eBooks

Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

2020
978-3-8233-9353-5
Gunter Narr Verlag 
Bettina Kluge
Wiltrud Mihatsch
Birte Schaller

Dieser Band ist einer großen Bandbreite an Phänomenen und interdisziplinären Fragestellungen im Umfeld der kommunikativen Übergänge zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit gewidmet. Neben der auch theoretischen Auseinandersetzung mit dem Koch-Oesterreicherschen Nähe-Distanz-Modell untersuchen die Beiträge insbesondere Spannungsfelder im Bereich von Standardisierungsprozessen, die Emergenz neuer Diskurstraditionen in der internetbasierten Kommunikation und die Konsequenzen der technisch bedingten Entkopplung von Mitteilung und Verstehen, die sprachlichen Übergänge bei Übersetzungen, die Dynamiken spezifischer Gesprächssituationen sowie Aspekte der Kommunikation in der Medizin und ihr differentialdiagnostisches Potenzial.

Giessener Beiträge Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Festschrift für Barbara Job zum 60. Geburtstag herausgegeben von Bettina Kluge, Wiltrud Mihatsch und Birte Schaller Dieser Band ist einer großen Bandbreite an Phänomenen und interdisziplinären Fragestellungen im Umfeld der kommunikativen Übergänge zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit gewidmet. Neben der auch theoretischen Auseinandersetzung mit dem Koch-Oesterreicherschen Nähe-Distanz-Modell untersuchen die Beiträge insbesondere Spannungsfelder im Bereich von Standardisierungsprozessen, die Emergenz neuer Diskurstraditionen in der internetbasierten Kommunikation und die Konsequenzen der technisch bedingten Entkopplung von Mitteilung und Verstehen, die sprachlichen Übergänge bei Übersetzungen, die Dynamiken spezifischer Gesprächssituationen sowie Aspekte der Kommunikation in der Medizin und ihr differentialdiagnostisches Potenzial. Kluge / Mihatsch / Schaller (Hrsg.) Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ISBN 978-3-8233-8353-6 18353_Umschlag.indd Alle Seiten 18353_Umschlag.indd Alle Seiten 21.10.2020 16: 11: 48 21.10.2020 16: 11: 48 Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Herausgegeben von Barbara Frank-Job und Ulrich Eigler 145 Bettina Kluge / Wiltrud Mihatsch / Birte Schaller (Hrsg.) Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Festschrift für Barbara Job zum 60. Geburtstag © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0940-0303 ISBN 978-3-8233-8353-6 (Print) ISBN 978-3-8233-9353-5 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0260-5 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 23 47 61 81 103 123 151 169 193 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Selig / Roland Schmidt-Riese Nachdenken über Nähe und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarah Dessì Schmid Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sascha Diwersy / Katja Ploog Pour une analyse quantitative de là en français parlé : la grammaticalisation revisitée à l'ère des corpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Esme Winter-Froemel Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tilmann Sutter Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht . . . . . . . . Anna Kurpiers #wirmüssentanzen. Methodische Überlegungen zur linguistischen Analyse von (Selbst-)Inszenierungen von Amateursportlern in den sozialen Medien am Beispiel Racing Aloha auf Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kai Kauffmann Poetik der Freundschaft. Eine Fallstudie zur Praxis wechselseitiger Übersetzungen und Widmungen bei Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Kluge Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. Beobachtungen zur Rolle von Text-Bild-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Knerich/ Julia Sacher "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 245 267 285 315 Peter Menke „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. Gesprächsanalytische Betrachtungen von Proberunden zum Lernen von Gesellschaftsspielen . . . Jan Andres Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. Geselligkeit, Positionen und Poetik in Hofmannsthals drei ‚Unterhaltungen‘ zu Keller, Goethe und Wassermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. Überlegungen anhand eines Anamnesegesprächs mit einer Narkolepsie-Patientin . . . . . . Elisabeth Gülich „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ . Auf den Spuren des Narrativs in Thure von Uexkülls Psychosomatischer Medizin . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Vorwort Der sechzigste Geburtstag von Barbara Job ist für uns Anlass, mit diesem Band zu zeigen, wie überaus anregend ihre sprachwissenschaftlichen Analysen in kommunikativen und medialen Spannungsfeldern innerhalb und außerhalb der romanischen Sprachwissenschaft auch interdisziplinär wirken und zukunfts‐ weisende Inspirationen bieten. Wir Herausgeberinnen haben selbst in unterschiedlichen Qualifikations‐ phasen von Barbara die entscheidenden Impulse erhalten: Bettina Kluge (Hil‐ desheim) im Rahmen ihrer Habilitation zu generischen Lesarten von Pronomina der zweiten Person im Kontext sprachlicher Interaktion, Wiltrud Mihatsch (Tü‐ bingen) ebenfalls im Rahmen der Habilitation zu Approximationsverfahren und ihren kommunikativen Funktionen in romanischen Sprachen und Birte Schaller (Bielefeld) in ihrer von Barbara betreuten Dissertation zur computervermittelten und face-to-face-Interaktion in aufgabenorientierten Gesprächen. Barbara hat in ihrem wissenschaftlichen Werdegang, der sie über Zwischen‐ stationen in Tübingen, Berlin und Regensburg von Freiburg nach Bielefeld führte, stets auch die disziplinären Grenzen überschritten. Dabei nutzte sie ihre historische Expertise und romanistische Perspektive, um innovativ, intel‐ lektuell anspruchsvoll und für die Sprach- und Kommunikationswissenschaften wegweisend neue Terrains zu erobern. Nach ihrem Studium in Freiburg und Toulouse-le-Mirail und dem Staatsex‐ amen in den Fächern Deutsch und Französisch begann Barbara ihre Promo‐ tion im Rahmen des SFB-Projekts „Die Verschriftlichung der romanischen Sprachen“ unter der Leitung von Wolfgang Raible und Hans-Martin Gauger im Freiburger Sonderforschungsbereich 321 „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, der weit über die deutschsprachige Romanistik hinaus prägend war und ist. Barbara promovierte bei Wolfgang Raible zum Thema Die Textgestalt als Zeichen. Lateinische Handschriftentradition und die Verschriftlichung der romanischen Sprachen, erschienen als Band 67 in der renommierten und aus dem SFB hervorgegangenen Reihe ScriptOralia, deren Mitherausgeberin sie heute neben Ulrich Eigler ist. Für ihre weiteren For‐ schungsarbeiten zentral sind dabei die diachronen medialen, kommunikativen und kulturellen Übergänge zwischen mündlicher Kultur und Schriftkultur. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Umgestaltungsprozessen durch Schreiber früher romanischer Texte, die die ihnen vertrauten Konventionen der Text‐ gestaltung und auch der Textgattungen nun für eine bisher nur mündlich realisierte Sprache innovativ weiterentwickeln. Im Anschluss an die Promotion forschte sie im von Wolfgang Raible und Paul Gerhard Schmidt geleiteten SFB-Projekt „Entwicklung europäischer Gattungs‐ systeme im Vergleich“ zur Ausdifferenzierung schriftlicher lateinischer und romanischer Diskurstraditionen im mittelalterlichen Europa. Die Problematik der sprachlichen Praxis im Übergang zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verfolgte Barbara auch in ihrer Freiburger Habilitationsschrift zum Thema des schriftkulturellen Ausbaus des Französischen, deren Schwerpunkt auf Verschriftlichungsprozessen des Französischen von den Anfängen im 9. und 10. Jahrhundert bis zum 13. Jahrhundert liegt. In dieser Arbeit stehen die sprach‐ lichen Akteure mit ihren Reflexionen und ihren schriftlichen Zeugnissen im Mittelpunkt, die im sprachlichen und kulturellen Spannungsfeld zwischen den lateinischen Texttraditionen und der oralen volksprachlichen Praxis nun ge‐ nuin volkssprachliche Texte schaffen. Bemerkenswert sind dabei insbesondere die Aushandlungsprozesse und die Herauskristallisierung von Konventionen. Dabei greift die Arbeit auf das monumentale Inventaire systematique des premiers documents des langues romanes zurück, das sie gemeinsam mit Jörg Hartmann herausgab und das alle belegten schriftlichen Dokumente der romanischen Sprachen katalogisiert, die bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden, und das damit nicht nur eine unverzichtbare Grundlage zur Erforschung von Verschriftung und Verschriftlichungsprozessen der Romania ist, sondern auch für Historiker oder Literaturwissenschaftler im Bereich der Mediävistik ein herausragendes Instrumentarium darstellt. Bis heute spielen die Spätantike und die Frühphase der romanischen Sprachen eine besondere Rolle im Werk von Barbara Job, insbesondere auch im Bereich der Textsorten bzw. Diskurstraditionen und immer auch im Hinblick auf die Einbet‐ tung in kulturelle Kontexte und auf der Grundlage von Textkorpora. Besonders hervorzuheben ist dabei das interdisziplinäre BMBF-Verbundprojekt „Compu‐ tational Historical Semantics“ mit Alexander Mehler (Informatik), Bernhard Jussen (Geschichtswissenschaft), Peter Koch (†), Sarah Dessì-Schmid und Maria Selig (alle Romanische Sprachwissenschaft). Im Rahmen dieses Projekts im Bereich der Digital Humanities untersuchte sie die Möglichkeiten der aktuellen netzwerkanalytischen und texttechnologischen Forschung zur qualitativen und quantitativen Analyse spätlateinischer Korpora. Ein Fokus liegt dabei auf der Entstehung und den langfristigen Veränderungen neuer grammatikalischer Techniken, insbesondere in den kognitiv-semantischen Bereichen „Situation, Bestimmung und Besitz, zeitliche Orientierung“ sowie auf der Verortung dieser Prozesse in sozialen Kontexten. 8 Vorwort Als Barbara Job 2004 als Lehrstuhlinhaberin für den Bereich „Sprache und Kommunikation sowie Linguistik romanischer Sprachen“ an die Universität Bielefeld wechselte, zeigte sich auch in ihrer eigenen Forscherinnentätigkeit, wie ein Übergang und ein Spannungsfeld erfolgreich zu einem Innovations‐ schub und einer Neujustierung führen können - ausgehend von einer histo‐ risch arbeitenden, vergleichenden und traditionsverbundenen (und zugleich innovativ und interdisziplinär arbeitenden) Romanistik in Freiburg zu einer jungen Universität, einer Reformuniversität. An der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft übernahm sie den Lehrstuhl von Elisabeth Gülich, deren Arbeiten im Bereich der Konversationsanalyse nicht nur national, sondern auch international prägend waren und sind. Gülichs Arbeiten erschlossen die diagnostische Nutzung der Konversationsanalyse im medizinischen Bereich. Barbara gelang es, in Zusammenarbeit mit Elisabeth Gülich, Ulrich Krafft und Ulrich Dausendschön-Gay ihre Expertise in diesem neuen Umfeld der Kommunikationsanalyse fruchtbar zu machen. Darüber hinaus sind jedoch auch intensive Kooperationen außerhalb der damaligen Romanistik im Bereich der quantitativen Korpuslinguistik entstanden, wie die bereits oben erwähnte Zusammenarbeit mit Alexander Mehler (jetzt Frankfurt/ Main). In den letzten Jahren haben sich ausgehend von ihrem Interesse und ihrer Expertise für Medienumbrüche und die Dynamiken kommunikativer sprachli‐ cher Interaktion im inspirierenden Bielefelder Kontext so verschiedene neue Gebiete erschlossen: Sehr naheliegend für eine Expertin im Bereich des Medienwechsels im Zuge der Verschriftung und Verschriftlichung ist sicher die Beschäftigung mit dem Entstehen neuer computervermittelter Kommunikationsformen und dem medialen Übergang zur Schriftlichkeit im Bereich der Nähesprache sowie der Emergenz neuer, insbesondere webbasierter Gattungen. In diesem Kontext beschäftigt Barbara Job außerdem das Thema der sozialen und sprachlichen Netzwerke im Web 2.0 aus interdisziplinärer Perspektive zu bislang noch nicht systematisch erforschten Zusammenhängen zwischen sozialen und sprachlichen Netzwerken und ihrer Dynamiken, hier im Rahmen des BMBF-Verbundprojekts „Linguistic Networks“. Neben dem Fokus auf dem Aspekt des Medienwechsels erforscht Barbara Job auch diskursive Aspekte computervermittelter Kommunikation im Kontext der Identitätskonstruktion und die Erschließung von Kommunikationsräumen im Migrationskontext in Blogs in einem Verbundprojekt des Bielefelder Center for InterAmerican Stu‐ dies „Die Amerikas als Verflechtungsraum“ in einem mit der Anglistin Anne Schröder geleiteten Projekt zum Thema Virtuelle Kommunikationsräume von Migration und Diaspora. Aus netzwerkanalytischer Perspektive wird dabei 9 Vorwort untersucht, inwieweit die neu entstehenden „Communities of practice“ die Mi‐ grant*innen bei der Vorbereitung der Migration unterstützen und den Übergang in neue Gemeinschaften erleichtern können. Dabei werden die kommunikativen Prozesse vor dem Hintergrund der psychologischen Narrationsforschung als therapeutisches Verfahren zur Verarbeitung und Bewältigung problematischer biographischer Erfahrungen im Vorfeld der Migration analysiert. Daneben forscht Barbara auch zur Entstehung spezifischer sprachlicher Mittel der Nähesprache, insbesondere der pragmatischen Marker, aber auch im Bereich der Kommunikationsstrategien wie Ko-Konstruktionen und align‐ ment. Narrationen von Erlebnissen, hier Anfallsereignissen, stehen auch im Mittelpunkt eines weiteren in den letzten Jahren intensiv bearbeiteten For‐ schungsfeldes, aufbauend auf Elisabeth Gülichs Arbeiten mit Martin Schön‐ dienst (Epilepsiezentrum Bethel) zur Entwicklung einer Differentialdiagnostik im Bereich Epilepsie und dissoziative Erkrankungen auf der Grundlage von sprachlichen Analysen von Anamnesegesprächen und den Schilderungen von Patientinnen und Patienten. Im Rahmen der von Barbara Job geleiteten Biele‐ felder Arbeitsgruppe „Kommunikation in der Medizin“ in Kooperation mit Dr. Joachim Opp (Chefarzt und Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums des Evan‐ gelischen Krankenhauses Oberhausen) und unter Mitarbeit von Heike Knerich, Birte Schaller, Mia Schürmann und Yvonne Fillies wird dieser inzwischen in drei interdisziplinären Forschungsprojekten („Linguistische Differentialty‐ pologie von epileptischen und nicht epileptischen Anfällen bei jugendlichen Patienten“, „Linguistische Analyse von Schmerzschilderungen bei Kindern und Jugendlichen“ und „Linguistische Analyse von Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen über Kollaps-Ereignisse“) beständig weiterentwickelt. Mit der Gründung der Medizinischen Fakultät an der Universität Bielefeld ergeben sich hier vielversprechende neue Kooperationsmöglichkeiten, zumal die AG „Kom‐ munikation in der Medizin“ bei der Curriculumsentwicklung der zukünftigen Mediziner*innen intensiv beteiligt ist. Die Beiträge dieses Bandes reflektieren die Vielschichtigkeit der Forschungsin‐ teressen von Barbara Job und besonders auch ihr interdisziplinäres Interesse: Die ersten drei Aufsätze dieses Bandes sind Themen im Bereich konzeptu‐ eller Nähe und Distanz, hervorgehend aus dem Umfeld des Freiburger SFB „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, gewidmet. Maria Selig und Roland Schmidt-Riese legen eine kritische Auseinan‐ dersetzung mit dem von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entworfenen Nähe-Distanz-Kontinuum, insbesondere in Bezug auf eine adäquate Berücksich‐ tigung der Rolle der Medialität, vor. Im Zentrum steht dabei die Frage nach 10 Vorwort dem Verhältnis der medialen Realisierung (Graphie bzw. Phonie) mit der nähe- oder distanzsprachlichen Konzeption. Im Koch/ Oesterreicher’schen Modell tritt die Medialität, die außerdem scharf von der Konzeption abgegrenzt wird, in den Hintergrund. Selig und Schmidt-Riese argumentieren aufgrund der sehr deutlichen Affinitäten zwischen der Konzeption der Nähe und der phonischen Realisierung sowie zwischen Distanz und Graphie dafür, dass die Trennschärfe zwischen Medium und Konzeption wie auch die Rolle des Mediums insgesamt kritisch überdacht werden sollte. Der Sprachpurismus der Frühen Neuzeit steht im Fokus des Beitrags von Sarah Dessì Schmid. Sie beleuchtet Sprachkultur und Sprachpolitik im Selek‐ tions- und Ausbauprozess der Volkssprachen Italiens und Frankreichs im Span‐ nungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die komplexen Verflechtungen literarischer Produktion und sozialer Praxis werden im Hinblick auf ästhetische und normative Ziele und unter den jeweils speziellen medialen Bedingungen betrachtet, wobei literarische Schriftlichkeit und das Ideal mündlicher Kom‐ munikation am Hof hier das Spannungsfeld der Normierungsbestrebungen darstellen, in dem Italien und Frankreich jeweils eigene Wege gehen. Sascha Diwersy und Katja Ploog untersuchen mikrodiachrone Verände‐ rungen beim Gebrauch des zunächst lokativen französischen Adverbs là auf der Basis einer Korpusanalyse des mikrodiachron angelegten Korpus ESLO-MD, das Daten gesprochener Sprache der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts sowie Daten des 21. Jahrhunderts umfasst. Ausgangspunkt ist die Hypothese, wonach das Lokaldeiktikon là einen der Artikelentstehung der romanischen Sprachen vergleichbaren Weg einschlägt und damit ein Rückgang der lokativen Verwen‐ dungen zu erwarten wäre. Insgesamt ergibt die Studie keine Evidenz für deut‐ liche Wandelprozesse, sehr wohl aber Indizien für eine starke Dynamik, sichtbar in deutlichen Unterschieden zwischen nähe- und distanzsprachlichen Diskurstraditionen, sowie womöglich emergierende intersubjektive Funktionen. Mit Aspekten aus dem Bereich der computervermittelten Kommunikation setzen sich die Beiträge von Esme Winter-Froemel, Tilmann Sutter und Anna Kurpiers auseinander. Esme Winter-Froemel beleuchtet in ihrem Beitrag ebenfalls ausgehend vom Koch/ Oesterreicher’schen Nähe-Distanz-Modell und Barbara Jobs Analyse medieninduzierten, nähesprachlichen Ausbaus die Reorganisation wie auch das Verschwinden, die Ausdifferenzierung und Konvergenzprozesse im Bereich der Diskurstraditionen. Die komplexen Prozesse bei der Herausbildung neuer Diskurstraditionen werden anhand ausgewählter Beispiele wie elektronischer Leserbriefe und Tweets sowie der damit verbundenen neuen Rahmenbedin‐ 11 Vorwort gungen der computervermittelten Kommunikation und der tiefgreifenden Ver‐ änderungen der Text- und Diskurstraditionen herausgearbeitet. Dem kommunikativen Umgang mit technischen Unterbrechungen widmet sich Tilmann Sutters Beitrag, der aus der Perspektive der sozialwissenschaft‐ lichen Medienforschung die Problematik der technisch bedingen Entkopplung von Mitteilung und Verstehen, insbesondere auch bei asynchroner Kommu‐ nikation und der eingeschränkten Verstehenskontrolle bei einem anonymen Publikum in der technisch vermittelten Kommunikation über Telefon, Mas‐ senmedien und internetgestützte Kommunikation diskutiert. Verschiedene Kommunikationsformen und auch kommunikative Gattungen sind dabei auf einem Kontinuum mehr oder weniger stark ausgeprägter technischer Unterbre‐ chungen angesiedelt, was teils durch neue interaktive Kompensationsstrategien abgefedert wird. Anna Kurpiers untersucht die sprachlichen Mittel zur (Selbst-)inszenierung in den sozialen Medien am Beispiel einer Amateursportgruppe von Frauen auf Instagram. Dabei liegt neben der eigentlichen Analyse der Texte unter Einbezug des Bildmaterials und mit einem Augenmerk auf den Zielen der Darstellung ein weiterer Schwerpunkt auf der Methodenreflexion. Beispielhaft werden stilistische Mikroanalysen mit den Mitteln der dekomponierenden interaktio‐ nalen Stilanalyse nach Selting entwickelt. Berücksichtigt werden dabei diverse Komponenten wie Account-Name, das Text-Bild-Verhältnis, der Einsatz von Hashtags und die Verwendung von fachsprachlichen Elementen. Die folgenden Aufsätze untersuchen Übergänge zwischen Sprachen und besondere kommunikative Funktionen von Übersetzung. Die Komplexität der dichterischen Übersetzung steht im Mittelpunkt von Kai Kauffmanns Beitrag. Er untersucht die wechselseitigen Übersetzungen bei Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder und geht dabei auch auf die Besonderheiten der symbolistischen Literatur ein, in deren Auffassung die Über‐ setzungen ureigene literarische Funktionen übernehmen, eine übliche Praxis um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, bei der auch die imitierende und variierende Nachdichtung in einer anderen Sprache künstlerisch genutzt wurde. Daneben stellt Kai Kauffmann auch die Motive der beiden Dichter zur weiteren Vernetzung und je eigenen Positionierung, aber auch zur Pflege ihrer Freundschaft heraus. Bettina Kluge analysiert ein bisher selten untersuchtes Verfahren der audiovisuellen Übersetzung, der sogenannten Voice-over-Übersetzung in den TV-Nachrichten, bei denen versetzt nach einer kurzen Spanne des Originaltons eine auditive Übersetzung diesen überlagert, ein Verfahren, das besonders in dokumentarischen Produktionen zur Herstellung einer größeren Authentizität 12 Vorwort eingesetzt wird, das aber sowohl auf Produktionswie auch auf Rezeptionsseite hochkomplex ist. Bettina Kluge wählt einen Video-Beitrag von Spiegel Online aus dem Jahr 2015 zu einem mass shooting an einem US-amerikanischen College und legt den Fokus auf die Kombination sprachlicher und außersprachlicher Ressourcen und das Verhältnis des übersetzten Texts zum Originalton, wobei insbesondere auch Verfahren des Medienwechsels berücksichtigt werden. Drei sehr unterschiedliche Gesprächstypen werden in den nächsten Bei‐ trägen analysiert. Heike Knerich und Julia Sacher zeigen, wie subjektiv außergewöhnliche Begebenheiten konversationell dargestellt werden und inter‐ aktiv hergestellt und ausgehandelt werden. Dazu werden die unterschiedlichen Verläufe zweier Gespräche der Call-in-Sendung „Domian“, die von 1995 bis 2016 im WDR-Radio und -Fernsehen ausgestrahlt wurde, vergleichend analysiert. Die Anrufer*innen inszenieren den „point“ ihrer Beiträge durch verschiedene kommunikative Mittel, der Moderator der Sendung wiederum versucht mit spezifischen konversationellen Aktivitäten, die aus Hörersicht unterschiedlich ausgeprägte Außergewöhnlichkeit der berichteten persönlichen Erlebnisse her‐ auszuarbeiten oder herzustellen. Peter Menke analysiert gesprächsorganisatorische Strategien in Probe‐ runden zum Erlernen von Gesellschaftsspielen. Diese Proberunden bieten Gesprächssituationen, die diverse, ganz besondere Bewältigungs- und Problem‐ lösungsstrategien erfordern, wobei neben den Verhandlungen und Klärungen zu Spielregeln interessanterweise auf der metadiskursiven Ebene gerade auch Gesprächsregeln wie Turn-taking verhandelt werden. Peter Menke geht dabei insbesondere auch der Frage nach, inwieweit die verschiedenen Ebenen verbal, prosodisch oder multimodal spezifisch gestaltet werden. Hugo von Hofmannsthals „Erfundene Gespräche“ zu Keller, Goethe und Wassermann sind Gegenstand von Jan Andres’ Untersuchung, die sich mit den dialogischen Verfahren in der literarischen Schriftlichkeit auseinandersetzt und die verschiedenen Strategien wie auch Vorbilder und Bezüge der gewählten Texte, die bis in die Antike zurückreichen, und denen die Reflexion über die Rezeption von Dichtung gemein ist, kritisch-reflektierend herausarbeitet und dabei inszenierte Rezeptionshaltungen der auftretenden Figuren, die selbst allerdings kaum individualisiert sind, analysiert. Der letzte Abschnitt des Bandes ist der Kommunikation im medizinischen Kontext gewidmet. Birte Schaller, Mia Schürmann, Yvonne Fillies und Joachim Opp stellen aus dem Kontext der Bielefelder Arbeitsgruppe „Kommunikation in der Me‐ dizin“ die Fallstudie eines Anamnesegesprächs vor, in der die Gesprächsäuße‐ rungen mit eigenen Schilderungen von Anfällen einer jungen Narkolepsie-Pa‐ 13 Vorwort tientin mit dem Ziel der Diagnose analysiert werden. Der Ansatz beruht auf einem von Elisabeth Gülich und Martin Schöndienst entwickelten Verfahren der Gesprächsanalyse von Anamnesegesprächen und der Beobachtung, dass bestimmte konversationelle Muster erkrankungsspezifisch sind und heute in der Praxis insbesondere in der Neurologie und Psychotherapie differentialdi‐ agnostisch eingesetzt werden. Sie schlagen Modifikationen des Verfahrens zur verbesserten Berücksichtigung der noch nicht ausgereiften sprachlichen Kompetenzen der kindlichen und jugendlichen Patient_innen vor. Der Band schließt mit Elisabeth Gülichs Arbeit zur Berücksichtigung der Kommunikation in den verschiedenen Auflagen von 1979 bis 2016 des Lehrbuchs der Psychosomatischen Medizin von Thure von Uexküll, eines Wegbereiters der Psychosomatik, der schon früh sprachliche und kommunikative Aspekte für die Anamnese und Therapie heranzieht. Ihr gelingt es dabei anhand einer Analyse der Gliederung und der Behandlung kommunikativer Aspekte in verschiedenen Kapiteln zu zeigen, dass das Gespräch im Lauf der Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Sie plädiert für eine enge Zusammenarbeit zwischen Sprachwis‐ senschaft und Medizin. Auch wenn die persönliche Übergabe im Rahmen einer Feier in diesem von COVID-19 überschatteten Jahr womöglich schwierig zu realisieren sein wird, so möchten wir Barbara Job doch mit der Herausgabe dieses Bandes ehren. Neben ihrer interdisziplinär offenen, fachlich immer fundierten und theore‐ tisch und intellektuell anspruchsvollen Perspektive schätzen wir Barbara als warmherzige, humorvolle und kluge Lehrerin, Kollegin und Wegbegleiterin und wünschen uns von ihr, dass sie auch in Zukunft neue Terrains erobern möge und wir sie dabei begleiten dürfen. Abschließend möchten wir dem Narr-Verlag und Ulrich Eigler danken für die Aufnahme dieser Festschrift in die Reihe ScriptOralia, die im Bereich der me‐ dialen Übergänge aber eben auch für Barbaras wissenschaftlichen Werdegang einen ganz besonderen Stellenwert einnimmt, Urgozo Ceballos Beitia, Antonia Lins, Nora Scheid und ganz besonders Gabriele Schaller für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts - und Tillmann Bub, Verena Stuhlinger und Corina Popp für die freundliche und kompetente Betreuung der Redaktion. Bettina Kluge, Wiltrud Mihatsch und Birte Schaller 14 Vorwort Literaturverzeichnis Barbara Frank-Job Monographien 1994 Die Textgestalt als Zeichen. Lateinische Handschriftentradition und die Verschriftlichung der romanischen Sprachen, Tübingen: Narr (Script- Oralia 67). 1998 Untersuchungen zum schriftkulturellen Ausbau des Französischen. Habi‐ litationsschrift, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2020 La Migración como Proceso: el Concepto de Temporalidad en Blogs de Migrantes Latinoamericanos a Quebec. Bielefeld: Kipu Verlag (Ensayos InterAmericanos 3). Im Druck Immigration as a Process: Temporality Concepts in Blogs of Latin Ame‐ rican Immigrants to Québec. New Orleans: University of New Orleans Press. (Inter-American Studies/ Estudios Interamericanos 27). Handbuch 1997 Frank, Barbara (mit Jörg Hartmann): Inventaire systématique des premiers documents des langues romanes, 5 Bde., Tübingen: Narr (ScriptOralia 100/ I-V). Herausgeberschaften 1992 (mit Maria Selig und Jörg Hartmann): Le passage à l'écrit des langues romanes. Tübingen: Narr (ScriptOralia 46). 1997 (mit Thomas Haye und Doris Tophinke): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen: Narr (ScriptOralia 99). 2006 (mit Martina Drescher): Les marqueurs discursifs dans les langues ro‐ manes: approches théoriques et méthodologiques. Frankfurt/ Main: Peter Lang. 2013 (mit Alexander Mehler und Tilmann Sutter): Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke. Wiesbaden: Springer - VS Verlag. 2015 (mit Esme Winter-Froemel, Araceli López Serena und Álvaro Octavio de Toledo y Huerta): Diskurstraditionelles und Einzelsprachliches im Sprach‐ wandel - Tradicionalidad discursiva e idiomaticidad en los procesos de cambio lingüístico. Tübingen: Narr Francke Attempto (ScriptOralia 141). 15 Vorwort 2015 (mit Philippe Blanchard, Andy Lücking, Alexander Mehler, und Sven Banisch): Towards a Theoretical Framework for Analyzing Complex Linguistic Networks. Berlin: Springer (Understanding Complex Systems). 2020 (mit Joachim Michael): Angstsprachen: Interdisziplinäre Zugänge zur kommunikativen Auseinandersetzung mit Angst. Wiesbaden: Springer. Aufsätze 1993a (mit Jörg Hartmann). L'Inventaire systématique des premiers documents des langues romanes. Présentation d'une publication préparée par le SFB 321. In: Selig, Maria/ Frank, Barbara/ Hartmann, Jörg (Hrsg.). Le passage à l'écrit des langues romanes. Tübingen: Narr, 31-37. 1993b (mit Jörg Hartmann). Les indications métacommunicatives des premiers documents des langues romanes. In: Selig, Maria/ Frank, Barbara/ Hart‐ mann, Jörg (Hrsg.). Le passage à l'écrit des langues romanes. Tübingen: Narr, 207-226. 1994 Varianten, Fortsetzungen, Neubearbeitungen: Zur Textgeschichte des Conte del Graal von Chrétien de Troyes. In: Tristram, Hildegard (Hrsg.). Text und Zeittiefe. Tübingen: Narr, 118-148. 1996 Convenientia und Treueeid in ihrem soziokulturellen Kontext: Ein Fall‐ beispiel zum Texttypenwandel. In: Tophinke, Doris/ Michaelis, Susanne (Hrsg.). Texte - Konstitution, Verarbeitung, Typik. München: Lincom Europa (= Edition Linguistik 13), 17-33. 1997 Innensicht und Außensicht. Zur Analyse mittelalterlicher volkssprach‐ licher Gattungsbezeichnungen. In: Frank, Barbara/ Haye, Thomas/ To‐ phinke, Doris (Hrsg.). Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Tü‐ bingen: Narr (ScriptOralia 99), 117-136. 2001 72. Schrifttypen und Paläographie/ Types d'écriture et paléographie. In: Holtus, Günter/ Metzeltin, Michael/ Schmitt Christian (Hrsg.). Lexikon der Romanistischen Linguistik, Band I,2: Methodologie/ Méthodologie. Tübingen: Niemeyer, 771-793. 2002a Textkategorisierung in der frühen Romania. In: Drescher, Martina (Hrsg.). Textsorten im romanischen Sprachvergleich. Tübingen: Stauffenburg (Textsorten, Band 4), 171-186. 2002b Zur Rolle des Schreibers in der mittelalterlichen Romania. In: Schubert, Martin (Hrsg.). Der mittelalterliche Schreiber. Themenband zur Zeitschrift Das Mittelalter 7/ 2002, Heft 2, 12-32. 2002c Vulgaris lingua - vulgare illustre - italiano. Kategorisierungen der Mut‐ tersprache in Italien. In: Grimm, Reinhold R./ Koch, Peter/ Stehl, Thomas/ Wehle, Winfried (Hrsg.). Italianità: Ein literarisches, sprachliches und kulturelles Identitätsmuster. Tübingen: Narr, 15-37. 16 Vorwort 2003a Diskurstraditionen im Verschriftlichungsprozeß der romanischen Spra‐ chen. In: Aschenberg, Heidi/ Wilhelm, Raymund (Hrsg.). Romanische Sprachgeschichte und Diskurstraditionen. Tübingen: Narr (= Tübinger Beiträge zur Linguistik), 19-35. 2003b „Mehrsprachigkeit im Übergang vom Latein zum Romanischen“, schriftliche Fassung des Vortrags anlässlich der Tagung „Mehrspra‐ chigkeit in der Antike: Von den Anfängen der Schriftlichkeit bis ins frühe Mittelalter“. Basel-Castelen 2003, veranstaltet von Georges Lüdi, Hans-Peter Mathys und Rudolf Wachter. Abrufbar unter: www.researchgate.net/ publication/ 274380653_Mehrsprachig-keit_ im_Ubergang_vom_Latein_zum_Romanischen (Stand: 15.08.2020). 2005 Sprachvariation und Sprachwandel. Zur Bedeutung von Diskurstraditi‐ onen für die Sprachwandelforschung. In: Gärtner, Kurt/ Holtus, Günter (Hrsg.). Überlieferungs- und Aneignungsprozesse im 13. und 14. Jahr‐ hundert auf dem Gebiet der westmitteldeutschen und ostfranzösischen Urkunden- und Literatursprachen. Beiträge zum Kolloquium vom 20. bis 22. Juni 2001 in Trier. Trier: Kliomedia, 171-193. 2006a Verschriftlichungsprozesse und schriftkultureller Ausbau der romani‐ schen Sprachen im Mittelalter. Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung 129, 89-110. 2006b A dynamic-interactional approach to discourse markers. In: Fischer, Kerstin (Hrsg.). Approaches to Discourse Markers. Amsterdam: Elsevier (= Studies in Pragmatics 1), 395-413. 2006 (mit Martina Drescher). Introduction : Les marqueurs discursifs dans les langues romanes: approches théoriques et méthodologiques. In: Frank-Job, Barbara (mit Martina Drescher). Les marqueurs discursifs dans les langues romanes: approches théoriques et méthodologiques. Frankfurt/ Main: Peter Lang, 7-13. 2007a Le rôle du scribe dans le passage a l'écrit des langues romanes. In: Härmä, Juhani/ Suomela-Härmä, Elina/ Välikangas, Olli (Hrsg.). L'Art de la Philologie. Mélanges en l'honneur de Leena Löfstedt. Helsinki: Société Néophilologique de Helsinki (= Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki, Vol. LXX), 89-100. 2007b Schriftkultureller Ausbau des Französischen im 14. Jahrhundert: das Bei‐ spiel von Nicole Oresme. In: Stark, Elisabeth/ Schmidt-Riese, Roland/ Stoll, Eva (Hrsg). Romanische Syntax im Wandel. Tübingen: Narr, 585-600. 2008 Putain, vivent les fautes: Le passage à l'écrit de l'immédiat communicatif dans les nouveaux médias et son impact sur les conventions du français écrit. In: Budach, Gabriele/ Erfurt, Jürgen (Hrsg.). Standardisation et désta‐ ndardisation: le français et l'espagnol au XXe siècle. Frankfurt/ Main: Lang (= Sprache, Mehrsprachigkeit und sozialer Wandel, Vol. 7), 63-81. 2008 (mit Alexander Mehler, Philippe Blanchard und Hans-Jürgen Eikmeyer). Sprachliche Netzwerke. In: Stegbauer, Christian (Hrsg.). Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 413-427. 17 Vorwort 2009a Les traditions de textes paraliturgiques et le passage à l'écrit du vernacu‐ laire. In: Kullmann, Dorothea (Hrsg.). L'Eglise et la littérature vernaculaire dans la France médiévale. Actes du Colloque tenu au St. Michael’s College. Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies, 35-59. 2009b Formen und Folgen des Ausbaus französischer Nähesprache in computer‐ vermittelter Kommunikation. In: Pfänder, Stefan/ Kailuweit, Rolf/ Cousin, Vanessa (Hrgs.). FrankoMedia: Aufriss einer französischen Sprach- und Medienwissenschaft. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 71-88. 2010a Die Entwicklung deiktischer Ausdrücke zu Diskursmarkern im Kontext von Interaktionsanalyse und Sprachwandelforschung. In: Maaß, Chris‐ tiane/ Schrott, Angela (Hrsg.). Wenn Deiktika nicht zeigen. Zeigende und nichtzeigende Funktionen deiktischer Formen in den romanischen Sprachen. Münster: LIT-Verlag (= Romanistische Linguistik 9), 283-308. 2010b Sprachwandel und Medienwandel. In: Mehler, Alexander/ Sutter, Til‐ mann (Hrsg.). Medienwandel als Wandel von Interaktionsformen — von frühen Medienkulturen zum Web 2.0. Wiesbaden: Verlag für Sozialwis‐ senschaften, 27-45. 2010c Traditions discursives et élaboration écrite des langues romanes au Moyen Âge. Aemilianense [Recurso electrónico]: Revista Internacional sobre la Génesis y los Orígenes Históricos de las Lenguas Romances 2, 13-36. 2010 (mit Sebastian Thies). Kulturwissenschaftliche Linguistik und Literatur‐ wissenschaft: Herrschaft und Schriftkultur in kolonialen Diskurstraditi‐ onen der Amerikas. In: Van Laak, Lothar/ Malsch, Katja (Hrsg.). Literatur‐ wissenschaft interdisziplinär. Heidelberg: Synchron Verlag, 145-167. 2011 Zu den Leistungen eines netzwerkanalytischen Ansatzes für die em‐ pirische Linguistik. In: Dessì Schmid, Sarah/ Detges, Ulrich/ Gévaudan, Paul/ Mihatsch, Wiltrud (Hrsg.). Rahmen des Sprechens. Beiträge zu Va‐ lenztheorie, Varietätenlinguistik, Kreolistik, Kognitiver und Historischer Semantik: Peter Koch zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr Francke At‐ tempto, 3-16. 2011 (mit Alexander Mehler, Nils Diewald, Ulli Waltinger, Rüdiger Gleim, Dietmar Esch, Thomas Küchelmann, Olga Pustylnikov und Philippe Blanchard). Evolution of Romance Language in Written Communication: Network Analysis of Late Latin and Early Romance Corpora. Leonardo 44.3, 244-245. 2012 Codification and Linguistic Norms in Romance Languages. In: Busse, Wilhelm/ Schröder, Anne/ Schneider, Ralf (Hrsg). Codification, canons, and curricula. Description and prescription in language and literature. Bielefeld: Aisthesis Verlag (= Bielefeld Studies in InterAmerican Studies), 142-158. 2012 (mit Bettina Kluge). Die kooperative Konstruktion von Identitäten im virtuellen Kommunikationsraum des Web 2.0. Blogs zum Thema Migra‐ tion nach Québec. In: Gerstenberg, Annette/ Osthus, Dietmar/ Polzin-Hau‐ mann, Claudia (Hrsg.). Sprache und Öffentlichkeit in realen und virtuellen Räumen. Akten der Sektion auf dem 7. Kongress des Frankoromanis-ten‐ 18 Vorwort verbands (Essen, 29.9. -2.10.2010). Bonn: Romanistischer Verlag (= Roman‐ istische Kongressberichte 19), 47-78. 2013 (mit Alexander Mehler und Tilmann Sutter). Interdependenz und Dy‐ namik sozialer und sprachlicher Netzwerke: Konzepte, Methoden und em‐ pirische Untersuchungen am Beispiel des WWW. In: Job, Barbara/ Mehler, Alexander/ Sutter, Tilmann (Hrsg.). Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen an Bei‐ spielen des WWW. Wiesbaden: Springer VS Verlag, 7-20. 2013 (mit Nils Diewald). Kollaborative Aushandlung von Kategorien am Bei‐ spiel des GuttenPlag Wikis. In: Job, Barbara/ Mehler, Alexander/ Sutter, Tilmann (Hrsg.). Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen an Beispielen des WWW. Wiesbaden: Springer VS Verlag, 367-401. 2013 (mit Margarita Borreguero Zuloaga, Elisabeth Gülich, Wolfgang Raible und François Rastier). Littérature, philologie, linguistique: l'unité de la romanistique. In: Buchi, Éva/ Chauveau, Jean-Paul/ Greub, Yan/ Pierrel, Jean-Marie (Hrsg.). Actes du XXVIIe Congrès international de linguistique et de philologie romanes (Nancy, 15-20 juillet 2013). Allocutions de bienvenue, conférences plénières, tables rondes, conférences grand public. Nancy: ATILF/ SLR, 159-188. Abrufbar unter: www.atilf.fr/ cilpr2013/ acte s/ section-0.html (Stand: 15.08.2020). 2014 Der Codex im Diskurs: Formen der Textkonzeptualisierung im roma‐ nischen Mittelalter. In: Helmrath, Johannes/ Haye, Thomas/ Michalczik, Ulrike (Hrsg.). Der Codex im Diskurs. Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. Vol. 25. Wiesbaden: Harrassowitz, 143-166. 2015 Ko-Konstruktionen, alignment und interaction intelligence: Gedanken zum Zusammenhang zwischen Sprache, Kommunikation und Kognition. In: Dausendschön-Gay, Ulrich/ Gülich, Elisabeth/ Krafft, Ulrich (Hrsg.). Ko-Konstruktionen in der Interaktion. Die gemeinsame Arbeit an Äuße‐ rungen und anderen sozialen Ereignissen. Reihe Sozialtheorie. Bielefeld: transcript, 325-348. 2015 (mit Esme Winter-Froemel, Araceli López Serena und Álvaro Octavio de Toledo y Huerta). Diskurstraditionelles und Einzelsprachliches im Sprachwandel: Zur Einleitung / Tradiciones discursivas, tradicionalidad discursiva e idiomaticidad en los procesos de cambio lingüístico, Intro‐ ducción. In: Winter-Froemel, Esme/ López Serena Araceli/ de Toledo y Huerta, Álvaro Octavio/ Frank-Job, Barbara (Hrsg.). Diskurstraditionelles und Einzelsprachliches im Sprachwandel. Tradicionalidad discursiva e idiomaticidad en los procesos de cambio lingüísticon. Tübingen: Narr (= ScriptOralia 141), 1-12. 2015 (mit Bianca Henrichfreise). Diskurstraditionelles im Sprachwandel: Kor‐ puslinguistische Untersuchungen zum Spätlatein. In: Winter-Froemel, Esme/ López Serena Araceli/ de Toledo y Huerta, Álvaro Oc‐ tavio/ Frank-Job, Barbara (Hrsg.). Diskurstraditionelles und Einzelsprach‐ liches im Sprachwandel. Tradicionalidad discursiva e idiomaticidad en los procesos de cambio lingüístico. Tübingen: Narr (= ScriptOralia 141), 159-181. 19 Vorwort 2015 (mit Bettina Kluge). Multilingual Practices in Identity Construction: Vir‐ tual Communities of Immigrants to Quebec. FIAR: Forum for Inter-Ame‐ rican Research 8.1: Transcultural Mobility, 85-108. Abrufbar unter: http: / / interamericaonline.org/ volume-8-1/ job_kluge/ (Stand: 01.08.2020) 2015 (mit Joachim Opp und Heike Knerich). Linguistische Analyse von Anfalls‐ schilderungen zur Unterscheidung epileptischer und dissoziativer Anfälle. Neuropädiatrie in Klinik und Praxis 14.1, 2-10. 2016 (mit Maria Selig). Early evidence and sources. In: Ledgeway, Adam/ Maiden, Martin (Hrsg.). Oxford Guide to the Romance Languages. Part 1: The Making of the Romance Languages. Oxford: Oxford University Press, 24-34. 2017 (mit Elisabeth Gülich, Heike Knerich und Martin Schöndienst). Klinische Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen: Neue Wege in Datenerhebung, Analyse und Auswertung im interdisziplinären Forschungskontext. In: Kochler, Carsten/ Rinker, Tanja/ Schulz, Eberhard: Neurolinguistik, Klinische Linguistik, Sprachpathologie: Michael Sche‐ cker zum 70. Geburtstag. Reihe Cognitio, Vol. 19. Frankfurt/ Main: Peter Lang, 185-217. 2017 (mit Joachim Opp). Hypothesen zur Genese dissoziativer Anfälle anhand der Anfallsschilderungen. Zeitschrift für Epileptologie 30.1, 34-38. 2019 (mit Alexander Mehler und Christian Stegbauer). Ferdinand de Saussure. 1916. Cours de linguistique générale. Payot, Lausanne/ Paris. In: Stegbauer, Christian/ Holzer, Boris. Schlüsselwerke der Netzwerkforschung. Wies‐ baden: Springer VS, 495-498. 2020 Zeitlichkeitskonzepte in Blogs lateinamerikanischer Migranten. In: Ga‐ briel, Christoph/ Pešková, Andrea/ Selig, Maria (Hrsg.). Contact, variation and change in Romance and beyond. Kontakt, Variation und Wandel in und jenseits der Romania. Studies in honor of Trudel Meisenburg. Festschrift für Trudel Meisenburg. Berlin: Erich Schmidt Verlag (= Studi‐ enreihe Romania 35), 479-496. 2020 (mit Joachim Michael). Einleitung: Angstsprachen. Interdisziplinäre Zu‐ gänge zur kommunikativen Auseinandersetzung mit Angst. In: Frank-Job, Barbara/ Michael, Joachim. Angstsprachen: Interdisziplinäre Zugänge zur kommunikativen Auseinandersetzung mit Angst. Wiesbaden: Springer, 1-10. 2020 (mit Heike Knerich/ Joachim Opp). Interaktive Verfahren beim Sprechen über Angst in Anamnesegesprächen mit jugendlichen Patienten. In: Frank-Job, Barbara/ Michael, Joachim. Angstsprachen: Interdisziplinäre Zugänge zur kommunikativen Auseinandersetzung mit Angst. Wies‐ baden: Springer, 169-187. Im Druck Aushandlungen von Wissenszuständen in Gesprächen mit jugendlichen Anfallspatienten. In: Genz, Julia/ Gévaudan, Paul (Hrsg.). Sprechen, Schreiben, Erzählen. Polyphonie in literarischen, medizinischen und pfle‐ gewissenschaftlichen Diskursen. Göttingen: V&R unipress. 20 Vorwort Im Druck (mit Heike Knerich, Birte Schaller und Joachim Opp): Klinische Gesprächs‐ linguistik. Linguistische Beiträge zur Differenzialdiagnostik. In: Müller, Horst M. (Hrsg.). Angewandte Linguistik: Forschungsfragen und Me‐ thoden. Tübingen: Stauffenburg. Rezensionen 2001 Stein, Achim. 1998: Einführung in die französische Sprachwissenschaft, Stuttgart: Metzler (Sammlung Metzler, Band 307). In: Zeitschrift für fran‐ zösische Sprache und Literatur 111.1, 95-97. 2001 Franceschini, Rita. 1998: Riflettere sull‘interazione. Un‘introduzione alla metacomunicazione e all‘analisi conversazionale. Milano: Francoangeli (Materiali Linguistici. Coll. a cura dell‘Università di Pavia, Dipart. di Linguistica, Vol. 22). In: Vox Romanica 60, 281-284. 2007 Cerquiglini, Bernhard. 2004: La Genèse de l'orthographe française (XIIe-XVIIe siècles). Paris: Honoré Champion (= Unichamp-Essentiel 15). In: Romanische Forschungen 119.2, 223-225. 21 Vorwort Nachdenken über Nähe und Distanz Maria Selig / Roland Schmidt-Riese Unser Beitrag möchte Chancen diskutieren, mit dem von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entworfenen Nähe-Distanz-Kontinuum auch in Zukunft zu arbeiten. Er konzentriert sich dabei auf die Unterscheidung zwischen kommu‐ nikativer Nähe und Distanz, sowie auf einige weitere Konzepte der Autoren, die dieser Unterscheidung zugrunde liegen. Wir sehen uns zu diesem Unternehmen zum einen durch Erfahrungen in der romanistischen Lehre ermutigt - den Studierenden scheint das Modell attraktiv und erklärungsmächtig. Zum anderen fordert die sprachtheoretische Tiefe, auf die das Modell selbst rekurriert, die intensive Auseinandersetzung und den kritisch-reflektierten Zugang geradezu heraus. Wir bedauern, unsere Überlegungen nicht mehr mit den Autoren des Nähe-Distanz-Kontinuums teilen zu können. Wir sehen uns aber durch eine biographisch fundierte Loyalität ihnen gegenüber legitimiert, auch kritische Positionen zu beziehen und das Modell weiterzuentwickeln. Die Diskussion wird insgesamt darauf hinausgehen, determinierende An‐ nahmen des Modells zu diskutieren, sie zu schwächen oder gegebenenfalls auch zu stärken, um ihre Adäquation zu erhöhen. Ferner darauf, Annahmen des Modells je für sich und ohne Rücksicht auf andere Annahmen, mit denen sie in Verbindung stehen, zu diskutieren. Wir verbinden damit den Gedanken, dass eine ‚Modularisierung‘ des Nähe-Distanz-Kontinuums die Chance bietet, dessen Potenzial auch dann noch entfalten zu können, wenn bestimmte, unserer Meinung nach reduktive Theorieelemente zurückgewiesen werden. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen als der Versuch zu verstehen, das Modell im Spannungsfeld zwischen aktuellen mediendeterminierten oder medienaf‐ finen Ansätzen und älteren, klassisch gewordenen pragmatisch-funktionalen Ansätzen neu zu situieren und auf diese Weise seine Aktualität unter Beweis zu stellen. Die Autorin und der Autor ind skeptisch in Bezug auf die weit verbreitete Überzeugung, der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte habe frühere Annahmen der Sprachtheorie insgesamt obsolet werden lassen (siehe auch Maas 2016: 89). 1 Stellvertretend seien hier die Positionen von Marshall McLuhan (McLuhan 1962) und Jack Goody (Goody 1986) genannt. 1 Sprachliche Kommunikation - zwischen Bruch und Kontinuum Die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und von gespro‐ chener und geschriebener Sprache beruht auf der Beobachtung eines manifesten Kontrasts. Das, was man den Exterioritätstypus des sprachlichen Zeichens nennen könnte, also seine phonisch-auditive vs. seine graphisch-visuelle Mate‐ rialität und die mit dieser Materialität verknüpften Produktions- und Rezeptionsbedingungen, eröffnet zwei Phänomenbereiche sprachlicher Kommunika‐ tion, die sich unvereinbar gegenüberzustehen scheinen. Gleichzeitig scheint mit diesem medialen Bruch ein evidenter Kontrast zwischen kommunikativen Praktiken und kommunikativen Kompetenzen verbunden zu sein. Schreiben und Lesen sind kulturelle Techniken, die anders erlernt werden müssen als die körperlichen Dynamiken der Phonation und des Hörens; mindestens ebenso wichtig dürfte der Kontrast zwischen den kommunikativen Domänen sein, die wir mit den Exterioritätstypen assoziieren, auch wenn die digitale Schriftlichkeit im Netz diese Differenz gerade einzuebnen scheint. Um eine Metapher zu be‐ mühen: Mündlichkeit und Schriftlichkeit erscheinen wie zwei kommunikative Plateaus, die durch die mediale Differenz wie durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Man muss nicht lange suchen in den zahlreichen Texten, die die (sprachliche) Medialität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu Kommunika‐ tion, Wissen, Normen und Sozialität stellen. In dieser jahrtausendealten Debatte sind Stimme und Schrift in aller Regel unvereinbare Gegensätze, Gegensätze, die zur Parteinahme auffordern, gegen die Schrift als zerstörerischen Eindring‐ ling in authentische Verständigung oder gegen die Stimme als überwundene Frühstufe in einer kognitiv-kommunikativen Erfolgsgeschichte. 1 Dass der Gegensatz nicht so abgrundtief ist, dass sich Brücken ergeben, die diesen Abgrund überspannen, scheint man aber auch immer irgendwie gewusst zu haben. Letztendlich ist ja die Sprache die Brücke, denn diesseits und jenseits der medialen Dichotomie werden offenbar identische sprachliche Formen mit offenbar identischer Bedeutung verwendet, Formen, die man also in beide Richtungen über die Brücken schicken kann, von der Phonie in die Graphie und zurück. Es sollte uns zu denken geben, dass der (mediale) Abgrund zunächst, vor der Professionalisierung der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert, von den Philosophen angesprochen wurde, während die Grammatiktradition die sprachlichen Zeichen (von der Schrift aus) als medienunabhängige Entitäten 24 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese konzipierte und die Brücken, den Transfer von einem Medium in das andere, dabei als selbstverständlich voraussetzte. Wir können die Geschichte der Mündlichkeits-/ Schriftlichkeitsdebatte hier nicht weitererzählen. Wir müssen aber auf sie verweisen, denn Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben sich mehrfach auf sie bezogen. Der Medialitätsdiskurs der Sprachwissenschaft, aber auch der kultur- und sozialwissenschaftliche, erscheinen bereits im grundlegenden Manifest von 1986 (Koch/ Oesterreicher 1985) als Hintergrund, vor dem sich ihre theoretischen Präzisierungen und ihre terminologischen Vorschläge abzeichnen sollen. Der Hintergrund, das ist also das nahezu verfahrene Wechselspiel zwischen den beiden Polen der Diskussion: auf der einen Seite die Denker*innen, die Medialität in ihr Denken integrieren und ihr einen wichtigen Platz im kommunikativen Handeln geben möchten, gleichzeitig aber die mediale Dichotomie immer mehr festzurren und die Brücken unpassierbar machen; auf der anderen Seite diejenigen, die das Gemeinsame auf beiden Seiten der medialen Dichotomie sehen, aber gleichzeitig Medialität als arbiträr einstufen und damit wesentliche Aspekte sprachlicher (und kulturell-sozialer) Variation unsichtbar machen. Wir alle wissen, wie es weitergegangen ist. Peter Koch und Wulf Oester‐ reicher setzen sich radikal vom Medium ab und fokussieren, anstelle des Ge‐ gensatzes graphisch/ phonisch, die Konzeption, ein „multiples Spektrum unver‐ söhnter Gegensätze“ (Feilke 2016: 120), das erst in einem zweiten Schritt durch die umfassende Generalmetapher von Nähe und Distanz zusammengeschlossen wird. Die beiden Terme sind konträr, aber nicht kontradiktorisch, sie spannen also bereits in ihrer wechselseitigen Implikation ein Kontinuum auf (siehe Feilke 2016: 123). Dieses Kontinuum nachzuweisen, also den Übergang, die Durchlässigkeit zwischen den kommunikativen Räumen, die die Medialitäten abgrenzen, nachzuweisen, war eine zentrale Intention der Autoren. Sie sind deshalb an der Konzeption erkennbar stärker interessiert als an dem, was sie Medium nennen, am Gegensatz von Graphie und Phonie. Gleichzeitig dominiert der Wunsch, das Medienunabhängige der im Kontinuum modellierten kommu‐ nikativen Variation sichtbar zu machen. Die mediale Dimension gerät deshalb ins Hintertreffen, man könnte sagen, willentlich, weil die ganze Energie darauf konzentriert ist, das Bild der beiden, durch den medialen Abgrund getrennten Plateaus durch das Bild des Kontinuums, der Möglichkeit eines bruchlosen Übergangs von der Nähe zur Distanz, zu überblenden. Es gibt klare sachliche Gründe für die Zurückweisung des dichotomischen Denkens. Eines der zentralen Argumente von Peter Koch und Wulf Oester‐ reicher für die Fokussierung der sprachlichen Konzeption (auf Kosten der Fokussierung der technischen Realisation der sprachlichen Formen) ist die 25 Nachdenken über Nähe und Distanz Beobachtung, dass die Unterscheidung von kommunikativer Nähe und Distanz auch in schriftlosen Kulturen gegeben ist. Rituelles und poetisches Sprechen ist, so die Annahme, in allen menschlichen Kulturen vom Alltagssprechen abgehoben und in den verwendeten sprachlichen Formen unterschieden. Diese Annahme scheint uns plausibel, selbst wenn die Unterschiede verschieden groß sein mögen. Für die Autoren ist ferner entscheidend, dass nicht nur die sprachlichen Formen zwischen Ritual, Poesie und Alltag variieren, sondern eben auch die kommunikativen Rahmensetzungen. Auch dieses Argument scheint uns evident, weil eine Variation aufscheint, die ganz klar medienunabhängig ist und anthropologisch in der Tatsache verankert zu sein scheint, dass die unterschiedlichen Bereiche sprachlichen Handelns von Anfang an, vor jeder medialen Weiterentwicklung, spezifische Bedingungen für das sprachliche Handeln setzen. Nur stellt sich in der gerade skizzierten Perspektive die Erfindung der Schrift unvermutet als trivial dar - als eine Erfindung, die die Bedingungen menschlicher Kommunikation nicht wesentlich, sondern eben nur quantitativ verschoben hätte, in Richtung auf eine bequemere Handhabbarkeit der Distanz, auf eine distanziertere Distanz. Dies scheint uns wenig überzeugend. Die Erfindung der Schrift schafft nie dagewesene Bedingungen für die Sprache. Ihre Wirkmächtigkeit in historischer Hinsicht, die Bedeutung der Entwicklung von Schriftkulturen, die ganz anders geartete Möglichkeit zur Distanzierung des*der Schreiber*in vom Kommunikat und die damit einhergehenden Möglich‐ keiten zu dessen Ausgestaltung werden übrigens von Peter Koch und Wulf Oesterreicher niemals bestritten, sondern in Passagen zur Geschichte der Kom‐ munikation überdeutlich herausgestellt. Ihre Überlegungen zur romanischen Sprachgeschichte und zu Ausbau- und Überdachungsprozessen (siehe etwa Koch/ Oesterreicher 2011: 135-154, 183-196, 223-236) zeigen immer wieder, dass für sie die von der Schrift eröffneten Möglichkeiten, etwa die verän‐ derten Wahrnehmungs- und Kontrollmöglichkeiten oder die Möglichkeiten der Archivierung oder Zentralisierung, entscheidende Faktoren der historischen Entwicklungen sind. Für die Formulierung der theoretischen Grundlagen und für die Entwicklung des Modells scheinen diese historischen Einsichten aber nicht zu gelten. Hier schließen sich die Autoren der Denktradition an, die den Exteriorisierungstypus als kontingent betrachtet und die Brücke der Transkodierung zwischen den beiden Räumen fokussiert. Mit diesem Schulterschluss ist dann leider aber ein begrifflicher Kurzschluss verbunden: Das mediale Substrat kann in der Tat ausgetauscht werden, aber nur dann, wenn Medialität ausschließlich am - autonom zu denkenden - Zeichenkörper verankert wird. Die Medialität des 26 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese Formulierens, der Spracharbeit, der kommunikativen Interaktion, ist dagegen nicht austauschbar. Beide Medialitäten sind möglich, aber wenn wir kontrol‐ lieren, was mit den Formen im jeweils anderen medialen Raum, auf dem jeweils gegenüberliegenden Plateau passiert, kann von Austauschbarkeit nicht mehr die Rede sein. Medialität ist im Modell von Koch und Oesterreicher sekundär, ja letztendlich zu vernachlässigen. Das Verhältnis zwischen Exterioritätstypen und den sprachlichen Strukturen zwischen Nähe und Distanz haben sie mit dem Begriff der Affinitäten beschrieben. Das ist natürlich nicht falsch, aber es bleibt unbefriedigend. Es erscheint als eine zu schwache Annahme. Die Affinitäten kommen als eine empirisch beobachtbare Größe daher, für deren Annahme es kein theoretisches Fundament gibt, die folglich ebenso gut nicht gegeben sein könnten. Dies erscheint uns als reduktionistisch und wir wollen hier dagegen argumentieren. Wir wollen die historische Tragweite der Schrift, also des Exteriorisierungstyps und der mit ihm verbundenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, im Modell klar zum Ausdruck bringen. In der schematischen Darstellung von Koch und Oesterreicher dominiert der Gedanke der bloßen Affinität von Exterioritätstypus und Konzeption, und diese Verein‐ fachung macht das Modell auch so leicht lesbar. Wie aber ist das Modell zu lesen, wenn die Medialität und die mit ihr zusammenhängende kommunikative Variation mitgedacht werden? 2 Konzeptionelle Variation: die kommunikativen Parameter Was Nähe und Distanz trennt und verbindet, sind nach Koch und Oesterreicher variierende Bedingungen der Kommunikation und damit verknüpfte variie‐ rende sprachliche Techniken. Auf das genaue Verhältnis zwischen situativen Bedingungen und sprachlichen Konsequenzen kommen wir später noch zu sprechen. Hier soll es zunächst nur um die Mehrdimensionalität der kommu‐ nikativen Variation gehen. Denn mit der Distanzierung von der Medialität war auch der Schritt von der eindimensionalen Gegenüberstellung zweier Exterioritätstypen zu einem mehrdimensionalen kommunikativen Variations‐ kontinuum verbunden. Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben in ihrem 1986 erschienenen Aufsatz zehn Parameter formuliert, Variationsdimensionen, die die Variation ordnen und Parameterwerte zwischen Nähe und Distanz bestimmen. Das Inventar haben sie später kaum mehr verändert. Das Zeichen der Unabgeschlossenheit „etc.“ begleitete zwar von Anfang an dieses Inventar (Koch/ Oesterreicher 1985: 23; siehe auch Oesterreicher/ Koch 2016: 24), aber die Frage der Auswahl, des Umfangs und der internen Relationierung der Parameter wurde nie ausführlich thematisiert. Es entstand schnell der Eindruck, 27 Nachdenken über Nähe und Distanz 2 Im Folgenden verwenden wir „Texttyp“, „Gattung“ und „Diskurstradition“ als Quasi-Synonyme, obwohl dadurch die unterschiedlichen linguistischen bzw. literatur‐ wissenschaftlichen Hintergründe der Terminologien verdeckt werden. Im vorliegenden Kontext kommt es uns aber ausschließlich auf den gemeinsamen begrifflichen Kern, die sozial-geschichtliche Normativität von Vertextungsformen, an. die Bestandsaufnahme der situativen Seite des Modells sei abgeschlossen und in der vorgeschlagenen Form nicht weiter zu begründen. Diskussionsbedarf bestand und besteht aber durchaus. Wie verhält es sich beispielsweise mit dem Parameter der „face-to-face-Interaktion/ raum-zeitliche Trennung“ (Koch/ Oesterreicher 1985: 23) bzw. der „physischen Nähe/ Distanz der Kommunikationspartner“ (Koch/ Oesterreicher 2011: 7; Oesterreicher/ Koch 2016: 24)? Klar war von Anfang an, dass es sich in diesem Fall nur um ein Entweder-Oder handeln konnte, und dass somit jeder Gedanke an eine graduelle Variation ausgeschlossen war (Koch/ Oesterreicher 2011: 7; Oesterreicher/ Koch 2016: 24-25). Außerdem - und das wurde in der Rezeption des Modells in der Germanistik immer wieder herausgestellt - war der Parameter unmittelbar mit der medialen Dichotomie verknüpft. Vielleicht könnten wir sogar sagen, dass die Autoren in der scheinbar sorglosen Verwendung dieses (annähernd) dichotomischen Parameters bei der Beschreibung der Konzeption unbemerkt in eine Beschreibung der Bedingungen dessen wechseln, was sie Medium nennen, den Gegensatz von Graphie und Phonie. Der Parameter der physischen Nähe/ Distanz bleibt in jedem Falle sperrig und er scheint auch gar nicht zu den anderen Parametern zu passen, weil er in den Diagrammen, mit denen die kommunikativen Bedingungen der einzelnen Texttypen 2 als Konstellationen zusammengefasst werden, regelmäßig für wilde Ausschläge nach rechts oder links sorgt, die dem Bild eines kommunikativen Kontinuums so gar nicht entsprechen wollen (Koch/ Oesterreicher 2011: 8-9). Diese Diskussion könnte man noch unter dem Stichwort der fehlenden Aus‐ arbeitung der Medialität verbuchen. Ganz anders und viel grundsätzlicher muss aber die Kritik an der additiven Reihung der Parameter eingestuft werden. Es kann der Eindruck entstehen, Koch und Oesterreicher hätten eine Liste zusam‐ mengestellt, die „eine Gleichheit der einzelnen Kommunikationsbedingungen […] suggeriert“, obwohl ein hierarchisiertes Modell mit klarer Gewichtung der einzelnen Parameter notwendig wäre (Ágel/ Hennig 2007: 183). Koch und Oesterreicher geben in ihrer Monographie zur gesprochenen Sprache in der Ro‐ mania eine knappe Begründung der Parameterwahl (siehe Koch/ Oesterreicher 2011: 6). Sie benennen die „wichtigsten Instanzen und Faktoren der sprachlichen Kommunikation“, eine Auflistung der Instanzen, wie wir sie aus gängigen Kommunikationsmodellen kennen (Produzent*in, Rezipient*in, Diskurs/ Text, 28 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese Gegenstände/ Sachverhalte); darüber hinaus geben sie auch eine kondensierte Beschreibung der „schwierigen Formulierungsaufgabe“, die „im Spannungsfeld zwischen der Linearität sprachlicher Zeichen, den Vorgaben der Einzelsprache und der komplexen, vieldimensionalen außersprachlichen Wirklichkeit [steht]“. Der nächste Satz macht noch einmal die Fokussierung der Versprachlichungsanforderungen deutlich, die im Zentrum des Nähe-Distanz-Kontinuums steht: „Produzent und Rezipient sind eingebunden in personale, räumliche und zeit‐ liche Zeigfelder (Deixis), in bestimmte Kontexte und in bestimmte emotionale und soziale Bezüge.“ (Koch/ Oesterreicher 2011: 6). Es gibt also durchaus theore‐ tische Überlegungen zur Herleitung der Parameter. Die Frage, ob die „ungeord‐ nete Menge“ (Hennig 2006: 74) in hierarchische Strukturen umgedeutet werden sollte, wird aber durch diese Trennung von Instanzen der Kommunikation, darauf zu beziehenden Kommunikationsbedingungen, den allgemeinen Bedin‐ gungen der sprachlichen Formulierungsarbeit und den wiederum darauf zu beziehenden Versprachlichungsstrategien selbstverständlich nicht beantwortet. Auch die unterschiedlichen Bezugsbereiche der Parameter riefen und rufen immer wieder Kritik hervor (siehe Feilke 2016: 125, Anm. 2). Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben selbst eine thematische Gruppierung der Para‐ meter vorgeschlagen und den Parameter f) als „physische Nähe/ Distanz“, die Parameter a)-d) und g) und h) als „soziale Nähe/ Distanz“, den Parameter e) dagegen als „referentielle Nähe/ Distanz“ eingeordnet (Koch/ Oesterreicher 2011: 10). Wir selbst gehen von folgenden Zuordnungen aus (die Benennung der Parameter folgt Oesterreicher/ Koch 2016: 24; es sind jeweils nur die Nähewerte eingetragen; siehe auch Selig i.Dr.): a) Privatheit b) Vertrautheit c) Emotionalität soziale (emotive) Bedingtheiten: Relation der Kommunikationspartner*innen d) Situations- und Handlungseinbettung e) referentielle Nähe kognitive Bedingtheiten: Verschränkung zwischen Kommunikat und Sprechsitua‐ tion f) physische Nähe g) Kooperation h) Dialogizität prozessuale Bedingtheiten: Interakti‐ vität der Versprachlichung i) Spontaneität j) freie Themenentwicklung prozessuale Bedingtheiten: Planungs‐ möglichkeiten und Grad der Fokussierung der Textualität Tab. 1: Gruppierung der Parameter nach Bezugsbereichen 29 Nachdenken über Nähe und Distanz Selbstverständlich bedingt eine Gruppierung, wie in Tab. 1 vorgeschlagen, auch Verkürzungen. Die Subsumtion der Vertrautheit unter die Emotivität ist insoweit nicht uneingeschränkt gerechtfertigt, als dieser Parameter b) im Nähe-Distanz-Kontinuum teilweise auch auf die Quantität und Qualität der geteilten Wissenskontexte abgestellt ist, die unmittelbar kognitiv relevant sind (siehe Koch/ Oesterreicher 2011: 7). Auch der Parameter h) ist bei Koch und Oesterreicher doppelt ausgerichtet, weil er einerseits „die Möglichkeit und Häufigkeit einer spontanen Übernahme der Produzentenrolle“ erfasst, andererseits aber auch auf den Grad und die Art der „‚Partnerzuwendung‘“ abstellen soll (Koch/ Oesterreicher 2011: 7); er kombiniert also kognitive und sozial-emotive Aspekte. Auch die inhaltliche Zuordnung dürfte nicht immer konsensfähig sein, beispielsweise wenn wir vorschlagen, Parameter i) und j) in erster Linie mit der Möglichkeit und Notwendigkeit der Konzentration auf die sprachliche Kommunikation und die Erstellung eines in sich konsistenten Textes in Verbindung zu bringen. Insgesamt aber wird, so meinen wir, deutlich sichtbar, dass die Parameter einerseits in einem sozial-emotiven Bereich situiert sind, der die variable Gestaltung der interpersonalen Voraussetzungen und Zielsetzungen anbetrifft, andererseits in einem Bereich, der die kognitiven und prozessualen Rahmenbedingungen der Formulierungsarbeit umfasst. In der Rezeption des Nähe-Distanz-Kontinuums in der Germanistik wurde nun gerade die Verknüpfung sozialer und kognitiver Dimensionen der Variation als auffällig, teilweise sogar als unberechtigt eingestuft. Im Modell von Ágel und Hennig beispielsweise (siehe Ágel/ Hennig 2006) sind die sozial-emotiven Para‐ meter nicht berücksichtigt, weil, so die Begründung, die Konzentration auf die grammatischen Aspekte der Nähe-Distanz-Unterscheidung die Entscheidung für einen engen Begriff der situativen Bedingungen notwendig mache (siehe dazu etwa Hennig 2006: 74-75). Auch Roland Kehrein und Hanna Fischer folgen dieser Ausgliederung der sozial-emotiven Dimension (siehe Kehrein/ Fischer 2016). Sie führen empirische Daten an, die belegen, dass der Dialektalitätsgrad bei der Variation zwischen den Textsorten „persönliches Gespräch“ und „Inter‐ view“ offensichtlich eher von sozial-identifikatorischen Faktoren bestimmt wird als von den von Ágel und Hennig vorgeschlagenen (prozessualen) Kriterien der Nähesprachlichkeit. Sie folgern daraus, dass die sozial-emotiven Dimensionen für die Modellierung einer eigenständigen Ebene mit den Polen der „interindi‐ viduell-sozialen Vertrautheit“ vs. „Fremdheit“ bzw. der „Sprache der Vertraut‐ heit“ vs. „Fremdheit“ genutzt werden sollten (Kehrein/ Fischer 2016: 245-252). Andere Ansätze betonen die Notwendigkeit, „sozial-kulturelle Dimensionen gesellschaftlicher Kommunikation und kognitiv-konzeptionelle Dimensionen getrennt in den Blick zu nehmen“ (Knobloch 2016: 81). Die Rezeption betonte 30 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese 3 Dies gilt nur bedingt für die französischen, spanischen und englischen Fassungen des Nähe-Distanz-Kontinuums, die statt von Nähe von Unmittelbarkeit (fr. immédiat; sp. inmediatez; engl. immediacy) sprechen (siehe Oesterreicher/ Koch 2016: 38 Anm.). Wir gehen aber davon aus, dass die Bedenken gegenüber dem metaphorischen „Kuschelef‐ fekt“ des Modells (Maas 2016: 91) dadurch auch nicht ausgeräumt werden. andererseits aber auch, dass es gerade das Einbeziehen der sozial-emotiven Dimension ist, die das Spezifische des Nähe-Distanz-Kontinuums ausmacht. Und wir sollten nicht vergessen, dass sich ein großer Teil der intuitiven Kraft des Modells daraus ergibt, dass die Generalmetapher der Nähe und Distanz in erster Linie sozial-emotive Konnotationen hervorruft und gerade hier mit der Gegenüberstellung der beiden komplementären Pole überzeugen kann. 3 3 Situationsentwürfe, Kommunikationsbedingungen, Versprachlichungsstrategien und Kommunikate - eine Präzisierung des Nähe- Distanz-Kontinuums Wir haben zwei problematische Aspekte des Nähe-Distanz-Kontinuums be‐ nannt, die das Arbeiten mit dem Modell behindern. Dies sind die mangelnde Berücksichtigung der medialen Variabilität der Kommunikation und die sehr offene, zu Missverständnissen geradezu einladende Auswahl und Relationie‐ rung der Parameter, die die Variabilität der kommunikativen Bedingungen zu beschreiben suchen (siehe Koch/ Oesterreicher 2016: 12). Es sind, wie bereits angesprochen, Aspekte, die zur Ablehnung des Modells geführt haben oder Wei‐ terentwicklungen angeregt haben, die, recht betrachtet, Gegenentwürfe sind. Im Folgenden werden wir die Kritik als Ausgangspunkt für den Versuch einer Präzisierung des Modells nutzen. Wir berücksichtigen dabei beide Kritikpunkte, den Hinweis auf das Fehlen des Mediums und die Kritik an der mangelnden Strukturierung der mehrdimensionalen situativen Variation. Beginnen müssen wir mit dem umfassenderen Aspekt, nämlich mit der Beobachtung, dass Peter Koch und Wulf Oesterreicher bei der Dimensionierung der situativen Variation einen wesentlichen Schritt übersprungen haben, der, sobald er ins Modell eingebaut ist, die Kritik an der Parameterauswahl und -zusammenstellung entscheidend nuanciert. Das Nähe-Distanz-Kontinuum ist bekanntlich aus der Fusion zweier For‐ schungsansätze entstanden. Der erste Ansatz ist Ludwig Sölls Unterscheidung zwischen dem medialen und dem konzeptionellen Aspekt der Gegenüberstel‐ lung von geschriebenem und gesprochenem Französisch (siehe Söll 1985; siehe Koch/ Oesterreicher 1985: 17 f.). Es ist zu betonen, dass Söll in der Tradition 31 Nachdenken über Nähe und Distanz 4 Siehe hier auch Feilke 2016: 125 f. Ágel/ Hennig (2006) gehen hinter diese Entwicklung zurück, wenn sie die konzeptionelle Variation aus einem einzigen Situationsparameter herleiten. Diese Reduktion des Untersuchungsfokus ermöglicht dann zwar die Kon‐ struktion eines strikt linearen Modells. Die Frage ist aber, was durch diese Reduktion einer anerkanntermaßen komplexeren Gemengelage gewonnen ist. Auch der Verweis darauf, dass das vorgeschlagene Modell sich auf die grammatischen Aspekte konzen‐ triert, hilft nicht weiter. Denn es ist gerade nicht klar, dass die Raum-Zeitlichkeit jede weitere grammatikrelevante Variabilität erklären kann und ein Zusammenspiel mehrerer gleichberechtigter Parameter von vornherein ausgeschlossen ist. einer ausschließlich auf sprachliche Merkmale konzentrierten varietätenlingu‐ istischen Forschung steht und dass er seine Unterscheidung von code écrit und code parlé unmittelbar aus medialen Kommunikationsbedingungen, etwa aus der physischen Nähe vs. Distanz, herleitet (siehe dazu Selig 2018: 259). Die Söll’sche Unterscheidung steht in diesem Punkt also dem Modell von Ágel und Hennig (siehe Ágel/ Hennig 2006) näher als dem Nähe-Distanz-Kontinuum. Der zweite Traditionsstrang, der in das Nähe-Distanz-Kontinuum eingeht, kommt aus der historischen Soziolinguistik. Er ist, anders als der Ansatz von Söll, texttypologisch basiert. Es handelt sich um die Modellierung sprachlicher Kommunikation, die Hugo Steger und seine Mitarbeiter*innen im Anschluss an die Analyse eines Korpus von Texten der gesprochenen deutschen Gegen‐ wartssprache vorgeschlagen haben. Sie formulieren ein Modell, das explizit Textlinguistik und Soziolinguistik miteinander verknüpft, indem es situative Merkmale zu „Redekonstellationen“ gruppiert, die die sprachliche Gestalt des jeweiligen „Textexemplars“ nicht direkt, sondern vermittelt über die Ebenen des „Redekonstellationstyps“ und der „Textsorte“ bestimmen (Steger et al. 1972; siehe Koch/ Oesterreicher 1985: 19-21). Unseres Erachtens liegt nun gerade in der Kombination des Söll’schen Ansatzes, der ohne Verweis auf Text bzw. Textsorten auskommt, und dem textsortenzentrierten Ansatz von Steger einer der größten Vorteile des Nähe-Distanz-Kontinuums. 4 Denn mit dem expliziten Verweis auf die textsortenbezogene Strukturierung der Variation bereits auf der Ebene der Situationsbedingungen bietet sich die Möglichkeit, die Abhängigkeit der Versprachlichungsstrategien von den Kommunikationsbedingungen nicht als eine lineare, von den einzelnen Bedingungen direkt zu den einzelnen sprach‐ lichen Konsequenzen weitergereichte Determinierung zu konzeptualisieren. Stattdessen wird die zentrale Rolle der Textsorten/ Gattungen/ Diskurstraditi‐ onen hervorgehoben, die bereits vor den einzelnen Kommunikationsakten aus ihren je zu verhandelnden Zielsetzungen heraus Parameterwerte zu Konfigura‐ tionen bündeln, die konventionalisiert sind und Sprecher*in und Hörer*in einen holistischen Zugriff auf die Kommunikationssituation erlauben. 32 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese 5 Die hier vorgetragene Argumentation setzt voraus, dass man die Berechtigung einer Begrifflichkeit anerkennt, die nicht vollständig determinierbare Gesamtheiten als Einfluss- oder Bezugsgrößen menschlichen Handelns benennt. Dazu ist zu bemerken, dass die von uns gewählten Begriffe eine sachlich gegebene Verwobenheit von Einfluss‐ größen konzeptualisieren. Der analytische Zugang, der Einzelfaktoren benennt und nachverfolgt, ermöglicht größere Klarheit und lässt unterschiedliche Gewichtungen erkennen. Leider führt er in vielen Fällen aber dazu, dass nicht nur auf dem Papier, sondern auch in re Faktoren nacheinander geschaltet werden, statt in ihrem realen Zusammenwirken untersucht zu werden (siehe etwa Knobloch 2016: 81; Zeman 2016: 261; siehe aber Feilke 2016: 124-125). Kommunikation erscheint im Rahmen derartiger Überlegungen als ein Handeln, das sozial verfestigte Ensembles von Zielsetzungen, Bedingungen und Kommunikationsstrategien nutzen kann, um spezifische Kommunikations‐ situationen mit den ihnen eigenen Relevanzsetzungen zu generieren. Selbst‐ verständlich nur im Sinn eines Entwurfs, der mit den aktuellen situativen Parameterwerten abgeglichen werden muss, und der durch den Fortgang der Kommunikation jederzeit revidiert werden kann; ebenso unterscheiden sich die einzelnen Muster hinsichtlich ihres Spezifitätsgrads und hinsichtlich ihrer zeit‐ lichen Projektionsfähigkeit. Der Verlauf und die Gestaltung eines persönlichen Gesprächs werden nicht durch ein durchgehendes Ablaufmuster bestimmt, son‐ dern durch die Dynamik der Gesprächssituation. Das Bewerbungsgespräch, die universitäre Vorlesung oder die Gerichtsverhandlung sind dagegen durchaus als vollständige Skripte abgespeichert und gewähren entsprechend weniger gestal‐ terischen Freiraum. Um der Dynamik der Verschränkung von Situationsmuster und situativen Gegebenheiten ebenso wie der zeitlichen Offenheit der Determi‐ nierung Rechnung zu tragen, sprechen wir deshalb vom „Situationsentwurf “, der die Gesamtheit der funktionalen, sozialen, kognitiven, situativen, medialen und prozessualen Bedingungen integriert und erst durch die Interaktion aller Parameter im Rahmen einer vollständig, also auch hinsichtlich der kommuni‐ kativen Funktion bestimmten Situation über die konzeptionelle Ausrichtung entscheidet (siehe Tophinke 2016: 306). Jede analytische Zergliederung dieses Gesamtzusammenhangs in seine einzelnen Dimensionen muss den Schritt zur übergeordneten Ganzheit immer mitbedenken und für die Argumentation offenhalten. 5 Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben immer wieder betont, dass nicht der einzelne Parameter, sondern erst das Gesamt aller Parameter die Konzeption bestimmen kann (siehe vor allem Oesterreicher/ Koch 2016: 24-25; siehe auch Selig 2017). Das Nähe-Distanz-Kontinuum kennt also die zentrale Rolle, die der Textsorte/ Gattung/ Diskurstradition im kommunikativen Handeln zukommt. Im Modell selbst gibt es aber nur noch die unkommentierte Liste der Parameter, 33 Nachdenken über Nähe und Distanz und die Reihung der Diskurstraditionen entlang des konzeptionellen Konti‐ nuums illustriert die konzeptionelle - und medienunabhängige - Variation, wird aber nicht dazu genutzt, noch einmal die Funktion der Diskurstraditi‐ onen zu spezifizieren. Die entscheidende Rolle, die sie der Bündelung der Kommunikationsbedingungen in den Diskurstraditionen zuweisen, kommt auch in dem Theorieelement zum Ausdruck, das wegen seiner Sperrigkeit so gar nicht überzeugen kann: in der Visualisierung des konzeptionellen Profils einer Diskurstradition durch die ‚Blitze‘, die die Parameterwerte miteinander verbinden (siehe etwa Oesterreicher/ Koch 2016: 30). Die Autoren waren immer überraschend gleichgültig gegenüber der offensichtlichen Diskrepanz zwischen dem Aufdecken der Heterogenität der Parameter im analytischen Zugriff und dem homogenisierenden - synthetisierenden! (siehe Oesterreicher/ Koch 2016: 25) - Einordnen auf der eindimensionalen Nähe-Distanz-Skala. Sobald man sich klarmacht, dass es für diesen abschließenden Schritt auf den gesamthaften Situationsentwurf ankommt, nicht auf die einzelnen Parameter, wird diese Gleichgültigkeit leichter verständlich. Die nicht selten arbiträr erscheinende Bündelung von Kommunikationsbe‐ dingungen in den Diskurstraditionen erklärt auch, weshalb das Modell darauf verzichtet, eine interne Relationierung der Parameter vorzunehmen: Die Para‐ meter und Parameterwerte müssen offen für äußerst variable Zusammenstel‐ lungen und ganz unterschiedliche Relevanzsetzungen sein. In dieser Hinsicht ist die Formulierung im Modell und die theoretische Herleitung also durchaus kon‐ sistent. Auch die Vollständigkeit der Parameter stellt sich vor dem Hintergrund einer diskurstraditionellen Argumentation als weniger dramatisch dar: Es ist klar, dass die Parameter nur eine Auswahl aus den Gegebenheiten darstellen, die für die Definition einer Diskurstradition notwendig sind. Ausgewählt wurden Parameter, die Koch und Oesterreicher als unmittelbar relevant für die „Formu‐ lierungsaufgabe“ (Koch/ Oesterreicher 2011: 6), also die sprachliche Form der Kommunikate einstufen. Beispielsweise gibt es keinen Versuch, die thematische Prägung der Textsorten, etwa die Zuordnung zu bestimmten gesellschaftlichen Handlungsbereichen oder die rhetorische Funktionalität, die argumentative, narrative, appellative, persuasive Ausrichtung, in das Modell zu integrieren. Vollständig ist das Modell dagegen in der Hinsicht, dass es sozial-emotive Parameter integriert. Die kognitiven Dimensionen der Kommunikation und die sozialen werden bewusst zusammen modelliert. Denn Kommunikation kann nicht a-sozial konzipiert werden. Die Verschiebung der sozialen Relationen zwischen den Interaktant*innen durch die Adressierung eines „generalisierten Anderen“ (Maas 2016: 98) kann eine Konsequenz sozialer Fremdheit sein, sie kann aber auch das ‚Aussetzen‘ der interpersonalen Dimension in sachbe‐ 34 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese 6 Wir greifen hier auf Vorschläge wie Tannen (1990) („rapport talk“ vs. „report talk“), Lausberg (1969, I: 26-30) („Verbrauchsrede“ vs. „Wiedergebrauchsrede“) oder Knobloch (2016: 81) („empraktisch“ vs. „dezentriert“) zurück, die die Variation der Textfunkti‐ onen zum Anlass nehmen, eine prototypisch-bipolare Typisierung von Texttypen/ Gat‐ tungen/ Diskurstraditionen zu entwickeln. zogener Kommunikation signalisieren. Umgekehrt können die sprachlichen Strategien der Distanz soziale Fremdheit erzeugen, ebenso wie die mit den distanzsprachlichen Situationen assoziierten einzelsprachlichen Varietäten. Die basalen sozialen Relationen sind immer gegeben, und nur durch ihre Integration kann ein vollständiges, nicht reduktives Modell der Kommunikation gesichert werden. Jede Auslagerung der sozial-emotiven Aspekte aus dem Nähe-Dis‐ tanz-Kontinuum ist eine Verkürzung und damit Verfälschung des Modells. Wir schlagen also vor, die relativ lose Aufschlüsselung der Parameter der situativen Variation zu belassen. Wir plädieren aber dafür, den Aspekt der Verschränkung von Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien im kommunikativen Prozess zu fokussieren und, anders als das Nähe-Distanz-Kontinuum von Koch und Oesterreicher, die Modellierung zu einer „prozessrealistischeren Modellierung der Sprech- und Verstehensvor‐ gänge“ (Knobloch 2016: 79) zu vereindeutigen. Deshalb stellen wir der Ebene der Kommunikationsbedingungen eine Ebene voran, die die zentrale Rolle der Textsorte/ Gattung/ Diskurstradition für die Kommunikation herausstellt und die Unterbzw. Einordnung der einzelnen situativen Parameter in die übergeordnete Situationsdefinition klar zum Ausdruck bringt (Abb. 1). Der Vorschlag, das Kontinuum der Kommunikationsbedingungen als Auffächerung eines Situationsentwurfs zu verstehen und den holistisch zu verstehenden Ge‐ samtentwurf einem ausschließlich an einzelnen Parametern orientierten Zugriff vorzuordnen, präzisiert, so meinen wir, die Gedanken von Peter Koch und Wulf Oesterreicher und denkt das Modell in eine Richtung weiter, die es bereits eingeschlagen hat. Weiterhin schlagen wir vor, die Ebene des Situationsent‐ wurfs auch dazu zu nutzen, die Variabilität der Zielsetzungen kommunikativen Handelns in ihrer Relevanz für die konzeptionelle Variation zu erfassen. Bei der Benennung der unseres Erachtens relevanten Parameter greifen wir auf Begriffspaare zurück, die bereits vorgeschlagen wurden und die unseres Erach‐ tens die Variation der Funktionen der kommunikativen Akte sichtbar machen können. 6 Es ist nicht sicher, ob der Vorschlag, funktional-inhaltliche Momente in das Nähe-Distanz-Kontinuum einzubeziehen, geteilt worden wäre. Die Schwie‐ rigkeiten, die sich dem Nähe-Distanz-Kontinuum entgegenstellen, sobald es auf literarische Texte angewendet wird, zeigen aber, dass Faktoren wie Fiktio‐ nalität bzw. Literarizität und die durch sie sanktionierten Vervielfachungen der 35 Nachdenken über Nähe und Distanz Sprecher*inneninstanzen und imaginierten kommunikativen Konstellationen einen unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten haben. Für das Voranstellen einer auf die Funktionalität der Kommunikate ausgerichteten Ebene spricht außerdem, dass auch beim Schreiben für eine mündlich-auditive Rezeption bzw. beim schriftlichen Protokollieren einer mündlichen Interaktion eine Art Verdoppelung der situativen Bedingungen durch die Imagination neuer, anderer Bedingungen gegeben ist, diese Verdoppelung sich aber allein aus der aktuellen kommunikativen Zielsetzung ableiten lässt. 