofern sich die weltanschauliche Neutralität des Staates mit deutlicher Bevorzugung der beiden großen Kirche in eine absolute Neutralität wandele. Der Pluralismus, der bisher auf einer gemeinsamen Übereinkunft über den Wert der Tradition beruhte, solle nun ein prinzipieller Pluralismus werden. Der Protestantismus stehe besonders in der Zeit der Weimarer Republik in einer schwierigen Beziehung zur Demokratie. Steinacker nimmt hier die Barmer Artikel III und V auf. „Evangelische Identität entscheidet sich in dieser Hinsicht daran, ob man sich noch zutraut, bei voller Akzeptanz der Trennung von Staat und Gesellschaft - als Ergebnis der Aufklärung - sich führend und meinungsbildend in den gesellschaftlichen Diskurs einzuschalten oder nicht und mit welchen Zielen dies geschieht.“ 52 Die Kirche müsse durchaus auch für sich selbst sorgen, jedoch stelle sich immer die Frage, was Priorität habe: „Und hier gehört es zur 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 277 Identität der Evangelischen Kirche, die Zielrichtung ihrer Aktivitäten primär ‚in der Welt‘ und nicht in der Sicherung ihrer eigenen religiösen Bedürfnisses zu haben. Insofern gehöre zum evangelischen Glauben immer ‚Kultur‘ hinzu.“ 53 Auch an der vierten EKD-Erhebung (durchgeführt 2002, veröffentlicht 2006) über Kirchenmitgliedschaft „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“ war Peter Steinacker im Sinne einer Schirmherrschaft beteiligt. Hier war das Ziel der Herausgeber vor allem, „die Lebens- und Glaubenswirklichkeit von Kirchenmitgliedern und Konfessionslosen aufmerksam wahrzunehmen, das eigene kirchliche Handeln daraufhin zu reflektieren und so empirische Sorgfalt und kirchenleitenden Verantwortung miteinander zu verbinden.“ 54 Die kirchliche Situation dieser Zeit war gekennzeichnet durch vielfältige Umstrukturierungen, Neuorientierungen und Reformen auf allen Ebenen, die auch durch sinkende Einnahmen bedingt waren. Im Zuge dessen begriff sich die Kirche stärker als Organisation und war deshalb auch stärker an Einstellungen, Erwartungen und Beteiligungsabsichten der Kirchenmitglieder interessiert. Daraus ergeben sich eine Reihe von Herausforderungen: So bleibe Glauben unverfügbar und könne „daher nicht Gegenstand kirchlicher Zielvereinbarungen werden. Das kirchliche Handeln darf sich darum prinzipiell gerade nicht durch seine Leistungen für Einzelne oder Gruppen ausweisen wollen.“ 55 Insgesamt fällt auf, dass diese Mitgliedschaftsuntersuchung die Position derer stärkte, die sich bemühten, eine stärkere emotionale Bindung der Mitglieder an die Kirche zu ermöglichen, ohne zu versuchen, das Engagement innerhalb der jeweiligen Kirchengemeinde zu verstärken. 56 „Zwischen Freiheit und Schicksal“ - unter diesem Motto stand Steinackers Bericht zur Lage in Kirche und Gesellschaft bei der Kirchensynode der EKHN 2008. Ein Lebensgefühl der Unbestimmtheit sei kennzeichnend für die Zeit, dies wurzele in einer fortschreitenden Auflösung einer grundlegenden und gerade für unseren Glauben unverzichtbaren Spannung zwischen Freiheit und Schicksal. Wir hätten von Gott die Freiheit bekommen, unser Leben je selbstverantwortet zu gestalten. Auch geistliche Leitung bewege sich stets zwischen Freiheit und Schicksal. „Damit ist nun deutlich geworden, woher diese uns seltsam lähmende Unbestimmtheit kommt. Sie entsteht dadurch, dass wir entweder durch die Überzeugung einer totalen Machbarkeit oder des vollkommen Festgelegtseins der Geschichte die elementare Spannung zwischen Freiheit und Schicksal in unserem Tun und Denken auflösen. Die Folgen dieser Auflösung spüren wir 53 Ebd. 54 Huber, Wolfgang / Friedrich, Johannes / Steinacker, Peter: Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, 11. 55 Ebd., 21. 56 Vgl. Beckmann, Jens: Wohin steuert die Kirche? Die evangelischen Landeskirchen zwischen Ekklesiologie und Ökonomie. Stuttgart 2007, 170. 278 Sarah Jäger nicht nur im nicht mehr gelingenden Umgang mit der Zeit, sondern in allen unseren Lebensbereichen, vor allen Dingen aber auch in der Lebensbewegung Religion.“ 57 Fatal sei für die gegenwärtige Situation, dass die EKD-Mitgliedsstudien immer wieder Stabilität aufgewiesen hätten und damit Probleme auch hätten in den Hintergrund treten lassen. Immer weniger Menschen kommunizierten über Religion, vielmehr wirke Religion durch die Form authentischer Selbstdarstellung. Was ist aber nun, wenn diese Selbstpräsentation misslingt? Steinacker schlägt nun in diesem Zusammenhang vor, dass die Authentizität der Person rückgebunden werden müsse an die Authentizität der Wahrheitsfrage. 58 Hier zeigt sich deutlich, dass zunehmend das Selbst und die subjektive Erfahrung zum Ausgangspunkt für Religion werde. Transzendenzerfahrungen gehen stärker von einem Individuum aus und richten sich weniger auf ein Außen. 59 5. Kirche des Dialogs Zentral für die Bestimmung des Parameters „Kirche des Dialogs“ ist die Bestimmung dessen, was Steinacker unter Religion fasst. Wichtig ist für ihn, dass auch das Christentum eine Religion ist, die religionskritische Abgrenzung eines Karl Barth oder auch die Annahme Dietrich Bonhoeffers, dass wir auf ein religionsloses Zeitalter zugingen, teilt er bewusst nicht. Er greift vielmehr eine Definition Carl Heinz Ratschows auf, der Religion als die einzig mögliche Verständnisbasis für die seit Jesus von Nazareth existierende Lebensgestalt „Christentum“. 60 Barth oder Bonhoeffer konnten in ihrer Zeit noch argumentieren, dass alle anderen Religionen Unglauben darstellten, während die Anthropologisierung der Theologie unter Rudolf Bultmann und Paul Tillich, gezeigt habe, wie stark religiöse Empfindungen zum Menschsein des Menschen gehörten. Das zentrale und verbindende Moment aller Religionen sei die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. 61 So setzt sich Steinacker auch intensiv mit dem Begriff der Religion auseinander. „Sie [alle Religionen SJ] beginnen mit einer einfachen Beobachtung, dass nämlich etwas nicht richtig ist in der Welt. Das Leben ist aus dem Gleichgewicht geraten und mit Leid wie von Pockennarben überzogen.“ 62 Die Religion 57 Steinacker, Peter: Zwischen Freiheit und Schicksal. Bericht zur Lage in Kirche und Gesellschaft für die 10. Tagung der Zehnten Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt a. M. April 2008, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 233. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Großbölting, Der verlorene Himmel, 194. 60 Vgl. Steinacker, Peter: Denkender Glaube und Kritische Theorie. Reflexionen zum Verhältnis der Theologie Carl Heinz Ratschows zur Frankfurter Schule, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 30 (1988), 149-162, hier 149. 61 Vgl. Steinacker, Peter: Richard Wagner und die Religion. Darmstadt 2008, 12. 62 Steinacker, Beide in verklärter Gestalt, 56. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 279 sei nicht nur Teil der Grunderfahrung des sich selbst bewusst werdenden Menschen, sondern auch Element des Bewusstseins seiner eigenen Sterblichkeit. „Gegenüber diesem unausweichlichen Ende findet sich der Mensch in hilfloser Verlassenheit und Zerrissenheit vor.“ 63 Diese anthropologische Grundbefindlichkeit eröffne den Zugang zum Grundsachverhalt von Religion überhaupt. „Denn die Religionen sind der Bereich menschlichen Lebens, in dem die Götter oder ein Gott oder ein Äquivalent dafür den todverfallenen Menschen aus seiner Todverfallenheit Auswege zum Leben zeigen.