4 Situation und mediale Dispositive Die vereindeutigende Modellierung der Interaktion der kommunikativen Pa‐ rameter in der Kommunikationssituation erlaubt uns noch eine zweite Erwei‐ terung des Nähe-Distanz-Kontinuums, nämlich die Integration der medialen Variation. Wir schlagen vor, das Konzept der „medialen Dispositive“ als En‐ semble mehrerer medialer Variationsparameter zusätzlich zu den von Koch und Oesterreicher bereits ausgewählten situativen Parametern anzusetzen, und zwar an der Stelle, in der in der ursprünglichen Fassung der - kryptomediale - Parameter der physischen Nähe vs. Distanz steht. Mit der Integration der medialen Dispositive in das Kontinuum tragen wir der Tatsache Rechnung, dass einige Aspekte, vor allem prozessuale, unhintergehbar von den vorhandenen medialen Möglichkeiten und Notwendigkeiten geprägt sind. Die Integration der Medialität in unser Modell erfolgt allerdings unter der Prämisse, dass den medialen Parametern ein eigener Status zugewiesen wird: Die Dispositive be‐ stimmen einen medialen Ermöglichungsraum; dessen jeweilige Auslastung wird aber von der Situationsdefinition und der konzeptionellen Variation geregelt, nicht umgekehrt. Wenn wir beispielsweise den Parameter der Dialogizität vs. Monologizität nehmen, so muss klar sein, dass es nicht die physische Koprä‐ senz als solche ist, die Dialogizität auslöst. Die Möglichkeit der dialogischen Interaktion kann, wenn es konzeptionelle Faktoren fordern, durch explizit gegenläufige Regulierungen des Sprecher*innenwechsels ausgesetzt werden. Auch in face-to-face-Situationen ist Monologizität möglich. Die Integration der Medialität ist also nur unter der Bedingung möglich, dass die konzeptionelle Ausrichtung nicht aus einzelnen, isolierten Variationsparametern abgeleitet werden kann, sobald klar ist, dass die Parameter nur innerhalb eines gesamt‐ haften ‚Entwurfs‘, ‚Duktus‘ oder ‚Kommunikationsmodus‘ wirksam werden können. Medialität kann unter dieser Voraussetzung im Modell berücksichtigt werden, denn es besteht nicht mehr die Gefahr, sie zu einem isoliert wirkenden oder gar alles entscheidenden variationsdeterminierenden Faktor umdeuten zu 36 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese 7 In der ersten graphischen Fassung des Nähe-Distanz-Kontinuums sind an beiden Polen Aussparungen in den medialen Dreiecken eingetragen, sodass das Dreieck der graphischen Realisierung nicht bis zum Nähepol und das Dreieck der phonischen nicht bis zum Distanzpol heranreicht (siehe Koch/ Oesterreicher 1985: 23). Extreme Nähesprache ist also nur phonisch, extreme Distanzsprache nur graphisch möglich. können. Die Voranstellung des Situationsentwurfs und das Insistieren darauf, dass niemals ein einzelner Parameter, sondern erst das Zusammenspiel aller Faktoren die konzeptionelle Variation bestimmen, verhindern die Reduktion der kommunikativen Variation auf das Mediale und machen deutlich, dass es immer um einen bereits konzeptionell definierten Mediengebrauch geht. Es ist immer wieder gesagt worden, dass Medialität alleine nicht die konzeptionelle Profil‐ bildung oder die mit dieser verbundenen sprachlich-textuellen Entwicklungen bestimmen kann (siehe z. B. Tophinke 2016: 305). Wir gehen davon aus, dass unser Vorschlag nach dem Einfügen der Ebene des Situationsentwurfs genau diesen Gedanken exemplifizieren und klarer herleiten kann. Die Erweiterung um die Medialität entspricht nun zweifellos nicht den Vorstellungen von Peter Koch und Wulf Oesterreicher. Alle, die sie persönlich kannten, wissen, dass an dieser Stelle kein Weiterdiskutieren möglich war. Anschlussmöglichkeiten sind dennoch vorhanden. Zum einen ist da die Kryp‐ tomedialität des Modells, von der weiter oben bereits die Rede war und die durch das explizite Einbeziehen der Medialität als Bezugsbereich der Variation der Kommunikationsbedingungen transparenter gehandhabt werden kann. Außerdem haben Peter Koch und Wulf Oesterreicher in der ersten Fassung des Nähe-Distanz-Kontinuums der Medialität durchaus noch einen Platz gegeben (siehe Koch/ Oesterreicher 1985: 23). In dieser frühen Fassung war der Bereich der extremen Nähesprache für die graphische Medialität gesperrt, ebenso der der extremen Distanzsprache für die phonische. 7 Später wurde der Gedanke, die extremen Ausprägungen der konzeptionellen Variation seien an bestimmte mediale Bedingungen gebunden, allerdings wieder aufgegeben. Wir meinen aber, dass die Beobachtung, die Konzeption interagiere mit der Medialität, richtig ist und schlagen deshalb die Integration der Medialität in die situative Variation vor. Aus den genannten Präzisierungen und Erweiterungen resultiert folgendes Nähe-Distanz-Modell (Abb. 1): 37 Nachdenken über Nähe und Distanz Musterdatei NFA_Sammelband.dot 22 Abb. 1: Ein erweitertes Modell der Nähe-Distanz-Kommunikation Situationsentwurf (unter Rekurs auf Textsorten/ Gattungen/ Diskurstraditionen) beziehungsorientiert („rapport talk“) Verbrauchsrede empraktisch etc. sachorientiert („report talk“) (Tannen 1990) Wiedergebrauchsrede (Lausberg 1969: I, 26-30) dezentriert (Knobloch 2016: 81) Kommunikationsbedingungen (emotiv und kognitiv) Privatheit Vertrautheit Emotionalität Handlungseinbindung Origo-orientierte Referenz Öffentlichkeit Fremdheit Distanz zu Partner*innen und Kommunikat Handlungsentbindung Origo-unabhängige Referenzräume (prozessual und interaktiv) Intensive Kooperation Dialogizität Spontaneität freie Themenentwicklung etc. keine Kooperation Monologizität Reflektiertheit starke Themenfixierung Versprachlichungsstrategien geringer Planungsaufwand Vorläufigkeit Aggregation etc. hoher Planungsaufwand Endgültigkeit Integration sprachliche Formen gestische und prosodische Formen/ graphische und bildliche Formen Kommunikat Mediale Dispositive Phonische oder graphische Zeichenqualität Synchronizität oder Asynchronizität von Produktion und Rezeption Körperbasierte Dimensionen oder Dimensionen des Speichermediums Beteiligung aller Sinnesdimensionen oder eingeschränkte Medialität etc. Abb. 1: Ein erweitertes Modell der Nähe-Distanz-Kommunikation 5 Konzeption und die Grenzen der Linguistik Wie verhält es sich nun mit der Ausgangsfrage, ob die kommunikative Variation kontinual modelliert werden sollte, als eine Landschaft der sanften Übergänge, oder doch eher so, dass an manchen Stellen Abgründe oder Gräben sichtbar 38 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese werden? Die Tatsache, dass wir die mediale Variation in das Nähe-Distanz-Kon‐ tinuum integriert haben, spricht dafür, dass wir die Auffassung teilen, dass es entscheidende Brüche in der kommunikativen Landschaft geben kann. Wir teilen aber nicht die Auffassung, dass die von den Gräben abgegrenzten Räume isoliert voneinander betrachtet werden sollten. Dies gilt auch für die beiden Pla‐ teaus, die durch die räumliche und zeitliche Ko-Präsenz der Interaktant*innen bzw. durch deren Fehlen voneinander getrennt sind. Nicht so sehr deshalb, weil beide intern wieder in Räume gegliedert sind, die konzeptionell variieren und deshalb jeder Gedanke an eine kommunikative Homogenität auszuschließen ist. Die Gesprochene-Sprache-Forschung vergisst dies manchmal, weil sie sich (fast) ausschließlich auf den Bereich der phonischen Nähekommunikation konzentriert. Aber auch dann, wenn mediale und konzeptionelle Faktoren zusammengenommen werden, ergeben sich keine Räume, deren fundamentale Andersartigkeit kommunikative und sprachliche Regeln schafft, die nur für diese, nicht aber für die anderen, gültig wären. Denn es gibt Brücken zwischen den Räumen, die die Kontinuität über die medialen und konzeptionellen Diffe‐ renzen hinweg sicherstellen. Vielleicht sollten wir dennoch zuerst von den Gräben und den Abgründen sprechen. Denn es könnte der Eindruck entstehen, die Metapher der Brücken sei nichts anderes als der Versuch, die Unterschiede zwischen den Räumen herabzuspielen und die Vorstellung einer kommunikativen Landschaft zu pri‐ vilegieren, die nur sanfte Übergänge und allseitige freie Zugangsmöglichkeiten kennt. Deshalb hier noch einmal mit aller Klarheit: Mediale Differenzen schaffen unabhängig von ihrer jeweiligen konzeptionellen Überformung Unterschiede im Formulieren, im Grad der Sprachlichkeit der Kommunikation und in der Zahl und Art der möglichen semiotischen Dimensionen, die keine konzeptio‐ nelle Variation aufheben oder ausgleichen kann. In der physisch geteilten Sprechsituation ist die sprachliche Kommunikation eingebettet in die Semiotik, genauer in die Indexikalität der Stimme und in die Kommunikation über körperliche Gesten. Die Nähekommunikation kann daher, wenn sie phonisch ist, sprachlich Inhalte übermitteln, aber nicht ohne die Interpretationsanwei‐ sungen der übrigen Modi, und da die übrigen Modi schwerer zu kontrollieren sind als unsere sprachlichen Äußerungen, sind sie aus der Perspektive der Rezipient*innen womöglich die wichtigeren. Auch die Distanzkommunikation kann den multimedialen Raum und die Präsenz der Körper nicht zurücklassen. Kontrollmechanismen sind notwendig, um die mimischen und gestischen Indi‐ zien in Situationen der sozialen Distanz zu verringern. Auch ein gemeinsam akzeptiertes Neutralitätsgebot ist denkbar, das in sachbezogener Kommunika‐ 39 Nachdenken über Nähe und Distanz tion dafür sorgt, dass die Körperlichkeit der Kommunikationspartner*innen keine Rolle spielen sollte. Aber ist dies in letzter Konsequenz wirklich denkbar? Mit der Schrift wiederum geht die face-to-face-Situation und mit ihr gehen die medialen Dispositive der Phonie verloren, unabhängig von der Konzeption. Es gehen also alle kommunikativen Modi außer der Sprache und aus der Lautsprache der Laut, also die Prosodie annähernd unweigerlich verloren. Wir könnten dies als die Entkörperlichung (das dis-embodiment) der Sprache bezeichnen. Lautsprache ist unausweichlich an die Körperlichkeit ihrer Produ‐ zent*innen gebunden, sie bringt in der Klangqualität der Stimme die Individua‐ lität des Körpers, in der Prosodie die Stimmung der Produzent*innen zum Ausdruck, welche sich parallel in deren Gesten manifestiert. Die Domäne der Körperlichkeit und damit auch die Authentifizierbarkeit des Kommunikats über die parallelen Modi sind in schriftlosen Kulturen auch in rituellem Sprechen ge‐ geben. Erst die Schrift schaltet sie ab. Die Sprache sucht sich nach ihrer Entkör‐ perlichung neue Körper - die Stele, die Tafel, den Körper des Buchs. Sie findet in den visuellen Dimensionen des graphischen Plateaus neue analoge Ausdrucksmöglichkeiten. Aber es sind nicht mehr die Körper der Kommunizierenden, die die sprachlichen Kommunikate stützen und interpretieren, und die neuen graphischen (und bildlichen) Umgebungen der sprachlichen Kommunikate auf dem graphischen Plateau sind weit eher kontrollierbar als es die körperlichen waren. Nicht weniger einschneidend als die Entkörperlichung ist die damit einher‐ gehende offline-Produktion. Die Produzent*innen eines Schriftstücks haben alle Zeit der Welt zu formulieren, können ihre Formulierungen beliebig revidieren. Die Kognition kann die Emotion weithin kontrollieren, und ihre Arbeit bleibt für die Rezipient*innen unsichtbar. Aber die Produzierenden der Textstücke haben in keinem einzigen Modus mehr eine Rückmeldung über das, was in den Rezipierenden auf der Basis des Kommunikats entsteht. Sie können die Rezeption imaginieren und sich an diesem Entwurf orientieren. Aber die Mög‐ lichkeiten, sich der geteilten Aufmerksamkeit, der gemeinsamen Ausrichtung auf das kommunikative Anliegen, der emotionalen Zu- oder Abwendung der Partner*innen zu versichern, fehlen. Kommunikation unter den Bedingungen der zeiträumlichen Trennung ist anders, und man sollte diese Andersartigkeit nicht in einem der konzeptionellen Parameter verstecken, sondern sie voll entfalten. Auch, damit sichtbar werden kann, dass die medialen Konstellationen niemals alleine wirken, sondern immer nur im Verbund mit eben diesen Parametern. Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke an eine sanfte, gering konturierte kommunikative Landschaft von vornherein ausgeschlossen. Wenn wir eine 40 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese Modellierung des Gesamts aller Kommunikate vorschlagen müssten, wäre es ein Modell, das die Vielförmigkeit herausstellt und die Unterschiede nicht verdeckt. Texttypolog*innen und Gattungstheoretiker*innen wissen, dass die Gesamtheit der kommunikativen Ereignisse niemals, auch nicht auf der Ebene der gesellschaftlich geronnenen Muster und Vorerwartungen, umfassend und abschließend geordnet werden kann. Die Vielfalt der Einflussfaktoren ist zu groß, und die daran geknüpfte Variation ist allenfalls gerichtet, niemals aber linear. Es ist besser, Plateaus, strukturierte Räume der Variation, anzusetzen, die durchaus klare, auch mediale Grenzziehungen aufweisen können. Wichtig ist allein der Gedanke, dass die mediale Variation nicht isoliert, sondern immer im Zusammenhang mit den konzeptionellen Faktoren gesehen werden muss und dass kein vollständiger Bruch zwischen den einzelnen kommunikativen Domänen angesetzt werden darf. Es ist ein Kontinuum im schwachen Sinne des Wortes, eine typisierbare, aber allenfalls um prototypische Zentren herum zu ordnende Variation, die aber gemeinsam bezogen bleibt auf die sprachliche Kommunikation, die also den Raum des Sprachlichen nie vollständig verlässt. Denn die Sprache ist es, die die Verbindung zwischen den einzelnen Plateaus sichert. Dies gilt von Anfang an, vor jeder medialen Differenzierung der Kom‐ munikation durch die kulturell-technische Entwicklung und über die konzeptio‐ nellen Differenzen hinweg. Sprache ist immer schon situationstranszendierend; sie ist als Zeichensystem immer situationsentbunden und immer rational in dem Sinne, dass sie begrifflich ist, digital und nicht analog. Menschliche Sprache ist von sich aus Distanz, Distanz zunächst einmal der Sprecher*innen von sich selbst. Für Handlungsanweisungen brauchen wir sie nicht, der Warnschrei ist älter als die Sprache, in authentischer Nähe kommen wir auch ohne Sprache zurecht (siehe Humboldt 1973: 5). Wir entbinden uns selbst im Sprechen aus der Situation des Sprechens. Menschliche Sprache ist Distanz auch deshalb, weil jede Kommunikation, auch die nicht-sprachliche Kommunikation, damit zurechtkommen muss, dass ihr Erfolg niemals gesichert ist. Nur wir selbst verstehen sicher, was wir meinen und was wir sagen - auch wenn wir selbst nicht mehr damit einverstanden sind, sobald wir es gesagt haben. Die anderen konstruieren einen Sinn auf der Basis ihrer eigenen kognitiven und emotiven Systeme, und dieser Prozess ist uns als Produzent*innen vollständig entzogen. In der face-to-face-Situation bauen wir auf die Zeichen der Bereitschaft zur Kommunikation, die uns das Gegenüber gibt (oder nicht gibt). Wir nutzen die (körperliche) Nähe, die wir gerade jetzt, aber keineswegs immer zum Gegenüber haben, um mit ihm oder ihr Sinn zu konstruieren. Wenn wir schreiben, konstru‐ ieren wir unsere Kommunikate mit Sorgfalt; weil wir die Distanz zum anderen für aufhebbar halten durch die Kommunikation, die wir betreiben. 41 Nachdenken über Nähe und Distanz 8 Aber siehe Zribi-Hertz 2011, die für das Französische zwei eng verwandte Grammatiken postuliert. 9 Siehe Zeman 2016: 274; siehe Feilke 2016: 141. Nach Kehrein/ Fischer (2016: 249) wäre der Chat die einzige Kommunikationsform, deren Nähesprachlichkeit in Widerspruch zur graphischen Realisierung tritt. Auch das sprachliche Repertoire ermöglicht das Hin und Her zwischen den medialen Räumen. Wir finden auf beiden Seiten des Grabens nicht nur identi‐ sche Signifikanten, sondern auch identische Kollokationen und Konstruktionen. Die sprachlichen Formen werden in der phonischen Nähekommunikation auf verschiedenen Ebenen nicht unbedingt vollständig ausgeführt, sie erscheinen als fragmentarisch und das Nähesprechen daher als ein Konglomerat von Fragmenten. Nähe und Distanz - und Phonie und Graphie - können außerdem eigene Wortformen und Konstruktionen entwickeln. Aber der Überschnei‐ dungsbereich ist doch unübersehbar groß. Wir würden für phonische Nähe und schriftliche Distanz, genauer für deren Überschneidungsbereich, daher in jedem Fall eine einzige Grammatik postulieren. 8 Die Erfindung der Schrift und andere mediale Umbrüche schaffen keine neuen Sprachen, sie schaffen nur zusätzliche, neue Formen, die auf dem bisherigen Repertoire aufruhen (siehe Tophinke 2016: 307). Dies gilt für den Distanzbereich, aber auch für die kommunikative Nähe. Der Chat hat die Smileys (Vorgänger der heutigen Emojis) entstehen lassen. Smileys sind so etwas wie Bilder von Gesten. Handelt es sich hier also wirklich um etwas, das sich, semiotisch und pragmatisch, fundamental von den Gesten, der Mimik, den Bewegungen unterscheidet, die phonische Nähekommunikation schon immer prägen? Außer der Kommunikationsform, also außer dem Chat, ist nichts neu am Chat. 9 Hinsichtlich der Frage, ob es im Anschluss an die mediale Variation einen entscheidenden, fundamentalen Bruch für das Sprachliche, das Formulieren und das Verstehen gibt, sind wir also auf der Seite von Koch und Oesterreicher und setzen mit ihnen ein - im strengen Sinne des Wortes - Kontinuum der Variation des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Formen zwischen den Polen der Nähe und der Distanz an. Wir gehen davon aus, dass auch dann, wenn raumzeitliche Verschränkung, maximale Vertrautheit und maximale Freiheit der kommunikativen Entwicklung die Fokussierung des Sprachlichen weder sinnvoll noch notwendig erscheinen lassen, Sprache bereits unter genau den Bedingungen funktioniert, die auch für die Distanzkommunikation gelten. Sprache funktioniert in der kommunikativen Nähe zwar insofern anders, als ihr Anteil an der Kommunikation insgesamt geringer ist, weil sie anders eingesetzt wird, weil indexikalischer Zeichengebrauch über den symbolischen 42 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese 10 Wir gehen also davon aus, dass das Nähe-Distanz-Kontinuum, pace Maas (2016: 96), in erster Linie als dynamisches (ontogenetisches und phylogenetisches) Entwicklungsmo‐ dell zu lesen ist, das die Bedingungen der sukzessiven Herausbildbarkeit distanzsprach‐ licher Kommunikationsbedingungen und Formen in der Kommunikationssituation transparent macht. Die Entwicklung individueller sprachlicher Kompetenzen bzw. sozial geteilter Diskurstraditionen und sprachlicher Repertoires in der Distanz müsste selbstverständlich detailliert nachvollzogen werden (siehe Koch/ Oesterreicher 2011: 14-19). Dies kann aber nicht die Aufgabe des Nähe-Distanz-Kontinuums sein, das die Voraussetzungen der konzeptionellen Variation vor allen Konsequenzen für die einzelsprachlichen Systeme darstellen will. dominiert. Der extremen Nähekommunikation eine noch nicht propositionale, weil nur Zeigfeld bezogene ‚Sprache‘ zuzuschreiben und zu behaupten, dass erst die Schrift sprachliche Zeichen bewusst und manipulierbar werden lässt (siehe Knobloch 2016: 84), verfehlt jedoch den Gegenstand. Sprache ist nicht an Exteriorisierung gebunden und insofern auch nicht an einen bestimmten Exteriorisierungstyp. Sprachliche Strukturen sind im Bewusstsein vor jeder Exteriorisierung gegeben oder sind jedenfalls für das Bewusstsein unmittelbar zugänglich (siehe Humboldt 1973: 31, 33, 37). Das Bewusstsein symbolisiert seine Inhalte für die anderen und für sich selbst durch die Sprache, aber nicht erst im Sprechen. Schreiben eröffnet also auch die Möglichkeit der Kommunikation mit sich selbst, des effektiveren Denkens, weil die Exteriorisierung die Reflexion intensiver und genauer machen kann. Die Distanz, hier die kognitive Distanz, ist in der Sprache schon immer angelegt. Es ist falsch, die geringere Relevanz des Sprachlichen in der extremen Nähekommunikation so auszudeuten, als sei es eine andere Sprache - eine Vorsprache? -, die hier zum Einsatz kommt. Wir haben unsere Revision des Nähe-Distanz-Kontinuums darauf konzen‐ triert, nur einen Teilaspekt des Modells weiterzuentwickeln, den Aspekt der Verschränkung von Kommunikationssituation, konzeptioneller Variation und Medialität. Wir haben damit die Kritik an der - aus unserer Sicht gegebenen - Amedialität bzw. an der - vermeintlichen - Vagheit der kommunikativen Parameter aufgenommen. Wir müssten an dieser Stelle die ‚Modularisierung‘ des Nähe-Distanz-Kontinuums noch weiter fortsetzen. Wir müssten zeigen, über welche Vermittlungsstufen unser klar auf das (Einzel-)Kommunikat ausge‐ richtete Modell mit dem Gedanken des ontogenetischen und phylogenetischen Variationskontinuums zwischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit verknüpft werden kann. Dies umso mehr, als wir meinen, dass genau dieser Gedanke der eigentliche Bezugspunkt des Modells von Peter Koch und Wulf Oester‐ reicher ist. 10 Das Nähe-Distanz-Kontinuum schwankt bekanntlich zwischen dem Ziel, Kommunikate bzw. Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz zu verorten und dem Anliegen, einen Erklärungsrahmen für die Entstehung 43 Nachdenken über Nähe und Distanz und Entwicklung konzeptioneller Variation zu entwickeln. Für das Einordnen von Diskurstraditionen ist die Betonung des Kontinualen der konzeptionellen Variation oft gar nicht zielführend, manchmal sogar verunklarend. Für die Frage, wie und warum Schrift zum Ausbau der Distanzsprachlichkeit führt, welche sozialen Bedingungen gegeben sein müssen, damit Situationsentbin‐ dung, Themenzentrierung, emotionale Distanzierung greifen können und die Bedingungen für ein Sprechen oder Schreiben entstehen, das das Begriffliche und die Syntax zur Verdichtung des Gesagten und Gemeinten nutzt, ist der Gedanke des Kontinuums dagegen entscheidend. Sind die Begriffe von Nähe und Distanz also insgesamt erhellend oder verschalten sie miteinander, was nicht zusammengehört? Bezogen auf die prozessualen Aspekte der Kommunikation, der in der geteilten Situation und der über den Abgrund zwischen zwei Situationen, erscheinen Nähe und Distanz zunächst in gewissem Sinn deskriptiv. Hier sind sie nicht von vornherein Metaphern. Soziale Nähe ist an prozessuale Nähe in keiner Form gebunden, wenn sie uns in prozessualer Nähe auch nicht überraschen kann. Soziale Nähe ist bereits Metapher. Mit der Entfernung aus prozessualer Nähe ist aber in jedem Fall eine soziale Entfernung verbunden insofern, als die Gewissheit der raum-zeitlichen Koinzidenz der Körper entfällt. Diese Entfernung gilt es womöglich zu kompensieren, je nach Interesse, aber dafür bleiben dann vor allem die Mittel der Sprache, also der Kognition. In prozessualer Nähe ist soziale Distanz natürlich auch herstellbar, auch soziale Distanz gehört zu unseren möglichen Zielen. Soziale Distanz herzustellen bedeutet gerade, die raum-zeit‐ liche Koinzidenz der Körper zu limitieren, und das gelingt am besten durch die Kontrolle körperlicher Manifestationen, durch Sprache, durch Kognition. Unter der Bedingung sozialer Fremdheit tendieren wir also dazu, die geteilte Situation mental bereits zu verlassen. Wir setzen auf Kognition - wir sprechen, als wären wir nicht da. Wie oben ausgeführt, kann kognitive Distanz zur gegebenen Situation ferner auch unser eigentliches Ziel sein. Wir befassen uns gerade nicht mit der Fliege über unserem Bildschirm, sondern mit der Relativitäts- oder mit jeder anderen Theorie, wir suchen soziale Distanz und formulieren für ein generalized other. Distanz ist hier selbstverständlich Metapher, aber unsere Entfernung vom konkreten Gegenüber und aus der Situation, in der wir uns befinden, korrelieren. Körper und Blick und Stimme sind jetzt abgeschaltet. Auch diese Zusammenhänge, die zwischen sozialer Fremdheit und kognitiver Distanz zu den Gegenständen sollen hier nur angedeutet sein. Nähe und Distanz sind mehr als eine Metapher. Sie beschreiben in re korrelierte Dimensionen der Kommunikation. 44 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese Literatur Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (2007). Überlegungen zu Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (Hrsg.). Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Niemeyer, 179-214. Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (2006). Theorie des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (Hrsg.). Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650-2000. Tübingen: Niemeyer, 3-31. Feilke, Helmuth (2016). Nähe, Distanz und literale Kompetenz - Versuch einer erklä‐ renden Rezeptionsgeschichte. In: Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.), 113-154. Goody, Jack (1986). The Logic of Writing and the Organization of Society. Cambridge: Cambridge University Press. Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.) (2016). Zur Karriere von ‚Nähe und Dis‐ tanz‘: Rezeption und Diskussion des Koch-Oesterreicher-Modells. Berlin/ Boston: De Gruyter. Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (2016). Perspektiven auf ‚Nähe und Distanz‘ - Zur Einleitung. In: Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.), 1-10. Hennig, Mathilde (2006). Grammatik der gesprochenen Sprache in Theorie und Praxis. Kassel: kassel university press. Humboldt, Wilhelm von (1973). Schriften zur Sprache. Stuttgart: Reclam. Kehrein, Roland/ Fischer, Hanna (2016). Nähe, Distanz und Regionalsprache. In: Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.), 213-258. Knobloch, Clemens (2016). Nähe und Distanz - betrachtet aus fachlicher Nähe und aus historiographischer Distanz. In: Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.), 73-88. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf [1990] (2011). Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin/ New York: De Gruyter. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1986). Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachge‐ schichte. Romanistisches Jahrbuch 36 [1985], 15-43. Lausberg, Heinrich (1969). Romanische Sprachwissenschaft. 3 Bde. Berlin: De Gruyter. Maas, Utz (2016). Was wird bei der Modellierung mit Nähe und Distanz sichtbar und was wird von ihr verstellt? In: Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.), 89-112. McLuhan, Marshall (1962). The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man. Toronto: University of Toronto Press. Oesterreicher, Wulf/ Koch, Peter (2016). 30 Jahre ‚Sprache der Nähe - Sprache der Distanz‘. In: Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.), 11-72. Selig, Maria (i. Dr.). Diamesic Variation. In: Ledgeway, Adam/ Maiden, Martin (Hrsg.). The Cambridge Handbook of Romance Linguistics. 45 Nachdenken über Nähe und Distanz Selig, Maria (2018). Kodes, mediale Dispositive und konzeptionelle Variation: Einige Überlegungen zum Nähe-Distanz-Modell. In: Nicklaus, Martina/ Wirtz, Nora/ Costa, Marcella/ Ewert-Kling, Karin/ Vogt, Wiebke (Hrsg.). Lexeme, Phraseme, Konstruk‐ tionen. Aktuelle Beiträge zu Lexikologie und Phraseologie. Berlin: Lang, 253-266. Selig, Maria (2017). Plädoyer für einen einheitlichen, aber nicht einförmigen Sprachbe‐ griff: Zur aktuellen Rezeption des Nähe-Distanz-Modells. Romanistisches Jahrbuch 68, 114-145. Söll, Ludwig (1985). Gesprochenes und geschriebenes Französisch. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt. Steger, Hugo/ Deutrich, Karl-Helge/ Schank, Gerd/ Schütz, Eva (1972). Redekonstella‐ tion, Redekonstellationstyp, Textexemplar, Textsorte im Rahmen eines Sprachver‐ haltensmodells: Begründung einer Forschungshypothese. In: Moser, Hugo (Hrsg.). Gesprochene Sprache. Jahrbuch 1972 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Schwann, 39-97. Tannen, Deborah (1990). You just don’t understand: Women and men in conversation. New York: Morrow. Tophinke, Doris (2016). Sprachgeschichtsforschung im Horizont von Nähe und Distanz. In: Hennig, Mathilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.), 299-332. Zeman, Sonja (2016). Nähe, Distanz und (historische) Pragmatik. In: Hennig, Mat‐ hilde/ Feilke, Helmuth (Hrsg.), 259-298. Zribi-Hertz, Anne (2011). Pour un modèle diglossique de description du français. Quel‐ ques implications théoriques, didactiques et méthodologiques. Journal of French Language Studies 21, 231-256. 46 Maria Selig / Roland Schmidt-Riese 1 Das Wort ‚purismo‘ steht zwar in einer alten Tradition, sein einzelsprachlicher Gebrauch ist jedoch jüngeren Datums: Die ersten Belege des Terminus im Italienischen finden sich erst im späten 18. Jahrhundert (siehe Vitale 1986: 3 ff.). Darüber hinaus ist es ein Fremdwort, ein Lehnwort aus dem Französischen: Über ein Jahrhundert vor seinem ersten Gebrauch in Italien, um 1619, führt Chapelain den Begriff ‚puriste‘ ein - als er über die Gruppe um Malherbe spricht und diese gerade mit den florentinischen Gelehrten der Accademia della Crusca vergleicht. Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Sarah Dessì Schmid 1 Einleitung Von der Wissenschaft über das kulturkritische Feuilleton bis zur Populärkultur begleitet das Misstrauen gegen fremde - heute insbesondere gegen englische - Ausdrücke unseren Alltag. Das Streben nach einer ‚reinen‘ - klaren, perfekten, eleganten und prestigeträchtigen - Sprache sowie der Argwohn gegen eine vermeintlich drohende ‚Invasion‘ fremder Wörter in die ‚eigene‘ Sprache stellen ein höchst aktuelles Thema dar, das allerdings einer langen Tradition folgt. 1 Vielleicht ist gerade die ablehnende Haltung gegen fremdsprachliche Ausdrücke der erfolgreichste, der plakativste Aspekt des Purismus; mit Sicherheit ist sie allerdings nur einer der vielen und komplexen Aspekte, die mit - mehr oder weniger intensiv und offensiv betriebener - puristischer Spracharbeit in Verbindung gebracht werden können. Nach einer kurzen Rekonstruktion einiger früher Momente des europäischen Sprachpurismus werde ich in meinem Beitrag das Hauptaugenmerk auf die Rolle der puristischen Sprachkultur und Sprachpolitik im Selektions- und Ausbauprozess der Norm der Volkssprachen Italiens und Frankreichs richten und diese - unter besonderer Berücksichtigung medio-konzeptioneller Aspekte - einer vergleichenden Analyse unterziehen. Dabei werde ich darstellen, wie sich in der frühneuzeitlichen Debatte um die ‚Reinheit der Sprache‘ Normie‐ rungsbestrebungen, ästhetische Fragestellungen der literarischen Produktion und soziale Praxis miteinander in großräumigen soziokulturellen Prozessen 2 Um die Theorien und Praktiken des puristischen Normierens in der Frühneuzeit in Europa kreist das SFB-Projekt im Rahmen des Tübinger SFB 1391 Andere Ästhetik, das ich zusammen mit dem Germanistik-Kollegen Jörg Robert seit Sommer 2019 leite: „Purismus - Diskurse und Praktiken der Sprachreinheit“ (Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnumer 405662736). 3 Leider kann hier nicht auf die späteren historischen Phasen eingegangen werden; es sei nur angemerkt, dass die Wirkungsgeschichte des Purismus nicht linear verläuft: Dem Settecento mit seiner kosmopolitischen Aufklärung, mit seinem Europäismus folgt eine Epoche, in der die jeweiligen eigenen nationalen Wurzeln mit Vehemenz wieder‐ entdeckt werden. So entsteht um das Jahr 1900 im Namen des eigenen sprachlichen Erbes eine puristische linguistische und literarische Bewegung per antonomasiam, die wiederum auch ein Pendant in der Kunst findet. Auch dieser Purismus bewegt sich allerdings weiter innerhalb eines theoretisch-rhetorischen Horizonts klassischen Ursprungs, der auf den Prinzipien der consuetudo, der imitatio und der incorrupte loqui basiert (siehe Vitale 1986: 39-66). Anders wird dies dann bei einer ganzen Reihe von späteren Erscheinungen sein, die ebenfalls als puristisch bezeichnet werden, wie etwa der faschistischen Sprachpolitik verschiedener Länder oder aber des mehr oder weniger aggressiven Argwohns gegen ‚fremde‘ Wörter in der jeweiligen ‚eigenen‘ Sprache. verflechten und wechselseitig bedingen. 2 Ins Zentrum dieser Überlegungen werde ich die Historizität der Texte (siehe u. a. Frank 1994; Selig/ Frank/ Hart‐ mann 1993; Koch 1987; Koch/ Oesterreicher 1990; Oesterreicher/ Selig 2014) und der gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene stellen. 2 Der Purismusbegriff in der frühen europäischen Sprach- und Kulturgeschichte Die Bedeutung des Purismus für die europäische Sprach- und Kulturgeschichte kann kaum überschätzt werden und stellt - in verschiedenen historischen Phasen unterschiedlich stark, aber im Grunde bis heute - eine ideologische Konstante der europäischen Kultur dar (siehe Dessì Schmid/ Hafner 2014; siehe Dessì Schmid 2017). Zunächst möchte ich den Blick auf einige wenige frühe Momentaufnahmen seiner Entwicklung richten. 3 Das ästhetische Ideal der ‚Reinheit der Sprache‘ (puritas linguae) findet seinen Ursprung bereits in der antiken Rhetorik innerhalb der Stilistik (der elocutio) und gelangt dann als zentraler Bereich einer rhetorischen Ästhetik und Poetik (der Lehre der virtutes elocutionis) über das Mittelalter bis in die Neuzeit, erfährt dort aber - durch seine Rückkopplung mit den frühneuzeitlichen Nor‐ mierungsbestrebungen der Volkssprachen und ihrer Literaturen - eine radikale Transformation. Dieses Ideal geht zunächst von der Normierung des Lateinischen in den Debatten um den Ciceronianismus aus, einige zentrale Argumentationslinien dieser Debatte werden aber bald auf die Volkssprachen übertragen (man 48 Sarah Dessì Schmid 4 Zum Begriff der Diskurstraditionen siehe u. a. Aschenberg/ Wilhelm (2003); Frank (1994); Frank/ Heye/ Tophinke (1997); Hafner/ Oesterreicher (2007); Jacob/ Krefeld (2007); Kabatek (2005, 2007, 2011); Koch (1987, wo der Terminus ,Diskurstradition‘ erstmalig verwendet wird, 1997, 1998, 2010); Oesterreicher (1988, 1997, 2009); Schlieben-Lange (1983, 1996). denke hier an Toffanins (1940) erfolgreiche Formel des umanesimo volgare) - zuerst auf das Italienische, sehr bald danach auf das Französische. Wenn wir davon ausgehen, dass Normierung und Normalisierung (siehe Haugen 1983) Prozesse sind, welche zwei unterschiedliche Entwicklungsbereiche betreffen (die Gesellschaft, die Sprecher einerseits und die Sprache selbst andererseits), können wir sagen, dass die Selektion der Basis der Norm und ihre Extension (die zwei Phasen der Normierung) die Sprecher betreffende Fragen sind - Sprechergemeinschaften wählen entweder bewusst (qualitativ) oder unbewusst (‚natürlich‘) das Normmodell aus und verwenden dieses in immer mehr Kon‐ texten. Hingegen sind die erste Fixierung der Basis der Norm, ihre Kodifizierung durch Grammatiken und Wörterbücher ebenso wie ihre Elaboration (die zwei Phasen der Normalisierung) Fragen, die die Sprache als System betreffen - wobei mit ‚Elaboration‘ die weiteren Perfektionierungen der Norm gemeint sind, die durch neu übernommene Funktionen und durch ihr wachsendes Prestige erforderlich werden, etwa durch Regeln und Verfahren, die mit dem Gebrauch in verschiedenen Diskurstraditionen verbunden sind. 4 Programmatisch spiegelt sich diese nach ‚Reinheit‘ strebende Haltung in der Forderung nach einem präskriptiven Ideal von Sprache auf verschiedenen Ebenen wider, aus der in verschiedenen Epochen unterschiedliche Praktiken der ‚Sprachreinigung‘ abgeleitet werden. Gemein ist all diesen Praktiken das Ziel der Reinigung der eigenen Sprache von fremden Elementen. Mit ‚eigen‘ und ‚fremd‘ ist allerdings Unterschiedliches, auch Widersprüchliches gemeint und wird - unter dem Banner der Reinheit der Sprache - vertreten oder bekämpft. Wenn ‚rein‘ ordentlich und perfekt, somit nicht vergänglich und nicht verderblich bedeutet, wenn ‚rein‘ mit ästhetisch vollkommen, klar glänzend und zierlich, mit natürlich und wahr, aber auch mit alt, würdig und authentisch assoziiert wird, so ist Purist, wer gegen Neologismen und jede niedrig markierte diastratische Sprachvarietät ins Feld zieht, aber auch wer sich Archaismen, Dialektismen oder im Allgemeinen Regionalismen widersetzt - wenn sich zu Letzterem auch illustre und extrem erfolgreiche Ausnahmen zeigen, denkt man an das radikal archaisierende Modell des Fiorentino trecentesco (siehe Dessì Schmid 2017). Die Forschung hat sich wiederholt um eine Abgrenzung puristischer gegen‐ über klassizistischen oder (was zum Beispiel für Deutschland besonders wichtig ist) allgemein sprachpatriotischen Programmatiken bemüht. Allerdings hat sie 49 Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit 5 Siehe Dessì Schmid/ Robert (2019). - und das ist erstaunlich - die Vielfalt der Ausprägungen des europäischen Purismus äußerst selten betont. Zu einem tieferen Verständnis historischer, sprachlicher und kultureller Realitäten kann allerdings nur eine differenzierte Betrachtung führen, die sich von keiner „invertierten Teleologie“ (Oesterreicher 2007: 16) irreführen lässt. Notwendig ist also eine Betrachtung, welche die - wie Wulf Oesterreicher sie nennt - ‚Erbsünde‘ der traditionellen Sprachgeschichts‐ schreibung nicht begeht und sich also davor hütet, einzelne Entwicklungen nur aus der Perspektive der letztlich erfolgreichen zu betrachten, isoliert und aus ihren Kontexten gerissen, eine Betrachtung also, die weder die Pluralität der Nebenpfade der Sprachgeschichte vernachlässigt, noch nur an wohlbekannten Orten sucht. Es ist daher wesentlich, den Purismus - besonders in seiner Ausprägung in der Frühen Neuzeit - als offenes Neben- und Gegeneinander einer Vielfalt von Purismen zu beschreiben, die sich in einem Spannungsfeld von disziplinären Spezialdiskursen - der Grammatik, Rhetorik, Poetik - und gesellschaftlichen Praktiken und Perspektiven entfaltet. 5 ‚Reinheit der Sprache‘ konkretisiert sich nämlich in der Frühen Neuzeit in einer Fülle sozialer Praktiken, erreicht eine Vielzahl historischer Akteure und wird zum Schlüsselbegriff europäischer Spracharbeit und Sprachpolitik - eben das war zuvor mit „radikaler Transformation“ des ästhetischen Ideals der ‚Rein‐ heit der Sprache‘ gemeint. Denn aus der Forderung nach ‚reiner Sprache‘ werden - in dem und durch den dafür zentralen Prozess der Normierung der europäi‐ schen Volkssprachen und ihrer Literaturen - Praktiken der ‚Sprachreinigung‘ abgeleitet, die institutionell (z. B. durch Höfe, Verwaltung, Schulen und ganz besonders durch Sprachakademien) umgesetzt werden. Der Purismus erlebt eine Ausweitung seiner Funktions- und Wirkungsbereiche, dringt in alle Bereiche des Sozialen ein und wird zum kulturellen Diskurs, der seine Dringlichkeit aus theologischen, philosophischen, soziologischen und politischen Impulsen bezieht. So erweist es sich einerseits als ein ziemlich kompliziertes Unterfangen, die Spuren des Purismus zu verfolgen, aber gerade diese Suche erlaubt es andererseits auch, die interbzw. transkulturelle Dimension der europäischen Sprachenfrage in ihren ideen-, literatur- und sozialgeschichtlichen Bedingungen in einer genuin geisteswissenschaftlichen Perspektive nachzuvollziehen. 50 Sarah Dessì Schmid 3 Puristische Sprachkultur und Sprachpolitik im Italien und Frankreich der Frühen Neuzeit Will man eine Geschichte des europäischen frühneuzeitlichen Purismus schreiben, so fängt die Suche beim Text an. Natürlich existiert „der Text im Singular nur in einer abstrahierend-theoretischen Perspektive“, während die historische Praxis hingegen „davon bestimmt [ist], dass sich Texte in einer Vielfalt von inhaltsbezogenen, kontextbezogenen, zweckbezogenen, insti‐ tutionsbezogenen Normen bewegen und sich deshalb in einer Vielzahl von unterschiedlich stark normierten Diskurstraditionen ordnen lassen“ (Oesterrei‐ cher/ Selig 2014: 15). Und in der Tat lassen sich ästhetische und politische Implikationen und Po‐ tenziale puristischer Argumentation in einem weiten Spektrum an Texten und Textsorten wiederfinden: Literarische Texte und Poetiken integrieren immer wieder sprachpuristische Reflexionen oder bauen geradezu auf diesen auf; um‐ gekehrt greifen Fachtexte - Grammatiken, Wörterbücher und Sprachtraktate, aber auch Statuten, Gesetzestexte, Schulbücher oder Lobreden - ästhetische Fragen auf, kodifizieren Normen und Modelle und beziehen diese handlungslei‐ tend auf Felder sozialer Praxis. So finden wir Strategien der Durchsetzung einer ‚reinen Sprache‘ in Zeremoniell und höfischer Kommunikation, gelehrtem bzw. akademischem Diskurs, in Dichtung und Kanzleisprache und anderem. In Texten wie beispielsweise Bembos Prose della volgar lingua, Castigliones Cortigiano oder Machiavellis Discorso o dialogo intorno alla nostra lingua sind die sprachliche, die linguistische und poetologische oder literarische Ebene sehr eng miteinander verknüpft. Die jeweiligen Ansätze werden in Form eines Dialogs vorgetragen, und es wird dabei eingehend die Bedeutung ästhetischer Qualitäten (eleganza, sprezzatura) für literarische und soziale Kommunikation und Interaktion reflektiert. Ideale der Sprache, die ihrerseits häufig auf Idealen der Dichtung beruhen (man denke nur an den Petrarkismus im Fall Bembos), werden so zu Idealen der Interaktion, zu sozialen Normen, die wiederum die Auswahl bestimmter literarischer Formen und Traditionen unterstützen. Derartige Texte können daher als erste Zeugnisse der Emergenz eines genuinen ‚(sprach)puristischen‘ Diskurses in der Frühen Neuzeit betrachtet werden: Denn hier wird ein neuer Zusammenhang zwischen lexikalischen und grammatikalischen sowie ideologischen und gesellschaftlichen Normvor‐ stellungen hergestellt - nicht zuletzt durch die literarisch-dialogische Form, den performativen Charakter und die Situierung am Hof - und von dieser sozialen Praxis und Situierung her werden ästhetische Grundanliegen (re-)formuliert. Auch stellen diese Werke - die z. B. im Fall der Prose Sprachtraktat und 51 Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit Grammatik in einem sind - insofern ungewöhnliche Orte der ästhetischen Reflexion dar, als sie keine prototypisch poetischen oder poetologischen Texte sind. Sie erlauben es somit nicht zuletzt, Fragen der Migration sprachpuristi‐ scher Argumentationsfiguren zwischen literarischen Texten und Fachtexten nachzugehen. Und natürlich sind diese Texte wesentliche Orte der Questione della lingua, der gelehrten Diskussion um die Auswahl einer gemeinsamen sprachlichen Norm aus der Vielfalt der volgari, die im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Italien zur Verfügung standen (siehe u. v. a. Marazzini 1994, 2000, Serianni/ Trifone 1993/ 94 und Vitale 1978). Dabei geht es den italienischen Humanisten um eine konzeptionell und medial klar definierte Sprache: Sie suchen nach einer - reinen, prestigeträchtigen - überregionalen Sprache für die Literatur, genauer gesagt für die Domäne der konzeptionellen Schriftlichkeit, der kommunikativen Distanz (siehe Koch 1988 und Koch/ Oesterreicher 2011). Die verschiedenen zur Diskussion stehenden Optionen sind, wie wir wissen, diastratisch alle ähnlich markiert, unterscheiden sich jedoch auf der diatopischen und auf der diamesischen Ebene, d. h. der Konzeption für den mündlichen oder schriftlichen Gebrauch. Eine wichtige Option stellt die von Castiglione vertretene, diatopisch schwach markierte und eklektische Varietät der lingua cortigiana dar, welche nah am mündlichen Gebrauch des Hofes sein sollte - eine Option, die in Frankreich erfolgreich sein sollte, wo der eine Hof, anders als im politisch und kulturell plurizentrischen Italien, eine wesentliche Rolle in sprachlichen Fragen spielt. Eine weitere Option orientiert sich hingegen (diatopisch stark markiert) an der Schriftlichkeit der Corone, der großen florentinischen Autoren des 14. Jahrhunderts. Bembo schlägt ein sprachlich archaisches Normmodell vor, das auf dem für ihn zentralen Prinzip der imitatio basiert, was zugleich eine Strategie zur Selbstdarstellung und zur Gewinnung von Anerkennung darstellt (siehe Kablitz 1999: 137). Es ist aber auch ein relativ genau kodifiziertes Modell, das sich für eine einfache und rasche Reproduktion und Multiplikation anbietet, eben weil es in angesehenen älteren Texten fixiert ist und daher keinem weiteren historischen Wandel unterliegt (siehe Dessì Schmid 2017). Dies kommt wiederum den Interessen des venezianischen Verlegers und Freundes Bembos, Aldo Manuzio, sehr entgegen - gerade in einem Italien, in dem das Buch immer mehr zum virtuellen Ort der Kultur wird und somit seinerseits zur Einschränkung der kulturellen Rolle der Höfe beiträgt (siehe Mehltretter 2009; Trifone 1993: 427). Auf politischer Ebene lässt sich parallel dazu im kleinstaatlichen Italien ein Verfall des Modells des Hofes beobachten, das in anderen europäischen Ländern zur gleichen Zeit floriert. So wird in vielfacher Hinsicht deutlich, 52 Sarah Dessì Schmid warum dem eklektischen, mündlichen, schwierig festzuhaltenden höfischen Modell Castigliones, das auch einen Einblick in andere Normierungsfelder der frühneuzeitlichen Kultur gibt, in Italien weniger Erfolg beschieden ist und warum Bembo das literarisch angesehene schriftliche Modell der Corone wählt: Er erkennt die kulturelle Reichweite der florentinischen Literatur und fordert ihre Erhebung zur Sprache der italienischen Literatur, zur italienischen Sprache tout court - zu einer Sprache, die geeignet ist, in das kulturell maßgebende Europa Modelle des Klassizismus und der Renaissance einzubringen (siehe Dessì Schmid 2017). Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein auf dem Prinzip der imitatio basierendes, sprachlich archaisches Normmodell schon deshalb ‚puristisch‘ ist. Bedeutet ,normieren‘ - d. h. eine Sprache klar, fest zu regeln - an sich schon ,puristisch‘ sein? Mit anderen Worten: Inwiefern können Bembos Prose als ein puristisches Werk angesehen werden? Vielleicht hilft es, bei solchen Fragen das Werk Bembos aus zwei Perspektiven zu betrachten: einerseits aus derjenigen des ästhetischen, literarischen Grund‐ anliegens seines Strebens nach einer reinen Sprache („la fiorentina lingua più regolata […], più vaga, più pura“, Bembo 1955 [1525]: 32); andererseits aus der Perspektive der institutionellen Anwendung, in der Nachfolge Bembos, des in seinen Schriften enthaltenen Normierungsmodells und deren Konsequenzen für die literarische Sprache und Praxis. In den programmatischen Schriften und der lexikographischen Praxis Li‐ onardo Salviatis als eines der wichtigsten Mitglieder der Accademia della Crusca sowie in den institutionellen Praktiken der Akademie wird die Trans‐ formation des Normmodells Bembos und der damit verbundenen Auffassung der Sprachreinheit evident: Die Accademia della Crusca macht sich in ihrer Kodifizierungsarbeit zwar dessen Thesen zu eigen, geht allerdings insbesondere mit dem Werk Salviatis weit darüber hinaus: Sie generalisiert das qualitative, auf imitatio auctorum basierende Selektionsprinzip des Normmodells Bembos in einer Weise, dass dieses de facto außer Kraft gesetzt wird - und damit wird der Mythos des Trecento als goldenes Zeitalter geschaffen. Es ist daher nicht abwegig zu behaupten, dass mit Salviatis metonymischer Verschiebung des imitatio-Prinzips von den Corone auf das Trecento insgesamt auch eine ra‐ dikale Transformation, eine Umsemantisierung des Prinzips der Sprachreinheit stattfindet, die gleichsam als Geburtsurkunde des Purismus aufgefasst werden kann: Jedes sprachliche Beispiel dieser Epoche wird - unabhängig von seiner ästhetischen Qualität und dem Ansehen seines Autors - als ‚rein‘ erklärt. Im folgenden Beispiel aus dem Vorwort des Vocabolario degli Accademici della Crusca wird diese radikale Ausprägung des Sprachpurismus sichtbar: 53 Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit Nel compilar il presente Vocabolario […] abbiamo stimato necessario di ricorrere all’autorità di quelli scrittori, che vissero, quando questo idioma principalmente fiorì, che fu […] dall’anno del Signore 1300 al 1400 poco più, o poco meno: perché […] gli scrittori […] dal 1400 avanti, corroppero non piccola parte della purità del favellare di quel buon secolo. (Vocabolario degli Accademici della Crusca, 1612, A’ lettori, 6) Alle Wörter aller florentinischen Autoren des 14. Jahrhunderts - also nicht nur die Petrarcas und Boccaccios - werden konsequent in das Wörterbuch aufgenommen; alle anderen - also nicht nur Fremdwörter, sondern alle nicht altflorentinischen Wörter - werden aufs Strengste ausgeschlossen. Sie seien keine ‚reine Sprache‘, da spätere Autoren einen nicht geringen Teil der Reinheit der Sprache dieses hervorragenden Jahrhunderts verdorben hätten. Im Zitat wird aber auch die dynamische Wechselwirkung zwischen ästhetisch-literari‐ scher, sozio-kultureller und politischer Sphäre sichtbar: Denn die formalen Qualitäten, die sich aus dem sprachlichen Reinheitsgebot ergeben (z. B. Klarheit, Natürlichkeit, Zierlichkeit, Eleganz der Sprache), sowie die Strategien der Au‐ torisierung sind hier nicht zu trennen von der präskriptiven, sprachreinigenden Funktion und der sprachpragmatischen Dimension des Wörterbuchs. Die Prosa und die Dichtung, die ‚ganze‘ Literatur des 14. Jahrhunderts, bilden somit aus ästhetisch-literarischer Perspektive die Grundlage des sprachlichen Reinheitsideals. Dieses konkretisiert sich praktisch in den sprachnormierenden Akten der Accademia - etwa in einem Wörterbuch, das die programmatischen Sprachideale in konkrete Sprachpraxis implementiert. Denn hinter solchen Akten erkennt man die soziale Logik der gebildeten Gesellschaft und, mit ihr, der politischen Macht: Das Wörterbuch ist nicht zufällig Concino Concini gewidmet, dem toskanischen Adligen und wichtigsten Berater Maria de’ Medicis am französischen Hof (was schon auf dieser Ebene die enge Verbindung zwi‐ schen Italien und Frankreich zeigt). Auch in der Folge zeigt die erfolgreiche Im‐ plementierung des Sprachreinheitsideals der Crusca wiederum eine dynamische Wechselwirkung zwischen diesen Polen: Autoren späterer Epochen werden sich in der künstlerischen Gestaltung ihrer Werke an der ‚reinen Sprache‘ orientieren, die auf die Praxis der Gelehrten und der Accademici zurückgeht. Nicht zuletzt kann man auch in dieser kurzen Darstellung die historische Kraft und Reichweite eines Textes wie des Vocabolario beobachten: In einem Wörterbuch wird ein neuer Zusammenhang zwischen grammatikalischen und lexikalischen, ideologischen und gesellschaftlichen Normvorstellungen herge‐ stellt. Ein Wörterbuch beeinflusst letztendlich - obwohl man darin zunächst kaum die Behandlung genuin ästhetischer Fragestellungen vermuten würde 54 Sarah Dessì Schmid 6 Die deutschen Sprachgesellschaften, allen voran die Fruchtbringende Gesellschaft (gegr. 1617), schließen eng an die Crusca an, gerade auch im Hinblick auf die Sprachvorbilder: Deren Gründer Ludwig von Anhalt-Köthen übersetzt Petrarcas Trionfi und andere italienische Autoren, um an ihnen ein reines Hochdeutsch als Grundlage für höfische Kommunikation und Literatur auszubilden. Anders als in Italien und Frankreich ist der deutsche Purismus jedoch von Anfang an durch starke sprachpatriotische Züge geprägt (siehe Dessì Schmid/ Robert 2019). 7 Siehe dazu u. a. Christmann (1977); Dessì Schmid (2003); Gensini (1989); Rosiello (1965). - das Sprachhandeln zahlreicher Akteure in ihrem literarischen Schaffen und wirkt tief in die Alltagswelt hinein. Gerade aus dieser Verabsolutierung und Ideologisierung von Bembos Modell entsteht in Italien durch das lexikographische Werk der Accademia della Crusca ein Sprachpurismus, der Maßstäbe auf europäischer Ebene setzt: Dieser wird ein Exportprodukt, das in Frankreich wie auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden fällt - wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. 6 Die Normierungsbestrebungen setzen von Anfang an in Frankreich einen anderen medialen Schwerpunkt als in Italien: Gewählt werden soll eine Sprache, die in allen Domänen der kommunikativen Distanz, auch der Literatur, effi‐ zient ist, jedoch nah am - auch hier reinen, prestigeträchtigen - mündlichen Gebrauch des Hofes sein sollte. Denn Frankreich schwankt zwischen der Anerkennung der kulturellen Hochleistungen Italiens in Kunst, Architektur und höfischem Leben im Allgemeinen einerseits und Schwierigkeiten mit der Ak‐ zeptanz der - politischen und sprachlichen - Italianisierung des französischen Hofes andererseits (Dessì Schmid/ Hafner 2016). Eine ähnliche Situation kann wiederholt im Laufe der Geschichte der zwei Länder beobachtet werden, man denke nur an die Debatte um den génie de la langue. 7 Hierin könnte einer der Gründe liegen, weshalb die französische Sprachen‐ frage - und dabei insbesondere der Purismus - am Pariser Hof von Anfang an radikalere und stärker von politischen Motiven geleitete Züge annimmt als in Italien und nicht zuletzt sehr stark an andere Normierungsfelder der frühneuzeitlichen Kultur gebunden zu sein scheint: Durch die von Richelieu initiierte, stark politisch gesteuerte Académie française, die die Reinigung der Sprache vom mauvais usage als ihre primäre Aufgabe versteht, werden die Normierung und die Normalisierung des Französischen sowie dessen sukzes‐ sive Verbreitung in Europa zu staatlichen (höfischen) Zielen erklärt (siehe Dessì Schmid/ Hafner 2016). Die Académie übernimmt die strenge puristische Auffassung der Accademici cruscanti, betont jedoch gegenüber dem Prinzip der imitatio auctorum, wie es Bembo und die Crusca voraussetzen, das des bon usage, des „Maistre des langues, celuy qu’il faut suivre pour bien parler, et pour bien escrire“ (Vaugelas 2009 [1647]: 67). So kristallisieren sich die Züge 55 Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit 8 Siehe aber auch die für die neue Sprache und Ästhetik der französischen Dichtung sehr wichtige Arbeit des gegen Latinismen, Archaismen, Dialektismen, Fachwörter und Neologismen kämpfenden Hofdichters Malherbe. der französischen Sprachpolitik gerade bei Vaugelas’ Normvorschlag heraus, wie er diesen in seinen Remarques formuliert: Gemeint ist diejenige Varietät, die im 17. Jahrhundert hochgradig prestigeträchtig und als unverzichtbarer Aspekt des gesellschaftlichen guten Benehmens (bienséance) angesehen wird. Es bleibt allerdings noch offen und nicht einfach zu klären, ob jener bon usage tatsächlich dem mündlichen Gebrauch entspricht, oder ob er stärker als bislang angenommen von literarischen Formen und Traditionen bestimmt ist, „conformément à la façon d’escrire de la plus saine partie des Autheurs du temps“ (Vaugelas 2009 [1647]: 68). 8 Sich mit der Implementierung und Elaboration der ausgewählten und kodifizierten Varietät in der ‚Französischen Sprachenfrage‘ aus dieser Perspektive näher zu beschäftigen und dabei ins‐ besondere die Anwendung in den literarischen Produktionen sowie daraus resultierende ästhetische Folgen in den Blick zu nehmen, scheint besonders interessant zu sein. Bekanntlich sind die Autoren des 17. Jahrhunderts - unter vielen anderen etwa Corneille, Racine, Colletet - in ihrem literarischen Schaffen stark von Vaugelas’ Normierungsmodell beeinflusst worden. Vieles ist darüber im Allgemeinen bereits gesagt worden (siehe Ayres-Bennet 1987; Blochwitz 1968; allgemein Chaurand 1999; Rey/ Siouffi/ Duval 2007), doch nur wenige Arbeiten haben sich mit einer systematischen Verifizierung dieses Einflusses auf sprachlicher wie auf ästhetischer Ebene beschäftigt, d. h. mit der Frage, ob alle oder nur einige und welche der Remarques angewandt wurden (siehe dazu Braun 1933 und Aulich 2017). Dem nachzugehen bleibt ein Desideratum. Jenseits dieser eher medialen Frage können Texte wie Du Bellays Deffence et Illustration de la Langue Francoyse, Malherbes Commentaire sur Desportes und Vaugelas’ Remarques sur la langue françoise als erste Zeugnisse eines innereuropäischen Transfers des ‚(sprach)puristischen‘ Diskurses in der Frühen Neuzeit angesehen werden. Sie stellen zum einen die ideale Grundlage für eine vergleichende Untersuchung verschiedener Autoren und Positionen in der lebendigen (puristischen) Sprachdiskussion am Pariser Hof dar, zum anderen erlauben sie neben den expliziteren sprachlichen und literarischen Zielen auch diejenigen zu betrachten, welche auf die sozialen Praktiken abzielen und implizitere Funktionen von Sprachreinigung betreffen. 56 Sarah Dessì Schmid 4 Schlussbemerkung Sprachreinheit ist ein ideales Beispiel, um von der Historizität der gesellschaft‐ lichen und kulturellen Phänomene zu sprechen, um die geistesgeschichtliche und die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung in ihrer Verflechtung zu untersuchen. Es handelt sich also um ein genuin geisteswissenschaftliches Thema, das nicht nur an Kontinuitäten, sondern gerade auch an Widersprüchen ansetzt. In den Beziehungen zwischen den sprachpuristischen Programmen und den Praktiken der jeweiligen Sprach- und Kulturräume Europas sind Widersprüche zu erkennen: zum einen die Widersprüche zwischen dem uni‐ versalen Geltungsanspruch der einen, ‚reinen‘ sprachlichen Norm und der Pluralität der Normentwürfe, zum anderen der Widerspruch zwischen der Absolutheit des Normanspruchs und der Heterogenität der sprachlichen Praxis und der sprachtheoretischen, poetischen sowie der politisch-gesellschaftlichen Sonderpraktiken. Dies alles bedarf sicher noch vieler weiterer und grundsätz‐ licherer Überlegungen zur Beziehung zwischen Programmen und Praktiken der Sprachreinheit wie auch zur Konzeption der Norm. Literatur Accademia della Crusca (1612). Vocabolario degli Accademici della Crusca, Venezia. Ab‐ rufbar unter: http: / / vocabolario.sns.it/ html/ _s_Introduzione.html (Stand: 12.01.2020). Bembo, Pietro (1955) [1525]. Prose della volgar lingua. Hrsg. von Mario Marti. Padua: Liviana ed. Vaugelas, Claude Favre de (2009) [1647]. Remarques sur la langue françoise. Hrsg. von Zygmunt Marzys. Genf: Droz. Aschenberg, Heidi/ Wilhelm, Raymund (Hrsg.) (2003). Romanische Sprachgeschichte und Diskurstraditionen. Tübingen: Narr. Aulich, Amelie (2017). Vaugelas’ Remarques zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die Normierung des Französischen: Eine korpusbasierte Studie zur Anwendung des bon usage. Abschlussarbeit. Tübingen. Ayres-Bennet, Wendy (1987). Vaugelas and the Development of the French Language. London: Modern Humanities Research Association. Blochwitz, Werner (1968). Vaugelas’ Leistung für die französische Sprache. Beiträge zur romanischen Philologie 7, 101-110. Braun, Ernst (1933). Die Stellung des Dichters Pierre Corneille zu den „Remarques“ des Grammatikers Vaugelas (Eine sprachgeschichtliche Untersuchung). Kaiserslautern: Thiemesche Druckereien. 57 Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit Chaurand, Jacques (1999). Nouvelle histoire de la langue française. Paris: Éditions du Seuil. Christmann, Hans Helmut (1977). Zu den Begriffen génie de la langue und analogie in der Sprachwissenschaft des 16. bis 19. Jahrhunderts. Beiträge zur romanischen Philologie 16, 91-94. Dessì Schmid, Sarah/ Robert, Jörg (2019). Purismus - Diskurse und Praktiken der Sprach‐ reinheit. Antrag auf Einrichtung und Förderung des Sonderforschungsbereichs 1391 „Andere Ästhetik“ (Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 405662736). Dessì Schmid, Sarah (2017). Reine Theorie - Hybride Praxis. Purismus in der italienischen Sprachgeschichte. In: Lohofer, Astrid/ Süselbeck, Kirsten (Hrsg.). Streifzüge durch die Romania. Festschrift für Gabriele Beck-Busse zum 60. Geburtstag. Stuttgart: Ibidem, 67-94. Dessì Schmid, Sarah/ Hafner, Jochen (2016). Die italienischen und französischen Akade‐ mien als Zentren frühneuzeitlicher höfischer Sprachdiskussion. In: Bleuler, Anna Kathrin/ Balsamo, Jean (Hrsg.). Les cours: lieux d’élaboration des langues vernacu‐ laires (1480-1620)/ Höfe als Laboratorien der Volkssprachigkeit (1480-1620). Genf: Droz, 381-418. Dessì Schmid, Sarah/ Hafner, Jochen (2014). Normazione e purismo: storia di un matri‐ monio di convenienza. In: Schafroth, Elmar/ Selig, Maria (Hrsg.). La lingua italiana dal Risorgimento a oggi - Das Italienische nach 1861. Unità nazionale e storia linguistica - Nationale Einigung und italienische Sprachgeschichte. Frankfurt/ Main u.a.: Lang, 57-77. Dessì Schmid, Sarah (2003). Il ‚genio‘ della lingua italiana. Osservazioni intorno alla teoria linguistica di Francesco Algarotti e alla sua importanza nella polemica contemporanea sull’identità e sui lineamenti della lingua italiana in movimento. In: Grimm, Reinhold u. a. (Hrsg.). Italianità. Ein literarisches, sprachliches und kulturelles Identitätsmuster. Tübingen: Narr, 49-63. Frank, Barbara/ Haye, Thomas/ Tophinke, Doris (Hrsg.) (1997). Gattungen mittelalterli‐ cher Schriftlichkeit. Tübingen: Narr. Frank, Barbara (1994). Die Textgestalt als Zeichen: Lateinische Handschriftentradition und die Verschriftlichung der romanischen Sprachen. Tübingen: Narr. Gensini, Stefano (1989). Traduzioni, genio delle lingue, realtà sociale nel dibattito linguistico italo-francese (1761-1823). In: AA VV, Il genio delle lingue. Le traduzioni nel Settecento in area franco-italiana. Rom: Istituto della Enciclopedia Italiana, 9-36. Hafner, Jochen/ Oesterreicher, Wulf (Hrsg.) (2007). Mit Clio im Gespräch: Romanische Sprachgeschichte und Sprachgeschichtsschreibung. Tübingen: Narr. 58 Sarah Dessì Schmid Haugen, Einar (1983). The Implementation of Corpus Planning. Theory and Practice. In: Cobarrubias, Juan/ Fishman, Joshua (Hrsg.). Progress in Language Planning. Interna‐ tional Perspectives. Berlin/ New York: Mouton, 269-289. Jacob, Daniel/ Krefeld, Thomas (Hrsg.) (2007). Sprachgeschichte und Geschichte der Sprachwissenschaft. Tübingen: Narr. Kabatek, Johannes (2011). Diskurstraditionen und Genres. In: Dessì Schmid, Sarah u. a. (Hrsg.). Rahmen des Sprechens. Beiträge zu Valenztheorie, Varietätenlinguistik, Kreolistik, Kognitiver und Historischer Semantik. Peter Koch zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 89-100. Kabatek, Johannes (2007). Las tradiciones discursivas entre conservación e innovación. Rivista di Filologia e Letterature Ispaniche 10: 331-345. Kabatek, Johannes (2005). Die Bolognesische Renaissance und der Ausbau romanischer Sprachen: Juristische Diskurstraditionen und Sprachentwicklung in Südfrankreich und Spanien im 12. und 13. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer. Kablitz, Andreas (1999). Warum Petrarca? Bembos Prose della volgar lingua und das Problem der Autorität. Romanistisches Jahrbuch 50, 127-157. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (2011). Gesprochene Sprache in der Romania. Franzö‐ sisch, Italienisch, Spanisch. 2. Aufl. Tübingen: De Gruyter. Koch, Peter (2010). Sprachgeschichte zwischen Nähe und Distanz: Latein - Französisch - Deutsch. In: Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (Hrsg.). Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung. Berlin/ New York: De Gruyter, 155-206. Koch, Peter (1998). Urkunde, Brief und öffentliche Rede: Eine diskurstraditionelle Filia‐ tion im ‚Medienwechsel‘. Das Mittelalter 3, 13-44. Koch, Peter (1997). Diskurstraditionen: zu ihrem sprachtheoretischen Status und ihrer Dynamik. In: Frank, Barbara/ Haye, Thomas/ Tophinke, Doris (Hrsg.), 43-79. Koch, Peter (1988). Externe Sprachgeschichte I - Storia della lingua I. In: Holtus, Günter u. a. (Hrsg.). Lexikon der Romanistischen Linguistik. Bd. 4: Italienisch, Korsisch, Sardisch. Tübingen: Niemeyer, 343-360. Koch, Peter (1987). Distanz im Dictamen: Zur Schriftlichkeit und Pragmatik mittelalter‐ licher Brief- und Redemodelle in Italien. Habilitationsschrift. Freiburg. Marazzini, Claudio (2000). Da Dante alla lingua selvaggia: sette secoli di dibattiti sull’italiano. Rom: Carocci. Marazzini, Claudio (1994). La lingua italiana: Profilo storico. Bologna: Il Mulino. Mehltretter, Florian (2009). Kanonisierung und Medialität: Petrarcas Rime in der Frühzeit des Buchdrucks (1470-1687). Münster: LIT Verlag. Oesterreicher, Wulf (1988). Sprechtätigkeit, Einzelsprache, Diskurs und vier Dimen‐ sionen der Sprachvarietät. In: Albrecht, Jörn/ Lüdtke, Jens/ Thun, Harald (Hrsg.). Energeia und Ergon. Sprachliche Variation, Sprachgeschichte, Sprachtypologie. Studia in honorem Eugenio Coseriu zum 65. Geburtstag. Tübingen: Narr, Bd. 2, 355-386. 59 Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit Oesterreicher, Wulf/ Selig, Maria (Hrsg.) (2014). Geschichtlichkeit von Sprache und Text. Philologien - Disziplingenese - Wissenschaftshistoriographie. Paderborn: Fink. Oesterreicher, Wulf (2009). Aliquid stat pro aliquo. Diskurstraditionen und soziale Semiotik. In: Peters, Ursula/ Warning, Rainer (Hrsg.). Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Paderborn: Fink, 57-81. Oesterreicher, Wulf (2007). Mit Clio im Gespräch: Zu Anfang, Entwicklung und Stand der romanistischen Sprachgeschichtsschreibung. In: Hafner, Jochen/ Oesterreicher, Wulf (Hrsg.), 1-35. Oesterreicher, Wulf (1997). Zur Fundierung von Diskurstraditionen. In: Frank, Bar‐ bara/ Haye, Thomas/ Tophinke, Doris (Hrsg.). 19-41. Rey, Alain/ Siouffi, Gilles/ Duval, Frédéric (2007). Mille ans de la langue française. Histoire d’une passion. Paris: Perrin. Rosiello, Luigi (1965). Analisi semantica dell’espressione ‚genio della lingua‘ nelle discussioni linguistiche del Settecento italiano. In: AA VV, 373-385. Schlieben-Lange, Brigitte (1996). Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs in der Sprachwissenschaftsgeschichte. In: Brekle, Herbert E. u. a. (Hrsg.). A Science in the Making. Münster: Nodus, 233-241. Schlieben-Lange, Brigitte (1983). Traditionen des Sprechens: Elemente einer pragmati‐ schen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart: Kohlhammer. Selig, Maria/ Frank, Barbara/ Hartmann, Jörg (Hrsg.) (1993). Le Passage à l’écrit des langues romanes. Tübingen: Narr. Serianni, Luca/ Trifone, Pietro (Hrsg.) (1993/ 94). Storia della lingua italiana. 3 Bde. Turin: Einaudi. Toffanin, Giuseppe (1940). Storia dell’Umanesimo (dal 13 al 16 Secolo). 2. Aufl. Rom: Perrella. Trifone, Pietro (1993). La lingua e la stampa nel Cinquecento. In: Serianni, Luca/ Trifone, Pietro (Hrsg.), Bd. 1, 425-446. Vitale, Maurizio (1986). L’oro nella lingua. Contributi per una storia del tradizionalismo e del purismo italiano. Mailand: Ricciardi. Vitale, Maurizio (1978). La questione della lingua. Palermo: Palumbo. 60 Sarah Dessì Schmid 1 GN : groupe nominal, GPrep : groupe prépositionnel, GAdv : groupe adverbial ; DEM : démonstratif ; PRO : pronom ; IND : indéfini ; DEF : défini. Pour une analyse quantitative de là en français parlé : la grammaticalisation revisitée à l'ère des corpus Sascha Diwersy / Katja Ploog 1 La grammaticalisation des locatifs Dans le contexte de notre étude, la grammaticalisation sera considérée comme une spécialisation progressive de formes d’origine pronominale dans une fonction de déterminants. Cette trajectoire, attestée pour l’émergence de l’article dans l’histoire du français, semble reconduite par la cliticisation de là en français moderne, en français parlé en particulier. L'objectif de cette étude, préliminaire, est d'examiner l'emploi de là dans son usage en français parlé. L'accessibilité de corpus oraux d'envergure, comme le corpus ESLO, permet désormais la confrontation des modèles théoriques aux données d'usage, même si, comme nous le verrons, l'exploitation de ces données n'est pas toujours aisée. L'annotation du corpus et la quantification des profils projetés soulève en effet des questions méthodologiques que l'analyse doit affronter. 1.1 La grammaticalisation en français L’intégration de l’article défini au GN 1 s’est développée progressivement en français depuis la juxtaposition en latin des démonstratifs au nom. En ancien français, l'emploi du déterminant n'est pas systématique et de (plus) nombreuses insertions entre article et nom sont observées. Ils fonctionnent en contexte d’ellipse ou de coordination avec un autre paradigme accompagnant le nom. Les paradigmes démonstratifs pouvaient se combiner à d’autres paradigmes de détermination, possessive par exemple, et la distinction entre déterminant et pronom n’était pas aussi nette en latin qu’elle ne l’est aujourd’hui en français (Combettes 2001, Marchello-Nizia 2001). Par conséquent, la grammaticalisation des déterminants doit être considérée sur fond de l’évolution plus générale du français : Le fait qu’une forme comme l’article défini soit une création par rapport au latin classique, ou que les démonstratifs du français soient le résultat d’une « recomposi‐ tion » des formes latines, n’interdit pas, nous semble-t-il, la mise en parallèle du syntagme nominal et du syntagme verbal (…) ; l’effacement des marques casuelles est toutefois un phénomène général et profond, dont les conséquences ne peuvent être limitées à la distinction des catégories majeures. (Combettes 2001: 2) En effet, les corrélations entre différents aspects de la linéarisation ont été mises en évidence en typologie (Greenberg 1963, Lehmann 1982), en particulier entre l’ordre de base des constituants majeurs et la place des expansions nomi‐ nales. Les contraintes liées à la fonction sujet en particulier font comprendre l’émergence de l’article comme phénomène local de la grammaticalisation du cadre syntaxique tout entier, qui conduit à poser le problème au-delà du cadre strictement syntaxique : Dans une optique fonctionnelle, il convient de se demander en effet si ce mouvement général a des relations avec d’autres niveaux d’analyse que le niveau morphosynta‐ xique ; qu’en est-il par exemple de l’influence des facteurs pragmatiques et textuels, en particulier des modifications que l’on peut percevoir dans le domaine de la sémantique référentielle, ou de l’évolution qui affecte la structure informationnelle de l’énoncé ? (Combettes 2001: 9) La compréhension de l’articulation entre langue et discours en dépend Car si les changements linguistiques sont, de manière générale, induits par l'u‐ sage, leur motivation peut être supposée résoudre des « problèmes communi‐ catifs » (Detges/ Waltereit 2016), autrement dit, elle renvoie aux enjeux de la construction du sens en interaction. L'un des processus structurels impliquant la routinisation d'un tel solutionnement est la grammaticalisation. Le concept a été promu pour expliquer la constitution d'unités ou de paradigmes grammaticaux au sens strict (Lehmann 1982). Son application à des constructions de portée excédant le cadre propositionnel pose le problème à la fois du modèle de syntaxe emprunté (et des unités d'analyse), et celui de la constitution du sens en contexte. Ces problèmes sont particulièrement flagrants dans les corpus oraux. Sans avoir fait ses preuves encore parmi les concepts d'analyse du domaine, la notion de pragmatisation (pragmaticalization : Diewald 2011) vise à appréhender les cas où un glissement fonctionnel s'applique à un segment discursif qui « déborde » du cadre propositionnel. 1.2 Le système de détermination en français Les études diachroniques mettent en exergue l’évolution des caractéristiques sémantiques et pragmatiques subie au cours de la grammaticalisation, dont, no‐ 62 Sascha Diwersy / Katja Ploog tamment, les valeurs déictiques et anaphoriques des pronoms et l’opposition de divers types de démonstratifs (Schøsler 2001, Selig 1992, Marchello-Nizia 1995). La grammaticalisation avancée de l’article en français moderne a été analysée par Schøsler (2001). En fondant son propos sur une taxonomie ±défini (relatif au statut informationnel) et ±référentiel, l’auteure observe l’emploi de plus en plus systématique de l’article, qui va de pair avec la neutralisation progressive de la valeur de définitude. Dès lors, l’article marque principalement les catégories grammaticales inhérentes au nom, i.e. nombre et genre (compensant la perte des déclinaisons caractéristiques du latin) ; tout comme en latin - et contraire‐ ment à l’ancien français - les combinaisons de valeurs -défini +référentiel et +défini +référentiel ne sont pas formellement opposées. Enfin, la définitude est progressivement prise en charge par le là en position postnominale, qui se combine désormais au paradigme anténominal. Schøsler argumente en faveur de cette conclusion avec l’observation des données de Blanche-Benveniste (2000) qui laissent envisager là comme marquage « intersubjectif » entre une donnée connue du locuteur mais potentiellement nouvelle pour l’interlocuteur : 1. comme ils font les autres gens-là qui veulent rentrer le soir (Blanche-Ben‐ veniste 2000). Le locuteur signale par là qu'il a en tête un groupe de gens particulier, qui ne sont cependant pas introduits dans le contexte amont, ce qui conduit à la détermination a postériori par la relative. 1.3 Le cas de là : problématique La grammaticalisation de là en position post-nominale est allée de pair, histori‐ quement, avec la spécialisation du démonstratif dans la fonction de déterminant depuis l'ancien français. Si la fonction sémantique consistait initialement à compenser la neutralisa‐ tion de la valeur proximale présente dans l’ancien paradigme démonstratif du latin, la fonction actuelle en retour de l’érosion morpho-phonologique (semantic bleaching) est multiple : là fonctionne comme marqueur de définitude ; dans ce cas, son utilisation avec des noms à valeur indéfinie ou sa combinaison avec un article indéfini est impossible. Par ailleurs, il revient à là la fonction d'un marqueur de « clôture », de fin de syntagme. Ces emplois, particulière‐ ment caractéristiques de l'oralité conceptionnelle, posent régulièrement des problèmes d'interprétation structurelle concernant sa portée dans les hiérarchies syntaxiques. A minima, il revient au là enclitique le rôle d'un marqueur de segmentation, dont les aspects rythmiques sont intuitivement repérés, mais pour lequel les études détaillées font défaut. 63 Pour une analyse quantitative de là en français parlé La trajectoire de grammaticalisation engagée par là semble des plus classiques (cf. Heine/ Kuteva 2002, Kriegel 2003), de nombreuses études (p.ex. Baker 2003, Daff 1998, Detges/ Waltereit 2009, Italia 2006, Vincent 1993, Ludwig/ Pfänder 2003, Wiesmath 2003) en ont explicité les aspects structuraux pour différentes variétés du français et des langues créoles à base française. Cependant, les analyses quantitatives des données orales sont encore très peu développées. L’objectif de cette recherche sera l’étude exploratoire des caractéristiques com‐ binatoires de là en français parlé, ayant pour objectif la remise en perspective des évolutions envisagées dans la littérature. Nous verrons que l’un des problèmes majeurs est l’interprétation structurelle même des formes relevées dans les corpus. Il n’est pas rare en effet de noter l’instabilité notoire des emplois : Il semble alors que là ne peut intervenir que sur les entités thématisées ou thématisa‐ bles dans le discours, et qu’il y a une différence référentielle entre les noms marqués par là et les noms marqués par un déterminant préposé, en ce que là confère le trait [+présupposé] au nom qu’il marque. Cependant, l’absence du marqueur là dans des exemples similaires dont le référent est déjà introduit dans le co-texte (sa bouche, leur bouche) va à l’encontre de cette interprétation. Il est pour cette raison difficile de formaliser une distinction sémantique entre les deux paradigmes en question qui expliquerait leur distribution respective dans le texte. Même si dans la plupart des cas il est possible de conférer une valeur stable à là (valeur spécifique maximale), il ne semble pas possible, pour le moment, d’articuler une différence sémantique entre les syntagmes det + nom + là d’une part, et Ø + nom + là d’autre part. (Knutsen/ Ploog 2005: 50) ou encore de « det + nom », pourrait-on ajouter : car si la description se réfère à un usage périphérique (celui d’Abidjan), la co-existence en synchronie de différentes étapes de grammaticalisation semble la règle plutôt que le cas d'exception. Enfin, comme l'indique le terme de glissement sémantique, les différentes interprétations possibles sont liées dans un continuum. Une délimitation catégorielle des emplois serait un non-sens dans la saisie descriptive de la grammaticalisation. 2 Corpus d’étude 2.1 ESLO-MD Le corpus ESLO-MD (« microdiachronique ») est un corpus oral de français hexagonal composé d’un million de mots (environ 80h enregistrées) issus d’interactions parmi les corpus ESLO1 (1968-1971) et ESLO2 (2008-2019). Les données d’études sont équilibrées entre les deux périodes, en veillant à une 64 Sascha Diwersy / Katja Ploog 2 http: / / eslo.huma-num.fr (consulté le 24/ 11/ 19) répartition équilibrée également entre les genres interactionnels (conférences, repas, entretiens). L’échantillon est constitué comme suit : ESLO-MD Conférences Repas Entretiens TOTAL Nombre de mots ESLO1 192 mn 196 mn 2042 mn 2430 mn 453298 ESLO2 186 mn 201 mn 2034 mn 2421 mn 521931 TOTAL 378 mn 397 mn 4076 mn 4851 mn 975229 Tableau 1: Composition de ESLO-MD Si l'on décline la taille de ESLO-MD en termes du nombre des sous-échantillons ainsi que des mots-occurrences, on obtient la ventilation suivante par genre et sous-corpus : Confé‐ rences Repas Entretiens Sous-corpus Echantil‐ lons Mots Echantil‐ lons Mots Echantil‐ lons Mots ESLO1 2 32866 4 40665 30 384279 ESLO2 5 30432 8 40864 31 452293 TOTAL 7 63298 12 81529 61 836572 Tableau 2 : Nombre de sous-échantillons et de mots-occurrences par genre et sous-corpus Les considérations méthodologiques liées aux variables sociologiques qui ont présidé au choix de l’échantillon ESLO-MD sont détaillées dans Abouda/ Skrovec (2018). Si les deux sous-corpus ne sont pas sociologiquement représentatifs ni même comparables au sens strict, les méthodologies de recueil le sont dans une large mesure, ce qui rend possible la documentation d’une temporalité intermédiaire des dynamiques linguistiques, entre changement et variation synchronique, dans un intervalle de 40 ans. Le corpus ESLO dans son intégralité est librement accessible en ligne 2 . Les transcriptions de l’échantillon ESLO-MD ont été enrichies avec une annotation morpho-syntaxique automatique par TreeTagger (Schmid 1994), sous TXM, 65 Pour une analyse quantitative de là en français parlé 3 http: / / portal.textometrie.org/ demo/ (consulté le 24/ 11/ 19) 4 La convention est consultable en ligne : http: / / eslo.huma-num.fr/ index.php/ pagetrans cription (consulté le 24/ 11/ 19). outil d'analyse textométrique libre (Heiden et al. 2010) 3 . Nous reproduisons les extraits tels qu'ils apparaissent dans la transcription ESLO. 4 2.2 Limitation du champ Notre étude est basée sur une concordance que nous avons créée au moyen de TXM. Comme le codage orthographique dans le corpus avec ou sans trait d’union montre des inconsistances, liées ou non à l’ambivalence sémantique de là, nous avons extrait ses occurrences à partir de son lemme (tel qu’annoté par TreeTagger). Les occurrences ont été annotées sans tenir compte de la variabilité de la transcription. En vue de l’analyse détaillée selon les différents critères syntaxiques, sémantiques et énonciatifs, que nous allons exposer dans la section 3, nous avons procédé à un échantillonnage aléatoire en retenant un tiers des 5134 occurrences obtenues au départ, ce qui nous donne une concordance de travail comprenant au bout du compte 1711 occurrences. L'inventaire des catégories structurelles sous 3. fera apparaitre de nombreux types d'ambiguïtés structurelles. Certaines de ces ambiguïtés sont réelles et incitent à opérer avec des catégories « floues » ; dans d'autres cas, il s'agit d'un artéfact induit par la représentation écrite des données dynamiques. Une désambiguïsation par la prosodie était théoriquement possible pour ce corpus, dont le signal est disponible. Les outils d'annotation utilisés n'en permettaient cependant pas un traitement outillé, et l'annotation manuelle n'était pas envi‐ sageable au vu de la quantité de données. Pour cette étude exploratoire, ces (nombreux) cas ont fait l'objet d'une double annotation. 3 Approche qualitative : catégories d'annotation 3.1 Enclise Un aspect de la grammaticalisation est la perte d'autonomie formelle, marquée, dans le cas de là, par la clise, i.e. son rattachement phonologique (prosodique) au constituant qui le précède (amont). Une étude prosodique devra établir la clitisation effective, car, bien souvent, la position finale permet une double lecture si l'on se base sur la seule transcription. Pour l'heure, nous excluons de l'étude les occurrences où là est syntaxiquement associé au contexte aval : 2. par exemple comme chez vous il y en a trois je pense les travaillistes les libéraux et puis euh les conservateurs mais j'estime que là ça va mais 66 Sascha Diwersy / Katja Ploog chez nous alors vous avez les communistes vous avez les démocrates vous avez les centristes (1502: ESLO1_ENT_149_C, YR399, 1: 02: 42) Dans la même perspective, les marqueurs de structuration, très fréquents et apparaissant souvent dans des collocations (alors là, donc là) ou configurations syntaxiques récurrentes (c'est là), ont été écartés des considérations. Les contextes syntaxiques, sémantiques et lexicaux sont très hétérogènes et témoignent de la productivité de différents parcours de grammaticalisation engagés. Parmi ces occurrences, il s'agira de focaliser sur les emplois clitiques, dans l'objectif d'établir les contours de l'érosion formelle. À ce titre, les locatifs PP/ AP doublés de là posent problème, en ce qui concerne non seulement leur interprétation sémantico-référentielle, comme précédemment évoqué, mais également leur interprétation structurelle (cf. ci-dessous 3.2). 3.2 Emplois locatifs vs. non-locatifs Le processus de grammaticalisation suppose, typiquement, le développement de contextes d'emplois abstraits, ou de moins en moins concrets. Afin de cerner plus précisément les contours de la grammaticalisation, l'étude des emplois non locatifs sera privilégiée. Nous entendons par emplois locatifs ceux qui réfèrent à un lieu dans l'espace concret. Pour établir le caractère locatif d'une occurrence, les tests de questionnement (où ? la banane qui est où ? ) et de substitution (ici / là-bas: la banane qui est juste ici) ont été utilisés : 3. non bah tu veux prendre ma banane qui est juste là ? (5062: ESLO2_REP_22_C, LOCH2, 0: 19: 52) La dynamique de grammaticalisation est établie, dans le paradigme adverbial, notamment par l'emploi de là avec une référence temporelle. Dans de nombreux cas, là réfère à un objet ou état de choses du discours même, où la notion de lieu (topos) prend une dimension plus abstraite : 4. une certaine idée de la littérature conforme des provocations des trans‐ gressions on peut aussi estimer au contraire qu'il s'agit là d'un signe de temps potentiellement fécond susceptible de produire une nouvelle synthèse entre la théorie et la pratique entre la sensibilité et l'abstraction (2017: ESLO2_CONF_4CPMEb_C, Marcos Eymar, 0: 19: 32) 5. essaye au moins bah non mais il faut toujours essayer eh ben non pas quand c'est chaud c'est dangereux ce que tu dis là c'est dangereux je vais aller à l'hôpital ma main c'est très bon c'est très salé vraiment je pense pas que je (4939: ESLO2_REP_11_C, repas_03_01_loc03, 0: 04: 58) 67 Pour une analyse quantitative de là en français parlé Si les deux exemples qui précèdent (4. et 5.) illustrent des emplois distinctement non locatifs, d'autres occurrences, d’apparence locative, se situent sur un continuum représentationnel ontologique/ discursif : 6. c'est rapproché au début y avait pas de terrains de construction hm hm hm c'est vrai mais nos terrains étaient en bordure justement là et quand on s'est marié et on a été exproprié trois fois (3450: ESLO2_ENT_1024_C, GC24, 0: 04: 38) 7. (l')aînée qui a fait des études commerciales elle elle pouelle pourrait les faire maintenant à Orléans oui maintenant y a une chambre de commerce là euh (3022: ESLO2_ENT_1015_C, ch_AC7, 0: 06: 51) Lorsque là succède à un syntagme prépositionnel locatif, le caractère locatif de là n'est souvent pas avéré : 8. vu il y a encore des des maisons là qu'ils sont en train de j'ai pas vu construire et de sur l'avenue là y a encore deux maisons (3085: ESLO2_ENT_1015_C, EW15, 0: 40: 42) Dans cet exemple, là peut être interprété, a priori, comme redondance synta‐ xique (GPrep suivi de GAdv), ou comme marqueur du GN/ GPrep. Car même si le lieu réfère à l'espace concret, la référence de là est endophorique. En particulier, ce sont les combinaisons du clitique avec un locatif adverbial (ici, là) qui font douter du caractère locatif du là clitique : 9. euh tiens moi quand j'ai eu mon appendicite et puis j'ai été ouvert ici là euh on mettait de la Bétadine mais c'est pour euh recouvrir ça désinfecte hein (V-la_345: ESLO2_REP_14_C, repas_04_01_loc01, 0: 16: 10) Si l'on imagine que la mention ici s'accompagne peut-être d'une désignation gestuelle (interprétation locative), le clitique lui-même semble davantage se rapporter au contexte de parole qu'au lieu désigné. Dans d'autres cas, la référence d’apparence locative, circonstancielle, est celle du discours même. Pour ces complois, endophoriques, l'interprétation comme locatif ou non locatif est souvent discutable. Nous noterons qu'une catégorisation binaire, certaine, comme étant ±[locatif] s'avère discutable dans de nombreux cas. 3.3 Types de GN Dans 449 des 1711 occurrences cibles là succède à un GN. Ces exemples se répartissent sur différentes constructions de déterminants, respectivement, DEM (et PRO), IND, et DEF : 68 Sascha Diwersy / Katja Ploog 10. par exemple en revenant de Bidarray je ne sais pas si vous con‐ naissez cette chanson-là (2027: ESLO2_CONF_5FLb_C, François Le‐ gouy, 0: 07: 23) 11. enfin si il en a eu une mais on la compte pas celle-là (5025: ESLO2_REP_21_C, repas_14_01_loc01, 0: 13: 38) 12. Claire m'a envoyé euh l'offre de poste euh pour ton amie là le elle peut postuler hein (4822: ESLO2_REP_01_02_C, INC1, 0: 10: 37) 13. ah oui pour euh pour euh avoir aussi de la langue euh voilà c'est un peu un échange c'est un peu un échange là (3636: ESLO2_ENT_1025_C, LF25FEM, 0: 40: 13) 14. c'est quand il a supprimé la retraite là il a supprimé la retraite du combattant (1639: ESLO1_ENT_160_B, 4003, 0: 49: 18) Les constructions sans adjectif ou pronom démonstratif, en particulier celle avec le déterminant défini (14) représentent, dans la perspective de la grammatica‐ lisation (cf. Schøsler 2001), l'étape la plus avancée du processus, étant donné que là semble prendre en charge la valeur de définitude/ spécificité plus que de pointer un lieu à proprement parler et constituer ainsi un véritable déterminant nominal. Bien que peu nombreuses, les occurrences impliquant un déterminant an‐ ténominal indéfini montrent une convergence intéressante, à savoir, qu'elles présentent toutes des traces marquées du travail de formulation, comme les disfluences, reformulations et répétitions dans l'élaboration du GN : 15. la cérémonie du Panthéon euh culte auto-orchestré enfin par Jack Lang euh euh qui euh résonne effectivement comme un une euh je dirais une résurgence là (2005: ESLO2_CONF_2JGb_C, Jean Guarrigues, 0: 43: 20) Le cas résonne avec celui où là se rapporte à un GN distant, notamment dans un contexte d'expansion, de type proposition relative en particulier : 16. je vais demander euh à Pauline parce que hm j'ai vu la voiture que vite fait mais oui c'est une cinq portes c'est le euh hm deuxième modèle de Clio là celle qui est un petit peu arrondie là euh celle qu'on voit partout partout en ville (V-là_7: ESLO2_REP_14_C, repas_04_01_enqMM, 0: 11: 49) La difficulté de prise en compte des GN expansés est liée à la formulation de la requête : concrètement, il faut évaluer le nombre d'unités (qui composent la relative) entre le GN et le là final, puis éliminer le « bruit » dû à des constructions n'étant pas des expansions nominales. Tout en se servant des fonctionnalités de 69 Pour une analyse quantitative de là en français parlé 5 Le terme de constellation renvoie, dans le contexte de cette étude, au croisement de deux variables, i.e. linguistique et extralinguistique. TXM, et plus généralement du moteur de requête CQP (Corpus Query Processor, Evert/ Hardie 2011), le décompte reste essentiellement manuel. Une nouvelle hypothèse émerge alors : dans le contexte où là succède à un constituant nominal, sa portée ne se limite pas toujours, ou pas nécessairement, à celui-ci, comme pourrait l'illustrer le contexte de l'exemple précédemment cité sous 16., où la tête nominale, déjà marquée par là, est suivi d'une expansion, elle aussi marquée par là, qui crée un effet de redondance. Le rôle de là serait ainsi de renvoyer l'interlocuteur à des connaissances partagées : 17. chose qu'il a fait qui était qui a fait beaucoup de mal chez nous anciens combattants c'est quand il a supprimé la retraite là il a supprimé la retraite du combattant (1639: ESLO1_ENT_160_B, 4003, 0: 49: 18) Cette hypothèse pose, en retour, un problème substantiel à l'interprétation struc‐ turelle, précisément, concernant la portée de là dans les nombreux contextes où la référence reste floue, le plus souvent ancrée dans l'énonciation même : ces occurrences se caractérisent par la prévalence de pronoms interlocutifs (avec des sujets de 1 e ou 2 e personne), et/ ou une modalité exclamative ou interrogative : 18. oui c'était l'intention bien sûr et c'est une question de justice et d'égalité (…) et puisque enfin c'était une sorte de privilège euh oui je suppose c'est un privilège qu'on accorde là l'école libre vous savez quand on parle à des gens qui sans approfondir la question ils vous répondront tout de suite et ben celui qui veut que ces enfants aillent à l'école libre il a qu'à payer voilà c'est ça (V-la_2: ESLO1_ENT_160_B, 4003, 0: 41: 56) 19. à se débrouiller sur tout ce qu'il faut c'est avoir une marchandise va‐ lable et un bon emplacement oui oui vous êtes bien placé là ? (676: ESLO1_ENT_045_C, OU, 0: 03: 07) Dans ces exemples, le recours à là permet de lier l'énoncé qui le précède plus fortement à l'énonciation. 4 Analyse quantitative Cette section est consacrée aux résultats du traitement statistique appliqué aux données qui relèvent de la distribution fréquentielle de là dans les constellations 5 qui impliquent, à différents niveaux de granularité, la dimension diachronique construite (certes de manière minimaliste) par la mise en contraste des sous-corpus 70 Sascha Diwersy / Katja Ploog 6 Les calculs ont été effectués au moyen du package R textometry (Heiden et al. 2010), qui est disponible à l’adresse https: / / CRAN.R-project.org/ package=textometry et que nous avons utilisé en ligne de commande, et non pas à partir de l’interface graphique de TXM. 7 Dans la suite, nous parlons de sur-représentation lorsque le score de spécificité observé est égal ou supérieur à 2,0, et de sous-représentation lorsque ce score est inférieur ou égal à -2,0. Conformément aux pratiques établies par les travaux lexicométriques faisant appel à la méthode du calcul des spécificités, nous considérons tout score situé dans l’intervalle allant de -2,0 à 2,0 comme statistiquement non significatif, c’est-à-dire banal. 8 Dans les tableaux que nous utilisons dans cette contribution pour donner un aperçu des scores de spécificité, les chiffres négatifs ou positifs surlignés en gras sur fond gris in-diquent une sousou sur-représentation significative du mot ou de l’emploi en question. Les chiffres non surlignés indiquent, quant à eux, une fréquence d’apparition banale. ESLO1 et ESLO2, ainsi que la dimension différentielle des genres interactionnels (cf. l’aperçu donné en section 2.1). La méthode utilisée pour caractériser statisti‐ quement les divergences distributionnelles observables est celle du calcul des spécificités proposée par Lafon (1980) 6 . L'intérêt de l'approche est de révéler, pour chaque partie du corpus concernée, les emplois qui se démarquent par une fréquence d'apparition atypiquement élevée ou faible par rapport à leur fréquence théorique relevant d'un modèle de distribution probabiliste, en l'occurrence hy‐ pergéométrique. Dans les deux cas de figure, on parlera respectivement d'emplois surou sous-représentés. Quant aux emplois dont la fréquence observée est proche de la fréquence théorique, ils seront qualifiés de banals. Si l’on se place dans un premier temps au niveau de différenciation le moins développé, qui concerne la seule dimension diachronique, on constate qu’avec un score de spécificité de 12,43, là (tous emplois confondus, tableau 2 ci-après) est sur-représenté 7 dans ESLO2, ce qui indique une augmentation significative de sa fréquence depuis le tournant des années 1960/ 1970, représenté par ESLO1. Ce constat se nuance lorsqu’on différencie la distribution de là entre ESLO1 et ESLO2 par genre interactionnel. Comme le montre le tableau 2, c’est notamment dans les entretiens que là, qui s’avère nettement sur-représenté par rapport à ce genre dans ESLO2, a connu une forte progression. CONF ENT REPAS Mot ESLO1 ESLO2 ESLO1 ESLO2 ESLO1 ESLO2 là 1,1903 -1,1903 -16,9691 8 16,9691 -0,4263 0,4263 Tableau 3 : Scores de spécificité calculés pour là dans ESLO1 et ESLO2 avec différencia‐ tion préalable par genre 71 Pour une analyse quantitative de là en français parlé Si nous distinguons les occurrences de là par type d’emploi (locatif [loc], ambigu [loc / non-loc], non-locatif [non-loc], cf. section 3.1), les observations que nous venons de faire se confirment en ce sens que chaque emploi pris pour lui-même a augmenté en passant de ESLO1 à ESLO2 (cf. tableau 4) et que cette augmentation concerne notamment le genre des entretiens (cf. tableau 5). Emploi ESLO1 ESLO2 loc -7,3378 7,3378 loc / non-loc -12,4251 12,4251 non-loc -2,4953 2,4953 #RESTE 12,4272 -12,4272 Tableau 4 : Scores de spécificité des emplois de là dans ESLO1 et ESLO2 CONF ENT REPAS Emploi ESLO1 ESLO2 ESLO1 ESLO2 ESLO1 ESLO2 loc 0,2477 -0,2477 -8,9974 8,9974 -0,2947 0,2947 loc / non-loc -0,1367 0,1367 -12,3838 12,3838 -0,613 0,613 non-loc 1,2805 -1,2805 -4,2181 4,2181 -0,2907 0,2907 #RESTE -1,1903 1,1903 16,9691 -16,9691 0,4263 -0,4263 Tableau 5 : Scores de spécificité des emplois de là dans ESLO1 et ESLO2 avec différenci‐ ation préalable par genre La restriction des calculs à la seule constellation des emplois de là fait pourtant apparaitre un détail important : rapportés à eux-mêmes et non pas à l’ensemble des occurrences des différents sous-corpus, les emplois connaissent des ten‐ dances opposées, les locatifs et les ambigus étant en progression au détriment des emplois non-locatifs, comme l’indique le tableau suivant : 72 Sascha Diwersy / Katja Ploog Emploi ESLO1 ESLO2 loc -2,0738 2,0738 loc / non-loc -6,5466 6,5466 non-loc 7,8935 -7,8935 Tableau 6 : Scores de spécificité des emplois de là dans ESLO1 et ESLO2 avec exclusion du reste des occurrences des sous-corpus À en juger par les chiffres du tableau 6, donnés ci-dessous, c’est encore le genre des entretiens qui est l’épicentre du changement en termes fréquentiels. CONF ENT REPAS Emploi ESLO1 ESLO2 ESLO1 ESLO2 ESLO1 ESLO2 loc -0,416 0,416 -2,1844 2,1844 0,2729 -0,2729 loc / non-loc -0,185 0,185 -5,1983 5,1983 -0,564 0,564 non-loc 0,4502 -0,4502 7,2451 -7,2451 0,4158 -0,4158 Tableau 7 : Scores de spécificité des emplois de là dans ESLO1 et ESLO2 avec différenci‐ ation préalable par genre et exclusion du reste des occurrences des sous-corpus Pour obtenir une vision plus claire des tendances relevées jusqu’ici, il semble utile de procéder par coupe synchronique en séparant les sous-corpus ESLO1 et ESLO2 et en projetant la constellation respective des emplois à leur distribution par genre. ESLO1 ESLO2 Emploi CONF ENT REPAS CONF ENT REPAS loc -0,8781 -0,6347 1,6297 -0,8155 0,3335 0,5166 loc / non-loc -1,8117 1,1831 -0,2501 -2,9002 2,8167 -1,0165 non-loc 2,0793 -0,3581 -1,3563 3,0279 -1,9637 0,4728 Tableau 8 : Scores de spécificité des emplois de là dans ESLO1 et ESLO2 selon les genres, avec séparation par coupe synchronique 73 Pour une analyse quantitative de là en français parlé Ce qui ressort de ces chiffres, c’est d’une part la position spécifique qu’occupent les emplois non-locatifs par rapport au genre des conférences dans le cadre de ESLO1. Il s’agit là du seul cas de sur-représentation dans une constellation qui pour le reste des associations entre genre et type d’emploi se caractérise par une distribution banale. D’autre part, dans le cas du sous-corpus ESLO2, on a affaire à une sous-constellation quasi symétrique qui oppose les emplois ambigus aux emplois non locatifs dans leurs rapports avec les genres interactionnels. Ainsi, là où la sur-représentation des emplois ambigus dans les entretiens contraste avec leur sous-représentation dans les conférences, les emplois non-locatifs gardent leur association préférentielle à ce genre interactionnel alors qu’ils sont à la marge de la sous-représentation par rapport au genre des entretiens (ce dont témoigne le score de spécificité de -1,96, proche du seuil de -2,0). Au vu des tendances diachroniques que nous avons relevées ci-dessus, la progression que nous avons pu constater dans le cas des emplois ambigus dans ESLO2 (cf. tableaux 4 et 6) se reflète avant tout dans la position prédominante qu’ils ont acquise par rapport au genre des entretiens. Quant aux emplois non-locatifs, qui sont en nette régression en comparaison directe avec les autres types d’emploi (cf. tableau 6), et ceci malgré une augmentation générale de leur fréquence (cf. tableau 4), ils maintiennent leur ancrage dans les conférences, mais ne résistent guère à la poussée des emplois ambigus dans les entretiens, où ils sont en passe de former le pôle négatif en termes d’association préférentielle. Pour ce qui est des emplois locatifs, l’accroissement significatif de leur fréquence qui se manifeste de ESLO1 à ESLO2 semble avoir contribué à la stabilité de leur comportement statistiquement neutre à travers les deux sous-corpus. Pour terminer la présentation des résultats lexicométriques, nous allons nous intéresser au cas particulier de l’emploi non-locatif de là combiné à un GN, ce qui nous renvoie à la question, soulevée par Schøsler 2001 (cf. section 1.2), de la grammaticalisation de là en tant que marqueur de définitude. Les tableaux 9 et 10 présentent la distribution entre ESLO1 et ESLO2 des occurrences de là en fonction du déterminant avec lequel est construit le GN. Les scores de spécificité respectifs étant calculés, en 9, par rapport à l’ensemble des GN apparaissant dans les deux sous-corpus, en 10, par rapport au seul paradigme des GN auxquels est associé là. Construction ESLO1 ESLO2 DET: def + N + là -1,8732 1,8732 DET: dem + N + là -0,3063 0,3063 DET: indef + N + là -0,8155 0,8155 74 Sascha Diwersy / Katja Ploog DET: poss + N + là 0,5021 -0,5021 PRO: dem + là 0,7918 -0,7918 #RESTE: DET+N -1,3102 1,3102 Tableau 9 : Scores de spécificité des différentes constructions de GN combinées avec là dans ESLO1 et ESLO2 Construction ESLO1 ESLO2 DET: def + N + là -1,7943 1,7943 DET: dem + N + là 0,6455 -0,6455 DET: indef + N + là -0,7636 0,7636 DET: poss + N + là 0,5546 -0,5546 PRO: dem + là 0,948 -0,948 Tableau 10 : Scores de spécificité des différentes constructions de GN combinées avec là dans ESLO1 et ESLO2 avec exclusion du reste des occurrences des sous-corpus Ces chiffres montrent que, d’une manière générale, la fréquence de chaque construction n’a pas évolué de façon significative d’une période à l’autre. L’on peut retenir, d'un côté, la distribution statistiquement non marquée des GN intégrant un démonstratif, qui forme avec là ce qu’il est convenu de catégoriser comme un déterminant composé discontinu, et, de l’autre, l’accroissement, ten‐ dant à la sur-représentation, de la fréquence des GN avec article défini auxquels se combine là, cas prototypique, relevé par Schøsler 2001, de l’emploi de là en tant que marqueur de définitude. Les scores de spécificité, statistiquement non significatifs, ne permettent pas d'établir la progression de la grammaticalisation de là dans le domaine de l’actualisation nominale dans l'intervalle ESLO1 / ESLO2. 5. Bilan L'étude statistique révèle la particularité des emplois de là dans le genre entretien et une augmentation générale des occurrences de là pour lesquelles une catégorisation sémantico-référentielle ou syntaxique claire pose problème. L'augmentation des constructions les plus innovantes (DET: def + N + là), bien que constatée, n'est pas suffisamment massive pour être significative. 75 Pour une analyse quantitative de là en français parlé 9 Ce calcul a été effectué au moyen de TXM, qui implémente la méthode lexicométrique mise au point par Lafon (1981). 10 Sous-catégorie de shell nouns non prototypique selon Schmid (ibid.), les shell nouns circonstanciels renvoient aux concepts généraux de situation, lieu, temps et condition. Quelles conclusions peuvent être tirées de ces constats pour l'observation de la dynamique de grammaticalisation en cours ? L'augmentation de là dans les entretiens de ESLO1 à ESLO2, ainsi la distribu‐ tion différentielle significative dans ce genre en général pose question : cette différence révèle-t-elle le caractère significatif du genre pour l'observation de la dynamique, ou alors, les méthodes de recueil précises utilisées dans les entretiens diffèrent-elles de manière substantielle entre ESLO1 et ESLO2 ? De manière générale, les ambiguïtés semblent en progression, sauf dans le genre conférence, monologal au contraire des genres entretien et repas. Or, il semble plausible que les genres dialogaux recourent plus fortement au marquage de l'intersubjectivité, a fortiori, de la spécificité. Si les emplois innovants exploitent précisément l'espace de la sous-détermi‐ nation, l'augmentation des occurrences qualifiées d'ambiguës parait indiquer l'affirmation des emplois innovants de là, en particulier, associés à un GN non démonstratif, expansé, ou encore à des segments propositionnels. Sur le plan constructionnel, deux dynamiques inverses peuvent être obser‐ vées dans les occurrences catégorisées comme non locatives : la tendance au figement lexico-grammatical dans les occurrences en bordure de GN, démonst‐ ratives en particulier ; le dépassement des contraintes lexico-grammaticales avec convergence des contextes énonciatifs dans les occurrences où là semble avoir une portée plus large. 5.1 Emplois non-locatifs à portée étroite et figement lexico-grammatical L’étude des emplois non-locatifs de là permet de relever un grand nombre d’occurrences où il se trouve en bordure de GNs construits avec un déterminant démonstratif qui font partie intégrante d’un complément circonstanciel et dont la tête est pour la plupart constituée par un N abstrait. Une analyse plus ciblée, qui vise le comportement collocationnel de là au moyen d’un calcul de cooccurrence 9 appliqué à son co-texte immédiat à gauche (ici restreint à une fenêtre d’un mot), fait apparaitre que les noms les plus fortement associés à là (en l’occurrence moment, cas, époque, cf. tableau 10A en annexe) relèvent d’une même catégorie fonctionnelle, en ce sens qu’on peut les qualifier avec Schmid (2000: 275 sqq.) de « shell nouns » circonstanciels 10 . Nous avons affaire ici à un cas où là se trouve étroitement associé à des syntagmes qui se caractérisent 76 Sascha Diwersy / Katja Ploog par un certain degré de figement lexico-grammatical, et dont la fonction est de contribuer à la structuration textuelle en tant qu’organisateur temporel (à ce moment-là, à cette époque-là) ou connecteur de thématisation (dans ce cas-là). A cet égard, le comportement collocationnel de là témoigne d’une pragmatisation liée, en portée étroite, au cadre d’une construction lexico-grammaticale bien circonscrite. 5.2 Pragmatisation Lorsque là se combine avec un GN déterminé hors démonstratif, le dénomina‐ teur commun des occurrences est sa fonction de borne de clôture intersubjective. Dans cette perspective, la sur-représentation de ces emplois dans les genres dialogaux du corpus semble plausible. En corollaire, l'annotation de données fortement ancrées dans l'espace énon‐ ciatif défie l'approche quantitative. Pour l'ensemble de cette étude exploratoire, il convient noter que l'annotation morphosyntaxique de ESLO-MD issue du traitement avec TreeTagger ne permet pas, à ce stade, de contrôler les requêtes pour établir des classes d'occurrences consistantes. En effet, les catégories d'analyse restent encore largement à affiner pour profiler des classes plus précises. Le flou catégoriel de là en position finale (ou postposée) s'articule autour de trois problématiques : • la distinction des emplois clitiques de ceux où là est un constituant syntaxique à lui seul ; une meilleure catégorisation passera par une caractérisation prosodique des très nombreux types d'occurrences où là se rapporte à un contexte amont ; • une annotation morphosyntaxique détaillée des occurrences de là à portée "large" (GN expansés et non-GN), qui permettra d'argumenter la dynamique de pragmatisation ; • une étude plus détaillée des locatifs, en particulier des combinaisons de là avec un GPrep (sur l'avenue là) ou GAdv (ici-là) : combinant les deux paradigmes formels, ce contexte structurel peut être considéré comme l'environnement d'origine de l'interprétation origo des occurrences à portée large. Reste que l'analyse qualitative montre de très nombreuses ambiguïtés struc‐ turelles. Or la sous-détermination structurelle est un terroir fertile pour la dynamique linguistique, en ce qu'elle offre concrètement un contexte favorable à l'émergence de structures innovantes. 77 Pour une analyse quantitative de là en français parlé Références Abouda, Lotfi/ Skrovec, Marie (2018). Pour une micro-diachronie de l'oral : le corpus ESLO-MD, SHS Web Conf, volume 46, 6e Congrès Mondial de Linguistique Française. Baker, Philip (2003). Quelques cas de réanalyse et de grammaticalisation dans l’évolution du créole mauricien. In: Kriegel, Sibylle (Hrsg.). Grammaticalisation et réanalyse: Approche de la variation créole et française. Paris: CNRS éditions, 111-141. Blanche-Benveniste, Claire (2000). Transcription de l'oral et morphologie. In: Guille, Martine/ Kiesler, Reinhard (Hrsg.). Romania una et diversa, Philologische Studien für Theodor Berchem zum 65. Geburtstag, Band 1. Tübingen: Gunter Narr, 61-74. Combettes, Bernard (2001). L’émergence d’une catégorie morphosyntaxique : les dé‐ terminants du nom en français. http: / / journals.openedition.org/ linx/ 818 (Stand: 30.04.2019) Daff, Moussa (1998). Petite vitrine syntaxique du français oral en Afrique. In: Queffelec, Ambroise (Hrsg.). Alternances codiques et français parlé en Afrique. Aix-en-Pro‐ vence : Publications de l'Université de Provence, 107-129. Detges, Ulrich/ Waltereit, Richard (2016). Grammaticalization and pragmaticalization. In: Fischer, Susann/ Gabriel, Christoph (Hrsg.). Manual of grammatical interfaces in romance. Manuals of romance linguistics, Band. 10. Berlin/ Boston: De Gruyter, 635-657. Detges, Ulrich/ Waltereit, Richard (2009). Diachronic pathways and pragmatic strategies. Different types of pragmatic particles from a diachronic point of view. Current trends in diachronic semantics and pragmatics. M.-B. M. Hansen, J. Visconti, eds. Oxford, Emerald. 43-61. Detges, Ulrich/ Waltereit, Richard (2002). Grammaticalization vs. reanalysis: A se‐ mantic-pragmatic account of functional change in grammar. Zeitschrift für Sprach‐ wissenschaft 21: 2, 151-195. Diewald, Gabriele (2011). Pragmaticalization (defined) as grammaticalization of discourse functions. Linguistics 49: 2, 265-290. Evert, Stefan/ Hardie, Andrew (2011). Twenty-first century Corpus Workbench: Updating a query architecture for the new millennium. In: Proceedings of the Corpus Linguistics 2011 conference, Birmingham, UK. http: / / www.birmingham.ac.uk/ documents/ colleg e-artslaw/ corpus/ conference-archives/ 2011/ Paper-153.pdf (Stand: 27.02.20) Greenberg, Joseph H. (Hrsg.) (1963). Universals of Language. Cambridge: MIT Press. Heiden, Serge/ Mague, Jean-Philippe/ Pincemin, Béatrice (2010). TXM : Une plateforme logicielle open-source pour la textométrie - conception et développement. In: Bolasco, Sergio/ Chiari, Isabella/ Giuliano, Luca. 10th International Conference on the Statistical Analysis of Textual Data - JADT 2010, Jun 2010, Rome, Italie: Edizioni Universitarie di Lettere Economia Diritto, 2: 3, 1021-1032. 78 Sascha Diwersy / Katja Ploog Hine, Bernd/ Kuteva, Tania (2002). World Lexicon of Grammaticalization. Cambridge: Cambridge University Press. Italia, Magali (2006). Le morphème là dans les variétés mésolectales et basilectales en français du Gabon: Le français en Afrique. ROFCAN 21, 281-290. Knutsen, Anne M./ Ploog, Katja (2005). La grammaticalisation de LA en (français) abidjanais : Une marque à tout faire ? In: Kabatek, Johannes/ Pusch, Claus D./ Raible, Wolfgang (Hrsg.). Romanistische Korpuslinguistik II: Korpora und diachrone Sprach‐ wissenschaft / Romance Corpus Linguistics II: Corpora and Diachronic Linguistic. Tübingen: Gunter Narr, 469-482. Kriegel, Sibylle (2003). Grammaticalisation et réanalyse: Approche de la variation créole et française. Paris: CNRS éditions. Lafon, Pierre (1980). Sur la variabilité de la fréquence des formes dans un corpus. Mots 1, 127-165. Lehmann, Christian (2002 [1982]). Thoughts on Grammaticalization. 2. Aufl. Erfurt: Seminar für Sprachwissenschaft. Ludwig, Ralph/ Pfänder, Stefan (2003). La particule là/ LA en français oral et en créole caribéen : Grammaticalisation et contact de langues. In: Kriegel, Sibylle (dir.). Gram‐ maticalisation et réanalyse: Approche de la variation créole et française. Paris: CNRS éditions, 269-284. Marchello-Nizia, Christiane (2001). Grammaticalisation et évolution des systèmes gram‐ maticaux. Langue française. 130. 33-41. Marchello-Nizia, Christiane (1995). L’évolution du français. Paris: Armand Colin. Schøsler, Lene (2001). Reanalysing Structure: The Modern French Definite Article, its Predecessors and Development. Acta Linguistica Hafniensia 33: 1, 91-108. Schmid, Helmut (1994). Probabilistic Part-of-Speech Tagging Using Decision Trees. Proceedings of International Conference on New Methods in Language Processing. Manchester, UK. Schmid, Hans-Jörg (2000). English Abstract Nouns as Conceptual Shells: From Corpus to Cognition. Berlin/ New York: Mouton de Gruyter. Selig, Maria (1992). Die Entwicklung der Nominaldeterminanten im Spätlatein. Tübingen: Gunter Narr. Vincent, Diane (1993). Les ponctuants de la langue et autres mots du discours. Québec: Nuit Blanche Editeur. Wiesmath, Rafaële (2003). La particule là dans le parle acadien du Nouveau-Brunswick, Canada. In: Kriegel, Sibylle (dir.). Grammaticalisation et réanalyse. Approche de la variation créole et française, Paris: CNRS éditions, 285-302. 79 Pour une analyse quantitative de là en français parlé Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz Esme Winter-Froemel Bei der Beschreibung neu entstandener Kommunikationsformen wird vielfach auf das Modell der kommunikativen Nähe und Distanz nach Koch und Oesterreicher (1985, 2011) Bezug genommen. Digitale Kommunikate wie Social Media-Posts, Chatbeiträge usw. werden dabei über das zentrale Merkmal ihres konzeptionell nähesprachlichen Profils bei gleichzeitiger graphischer Realisierung charakterisiert, womit den typi‐ schen Kombinationen des Trapezmodells ein dritter zentraler Bereich hinzugefügt wird (vgl. Frank-Job 2010). Ausgehend hiervon zielt der vorliegende Beitrag darauf ab zu reflektieren, wie Sprache und Kommunikation im digitalen Zeitalter analysiert werden können. Mit einer Präzisierung der medialen Dimension, die in der Rezeption des Modells häufig umgedeutet wird, sowie einem Brückenschlag zum Ansatz der Diskurstraditionen (Koch 1997) lässt sich das Nähe-Distanz-Modell gewinnbringend für die Beschreibung digitaler Kommunikationsformen in ihrer dynamischen Ent‐ wicklung einsetzen. 1 Einführung Barbara Frank-Job (2010) hebt die grundlegenden Veränderungen hervor, die im Rahmen computervermittelter Kommunikation auf sprachlicher Ebene statt‐ finden, und stellt diese als medieninduzierten Ausbau der Nähesprache dem mittelalterlichen Ausbau der Distanzsprache gegenüber, der für die Sprach‐ geschichte der romanischen Sprachen als prägend gelten kann. Ausgehend davon setzt sich der vorliegende Beitrag zum Ziel, die mit der Digitalisierung einhergehenden fundamentalen Veränderungen mit Blick auf das von Koch und Oesterreicher entwickelte Nähe-Distanz-Modell näher auszuloten. Hierbei werden zunächst theoretische Fragen hinsichtlich der Anwendbarkeit des Modells auf digitale Kommunikationsformen diskutiert und die Auslegung des ‚Medialen‘ bei Koch und Oesterreicher späteren Ansätzen gegenübergestellt. Ferner werden einzelne Erweiterungen der Parameter vorgeschlagen, und es wird für einen Brückenschlag zum Ansatz der Diskurstraditionen argumentiert, der auch im genannten Beitrag von Frank-Job (2010) fruchtbar gemacht wird (2.). Auf dieser Grundlage werden Veränderungen der Texte und Diskurstraditionen (3.) kommentiert. Zusammenfassend kann damit eine hohe Relevanz linguisti‐ scher Ansätze für die Analyse der tiefgreifenden Veränderungen festgestellt werden, die die Kommunikation im digitalen Zeitalter insgesamt prägen (4.). Neben Begriffen wie ‚Text‘, ‚Diskurs‘ oder ‚Äußerung‘ verwende ich nachfol‐ gend auch den Begriff ‚Kommunikat‘, mit dem ich auf situationsabgeschlossene und funktionale Einheiten der Kommunikation referiere (vgl. etwa Wichter 2011, 2015), wobei phonisch und graphisch realisierte, nähe- und distanzsprach‐ liche, monologische und dialogische Kommunikationseinheiten realer wie auch virtueller Sprecher/ Schreiber/ Sender gleichermaßen eingeschlossen sind. 2 Zur Analysierbarkeit digitaler Kommunikation im Rahmen des Nähe-Distanz-Modells von Koch und Oesterreicher Das Nähe-Distanz-Modell von Koch und Oesterreicher (u. a. 1985, 2011) genießt über die Romanistik hinaus breite Anerkennung und wird regelmäßig zur Charakterisierung neuer digitaler Kommunikationsformen herangezogen. Dies erscheint insofern bemerkenswert, als die Unterscheidung von kommunikativer Nähe und Distanz, die von Koch und Oesterreicher als vierte Varietätendimen‐ sion konzipiert wurde, zu einer Zeit entwickelt wurde, als die entsprechenden digitalen Kommunikationsformen noch nicht existierten. Es liegt daher nahe, die Anwendbarkeit des Ansatzes auf diese neuen Realitäten zu prüfen und ggf. sinnvolle Erweiterungen oder Modifikationen zu erörtern. Vorab ist hierbei einschränkend anzumerken, dass digitale Kommunikation nicht als ein einheitliches Phänomen anzusehen ist. Vielmehr liegt ein sehr dynamischer Bereich vor, in dem auch aktuell immer wieder neue, teils noch nicht klar konturierte kommunikative Praktiken geprägt werden, deren Entste‐ hung und Abgrenzung zu anderen Praktiken noch wenig untersucht sind. Auf technischer Seite ist festzustellen, dass in kurzen Zeitabständen immer wieder Veränderungen initiiert werden, die für digitale Kommunikation und Sprache im digitalen Zeitalter unmittelbar relevant sind, beispielsweise der Wegfall des Kostenfaktors beim Versand von Kurznachrichten durch Flatrates und kosten‐ lose Programme, die Veränderung der erlaubten Zeichenzahl bei bestimmten Nachrichtendiensten, die automatische Ersetzung von Emoticons durch Emojis, die Möglichkeit der direkten Eingabe vorgefertigter Emojis, inhaltliche Verän‐ 82 Esme Winter-Froemel 1 Etwa durch Ergänzung der gelben Smileys durch weitere Gesichtsausdrücke, Farben, zusätzliche Gestaltungslemente, Darstellung von Gesten und allgemein die Einführung weiterer Emojis mit unterschiedlichen Ausprägungen des Bezugs auf die Kommunika‐ tionspartner und die Kommunikation begleitende Handlungen. 2 „[] spielen unseres Erachtens mindestens die folgenden Parameter [] eine wichtige Rolle []: a) der Grad der Öffentlichkeit [], b) der Grad der Vertrautheit der Partner [], c) der Grad der emotionalen Beteiligung [], d) der Grad der Situations- und Handlungseinbindung [], e) der Referenzbezug [], f) die physische Nähe der Kommunikationspartner (face-to-face-Kommunikation) vs. physische Distanz in räumlicher und zeitlicher Hinsicht [], g) der Grad der Kooperation [], h) der Grad der Dialogizität [], i) der Grad der Spontaneität der Kommunikation, j) der Grad der Themenfixierung“ (Koch/ Oesterreicher 2011: 7, Hervorhebungen im Orig.). derungen der Emojis, 1 die automatische Ersetzung von Abkürzungen wie <LG> oder <MfG> durch die entsprechenden Vollformen ohne Mehraufwand bei der Texteingabe usw. Aus den vielfältigen kleinen Veränderungen können sich grundlegende Verschiebungen im Gebrauch der entsprechenden sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen sowie im Verhältnis der verschiedenen Zeichen‐ systeme zueinander ergeben. Die nachfolgend angestellten Überlegungen haben daher notwendigerweise den Charakter einer Momentaufnahme, die nicht die Komplexität der aktuellen Prozesse in ihrer Gesamtheit widerspiegeln kann und ggf. an weitere Entwicklungen anzupassen sein wird. Jedoch stehen bei den Überlegungen ohnehin nicht detaillierte und vollständige Analysen im Vordergrund, vielmehr zielt der Beitrag auf eine Reflexion grundlegender Merkmale und Tendenzen der digitalen Kommunikation ab. Das Modell von Koch und Oesterreicher wird hier als bekannt vorausgesetzt, sodass lediglich auf die Kernelelemente verwiesen wird, die für die weitere Diskussion von zentraler Bedeutung sind: Es handelt sich zunächst um die Einforderung einer Präzisierung der Begriffe ‚Mündlichkeit‘ und ‚Schriftlich‐ keit‘ durch die konsequente Unterscheidung zwischen medialem und konzeptio‐ nellem Aspekt, die im Anschluss an Söll (1985) getroffen wird. Hierbei wird auf medialer Ebene eine strikte Dichotomie (phonisch vs. graphisch) angesetzt, auf konzeptioneller Ebene hingegen ein Kontinuum zwischen gesprochenen und geschriebenen bzw. nähesprachlichen und distanzsprachlichen Äußerungen. Um konkrete Äußerungen bzw. Kommunikationsformen konzeptionell einzu‐ ordnen, wird ein ggf. erweiterbares Set an Parametern vorgeschlagen, das zur Charakterisierung der Kommunikationsbedingungen dient. 2 Die einzelnen Pa‐ rameter können dabei unterschiedliche Ausprägungen annehmen, so dass sich für einzelne Kommunikationsformen bestimmte konzeptionelle Reliefs ergeben (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 8-9). Aus den Kommunikationsbedingungen lassen sich sodann bestimmte Versprachlichungsstrategien ableiten. 83 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz 3 Die Einordnung der unter „a“ bis „e“ angesetzten Kommunikationsformen wäre wei‐ terführend nuancierter zu erörtern, da etwa für E-Mails heute nicht mehr von einem einheitlichen konzeptionellen Relief ausgegangen werden kann, sondern spezifischere Nutzungsformen der E-Mail, etwa für Privatkommunikation oder geschäftliche Kom‐ munikation, zu unterscheiden sind (vgl. Dürscheid 2003, 2016: 53, Androutsopoulos 2007: 87-88). Die digitale Kommunikation zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass die bislang untypische Kombination von graphischer Realisierung und konzeptio‐ neller Nähesprache verstärkt auftritt. Insofern liefert der Ansatz von Koch und Oesterreicher eine erste Verortung digitaler Kommunikationsformen. Ferner kann eine Verschiebung in der Auslastung der verschiedenen Kombinationen der medialen und konzeptionellen Optionen konstatiert werden. Das von Koch und Oesterreicher für vordigitale Kommunikation angesetzte Trapez mit den bevorzugten Kombinationen phonische Realisierung + Nähesprache und gra‐ phische Realisierung + Distanzsprache ist somit für digitale Kommunikation zu erweitern, wie bereits Frank-Job (2010) feststellt (vgl. Abb. 1). Barbara Frank-Job stellt dabei die tiefgreifenden Veränderungen, die als medieninduzierter Ausbau der Nähesprache gefasst werden, dem Ausbau der Distanzsprache im romani‐ schen Mittelalter gegenüber (wobei ‚medieninduziert‘ hier nicht auf die Oppo‐ sition phonisch-graphisch, sondern auf die Medien im Sinne der Trägermedien Computer und Buch verweist). 3 Abb. 1: Auslastung des Bereichs der graphisch realisierten Nähesprache in der compu‐ tervermittelten Kommunikation (Frank-Job 2010: 38) 84 Esme Winter-Froemel 4 Vgl. Krefeld (2015) und Dufter (2018: 65): „la communication orale, face to face, se caractérise [] par l’absence de tout support médial“. Gleichzeitig ergibt sich bei einer Anwendung des Nähe-Distanz-Modells Klä‐ rungsbedarf hinsichtlich der Frage der Auslegung des ‚Medialen‘. So sieht beispielsweise Krefeld (2015) den Aspekt der medialen Vermittlung im Rahmen der Unterscheidung phonisch/ graphisch nicht angemessen repräsentiert und fordert eine Unterscheidung zwischen nicht medial vermittelter Nähekommu‐ nikation in Face-to-Face-Situationen und medial vermittelter Kommunikation ein. Die Koch und Oesterreicher vorgeworfene „défiguration du média“ (Krefeld 2015: 272) bezieht sich jedoch auf eine bewusst getroffene Entscheidung zwi‐ schen unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten des Begriffs des ‚Medialen‘, die zunächst klar zu unterscheiden sind. Hierzu kann auf die prägnante Gegen‐ überstellung von Frank-Job verwiesen werden: In einer traditionell sprachwissenschaftlichen Definition bezeichnet das Medium die rein physikalische Realisierung einer sprachlichen Äußerung und damit die Dichotomie phonisch oder graphisch. In einer weiteren und außerhalb der Sprachwissenschaft sicherlich geläufigeren Verwendungsweise bezeichnet Medium die verschiedenen Trägerformen für Zeichen‐ systeme, wobei die typischerweise im Gefolge eines Trägers auftretenden Kommuni‐ kationsbedingungen zu den Eigenschaften des Trägers selbst hinzugezählt werden []. (Frank-Job 2010: 27) Zum besseren Verständnis sollen die beiden Auslegungen hier als ‚Medium 1 ‘/ ‚Medium 2 ‘ gegenübergestellt werden. Im Falle der ‚Medien 1 ‘ geht es also um „physikalische Manifestationen, die bestimmte sensorische Modalitäten anspre‐ chen (Phonie → akustisch, Graphie → visuell)“, im Falle der (etwa in der Me‐ dienwissenschaft vorherrschenden) Auslegung um ‚Medien 2 ‘ als „‚technische‘ Speicher- und Übertragungsmedien“ (Koch/ Oesterreicher 2011: 14). Beide Aus‐ legungen lassen sich von der allgemeinen Bedeutung ‚vermittelndes Element‘ (Duden) ableiten, wobei die Vermittlung im Falle eines technischen Mediums 2 zwischen den an der Kommunikation beteiligten Individuen stattfindet, 4 im Falle des Mediums 1 hingegen in abstrakterer Weise als physikalisch beobachtbare Vermittlung zwischen mentalen Einheiten beim Produzenten und Rezipienten zu denken ist (vgl. etwa auch die Darstellung von psychischen, physiologischen und physischen Prozessen im circuit de la parole bei Saussure 1969 [ 1 1916]: 27-28). Die mediale 2 Dimension ist jedoch im Nähe-Distanz-Modell ebenso berück‐ sichtigt. So wird etwa bei der Beschreibung der Kommunikationsbedingungen 85 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz 5 So wird beispielsweise die mediale 1 Realisierung bei der Planung einbezogen, wenn das Layout eines Plakats als graphisches Kommunikat geplant wird oder bei einem Vortrag als phonischem Kommunikat im Manuskript Pausen oder prosodisch hervorzuhebende Passagen markiert werden. immer wieder auf Rahmenbedingungen verwiesen, die in direktem Zusammen‐ hang mit dem jeweiligen Medium 2 stehen, etwa das grundsätzliche Vorliegen von physischer Distanz beim Privatbrief. Ähnlich lässt sich z. B. für Chatkom‐ munikation generell eine Kombination von räumlicher Distanz und zeitlicher Nähe feststellen. Als entscheidend erscheint hierbei jedoch, dass die genannten Beschreibungen nach Koch und Oesterreicher nicht auf der medialen, sondern auf der konzeptionellen Ebene angesiedelt sind. Die Parameter zur Charakte‐ risierung der Kommunikationsbedingungen bieten dabei sehr differenzierte Möglichkeiten, den Einfluss des jeweiligen Mediums 2 auf die Gestaltung einer sprachlichen Äußerung zu erfassen und diesen von der Frage der phonischen oder graphischen Realisierung zu trennen, durch die weitere Festlegungen ins Spiel kommen. 5 In Ansätzen, die für eine stärkere Berücksichtigung des Mediums 2 argumentieren, lassen sich hingegen immer wieder Vermischungen mit dem Medium 1 konstatieren (so etwa auch bei Dürscheid 2003: 38-39, 2004, 2016: 53; vgl. Frank-Job 2010), während das Modell von Koch und Oesterreicher hier eine differenziertere Analyse erlaubt. Eine weitere Tendenz, die sich in der Rezeption des Nähe-Distanz-Modells beobachten lässt, betrifft die Auslegung der Rolle der einzelnen Parameter zur Charakterisierung der Kommunikationsbedingungen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Koch und Oesterreicher selbst - im Bewusstsein der perma‐ nenten Dynamik der Entwicklung der Kommunikationsformen - die Möglichkeit der Ergänzung weiterer Parameter vorsehen. Die Parameter werden in den von ihnen skizzierten konzeptionellen Reliefs des Privatbriefs, der Predigt und des Vorstellungsgesprächs (Koch/ Oesterreicher 2011: 8-10) nicht streng quantifiziert, sondern vor allem zur qualitativen Charakterisierung der jeweiligen Traditionen herangezogen. Dabei ergeben sich unterschiedliche Reliefs, die teilweise hetero‐ gene Parameterwerte beinhalten. Einzelne „Ausreißer“ bei bestimmten Parame‐ terwerten (etwa räumliche Distanz bei ansonsten klar nähesprachlicher Kommu‐ nikation) können damit meines Erachtens nicht als Einwand gegenüber dem Modell angeführt werden (für entsprechende Kritik am Modell vgl. z. B. Dürscheid 2016: 47-48). Das Ziel einer eindeutigen Verortung unterschiedlicher Kommuni‐ kationsformen auf einem eindimensional konzipierten Nähe-Distanz-Kontinuum (wie es etwa bei Androutsopoulos 2007: 87 und 90, teilweise aber auch bei den Autoren selbst anklingt, vgl. die Verortung einzelner Kommunikationsformen bzw. Diskurstraditionen in der Trapezdarstellung bei Koch und Oesterreicher 86 Esme Winter-Froemel 6 Wie ließe sich beispielsweise der relative Nähe-/ Distanzgrad eines literarischen Liebes‐ briefes im Vergleich zu Chatkommunikation mit teilweise unbekannten Gesprächspart‐ nern vergleichend einordnen? In beiden Fällen liegen viele typische Merkmale der Nähekommunikation vor, aber auch einzelne Parameterwerte im distanzsprachlichen Bereich. Eine absolute Gewichtung der Parameter erscheint problematisch, stellt aus meiner Sicht jedoch auch keine Voraussetzung für eine sinnvolle Anwendung des Modells dar. 2011: 13), erscheint in der Tat schwierig, 6 jedoch auch nicht als zentrale Anwen‐ dungsperspektive des Modells einzufordern. In der Rezeption des Nähe-Distanz-Modells lässt sich feststellen, dass vor allem die von Koch und Oesterreicher vorgeschlagenen Parameter zur Beschrei‐ bung der Kommunikationsbedingungen im Vordergrund stehen, während die sich daraus ableitenden Versprachlichungsstrategien weniger systematisch auf‐ gegriffen werden. Unterschwellig scheinen die ersteren häufig im Sinne von „objektiven“ Rahmenbedingungen aufgefasst zu werden, die hinsichtlich der zweiteren bestimmte Festlegungen für die Kommunikationsteilnehmer vorgeben. Meines Erachtens ist es jedoch gewinnbringend, die Parameter vor allem als heu‐ ristisches Instrumentarium zu verstehen, um zunächst die bei einem bestimmten Kommunikationsakt geltenden Rahmenbedingungen zu erfassen. Sodann ist eine Bezugnahme auf die neuere Forschung in der Semantik und Pragmatik hilfreich, die verstärkt die aktive Rolle der Kommunikationsteilnehmer in den Vordergrund stellt und untersucht, inwiefern diese aktiv an der Gestaltung der Kommunikation mitwirken (vgl. etwa auch die von Dufter 2018: 70 hervorgehobenen „choix linguistiques“ und das Konzept des audience design nach Bell 1984). Dies lässt sich auf den Bereich der Kommunikationsbedingungen übertragen: Es erscheint vorteilhaft, die Parameter nicht im Sinne von notwendigen und hinreichenden Merkmalen zu verstehen, sondern als typische (jedoch nicht im strengen Sinn definitorische) sowie - in einem gewissen Rahmen - auch von den Kommunika‐ tionspartnern verhandelbare Merkmale. Auf dieser Grundlage lassen sich auch Krefelds Kritik und sein Neuvorschlag aufgreifen. Er sieht nur drei der Parameter als definitorisch für das immédiat phonique an, das er als nicht medial 2 vermittelte „communication de base“ auffasst (Krefeld 2015: 266): die Situations- und Handlungseinbindung, den Refe‐ renzbezug sowie die physische Nähe der Kommunikationspartner in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Diese leiten sich nach Krefeld direkt aus der spatialen Dimension der Kommunikation ab und werden begrifflich (unter Rückgriff auf den von Koch und Oesterreicher als Übersetzung von ‚Nähe‘ verworfenen Terminus) als proximité dem immédiat gegenübergestellt. Jedoch ist aus meiner Sicht zu berücksichtigen, dass auch hier gewisse Gestaltungsspielräume durch 87 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz 7 „[] l’immédiat, c’est-à-dire la phonie issue de l’articulation et perçue par les organes de sens, implique la coprésence spatio-temporelle des communicants aussi bien que l’ancrage actionnel et référentiel du message fugitif dans le contexte situationnel actuel“ (Krefeld 2015: 267). Indem immédiat hier definitorisch auf phonische Kommunikation beschränkt wird, wird zugleich die begriffliche Trennung der medialen 1 und konzep‐ tionellen Ebene nach Koch und Oesterreicher aufgehoben. die Kommunikationsteilnehmer vorliegen. Die räumliche und zeitliche Nähe/ Distanz der Kommunikationsteilnehmer ist tatsächlich in der Regel zunächst objektiv gegeben und am wenigsten gestaltbar - bei räumlicher Nähe kann allerdings der genaue räumliche Abstand für die Gestaltung der Äußerung durchaus mitbestimmend sein und aktiv von den Kommunikationsteilnehmern umgestaltet werden, in digitaler Kommunikation können etwa abhängig von der gewünschten zeitlichen Nähe unterschiedliche mediale 2 Kommunikations‐ kanäle gewählt werden (Wahl von Nachrichtendiensten wie WhatsApp mit der Intention einer größeren zeitlichen Nähe als bei E-Mail-Kommunikation o. ä.). Gleichzeitig ist das Vorliegen eines gemeinsamen (realen oder virtuellen) Kommunikationsraums eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Vorausset‐ zung für die kommunikative Nutzung von Situations- und Handlungseinbin‐ dung sowie Referenzbezug. Die Möglichkeiten einer differenzierten Analyse der jeweiligen Optionen und Kombinationen, die sich hier ergeben, gehen verloren, wenn die Nähekommunikation (im Sinne des immédiat bei Krefeld) definitorisch auf nicht medial 2 vermittelte Kommunikation in physikalischer Nähe (proximité) eingeschränkt wird: 7 Die entsprechenden Merkmale treffen weder für die konzeptionelle Nähe noch für medial phonische Realisierungen nach Koch und Oesterreicher zwingend zu (z. B. sind Nachrichten auf dem An‐ rufbeantworter phonisch realisiert, beinhalten aber eine räumliche und zeitliche Distanz der Kommunikationspartner; Chatkommunikation kann konzeptionell als nähesprachlich eingestuft werden, aber es besteht keine räumliche Nähe der Kommunikationsteilnehmer und nur eine eingeschränkte Situations- und Handlungseinbindung sowie ein eingeschränkter Referenzbezug). Und auch im Falle einer medialen 2 Vermittlung ist die Nutzung bestimmter Referenzbezüge nicht prinzipiell ausgeschlossen. So können etwa deiktische Ausdrücke wie hier sowohl auf die Situation einer realen Face-to-Face-Kommunikation als auch auf einen virtuellen Chatraum, einen gemeinsamen virtuellen Besprechungsraum einer Videokonferenz o. ä. verweisen. Für andere der Parameter lässt sich der Gestaltungsrahmen für die Kom‐ munikationsteilnehmer noch klarer aufzeigen, etwa für die Dialogizität oder Monologizität oder den Planungsgrad. So können beispielsweise innerhalb der Kommunikationsformen des wissenschaftlichen Vortrags oder der Festrede 88 Esme Winter-Froemel 8 Als ein Beispiel lässt sich die folgende Beobachtung von Dürscheid anführen: „Die Teilnehmer im Chat verwenden eine Ausdrucksweise, die in vielen Fällen der kon‐ zeptionellen Mündlichkeit zuzuordnen ist - und dies, obwohl sie sich in der Regel nicht kennen und die Kommunikation maximal öffentlich ist.“ (Dürscheid 2016: 47; die maximale Öffentlichkeit ist dabei allerdings aus meiner Sicht zu nuancieren, da in den meisten Chats eine Anmeldung erforderlich ist und programmgestützt ein explizit versprachlichtes persönliches Betreten des virtuellen Chatraums erfolgt). unterschiedliche Grade der Planung sowie der Kooperation der Kommunikation realisiert werden (Rückfragen an das Publikum im Vortrag, direkte Ansprache einzelner im Publikum und Einbau kurzer dialogischer Sequenzen in der Fest‐ rede usw.). Viele als Kritik am Nähe-Distanz-Modell angeführte Beobachtungen 8 lassen sich daher gerade als Bestätigung der Leistungsfähigkeit des Modells interpretieren, insofern als das Modell es erlaubt, unübliche Konstellationen, die z. B. von den Produzenten manipulativ eingesetzt werden oder von den Rezipienten als unangemessen interpretiert werden, als solche zu benennen (etwa ein unangemessen hoher Dialogizitätsgrad eines wissenschaftlichen Vor‐ trags, eine unangemessene Spontaneität und Emotionalität eines offiziellen Statements usw.). Ein Verständnis der Parameter im Sinne von (begrenzt) mitgestaltbaren Rahmenbedingungen der Kommunikation bietet daher diffe‐ renzierte Möglichkeiten der linguistischen Analyse, indem auch das Verhältnis von „üblichen“ Parameterwerten einer bestimmten Kommunikationsform (die im Folgenden über den Begriff der ‚Diskurstradition‘ gefasst werden) und der konkreten Ausgestaltung in individuellen Kommunikaten untersucht werden kann. Anzumerken ist, dass dabei die Begriffe ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘ sowohl in einem wörtlichen, physikalischen als auch in einem metaphorischen Sinn verstanden werden (auch dieses metaphorische Verständnis hat in der Rezeption des Modells zu Schwierigkeiten geführt, vgl. Dürscheid 2003: 51, 2016: 47-48). Mit Blick auf die Analyse digitaler Kommunikation scheinen weiterhin be‐ stimmte Ergänzungen einzelner Parameter sinnvoll. Neben der Trennung der Analyse der räumlichen und zeitlichen Nähe/ Distanz kann für Kommunikation in zeitlicher Nähe genauer zwischen synchroner und quasi-synchroner Kommu‐ nikation unterschieden werden (vgl. Dürscheid 2004: 149-155). Quasi-synchrone Kommunikation liegt beispielsweise in der Chatkommunikation vor, wenn die Redebeiträge der Kommunikationsteilnehmer nicht während ihres Entstehens, sondern erst nach Abschluss angezeigt werden, so dass die anderen erst dann darauf reagieren können. Allerdings erscheint es vorteilhaft, die klare Trennung der medialen und konzeptionellen Dimension nach Koch und Oesterreicher beizu‐ behalten und diese zusätzliche Kategorie nicht im Sinne einer Ausdifferenzierung 89 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz der medialen Ebene wie bei Dürscheid (2003: 48), sondern als Ausdifferenzierung des Parameters der zeitlichen Nähe/ Distanz anzusetzen. Darüber hinaus kann bei der Unterscheidung von privater vs. öffentlicher Kommunikation innerhalb des letzteren Bereichs institutionelle Kommunika‐ tion als gesonderter Bereich angesetzt werden, in dem eine bestimmte Institu‐ tion die Sprecherrolle vertritt. Zu klären ist ferner, wie der Parameter der Privatheit/ Öffentlichkeit sinnvoll auf individuelle Kommunikation mit künstli‐ cher Intelligenz angewandt werden kann. Weiterführend erschiene es ebenso interessant, bei der Analyse konkreter Kommunikate oder Kommunikationsformen auch den u. a. in der Soziologie verbreiteten Begriff der Interaktivität heranzuziehen, der in enger thematischer Verbindung zum Kooperationsgrad, der Dialogizität und Spontaneität der Kom‐ munikation steht. Dabei kann Interaktion sowohl für Face-to-Face-Kommuni‐ kation als auch für medial 2 vermittelte Kommunikation festgestellt werden, wobei sich die beiden Typen nicht ausschließen (vgl. Mehler 2010, Jäckel/ Fröh‐ lich/ Röder 2019: 73-74 sowie Storrer 2018, die das interaktionsorientierte Schreiben als zentrale Haltung in internetbasierter Kommunikation ansetzt). Allerdings ist eine nuancierte Diskussion der Anwendbarkeit des Begriffs notwendig. So sieht etwa Sutter (2010) Interaktivität nicht als geeigneten Begriff an, um die zentralen Veränderungen im Bereich der neuen Medien angemessen zu erfassen, da der Begriff zu stark auf soziale Interaktion und handelnde Personen bezogen sei. Da bei digitaler Kommunikation auch die Texte selbst und „künstliche Agenten“ einzubeziehen seien, argumentiert er für die Verwendung alternativer Begrifflichkeiten, etwa Beschreibungen über das Merkmal der verstärkten Rückkopplungs- und Eingriffsmöglichkeiten in der digitalen Kommunikation. Ein zentraler inhaltlicher Brückenschlag, der von Koch und Oesterreicher selbst bereits angerissen und auch bei Frank-Job (2010) aufgegriffen wird, betrifft den Begriff der Diskurstraditionen (Koch 1997, vgl. auch Oesterreicher 1997). Wie bereits angedeutet, können etwa E-Mails aktuell nicht anhand einheitlicher Kommunikationsbedingungen charakterisiert werden, sondern es sind spezifischere Realisierungsweisen wie z. B. Geschäfts-E-Mails anzusetzen, die als Diskurstraditionen gefasst werden können. Aufgrund der bereits fest‐ gestellten Dynamik der digitalen und nichtdigitalen Kommunikationsformen sowie der Wechselwirkungen, die sich hier ergeben, sind ferner bestimmte Charakterisierungen immer wieder neu zu hinterfragen und auf ihre aktuelle Gültigkeit hin zu überprüfen. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, lassen sich verschiedene Konstellationen der Veränderung von Diskurstraditionen 90 Esme Winter-Froemel unterscheiden, die ggf. eine Anpassung der theoretischen Beschreibung der einzelnen Kommunikate erforderlich machen. 3 Veränderungen und Diskurstraditionen im digitalen Zeitalter Im Rahmen der Digitalisierung der Kommunikation sind grundlegende Verän‐ derungen in der Ausgestaltung der Texte zu beobachten. Diese können unter Bezugnahme auf Peter Kochs Überlegungen zur Dynamik von Diskurstraditi‐ onen (1997) beschrieben werden, wie nachfolgend anhand einiger Beispiele skizziert werden soll. Vorab ist einschränkend anzumerken, dass in allen Fällen weiterführende Untersuchungen auf breiterer Materialbasis und unter Hinzuziehung auch quantitativer Auswertungen erforderlich wären. Eine erste Form der Veränderung ist der Untergang kultureller Traditionen (Koch 1997: 70). Beispiele für Diskurstraditionen, die im Zuge der Digitalisie‐ rung zunehmend randständiger werden, sind etwa handgeschriebene Privat‐ briefe im Rahmen von Brieffreundschaften oder Urlaubspostkarten, bei denen eine zunehmende Verdrängung durch elektronische Nachrichten (besonders durch Versand von eigenen Fotos mit begleitenden Kommentartexten) und So‐ cial-Media-Posts auftritt. Auch wenn gegenwärtig noch kein vollständiger Un‐ tergang der nichtdigitalen Traditionen vorliegt, ist, auch im Generationenver‐ gleich, ein zunehmender Rückgang der nichtdigitalen Traditionen feststellbar. Eine weitere Form der Veränderung kann anhand der Entwicklung von Leserbriefen der Tagespresse aufgezeigt werden. Die Tradition des Leserbriefs besteht aktuell in den Ausgaben gängiger Tageszeitungen fort; zusätzlich wird eine Auswahl entsprechender „klassischer“ Leserbriefe häufig in elektronischen Ausgaben der Zeitungen publiziert. Darüber hinaus besteht in elektronischen Ausgaben jedoch auch die Möglichkeit, einzelne Artikel direkt zu kommen‐ tieren. Entsprechende Kommentare stehen einerseits in der Tradition der Leserbriefe, weisen aber andererseits auch spezifische Merkmale auf, die sie von nichtdigitalen Leserbriefen abgrenzen, wie anhand der folgenden Kommentare gezeigt werden kann. Ausgewählte Kommentare zu Océane Herrero, Des Parisiens ont découvert le vélo avec la grève, mais ont-ils continué ? (4.3.2020, https: / / www.lefigaro.fr/ conso/ des-pa risiens-ont-decouvert-le-velo-avec-la-greve-mais-ont-ils-continue-20200304) a. Hérétique le 04/ 03/ 2020 à 15: 49 91 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz 9 Vgl. TLFi s.v. graf(f)igner: „Noter une forme grafougner en Anjou qui a un sens un peu différent ‚gratter, fouiller avec ses ongles, creuser avec ses doigts’ []“. On peut bien croire à l'utilité général de la trotinette et de la bicyclette propulsée par le vent ou par le réacteur nucléaire à dos. b. départ le 04/ 03/ 2020 à 13: 49 le vélo dans Paris c'est dangereux pas de piste cyclable et entre les scooter et trottinettes électriques et voitures, il n y a pas de place pour les vélos, mais avec le Coronavirus il vaut mieux fair du vélo que prendre les trs en commun c. Bon entendeur le 04/ 03/ 2020 à 13: 24 Le Figaro n'oublie jamais de caresser son public dans le sens du poil et son public n'aime pas le vélo, et encore moins les cyclistes. d. Théodule Grafougnasse le 04/ 03/ 2020 à 12: 29 "soit une baisse de 165%". Chère Océane, vous êtes charmante mais nulle en calcul (je ne dis pas "en maths", parce que vous êtes au niveau de l'école primaire) comme tous les journalistes. Je me demande d'où vous sortez ce "-165%". ça n'existe pas. Quand on fait -100%, on arrivé déjà à zéro. Un comptage du nombre de passages de vélos ne peut pas être inférieur à zéro. Par contre, + 272 %, c'est possible. Abweichungen zu nichtdigitalen Leserbriefen sind zunächst in der äußeren Form der Kommentare beobachtbar: Die digitalen Kommentare sind jeweils genau mit Tag und Uhrzeit datiert und in der Regel chronologisch absteigend sortiert. Es sind keine Klarnamen der für die Texte verantwortlichen Autoren, sondern selbstgewählte Pseudonyme angegeben, die vielfach bereits eine Selbst‐ charakterisierung des Senders anzeigen (der „Hérétique“ vertritt eine in Bezug auf die Berichterstattung des Figaro „unorthodoxe“ Auffassung, der „Bon enten‐ deur“ erkennt zugrunde liegende Prinzipien einer tendenziösen Darstellung der Zeitung, die Form „grafougnasse“ kann als pejorative Nominalisierung des Verbs grafougner  9 interpretiert werden, das allerdings diatopisch stark markiert ist und für durchschnittliche Sprecher des Französischen nicht verfügbar ist usw.). Bei klassischen Leserbriefen wird die wahrheitsgemäße Angabe des echten 92 Esme Winter-Froemel Namens des Verfassers oder der Verfasserin hingegen auch mit Blick auf die rechtliche Dimension in der Regel als eine notwendige Bedingung für die Veröffentlichung angesehen. Hinsichtlich der Gestaltung zeigen die in den Beispielen enthaltenen sprach‐ lichen Fehler („utilité général“, „trotinette“ in (a.), „les scooter“, „fair“ in (b.) usw.), dass zunächst keine redaktionelle Durchsicht erfolgt ist, bei der entspre‐ chende Kommentare von einer Veröffentlichung ausgeschlossen wurden; bei nichtdigitalen Leserbriefen ist die sprachliche Korrektheit hingegen häufig eine notwendige Voraussetzung für eine Veröffentlichung. Ferner weisen die digitalen Kommentare tendenziell eine geringere Länge auf. Dies kann durch eine Orientierung an allgemeinen Lesegewohnheiten im digitalen Bereich sowie durch die stärker ausgeprägte Konkurrenz mit anderen Kommentaren erklärt werden: Gibt es sehr viele Kommentare zu einem einzelnen Artikel, so haben kurze Beiträge tendenziell höhere Chancen, bei einer kursorischen Lektüre wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig entfällt durch die Platzierung der Kommentare direkt im Anschluss an den zugehörigen Artikel die Notwendigkeit, den thematischen Bezug explizit herzustellen (vgl. den direkten Einstieg mit dem Textzitat in (d.), das der ursprünglichen, inzwi‐ schen nicht mehr einsehbaren Fassung des Artikels entnommen ist). Ferner konzentrieren sich die digitalen Kommentare häufig auf einzelne Aspekte oder Details, während in nichtdigitalen Leserbriefen häufig eine komplexere Argumentation mit These und Unterthese(n) und verschiedenen Argumenten entfaltet wird (es handelt sich jedoch um graduelle Unterschiede, vgl. z. B. die Entfaltung einer Argumentation in (b.)). In den digitalen Kommentaren bleibt die Argumentation häufig implizit; im Vordergrund steht die Äußerung einer bestimmten Meinung bzw. These. Die Möglichkeit, dass direkt auf einzelne Kommentare geantwortet wird oder diese bewertet werden, sowie die generelle Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit des Lesers zu sichern, begünstigen darüber hinaus eine zugespitzte, ggf. auch polarisierende und verallgemeinernde Dar‐ stellung (vgl. „comme tous les journalistes“ in (d.)) und Emotionalisierung, bis hin zu direkten persönlichen Angriffen (vgl. (d.)), sowie einen Rückgriff auf rhetorische Mittel wie Übertreibung, figurative Ausdrucksweise (vgl. „caresser dans le sens du poil“ in (c.)), Ironie (vgl. die in (a.) genannten absurden Antriebs‐ formen) usw. Auch hier handelt es sich allerdings wiederum nur um graduelle Unterschiede, da entsprechende Ausdrucksstrategien auch in nichtdigitalen Leserbriefen beobachtbar sind. Es besteht bei den digitalen Kommentaren ferner die Möglichkeit, diese über einen Button „Signaler“ als unangemessen zu melden, sodass eine Überprüfung und ggf. nachträgliche Löschung des Kommentars durch ein Moderationsteam erfolgen kann. 93 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz Abb. 2: Ausdifferenzierung kultureller Traditionen (Koch 1997: 66) Insgesamt zeigt sich damit, dass die digitalen Kommentare einerseits in der Tradition des Leserbriefs stehen, sich gleichzeitig aber in grundlegenden Merkmalen von dieser Tradition unterscheiden. Daher erscheint es möglich, nach Koch (1997: 66) eine Ausdifferenzierung der kulturellen Tradition des Leserbriefs in Folge der Digitalisierung festzustellen, wobei der nichtdigitale Leserbrief und der digitale Zeitungskommentar nebeneinander weiterbestehen (vgl. Abb. 2). Eine weitere Konstellation, die in der dynamischen Entwicklung von Diskurst‐ raditionen beobachtbar ist, ist die Konvergenz kultureller Traditionen, d. h. eine analoge Entwicklung und damit verbundene Annäherung verschiedener Traditionen, die aber (noch) voneinander unterscheidbar bleiben und weiter‐ bestehen (vgl. Abb. 3). Diese Konstellation kann beispielsweise für die Ent‐ wicklung von (nichtdigitalen) Briefen und E-Mails festgestellt werden, wobei sowohl Traditionen der geschäftlichen als auch der privaten Kommunikation einbezogen werden können. Während E-Mails in ihrer Anfangszeit stark nähesprachlichen Charakter hatten und die E-Mail für bestimmte formelle Kommunikationszwecke als nicht angemessen eingestuft wurde, wurden nach und nach traditionelle Gestaltungselemente des nichtdigitalen Geschäftsbriefs übernommen und E-Mails zunehmend auch für formelle Kommunikation ver‐ wendet. Eine Rückwirkung digitaler Gestaltungsmittel auf nichtdigitale Briefe kann z. B. festgestellt werden, wenn auch in Privatbriefen Smileys auftreten. Die zunehmende Austauschbarkeit von Brief und E-Mail legt eine zunehmend parallele Entwicklung der verschiedenen digitalen und nichtdigitalen Traditionen im privaten und geschäftlichen Bereich nahe, etwa auch hinsichtlich des sich 94 Esme Winter-Froemel Abb. 3: Konvergenz kultureller Traditionen (Koch 1997: 69) verändernden Wertes bestimmter Anrede- und Grußformeln. Eine Überprüfung dieser Annahme bleibt weiterführenden Untersuchungen vorbehalten. Eine andere Form der Veränderung ist die Mischung kultureller Traditionen, die die Entstehung einer sich aus unterschiedlichen Traditionen speisenden neuen Tradition beinhaltet, darüber hinaus aber durch ein Weiterbestehen der ursprünglichen Traditionen gekennzeichnet ist. Dieses Muster kann für die Traditionen der Pressemitteilung und des Tweets festgestellt werden. Ursprüng‐ lich stellt die Pressemitteilung eine offizielle Verlautbarung einer staatlichen oder öffentlichen Institution oder eines Unternehmens dar; d. h. als Sender ist hier keine Einzelperson als Individuum, sondern eine Organisation oder ein Unternehmen bzw. eine entsprechende Funktion in der Organisation oder dem Unternehmen anzusetzen (Pressesprecher o. ä.). Die Pressemitteilung ist ferner ein informativer Text, der aktuelle Informationen zu einem bestimmten Thema zusammenfasst oder Maßnahmen ankündigt. Die Mitteilung richtet sich primär an Journalisten und zielt darauf ab, dass die entsprechenden Informationen durch diese weiterverbreitet werden. In pragmatischer Hinsicht stehen bei der Pressemitteilung die assertive Funktion der Informationsübermittlung sowie die kommissive Funktion der Selbstverpflichtung der Institution auf eine bestimmte Maßnahme o. ä. im Vordergrund. Bei Twitter handelt es sich um einen 2006 entstandenen Microbloggingdienst, der von einem börsennotierten US-Unternehmen mit kommerzieller Zielset‐ zung angeboten wird. Ursprünglich war der Dienst für die Veröffentlichung 95 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz individueller Statements zu beliebigen Themen oder persönlicher Erlebnisse konzipiert (die Ausgangsbedeutung des engl. Verbs tweet ‚zwitschern‘ suggeriert dabei eine belanglose Plauderatmosphäre); die Nachrichten sind daher häufig in der 1. Person formuliert. Die Nachrichten sind standardmäßig öffentlich ein‐ sehbar, richten sich aber insbesondere an eine Gruppe von festen Abonnenten des jeweiligen Accounts (Follower); dementsprechend sind als typische Sender zunächst berühmte Persönlichkeiten anzusetzen, die sich mit den Tweets an ihre Fans richten bzw. zusätzliche Abonnenten gewinnen wollen. Zunächst handelte es sich um Textnachrichten mit einer maximalen Länge von 140 Zeichen; später wurde die Länge auf 280 Zeichen erhöht und die Möglichkeit geschaffen, Bild- und Videomaterial anzuhängen bzw. einzubetten. Zur Nutzung des Dienstes ist eine Registrierung erforderlich, bei der eine Mailadresse, die selbstgewählte Profilbezeichnung (der Nutzername) und eine Telefonnummer - jedoch nicht der Echtname des Nutzers - angegeben werden müssen. Die Beiträge werden in Echtzeit veröffentlicht; die Sortierung ist chronologisch absteigend, zusätzlich erfolgt eine algorithmusgestützte Hierarchisierung nach Relevanz. Da neue Diskurstraditionen grundsätzlich „niemals ex nihilo entstehen, sondern immer an irgendetwas bereits Gegebenes anknüpfen müssen“ (Koch 1997: 62), ist weiterführend die Frage der Vorläufer des Tweets näher zu unter‐ suchen. Interessanterweise können hierbei Einflüsse aus sehr unterschiedlichen Traditionen angenommen werden, die sowohl der medialen Schriftlichkeit (nichtdigital und digital) als auch der medialen Mündlichkeit zuzurechnen sind, etwa Telegramm, Tagebucheintrag/ Blogeintrag, Aphorismus und Bonmot, aber auch weniger scharf umrissene Traditionen wie etwa mündliche Kommentare beim gemeinsamen Betrachten einer Fernsehsendung und Smalltalk-Redebei‐ träge. Die Mischung beider Traditionen soll hier anhand eines einzelnen Beispiels aufgezeigt werden (Abb. 4). Es handelt sich um eine Mitteilung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, die zunächst über den persönlichen Account von Donald J. Trump (@realDonaldTrump) veröffentlicht und dann durch den durch die Funktion des Präsidenten definierten Account (@POTUS [President of the United States]) retweetet wurde. Das Nebeneinander beider Accounts suggeriert eine Trennung beider Sprecherrollen, die aber de facto durch das automatisierte Retweeten der Beiträge des ersten durch den zweiten Account und die Zusammenführung der Bewertungsziffern in der Fußzeile aufgehoben wird. 96 Esme Winter-Froemel Abb. 4: Tweet President Trump Die Vermischung von persönlicher Meinungsäußerung und performativem Sprechakt qua Amt zeigt sich auch in der Ausgestaltung der Botschaft selbst: Der erste Satz „I am pleased to announce that “ vollzieht den Akt der Designation von Mark Meadows zum Stabsschef des Weißen Hauses, wobei die damit verbundene Absetzung des bisherigen Amtsinhabers Mick Mulvaney implizit bleibt. Im zweiten Satz folgt ein persönliches Statement, das eher an Diskurstraditionen wie die einer Dankes- oder Preisverleihungsrede angelehnt scheint. Während das „I“ des ersten Satzes klar die Präsidentenrolle als pragmatische Gelingensbe‐ dingung voraussetzt, verweist „I“ im zweiten Satz auf persönliche Erfahrungen von Donald J. Trump („I have long known“). Bemerkenswert ist darüber hinaus die extreme Knappheit der Mitteilung im Verhältnis zur Tragweite der vollzogenen Handlung. In diesem Zusammenhang kann auch festgestellt werden, dass die Verbindungslinie zur Tradition der Diplomatie, die in klassischen Pressemitteilungen und Designationsakten von zentraler Bedeutung ist, in den Hintergrund gedrängt wird. Im Rahmen einer linguistischen Analyse der entsprechenden Tweets im Ver‐ gleich zu „klassischen“ Pressemitteilungen einerseits und persönlichen Tweets andererseits zeigen sich weitreichende Unterschiede hinsichtlich verschiedener grundlegender Parameter: Die politischen Tweets erreichen in Echtzeit direkt eine sehr große Öffentlichkeit, d. h. die zeitliche und persönliche Vermittlung der Bekanntgabe der Information durch Journalisten wird übersprungen. Die primären Adressaten der Tweets sind vielmehr Fans bzw. Follower, die den entsprechenden Account abonniert haben, d. h. hier wurde ein neuer Weg der Mitteilung offizieller Nachrichten etabliert, der die Presse darauf festlegt, den entsprechenden Informationskanal ebenfalls zu abonnieren (womit wiederum eine Art Werbewirkung für den Account erzielt wird, indem sich die Zahl der Follower erhöht). Mit dem neuen Weg, der für die Bekanntgabe entsprechender Mitteilungen gewählt wird, ergeben sich weitreichende Veränderungen, und die Konstellation lässt sich damit meines Erachtens als eine Mischung von Traditionen beschreiben, bei der eine neue Tradition entsteht (vgl. Abb. 5). 97 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz Abb. 5: Mischung kultureller Traditionen (Koch 1997: 67) Die Praxis der Nutzung des kommerziellen US-amerikanischen Microblogging‐ dienstes Twitter durch staatliche Institutionen usw. ist inzwischen auch außer‐ halb der Vereinigten Staaten von Amerika international weit verbreitet. Dies ist auch in sprachwandeltheoretischer Sicht von großer Bedeutung: Das Beispiel zeigt, dass Innovation, Übernahme der Innovation, Verbreitung und Etablierung der neuen Verwendung in der Sprachgemeinschaft (vgl. Winter-Froemel 2008) nicht nur auf der Ebene einzelner sprachlicher Strukturen anzusetzen sind, sondern auch auf der Ebene von Diskurstraditionen. Jeder Sprecher, der eine Innovation übernimmt - beispielsweise internationale Regierungsmitglieder, die dem Beispiel folgen und Twitter ebenfalls für die Veröffentlichung offizieller Mitteilungen nutzen - trägt zur Verbreitung der Innovation und letztlich ggf. zur Etablierung einer neuen Diskurstradition bei. Abschließend soll hier noch auf eine methodologische Schwierigkeit ver‐ wiesen werden, die bei entsprechenden Analysen generell besteht. Oben wurde die Konvergenz von Traditionen im Bereich von Brief und E-Mail skizziert, bei der diskurstraditionelle Veränderungen aufgrund eines Übergangs zwischen nichtdigitalen und digitalen Kommunikationsformen stattfinden. Ent‐ sprechende Übergänge lassen sich auch in vielen anderen Bereichen ansetzen (Tagebuch - Blog, Rezeptbuch - Onlinerezept usw.). In all diesen Fällen stellt sich jeweils die Aufgabe (und Herausforderung) zu bestimmen, ob „noch“ von einer Diskurstradition gesprochen werden kann, die digital oder nichtdigital kommuniziert werden kann, oder ob im Rahmen des Übergangs in die Digitalität so grundlegende Veränderungen stattgefunden haben, dass eine neue, eigene Diskurstradition anzusetzen ist. 98 Esme Winter-Froemel Abb. 6: Schwankungen innerhalb einer Diskurstradition oder beginnende Ausdifferen‐ zierung unterschiedlicher Diskurstraditionen? Dies ist im Einzelfall abzuwägen, und gerade für frühe Phasen einer Ent‐ wicklung schwierig: Die obigen Abbildungen suggerieren klar konturierte Verläufe und abstrahieren von Schwankungen und „Ausreißern“ innerhalb einzelner Diskurstraditionen. Für konkrete Einzeluntersuchungen sind auch Konstellationen wie in Abb. 6 erwartbar, die ein weniger klares Bild liefern: Handelt es sich noch um eine normale Schwankung innerhalb einer Tradition oder um die beginnende Herausbildung einer neuen Tradition? Dies verweist auf die meines Wissens bislang nicht näher diskutierte Frage, wie groß die Abweichungen zwischen Reihen von Manifestationen sein müssen, um von unterschiedlichen Traditionen sprechen zu können (für erste Überlegungen hierzu am Beispiel der spezifischen Witztradition der blagues en comble/ colmi/ chistes de colmos/ cúmulos im Französischen, Italienischen, Spanischen und Portugiesischen vgl. Winter-Froemel 2018). Ebenso stellt sich die Frage, wie groß die Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Manifestationen sein muss, um sie sinnvoll auf eine gemeinsame Diskurstradition beziehen bzw. sie überhaupt als eine zusammengehörige Reihe interpretieren zu können. Die starke Dynamik, die im Rahmen der Übergänge und wechselseitigen Einflüsse zwischen digitalen und nichtdigitalen Kommunikationsformen zu beobachten ist, kann hierbei vielfältige Impulse für die Diskurstraditionenforschung liefern und zu einem besseren Verständnis diskurstraditioneller Dynamik insgesamt beitragen. 4 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass digitale Kommunikationsformen bzw. digitale Diskurstraditionen sinnvoll anhand des Nähe-Distanz-Modells von Koch und Oesterreicher beschreibbar sind. Hierbei ist eine grundlegende Ver‐ 99 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz schiebung dahingehend festzustellen, dass zu den beiden bevorzugten Kombina‐ tionsbereichen in dem von den Autoren angesetzten Trapez die graphisch reali‐ sierte Nähekommunikation als dritter zentraler Bereich hinzukommt, der für die aktuelle Kommunikationslandschaft als sehr prägend eingestuft werden kann. Es wurde gezeigt, dass die Digitalisierung zu tiefgreifenden Veränderungen der Texte und Diskurstraditionen sowie der Rahmenbedingungen der Kommu‐ nikation insgesamt geführt hat. Gleichzeitig wurde eine starke Dynamik der entsprechenden Phänomene festgestellt, die in enger Wechselwirkung mit den sehr schnellen, vielfältigen und umfassenden Veränderungen der technischen Voraussetzungen der Kommunikation steht. Daher ist jede Modellierung immer wieder aufs Neue zu hinterfragen und konstruktiv weiterzuentwickeln, um auch völlig neuartige Phänomene wie etwa Kommunikationsakte mit künstlicher Intelligenz sprachwissenschaftlich beschreiben zu können. Insgesamt lassen sich produktions- und rezeptionsseitig grundlegende Veränderungen der Rah‐ menbedingungen der Kommunikation feststellen, die zu nachhaltigen Verände‐ rungen der Schreib- und Lesegewohnheiten führen (vgl. Frank-Job 2010: 37). Wie Frank-Job (2010) aufzeigt, können auch aus linguistischen Betrachtungen zu zeitlich weit zurückliegenden Umbruchphasen interessante Erkenntnisse gewonnen werden, die für das Verständnis aktueller Wandelprozesse erhellend sind. Gerade aufgrund der Komplexität und der großen Reichweite der Verän‐ derungen kommt einer breit konzipierten Linguistik eine Schlüsselrolle zu, um die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen nuanciert zu analysieren und kritisch zu beobachten und auf diese Weise auch Gestaltungsmöglichkeiten und -bedarfe aufzeigen zu können. Literatur Androutsopoulos, Jannis (2007). Neue Medien - neue Schriftlichkeit? Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 1: 7, 72-97. Bell, Alan (1984). Language style as audience design. Language in Society 13: 2, 145-204. Dürscheid, Christa (2003). Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Theoretische und empirische Probleme. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 38, 37-56. Dürscheid, Christa (2004). Netzsprache - ein neuer Mythos. In: Beißwenger, Mi‐ chael/ Hoffmann, Ludger/ Storrer, Angelika (Hrsg.). Internetbasierte Kommunikation. Duisburg: Red. OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 68), 141-157. Dürscheid, Christa (2016). Einführung in die Schriftlinguistik: Mit einem Kapitel zur Typographie von Jürgen Spitzmüller. 5. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 100 Esme Winter-Froemel Dudenredaktion (o. J.) „Medium“ auf Duden online. Abrufbar unter: www.duden.de/ rechtschreibung/ Medium_Vermittler_Traeger (Stand: 04.03.2020). Dufter, Andreas (2018). Repenser la ‚spatialisation‘ de la linguistique variationnelle. In: Glessgen, Martin/ Kabatek, Johannes/ Völker, Harald (Hrsg.). Repenser la variation linguistique. Actes du Colloque DIA IV à Zurich (12-14 sept. 2016). Strasbourg: ÉLiPhi, 63-73. Frank-Job, Barbara (2010). Medienwandel und der Wandel von Diskurstraditionen. In: Sutter, Tilmann/ Mehler, Alexander (Hrsg.). Medienwandel als Wandel von Interakti‐ onsformen. Wiesbaden: VS Verlag, 27-45. Jäckel, Michael/ Fröhlich, Gerrit/ Röder, Daniel (2019). Medienwirkungen kompakt: Ein‐ führung in ein dynamisches Forschungsfeld. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer. Koch, Peter (1997). Diskurstraditionen: Zu ihrem sprachtheoretischen Status und ihrer Dynamik. In: Frank, Barbara/ Haye, Thomas/ Tophinke, Doris (Hrsg.). Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Tübingen: Narr, 43-79. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1985). Sprache der Nähe - Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachge‐ schichte. Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (2011). Gesprochene Sprache in der Romania. Franzö‐ sisch, Italienisch, Spanisch. 2. Aufl. Tübingen: Niemeyer. Krefeld, Thomas (2015). L’immédiat, la proximité et la distance communicative. In: Polzin-Haumann, Claudia/ Schweickard, Wolfgang (Hrsg.). Manuel de linguistique française. Berlin/ Boston: De Gruyter, 262-274. Mehler, Alexander (2010). Artifizielle Interaktivität: Eine semiotische Betrachtung. In: Sutter, Tilmann/ Mehler, Alexander (Hrsg.). Medienwandel als Wandel von Interakti‐ onsformen. Wiesbaden: VS Verlag, 107-134. Oesterreicher, Wulf (1997). Zur Fundierung von Diskurstraditionen. In: Frank, Bar‐ bara/ Haye, Thomas/ Tophinke, Doris (Hrsg.). Gattungen mittelalterlicher Schriftlich‐ keit. Tübingen: Narr, 19-41. Saussure, Ferdinand de (1969). Cours de linguistique générale. Publié par Charles Bally et Albert Sechehaye. Paris: Payot. Söll, Ludwig (1985). Gesprochenes und geschriebenes Französisch. 3. Aufl. Berlin: Schmidt. Storrer, Angelika (2018). Interaktionsorientiertes Schreiben im Internet. In: Deppermann, Arnulf/ Reineke, Silke (Hrsg.). Sprache im kommunikativen, interaktiven und kultu‐ rellen Kontext. Berlin/ Boston: De Gruyter, 219-244. Sutter, Tilmann (2010). Der Wandel von der Massenkommunikation zur Interaktivität neuer Medien. In: Sutter, Tilmann/ Mehler, Alexander (Hrsg.). Medienwandel als Wandel von Interaktionsformen. Wiesbaden: VS Verlag, 83-106. 101 Digitale Kommunikationsformen und Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz TLFi = Trésor de la Langue Française informatisé. Abrufbar unter: http: / / atilf.atilf.fr/ (Stand: 24.03.2020). Wichter, Sigurd (2011). Kommunikationsreihen aus Gesprächen und Textkommunikaten: Zur Kommunikation in und zwischen Gesellschaften. Berlin/ Boston: De Gruyter. Wichter, Sigurd (2015). Einführung in die linguistische Theorie der Kommunikations‐ reihen: Zur sprachlichen Kommunikation einer Gesellschaft. Münster: ohne Verlag. Winter-Froemel, Esme (2008). Towards a Comprehensive View of Language Change: Three Recent Evolutionary Approaches. In: Detges, Ulrich/ Waltereit, Richard (Hrsg.). The Paradox of Grammatical Change: Perspectives from Romance. Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins, 215-250. Winter-Froemel, Esme (2018). Traditions discursives et variantes du jeu : La dynamique des blagues en comble dans les langues romanes. In: Full, Bettina/ Lecolle, Michelle (Hrsg.), Jeux de mots et créativité : Langue(s), discours et littérature. Berlin/ Boston: De Gruyter, 189-226. 102 Esme Winter-Froemel Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht Tilmann Sutter Vorbemerkung Wenn man Soziologie vor allem als Kommunikationsanalyse betreibt, hat man bereits eine gute Basis, um mit Sprachwissenschaft und Linguistik ins Gespräch zu kommen. Gleichwohl ist die Beschäftigung mit Kommunikation eine heikle Angelegenheit: Nicht nur gibt die Kommunikation selbst Anlass zu mannigfaltigen Missverständnissen, sondern auch die Analyse von Kommu‐ nikation. So stellt die Systemtheorie, mit der die Soziologie zweifellos am radikalsten auf Kommunikationsanalyse ausgerichtet wird, die ungeheuerliche These auf: Menschen können nicht kommunizieren, nur die Kommunikation kann kommunizieren. Es ist auf der einen Seite immer wieder erstaunlich, mit welchem Gleichmut - oder vielleicht besser: vorausschauender Vorsicht - Studentinnen und Studenten diese Behauptung zur Kenntnis nehmen. Vorsicht Falle! Bloß nicht provozieren lassen! Man kann das auf der anderen Seite aber auch verstehen. Niklas Luhmann, von dem diese These stammt, der Großmeister der soziologischen Systemtheorie und berühmteste Bielefelder Soziologe, hat in einem persönlichen Interview offengelegt, dass er sich durchaus Freiheiten in der Darstellung seiner Theorie herausnimmt: „Dazu gehört auch die Ironie in der Präsentation der Systemtheorie selbst. In allen Büchern ist irgendein heimlicher Unsinn drin, der nicht immer entdeckt wird, aber auch in den Vorlesungen kommt viel dieser Art vor, um eine Orthodoxierung des Lehrguts zu vermeiden. Das geschieht in der Absicht, zur Reflexion anzustoßen oder zum Weiterdenken anzustoßen, ohne irgendwie zu zügeln. Abgesehen davon aber liegt es mir auch vom Naturell her.“ (Luhmann 1992: 103) Dass manches unentdeckt geblieben ist, hat seinen Grund: Die Begrifflichkeit Luhmanns ist äu‐ ßerst vielfältig, eigentümlich und schwierig. Die Gefahr des raschen, scheinbar gelungenen Verstehens auf der Seite der Leserschaft ist nicht zu unterschätzen. Man kann deshalb - wie die Studentinnen und Studenten, zumindest im ersten Moment - nie sicher sein, ob hier oder da im Text eine bewusst eingestreute Ungereimtheit vorliegt, oder aber eine (geradezu geniale) Formulierung, die man noch eingehender zu bedenken und zu durchdringen hätte. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine undurchsichtige Formulierung, auf die Luhmann in einem einschlägigen Artikel die Eigentümlichkeit der Kommunikation im Verhältnis zum menschlichen Bewusstsein gebracht hat: „Ob ich meine, was ich sage, weiß ich nicht. Und wenn ich es wüßte, müßte ich es für mich behalten.“ (Luhmann 1988: 901) Wir bewegen uns hier im Problemfeld selbstreferenziell geschlossener Kommunikation, die zwar von der Beteiligung psychischer Prozesse abhängt, diese aber nicht direkt erreicht: Wir alle haben einen privilegierten Zugang zu unserer Subjektivität, und auf dieser Ebene bewegen wir uns kommunikativ im Modus des Bekenntnisses, der Versicherung, des Geständnisses usw. Mehr dazu weiter unten. Alles Weitere sei den Mutmaßungen der geneigten Leserschaft überlassen. 1 Keine Selbstverständlichkeit: der Beginn mit Kommunikation Im Folgenden wollen wir uns im Rahmen sozialwissenschaftlicher Medien‐ forschungen der Frage nähern, wie Kommunikation mit technischen Unter‐ brechungen umgeht. Viele Formen medial vermittelter und verbreiteter Kom‐ munikation beruhen auf den Leistungen und Beschränkungen technischer Unterbrechung. Um diesen Bereich einzugrenzen nimmt in sozialwissenschaft‐ lichen Medienanalysen der Begriff der sozialen Interaktion eine hervorgehobene Stellung ein, handelt es sich hierbei doch um eine Form direkter Kommunika‐ tion. Vor diesem Hintergrund treten die Besonderheiten von Kommunikations‐ formen zutage, die durch technische Unterbrechungen gekennzeichnet sind. Mit dem Begriff der technischen Unterbrechung sollen hier nicht kommunikative Abbrüche wie z. B. Funklöcher, sondern technisch bedingte Einschränkungen von Rückkopplungsbzw. Reaktionsmöglichkeiten bezeichnet werden. Den Pa‐ radefall in diesem Bereich bilden die Kommunikationen der Massenmedien, die als eine „Rede ohne Antwort“ (Baudrillard 1978: 91) erscheinen. Sie sind durch eine wirksame technische Unterbrechung so weitgehend von sozialen Interak‐ tionen abgekoppelt, dass sie als interaktionsfrei bezeichnet werden können. Zwischen diesen Polen interaktiver und interaktionsfreier Kommunikationen befindet sich ein Kontinuum unterschiedlichster Kommunikationsformen, die mehr oder weniger technische Unterbrechungen aufweisen und in diesem Sinne mehr oder weniger ‚interaktiv‘ sind, also Züge interaktiver Kommunikation aufweisen. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man diese Interaktivität als ana‐ lytische Vergleichsfolie oder als ein Ideal gelungener Kommunikation ansetzt. Die Frage wäre dann, ob die derart idealisierten Strukturmerkmale sozialer 104 Tilmann Sutter Interaktionen überhaupt den sinnvollen Rahmen bilden, um die Besonderheiten technisch unterbrochener Kommunikationen zu analysieren (vgl. Sutter 2010: 137 ff.). Will man sich diesen Besonderheiten möglichst offen und explorativ nähern, scheint es sinnvoll, ganz allgemein zu fragen, wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht. Diese Frage kann als allgemeines Bezugsproblem einer sozialwissenschaft‐ lichen Medienforschung fungieren, die mit Kommunikation beginnt und auf Kommunikationsanalyse abgestellt ist. Der Beginn mit Kommunikation ist aller‐ dings alles andere als selbstverständlich, deshalb sind einige Vorüberlegungen notwendig. Die Frage, wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht, unterstellt dem Prozess der Kommunikation eine Eigenständigkeit: Gefragt wird nicht, wie Menschen kommunikativ mit technischen Unterbre‐ chungen umgehen, etwa weil Kommunikationen als Produkte menschlichen Handelns gesehen werden. Wenn man im Unterschied hierzu an Kommuni‐ kationen selbst ansetzt, trifft man oftmals eher in der Linguistik als in der Soziologie auf ein entsprechendes Vorverständnis relevanter Gegenstandsbe‐ reiche. Der „linguistic turn“ in der Soziologie ist lange vorüber, auch die Sektion Sprachsoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ist vor langer Zeit verschwunden. Hinzu kommt, dass die Vorstellung, Kommunikation sei von menschlichem Bewusstsein und menschlichem Handeln erzeugt, tief in den Denkgewohnheiten weiter Bereiche des Faches verankert ist. Vor diesem Hintergrund trifft man, um es zugespitzt auszudrücken, in der soziologischen Medienanalyse oftmals auf einen Hang zur Sozialpsychologisierung. Etablieren sich neue Formen medial gestützter Kommunikation, z. B. der Austausch über laufende Fernsehsendungen per Twitter oder Facebook, werden Menschen beobachtet und befragt, wie sie die neuen Möglichkeiten verstehen und damit umgehen. Das Neue muss rasch benannt werden, so entsteht dann der Begriff des ‚Social TV‘ (zum Überblick: Göttlich u. a. 2017), als ob Fernsehen durch die neuen, internetgestützten Kommunikationsmöglichkeiten irgendwie ‚sozial‘ werde. Es mag ja sein, dass befragte Personen die neue Praxis des Umgangs mit Fernsehsendungen als sozial(er) erleben als die herkömmlichen Formen des Fernsehens, aber das ersetzt keine soziologische Analyse dieser Praxis. Dagegen sind Versuche, die kommunikativen Prozesse selbst, d. h. ihre Eigenlogik und Eigendynamik in den Blick zu bekommen, nur sehr vereinzelt aufzufinden, und auf der Suche danach wird man vor allem im Bereich sprachwissenschaftlicher Untersuchungen fündig (im konkreten Fall etwa: Klemm/ Michel 2014). Vor diesem Hintergrund ist nachdrücklich hervorzuheben, dass die Soziologie eine machtvolle Alternative zu den genannten handlungs- und bewusstseins‐ theoretischen Denkgewohnheiten entwickelt hat: Soziologische Theorien und 105 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht Methoden der Kommunikationsanalyse, die von der selbstreferenziellen Eigen‐ dynamik von Kommunikation ausgehen. Seit jeher stehen Verfahren wie die Konversationsanalyse oder die Objektive Hermeneutik für diese Forschungs‐ perspektive (vgl. Schneider 2004). In der soziologischen Theorieentwicklung kommt diese Perspektive mehr und mehr zur Geltung, und sie findet in der eingangs bereits angesprochenen soziologischen Systemtheorie einen vorläu‐ figen Höhepunkt. Es ist sicherlich über die Grenzen des Faches hinaus bekannt, dass in der Soziologie die Theoriedebatte in vielfältiger Weise von der Ausein‐ andersetzung zwischen Handlungs- und Systemtheorien geprägt wurde und wird. So gibt es eine lange und einflussreiche Tradition handlungstheoretischer Medienforschungen, zugleich kann aber festgehalten werden, dass die sozio‐ logische Systemtheorie im Bereich sozialwissenschaftlicher Medienanalysen eine vergleichsweise starke, zum Teil auch hervorgehobene Rolle spielt. Das hängt sicherlich auch mit dem Gegenstandsbereich der Medienforschungen zusammen, denn medial, zumal massenmedial verbreitete Kommunikationen machen die Selbstreferenz und Eigenlogik des kommunikativen Geschehens augenfällig. Unweigerlich stößt man auf die kommunikative, gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, die in weiten Teilen nur medial zugänglich ist. Ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer Betrachtungsweise, die am Prozess der Kommunikation selbst ansetzt, ist der soziologisch zentrale Bereich der öffentlichen Meinung. Im Alltag haben wir oftmals ein Bild vor Augen, das die Meinungen und Einstellungen eines Teils oder auch der Mehrheit der Bevölkerung umreißt. Nun ist es leicht einzusehen, dass wir in der Regel kein empirisch gesichertes Wissen darüber haben, was eine unüberschaubare Anzahl an Personen denkt. Gleichwohl kursieren Vorstellungen von ‚der‘ öffentlichen Meinung, und es fällt auf, dass diese Vorstellungen wiederum kommunikativ, genauer: massenmedial konstruiert, gesellschaftlich bekannt gemacht und durchgesetzt werden. Öffentliche Meinung kann in der komplexen, modernen Gesellschaft also nicht als eine Gesamtheit von Einzelmeinungen, sondern nur als gesellschaftliche, kommunikative Konstruktion begriffen werden, die einen allgemeinen Orientierungsrahmen etabliert. Vor diesem Hintergrund ist es gerade für eine sozialwissenschaftliche Medienanalyse von unschätzbarem Wert, nicht mit Menschen, Bewusstsein und Handlungen zu beginnen, sondern mit Kommunikationen. Gesellschaft wird dann auch nicht als Kollektiv von Personen betrachtet, sondern als „das umfassende soziale System aller aufein‐ ander Bezug nehmenden Kommunikationen.“ (Luhmann 1986: 24) Eine Alternative zum Beginn mit Kommunikation wäre der Beginn mit sozialer Interaktion, die als früheste, ‚natürliche‘ Form der Kommunikation betrachtet werden könnte, um von da aus alle weiteren, d. h. auch massenme‐ 106 Tilmann Sutter diale Kommunikationsformen zu analysieren (vgl. etwa Oevermann 1983). Die Auswirkungen der technischen Unterbrechung von Kommunikation, die viele Rückkopplungsmöglichkeiten abschneidet (Stichwort: Einwegkommuni‐ kation), kommen dann als Defizite und Deformationen sozial-interaktiver Verhältnisse in den Blick. Die Analyse von Kommunikationsformen, die sich nicht nur von den Leistungen, sondern auch den Beschränkungen sozialer Interaktionen abkoppeln, weil nur dadurch Probleme der Verbreitung von Kom‐ munikation in einer zunehmend komplexen Gesellschaft gelöst werden können, ist jedoch nur mit einem allgemeinen Kommunikationsbegriff möglich: Soziale Interaktion stellt dann eine spezielle Form von Kommunikation dar, die von der Anwesenheit bzw. der wechselseitigen Wahrnehmbarkeit der Beteiligten abhängt. Genau von dieser Beschränkung machen sich massenmediale Kom‐ munikationsformen frei, wodurch sie große, verstreute und anonym bleibende Adressatenkreise erreichen können. 2 Möglichst wenige Voraussetzungen: der Begriff der Kommunikation Der Beginn mit Kommunikation ist also die erste zentrale Vorüberlegung, mit der man sich der Frage nähert, wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht. Die zweite wichtige Vorüberlegung betrifft den Begriff der Kommunikation. Er steht v. a. unter zwei Anforderungen: Er muss erstens die Eigenständigkeit von Kommunikation zugrunde legen können. Diese Anforderung hat in soziologischen Debatten bereits zu zahlreichen Missverständnissen geführt, und sie muss deshalb zumindest grob erläutert werden. Gemeint ist damit keine Unabhängigkeit der Kommunikation von Umweltbedingungen: Ohne lebende Organismen mit Bewusstsein, also ohne Menschen bzw. psychische Systeme können sich keine Kommunikationen bilden. Eine höchst interessante Weiterung dieser konstitutiven Voraussetzung von Kommunikation bringen aktuelle und künftige Entwicklungen mit sich, die eine Beteiligung von künstlichen Agenten an Kommunikationen in Aus‐ sicht stellen. Die Eigenständigkeit von Kommunikation hebt auf die operative Selbstreferenzialität und Geschlossenheit des kommunikativen Geschehens ab: Kommunikationen schließen stets und nur an Kommunikationen an, auf operativer Ebene erreichen sie keine subjektiven Gedanken, Gefühle, Erleb‐ nisse usw. Genauso wichtig wie die selbstreferenzielle Geschlossenheit der Kommunikation auf operativer Ebene ist die Offenheit der Kommunikation auf struktureller Ebene. Kommunikation hängt von Bedingungen ab, sie benötigt Konditionierungen und Einschränkungen - schon deshalb, weil nicht alle Kommunikationen an alle Kommunikationen anschließen können. So ist die 107 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht besondere, rückkopplungsarme Form der massenmedialen Kommunikation an technische Vorrichtungen von Verbreitungsmedien gebunden. Und sie ist konstitutiv an die Rezeption von Medienangeboten gebunden. Es geht also nicht, wie immer wieder missverständlich gedeutet wurde (etwa Schmidt 1994: 65 ff.), um eine radikale Entkopplung von Kommunikation und Menschen, sondern um operative Geschlossenheit und konstitutive Abhängigkeit der Kommunikation von menschlichem Bewusstsein. Fazit dieser Überlegungen zur ersten Anforde‐ rung: Menschen können nicht kommunizieren, nur die Kommunikation kann kommunizieren, gleichzeitig kämen Kommunikationen ohne die Beteiligung von Menschen gar nicht zustande. Die zweite Anforderung ist für eine sozialwissenschaftliche Medienanalyse ebenfalls unverzichtbar: Der Begriff der Kommunikation muss so abstrakt, voraussetzungsarm und allgemein gewählt sein, dass alle Arten von Kommu‐ nikation beschrieben werden können. Gerade technische Unterbrechungen, wie sie in den Massenmedien vorliegen, kommen mit einem Kommunikations‐ begriff nicht zur Deckung, der auf eine Wechselseitigkeit von Perspektiven abhebt, etwa in einer Theorie der intersubjektiven Verständigung oder der zwischenmenschlichen Koordination von Handlungen. Massenkommunikation erscheint dann aufgrund der fehlenden Rückkopplungsmöglichkeiten als keine ‚richtige‘ Kommunikation, was in die Verlegenheit führt, angeben zu müssen, um was es sich stattdessen handeln soll. Wie sieht nun - in aller Kürze - solch ein voraussetzungsarmer, allgemeiner Begriff der Kommunikation aus? Kommunikation operiert nach Luhmann (1984: 191 ff.) mit drei Selektionen: Information, Mitteilung und Verstehen. Information wählt aus verschiedenen Sachverhalten aus (was wird kommuniziert). Mitteilung wählt aus verschie‐ denen Verhaltensmöglichkeiten aus (wie wird kommuniziert). Kommunika‐ tion unterscheidet zwischen Mitteilung und Information, wobei eine dritte Selektion hinzutritt, nämlich das Verstehen des Sinnes einer Kommunikation; nicht eines Sinnes, der sich auf etwas von den Kommunikationsteilnehmern gemeinsam Geteiltes gründet, sondern der von einer Kommunikation bewirkten Zustandsveränderung des Adressaten (vgl. ebd.: 203). Dieser Zustand wird zwar kommunikativ bewirkt, aber vom Adressaten systemintern bestimmt. Der entscheidende Vorzug dieser Begriffsbildung liegt darin, dass Kommunikation keine zwischenmenschliche Verständigung oder andere Formen der intersub‐ jektiven Handlungskoordination bzw. wechselseitigen Perspektivenübernahme voraussetzt. Man kann stattdessen untersuchen, wie Kommunikation selbst sich entwickelt, wie sie verläuft und sich anschlussfähig hält. Damit ist der Weg frei, auf dem erkundet werden kann, wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht. 108 Tilmann Sutter 3 Technische Unterbrechung der Kommunikation: Mitteilung und Verstehen treten auseinander Aus Sicht der vorangehend erläuterten Untersuchungsperspektive kann die technische Unterbrechung der Kommunikation präzise bestimmt werden: Sie führt dazu, dass Mitteilung und Verstehen auseinandertreten, und zwar ganz unterschiedlich, je nachdem wie die technische Unterbrechung beschaffen ist. Das Telefon bedingt ganz offensichtlich eine weit geringere Entkopplung von Mitteilung und Verstehen als etwa ein Brief oder auch eine Mail. Das kann man ohne Weiteres auch im persönlichen Umgang mit diesen unterschiedlichen Me‐ dien erleben: Viele Menschen empfinden Telefonate - zumindest, wenn sie nicht in locker-freundschaftlicher Weise geführt werden - eher als unangenehm. Man steht wie in sozialen Interaktionen unter Anschlusszwang, gleichzeitig sind jedoch die wechselseitigen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Koordinationsmöglichkeiten eingeschränkt. Sprechen beide Beteiligte gleich‐ zeitig, muss die Kakophonie gestoppt und der Ablauf neu geordnet werden. Die Sequenzialität, d. h. der Ablauf der Kommunikation ergibt sich nicht wie im Gespräch unter Anwesenheitsbedingungen gleichsam wie von selbst, sondern muss eigens organisiert werden. Diese ersten Überlegungen zeigen bereits, dass die Kommunikationsform der sozialen Interaktion, die keinerlei technische Unterbrechung aufweist, eine wichtige Rolle als Vergleichsfolie spielt. Wenn wir festgehalten haben, dass wir in der sozialwissenschaftlichen Medienanalyse von einem breiten Kommunikations- und einem engeren Interaktionsbegriff ausgehen und mit Kommunikation beginnen, so widerspricht dies nicht dieser herausgehobenen Rolle der sozialen Interaktion als Vergleichsfolie. Das wird nochmals deutlich, wenn wir vom einen Pol eines hochgradig ‚interaktiven‘ Mediums wie dem Telefon zum Gegenpol eines hochgradig in‐ teraktionsfreien Mediums, nämlich der Massenkommunikation wechseln. Hier fungiert die Abkopplung von sozialer Interaktion als definierendes Merkmal der massenmedialen Kommunikationsform. Das bedeutet zugleich, dass dieser Kommunikationsform eine tiefgreifende technische Unterbrechung zugrunde liegt, die wenige Rückkopplungen und keine Verstehenskontrollen ermöglicht. Durch diese Unterbrechung werden Mitteilung und Verstehen auseinanderge‐ zogen: Medienakteure und Publikum blicken in einen doppelten Spiegel, den sie nicht durchbrechen können. Diese rückkopplungsarme Form der Kommunika‐ tion erzeugt eine spezifische Form von Adressaten: das unbekannte, anonyme Publikum. Und damit wird die Aufgabe, dieses Publikum zu beobachten und zu erreichen, zu einer zentralen Problemstellung der Massenkommunikation: „Zuschauer, verzweifelt gesucht“ (Ang 2001). Die selbstreferenzielle Konstruk‐ 109 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht tion eines Publikums, das nicht direkt beobachtbar ist und deshalb anonym und unbekannt bleibt, ist demnach eine weitere Umgangsweise der massenmedialen Kommunikation mit technischer Unterbrechung. Aus der technisch unterbro‐ chenen, rückkopplungsarmen (und in diesem Sinne einseitigen) Form der Kommunikation entsteht eine bestimmte Form des Publikums, das unbekannt bzw. anonym bleibt und auf Distanz gehalten wird. Aus diesem Grund sind die Massenmedien auf quantifizierende Formen der Publikumsbeobachtung ange‐ wiesen, etwa die Einschaltquoten im Fernsehen oder Verkaufszahlen von Me‐ dienprodukten: Man kann hierbei von Prozessen der „numerischen Inklusion“ (Wehner 2010) sprechen. Beginnt man die Analyse mit Kommunikation und betrachtet die Verhältnisse strikt aus der Perspektive der Massenkommunika‐ tion, so erscheinen die Adressaten nicht als ‚Menschen‘, die auf unterschiedliche Weise mit Medienangeboten umgehen, sondern als Adressaten, die ein- oder ausschalten, die kaufen oder nicht kaufen. Motive und Beweggründe hierfür bleiben intransparent, hierüber kann nur spekuliert werden (vgl. Espinosa 1982). Für die Selbstbeobachtung und Selbststeuerung des Systems der Massen‐ medien reicht die Vermessung des Publikums aus. Der Umgang der Kommuni‐ kation mit technischer Unterbrechung bedeutet hier: Verzicht auf qualitative Beobachtungen, stattdessen Orientierung an quantitativen Vermessungen des Publikums. Mag die rückkopplungsarme Form der Massenkommunikation auch ganz offensichtlich sein, so scheint die behauptete Interaktionsfreiheit der Massen‐ kommunikation weit weniger plausibel zu sein: Werden nicht in vielfältigen Angeboten des Fernsehens, des Radios und auch der Printmedien mannigfache Prozesse sozialer Interaktion in Form von Gesprächen, Interviews, Dialogen usw. präsentiert (vgl. Burger 2005)? Das scheint gerade auf keine Ablösung der Massenkommunikation von Interaktion hinzuweisen, im Gegenteil nehmen vor allem im Fernsehen die Inszenierungen von interaktiver Nähe, Gemeinschaft, Vertrautheit, Spontaneität usw. sogar deutlich zu. Dieser Umstand spricht jedoch keineswegs gegen eine rückkopplungsarme Form des Massenmediums Fernsehen. Entscheidend ist nämlich der Unterschied zwischen interaktionsfreier Massenkommunikation und der Inszenierung und Darstellung von Inter‐ aktionen in der Massenkommunikation. Auf der einen Seite sind Interaktionen an der Herstellung von Medienangeboten (Talkshows, Diskussionsrunden usw.) beteiligt. Auf der anderen Seite werden die Medienangebote, also auch die insze‐ nierten und dargebotenen Interaktionen in einem massenmedialen und damit selbst wiederum interaktionsfreien Prozess verbreitet. Wir haben festgehalten, dass Massenkommunikation rückkopplungsarm, aber nicht rückkopplungsfrei verläuft: Deshalb sind Fragen der Qualität und Bedeutung bestehender Rück‐ 110 Tilmann Sutter kopplungsmöglichkeiten wie Kommentare, Leserbriefe, Einschaltquoten, Pub‐ likumsbefragungen und die Einbeziehung und Beteiligung von Personen in den Medienangeboten von hoher Relevanz (vgl. Sutter 2016). Aber solche Rück‐ kopplungsmöglichkeiten dienen nicht dem direkten Kontakt mit der Umwelt, sondern der Selbstreproduktion des Systems der Massenkommunikation (vgl. Luhmann 1996: 34) und widersprechen somit keinesfalls der Behauptung, dass die Abkopplung von Interaktion konstitutiv für die Massenkommunikation ist. Dieser Umstand zeigt sich konkret an den Mehrfachadressierungen in der Massenkommunikation, wenn z. B. in einer Quizshow der Kandidat ange‐ sprochen wird, der Moderator sich zugleich aber mit Blicken in die Kamera an das Publikum an den Geräten wendet: Dadurch werden unterschiedliche „Kommunikationskreise“ (Püschel 1993) erzeugt. Diese Adressierungsformen ändern nichts an dem Umstand, dass technisch unterbrochene, massenmediale Kommunikation rückkopplungsarm operiert und das Publikum als ein vermes‐ senes Publikum in den Blick kommt. Wenn man, um die obige Argumentation wieder aufzunehmen, fragt, welche Art technischer Unterbrechung vorliegt und in welcher Weise dadurch Mit‐ teilung und Verstehen im Kommunikationsprozess entkoppelt werden, sind Vergleiche mit sozialen Interaktionen also durchaus hilfreich, solange diese nicht als normatives oder anderweitig idealisiertes Modell fungieren. Diese grundlegende Einsicht folgt aus einer kritischen Betrachtung der sozialwissen‐ schaftlichen Internetforschung, in der über viele Jahre hinweg die Vorstellung dominierte, neue Medien seien in einer Weise rückkopplungsreicher als die Massenmedien, dass man von ‚interaktiven‘ Medien bzw. einer neuen ‚Inter‐ aktivität‘ von Internetanwendungen sprechen könne. Das Internet erscheint als das bessere Medium, insofern es die bekannten Defizite vor allem des Fernsehens überwindet, das passive, ohnmächtige Publikum der Massenmedien befreit und die Nutzer in einen wechselseitigen Kontakt zueinander bringt. Das erste Problem dieser Sichtweise besteht darin, dass die besonderen Vorzüge der technischen Unterbrechung massenmedialer Kommunikation nicht beachtet werden: Sie erlauben nicht nur die gesellschaftsweite Verbreitung von Kommu‐ nikationen auch unter Bedingungen hoher Komplexität und fortgeschrittener Ausdifferenzierung der Gesellschaft, sondern ermöglichen Reflexionsgewinne auf der Seite des Publikums (vgl. Wehner 1997). Diese Vorzüge können ‚inter‐ aktive‘, also rückkopplungsreichere Kommunikationsformen im Internet gerade nicht realisieren. Denn die Möglichkeiten, selbst in medial verbreitete Kommu‐ nikationen einzugreifen, verändern die Medienangebote, so dass nicht mehr generalisierte, d. h. für alle gleiche, sondern unterschiedliche Inhalte verbreitet werden. Zudem verringern rückkopplungsreichere Kommunikationsformen die 111 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht Möglichkeiten des unbeteiligten Beobachtens und der distanzierten Reflexion für das Publikum. Das zweite Problem besteht darin, dass soziale Interaktion als ideales Kommunikationsmodell dient, dem die Möglichkeiten neuer inter‐ netgestützter Medien möglichst nahekommen sollen. Das Eingewöhnte und Altbekannte, das hinter uns liegt, wird romantisierend als Maßstab des Neuen neuer Medien benutzt: zwischenmenschliches Gespräch, Nähe, Austausch, Gemeinschaft usw. Mit der Frage, wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht, wird dagegen gerade diese Personen- und Interaktionsbindung der sozialwissenschaftlichen Medienanalyse überwunden. Wenn man sich in In‐ ternetanalysen nicht an einem Ideal der Interaktion bzw. der Interaktivität orien‐ tiert, sondern technische Unterbrechungen danach untersucht, welche Auswir‐ kungen sie auf das Verhältnis von Mitteilung und Verstehen haben, stellen sich die Dinge anders dar. Durch informationsverarbeitende Computer, die zwischen Sender und Empfänger treten, verschärft sich nämlich die technische Unterbre‐ chung derart, dass die Einheit von Mitteilung und Verstehen zerfällt: „Wer etwas eingibt, weiß nicht (…), was auf der anderen Seite entnommen wird.“ (Luhmann 1997: 309) Und wiederum: Dieser kommunikationsanalytische Befund muss sich frei machen von Vorstellungen und Erlebnisweisen, die Menschen durch vernetzte Kommunikationsformen im Internet näher zusammenrücken lassen. Im Gegenteil, nun betrifft die Anonymisierung durch technische Unterbrechung den Sender bzw. die Quelle der Mitteilung, und die Beteiligten sind mit den Auswirkungen von Anonymität auf die Kommunikation konfrontiert. Besonders interessant erscheinen die Folgen der technischen Unterbrechung in interaktionsnahen Formen der Kommunikation, wie sie insbesondere im internetgestützten Chat vorliegen. Sicherlich wird man hier zwischen älteren Formen des Chats und neueren Formen in Instant Messagern und sozialen Netzwerken unterscheiden müssen. Diese Unterscheidung ist sicherlich auch bei dem oben genannten Zerfall der Einheit von Mitteilung und Verstehen relevant, der die Kommunikation in sozialen Netzwerken nicht mehr in glei‐ cher Weise auszeichnet. Der Einfachheit halber nehmen wir nachfolgend die älteren Formen in den Blick, in denen schriftförmige Kommunikationen ver‐ laufen und die Beteiligten oftmals einander unbekannt sind. In diesen Formen des Chats führt die praktische Orientierung an alltäglichen Gesprächen in zahlreiche Probleme, die im Rahmen der gegebenen medialen Bedingungen gelöst werden müssen (vgl. Frank-Job 2010). Die schriftlichen Formen dieser Kommunikationen bedingen eine unüberbrückbare Differenz zu mündlichen Gesprächen: Die Nutzer von Computern interagieren nicht mit Personen, sondern mit Texten bzw. symbolischen Repräsentationen. Diese Besonderheiten 112 Tilmann Sutter können im Modell einer „Depersonalisierung der Interaktion“ (Krämer 2000: 111) begriffen werden. Es geht dann nicht mehr um interpersonale Beziehungen, sondern um Intertextualität, um Beziehungen zwischen Texten. Zwar können schriftlich geführte Gespräche Prozessen sozialer Interaktionen hinsichtlich der Synchronizität der Beiträge nahekommen, aber stets machen sich die technische Unterbrechung und die technologische Ermöglichung und Übertragung der Kommunikation bemerkbar (vgl. Beißwenger 2005: 82 ff.). Das oben schon erwähnte Telefon erfordert über die direkte akustische Übertragung eine ge‐ ordnete Zug-um-Zug-Kommunikation. Dies ist bei der schriftlichen Eingabe von Kommunikationsbeiträgen nicht mehr der Fall. Selbst wenn schriftliche Eingaben in Instant-Messaging-Systemen direkt auf den Bildschirmen der beteiligten Personen erscheinen, ist die gleichzeitige Rezeption der Kommuni‐ kation nicht gesichert: Die Adressaten können z. B. mit der Abfassung eigener Beiträge beschäftigt sein. Gleichzeitig hervorgebrachte Äußerungen führen also in mündlichen Gesprächen zur unverständlichen Kakophonie, in schriftlicher Form erscheinen sie problemlos, allerdings um den Preis, dass die Sequenzi‐ alität des Geschehens von den Beteiligten eigens hergestellt werden muss. Das führt zu neuen, expliziten Methoden der Adressierung von Äußerungen (vgl. Frank-Job 2010: 40 f.). Dient der Chat dem Austausch ganzer Äußerungsblöcke, ist diese Sequenzialität noch mehr auseinandergezogen. Dabei laufen fünf Phasen hintereinander ab (vgl. Beißwenger 2005: 83): Produktion, Publika‐ tion, Darstellung, Rezeption und Reaktion. In dieser Weise werden durch die Kommunikationstechnologie Mitteilungs- und Verstehensprozesse sowie An‐ schlusskommunikationen auseinandergezogen. Dadurch werden Kontingenz und Intransparenz der Kommunikation gesteigert: Es können sich für verschie‐ dene am Chat beteiligte Personen unterschiedliche Abläufe ergeben, etwa wenn die Beteiligten an unterschiedlichen Stellen anschließen, womit sich der Text individuell für jeden der Beteiligten ändert. Die technische Unterbrechung der Kommunikation zwingt die Beteiligten, je individuell und immer wieder die Abfolge und Koordination der Beiträge abzugleichen (vgl. Beißwenger 2010). Die Frage, wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht, richtet den Fokus auf die Entkopplung von Mitteilungs- und Verstehensprozessen sowie die Probleme, die daraus entstehen und bearbeitet werden müssen. Besonders interessant in diesem Zusammenhang sind Synchronizität und Asyn‐ chronizität der Äußerungen und die damit verbundenen Anschlusszwänge. Telefon und Brief sind hier Paradefälle für Erwartungen direkter Anschlüsse und für Möglichkeiten stark verzögerter Anschlüsse. Verschiedene Formen von Chat-Kommunikation etablieren verschiedene Anschlusserfordernisse. Die E-Mail-Kommunikation kann sowohl den Charakter von Briefen als auch 113 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht Gesprächen annehmen (vgl. Dürscheid 2006: 108), mit ganz unterschiedlichen Anschlusserwartungen. Deshalb darf hier keinem Technikdeterminismus ge‐ huldigt werden: Die kommunikative Praxis kann nicht direkt aus den techni‐ schen Möglichkeiten allein abgeleitet werden, die unterschiedlich umgesetzt werden (vgl. etwa für die Vorbereitung und Eröffnung von Videokonferenzen: Mondada 2010). Aber Anschlusszwänge erfordern die Wahrnehmbarkeit für die beteiligten Personen, sodass die jeweiligen Adressaten reagieren und den Erwartungen entsprechen könnten. Der für unsere Herangehensweise entschei‐ dende Umstand liegt nun darin, dass Synchronizität, also vergleichsweise rasche Anschließbarkeit von Reaktionen an Kommunikationsbeiträge fallweise nicht das entscheidende Kriterium dafür ist, wie weit Mitteilung und Verstehen ent‐ koppelt werden. So ermöglichen viele Internetanwendungen Kommunikationen zwischen anonymen Personen. Anonymität der beteiligten Personen steigert die Kontingenz und Intransparenz der Kommunikation, auch wenn direkte Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Der Umgang mit Anonymität stellt ein weiteres zentrales Problem in technisch unterbrochenen Kommuni‐ kationen dar. Im Internet gibt es vielfältige Möglichkeiten, mit anonymen Rollen zu experimentieren und sich auf diese Weise selbst zu inszenieren. In Chats oder auch in Spielewelten werden Anonymität und - durch die Syn‐ chronizität der Beiträge - scheinbare Präsenz der Beteiligten kombiniert. Diese Merkmale schriftlich geführter Gespräche können im Vergleich zu mündlichen Gesprächen analysiert werden. In Übereinstimmung mit der hier präferierten kommunikationsanalytischen Sicht hebt Angelika Storrer (2001) hervor, dass es dabei vornehmlich nicht um Defizitanalysen gehen kann, die Nachteile der Schriftform im Vergleich zur mündlichen Form explizieren. Vielmehr geht es um Analysen neuer Problemlösungen, die entwickelt werden, um mit den technischen Gegebenheiten umgehen zu können. 4 Inklusion: ‚Menschen‘ in technisch unterbrochener Kommunikation Wir haben eingangs festgehalten, dass Kommunikationen nicht nur selbstrefe‐ renziell geschlossen, d. h. im Umgang mit technischen Unterbrechungen nicht nur mit sich selbst beschäftigt sind, sondern dass sie Umweltbeziehungen unterhalten, insbesondere zu Adressaten bzw. einem Publikum: Ohne Medien‐ rezeption keine medial verbreitete Kommunikation. Bleiben wir auf unserem eingeschlagenen Weg, so fragen wir auch hier: Wie kommen unter diesen Bedingungen psychische Systeme ins Spiel, wie werden ‚Menschen‘ für die Me‐ dienkommunikation relevant? Die ganz allgemeine Antwort darauf - wiederum aus Sicht der Kommunikation selbst - lautet: durch Prozesse der Inklusion (vgl. 114 Tilmann Sutter Bora 2002). Die Kommunikation richtet sich an Personen, wobei Inklusion dann nicht meint, dass Menschen irgendwie Teil sozialer Gebilde werden, sondern dass ganz im Gegenteil die operative Trennung von sozialen und psychischen Systemen (von Kommunikationen und Gedanken) grundlegend bleibt. Die Kom‐ munikation konstruiert mit eigenen Bordmitteln ihre Adressaten in Form von Personen, die auf ganz unterschiedliche Weise für verschiedene soziale Systeme relevant werden: etwa Wähler in der Politik, Patienten im Gesundheitssystem, Käufer im Wirtschaftssystem - oder eben das Publikum in den Medien (vgl. Stichweh 1988). In den Programmformen des Fernsehens werden die Umweltbe‐ ziehungen der Medien zu anderen gesellschaftlichen Bereichen und zum adres‐ sierten Publikum beispielhaft deutlich: Die verschiedenen Programmbereiche (u. a. Nachrichten, Werbung und Unterhaltung) setzen bestimmte Individuen voraus, als interessierte Beobachter, als nutzenmaximierende oder sich mit sich selbst auseinandersetzende Personen (vgl. Luhmann 1996: 130 ff.). „In allen Programmbereichen der Massenmedien ist mithin ‚der Mensch‘ impliziert“ (ebd.: 135), aber eben nicht als ein psychisch operierendes System, denn darauf können (massenmediale) Kommunikationen nicht direkt zugreifen, sondern als soziales Konstrukt. Mit diesen sozialen, kommunikativen Konstruktionen, die als Inklusionsprozesse beschrieben werden, wandelt die Medienkommunikation die psychische Umwelt in Einheiten um, mit denen sie umgehen kann: So liest die Massenkommunikation gewissermaßen mit den intern zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ihre psychische Umwelt. Dabei werden Schemata erzeugt, mit denen die Verständlichkeit der Medienangebote und die Abnahme‐ bereitschaft der Rezipienten gesichert werden können. Diese Schemata werden von den Adressaten durch den Umgang mit Medien erworben, wodurch eine verlässliche, von der Massenkommunikation in Eigenregie etablierte Veranke‐ rung der Medienangebote in den psychischen Systemen ermöglicht wird. Diese hier nur in groben Zügen umrissene kommunikations- und medien‐ analytische Sichtweise legt eine bestimmte Methode nahe, die Medienprodukte bzw. die Medientexte in den Mittelpunkt stellt: Diese Vorgehensweise geht davon aus, dass die Medienangebote bzw. medialen Texte selbst die Möglich‐ keiten der Anschlüsse subjektiver Verstehensprozesse und der Einbeziehung von Personen festlegen. Inklusionstheoretische Analysen - etwa im Rahmen von Objektiver Hermeneutik oder Konversationsanalyse - richten sich vor allem auf die Rekonstruktion der ‚objektiven‘ Sinnstrukturen von Medienangeboten (vgl. Sutter 2016). In diesem Rahmen kann auch an handlungstheoretische Medienanalysen angeschlossen werden, die ebenfalls im Bedeutungshorizont der Medienprodukte die Bedeutungshorizonte der Produktions- und Rezeptions- 115 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht prozesse angelegt sehen (vgl. Keppler 2001). Ähnliche Vorstellungen liegen weiterhin Konzepten wie dem „impliziten Leser“ (vgl. Iser 1984) bzw. dem „Modell-Leser“ (vgl. Eco 1987) zugrunde. Für die empirische Analyse von Fern‐ sehsendungen liefert Heiko Hausendorf (2001: 191) eine klare Charakterisierung dieser Untersuchungsperspektive: „Unabhängig davon, wer ‚tatsächlich‘ eine bestimmte Sendung aufgenommen und hergestellt hat und von wem sie ‚tat‐ sächlich‘ gesehen worden ist, verfügt die Sendung selbst über ihre eigenen Konstruktionen von ‚Autor‘ und ‚Publikum‘ - ohne daß diese Konstruktionen dabei explizit benannt und definiert werden müßten. Derartige Konstruktionen lassen sich eigenständig aus der gesendeten (bzw. gedruckten) Kommunikation selbst, d. h. ohne Rückgriff auf ‚äußere Bedingungen‘ und unser Wissen darüber, rekonstruieren.“ Mit den Strategien der direkten Adressierung und der Einbeziehung des Publikums bearbeitet das Fernsehen ein grundlegendes Strukturproblem: Es muss seine „mediale Grenze“ (Hausendorf 2003) verdecken, also den Umstand, dass die Zuschauer in der rückkopplungsarmen Kommunikation auf Distanz gehalten werden. Zugleich erhöht der Anschein von Nähe, Authentizität und Spontaneität die Attraktivität von Medienangeboten. Zwar setzt das Fernsehen in zunehmendem Maße vielfältige Varianten der Publikumsbeteiligung ein, den‐ noch bleibt das Publikum zumeist auf eine passive Beobachterrolle verwiesen. Ein ständig steigender Bedarf an Nähe, Spontaneität, Authentizität sowie ver‐ schiedenen Beteiligungsmöglichkeiten steht somit einer strukturell angelegten Distanz und passiven Beobachterrolle des Publikums entgegen. Dieses Problem wird durch spezielle Überbrückungsmechanismen abgemildert, im Fernsehen vor allem die vielen Formen der Publikumsbeteiligung wie Telefonate, Castings, Talks, Quiz-Sendungen usw. (vgl. Sutter 2016). Diese in fernsehspezifischen Inszenierungsstrategien angelegten Überbrückungsmechanismen schaffen aus‐ geweitete Inklusionsverhältnisse: Im Fernsehen werden nicht nur Befragungen und Abstimmungen, sondern auch Bekenntnisse, Anklagen, Geständnisse usw. präsentiert. Die Intensivierung von massenmedialen Inklusionsverhältnissen kann an fernsehspezifischen Strukturen der „Selbstinszenierungslogik“ (Oever‐ mann 1983) abgelesen werden, die sich durch Merkmale wie Personalisierung, Moralisierung, Vergemeinschaftung usw. auszeichnet. 5 Ausblick: neue Adressenordnungen Es wurde weiter oben bereits angedeutet, dass nicht nur ‚Menschen‘, in welcher Form auch immer, als Beteiligte und Adressaten von Kommunikation in Betracht kommen. Aktuell und in Zukunft spielen hier Roboter und künstliche Agenten 116 Tilmann Sutter eine zunehmend wichtige Rolle, verbunden mit besonderen Herausforderungen für die soziologische Kommunikationsanalyse (vgl. Muhle 2018). Die einmal ganz selbstverständlich gezogenen Grenzen zwischen Sozialität und Technik werden durchlässig. Die Exklusivität menschlichen Bewusstseins, dessen Betei‐ ligung als konstitutive Bedingung von Kommunikation gegolten hat, erscheint grundlegend erschüttert: Darauf haben vor allem Akteur-Netzwerk-Theorien reagiert (vgl. ebd.: 149 f.), die eine radikale Erweiterung des Bereichs des Sozialen vorangetrieben haben. Dabei darf man aber eine klare Erkennbar‐ keit der Grenzen von Kommunikation und Sozialem nicht aus den Augen verlieren. Entscheidend ist hierbei wiederum, die Eingrenzung des Sozialen und die Bestimmung von Kommunikation mit möglichst wenigen Vorgaben zu belasten. Die Frage, ob und wie Roboter und künstliche Agenten sich an Kommunikationen beteiligen können, darf nicht an Merkmalen sozialen Han‐ delns und menschlichen Bewusstseins ausgerichtet werden: Auch hier bietet der Beginn mit Kommunikation den besten Startpunkt. Wie und unter welchen Bedingungen kommen Roboter in technisch unterbrochenen Kommunikationen ins Spiel, wie werden sie kommunikativ adressiert und personifiziert (vgl. ebd.: 155 ff.)? Hier lassen erste fallanalytisch gewonnene Einsichten erkennen, wie in Mensch-Maschine-Begegnungen kommunikativ neue Formen der Adressie‐ rung entstehen: Florian Muhle (2019) spricht in diesem Zusammenhang von „technischen Adressen“. Der humanoide Roboter wird zwar kommunikativ adressiert, dabei aber nicht als Person, interessanterweise aber auch nicht als Maschine behandelt. Vielmehr entsteht - und wiederum: rein aus Sicht der Kommunikation betrachtet - eine technische Adresse. Für unsere Überlegungen ergeben sich aus diesen Befunden erweiterte Bereiche medialer Inklusionen, die auch eine Beteiligung nicht-menschlicher Akteure an Kommunikation umfassen. Dabei werden Adressen aller Art weiter ausdifferenziert. Im Bereich der Entstehung neuer Medien sind erweiterte Inklu‐ sionsprozesse in Form adressatenspezifischer Kommunikationen offensichtlich. Die Konstruktion unterschiedlicher Adressen bildet demnach eine weitere Um‐ gangsweise der Kommunikation mit technischen Unterbrechungen. Man kann hier auch von Adressenordnungen sprechen (vgl. Schabacher 2001), in denen zunehmend komplexe Adressen entstehen. Mit der Ausdifferenzierung und dem Wandel von Kommunikationsmedien sind unterschiedliche Adressenord‐ nungen der modernen Gesellschaft verknüpft, z. B. eine neue Ortsunabhängig‐ keit von Adressen (vgl. Stichweh 2001). Setzt der Brief, um ein einfaches Beispiel zu nennen, noch eine ortsgebundene Adresse voraus, kann ein Mobiltelefon überall angewählt werden. Verschiedene Medien etablieren unterschiedliche Adressenordnungen. Die oben erörterten neuen, internetgestützten Kommu‐ 117 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht nikationsformen des Chat etablieren neue Verfahren der Adressierung, mit denen das stark auseinandergezogene Verhältnis von Mitteilung und Verstehen bearbeitet wird. Zur Vielfalt von Adressen tragen unterschiedliche Entitäten bei, die sich hinter ihnen verbergen können: Man weiß oft nicht mehr, ob man es mit Personen, Computern, softwaregesteuerten Agenten usw. zu tun hat. Die Kommunikation, so lässt sich vielleicht korrekter formulieren, muss sich ohne diese Absicherungen anschlussfähig halten. Gerade deshalb muss die Kommunikationsanalyse von Personenbindungen absehen. Von Fall zu Fall ist erst zu eruieren, in welcher Weise überhaupt etwas kommunikativ als Person konstruiert wird (vgl. Muhle 2019). Auch dies ist mithin als Modus zu begreifen, wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht. Die vorstehenden Erörterungen unterbreiten einen methodologischen Vor‐ schlag: Die Medienanalyse beginnt mit Kommunikation und achtet auf die eigenständige Organisation der Kommunikation. Entscheidend ist die Arbeit mit einem Kommunikationsbegriff, der möglichst wenig voraussetzt und dennoch in der Lage ist, den Bereich der Kommunikation trennscharf abzugrenzen. Von da aus richtet sich die Medienanalyse auf die Art und Weise der technischen Unterbrechungen der Kommunikation sowie die Folgen und Probleme, die daraus entstehen und kommunikativ bearbeitet werden. Ein voraussetzungs‐ armer Kommunikationsbegriff, der auf neue, noch unbekannte Herausforde‐ rungen vor allem der Internetforschung abgestellt ist, muss von Personen- und Interaktionsbindungen befreit werden. Statt primär zu fragen, wie Menschen mit Medien umgehen und wie ‚interaktiv‘ neue Medien sind, kann gefragt werden, wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht. Im Hinblick auf einen Kommunikationsbegriff, der die drei Selektionen der Infor‐ mation, der Mitteilung und des Verstehens zugrunde legt, können technische Unterbrechungen der Kommunikation nach dem Verhältnis von Mitteilung und Verstehen analysiert werden: Je nach Art der Unterbrechung wird dieses Verhältnis auseinandergezogen oder überhaupt eingerissen. Ein großer Vorzug dieser analytischen Begrifflichkeit besteht darin, dass sie sowohl in der Massen‐ kommunikationsforschung als auch in der Internetforschung eingesetzt werden kann. Wir können damit etablierte Massenmedien wie das Fernsehen ebenso untersuchen wie z. B. Chats und andere neue, internetgestützte Kommunikati‐ onsformen. Hier kommen neue Problemlagen in den Blick wie Synchronizität und Anschlusserfordernisse der Kommunikation, der Umgang mit Anonymität sowie gesteigerte Komplexität und Entkopplung von Mitteilung und Verstehen gerade in Kommunikationen, die besonders interaktionsnah erscheinen. Wei‐ tere Fragestellungen richten sich auf Inklusionsprozesse, also wie ‚Menschen‘ in technisch unterbrochenen Kommunikationen ins Spiel kommen, sowie auf neue 118 Tilmann Sutter Adressenordnungen. Hier liegt möglicherweise die größte Herausforderung der sozialwissenschaftlichen Kommunikationsanalyse: Was bedeutet die sich abzeichnende Beteiligung nicht-menschlicher Akteure an Kommunikation? Soziologisches Denken ist schwer einzuüben. Immer wieder sind wir ver‐ sucht, auf Menschen und menschliches Handeln statt auf Kommunikation zuzurechnen. Aber auch die Zurechnung auf Kommunikation impliziert die konstitutive Rolle des menschlichen Bewusstseins: In der Lehre kann man hierzu den einen oder anderen guten Hinweis liefern, etwa den, dass die Kommunikation mit dem Aussterben der Menschen enden wird. Er bleibt mit schöner Regelmäßigkeit nicht mehr unwidersprochen. Literatur: Ang, Ien (2001). Zuschauer, verzweifelt gesucht. In: Adelmann, Ralf/ Hesse, Jan, O./ Keilbach, Judith/ Stauff, Markus/ Thiele, Matthias (Hrsg.). Grundlagentexte zur Fern‐ sehwissenschaft: Theorie, Geschichte, Analyse. Konstanz: UVK, 454-483. Baudrillard, Jean (1978). Requiem für die Medien. In: ders. Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen. Berlin: Merve, 83-118. Beißwenger, Michael (2010). Empirische Untersuchungen der Produktion von Chat-Bei‐ trägen. In: Sutter, Tilmann/ Mehler, Alexander (Hrsg.). Medienwandel als Wandel von Interaktionsformen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 47-81. Beißwenger, Michael (2005). Interaktionsmanagement in Chat und Diskurs: Technolo‐ giebedingte Besonderheiten bei der Aushandlung und Realisierung kommunikativer Züge in Chat-Umgebungen. In: ders./ Storrer, Angelika (Hrsg.). Chat-Kommunikation in Beruf, Bildung und Medien: Konzepte - Werkzeuge - Anwendungsfelder. Stuttgart: ibidem, 63-87. Bora, Alfons (2002). ,Wer gehört dazu? ‘ Überlegungen zur Theorie der Inklusion. In: Hellmann, Kai-Uwe/ Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.). Theorie der Politik: Niklas Luh‐ manns politische Soziologie. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 60-84. Burger, Harald (2005). Mediensprache: Eine Einführung in Sprache und Kommunikati‐ onsformen der Massenmedien. Berlin/ New York: de Gruyter. Dürscheid, Christa (2006). Merkmale der E-Mail-Kommunikation. In: Schlobinski, Peter (Hrsg.). Von *hdl* bis *cul8r*: Sprache und Kommunikation in den Neuen Medien. Mannheim usw.: Dudenverlag, 104-117. Eco, Umberto (1987). Lector in fabula. München: Hanser. Espinosa, Paul (1982). The Audience in the text: Ethnographic Observations on a hollywood story conference. Media, Culture and Society 4, 77-86. 119 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht Frank-Job, Barbara (2010). Medienwandel und der Wandel von Diskurstraditionen. In: Sutter, Tilmann/ Mehler, Alexander (Hrsg.). Medienwandel als Wandel von Interakti‐ onsformen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 27-45. Göttlich, Udo/ Heinz, Luise/ Herbers, Martin R. (Hrsg.) (2017). KoOrientierung in der Medienrezeption. Wiesbaden: Springer. Hausendorf, Heiko (2003). Nähe, Vertrautheit und Spontaneität: Eine Beispielanalyse zu linguistischen Aspekten der Einbeziehung des Zuschauers in die Sendung. In: Betten, Anne/ Schrodt, Richard/ Weiss, Andreas (Hrsg.). Neue Sprachmoral? Medien, Politik, Schule. Salzburg: Edition Praesens, 42-61. Hausendorf, Heiko (2001). Warum wir im Fernsehen so häufig begrüßt und angeredet werden: Eine exemplarische Studie am Beispiel der Sendung mit der Maus. In: Sutter, Tilmann/ Charlton, Michael (Hrsg.). Massenkommunikation, Interaktion und soziales Handeln. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 185-213. Iser, Wolfgang (1984). Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink. Keppler, Angela (2001). Mediales Produkt und sozialer Gebrauch: Stichworte zu einer inklusiven Medienforschung. In: Sutter, Tilmann/ Charlton, Michael (Hrsg.). Massen‐ kommunikation, Interaktion und soziales Handeln. Opladen/ Wiesbaden: Westdeut‐ scher Verlag, 125-145. Klemm, Michael/ Michel, Sascha (2014). Social TV und Politikaneignung: Wie Zuschauer die Inhalte politscher Diskussionssendungen via Twitter kommentieren. Zeitschrift für angewandte Linguistik 60: 1, 3-35. Krämer, Sybille (2000). Subjektivität und neue Medien: Ein Kommentar zur Interaktivität. In: Sandbothe, Mike/ Marotzki, Winfried (Hrsg.). Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten. Köln: Halem, 102- 116. Luhmann, Niklas (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1996). Die Realität der Massenmedien. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas (1992). Universität als Milieu. Bielefeld: Haux. Luhmann, Niklas (1988). Wie ist Bewußtsein an der Kommunikation beteiligt? In: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Pfeiffer, Ludwig K. (Hrsg.). Materialität der Kommunikation. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 884-905. Luhmann, Niklas (1986). Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas (1984). Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frank‐ furt/ M.: Suhrkamp. Mondada, Lorenza (2010). Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in der medienvermittelten Interaktion: Das Beispiel Videokonferenzen. In: dies./ Schmitt, Reinhold (Hrsg.). Situa‐ 120 Tilmann Sutter tionseröffnungen: Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion. Tübingen: Narr, 277-334. Muhle, Florian (2019). Humanoide Roboter als „technische Adressen“: Zur Rekonstruk‐ tion einer Mensch-Roboter-Begegnung im Museum. Sozialer Sinn 20: 1, 85-128. Muhle, Florian (2018). Sozialität von und mit Robotern? Drei soziologische Antworten und eine kommunikationsanalytische Alternative. Zeitschrift für Soziologie 47: 3, 147-163. Oevermann, Ulrich (1983). Zur Sache: Die Bedeutung von Adornos methodologischem Selbstverständnis für die Begründung einer materialen soziologischen Strukturana‐ lyse. In: von Friedeburg, Ludwig/ Habermas, Jürgen (Hrsg.). Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 234-289. Püschel, Ulrich (1993). ‚du mußt gucken nicht soviel reden‘: Verbale Aktivitäten bei der Fernsehrezeption. In: Holly, Werner/ Püschel, Ulrich (Hrsg.). Medienrezeption als Aneignung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 115-135. Schabacher, Gabriele (2001). Adressenordnungen: Lokalisierbarkeit − Materialität - Technik. In: Andriopoulos, Stefan/ Schabacher, Gabriele/ Schumacher, Eckhard (Hrsg.). Die Adresse des Mediums. Köln: DuMont, 19-24. Schmidt, J. Siegfried (1994). Kognitive Autonomie und soziale Orientierung: Konstruk‐ tivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Me‐ dien und Kultur. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Schneider, Wolfgang Ludwig (2004). Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 3: Sinnverstehen und Intersubjektivität - Hermeneutik, funktionale Analyse, Konver‐ sationsanalyse und Systemtheorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Stichweh, Rudolf (2001). Adresse und Lokalisierung in einem globalen Kommunikations‐ system. In: Andriopoulos, Stefan/ Schabacher, Gabriele/ Schumacher, Eckhard (Hrsg.). Die Adresse des Mediums. Köln: DuMont, 25-33. Stichweh, Rudolf (1988). Inklusion in Funktionssystemen der modernen Gesellschaft. In: Mayntz, Renate/ Rosewitz, Bernd/ Schimank, Uwe/ Stichweh, Rudolf (Hrsg.). Dif‐ ferenzierung und Verständigung: Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt/ M.: Campus, 261-293. Storrer, Angelika (2001). Getippte Gespräche oder dialogische Texte? Zur kommu‐ nikationstheoretischen Einordnung der Chat-Kommunikation. In: Lehr, Angelika u. a. (Hrsg.). Sprache im Alltag. Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik. Berlin/ New York: de Gruyter, 439-465. Sutter, Tilmann (2016). Massenmediale Inklusionsprozesse: Adressierung, Einbeziehung und Beteiligung des Publikums im Fernsehen. Zeitschrift für Theoretische Soziologie 5: 2, 182-213. 121 Wie Kommunikation mit technischen Unterbrechungen umgeht Sutter, Tilmann (2010). Medienanalyse und Medienkritik: Forschungsfelder einer kon‐ struktivistischen Soziologie der Medien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen‐ schaften. Wehner, Josef (2010). Numerische Inklusion - Medien, Messungen und Modernisierung. In: Sutter, Tilmann/ Mehler, Alexander (Hrsg.): Medienwandel als Wandel von Inter‐ aktionsformen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 183-210. Wehner, Josef (1997). Interaktive Medien - Ende der Massenkommunikation? Zeitschrift für Soziologie 26: 2, 96-114. 122 Tilmann Sutter #wirmüssentanzen. Methodische Überlegungen zur linguistischen Analyse von (Selbst-)Inszenierungen von Amateursportlern in den sozialen Medien am Beispiel Racing Aloha auf Instagram Anna Kurpiers 1 Einleitung Soziale Medien haben in den letzten Jahren nicht nur neue Möglichkeiten der Kommunikation geschaffen, sie haben, so stellt z. B. Klemm (2017: 6) fest, „unsere Kommunikationskultur grundlegend und wohl auch unumkehrbar verändert“. Insbesondere dem Aspekt der (Selbst-)Inszenierung scheint dabei repräsentativ für den Zeitgeist eine besondere Rolle zuzukommen (ebd.: 24). Sowohl Prominente als auch Privatleute stellen sich und ihr Leben auf Platt‐ formen in den sozialen Medien dar und es lassen sich sogar (immer häu‐ figer) auch Entwicklungen beobachten, die zeigen, dass Privatleute durch ihre Selbstdarstellung und -inszenierung in den sozialen Medien überhaupt erst zu Prominenten werden und als sog. Influencer ihr Geld verdienen. Vor allem vi‐ suell-orientierte Plattformen wie Instagram erfreuen sich dabei immer größerer Beliebtheit. Kuhlhüser (2017) konstatiert in diesem Zusammenhang: „Virtuelle (Selbst-)Repräsentationen im Netz (durch Profile, Accounts, etc.) und damit auch das private (digitale) Bildhandeln sind schon längst als soziale Praktik für das Informations-, Identitäts- und Beziehungsmanagement auf Sozialen Netzwerken etabliert“ (ebd.: 85). Dass Kommunikation in sozialen Medien stets inszeniert ist, scheint also ein in der Forschungslandschaft akzeptierter Fakt zu sein (vgl. Klemm 2017: 29). „‚Inszenierung‘ wird hier aber nicht pejorativ, sondern als analytischer Begriff verstanden: Sie gehört im Sinne von Goffmans ‚Wir alle spielen Theater‘ zum Leben konstitutiv dazu“ (ebd.). Auch wenn diese Art der Präsentation und Dokumentation kritisch betrachtet werden mag, so ist sie heutzutage nicht mehr die Ausnahme, sondern eher die akzeptierte Regel. Offenbar handelt es sich um einen wichtigen Bestandteil des Lebens in‐ 1 Ich verwende den Begriff „Kommunikat“ im Sinne von kommunikativen Äußerungen in den sozialen Medien, die zumeist aus mind. 2 verschiedenen Modalitäten, also z. B. Text und Bild bestehen (vgl. zur Diskussion des Begriffs im Kontext des Textbegriffs Endres (2016)). nerhalb unserer Gesellschaft. In aktuellen soziologischen Forschungsdiskursen wird zudem ein zunehmender Zusammenhang zwischen sportlichem und me‐ dialem Handeln beobachtet, insbesondere im jungen Erwachsenenalter (vgl. Braumüller 2018). In sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram sind vielfältige sportive Insze‐ nierungen und Thematisierungen zu finden, seien es (audio)visuelle Darstellungen des individuellen Sporttreibens, Fanbekundungen für den Profisport oder virtuelle Fitnessprogramme (ebd.: 81). Die erwähnte Studie liefert Evidenzen dafür, dass eine Inszenierung des sport‐ lichen Handelns in sozialen Netzwerken die Organisation des Sporttreibens, die Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit sowie die Motivation beeinflusst (ebd.). Dies zeigt erneut, dass die Lebenswelten (nicht nur) junger Erwach‐ sener hochgradig mediatisiert sind. Virtuelle soziale Netzwerke wie Instagram werden als Vermittler der sozialen Umwelt und als eigene Wirklichkeitsbereiche zunehmend bedeutsamer. In diesen „virtuellen Handlungsräumen können Her‐ anwachsende interagieren, sich selbst inszenieren, in Beziehungen und Gemein‐ schaften verorten sowie Anerkennung und Bestätigung erfahren“ (ebd.). Dieser Trend lässt sich auch im Amateur- und Profisportbereich beobachten, wobei hier dann auch noch häufig eine werbende Komponente für diverse Partner und Produkte hinzukommt. Es ist also nicht verwunderlich, dass die sozialen Medien angesichts ihrer Omnipräsenz, insbesondere im jungen Erwachsenenalter, ein beliebtes Thema für studentische Arbeiten sind. Häufig ist jedoch die methodische Herangehens‐ weise eine große Hürde und damit ein limitierender Faktor für den Erfolg solcher Arbeiten. Zwar liegen mittlerweile einige Untersuchungen zu Inszenie‐ rungen in den sozialen Medien mit Fokus auf bestimmte (Stil-)Mittel vor (vgl. z. B. Kuhlhüser 2017 zu Hashtags und Bildern im Kontext von Reiseerzählungen auf Instagram), dennoch fehlen bislang konkrete methodische Vorschläge zur umfassenden linguistischen Untersuchung von Kommunikaten 1 in den sozialen Medien im Hinblick auf die Inszenierungsstrategien. Daher soll in diesem Artikel auf Basis stilistischer Mikroanalysen ein Vorschlag für das Vorgehen bei der Analyse entwickelt werden. Als Datengrundlage dienen die Posts 124 Anna Kurpiers 2 Ausdauersportart, in der nacheinander und ohne Pause Schwimmen, Radfahren und Laufen absolviert werden müssen, dabei gibt es verschiedene Distanzen von der Sprint‐ distanz (500 m, 20 km, 5 km) bis hin zur Langdistanz, im Volksmund auch „Ironman“ genannt (3,8 km, 180 km, 42,2 km). einer Gruppe von Amateursportlerinnen aus dem Bereich Triathlon 2 , die auf Instagram zusammen den Account „racingaloha“ betreiben. 2 Inszenierungen in sozialen Medien Auf die Frage, warum die Inszenierung in den sozialen Medien eine immer größere Rolle spielt, gibt es bislang noch keine allgemeingültige Antwort. Es scheint dem Zeitgeist zu entsprechen, auf diese Weise nach Anerkennung und Bestätigung zu streben. Für Inszenierungen im Sportkontext wurden, wie der oben bereits erwähnten Studie (Braumüller 2018) zum Zusammenhang von sportlichem und medialem Handeln zu entnehmen ist, noch weitere Aspekte identifiziert. So profitieren die Befragten von den Möglichkeiten der Vernetzung auch im realen Leben, verbessern durch den Austausch von Wissen und Erfahrungen auch ihre eigenen Fähigkeiten „und ziehen Motivation aus der Rezeption sportbezogener Beiträge und dem Feedback zu sportiven Inszenie‐ rungen“ (Braumüller 2018: 84). Es lässt sich außerdem eine Wirkung auf die Identitätsbildung beobachten. Die Befragten inszenieren sich selbst als erfolgreiche, innovative Sportler/ innen, in spektakulären, außergewöhnlichen oder ästhetischen Posen und zeigen damit, wofür sie in der Öffentlichkeit Wahrneh‐ mung, Anerkennung und Feedback erhalten möchten (ebd.). Das im virtuellen Netzwerk unter „Freunden“ sowie in der Anschlusskommu‐ nikation im realen Leben erhaltene Feedback ist dabei besonders konstruktiv und identitätsrelevant (ebd.). Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch schon Döring (2003) außerhalb des Sportkontextes. Es scheint also, als ob „Zugehörigkeit und sozialer Anschluss (…) in sozialen Netzwerken auf einfache Art und Weise her‐ gestellt und über vielfältige Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten präsentiert werden [können]“ (Braumüller 2018: 85). Und weiter: Die Verwobenheit zwischen realer und virtueller Welt führt zu authentischen Ent‐ würfen sportiver Identität(en), die einer positiven, leistungs- und erfolgsorientierten Inszenierungsstrategie folgen, die auch abseits des Sportkontexts belegt wird (ebd.). Im Folgenden werden daher die sozialen Medien und ihre vielfältigen Interak‐ tions- und Kommunikationsmöglichkeiten beleuchtet, wobei in diesem Zusam‐ 125 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram 3 https: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ definition/ soziale-medien-52673 (Stand: 14.10.2019). menhang insbesondere die Plattform Instagram fokussiert wird. Anschließend wird nochmals auf den Begriff der Inszenierung eingegangen. 2.1 Soziale Medien Als soziale Medien werden gemeinhin Plattformen verstanden, die der Ver‐ netzung von Nutzern dienen, wobei die Kommunikation über das Internet stattfindet (vgl. Marx/ Weidacher 2019: 37). Dabei werden verschiedene Kom‐ munikationskanäle verwendet, v. a. Text, Bild, Ton. Als typische Vertreter werden demnach Social Networks, Weblogs, Microblogs, Wikis und Foto- und Videoplattformen angesehen. Aber auch Chats und Diskussionsforen, virtuelle Kontakt- und Tauschbörsen sowie bestimmte Apps zur Kommunikation und Bewertung können bei einem weiten Begriff inkludiert werden. 3 Wie oben bereits erwähnt, ist in den sozialen Medien eine Tendenz zu beobachten, das eigene Leben, festgehalten durch Text und (bewegtes) Bild, mit anderen zu teilen. Das sog. Teilen/ Sharen bezeichnet im Internet, und vor allem in den sozialen Medien, „das Posten bestimmter Inhalte wie Videos, Fotos etc., sodass andere Nutzer eines Mediums diese Inhalte auch sehen und kommentieren können“ (Oer/ Cohrs 2016: 12). Hinzu kommen aber auch weitere Informationen, wie beispielsweise Aufenthaltsorte, Stimmungen, Fitness-Daten etc. Schließlich werden Plattformen in den sozialen Medien genutzt, um ein „digitales Alter Ego“ (ebd.: 13), eine eigene „Social-Media-Persönlichkeit“ (ebd.) zu kreieren und zu präsentieren. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch das Selfie als repräsentative Kommunikationsform diskutiert. Ein Selfie ist ein Selbstporträt, das durch das Teilen ein Medium der Kommunikation wird. Es zeichnet sich durch den typischen Kamerawinkel aus, da es in der Regel aus der eigenen Hand auf Armlänge ausgestreckt aufgenommen wird. Das Selfie hat sich seit 2004 in den sozialen Netzwerken etabliert und gilt als stellvertretend für die aktuelle Darstellungskultur (vgl. für die ausführliche Geschichte des Selfies ebd.: 21 ff., zur Bedeutung des Selfies für Heranwachsende und junge Erwachsene Völcker/ Bruns 2018): „Selfies sind Fotos, die es nur gibt, weil wir anderen etwas über uns mitteilen - und vielleicht auch etwas Aufmerksamkeit erhalten - möchten“ (ebd.: 18). Hauptsächlich scheint es bei der Kommunikation in sozialen Netzwerken letztlich also vor allem um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu gehen. Oer und Cohrs bezeichnen hier als „Währung“ (Oer/ Cohrs 2016: 15) die sog. Likes. Nutzer können auf Posts durch Symbole wie einen Daumen oder Herzchen reagieren und dadurch signalisieren, dass sie die Nachricht 126 Anna Kurpiers 4 Im Grunde genommen handelt es sich hier um deutlich mehr als bloße Wahrnehmung. Dies würde aber in diesem Kontext den Rahmen sprengen. Vgl. dazu z. B. Marx und Weidacher (2014: 118 ff.). 5 www.influma.com/ blog/ influencer-marketing-was-sind-influencer/ (Stand: 24.10.2019) wahrgenommen 4 haben. Ebenfalls eine große Rolle in diesem Zusammenhang spielen die Hashtags. Durch die Kombination von Rautezeichen (#) (…) und bestimmten Begriffen oder Phrasen werden Inhalte in sozialen Netzwerken oder Blogs von ihren Erstellern verschlagwortet und so für andere Nutzer gezielt auffindbar gemacht. Hashtags können dabei allgemein bekannte Abkürzungen sein (…), einzelne Begriffe (…) oder ganze Sätze (…), [wobei aus sprachwissenschaftlicher Perspektive auffällt, dass die Begriffe allesamt klein geschrieben werden und Phrasen oder Sätze keine Leerzeichen enthalten, meine Anmerkung, A.K.] (ebd.: 15). Eine besonders große Reichweite erreicht man also dann, wenn man seine Posts mit Hashtags versieht, die gerade besonders populär sind. Dies machen sich heute nicht mehr nur Privatleute zunutze. Aus dem Phänomen des Teilens und der Verortung ist eine große Maschinerie geworden, die mittlerweile auch und vor allem Unternehmen nutzen, um Werbung für sich und ihre Produkte zu machen. In den sozialen Medien geschieht dies zunehmend über Influencer. Als solche werden Menschen bezeichnet, deren Beiträge die Meinungsbilder in den sozialen Medien prägen. Dies sind meist Prominente aus Film und Fernsehen, Musik, Sport etc., die sich durch eine besonders hohe Anzahl an Followern und viel Überzeugungskraft auszeichnen. Mittlerweile gibt es jedoch auch schon zahlreiche Influencer, die erst durch ihre Tätigkeit in den sozialen Medien berühmt geworden sind, sodass man hier fast schon von einem neuen Berufsbild sprechen kann. Grundsätzlich können all diejenigen Influencer sein, die sich über bestimmte Themen, Unternehmen, Marken oder Produkte im Internet äußern, z. B. in Form von Bewertungen, Beschwerden, Anleitungen, Funktionsbe‐ schreibungen, Anwendungsbeispiele oder einfach nur über Nennungen [und] ihre Meinung über Blogs, Fachartikel, Videos, Tweets oder Social Media Posts im Internet verbreiten. 5 Influencer zeichnen sich also durch eine hohe Anerkennung und Interaktion innerhalb ihrer Community aus, u. a. durch: zahlreiche Kanäle und Plattformen, auf denen sie aktiv sind, eine große Aktivität und Regelmäßigkeit, in der sie sich äußern, eine hohe Anzahl von sog. Social Signals: z. B. Follower, Kommentare, Likes, Shares, Downloads, Views, Abonnenten (vgl. Oer/ Cohrs 2016: 15). 127 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram 6 https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 300347/ umfrage/ monatlich-aktive-nutzer -mau-von-instagram-weltweit/ (Stand: 24.10.2019) Kommunikationsaktivitäten in den sozialen Medien dienen also oft der Selbstdarstellung und zusätzlich werbenden Zwecken. Dass Posts für diese Intentionen möglichst positiv und überzeugend gestaltet werden, ergibt sich da von selbst. Der Inszenierung in den sozialen Netzwerken kommt also eine große Bedeutung zu. Besonders deutlich lässt sich dies auf Instagram beobachten, da es sich hier um eine stark visuell geprägte Plattform handelt. 2.2 Instagram Instagram ist ein kostenloser Online-Dienst zum Teilen von Fotos und Videos, der seit 2010 existiert und seit 2012 zu Facebook gehört. Ursprünglich war die App dafür gedacht, den Nutzern die Möglichkeit zu bieten, schöne Mo‐ mentaufnahmen, die ohne teures Equipment gemacht wurden, durch Filter zu überarbeiten und dann innerhalb der Follower-Community zu teilen. Mitt‐ lerweile kann Instagram über eine Milliarde Nutzer verzeichnen. 6 Die größte Nutzergruppe stellen dabei die 13bis 29-Jährigen dar (vgl. Kuhlhüser 2017: 86). (Nicht nur) diese Gruppe betreibt dort „intensives Informations-, Identitäts- und Beziehungsmanagement“ (ebd.: 87), das durch Instagram gefördert wird, dadurch dass es sich als eine Plattform versteht, „die ihren Nutzern/ Nutzerinnen die Möglichkeit gibt, kreativ zu sein, sich selbst auszudrücken, ihre Sicht auf das Leben zu teilen und den Followern die eigene Identität näher zu bringen“ (ebd.). Die Posts auf Instagram können wie bei anderen sozialen Netzwerken auch in einem individuellen Newsfeed rezipiert werden, in dem die zuletzt veröffentlichten Beiträge der abonnierten Accounts umgekehrt chronologisch angezeigt werden (der jeweils neueste Beitrag erscheint also ganz oben). Die Beziehungsstruktur der Nutzer ist (z. B. im Gegensatz zu Facebook, aber ähnlich wie bei Twitter) asymmetrisch. Das bedeutet, dass Nutzer 1 Nutzer 2 folgen kann, ohne dass es auch umgekehrt der Fall ist. Dadurch können einzelne Nutzer eine große Anzahl von Followern haben (wie bei Prominenten und Influencern), ohne selbst ebenfalls vielen Accounts zu folgen. Wie oben bereits beschrieben, ist die Währung auf Instagram Aufmerksam‐ keit und Anerkennung sowie Resonanz. „Die soziale Interaktion auf Instagram beschränkt sich auf das Folgen von Accounts, das Liken und Kommentieren von Beiträgen“ (Kuhlhüser 2017: 88), wobei die Kommentare typischerweise relativ kurz (wiederum im Vergleich zu Facebook) erscheinen und sich oft auf ein „Lob, Bewunderung oder nur ein Emoticon“ (ebd.) beschränken. Äquivalent zum „gefällt mir“-Button auf Facebook, der ja mittlerweile differenziert verwendet 128 Anna Kurpiers 7 https: / / ze.tt/ wie-instagram-uns-ein-besseres-gefuehl-geben-koennte/ (Stand: 24.10.2019) werden kann (Spezifikationen: Liebe, Lachen, Überraschung, Traurigkeit, Wut (Marx/ Weidacher 2019: 82)), gibt es auf Instagram den „Herz“-Button. Dieser dient der (sozialen) Bewertung der Beiträge durch Nutzer und hat somit auch handlungsleitendes Potenzial, da die Produzenten natürlich darauf reagieren, was die Nutzer wie bewerten. Solche Likes sowie auch die Anzahl von Kommentaren sind schließlich quan‐ titative Indikatoren für Reichweiten und Resonanz der Inhalte. Allerdings haben laut Kuhlhüser (2017) Studien gezeigt, dass nur 41,3 Prozent der Bilder auf Insta‐ gram kommentiert werden (ebd.: 88). Dies stellt ebenfalls einen Unterschied zu Plattformen wie Facebook dar: Anschlusskommunikation auf Instagram scheint sich auf einfache Praktiken wie die „Wahrnehmung und positive Bestätigung eines Beitrags durch das Bedienen des ‚Herz‘-Buttons“ (Kuhlhüser 2017: 89) zu beschränken, sodass man die Kommunikation auf Instagram als „minimalis‐ tische Interaktion/ verkürzte Kommunikation“ (ebd.) beschreiben kann, wobei die quantitative (positive) Bestätigung in den Vordergrund rückt. (ebd.: 86-89) Umso interessanter ist die Frage, wie die Nutzer sich oder Inhalte inszenieren, um genau diese Bestätigung zu bekommen. 2.3 Inszenierungen Wie in der Einleitung bereits erwähnt, bezieht sich dieser Artikel auf die in der Kommunikationswissenschaft mittlerweile akzeptierte These, dass Kommuni‐ kation in sozialen Medien stets inszeniert ist (vgl. Klemm 2017: 29). Diese Entwicklung wird gesamtgesellschaftlich zuweilen sehr kritisch betrachtet. Argumente beziehen sich dabei vor allem auf die neue omnipräsente Darstel‐ lungskultur innerhalb der Gesellschaft und die potenziellen Gefahren, die damit einhergehen: Werbung findet immer mehr über Influencer statt, Prominente lassen ihre Follower über diesen Kanal an ihrem Leben teilhaben und Privat‐ personen tun es ihnen gleich und stellen sich dort ebenfalls für Freunde und Bekannte dar. Das Bedrohliche daran: Oft hat die Darstellung nicht viel mit der Realität zu tun: „Schlanke Menschen mit grandioser Figur, das beste Essen, die schönsten Wohnungen: Auf Instagram scheinen alle in einer anderen, perfekten Welt zu leben, die dreckigen, unschönen Seiten des Alltags haben hier keinen Platz.“ 7 Wie in dem Zitat angesprochen, wird auf Instagram mehrheitlich suggeriert, dass alles toll ist. Filter, die über Bilder gelegt werden, lassen Motive und Personen vorteilhafter aussehen, man ist scheinbar ständig unterwegs und erlebt spannende Dinge, die Sonne scheint sprichwörtlich immer. Gerade 129 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram 8 www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ agenda/ pink-gegen-social-media-instagram-nicht-das -echte-leben-15481618.html (Stand: 24.10.2019) 9 Mittlerweile (September 2019) haben die Frauen einen Verein gegründet, dem interessierte Frauen beitreten können (https: / / www.racingaloha.de/ verein/ ) (Stand: 24.10.2019) Jugendliche auf der Suche nach dem eigenen Ich werden so verunsichert und unter Druck gesetzt. Die Grenzen zwischen der Welt auf Instagram und der realen Welt scheinen zu verschwimmen. Dies wird auch bereits von einigen Prominenten postuliert. So sagte die Sängerin Pink jüngst beispielsweise in einem Interview mit der Cosmopolitan: „Social Media führt dazu, dass jeder denkt, der andere hätte ein viel cooleres Leben. Nein! Instagram ist nicht das echte Leben.“ 8 Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive wird Inszenierung im Kontext der sozialen Medien, wie oben bereits erwähnt, jedoch nicht als „pejorativ, sondern als analytischer Begriff verstanden: Sie gehört im Sinne Goffmans ‚Wir alle spielen Theater‘ zum Leben konstitutiv dazu“ (Klemm 2017: 29). Hier wird mithilfe der Inszenierungen aktive Imagearbeit geleistet (vgl. auch Kuhne 2019): „Zu Verbalisieren (sic! ), wer man vermeintlich ist bzw. wie man wahrgenommen und gesehen werden will, ist auf Instagram nicht verpönt, sondern als elementarer Bestandteil zur Selbstinszenierung akzeptiert“ (Kuhlhüser 2017: 107). Vor allem im hochschulischen Umfeld bietet sich daher die Chance, das Interesse seitens der Studierenden für den Gegenstand zu nutzen und durch eine angeleitete, gründliche Auseinandersetzung auf der Basis von stilistischen Mik‐ roanalysen aufzuzeigen, welche Strategien zur Inszenierung auf Plattformen wie Instagram verwendet werden, deren Funktionen und Wirkung im Hinblick auf Identitätsbildung zu untersuchen und eine Sensibilisierung für Inszenie‐ rungen im Allgemeinen zu fördern. 3 Das Korpus: Racing Aloha Das untersuchte Korpus umfasst die Beiträge auf Instagram der Community „Racing Aloha“. Dabei handelt es sich um eine Gruppe zehn junger Frauen, die gemeinsam den Sport Triathlon und alles, was damit zusammenhängt, also Training, Wettkämpfe, Reisen usw. betreiben. Besonderes Augenmerk legen sie dabei zum einen darauf, Frauen in der immer noch männerdominierten Welt des Triathlons zu stärken und zu repräsentieren (die Mitglieder des ursprünglichen Teams 9 sind dabei auch sportlich sehr erfolgreich), zum anderen aber auch darauf, dass der Spaß und der Zusammenhalt im Vordergrund stehen (vgl. Abb. 130 Anna Kurpiers 10 https: / / www.racingaloha.de/ (Stand: 24.10.2019) 11 ebd. 12 ebd. 13 Racing Aloha veranstaltet auch jährlich einen mehrwöchigen Vorbereitungskurs für den Allgäu Triathlon für Frauen, die noch nie zuvor an einem Triathlon teilgenommen haben, sog. Rookies. 14 https: / / www.racingaloha.de/ wir/ (Stand: 24.10.2019) 15 In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei Daniela Loth für ihre Hilfe bei der Erstellung des Korpus bedanken. 1). Betont wird dabei auch, dass die Persönlichkeiten, die hinter der Gruppe stehen, ganz verschieden sind: „Jede von uns hat ihre Stärken, ihren Charakter und vor allem individuelle Wünsche, Träume und Ziele! “ 10 Sie alle vereinen aber die Leidenschaft für den Sport sowie grundlegende Werte im Leben: „Sport spielt für uns eine wichtige Rolle, wichtiger noch aber sind Freundschaft, Ehrlichkeit und Toleranz.“ 11 Die Gruppe inszeniert sich dabei als höchst authentisch: „Wir verstellen uns nicht, sondern sind so wie wir sind. Deshalb lautet unser Credo: AUS DEM WEG, WIR MÜSSEN TANZEN! “ 12 (Hervorhebung im Original). Das Berichten über ihre Erlebnisse in den sozialen Medien sehen sie als Chance, um andere Frauen zu motivieren, ebenfalls Triathlon zu betreiben, dafür geben sie gern ihre Erfahrungen weiter. 13 Abb. 1: Selbstbeschreibung „Racing Aloha“ 14 Der Account racingaloha auf Instagram hat knapp 4500 Abonnenten (Stand September 2019). Das Korpus besteht aus allen Beiträgen seit der Gründung der Seite am 26.04.2016 bis zum 01.08.2019, dies sind insg. 596 Posts 15 . Die Posts wurden in Word kopiert, nummeriert und verschlagwortet. Zusätzlich wurden die Hashtags extra in einem txt-Dokument archiviert, um eine quantitative Auswertung mit Excel zu vereinfachen. Zumeist wurden die Instagram-Posts zeitgleich auch auf Facebook veröffentlicht. Nicht berücksichtigt wurden die Stories, die während dieser Zeit veröffentlich wurden, sowie die Anzahl der 131 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram Likes und die Kommentare. Dies hat im Falle der Stories mit deren Flüchtigkeit zu tun, sie sind nur dafür gedacht und konzipiert, 24 Stunden sichtbar zu sein. Damit ist eine (nachträgliche) Archivierung sowohl aus organisatorischen als auch aus ethischen Gründen schwierig. Die Likes und Kommentare wurden nicht berücksichtigt, da wie oben beschrieben, die Plattform Instagram wenig auf Interaktivität ausgerichtet ist. Anteilnahme wird hauptsächlich durch Likes ausgedrückt, die aber kaum zur Selbstinszenierung beitragen, daher wurden sie in diesem Fall nicht für die Korpuserstellung berücksichtigt. 4 Methodische Überlegungen Bei der Inszenierung in den sozialen Medien wird von den Produzenten, wie oben beschrieben, eine Lesart im Sinne von „wer man vermeintlich ist bzw. wie man wahrgenommen und gesehen werden will“ (Kuhlhüser 2017: 107) nahegelegt, die auch mit dem Stilbegriff erfasst werden kann: Stil ist immer ein ‚Wie‘, ‚die Art und Weise, wie…‘. […] Wichtig ist allerdings, ‚was‘ wie stilistisch gestaltet wird und weiter, wie dieses ‚Was-Wie‘ zu interpretieren ist: das ‚Wozu‘. […] Welcher soziale Sinn wird durch dieses Was-Wie hergestellt? (Sandig 1995: 28). Daher schlage ich vor, bei der Analyse von Inszenierungen in den sozialen Medien auf die dekomponierende interaktionale Stilanalyse zurückzugreifen, die Selting (1997, 2001) ursprünglich für die Analyse von Sprechstilen entwickelt hat. Zugleich kann eine Verortung in der Mannheimer kommunikativen Stilistik den Blick für gruppendynamisch relevante sprachliche sowie außersprachliche Phänomene im Sinne eines sozialen Stils öffnen (vgl. z. B. Keim 2001). Für die Analyse von Gruppenstilen konnte ich das Verfahren bereits erfolgreich auch in einem anderen Kontext anwenden (Kurpiers 2016). Die analytischen Grenzen im Kontext einer Abkehr von Sprech- und Gesprächsstilen hin zu Stilen im Internet habe ich dort ebenfalls thematisiert (vgl. ebd.: 32 ff.). Stil muss in diesem Zusammenhang sowohl als sprachliches als auch als soziales Phänomen betrachtet werden (Sandig 2006; Fix 2007a, b). Sandig (2006) weist weiterhin darauf hin, dass „[e]s nur Stile [gibt], weil Stil eine sozial rele‐ vante Kategorie ist“ (ebd.: 1). Und weiter: „Stil ist variierender Sprachgebrauch, der für die Gesellschaft bedeutsam ist“ (ebd.). Im Kontext neuerer stilistisch orientierter Arbeiten findet sich schließlich immer wieder eine Hervorhebung des kommunikativ-pragmatischen Charakters von Stil. Eine solche interaktional orientierte Stilanalyse verfolgt das Ziel, „sprachliche Strukturen und Merkmale als Ressourcen der natürlichen sozialen Interaktion zu beschreiben“ (Selting 132 Anna Kurpiers 2001: 17) und somit Rückschlüsse auf einen Teil menschlicher Sprachverhaltens- und Sprachhandlungskompetenz zu ziehen (ebd.). Damit einhergehend wird deutlich, dass es sich bei dem Gegenstand Stil um ein komplexes Phänomen handelt. Seine Wahrnehmung als holistische Gestalt ist daher zentral. „Für die Produzenten und Rezipienten wirken Stile als holistische Gestalten, bzw. als holistische Gestaltungsmittel und Gestaltungsweisen kommunikativer Aktivi‐ täten (…)“ (Selting 2001: 7). Sandig (2006) weist darauf hin, dass Stil zwar als Ganzheit beschrieben werden kann, strukturell stellt er jedoch ein synthetisches Phänomen dar, dessen Komponenten sowohl im sprachlichen als auch im außersprachlichen Bereich zu verorten sind: Stilstruktur wird gebildet durch Bündel miteinander vorkommender (kookkurrier‐ ender) Merkmale, die auf verschiedenen Ebenen der Sprachstruktur und im Bereich parasprachlicher Phänomene bzw. anderer Zeichentypen wie Bild, Gestik oder Musik und Kleidung zu beschreiben sind (ebd.: 67). Ebenfalls zu beachten ist dabei aus theoretischer Perspektive die Gewichtung der stil-strukturellen Merkmale: „Die Merkmale, die eine Stilstruktur konstitu‐ ieren sind nicht alle gleichwertig, sondern unterschiedlich zentral bis peripher und unterschiedlich dicht vertreten, sie stehen in verschiedenartigen Relationen zueinander“ (ebd.). Stile sind auch Kontextualisierungshinweise innerhalb von Interaktionen, sie werden daher auch als „das Mittel der Situationsanpassung von Handlungen“ (Sandig 1986: 31) bezeichnet. Das Holistisch-Sein wird als abstraktes Prinzip und als Voraussetzung für die Existenz von Stil angesehen (Zhao 2008: 56). Diese Vorstellung erweist sich jedoch bei der Analyse von Stilen nicht unbedingt als hilfreich. Stil wird so zu einem subjektiven Gesamteindruck, der dekomponiert werden muss, um objektiv greifbar zu werden (ebd.). Aufgrund der holistischen Gestalt bleibt auch die Wirkung von Stil häufig intuitiv und unbewusst oder nur teilweise bewusst: Produzenten produzieren und Rezipienten interpretieren Stile i. d. R. auf der Grund‐ lage eines intuitiven Wissens über und um die mit Hilfe des Stils erzeugten interak‐ tiven Bedeutungen (Selting 2001: 8). Dies ist ein Problem, das laut Selting (ebd.) aber darin begründet liegt, „daß bisher fehlende Kenntnisse über viele der stilkonstitutiven Merkmale und Prinzipien eine Analyse und Bewußtmachung verhindern“ (ebd.). Selting (2001) stellt daher in diesem Zusammenhang fest, dass die Komponenten des intuitiv wahrgenommenen Stils (als Gesamteindruck, in unserem Fall also die Inszenierung) zu identifizieren sind. Sie strebt daher eine „Rekonstruktion der Methoden der Interaktionspartner an, die für die Herstellung und Rezeption, 133 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram die Produktion und Interpretation von Stilen relevant sind“ (Selting 2001: 14). Das Vorgehen zielt also auf eine Dekomponierung der holistischen Stile in möglichst kleine stilkonstitutive Merkmale und deren Funktion. Übertragen auf den vorliegenden Gegenstand bedeutet dies, dass wir bei der Rezeption der Instagram-Posts intuitiv einen Stil wahrnehmen, der Rückschlüsse auf eine Inszenierung ziehen lässt. Ziel der Analyse ist es, die Komponenten bzw. stilkonstitutiven Merkmale und deren Funktion herauszuarbeiten und zu identifizieren, um so den subjektiven Gesamteindruck der Stilerfahrung, respektive der Inszenierung, und dessen Wirkung möglichst objektiv greifbar zu machen. 5 Beispielanalysen Grundsätzlich gibt es für die stilistische Analyse von Instagram-Posts oder ganzen Accounts im Hinblick auf die inszenierende Relevanz unzählige An‐ knüpfungspunkte. Zunächst sollte die stilistische Wirkung im Hinblick auf die (Selbst-)Darstellung/ Inszenierung in der Gesamtbetrachtung intuitiv formuliert werden. Im Folgenden kann es auch wichtig sein, die Kommunikate in einen zeitlichen wie auch inhaltlichen Kontext einzuordnen. Wer hat was wann ver‐ öffentlicht? Ist die Person prominent? Wenn ja, aus welchem Bereich etc. Dann ist von Interesse, was im Bild oder im Video zu sehen ist, und was im zugehörigen Text steht. Gibt es explizite oder implizite Sprache-Bild-Bezüge? Welcher Art sind sie (vgl. dazu bspw. Stöckl 2004, 2016). Werden Hashtags verwendet? Welche? Werden Emoticons verwendet? Welche? Mit welcher Funktion jeweils? Werden die Follower direkt adressiert? Findet die Adressierung implizit oder explizit statt? Werden Inhalte aus Bild oder Video erklärt oder wird Bezug auf Insiderinformationen genommen? Schließlich kann noch die interaktive Darstellung betrachtet werden. Wie kann die Interaktion mit den Followern beschrieben werden? Meldet sich der Nutzer nach dem Post nochmal zu Wort? Wie viele Kommentare gibt es? Was wird in den Kommentaren inhaltlich behandelt? Sicherlich müssen aber bei der Analyse Schwerpunkte gesetzt werden. Ziel dieses Beitrags ist daher explizit nicht die Entwicklung eines Analyserasters oder -schemas, da ein solches der Vielfalt der Inszenierungen nie gerecht werden könnte. Die Dekomponierung der stilkonstituierenden Merkmale erfolgt empi‐ risch aus dem Datenmaterial heraus. Es ist offensichtlich, dass potenziell die gesamte Darstellung eines Accounts oder eines einzelnen Posts Anknüpfungspunkte für die Analyse von Inszenie‐ rungstechniken bietet. Dazu gehören sowohl Aspekte des Layouts als auch tex‐ 134 Anna Kurpiers tuelle Merkmale. Auch kann in manchen Fällen sogar die Darstellung außerhalb der sozialen Medien, z. B. durch Kleidung, relevant für die Gesamtinszenierung sein. Stilistische Mikroanalysen können die konstituierenden Merkmale nie in ihrer Gesamtheit abbilden, wohl aber zu einem tieferen Verständnis und einer reflektierten Einschätzung von Inszenierungen beitragen. Für das Beispiel racingaloha wurden daher nach der stilistischen Gesamtbetrachtung einige wichtige Stilmittel der Inszenierung ausgewählt, um exemplarisch zu zeigen, wie eine solche Analyse aussehen könnte. 