“ 64 Dem Menschen gelinge es nun nicht, sein Leben aus sich selbst heraus zu meistern, deshalb treten in den Religionen dann in sehr unterschiedlicher Gestalt Gottheiten auf. Als was sich die Gottheit nun zeige und wie sie den Menschen anweise, das sei unvergleichbar verschieden zwischen den Religionen. „Allen Religionen geht es um das Heil für alle Wesen der Welt, besonders für den Menschen“ 65 - so eine Grundannahme Steinackers. „Die Religionen lassen den Menschen in dieser verzweifelten Lage seines zwiespältigen Lebens, das auf den Tod zugeht, nicht allein.“ 66 Gott, die Götter, zeigten dem Menschen den Weg zum Heil. Der Heilsweg einer jeden Religion sei analogielos. „Weil alle Religionen sich auf das Hervortreten einer Gottheit bzw. ihrer Äquivalente beziehen, sind sie im Blick auf das effiziente und das formale DASS ihres Hervortretens analogisierbar, und das heißt, in Beziehung zu setzen und damit vergleichbar.“ 67 Die These Max Webers zur Säkularisierung und Privatisierung der Religion schien lange sehr plausibel zu sein. Dabei entäußerten sich die Inhalte christlicher Religion so in die Religion, dass letzten Endes keine Religion mehr benötigt werde. In der Gegenwart kehre Religion nun ins öffentliche Bewusstsein zurück und zwar mit einer Geschwindigkeit, die uns nur überraschen könne. Stark kritisiert Steinacker in diesem Zusammenhang die Ethisierung der Religion, wie sie sich beispielsweise auch in Lessings Ringparabel finde. Das Christentum der Zukunft sollte sich der Tatsache wieder bewusst werden, dass sie eine Religion unter Religionen ist „Ethik ist eine Folge von Religion, nicht deren Grund. Es geht zuerst um das Reich Gottes, dann wird ihm alles andere zufallen (Mt 6,3).“ 68 Der Umgang mit Religion, wie man ihn etwa bei Richard Wagner findet, ihre Transzendierung in die Mythenwelt der Vergangenheit, tauge für die Gegenwart 63 Steinacker, Richard Wagner und die Religion, 14 f. 64 Steinacker, Peter: Das Verhältnis von Toleranz, Absolutheitsanspruch und Kampf der Kulturen, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 233. 65 Steinacker, Peter: Thesen zum Dialog der Religionen (vorgetragen beim Rudolf-Otto-Symposion am 3. Mai 2008 in Marburg), ZA EKHN, Best. 285, Nr. 328. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Steinacker, Erlösung und Liebe, 412. 280 Sarah Jäger nicht mehr. „Denn die Religionen haben der Religionskritik [der Aufklärung SJ] theoretisch und praktisch nicht nur standgehalten und alle gesellschaftlichen Veränderungen und Verfolgungen (natürlich nicht unverändert) nicht nur überstanden, sondern im Gegenteil: Die Religionen wachsen auf der ganzen Welt mit Ausnahme der institutionalisierten Religionen in West-Europa.“ 69 Für die Gegenwart sei nun zentral, dass die Säkularisierungsthese in ihrer unterschiedlichen Ausprägung an ihr Ende gekommen sei. Steinacker hält etwa mit Peter L. Berger u. a. fest, dass die Säkularisierung in Westeuropa gleichsam eine Ausnahme darstelle, da in vielen anderen Regionen der Welt auch christliche Bewegungen im Wachstum begriffen seien. „Nur in Westeuropa schiebt sich in immer breiterem Strom eine Stimmung der religiösen Indifferenz bzw. eine beunruhigende Rücknahme der religiösen Lebensüberzeugungen in die geschützte, abgeschirmte Privatsphäre ohne öffentliche Zielrichtung unter die öffentlich orientierte, auf Weltgestaltung zielende Religion der Kirchen.“ 70 Aus diesem Zitat lässt sich zweierlei erkennen, zum einen die Aufgabenbestimmung der Kirche, die Steinacker in der gesellschaftlichen Verantwortung sieht, und zum anderen und damit zusammenhängend die Zurückdrängung der Religion in den privaten Bereich, wo diese ihre Gestaltungskraft nicht mehr entfalten könne. Steinacker beschäftigte sich immer wieder auch mit der Aufgabe der Kirchenleitung. Diese sei „Leitung aufgrund von Lehre“ 71 . „Kirchenleitung vollzieht sich einerseits als Anstrengung zur Erhaltung und Weiterentwicklung des Systems Kirche in Konkurrenz zu anderen religiösen, aber auch zu anderen gesellschaftlichen Systemen. Andererseits gestaltet sie sich so, dass alle Leitungsentscheidungen der […] ‚kirchlichen Lehre und der in ihr festgehaltenen Sicht von der Bestimmung des Menschen und des Auftrags der Kirche‘ […] dienen müssen.“ 72 Die Kirche sei an dieser Stelle auf die akademische Theologie angewiesen. Alle Leitung der Kirche zielt also zentral auf die Verkündigung des Evangeliums. „Die Kirche hat Anteil an der allgemeinen Orientierungskrise als Resultat des geschichtlichen Prozesses, den man die Moderne und ihren Zerfall 69 Steinacker, Richard Wagner und die Religion, 13. 70 Steinacker, Peter: Der Glaube an das Jüngste Gericht, in: Ders., Absolutheitsanspruch und Toleranz. Systematisch-Theologische Beiträge zur Begegnung der Religionen. Frankfurt a. M. 2006, 167-180, hier 168. 71 Herms, Eilert: Leitung der Kirche, in: Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie. Tübingen 1990, 89. 72 Steinacker, Peter: Erwartungen der Kirche an die theologische Ausbildung an der Universität, in: Schweitzer, Friedrich / Schwöbel, Christoph: Aufgaben, Gestalt und Zukunft Theologischer Fakultäten. Gütersloh 2007, 76-90, hier 77. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 281 nennen kann.“ 73 Gerade im Angesicht der fortschreitenden Pluralisierung stelle sich nun die Frage, wie Kirche neue Leitbilder für diese Krise generieren könnte. Eine Möglichkeit der religiösen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen sei die Ausbildung von Fundamentalismus (Peter L. Berger). Die alten Leitbilder der Kirche scheinen an dieser Stelle nicht mehr voll überzeugen zu können. Die Confessio Augustana sei an dieser Stelle eindeutig, insofern sich Kirche in Predigt und Sakrament ereigne. Wann immer man nach einem Leitbild frage, gehe es darum, zwischen Leben und Begriffen zu vermitteln, hier könne der Begriff der Anschauung nach Kant eine Form der Brücke bilden. In Aufnahme des Kantischen Satzes „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ aus der Einleitung zur Transzendentalen Logik sucht Steinacker nach neuen Leitbildern für kirchliches Handeln. Dabei greift er alte biblische Bilder zur Beschreibung der Kirche, etwa als Pflanzung oder Haus Gottes. Sie erweisen ihre Tragfähigkeit in drei Bereichen: Der Grund der Kirche: Christus im Heiligen Geist; Das Verhältnis Kirche - Welt am Beispiel des Fremden; Das Verhältnis von Sendung und Auftrag der Kirche zu ihrer faktischen Existenz. 74 Im Zusammenhang mit seiner Teilnahme am Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags setzte sich Steinacker ebenfalls mit dem Thema des interreligiösen Dialogs auseinander. Es bestand ein zweifacher Auslöser für seine Bitte um Diskussion eines Konzeptes interreligiöser Begegnung: Zum einen eine interne Veröffentlichung des Programmchefs Christoph Quarch und zum anderen Steinackers Kritik an der Einladung des Dalai-Lama am gemeinsamen Präsidium des Kirchentages vorbei, wobei Steinacker Zweifel auch an der Authentizität des Dalai-Lama hatte. 75 So sah Steinacker drei Punkte kritisch: Zum ersten die Ausdehnung des Begriffs der Ökumene auch auf andere Religionen als das Christentum, den er für einen eindeutig christlich geprägten Begriff hielt, und zum zweiten dessen Zugriff auf Toleranz: „Toleranz sei nur möglich, wurde unterstellt, wenn man den Anspruch auf exklusive Wahrheit in Fragen des Heils aufgäbe und sich in die ‚recht verstandene Ökumene“ einordne, die „immer eine Gemeinschaft von Suchenden ist‘.