5.1 Stilistische Gesamtbetrachtung Bei der intuitiven stilistischen Gesamtbetrachtung kann in diesem Fall auch auf eigene Aussagen der betrachteten Gruppe zurückgegriffen werden, die z. B. auf der Homepage verbalisiert werden. Dies muss nicht in allen Fällen so sein, die stilistische Gesamtbetrachtung kann für anderes Datenmaterial auch vollständig auf Intuition beruhen. Interessant ist dann unabhängig davon, wie man zu der initialen Gesamtbetrachtung gelangt, wie diese Interpretation mithilfe der stilistischen Mikroanalysen hergeleitet und bestätigt werden kann. Racingaloha inszeniert sich selbst als eine Gruppe von sportlichen Frauen, die vor allem die Leidenschaft für die Sportart und den Lifestyle Triathlon (aber auch weitere verwandte Sportarten), die Liebe zu den Bergen und damit zusammen‐ hängend so etwas wie Heimatverbundenheit und Lokalkolorit (Allgäu) sowie ein ausgeprägter Sinn für Freundschaft und Gemeinschaft verbinden. Diese Elemente finden sich in den Posts immer wieder, sowohl auf Fotos, im Text oder in Hashtags, wobei sich dort auch immer noch weitere Verweise auf weitere, verwandte Inhalte finden. Authentizität steht bei allen Kommunikaten absolut im Fokus. Die Inszenierung von racingaloha ist eingebettet in ein größeres Netzwerk von Partnern und Förderern, was auf Instagram vor allem durch die Hashtags deutlich wird. Weitere Informationen findet man dazu auf der Homepage (vgl. Kapitel 5.3). Ein typischer Post ist im Folgenden beispielhaft abgebildet. Man sieht zwei der Frauen, Ida und Lima, bei einem Trail-Lauf in einer beeindruckenden Bergkulisse. Die Kernelemente Sport, Heimat/ Berge und Gemeinschaft sind also auf den ersten Blick sichtbar. In dem Begleittext sowie dem dort eingebetteten Hashtag #VorfreudeFreitag wird das Bild kontextuali‐ siert: Es geht um einen bevorstehenden Wettkampf in der näheren Umgebung. 135 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram 16 https: / / www.racingaloha.de/ wir/ (Stand: 24.10.2019) Abb. 2: Beispiel 1 (Korpus Racing Aloha P591) 5.2 Name des Accounts Die Accounts auf Instagram enthalten in den seltensten Fällen Klarnamen. Meist werden sog. Nicknames gewählt, die zwar einen Bezug zum Klarnamen er‐ kennen lassen, aber gleichzeitig noch weitere Informationen über den Account und die Inhalte bereitstellen. Laut Schlobinski und Siever (2018) bezeichnen Nicknames „im Deutschen nicht amtliche Personennamen. Es sind von Personen selbst angegebene und somit auch meist selbst gewählte und nicht von anderen übernommene Namen in der digitalen Netzkommunikation, sei es in Chats, auf Foren, beim Internetgaming, auf Social Media usw.“ (Schlobinski/ Siever: 9). In der Regel sind Nicknames selbstgewählt und dienen der Selbstidentifizierung und Selbstdarstellung (ebd.). Es ist daher davon auszugehen, dass durch den Namen des Accounts bereits erste Hinweise auf die Inszenierung gegeben werden. Bei racingaloha lassen sich keine Bezüge zu den Klarnamen der Mitglieder finden, dafür wurde der Name gewählt, unter dem die Community auch außerhalb der sozialen Medien bekannt ist, typisch für die sozialen Medien ohne Majuskeln und ohne Leerzeichen. Der Name „Racing Aloha“ steht für eine „Kombination aus dem nötigen Ehrgeiz, den es braucht, um im Sport seine Ziele zu erreichen und dem Feeling und der Einstellung, nicht immer alles zu ernst zu nehmen 16 “. „Racing“ bedeutet dabei, im Wettkampf immer sein Bestes zu geben, um im Ziel mit sich selbst zufrieden sein zu können. 136 Anna Kurpiers 17 https: / / www.racingaloha.de/ wir/ (Stand: 24.10.2019) 18 https: / / www.racingaloha.de/ bunte-bilder/ fotoalbum/ (Stand: 24.10.2019) 19 https: / / www.racingaloha.de/ begleiter/ (Stand: 24.10.2019) Abb. 3: Teamkleidung „Racing Aloha“ 18 „Aloha“ ist ein Hinweis auf den Spirit aus dem Mutterland des Triathlons: Es spiegelt das hawaiianische Lebensgefühl wider und bedeutet in diesem Zusammenhang Lockerheit, Spaß und Zusammenhalt. 17 Schon hier werden also wichtige Hinweise für die Inszenierung rund um die Trias Sport, Heimat, Gemeinschaft geliefert. 5.3 Darstellung außerhalb der sozialen Medien Auch außerhalb der sozialen Medien inszenieren sich die Mitglieder von racingaloha als Gemeinschaft. Dazu gehört beispielsweise einheitliche Kleidung auf sportlichen Events, an denen die Frauen teilnehmen (z. B. in der bayrischen Tri‐ athlonliga) (vgl. Abb. 3). Bei einer wichtigen lokalen Veranstaltung, dem Allgäu Triathlon, sowie auf einigen weiteren Veranstaltungen im Umkreis präsentiert sich racingaloha zudem auf Messeständen. Dort informieren sie über ihre Philosophie, bieten Aktionen an (z. B. das Wechseln eines Fahrradschlauches auf Zeit), werben für geplante Aktionen, wie ein Trainingslager für Frauen auf Fuerteventura, und beantworten allgemeine Fragen und beraten Interessierte. In diesem Zusammenhang spielt natürlich auch die Möglichkeit eine Rolle, dem neugegründeten Verein beizutreten. Auf der Homepage erfährt man zudem, dass das Konzept racingaloha in einen größeren Kontext eingebettet ist, die sog. Racing Aloha Familie. 19 Dazu 137 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram 20 Ebd. 21 https: / / www.racingaloha.de/ begleiter/ (Stand: 24.10.2019) 22 ebd. gehört primär „Hannes Hawaii Tours“. Das im Allgäu ansässige Unternehmen, gegründet von Hannes Blaschke, ist ein in der Szene sehr bekannter Anbieter von Trainingslager- und Wettkampfreisen auf der ganzen Welt, wie zum Beispiel dem Ironman Hawaii, wo jährlich die Weltmeisterschaft auf der Langdistanz im Triathlon ausgerichtet wird. Hier liegt auch der Ursprung der Firma, daher der Name. Die Agentur „808 Project“, die vor allem Events wie den Allgäu Triathlon, den ältesten Triathlon Deutschlands, organisiert, unterstützt die Frauen „in allen Belangen wie Kommunikation, Messeauftritten, Vereinswesen, Eventumsetzung, Merchandise und allen neuen Ideen, die uns noch so im Kopf herumspuken“. 20 Des Weiteren wird als Partner das Sport- und Freizeitmode‐ label „Endless Local“ genannt, das die Teamkleidung stellt. Auch in der Philo‐ sophie dieses Labels ist die Kombination aus Heimatverbundenheit und Liebe zum Mutterland des Triathlonsports, Hawaii, verankert: „Geboren auf Hawaii, verwurzelt im Allgäu“ 21 . Die Kleidung von racingaloha kann dort auch käuflich erworben werden. Als weitere Partner werden ein Sportbrillenhersteller (Uvex), ein Sportuhrenhersteller (Garmin) sowie das Playitas Resort auf Fuerteventura genannt, das Anlaufstelle für die organisierten Trainingslager von Hannes Hawaii Tours ist, bei denen einige der Frauen auch als Guide arbeiten. 22 Für diese Partner wird über den Account von racingaloha entsprechend auch geworben, in der Regel über die Hashtags unter den Posts (vgl. Kapitel 5.5). 5.4 Fotos und Texte Laut Klemm (2017) lässt sich für die Plattform Instagram (wie auch zunehmend für Facebook) feststellen, dass „die (audio-)visuelle (Selbst-)Inszenierung des (schönen und ästhetisierten) Lebens geradezu Programm [ist]“ (ebd.: 24). So „treten sprachliche Elemente noch stärker hinter visuelle Ausdrucksformen zurück (bis auf kurze Begleittexte und die hier stilistisch wie strategisch wichtigen Hashtags, die oft geradezu inflationär eingesetzt werden)“ (ebd.). Entgegen der aktuellen Beobachtungen bezüglich der Verteilung von Text und Bild in den sozialen Netzwerken, findet man in den Posts von racingaloha eine Tendenz zu längeren Texten, wenngleich auch kurze Posts zu finden sind. Längere Texte entstehen vor allem bei Berichten von Wettkämpfen oder weiteren Aktionen, kürzere im Kontext von Grußbotschaften oder den sog. Thementagen. Der Account von racingaloha beteiligt sich auch an der auf Instagram populären Strategie, jedem Wochentag ein Thema zuzuweisen und entsprechend den jeweiligen Post auszurichten (vgl. Abb.4). Dies sind (aller‐ 138 Anna Kurpiers dings nicht immer regelmäßig und manchmal auch abgewandelt) die Themen: #mondaymotivation oder #Frauenmontag, #tuestuesday, #mitnehmmittwoch, #trailthursday, #vorfreudefreitag. Hier wird auf die übliche Praxis auf Instagram zurückgegriffen, indem orthografisch oder phonologisch motivierte Alliterati‐ onen kreiert werden. Abb. 4: #Trailthursday (Korpus Racing Aloha P582) Die Texte sind aus unterschiedlichen Perspektiven verfasst. Teilweise aus der Sicht von nur einer der Frauen, teilweise aus der Sicht mehrerer Frauen und manchmal auch aus einer Außenperspektive mit einem „sie“-Erzähler. Die verwendete Sprache ist dabei grundsätzlich auch variabel. Insgesamt ist eine Verortung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufgrund der Variabilität nicht möglich. Es kann jedoch festgehalten werden, dass alle Posts stark adressatenorientiert verfasst sind, sodass sie dem Leser das Gefühl geben, nah dran am Geschehen und damit Teil der Community zu sein. So werden die Leser_innen beispielsweise oft direkt angesprochen, es wird auf gemeinsame Werte und Vorstellungen referiert und die Follower werden dazu aufgefordert sich auch selbst zum Thema zu äußern (vgl. zur externen Dialog‐ izität auch Marx u. Weidacher 2014: 193 ff.): Es ist mal wieder Montag! Seid ihr auch so verschlafen, müde, wenig motiviert in die neue Woche zu starten? Noch dazu nach einem Wochenende voller Regen, Schnee und kalten Temperaturen? Der Winter hat uns immer noch fest im Griff - ganz schön frustrierend, wenn man bereits die ersten Bilder aus der Sonne auf den sozialen Medien ständig vor Augen geführt bekommt; aus den Trainingslagern auf Fuerteventura und Lanzarote… (Korpus Racing Aloha P505). 139 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram Restdays sind Fressdays Kennt ihr das nach einem Trainings-reichen Wochenende, wenn ihr morgens schon mit einem knurrendem Magen aufwacht? Heute musste da bei @christina.racingaloha einfach mal wieder ein leckerer, frisch gebackener Krapfen mit einem groooooßen Latte Macchiato her wie macht ihr das morgens? Schnelle Nummer vom Bäcker oder lieber gemütlich zuhause frühstücken? (Korpus Racing Aloha P509). Eine für die Inszenierung relevante Komponente in den Texten ist die Verwen‐ dung von Fachsprache und Jargon, die später noch genauer betrachtet wird (vgl. Kapitel 5.6). Auch bei den verwendeten Fotos lässt sich eine große Variabilität beobachten. Man findet ein Kontinuum von Bildern mit einem hohen ästhetischen An‐ spruch (vgl. z. B. Abb. 5) durch Motiv, Perspektive, Lichteinfall etc., die teilweise auch von ambitionierten Fotografen stammen, die dann auch im Text genannt und markiert werden, bis hin zu Schnappschüssen (vgl. z. B. Abb. 6), die aus der Situation heraus entstanden sind und direkte Emotionen widerspiegeln. Abb. 5: Bild mit ästhetischem Anspruch (Korpus Racing Aloha P572) 140 Anna Kurpiers Abb. 6: Schnappschuss (Korpus Racing Aloha P538) In einer weiterführenden Analyse, die allerdings diesen Rahmen hier sprengen würde, könnte man zudem auf die Sprache-Bild-Beziehungen eingehen, die auf unterschiedliche Arten und Weisen realisiert werden und entsprechend auch zur Inszenierung von racingaloha beitragen (vgl. z. B. Kuhlhüser 2017; Müller 2012; Stöckl 2004, 2011, 2016). 5.5 Hashtags Kuhlhüser (2017) stellt fest, dass Hashtags ein hochgradig komplexes, da semiotisch relativ simples, aber semantisch sehr effektives Rhetorik-Instrument auf Instagram dar[stellen], um gezielt intendierte Inhalte und Bedeutungszusammenhänge an das Publikum heranzutragen und sich selbst als über aktuelle Diskurse informiert, themensetzend, kreativ, witzig etc. darzustellen (ebd.: 95). Hashtags können damit auch entscheidend zur Verknüpfung von Sprache und Bild beitragen, indem sie „organisieren, ergänzen, konkretisieren, kontextuali‐ sieren, hervorheben/ fokussieren/ betonen oder gar ironisieren/ konterkarieren und um nicht visuell sichtbare Informationen erweitern“ (Kuhlhüser 2017: 95). 141 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram Darüber hinaus ermöglichen Hashtags auch Communityzuschreibungen bzw. Gruppenzuschreibungen und nicht zuletzt die Verschlagwortung zu Ver‐ breitungszwecken (vgl. Kapitel2.1). Insgesamt wurden im Korpus 1778 verschiedene Hashtags verwendet. Darunter finden sich zum einen immer wiederkehrende, zum anderen aber auch ad hoc-Bildungen, die nur einmal gepostet wurden. Die 20 Hashtags, die am häufigsten verwendet wurden, sind in der folgenden Abbildung dargestellt. Abb. 7: Die 20 häufigsten Hashtags im Korpus Racing Aloha Beispiele für einmalig verwendete Hashtags sind #zurückandenschreibtisch, #seifrechundwildundwunderbar, #höhenmetersammeln, #radlnimallgäu, #no‐ schwerebeine, #einteamistnursoschnellwiederlangsamste. Insgesamt gibt es 805 Hashtags, die jeweils nur einmal verwendet wurden. Allein 79 davon sind Abwandlungen des Mottos „Aus dem Weg, wir müssen tanzen“ in allen mögli‐ chen Kontexten, z. B. #ausdemwegwirmüssendiesonnegenießen oder #ausdem‐ wegichwillnachhawaii. Mit den häufig verwendeten Hashtags (Abb. 7) verorten sich die Frauen in der großen Community des Triathlonsports und inszenieren sich damit als Teil dieser großen Gruppe. Zudem besteht hierdurch die Möglichkeit große Reichweiten zu generieren. Der Hashtag #triathlon kommt bei Instagram beispielsweise knapp 9 Millionen Mal vor, #swimbikerun über 4 Mio. Mal (Stand Oktober 2019). Dies ließe sich nach Kuhlhüser (2017) der sog. „Virali‐ 142 Anna Kurpiers tätsfunktion“ (ebd.: 94) zuordnen. Des Weiteren wird die Stärkung des noch unterrepräsentierten Geschlechts im Triathlon durch die Hashtags #girlpower, #trigirls, #fitgirls, #triathlongirls aufgegriffen. Racingaloha verortet sich hier also in einem „Diskurs“ (ebd.), der ja, wie oben bereits erwähnt, Teil der Philosophie von Racing Aloha ist (vgl. Kapitel 3). Auch die von Kuhlhüser titulierte „Teilhabefunktion“ (ebd.) lässt sich in den Top Twenty Hashtags wiederfinden. So verweisen Hashtags wie #garmin (5,5 Mio.), #beatyesterday (1 Mio.) oder #trainhard (18 Mio.) auf gängige Praxen und Konventionen der Verschlagwortung auf Instagram. Es handelt sich im Falle von #garmin und #beatyesterday um implizite Werbung (für eine Sportuhr), bei #trainhard um ein populäres Motto im Sportkontext mit großen Reichweiten. Durch den Hashtag #hanneshawaiitours wird beispielsweise auf einen Partner aus der „Racing Aloha Familie“ verwiesen. Dazu würden z. B. auch die Thementage (vgl. Kapitel 5.4) zählen. Besonders hervorzuheben ist #ausdemwegwirmüssentanzen, was als Leitmotto des Accounts betrachtet werden kann und gewissermaßen iden‐ titätsstiftend für racingaloha ist. Dadurch fassen die Frauen in einem Hashtag zusammen, wie sie sind und wofür sie stehen und grenzen sich gleichzeitig von anderen Accounts ab, die womöglich auch im Kontext des Triathlons verortet sind, aber weniger Wert auf den Spaß dabei und die Gemeinschaft legen. Die in diesem Abschnitt erwähnten Hashtags funktionieren im Prinzip auch nur mit den Texten, ohne die zugehörigen Bilder, da sie allgemein verständlich sind bzw. auf Entitäten verweisen, die ohne konkrete Kontexte auskommen. Schließlich ist aber die „Kontextualisierungsfunktion“ (ebd.) von großer Bedeu‐ tung für die Bedeutungszuschreibung der verwendeten Bilder sowie die resul‐ tierende Selbstdarstellung von racingaloha. Durch Hashtags können zahlreiche Rezeptionsprozesse angeleitet werden, indem Wissensrahmen aktiviert werden. Kuhlhüser (2017) zählt dazu: „situative Kontexte (z. B. #alpsee), Kategorisierung des Bildes (z. B. #tuestuesday), Selbstzuschreibungen (z. B. #cyclinggirl), Grup‐ penzuschreibungen (z. B. #unserevierfürweiden), Communityzuschreibungen (z. B. #instarunner), Interessen (z. B. #swimlove), persönlicher Humor (z. B. #ein‐ fachmaldurchhängen), Bewertungen (z. B. #gipfelglück), Gefühle (z. B. #happy) und Gedanken (z. B. #heimweh)“ (ebd: 94., Beispiele aus dem Korpus racingaloha). Die Hashtags des Accounts racingaloha tragen also auf verschiedene Arten und Weisen zur Inszenierung bei, indem sie auf typische Konventionen zur Vernetzung von Instagram verweisen (Werbung, Reichweite durch prominente Hashtags), Diskurse anstoßen und weiterentwickeln (Frauen im Triathlonsport, 143 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram Umweltschutz, Gesundheit) sowie durch Kontextualisierungen die bereits mehrfach erwähnte Trias (Sport, Heimat, Gemeinschaft) thematisieren. 5.6 Fachsprache, Jargon und Toponyme Auf der lexikalischen Ebene der Posts lässt sich ein großes Wortfeld zum Thema Triathlon identifizieren, das sich wiederum aufteilt in Fachsprache, Jargon sowie Toponyme (Örtlichkeitsnamen). Fachsprache wird laut Hoffmann (1976) definiert als „die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbe‐ reich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Be‐ reich tätigen Menschen zu gewährleisten“ (ebd.: 170). Von Hahn (1980) fasst den Sinn fachsprachlicher Äußerungen als „schnelle, möglichst ökonomische und eindeutige Informationsübertragung“ (ebd.: 390) zusammen und verweist damit auf zwei wichtige funktionale Eigenschaften der Fachsprache. Für die Sportfachsprache im Speziellen stellt Küster (2009) fest, dass dieser Bereich im Wesentlichen Bezüge auf die Sportler selbst und auf die Geräte, die sie nutzen, umfasst, wobei es bei der Verwendung fachsprachlicher Termini vor‐ dergründig um eine Präzision und Verkürzung der kommunikativen Vorgänge geht (ebd.: 64). Dies lässt sich auch im vorliegenden Korpus beobachten. Man findet Begriffe der Sportfachsprache des Triathlons aus den Bereichen Training (z. B. Grundlagenausdauer), Technik (z. B. Schaltwerk) und Ausrüstung (z. B. Neo(prenanzug)). Unter Jargon versteht man laut Schmidt (1969) zunächst Termini, die keinen Anspruch auf Genauigkeit erheben. Des Weiteren handelt es sich um Ausdrücke, die vornehmlich in vertrauten Kreisen verwendet werden. Durch ihren oftmals bildhaften Ursprung repräsentieren sie schließlich vor allem die Emotionen, die im Kontext des verwendeten Wortes ent- und bestehen (ebd.: 20). Im Hinblick auf Jargon im Sport fasst Küster (2009) ähnliche Aspekte zusammen: Wenn Sportler miteinander kommunizieren, so bedienen sie sich nicht immer der im Regelwerk festgehaltenen Nomenklaturen, sondern erfinden neue, manchmal saloppe und mit emotionalen Konnotationen befrachtete Varianten hinzu, die dann unter Umständen aufgegriffen werden und in einem entsprechenden Lexikon usueller Muster inventarisiert werden (Küster 2009: 64). Im Gegensatz zur Fachsprache, wo es vordringlich um die Präzision von Ge‐ genständen und Abläufen geht, kommen beim Jargon also gruppenspezifische Aspekte ins Spiel, und zwar vor allem wenn die Kommunikation nicht während des Sports, sondern (nachträglich) kommentierend stattfindet. 144 Anna Kurpiers Durch die Konnotationen des Jargons werden emotionale Elemente ins Spiel gebracht, Insidersignale werden gesetzt, der Zusammenhalt einer Gruppe kann durch den Gebrauch bestimmter Ausdrücke gefördert werden, evtl. kann eine derartig saloppe Redeweise auch dem Interesse dienen, andere Personen aus dem inneren Zirkel einer Sportgruppe auszuschließen (ebd.: 67). Im vorliegenden Korpus handelt es sich dabei vornehmlich um Ausdrücke, die Aspekte des Sporttreibens aufgreifen, beispielsweise, dass man hart trai‐ niert, „bis die Beine brennen“, was symbolisiert, dass man alles gegeben hat. Gleichzeitig ermöglicht die Wendung durch die Erinnerung an dieses Gefühl der müden Beine eine Herstellung von Gemeinschaftsgefühl auch unter den Followern, weil fast alle dieses schon einmal erlebt haben. Nach hartem Training in der Saison hat man sich eine „Off-Season“ verdient, also eine Zeit ohne Sport, in der Sachen gemacht werden können, für die sonst keine Zeit ist. Hier wird darauf angespielt, dass Triathlon eine sehr zeitintensive Sportart ist, die auch einnehmend sein kann, wenn man sie ambitioniert betreibt. Das dritte Beispiel, das hier angeführt werden soll, ist der Begriff „Tanlines“, der auf einen Nebeneffekt des Triathlontrainings verweist: Durch das Training der drei Sportarten, das im Sommer hauptsächlich im Freien stattfindet, ist man der Sonne ausgesetzt, sodass man an Stellen, an denen keine Kleidung die Haut bedeckt, braun wird und sich dadurch Abdrücke bilden, die dann besonders deutlich zu sehen sind, wenn anders geschnittene Kleidung getragen wird. Diese „Tanlines“ werden gerade unter Ausdauersportlern häufig als Symbol für fleißiges Training gesehen: je gebräunter die Haut, desto vermeintlich trainierter der Sportler oder die Sportlerin. Als Toponyme bezeichne ich in diesem Kontext Örtlichkeitsnamen, die neben den verwendeten fachsprachlichen und jargonalen Elementen der Kontextua‐ lisierung der Posts insbesondere der geografischen Verortung innerhalb der Region Allgäu dienen. Durch den Ursprung der Gruppe Racing Aloha und eine starke Verankerung in diesem Raum sind natürlicherweise viele Topo‐ nyme aus diesem Raum sowie allgemein aus den Trainingsrevieren der Grup‐ penmitglieder zu finden. Ähnlich wie Fachsprache helfen Toponyme bei der Präzision und Verkürzung der kommunikativen Vorgänge, indem sie eindeu‐ tige Verortungen ermöglichen. Gleichzeitig können aber auch, wie bei der Verwendung von Jargon, emotionale Elemente ins Spiel gebracht werden und dadurch Insidersignale gesetzt werden, wenn beispielsweise mit der Bedeutung, die die erwähnten Orte - häufig im Zusammenhang mit einem Foto - für die Community haben, gespielt wird, also z. B. wenn es sich um besonders schöne Orte handelt, die vielversprechende Trainingsreviere darstellen und 145 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram damit Sehnsucht erweckt wird, oder Orte, an denen regelmäßig Wettkämpfe stattfinden, sodass sie mit Erinnerungen verknüpft sind. In diesem Sinne werden v. a. Namen von Ortschaften (z. B. Immenstadt, Sonthofen, Oberstdorf), Bergen (z. B. Kalvarienberg, Grünten) und Seen (z. B. Alpsee) verwendet. Insgesamt betrachtet dient die Verwendung von Fachsprache, Jargon und Topo‐ nymen auf dem Account racingaloha dazu, durch Fachsimpelei Wissensrahmen zu aktivieren oder neu zu generieren, um dadurch ein Gemeinschaftsgefühl zusammen mit den Followern zu erzeugen. Im Sinne der Inszenierung geht es hier einmal mehr um die Trias Sport, Heimat, Gemeinschaft. 6 Fazit Die sozialen Medien sind aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken und sind vielfach Orte der Inszenierung. Nutzer können sich dort so darstellen, wie sie vermeintlich sind bzw. wie sie gesehen werden wollen. Dies wird nicht selten auch für werbende Zwecke genutzt. Dafür werden unterschiedlichste sprachliche sowie außersprachliche Stilmittel verwendet. Daher wurde anhand ausgewählter Beispielanalysen aufgezeigt, inwieweit eine dekomponierende Stilanalyse sowohl zum Aufdecken einzelner Inszenierungsstrategien als auch zum Verständnis des Zusammenspiels der Komponenten beitragen kann. Dies geschah am Beispiel des Instagram-Accounts racingaloha, auf dem sich eine Gruppe von zehn sportbegeisterten Frauen darstellt. Es konnte gezeigt werden, dass die ausgewählten Stilkomponenten dazu beitragen, die holistisch wahr‐ genommene Inszenierung auf Basis der zugrundeliegenden Philosophie von Racing Aloha zu kreieren. Die Mitglieder verorten sich im Lifestyle des Triath‐ lons und verwandten Aspekten wie Freiheit, Gesundheit, Natur, Körperkult, Mode, Coolness, sie schätzen in diesem Kontext die Umgebung des Allgäus und möchten bei aller Hingabe zum Sport den Spaß und die Gemeinschaft fördern, insbesondere als Vertreter des bislang noch unterrepräsentierten Geschlechts in diesem Sport. Es ist dabei deutlich geworden, dass die vorgeschlagene methodi‐ sche Herangehensweise nicht im Sinne eines allgemein gültigen Analyserasters oder -schemas zu verstehen ist, da ein solches der Vielfalt der Inszenierungen nie gerecht werden könnte. Stilistische Mikroanalysen können die konstituierenden Merkmale nie in ihrer Gesamtheit abbilden, wohl aber zu einem tieferen Verständnis und einer reflektierten Einschätzung von Inszenierungen beitragen. 146 Anna Kurpiers Literatur: Bender, Olivier (2018). Soziale Medien Definition: Was ist „Soziale Medien“? Ab‐ rufbar unter: https: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ definition/ soziale-medien-52673 (Stand: 14.10.2019) Blaschke, Hannes/ Fürleger, Christoph (2019). Spirit verbreiten: Eintreten, Frauenpower stärken und von vielen Vorteilen profitieren. Abrufbar unter: https: / / www.racingalo ha.de/ verein/ (Stand: 24.10.2019) Blaschke, Hannes/ Fürleger, Christoph (2019). Dahuim: Aloha! Abrufbar unter: www.ra cingaloha.de/ (Stand: 24.10.2019) Blaschke, Hannes/ Fürleger, Christoph (2019). Wir: #Ausdemwegwirmüssentanzen! Ab‐ rufbar unter: https: / / www.racingaloha.de/ wir/ (Stand: 24.10.2019). Blaschke, Hannes/ Fürleger, Christoph (2019) Bunte Bilder: Photo Album, TV-Karriere, Wallpaper. Abrufbar unter: www.racingaloha.de/ bunte-bilder/ fotoalbum/ (Stand: 24.10.2019) Blaschke, Hannes/ Fürleger, Christoph (2019). Begleiter: Die Racing Aloha Familie. Abrufbar unter: www.racingaloha.de/ begleiter/ (Stand: 24.10.2019) Braumüller, Birgit (2018). Sportbezogenes Handeln in virtuellen sozialen Netzwerken: Bedeutung und Relevanz für das Sporttreiben und die sportive Identität junger Erwachsener. German Journal of Exercise and Sport Research 48: 1, 79-88. Döring, Nicole (2003). Sozialpsychologie des Internet: Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen: Hogrefe. Endres, Odile (2016). Der Textbegriff und die Grenzenlosigkeit des World Wide Web. In: Eckkrammer, Eva Martha/ Müller-Lancé, Johannes/ Thaler, Verena/ Coline, Baechler (Hrsg.). Medienlinguistik 3.0: Formen und Wirkung von Textsorten im Zeitalter des Social Web. Berlin: Frank & Timme, 31-45. Fix, Ulla (2007a). Stil als komplexes Zeichen im Wandel. In: Barz, Irmhild/ Poethe, Hannelore/ Gabriele Yos (Hrsg.). Stil - ein sprachliches und soziales Phänomen. Berlin: Frank & Timme, 61-79. Fix, Ulla (2007b). Textstil und KonTextstile: Stil in der Kommunikation als umfassende Semiose von Sprachlichem, Parasprachlichem und Außersprachlichem. In: Barz, Irmhild/ Poethe, Hannelore/ Gabriele Yos (Hrsg.). Stil - ein sprachliches und soziales Phänomen. Berlin: Frank & Timme, 87-113. Frankfurter Allgemeiner Zeitung/ O. Autor (2018). Pink gegen Social Media: „Insta‐ gram ist nicht das echte Leben“ Abrufbar unter: www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ agen da/ pink-gegen-social-media-instagram-nicht-das-echte-leben-15481618.html (Stand: 24.10.2019) 147 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram Hahn, Walther von (1980). Fachsprachen. In: Althaus, Hans Peter/ Henne, Helmut/ Her‐ bert Ernst Wiegand (Hrsg.). Lexikon der Germanistischen Linguistik. Tübingen: Niemeyer, 390-395. Hoffmann, Lothar (1976). Kommunikationsmittel Fachsprache: Eine Einführung. Berlin: Akademie Verlag. Keim, Inken (2001). Die Powergirls - Aspekte des kommunikativen Stils einer Mi‐ grantinnengruppe aus Mannheim. In: Jacobs, Eva-Maria/ Annely Rothkegel (Hrsg.). Perspektiven auf Stil. Tübingen: Niemeyer, 375-400. Klemm, Michael (2017). Bloggen, Twittern, Posten und Co.: Grundzüge einer >So‐ cial-Media-Rhetorik<. In: v. Neuber, Wolfgang/ Oesterreich, Peter L./ Ueding, Gerd/ Francesca Vidal (Hrsg.). Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Berlin/ Boston: De Gruyter, 5-30. Kuhlhüser, Sandra (2017). #fernweh #wanderlust #explore: Reise->Erzählungen< auf In‐ stagram. In: Neuber, Wolfgang v./ Oesterreich, Peter L./ Ueding, Gerd/ Vidal, Francesca (Hrsg.). Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Berlin/ Boston: De Gruyter, 84-108. Kuhne, Isabella Melina (2019). Inszenierung von Essen in den Digitalen Medien: Aktive Identitätsarbeit durch Foodblogging auf Instagram. Bielefeld: unveröffentlichte Mas‐ terarbeit. Kurpiers, Anna-Katharina (2016): „Das Höchste mal am Horn gepackt“: Zur Emergenz von Stil in themenzentrierten Online-Communities. Bielefeld: Universität Bielefeld. Küster, Rainer (2009). Metaphern in der Sportsprache. In: Burkhard, Armin/ Peter Schlobinski (Hrsg.). Flickflack, Foul und Tsukahara: Der Sport und seine Sprache. Mannheim: Dudenverlag, 60-79. Marx, Konstanze/ Georg Weidacher (2019). Internetlinguistik: Narr Starter. Tübingen: Narr. Marx, Konstanze/ Georg Weidacher (2014). Internetlinguistik: Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen: Narr. Müller, Christina Margit (2012). Multimodalität und multimodale Kompetenz: Text-Bild-Kommunikate im Social Web. Der Deutschunterricht 6: 12, 22-33. Oer, Eva/ Cohrs, Christian (2016). #generationselfie. München: mvg Verlag. Rabe, Lena (2018). Monatlich aktive Nutzer (MAU) von Instagram weltweit bis Juni 2018. Abrufbar unter: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 300347/ umfrage/ monat lich-aktive-nutzer-mau-von-instagram-weltweit/ (Stand: 24.10.2019) Sandig, Barbara (2006). Textstilistik des Deutschen. 2. Aufl. Berlin/ New York: de Gruyter. Sandig, Barbara (1995). Tendenzen der linguistischen Stilforschung. In: Stickel, G. (Hrsg.). Stilfragen. Jahrbuch 1994 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin: de Gruyter, 27-61. Sandig, Barbara (1986). Stilistik der deutschen Sprache. Berlin/ New York: de Gruyter. Schlobinski, Peter/ Thorsten Siever (2018). Nicknamen international: Zur Namenwahl in sozialen Medien in 14 Sprachen. Berlin: Peter Lang, 9-27. 148 Anna Kurpiers Schmidt, Wilhelm (1969): Charakter und gesellschaftliche Bedeutung der Fachsprachen. Sprachpflege 18: 1, 10-21. Selting, Maria (2001). Stil - in interaktionaler Perspektive. In: Jacobs, Eva-Maria/ Annely Rothkegel (Hrsg.). Perspektiven auf Stil. Tübingen: Niemeyer, 3-20. Selting, Maria (1997). Interaktionale Stilistik: Methodologische Aspekte der Analyse von Sprechstilen. In: Sandig, Barbara/ Maria Selting (Hrsg.). Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/ New York: de Gruyter, 9-43. Siebrecht, Ole (2018). Wie Instagram uns ein besseres Gefühl geben könnte. Abrufbar unter: https: / / ze.tt/ wie-instagram-uns-ein-besseres-gefuehl-geben-koennte/ (Stand: 24.10.2019) Stöckl, Hartmut (2016). Multimodalität im Zeitalter des Social Web: Eine forschungs‐ methodische Skizze. In: Baechler, Coline/ Eckkrammer, Eva Martha/ Müller-Lancé, Johannes/ Verena. Thaler (Hrsg.) Medienlinguistik 3.0 - Formen und Wirkung von Textsorten im Zeitalter des Social Web. Berlin: Frank & Timme, 21-30. Stöckl, Hartmut (2011). Sprache-Bild-Texte lesen. Bausteine zur Methodik einer Grund‐ kompetenz. In: Diekmannshenke, Hajo/ Klemm, Michael/ Hartmut Stöckl (Hrsg.). Bildlinguistik. Theorien - Methoden - Fallbeispiele. Berlin: Erich-Schmidt, 45-70. Stöckl, Hartmut (2004). Die Sprache im Bild - Das Bild in der Sprache: Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte. Theorien. Analyseme‐ thoden. Berlin: de Gruyter. Tamblé, Melanie (2015). Influencer Marketing: Was sind Influencer? Abrufbar unter: http: / / www.influma.com/ blog/ influencer-marketing-was-sind-influencer/ (Stand: 24.10.2019) Völcker, Matthias/ Alexander Bruns (2018). Die digitale Selbstdarstellung: Zur subjek‐ tiven Bedeutung von Selfies für Heranwachsende und junge Erwachsene. Forum Qualitative Sozialforschung 19: 3, Art. 17. Zhao, Jin (2008). Interkulturalität von Textsortenkonventionen: Vergleich deutscher und chinesischer Kulturstile: Imagebroschüren. Berlin: Frank & Timme. 149 Methodische Überlegungen zur Analyse von (Selbst-)Inszenierungen auf Instagram 1 Im Folgenden werden, wie in der George-Forschung üblich, die Blätter für die Kunst mit der Sigle „BdfK“ und römischen Ziffern für die jeweilige Folge und lateinischen Ziffern für den jeweiligen Band der Zeitschrift nachgewiesen: Blätter für die Kunst. Begründet v. Stefan George. Hrsg. v. Carl August Klein. 1/ 1892−12/ 1919. Düsseldorf/ München 1968 [Neudruck in 6 Bden.]. Üblich ist auch, dass die kommentierte Ausgabe der Sämtlichen Werke mit der Sigle „SW“ zitiert wird: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hrsg. v. der Stefan George Stiftung, bearb. v. Georg Peter Landmann u. Ute Oelmann. Stuttgart 1982-2013. Poetik der Freundschaft. Eine Fallstudie zur Praxis wechselseitiger Übersetzungen und Widmungen bei Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder Kai Kauffmann 1 Die dichterische Zusammenarbeit der europäischen Symbolisten Nachdem Stefan George (1868−1933) bei seinem ersten, von Mai bis August 1889 dauernden Aufenthalt in Paris einige französische Dichter aus dem ‚Cercle‘ Stéphane Mallarmés persönlich kennengelernt hatte und 1890 sein erster Gedichtband Hymnen in Berlin als Privatdruck erschienen war, trug er von deutscher Seite aus zum Aufbau eines europäischen Netzwerkes von symbolistischen Autoren der jüngeren Generation bei (vgl. Kauffmann 2014: 49−56). Dazu gehörte die 1892 erfolgte Zeitschriftengründung der Blätter für die Kunst, 1 in denen er, neben eigenen Gedichten, nicht nur Originaltexte deutsch‐ sprachiger Autoren publizierte, sondern auch - überwiegend von ihm selbst stammende - Übersetzungen aus anderen Literatursprachen. So enthielten die Zeitschriftenbände der ersten drei Folgen, die zwischen Oktober 1892 und Oktober 1896 erschienen, Übertragungen von Aloysius Bertrand, Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé, Henri de Régnier, Jean Moréas, Francis Vielé-Griffin, Albert Saint-Paul, Gabriele d’Annunzio, John Ruskin, Algernon Charles Swinburne, Willem Kloos, Albert Verwey, Herman Gorter, Jens Peter Jacobsen und Wacław Rolicz-Lieder (vgl. Martus 2012: 301−364, bes. 310). Dass George die zeitgenössischen Autoren, die Dichtungen zu seiner Zeitschrift beisteuerten, als Freunde der Blätter für die Kunst bezeichnete, hatte zwei unterschiedlich gelagerte, aber eng aufeinander bezogene Gründe. Zum einen kannte George die meisten Beiträger persönlich und legte großen Wert auf freundschaftliche Verbindungen. Zum anderen verstand er die dichterische Zusammenarbeit, die sich im Medium der Zeitschrift vollzog, selbst als eine freundschaftliche Praxis im Dienste einer gemeinsamen, auch die Grenzen der eigenen Sprache überschreitenden Kunstauffassung. Deutlich über das Vorbild von Mallarmés Pariser ‚Cercle‘ hinausgehend, in dem der ‚Maître‘ die Dichtungen seiner wohlwollend als „amis“ titulierten jüngeren Schüler lediglich zur Kenntnis nahm, verknüpften George und einige seiner etwa gleichaltrigen Mitstreiter die soziale Form der persönlichen Freundschaft mit ästhetischen und medialen Praktiken dichterischer Zusammenarbeit. Für den Aufbau eines europäischen Netzwerkes symbolistischer Autoren spielte das wechselseitige Übersetzen eine konstitutive Rolle. Als Albert Saint-Paul (1861−1946) im Oktober 1891 einen Artikel über Stefan George in der Pariser Literaturzeitschrift L’Ermitage veröffentlichte, stellte er diesen nicht nur als den ersten, von der französischen Poesie stark beeinflussten sym‐ bolistischen Dichter in Deutschland vor, sondern ergänzte seine Charakteristik auch durch die exemplarische Übersetzung zweier Gedichte aus den Hymnen. Von diesen Gedichten, Verwandlungen und Strand, die von George selbst im Hinblick auf das französische Publikum der Zeitschrift ausgewählt worden waren, hatte er Saint-Paul eine Rohfassung der Übersetzung geschickt - ein zwischen europäischen Symbolisten nicht allein aus pragmatischen Gründen praktiziertes Verfahren, das uns in der Dichterfreundschaft mit Wacław Ro‐ licz-Lieder (1866-1912) ausführlicher beschäftigen wird. Umgekehrt erschienen dann 1893 in den Blättern für die Kunst Georges Übersetzungen von Gedichten aus Saint-Pauls Pétales de Nacre. Die wechselseitigen Übersetzungen waren für die symbolistischen Dichter mehr als ein strategisches Hilfsmittel, um das eigene ‚symbolische Kapital‘ im ‚literarischen Feld‘ (Pierre Bourdieu) zu vermehren, die internationale Bekanntheit der befreundeten Autoren zu erhöhen und die Kunstauffassung des Symbolismus (vgl. Hoffmann 1987) in ganz Europa durchzusetzen. Sie waren für sie zugleich eine praktische Konsequenz aus der sprach- und literaturtheoretischen Grundannahme, allen Sprachen sei das poetische Vermögen gemeinsam, durch Laute, Bilder, Metren, Kadenzen, Reime und andere formale Mittel bestimmte Seelenstimmungen zu evozieren und Denkbewegungen zu symbolisieren. Obwohl die Symbolisten nicht der romantischen Idee einer poetischen Ursprache nachhingen und sie sogar um‐ gekehrt den eigentümlichen Charakter jeder Sprache, was etwa ihre lautlichen 152 Kai Kauffmann 2 Siehe Mallarmés Briefe an George vom 23. Februar 1896 und vom 11. Januar 1898 (Mallarmé/ George 2013: 72 bzw. 95). Formen betrifft, als Basis der jeweiligen Dichtung betonten, gingen sie doch von einer verwandtschaftlichen Ähnlichkeit zumindest zwischen den europäischen Literatursprachen aus. Ihr ästhetisches Sensorium für die eigene Sprache ermöglichte es den symbolistischen Dichtern daher, die analogen Verfahren in fremdsprachigen Dichtungen zu erkennen und die durch sie evozierten Stimmungen wenigstens zu erahnen. Das glaubten sie jedenfalls selbst. Als Stéphane Mallarmé, des Deutschen weitgehend unkundig, Stefan George für ein Heft der Blätter für die Kunst dankte, in dem neben der Übersetzung von Gedichten Mallarmés auch Verse aus dem Algabal Georges standen, schrieb er am 3. Februar 1893: Le croiriez-vous, en vous déchiffrant mal à travers une langue ignorée, vos vers Algabal, et les autres, me paraissent tout d’abord familiers, intuitivement. La mélodie au sens secret ne me trahit pas, je la perçois en tant qu’un chant certain et pur, et de qualité lyrique tout en déversant sa multiple et subtile rêverie en des intentions verbales qui m’echappent et que je sens belles. (Mallarmé/ George 2013: 65) Auch in späteren Dankesbriefen signalisierte Mallarmé allerdings seine Unsi‐ cherheit, ob die dichterische „divination“, über die er verfügte, mehr als einen ungefähren Eindruck von der schönen Form und dem träumerischen Charakter der deutschsprachigen Gedichte Georges zu erfassen vermochte. 2 Für Übersetzungen war das natürlich nicht genug. Hier musste es den symbolistischen Dichtern vor allem darum gehen, das formale Gefüge der Laute, Bilder, Metren, Kadenzen, Reime etc. so nachzubilden, dass, bei möglichst großer Ähnlichkeit mit dem Original, die Übersetzung als poetisches Äquivalent in der Zielsprache funktionierte. Wenn dies annäherungsweise gelang, so trat die Übersetzung als fast gleichwertiges sprachliches Kunstwerk neben das Original. Das erklärt, warum George seine Übertragungen als Teil des eigenen dichterischen Oeuvres auffasste (vgl. Bauer 1971, Apel 1982: 192−209), und auch, dass Wacław Rolicz-Lieder, wie wir noch sehen werden, in eine Sammlung seiner polnischen Gedichte die deutschen Übersetzungen Georges mit aufnahm. Die wechselseitigen Übersetzungen der Symbolisten intensivierten die Bezie‐ hungen zwischen den miteinander verwandten Literatursprachen, die nun, ohne ihren je eigenen Charakter aufzugeben, ein gemeinsames Ziel verfolgten. Durch die Übertragung fremdsprachiger Dichter mit ihren vorbildlichen Werken sollte die Reform der Kunstauffassung im eigenen Land unterstützt werden. Genau in diesem Sinn argumentierte George im Vorwort zu dem im Oktober 1896 153 Poetik der Freundschaft. 3 Jutta Schloon bemerkt zu dieser dichterischen Praxis, dass sie in der zeitgenössischen Lyrik sehr verbreitet war: „Die gegenseitige Anerkennung und zum Teil auch freund‐ schaftliche Verbundenheit schlug sich in einem Geflecht von Dedikationen sowie Preis- und Widmungsgedichten nieder.“ (Schloon 2012: 271). Sie verweist u. a. auf Swinburnes Widmung an Edward Burne-Jones. Vgl. auch den Sammelband Freundschaftsdichtung in den Niederlanden (1996) mit Widmungsgedichten von Jacques Perk, Willem Kloos und Albert Verwey. erschienenen Band der Blätter für die Kunst, wenn er dort eine Zwischenbilanz der erfolgreichen Arbeit zieht: Mit grosser vorsicht haben wir die ausländischen hervorragenden meister eingeführt, die hochverehrten helfer und ergänzer damals als unsere einheimischen erzeugnisse an zahl wol noch gering waren. vor nichts aber hüteten wir uns mehr als vor einem sinnlosen blossen herübernehmen und brachten nur das was durch die art der übertragung eigenster besitz geworden für unsere sprache unser schrifttum und unser Werk im einzelnen natürlich und zuträglich war. (BdfK III 5: 131) Die wechselseitigen Übersetzungen schufen zugleich eine neuartige Form ge‐ teilter Autorschaft von international vernetzten Dichtern, bei der der Übersetzer die Kunstwerke des anderen Dichters - im doppelten Sinn des französischen Wortes - interpretierte. Das verstärkte bei den Autoren gleichermaßen ihr Selbstbewusstsein wie das Gruppengefühl, als Vorkämpfer der symbolistischen Dichtung in der eigenen Literatur zu einer internationalen Avantgarde zu gehören. Und die Übersetzungsarbeit konnte darüber hinaus zu einem verbin‐ denden Element in den persönlichen Freundschaften zwischen Autoren werden, die räumlich entfernt voneinander lebten. Letzteres galt im Falle von Stefan George besonders für seine Freundschaften mit dem niederländischen Dichter Albert Verwey und dem polnischen Dichter Wacław Rolicz-Lieder. Dass daneben auch gegenseitige Widmungsgedichte, die sich dann wieder für wechselseitige Übersetzungen anboten, eine wichtige Rolle für eine Poetik und die Praxis der Freundschaft spielten, 3 lässt sich speziell in der Beziehung von George und Rolicz-Lieder studieren. 2 Stefan Georges Übersetzungen von Wacław Rolicz-Lieders Gedichten in den Blättern für die Kunst Möglicherweise haben sich Stefan George und der polnische Dichter Wacław Rolicz-Lieder, der von 1888 bis 1897 dauerhaft in Paris lebte, schon im September 1891 bei Besuchen im abendlichen ‚Cercle‘ Mallarmés in der Rue de Rome getroffen. Nachdem der gemeinsame Freund Albert Saint-Paul einen postali‐ 154 Kai Kauffmann schen Austausch von Gedichtbänden vermittelt hatte, entstand eine engere Verbindung im Frühjahr 1892, als sich George wieder für einige Wochen in Paris aufhielt. Spätere, jeweils auf wenige Stunden oder Tage beschränkte Zusammenkünfte der beiden Dichter fanden am 11. Juli 1892 in Berlin, im Juni 1894 in Wien, im November 1894 in München, im Juni 1895 sowie von Ende Februar bis Anfang März 1896 in Paris, im Juli 1897 in Bingen und schließlich, nach fast zehnjähriger Unterbrechung, im September 1906 in Berlin statt (zur Chronik der Freundschaft vgl. Landmann 1996: 138−147, u. Werberger 2012: 1593−1595). Bereits seinem ersten Brief an George vom 20. Dezember 1891, in dem er nicht nur für die Übersendung der Hymnen dankte, sondern auch auf Saint-Pauls Übersetzungen aus diesem Band in L’Ermitage einging, legte Rolicz-Lieder drei seiner eigenen Gedichte in einer Interlinearversion bei, genauer „en traduc‐ tion (mot à mot) française“ (George/ Rolicz-Lieder 1996: 81). Der Kontext des Briefes lässt vermuten, dass die französische Interlinearversion als Basis für eine deutsche Übersetzung durch George dienen sollte. Zu diesem Zeitpunkt verfügte George aber noch über kein eigenes Zeitschriftenorgan. Erst nach der seit Frühjahr 1892 geplanten Gründung der Blätter für die Kunst begann er, wie oben aufgelistet, symbolistische Dichter aus anderen Sprachen ins Deutsche zu übertragen und sie so im Leserkreis seiner nur in ausgewählten Buchhandlungen erhältlichen Zeitschrift bekannter zu machen. Der dritte Band der zweiten Folge, der im August 1894 erschien, brachte fünf Gedichte Rolicz-Lieders, darunter Das Buch (Książka), das vermutlich zu den von Rolicz-Lieder in seinem ersten Brief für die Übersetzung ausgewählten Texten gehört hatte (vgl. Landmann 1996: 139). George stellte der Gruppe die redaktionelle Notiz voran: Wir führen unsern freund den polnischen Dichter WACLAW LIEDER mit diesen gedichten ein, von denen das erste, ‚das Buch‘, in seinen ‚Poezye‘ enthalten ist, die übrigen zum erstenmal in dieser übertragung veröffentlicht werden. (BdfK II 3: 90) Bemerkenswerterweise wurden also vier der fünf Texte des polnischen Dichters zuerst in deutscher Sprache publiziert. In den nächsten Bänden der Blätter kamen bis Oktober 1896 einundzwanzig seiner Gedichte hinzu; deutlich später folgten als Nachzügler zwei Gedichte im Oktober 1899 und ein Gedicht im Mai 1901. Insgesamt umfasste also das Korpus der in der Zeitschrift gedruckten Übersetzungen nicht weniger als neunundzwanzig Gedichte Rolicz-Lieders (vgl. die Titelübersicht in Rolicz-Lieder/ George 1996: 156 f.). Als George die Überset‐ zungen auswählte, die 1905 in den zwei Sammelbänden der Zeitgenössischen Dichter erscheinen sollten, übernahm er, im Unterschied zu anderen, von ihm 155 Poetik der Freundschaft. 4 Georg Peter Landmann zitiert einen Brief von Karl Wolfskehl an Robert Boehringer aus dem Jahr 1937, in dem Wolfskehl, der mit George seit Ende 1893 eng befreundet war, über dessen Zusammenarbeit mit Rolicz-Lieder schreibt: „Er hatte das Polnische unter der Anleitung Lieders erlernt, ließ sich die Gedichte wieder und wieder lesen, um ihres Klanges und Gefälles ganz mächtig zu werden, besprach alle Einzelheiten, jedes ihm Auffällige im Gefüge wie im Rhythmus bis zum Wortsinn aufs sorgfältigste mit dem Dichter selbst, mit dem auch die fertige Übertragung - Lieder konnte gut deutsch - sehr genau durchgenommen wurde.“ (Zit. nach Landmann 1996: 140). Schon Landmann merkt allerdings auf der Basis der überlieferten Briefzeugnisse an, dass diese Erinnerung höchstens auf einen Teil der Übertragungen zutreffen könne (vgl. ebd.). Sie übertreibt die Polnischkenntnisse Georges und verklärt die Zusammenkünfte der beiden Dichterfreunde, die doch viel zu selten und viel zu kurz für eine derart minuziöse Arbeit an den Übersetzungen waren. Der Realität dürfte die Einschätzung von Chris‐ toph Perels deutlich näherkommen: „Während George die französische Sprache völlig beherrschte und auch des Italienischen und Spanischen mächtig war, hatte er es hier mit einer ihm fremden Sprache zu tun. Zwar hörte er sich dank Rolicz-Lieders Rezitationen in den Klang des Polnischen und den Ton der Gedichte ein, lernte auch selbst ein wenig polnisch. Aber eine hinreichende Voraussetzung, um Poesie zu übertragen, konnte das nicht sein, so unvergleichlich auch Georges Genie der Sprachaneignung sein mochte. Rolicz-Lieder versorgte den deutschen Freund daher sowohl mit französischen als auch mit deutschen Wort-für-Wort-Übertragungen, so daß George mitunter nur zu redigieren brauchte. Das erklärt auch, warum in den ‚Blättern für die Kunst‘ Waclaw Rolicz-Lieders Gedichte mehrfach nicht unter den Übertragungen eingeordnet werden, sondern neben den Texten von deutschen Muttersprachlern stehen.“ (SW XVI: 126). inzwischen weniger hoch eingeschätzten Autoren, im Falle von Rolicz-Lieder das gesamte Korpus aus den Blättern. Bei der Redaktion dieser beiden Sammel‐ bände im Rahmen der Gesamt-Ausgabe der Werke (1927 ff.) fügte George noch die Übersetzung von Widmung VI hinzu. Als Vorlage seiner Übersetzungen dienten George sowohl die polnischen Originaltexte, die ihm Rolicz-Lieder in handschriftlicher oder gedruckter Form zuschickte, als auch die von Rolicz-Lieder angefertigten Interlinearversionen in französischer oder deutscher Sprache. Bei wie vielen Übersetzungen ihm dieses Hilfsmittel zur Verfügung stand, ist heute aufgrund von Verlusten in Georges Nachlass nicht mehr genau zu ermitteln. Zwar finden sich dort zahlreiche Wort-für-Wort-Übersetzungen von Rolicz-Lieders Hand; zu den von George übertragenen Texten haben sich aber lediglich eine französischsprachige Interlinearversion von Widmung VI sowie deutschsprachige Versionen von Palme in der Wüste, Die Zauberin und Im Herbst des Lebens erhalten. Nicht nur eine Reihe von Briefstellen macht jedoch die regelmäßige Verwendung von Interlinearversionen wahrscheinlich. Denn Georges Kenntnisse der polni‐ schen Sprache reichten für eine direkte Übersetzung nicht aus, selbst wenn er Rolicz-Lieders Gedichte auch im Original las und sich in ihren Ton einzuhören versuchte. 4 Er war also auf die Vorarbeiten seines polnischen Freundes ange‐ 156 Kai Kauffmann 5 Das polnische Gedicht zit. nach Rolicz-Lieder/ George 1996: 38. Die französische Inter‐ linearversion zit. nach SW XVI: 176. Die deutsche Übersetzung Georges zit. nach SW XVI: 96. 6 Polnischsprachige Forschungsarbeiten zu Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George sind bibliographisch verzeichnet in Rolicz-Lieder/ George 1996: 154 f., vgl. aus der deutschen Slawistik auch den auf die wechselseitigen Übersetzungen eingehenden Aufsatz von Hildegard Schroeder (Schroeder 1967). wiesen, der sich, das zeigt die Briefkorrespondenz, ebenso souverän wie George im Französischen bewegte und auch ein passables Deutsch schrieb. Für Sprach- und Literaturwissenschaftler, die ihrerseits über die beteiligten Sprachen verfügen, ist das Studium der drei vorhandenen Versionen des Wid‐ mungsgedichtes besonders interessant. 5 WIDMUNG AN S. G. Chciałbym wiedzieć, ilu jest na ziemi Je voudrais savoir combien il-y-a ici bas (sur la terre) Ich möchte wissen ob auf dieser erde Królów tak wysoko‐ myślnej właści, Des rois aux pouvoirs aussi hieratiques Es fürsten gibt so fürsten‐ sinniger kraft Iżbyś zgasnąć mógł po‐ między niemi Pourque tu puisses être éc‐ lipsé parmi eux Dass Deine durch sie über‐ finstert werde - Ty, co władcą stałeś się bez maści, Toi qui es devenu souve‐ rain sans baume Du der sich ohne salböl hub zum throne - Lecz nie mając stolicy na ziemi, Mais n’ayant (pas) de trône sur terre Doch hälst Du auch kein zepter auf der erde Królem będziesz po za nią nad niemi? Roi [Lücke] tu seras au dela d’elle sur eux [Einweisungszeichen] Tu regneras Wird über ihr und ihnen Dir die krone. Auch wenn dem Verfasser dieses Aufsatzes die slawistische Kompetenz 6 für eine tiefgehende Analyse fehlt und er sich seinerseits mit wörtlichen Übersetzungen aus dem Polnischen ins Deutsche behelfen muss, wird durch den Vergleich deutlich, dass sich George semantisch weniger an dem polnischen Original als an der französischen Version orientiert hat. So etwa im zweiten Vers, dessen polnisches Original keine Entsprechung zu „pouvoirs“ bzw. „kraft“ enthält. Noch auffälliger ist, dass George in den beiden Schlussversen die schon durch das Satzzeichen erkennbare Frage, die semantisch in der Schwebe lässt, ob der hochgesinnte Dichter auch ein König auf Erden sein und über den Herr‐ 157 Poetik der Freundschaft. schern dieser Welt stehen werde, in eine affirmative Aussage verwandelt. Auch diese Abweichung geht auf die französischsprachige Version zurück. Wollte Rolicz-Lieder in der ursprünglichen Version des Gedichts seine Zweifel an einer Konzeption andeuten, in der sich der Dichter auch zum Herrscher ernennt? Und tilgte er den Ausdruck von Skepsis in seiner Übersetzung, um George, der derartige Ambitionen hegte, nicht zu verstimmen? Gegen diese Interpretation spricht, dass Rolicz-Lieder sein Gedicht wohl schon Ende 1897 verfasst hat, einige Zeit bevor George mit dem Teppich des Lebens (1899) den Weg zum Stifter einer Kunstreligion und Gründer einer Jüngergemeinde einschlagen sollte. Aber möglicherweise hatte Rolicz-Lieder bereits in den früheren Gedichtbänden gewisse Anzeichen für eine solche Entwicklung seines Dichterfreundes erkannt. Formal bemühte sich George, das Versmaß des polnischen Gedichts getreuer nachzubilden, als das in der französischen Interlinearversion bezweckt war. Das Reimschema (ababaa) wurde modifiziert (a/ -/ a/ b/ a/ b), vielleicht um durch die Waise einen zumindest im Deutschen langweilig anmutenden Gleichklang am Ende von vier der sechs Verse zu vermeiden. Tatsächlich wirkt seine Version durch die Modulation der Vokale „e“, „a“ und „o“ am Versende volltönend. Mit den von George gefundenen Reimwörtern „throne“ und „krone“ gelang es ihm sogar besser, als dies im polnischen Original mit seiner Wiederholung des bedeutungsschwachen Personalpronomens „ihnen” („niemi“, franz. „eux“) der Fall war, die Hoheit des Dichters im lautlich markierten Kontrast zur Sphäre der „erde“ herauszuarbeiten. Auch die Bildlichkeit des Gedichtes wurde von ihm in seinem Sinn perfektioniert: Wo im fünften Vers des polnischen Originals davon die Rede ist, dass der nicht gesalbte Dichter anders als die Herrscher auch keine „Hauptstadt” auf Erden habe („Lecz nie mając stolicy na ziemi“), was in der französischen Version durch „throne“ übersetzt wird, vervollständigt George die Attribute königlicher Herrschaft „salböl“ und „thron“ durch „zepter“ und „krone“. Er verstärkte damit die - von Rolicz-Lieder in Frage gestellte - majestätische Aura. George schuf in der deutschen Version durch die Wortwahl weitere Lautkor‐ respondenzen („fürstensinniger“ - „überfinstert“, „ohne“ - „krone“, „zepter“ - „erde“) und verschob durch Eingriffe in die Satzstellung bedeutungstragende Nomen an das Versende, besonders prägnant in der letzten Zeile des Gedichts, das so mit „krone“ schließt. Ungewöhnliche Wörter („überfinstert“), Wortfü‐ gungen („Es fürsten gibt so fürstensinniger kraft“) und Satzstellungen („Du der sich ohne salböl hub zum throne“) machten den hohen Ton noch feierlicher. Gerade durch diese Mittel näherte George die Sprache des polnischen Lyrikers dem Stil der eigenen Dichtung an. Oder mehr in seinem Sinn formuliert: Er lieh dem Gedicht eine Stimme, die es auf die Höhe der symbolistischen Sprachkunst 158 Kai Kauffmann 7 In seinem Brief an George vom 3. Dezember 1897 dankte Rolicz-Lieder für Das Jahr der Seele im Allgemeinen und das Widmungsgedicht im Besonderen. Mit der Frage „Combien il y a-t-il des rois ici bas qui seraient autant souverains que vous l’êtez? “ fasst er dabei den Kerngedanken seines Antwortgedichts zusammen oder nimmt ihn vorweg (Rolicz-Lieder/ George 1996: 105). in Deutschland hob. Das, was aus heutiger Sicht eher als Angleichung, wenn nicht sogar als „Einverleibung“ (Kluncker 1974: 89) erscheinen mag, sollte der dichterische Vollzug einer sprachlichen Begegnung und ein künstlerischer Akt menschlicher Freundschaft sein. Dass es sich seinerseits bei dem polnischen Gedicht um eine freundschaftliche Geste handelte, machte Rolicz-Lieder durch die Überschrift der französischen Interlinearversion deutlich: „Widmung an S. G“. Der Text selbst bezeugt die Verbundenheit, indem er thematisch auf Gedichte Georges antwortet, die von der königlichen Hoheit des Dichters sprechen. Unter anderem ist an das Gedicht Kindliches Königtum zu denken, das Rolicz-Lieder aus den von ihm besonders geschätzten Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten (1895) kannte, vor allem aber an ein im Jahr der Seele (1897) erschienenes Gedicht, das durch die Initialien „W. L.“ als Widmungsge‐ dicht an Lieder ausgewiesen wird. Dieses Gedicht, auf das Rolicz-Lieder wohl unmittelbar nach seiner Lektüre in den ersten Dezembertagen des Jahres 1897 mit den Versen von Widmung VI reagierte, 7 lautet: Der seltnen Einer die das loos erschüttert Verbannter herrscher ∙ ihr erhabnes trauern Und unbemerkter tod ∙ schon weil du bist Sei dir in dank genaht ∙ durch deine hoheit Bestätigst du uns unser recht auf hoheit ∙ Verwirfst und nimmst mit königlichem wink ∙ Du richte unser manchmal schwanken tritte Und leitstern über jeder edlen fahrt. (SW IV: 72) Der genau in der Mitte stehende Satz „durch deine hoheit bestätigst du uns unser recht auf hoheit“ ist auch für die Bedeutung des Gedichts zentral. George beschwor hier eine seelische Verbundenheit befreundeter Dichter, die er einige Jahre zuvor vergeblich in dem als „zwillingsbruder“ apostrophierten Hugo von Hofmannsthal gesucht hatte (vgl. u. a. Karlauf 2007: 9−27, u. Egyptien 2018: 76−89). Gegen den Verdacht, er beweihräuchere damit hauptsächlich sich selbst und ehre in Rolicz-Lieder lediglich den einfühlsamen Leser der Pilgerfahrten, des Algabal sowie der Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge 159 Poetik der Freundschaft. und der hängenden Gärten, spricht die Tatsache, dass er von keinem anderen zeitgenössischen Dichter so viele Verse übersetzt hat, wie von dem polnischen Lyriker. Er sah in Wacław Rolicz-Lieder einen der bedeutendsten Dichter des europäischen Symbolismus und hielt an dieser Wertschätzung sein Leben lang fest. 3 Übersetzungen und Widmungen in Wacław Rolicz-Lieders Gedichtbänden Für Rolicz-Lieder, der, in den 1890er Jahren überwiegend in Paris lebend, für seine in Krakau privat in kleinen Auflagen gedruckten Gedichtbände kaum polnische Leser fand, bedeutete die Anerkennung durch Stefan George und die Übersetzung von Gedichten in den Blättern für die Kunst sehr viel. Als George im Januar 1894 das zur Reihe der Preisgedichte auf einige junge Männer und Frauen dieser Zeit gehörende Gedicht An Kallimachus in seiner Zeitschrift veröffentlichte, verstand Rolicz-Lieder die Verse zu Recht als eine an ihn adressierte Reminizenz des Berliner Treffens vom 11. Juli 1892. Es reicht hier, die ersten vier Zeilen zu zitieren: Als deine treusten geleiter stehen wir am hafen Zu des gerüsteten schiffes brüstung schauen wir Trennung-beklommen dich teuren unserm arm entrissen Lang schon der unsre geworden ob auch fremden bluts (Blätter für die Kunst II 1: 6) Der am Jahresende 1895 erscheinende Band der Bücher der Hirten- und Preis‐ gedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten, in den das Gedicht leicht überarbeitet aufgenommen wurde, trug zudem die Widmung „SEIEN DIESE SEITEN MIT DEN NAMEN DREIER DICHTER GESCHMÜCKT: PAUL GERARDY WENZESLAUS LIEDER KARL WOLFSKEHL“ (SW III: [5]). Auf die erste Veröffentlichung des Gedichts reagierte Rolicz-Lieder, glücklich und dankbar, am 2. Juli 1894 mit der Ankündigung, er werde die Verse ins Polnische übersetzen: Le depart de Kallimachus me plaît enormement. Comme il est antique ce poëme! Je traduirai cette pièce en polonais. La traduction sera presque verbalement faite et pourtant elle gardera la beauté de l‘original. (Rolicz-Lieder/ George 1996: 83) Vermutlich dachte er zu diesem Zeitpunkt daran, die Übersetzung von An Kallimachus in seinen nächsten Gedichtband aufzunehmen. Nachdem aber in den Blättern die ersten Übersetzungen eigener Gedichte veröffentlicht worden 160 Kai Kauffmann 8 Es handelt sich um die Übersetzungen der Gedichte Ballada o poczciwej dziewczynie (Ballade von einer teuren maid / „Meine geliebte hat augen wie ein see …“), Mygły jesienne (Im Nebel des Herbstes), Książka (Das Buch), Palma na pustyni (Die Palme in der Wüste), Lelije kwiaty dziwne (Lilien eigene Blumen), Są miesca: (Der orte giebt´s) und Modlitwa na organy (Gebet für Orgel / „Wach auf, die du mich geleitet durch einsame jahre …“). Mit Ausnahme von Książka, das schon in Poezje II erschienen war, wurden diese Gedichte erstmals in Wiersze III auf Polnisch veröffentlicht. 9 Rolicz-Lieder/ George 1996: 10 f., vgl. die entsprechende Erläuterung in Rolicz-Lieders Brief an George vom 25. Januar 1896 (ebd.: 87). waren, entschied Rolicz-Lieder sich bei der Planung der Sammlung Wiersze III für eine andere Form der dichterischen Kooperation und freundschaftlichen Korrespondenz mit George. In einem Brief vom 1. November 1895 heißt es: Je vous envoi des vers inedits en traduction banale. Faites en quelque chose si vous pouvez. Si vos traductions seront prêtes dans le courant de ce mois je les donnerai avec les anciennes a la fin de mon troisième volume qui sʻimprime actuellement a trente exemplaires a Cracovie. (Rolicz-Lieder/ George 1996: 86) Die Komposition von Wiersze III baute Rolicz-Lieder so auf, dass er im Anschluss an seine polnischsprachigen Gedichte die sechs bis dahin in den Blättern erschie‐ nenen Übersetzungen abdruckte, 8 eingeleitet durch Georges Widmungsgedicht An Kallimachus im Original. Um den polnischen Lesern die Verdopplung seiner Gedichte in deutscher Sprache zu erklären, stellte er den Zweizeiler voran: „Tu czytaj nasyciwszy ucho smutnym trenem / Jak pieśń polska echowo zagrała nad Renem.“ (in Georg Peter Landmanns Übersetzung: „Hier lies ∙ das ohr gestillt von dem trauergesang ∙ / Wie das polnische lied im echo am Rheine klang“). 9 Wenigstens der Verfasser dieses Aufsatzes kennt aus der deutschen und europäischen Literatur keinen Gedichtband mit einer ähnlichen Art der Verdopplung. Zur gleichzeitigen Präsentation seiner Gedichte im Original und in einer - von ihm selbst durch Interlinearversionen vorbereitete − Übersetzung durch George mögen Rolicz-Lieder mehrere Motive bewogen haben. Psychologisch dürfte der aus einer Mischung von Kränkung und Stolz erwachsene Wunsch, den polnischen Landsleuten, die ihn bislang so wenig beachtet hatten, vor Augen zu führen, dass seine Dichtungen von dem wichtigsten deutschen Symbolisten als gleichrangig behandelt wurden, eine große Rolle gespielt haben. Zudem verband sich die künstlerische Faszination, dem eigenen Werk in der Übersetzung eines verwandten Dichters wiederzubegegnen, mit dem sprachlichen, literarischen und kulturellen Interesse an den Unterschieden und Gemeinsamkeiten des Polnischen und des Deutschen sowie dem literatur- und kulturpolitischen Programm des europäischen Symbolismus, vereint an der 161 Poetik der Freundschaft. 10 Rolicz-Lieder an George, 9. Januar 1896: „Inattendu - comme l’amour - se presenta chez moi votre dernier volume, charmant, caressant l’oeil et l’oreille… avec la dédicace spéciale pour laquelle je vous suis très gré.“ (Rolicz-Lieder/ George 1996: 87). Erneuerung der Kunst zu arbeiten. Und schließlich sollte der Band Wiersze III auf diese Weise zu einem Zeugnis der persönlichen Verbundenheit und der dichterischen Zusammenarbeit werden, mit dem sich Rolicz-Lieder bei George nicht nur für die Übersetzungen bedankte. So war es die Erwiderung einer Freundschaftsgabe, als Rolicz-Lieder, der an der Jahreswende 1895/ 96 die soeben erschienenen Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten erhalten und sich über die Widmung gefreut hatte, 10 George wenig später Wiersze III zuschickte oder bei einem Besuch in Bingen überreichte. Nach dem Erhalt der Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten hat Rolicz-Lieder begonnen, Gedichte aus dem Band ins Polnische zu übersetzen. Er schätzte dieses Werk über alles und bewunderte die Kunst, mit der George in den drei Büchern die unterschiedlichen Stiltraditionen der Antike, des Mittelalters und des Orients, die als Bildungs‐ mächte die europäischen Literaturen und Kulturen geprägt hatten, zu neuem Leben erweckte. Er sah sich dadurch in der ähnlichen Ausrichtung der eigenen Arbeiten bestätigt und bestärkt. In einem Brief vom 7. Mai 1896 berichtete er George von seinen Übersetzungen: „Mais un vrai chef d’oeuvre (voyez moi un peu cette modestie! ) est ma traduction de ‚Stimmen im Strom‘ que j’ai terminé la semaine dernière. Que je me suis donné de la peine! Mais enfin ça y est! Cette pièce fugirera [richtig wohl: figurera, K. K.] dans mon volume deux fois. Car je l’ai pris pour une composition originale. Tout en conservant la musique de l’originale j’ai allongé le vers, car la chose était indispensable.“ (Rolicz-Lieder/ George 1996: 92) Im Anschluss erwähnt Rolicz-Lieder zwei weitere „tableaux“, an denen er ar‐ beite, und merkt mit flapsigen Worten, die eine gewisse Unsicherheit gegenüber dem dichterischen Wert der eigenen Produktion überspielen, an: „Voyez main‐ tenant que je commence à voler vos pièces! “ (ebd.). Diese nicht ganz eindeutige Briefstelle ist insofern interessant, als Rolicz-Lieder hier wahrscheinlich von einer weiteren durch die Beschäftigung mit Georges Gedichten angeregte Art der Adaption spricht. Denn mit der „composition originale“ ist wohl nicht die Übersetzung von Stimmen im Strom gemeint, sondern eine imitierende und variierende Nachdichtung. Vorbildliche Werke einer anderen Sprache und Literatur nachzudichten, war in der europäischen Lyrik um 1900 eine verbreitete und nicht unter das Verdikt des Plagiats fallende Praktik der künstlerischen Anverwandlung, für die es auch in Georges Oeuvre einige Beispiele gibt. 162 Kai Kauffmann 11 Die Übersetzung von Stimmen im Strom ging in den 1903 gedruckten Band der Nowe Wiersze ein. 12 Nach der Widmung an S. G. („Es schimmerten gleich zwei sternen in frühlingsbläue / Im weltraum unsre beiden leben Gefährte −“), mit der Bd. III 3 (August 1896) der Blätter für die Kunst eröffnet wurde, folgten die Widmungen II−V zu Beginn von Bd. III 5 (Oktober 1896). Diese Gruppe schließt nach Art von An Kallimachus mit der Erinnerung an die Tage der persönlichen Begegnung der beiden Dichter: „Erinnern werd ich mich all jener guten Tage / Auf deren schwingen der träume zweisang geflogen / An jene gespräche, lebendge gedanken spinnend / Die angenehm uns den weltlichen dingen entzogen. / / Noch schwimmen über die stirn mir wolken des traumes / Ich scheide und denke nicht was mit dem morgen droht / Wie nach korinthischem mahl auf lateinischer tafel / Wo man zum nach-tisch reichliche küsse bot.“ (BdfK III 5: 135) Mit zeitlichem Abstand erschienen zwei weitere Widmungen in BdfK IV 4 (Oktober 1899). Diese Praktik würde in der Taxonomie von Gérard Genettes Buch Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe im Grenzbereich zwischen dem Verfahren der Tra‐ duction (sprachliche Transposition) und einer Art der Forgerie (dichterische Nachbildung und Fortsetzung) anzusiedeln sein (vgl. Genette 1993: 44). Rolicz-Lieder hat ein zu der Briefstelle passendes Gedicht mit den An‐ fangsworten „Serca, dla których“ und eine französische Interlinearversion − „Murmurez, murmurez, flots murmurants de mer “ - an George geschickt, in dessen Nachlass das Manuskript aufbewahrt wird (vgl. Landmann 1996: 115). Aus unbekannten Gründen hat er später seine Idee aufgegeben, sowohl die Übersetzung als auch die Nachdichtung von Stimmen im Strom in einem seiner nächsten Bände zu veröffentlichen. 11 Das Werk eines anderen Dichters gleich in zweifacher Form dem eigenen Oeuvre einzuverleiben, erschien ihm dann vielleicht doch als Überschreitung einer künstlerischen Grenze. Stattdessen hat er in der 1897 gedruckten Sammlung Wiersze V fünf Ge‐ orge-Übersetzungen aus den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten mit einer Folge von acht Widmungsgedichten Do Stefana Georga kombiniert. (Fünf dieser Gedichte waren kurz zuvor, von George übersetzt, unter dem Titel Widmungen I−V in den Blättern für die Kunst veröffentlicht worden). 12 Auf Georges Widmungsgedicht An Kallimachus und dessen Rolicz-Lieder-Übersetzungen in deutscher Sprache, die in Wiersze III aufgenommen worden waren, folgte in Wiersze V also ein Echo in polnischer Sprache. Aber damit nicht genug an Entsprechungen und Überbietungen: Hatte er dem Schlussteil der früheren Sammlung ein polnischsprachiges Epigramm vorangestellt, so eröffnete er nun den gesamten Band mit einer deutschspra‐ chigen Inschrift nach Art römischer Triumphbögen, die auch Georges schlicht gehaltene Zueignung der Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten an monumentaler Größe bei Weitem übertraf: 163 Poetik der Freundschaft. WIR DER BEWAHRER DES GEISTIGEN ERBES: AN STEFAN GEORGE MIT DER SEELE DES NÄCHTLICHEN RHEIN’S. ER EINZIG UNTER DEN TRÜBEN GERMANISCHEN VÖLKERN: FREITE ZU WAHREM BUND DAS UNFEHLBARE WORT. FEIERTE SEIN GESCHICK IN ERHABENEN STROPHEN. SANG MIT FRÖMMIGKEIT SEINE STOLZESTEN LIEBEN. IN DER UNSTERBLICHKEIT TREUEN ARMEN WIRD ER VERHAUCHEN GLEICH HEHREN FESTGESÄNGEN. ERDE ZU JENER ZEIT SEI LEICHT FÜR IHN. WAR ER FÜR DICH JA NUR EIN KUSS VON GOTT. (Rolicz-Lieder/ George 1996: 54) Es lässt sich bezweifeln, dass der bombastische Schwulst dieser Inschrift (bei dem man Rolicz-Lieder das geringere Stilgefühl in der Fremdsprache zugute halten darf) George in künstlerischer Hinsicht gefallen hat. Doch in Verbindung mit der Folge der Widmungsgedichte und der Gruppe der Übersetzungen dürfte sie ihn persönlich tief bewegt haben. Davon spricht Georges Brief vom September 1897, der einzige übrigens in der Korrespondenz mit Rolicz-Lieder, der sich von seiner Seite im Nachlass erhalten hat. Dass hier die bis dahin offenbar übliche Anredeformel „Mon cher Ami” zum erstenmal durch „Mon très cher Ami” ersetzt wird, ist ein Zeichen noch größerer Verbundenheit: Mon tres cher Ami Waclaw: enfin après des moi la première nouvelle. [] Enfin, aussi, je reçois votre dernier volume qui, très noble d’extérieur, cache peutêtre vos plus beaux trésors poétiques. Merci encore une fois pour la préface.. Je lis dans ce livre un de mes poèmes favoris: ‚Jaskołki‘ et l’autre aussi qui commence ‚Deszcz płacze..‘ Ce choix très riche de traductions de mes livres doit être pour votre langue polonaise d’une grande nouveauté. mon oreille sent mon propre rhytme dans le vôtre. surtout ces ‚Pieśni wędrownego lutnika‘ me paraissent d’une adaption et d’une exactitude admirable. [] J’ai encore découvert un charmant petit poème qui se prêterait facilement à l'adaptation allemande czarne lelije avec ces rimes finales: ’Rzewny poeta, o oczu spokojnych Bieluchną ręką czarne kwiaty zrywa[‘] [] Tout vôtre Stefan George (Rolicz-Lieder/ George 1996: 102f.) Die zuletzt genannten Verse über einen wehmütigen, schwarze Lilien bre‐ chenden Dichter, die sich laut George für den Fortgang der wechselseitigen Übersetzungen anboten, hat er dann allerdings bei seinen Übertragungen aus Wiersze V nicht mehr berücksichtigt. 164 Kai Kauffmann 4 Ein Denkmal der Dichterfreundschaft Die Jahre 1894 bis 1897 waren die intensivste Phase einer Freundschaft, deren hauptsächlicher Gesprächsinhalt und eigentliche Ausdrucksform die Dichtung war. Ihren Höhepunkt erreichte sie mit dem fast gleichzeitigen Erscheinen von Georges Büchern und Rolicz-Lieders Wiersze V., symbolisiert durch die gegen‐ seitigen Widmungen dieser Werke. In den folgenden Jahren nahm die Intensität des freundschaftlichen Austausches und der dichterischen Zusammenarbeit deutlich ab. Zwar übersetzte Rolicz-Lieder weitere Gedichte aus den Büchern, deren polnische Adaptionen aber erst einige Jahre später in die Sammlung der Nowe Wiersze (1903) eingehen sollten. Dass er kein einziges Gedicht aus dem Jahr der Seele (1897) übertrug, zeigte bereits ein Nachlassen seines Interesses oder seiner Kraft. Seit dem Jahresende 1897 schrieb Rolicz-Lieder auch keine Briefe mehr an George, er teilte nach seinem Umzug von Paris nach Warschau noch nicht einmal die neue Adresse mit. Ein Grund für diesen Beziehungsabbruch wird sein Verstummen als Dichter gewesen sein, das er 1898 in der Einleitung zu einer öffentlichen Ausgabe seines lyrischen Gesamtwerks - die Unternehmung wurde nach dem ersten Band mangels Käufern aufgegeben − eingestand. Allgemein scheint Rolicz-Lieder in dieser Zeit eine tiefe Krise durchlebt zu haben, in der er sich, auch finanziell in Schwierigkeiten geraten, zeitweilig als Angestellter einer metallurgischen Fabrik durchschlagen musste. Was George betrifft, so führte er die Reihe der von ihm übersetzten Gedichte Rolicz-Lieders, sieht man von den erwähnten Nachzüglern ab, in den Blättern nicht weiter fort. Dass er sich jenseits der dichterischen Zusammenarbeit um den Erhalt der persönlichen Freundschaft bemühte, lässt sich indirekt aus vereinzelten Zeugnissen erschließen. Wiederholt erkundigte er sich nach Rolicz-Lieders Verbleib. So fragte er, wie Georg Peter Landmann ermittelt hat, bei Henri Héran im September 1900 nach: „Haben Sie inzwischen einige nachforschungen über unsern freund Lieder anstellen können? ich klammere mich an jeden rettungsbalken, der mich zu diesem teuren verschollenen führen könnte.“ (Zit. nach Landmann 1996: 145). Erst im Februar 1901 erfuhr er über einen anderen Bekannten, den polnischen Dichter Zenon Przesmycki, Rolicz-Lieders Adresse in Warschau und wird danach einen Brief an den Freund geschrieben haben. Jedenfalls entschuldigte sich Rolicz-Lieder am 1. September 1901 für sein jahrelanges Schweigen: Je me sens très coupable envers vous mon ami aimé pour cause de mon silence. Depuis mon depart de Paris j‘ai mené une existence d‘une banalité parfaite. Maintenant je veux renaître. Je vous prie, cher Ami, de croire à mes sentiments envers vous qui restent toujours aussi tendres qu‘auparavant. (Rolicz-Lieder/ George 1996: 106) 165 Poetik der Freundschaft. Aus den folgenden Jahren sind allerdings nur einige wenige Briefkarten über‐ liefert. Offenbar kam die Korrespondenz selbst dann nicht mehr in Gang, als George eine Sammelausgabe seiner in den Blättern für die Kunst erschienenen Übertragungen mit dem Arbeitstitel „Zeitgenössische europäische Dichtung“ vorbereitete und zugleich einen Separatdruck der Gedichte Rolicz-Lieders plante. Die beiden Vorhaben gehörten zu einer ganzen Reihe von Publikationen, mit denen George nach 1900 das vorangegangene Jahrzehnt der Blätter für die Kunst sowohl dokumentierte als auch zu einer abgeschlossenen Phase seiner eigenen, inzwischen in ein neues Stadium eingetretenen Werkentwicklung erklärte. Neben der öffentlichen Ausgabe seiner früheren Gedichtbände, die bis zum Jahr der Seele nur als Privatdruck erschienen waren, sind hauptsächlich die zweite Auslese (1903) von deutschsprachigen Dichtungen aus den Blättern für die Kunst und die sie ergänzende Auswahl von Übersetzungen zu nennen, die letztlich in zwei Bänden unter dem Buchtitel Zeitgenössische Dichter (1904/ 05) veröffentlicht wurde (vgl. den Kommentar in SW XV: 114−122, u. Schloon 2012: 269−290). Der erste Band versammelte Dichter aus England, Dänemark, Holland und Belgien, mithin, von dem Sonderfall des Französisch schreibenden Flamen Emile Verhaeren abgesehen, Autoren aus dem germanischen Sprachkreis; der zweite Band dagegen Dichter aus Frankreich und Italien, also dem romanischen Sprachkreis, ergänzt durch den Polen Wacław Lieder. Dass der Autor einer slawischen Sprache hier eingereiht wurde, mag George mit der lautlichen Nähe des Polnischen zum Französischen oder mit der kulturellen Affinität von Rolicz-Lieder zu Frankreich begründet haben; möglicherweise ging es aber bloß um eine pragmatische Lösung des räumlichen Problems, das mit Abstand größte Korpus von Übersetzungen in einem der beiden Bände unterzubringen. Ein Zeichen besonderer Wertschätzung war die separate Veröffentlichung von Rolicz-Lieders Gedichten im Verlag der Blätter für die Kunst, für die der Satz des Sammelbandes verwendet werden konnte. Fünfundzwanzig Exemplare der Broschüre wurden gedruckt. Von den aus anderen Sprachen übersetzten Dichtern ist ansonsten nur Albert Verwey eine solche Ehrung zuteil geworden. Die Einzelausgabe von Rolicz-Lieders Gedichten in Georges Übersetzung lässt sich als Denkmal einer Dichterfreundschaft verstehen. Ähnlich wie im Fall der Ausgewählten Gedichte Hugo von Hofmannsthal, die George 1903 im Verlag der Blätter für die Kunst herausgegeben hatte, handelte es sich bei diesem Denkmal aber zugleich um eine Art Mausoleum für einen Dichter, der als solcher für George gestorben war (zum Abschied von Hofmannsthal siehe Kauffmann 2020: 49−54). Die abschließende Ausgabe aller Übertragungen sollte ein letzter Akt dichterischer Freundschaft sein. Im Leben sind George und Rolicz-Lieder 166 Kai Kauffmann noch einmal 1906 für einige Tage in Berlin zusammengetroffen und haben bei dieser Gelegenheit die Erinnerung an ihre alte Freundschaft aufgefrischt. Zum Gedenken an diese Begegnung hat George in die bereits fertige Druckvorlage seines Gedichtbands Der Siebente Ring einen „an Waclaw“ gerichteten Vierzeiler eingeschoben: Beim abschied damals lag noch in der leere Das buch gediehen ganz an heimischer statt… Nun bin ich dankbar dass dies lezte blatt Doch noch dein ritterlicher schatten quere. (SW VI/ VII: 187) Indes, es war nur der Schatten des ehemaligen Dichters, der hier das eigene, zu neuem Leben erwachte Werk ein letztes Mal querte. Literatur Apel, Friedmar (1982). Sprachbewegung: Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens. Heidelberg: Winter. Bauer, Roger (1971). Zur Übersetzungstechnik Stefan Georges. In: Heftrich, Eckhard u. a. (Hrsg.). Stefan George Kolloquium. Köln: Wienand, 160-177. Egyptien, Jürgen (2018). Stefan George: Dichter und Prophet. Darmstadt: wbg Theiss. George, Stefan (1982−2013). Sämtliche Werke in 18 Bänden: Stuttgart: Klett-Cotta. George, Stefan (1968). Blätter für die Kunst 1/ 1892−12/ 1919. Düsseldorf/ München: Carl August Klein. Hoffmann, Paul (1987). Symbolismus. München: Fink. Karlauf, Thomas (2007). Stefan George: Die Entdeckung des Charismas. München: De Gruyter. Kauffmann, Kai (2020). ‚Soll nun der mund sich klagend öffnen? ‘ Dichtung als Kommuni‐ kationsmedium im Verhältnis zwischen George und Hofmannsthal. In: George-Jahr‐ buch 13. Berlin: de Gruyter 27−54. Kauffmann, Kai (2014). Stefan George: Eine Biographie. Göttingen: Wallstein. Kluncker, Karlheinz (1974). Blätter für die Kunst: Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges. Frankfurt: Klostermann. Landmann, Georg Peter (1996). Eine Chronik der Freundschaft. In: Rolicz-Lieder, Wacław/ George, Stefan (Hrsg.). Gedichte, Briefe. Stuttgart: Klett-Cotta, 138-147. Mallarmé, Stéphane/ George, Stefan (2013). Briefwechsel und Übertragungen. Göttingen: Wallstein. Martus, Steffen (2012). Geschichte der Blätter für die Kunst. In: Aurnhammer, Achim/ Braungart, Wolfgang/ Oelmann, Ute/ Wägenbaur, Birgit in Zusammenarbeit mit Kai 167 Poetik der Freundschaft. Kauffmann (Hrsg.). Stefan George und sein Kreis: Ein Handbuch. 3 Bde. Berlin/ Boston: De Gruyter, 301-364. Rolicz-Lieder, Wacław/ George, Stefan (1996). Gedichte, Briefe. Stuttgart: Klett- Cotta. Schloon, Jutta (2012). Zeitgenössische Dichter. In: Aurnhammer, Achim/ Braungart Wolfgang/ Oelmann, Ute/ Wägenbaur, Birgit in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. (Hrsg.). Stefan George und sein Kreis: Ein Handbuch. 3 Bde. Berlin/ Boston: De Gruyter, 269-290. Schroeder, Hildegard (1967). Eine literarische Freundschaft zwischen Stefan George und Wacław Lieder. In: Brang, Peter/ Bräuer, Herbert/ Jablonowski, Horst (Hrsg.). Festschrift für Margarete Woltner zum 70. Geburtstag, 228−250. 168 Kai Kauffmann Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. Beobachtungen zur Rolle von Text-Bild-Beziehungen Bettina Kluge I am listening to the evening news on the radio and the newsreader says something about a foreign statesman. The next thing I hear is a hearably male voice saying something in a foreign language for a few seconds. This then fades out down and over it I hear a hearably male English voice speaking […]. I assume (though I am not told) that the foreign male English voice over that foreign voice is giving me a literal translation of what that foreign voice is saying. (Scanell 1996: 17, Kursivierung B.K.) 1 Einführung Bei einer Voice-over-Übersetzung (im Folgenden VOÜ) wird nach einigen Sekunden der Originalton in der Lautstärke reduziert, bleibt aber während des Einspielens der Übersetzung weiterhin hörbar, zumindest wahrnehmbar. VOÜ sind in Westeuropa vor allem in nicht-fiktionalen Programmen wie Dokumentationen und Nachrichtensendungen verbreitet, und zwar häufig auch im Wechsel mit synchronisierten Passagen (Matamala 2009, Schröpf 2012, Degirmen 2016; zum sogenannten Slavic Voice-over in Spielfilmen vgl. z. B. Woźniak 2012). Während die in Dokumentarfilmen häufige ‚Stimme aus dem Off ‘ üblicherweise synchronisiert wird, werden die Textbeiträge von auf dem Bildschirm sichtbaren Redner_innen (talking heads, z. B. in Interviews) per VOÜ wiedergegeben, seltener auch mit Untertiteln (je nach Senderpolitik). Die Zuhörenden vertrauen darauf, dass eine sprachlich und inhaltlich kor‐ rekte Übersetzung in eine ihnen zugängliche Sprache des im O-Ton Gesagten vorgenommen wird. Scanell (1996: 17) beschreibt in dem eingangs zitierten Ar‐ tikel die Bedingungen, unter denen Zuhörende bei den Radionachrichten bereit sind, sich auf den ‚contract of illusion‘ (Pedersen 2007) einzulassen, der jeder audiovisuellen Übersetzung zugrunde liegt: In einem Nachrichtenbeitrag wird zunächst eine bestimmte Person (hier: a foreign statesman) relevant gesetzt, von der die Zuhörenden wissen (oder zuvor im Ko-Text genügend Gründe erfahren haben, um dies anzunehmen), dass es sich um eine Person handelt, die nicht Deutsch spricht. Aufgrund der Vertrautheit mit der Textsorte ‚Nachrichten‘, teilweise auch mit der Stimme der zitierten Person, wird der nun abgespielte O-Ton der zuvor erwähnten Person zugeordnet. Nach einigen Sekunden wird der O-Ton überlagert von einem Ton in der jeweiligen Zielsprache - in Scanells Beispiel Englisch, im Falle von deutschen Nachrichten hingegen Deutsch. Die überlagernde Tonspur wird im Folgenden als ‚wortwörtliche Übersetzung‘ interpretiert, auch wenn er nicht explizit als solche gekennzeichnet wird (I assume though I am not told). Wenn in einer Nachrichtensendung mehrfach ein fremdsprachiger O-Ton eingespielt wird, läuft diese Zuschreibung in kürzester Zeit häufig routinisiert ab. Als Zuhörenden ist uns dieses Verfahren so vertraut, dass wir nur selten stutzen - beispielsweise wenn die britische Königin durch eine männliche Voice-over-Stimme übersetzt würde. Das banale, von uns allen täglich erlebte Beispiel zeigt deutlich, dass die beschriebene Situation keineswegs trivial ist. VOÜ sind aus einer Vielzahl von Gründen bislang wenig von der Forschung untersucht worden (vgl. den For‐ schungsbericht in Abschnitt 2). Wie in diesem Beitrag zu zeigen sein wird, ist zudem eine interdisziplinäre Herangehensweise notwendig, die medienlinguisti‐ sche, medienwissenschaftliche und übersetzungswissenschaftliche Perspektiven vereint. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass das Publikum eines derartigen Me‐ dienprodukts sämtliche kommunikativen Ressourcen zur Bedeutungszuschrei‐ bung heranzieht - auch und insbesondere Bilder und schriftliche Einblendungen (z. B. Bauchbinden), falls vorhanden. Dementsprechend können diese Ressourcen auch in der Analyse nicht ausgeblendet werden. Als Fallbeispiel wird ein drei‐ minütiger Video-Beitrag von Spiegel Online aus dem Jahr 2015 herangezogen, in dem verschiedene O-Töne eingefangen werden, die auf ein mass shooting an einem US-amerikanischen College reagieren. Anhand dieses Beispiels soll zunächst erarbeitet werden, auf welche sprachlichen und außersprachlichen Ressourcen die Zuschauer_innen zurückgreifen, um aus dem dargebotenen Me‐ dienprodukt Zuschreibungen zu den gezeigten Personen vorzunehmen (Abschnitt 3). Der Schwerpunkt der Analyse liegt hier auf den Text-Bild-Beziehungen, die im gewählten Beispiel einige Abweichungen von der ‚kanonischen Form‘ der VOÜ erklären können. Abschließend sollen diese Beobachtungen in Abschnitt 4 zusammengeführt werden und mit einem weiteren Fall verglichen werden, den Radionachrichten, denen eine Referenzierung auf Bilder nicht zur Verfügung 170 Bettina Kluge 1 Die Bezeichnung als ‚hässliches Entlein‘ geht auf einen unveröffentlichten Vortrag von Pilar Orero zurück, der auf der MuTra (Multidimensional Translation)-Konferenz 2006 gehalten wurde. Der dreijährige, von der EU geförderte Konferenzzyklus 2005-2007 (Saarbrücken, Kopenhagen, Wien) stellte eine Art Initialzündung für die in Entstehung begriffene wissenschaftliche Erforschung der audiovisuellen Übersetzung dar. In den Tagungsakten findet sich die Bezeichnung ‚ugly duckling‘ nicht mehr. steht. Hierzu verweise ich auf die Ergebnisse von Hacker (2019), die die Verwen‐ dung von VOÜ in Radio- und TV-Nachrichten verglichen hat. 2 Die VOÜ in den Nachrichten Das Verfahren der Voice-over-Übersetzung wird häufig als das „ugly duckling“ 1 oder „Stiefkind“ ( Jüngst 2010: 87) der audiovisuellen Übersetzung bezeichnet. Die Forschung zur VOÜ nimmt erst in den letzten Jahren zu, Jüngst (2010: 88) nennt es ein noch „zaghaftes Interesse an der Problematik“. Als Grund, warum VOÜ weniger erforscht sind, nennt sie den traditionellen Fokus der (audiovisuellen) Übersetzungswissenschaft auf fiktionale Produkte (ibid.). Dem‐ gegenüber würden VOÜ hauptsächlich in Dokumentarfilmen eingesetzt, die weniger Anziehungskraft und Sichtbarkeit hätten; dies gelte ebenso für VOÜ in Nachrichten und politischen Sendungen (ibid.). Gerade bei Letzteren ginge die VOÜ „in das eine Ohr des Zuschauers hinein und aus dem anderen heraus und hinterlässt nur dann einen bleibenden Eindruck, wenn sie auffallend schlecht war“ ( Jüngst 2010: 88). Ferner muss erwähnt werden, dass die Erforschung von VOÜ im Bereich der Übersetzungswissenschaft auch deswegen komplexer ist, weil zunächst noch derjenige Teil des O-Tons beschafft oder recherchiert werden muss, der durch die überlagerte Übersetzung nicht oder nicht gut hörbar ist: „it is much harder to retrieve the source text and therefore practically impossible to compare it with the voiced-over target text. It is only feasible to work with the initial words and endings that are provided in the original language“ (Filmer 2018: 5). Während die Untertitel von Spielfilmen und Serien direkt auf der DVD oder im Streaming‐ dienst anklickbar sind, muss für die Analyse von Voice-over-Übersetzungen zunächst noch aufwendig transkribiert werden, oder nach der Original-Tonspur gesucht werden. Unklar ist auch die Art und Weise der Notation des Transkripts: Während für das typische überlappende Sprechen GAT2-Notationen adaptiert werden können, ist das langsame Herunterfahren der ersten Tonspur und Hochfahren der zweiten Tonspur schwierig im Transkript darzustellen. Auch das Feld der Nachrichtenübersetzung, das in diesem Beitrag fokussiert wird, war lange Zeit vergleichsweise wenig systematisch beforscht, erlebt der‐ 171 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. zeit aber einen kleinen Boom. Hatte Roberto Valdeón (2015: 634) in seinem Überblicksartikel den Bereich der „news translation research“ noch als „in its infancy“ charakterisiert, kann er fünf Jahre später vermelden, dass „interest in news translation has grown exponentially over the past five years“ (Valdeón 2020: 334). Die verschiedenen Monographien und Themenhefte (z. B. Davier et al. 2018, Davier/ Conway 2019) versuchen insbesondere auch den Brückenschlag zwischen Translations-, Medien- und Sprachwissenschaften - derzeit hingegen noch nicht zu den „journalism and/ or communication studies, where research into the translation activity remains very marginal despite its centrality in the profession“ (Valdeón 2020: 329). Ein häufig beschrittener Weg ist dabei der Zugang über die Kritische Diskursanalyse und mithilfe von Ansätzen, die das Reframing von Nachrichten und ihre Rekonfiguration in anderen Kontexten beleuchten. Allerdings liegt das Hauptinteresse auch weiterhin auf der Erforschung von Printnachrichten, seltener der multimodal aufbereiteten (eine Ausnahme ist hier v. a. der von Davier/ Conway 2019 herausgegebene Sammelband). Im Bereich der audiovisuellen Nachrichtenprodukte werden bevorzugt Untertitel analysiert. Diese werden in der Tat auch bevorzugt eingesetzt, da sie schneller zu erstellen und zugleich kostengünstiger sind, somit auch schnellere Verwertungszyklen erlauben. VOÜ hingegen werden eher selten betrachtet. Hier sind v. a. die Artikel von Ramona Schröpf (2011, 2012) zu nennen, die sich mit der VOÜ in Nachrichten beschäftigt hat. Ayonghe/ Enow (2013-2014) vergleichen die VOÜ in Radio- und TV-Interviews und liefern dabei wichtige Hinweise auf die Rolle des Mediums sowie die Bild-Text-Beziehungen (vgl. auch Abschnitt 3). Das bislang noch immer geringe übersetzungswissenschaftliche Interesse an übersetzten Nachrichten kann im Übrigen auch mit ihren Akteur_innen zusam‐ menhängen: In den seltensten Fällen werden von Nachrichtenagenturen oder Nachrichtenplattformen eigene Übersetzer_innen eingestellt. Die Überführung von fremdsprachlichen Ausgangstexten in einen journalistischen Beitrag wird häufig als ein integraler Bestandteil der journalistischen Arbeit aufgefasst: „It should also be mentioned that normally, news agencies do not hire translators, as this is supposed to be the within the normal competence of a multilingual journalist or editor“ ( Jiménez-Crespo 2012: 60). Auch Davier (2014, 2017) stellt in ihrer ethnographisch orientierten Untersuchung einer Schweizer Nachrich‐ tenagentur klar, dass der Akt des Übersetzens für die Journalist_innen ein wenig beachtetes Nebenprodukt ihrer Arbeit ist, das sie zudem als eher lästig und zeitaufwendig empfinden - und daher, falls möglich, O-Töne in der jeweiligen Landessprache bevorzugen. Gründe, in einem journalistischen Bericht im TV überhaupt O-Töne einzu‐ bauen, sind insbesondere die Verifizierbarkeit, Authentizität und Akkuratheit 172 Bettina Kluge des Berichteten; Journalist_innen können den Beitrag (und sich selbst) so als ‚sorgfältig recherchiert‘ positionieren. Die Abfolge von mehreren unterschiedli‐ chen O-Tönen gibt ihnen ferner die Gelegenheit, unterschiedliche Meinungen zu zitieren, ohne sie selbst zu vertreten („das habe ja nicht ich gesagt, sondern eine/ r meiner Interviewpartner_innen“). Für die Zuschauenden ist ein Beitrag mit O-Ton abwechslungsreicher und verleitet vermutlich zu einem aufmerksameren Zuhören. In Bezug auf die Einbindung fremdsprachiger O-Töne in Radiofeatures unterstreichen Zindel/ Rein (2007) außerdem einen Aspekt, der an Roman Jakobsons (1959) ästhetische Funktion von Sprache erinnert: die Exotik, die Freude an unterschiedlichen Sprachen, ihre Rhythmik und Musikalität. Andererseits verarmt ein Feature, wenn fremdsprachige Originaltöne lediglich als ‚Belege‘ für Übersetzungen dienen und akustisch nur wenige Sekunden lang zur Geltung kommen. Alle Sprachen haben neben ihrer inhaltlichen Bedeutung auch klanglichen, emotionalen und musikalischen Reiz. Selbst völlig unverständliche Originaltöne in nie gehörten Sprachen sagen viel über die Gesprächsatmosphäre aus, vermitteln Haltungen und Gefühle, deuten Stimmungen und Spannungen an. (Zindel/ Rein 2007: 109-110) Der journalistische O-Ton wird durch die VOÜ doppelt transformiert: „Beim ersten Mal wird er aus seinem ursprünglichen Kontext herausgeschnitten und in einen Autorentext (den Berichttext des Journalisten) eingebettet, beim zweiten Mal wird die Übersetzung in den O-Ton eingebettet“ (Schröpf 2012: 6). Die Voice-over-Übersetzung durchläuft ferner einen zweistufigen Prozess des Medi‐ enwechsels, wie Schröpf (2012: 5) weiterhin betont: Die im O-Ton eingefangene mündliche Originalsituation erfährt einen ersten medialen Wechsel während der Verschriftung der Aufzeichnung. Der Verschriftungsprozess beinhaltet dabei ver‐ schiedene medienspezifische Bearbeitungsprozesse, wie die Tilgung redundanter Elemente und die gezielte Reduktion, aber nicht vollständige Unterdrückung sprechsprachlicher Phänomene. Ein erneuter Medienwechsel findet bei der fol‐ genden mündlichen Präsentation des Translats im fertigen Nachrichtentext statt. Der Zieltext zeichnet sich dabei nicht nur medial, sondern auch konzeptionell als mündlich im Sinne von Koch/ Oesterreicher (1985, 2007, 2011) aus: Gerade die sprechsprachlichen Phänomene sollen die Spontaneität des Sprechens unter‐ streichen und die ‚Wahrhaftigkeit‘ der Übersetzung betonen. Als wichtigste Funktionen der Voice-over-Übersetzung wird gerade dieser Authentizitätseffekt hervorgehoben („validation of the words spoken“, Franco et al. ²2013: 28) sowie der damit verbundene Gewinn an Vertrauen darauf, dass der wiedergegebene Text ‚wahrhaftig‘ und ‚vertrauenswürdig‘ ist. Es entsteht der Eindruck einer Verdolmetschung und einer „authentischen Eins-zu-Eins-Über‐ 173 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. tragung der Inhalte“ (Schröpf 2012: 14). Man kann die Einspielung des fremd‐ sprachigen O-Tons zu Beginn und zu Ende der Übersetzung in gewisser Weise als eine Art ‚auditive Anführungszeichen‘ bezeichnen. Ferner ist der Zuschauer nicht durch Untertitel abgelenkt (wenn er oder sie diese überhaupt lesen kann - auch dies u. U. ein Grund für die Verwendung in Ländern mit hoher Analpha‐ betenquote; vgl. Ayonghe/ Enow 2013-2014: 180). Umgekehrt wird allerdings auch argumentiert, dass die Zuhörerenden sich durch die Überlagerung von zwei Tonspuren mit Sprachdaten abgelenkt fühlen. Allerdings ist es hier notwendig, eine Abgrenzung vorzunehmen: Nicht alles, was in den Nachrichten wie eine Voice-over-Übersetzung aussieht, ist auch eine wirkliche Eins-zu-Eins-Übertragung. In gewisser Weise existiert ein Kontinuum der Beziehungen zwischen Ausgangs- und Zieltext, oder besser gesagt zwischen O-Ton und darüber gelegtem Ton einerseits, und andererseits zwischen O-Ton und Autor_innentext (der Journalist_in). Am einen Ende der vierstufigen Skala steht die ‚echte VOÜ‘ als direktes Zitat, abgesehen von den der Gesprochensp‐ rachlichkeit geschuldeten Kürzungen und Reformulierungen. Hier erfolgt in der Tat die Illusion der Verdolmetschung, dem Zuschauer wird eine Person präsentiert, die aus der eigenen Perspektive heraus redet. Etwas weiter abstra‐ hierend ist die nächste Position auf dem Kontinuum, bei der die Sprecher_in des Nachrichtentexts eine indirekte Wiedergabe des Gesagten vornimmt, inklusive einem Perspektivenwechsel auf die Journalist_in, während auf der Bildebene die zitierte Person zu sehen ist (vgl. auch Franco et al. 2013: 82). Als dritte Möglichkeit zeigen sich paraphrasierende Elemente, die mit einer stärkeren Kürzung auch auf inhaltlicher Ebene einhergehen, teilweise verbunden mit vorausgreifenden Kommentierungen, bei der die Übersetzung vorab erfolgt und nachfolgend Ausschnitte des O-Tons gesendet werden (beispielsweise bei län‐ geren Reden, bei denen nur wenige Ausschnitte direkt gezeigt werden können). Am anderen Ende der Skala finden sich Voice-over-Kommentierungen von Seiten der Journalist_in (bzw. der Sprecher_in des journalistischen Beitrags), die einen inhaltlichen Bezug zum Bildmaterial aufweisen, aber bedeutend freier mit ihm umgehen und in Beziehung zueinander setzen. Der Text-Bild-Bezug ist hier ausschlaggebend für die Akzeptanz des Zuschauers. Die Abgrenzung zwischen paraphrasierender VOÜ und dem reinen VO-Kommentar, der keine Übersetzung darstellt, ist häufig schwierig, und auch innerhalb eines Beitrags kann der gewählte Typus mehrfach wechseln. Methodisch gesehen ist die korrekte Identifizierung aller dieser Positionen auf der Skala zumeist nur dann möglich, wenn man als Forscher_in Zugang zum O-Ton hat - und daran scheitert es leider häufig. Die meisten Nachrich‐ tenplattformen haben kein Interesse daran, ihr Originalmaterial zur Verfügung 174 Bettina Kluge zu stellen. Mögliche Auswege sind hier Produkte einer Senderfamilie, die in unterschiedlichen Sprachen sendet, z. B. der Sender Euronews, oder auch ARTE, aber etwa auch der Vergleich zwischen CNN und CNN en Español oder Al Jazeera im Vergleich mit ihrer englischsprachigen Version. Als ‚kanonische Form‘ der VOÜ wird in den vorhandenen Lehrbüchern (Franco et al. 2013, Jüngst 2010) das auch im Eingangszitat von Scanell beschrie‐ bene Vorgehen bezeichnet, zu Beginn und zu Ende einer VOÜ ein Stück des originalsprachlichen O-Tons einzuspielen. Dies ist allerdings in der Praxis nicht immer der Fall (vgl. auch die Analyse in Abschnitt 3). Eine gängige Praxis sowohl in Dokumentarfilmen als auch in Nachrichtenfilmen ist es (Condemarín 2015, Degirmen 2016), für kurze Ausschnitte des O-Tons - meistens nur ein, maximal zwei Worte - die Lautstärke zu erhöhen, so dass der O-Ton quasi als ‚Insel‘ aus dem ‚Meer‘ der VOÜ auftaucht. Auch Zindel/ Rein propagieren in einem Praxisbuch zum Radio-Feature (2007) eine derartige Praxis: „Bei besonders langen fremdsprachigen O-Tönen, empfiehlt es sich, das Original während der Übersetzung an geeigneten Stellen wieder auftauchen zu lassen, sonst wirkt die Synchronstimme bald steril“ (Zindel/ Rein 2007: 109). Eine besondere Rolle in Bezug auf die ‚Inseln‘ spielen einerseits Eigennamen, andererseits Internationalismen, die den Zuhörenden als ‚Anker‘ dienen können, weil sie den Authentizitätseffekt verstärken und die Illusion der Verdolmetschung aufrechterhalten: Je länger der O-Ton gegenüber der Übersetzung ausfällt, desto größer ist die Gestaltungsfreiheit bei der Montage. […] Hilfreich beim parallelen Hören beider Ebenen sind international verständliche Schlüsselwörter wie ‚sistem‘ [sic], ‚Afrique‘ oder ‚dollar‘, wenn Sie sie direkt in die Übersetzung aufnehmen. (Zindel/ Rein 2007: 110) In gewisser Weise haben die Internationalismen - ebenso wie die Inseln generell - weiterhin eine „Reminder“-Funktion, die die Zuhörenden daran erinnern soll, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Ferner muss noch auf die Rolle der Stimmenwahl hingewiesen werden. Die Auswahl der das Voice-over einsprechenden Person muss kongruent sein mit den demographischen Charakteristiken der dargestellten Personen, zumindest in Bezug auf das Geschlecht, aber auch Alter und möglichst auch die Stimm‐ qualität (z. B. eine heisere Stimme): Männer sollten von Männern gevoiceovert werden, Frauen von Frauen. Hacker (2019) kann für den deutschsprachigen Nachrichtenkontext zeigen, dass diese Regel auch weitgehend eingehalten wird. Je nach Sprechergemeinschaft scheint es unterschiedliche Auffassungen zu geben, inwiefern ein voice acting (Darwish/ Orero 2014) erwünscht ist oder nicht, 175 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. also ein Versuch, die Emotionalität der gevoiceoverten Sprechhandlung auch in der VOÜ zu transportieren, oder auch die stimmliche Charakterisierung einer Person. Während in Deutschland seltener versucht wird, diastratische oder dialektale Informationen in das Translat zu übernehmen und eher eine standardnahe, in neutraler Stimme vorgetragene VOÜ zum Einsatz kommt, ist beispielsweise in englischen Daten durchaus häufig ein voice acting zu beob‐ achten. Damit verbunden sind allerdings auch Gefahren der Stereotypisierung, auf die Filmer (2018) eindringlich hinweist. In ihrem Korpus von Nachrichten‐ interviews mit Politiker_innen wurden nur einige, nämlich die eher negativ besetzten mit einem Akzent belegt (Berlusconi, Putin), die eher positiv besetzten (Merkel) in neutralem Tonfall und ohne ‚deutschen‘ Akzent wiedergegeben. Ähnlich wird auch die titelgebende ‚italienische Mamma‘ mithilfe eines starken, italienischen Akzents und lauten, lebhaften Sprechens fast schon karikiert und trägt so zur Bestätigung des Stereotyps bei. Voice acting macht insofern einerseits ein Translat interessant für die Zuschauer_innen, andererseits besteht eine nicht unerhebliche Gefahr des over-actings. Zu guter Letzt muss die Rolle des Bildes im Nachrichtenfilm angesprochen werden. Die meisten erwähnten Arbeiten, die sich mit der VOÜ in den Nach‐ richten beschäftigen, berücksichtigen die visuelle Komponente des Nachrichten‐ films in keiner Weise, die komplexen Bild-Text-Beziehungen zwischen O-Ton, VOÜ, Sprechertext, ggf. weiteren auditiven Quellen (Sirenen, Parolen von De‐ monstrationszügen, Hintergrundmusik, etc.), Kamerabildern, ggf. nachträglich zugefügten Textflächen (z. B. Bauchbinden) werden zumindest in translationswis‐ senschaftlichen Arbeiten üblicherweise außer Acht gelassen. Zudem werden fast ausschließlich TV-Nachrichten, nicht dagegen VOÜ in den Radionachrichten untersucht - eine derartige Analyse könnte aber gerade zeigen, ob in Radio‐ nachrichten andere Verfahren zum Einsatz kommen, um die Funktionen der Authentifizierung und Charakterisierung der im O-Ton zitierten Personen zu gewährleisten. Zum ‚Ausgleich‘ für die fehlende Bildquelle ist beispielsweise denkbar, dass die fremdsprachigen O-Töne länger eingespielt werden. Eine Ausnahme ist hier Ayonge/ Enow (2013-2014), die als einzige einen Vergleich im kamerunischen Kontext vornehmen. Sie weisen anhand von Gegenbeispielen auf die Rolle der Synchronizität von Gesagtem und Körpersprache, Gestik und Mimik hin. Inwiefern sich VOÜ in Radio- und TV-Nachrichten in ihrer Medialität unterscheiden, werde ich näher in Abschnitt 4 diskutieren. 176 Bettina Kluge 3 Analyse eines Beispielvideos Das Ziel der nun folgenden Analyse soll sein zu zeigen, wie in einen Nachrich‐ tenfilm die VOÜ eingebunden wird. Ich möchte unter anderem das Verhältnis von Sprechertext zu O-Tönen thematisieren, insbesondere aber auch auf die Rolle der Text-Bild-Beziehungen eingehen, die - wie oben erwähnt - zu selten systematisch berücksichtigt wird, hier aber eine tragende Rolle spielt bei der Zuschreibung der Stimmen zu einzelnen handelnden Akteuren im Nachrichtenfilm. Ein Wort vorab zur Notationsproblematik: Abgesehen von den beiden Ton‐ spuren (das fremdsprachige Original und die deutschsprachige VOÜ) soll im Transkript punktuell die Bildlichkeit berücksichtigt werden, und zwar dort, wo es sinnvoll für die Interpretation z. B. des Sprecherwechsels erscheint. Im Folgenden werden O-Töne in Courier wiedergegeben, die VOÜ zusätzlich grau hinterlegt: Die Bildbeschreibung in einer weiteren Transkriptzeile ist optisch abgesetzt in Arial. Alle Sekundenangaben werden vom Beginn des 2: 49minütigen Nachrichtenfilms angegeben. Am 1.10.2015 erschoss ein Amokläufer in einem US-College neun Menschen und verletzte sieben weitere, bevor er sich selbst tötete. Der gewählte Nachrich‐ tenfilm wurde am 2.10.2015 von Spiegel Online veröffentlicht, er greift auf Material der Nachrichtenagentur Reuters zurück. Als Autor wird der Journalist Martin Sümening genannt, der seit 2009 als Bewegtbild-Redakteur bei Spiegel Online tätig ist, seit 2017 als Chef vom Dienst im Bewegtbild-Ressort (Quelle: www.spiegel.de/ impressum/ autor-14ce520e-0001-0003-0000-000000001576). Ich gehe davon aus, dass er der Autor (und Sprecher) des Beitrags ist. Im zu analysierenden Beitrag montiert Sümening Ausschnitte aus der Presse‐ konferenz des damaligen US-Präsidenten Barack Obama, einer Pressekonferenz der Polizei von Roseburg/ Oregon sowie aus Statements von drei Nachbar_innen des Amokläufes: ein männlicher, etwa 30-35 Jahre alter Nachbar sowie zwei 18-20 Jahre alte Frauen, die gemeinsam interviewt werden. Abschließend wird erneut ein O-Ton von Barack Obama eingefügt. Alle fünf O-Töne werden mit Voice-over-Übersetzungen eingebunden. Durch die Wahl der Lokalitäten Wa‐ shington (Pressekonferenz Obama) und Roseburg (Pressekonferenz des Sheriffs und Befragung der drei Nachbar_innen in unmittelbarer Nähe zum Wohnort des Amokläufers) wird das Thema als von nationaler Relevanz positioniert (de facto sogar international relevant, denn ein deutschsprachiges Medium berichtet über den Vorfall). Ferner aber werden auch Aufnahmen von einer spontanen Gedenkfeier gezeigt, vom Parkplatz des Colleges, des Wohnhauses des Täters sowie von Absperrungen während der Polizeiarbeit. Diese Bilder werden durch den Sprechertext ‚illustriert‘, sie verbinden in gewisser Weise die 177 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. Musterdatei NFA_Sammelband.dot Transkript 1: „another mass shooting“ 1 Narr. Trauer um die Opfer der Schießerei von Bild Trauernde in der Nacht auf einem Hügel mit Kerzen 2 Roseburg im US-Bundesstaat Oregon. Für 3 Angehörige und Freunde ein fürchterliches 4 Erlebnis. (0: 10) Doch die Bilder gehören zu 5 dem Kreislauf von Ereignissen, die der 6 US-Präsident in einer ersten emotionalen 7 Reaktion auf das Massaker anprangerte. Seine 8 vergeblichen Vorstöße für schärfere Bild bei ‚schärfere‘ (0: 21) Schnitt von Trauernden auf Pressekonferenz, Obama betritt Raum, geht zu Rednerpult, beginnt zu reden 9 Narr. Waffengesetze haben bei Barack Obama zu 10 tiefem Frust und Bitterkeit geführt. (0: 25) 11 BO <<sehr leise> another mass shooting in America > Zu Beginn des Beitrags (ca. 21 Sekunden lang) werden Bilder von Trauernden in Oregon gezeigt, die in der Nacht nach der Tat mit Kerzen in der Hand eine Mahnwache auf einem Hügel halten. Während im Bild weiterhin die Trauernden zu sehen sind, kündigt der Sprecher schon die politischen Konsequenzen des Amoklaufs an - bzw. die Erwartung, dass auch dieses Massaker gerade keine politischen Konsequenzen haben wird. Diese Erwartung nimmt die von Barack Obama in der Pressekonferenz geäußerte Auswegslosigkeit bereits vorweg und bereitet so den folgenden O-Ton des US-Präsidenten vor. In Minute 0: 21 (während ‚ härtere Waffengesetze ‘, Z. 8/ 9) folgt ein Schnitt zur Pressekonferenz von Barack Obama in Washington; zunächst sieht man einige Sekunden lang den Raum kurz vor Beginn der Pressekonferenz, in dem bereits einige Journalist_innen kurze Anmoderationen ihrer eigenen Beiträge aufnehmen. Kurz vor Ende der Einführung (Min 0: 25) betritt US-Präsident Obama den Raum, begleitet vom Schwenk der Kamera. Er beginnt - sichtlich frustriert, mit ernstem Gesicht - zu reden, allerdings bleibt sein Beitrag für die deutschen Zuschauenden für vier Sekunden unverständlich leise, bis der Ton hochgedreht wird und ‚ another mass shooting in America ‘ (Z. 11) zu hören ist. Wie Transkript 2 zeigt, folgt die Übersetzung des O-Tons Barack Obamas der oben als ‚kanonisch‘ bezeichneten Beschreibung einer VOÜ: Sowohl zu Beginn als auch zum Ende ist das englischsprachige Original gut hörbar, der O-Ton wird O-Ton-Beiträge. Zählt man der Einfachheit halber die Zeilen des Transkripts anstatt der Sekunden, so stehen 36 Zeilen Sprechertext insgesamt 42 Zeilen O-Ton und VOÜ gegenüber. Der Beitrag kann also durchaus als O-Ton-lastig bezeichnet werden. Transkript 1 zeigt den Einstieg in den Nachrichtenfilm, und eine Verschie‐ bung von Position 4 des skizzierten Kontinuums (Kommentar ohne direkten Bezug zum Bild) auf Position 1 (direkte Voice-over-Übersetzung) ab Zeile 11. Transkript 1: „another mass shooting“ Zu Beginn des Beitrags (ca. 21 Sekunden lang) werden Bilder von Trauernden in Oregon gezeigt, die in der Nacht nach der Tat mit Kerzen in der Hand eine Mahnwache auf einem Hügel halten. Während im Bild weiterhin die Trauernden zu sehen sind, kündigt der Sprecher schon die politischen Konsequenzen des Amoklaufs an - bzw. die Erwartung, dass auch dieses Massaker gerade keine politischen Konsequenzen haben wird. Diese Erwartung nimmt die von Barack Obama in der Pressekonferenz geäußerte Auswegslosigkeit bereits vorweg und bereitet so den folgenden O-Ton des US-Präsidenten vor. In Minute 0: 21 (während ‚härtere Waffengesetze‘, Z. 8/ 9) folgt ein Schnitt zur Pressekonferenz von Barack Obama in Washington; zunächst sieht man einige Sekunden lang den Raum kurz vor Beginn der Pressekonferenz, in dem bereits einige Journalist_innen kurze Anmoderationen ihrer eigenen Beiträge aufnehmen. Kurz vor Ende der Einführung (Min 0: 25) betritt US-Präsident Obama den Raum, begleitet vom Schwenk der Kamera. Er beginnt - sichtlich frustriert, mit ernstem Gesicht - zu reden, allerdings bleibt sein Beitrag für die deutschen Zuschauenden für vier 178 Bettina Kluge 2 Ein Vergleich mit dem Archiv aller Pressekonferenzen von Präsident Obama zeigt im Übrigen, dass zwischen Zeile 8 und 9 - auch angedeutet im Nachrichtenfilm durch einen deutlichen Bildschnitt - mehrere Minuten liegen, nämlich 3: 27min. Das später in Z. 21/ 22 geäußerte We’ve become … NUMB to this folgt erst in Minute 3: 47. Das Transkript und eine Videoaufnahme sind permanent zugänglich unter https: / / obamawhitehouse.archives.gov/ the-press-office/ 2015/ 10/ 01/ statement-president-shoo tings-umpqua-community-college-roseburg-oregon (Stand: 19.08.2020) Musterdatei NFA_Sammelband.dot Transkript 2: „we’ve become …NUMB to this“ 11 BO <<sehr leise> another mass shooting in America > 12 BO (0: 28) <<laut> somehow this has become rouTINE > Bild Schnitt, Obama im close-up 13 VO1 irgendwie ist das zu einer Art Routine 14 geworden. (0,5sec Pause) Die Berichterstattung 15 ist Routine. Meine Antwort darauf hier auf 16 diesem Podium ist Routine . 17 BO <<sehr leise> my response > [[zu hören nach ‚Meine Antwort darauf‘ zeitgleich zu ‚hier auf‘, 0: 39min]] 18 BO <<sehr leise> this podium > 19 VO1 Die Debatte im Nachhinein ist es auch. Wir 20 sind abgestumpft. 21 BO in) the aftermath of it. (1sec) We’ve become 22 (1sec) NUMB to this . (0: 51) Es finden sich aber auch kleine ‚Inseln‘ des O-Tons (z.B. my response , Z. 17 und this podium , Z. 18); Mit podium , ebenso auch rouTINE in Z. 12, sind auch hier wieder für Deutschsprachige gut erschließbare Internationalismen als mögliche Ankerpunkte eingefügt. Dass es hier Möglichkeiten zum Einfügen von ‚Insel‘-Übersetzungen gibt, liegt auch an Obamas Sprechweise: Er legt viele Pausen ein, um seinen Worten mehr Gewicht zu geben bzw. um einen möglichst exakten Ausdruck zu finden. Der nun nach einigen illustrierenden Bildern vom Tatort interviewte Sheriff wird erneut mithilfe der kanonischen Form wiedergegeben, der O-Ton ist zu Beginn (Z.32/ 33) und zum Ende (Z. 39/ 40) gut hörbar, die VOÜ wird in der Mitte zusammengezogen. Interessanter ist die Übersetzung der drei Nachbar_innen des Täters, die nach der Tat von den Medien befragt werden. In beiden Fällen finden sich Abweichungen von der zuvor postulierten ‚kanonischen Form‘: in Transkript 3 fehlt der O-Ton am Ende, in Transkript 4 werden zwei Personen gemeinsam interviewt und von derselben Voice-over-Sprecherin wiedergegeben, am Ende fehlt erneut der O Ton. Sekunden unverständlich leise, bis der Ton hochgedreht wird und ‚another mass shooting in America‘ (Z. 11) zu hören ist. Wie Transkript 2 zeigt, folgt die Übersetzung des O-Tons Barack Obamas der oben als ‚kanonisch‘ bezeichneten Beschreibung einer VOÜ: Sowohl zu Beginn als auch zum Ende ist das englischsprachige Original gut hörbar, der O-Ton wird von Zeile 11 auf 12 hochgefahren, so dass auf das kaum hörbare ‚another mass shooting in America‘ das deutlich verständliche ‚somehow this has become rouTINE‘ folgt. 2 Zum Ende des Obama-Einspielers nimmt die Übersetzung in Z. 19/ 20 den O-Ton in Z. 21/ 22 vorweg und folgt somit auch hier der kanonischen Form. Transkript 2: „we’ve become …NUMB to this“ Es finden sich aber auch kleine ‚Inseln‘ des O-Tons (z. B. my response, Z. 17 und this podium, Z. 18); Mit podium, ebenso auch rouTINE in Z. 12, sind auch hier wieder für Deutschsprachige gut erschließbare Internationalismen als mögliche Ankerpunkte eingefügt. Dass es hier Möglichkeiten zum Einfügen 179 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. Musterdatei NFA_Sammelband.dot 188 Pausen ein, um seinen Worten mehr Gewicht zu geben bzw. um einen möglichst exakten Ausdruck zu finden. Der nun nach einigen illustrierenden Bildern vom Tatort interviewte Sheriff wird erneut mithilfe der kanonischen Form wiedergegeben, der O-Ton ist zu Beginn (Z.32/ 33) und zum Ende (Z. 39/ 40) gut hörbar, die VOÜ wird in der Mitte zusammengezogen. Interessanter ist die Übersetzung der drei Nachbar_innen des Täters, die nach der Tat von den Medien befragt werden. In beiden Fällen finden sich Abweichungen von der zuvor postulierten ‚kanonischen Form‘: in Transkript 3 fehlt der O-Ton am Ende, in Transkript 4 werden zwei Personen gemeinsam interviewt und von derselben Voice-over-Sprecherin wiedergegeben, am Ende fehlt erneut der O-Ton. Transkript 3 zeigt deutlich, wie wichtig für die Zuschauenden der Rückgriff auf die visuell übermittelten Ressourcen ist. Wie gesagt, fehlt der schließende O- Ton, der allerdings in gewisser Weise durch Gestik und Mimik kompensiert wird. Transkript 3: „weiß ich nicht“ 45 unauffälliges Leben. Zu dem, was Barack Obama 46 Routine nennt, gehören auch die Aussagen 47 fassungsloser Nachbarn . (1: 49) Bild: Mann zeigt mit rechtem Zeigefinger über die Schulter nach hinten 48 SF ( without? ) pictures, you (wouldn’t have? ) Bild Schwenk auf Mann vor Polizeiauto, Bauchbinde „Steve Fisher, Nachbar“ 49 recognized (them/ him) 50 VO1 Ich habe ihn auf den Bildern erkannt, mehr 51 nicht. Er spielte draußen mit Kindern, ob das 52 seine waren, weiß ich nicht . Bild Schulterzucken und ratloser Gesichtsausdruck direkt nach ‚weiß ich nicht‘ (1: 57) von ‚Insel‘-Übersetzungen gibt, liegt auch an Obamas Sprechweise: Er legt viele Pausen ein, um seinen Worten mehr Gewicht zu geben bzw. um einen möglichst exakten Ausdruck zu finden. Der nun nach einigen illustrierenden Bildern vom Tatort interviewte Sheriff wird erneut mithilfe der kanonischen Form wiedergegeben, der O-Ton ist zu Beginn (Z.32/ 33) und zum Ende (Z. 39/ 40) gut hörbar, die VOÜ wird in der Mitte zusammengezogen. Interessanter ist die Übersetzung der drei Nachbar_innen des Täters, die nach der Tat von den Medien befragt werden. In beiden Fällen finden sich Abweichungen von der zuvor postulierten ‚kanonischen Form‘: in Transkript 3 fehlt der O-Ton am Ende, in Transkript 4 werden zwei Personen ge‐ meinsam interviewt und von derselben Voice-over-Sprecherin wiedergegeben, am Ende fehlt erneut der O-Ton. Transkript 3 zeigt deutlich, wie wichtig für die Zuschauenden der Rückgriff auf die visuell übermittelten Ressourcen ist. Wie gesagt, fehlt der schließende O-Ton, der allerdings in gewisser Weise durch Gestik und Mimik kompensiert wird. Transkript 3: „weiß ich nicht“ 180 Bettina Kluge Abbildung 1: die Aussagen fassungsloser Nachbarn Der durch eine Bauchbinde namentlich identifizierte Nachbar zeigt zu Beginn (Z. 46/ 47) mit dem Finger auf den Hauseingang hinter sich; dies unterstützt die vom Sprecher zuvor getroffene Aussage, dass zur Routine derartiger Medien‐ berichterstattungen auch das Einfangen von O-Tönen fassungsloser Nachbarn gehöre. Die VOÜ endet mit ‚weiß ich nicht‘ (Z. 52), unterstützt durch einen ratlosen Gesichtsausdruck und Schulterzucken - insofern erfolgt die ‚Überset‐ zung‘ dieser Ratlosigkeit nonverbal durch die Synchronizität von visuellen und auditiven Elementen. Noch interessanter in der multimodalen Ausdeutung sind allerdings die beiden in Transkript 4 wiedergegebenen jungen Frauen, die als Nachbarinnen identifiziert werden, und deren Interview direkt im Anschluss an das ihres Nachbarn Steve folgt. 181 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. Musterdatei NFA_Sammelband.dot 190 Transkript 4: „wenn es dich betrifft“ 53 SC You would NEVER think (that) Bild Szenenwechsel auf zwei sehr junge Frauen, die rechte beginnt zu sprechen, Bauchbinde „Sydney Clarke, Nachbarin“ 54 VO2 Das hältst du doch nicht für möglich! Ja, du 55 hörst, dass das woanders im Land passiert 56 aber doch nicht HIER! Bild: wendet sich ab ‚aber doch nicht‘ nach rechts zu ihrer Freundin, diese beginnt zu nicken, dann zu sprechen, aber für Zuschauer nicht verständlich, Mikrophon wird neu positioniert, damit die zweite Frau (für die englische Original-Berichterstattung) hörbarer wird 57 VO2 Wenn es dich betrifft, ändert das alles. Bild: Einblenden Bauchbinde „Katie Underwood, Nachbarin“ (2: 10), O-Ton sehr leise im Hintergrund hörbar 58 Gerade hier in Roseburg. Diese Gemeinde ist 59 wie eine Familie. Ich habe mich hier immer 60 sicher gefühlt. 61 KU << sehr leise, kaum verständlich> here > Abbildung 2: aber doch nicht HIER! Transkript 4: „wenn es dich betrifft“ Abbildung 2: aber doch nicht HIER! 182 Bettina Kluge 3 Die männlichen VOÜ sowie der Sprechertext werden durch den Journalisten Martin Sümening selbst eingesprochen. Abbildung 3: wenn es dich betrifft Nur die erste junge Frau ist zu Beginn sehr gut hörbar (you would NEVER think that, Z. 53), aber es fehlt ein ‚regelkonformer‘ Abschluss am Ende ihres Statements. Dieselbe weibliche Voice-over-Stimme spricht die Statements beider jungen Frauen ein 3 , sie versucht zudem, durch den Einsatz von voice ac‐ ting die Betroffenheit der Nachbarinnen wiederzugeben. Dennoch wird deutlich, dass die Zuschauenden das Gesagte zwei verschiedenen Personen zuordnen sollen: Neben der Pause zwischen ‚aber doch nicht HIER! ‘ und ‚wenn es dich betrifft‘ wird dies durch die Neupositionierung des Mikrophons zu der zweiten jungen Frau deutlich, unterstützt durch die Einblendung der Bauchbinden mit dem Namen und der sozialen Rolle ‚Nachbarin‘. Ferner orchestrieren auch die beiden jungen Frauen eine Turnübergabe, indem die erste junge Frau, Sydney, sich am Ende ihres Statements nach rechts zu ihrer Freundin Katie wendet. Katie nickt kurz und beginnt - für die Zuschauenden unverständlich, da durch das Voice-over übertönt - zu sprechen. Das schlie‐ ßende Hochfahren des O-Tons (Z. 61) ist hier nur angedeutet, man hört ein sehr leises ‚here‘ (vermutlich ‚I’ve always felt safe/ secure here‘). Als Zwischenfazit kann insofern festgehalten werden, dass die in der Li‐ teratur angenommene ‚kanonische‘ Form der VOÜ in den TV-Nachrichten nicht immer zum Tragen kommt; stattdessen zeigen die Beispiele deutlich die 183 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. Relevanz der Bildlichkeit: Die gezeigte Gestik und Mimik, die Blickrichtung und Körperpositionierung werden hier von den Zuschauenden ebenso als Res‐ sourcen zur Interpretation herangezogen wie die Bauchbinden mit Einblendung von Namen und Funktionen. 4 Voice-over im Radio versus Voice-over im TV Wie könnte dieser Nachrichtenfilm nun im Radio gesendet werden? Wenn wir nun die Augen geschlossen hätten oder blind wären, könnten wir dann immer eindeutig zwischen Sprechertext und VOÜ unterscheiden? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? Barack Obama ist für seine Zeitgenoss_innen erkennbar an seiner Stimme und weil er im vorhergehenden Sprechertext als US-Präsident eingeführt wird; ebenso werden die drei Nachbar_innen aufgrund ihrer Bezeichnung als ‚fassungslose Nachbarn‘ in Z. 47 eingeführt und sind zwar nicht als Person, aber in ihrer sozialen Rolle identifizierbar. Dass hier zwei junge Frauen interviewt werden, und nicht eine, ist allerdings ohne die visuelle Ressource schwierig nachzuvollziehen, gerade weil der O-Ton der zweiten Frau nicht freigestellt wurde. Überhaupt nicht über die Audiospur identifzierbar ist allerdings der Sheriff, der nur durch visuelle Elemente (die Bauchbinde mit Namen und Funktion und seine Kleidung) als solcher erkennbar ist. Wie oben in Abschnitt 2 erwähnt, ist die VOÜ im Radio bislang so gut wie gar nicht erforscht, die Rolle des Mediums kann insofern nur schwer nachvollzogen werden. Ayonge/ Enow (2013-2014) untersuchen in ihrer Studie einige englisch- und französischsprachige VOÜ des staatlichen Radio- und Fernsehsenders CRTV. Auch sie weisen darauf hin, dass „there must be some degree of synchrony between what the speaker is saying and his body language“ (2013-2014: 175) und zeigen mehrere Beispiele, bei denen die Gestik nicht mit dem im jeweiligen Moment Gesagten übereinstimmt und der Verstehensprozess behindert wird. Die meisten ihrer Belege (nicht bei allen wird die mediale Herkunft erwähnt) sind aus den Fernsehnachrichten, der Unterschied zwischen Radio- und Fernsehnachrichten wird leider nicht näher thematisiert. Eine weitere in diesem Zusammenhang zu nennende Studie ist die unver‐ öffentlichte Masterarbeit von Jana Hacker (2019), die am Beispiel der Tages‐ schau und des NDR2 Kuriers die deutschen Fernseh- und Hörfunknachrichten miteinander vergleicht. Hacker beschäftigte sich mit der Frage, inwiefern die unterschiedliche mediale Basis sich auf das Verfahren der VOÜ in den Nachrichten auswirkt. Sie setzt sich hier u. a. mit der Länge und Lautstärke des hörbaren O-Tons im Vergleich zu den VOÜ auseinander, nachdem der Hör‐ 184 Bettina Kluge eindruck früherer Masterarbeiten (insbesondere Condemarín 2015, Degirmen 2016) Hinweise darauf lieferte, dass die VOÜ und/ oder die O-Töne in den Hörfunknachrichten länger seien, insbesondere in den Translaten aus dem Englischen. Hackers Korpus des Untersuchungszeitraums 28.9.-28.10.2018 umfasst 131 Voice-over-Beiträge im TV-Korpus und 26 im Radio-Korpus - in 17 von 31 un‐ tersuchten Sendungen des NDR2 Kuriers wird überhaupt kein VOÜ verwendet, dagegen in allen der Tagesschau. Hier muss die kürzere Sendezeit der Hörfunknachrichten einbezogen werden, vor allem aber der stärkere regionale Fokus. Die eingespielten, hörbaren O-Töne sind im Radio länger als in den TV-Nach‐ richten, sie schwanken je nach Sprache zwischen vier und fünf Sekunden, während in der Tagesschau der O-Ton zwischen einer und vier Sekunden hörbar ist. In Bezug auf das Englische, das mit 71 von 131 (Tagesschau) bzw. 12 von 26 Beiträgen (NDR2 Kurier) die bei Weitem am häufigsten zu hörende Fremd‐ sprache ist, liegt die Durchschnittslänge des O-Tons bei 2,7 (Tagesschau) bzw. 4,4 Sekunden (NDR2 Kurier). Für die anderen untersuchten Sprachen sind keine Aussagen möglich, weil die Zahl der Beiträge häufig sehr gering ist und sich so Zufälligkeiten zu stark auf das Ergebnis auswirken könnten. Die Dominanz des Englischen in den Nachrichten ist vermutlich einerseits der allgemeinen Nach‐ richtenlage zum Aufnahmezeitpunkt zuzurechnen (Brexit, zwei terroristische Anschläge in den USA), aber andererseits auch dem Faktum geschuldet, dass die ARD in englischsprachigen Ländern wie den USA und Großbritannien jeweils eigene Korrespondent_innen hat, während z. B. ganz Lateinamerika von den Studios in Mexiko-City, Buenos Aires und Rio de Janeiro ‚bespielt‘ wird (http: / / korrespondenten.tagesschau.de). Außerdem ist aufgrund der weitverbreiteten Englischkenntnisse der Bevölkerung eher eine ‚Überprüfbarkeit‘ des Translats möglich als z. B. in Bezug auf die schwedischen oder indonesischen Beiträge. Bezüglich des Vergleichs von Radio- und TV-Nachrichten führt Hacker die Unterschiede in der Dauer der Originaltöne auf das Fehlen der Bildebene bei den Radionachrichten zurück, die hier möglicherweise „durch längere Originaltöne wieder wettgemacht werden soll“ (Hacker 2019: 42). Allerdings zeigt dann die spätere funktional-inhaltliche Analyse, dass die VO-Beiträge im Radio eher illustrierenden Charakter haben, in den TV-Nachrichten dagegen immer einen informationellen Mehrwert bieten: „So entsteht der Eindruck, dass die Voice-over-Beiträge [im Radio] lediglich zur Verdeutlichung der redaktionellen Texte dienen“ (Hacker 2019: 53) - man könnte hier in der Tat argumentieren, dass eine Art Kompensation der fehlenden Bildkomponente stattfindet. Dem sollte anhand einer größeren Korpusanalyse nachgegangen werden. 185 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. 5 Fazit Ich habe in diesem Beitrag versucht zu zeigen, dass eine Verschränkung von me‐ dienlinguistischen, medienwissenschaftlichen und übersetzungswissenschaftli‐ chen Perspektiven in Bezug auf die Voice-over-Übersetzung dringend geboten ist, nicht nur im Kontext der Übersetzung in den Nachrichten - hierauf hatte bereits Schröpf (2011, 2012) hingewiesen. Insbesondere ist aber in bisherigen Analysen die Rolle der Text-Bild-Beziehungen zu wenig berücksichtigt, ebenso wie eine Rekonstruktion der Verstehensprozesse der Zuschauenden, und wie sie die ihnen zur Verfügung stehenden verbalen und nonverbalen Ressourcen einsetzen. Die Beispielanalyse hat gezeigt, dass im audiovisuellen Kontext die ‚kanonische Form‘ durchaus auch flexibel mithilfe des visuellen Materials mo‐ difiziert werden kann, beispielsweise unter Rückgriff auf die Gestik und Mimik der Sprechenden. Somit wird zwar nicht der O-Ton noch einmal angespielt, aber zumindest durch die Synchronität von VOÜ und Bild erneut die Illusion der Verdolmetschung erzeugt, die wiederum bei den Zuschauenden die Akzeptanz der Übersetzung als akkurat und wortgetreu erhöhen soll. Offen bleibt, wie in einem Medium wie dem Hörfunk, das ohne Verweis auf visuelle Bilder auskommt, die VOÜ strukturiert ist. Die Arbeit von Hacker (2019) hat erste Hinweise darauf geliefert, dass der längere, z.T. auch lautere O-Ton im Radio eigene Funktionen aufweist, nicht so sehr neue Informationen vermittelt, sondern wohl eher zur weiteren Charakterisierung der im O-Ton zitierten Personen (zumeist hochrangige Politiker_innen) dient. Ein medialer Vergleich des VOÜ in Fernseh- und Hörfunknachrichten, ggf. auch mit Printnachrichten, auf der Basis eines größeren Korpus erscheint als sehr lohnenswert, nicht nur für Fragen der VOÜ, sondern für die Rolle der Bildlichkeit in den Nachrichten generell. Literatur Ayonghe, Lum Suzanne/ Enow, Felicite E. (2013-2014). Audiovisual translation in Came‐ roon: An analysis of voice-over in Cameroon radio and television (CRTV). In: Journal of the Cameroon Academy of Sciences 11: 2-3, 173-182. Bielsa, Esperança/ Bassnett, Susan (2009). Translation in global news. London/ New York: Routledge. Burger, Harald/ Luginbühl, Martin (2014). Mediensprache: Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsform der Massenmedien. 4. Auflage. Berlin: de Gruyter. 186 Bettina Kluge Condemarín Cellio, Mayra Alejandra (2015). Voice-over-Übersetzungen in deutschen Fernsehnachrichten: Ein Vergleich zwischen Tagesschau und Tagesthemen. Unveröff. Masterarbeit, Universität Hildesheim. Davier, Lucile/ Conway, Kyle (Hrsg.) (2019). Journalism and translation in the era of convergence. Amsterdam: John Benjamins. Davier, Lucile/ Schäffner, Christina/ van Doorslaer, Luc (Hrsg.) (2018). The methodological remainder in news translation research: outlining the background. In: Across Lang‐ uages and Cultures 19: 2, 155-164. Davier, Lucile (2017). Les enjeux de la traduction dans les agences de presse. Lille: Presses universitaires du Septentrion. Davier, Lucile (2014). The paradoxical invisibility of translation in the highly multilingual context of news agencies. In: Global Media and Communication 10: 1, 53-72. Darwish, Ali/ Orero, Pilar (2014). Rhetorical dissonance of unsynchronized voices. Issues of voice-overs in news broadcasts. In: Babel 60: 2, 129-144. Degirmen, Sinem (2016). Das Wechselspiel zwischen Voice-over-Übersetzung und Syn‐ chronisation in Dokumentarfilmen: exemplarische Analyse einer Dokumentarreihe. Unveröff. Masterarbeit, Universität Hildesheim. Filmer, Denise (2018). Voicing diversity? Negotiating Italian identity through voice-over translation in BBC broadcasting. In: Perspectives. Studies in Translatology 27: 2, 299- 315. Franco, Eliana/ Matamala, Anna/ Orero, Pilar (²2013) [2009]. Voice-over translation. An overview. Frankfurt/ Main u.a.: Peter Lang. Hacker, Jana (2019). Voice-over-Übersetzung in den deutschen Fernseh- und Hörfunknachrichten am Beispiel der Tagesschau und des NDR2-Kuriers. Unveröff. Masterar‐ beit, Universität Hildesheim. Jakobson, Roman (1959). On linguistic aspects of translation. In: Brower, Reuben A. (Hrsg.). On translation. Cambridge, MA: Harvard University Press, 232-239. Jiménez-Crespo, Miguel Ángel (2012). Translation under pressure and the web: A parallel corpus-study of Obama’s inaugural speech in the online media. In: Translation & Interpreting 4: 1, 56-76. Jüngst, Heike (2010). Audiovisuelles Übersetzen. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen: Narr. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (2011). Gesprochene Sprache in der Romania. Franzö‐ sisch, Italienisch, Spanisch. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Berlin: de Gruyter. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (2007). Schriftlichkeit und kommunikative Distanz. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 35: 1/ 2, 346-375. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1985). Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachge‐ schichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43. 187 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. Matamala, Anna (2009). Translating documentaries: from Neanderthals to the Super‐ nanny. In: Perspectives. Studies in Translatology 17: 2, 93-107. Orero, Pilar (2006). “Voice-over: A case of hyper-reality”. In: Carroll, Mary/ Gerzy‐ misch-Arbogast, Heidrun/ Nauert, Sandra (Hrsg.). Audiovisual Translation Scenarios: Proceedings of the Marie Curie Euroconferences MuTra - Audiovisual Translation Scenarios, Copenhagen, 1-5 May 2006. Abrufbar unter: http: / / euroconferences.info/ proceedings/ 2006_Proceedings/ 2006_Orero_Pilar.pdf. (Stand: 12.08.2020). Pedersen, Jan (2007). How is culture rendered in subtitles? In: Challenges of Multidi‐ mensional Translation: Proceedings of the Marie Curie Euroconferences MuTra, Saarbrücken 2-6 May 2005. 1-18. Scanell, Paddy (1996). Radio, television and modern life. Oxford: Wiley-Blackwell. Schröpf, Ramona (2012). Translation in den Nachrichten: Zum Voice-over als Überset‐ zungsmethode in Nachrichtenmeldungen. In: Martino Alba, Pilar/ Lebsanft, Christiane (Hrsg.). Telar de traducción especializada, Madrid: Ed. Dykinson, 117-130. Schröpf, Ramona (2011). Die Übertragung fremdsprachiger O-Töne in den Nachrichten - eine authentische Übersetzung? Überlegungen zu einer medienlinguistisch orien‐ tierten Translationswissenschaft. In: Roiss, Silvia/ Fortea Gil, Carlos/ Recio Ariza, María Ángeles/ Santana López, Belén/ Zimmermann González, Petra/ Holl, Iris (Hrsg.). En las vertientes de la traducción e interpretación del/ al alemán. Berlin: Frank & Timme, 567-576. Valdeón, Roberto (2020). Journalistic translation research goes global: theoretical and methodological considerations five years on. In: Perspectives. Studies in Translatology 28: 3, 325-338. Valdeón, Roberto (2015). Fifteen years of journalistic translation research and more. In: Perspectives. Studies in Translatology 23: 4, 634-662. Woźniak, Monika (2012). Voice-over or voice-in-between? Some considerations about the voice-over translation of feature films on Polish television. In: Remael, Aline/ Orero, Pilar/ Carroll, Mary (Hrsg.). Audiovisual translation and media accessibility at the crossroads. Amsterdam/ New York: Rodopi, 209-228. Zindel, Udo/ Rein, Wolfgang (²2007). Das Radio-Feature. Konstanz: UVK Verlagsgesell‐ schaft. Anhang: Vollständiges Transkript ‚Roseburg shooting‘ Videonachricht über Schießerei im Umpqua Community College, Rose‐ burg/ Oregon, 1.10.2015, Spiegel Online URL: http: / / www.spiegel.de/ video/ massaker-an-us-college-in-roseburg-oreg on-obama-frustriert-video-1613452.html 188 Bettina Kluge Musterdatei NFA_Sammelband.dot 198 1 Narr. Trauer um die Opfer der Schießerei von Bild Trauernde in der Nacht auf einem Hügel mit Kerzen 2 Roseburg im US-Bundesstaat Oregon. Für 3 Angehörige und Freunde ein fürchterliches 4 Erlebnis. (0: 10) Doch die Bilder gehören zu 5 dem Kreislauf von Ereignissen, die der 6 US-Präsident in einer ersten emotionalen 7 Reaktion auf das Massaker anprangerte. Seine 8 vergeblichen Vorstöße für schärfere Bild bei ‚schärfere‘ (0: 21) Schnitt von Trauernden auf Pressekonferenz, Obama betritt Raum, geht zu Rednerpult, beginnt zu reden 9 Narr. Waffengesetze haben bei Barack Obama zu 10 tiefem Frust und Bitterkeit geführt. (0: 25) 11 BO <<sehr leise> another mass shooting in America > 12 BO (0: 28) <<laut> somehow this has become rouTINE > Bild Schnitt, Obama im close-up 13 VO1 14 15 16 diesem Podium ist Routine . 17 BO <<sehr leise> my response > [[zu hören nach ‚Meine Antwort darauf‘ zeitgleich zu ‚hier auf‘, 0: 39min]] 18 BO <<sehr leise> this podium > 19 VO1 Die Debatte im Nachhinein ist es auch. Wir 20 sind abgestumpft. 21 22 BO (in) the aftermath of it. (1sec) We’ve become (1sec) NUMB to this . (0: 51) 23 Narr. Soviel ist bislang bekannt: der Schütze war Bild 24 25 26 27 28 29 30 31 32 JH 33 Bild Szenenwechsel zu Bildern von Autos auf einem Parkplatz, Aufnahme aus dem (Polizei)hubschrauber offenbar ein 26jähriger Einzeltäter. Er tötete mindestens neun Menschen, verletzte mehrere weitere und starb schließlich nach einem Schusswechsel mit der Polizei. Seine Motive sind noch völlig unklar. Augenzeugen berichteten US-Medien zufolge, er habe die Opfer nach ihrer Religion befragt, bevor er auf sie schoss. (1: 13) <<laut> We have the information that leads us to believe > <<leiser werdend> that we know > Szenenwechsel auf Pressekonferenz des Sheriffs, Bauchbinde „John Hanlin, Sheriff” irgendwie ist das zu einer Art Routine geworden. (0,5sec Pause) Die Berichterstattung ist Routine. Meine Antwort darauf hier auf 189 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. Musterdatei NFA_Sammelband.dot 199 34 VO1 Wir haben Informationen aufgrund derer wir 35 glauben zu wissen, wer der Schütze war. Die 36 offizielle Bestätigung wird dann von den 37 Medizinern kommen. Ich werde seinen Namen 38 aber nicht nennen. 39 JH <<leise> very clear > (1sec) <<laut> I will not name 40 (.) the shooter> (1: 32) 41 Narr. Hier nicht weit vom Campus entfernt hat der Bild: Szenenwechsel auf nächtliche abgesperrte Wohnstraße, Polizeiarbeit, später Schnitt auf Mann, vor Auto 42 Schütze nach Polizeiangaben gewohnt. Wie die 43 meisten seiner Vorgänger bei ähnlichen 44 Anschlägen führte er nach außen hin ein 45 unauffälliges Leben. Zu dem, was Barack Obama 46 Routine nennt, gehören auch die Aussagen 47 fassungsloser Nachbarn . (1: 49) Bild: Mann zeigt mit rechtem Zeigefinger über die Schulter nach hinten 48 SF ( without? ) pictures, you (wouldn’t have? ) Bild Schwenk auf Mann vor Polizeiauto, Bauchbinde „Steve Fisher, Nachbar“ 49 recognized (them/ him) 50 VO1 Ich habe ihn auf den Bildern erkannt, mehr 51 nicht. Er spielte draußen mit Kindern, ob das 52 seine waren, weiß ich nicht . Bild Schulterzucken und ratloser Gesichtsausdruck direkt nach ‚weiß ich nicht‘ (1: 57) 53 SC You would NEVER think (that) Bild Szenenwechsel auf zwei sehr junge Frauen, die rechte beginnt zu sprechen, Bauchbinde „Sydney Clarke, Nachbarin“ 54 VO2 Das hältst du doch nicht für möglich! Ja, du 55 56 Bild: hörst, dass das woanders im Land passiert, aber doch nicht HIER! wendet sich ab ‚aber doch nicht‘ nach rechts zu ihrer Freundin, diese beginnt zu nicken, dann zu sprechen, aber für Zuschauer nicht verständlich, Mikrophon wird neu positioniert, damit die zweite Frau (für die englische Original-Berichterstattung) hörbarer wird 57 VO2 Wenn es dich betrifft, ändert das alles. Bild: Einblenden Bauchbinde „Katie Underwood, Nachbarin“ (2: 10), O-Ton sehr leise im Hintergrund hörbar 58 Gerade hier in Roseburg. Diese Gemeinde ist 59 wie eine Familie. Ich habe mich hier immer 190 Bettina Kluge Musterdatei NFA_Sammelband.dot 200 60 sicher gefühlt. 61 KU << sehr leise, kaum verständlich> here > 62 Bild Szenenwechsel: Polizeiauto fährt durch die Nacht, wird durch Absperrung gelassen, mehrere Sekunden kein Ton (2: 15) 63 Narr. Möglicherweise kann die Polizei die Motive 64 des Todesschützen noch ermitteln, ändern wird 65 das im Nachhinein ebenso wenig wie es 66 ähnliche Taten in Zukunft verhindern hilft. 67 Das Grundproblem bleibt. 68 BO It cannot be this easy for Bild Schnitt zurück zu Obamas Pressekonferenz 69 VO1 Es darf nicht sein, dass jemand, der andere 70 verletzen will, so einfach an eine Waffe 71 kommt. 72 BO <<leise> (to get)> <<laut> his or her hands on a 73 GUN> 74 Narr. Doch selbst der Präsident scheint keine Bild Szenenwechsel auf nächtliches Haus mit Licht im Fenster, Absperrungen 75 Hoffnung zu haben, dass sich daran etwas 76 ändert. Die Chancen, dass sich die bittere 77 Routine in wenigen Wochen oder Monaten 78 wiederholt, sind hoch. Sprechersiglen: Narr. Narrator, vermutlich identisch mit dem Nachrichtenkorrespondenten Martin Sümening VO1 männliche VO-Stimme, identisch mit Narr., spricht BO, JH und SF VO2 weibliche VO-Stimme, spricht SC und KU BO Barack Obama JH John Hanlin, Sheriff von Douglas County SF Steve Fisher, Nachbar SC Sydney Clarke, Nachbarin KU Katie Underwood, Nachbarin Sprechersiglen: Narr. Narrator, vermutlich identisch mit dem Nachrichtenkorrespondenten Martin Sümening VO1 männliche VO-Stimme, identisch mit Narr., spricht BO, JH und SF VO2 weibliche VO-Stimme, spricht SC und KU BO Barack Obama JH John Hanlin, Sheriff von Douglas County SF Steve Fisher, Nachbar SC Sydney Clarke, Nachbarin KU Katie Underwood, Nachbarin 191 Voice-over Übersetzung in den TV-Nachrichten. "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch Heike Knerich/ Julia Sacher That is, if you come home and report what the grass looked like along the freeway; that there were four noticeable shades of green, some of which just appeared yesterday be‐ cause of the rain, then there may well be some tightening up on the part of your reci‐ pient. And if you were to do it routinely, then people might find that there is something odd about you; that you are pretentious. (Sacks 1984: 418) 1 Einleitung In seinem Aufsatz „On ‚doing being ordinary‘“ beschäftigt sich Sacks (1984) mit der Frage, in welchem Verhältnis Gewöhnliches und Außergewöhnliches im Erleben und Verhalten von Personen stehen. Sacks beginnt mit der Beobachtung, dass die allermeisten alltäglichen Handlungsweisen von Personen dazu dienen, sich als normal und gewöhnlich darzustellen: Among the ways you go about doing ‚being an ordinary person‘ is to spend your time in usual ways, having usual thoughts, usual interests, so that all you have to do to be an ordinary person in the evening is turn on the TV set. Now, the trick is to see that it is not that it happens that you are doing what lots of ordinary people are doing, but that you know that the way to do ‚having a usual evening‘ for anybody, is to do that. (ebd.: 415, Hervorh. im Orig.) Ungewöhnlichkeit und Normalität sind seinen Überlegungen zufolge so etwas wie der Wahrnehmungsfilter im Alltag: Die individuelle Umwelt wird als gegeben und normal betrachtet, und vor allem auch in der stillschweigenden Erwartung auf ihre fortdauernde Normalität wahrgenommen (vgl. ebd.: 416). Als Konversationsanalytiker und Ethnomethodologe interessiert sich Sacks natürlich für die Frage, was dies nun für die konversationelle Darstellung von Alltäglichem bedeutet - und stellt fest, dass „normale“ Begebenheiten, Dinge, Personen nicht extensiv in Gesprächen dargestellt und charakterisiert werden müssen, sondern auch hier gewissermaßen von einem stillschweigenden, wech‐ selseitigen Verständnis ausgegangen wird, dass alle Gesprächsbeteiligten in etwa eine Vorstellung davon haben, was gemeint ist - und Elaborierungen und Detaillierungen nur für Außergewöhnliches angemessen und erwartbar sind (ebd.: 418). Erzählungen erlauben es Personen, subjektiv un- und außergewöhnliche Begebenheiten konversationell darzustellen - wobei das, was un- und außerge‐ wöhnlich ist, sich nicht naturwüchsig aus den „Dingen an sich“ ergibt, sondern eine (inter-)aktive Herstellungsleistung der Beteiligten ist. Genau darum geht es in unserem Beitrag: Wir widmen uns der Frage, wie (Außer-)Gewöhnlichkeit im Gespräch ausgehandelt und ko-konstruiert wird. Dazu arbeiten wir verglei‐ chend mit zwei Gesprächen der Call-in-Sendung „Domian“, die von 1995 bis 2016 im WDR-Radio und -Fernsehen ausgestrahlt wurde. In diesen beiden Gesprä‐ chen geht es um die Thematisierung von Ereignissen, die für die Anrufenden sicherlich subjektiv ungewöhnlich sind - aber vom Gesprächspartner und Mo‐ derator der Sendung, Jürgen Domian, in sehr unterschiedlicher Weise als solche behandelt werden. Wir konzentrieren uns in den Analysen darauf, durch welche konversationellen Aktivitäten dies hergestellt bzw. herzustellen versucht wird, und wir beziehen uns dabei auf die Frage, welche Ereignisse eigentlich vor dem Hintergrund welcher Annahmen als gewöhnlich oder außergewöhnlich behandelt werden. Der Aufbau unseres Beitrags gestaltet sich wie folgt: In Kapitel zwei werden wir grundlegende Eigenheiten konversationeller Erzählungen rekapitulieren, und dabei vor allem auf die konversations- und gesprächsanalytische Perspek‐ tive abzielen, nach der Erzählungen gemeinsame Produkte aller Gesprächsbe‐ teiligten sind. Außerdem führen wir mit dem Begriff des culturally salient material (Polanyi 1979: 211) ein Konzept ein, mit dem sich kulturell geteilte Vor‐ stellungen von Außergewöhnlichkeit in Hinblick auf erzählwürdige Ereignisse fassen lassen. In Kapitel drei präsentieren wir in zwei vergleichend angelegten Fallstudien unsere Daten und arbeiten an ihnen heraus, dass die Maßstäbe für Außergewöhnlichkeit unter den Bedingungen von Medienkommunikation und Mehrfachadressierung (vgl. Burger 2005: 21 ff.) andere zu sein scheinen als beispielsweise im Gespräch unter guten Bekannten oder Freund*innen. Abschließend fassen wir unsere Beobachtungen zusammen und stellen weiter‐ 194 Heike Knerich/ Julia Sacher führende Überlegungen zu (Außer-)Gewöhnlichem im Gespräch und seiner kulturellen Einbettung an. 2 Erzählen und Erzählwürdigkeit Erzählen ist ein „menschliches Grundbedürfnis“ (Kotthoff 2017: 1) und eine grundlegende Kulturtechnik (Gülich/ Hausendorf 2000: 369), die das literarische und das (mündliche) Erzählen im Alltag umfasst. Durch Erzählungen werden vergangene Ereignisse rekonstruiert und interaktiv dargeboten, wobei die interaktive Funktion narrativer Texte und Gesprächsbeiträge sehr vielfältig sein kann - Erzählungen können als Beispiele, als Bestandteile von Argumenten, als Beschreibungen anderer Sachverhalte und/ oder als Instruktionen verwendet werden: „[…] the narrative type of text seems to be able to realize any type of discourse […].“ (Virtanen 1992: 303; vgl. außerdem DeFina/ Georgakopoulou 2012). Eine weitere wichtige Funktion vor allem (auto-)biographischen Erzählens besteht in der Konstruktion eigener und fremder Identitäten, sowie von Grup‐ penzugehörigkeit (vgl. z. B. Bruner 1990, Polkinghorne 1991, Mulholland 1996, Lucius-Hoene/ Deppermann 2004, Georgakopoulou 2007, Bamberg 2009, Ben‐ well/ Stokoe 2012, Sacher 2012, Sacher 2017). Somit kann dasselbe Ereignis - denselben oder anderen Zuhörer*innen - auch wiederholt erzählt werden (vgl. Knerich 2015, Schumann et al. 2015). Die Breite des Gegenstandes „Erzählung“ wird von Disziplinen und Para‐ digmen wie der Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Psychologie, Päd‐ agogik, Soziologie, Interviewforschung, Identitätsforschung u.v.m. ausgelotet. 2.1 Erzählen im Gespräch Uns geht es in diesem Beitrag um die linguistische Beschreibung der mündli‐ chen Rekonstruktion selbsterlebter vergangener Ereignisse. Diese bezieht sich entweder auf die Struktur der Erzählung selbst oder - bzw. zunehmend auch zusätzlich - auf die interaktive Konstitution einer solchen längeren narrativen Sequenz (vgl. dazu u. a. Gülich 2008, Gülich/ Hausendorf 2000, Kotthoff 2017). In Bezug auf die Erzählstruktur arbeiten Labov und Waletzky (1967) heraus, dass mündliche Erzählungen aus fünf sequenziell aufeinanderfolgenden in‐ varianten Struktureinheiten aufgebaut sind: orientation, complicating action, evaluation, resolution, coda. Diese können durch eine Vielfalt von sprachlichen Formen repräsentiert werden. In späteren Arbeiten wird dann die Evaluation nicht mehr ausschließlich als eins von fünf Strukturelementen, sondern als unterliegende Sekundärstruktur 195 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch der gesamten Erzählung aufgefasst (vgl. Labov 1972: 368 ff., vgl. auch Gü‐ lich/ Mondada 2008: 111), sie ist damit für jedes Element relevant. Zudem wird durch die Evaluation im Verlauf der narrativen Rekonstruktion die Erzählwür‐ digkeit markiert und besonders die Pointe verdeutlicht (vgl. Gülich 2008: 408, Gülich/ Mondada 2008: 111, Labov 1972). Auf diesen Aspekt gehen wir weiter unten noch ausführlicher ein. Teil der Narration ist außerdem die narrative preconstruction, denn Er‐ zähler*innen gehen so weit in der Geschichte der Ereignisse zurück, bis ein erwartbares Ereignis stattfand, das die Basis für das Unerwartete, d. h. die Pointe bzw. die complicating action, bildet (Labov 2011: 547 f.). Während diese Beschreibungen sich ausschließlich auf die Erzählung i.e.S. und damit nur auf die Äußerungen der Sprecher*in beziehen, sind narrative Re‐ konstruktionsaktivitäten im Gespräch aus konversationsanalytischer Sicht un‐ hintergehbar interaktiv konstituiert. Diese Perspektive kennzeichnet auch die analytische Grundlage unserer Herangehensweise an die unten präsentierten Daten: Innerhalb des Abwechslungsprinzips des freien Gesprächs ist es ein „in‐ teractional achievement“ (Schegloff 1982), wenn eine*r der Beteiligten das Rede‐ recht für längere Zeit und eine längere Einheit, einen multi-unit turn, bekommt und behält (vgl. Sacks et al. 1974: 702, Schegloff 1982: 75 f.). Die gesamte Erzählse‐ quenz besteht demnach aus einer Einleitungssequenz, der preface sequence bzw. dem story preface, der narrativen Rekonstruktion i.e.S., der telling sequence, und der Antwort-/ Bearbeitungssequenz, der response sequence (Gülich/ Mondada 2008: 105). An allen Sequenzen sind die Zuhörer*innen maßgeblich beteiligt, wobei das Rederecht in der Einleitungs- und der Bearbeitungssequenz zwischen den Beteiligten eher wechselt, während die narrative Rekonstruktionsarbeit üblicherweise von einer Person geleistet wird. Erzähler*innen bemühen sich dabei, ihre subjektiven Relevantsetzungen für ihr Gegenüber möglichst deutlich herauszustellen. Dies arbeiten Kallmeyer und Schütze (1976: 166 ff.) im Konzept der sog. „Zugzwänge des Erzählens“ heraus: Subjektiv wichtige Aspekte des zugrundeliegenden Geschehens werden herausgestellt und minutiös bzw. de‐ tailliert beschrieben („Detaillierungszwang“), weniger wichtige Aspekte werden verkürzt dargestellt oder weggelassen („Kondensierungszwang“), narrative Episoden werden außerdem in für das Gegenüber erkennbarer Weise inhaltlich und strukturell abgeschlossen („Gestaltschließungszwang“). In Bezug auf die Form und die affektive Qualität lässt sich in der Literatur die episodische Erzählung als Prototyp identifizieren, d. h. rekonstruiert wird eine singuläre, zeitlich zurückliegende Handlungsbzw. Ereignisfolge, die zeitlich und lokal eindeutig identifizierbar und minimal ungewöhnlich ist, der*die Spre‐ cher*in ist dabei identisch mit einem Aktanten. Verwendet werden evaluative 196 Heike Knerich/ Julia Sacher und expressive Sprachformen, direkte Rede, eine zumindest phasenweise hohe Detaillierung und szenisches Präsens in diesen stark detaillierten Phasen (vgl. Quasthoff 1980: 27 f.). Eine weitere Form ist die iterative narrative Rekonstruk‐ tion, in der in Vergangenheitstempora geschildert wird, was damals immer wieder geschah (Gülich 2017: 144, Gülich/ Mondada 2008: 113 f.); Sprecher*innen nutzen diese Form in längeren Erzählinteraktionen und in narrativen Groß‐ formen wie dem biographischen Erzählinterview als Grundlage für die szenische Rekonstruktion von Episoden (Gülich/ Mondada 2008: 113 f.). Von diesen beiden Formen der narrativen Darstellung ist die verallgemeinernde Rekonstruktion abzugrenzen, in der im Präsens dargestellt wird, was immer wieder geschieht (Gülich 2017: 144). Der Bericht, eine maximal nüchterne Rekonstruktion vergan‐ gener Ereignisse ohne evaluative/ expressive Sprachformen und ohne direkte Rede, wird von Kotthoff (2017) unter den Begriff des Erzählens subsumiert (vgl. ebd.: 21); Lucius-Hoene und Deppermann (2002) sprechen von einer an die Textsorte der „szenisch-episodischen Erzählung“ angrenzenden „berichtenden Darstellung“ (vgl. ebd.: 153 f.), andere Autor*innen unterscheiden das Berichten deutlich vom Erzählen (Haagen/ Knerich 2019: 229, vgl. auch Hoffmann 1984, Rehbein 1984, Quasthoff 1986). 2.2 Erzählwürdigkeit - worum geht es eigentlich? Auch wenn in und durch Erzählungen subjektiv relevante Ereignisse rekon‐ struiert und einem Gegenüber dargeboten werden, so heißt dies nicht, dass die subjektive Relevanz des dargestellten Geschehens automatisch als solche in Erscheinung tritt. Innerhalb der gesamten narrativen Sequenz wird zudem interaktiv hergestellt, was erzählwürdig ist. Demnach wird Erzählwürdigkeit nicht als Eigenschaft der Geschichte aufgefasst, in dem Sinne, dass vor allem unerwartete oder außergewöhnliche Begebenheiten erzählbar seien, sondern als situiertes Phänomen, das an konkrete Situationen und Kontexte gebunden ist (vgl. Gülich/ Mondada 2008: 112, Lucius-Hoene/ Deppermann 2002: 127). So können auch ganz alltägliche Ereignisse erzählt werden (vgl. auch Lu‐ cius-Hoene/ Deppermann 2002: 128), wenn diese interaktiv als erzählwürdig definiert werden. Quasthoff (1980) zeigt, dass auch Begebenheiten, für die keine Komplika‐ tion/ complicating action bestimmbar ist, erzählwürdig sein können. Daher definiert sie als grundlegende Gemeinsamkeit von Erzählungen den Planbruch, und stellt eine semantische Typologie von drei Formen auf: Neben einem Agen‐ tenplanbruch und einem Beobachterplanbruch gibt es auch einen „‚generalized other‘ Planbruch“ (vgl. ebd. 57 ff.): 197 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch Hier liegt der Gegensatz nicht in dem Bruch der Erwartungen des Agenten/ Erzählers oder des Beobachters/ Erzählers, sondern in den Erwartungen, die man im allgemeinen hat (Hervorh. im Orig.), die der Beteiligte und der Erzähler bei jedem Mitglied der Kulturgemeinschaft voraussetzen kann. (Quasthoff 1980: 61) Zumeist bricht die Hauptperson der Erzählung diese allgemeinen Erwartungen (vgl. ebd.: 61). Die drei Formen des Planbruchs sind aber nicht klar voneinander abgegrenzt, Quasthoff (1980) findet in ihrem Korpus auch Mischformen zwi‐ schen zwei oder auch allen drei Typen (vgl. ebd.: 66 f.). Erzählwürdigkeit hängt eng mit Gestaltungsorientiertheit und Relevanzset‐ zung zusammen: Bereits in der Einleitungssequenz wird angekündigt, ratifiziert und z.T. auch kommentiert, um was für eine Art der Erzählung es sich in Bezug auf die affektive Qualität und die Form handelt - lustig oder traurig, expressiv oder eher nüchtern (vgl. auch Kotthoff 2017: 6 ff.). Dabei ratifizieren Zuhörer*innen die Form, d. h. dass erzählt wird (alignment), und beziehen sich inhaltlich auf die Erzählhaltung bzw. die affektive Qualität (affiliation; vgl. Kotthoff 2017: 13, vgl. auch Goodwin 1986). Verbale Gestaltungsmittel beim Erzählen, d. h. Mittel zur Darstellung von Erzählwürdigkeit, sind breit untersucht worden, es handelt sich zusammenfas‐ send um: Hervorhebungsverfahren, Bewertungen, Detaillierungen, Reformu‐ lierungen und Wiederaufnahmen, die Darstellung emotionaler Beteiligung, die szenische Darstellung mit dem zentralen Mittel der direkten Rede (vgl. Gülich 2008: 409, 413). Erzähler*innen und Zuhörer*innen rekurrieren zudem auf paraverbale und nonverbale Ressourcen; auf Hörer*innenseite wird Er‐ zählwürdigkeit beispielsweise markiert mit Lachen, Aufstöhnen oder auch Kommentaren zum Erzählten (vgl. Gülich 2008: 409), die das Rederecht bei dem*der Erzähler*in belassen. Für unsere Analysen relevant sind vor allem stark evaluative Äußerungen: In ihrer multimodalen Konzeption interaktionaler assessment actions stellen Goodwin und Goodwin (1987: 7) fest, dass diese „a place for heightened mutual orientation and action“ sind. Sie machen außerdem interaktive Aushandlungsprozesse möglich, insofern als sie das Gegenüber zu potenziellen Gegenbewertungen einladen (vgl. ebd.: 9; ähnlich Sandig 1979: 141). Gerade für Erzählungen ist dies relevant, da Bewertungen so als Mittel der dramatischen Inszenierung (bzw. Reinszenierung, vgl. Bergmann 2000) und somit als Performanz- und Involvement-Strategie betrachtet werden können. 2.3 Erzählwürdigkeit als soziales Konstrukt Die Frage, was genau eigentlich warum und für wen erzählwürdig ist, hängt dabei auch von kulturellen bzw. gesellschaftsspezifischen Faktoren ab. Vor allem in psychologischer Tradition ist der Ankerpunkt der Erzählwürdigkeit meistens 198 Heike Knerich/ Julia Sacher das Selbst, so z. B. in Polkinghornes Konzept des emplotment (Polkinghorne 1991: 141 ff.): Zentral für Erzählungen ist demzufolge die Herausstellung des zentralen Punktes, weil die zentralen Punkte mehrerer Erzählungen ein und der‐ selben Person letztlich den roten Faden einer Autobiographie bilden - und so ein über die Zeit kohärentes Selbst konstruiert wird. Was allerdings zentral ist, kann nur vor dem Hintergrund gesellschaftlich geteilter Annahmen und Wertvorstel‐ lungen beurteilt werden (vgl. auch Brockmeier 2003). Dies betont auch Bruner (1990) im Begriff der folk psychology in gedanklich-konzeptueller Anlehnung an phänomenologische bzw. ethnomethomedologische und wissenssoziologische Vorstellungen von „Alltagswelt“ (Berger/ Luckmann 1969) bzw. „Lebenswelt“ (Schütz/ Luckmann 2003) und common understandings (Garfinkel 1967: 41): folk psychology dient Bruner zufolge als Ordnungs- und Interpretationssystem menschlicher Erfahrung, das gleichzeitig implizite Annahmen über Normalität und Außergewöhnlichkeit beinhaltet (vgl. Bruner 1990: 35). Erzählungen dienen demzufolge als Mittel, um sowohl kulturelle Vorstellungen von Normalität und Außergewöhnlichkeit implizit zu reflektieren, als auch eigene Vorstellungen von Normalität und Außergewöhnlichkeit zu (re-)produzieren. Dies bezeichnet er als „narrative‘s apparatus for dealing simultaneously with canonicality and exceptionality“ (ebd.: 47, ähnlich ebd.: 67). Aber auch unabhängig von Aspekten der Selbst- und Identitätskonstruktion spielt die Frage nach der Erzählbarkeit als sozialem Konstrukt eine wichtige Rolle. Hier ist vor allem der Ansatz Polanyis zu nennen, die Erzählbarkeit (bzw. in ihrer Terminologie den point einer Erzählung) konsequent vor dem Hintergrund kulturell geteilter Annahmen, Wertvorstellungen usw. verortet: Stories, whether fictional or non-fictional, formal and oft-told, or spontaneously generated, can have as their point only culturally salient material generally agreed upon by members of the producer‘s culture to be self-evidently important and true. (Polanyi 1979: 207, Hervorh. im Orig.) Polanyi (1979) zeigt davon ausgehend, dass erzählbar ist, was „kulturell inter‐ essant“ ist, also sich auf gemeinsame Werte, Weltsichten usw. der Mitglieder ein und derselben Kultur bezieht. Auch wenn das zugrundeliegende Kultur-Konzept Polanyis sicherlich als zu monolithisch zu kritisieren ist, erscheinen ihre Über‐ legungen sinnvoll, dass erzählbare Inhalte solche sind, die für Personen mit gleichem sozialen, ethnischen, genderbasierten Hintergrund „sozial interessant“ sind, oder aber für eine Person selbst „persönlich interessant“ sind (vgl. ebd.: 211). Erzähler*innen verlassen sich bei der Einschätzung dessen, was „interes‐ sant“ und somit erzählwürdig ist, auf eigene Vorstellungen und Erwartungen und gleichen sie mit dem individuellen Wissen über die jeweiligen Gegenüber 199 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch ab (vgl. auch Polanyi 1981, 1982). Fehleinschätzungen des angenommenen In‐ teressantheitsgrades der eigenen Erzählung können gravierende Folgen haben: To the extent that we are indeed members of one culture and share key ideas and values, one American will be able to rely upon his own views of what is ‚interesting‘, ‚noteworthy‘, and thus ‚narratable‘ to judge whether a story can be generally understood by a ‚reasonable‘, ‚normal‘ person and also be considered worth hearing. A narrator dare not misjudge what is worth telling a story about too often, lest he be punished by being considered boring, overly talkative, or generally socially inept. (ebd.: 211) Polanyi (1982: 515) leitet daraus ab, dass Sprecher*innen in der Pflicht seien, das Erzählwürdige ihrer Erzählung deutlich zu machen, da sie nicht per se davon ausgehen können, dass individuelle Relevanz auch automatisch allgemeine Relevanz bedeutet. Sie formuliert daraus die „Rule of Transitive Relevance“: „What is Close to You may be Relevant to Me if You are Close to Me.“ (ebd.: 521). Wir werden im Folgenden zwei Datenstücke präsentieren, an denen wir vergleichend herausarbeiten, dass subjektive Einschätzungen von Erzählwür‐ digkeit erstens sehr unterschiedlich gut interaktiv etabliert werden können und zweitens sehr unterschiedliche Folgen für den weiteren Verlauf eines Gesprächs haben. 3 Zwei Fallstudien 3.1 Datengrundlage und medialer Kontext Im Zentrum unseres Beitrags stehen zwei Gespräche aus der Call-in-Sendung „Domian“, die von April 1995 bis Dezember 2016 nachts zwischen ein und zwei Uhr auf dem Radio-Sender 1Live live gesendet wurde. Im Format des „abgefilmten Radios“ war der Moderator zudem gleichzeitig live im WDR-Fernsehen zu sehen, er wurde im Hörfunkstudio mit einer festen Kamera aufgezeichet. Die Anrufer*innen traten nur stimmlich, aber nicht sichtbar in Erscheinung; damit handelt es sich um dyadisch angelegte, öffentliche Telefonkommunikation (vgl. Große-Wörmann 1996: 6, 16 ff.). Die Sendung war auf die Person des Moderators Jürgen Domian zuge‐ schnitten, er unterhielt sich mit verschiedenen Anrufer*innen, die ihm in z.T. themengebundenen, z.T. thematisch offenen Sendungen Einblicke in ihr Leben gaben. Sehr häufig ging es dabei auch um persönliche Probleme der Anrufenden, eine Grenze der Intimität oder Tabuthemen gab es nicht (vgl. Große-Wörmann 1996: 26 ff.). 200 Heike Knerich/ Julia Sacher 1 Vgl. https: / / domianarchiv.de/ Domian (Stand: 01.10.2019) Charakteristisch für die Sendung war zum einen, dass der Moderator als „öffentlicher Privatmensch“ (Große-Wörmann 1996: 26) auftrat, der sich seriös (welt)offen, tolerant und einfühlsam zeigte, sich dabei aber auch mit persönli‐ chen Meinungen nicht zurückhielt. Zum anderen zeichnete sich die Sendung durch eine Zusammenarbeit mit psychologischen Fachleuten aus, an die die Anrufenden bei Bedarf verwiesen wurden. Die somit zwischen Entertainment und Seelsorge angelegte Sendung verfügte über ein Stammpublikum, das Gros der Zuschauer schaltete gezielt ein (vgl. Große-Wörmann 1996: 26 ff.). Die Auswahl der Anrufenden ging folgendermaßen vonstatten: Etwa eine Stunde vor Ausstrahlung der Sendung konnten sich potenzielle Anrufer*innen auf verschiedenen Wegen bei der Redaktion melden und so Gesprächsbereit‐ schaft signalisieren. Mehrere Redakteur*innen wählten aus den mehreren Hundert Anrufenden sechs bis zwölf Personen aus, die in einem Vorgespräch nochmals auf ihren allgemeinen psychischen Zustand, die technische Qualität der Verbindung usw. geprüft wurden. In einem letzten Auswahlgespräch entschied dann ein sogenannter Realisator über die letztliche Durchstellung der Anrufenden in die Sendung 1 (vgl. auch Große-Wörmann 1996: 30). Dieser war auch für den Ablauf der Sendung verantwortlich: Obwohl die Anrufer*innen bei Befragungen angaben, keinen Zeitdruck wahrzunehmen, ist bekannt, dass der Realisator dem Moderator mit einem akustischen Signal über die Kopfhörer zu verstehen gab, dass er aus zeitlichen und teilweise auch inhaltlichen Gründen eine Beendigung des Gesprächs einleiten sollte (vgl. Große-Wörmann 1996: 31). Bei Gesprächen gegen Ende der Sendung kam außerdem das Einspielen der Abspannmelodie hinzu, die allen Beteiligten das nahende Ende der Sendung signalisierte. Die beiden für diesen Aufsatz ausgewählten Gespräche entstammen zwei themengebundenen Sendungen: „rückgängig“ (Gespräch mit Klaus) bzw. „kein zurück“ (Gespräch mit Jasmin). Wir werden die beiden Gespräche im Folgenden in Hinblick darauf untersuchen, wie jeweils das, was die beiden Anrufenden inhaltlich beizutragen haben, gemeinsam mit (bzw. federführend von) dem Moderator Domian als erzählwürdig herausgearbeitet wird - oder auch nicht. Entscheidend ist hierbei die Frage nach den (gemeinsamen) Bewertungen der geschilderten Ereignisse als außergewöhnlich, und somit die Frage danach, welche geteilten Bewertungsmaßstäbe letztlich beeinflussen, wann ein Ereignis als potenzielle Erzählung behandelt wird (oder auch nicht), und so das Potenzial hat, zum Thema eines Gesprächs ausgebaut zu werden (oder auch nicht). 201 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch 2 Zur Initiierung von Themen im Gespräch vgl. z. B. Button und Casey (1984, 1985) sowie Gülich/ Mondada (2008: 85-93). 3 Transkriptionskonventionen GAT, siehe Selting et al. (1998). 3.2 Klaus, oder: Die gemeinsame Arbeit an einem wechselseitig als erzählwürdig ratifizierten Ereignis Klaus wird in einer Sendung zum Oberthema „rückgängig“ als letzter Anrufer durchgestellt und berichtet von seiner erfolgreich rückgängig gemachten Steri‐ lisation. Die Grundstruktur des Gesprächs sieht wie folgt aus: • Z. 001-002: Domian kündigt Klaus als nächsten Anrufer an und nennt sein Alter • Z. 003: Domian begrüßt Klaus • Z. 004: Klaus erwidert den Gruß • Z. 005: Klaus kündigt an, zum Schluss etwas Erfreuliches sagen zu wollen (story preface) • Z. 006-017: Klaus stellt kurz sein bisheriges Leben dar und begründet die Sterilisation (narrative preconstruction) • Z. 018-021: Klaus nennt den „Clou“ seines Anrufes, seine Vaterschaft • Z. 022-119: Domian und Klaus unterhalten sich über verschiedene As‐ pekte der Refertilisation (medizinische Details zum Ablauf, Details zum notwendigen Krankenhausaufenthalt, Erfolgsaussichten/ Zeitpunkt der anschließend eingetretenen Schwangerschaft, Spermaqualität nach Ein‐ griff) • Z. 121-128: Domian beginnt mit dem opening up closing (Schegloff/ Sacks 1973) und beendet das Gespräch mit Klaus • Z. 129: Domian verabschiedet sich von den Zuschauer*innen und beginnt gleichzeitig damit, die Sendung zu beenden 3.2.1 „zum Abschluss was erFREUliches“ - Eine Pointe wird vorbereitet Nach der Begrüßung und Eröffnung des eigentlichen Gesprächs mit Klaus kündigt dieser explizit an, „zum Abschluss was erFREUliches“ sagen zu wollen (005) 2 und gibt dann einen kurzen Abriss über sein bisheriges Leben - das sich allerdings auf den ersten Blick entgegen seiner initialen Ankündigung als objektiv wenig erfreulich darstellt: 3 202 Heike Knerich/ Julia Sacher 211 kündigt dieser explizit an, „zum Abschluss was erFREUliches“ sagen zu wollen (005) 76 und gibt dann einen kurzen Abriss über sein bisheriges Leben - das sich allerdings auf den ersten Blick entgegen seiner initialen Ankündigung als objektiv wenig erfreulich darstellt: 77 Transkriptausschnitt 1 005 Kl: [ja: (.) ich wOllte ma: l: : (-) zum Abschluss was erFREUliches sagen? 006 ganz kurz? (.) 007 ähm: (.) ich hatte nIch so ne gAnz schöne jUgend- (.) 008 ich bin vOllwaise- (.) 009 aUfgewachsen- (.) vier HEIme? (.) zwei pflegefamilien; (--) 010 °h also nich gAnz=so das gelbe vom EI? (--) 011 und hAtte mich dann in recht jUngen ja: hren dazu entschlOssen- 012 (.) so mit ZWANzich- (--) 013 mich steriliSIEren zu lAssen? 014 Do: hm=hm? 015 Kl: weil=ch gesAcht hab (.) 016 so kInder und so (-) m! M: : ! - (-) 017 war nich gAnz so dat rIchtige? 76 Zur Initiierung von Themen im Gespräch vgl. z.B. Button und Casey (1984, 1985) sowie Gülich/ Mondada (2008: 85-93). 77 Transkriptionskonventionen GAT, siehe Selting et al. (1998). Transkriptausschnitt 1 Klaus leitet die Aufzählung der bisherigen Stationen seines Lebens mit der vorangestellten, understatementartigen Bewertung ein, eine „nIch so ne gAnz schöne jUgend“ (007) gehabt zu haben. Dies stuft die in der nachfolgenden Aufzählung benannten Stationen in ihrer Relevanz herab (008-009) und wird in der abschließenden Bewertung „nich so gAnz=so das gelbe vom EI? “ (010) in einer parallel formulierten Klammerkonstruktion evaluativ wieder aufgenommen. Als Folge seines Heranwachsens in Heimen und Pflegefamilien schildet er seinen Entschluss zur Sterilisation (011-012) und begründet dies in direkter Redewiedergabe damit, dass „kInder und so […] nich gAnz so dat rIchtige“ für ihn gewesen seien (016-017). Auch hier findet sich ein ähnliches Understatement wie in der Darstellung seiner Kindheit und Jugend. Dieser Streifzug durch seine Biographie lädt an keiner Stelle dazu ein, Nach‐ fragen oder Aufforderungen zur Elaboration zu stellen: Klaus leitet ihn mit „ganz kurz“ (006) eher wie einen Einschub ein und produziert die Bestand‐ teile der Aufzählung in 008-009 mit nur minimalen Pausen und schnellen Turn-Anschlüssen. Zusammen mit der Relevanzherabstufung durch das Un‐ derstatement wird dieser Teil von Klaus‘ Geschichte im Sinne einer narrative preconstruction als Grundlage der eigentlichen Geschichte präsentiert, also als für den weiteren Verlauf relevante und notwendige, aber nicht weiter elaborierenswürdige Kontextinformation. Das erste Hörersignal von Domian erfolgt dann auch an einer Stelle, an der das Tempo etwas herausgenommen wird: Die Entscheidung zur Sterilisation wird von Klaus mit steigender Intonation am Einheitenende produziert (013), so dass ein Backchannelsignal eingefordert wird. Dieses wird von Domian produziert (014), der damit die für 203 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch Musterdatei NFA_Sammelband.dot 3.2.2 „eine glÜckliche ! TOCH! ter“ - point des Anrufes und Bezug zum Sendungsthema Nachdem die Entscheidung zur Sterilisation so aus der eigenen Biographie begründet wurde, wechselt Klaus in seiner Darstellung in die Gegenwart: Transkriptausschnitt 2 018 hEUte bin=ich siebenunDREIßich? (--) 019 hab seit sEchs jahren ne frAU? [(-) 020 Do: [hm=hm? 021 Kl: und hAbe (.) eine glÜckliche ! TOCH! ter.= 022 Do: =wie is denn DAS möglich. 023 Kl: hehe=ich hAb=es ! RÜCK! gängich machen l ↑ assen; = 024 Do: =AHja das kann man ja mAchen. 