“ 76 Natürlich seien Christen Suchende: Heimat im emphatischen Sinn sei erst am Ende und habe eine eschatologische Dimension. Zum dritten 73 Steinacker, Peter: „Der Geist des Herrn ruht auf mir …“ ( Jes 61,1). Die Kirche auf der Suche nach einem Leitbild, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 231. 74 Vgl. ebd. 75 Vgl. Steinacker, Peter: Der Deutsche Evangelische Kirchentag und der interreligiöse Dialog. Vorgetragen in der Präsidiumssitzung am 23. Oktober 2003, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 34. 76 Ebd. 282 Sarah Jäger stieß er sich daran, dass Quarch formuliert habe, dass Religionen ihre Wahrheiten bestenfalls erahnten, sie aber selbst nicht verstehen würden. „Mir kommt es darauf an, dass wir uns klarer darüber werden, warum wir den Dialog mit den Religionen suchen. Ich halte ihn für unverzichtbar, nicht einfach um des friedlichen Zusammenlebens willen, sondern weil wir Christen nicht schweigen können von dem Unnennbaren und dies den Anderen ebenso zubilligen können und sollen. Wir leben in einem Pluralismus, der nur dann fruchtbar werden kann, wenn er ein positioneller Pluralismus wird. Und im Dialog der Religionen muss sich zeigen, welche Religion diesem positionellen Pluralismus gewachsen ist und welche nicht. Es geht zentral um Zivilisierung der Differenz (Michael Walzer).“ 77 6. Gesellschaftliche Begegnungen „Als ich junger Vikar war, war ich stolz darauf, wenn man mir sagte, ich wirke so ganz und gar nicht ‚kirchlich‘.“ 78 So äußerte sich Steinacker in einem Vortrag 2008 und fügte dann hinzu, dass in den letzten Jahren das Interesse an Religion und religiösen Fragestellungen neu erwacht sei. Es gehöre nun zum Profil des Protestantismus, dass es gerade auch in ethischen Fragen keine feste lehramtliche Meinung gebe. Diese Vielfalt bedeute jedoch keine Beliebigkeit. Christen seien der Gesellschaft ihren Glauben schuldig. Christen seien weniger zu Auskünften über Normen als über die Lebensbewegungen, die dem zugrunde liegen, verpflichtet. 79 In der Begegnung mit der Welt, die ihn umgibt, gilt es für Steinacker dann zu verstehen, was Menschen umtreibt, was zentrale Lebensfragen von Menschen sind. 6.1. Mit Richard Wagner die eigene Gegenwart besser verstehen Richard Wagner und seine Opernwelt waren eine der ganz großen Faszinationen Peter Steinackers. In vielen Beiträgen hat er sich intensiv mit seiner Musik und seinem Verständnis von Religion beschäftigt. Es ließe sich überlegen, ob es gerade Wagners Auseinandersetzung, sein Ringen mit dem Protestantismus war, die Steinacker an das erinnerte, was ihn selbst antrieb, die Leidenschaft nämlich dafür, Religion zu übersetzen, die uralten Inhalte zu retten für die eigene Zeit. 77 Unter Berufung auf Michael L. Walzer (*1935), US-amerikanischer Sozialphilosoph, vgl. ebd. 78 Steinacker, Peter: Die Rückkehr der Religion und der Glaube der Christen. Vortrag vor dem Frankfurter Presseclub am 23. Januar 2007, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 328. 79 Vgl. ebd. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 283 Steinacker war dabei passionierter und kritischer Wagnerianer zugleich. Richard Wagner war so evangelisch sozialisiert, wie das im bürgerlichen Luthertum seiner Zeit üblich war und könne als Zeitgenosse im besten Sinne des Wortes verstanden werden. „Seine Musikdramen sind ästhetische Interpretationen der Lebenswirklichkeit der Menschen in der Mitte des 19. Jahrhunderts.“ 80 Er habe seine Kunst als eine Möglichkeit verstanden, die Welt zu verändern. 81 Die Erfahrung von Säkularisierung deutete er als Emanzipation weltlicher Bereiche von religiösen Einrichtungen und Normen und als Abdrängung des Religiösen in die Sphäre des Privaten. Verschiedene Quellen wurden in der deutschen Kultur als Inspiration für die nationale Einheit genutzt, auch Wagner las intensiv Märchen und Sagen, das Nibelungenlied. Er sah in ihnen den künstlerischen Ausdruck eines Volkes, dabei war es immer sein Ansatz, seine Welt im 19. Jahrhundert zu verstehen. An Wagners Œuvre lasse sich erkennen, dass die Säkularisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts neue Religionsproduktivität in Gang gesetzt hätten. In der Kunstreligion, für die exemplarisch Wagner steht, werden religiöse Gehalte in die Kunst transformiert. Diese Zeit setzte den Menschen an die Stelle Gottes, zugleich wurde ihm damit aber auch die Verantwortung für das Übel aufgebürdet. Odo Marquardt hat dafür den Ausdruck Homo compensator entwickelt. In der Beschäftigung mit Wagner orientiert sich Steinacker an der Begriffsbildung José Casanovas 82 : „Religion verschwindet nicht aus dem öffentlichen Bewusstsein der säkularen Gesellschaft, sofern sie gewisse Bedingungen erfüllt. Allerdings verändert sie sich aus äußeren und inneren Gründen.“ 83 Die überlieferte Religion jedoch mit ihren Riten und ihrer Dogmatik war an ein Ende gekommen und ist es für die Gegenwart noch viel mehr: „Die überkommene Religion mag den Menschen nicht mehr die für ihr Leben nötige Daseinsgewissheit vermitteln, aber ohne Religion gibt es auch keine handlungsleitenden Gewissheiten, wie die Diskussion um die Entstehung der Werte zeigt.“ 84 80 Steinacker, Peter: Erlösung und Liebe. Richard Wagners Musikdramen und die Religion, in: Herder-Korrespondenz 64/ 8 (2010), 408-413, hier 408. 81 Steinacker, Peter: „Alles, was ist, endet! “ Richard Wagners Weg von der Weltanschauung zur Religion, in: Deutsches Pfarrerblatt 113/ 5 (2013), 274-276, 281-284, hier 274. 82 José Casanova schlägt eine grundlegende Differenzierung am Theorem der Säkularisierung vor. Er tritt dafür ein, drei voneinander unabhängige Dimensionen dieses Konzeptes zu unterscheiden: eine strukturelle Differenzierung als historisch-systematische These, eine empirische Erosion in den alltäglich gelebten religiösen Verhaltensmustern einer Gesellschaft und eine politische Privatisierung von Religion. Casanova, José: Chancen und Gefahren öffentlicher Religion. Ost- und Westeuropa im Vergleich, in: Kallscheuer, Otto (Hg.): Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. Frankfurt a. M. 1996, 181-210. 83 Steinacker, Peter: „Erlösung ward der Welt zuteil“. Säkularisierung und die Oper des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 2014, 12. 84 Ebd., 13. 284 Sarah Jäger In allen Opern Wagners stehe nun die Frage nach Erlösung im Mittelpunkt. In den Opern Holländer, Tannhäuser und Lohengrin trete die Liebe als hingebende Liebe einer Frau als Gegenmodell zur Erlösung in der Religion auf. 85 Kurz vor seinem Tod nimmt Wagner an, dass eine Rettung der Religion nur durch die Kunst erfolgen könne, es gelte die Sehnsucht nach und die Verheißung von Erlösung wach zu halten. Am Ende gelte: „Das Programm der Rettung der Religion durch die Kunst nimmt selber religiöse Züge an, die der Patchwork-Religion unserer Gegenwart sehr ähnlich sind.“ 86 Steinacker unterscheidet zwischen dem mitlaufenden Orgelpunkt Religion und der Ausdrucksgestalt Religion: „Der Tod des sanften Heilandes am Kreuz, der nur durch seinen Tod etwas für die Menschen hat tun können, hat Wagner immer wieder fasziniert. Denn indem sein Tod das freiwillige Leiden krönt, ist seine Lehre nicht Weisheit, sondern ‚göttlich‘, was so viel heißt wie, dass hier die Wahrheit offengelegt wird und nicht der Schein der Dinge.“ 87 Der Anspruch Wagners sei es gewesen, die Religion zu regenerieren und zu retten. Dies genau tue nun die Kunstreligion: „Sie ist darin modern, dass sie sich synkretistisch aus Überlieferungen verschiedener Religionen speist, die sie zu einer eigenen ‚Theologie‘ verarbeitet.“ 88 Eben jene Religion ist es, die Steinacker fasziniert und beschäftigte, auch wenn er ihr vermutlich kaum zugestimmt hätte. Doch es ist das Ringen Wagners, sein Nichtaufgebenwollen der alten Inhalte, das ihn beeindruckt: „An die Stelle des ausgelaugten kirchlichen Christentums setzt nun Wagner mit aller Energie aus religiösem und gesellschaftlichem Interesse seinen Parsifal. Obwohl er vorgibt, keine neue Religion stiften zu wollen, kann man das Bühnenweihfestspiel und seine organisatorischen und ideologischen Einkleidungen nicht anders dem als Liturgie einer neuen, der säkularen Zeit angemessenen ästhetischen Religion des Mitleids und der Askese verstehen.“ 89 Wagner bediente sich - in der Einschätzung Steinackers - der Sagen und Mythen aus ferner Vergangenheit, „um den aktuellen Zustand der Gesellschaft und die condition humaine mit seinen künstlerischen Mitteln zu beschreiben“ 90 . 85 Vgl. Steinacker, Beide in verklärter Gestalt, 56. 86 Steinacker, Beide in verklärter Gestalt, 57. 87 Steinacker, „Alles, was ist, endet! “, 281. 88 Ebd., 282. 89 Steinacker, Erlösung und Liebe, 412. 90 Steinacker, Peter: „Der liebe Gott thäte klüger, uns mit Offenbarungen zu verschonen“. Richard Wagners „Lohengrin“: Kreativität als hermeneutischer Schlüssel zu Erkenntnis und Darstellung der vollen (Vernunft und Emotion umfassenden) Wirklichkeit (einer säkularisierten Gesellschaft), in: Dabrock, Peter / Keil, Siegfried (Hrsg.): Kreativität verantworten. Theologisch-sozialethische Zugänge und Handlungsfelder im Umgang mit dem Neuen. Neukirchen-Vluyn 2011, 298-327, hier 301. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 285 Es waren aber ebenso die Entzauberung der Welt und die Zerstörung der Hoffnung, wie sie vor allem Lohengrin beschreibt, die Steinacker anzogen. Steinacker ist weiter fasziniert, von der Art und Weise, mit der Wagner sich der mythologischen Stoffe bedient. Er projiziere moderne Erfahrungen auf den Mythos. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde diese Fokussierung auf den Archetypus auch in der biblischen Exegese entdeckt, hier sieht Steinacker große Chancen. 6.2. Die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften In die Amtszeit Peter Steinackers fallen auch tiefgreifende kirchliche Auseinandersetzungen um Homosexualität und besonders um die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Im August 2001 trat das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft, kurz Lebenspartnerschaftsgesetz in Deutschland in Kraft. Daraufhin setzten sich eine Reihe evangelischer Landeskirchen intensiv mit dem Thema einer möglichen Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften auseinander. Die einzelnen Kirchenparlamente entschieden dabei sehr unterschiedlich. Am 4. Dezember 2002 stimmte die Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau dem „Beschluss zur Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare“ zu. Dieser Entscheidung ging ein langer Weg der Diskussion in der Synode und in den einzelnen Kirchengemeinden voraus. Gleichgeschlechtliche Paare können, sofern sie dies wünschen, nun im Rahmen eines Gottesdienstes gesegnet werden. Voraussetzung dafür ist, dass sie ihre Partnerschaft zuvor haben eintragen lassen. Zudem muss der Kirchenvorstand der entsprechenden Gemeinde zustimmen. Jeder Pfarrer und jede Pfarrerin kann dann aber auch noch von seinem bzw. ihrem „Gewissensvorbehalt“ Gebrauch machen und die Segnung verweigern. Der Beschluss, der sich in sechs Teile gliedert, hält zunächst fest, dass die biblischen Befunde nur wenig zu Homosexualität als verantworteter Lebensform aussagen. Zudem müsse bedacht werden, dass biblische Texte niemals „zeit- und geschichtslos“ 91 betrachtet werden dürfen. Wenn gesegnet wird, werde damit nicht zwangsläufig das ganze Verhalten des gesegneten Menschen für richtig befunden, vielmehr gelte: „Segen knüpft nicht an eine Voraussetzung, eine Vorbedingung bei den Menschen an, sondern ist bedingungslose und gnädige Zuwendung Gottes.“ 92 Schon immer seien Menschen jenseits der Eheschließung 91 Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau: Beschluss zur Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, 4. Dezember 2002, in: epd-Dokumentationen 01/ 03, 52. 92 Ebd., 52. 286 Sarah Jäger an Schwellensituationen ihres Lebens durch den kirchlichen Segen begleitet worden, daran knüpfe auch diese Segnung an. Zudem lasse sich in den letzten Jahren eine „Kultur des Segnens“ 93 feststellen, in die sich eine Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften einordnen lasse. Trotz allem stellt auch dieser Beschluss zweifelsfrei fest, dass Ehe und Familie das angestrebte Leitbild christlicher Ethik blieben. Für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare werde zunächst keine eigene Liturgieform entwickelt, daher bleibe bei der liturgischen Gestaltung eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Trauung bestehen. 7. Begegnung mit anderen Religionen - ein positioneller Pluralismus Steinackers Überlegungen zum Umgang mit anderen Religionen, vor allem mit dem Islam, sind stets eingebunden in seine eigenen Erfahrungen interreligiöser Begegnungen, sie sind erfahrungsgesättigt und gesprächserprobt, sei es durch Gastvorlesungen an der Al-Azhar-Universität in Kairo, durch Aufenthalte in Kairo, in Beirut, in Indonesien oder Indien oder durch die Beteiligung der EKHN an der ökumenischen Arbeitsgruppe „Religion im Konflikt“ des Evangelischen Missionswerks in Süd-Westdeutschland. Auch bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema setzt jeder seiner Artikel, Aufsätze oder Vorträge, die sich mit diesem Thema befassen, ein mit einer Analyse der eigenen Erfahrungswelt, der Situation in Deutschland. Deutschland sei ein Land mit einer interreligiösen Wirklichkeit, die unser Alltagshandeln und unsere Lebenswirklichkeit betrifft. Diese zeichne sich durch soziale, politische und kulturelle Umwälzungen in nie gekanntem Ausmaß aus. „Die pluralistische Gesellschaft im Westen lebt von der erlaubten Vielfalt von Basisorientierungen, Meinungen, Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen, deren Beziehung zueinander im Prozess der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit so geklärt und gestaltet werden müssen, dass Toleranz möglich ist. An diesem Prozess sind die Religionen selbst beteiligt, insofern sie in sich die Kraft haben, Differenzen zu zivilisieren, d. h. ohne militärische Gewalt öffentlichen Diskurs-Regeln zu unterwerfen und kulturell so zu gestalten, dass die Gläubigen und Agnostiker friedlich miteinander leben können.“ 94 Dabei wird deutlich: „Das Christentum ist auch in seinen Stammländern nicht mehr das 93 Ebd. 94 Steinacker, Peter: Der Absolutheitsanspruch des einen Gottes: Die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum, Islam in der pluralistischen Welt der Moderne, in: Ders.: Absolutheitsanspruch und Toleranz. Systematisch-Theologische Beiträge zur Begegnung der Religionen. Frankfurt a. M. 2006, 19-43, hier 19. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 287 exklusive und monopolartige Religionssystem der westlich orientierten Welt.