025 das stImmt. (.) ja. (-) [ja. Die Darstellung seiner Kindheit bzw. Jugend wird unterbrochen zugunsten eines Zeitsprungs ins „hEUte“ (018), in dem der nunmehr 37jährige Klaus verheiratet ist (019) und „eine glÜckliche ! TOCH! ter“ (021) hat. Die Nennung seines Alters und die Erwähnung seiner Ehe erfolgen prosodisch als Listenformat (Jefferson 1990, Selting 2004: 16 f., Knerich 2013: 134-153); dass er „ne frAU“ (019) hat, wird durch den verkürzten unbestimmten Artikel als vergleichbar nicht elaborierenswert präsentiert wie schon vorher die Stationen seiner Kindheit und Jugend. Auch wenn die Aussage zu seinem Familienstand eher lapidar und ohne erkennbare Evaluation geäußert wird, so wird sie aber mit erhöhter Intonation am Einheitenende produziert und so wiederum ein Backchannelsignal erwartbar gemacht. Domian quittiert dies entsprechend (020). Der strukturell erwartbare dritte Teil der Liste ist der insgesamt wichtigste Teil der Aufzählung und beinhaltet gleichzeitig das eigentliche Thema des Anrufes: Im nächsten Turn offenbart Klaus den Clou seines Anrufs, der darin besteht, dass er trotz seiner Vorgeschichte nun Vater ist. Diese Information wird auf mehrere Arten stilistisch von den bisherigen Ausführungen abgehoben: Einem Trommelwirbel gleich wird das Vorhandensein der Tochter mit einer kurzen Pause rhythmisch abgesetzt (021); der unverkürzte unbestimmte Artikel in Verbindung mit dem das weitere Gespräch relevante Information als verstanden markiert. Anstatt nun zum nächsten Punkt überzugehen, drosselt Klaus das Tempo weiter, indem er seine Entscheidung zur Sterilisation explizit begründet. Durch diese Schritte bereitet er gewissermaßen die Bühne für die weiteren Ereignisse: Bis dato hat er herausgearbeitet, unter welchen allgemein als negativ/ traurig zu bewertenden Umständen er aufgewachsen ist und welche Konsequenzen er daraus gezogen hat, ohne allerdings sein Gegenüber dazu einzuladen, diese Umstände weiter zum Thema zu machen. Dennoch ist die Darstellung der Umstände als vergleichsweise negativ funktional dafür, das eigentliche Thema des Gesprächs vorbereitend evaluativ zu kontrastieren und so in seiner Durchschlagkraft zu erhöhen. Dies geschieht im Anschluss. 3.2.2 „eine glÜckliche ! TOCH! ter“ - point des Anrufes und Bezug zum Sendungsthema Nachdem die Entscheidung zur Sterilisation so aus der eigenen Biographie begründet wurde, wechselt Klaus in seiner Darstellung in die Gegenwart: Transkriptausschnitt 2 Die Darstellung seiner Kindheit bzw. Jugend wird unterbrochen zugunsten eines Zeitsprungs ins „hEUte“ (018), in dem der nunmehr 37jährige Klaus verheiratet ist (019) und „eine glÜckliche ! TOCH! ter“ (021) hat. Die Nen‐ nung seines Alters und die Erwähnung seiner Ehe erfolgen prosodisch als Listenformat (Jefferson 1990, Selting 2004: 16 f., Knerich 2013: 134-153); dass er „ne frAU“ (019) hat, wird durch den verkürzten unbestimmten Artikel als vergleichbar nicht elaborierenswert präsentiert wie schon vorher die Stationen seiner Kindheit und Jugend. Auch wenn die Aussage zu seinem Familienstand eher lapidar und ohne erkennbare Evaluation geäußert wird, so wird sie aber mit erhöhter Intonation am Einheitenende produziert und so wiederum ein Backchannelsignal erwartbar gemacht. Domian quittiert dies entsprechend (020). Der strukturell erwartbare dritte Teil der Liste ist der insgesamt wichtigste Teil der Aufzählung und beinhaltet gleichzeitig das eigentliche Thema des Anrufes: Im nächsten Turn offenbart Klaus den 204 Heike Knerich/ Julia Sacher Clou seines Anrufs, der darin besteht, dass er trotz seiner Vorgeschichte nun Vater ist. Diese Information wird auf mehrere Arten stilistisch von den bisherigen Ausführungen abgehoben: Einem Trommelwirbel gleich wird das Vorhandensein der Tochter mit einer kurzen Pause rhythmisch abgesetzt (021); der unverkürzte unbestimmte Artikel in Verbindung mit dem positiv konnotierten Adjektiv „glÜcklich“ erzeugt einen evaluativen Kontrast zu den bisherigen Schilderungen und stellt außerdem die Verbindung zur in‐ itialen Ankündigung des „erfreulichen“ Themas her. „! TOCH! ter“ selbst wird mit sehr starkem Akzent produziert und so als das zentrale Element der Äußerung präsentiert. Klaus lässt also sowohl auf stilistisch-evaluativer als auch inhaltlicher Ebene gewissermaßen eine Bombe platzen, und Domian reagiert entsprechend darauf: Im schnellen Turn-Anschluss fragt er nach den Hintergründen (022) und ratifiziert so Klaus‘ inszenatorische und inhaltliche Bemühungen. Der wiederum reagiert mit einem Lachen auf die nun als gelungen erschienene darstellerische Überraschung (023) und erklärt, dass er „es“ rückgängig machen lassen habe (ebd.). „! RÜCK! gängig“ wird ebenfalls stark akzentuiert; hier lässt sich vermuten, dass dies den Zusammenhang zum Oberthema der Sendung verdeutlichen soll. Domian reagiert mit einem Verstehen signalisierenden „ahja“ (024) auf des Rätsels Lösung und gibt zu verstehen, dass er über diese medizinische Möglichkeit Bescheid weiß (024-025). 3.2.3 Evaluative Kontraste als Verfahren zur Relevanzhochstufung Bis hierhin lässt sich festhalten: Klaus nennt den point (Polanyi 1979) seines Anrufes nicht sofort, sondern inszeniert ihn auf verschiedene Arten. Dazu gehört zum einen die implizite Klarstellung, was gerade nicht das Thema des Anrufes ist: Nicht die Tatsache, dass er Vollwaise ist, nicht seine schlimme Kindheit und Jugend, und nicht die Entscheidung, keine eigenen Kinder haben zu wollen. Diese von außen betrachtet durchaus als potenziell erzählwürdig erscheinenden Ereignisse wurden durch unterschiedliche explizite Relevanz‐ herabstufungen, ein erhöhtes Darstellungstempo durch Aufzählungsbzw. Listenformate und schnelle Turnanschlüsse bei der Selbstwahl als dispräferierte Themen dargestellt. Rezipientenseitige Nachfragen oder ähnliche zu Elabora‐ tionen auffordernde Tätigkeiten wurden damit strukturell unwahrscheinlich gemacht und somit als gleichermaßen dispräferiert dargestellt; gleichzeitig wurden aber die notwendigen Kontextinformationen geliefert, um die Existenz seiner Tochter als außergewöhnliches und mithin erzählwürdiges Ereignis vorzubereiten. 205 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch Musterdatei NFA_Sammelband.dot Transkriptausschnitt 3 026 Kl: [geNAU, (-) 027 und obwOhl die prognOsen alle: : (.) ja: ; (.) recht negativ warn (-) ähm: (.) 028 isses in der regel SO dass man so prOben abgeben muss (.) 029 und=äh (-) ich KAM gar nich bis zur dritten prObe? (-) 030 und=äh (.) da kam meine frau an und=und[=ä: h (--) (also) 031 Do: [((lacht)) Klaus setzt nach einer kurzen Unterbrechung seine Schilderung fort, indem er von den anfangs eher negativen Prognosen seiner Refertilisationsbehandlung berichtet (027). Auch hier wird die negative Bewertung in ihrer Relevanz herabgestuft („recht negativ“) und dient dazu, die folgende Etappe seiner Erzählung zu akzentuieren: Trotz der „recht negativen“ Prognosen trat dann doch zügig eine Schwangerschaft ein. Diese überraschende Wendung wird nur angedeutet, indem als Einschub der Umstand erwähnt wird, dass nach der Behandlung „so prOben“ abgegeben werden müssen (028), deren genaue Anzahl - drei - nur implizit erwähnt wird (029). Die eingetretene Schwangerschaft seiner Frau wird nicht explizit genannt, sondern die Äußerung in einer Aposiopese-Konstruktion (vgl. Imo 2011) offengelassen (030). Dadurch muss die fehlende Information inferiert werden, was aber im Vorfeld durch die ausführliche Etablierung des Themas - die Existenz der Tochter - bereits gewährleistet wurde. Nach einem von Domian initiierten Exkurs zu medizinischen Details der Refertilisation werden die schlechten Prognosen als potenzieller Planbruch erneut von Klaus aufgegriffen: Transkriptausschnitt 4 049 Do: [aber dAs is ja ne tolle sAche (.) 050 das heißt (.) du=äh hatts EIgentlich was endgültiges da: schon entschIEden? (.) 051 und hast es dann rückgängich gemacht 052 Und es hat funktionIErt. 053 Kl: <<p> ja> Und wir hAtten auch- (-) gAnz schlEchte prognOsen- 054 ham gesAcht (.) oke: : (.) 055 m‘ mEhr wie rÜckgängig machen KANN mans nich (-) 056 wir probIErns [(--) 057 Do: [<<p> mh=hm? > Zu dieser Vorbereitung gehört außerdem die Kontrastierung entgegenge‐ setzter Bewertungen: Bereits im story preface dient der Kontrast zwischen der ankündigenden Bewertung des Gesamtthemas als „erfreulich“ und der dar‐ aufhin präsentierten, eher weniger erfreulichen Umstände von Klaus‘ Kindheit und Jugend dazu, die Existenz seiner Tochter als Thema des Anrufs vorzube‐ reiten und dramatisch zu inszenieren. Auch im weiteren Verlauf des Gesprächs wird dieses Verfahren eingesetzt, das in seiner argumentativen Struktur einer „erst war es schlecht, aber dann umso besser“-Logik folgt: Transkriptausschnitt 3 Klaus setzt nach einer kurzen Unterbrechung seine Schilderung fort, indem er von den anfangs eher negativen Prognosen seiner Refertilisationsbehandlung berichtet (027). Auch hier wird die negative Bewertung in ihrer Relevanz herabgestuft („recht negativ“) und dient dazu, die folgende Etappe seiner Erzählung zu akzentuieren: Trotz der „recht negativen“ Prognosen trat dann doch zügig eine Schwangerschaft ein. Diese überraschende Wendung wird nur angedeutet, indem als Einschub der Umstand erwähnt wird, dass nach der Behandlung „so prOben“ abgegeben werden müssen (028), deren genaue Anzahl - drei - nur implizit erwähnt wird (029). Die eingetretene Schwan‐ gerschaft seiner Frau wird nicht explizit genannt, sondern die Äußerung in einer Aposiopese-Konstruktion (vgl. Imo 2011) offengelassen (030). Dadurch muss die fehlende Information inferiert werden, was aber im Vorfeld durch die ausführliche Etablierung des Themas - die Existenz der Tochter - bereits gewährleistet wurde. Nach einem von Domian initiierten Exkurs zu medizinischen Details der Refertilisation werden die schlechten Prognosen als potenzieller Planbruch erneut von Klaus aufgegriffen: 206 Heike Knerich/ Julia Sacher 215 inferiert werden, was aber im Vorfeld durch die ausführliche Etablierung des Themas - die Existenz der Tochter - bereits gewährleistet wurde. Nach einem von Domian initiierten Exkurs zu medizinischen Details der Refertilisation werden die schlechten Prognosen als potenzieller Planbruch erneut von Klaus aufgegriffen: Transkriptausschnitt 4 049 Do: [aber dAs is ja ne tolle sAche (.) 050 das heißt (.) du=äh hatts EIgentlich was endgültiges da: schon entschIEden? (.) 051 und hast es dann rückgängich gemacht 052 Und es hat funktionIErt. 053 Kl: <<p> ja> Und wir hAtten auch- (-) gAnz schlEchte prognOsen- 054 ham gesAcht (.) oke: : (.) 055 m‘ mEhr wie rÜckgängig machen KANN mans nich (-) 056 wir probIErns [(--) 057 Do: [<<p> mh=hm? > Musterdatei NFA_Sammelband.dot Domian arbeitet in einer Paraphrase die entscheidenden Punkte von Klaus‘ Geschichte zusammenfassend heraus (049-052); hier ist nicht auszuschließen, dass dies auch als Explikation der wesentlichen Punkte für die Zuhörer*innen dient, also ein Effekt der Mehrfachadressierung des Settings ist. Weiterhin schließt er sich in einem evaluativen alignment („ne tolle sache“, 049) Klaus‘ eigener Bewertung als „erfreulich“ hyperbolisch an. Klaus greift das Subthema der Prognosen nach erfolgtem Eingriff erneut auf und geht erneut auf den Punkt ein, wie er und seine Partnerin damit umgegangen sind. Dies geschieht in direkter Redewiedergabe (054-056); Klaus präsentiert sich und seine Partnerin so als Pragmatiker*innen, die das Beste aus einer eventuell aussichtslosen Situation machen („mEhr wie rÜckgängig machen KANN mans nich“, 055). Auch dieses erneute Aufgreifen der Situation direkt nach dem Eingriff wird nicht weiter ausgeführt, weil auch hier der im Vorfeld etablierte zentrale Punkt „glückliche Tochter“ es erlaubt, den weiteren Fortgang zu erschließen. Auch die direkt im Anschluss produzierte Episode zu weiteren Details funktioniert nach dem Schema „erst war es schlecht, dann umso besser“: Transkriptausschnitt 5 058 Kl: die o PE war nich gAnz so ANgenehm? (--) 059 läufste immer rum mit som dicken kIssen zwischene be(h)EIne? 060 [(.) he (.) aber (-) äh Klaus wechselt thematisch zum eigentlichen operativen Eingriff, den er ebenfalls mit einem Understatement als „nich gAnz so ANgenehm“ (058) bewertet. Dies wird durch ein humoristisch präsentiertes Detail weiter ausgeschmückt und durch „within speech laughter“ (Jefferson 1979: 82) als „laughable“ (ebd.) präsentiert. Die vorige Bewertung der Operation als unangenehm wird dadurch weiter relativiert und aus dem thematischen Fokus gerückt; auch hier fungiert die Pointe „glückliche Tochter“ als implizite und kontrastive Bewertungsfolie. 3.2.4 Zusammenfassung Fallstudie 1 Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte an Klaus‘ Anruf bei Domian herausarbeiten: Transkriptausschnitt 4 Domian arbeitet in einer Paraphrase die entscheidenden Punkte von Klaus‘ Geschichte zusammenfassend heraus (049-052); hier ist nicht auszuschließen, dass dies auch als Explikation der wesentlichen Punkte für die Zuhörer*innen dient, also ein Effekt der Mehrfachadressierung des Settings ist. Weiterhin schließt er sich in einem evaluativen alignment („ne tolle sache“, 049) Klaus‘ eigener Bewertung als „erfreulich“ hyperbolisch an. Klaus greift das Subthema der Prognosen nach erfolgtem Eingriff erneut auf und geht erneut auf den Punkt ein, wie er und seine Partnerin damit umgegangen sind. Dies geschieht in direkter Redewiedergabe (054-056); Klaus präsentiert sich und seine Partnerin so als Pragmatiker*innen, die das Beste aus einer eventuell aussichtslosen Situation machen („mEhr wie rÜckgängig machen KANN mans nich“, 055). Auch dieses erneute Aufgreifen der Situation direkt nach dem Eingriff wird nicht weiter ausgeführt, weil auch hier der im Vorfeld etablierte zentrale Punkt „glückliche Tochter“ es erlaubt, den weiteren Fortgang zu erschließen. Auch die direkt im Anschluss produzierte Episode zu weiteren Details funktioniert nach dem Schema „erst war es schlecht, dann umso besser“: Transkriptausschnitt 5 Klaus wechselt thematisch zum eigentlichen operativen Eingriff, den er eben‐ falls mit einem Understatement als „nich gAnz so ANgenehm“ (058) bewertet. Dies wird durch ein humoristisch präsentiertes Detail weiter ausgeschmückt und durch „within speech laughter“ (Jefferson 1979: 82) als „laughable“ (ebd.) präsentiert. Die vorige Bewertung der Operation als unangenehm wird dadurch weiter relativiert und aus dem thematischen Fokus gerückt; auch 207 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch hier fungiert die Pointe „glückliche Tochter“ als implizite und kontrastive Bewertungsfolie. 3.2.4 Zusammenfassung Fallstudie 1 Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte an Klaus‘ Anruf bei Domian herausarbeiten: • Klaus berichtet als erzählendes Ich über eine Reihe vergangener Ereig‐ nisse mit positiven Folgen für die Gegenwart; es gibt eine zeitliche Pro‐ gression in seiner Geschichte (vgl. Polanyi 1979: 209 narrative structure bzw. event structure). • Die narrative preconstruction (Labov 2011) bzw. die descriptive structure (Polanyi 1979: 209) wird zu Beginn des Anrufes geliefert, um auf dieser Basis die erzählwürdigen Ereignisse ausbreiten zu können. • Die evaluative structure (vgl. ebd.) lebt von der Kontrastierung vergan‐ gener Ereignisse als „schlecht/ negativ“ (Kindheit und Jugend, Prognose nach Refertilisierung) vs. „gut/ erfreulich“ (Existenz der Tochter). • Insgesamt handelt es sich um culturally salient material (Polanyi 1981: 99), also um ein Ereignis, das sehr wahrscheinlich als „allgemein außer‐ gewöhnlich“ charakterisiert werden kann und dessen Erzählwürdigkeit nicht in Frage gestellt wird. Im Gegenteil, durch seine zu Detaillierung und Elaboration auffordernden Nachfragen signalisiert Domian, dass er das gesetzte Thema sowie den Punkt der Erzählung akzeptiert und diesen herausgearbeiteten point als übergeordnete Referenz für weitere Subplots akzeptiert. Zudem setzt Domian mehrfach die gute Passung von Klaus‘ Erzählung zum Sendungsthema „rückgängig“ relevant. 3.3 Jasmin, oder: Rezipientenseitige Arbeit am vermuteten point einer Geschichte Dass die frühzeitige Etablierung eines eindeutig erkennbaren Themas mit einem point und der entsprechenden Bewertung bzw. Erzählhaltung (narrative stance) ein relevanter Aspekt für die gemeinsame konversationelle Etablierung einer Erzählung ist, wird in unserem zweiten Datenbeispiel deutlich. Auch Jasmin ist die letzte Anruferin, die in einer Domian-Sendung durch‐ gestellt wird. Ähnlich wie bei Klaus handelt es sich um eine themengebundene Sendung (in diesem Fall zum Oberthema „kein zurück“), in der sie aufgrund ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft und der bevorstehenden Geburt an‐ ruft. Auf den ersten Blick ähnelt der Gesprächsverlauf dem des Klaus-Datums: 208 Heike Knerich/ Julia Sacher • Z. 001-002: Domian kündigt Jasmin als nächste Anruferin an und nennt ihr Alter • Z. 003: Domian begrüßt Jasmin • Z. 004: Jasmin erwidert den Gruß • Z. 005: Domian fordert Jasmin auf, ihren Bezug zum Sendungsthema darzustellen • Z. 006-009: Jasmin nennt das Thema ihres Anrufs • Z. 010-145: Domian und Jasmin unterhalten sich über verschiedene Aspekte des Themas • Z. 146-164: Domian beginnt mit dem opening up closing und beendet das Gespräch mit Jasmin • Z. 165-167: Domian verabschiedet sich von den Zuschauer*innen und beendet die Sendung Im Verlauf des Gesprächs wird allerdings deutlich, dass es Jasmin nicht in gleicher Weise gelingt, ein von beiden Gesprächsbeteiligten als solches akzeptiertes Thema zu etablieren, weil der point ihrer Geschichte unklar bleibt. Domian verwendet einige konversationelle Energie auf den Versuch, den point herauszuarbeiten. Ähnlich wie im Gespräch mit Klaus spielen auch hier Bewertungskontraste eine wichtige Rolle. Dies werden wir im Folgenden herausarbeiten. 3.3.1 „ich dEnk=mal ich hab zum Abschluss ein: (-) SCHÖnes thEma“ - Ein Thema wird (nicht) vorbereitet Ähnlich wie Klaus eröffnet Jasmin ihr Gespräch auf Domians Nachfrage mit einer positiv evaluierten Ankündigung: 209 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch 219 Transkriptausschnitt 6 005 Do: wAs is bei DIR dass du sa: gst (.) es gibt kein zurÜck mehr. 006 Ja: ä: : hm (.) ich dEnk=mal ich hab zum Abschluss ein: (-) SCHÖnes thEma? [(.) 007 Do: [mh=hm? 008 Ja: weil bei mir geht es da: rum dass=ich ähm: (--) nä: : chste woche mUtti werde; 009 <<all> wenn alles GUT wird.> [(-) ((lacht)) 010 Do: [! a! : : h (--) 011 [<<p> a: h> 012 Ja: [joa 013 (-) 014 Do: un: d (.) sAgst inWIEfern es gibt kein zurück mehr? 015 (-) 016 Ja: ähm: : ich dEnk=mal das is=n großer lEbensabschnitt un: d- (--) 017 es wird sich ja alles ändern. (.) 018 auf jeden <<lachend> fAll.>= 019 Do: =definitIv (.) es gibt kein zurÜck mehr (.) dass du: : - (.) 020 dass du KEIne mUtti wirst dann.=ne, 021 Ja: ge[NAU. (-) rIchtig. Unmittelbar nach der Begrüßung fordert Domian Jasmin mit einer offenen Frage auf, sich zum Sendungsthema zu verorten. Gleichzeitig lässt sich diese Frage als Erzählaufforderung interpretieren (005). Jasmin reagiert auf den etablierten strukturellen Zugzwang, indem sie wie Klaus eine initiale positive Bewertung ihres Themas vornimmt (006) und dies dann aber inhaltlich begründet (008-009). Bereits hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied zu Klaus‘ Geschichte: In seinem Fall können die in der Sendung thematisierten Ereignisse retrospektiv betrachtet und bewertet werden, weil sie schon mehrere Jahre zurückliegen. Dies ist bei Jasmin anders: Sie steckt mitten in den Ereignissen, und die Bewertung ihres Themas als positiv bzw. „schön“ (006) bezieht sich auf etwas, was erst noch geschehen wird bzw. in Bezug auf die Schwangerschaft noch andauert. Dies wird im weiteren Verlauf des Gesprächs zu einem genrebzw. aktivitätsbezogenen Missverständnis führen, das sich bereits hier anbahnt: Domian scheint eine Erzählung zu erwarten, bei der ein zurückliegendes Ereignis retrospektiv betrachtet und narrativ dargeboten wird, und das mindestens einen Planbruch beinhaltet. Als Reaktion auf Jasmins Eröffnung produziert Domian also ein prosodisch deutlich markiertes Verständnis-Signal (010-011), auf das Jasmin mit einem abschließenden „joa“ reagiert (012). Nach einer kurzen Pause Transkriptausschnitt 6 Unmittelbar nach der Begrüßung fordert Domian Jasmin mit einer offenen Frage auf, sich zum Sendungsthema zu verorten. Gleichzeitig lässt sich diese Frage als Erzählaufforderung interpretieren (005). Jasmin reagiert auf den etablierten strukturellen Zugzwang, indem sie wie Klaus eine initiale positive Bewertung ihres Themas vornimmt (006) und dies dann aber inhaltlich begründet (008-009). Bereits hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied zu Klaus‘ Geschichte: In seinem Fall können die in der Sendung thematisierten Ereignisse retrospektiv betrachtet und bewertet werden, weil sie schon mehrere Jahre zurückliegen. Dies ist bei Jasmin anders: Sie steckt mitten in den Ereignissen, und die Bewertung ihres Themas als positiv bzw. „schön“ (006) bezieht sich auf etwas, das erst noch geschehen wird bzw. in Bezug auf die Schwangerschaft noch andauert. Dies wird im weiteren Verlauf des Gesprächs zu einem genrebzw. aktivitätsbe‐ zogenen Missverständnis führen, das sich bereits hier anbahnt: Domian scheint eine Erzählung zu erwarten, bei der ein zurückliegendes Ereignis retrospektiv betrachtet und narrativ dargeboten wird, und das mindestens einen Planbruch beinhaltet. Als Reaktion auf Jasmins Eröffnung produziert Domian also ein prosodisch deutlich markiertes Verständnis-Signal (010-011), auf das Jasmin mit einem abschließenden „joa“ reagiert (012). Nach einer kurzen Pause hakt Domian nach und fordert Jasmin dadurch dazu auf, einen Bezug zum Sendungsthema „kein zurück“ zu explizieren (014). Jasmin kommt dem nach und bezieht sich auf den Stellenwert, den die bevorstehende Geburt des Kindes aus gesamtbiographischer 210 Heike Knerich/ Julia Sacher 220 hakt Domian nach und fordert Jasmin dadurch dazu auf, einen Bezug zum Sendungsthema „kein zurück“ zu explizieren (014). Jasmin kommt dem nach und bezieht sich auf den Stellenwert, den die bevorstehende Geburt des Kindes aus gesamtbiographischer Perspektive bei ihr haben wird („großer lEbensabschnitt“, 016-017). Dies wird von Domian bestätigt (auch hier könnte dies im Sinne der Mehrfachadressierung des Gesprächs funktional sein), und zusätzlich mit etwas Formulierungsarbeit (Gülich 1994) reformuliert (019-020) und erneut von Jasmin bestätigt (021). 3.3.2 „isses ein WUNSCHkind? “ - Auf der Suche nach dem point Im Gegensatz zum Gespräch mit Klaus, dessen Thema und point unmittelbar von Domian akzeptiert und als erzählwürdig behandelt wurden, bleibt eine solche Einigung hier aus. Wie bereits umrissen, wird im Verlauf des Gesprächs deutlich, dass dies mit der ausbleibenden formatspezifisch erwartbaren narrativen Rekonstruktion im Kontext der zeitlichen Situierung Jasmins in Relation zum Ereignisstrom zu tun hat - denn im Folgenden begibt sich Domian mit einer Reihe von Nachfragen, die auf mögliche vergangene Ereignisse zielen, auf die Suche nach dem, was möglicherweise die Erzählwürdigkeit (und damit auch den sehr wahrscheinlich unterstellten Grund des Anrufes) ausmacht. Transkriptausschnitt 7 022 Do: [((lacht)) 023 [isses denn- 024 Ja: [( ) 025 Do: isses en- (-) 026 isses ein WUNSCHkind? 027 Ja: auf jeden fAll. (.) ja. 028 Do: und der pApa is aUch da? 029 Ja: ja: ((lacht)) 030 Do: u: nd kEIne problEme- [(-) 031 Ja: [nee: 032 Do: kein unter DRUCK setzen- (.) Abtreibung- (.) 033 oder irgend SO etwas? = 034 Ja: =NEE: (.) ZUM glÜck nIch. (-) 035 also: - 036 (-) 037 Do: so rIchtig Alles schÖn (.) wie sich das gehÖrt. 038 Ja: genAU. 039 (-) Perspektive bei ihr haben wird („großer lEbensabschnitt“, 016-017). Dies wird von Domian bestätigt (auch hier könnte dies im Sinne der Mehrfachadressierung des Gesprächs funktional sein), und zusätzlich mit etwas Formulierungsarbeit (Gülich 1994) reformuliert (019-020) und erneut von Jasmin bestätigt (021). 3.3.2 „isses ein WUNSCHkind? “ - Auf der Suche nach dem point Im Gegensatz zum Gespräch mit Klaus, dessen Thema und point unmittelbar von Domian akzeptiert und als erzählwürdig behandelt wurden, bleibt eine solche Einigung hier aus. Wie bereits umrissen, wird im Verlauf des Gesprächs deutlich, dass dies mit der ausbleibenden formatspezifisch erwartbaren narra‐ tiven Rekonstruktion im Kontext der zeitlichen Situierung Jasmins in Relation zum Ereignisstrom zu tun hat - denn im Folgenden begibt sich Domian mit einer Reihe von Nachfragen, die auf mögliche vergangene Ereignisse zielen, auf die Suche nach dem, was möglicherweise die Erzählwürdigkeit (und damit auch den sehr wahrscheinlich unterstellten Grund des Anrufes) ausmacht. Transkriptausschnitt 7 Nach mehreren Restarts (023-025) fragt er, ob es sich um ein Wunschkind handele. Dies wird von Jasmin emphatisch bejaht (027). Die nächste Frage zielt darauf ab, ob der Kindsvater „aUch da“ sei (028); auch hier erfolgt eine unmittelbare Bestätigung (029). Die nächste Frage leitet eine Auswahl möglicher Problemstellungen im thematischen Kontext „Schwangerschaft“ ein: Domian fragt erst in generalisierter Form nach „kEIne problEme“ (030) und schlägt nach der erneuten Verneinung von Jasmin in 031 mögliche Kandidaten eines Planbruchs bzw. einer complicating action vor: „kein unter DRUCK setzen- (.) Abtreibung- (. ) oder irgend SO etwas? “ 211 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch Musterdatei NFA_Sammelband.dot Transkriptausschnitt 8 037 Do: so rIchtig Alles schÖn (.) wie sich das gehÖrt. 038 Ja: genAU. 039 (-) 040 Ja: wir sind alle sehr glÜcklich- 041 Do: ja=[a? ] 042 Ja: [(hab)] unterstützung von der famIlie- 043 Do: mh=[hm? 044 Ja: [un: : d- (--) 045 also bE[sser kann ich=s mir gar nich vOrstelln, 046 Do: [°hh 047 Ja: [( ) 048 Do: [bIs=du denn mit deinem freund schon länger zusAmmen? 049 Ja: fünf jAhre. 050 Do: <<f> ! FÜNF! ja: hre.>= 051 Ja: =ja= 052 Do: =<<f> ! O! u: : h.> 053 [(-) das is=ne lange zEIt. 054 Ja: [((lacht)) 055 Do: jEtz biste zweien[zwAnzich? 056 Ja: [<<p> genau.> 057 (-) 058 Do: und wie alt is dein frEUnd? 059 Ja: der is fÜmunzwanzich. 060 Do: ja=a- Jasmin bestätigt seine Zusammenfassung der Situation in 038 und elaboriert sie nach einer Pause in einer Listenkonstrukion ansatzweise, wobei sie Domians Evaluation der Gesamtsituation noch überhöht und ein rundum positives Bild zeichnet: Sie stellt einleitend fest, dass „wir [...] alle sehr glücklich“ (040) seien und auch Unterstützung von der Familie erhielten (042). Domians Hörersingale in 041 und 043 wirken dabei aufgrund der stark steigenden Intonation fortsetzungsauffordernd. Mit einem reformulierenden „also“ fasst Jasmin in 045 abschließend zusammen, dass sie es sich „bEsser [...] gar nich vOrstelln“ könne. (032-033). Auch dies wird von Jasmin entschieden verneint (034); sie beginnt einen neuen Turn mit einem reformulierenden „also: -“ (035), führt diesen aber nicht fort. Nach einer Pause fasst Domian zusammen: „so rIchtig Alles schÖn (.) wie sich das gehÖrt.“ (037), was Jasmin bejaht (038). Die Zusammenfassung Domians erscheint aus zwei Gründen interessant: Sie verweist einerseits unmittelbar darauf, dass hier offenbar eine Erzählung, also auch ein Planbruch irgendeiner Art, erwartet wurde, der in Jasmins Vergangenheit vermutet wird, also zu einem Zeitpunkt vor dem Gespräch in der Sendung. Andererseits und gleichzeitig wird deutlich, dass die - für Jasmin aus individueller Perspektive sicherlich sehr erzählwürdige und „personally interesting“ (Polanyi 1979: 211) - Schwangerschaft allein nicht als Gesprächsthema ausreicht, denn sie wird in diesem Rahmen nicht als culturally salient material behandelt - zumindest solange nicht noch weitere erzählwürdige Elemente hinzukommen. 3.3.3 „! O! u: : h. (-) das is=ne lange zEIt.“ - Auf der Suche nach dem point II Im Anschluss scheint Domian seine Gesprächstaktik zu ändern: Transkriptausschnitt 8 212 Heike Knerich/ Julia Sacher Jasmin bestätigt seine Zusammenfassung der Situation in 038 und elabo‐ riert sie nach einer Pause in einer Listenkonstrukion ansatzweise, wobei sie Domians Evaluation der Gesamtsituation noch überhöht und ein rundum positives Bild zeichnet: Sie stellt einleitend fest, dass „wir […] alle sehr glücklich“ (040) seien und auch Unterstützung von der Familie erhielten (042). Domians Hörersingale in 041 und 043 wirken dabei aufgrund der stark steigenden Intonation fortsetzungsauffordernd. Mit einem reformulierenden „also“ fasst Jasmin in 045 abschließend zusammen, dass sie es sich „bEsser […] gar nich vOrstelln“ könne. Diese Evaluation fungiert als Scharnierstelle: Sie reagiert auf Domians bis dato produzierte Nachfragen nach möglichen, sich in der Vergangenheit befindlichen Komplikationen und stellt implizit klar, dass hier, salopp gesagt, narrativ nichts zu holen ist. Gleichzeitig aktualisiert sie damit das Statement, mit dem sie in das Gespräch eingestiegen ist: Ihre aktuelle Situation ist rundum zufriedenstellend. Domian setzt nun an einem anderen Punkt an und fragt Jasmin danach, wie lange sie bereits mit ihrem Partner zusammen sei (046). Jasmin liefert diese Information in minimaler Ausführung (047), Domian rephrasiert ihre Antwort mit starker Betonung, wodurch er sie in der Relevanz hochstuft (048). Jasmin bejaht dies erneut (049), woraufhin Domian einen Ausruf des Erstaunens produziert (050) und erklärend anfügt, dass dies „ne lange zEIt“ (053) sei, vor allem in Relation zu Jasmins jungem Alter von 22 Jahren (055). Diese bestätigt Domians Nachfrage, ohne weiter zu elaborieren (056) und es entsteht eine Pause (057); ähnlich, als er nach dem Alter ihres Freundes fragt (058-059). Auch hier bleibt eine weitere Elaboration von Seiten Jasmins aus, so dass Domian schließlich ein neues Thema initiiert und danach fragt, ob die Schwangerschaft eine bewusste Entscheidung gewesen sei: 213 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch 223 Nachfrage, ohne weiter zu elaborieren (056) und es entsteht eine Pause (057); ähnlich, als er nach dem Alter ihres Freundes fragt (058-059). Auch hier bleibt eine weitere Elaboration von Seiten Jasmins aus, so dass Domian schließlich ein neues Thema initiiert und danach fragt, ob die Schwangerschaft eine bewusste Entscheidung gewesen sei: Transkriptausschnitt 9 062 Do: un: d äh (.) w‘ 063 das war deine buw‘ (.) bewus‘ (.) bewusste entscheidung 064 dass ihr gesagt habt (.) 065 o: ch- (.) jEtz is eigentlich ma ne gUte ZEIT (.) ä: h schwAnger zu werden. 066 Ja: genAU. (-) 067 also ich hab mir immer gesa: gt- (--) 068 °h ich wIll in meinem leben genug geREIST sein? (.) 069 un: d ä: : h (-) geFEIert (.) hab=ich aUch ge[nu: g- (--) 070 Do: [((lacht)) 071 Ja: un: d ä: h (-) [ARbeit- (.) hab=ich GUT gemAcht- (-) 072 Do: [°h 073 Ja: un: : d (.) dEnk=ich mal <<all> ich=hab viele erfAhrungen gesammelt-> (-) [°h 074 Do: [das is ja ! I! rre (-) wenn eine zwEIenzwanzichjährige sacht (--) 075 a: : : ch (.) ich hab so rIchtig schon alles krAchen lassen? (.) 076 ich hab geREIST? (.) ich hab geFEIert- (--) 077 °hh NUN? (---) kOmmt- (-) ein anderer ABschnitt. 078 (-) 079 Ja: joa. (-) 080 [( ) 081 Do: [<<schnell> dAs=is=ja schon verrÜckt? (.) 082 wenn man mit zwEIenzwanzich (.) DAS (-) schon so sa: gen kann. 083 Ja: genau. ((lacht)) 084 (1.5) Transkriptausschnitt 9 Domian inszeniert diese Frage nach einigen selbstinitiierten Selbstreparaturen als hypothetische Redewiedergabe und legt Jasmin und ihrem Freund ein mög‐ liches Zitat in den Mund (062-065). Auch dies bestätigt Jasmin zunächst nur mit „genau“ (066), greift dann aber dieses thematische Angebot auf und elaboriert es in einer listenförmig reduzierten narrativen Form: Sie verweist mittels einer eingeleiteten, an sich selbst gerichteten direkten Redewiedergabe darauf, dass sie bereits viele Dinge in ihrem Leben gemacht bzw. ausreichend Erfahrungen gesammelt habe und von dieser Perspektive ausgehend die Entscheidung zur Schwangerschaft gefallen sei (067-073). Domian setzt während ihrer Ausfüh‐ rungen einige Male an, den Turn zu übernehmen; schließlich evaluiert er Jasmins Ausführungen mit einer extreme case formulation (Pomerantz 1978) als „das is ja ! I! rre“ (074), wodurch Jasmins vorherige Ausführungen, ähnlich wie bereits zuvor, in ihrer Relevanz hochgestuft werden. Auch hier folgt eine erläuternde Ausführung (074-077), die erneut Jasmins vergleichsweise junges 214 Heike Knerich/ Julia Sacher Alter als Grund für das Erstaunen anführt. Nach einer Pause (077) bejaht Jasmin dies, erneut ohne eigeninitiativ zu elaborieren o. ä., und Domian wiederholt seine Bewertung in ähnlicher Form, indem er Jasmins knappe Aussagen zum bereits intensiv gelebten Leben und der darauf basierenden Entscheidung für die Familiengründung in jungen Jahren nun als „das=is=ja schon verrÜckt? “ (081) bewertet. Auch dies wird von Jasmin - lachend - bestätigt (083), woraufhin erneut eine längere Pause entsteht (084). Vergleicht man Domians Reaktionen hier und auch in Bezug auf Jasmins Beziehungsdauer in Relation zu ihrem Alter, so wird deutlich, dass hier Erzähl‐ würdigkeit konstruiert wird: Nicht die Schwangerschaft alleine scheint aus Domians Perspektive das Kriterium des Außergewöhnlichen zu erfüllen, doch weitere Aspekte aus Jasmins Leben, die in direktem Zusammenhang mit dieser Schwangerschaft stehen, werden in diesem Gespräch als solche behandelt. Dies geschieht durch Relevanzhochstufungen qua starker Betonung, Erstaunensdisplay durch extreme case formulations und Ausbau der entsprechenden Infor‐ mationen zu Subthemen des Gesprächs. Da Jasmin sich als eher zurückhaltende und wenig elaborierende Gesprächspartnerin zeigt, die aus eigener Initiative wenig neue rhematische Inhalte produziert, übernimmt Domian an dieser Stelle die Gesprächsführung und die Verantwortung für die Konstitution und Konstruktion von culturally salient material: vergleichsweise lange Beziehungs‐ dauer in jungem Alter, bewusste Entscheidung zur Schwangerschaft in jungen Jahren, und die Aussage, nach eigenem Ermessen bereits ausreichend Lebens‐ erfahrung gesammelt zu haben, um nun ein Kind bekommen zu können, werden so zu ungewöhnlichen Themen ausgebaut, die aus gesprächsorganisatorischer Perspektive immerhin das Potenzial haben, das Gespräch weiter aufrechtzuer‐ halten. Gleichzeitig wirken sie face-wahrend (Goffman 1971), insofern sie das Gespräch vor einem Stillstand bzw. vor längeren Redepausen bewahren und Domian darüber hinaus die Gelegenheit geben, sich sowohl als aufmerksamer Gesprächspartner zu präsentieren, als auch Jasmin zu schmeicheln. Auch im weiteren Verlauf des Gesprächs zielen Domians Aktivitäten darauf ab, potenzielle Themen und points zu explorieren: Jasmins aktuelle berufliche Situation, die Geburtsvorbereitungen, die Frage nach einer geplanten Hochzeit und nach dem Geschlecht des Kindes. Diese laufen allerdings in ähnlicher Weise ins Leere wie die Fragen nach möglichen Komplikationen im Vorfeld. Einzig die Fragen nach dem Namen des Kindes und nach der geplanten Kinderzahl erweisen sich erneut als „Treffer“, die es ihm ermöglichen, Jasmins Antwort zu einem Nebenthema auszubauen: 215 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch 226 Transkriptausschnitt 10 117 Do: jUnge. (.) 118 und der nAme? 119 (--) 120 Ja: rAfael. 121 Do: ! RA! f[ael- 122 Ja: [joa: : [((lacht)) 123 Do: [das is doch=n schÖner klAssischer nAme.= 124 Ja: =genAU- 125 Do: nich son modErner schnIckschnack- (-) euh: : (-) 126 n ganz schöner (.) klAssischer name. 127 Ja: rIchtig- 128 Do: °hh wie viele kInder mÖchts=du hAben? 129 (2.0) 130 Ja: öhm: : - (.) ja: : (.) 131 ich kUck ma wie=s nächste woche LÄUFT, [((lacht)) 132 Do: [((lacht)) 133 Ja: aber ähm: - (-) °h ich dAchte eigentlich so (.) ZWEI- 134 Do: so DAS=is ja so der dUrchschnitt [im moment (.) ne 135 Ja: [genAU- 136 Do: <<schnell> oder der> dUrchschnitt is glaube eins komma FÜNF oder so? 137 (-) 138 Ja: mh=hm? 139 Do: statIstisch gesEhn? (-) 140 wie wÄrs denn mit VIER oder fÜnf kIndern. ((Abspannmusik setzt ein)) 141 (--) 142 Ja: n: : [e: : (.) ich glaub nIch. 143 Do: [so wie FRÜher. 142 Ja: NEE=nEE ((lacht)) <<p> nee: > 144 Do: ((lacht)) Domian wiederholt Jasmins Antwort zum Geschlecht des Kindes (117) und fragt nach dem Namen (118). Jasmins Antwort (120) wird in ähnlicher Weise relevanzhochgestuft wie ihre Angabe zur Beziehungsdauer und zur Entscheidung, ein Kind zu bekommen: Durch eine Wiederholung mit extrem starker Betonung (121) und einer anschließenden expliziten Bewertung: Rafael sei „doch=n schÖner klAssischer nAme.“ (123), was von Jasmin bestätigt wird, und „nich son modErnder schnIckschnack“ (125). Das Außergewöhnliche wird hier paradoxerweise im eher Gewöhnlichen verortet, nämlich in der Entscheidung, dem Kind einen „klassischen“ Namen zu geben, anstatt einem, der „modern“ Transkriptausschnitt 10 Domian wiederholt Jasmins Antwort zum Geschlecht des Kindes (117) und fragt nach dem Namen (118). Jasmins Antwort (120) wird in ähnlicher Weise relevanzhochgestuft wie ihre Angabe zur Beziehungsdauer und zur Entschei‐ dung, ein Kind zu bekommen: Durch eine Wiederholung mit extrem starker Betonung (121) und einer anschließenden expliziten Bewertung: Rafael sei „doch=n schÖner klAssischer nAme.“ (123), was von Jasmin bestätigt wird, und „nich son modErnder schnIckschnack“ (125). Das Außergewöhnliche wird hier paradoxerweise im eher Gewöhnlichen verortet, nämlich in der Entscheidung, dem Kind einen „klassischen“ Namen zu geben, anstatt einem, der „modern“ und „Schnickschnack“ sei. Domian schließt diese Erklärung mit der Wiederholung seiner Bewertung ab (126), was Jasmin bestätigt (127). Domians nächste Frage kommt in zügigem Anschluss (128); nach einer Denkpause (129) reagiert Jasmin mit einem Display von Unsicherheit und Hesitationssignalen (130); sie verweist 216 Heike Knerich/ Julia Sacher 227 lung seiner Bewertung ab (126), was Jasmin bestätigt (127). Domians nächste Frage kommt in zügigem Anschluss (128); nach einer Denkpause (129) reagiert Jasmin mit einem Display von Unsicherheit und Hesitationssignalen (130); sie verweist schließlich in scherzhafter Weise auf die unmittelbar bevorstehende Geburt (131), bevor sie eine Antwort gibt (133). Auch dies greift Domian auf; dieses Mal allerdings bearbeitet er ihre Antwort nicht als außergewöhnlich, sondern im Gegenteil als durchschnittskonform (134-139). Jasmin reagiert erneut ausschließlich bestätigend und nicht im Geringsten elaborierend auf seine Äußerungen. Als er fragt, ob auch mehr als zwei Kinder in Frage kommen könnten (140), reagiert sie nach einer kurzen Denkpause mit einer entschiedenen Verneinung (142). Während dieses Austausches setzt die Abspannmusik ein und signalisiert das unmittelbar bevorstehende Ende der Sendung. Domians nächster Turn fungiert dann auch eindeutig als explizites opening up closing und setzt ein Endsignal: Transkriptausschnitt 11 145 Ja: [(also) 146 Do: [°hh <<f> ! JA! > (-) jasMIN. 147 (1.5) 148 Do: dann wÜnsch=ich dir‘ 149 oder wir wÜnschen dir natÜrlich Alle SEHR=sehr viel glÜck? 150 Ja: [dAnkeschön Auch wenn es so aussieht, als würde Jasmin in 145 zu einer Elaboration oder zumindest Reformulierung ansetzen, unterbricht Domian sie mit einem abschließenden, stark akzentuierten „! JA! (-) jasMIN.“ (146), und fügt nach einer Pause gute Wünsche an, die schließlich im Austausch von Abschiedsformeln und wechselseitigem Beenden des Gesprächs münden. 3.3.4 Zusammenfassung Fallstudie 2 Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte an Jasmins Anruf bei Domian herausarbeiten: • Jasmin verkündet ein in naher Zukunft bevorstehendes positives Ereignis, ohne dies weiter zu elaborieren. Dies wird von Domian als Ankündigung einer folgenden Erzählung behandelt. schließlich in scherzhafter Weise auf die unmittelbar bevorstehende Geburt (131), bevor sie eine Antwort gibt (133). Auch dies greift Domian auf; dieses Mal allerdings bearbeitet er ihre Antwort nicht als außergewöhnlich, sondern im Ge‐ genteil als durchschnittskonform (134-139). Jasmin reagiert erneut ausschließ‐ lich bestätigend und nicht im Geringsten elaborierend auf seine Äußerungen. Als er fragt, ob auch mehr als zwei Kinder in Frage kommen könnten (140), reagiert sie nach einer kurzen Denkpause mit einer entschiedenen Verneinung (142). Während dieses Austausches setzt die Abspannmusik ein und signalisiert das unmittelbar bevorstehende Ende der Sendung. Domians nächster Turn fungiert dann auch eindeutig als explizites opening up closing und setzt ein Endsignal: Transkriptausschnitt 11 Auch wenn es so aussieht, als würde Jasmin in 145 zu einer Elaboration oder zumindest Reformulierung ansetzen, unterbricht Domian sie mit einem abschließenden, stark akzentuierten „! JA! (-) jasMIN.“ (146), und fügt nach einer Pause gute Wünsche an, die schließlich im Austausch von Abschiedsformeln und wechselseitigem Beenden des Gesprächs münden. 3.3.4 Zusammenfassung Fallstudie 2 Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte an Jasmins Anruf bei Domian herausarbeiten: • Jasmin verkündet ein in naher Zukunft bevorstehendes positives Ereignis, ohne dies weiter zu elaborieren. Dies wird von Domian als Ankündigung einer folgenden Erzählung behandelt. • Anhand von Domians Suche nach dem Punkt, der Formulierungsarbeit in seinen Äußerungen und der Pausenstruktur zu Beginn des Gesprächs lässt sich rekonstruieren, dass sowohl die formatspezifisch erwartete Darstellungsform des Erzählens „officially absent“ (Schegloff 1972: 389) ist, als auch, dass die Verkündigung der Schwangerschaft allein nicht als culturally salient material und im Kontext der Talk-Radio-Sendung auch nicht als ausreichendes Gesprächsthema behandelt wird. 217 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch • Ein point kann auch deshalb nicht hergestellt werden, weil Jasmin sich zum einen zeitlich als mitten in den Ereignissen sowie in Erwartung zuküftiger Ereignisse positioniert, und sie zum anderen keine Bewer‐ tungskontraste, die einem Planbruch zugrunde liegen könnten, herstellt. So rekonstruiert sie einzig ihre Biographie ansatzweise narrativ und die gemeinsam hergestellte Bewertungsstruktur besteht aus einer durch‐ gängig positiven Einschätzung Jasmins, die Domian in zunehmendem Maße emphatisch hochstuft. Da Bewertungen als first turn konditionelle Relevanz erzeugen (vgl. Auer/ Uhmann 1982), kann man vermuten, dass dies eine Involvement-Strategie Domians ist, mit der er Jasmin zu mögli‐ chen Elaborationen einlädt. • Eingangs handelt es sich um ausschließlich personally interesting material, also um ein Ereignis, das vor allem für die Erzählerin relevant ist. Auffällig ist, dass Jasmin - im Gegensatz zu den meisten Anrufer*innen bei Domian (vgl. Große-Wörmann 1996: 124 ff.) - dabei keine Anstrengungen macht, dieses im Kontext der bimedialen Call-in-Sendung zumindest als socially interesting zu präsentieren. Die Arbeit daran bleibt dem Moderator über‐ lassen, der sich - nach erfolgloser Suche nach dem Punkt - bemüht, interaktiv Außergewöhnlichkeit in der Gewöhnlichkeit zu konstruieren. 4 Zusammenfassung und Fazit That is to say, your friends are not going to help you out, by and large, when you tell them some story, unless you tell them a story in the way anybody should tell it to anybody. Then they will be appropriately amused or sorrowed. Otherwise you will find that they are watching you to see that, for example, you are making something big out of something that you are not entitled to make big, or something small that should have been bigger, or missed seeing something that you should have seen, all of which could be deduced by virtue of the way you requiredly formed the thing up. (Sacks 1984: 428 f.) Ausgehend vom gesprächsanalytischen Erzählbegriff und besonders dem Kon‐ zept der interaktiv konstituierten und kulturell eingebetteten Erzählwürdigkeit haben wir zwei mediale Gespräche analysiert. Aufgrund des ähnlichen Sen‐ dungsthemas („rückgängig“, „kein zurück“) und der jeweiligen Platzierung am Ende der Sendung sind die beiden Datenstücke gut vergleichbar. Wir haben gezeigt, dass im ersten Gespräch eine narrative Rekonstruktion zustande kommt, die vom Anrufer Klaus initiiert wird. Domians intensive Rückfragen und Reaktionen sind dabei sicherlich auch auf die Mehrfachadressierung im Rahmen der bimedialen Call-in-Sendung zurückzuführen. Im zweiten Gespräch 218 Heike Knerich/ Julia Sacher wird dagegen nicht bzw. an einer Stelle minimal erzählt, obwohl der Moderator zu Beginn des Gesprächs nach narrativ ausführbaren Anknüpfungspunkten von Jasmins Thema sucht. Klaus erweist sich in für die Sendung typischer Weise (vgl. Große-Wörmann 1996) als kompetenter Gesprächspartner und damit auch als kompetenter Teilnehmer am medialen, mehrfachadressierten Gespräch. Er bereitet narrativ den Boden, um ein zum Sendungsthema passendes Ereignis zu rekonstruieren. Dabei rekurriert er geschickt auf einen Bewertungskontrast, um eine evaluative Grundstruktur aufzubauen, indem er vergangene Ereignisse als „schlecht/ ne‐ gativ“ mit dem „Clou“ seines Anrufs, der Existenz seiner Tochter, als „gut/ erfreu‐ lich“ kontrastiert. Der Moderator Domian signalisiert durch seine Reaktionen und Rückfragen, dass er Thema und point akzeptiert und setzt die Passung zum Sendungsthema relevant. Insgesamt unterstützt und ratifiziert Domian damit Klaus‘ Darstellung als erzählwürdig, es handelt sich damit um im medialen Rahmen interaktiv etabliertes socially interesting material. Da diese interaktive Konstituierung von Erzählwürdigkeit auch über die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses selbst verläuft, kann es als culturally salient material betrachtet werden. Auf der Folie des Gesprächs mit Klaus wirkt Jasmins Anruf beinahe wie ein Krisenexperiment (Garfinkel 1967): Sie begnügt sich damit, ihre Schwan‐ gerschaft und die bevorstehende Geburt ihres Kindes zu verkünden. Danach überlässt sie es weitgehend Domian, daraus ein im medial mehrfachadressierten Rahmen interessantes Thema zu machen. Dieser begibt sich dann zunächst auf die Suche nach dem narrativen Potenzial von Jasmins Ankündigung. Als er hier nicht fündig wird, versucht er verschiedene Aspekte des Themas auszubauen, was ihm dann auch an zwei Stellen gelingt, an denen Jasmins Ausführungen zumindest ein wenig über das Minimale hinausgehen. Das „krisenhafte“ für Domian ist erkennbar an der herausgearbeiteten Pausenstruktur, besonders zu Beginn des Gesprächs, und im weiteren Verlauf an der erhöhten Formulie‐ rungsarbeit sowie an der zunehmend emphatischen Hochstufung von Jasmins positiven Bewertungen. Aus individuell biographischer Sicht ist Jasmins Situation sicherlich außerge‐ wöhnlich: Ereignisse wie Schwangerschaft und Geburt von Kindern, Eheschlie‐ ßungen, aber auch Krankheit und Tod stellen zentrale Einschnitte im Leben einer Person dar. Das aus der Kulturanthropologie stammende Konzept der Statuspassagen fasst dies zusammen und bezieht sich dabei auf Lebensphasen, die einen verändernden Effekt auf die Selbstkonzepte von Personen haben können (vgl. van Gennep 1960, Turner 1969, Friebertshäuser 1992, Beech 2010). Charakteristisch für Statuspassagen im Leben von Personen ist dabei, dass 219 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch der soziale Status des Individuums vor und nach der Passage ein anderer ist - Statuspassagen also mit Reorganisationen und Veränderungen der Identität einhergehen. Während das Individuum in der sog. „liminalen Phase“ (Turner 1969: 95) „betwixt and between“ (ebd.) ist und nach van Gennep (1960: 67) Eigenschaften des Zustandes sowohl vor als auch nach der Statuspassage in sich vereint, erreicht es mit dem Durchleben der Passage einen sozial aufgewerteten Status. Dies betrifft sowohl das Selbstbild der betroffenen Personen, als auch die gesellschaftliche Außenperspektive auf sie. Diese Perspektive bietet einen möglichen Erklärungsansatz für die unter‐ schiedlichen konversationellen Handlungsweisen vor allem Jasmins und Do‐ mians: Aus Jasmins Perspektive scheint die bloße Verkündung ihrer Schwan‐ gerschaft schon als erzählwürdiges Moment auszureichen; sie scheint sich dabei auf eine Art metakulturelles Narrativ zu beziehen, das vor dem Hintergrund des Statuspassagen-Konzeptes als kulturell salientes Material im Sinne Polanyis betrachtet werden kann. Aus Perspektive Domians ist aber die Schwangerschaft vor allem persönlich interessant - um sie zu einem im Rahmen der Sendung pas‐ senden und erzählwürdigen Thema zu machen, müssen offenbar noch weitere (wesentlich dramatischere! ) Aspekte hinzukommen. Dies wird an seinen Ver‐ suchen deutlich, den Punkt zu finden und seinen anschließenden Bemühungen interaktiv Außergewöhnlichkeit in der Gewöhnlichkeit zu konstruieren. Literatur Auer, Peter/ Uhmann, Susanne (1982). Aspekte der konversationellen Organisation von Bewertungen. In: Deutsche Sprache 10, 1-32. Bamberg, Michael (2009). Identity and narration. In: Hühn, Peter/ Pier, John/ Schmid, Wolf/ Schönert, Jörg (Hrsg.). Handbook of Narratology. Berlin/ New York: de Gruyter, 132-142. Beech, Nic (2010). Liminality and the practices of identity reconstruction. In: Human Relations 64 (2), 285-302. Benwell, Bethan/ Stokoe, Elizabeth (2012). Discourse and identity. 5th ed. Edinburgh: Edinburgh University Press. Berger, Peter/ Luckmann, Thomas (1969/ 2010). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. 23. Aufl. Frankfurt/ Main: Fischer. Bergmann, Jörg (2000). Reinszenieren in der Alltagsinteraktion. In: Streeck, Ulrich (Hrsg.). Erinnern, Agieren und Inszenieren: Enactments und szenische Darstellungen im therapeutischen Prozess. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 203-221. Brockmeier, Jens (2003). Die Zeit meines Lebens. In: Journal für Psychologie, 11, 1, 4-32. Bruner, Jerome (1990). Acts of meaning. Cambridge, MA: Harvard University Press. 220 Heike Knerich/ Julia Sacher Burger, Harald (2005). Mediensprache: Eine Einführung in Sprache und Kommunikati‐ onsformen der Massenmedien. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Berlin/ New York: de Gruyter. Button, Graham/ Casey, Neil (1985). Topic nomination and topic pursuit. In: Human Studies 8, 3-55. Button, Graham/ Casey, Neil (1984). Generating topic: The use of topic initial elicitors. In: Atkinson, J. Maxwell/ Heritage, John (Hrsg.). Structures of Social Action: Studies in Conversation Analysis. Cambridge: Cambridge University Press, 167-190. DeFina, Anna/ Georgakopoulou, Alexandra (2012). Analyzing narrative: Discourse and sociolinguistic perspectives. New York: Cambridge University Press. Friebertshäuser, Barbara (1992). Übergangsphase Studienbeginn: Eine Feldstudie über Riten der Initiation in eine studentische Fachkultur. Weinheim/ München: Juventa. Garfinkel, Harold (1967). Studies in ethnomethodology. 13th ed. Cambridge: Polity Press. Georgakopoulou, Alexandra (2007). Small stories, identity, and interaction. Ams‐ terdam/ Philadelphia: John Benjamins. Goffman, Erving (1971). Techniken der Imagepflege. In: ders. Interaktionsrituale: Über Verhalten in direkter Interaktion. Frankfurt/ Main: Fischer, 10-53. Goodwin, Charles (1986). Audience diversity, participation and interpretation. In: Text 6 (3), 283-316. Goodwin, Charles/ Goodwin, Marjorie Harness (1987). Concurrent operations on tak: Notes on the interactive organization of assessments. In: IPRA Papers in Pragmatics 1, No. 1, 1-54. Gülich, Elisabeth (1994) Formulierungsarbeit im Gespräch. In: Čmejrková, Světla/ Daneš, František/ Havlová, Eva (Hrsg.). Writing vs. Speaking: Language, Text, Discourse, Communication. Proceedings of the Conference held at the Czech Language Institute of the Academy of Sciences of the Czech Republic, Prague, October 14-16, 1992. Tübingen: Narr, 77-95. Gülich, Elisabeth (2008). Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik (ZGL) 36.3, 403-426. Gülich, Elisabeth/ Hausendorf, Heiko (2000), Vertextungsmuster: Narration. In: Antos, Gerd/ Brinker, Klaus/ Heinemann, Wolfgang/ Sager, Sven F. (Hrsg.). Text- und Ge‐ sprächslinguistik: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halb‐ band: Textlinguistik. Berlin: de Gruyter, 369-385. Gülich, Elisabeth/ Mondada, Lorenza (2008). Konversationsanalyse: Eine Einführung am Beispiel des Französischen. Tübingen: Niemeyer. Gülich, Elisabeth (2017). Medizin. In: Martínez, Matías (Hrsg). Erzählen: Ein interdiszi‐ plinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, 140-148. 221 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch Haagen, Miriam/ Knerich, Heike (2019). Jugendlichen zuhören: Gespräche über den Tod des Vaters. Eine qualitative Studie. In: Persönlichkeitsstörungen - Theorie und Therapie 3/ 2019, 225-235. Hoffmann, Ludger (1984). Berichten und Erzählen. In: Ehlich, Konrad (Hrsg.). Erzählen in der Schule. Tübingen: Narr. S. 55-66. Imo, Wolfgang (2011). Cognitions are not observable - but their consequences are: Mögliche Aposiopese-Konstruktionen in der gesprochenen Alltagssprache. In: Ge‐ sprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Ausg. 12 (2011), 265-300. Jefferson, Gail (1990). List-construction as a task and a resource. In: Psathas, George (Hrsg.). Interaction Competence. Washington, D.C. : University Press of America, 63-92. Jefferson, Gail (1979). A technique for inviting laughter and its subsequent acceptance declination. In: Psathas, George (Hrsg.). Everyday language: Studies in ethnometho‐ dology. New York: Irvington Publishers, 79-95. Kallmeyer, Werner/ Schütze, Fritz (1976). Zur Konstitution von Kommunikationssche‐ mata der Sachverhaltsdarstellung. In: Wegner, Dirk (Hrsg.). Gesprächsanalysen: Vorträge, gehalten anlässlich des 5. Kolloquiums des Instituts für Kommunikations‐ forschung und Phonetik, Bonn, 14.-16. Oktober 1976. Hamburg: Buske, 159-274. Knerich, Heike (2013). Vorgeformte Strukturen als Formulierungsressource beim Spre‐ chen über Angst und Anfälle. Berlin: Logos. Knerich, Heike (2015). Konzepte der Vorgeformtheit und Wiedererzählen. In: Schu‐ mann, Elke/ Gülich, Elisabeth/ Lucius-Hoene, Gabriele/ Pfänder, Stefan (Hrsg.). Wie‐ dererzählen: Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis. Edition Kulturwissen‐ schaft, 50. Bielefeld: transcript, 33-59. Kotthoff, Helga (2017). Erzählen in Gesprächen: Eine Einführung in die konversations‐ analytische Erzählforschung mit Übungsaufgaben. Freiburger Arbeitspapiere zur Germanistischen Linguistik 38, 1-77. Labov, William (1972). The transformation of experience in narrative syntax. In: Labov, William. Language in the inner city: Studies in the Black English vernacular. Philadel‐ phia, PA: University of Philadelphia Press, 354-396. Labov, William (2011). Oral narratives of personal experience. In: Hogan, Patrick C. (Hrsg.). Cambridge encyclopedia of the language sciences, 546-548. Labov, William/ Waletzky, Joshua (1967). Narrative analysis: oral versions of personal experience. In: Helm, June (Hrsg.). Essays on the verbal and visual arts. Seattle: University of Washington Press, 12-44. Lucius-Hoene, Gabriele/ Deppermann, Arnulf (2002). Rekonstruktion narrativer Iden‐ tität: Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 222 Heike Knerich/ Julia Sacher Mulholland, Joan (1996). A series of turns: Intertextuality and collegiality. In: Text 16 (4), 535-555. Polanyi, Livia (1979). So what’s the point? In: Semiotica 25 - 3/ 4, 207-241. Polanyi, Livia (1981). What stories can tell us about their teller’s world. In: Poetics Today, Vol. 2, No. 2, 91-112. Polanyi, Livia (1982). Linguistic and social constraints on storytelling. In: Journal of Pragmatics 6, 509-524. Polkinghorne, Donald E. (1991). Narrative and Self-Concept. In: Journal of Narrative and Life History 1 (2&3), 135-153. Pomerantz, Anita (1978). Extrem Case Formulations: A way of legitimizing claims. In: Human Studies 9, Issue 2-3, 219-229. Quasthoff, Uta M. (1980) Erzählen in Gesprächen: Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikation des Alltags. Tübingen: Narr. Quasthoff, Uta M. (1986). Kommunikative Muster bei Kindern: Entwicklung oder Inter‐ aktion? In: Narr, Brigitte/ Wittje, Hartwig (Hrsg.). Spracherwerb und Mehrsprachig‐ keit/ Language Acquisition and Multilingualism. Festschrift for Els Oksaar. Tübingen: Narr. S. 79-91. Rehbein, Jochen (1984). Beschreiben, Berichten und Erzählen. In: Ehlich, Konrad (Hrsg.). Erzählen in der Schule. Tübingen: Narr, 67-124. Sacher, Julia (2012). Sprechen über sich selbst als kontrastives Verfahren: Die Etablierung von ALTER-EGO-Positionen, Identitätskonstruktion und Selbstdarstellung im Inter‐ view. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung. Sacher, Julia (2017). The passage of time as a narrative resource in constructing a „better“ self. In: Bagga-Gupta, Sangeeta/ Lyngvaer-Hansen, Aase/ Feilberg, Julie (Hrsg.). Iden‐ tity revisited and reimagined: Empirical and theoretical contributions on embodied communication across time and space. Berlin: Springer, 141-165. Sacks, Harvey (1984). On doing being ordinary. In: Atkinson, J. Maxwell/ Heritage, John (Hrsg.). Structures of social action. Studies in conversation analysis. Cambridge (u. a.): Cambridge University Press, 413-429. Sacks, Harvey (1986). Some considerations of a story told in ordinary conversation. In: Poetics 15, 127-138. Sacks, Harvey/ Schegloff, Emmanuel A./ Jefferson, Gail (1974). A simplest systematics for the organization of turn taking for conversation. In: Language 50/ 4, 696-735. Sandig, Barbara (1979). Ausdrucksmöglichkeiten des Bewertens: Ein Beschreibungs‐ rahmen im Zusammenhang eines fiktionalen Texts. In: Deutsche Sprache 7, 137-159. Schegloff, Emanuel A. (1972). Sequencing in conversational openings. In: Laver, John, Hutcheson, Sandy (Hrsg.). Communication in face to face interaction: Selected readings. Harmondsworth: Penguin Books, 374-405. 223 "das is ja ! I! rre" - (Außer-)Gewöhnliches im Gespräch Schegloff, Emanuel A. (1982). Discourse as Interactional Achievement: Some Uses of 'uh huh' and Other Things That Come Between Sentences. In: Tannen, Deborah (Hrsg.). Analyzing Discourse: Text and Talk. Washington, D.C.: Georgetown University Press, 71-93. Schegloff, Emanuel A./ Sacks, Harvey (1973). Opening up closings. In: Semiotica, Vol. 8, No. 4, 289-327. Schumann, Elke/ Gülich, Elisabeth/ Lucius-Hoene, Gabriele/ Pfänder Stefan (2015). Wie‐ dererzählen: Eine Einleitung. In: Schumann, Elke/ Gülich, Elisabeth/ Lucius-Hoene, Gabriele/ Pfänder Stefan (Hrsg.): Wiedererzählen. Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis. Bielefeld: transcript, 9-30. Schütz, Alfred/ Luckmann, Thomas (2003). Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UVK. Selting, Margret (2004). Listen: Sequenzielle und prosodische Struktur einer kommuni‐ kativen Praktik - eine Untersuchung im Rahmen der Interaktionalen Linguistik. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 23, 1-46. Selting, Margret/ Auer, Peter/ Barden, Birgit/ Bergmann, Jörg/ Couper-Kuhlen, Eliza‐ beth/ Günthner, Susanne/ Quasthoff, Uta/ Meier, Christoph/ Schlobinski, Peter / Uh‐ mann, Susanne (1998): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem (GAT): In: Lin‐ guistische Berichte 173, 91-122. Turner, Victor (1969). Liminality and communitas. In: ders. The ritual process: Structure and anti-structure. New York: Cornell University Press, 94-130. Van Gennep, Arnold (1960). Initiation rites. In: ders. The rites of passage. A classic study of cultural celebrations. Chicago: The University of Chicago Press, 65-115. Virtanen, Tuija (1992). Issues of text typology: Narrative - a ‚basic‘ type of text? In: Text 12 (2), 293-31. 224 Heike Knerich/ Julia Sacher „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. Gesprächsanalytische Betrachtungen von Proberunden zum Lernen von Gesellschaftsspielen Peter Menke 1 Einführung Dieser Beitrag thematisiert Gespräche, die während des Spielens einzelner Partien von Brett-, Würfel- oder Kartenspielen stattfinden. Speziell wird als spezifische Situation das erstmalige Spielen eines solchen Spiels thematisiert, und es wird neben den generellen Phänomenen solcher Spielinteraktionen auch dieser Erstkontakt mit den Regeln des Spiels inklusive verschiedener Bewältigungsstrategien behandelt. 2 Spiel als linguistischer Forschungsgegenstand 2.1 Spiel(en) erforschen Nach verschiedenen Werken, die sich mit einer theoretischen Beschreibung und Modellierung des kulturellen Phänomens des Spiels und Spielens befassen, ist es ein unmögliches Unterfangen, dieses umfassend und adäquat zu beschreiben, wenn man nicht periphere Erscheinungsformen außer Acht lassen möchte. So konstatiert etwa Regine Herbrik (2011: 44): Die meisten Autoren, die sich mit dem Thema Spiel beschäftigen, beginnen ihre Auseinandersetzung mit dem Thema mit einem Klagelied, dessen Refrain davon berichtet, wie viele unterschiedliche Ansätze zur Beschreibung und Definition ‚des Spiels‘ es bereits gibt und wie doch letztlich alle scheitern müssen, weil sie das Phänomen doch nicht ordentlich zu fassen bekommen. Eine allumfassende Definition des Spiels scheint also zumindest noch in sehr weiter Ferne zu stehen - sie ist jedoch für den hier herangezogenen Untersuchungsgegenstand auch gar nicht unbedingt erforderlich. Ich betrachte an dieser Stelle solche Interaktionen, während derer die Teilnehmenden ein Brett-, Würfel oder Kartenspiel spielen. Diese Unterform von Spielen wird zugunsten eines besseren Leseflusses als Gesellschaftsspiel bezeichnet, wobei wir konkurrierende Lesarten (etwa die ursprüngliche Lesart eines Gruppen‐ spiels als gesellschaftliches Ereignis im bürgerlichen Milieu etwa des 19. Jahr‐ hunderts, vgl. Kühme 1997: 11 f.) zurückstellen. Spiele dieser Art lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Eine Gruppe von Personen hat entweder ein kommerziell vertriebenes Produkt vorliegen, das sowohl Spielmaterial als auch Spielregeln enthält (beispielsweise Monopoly, Risiko oder Mensch ärgere dich nicht), oder die Gruppe besitzt ein standardisiertes Kartenblatt (beispielsweise ein aus 32 Karten bestehendes Skatblatt) beziehungsweise einen Satz Würfel nebst Schreibmaterial zum Festhalten von Punkten, und dazu die Regeln für ein Karten- oder Würfelspiel, das mit diesem Standardmaterial funktioniert. Beispiele solcher Spiele sind Skat, Doppelkopf, Mau Mau, Kniffel (für welches vorgedruckte Blöcke kommerziell vertrieben werden) oder Meiern. Wenn die Personen sich auf das Durchführen eines solchen Spiels geeinigt haben, haben sie sich bereiterklärt, „ihre Interaktionen für einen gewissen Zeit‐ raum bestimmten Regeln zu unterwerfen“ (Denker/ Ballstaedt 1976: 59). Diese Regeln wiederum setzen sich zusammen aus zwei Bestandteilen: erstens aus allgemeinem, vortheoretischem Weltwissen darüber, was Gesellschaftsspiele sind und welche Vorgänge und Abfolgen in solchen erwartbar und angemessen sind, und zweitens aus den konkreten Spielregeln des jeweiligen Spielproduktes, das die Gruppe ausgewählt hat und die in gedruckter Form in der dem Produkt beigelegten Spielanleitung enthalten sind. Menschen, in deren Umfeld solche Spiele allgemein bekannt sind (darunter beispielsweise der mitteleuropäische Kulturkreis), besitzen in der Regel Kom‐ petenzen, durch die sie die Struktur und Funktionsweise dieser Arten von Spielen so beherrschen, dass sie an solchen Interaktionen teilnehmen können. Dazu gehört primär das temporäre Ausblenden der Außenwelt und vieler der in ihr vorherrschenden Gegebenheiten. Goffman spricht hier von Regeln der Irrelevanz, die gleich einer Membran nur einen Teil der in der ansonsten vor‐ liegenden Situation nach bestimmten Regeln in die Spielsituation hineinlassen (vgl. Goffman 1972: 18-24). In der Regel sind Macht- und Herrschaftsgefüge irrelevant: Wenn zwei Personen sich beispielsweise auf eine Partie Dame einlassen, haben soziale Relationen der beiden zueinander (wie beispielsweise ein Schuldner- oder Vorgesetztenverhältnis) innerhalb der Spielsituation im Idealfall keine wesentliche Relevanz. Zweitens erkennen die Teilnehmenden an einer Spielpartie an, dass die vom Spiel vorgegebenen Regeln (das, was Denker/ Ballstaedt 1976: 58 f. „regulative 226 Peter Menke 1 Variationen von Spielregeln kommen hochfrequent vor, sei es durch regionale Entwick‐ lungen mündlich tradierter Spiele, sei es durch Vereinbarungen innerhalb sozialer Gruppen (Familien, Vereine), um das Spiel an die konkreten Bedürfnisse anzupassen (um beispielsweise ein komplexes Spiel für junge Mitspielende zu vereinfachen). Dieser Themenbereich muss hier weitgehend ausgeklammert werden. Regeln“ nennen) eingehalten werden müssen. Beispielsweise muss man wäh‐ rend einer Partie Monopoly beim Erreichen einer Straße, die einem anderen Spieler gehört, Miete entrichten. Zum Spiel gehören zuletzt auch solche Regeln, die Echtweltobjekte (wieder über bestimmte Transformationsregeln) zu spielinternen Objekten mit einer besonderen Bedeutung machen. So wird aus bunten Papierstücken während einer Partie Monopoly Geld, das spielintern für eine bestimmte Teilmenge von Vorgängen so verwendet werden kann wie herkömmliches Geld im Alltag. Die gleichen Papierstücke besitzen außerhalb der Spielsituation keine monetären Eigenschaften. Weiterhin ist es Teil des Weltwissens über Spiele, dass die Teilnehmenden in der Regel jederzeit aus der Spielsituation aussteigen können - entweder temporär (um beispielsweise eine einzelne Sprechhandlung mit Relevanz für die Alltagswelt durchzuführen) oder auch dauerhaft, wenn etwa eine der Teilnehmenden die Lust am Spiel verloren hat oder keine Zeit mehr hat. Alternativ kann eine Spielpartie auch pausiert und später an der gleichen Stelle fortgesetzt werden. Diese Wechselmöglichkeit ist nach Denker/ Ballstaedt (1976: 68) einer von mehreren Faktoren, der in einer Spielsituation zu einer „Interaktionsverdichtung“ bzw. zu Interaktionsmöglichkeiten auf mehreren Ebenen führt. Diese Ebenen sind für die Gesprächsarten, die hier behandelt werden sollen, besonders relevant. Die äußerste bzw. spielfernste dieser Ebenen ist diejenige, auf der die zuvor erwähnten spielexternen Themen behandelt werden (vgl. auch Goffman 2005: 57-58). Zweitens findet während Spielpartien auch das statt, was Denker/ Balls‐ taedt (1976) „sozioemotionale Interaktionen“ (66-68) nennen, die mit oder ohne direkten Spielbezug vorliegen können. Hierunter subsumieren sie etwa die Signalisierung von Zu- oder Abneigung, Freude oder Ärger über die Spielzüge der Mitspielenden. Zuletzt geben Spiele oft auch explizit einzelne Zugtypen vor, die sprachlich realisiert oder zumindest sprachlich begleitet werden müssen (vgl. Goffman 2005: 58). So ist etwa bei verschiedenen Varianten des Kartenspiels Mau Mau das Gewinnen unmöglich, wenn die entsprechende Teilnehmende nicht zuvor beim Ablegen der letzten Handkarte „Mau“ oder „letzte Karte“ gesagt hat. 1 Ähnlich müssen die verschiedenen Handelstransaktionen und Miet‐ zahlungen von Straßen in Monopoly in der Regel sprachlich begleitet werden, um 227 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. 2 Die Frage, ob hier Narration (und wenn ja, in welcher Lesart) vorliegt, muss ebenfalls zurückgestellt werden - der Einfachheit halber soll hierunter eine Handlung verstanden werden, die sich durch die im Spiel stattfindenden Ereignisse sukzessive in der Vorstellung der Beteiligten aufbaut. Informationen über die erforderlichen Eckdaten (wie Geldbeträge) zu liefern. Diese Äußerungen bilden die spielnahen Arten von Gesprächsbeiträgen. 2.2 Spiele mit gemeinschaftlich hergestellter Fiktion In den letzten Jahrzehnten sind Arten von Gesellschaftsspielen populär ge‐ worden, die die Spielenden zur gemeinschaftlichen Herstellung einer Handlung in einer fiktiven Welt einladen (vgl. Herbrik 2011: 12, dort für Pen&Paper-Rol‐ lenspiele, jedoch findet der grundlegende Mechanismus mutmaßlich analog auch in Gesellschaftsspielen statt). Tatsächlich funktioniert bereits der relativ frühe Vertreter Monopoly nach diesem Mechanismus: Eine Spielpartie simuliert einen Ausschnitt aus den Ereignissen in einer fiktiven Stadt, in der die Spie‐ lenden die Rollen von Geschäftsleuten einnehmen. Die einzelnen Spielzüge und Aktionen stellen Weltveränderungen dar, die als Eckpunkte einer entstehenden Narration 2 fungieren. Diese sind obligatorisch: so muss ein Monopoly-Spieler, wenn er durch einen Würfelwurf ein bestimmtes Spielfeld erreicht, die entspre‐ chenden Konsequenzen auf sich nehmen und beispielsweise Miete bezahlen. Andererseits haben die Spielenden in der Regel genug Freiheiten, um im Rahmen der Regeln Entscheidungen zu treffen und zu interagieren, so dass das Spiel nicht vollautomatisch und ohne Möglichkeit der Einflussnahme abläuft. In Monopoly ist durch die im freien Gespräch realisierbaren Kauf- und Verkaufsvorgänge eine solche Flexibilität gegeben. Die Zahl und die Detailtiefe solcher Spiele sind seit dem Aufkommen der sogenannten Autorenspiele, Eurogames bzw. German style games (vgl. Woods 2012) seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kontinuierlich gestiegen, was sich nicht zuletzt im steigenden Materialumfang und der eben‐ falls höher werdenden durchschnittlichen Spieldauer niederschlägt. Der entsprechende Mechanismus der Verquickung von Narration und Simu‐ lation ist für digitale Spiele im Bereich der Game Studies bereits intensiv beforscht worden (u. a. Mäyrä 2008, Wolf/ Perron 2014, Freyermuth 2015, Sachs-Hombach/ Thon 2015, Beil et al. 2017; wobei unterschiedliche Strömungen innerhalb der Disziplin jeweils entweder die Narration oder die Simulation als zentral oder vorherrschend sehen). Für analoge Spiele wurde die wissenschaft‐ liche Betrachtung eines solchen Mechanismus zunächst vernachlässigt (siehe aber beispielsweise Booth 2015). Sie sind gerade aus linguistischer Perspektive 228 Peter Menke deshalb interessant, weil das Mitwirken an der Weltgestaltung oft auf sprachli‐ chem Weg und in menschlicher Interaktion erfolgt. 2.3 Gesprächsanalytische Perspektiven Aus der Perspektive der Gesprächsanalyse lassen sich am Gegenstand des Gesellschaftsspiels eine ganze Reihe von Phänomenen erforschen. Auf einer übergeordneten Ebene ist die Frage untersuchenswert, wie gesprächsorganisa‐ torische Regeln einerseits und spezifische Spielregeln andererseits (die ja ähn‐ lich wie die Regeln des Turntaking reglementieren, wann welche Interaktanten an der Reihe sind bzw. sein dürfen) ineinandergreifen, einander ersetzen oder modifizieren. Weiterhin ist untersuchenswert, 1. ob und wie Teilnehmende anzeigen, ob ein Wechsel zwischen den oben aufgeführten Ebenen erfolgt, 2. ob und wie Beiträge, die einer der Ebenen zugeordnet sind, verbal, prosodisch oder multimodal auf eine Art gestaltet werden, die sich von der Gestaltung der anderen Ebenen abhebt (ob es also so etwas wie ein typisches Beitragsformat für einzelne Ebenen gibt), 3. wie und mit welchen multimodalen Mitteln insbesondere die spielwelt‐ liche, fiktionale Ebene in Spielen mit gemeinschaftlich hergestellter Fiktion gestaltet wird, 4. und wie Unklarheiten hinsichtlich des Spiels und seiner Regeln offenbar werden und behandelt werden. Gerade in Situationen, in denen die Kompetenz der Interaktanten in der vorherr‐ schenden Tätigkeit (hier: in dem gewählten Spiel) gering ist, ist erwartbar, dass Teilnehmende durch ihre Defizite entweder an der regelkonformen Durchfüh‐ rung scheitern, oder dass sie diese zur Diskussion stellen. Insbesondere sind ver‐ mutlich divergierende Ansichten hinsichtlich der anzuwendenden Spielregeln ein Anlass für sich anschließende Klärungssequenzen. Besonders in Gruppen, die mit dem gewählten Spiel noch nicht vertraut sind, finden sich regelmäßig Sequenzen, in denen entweder eine Wissenslücke angezeigt und (im Idealfall) gefüllt wird, oder in denen unterschiedliche Interpretationen ein und derselben Spielregel dadurch offenbar werden, dass die Teilnehmenden die Gültigkeit eines bestimmten Spielzugs in Frage stellen und darüber diskutieren und argumentieren. Speziell die sich anschließenden Beitragssequenzen sind sehr aufschlussreich, wenn es um die Frage geht, wie die einzelnen Teilnehmenden eine bestimmte Regel im Gedächtnis behalten und interpretiert haben, denn hier wird regelmäßig auf die genaue Formulierung der Regel in der Spielanleitung verwiesen, und es wird versucht, argumentativ zu einer Deutungshoheit zu 229 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. gelangen - es handelt sich also im Grunde um semantische Kämpfe, wie sie in Felder (2006) charakterisiert werden. Dies ist besonders vor dem Hintergrund der rigiden Semantik von Begriffen interessant, die sich in komplexeren Spielen finden. Hier finden sich in der Anleitung oder auf den Spielkarten Definitionen, die eine stark formalisierte und maximal disambiguierte Begriffsbedeutung liefern. So finden sich in der Anleitung von Deus, einem Eroberungsspiel, das mit geografischen Regionen und darin konstruierbaren Bauwerken operiert, Klarstellungen wie „Der Einfachheit halber werden alle Spielsteine und Karten Gebäude genannt - also auch die Schiffe und die Militäreinheiten“ oder „Ein Gebiet ist kein Kontinent! “, woraufhin andere Textteile mit den vereindeutigten Konzepten Gebäude und Gebiet sauber operieren können, ohne dass wesentli‐ cher Spielraum für Interpretationen bleibt. Dieser letzte Phänomenkomplex (mit seinen beiden Unterformen „Füllen einer Lücke“ und „Semantische Klärung“) soll anhand eines Korpus von Spielge‐ sprächen nun genauer beleuchtet werden, wobei auch die anderen Perspektiven thematisiert und an Ausschnitten illustriert werden sollen. 3 Ein Spielgesprächskorpus Als Datenbasis wurde ein Korpus von Gesprächen erhoben, die jeweils wäh‐ rend einer Partie eines Gesellschaftsspiels stattgefunden haben. Um Daten zu gewinnen, die so authentisch und alltagsnah sind, wie es in einer kontrollierten Erhebung machbar ist, wurde nach Dreier- oder Vierergruppen von Personen gesucht, die bereit waren, ein von ihnen frei wählbares Gesellschaftsspiel zu spielen, während dabei Video- und Audioaufnahmen angefertigt wurden. 3.1 Datenerhebung Gruppen, die sich für diese Erhebung meldeten, wurden in einem Seminarraum empfangen, in dem neben einem Tisch mit Stühlen eine Auswahl von Spielen bereitstand. Diese Spiele wurden aus mehreren privaten Spielesammlungen so zusammengestellt, dass sie jeweils so viele der folgenden Aspekte wie möglich berücksichtigten: • Sie sollten relativ schnell erlernbar sein, jedoch sollten sie noch so komplex sein, dass Klärungsprozesse erwartbar bleiben. • Analog sollte die erwartete Dauer einer Partie im Bereich von etwa einer Stunde liegen. • Sie sollten die Interaktion der Spielenden fördern. Aus diesem Grund wurden beispielsweise solche Arten von Aufbauspielen, bei denen jede Person einzeln für sich ein Dorf aufbaut oder ein bestimmtes Kartenblatt 230 Peter Menke zusammenstellt, verworfen. Zwar wurde mit Machi Koro ein Stadtauf‐ bauspiel angeboten, dieses wurde jedoch aufgrund seiner Bezahlmecha‐ nismen, die eine starke Interaktion zwischen den Beteiligten erfordern, dem Angebot hinzugefügt. • Sie sollten Komponenten der Imagination enthalten, so dass (im Prinzip) kollaborative Handlungskonstruktion möglich ist. Solche Spiele ver‐ wenden regelmäßig Fantasy-, Science-Fiction- oder Detektivszenarien, in denen die Spielenden dann in die Rollen einzelner Akteure schlüpfen und auf ein Ziel innerhalb der gemeinsam konstruierten Welt hinarbeiten. Dieser Aspekt wurde ausgewählt, um untersuchen zu können, inwiefern sich die Spielenden auf den narrativen Rahmen und die damit verbun‐ denen sprachlich-kommunikativen Besonderheiten einlassen. Nachdem die Personen über den Zweck der Untersuchung informiert wurden und ihr Einverständnis für die Studie eingeholt wurde, bat die Versuchsleiterin die Gruppe, ab diesem Zeitpunkt in Eigenregie zu agieren und sich gemeinsam ein Spiel auszusuchen. Damit zog sie sich in einen abgetrennten Raumteil zurück (so dass sie nicht mehr präsent, aber im Notfall noch ansprechbar war). Die Aufnahmen starteten so schnell wie möglich, so dass in den meisten Fällen auch der Auswahlprozess erfasst wurde. Neben einer zentralen Audioaufnahme wurde von einer ersten Kamera von vorn die Gruppe der Interaktanten und von einer zweiten Kamera von oben das Spielfeld erfasst, um sowohl multimodale Verhaltensdaten der Personen als auch Deixis und Objektmanipulationen auf dem Spieltisch zu erfassen. Sobald die Spielenden das Spielmaterial wieder eingepackt hatten, sollten sie der Versuchsleitung Bescheid geben. Die Aufnahme auch dieses letzten Schrittes ermöglichte in einigen Fällen auch noch die Erfassung von Evaluationen und Nachbesprechungen der Partie. Im Anschluss wurde mit einem kurzen Frage‐ bogen erfasst, wie vertraut die Personen allgemein mit Gesellschaftsspielen sind, und wie sie das Spiel bzw. die Partie einschätzen. In Tabelle 1 sind die zentralen Daten zu den neun erfassten Interaktionen dargestellt. Nr Name des Spiels Gruppengröße Dauer der Interaktion 1 Quest 3 02: 03: 42 2 Grimoire des Wahnsinns 3 01: 25.28 3 Munchkin 3 01: 32: 35 4 Not Alone 3 01: 04: 44 231 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. 5 Sidequest 3 00: 41.53 6 Munchkin 3 02: 00: 42 7 Machi Koro 4 01: 23: 11 8 Munchkin 3 00: 48: 21 9 Munchkin 3 01: 37: 30 Tabelle 1: Eckdaten zu den erhobenen Spielinteraktionen 3.3 Aufbereitung Das aufgenommene Material wurde in den folgenden Schritten nachbearbeitet: Eine grobe Sichtung erfolgte mit der Annotationssoftware ELAN (Brugman/ Russel 2004; MPI Nijmegen 2018), wobei zunächst als grundlegende Annotations‐ schicht eine Grobsegmentierung in Phasen vorgenommen wurde. Es wurde von den Phasen der Vorbereitung, der Regelerarbeitung, des eigentlichen Spiels und der Nachbereitung ausgegangen. Diese Phasen traten auch in allen Interaktionen in dieser Reihenfolge auf, lediglich ihre Länge unterschied sich. Weiterhin wurde nach längeren Unterbrechungen gesucht, die jedoch nicht auftraten. Als nächstes wurden in den Interaktionen die Vorkommen bestimmter Phänomene markiert: 1. Gesprächsbeiträge, in denen eine Person anzeigt, dass die Zuordnung eines vorherigen Beitrags zu einer der weiter oben vorgestellten Ebenen (des Sprechens im Spiel, über das Spiel, abseits vom Spiel etc.) unklar ist. 2. Gesprächsbeiträge, in denen eine Person explizit (beispielsweise meta‐ kommunikativ) anzeigt, auf welcher Ebene ihr vorheriger oder nachfol‐ gender Beitrag einzuordnen ist. 3. Gesprächsbeiträge, in denen eine Person mutmaßlich eine Rolle innerhalb der gemeinschaftlich hergestellten Fiktion verkörpert. Als Indikatoren wurden eine ungewöhnliche Prosodie, Schreie oder ähnliche inszenato‐ rische Elemente herangezogen. 4. Sequenzen während der Spielphase, in denen Regeln oder Mechanismen besprochen oder geklärt werden und die sich über mehr Beiträge als ein einzelnes Frage-Antwort-Paar erstrecken. Im Anschluss wurde die Umgebung dieser Fundstellen nach dem Transkrip‐ tionsschema cGAT (Schmidt et al. 2015) transkribiert, welches eine an die digitale Annotation angepasste Variante von GAT 2 (Selting et al. 2009) 232 Peter Menke Musterdatei NFA_Sammelband.dot die zunehmend an verdichtete, reduzierte Sequenzen erinnern, wie sie in fachsprachlicher Kommunikation erscheinen. Während zu Spielbeginn oft noch regelmäßig Nachfragen auftauchen oder die Übergabe an die folgende Spielerin explizit verbalisiert wird, reduziert sich der verbale Anteil in späteren Spielzügen. Transkript 1 zeigt einen typischen Spielzug dieses routinisierten Stadiums. Transkript 1: Routine 01 C: <<p> MACH ich denn was? 02 nee ich MAche nix. 03 du darfst; > 04 D: ((würfelt)) zwei; = 05 C: =zwei. 06 BAUernhof. 07 ((alle nehmen sich Geld aus der Bank)) 08 B: willst du noch was MACHen? 09 D: <<kopfschüttelnd> nein. > 10 A: ((greift nach Würfel)) 11 C: das spiel geFÄLLT mir. 12 A: ((würfelt)) sechs- Der Ausschnitt stammt aus einer fortgeschrittenen Phase einer Partie des Stadtaufbauspiels Machi Koro (Kosmos 2014). Ein Zug in diesem Spiel läuft in folgenden Schritten ab: Reihum wird gewürfelt, und je nach gewürfelter Augenzahl werfen bestimmte Gebäudetypen Gewinn ab. Hat jemand das Gebäude in seiner Stadt gebaut, erhält er diesen Gewinn. Danach kann die Spielerin, die an der Reihe ist, noch ein neues Gebäude in ihre Stadt bauen. Durch den Bau einer bestimmten Anzahl von teuren Großprojekten kann das Spiel gewonnen werden. Die Spielenden haben für diese Teilschritte bereits eine musterkonforme Routine etabliert: Das Einsammeln der jeweiligen Gewinne wird nicht mehr jedes darstellt. Multimodale Ereignisse mit Relevanz für das Spielgeschehen (wie Zeigegesten, das Ausspielen von Karten oder Manipulationen von Spielmaterial) wurden nicht nach dem cGAT-Schema, sondern in separaten zeitausgerichteten Ebenen in ELAN annotiert. Diese Variante wurde gewählt, weil in bestimmten Sequenzen so viele multimodale Ereignisse parallel und in schneller Abfolge auftreten, dass sie in der für GAT üblichen Zeilenschreibweise nicht mehr übersichtlich darstellbar sind. Für diesen Beitrag wurden Transkripte mit kom‐ plexen multimodalen Ereignissen (abweichend von den GAT-Konventionen) mit durchnummerierten Markern in geschweiften Klammern (z. B. {1}) unterhalb des zugehörigen Beitrags versehen, um aus dem Text heraus auf sie verweisen zu können, ohne das Transkript unübersichtlich werden zu lassen. 