“ 95 Von den Industrienationen mit ihren florierenden kapitalistischen Wirtschaftssystemen gehe nun eine besondere Anziehung aus, die „zu einer Mischung ihrer Gesellschaften durch Menschengruppen“ führe, „die ganz andere weltanschauliche, religiöse, politische und kulturelle Überzeugungen und Traditionen in ihre Gastländer mitbringen“ 96 . Steinacker beschreibt hier einen doppelten Pluralismus: Die Kirche steht in einer pluralistischen Gesellschaft in Konkurrenz und in Auseinandersetzung mit anderen (religiösen) Gruppen. Zugleich hat diese Situation Auswirkungen nach innen: Kirche und Theologie werden ebenso in sich pluralistisch. 97 Christinnen und Christen seien vor allem auch deshalb herausgefordert, weil die Texte des Alten und Neuen Testamentes selbst religiös intolerant seien, obwohl die Situation eines religiösen Pluralismus nicht neu sei. Der einmal erreichte monotheistische Glauben wurde auch dann nicht mehr aufgegeben, wenn Juden oder Christen am Rande der damaligen Gesellschaft lebten. 98 Christinnen und Christen stünden deshalb in der Verantwortung, in der pluralen Gegenwart nach dem Grund von Toleranz und ihrer inhaltlichen Gestaltung zu fragen. Hier nimmt Steinacker eine Erkenntnis seines theologischen Lehrers Carl Heinz Ratschows auf, der davon ausging, dass in der pluralistischen Gesellschaft der Moderne keine Systematische Theologie ohne das Gespräch mit den Religionen auskomme. 99 Trotz vielfältiger Säkularisierungsprozesse konnte in den letzten Jahren etwa der Islam als eine neuere Religion in Deutschland hier heimisch werden. Somit finde sich das Christentum erneut in der Situation wieder, eine Religion unter vielen zu sein. Dabei gelte etwas Doppeltes: „Ohne Kenntnis wenigstens einer lebenden Religion kann man - gerade um der Eigenarten des christlichen Glaubens und seiner Selbsterkenntnis willen - nicht mehr Theologie treiben. […] Im Spiegel anderer Religionen wird uns klarer, was wir selbst glauben.“ 100 Alle drei monotheistischen Religionen haben einen universalen Anspruch und nehmen absolute Wahrheit für sich in Anspruch. Dieser universale Anspruch werde dann auch durch Mission vertreten. Dieser Anspruch der drei monotheistischen Religionen habe in der Geschichte zu blutigen Aus- 95 Steinacker, Peter: Die Bedeutung der christlichen Kirche im Dialog der Religionen, in: Ders., Absolutheitsanspruch und Toleranz, 83-119, hier 84. 96 Ebd., 83 f. 97 Vgl. Honecker, Martin: Grundriß der Sozialethik, Berlin 1995, 642-648. In den neunziger Jahren setzen sich zahlreiche Theologinnen und Theologen mit dem Begriff des Pluralismus auseinander, vgl. exemplarisch: Welker, Michael: Kirche im Pluralismus. München 1995. 98 Vgl. Steinacker, Peter: Vorwort, in: Ders., Absolutheitsanspruch und Toleranz. 7-18, hier 8. 99 Vgl. ebd., 9. 100 Ebd., 10. 288 Sarah Jäger einandersetzungen geführt. 101 So stellt sich nun die grundlegende Frage: Warum sind die monotheistischen Religionen überhaupt dialog- und pluralismusfähig? „Seit der Aufklärung tritt die Religionskritik als Dekonstruktion der Religion auf und überführt das Wesen der Religion aus der Theorie mit ihrem absoluten und exklusiven Offenbarungsanspruch in humane Praxis.“ 102 Dieses Missverständnis, dass aus Religion Moral werde, halte sich hartnäckig. Eine zentrale Frage des interreligiösen Dialogs sei nun, ob andere Götter die Vorstellung von Christinnen und Christen von ihrem eigenen Gott verändern könnten. Auch in dieser Stelle spiegeln sich die Erfahrungen der rasant veränderten gesellschaftlich-religiösen Situation in Deutschland. Infolge des interreligiösen Dialogs stehen die einzelnen Religionen in Deutschland nicht mehr scharf voneinander abgegrenzt als Blöcke nebeneinander, sondern sind schon vielfältig miteinander in Kontakt getreten. Daraus resultiere auch eine neue Form der Religiosität, die auf verschiedene Religionen zurückgreife und diese Ansätze dann für sich selbst je neu zusammensetze. 103 Auch etwa veränderte Mediennutzung haben Auswirkungen auf den persönlichen Glauben. Daraus folge die Anfrage, ob für evangelische Christinnen und Christen nicht auf eine Art und Weise alle Religionen austauschbar geworden seien. Wie könne Kirchenleitung und Theologie angemessen auf diese Veränderungsprozesse reagieren? Eine fruchtbare Antwort liege in einer „Theologie der Religionen“, die sich vor allem auf Wilfried Härle, Hans-Martin Barth und Carl Heinz Ratschow rückbeziehe. Hier stelle sich dann jedoch immer die Frage nach dem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch des Christentums. Ein Probleme stelle dabei der Monotheismus dar, der sich vor allem an der Person Jesu Christi entfalte. 104 Hier nimmt Steinacker seinen Lehrer Ratschow auf: „Ratschow hatte vorgeschlagen, die Einheit Gottes und die Vielheit der Götter unter der Erfahrung des Deus in vita so aufeinander zu beziehen, dass alle Heilspotenzen als solche anerkannt werden, von der christlichen Theologie aber als Teil des von uns erkennbaren Heilshandelns von dem uns undurchschaubaren Welthandeln Gottes unterschieden werden müssen.“ 105 Der Ort, in der Dogmatik, an dem die Frage nach den fremden Göttern verhandelt wird, sei dann weder Prolegomena noch Trinitätslehre, sondern der Deus absconditus. 106 So lassen sich - nach 101 Vgl. Steinacker, Absolutheitsanspruch, 23 f. 102 Ebd., 28. 103 Vgl. Steinacker, Peter: Verändern die fremden Götter den christlichen Gott? Oder: Kann man fremde Gottheiten (Heilspotenzen) als solche anerkennen und dennoch Christ und Monotheist bleiben? , in: Dalferth, Ingolf U. / Schulz, Heiko (Hrsg.): Religion und Konflikt. Grundlagen und Fallanalysen. Göttingen 2011, 207-231, hier 208. 104 Vgl. ebd., 225. 105 Ebd., 227. 106 Vgl. ebd. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 289 Steinacker - fremde Götter einordnen als Geheimnisse des einen Gottes, „die zum Christusgeschehen in analogieloser Fremdheit verbleiben, auch wenn sie nach dem Selbstverständnis ihrer Anhänger den Weg zum Leben eröffnen“ 107 . Die religiöse Vielfalt ist auch für die beiden christlichen Kirchen eine neue Erfahrung. Dies mache eine ganz neue Gesprächsfähigkeit in Glaubensdingen nötig. Steinackers Auseinandersetzung mit anderen Religionen steht stets in der Spannung zwischen dem Wunsch nach Toleranz und dem Wissen darum, dass es allen Religionen um die Wahrheit gehe, sich diese Dimension darum auch immer im interreligiösen Gespräch spiegele und zugleich mit jeder Religion der Anspruch auf Exklusivität verbunden sei. Jeder Religion müsse zugebilligt werden, dass sie von der Wahrheit redet. „Die Religionen erheben jeweils den Wahrheitsanspruch, er wird nicht durch mich als Subjekt wahr.“ 108 Die einzelnen Religionen übernehmen durchaus Dinge voneinander. Alle Gottesvorstellungen der Religionen müssten ernst genommen werden und jeder Religion ein Absolutheitsanspruch zugebilligt werden. Dann stelle sich die Frage, wie wir theologisch von der Einheit Gottes reden können, wenn die Gottesvorstellungen etwa des Islams so ganz anders sind und sich gegenseitig ausschließen. Dazu seien dann Prozesse der Klärung zwischen Christentum und Islam nötig. Christen müssten begründen, was sie unter Gott verstehen, es genüge nicht, sich hier nur auf Erfahrung zu stützen. „Sie müssen definieren, was religiöse Erfahrung ist, weil sich religiöse Erfahrung ja von psychologischer Erfahrung zum Beispiel unterscheiden muss.“ 109 Die theologische Einsicht, dass es allen Religionen in letzter Konsequenz um Wahrheit ginge, führe zu einem respektvollen Umgang miteinander, der den anderen in ihrem Glauben und Vertrauen wirklich ernst nehme. „Das existentialistische Diktum, Wahrheit ergebe sich aus der Begegnung und nicht aus Sätzen, vernachlässigt die mit Wahrheit verbundene Anstrengung des Gedankens, der ja ohne Erfahrung gar nicht gedacht werden kann, und führt die Wahrheitssuche in die Enge subjektiver Beliebigkeit.“ 110 Zur Vermittlung dieser Spannung greift Steinacker auf eine Figur Luthers, die des Deus absconditus, zurück, die es ermögliche, die Ungewissheit auszuhalten und trotzdem im Dialog mit anderen Auffassungen der Wahrheit zu bleiben. Die Wiederkehr der Religionen, besonders des Islam, verbinde sich auf einer höchst gefährlichen Weise mit Politik und 107 Ebd., 230. 108 Streit um den wahren Gott. Über die Ansprüche der Religionen, den Gott Jesu und den richtigen Weg zum Heil. Ein Streit zwischen Kirchenpräsident Peter Steinacker und dem Theologen Klaus-Peter Jörns, in: Publik-Forum Nr. 14 (2006), 30-35, hier 31. 109 Ebd., 32. 110 Steinacker, Vorwort, 14. 290 Sarah Jäger damit mitunter auch mit offener Gewalt. 111 Welcher Zusammenhang bestehe nun zwischen Religionen und Gewalt? Als zentrale Frage stellte sich Steinacker als Kirchenpräsident im Blick auf die Kirche: „Wie kann die Kirche dem religionsneutralen Staat bei der Erarbeitung von Grundlagen für seine schwierigen ordnungspolitischen Entscheidungen helfen? “ 112 Hier zeigt sich Steinackers Einschätzung der Rolle und Aufgabe der Kirche in der Gesellschaft erkennen: Die Zuständigkeit der Kirche liegt im Wissen um religiöse Wahrheiten, sie ist gleichsam Sachwalterin des Religiösen. Steinackers eigene Position lässt sich als positioneller Pluralismus beschreiben, der sich durch drei Merkmale auszeichne: „1. Er ist von dem exklusiven Wahrheitsanspruch seiner Religion überzeugt. 2. Er gewinnt von daher die Perspektive zur Beurteilung aller anderen Religionen. 3. In seinem Gott ist das einzige und ausschließliche Heil präsent.“ 113 Genau dieser Zugriff auf Wahrheit bilde die Voraussetzung für den interreligiösen Dialog. Dabei sind dem interreligiösen Dialog durchaus Grenzen gesetzt: „Auch wenn das Ziel jeden echten Dialogs immer größer werdendes wechselseitiges Verständnis im Blick auf eine gewaltfreie Konfliktlösung ist - das volle Verständnis für einander findet an der jeweiligen Gottheit Gottes ihre Grenze.“ 114 Doch gerade in dieser Grenze liege nun auch eine Chance, denn die Tiefe des Dialogs der Religionen gründe vor allem darin, dass er nicht um verschiedene Ausgestaltungen oder theologische Bezeichnungen geführt werde: „Der Dialog der Religionen kreist um das theologische Sachproblem, das entsteht, wenn einerseits die Fremdheit und Hoheit der anderen Götter akzeptiert wird und zugleich die Einheit Gottes zur eigenen theologischen Voraussetzung gehört.“ 115 Für Steinacker steht aber auch fest: Deutsche muslimischen Glaubens werden Deutschland verändern, gerade auch wenn sie sich integrieren und ihre Eigenart bewahren. „Aber auch ihr Islam wird und muss sich verändern gegenüber den Traditionen ihrer Ursprungsländer.“ 116 Diese doppelte Bewegung ist typisch für Steinackers Sicht: Es ist eine Veränderung der religiösen und gesellschaftlichen Situation Deutschlands und zugleich auch eine Form der Annäherung von Musliminnen und Muslimen nötig, die in Deutschland als einem Staat, der religionsneutral ist, leben. Steinacker nimmt an dieser Stelle Jürgen Habermas auf, der darauf aufmerksam macht, was einer Gesellschaft verloren geht, wenn es ihr nicht gelingt, die Einsichten der Religionen zu übersetzen. „Im gegen- 111 Vgl. ebd., 15. 112 Ebd., 16. 113 Steinacker, Der Absolutheitsanspruch des einen Gottes, 32. 114 Ebd., 37. 115 Steinacker, Die Bedeutung der christlichen Kirche, 93. 116 Steinacker, Der Absolutheitsanspruch des einen Gottes, 38. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 291 wärtigen weltweiten Konflikt mit dem verbrecherischen Terrorismus können die drei monotheistischen Religionen daran erinnern, dass Formen der korrigierenden Umkehr, Reue und Buße menschliche Verhaltensformen sind, die weit über die sich absolut setzende Gewissensbindung des aufgeklärten Subjekts als alleinigem Maßstab der Lebensorientierung hinausreichen.“ 117 Hier spiegelt sich deutlich auch die veränderte politische Weltlage nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 wider. Im Zuge dessen wurde Terrorismus als Gewaltstrategie nichtstaatlicher Akteure, „die aus dem Untergrund agieren und systematisch versuchen, eine Gesellschaft oder bestimmte Gruppen in Panik und Schrecken zu versetzen, um nach eigener Aussage politische Ziele durchzusetzen“ 118 auch als religiöses Phänomen wahrgenommen. So kommt dem Christentum als zuerst in Deutschland beheimatete und besonders privilegierte Religion eine Schlüsselstellung für die Begegnung zu. Dieses müsse sich dafür einsetzen, dass die anderen Religionen in gesellschaftlich organisierten und relevanten Gruppen ebenso am öffentlichen Diskurs über die Zielvorstellungen der Gesellschaft und des privaten Lebens beteiligt werden. 119 Dies bedeute im Umkehrschluss jedoch auch, dass sich andere Religionen dazu entscheiden müssen, Teil dieser bundesdeutschen Gesellschaft zu werden und damit in sich selbst Absolutheitsanspruch und Fremdheit zueinander zu bringen. „Das Problem besteht im Finden einer gemeinsamen Basis, die die erstaunlichen religionsgeschichtlichen Parallelen nicht leugnet und dennoch nicht die Fremdheit der anderen Religionen einebnet, indem man sie zu ‚anonymen Christen‘ macht.“ 120 7.1. Verleihung des Hessischen Kulturpreises 2009 Peter Steinacker wurde gemeinsam mit Karl Kardinal Lehmann, Fuat Sezgin und Salomon Korn der Hessische Kulturpreis 2009 zuerkannt, da alle drei sich um den Dialog zwischen den Religionen verdient gemacht hätten. Sezgin lehnte den Preis jedoch ab, sodass mit Zustimmung Steinackers, Lehmanns und Korns der Schriftsteller und Islamwissenschaftler Navid Kermani ausgewählt wurde. Später erklärten Steinacker und Lehmann, aufgrund eines Artikels von Kermani in der NZZ könnten sie den Preis nicht mehr gemeinsam mit Kermani annehmen, da dieser u. a. die Kreuzestheologie für Gotteslästerung halte. Daraufhin wurde von Seiten der hessischen Landesregierung die Preiszuerkennung an Kermani zunächst zurückgenommen; später wurde die gesamte Preisverleihung verschoben. Schließlich entschlossen sich Steinacker und Lehmann doch zu einer ge- 117 Ebd., 39. 118 Schneckener, Ulrich: Transnationaler Terrorismus. Frankfurt a. M. 2006, 21. 119 Vgl. Steinacker, Die Bedeutung der christlichen Kirche, 104. 120 Ebd., 107. 292 Sarah Jäger meinsamen Annahme des Preises. Steinacker setzte sich in einem Artikel des Deutschen Pfarrerblattes noch einmal mit dem Vorfall auseinander. Zunächst betonte er die Freiheit, die in Deutschland herrschte, um dem Glauben Ausdruck zu verleihen. „Mit uns Vertretern verschiedener Religionen und Konfessionen soll ja, wenn ich es richtig verstanden habe, neben unserer Person vor allem die Bedeutung der Religion als ein schöpferischer Kulturfaktor gewürdigt werden, ohne den das Land Hessen nicht auskommt und nicht auskommen möchte.“ 121 Alle geehrten Religionen gestalteten unsere Kultur und Gesellschaft mit. Diese sei ohne Tradition von Judentum, Christentum, Islam und der Aufklärung nicht zu verstehen. Religion ist in allen Sphären der säkularen Kultur anzutreffen, ohne sie zu dominieren. Wichtig ist, was Dietrich Korsch festhält: Religion muss sich die Begründungen des Glaubens aneignen und zugleich an der religiösen Kulturdeutung arbeiten. Das Religiöse sei in Politik, Ökonomie und Wissenschaften eingesickert, Aufgabe einer theologischen Religionskritik liege nun gerade darin, diese Sphären in ihre Weltlichkeit zurückzurufen. Für diese religionskritische Aufgabe der Religionen sei kein Konsens über Grundwahrheiten nötig. 122 Im Verständnis der Gottheit Gottes unterschieden sich die drei Religionen unüberbrückbar, es bleibe eine Fremdheit dem Anderen gegenüber, die durch keinen Konsens überbrückt werden könne. 123 Ohne religiöse Toleranz sei eine moderne, pluralistische Gesellschaft nicht möglich. Differenzen müssten zivilisiert werden, durch den Konsens, dass wir vor dem säkular begründeten Recht alle gleich sind, vor allem vor Menschenrechten und ihrem Toleranzgebot. „Diese, und nicht die im Konsens über das Gottesverständnis hergestellte Gleichheit ist die Basis der Toleranz unter den Religionen.“ 124 Dies habe etwas mit dem nötigen Respekt vor „Schönheit und Hoheit“ anderer Religionen zu tun. 7.2. Begegnungen mit dem Islam - auf dem Weg zur Konvivenz In der öffentlichen Wahrnehmung gerade in den Medien werde die Beziehung zwischen Islam und Westen häufig als Kampf und Konkurrenz dargestellt. Dieser Kampf der Feindbilder werde jedoch auf beiden Seiten auch bewusst gepflegt. Am Beginn des Dialoges stehe nun aber notwendigerweise das Kennenlernen und das Festhalten gegen entsprechende muslimische Überzeugungen von der 121 Steinacker, Peter: „Möglicherweise glauben wir alle an denselben Gott - aber ist es auch der gleiche? , in: Deutsches Pfarrerblatt 110/ 2 (2010), 75-76, hier 75. 122 Vgl. ebd., 76. 123 Vgl. ebd. 124 Ebd. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 293 Dekadenz des Westens, daran, dass Vielfalt und Pluralität als bereichernde und gute Gesellschaftsordnung erlebt werden, so Steinacker. 125 Dieser Diagnose Steinackers ist zuzustimmen und sie ist zugleich zu ergänzen um den Hinweis, dass es oft auch Nicht-Beachtung oder Marginalisierung sind, die das Verhältnis prägen. 126 Besonders deutlich lässt sich dies seit den neunziger Jahren an den Auseinandersetzungen um den Bau von Moscheen ablesen. Ausgangspunkt für eine verstärkte muslimische Einwanderung nach Deutschland war vor allem das Anwerbeabkommen, das die deutsche und türkische Regierung 1961 abgeschlossen hatte und auf dessen Grundlage deutsche Unternehmen Arbeiterinnen und Arbeiter anwarben. Ihre Religiosität entwickelte sich in Abhängigkeit auch von ihrer lebensweltlichen und rechtlichen Situation in Deutschland. In den Anfangsjahren waren es meist männliche Arbeiter, die in die Bundesrepublik kamen, aber kulturell wie religiös stark an ihr Heimatland gebunden blieben. Dies änderte sich Anfang der siebziger Jahre. 1973 waren im Zuge der wirtschaftlichen Rezession alle Anwerbeabkommen aufgekündigt worden: Viele türkische Muslime entschieden sich nun, auf lange Sicht in Deutschland zu bleiben. Sie holten ihre Familien nach und begannen, sich um religiöses Leben auch in Deutschland zu bemühen. Ausgangspunkt einer stärkeren Institutionalisierung waren dann häufig die entstehenden Moschee-Vereine. Entstanden diese zu Anfang oft in Hinterhöfen, wurden sie in den achtziger und neunziger Jahren auch zunehmend im Stadtbild sichtbar. Dies forderte auch das Christentum heraus. Steinacker positionierte sich hier eindeutig. „Meiner Ansicht nach muß es uns überall - ob im Christentum, im Islam oder in einer anderen Religion - gelingen, den eigenen Absolutheitsanspruch in der Weise aufrecht zu erhalten, daß er zugleich die Toleranz gegenüber den anderen aufbringt, die auch solch einen Absolutheitsanspruch erheben.“ 127 Ziel aller interreligiösen Begegnungen müsse die Konvivenz sein, also das Zusammenleben im Wissen um die jeweilige Verschiedenheit und auf der Grundlage unbedingter Toleranz. 128 Steinacker hält fest, dass der Islam in Deutschland unübersehbar geworden sei. 129 Besonders markant sei der gesellschaftliche Übergang in der Sprache von Türkinnen und Türken zu Musliminnen und Muslimen. Am 6. März 1997 hatte 125 Vgl. Steinacker, Peter: Der Islam und der Westen - aus westlicher Sicht. Vortrag vor der Deutschen Abteilung der Al-Azhar-Universität im Februar 1998, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 231. 126 Vgl. zum Folgenden: Großbölting, Der geteilte Himmel, 203-213. 127 Steinacker, Der Islam und der Westen. 128 Vgl. Steinacker, Peter: Mission in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Ders., Absolutheitsanspruch und Toleranz, 157-166, hier 159. 129 Steinacker, Peter: Vortrag (in englischer Sprache) am Theologischen Seminar der koptisch-evangelischen Kirche: Interreligiöser Dialog in Deutschland - Erfahrungen in der 294 Sarah Jäger das Leitende Geistliche Amt der EKHN nach intensiven Beratungen eine Erklärung ‚Zur Frage des Muezzin-Rufs‘ abgegeben. Diese Erklärung hält schließlich fest, dass bei der Frage des Muezzin-Rufes jeweils eine Verständigung vor Ort nötig sei. Zentrales Anliegen von Steinacker war es, dass Anhänger der verschiedenen Religionsgemeinschaften miteinander reden und sich kennen lernen müssen. Denn: „Nur das, was man kennt, kann man tolerieren. Denn das reicht schon.“ 130 Seine eigenen Erfahrungen in der Kirchenleitung haben gezeigt, dass „eine Annäherung zwischen den ‚nahen Fremden‘ besser durch handfestes Miterleben als durch theoretisches Diskutieren gelingt“ 131 . So nennt Steinacker als ein Beispiel einen Gesprächskreis in Dietzenbach, der Christ*innen und Muslim*innen miteinander ins Gespräch brachte und nach neuen Praxisformen suchte. Für die Begegnung mit dem Islam ist die Frage nach der Übersetzungsmöglichkeit der Offenbarungsurkunde in Christentum und Islam zentral im interreligiösen Dialog. Steinacker hält fest, dass das Christentum und der Islam nicht auf den gemeinsamen Nenner einer Schriftreligion gebracht werden können. 132 Martin Luther habe diese Frage so nie gestellt, für ihn war die Übersetzung eine Selbstverständlichkeit. Im Islam sei immer nur die Übersetzung einer Auslegung des Islam möglich. Mohammed habe selbst nicht lesen und schreiben können, er habe keine anderen Wunder getan, sein Wunder sei der Koran in vollendetem Arabisch gewesen. Jede Begegnung mit dem biblischen Wort sei in christlichem Verständnis immer schon eine vermittelte Begegnung. Als Kirchenpräsident war Steinacker in dem Islam-Arbeitskreis in der EKHN (gegründet 1998) und in der Islamisch-Christlichen Arbeitsgemeinschaft (ICA) (gegründet 1994) aktiv. 8. Peter Steinacker und die EKHN als „politische Landeskirche“ Es sind nur wenige Artikel und Vorträge, in denen Steinacker sich dezidiert mit politischen Fragen auseinandersetzt oder klar zu politischen oder gesellschaftlichen Themen Stellung nimmt. Exemplarisch sei hier ein Artikel in der Jungen Kirche aus dem Jahr 1997 genannt mit der Überschrift „Den Sozialstaat erhalten und zukunftsfähig machen“. Diesem lag eine Rede auf einer Veranstaltung des Evangelischen Sozialpfarr- EKHN - Besuch einer Delegation der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Ägypten vom 7. bis 14.02.1998, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 231. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Steinacker, Peter: Vom rechten Umgang mit den Schriften. Bibel und Koran als Elemente interreligiösen Dialog. Darmstadt, September 2003, ZA EKHN, Best. 285, Nr. 327. Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 295 amtes und des Katholischen Referates Kirche und Arbeiterschaft zugrunde. Aus seinem Argumentationsgang lässt sich Steinackers Blick auf die Kirche als eine politische ableiten. Steinacker plädiert in besagtem Artikel für eine tiefgreifende Reform des Sozialstaates, um dessen Zukunftsfähigkeit sicherzustellen. 133 Eine besondere Herausforderung liege in der zunehmend internationalen Gestaltung der Wirtschaft, die dazu führe, dass etwa angemessene Löhne oder eine gute gesellschaftliche Infrastruktur zunehmend als Kosten erschienen, die es zu senken gelte. „Denn das Kapital kann weltweit agieren, während die arbeitenden Menschen viel stärker an ihren nationalen Standort gebunden sind“ 134 . Ein Fokus des Sozialstaates müsse auf der Unterstützung junger Familien und der Förderung ehrenamtlicher Arbeit liegen. Hier spiegele sich die christliche Perspektive, dass zum Menschsein sowohl die Abhängigkeit als auch die Selbstständigkeit gehöre. Allerdings liege die Kompetenz der Kirche gerade nicht darin, einen umfassenden Plan zur Reform des Sozialstaates vorzulegen. „Was aber Kirche und Theologie zu der dringenden Frage beitragen müssen, sind Kriterien für solch einen Sozialstaat der Zukunft. Sie beruhen auf dem christlichen Verständnis vom Menschen, der gleichberechtigt in der Gemeinschaft mit anderen von Gott als sein Ebenbild geschaffen ist.“ 135 Dieser Artikel zeigt deutlich, um was es Steinacker im Blick auf die Kirche geht, diese können beraten in den Grundwerten der Gesellschaft und sei eine zivilgesellschaftliche Akteurin. Die Untersuchung zu Peter Steinacker beleuchtet auch den Protestantismus seiner Zeit, der als pluraler Mentalitätsraum verstanden werden kann, der stark um sein eigenes Selbstverständnis ringt. Steinacker kann somit als ein Christ betrachtet werden, der sich aufgrund seiner religiösen Grundhaltung politisch engagieren und religiöse Positionen in den öffentlichen Diskurs einbringen konnte, und ihre Argumentationsmuster und Diskursbeiträge näher beleuchtete. Bewusst bringt sich Steinacker als protestantischer Akteur in ethische Debatten ein, die als solche gesellschaftlichen Debatten verstanden werden, die sich mit der Frage ‚Wie wollen wir leben? ‘ beschäftigen. Eine Hermeneutik der Gegenwart führt zum Anspruch auf gesellschaftliche Gestaltung und politischen Einfluss. Dabei zeigt es sich als ein typisches Charakteristikum des Protestantismus, dass er „öffentliche Religion ist und den Anspruch hat, Politik, Gesellschaft und das Leben des Einzelnen mitzugestalten“ 136 . 133 Vgl. Steinacker, Peter: Den Sozialstaat erhalten und zukunftsfähig machen, in: Junge Kirche 57 (1996), 531-537, hier 532. 134 Ebd., 533. 135 Ebd., 536. 136 Könemann, Judith / Meuth, Anna-Maria / Frantz, Christiane / Schulte, Max: Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit - Christen in der Politik (Gesellschaft - Ethik - Religion 4). Paderborn 2015, 12. 296 Sarah Jäger In einer repräsentativen Demokratie wie der Bundesrepublik ist dieser Anspruch auf Mitgestaltung nur dann umsetzbar, „wenn die Akteure ihre inhaltlichen Positionen im Zustimmungswettbewerb von Ideen und Interessen nach außen kenntlich machen.“ 137 Um dieses Sichtbarmachen der eigenen Ansätze und Inhalte ist es Steinacker gegangen. Ein wichtiges Anliegen war es ihm dabei zugleich, die eigene Gegenwart wirklich zu verstehen, Anteil zu nehmen am Leben der Menschen und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Eine fundierte Ekklesiologie bildet die Grundlage zur Bestimmung der eigenen Aufgaben - das war seine tiefe Überzeugung. Steinacker hat sich herausfordern lassen und dabei eigene Schwerpunkte gesetzt. Politisches Engagement versteht er als gesellschaftliche Mitgestaltung, als Verantwortungsübernahme für die Fragen der Zeit. Diese waren für ihn vor allem auch Fragen der Begegnung, auch und gerade mit anderen Religionen. Seine Ekklesiologie nimmt den Ausgang darin, dass sich diese auch vor den Einsichten der Vernunft wird verantworten müssen. Die reiche kirchliche Tradition gelte es in die Gegenwart zu übersetzen. Ein zentrales Thema seiner Ekklesiologie lag in der Befreiung, diese aktualisiert sich notwendigerweise im gesellschaftlichen und politischen Geschehen. „Evangelisch aus gutem Grund“ - unter diesem Thema der inhaltlichen Anreicherung und Wiedererkennbarkeit stand nicht nur die EKHN dieser Jahre, sondern auch das Wirken Peter Steinackers in seiner Zeit als Kirchenpräsident. 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Peter Steinacker (1943-2015) - Kirche des Dialogs 301 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Gisa Bauer, Dr. theol. habil., Kirchenhistorikerin, Privatdozentin am Institut für Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, info@gisa-bauer.de Julia Csehan, Doktorandin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachgebiet Kirchengeschichte, j.csehan@web.de Ute Dieckhoff, Dr. phil., Archivarin im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, ute.dieckhoff@ekhn.de Malte Dücker, Mitarbeiter im Fachgebiet Kirchengeschichte und im Dekanat des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, m.duecker@em.uni-frankfurt.de Sarah Jäger, Dr. theol., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST), Heidelberg, und am Institut für Diakoniewissenschaft und DiakonieManagement der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel, jaeger@diakoniewissenschaft-idm.de Anette Neff, M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin für Historische Forschung, Zentralarchiv und -bibliothek der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, anette.neff@ekhn.de Jan Schubert, Dr. phil., Historiker, Studienmanager am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, jschuber@uni-mainz.de ISBN 978-3-7720-8696-0 Die Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung 1919 eröffnete den deutschen evangelischen Landeskirchen erstmalig die Möglichkeit, sich eigenverantwortlich in der Gesellschaft und gegenüber der staatlichen Politik zu positionieren. Erste Umgestaltungen der Kirchen in Hessen und Nassau nach demokratischen Prinzipien kamen im Nationalsozialismus vorerst wieder zum Abbruch. Seit 1947 spielten viele der politischen und gesellschaftlichen Debatten in der EKHN eine große Rolle, z. B. die Diskussionen um die Wieder- und Atombewaffnung unter Kirchenpräsident Martin Niemöller, der Protest gegen den Bau der Startbahn West, der sowohl Helmut Hild als auch Helmut Spengler beschäftigte, oder die Frage nach dem Umgang mit dem Islam, der sich Peter Steinacker intensiv widmete. Anhand prägnanter Positionen kirchenleitender Persönlichkeiten zeigt der Band in sechs Beiträgen, wie die „Politisierung“ der EKHN erfolgte und wie sie auf das Selbstverständnis innerhalb der EKHN zurückwirkte, eine der „politischen Landeskirchen“ in Deutschland zu sein. Gisa Bauer (Hrsg.) Politik - Kirche - politische Kirche Politik - Kirche - politische Kirche (1919-2019) Gisa Bauer (Hrsg.) Die evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau im Spiegel ihrer kirchenleitenden Persönlichkeiten Bauer_Umschlag.indd Alle Seiten 04.10.2019 17: 10: 50