4 Beobachtungen im Korpus 4.1 Routinisierung von Spielzügen Ein erstes, erwartbares Ergebnis ist die Tatsache, dass die Spielenden im Verlauf der Partie sicherer im gewählten Spiel werden, seine Regeln zu beherrschen beginnen und dementsprechend Routinen für die jeweiligen Spielzüge ausbilden, die zunehmend an verdichtete, reduzierte Sequenzen erinnern, wie sie in fach‐ sprachlicher Kommunikation erscheinen. Während zu Spielbeginn oft noch regelmäßig Nachfragen auftauchen oder die Übergabe an die folgende Spielerin explizit verbalisiert wird, reduziert sich der verbale Anteil in späteren Spielzügen. Transkript 1 zeigt einen typischen Spielzug dieses routinisierten Stadiums. Transkript 1: Routine Der Ausschnitt stammt aus einer fortgeschrittenen Phase einer Partie des Stadtaufbauspiels Machi Koro (Kosmos 2014). Ein Zug in diesem Spiel läuft in folgenden Schritten ab: Reihum wird gewürfelt, und je nach gewürfelter Au‐ 233 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. genzahl werfen bestimmte Gebäudetypen Gewinn ab. Hat jemand das Gebäude in seiner Stadt gebaut, erhält er diesen Gewinn. Danach kann die Spielerin, die an der Reihe ist, noch ein neues Gebäude in ihre Stadt bauen. Durch den Bau einer bestimmten Anzahl von teuren Großprojekten kann das Spiel gewonnen werden. Die Spielenden haben für diese Teilschritte bereits eine musterkonforme Rou‐ tine etabliert: Das Einsammeln der jeweiligen Gewinne wird nicht mehr jedes Mal kommentiert. Stattdessen besteht dieser typische minimale Zug (der sich in dieser Instanz insgesamt auf Z. 4-9 erstreckt) aus folgenden Komponenten: 1. einem Würfelwurf und der Ansage seines Ergebnisses (Z. 4-5), 2. der Verbalisierung des durch den Würfel festgelegten Gebäudetyps, der Gewinn ausschüttet (Z. 6), 3. der resultierenden Gewinnausschüttung, die von allen Beteiligten ohne begleitende Sprechbeiträge durch Entnehmen von Pappmünzen aus einem Haufen am Spielfeldrand durchgeführt wird (Z. 7), 4. einer Rückfrage an die aktive Spielerin, ob sie den zweiten, optionalen Teil ihres Zugs durchführen möchte (Z. 8) 5. und ihrer von Kopfschütteln begleiteten Verneinung (Z. 9). Der Spielzug wird eingerahmt von Handlungen, die Übergangsphasen zwischen einzelnen Zügen darstellen. So besteht die Beitragsfolge in Z. 1-3 (Ende des vorherigen Zugs) in der Feststellung, dass C auf ihren optionalen Kauf verzichtet und D den Zug übergibt. Analog beginnt in Z. 10 die Vorbereitung eines nachfolgenden Spielzugs. An diesen Nahtstellen liegen Pausen, die beispiels‐ weise dadurch entstehen, dass der oder die Würfel an die neue Spielerin übergeben werden müssen. In diesen Lücken erscheinen regelmäßig einzelne Beiträge, in denen die Teilnehmenden beispielsweise den soeben beendeten Zug kommentieren oder, wie hier in Z. 11, allgemeinere Kommentare zum Spiel oder zu spielexternen Themen abgeben. Dies ist eine wiederkehrende Form des Ebenenwechsels, der an dieser Stelle im Normalfall nicht explizit markiert wird - die Position innerhalb der Zugstruktur scheint ausreichendes Indiz dafür zu sein, wie die hier stattfindenden Beiträge einzustufen sind. 4.2 Ebenenwechsel Die Spielenden zeigen, wie bereits im vorherigen Beispiel angedeutet, den Wechsel zwischen den Ebenen in den wenigsten Fällen explizit verbal an. Oft erfolgt dieser Wechsel aber mit bestimmten begleitenden Verhaltensweisen, wie in dem folgenden typischen Ausschnitt. 234 Peter Menke Musterdatei NFA_Sammelband.dot 247 Transkript 2: „baustopp“ 01 B: acht; 02 A: sogar ne ACHT, 03 C: MÖbelfabrik; 04 aber nur wenn ich SELber gewürfelt hab. 05 (---) {1} 06 B: ich MACH nichts. 07 C: <<p> du hast nen halben FUNKturm ne? > {2} 08 BAUstopp? 09 be eh Er ham se jetzt WIEder verle= äh= {3} {4} verlän[gert ne, 10 A: [be eh wat? 11 C: der= berliner FLUGhafen. 12 jetzt NOCH mal irgendwie ein jahr [wEIter. 13 A: [oKAY {5} 14 C: <<f> DREI>. 15 (.) bäckeREI. {6} {7} 16 A: erstma dürfent mir ZAHlen. Dieser Ausschnitt stammt aus der gleichen Spielpartie wie der vorherige. Zu Beginn des Ausschnitts, als B eine Acht würfelt, wird dieses Ergebnis kurz von A und B genannt (Z. 1-2). C kommentiert, dass sie zwar ein passendes Gebäude besitzt, dass dieses aber nur dann Gewinn erzielt, wenn der Würfelwurf von ihr selbst durchgeführt wurde (Z. 3-4). Mit dem Weitergeben des Würfels bei {1} und Bs Beitrag in Z. 6 endet dieser Zug: B, die relativ viele Münzen besitzt, entscheidet sich, diese nicht in neue Gebäude zu investieren. C beginnt bei {2} die Würfel zu schütteln und kommentiert Bs Verhalten in Z. 7 mit einer Hypothese darüber, was B vermutlich plant (nämlich den Bau eines teuren Gebäudes, des Funkturms, dessen Errichtung eine der Siegbedingungen ist), um dann auf der Basis einer gedanklichen Assoziation („Baustopp? “, Z. 8) einen thematischen Exkurs in Form einer Nebensequenz (vgl. Jefferson 1972) zu beginnen, in dem sie eine kurze aktuelle Information aus der Echtwelt liefert. Hierbei sind multimodale Veränderungen an den Übergängen zwischen Haupt- und Nebensequenz beobachtbar, die erwartbar sind: C verändert bei {4} ihre Positur, indem sie minimal in sich zusammensackt, die Hand mit den Würfeln etwas zu sich heranzieht und Blickkontakt mit A aufnimmt. Ihre Nebensequenz wird zum Ende hin leiser, und bei {5} wechselt sie wieder in die vorherige Positur und Transkript 2: „baustopp“ Dieser Ausschnitt stammt aus der gleichen Spielpartie wie der vorherige. Zu Beginn des Ausschnitts, als B eine Acht würfelt, wird dieses Ergebnis kurz von A und B genannt (Z. 1-2). C kommentiert, dass sie zwar ein passendes Gebäude besitzt, dass dieses aber nur dann Gewinn erzielt, wenn der Würfelwurf von ihr selbst durchgeführt wurde (Z. 3-4). Mit dem Weitergeben des Würfels bei {1} und Bs Beitrag in Z. 6 endet dieser Zug: B, die relativ viele Münzen besitzt, entscheidet sich, diese nicht in neue Gebäude zu investieren. C beginnt bei {2} die Würfel zu schütteln und kommentiert Bs Verhalten in Z. 7 mit einer Hypothese darüber, was B vermutlich plant (nämlich den Bau eines teuren Gebäudes, des Funkturms, dessen Errichtung eine der Siegbedingungen ist), um dann auf der Basis einer gedanklichen Assoziation („Baustopp? “, Z. 8) einen thematischen Exkurs in Form einer Nebensequenz (vgl. Jefferson 1972) zu beginnen, in dem sie eine kurze aktuelle Information aus der Echtwelt liefert. Hierbei sind multimodale Veränderungen an den Übergängen zwischen Haupt- und Nebensequenz beobachtbar, die erwartbar sind: C verändert bei {4} ihre Positur, indem sie minimal in sich zusammensackt, die Hand mit den Würfeln etwas zu sich heranzieht und Blickkontakt mit A aufnimmt. Ihre Nebensequenz wird zum Ende hin leiser, und bei {5} wechselt sie wieder in die vorherige Positur und blickt auf die Spielfläche. Parallel dazu treten aber spielspezifische Besonderheiten auf: Das Schütteln der Würfel in der Hand wird bereits bei {3} pausiert, und bei {5} würfelt C gleichzeitig zur Blickbewegung, um mit ihrem 235 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. nächsten Beitrag in Z. 14 mit der Nennung des Ergebnisses bereits wieder mit lauterer Stimme die erste verbale Komponente des nächsten Spielzugs zu produzieren. Auch dieser Ebenenwechsel liegt in der Zugübergangsphase, ist aber deutlich länger als der vorher behandelte. An diesem Beispiel lässt sich zudem erahnen, wie Turntaking und Spielzüge ineinandergreifen: C nutzt, da sie an der Reihe ist, die Gelegenheit, vor dem Beginn ihres Spielzugs (dessen erster Schritt ja das Würfeln ist) das Rederecht für ein spielexternes Thema zu ergreifen. Auf der Basis der spärlichen Reaktionen der anderen Teilnehmerinnen, die bis auf eine kurze Verständnisfrage und ein Rezeptionssignal auf das Thema nicht eingehen, scheint C sich dann dazu zu entschließen, die Nebensequenz dadurch abzuschließen, dass sie den Spielzug beginnt und würfelt. Hier ist also die Rederechtsvergabe tendenziell an die durch das Regelsystem des Spiels erzeugte Zugreihenfolge und die dadurch aktive Spielerin gekoppelt. 4.3 Verständnisprobleme Etwas detaillierter soll nun auf Verständnisprobleme (vgl. Selting 1987) einge‐ gangen werden, die sich durch die Tatsache ergeben, dass einige oder alle der Teilnehmenden das gewählte Spiel zum ersten Mal spielen und noch nicht wissen, wie es funktioniert. Hier muss vorausgeschickt werden, dass die einzelnen Gruppen unterschied‐ liche Strategien eingesetzt haben, um sich im Vorfeld überhaupt über die Spielregeln zu verständigen. Während in manchen Gruppen eine der Personen die kompletten Spielregeln vorgelesen hat (was teilweise zu Monologen mit einer Dauer von zwölf oder mehr Minuten führte), haben andere Gruppen sich auf das Erklären und Besprechen allgemeinerer Regeln (Spielziel, allgemeiner Rundenablauf, wichtigste Spielkomponenten) beschränkt und das Spiel dann begonnen, um währenddessen diejenigen Punkte zu erklären, von denen gemut‐ maßt wurde, dass sie sich dann konkret ergeben. Ein solches Verfahren wurde in einzelnen Fällen explizit als „Proberunde“ bezeichnet. Eine dritte Variante bestand darin, direkt loszuspielen und währenddessen alles zu erklären, ohne vorher eine allgemeine Darstellung zu geben. Während man vermuten könnte, dass zumindest die erste Strategie bewirkt, dass so etwas wie eine Grundkompetenz vorhanden ist, die die Menge der Rück‐ fragen reduziert, zeigen die Gesprächsdaten, dass auch hier (wie bei den anderen Strategien) hochfrequent Verständnisprobleme offenbar werden. Es deuten sich bei diesen Verständnisproblemen zwei Kategorien an (neben weiteren, die hier aber zurückgestellt werden), die sich folgendermaßen umschreiben lassen: 236 Peter Menke 01 A: dann äh: (-) phase zwEI war: äh (.) auf ÄRger aus sein=ne? 02 C: ja 03 B: mh 04 (2.5) 05 B: darfst n MONSter legen. (-) 06 A: leg ich n stufe EINS monster, 07 is TOT? 08 B: wieviel KRIEGste? 09 A: [ein SCHATZ, 10 C: [ein SCHATZ, 11 eine stufe AUCH_automatisch ne? 12 A: [mhm 13 B: [ja 14 willst die TRITTleiter noch haben, 15 A: sehr GERne 1. Füllen von Lücken. Einer Person fehlt Wissen, um entweder den eigenen Spielzug sinnvoll und regelkonform weiterzuführen, oder um die Züge anderer korrekt zu interpretieren. 2. Divergierende Interpretationen. Zwei oder mehrere Personen haben unterschiedliche Ansichten über eine Komponente des Spiels (eine Spiel‐ regel, ein Element des Spielmaterials etc.) und thematisieren diese. 4.3.1 Füllen von Lücken Das Ergänzen von fehlendem Wissen ist in dem untersuchten Material hochfre‐ quent. Es sind zwei Unterformen auffindbar: In der ersten können die Mitspie‐ lenden die fehlende Information liefern, in der zweiten müssen die Spielregeln konsultiert werden, um die ergänzenden Informationen zu beschaffen. Beide Unterformen nehmen im Normalfall die Gestalt von Nebensequenzen an, die sich jedoch stark in ihrer Länge unterscheiden. Das eine Extrem stellen nur wenig abgesetzte Kurzsequenzen dar, die die Form eines Frage-Antwort-Paars haben. Diese kurzen Elemente wurden in der ersten Analyse zwar noch nicht einzeln annotiert, aber sie treten auch regelmäßig in anderen, längeren Se‐ quenzen auf, wie in derjenigen in Transkript 3 (dort mit den Fragen in Z. 1 und Z. 11 und den jeweiligen Folgezeilen). Transkript 3: „auf ärger aus“ In anderen Fällen konsultiert eine Person das Heft mit der Spielanleitung. Diese Aufgabe verbleibt in der Regel bei einer Person, und es handelt sich ebenfalls meist um die Person, die zu Beginn aus der Anleitung vorgelesen hat. Wenn wiederum die Suche in der Anleitung längere Zeit in Anspruch nimmt, können Nebensequenzen zur soeben eingeleiteten Nebensequenz auftreten. 237 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. 251 Transkript 4: Rucksack 01 A: ich glaub da nach der flucht war dann (.) ende; 02 C: ja ne? 03 B: aber kann man die gegenstände im kampf einsetzen ja=ne? 04 A: warum nicht- 05 C: wann denn sonst, 06 B: ja wenn du (.) na du musst die ja im rucksack oder in der hand haben ne? (--) 07 A: wie spiel ich die denn in den rucksack rein; (-) 08 C: warte- ((sucht in der Anleitung)) 09 B: ((sucht mit)) auf der rückseite steht das glaub ich; (--) 10 A: leg ich die dann einfach bevor ich die tür eintrete (-) rein oder was. (.) 11 B: äh weiß nich ob du ja genau dass du vorher sagst ich kann jetzt was noch in die hände packen oder so? 12 C: so warte mal- 13 C: ich hab ja jetzt verloren den kampf. 14 A: du bist geflohen. 15 A: du hast nicht verloren. 16 C: ja aber do erst hab ich verloren. 17 C: und dann musste ich fliehen. 18 A: ach so. 19* C: das monster ist ein=oder mehrere nummern zu groß für dich du erhältst weder schatz noch stufe jetzt bleibt nur noch eins weglaufen. 20* C: würfle= 21 C: ach ich hätt auch erst ne fünf würfeln können=ne, (--) 22 A: a=ch is jetzt auch egal (---) 23 B: ((blickt in anleitung)) ach so=nur: (.) die nur einmal einsetzbar sind dürfen; 24 A: ja die muss dann weggelegt werden. 25 B: also die dürfen auch während eines gegnerisches kampf gespielt werden; 26 B: sogar direkt aus der hand 27 mh 28 C: also hätt ich jetzt wenn du das jetzt zum beispiel hättest hätt ich dir helfen können In Transkript 4 ist der Versuch einer Gruppe zu sehen, während einer Partie Munchkin mehrere Problemkomplexe gleichzeitig zu bearbeiten. Es handelt sich um eine der Gruppen, bei denen zu Beginn eine der Mitspielerinnen die kom- Transkript 4: Rucksack In Transkript 4 ist der Versuch einer Gruppe zu sehen, während einer Partie Munchkin mehrere Problemkomplexe gleichzeitig zu bearbeiten. Es handelt sich um eine der Gruppen, bei denen zu Beginn eine der Mitspielerinnen die komplette Anleitung vorgelesen hat. Allerdings ist hier zu bemerken, dass Unklarheiten an so vielen verschiedenen Stellen vorliegen, dass kein flüssiges Spiel entstehen kann. Ausgehend von der Frage, ob Gegenstände in einer bestimmten Spielphase benutzt werden können (Z. 3), taucht in Z. 7 eine the‐ 238 Peter Menke matisch verwandte Folgefrage auf (nämlich, wie der Rucksack verwendet wird), für die ab Z. 8 in der Anleitung nach Antworten gesucht wird. Währenddessen stellen A und B Vermutungen über die korrekte Spielweise an, bis C in Z. 13-20 eine Fundstelle in der Anleitung identifiziert hat und daraus vorliest - allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine Antwort auf die eingangs aufgekommene Frage. Stattdessen bedauert C einen Fehler, der ihr früher in der Partie aus Regelunkenntnis passierte. Schlussendlich findet B, der von der Seite mit in die Anleitung schaut, eine relevante Passage, die er paraphrasiert (Z. 25-26) woraufhin das Spiel weitergeht. In den meisten Fällen hat die Anleitung, bzw. ihr Wortlaut die höchste Gültigkeit, sie wird oft aber auch erst dann konsultiert, wenn im Gespräch entweder mangelnde Sicherheit signalisiert wird, oder wenn unterschiedliche Ansichten vorherrschen. Im Korpus liegen jedoch einzelne Gruppenkonstellationen vor, in denen eine Abweichung von dieser Regel zu beobachten ist. Anhand einer solchen Gruppe sollen nun Situationen dargestellt werden, in denen keine (schnelle) Einigung hinsichtlich der Interpretation von Benennungen und Konzepten erzielt wird. 4.3.2 Divergierende Interpretationen und semantische Kämpfe Gruppe 6, die sich ebenfalls Munchkin ausgesucht hat, weicht hinsichtlich der Rollenverteilung von den bisher vorgestellten Dialogen ab. Teilnehmerin B kennt das Spiel bereits und erklärt zu Beginn den anderen Gruppenmitgliedern in eigenen Worten, wie das Spiel funktioniert. Im späteren Verlauf wird sie aufgrund dieser Vorerfahrungen mit dem Spiel als Expertin angesehen, was zur Folge hat, dass bei Regelfragen zunächst sie nach ihrer Interpretation der Regeln befragt wird. Diese wird in vielen Fällen hingenommen (auch, wenn ihr Verständnis der Regeln in diversen Punkten von der Formulierung und Darstellung in der gedruckten Anleitung abweicht). Transkript 5 zeigt eine Sequenz, in der Spieler C den Gegner „Großes wütendes Huhn“ aufdeckt. Wenn dieses auf eine besondere Art und Weise besiegt wird - nämlich, wenn es „mit Feuer oder Flamme“ (so der Kartentext) in ein Grillhähnchen verwandelt wird - winkt eine zusätzliche Belohnung, an der C sehr interessiert ist. Hierfür erkundigt er sich, ob er einen der ausgespielten Gegenstände noch gegen einen anderen austauschen kann. B bestätigt, dass dies möglich sei (obwohl es nach den offiziellen Regeln nicht erlaubt ist). Über den von C dann ausgespielten Gegenstand (den „Napalmstab“) entbrennt ein semantischer Kampf (Felder 2006) zwischen B und C, dessen Kern ist, ob ein Angriff mit diesem Gegenstand als „mit Feuer oder Flamme“ zählt, wie es der Kartentext des Gegners erfordert, oder nicht. 239 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. 01 C: kabuff; stufe zwei. "großes wütendes huhn". 02 (alle lachen) 03 "grillhuhn ist lecker. 04 du gewinnst eine zusätzliche stufe hinzu wenn du es mit feuer oder flam" wie kann ich das mit feuer oder flamme 05 B: wenn deine gegenstände irgendwie das flammende schwert des grauens is e: was weiß ich keine ahnung 06 C: kann ich noch n gegenstand verändern, 07 B: h° (.) du kannst das durchaus TUN ja? 08 (--) 09 C: ich (.) ah das (.) is eigentlich FEUer; 10 (.) aber ich weiß da steht halt nich- 11 (.) na doch eigentlich schon. 12 also ich da ich DARF jetzt den gegenstand verändern. 13 B: oäh_ja, 14 C: ok (.) dann (.) dann pack ich das hier mal weg, 15 A: also gegenstandsveränderungen sind erlaubt. 16 B: ja, 17 C: ich hab hier son NApalmstalb, 18 [da 19 B: [ne: das is nurn stab das is kein feuer; 20 C: aber das isn NApalmstab. 21 B: ja: _es is aber n STAB und kein FEUer. 22 C: aber es is (.) da da [is FEUer aufm bild; 23 B: [es isn STAB da; 24 nein es is n (.) blIng blIng son ZAUber. 25 C: <<p> aber da is FEUer aufm bild>; 26 C: ja: das IS aber kein feuer; 27 B: das is (.) tut mir leid das gilt nich. 28 C: aber was is denn DANN feuer. 29 B: wenn da steht das flammende schwert des GRAUens oder was weiß ICH, 30 C: aber das isn NApalmstab. 31 B: das is aber kein FEUer. 32 C: das is NA: palm. 33 A: (lacht) 34 B: was is das überhaupt. 35 A: napalm isn brennstoff oder nicht. 36 B: [na: - 37 C: [ja: (.) das is FEUer. 38 B: das (.) zählt auf jeden fall ! NICHT! . 39 (.) weil da steht (.) das muss schon mit irgendwas mit flammen oder feuer im namen haben. 40 C: <<falsett, eindringlich> das is na: palm >. 41 A: (lacht) 42 B: <<f> ja: is mir e: ga: l das gilt nich>. 43 A: der spielleiter is doof; 44 B: <<lachend> genau der spielleiter hat das gesagt so>. 45 A: alles zu seinem eigenen vorteil; Transkript 5: Napalmstab 240 Peter Menke Die Tatsache, dass B als mit dem Spiel vertraute Person gilt, sorgt dafür, dass sie schon während der gesamten bisherigen Partie von A und C als mit besonderer Autorität ausgestattet behandelt wird. Daher fällt ihr in dieser Sequenz durch ihre eigenen Beiträge, aber auch dadurch, wie C sie anspricht, die Deutungshoheit über die im konkreten Fall relevanten Regeln zu. Bedingt durch die Komplexität und Vielfalt der in Munchkin enthaltenen Karten wird auch bei dieser Karte der Sondertext, der sich direkt auf der Karte befindet, nicht noch einmal an anderer Stelle kommentiert oder erläu‐ tert, so dass es den Spielenden obliegt, für eine Interpretation zu sorgen. Beide Gesprächsteilnehmer argumentieren, welche Komponenten der Karte „Napalmstab“ herangezogen werden können oder müssen, um die Karte als Feuer-und-Flamme-Karte gelten zu lassen: 1. bildlich-grafische Elemente (wie sie von C in Z. 22 und Z. 25 angeführt werden), 2. konkrete Lexeme im Kartentext (z. B. „Flammen“, wie B sie in Z. 5 und Z. 29 indirekt benennt, und schließlich explizit in Z. 39 fordert) 3. und schließlich freiere, weltwissenbasierte Assoziationen, wie C sie mit seinem mehrfach vorgelegten Verweis auf die Eigenschaften von Napalm anbringt. Die Vermutung liegt nahe, dass B dieser assoziative Schluss verwehrt blieb, da sie sich in Z. 34 ausdrücklich danach erkundigt, was Napalm ist. Trotz dieser Tatsache beharrt sie darauf, dass lediglich das zweite Kriterium der Anwesenheit von Schlüssellexemen hinreichende Bedingung dafür sei, dass eine Karte als Feuer-und-Flamme-Karte gelten darf. Diese Argumentation ist nicht ganz von der Hand zu weisen, da Munchkin an anderen Stellen ebenfalls mit Schlüsselwörtern auf den Karten arbeitet, deren An- oder Abwesenheit eindeutige Konsequenzen dafür hat, was mit der Karte getan werden darf. Auffällig ist, dass selbst die bei B offenbar gewordene Wissenslücke über Napalm nicht dafür sorgt, dass C mit seiner Argumentation darauf eingeht. Nach einigen Beiträgen strebt B mit prosodisch stärker markierten Beiträgen ein von ihr durchgesetztes Ende der Diskussion an, wobei sie von dem im Lauf der Partie etablierten Autoritätsgefälle nun selbst Gebrauch macht. C beendet seine Argumentationsversuche, und A kommentiert das Geschehen abschließend auf einer Metaebene, mit einer Ergänzung von B auf der gleichen Ebene. Es bleibt unklar, wie viel Scherz und wie viel authentische Erregung in den einzelnen Beiträgen enthalten ist. Neben einem solchen Verlauf treten regelmäßig auch Sequenzen auf, in denen die Argumentation einen geregelteren Verlauf nimmt. Oft wird die 241 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. Spielanleitung herangezogen, um auf der Basis konkreter Formulierungen eine Klärung herbeizuführen. In manchen Fällen wird auch als Abschluss einer Re‐ geldiskussion eine für alle akzeptable, gemeinsam erarbeitete Variante gewählt, auf die sich die Runde dann bis zum Ende der Spielsituation einigt. 5 Fazit Ein vergleichsweise kleines Korpus wie das hier vorliegende erlaubt keine allzu generalisierenden Schlussfolgerungen. Daher handelt es sich bei den folgenden Punkten um Thesen, die sich erst einmal nur aus Einzelbeobachtungen ergeben, für die sich jedoch in jedem Fall eine tiefergehende Untersuchung mit Folgestu‐ dien und einer größerer Datengrundlage anbietet. Es bildet sich während einer Partie (zumindest in Spielen, in denen die einzelnen Runden klar erkennbare, ähnliche Strukturen haben) eine Routine aus, die sich durch steigendes Tempo, abnehmende Frequenz von Nachfragen sowie den Anstieg von Nebensequenzen bzw. von spielkommentierenden oder spielexternen Themen auszeichnen kann. Die Wechsel zwischen den einzelnen Ebenen (also zwischen spielexternen, spielkommentierenden und spielinternen Beiträgen) finden zwar oft ohne verbale Indikatoren, aber regelmäßig mit multimodalen Indikatoren (durch Proxemik, Gestik und Spielhandlungen) statt. Eine ausführlichere, systemati‐ schere Erfassung und Klassifikation dieser Indikatoren kann möglicherweise dabei helfen, die Struktur und Funktionsweise von Spielgesprächen genauer zu verstehen. Hierbei ist wegen der Fülle parallel ablaufender Prozesse vermutlich von einer rein auf dem Transkriptionsschema GAT basierten Vorgehensweise abzuweichen. Ein solcher zugrundeliegender Mechanismus, der in Spielgesprächen (wie oben gezeigt) anders funktioniert als in Gesprächen anderen Typs, ist der der Re‐ derechtsregeln. Diese werden nach einem noch genau zu bestimmenden Muster von den Spielregeln (speziell denjenigen, die bestimmen, wann welche Spielerin handeln darf) überlagert. Neben den Gesprächsbeitrag auf der Gesprächsebene tritt der Spielzug auf der Spielebene. Beide können gekoppelt sein, wechselseitig ineinander enthalten sein oder auch isoliert voneinander vorliegen. Die genaue Ausgestaltung hängt vermutlich stark von den vorliegenden konkreten Spiel‐ regeln ab. Es ist aber zu vermuten, dass die Spielerin, die am Zug ist, besondere Rederechtsregeln zur Verfügung hat, die den jeweils inaktiven Spielerinnen verwehrt sind. Teilweise sind diese erforderlich, wenn das Spiel es vorsieht, dass sprachliche Beiträge Teil des Spielzugs sind. Gleichzeitig sind im Gespräch 242 Peter Menke Nebensequenzen zwischen Personen denkbar, die gerade nicht an der Reihe sind. Auch die verschiedenen Strategien, mit denen divergierende Regelinter‐ pretationen aufgelöst werden, bieten sich für Anschlussuntersuchungen an. Besonders vielversprechend erscheinen hier Situationen mit einem (echten oder vermeintlichen) Kompetenzgefälle, bei welchem erwartbar ist, dass die in den Spielregeln kompetenteste Beteiligte einen Expertenstatus zugesprochen bekommt. Im Gegensatz dazu ist in einer Situation, in der alle Beteiligten das Spiel zum ersten Mal spielen, erwartbar, dass sich eng an die Formulierungen der Anleitung gehalten wird. Eine dritte Konstellation erscheint ebenfalls vielversprechend - nämlich eine, in der alle Beteiligten Experten sind, als solche gelten oder sich für solche halten. Wird eine solche Gruppe mit einem Spiel konfrontiert, in dem Regelunklarheiten auftreten, können besonders komplexe, aber auch fundierte Argumentationen auftreten. Abseits der Gesprächsanalyse erscheint zudem für die grundlegende Unter‐ suchung solcher Regelklärungsprozesse eine Analyse von Diskussionsforen im Internet ergiebig. Hier werden außerhalb von einzelnen Spielpartien genau solche Unklarheiten thematisiert und wiederum in Form von semantischen Kämpfen mit Verweisen auf konkrete Formulierungen ausgetragen. Literatur Beil, Benjamin/ Hensel, Thomas/ Rauscher, Andreas (2017). Game Studies. Berlin/ Heidel‐ berg: Springer. Booth, Paul (2015). Game play: Paratextuality in contemporary board games. New York: Bloomsbury. Brugman, Hennie/ Russel, Albert (2004). »Annotating Multimedia/ Multimodal resources with ELAN«. In: Proceedings of the Fourth International Conference on Language Resources and Evaluation (LREC 2004), http: / / www.lrec-conf.org/ proceedings/ lrec20 04/ (Stand: 09..03.2020) Denker, Rolf/ Ballstaedt, Steffen-Peter (1976). Aggression im Spiel: Mit Anleitungen zu Gruppen- und Gesellschaftsspielen. Stuttgart: Kohlhammer. Felder, Ekkehard (2006). Semantische Kämpfe in Wissensdomänen: Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungs-Konkurrenzen. In: Felder, Ekkehard (Hrsg.). Semantische Kämpfe: Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin: de Gruyter, 13-46. Freyermuth, Gundolf S. (2015). Games, game design, game studies. Bielefeld: transcript. Goffman, Erving (2005). Rede-Weisen: Formen der Kommunikation in sozialen Situa‐ tionen. Konstanz: UVK 243 „ich wusste doch irgendwas war zu einfach“. Goffman, Erving (1972). Fun in games. In: Goffman, Erving. Encounters. Harmonds‐ worth: Penguin, 15-81. Herbrik, Regine (2011). Die kommunikative Konstruktion imaginärer Welten. Wies‐ baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Jackson, Steve (2003). Munchkin (dt. Ausgabe). Friedberg: Pegasus Spiele. Jefferson, Gail (1972). Side Sequences. In: Sudnow, David (Hrsg.): Studies in social interaction. New York: Free Press, 294-338. Kühme, Dorothea (1997). Bürger und Spiel. Frankfurt: Campus-Verlag. Mäyrä, Frans (2008. An introduction to game studies. Los Angeles: Sage Publications. MPI Nijmegen (2018). ELAN (Version 5.2). Computer software. https: / / tla.mpi.nl/ tools/ t la-tools/ elan/ (Stand: 09.03.2020) Sachs-Hombach, Klaus/ Thon, Jan-Noël (Hrsg.) (2015). Game studies: Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Köln: von Halem. Schmidt, Thomas/ Schütte, Wilfried/ Winterscheid, Jenny (2015). cGAT: Konventionen für das computergestützte Transkribieren in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem 2 (GAT2). Mannheim: IDS Publikationsserver. https: / / ids-pub. bsz-bw.de/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 4616 (Stand 09.03.2020) Selting, Margret (1987). Verständigungsprobleme: Eine empirische Analyse am Beispiel der Bürger-Verwaltungs-Kommunikation. Tübingen: Niemeyer. Selting, Margret/ Auer, Peter/ Barth-Weingarten, Dagmar et al. (2009. Gesprächsanalyti‐ sches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung 10, 353-402. Suganuma, Masao (2014). Machi Koro (dt. Ausgabe). Stuttgart: KOSMOS Spiele. Wolf, Mark J.P./ Perron, Bernard (2014). The Routledge Companion to Video Game Studies. New York: Routledge. Woods, Stewart (2012). Eurogames: The Design, Culture and Play of Modern European Board Games. Jefferson: McFarland. 244 Peter Menke 1 Barbara Beßlich, Heidelberg, und Kai Kauffmann, Bielefeld, danke ich sehr herzlich für die Hilfe bei der manchmal etwas komplizierten Literaturbeschaffung! Vgl. als Übersicht und Zusammenfassung die Abschnitte zu den ‚Erfundenen Gesprä‐ chen‘ bei Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart/ Weimar 1993, S. 112 ff. und die Artikel von Marco Rispoli zum Thema im Hofmannsthal-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, hrsg. v. Mathias Mayer u. Julian Werlitz, Stuttgart 2016, S. 313-315 und 324- 326 (zu den ‚Unterhaltungen‘). Weiterführend ist der Aufsatz von Marco Rispoli, „Ich misstraue dem zweckvollen Gespräch“. Anmerkungen zu Hofmannsthals ‚Erfundenen Gesprächen‘. In: Marcus Andreas Born u. Claus Zittel (Hrsg.), Literarische Denkformen. Paderborn 2018, S. 251-272. Differenzierte Analysen der Texte, allerdings unter der Kategorie des poetisierten Essays, finden sich bei Simon Jander, Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner, Hugo von Hofmannsthal, Gottfried Benn, Heidelberg 2008, S. 185-280. Vgl. auch Peter Schäfer, Zeichendeutung. Zur Figuration einer Denkfigur in Hugo von Hofmannsthals ‚Erfundenen Gesprächen und Briefen‘, Bielefeld 2012, bes. S. 193 ff. zu den ‚Unterhaltungen über ein neues Buch‘. Mit einem anderen Interesse beschäftigt sich Leonie Heim mit dem Thema: „Euer Europa ist ein gefährliches Gewebe“. Hugo von Hofmannsthals Blick aus Asien in seinen ‚Erfundenen Gesprächen und Briefen‘, in: Barbara Beßlich u. Cristina Fossaluzza (Hrsg.), Kulturkritik der Wiener Moderne (1890-1933). Heidelberg 2019, S. 235-243. Dass es Dialog-Essays im Sinne Janders auch bei anderen Autoren der Wiener Moderne gibt, zeigt Barbara Beßlich: Weltanschauungsliteratur in der Wiener Moderne. Die Politisierung des Dialog-Essays Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. Geselligkeit, Positionen und Poetik in Hofmannsthals drei ‚Unterhaltungen‘ zu Keller, Goethe und Wassermann Jan Andres 1 ‚Erfundene Gespräche und Briefe‘ bei Hofmannsthal Bereits seit 1892, also jener Zeit, in der beispielweise auch die lyrischen Dramen(fragmente) ‚Der Tod des Tizian‘ und ‚Der Tor und der Tod‘ entstehen und in der die prägende Begegnung mit dem wichtigsten Dichter des deutschen Symbolismus Stefan George stattfindet, beschäftigt sich Hofmannsthal mit Dialogen in der platonischen Tradition, wie er es über den ‚Tod des Tizian‘ gesagt hat. 1 Die meisten Texte, die als ‚Erfundene Gespräche und Briefe‘ bezeichnet bei Leopold von Andrian. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hrsg. v. Anna S. Brasch u. Christian Meierhofer. Berlin: Lang (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 18) [im Druck]. 2 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Rudolf Hirsch u. a. (im Folgenden zitiert als SW), Bd. XXXI, Erfundene Gespräche und Briefe, hrsg. v. Ellen Ritter, Frankfurt/ M. 1991. 3 Zur Geschichte dieser Textsorte vgl. Dieter Burdorf, Gespräche über Kunst. Zur Konjunktur einer literarischen Form um 1900, in: Andreas Beyer u. Dieter Burdorf (Hrsg.), Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900, Heidelberg 1999, S. 29-50, bes. Kap. II, S. 32 ff. werden, entstehen aber zwischen 1902 und 1907, späte Texte, die Band XXXI der kritischen Werkausgabe ebenso wie ganz frühe Fragmente und Notizen versammelt, reichen bis 1928, bis zur ‚Ägyptischen Helena‘. 2 Sie war als Brief bzw. Brieffolge geplant, realisiert wurde das bekannte fiktionale Gespräch zwischen Hofmannsthal und Strauß (SW XXXI: 519). Ein ganz früher Entwurf heißt ‚Der Sinn des Lebens. Dialoge in der Manier des Platon aus Athen‘, es sind drei Notizfragmente von 1892 (SW XXXI: 7). Mindestens 36 Jahre seines Schreibens hat sich Hofmannsthal in der einen oder anderen Variante mit dialogischem Schreiben beschäftigt und ist dabei zu durchaus unterschiedlichen Lösungen gekommen. Die Texte unterscheiden sich im Einzelnen recht deutlich, auch wenn der Autor selbst seit 1902 die Sammelformel von den ‚Erfundenen Gesprächen und Briefen‘ benutzt, ohne ahnen zu können, wie viele Texte, Entwürfe und Notizen sich noch unter dieser Überschrift versammeln würden. 3 Vorbilder und Bezüge finden sich neben dem erwähnten Platon in der Romantik, etwa bei Friedrich Schlegel und dessen ‚Gespräch über die Poesie‘, im englischen Sprachraum bei Walter Savage Landor und seinen ‚Imaginary Conversations‘ und natürlich, für Hofmannsthal von kaum zu überschätzender Bedeutung, bei Walter Pater oder Oscar Wilde (Rispoli 2016: 313). Simon Jander weist zudem noch auf mögliche ideengeschichtliche Kontinuitäten zu Schopen‐ hauer und Dilthey hin; Pater und Schlegel werden von ihm ebenfalls erwähnt ( Jander 2008: 254 ff.). Aber auch konkrete lebensweltliche Begegnungen und Freundschaften, etwa mit R. A. Schröder oder dem Ehepaar Nostitz, mögen hier ihren Ausdruck gefunden haben. Natürlich spielt Goethe eine vielfältige Rolle, besonders auch in den Fragment gebliebenen Entwürfen, etwa in einem unabgeschlossen gebliebenen ‚Gespräch über die Novelle von Goethe‘ oder in den ‚Briefen des jungen Goethe‘ von 1903/ 04 (SW XXXI: 146 ff. und 87 ff.). Auch dessen ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ erinnern in ihrer Mischung aus Novellistik und monobzw. dialogischen Erzählungen durchaus an einige Elemente bei Hofmannsthal und mögen ein Vorbild gewesen sein. So vielfältig die Bezüge beim eminent belesenen und zitierbzw. anspielungs- 246 Jan Andres freudigen Hofmannsthal gewesen sind: bei der Bestimmung der Eigenart dieser Texte, die seltsam zwischen Fiktion, Narration, Theorie und Reflexion hin- und herwandern, helfen intertextuelle Bezüge nur bedingt weiter. Es wechseln Briefe und Gespräche, unterschiedliche Gesprächssituationen sind anzutreffen, einiges mutet sehr, anderes kaum platonisch oder sokratisch an. Nahezu immer geht es um Kunst, aber es sind viele Künste, die thematisiert werden: Literatur, Theater und Drama, Schauspielerei, Tanz und die Malerei. Manches steht der Rezension und der Kunstkritik sehr nahe, manchmal kommt es zu ambivalenten Textbewegungen, weil Hofmannsthal durch die Figuren hindurch Sichtweisen und Positionen wechselt, mischt und sogar terminologisch verunklart. Nicht zuletzt deswegen hat Jander bei diesen Texten den essayistisch-poetischen Charakter betont ( Jander 2008: bes. 265; Rispoli 2016: 314 u. Rispoli 2018: 252 u. 268). Dennoch stehen letztlich durchaus sehr unterschiedlich anmutende Texte nebeneinander unter einer etablierten Gattungsbezeichnung, die mit der Autorität des Verfassers geadelt ist. So wundert es denn auch nicht, dass die Forschung in weiten Teilen, zumindest die älterer Provenienz, eher vereinfa‐ chend vereinheitlicht hat. Die Texte werden entweder der berühmt-berüchtigten Wendung Hofmannsthals aus dem Ästhetizistisch-Symbolistischen ins Soziale zugerechnet, als kommunikative Akte; oder sie werden gegenteilig als poetolo‐ gisch-emphatische Texte von Literatur über Literatur der Welt des Sozialen möglichst weit entrückt ( Jander 2008: 192 ff., bes. 198). Beides stimmt und stimmt nicht, es werden dabei einfach zu viele Texte mit zu unterschiedlichen Textver‐ fahren unter einen Begriff gezwungen aus dem Wunsch nach Systematisierung. Lösen lässt sich dieses Problem wohl nicht wirklich. Janders Vorschlag, von poetisierten, essayistischen Schreibverfahren zu sprechen, überzeugt dabei aber, weil er die Weite des Konzepts Essay geschickt zu nutzen versteht. Dabei muss man dann in Kauf nehmen, dass das Brief- oder Gesprächshafte und auch Fiktionalität unter Essay subsumiert wird. Die detaillierten Analysen in seiner Studie fangen das dann bei Jander auf und genau darin scheint mir ganz generell ein Ausweg zu liegen. Will man dem Umgang von Hofmannsthal mit Gespräch und Brief in schriftlich-fiktionaler Form auf die Spur kommen, sollte man von großen Lösungen eher absehen und die einzelnen Texte in ihrer Gemachtheit genauer betrachten. Dies scheint nicht zuletzt deswegen ein gangbarer Weg zu sein, weil so viele der erfundenen Gespräche und der Briefe selbst genau das tun: Sie thematisieren die Faktur von Kunst, von Literatur, von Texten. Dann kann man dieses kritisch-reflektierende Verfahren auch auf sie selbst anwenden. Genau das soll im Folgenden an einer kleinen und „verhältnismäßig homo‐ genen Gruppe von Dialogen, in denen unterschiedliche Möglichkeiten der Rezeption von Dichtung thematisiert werden“ (Rispoli 2016: 324; Jander 2008: 247 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. 253 ff.), versucht werden, den drei ‚Unterhaltungen‘ über Keller, Goethe und Wassermann, alle aus dem Jahr 1906. Hier geht es, so die These, um inszenierte, rollenhafte Rezeptionshaltungen der auftretenden Figuren in der Auseinander‐ setzung mit literarischen Texten. Diese manchmal deutlich divergierenden Positionen zum adäquaten Umgang mit Texten, mit Literatur und Kunst, sind zum Teil stark narrativ gerahmt und unterbrochen, bei weitem keine fast reinen Dialoge wie etwa das ‚Gespräch über Gedichte‘ zwischen Gabriel und Clemens, sondern gelegentlich eher schon novellenartig. Alle drei ‚Unterhaltungen‘ widmen sich dem Verhältnis von Dichtung und Leben, einem Thema, das Hofmannsthal schon vor 1900 umtreibt. Sie inszenieren Momente des Alltags, in denen sich tendenziell gleichberechtigte Figuren begegnen und über Literatur austauschen. Es fällt auf, dass „die erzählenden Passagen an Ausmaß und Bedeutung“ zunehmen in diesen Texten im Vergleich mit anderen dieser Zeit (Rispoli 2016: 324.). Der historische Autor Hofmannsthal schafft sich in diesen erzählten Gesprä‐ chen die Möglichkeit, durch sehr unterschiedlich angelegte Figuren hindurch, die wenig individualisiert sind, Überlegungen zu einer „Kunst des Lesens“ anzustellen, so der Ausdruck Hofmannsthals mit Bezug auf die Novelle von Goethe und damit auf eines der von ihm nicht abgeschlossenen ‚Gespräche‘. Hofmannsthal schreibt: „[W]ir wollen einander in der schwierigsten Kunst des Lesens weiterbringen, die wir nun schon seit 30 Jahren hoffentlich nicht ganz vergeblich treiben.“ (SW XXXI: 150.) Dabei muss er nicht entscheiden, was richtig oder falsch, angemessen oder inadäquat ist. Durch die Figurenpositi‐ onen entstehen Möglichkeitsräume der Bestimmung einer je wechselnden, also unentscheidbaren Rezeptionshaltung der Literatur gegenüber. Hofmannsthal spricht an anderen Stellen von einer scheinbar völlig entgegenstehenden, aber eher komplementär gedachten „Kunst des Nicht-lesens[! ]“ (SW XXXI: 335). In einer Notiz zum ‚Gespräch über Gedichte‘ schreibt Hofmannsthal: „Kunst des Nicht-lesens. Hier käme es darauf an, eine erhöhte Sensibilität für point de départs zu gewinnen. Im Anfang liegt das Ganze praedestiniert. Und 999 unter tausend Anfängen sind unmöglich. Der Anfang entschleiert die Geberde des Schreibenden. Seine Unmöglichkeiten sind zahllos: er wendet sich an unmögliche Zuhörer, oder er statuiert eine unmögliche Stimmung, unmögliche Interessen. Der Anfang eines wahren Kunstwerkes ist göttlich wie der Schwung eines wundervollen Vogels, wie ein Traumübergang. Die Natur ist alles mit einem Mal. Das (1) Kunstwerk (2) Geisteswerk ist überall einzig. Nothingness is law. Montaigne Addison Voltaire Kleist: ihre Anfänge“. (SW XXXI: 335) Die beiden Notizen davor, N 28 und 29, beschäftigen sich hingegen wieder mit der 248 Jan Andres 4 Zu diesem komplementären Denken Hofmannsthals vgl. Gerhard Neumann, „Kunst des Nicht-lesens“. Hofmannsthals Ästhetik des Flüchtigen, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 4/ 1996, S. 227-260. „wahren Kunst des Lesens“, deren Grundlage Charakterologie und Reife sei. 4 Dass Hofmannsthal hier von einer Visionsästhetik spricht, bestärkt nur die Annahme, dass die einzelnen Texte eher sich ergänzend und kommentierend denn systematisch zu lesen sind, man sie also differenzierter betrachten sollte. 2 ‚Unterhaltung über die Schriften von Gottfried Keller‘ (1906) Die erste der drei ‚Unterhaltungen‘ widmet Hofmannsthal dem Schweizer Keller, sie ist vermutlich im Wesentlichen im Mai 1906 entstanden und erscheint schon im Juni des Jahres in der ‚Zeit‘. Die offenbar sehr rasch entstandene Arbeit sollte möglicherweise eine Fortsetzung bekommen, in Notizen spricht Hofmannsthal von ‚Unterhaltungen‘ im Plural, allerdings sind fast keine Doku‐ mente erhalten (dazu SW XXXI: 364). Zitiert wird der Text im Folgenden der besseren Erreichbarkeit wegen nach der zehnbändigen Taschenbuchausgabe: Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, hier der Band ‚Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen‘, Frankfurt/ M. 1979, S. 510-518. Als Sigle dieses Bandes wird GWE verwendet. Die Keller-Unterhaltung beginnt plötzlich, geradezu unvermittelt mit der Schilderung einer Gesprächssituation, nicht mit dem Gespräch selbst: „Unter den jungen, nicht überjungen Freunden, die in einer hölzernen luftigen Laube saßen, auf die Gartenecke gebaut, dort wo die rebenbekletterten Mauern zu‐ sammenstießen, kam das Gespräch unversehens auf diese leuchtende Materie.“ (GWE: 510.) Mit diesem ersten Absatz wird deutlich, dass es sich bei dem folgenden Gespräch ‒ bis zur ersten wörtlichen Rede wird es aber noch fast eine halbe Seite dauern ‒ um eine gesellige soziale Situation von Freunden handelt, fast schon in der Idyllentradition in einem Garten verortet. Das Gespräch über Literatur findet an einem locus amoenus statt, selbst einem traditionsreichen Dichtungssymbol, das Hofmannsthal um 1900 viel verwendet und variiert. Es handelt sich um vier Freunde, wie schnell deutlich wird, einen Legationssekretär, einen Musiker, einen Gutsbesitzer, der zugleich Literat ist, und schließlich einen Maler. Alle bleiben anonym, nur ihre Berufsbezeichnungen identifizieren die Sprechpositionen, fast schon allegoriehaft. Sie sind mittleren Alters, also nicht lebensunerfahren, aber auch noch nicht altersweise. Bezeichnend ist, dass die ‚Unterhaltung‘ als Erzählung im Novellenton beginnt, mit einer extradie‐ getisch-heterodiegetischen Sprechinstanz mit Nullfokalisierung, womit sofort 249 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. eine Distanz auch zu den Figuren evoziert wird, über die gleichsam berichtet wird. Der/ die Leser*in beobachtet so ein Geschehen, dessen Inhalt schon länger bekannt zu sein scheint, wie der bestimmte Artikel vor ‚das‘ Gespräch und der Demonstrativartikel ‚diese‘ vor ‚leuchtende Materie‘ anzeigt. Man spricht aber zunächst gar nicht über Literatur, sondern über Feste. Die seien ein verschwundenes Phänomen der sozialen Welt, nurmehr in Journalen und Wochenschriften zu finden. Über diese „leuchtende Materie“ also kommt das Gespräch erst auf Keller, und das durchaus kritisch: „Den ‚Grünen Heinrich‘ haben mir“, sagte der Legationssekretär, „diese nicht enden wollenden Münchener Künstlerfeste wirklich verleidet.“ (GWE: 510) Damit ist das Thema durch eine Figur gesetzt und es bleibt bis zum Ende Gegenstand der Debatte, wenngleich man sich des Eindrucks nicht völlig erwehren kann, dass es tendenziell nicht um Keller, sondern um Literatur am Beispiel von Keller geht. Der Legationssekretär ist denn auch nicht durchgängig so kritisch, er lobt statt des Themas oder Motivs der Feste den überaus gelungenen Anfang des Romans, der eine „wahrhaft erlebte […] Sache“ sei. Obst in einem Korb zu vergleichen, lägen dort die „jugendlichen Glückstage“ Heinrichs (GWE: 510). Sicher nicht zufällig wählt Hofmannsthal über seine Figur hier einen Vergleich, der wie ein Stillleben von de Heem oder Cézanne anmutet, denn später wird sich ja auch noch der Maler zur Literatur äußern. Der Sprecher räumt ein, über Heinrichs Befindlichkeit gar nichts zu wissen, sich nicht zu erinnern, aber auf allem Dargestellten läge „ein Glanz“, auch dies ein optischer Eindruck, „ein Glanz der Jugend, ein Glanz des Lebens.“ (GWE: 510) Diese Aussage ist typisch für den Text: Es geht nicht um präzise, gar wissenschaftliche Textkenntnis und -interpretation, sondern um Eindrücke und Stimmungen, Gestimmtheiten, die Kellers Texte im Leser auslösen. Das unterstreicht dann auch der ergänzende Gutsbesitzer und Literat, der auf die „Kraft“ von Kellers Werken abhebt (GWE: 511). Auch Kraft ist als werkästhetische Kategorie unbrauchbar, dient aber hier der Bestimmung von Lese-Impressionen. Der Legationssekretär stimmt dem zu, am Beispiel der ‚Leute von Seldwyla‘ stellt er eine „feine […] und sichere […] Schilderung gemischter Zustände“ heraus (GWE: 511). Die finde man ständig in der Welt und sie zu schildern, sei die Leistung Kellers, der die Darstellung von Übergängen beherrsche. Der anschließende illustrative Vergleich stammt wieder aus der Malerei. Keller fahre wie mit einem Ölschwamm über ein altes und verjährtes Bild, er habe „die Verlegenheit gemalt, in all ihren Tönen, auch den ultravioletten, die man gewöhnlich nicht zu sehen bekommt“ (GWE: 512). Ut pictura poiesis, die antike Vorstellung aus der ‚Ars Poetica‘ des Horaz wird überdeutlich. Die 250 Jan Andres 5 Zum diesem Thema vgl. Lothar van Laak, Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003. hohe Bildkraft dieser Literatur sei ihre Stärke, für den ‚Salander‘ konstatiert der Sekretär: „[…] - wo bleibt da Klein und Groß, wenn man an einen solchen Zug [gemeint ist trinkendes Vieh an einer Tränke, J.A.] denkt. Man fühlt nur: da ists! […], man fühlt: da bin ich jetzt und bin zugleich woanders; man sieht die Worte an, mit denens gemacht ist, zwei Reihen toter schwarzer Buchstaben, und begreifts kaum.“ (GWE: 512). Literatur appelliert offenbar weniger an den Verstand oder die Einbildungskraft, wie es im 18. Jahrhundert gedacht wurde. Hier richtet sie sich ans Sentiment und das tut sie als Malerei und nicht als Druckwerk. Beschrieben wird die Bildlichkeit von Literatur, die die berühmte Bleiwüste des Druckbildes auf unbegreifliche Weise transformiert. 5 Das aber ist ein entscheidender Punkt: Die Wirkung kann nur per Vergleich beschrieben, aber nicht erklärt oder gar auf den Begriff gebracht werden. Das ganze Gespräch, das kann man hier schon festhalten, stellt „verschiedene Möglichkeiten nicht-begrifflichen Lesens“ vor, es werden Leseeindrücke und -erlebnisse artikuliert ( Jander 2008: 209). In der Dramaturgie der Rolleninszenierungen, die über die Figurenrede transportiert werden, ist es fast zwingend, dass nun der Fachmann ins Gespräch eingreift: der Maler. Er konstatiert als erstes, in Keller habe ein Maler gesteckt, der „etwas gewesen sein“ müsse, also Format hatte (GWE: 512). Das begründet er aber nicht damit, dass im ‚Grünen Heinrich‘ von Malerei und Bildern geredet werde. Vielmehr zeige sich an der Darstellung Kellers eine visionäre Kraft wie bei Rembrandt, dem Maler des Hell und Dunkel. Keller wird die „Phantasie eines Malers“ zugesprochen bei der Darstellung von Szenen: „Es ist nicht bloß malerisch geschildert, sondern es war die Vision eines Malers, die ihn schuf [gemeint ist der Ort einer Begegnung, J.A.], und der Dichter interpretierte nur die Vision.“ (GWE: 513) Im Unterschied zu seinem Vorredner trifft der Maler eine produktionsästhetische Bestimmung der Disposition des Autors. Der muss also erst Maler und dann Interpret des eigenen inneren Gemäldes sein, um Wirkung zu erzeugen. Malerei ist die vorgängige Kunstform. So entsteht eine „bezaubernde Rhythmik von Licht und Schatten.“ (GWE: 514) Dieser Eindruck, der sich eben von Rembrandt herleitet, bezieht sich für den Maler ausdrücklich auf die innere und äußere Welt der Figuren, wie er klarstellt. Man sei darüber hinaus, „in der Kunst oder im Leben ein Äußeres von einem Inneren scheiden zu wollen.“ Das sei auch die wahre Intention Kellers und damit die echter Literatur: „Womit wohl auch er [d. i. Keller, J.A.] ein Inneres und ein Äußeres unzertrennt zu geben vermeint haben wird.“ (GWE: 514) Echte Kunst stellt Ganzheit dar 251 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. oder sogar her. Dieser holistische Grundgedanke prägt nicht nur die Ansichten des Malers, er gehört ebenso zum Schaffen Hofmannsthals, bis in die späteste Schaffensphase hinein, prominent formuliert zum Beispiel in der Münchener Schrifttums-Rede. Nun ist der Musiker mit seinen Gedanken am Zug. Die wörtlichen Reden der Figuren aber werden immer wieder durch narrative Überleitungen gerahmt. Über den nächsten Redebeitrag sagt die Erzählinstanz, der Musiker habe einen Gedanken ausgesponnen und wolle ihn ans Licht bringen. Hier und an ähnlichen Stellen sieht man deutlich, dass diese erfundenen Gespräche in erster Linie erzählte, fiktionalisierte Gespräche in Prosa sind, wie man sie aus Romanen und Novellen insbesondere des 18. und 19. Jahrhunderts kennt. In einem solchen hebt der Musiker nun auf Zahlenverhältnisse bei Keller ab. Diese spielten eine große Rolle, allerdings erfährt man von der Erzählinstanz auch, „daß er [der Musiker, J.A.] Mühe hatte, eine fliehende Reihe von Gedanken zu bannen.“ (GWE: 515) Das Thema scheint schwierig, der Musiker wird aufgefordert, seine Idee zu präzisieren. „Eben jenes Spiel einfacher Verhältnisse, das annähernd auf Zahlen zurückführbar wäre.“ (GWE: 515) Er führt Keplers Harmonie-Lehre an, eher eine Welt-, Kosmos- und Naturphilosophie, die an‐ deren - der Sprecher ist unklar - bringen Augustinus ins Spiel. Der Musiker zitiert zustimmend den ‚Gottesstaat‘ und den dortigen Rekurs auf das apokryphe ‚Buch der Weisheit‘ 11, 21, dass Gott alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet habe (GWE: 516). Ellen Ritter weist im Kommentar (SW XXXI: 370) darauf hin, dass Hofmannsthal hier wie auch beim Kepler-Bezug eine Schrift von Pater Desiderius Lenz, Zur Ästhetik der Beuroner Schule, Leipzig o. J. zitiert hat, zum Teil wörtlich. Er legt der Figur also auch hier Aussagen anderer über Bildende Kunst in den Mund. Auf die Frage, was das nun mit Kellers Welt zu tun habe, gibt der Musiker die Antwort: „Alles und nichts, je nachdem eure Phantasie gelaunt ist, diesen Dingen nachzugehen. Jedenfalls ist es eine Welt, in der eine gute und starke Harmonie herrscht, und zu fühlen oder nicht zu fühlen, wieweit diese auf einer wundervollen Verteilung von Maß und Zahl und Gewicht ruht und verankert ist, das ist schließlich jedermanns eigene Angelegenheit. Aber etwas Kleines kann ich darin nicht sehen und noch weniger etwas Unwesentliches oder Zufälliges […]“. (GWE: 516) Als Beleg führt er die verflochtenen Lebensläufe der Figuren an, die sich biegen und „dem Lichte zuwachsen“, sich wie Kronen von Apfelbäumen verflechten, ein „Geschlinge“ bilden. Unterschiedliche Altersstufen würden im Gleichgewicht gehalten, die Geschicke seien melodisch aufeinander bezogen. (GWE: 516 f.) Die naturalen Metaphern erinnern wohl nicht zufällig an die Arabeske, die Friedrich Schlegel zur Kunstbzw. Literaturallegorie schlechthin erhoben hatte. Vor 252 Jan Andres allem aber betont diese Figur nun die radikale Individualität des Erlebens von Literatur und ihr Vergleich kommt eben aus der Harmonielehre, die musikalisch gewendet wird. Es gibt keine objektive oder objektivierbare Literaturerfahrung, sie entspringt ja einem Wunder, aber deswegen wird sie nicht banal oder unwichtig. Darin gleiche sie der Musik, wie die anderen meinen: „Es ist eine alte Sache, daß du Musik aus allem hörst.“ (GWE: 517) Diese These erinnert an die Spätromantik Eichendorffs und den ersten Vers seiner ‚Wünschelrute‘: „Schläft ein Lied in allen Dingen“, das man mit einem „Zauberwort“ treffen könne und die Welt werde singen. Der Musiker ist der Romantiker dieser Unterhaltung, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass er die einzige Bestimmung der Funktion eines Kunstgespräches trifft, die ebenfalls an die romantische Theorie und Praxis des Gesprächs erinnert: „[U]nd um uns über Unterschiede klarzuwerden, nicht um leichtfertig eins ins andere hineinzuwischen, führen wir, glaube ich, ein Gespräch ‒, hier bin ich gleichsam, wie ich mich auch mit dem Gang der Erzählung fortbewege, immer im Schwerpunkt […].“(GWE: 517) Der Musiker formuliert eine Miniatur-Poetik des erzählten Gesprächs, wie sie Hofmannsthals Ansinnen vielleicht entsprochen hat. Die Figuren markieren in der Diskussion unterschiedliche Positionen zur Kunst, sie tun es im geselligen, gleichsam romantischen Diskurs, gelehrt und einander zugewandt, betonen In‐ dividualität und Erlebnisqualität von Literatur, setzen nicht auf Hermeneutik im rationalen Sinn. Vorzugweise wird Literatur verglichen mit Malerei und Musik und deswegen hat der Maler mit einer wörtlichen Rede, die keine narrative Endrahmung mehr erhält, das letzte Wort, das aber auch nur „einigermaßen“ eine Erklärung zu Keller und zur Literatur als Kunst gibt: „So erklärt sichs doch einigermaßen, daß diese Bücher ihre schönste Wirkung, eine seelenhafte Freiheit und Heiterkeit, gar nicht in den Kopf ausstrahlen, sondern wirklich direkt ins Blut, so daß sie einem im Leben weiterhelfen und das Nächste leichter machen, was man wirklich selbst von Goethe kaum sagen kann.“ (GWE: 518) Literatur wirkt ins Blut, ins Leben, ins Individuum und ist auf das Leben bezogen, man kommt ihr mit Ratio allein nicht bei ( Jander 2008: 208 f.). Und um das zu verstehen, braucht es das gesellige Gespräch in romantischer Tradition. Das ist es, was Hofmannsthal hier erzählt und den Figuren in den Mund legt. 3 ‚Unterhaltung über den ‚Tasso‘ von Goethe‘ (1906) Fast direkt im Anschluss an das Keller-Gespräch hat Hofmannsthal dasjenige über Goethes ‚Tasso‘ geschrieben, Anfang Juli 1906. Erschienen ist diese ‚Unter‐ haltung‘ in zwei Teilen im Juli und September des Jahres in der Berliner Zeitung ‚Der Tag‘. Hofmannsthal ließ ältere Vorarbeiten aus einem Tasso-Vortrag des 253 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. 6 Zu dem Tasso-Vortrag vgl. Rudolf Hirsch, Drei Vorträge im Jahr 1902. Mit Aufzeich‐ nungen Hofmannsthals zu ‚Die natürliche Tochter‘ und ‚Torquato Tasso‘, in: Ders., Beiträge zum Verständnis Hugo von Hofmannsthals. Frankfurt/ M. 1995, S. 29-44. Der Pater-Aufsatz trägt den Titel ‚Diaphanéité‘; die Aussage über Kainz stammt aus einem unveröffentlichten Brief an den Vater, der im Freien Deutschen Hochstift aufbewahrt wird. 7 Der Text hat von den vorliegenden ‚Unterhaltungen‘ die größte Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren, vgl. Rispolo, Artikel, S. 325. Vgl. auch Wolfram Mauser, ‚Sociabilität‘. Zu Hofmannsthals ‚Tasso‘-Feuilleton, in: Achim Aurnhammer (Hrsg.), Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin/ New York 1995, S. 123-144. 8 Vgl. Hans-Jürgen Schings, Lyrik des Hauchs. Zu Hofmannsthals ‚Gespräch über Ge‐ dichte‘, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 11/ 2003, S. 311-340. Jahres 1902 sowie einen Aufsatz von Walter Pater einfließen. Eine Inszenierung an der Wiener Burg mit dem verehrten Josef Kainz als Tasso hatte zudem im Januar den vermeintlich stärksten Eindruck, den er je vom Theater empfangen habe, auf ihn gemacht (SW XXXI: 371 f.). 6 Auch diese ‚Unterhaltung‘ beginnt als Erzähltext, allerdings ist die narrative Rahmung des sich später entwickelnden Gesprächs deutlich länger. Zudem wird im weiteren Verlauf ein Manuskript eingeschoben, also ein fiktionaler, aber ausformulierter schriftlicher Text, dessen Inhalt wiedergegeben ist. Wieder ist deutlich zu sehen, dass es mehr ist als nur ein ‚erfundenes Gespräch‘. 7 Während das Keller-Gespräch ein Garten-Disput ist, situiert Hofmannsthal die Gespräche zwischen zwei Paaren, die aber ebenfalls anonym bleiben, in einer komplexeren Struktur. Zunächst gibt es nur die Information, „man“ sei an einem kühleren Nachmittag in der Zeit der „stärkste[n] Rosenblüte“ während „flammend heißer Tage“ und „überstark duftender Abende“ in die Stadt ins Theater gefahren (GWE: 519). Die eigentliche Aufführung wird zunächst ausgelassen, der Heimweg findet bei feuchter Kühle statt, „Ströme lauerer Luft“ und ein „hauchender Duft von offenen Rosen und der starke Duft der Rainweide“ begleiten die Fahrt im offenen Landauer bei schwachem Mondschein (GWE: 519). Die Naturbeschreibung soll eine Stimmung evozieren, die den Theaterbe‐ such charakterisiert - Hitze und Kühle, starke und schwache Gerüche, Hell und Dunkel. Es werden die Sinne und die Sinnlichkeit inszeniert, womit deutlich wird, dass es auch hier wieder um die Rezeptionsbedingungen und -einflüsse von Kunst geht. Der erwähnte Hauch ist eine prominente Inspirations- und Kunstmetapher bei Hofmannsthal. 8 Die beiden Paare schweigen ob der empfan‐ genen Eindrücke, obwohl sie sonst das lebhafte Gespräch pflegen. „Aber man hatte ‒ und jeder von den vier das erste Mal im Leben ‒ den „Tasso“ gesehen, man hatte Kainz den Tasso spielen sehen, und die Phantasie, für vierthalb Stunden überstark gefesselt, konnte sich von diesen Bildern weder entfernen noch sich 254 Jan Andres ihrer durch Worte entladen.“ (GWE: 519) Man wird hier in der narrativen Rahmung gleichsam Zeuge einer Initiation, einer rite de passage, wie man in Anlehnung an das Konzept des Ethnologen Arnold van Gennep sagen könnte. Es ist wenige Jahre später, 1909, entstanden. Ein soziales, ein ästhetisches Ereignis hat seine Zuschauer verändert. Wie der Duft der Umwelt auf der Fahrt war es „überstark“, sinnlich überwältigend, und lässt die Beteiligten wörtlich sprachlos zurück. Der „innere Sinn“ schafft stattdessen „immer wieder das Nachbild der Töne und Gebärden“, in denen sich „geistige Qualen […] allen äußeren Sinnen preisgegeben hatten.“ In der Interpretation des Tasso durch Kainz hat sich den beiden Paaren „das Dichterwerk selbst“ verändert, und zwar ins fast Bedrohliche. Der Effekt des Theaterspiels ist Bereicherung, die zugleich Verstörung auslöst: „Das Unfaßliche jeder solchen Leistung, das Unfaßliche auch jedes geschaffenen Werkes war in eine ungewohnte Nähe gerückt.“ (GWE: 519) Die Performanz des an sich durch Lektüre bekannten Textes im Bühnenspiel hat eine neue Wirkqualität bei den Figuren erzeugt, sie erinnern sich vor allem an die Actio Tassos, die „Wahrheit des Selbstgesprächs, die so sehr als der natürliche Zustand dieses Menschen erscheint, aus dem seiner Seele Inhalt heraustritt, daß fast der wiederaufgenommene Dialog als das Fremde, Befremdliche gefühlt wird“. (GWE: 520) Diese Beschreibungen, die eigentlich eine Interpretation sind, stammen von der Erzählinstanz, die wieder extradiegetisch-heterodiegetisch und nullfokalisiert ist. Es ist nicht eindeutig, wessen Eindrücke, die der Figuren oder der Erzählinstanz, hier formuliert sind. Nach dieser Erzähl-Exposition eröffnet die Dame des Hauses im Anschluss an ein Nachtessen das eigentliche Gespräch über Kunst erst mit größerem zeitlichem Abstand, indem sie die Frage aufwirft, ob im Stück nicht etwas Undarstellbares dargestellt sei (GWE: 520). Nach Aufforderung durch ihren Mann, einen Dichter, erläutert sie ihr Paradoxon. Das zweite Paar, ein Major und eine Baronin, hört zunächst nur zu. Es handelt sich um eine Kritik an Goethe, eine Sicht, die Hofmannsthal zeitlebens denkbar fremd war. Er bewunderte dessen Werk, mit dem er strikt philologisch und unbiographistisch umging, eben als Kunst-Werk. Nun nutzt er die Figur der Dichter-Gattin für eine ihm uneigene Interpretation. Die Figuren spielen Positionen durch. Da Goethe versucht habe, „Menschen der guten Gesellschaft“ darzustellen, sei etwas entstanden, das erzwungen und zur Hälfte unwahr sei. Der Grund sei: „[D]ie Anlässe zu dem meisten, was hier gesagt wird, würden in wirklich guter Gesellschaft vermieden werden, weggeräumt, bevor die Nötigung sich zeigte, alles durch viel Reden gut oder eigentlich schlimm und schlimmer zu machen.“ (GWE: 520 f.) Die Figuren Goethes handeln indiskret, sind nicht konventionssicher, so die Position. In dieser Sicht pflichtet der Major der 255 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. Hausherrin bei, es würden „sich die Leute in einer unmöglichen Weise betragen und die denkbar schlechteste Manier an den Tag legen.“ In neueren bürgerlichen Dramen, eine aus heutiger Sicht eigenartige Zuschreibung an den ‚Tasso‘, fehle es an „natürlichem Takt“, Zurückhaltung und Respekt. (GWE: 521) An dieser Stelle geht der Dichter und Hausherr in die Opposition und widerspricht mit seiner Deutung: „Ist nicht im Gegenteil in diesem Stück gerade das, was das Zusammenleben einer Gruppe geistiger und kultivierter Menschen bestimmt und regiert, in einer unvergleichlichen Weise nicht gesagt, sondern gezeigt? “ (GWE: 521) Ein sozialer Zustand, gemeint ist die Rückkehr Antonios nach Belriguardo und damit an den Hof von Ferrara, an dem Tasso nun wirkt, sei wahr vergegenwärtigt in seiner gesellschaftlichen Brisanz, in der die konkurrierenden Männer aufeinandertreffen. Während also seine Frau auf Goethes Text abhebt, nimmt der Dichter viel stärker die Handlungsebene, das Figurenspiel und damit eher die konkrete Aufführung in den Blick. Zeigen kann eigentlich nicht der Text, sondern nur seine Performanz im Spiel. In dem wirke Gewicht gegen Gewicht, ein Gedanke, der an die bereits bekannte Harmonie-Lehre des Musikers aus dem Keller-Gespräch erinnert. So werde man vom Geschehen mitgerissen. Eine Rezeptionshaltung der Faszination werde fast erzwungen. Der Dichter wird aber in diesem Gedanken unterbrochen, weil die Frauen gemeinsam, wie der Major vermutet, mit der Prinzessin nicht einverstanden seien. Es folgt eine erneute massive Figurenkritik der Prinzessin Leonore durch die Frau des Dichters. Sie sei allenfalls erträglich, wie eine Kranke, in ihrem Reden über Tasso aber verderbe sie das Stück sogar, es sei „abscheulich“, ein falscher Ton, sie habe die Verse „auskratzen“ wollen. (GWE: 522) Sie bewegt sich also wieder auf der Ebene des Textes, der heftige Emotionen und Aversionen auszulösen im Stande ist. Auch die Sanvitale, die andere Leonore und Gräfin von Scandiano, sei „unglaublich unsympathisch“, aber immerhin wisse die, was sie wolle. Die Prinzessin hingegen: „Das soll goutieren, wer will. Ich mag sie nicht. Ich mag sie nicht.“ (GWE: 523) In der Heftigkeit des Affektes hebt die Hausherrin den Unterschied zwischen Figur und Person nahezu auf, sie wertet die Figur wie einen Menschen, dessen Verhalten sie nicht gutheißen kann. Sie nimmt die Illusion des Theaters, oder auch des Textes, ganz ernst und deswegen kann eine Figur Sympathie bzw. hier Antipathie auslösen. Die anderen Figuren des Gesprächs bemerken diese Durchbrechung der vierten Wand, die Aufhebung der Illusion - sie lachen ein wenig. Zu ihrer Verteidigung erläutert die Hausherrin, dass Goethe wohl die Absicht gehabt habe, eine sympathische, in sich ruhende Frau - sie sagt Frau, nicht Figur! - zu schaffen. Er habe aber eines nicht bedacht: „[U]nd weil im Drama die Figuren 256 Jan Andres sich nur durch Reden zeigen können, nicht durch stilles Dasein und lautloses Reflektieren der Welt in ihrem durchscheinenden Innern, so hat ihn hier, denk ich, das Metier gezwungen, die schönste Figur zu verderben, indem er sie über sich reden und deklamieren läßt, wo es ihre Sache wäre, sowohl als große Dame wie als eine schöne Seele, gerade nicht zu reden, schweigend, sich effacierend zu wirken und zu leiden. Das habe ich gemeint, wie ich früher sagte, er scheint mir hier etwas Undarstellbares darzustellen.“ (GWE: 523) Hier wird durch eine Figur hindurch der mediale Unterschied von Erzählung und Theater reflektiert, in einem fiktionalen Gespräch, inszeniert als Kritik an Goethe. Die dramatische Figur könne nicht durchsichtig werden wie die prosaische, weil sie nur im Reden handeln könne. Daher schließt die Ehefrau: „Denn ich glaube, nichts ist auf der Bühne so schön, als wenn einer einen spielt, der sich selber ‚spielt‘, wenn nämlich die Figur der Mühe wert ist.“ (GWE: 523) Gemeint ist das Spiel des großen Schauspielers, etwa von Kainz, der eine Figur gibt, die selber ständig eine Rolle spielt, wie es bei Tasso der Fall ist, der sich durchgängig als leidenden Dichter inszeniert. Auf diese Invektive gegen die Prinzessin folgt ein erzählender Einschub, die Figuren trennen sich und die Männer setzen das Gespräch allein fort. Der Major bekräftigt, er habe das Drama mehrfach gelesen, sei begeistert vom „innere[n] Reichtum“ gewesen, aber das Verhältnis Antonios zu Tasso habe ihm erst die Aufführung offenbart. (GWE: 524) Der Dichter bestärkt ihn im Eindruck der Momenthaftigkeit des Erkennens, es sei bei der Inszenierung des Dramas wie mit einem exzellenten griechischen Torso: „Eigentlich wird man einem solchen Gebilde nur in dem Augenblicke gerecht, wo man davor steht: aber ums Gerechtwerden handelt sichs ja gar nicht, kaum ums Begreifen, sondern um ein höchstes Genießen, und das ist flüchtig wie der Blitz, ist ein zuckendes Ahnen, flüchtigste Intuition, ist ein raumloses, zeitloses: Ich habs gefühlt! So wars mir heute während dieser Aufführung.“ (GWE: 525) Diese Art der Erkenntnis ist nicht verstandesgeleitet, keine Hermeneutik, eher so etwas wie eine Überman‐ nung durch das literarisch-rezeptive Sensorium, das man hat oder nicht hat, eine Art Genieästhetik der Rezeption. Sie entstehe als Eindruck durch Übergänge und Gestalten und sei auch indifferent gegenüber den Großgattungen: Der Dichter rechnet auch den ‚Werther‘ und die ‚Wahlverwandtschaften‘ zu den Dramen, die jenen rätselhaften Effekt auslösen. Das literarisch-dramatische Ereignis sei nur ein Auslöser: „Wie die Welle nichts ist als das Sichtbarwerden von Bewegendem und Widerstehendem, darum, wenn sie zusammensinkt, sich immer wieder erneut und einfach nicht fortzuräumen ist, so geht es hier. […] Das Geschehen wird symbolisch. Wir erkennen die Signatur von Menschen. Eigentlich geschieht nichts. Es entschleiert sich etwas. Und nicht etwas, das 257 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. 9 Dieser Art der Plötzlichkeit der ästhetischen Erfahrung hat Karl Heinz Bohrer zum Kern seiner Theorie der ästhetischen Moderne gemacht, vgl. etwa: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/ M. 1981 oder: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/ M. 1994 oder: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung, München/ Wien 2003. Auf Hofmannsthal geht Bohrer explizit am Beispiel der ‚Elektra‘ ein. einmal geschehen ist, sondern ein unabänderliches Verhältnis.“ (GWE: 526) Diese esoterisch-abstrakte Bestimmung hilft dem heutigen Leser wohl wenig weiter. Literatur scheint an intuitives, eindruckhaftes Spontan-Verstehen zu appellieren, darin aber offenbart sich anthropologisches Wissen und der An‐ spruch auf Überzeitlichkeit. 9 Wie man das auf aushaltbare Weise gestalte, sei das persönliche Geheimnis des großen Autors. Auf diese einigermaßen rätselhafte Unterhaltung von Major und Dichter folgt ein halbseitiger Erzähleinschub, der mehrere Wochen nach der Unterhaltung „ohne Prätension über das Stück“ überbrückt. (GWE: 526) Im Spätsommer trifft beim Dichter und seiner Frau ein Kuvert vom Major und dessen Frau ein, das aber keinen Brief enthält, sondern ein Manuskript. Diese Schrift mit dem Titel ‚Die Prinzessin‘ wird von der Erzählinstanz „ohne Veränderung mitgeteilt“. (GWE: 526) Hofmannsthal verlässt hier also die Dialogebene der erzählten Gespräche völlig zugunsten einer Art schriftlichen Abhandlung. Es ist die Erzählinstanz, die den Gesamt-Text konsistent hält, nicht die Figuren, nicht die mündliche, dialogische Rede. (Rispoli 2018: 265 f.) Rispoli hält diese Schrift für den eigentlichen Höhepunkt des Textes und wegen ihrer starken Markierung spricht einiges für diese Lesart. (Rispoli 2018: 266) Es ist eine Art anonyme, da nicht unterzeichnete Literaturkritik, eine Verteidigung von Goethes Prinzessin. Aber sie liegt literal vor und nicht mal als Brief. Von wem sie stammt, vom Major oder seiner Frau, wird nach der gemeinsamen Lektüre Diskussionsgegenstand zwischen dem Empfänger-Ehepaar. Offenbar lässt sich die dortige Position nicht einfach einer Figur zuordnen. In der Schrift wird die Prinzessin nun zur vornehmen Leidenden erklärt, die höfische Welt zwinge sie zur Entsagung. Es zeigt sich eine ganz andere Sicht auf die Figur als jene, die die Hausherrin vorgetragen hatte. Sie sei, es wird Walter Paters ‚Diaphanéité‘-Aufsatz auf Englisch und fast wörtlich zitiert, von ganzheitlicher Natur, göttlicher Schönheit und „moral sexlessness“. (GWE: 528 und SW XXXI: 376) Weil sie von vollendeter Einfachheit sei, könne man sie nicht eine bloße Dulderin nennen, sie sei „Vestalin“, also eine Priesterin. (GWE: 528 f.) Die Bewertung von Goethes Leistung bei der Zeichnung einer solchen Figur kulminiert in der abschließenden Aussage: „So wird sie leicht verkannt, und verkannt um ihretwillen wer sie ganz erkennt und es ausspricht, und die 258 Jan Andres menschliche Ehrfurcht für Dienerei eines Höflings genommen. Es scheint, als hätte für solche Wesen die Welt keinen Platz ‒ und wäre die Welt nicht unendlich ärmer, wenn es niemals ein solches Wesen gäbe? “ (GWE: 529) Hier wird die Auseinandersetzung der Dialogpassagen um die Rolle der Prinzessin fortgesetzt, die ja von der Frau des Dichters massiv kritisiert worden war. Die nunmehr formulierte Gegenposition verklärt sie geradezu, räumt zwar ein, dass man die Prinzessin leicht verkennen könne - offenbar ein Zugeständnis an die Kritikerin -, betont dann aber die Leistung der Literatur. Nur sie könne Wesen schaffen, die in der realen Welt nicht existierten. Die Figur selbst wird nämlich zum Wesen, zum Subjekt, und ihr wird ein quasi-ontologischer Seins-Status zugesprochen. Sie ist ein Wesen in der Welt, wenngleich ein figurenhaft-literarisches. Es ist verlockend, diese Position einfach Hofmannsthal selbst zuzuschreiben, zumal es das Pater-Zitat gibt, der für ihn so wichtig war als Bezug. Aber in der Textkonstruktion ist es nur eine Haltung, die entweder von der Frau des Majors, von ihm selbst oder gar von beiden gemeinsam und gleichsam als Nachtrag in die Diskussion gebracht wird. Die aber kann gar nicht fortgesetzt werden, die Haltung des Schreibens setzt einfach auf Akzeptanz und Toleranz in der Diskussion unter Freunden, sogar wenn sie einseitig wird. Eigenartig ist nun, wie die ‚Tasso‘-Unterhaltung selbst zu ihrem Ende kommt. Hofmannsthal wechselt den Darstellungs-Stil. Nach der schriftlichen Äußerung folgt der Abschluss wieder als Gespräch von Dichter und Ehefrau, als Erörterung der Autorschaft des Schriftstücks. Aber nun verschwindet die Erzählinstanz vollständig und es gibt eine Art Bühnen-/ Dramendialog mit Sprechmarkie‐ rungen durch ‚SIE‘ und ‚ER‘ in Majuskeln. Der mündliche Kommentar zum schriftlichen Dramen-Kommentar wird zum Dramendialog. Bemerkenswert ist, dass auch hier beide Eheleute mit ihrem „deutlich[en] Gefühl“ (GWE: 530) argumentieren, wem die Autorschaft zukomme. Sie spricht für Helene, deren Name erst hier fällt, er für den Major. Helene von Nostitz ist jene Frau, die mit Hofmannsthal befreundet war und die hinter der Figur vermutet worden ist, was bei der Interpretation aber wenig hilft. Beide fühlen dem Stil nach, mit an‐ tagonistischem Ergebnis. Dennoch bleibt das Gefühl als Entscheidungsinstanz akzeptabel, auch für die Kritik, wie es vorher für die Literatur selbst galt. Man kann und darf Literatur nach Gefühl auch dann entscheiden, wenn man sie dadurch nicht auf den Begriff bringt, im wissenschaftlichen Sinn. Darauf einigen sich die Eheleute am Schluss, er macht das Zugeständnis, Helene könne die Schreiberin sein. Es sei jedenfalls so, „daß sie recht haben in dem, wie sie die Figur sehen, das fühlt man ja in dem Moment, wo es ausgesprochen ist […]“. Zwei Dinge sind bemerkenswert an dieser Aussage des Dichters. Erstens gibt er seiner Frau scheinbar recht, zugleich aber unterstellt er eine Ko-Autorschaft 259 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. des Majors: Sie, also Major und Frau, haben recht! Eine fast schlitzohrige, ganz nebenbei fallende Lösung des Konflikts. Und wieder wird das Fühlen als Instrument bezeichnet, gegen dessen Evidenz man nicht argumentieren kann und muss. Die ‚Unterhaltung‘ endet mit einer Art späten Leseanweisung, in der Hofmannsthal fast die Diskursethik von Habermas vordenkt: „Denn so hübsch es ist, wenn man offen sagt, wie mans findet und sieht, so schrecklich ist ein starres Beharren nach der trotzigen, kindischen Seite hin.“ (GWE: 531) Hochironisch lässt Hofmannsthal dann ‚SIE‘ antworten, sie wolle es versuchen. Nur für die Sanvitale werde sie niemand dazu bringen. Zustimmung und Negation, das erzählte Gespräch kann beides ertragen und darstellen, das führen die Figuren mündlich und schriftlich vor. 4 Unterhaltungen über ein neues Buch (1906) Die letzte ‚Unterhaltung‘ des Jahres 1906 widmet sich wörtlich einem neuen Buch, nämlich der Novellensammlung ‚Die Schwestern‘ von Jakob Wassermann, die erst in jenem Jahr erschienen war. Aus drucktechnischen Gründen, der Text wurde in der Berliner Zeitung ‚Tag‘ in zwei Nummern platziert, ist diese Unterhaltung in ‚Die Erste‘ und ‚Die Zweite‘ unterteilt, daher der Plural im Titel. (SW XXXI: 400; dazu auch Jander 2008: 211 ff.; Rispoli: 2018: 266 f.) Dass sich hier eine „noch deutlichere Relativierung des Werts der dialogi‐ schen Teile zugunsten eines individuellen Nachdenkens über die Literatur“ findet (Rispoli 2018: 266 f.), merkt man sofort an einer auffällig langen Er‐ zählexposition von gut anderthalb Seiten, in der eine nun schon bekannte extradiegetisch-heterodiegetische, nullfokalisierte Erzählinstanz zwei Freunde bei einem Spaziergang in einer nahezu idyllisch anmutenden Landschaft mit Hügeln, Buchen und Ahorn schildert, die zum Haus des Gastgebers Ferdinand unterwegs sind. Dort ist man zu sechst, einer der Gäste, Gottfried, weiß aber von der zu erwartenden Ankunft eines Onkels. Der werde die Hausgemeinschaft stören, so die Befürchtung, er habe zwar Bildung und Manieren, sei aber „ein großer Sophist in Lob und Tadel“, der sich für besonders gerecht halte. (GWE: 532) Hier deutet sich erstmals an, dass die soziale Situation der Erörterung von Literatur nicht so harmonisch aussehen könnte, wie es in den beiden anderen ‚Unterhaltungen‘ der Fall war. Der Onkel als Sonderling kommt in ein Haus auf dem Land, das selbst „sonderbar genug“ war, halb Bauern- und halb Repräsentationshaus mit „Vorsaal“, „schöngeschwungenen Fenstern“, Säulen und einer Loggia. Der Hausherr Ferdinand bewohnt „die Zwitterwirtschaft“ als Epikureer und Nachfahre „bäuerischer Edelleute“, er ist zudem ein Europarei‐ sender. (GWE: 533) Die ganze Szenerie zeigt von Anfang an Uneindeutigkeit: 260 Jan Andres Idylle und Streitpotential, Reichtum und bäuerliches Landleben, Sesshaftigkeit und Reise. Alles ist eben etwas sonderbar. Der Onkel ist zwischenzeitlich angekommen, tritt allerdings vorerst nicht in Szene. Ferdinand berichtet, er habe gelesen und zwar das Wassermann-Buch. Mit Waldo, einem der Wanderer, hebt die erste Unterhaltung an. Für Ferdinand ist Beschränkung die zentrale Qualität Wassermanns, er könne „die Maße ein‐ halten“: „Wenn die deutschen Erzähler sich das Überflüssige abgewöhnen, dann weiß ich nicht, wie hoch sie nicht sollten kommen können.“ (GWE: 534) Darin zeige sich der ansonsten rare Kunstverstand der Deutschen. Die These vom Maß geht noch viel weiter und läuft wieder, wie in der Keller-‚Unterhaltung‘, auf ein holistisches Kunstkonzept zu: „Denn da es in der Kunst wie in der Natur kein getrenntes Innen und Außen gibt, so ist mit der errungenen Knappheit schon zugleich eine nervigere Darstellung gegeben, das breite, schlaffe Ausmalen von Zuständen, das naturalistische Schildern […] über Bord geworfen.“ (GWE: 534) Anti-Naturalismus und Kunst der Nerven sind Schlagworte, die Hofmannsthal mehr als einmal von seinem Freund und Mentor Hermann Bahr schon deutlich vor der Jahrhundertwende hören und lesen konnte, nur zielte der damit auf die Epoche, Decadence und Symbolismus, weniger wohl auf den Autor Wasser‐ mann. Gottfried verlangt nach Konkretisierung des Inhalts der Novellen, was Ferdinand thematisch liefert, zugleich aber darauf beharrt, man habe es mit „organischen Produkten“ zu tun, die der „Phantasie eines Dichters“ entsprungen seien. (GWE: 535) Ganzheitlichkeit und Organizität, das ist von anderen Figuren schon bekannt und verweist zurück auf romantische Literaturkonzepte. Dann aber wechselt er die Perspektive und schildert die Situation seiner ersten Lektüreeindrücke, also die Lese-Kontexte. Die nämlich hätten erst die „rechte Stunde“ geschaffen: Eine Sturmnacht, er war schlaflos, aber nicht unruhig, dann zwei Stunden hastiger Lektüre. Die Metaphern entstammen dem Fluiden: Mitgerissen wie von einem Fluss, die Schicksale der Figuren habe er getrunken, voll Lust aus einem schäumenden Becher. Er schildert eine gleichsam dionysische Situation. Das löste starke Emotionen aus, Freude sogar an Qualen der Figur und ein aufgewühltes „Gefühl der Welt“. (GWE: 535 f.) Ferdinand zeigt sich noch immer ganz ergriffen von der Gewalt der Lektüre: „Daß es Menschen gibt, die eine solche Bezauberung nicht kennen! Daß diese wahre einzige Magie so wenige Adepten hat! Ist es nicht sonderbar, ist es nicht fast unbegreiflich? Und nicht doppelt wunderbar, daß die Dichter in diese stumpfe Welt immer wieder ihre Kräfte aussenden? “ (GWE: 536) Literatur als Magie und Zauber, denen man sich nicht entziehen kann, wenn der richtige Moment da ist: Ferdinand erhebt die Kunst zur Gegenwelt der allzu schnöden Realität. Für Gottfried klingt das alles „sehr geisterhaft“ (GWE: 536), Ferdinands geplante Erwiderung über den 261 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. „unfaßlichen Begriff des ‚Wirklichen‘“ unterbricht aber der Auftritt des Onkels, der sogleich das Buch erbittet und sich zur Lektüre zurückzieht. Damit endet die erste Unterhaltung ohne rechtes Ergebnis. Die zweite Unterhaltung findet zwischen Ferdinand und dem Onkel am verregneten Nachmittag statt. Der Onkel hat das Buch gelesen und Ferdinand ahnt, dass ein „breiteres Gespräch unvermeidlich war“. (GWE: 537) Erstmals bahnt sich nun ein Literaturgespräch an, das nicht von Freundschaft und Ge‐ selligkeit getragen wird, sondern von Widerspruch und Generationen-Abstand. Ferdinand weiß, dass er mit dem Onkel kaum zu Konsens wird kommen können. Und in der Tat beginnt der Onkel mit einer Kritik an Wassermann, den er nicht goutiere, obwohl er Talent habe. Ihm fehle „ein bildendes und gebildetes Gemüt hinter diesen Dingen.“ (GWE: 538) Schlimmer noch sei „ein krasser Mangel an Charakter dahinter, an Weite des Gemüts, an Potenz, an Delikatesse.“ (GWE: 538) Dabei komme es doch auf das Zusammenspiel von Charakter und Fähigkeit an. Er „vermisse hier die allerintimste Synthese von menschlicher und künstlerischer Qualität […], [d]ie höchste Delikatesse vermisse ich, und ich fordere sie.“ (GWE: 538; Jander 2008: 213.) Das Buch sei nicht welt- und menschenhaltig, es sei nur die „Prätension“ davon. (GWE: 538) Damit steht der Vorwurf des Blendwerks im Raum. Des Onkels Gegenbeispiele sind Goethes Werther, Philine aus dem ‚Meister‘, Kleists Marquise und Balzacs alte Jungfer. Über diese Wassermann-Kritik versteigt sich der Onkel zu einer ganzen Gene‐ rationen-Verwerfung der „heutigen Autoren“, die ihm mit „ihrem Zuviel“ und „ausgekramten Sentiments“ ganz „unleidlich“ seien. Dem Künstlerischen werde nur nachgejagt und das führe „das Pathologische herbei“: „Das Pathologische konzediere ich aber nie und nimmer! Ich konzediere es euch nicht! “ (GWE: 539) Damit ist der Stab über einer ganzen Generation von Autoren und deren Lesern gebrochen. Behagen noch im Befremdlichen und Welterfahrung, das fordert der Onkel von Literatur. Wassermann habe keine Novellen geschrieben, sondern nur deren Möglichkeit. Ferdinand ist angesichts dieses Monologs froh, dass man unterbrochen wird. Er antwortet nicht, es kommt also gar kein Gespräch im engeren Sinn zustande. Aber „die lange, geschlossene kritische Tirade“ (GWE: 540) zeigt Folgen bei ihm, er ist des Nachts mit ihr beschäftigt, verstimmt, der Onkel hat Zweifel an ihm und am Buch geweckt. Er beginnt wieder zu lesen, aber fiebrig, hastig, er will die vorherige Magie der Lektüre wieder erzwingen ‒ und scheitert. In der falschen Lesedisposition nähert er sich sogar dem Eindruck des Onkels an und bricht ab, er schläft ein. In Stille und Dunkelheit erwacht er, etwa zur selben Zeit wie in der vorherigen Nacht des Lesens: „Alles war wie in der vergangenen Nacht, und zauberhaft war aufs neue der erregende Reichtum 262 Jan Andres jener Novellen in seine Phantasie herübergetreten.“ (GWE: 541) Die Nacht verändert die Wahrnehmung des Zimmers, das zur „fremden Welt“ wird, ein Teller Obst löst Herzklopfen aus. „Das Buch, das danebenlag, schien ihm wie ein lebendiges Wesen, und zwischen ihm und jener erfundenen, erträumten Welt die seltsamste Geisterbotschaft durch greifbare Zeichen ausgetauscht.“ Die ge‐ fühlte, empfundene Verlebendigung der Objekt- und Literaturwelt führt zu einer ganz eigenen Kommunikation, die die Sicht auf die Welt zumindest temporär verändert. Und der Auslöser dieser starken Eindrücke der Phantasie ist klar: „Eine Erzählung, eine Erfindung! “ (GWE: 542) Die Diagnose der Erzählinstanz ist den Forderungen des Onkels diametral entgegengesetzt: „Ferdinand gab sich ganz dem Genuß des Unfaßlichen hin, das in glücklichen Augenblicken von der eigentlichen Dichterkraft ausgeht. […] Er spürte das seltene dichterische Vermögen auf sich einströmen wie eine Welle geheimnisvoller physischer Gewalt.“ (GWE: 543 f.) Für Ferdinand ist das magische Lesen rehabilitiert in der Wiederholung des glücklichen Augenblicks, des Kairos der Rezeption. ( Jander, Poetisierung, S. 214) Das wird nun nicht mehr dialogisch, sondern prosaisch-erzählerisch und nicht durch Figurenrede vermittelt. (Rispoli 2018: 267) Konsequent kommt auch der Onkel nicht mehr zu Wort, der Text ist fast am Ende. Nur ein Zugeständnis macht Hofmannsthal noch an die ursprüngliche Situation einer Unterhaltung: In einer Art innerem Monolog, der den Text abschließt, spricht Ferdinand sozusagen auf den Onkel hin, wenn er sagt, es sei für den „Mitlebenden“ so schön, sich den „hohen Möglichkeiten [der Literatur, J.A.] hinzugeben.“ (GWE: 543.) Damit ist das vernichtende Urteil des Onkels, Wassermann könne nur Möglichkeiten von Novellen schaffen, positiviert und ins Gegenteil verkehrt. Dafür aber braucht es Stimmung, Moment, Magie, Nacht und Einsamkeit, nicht Bildung und Delikatesse. 5 Ein kurzer Schluss Nach diesem Text hat Hofmannsthal kein erzähltes Gespräch, „keinen essayis‐ tischen Dialog“ im engeren Sinn mehr veröffentlicht. (Rispoli 2018: 268) Die oben erwähnte ‚Ägyptische Helena‘ funktioniert textuell anders, alles Weitere hat nicht mehr zu abgeschlossenen Texten geführt. Offenbar hatte sich das Modell der erzählten Unterhaltungen für Hofmannsthal mit diesen drei Texten zunächst erschöpft, auch wenn es ihn weiter beschäftigt hat, und dann kann man diese letzte ‚Unterhaltung‘ durchaus als Selbstkritik und Meta-Kommentar zum erzählten Dialog verstehen. ( Jander 2008: 216) Das rational-bürgerliche, gebildete Modell der Rezeption von Literatur, das der Onkel vertritt, ist vielleicht nicht unbedingt modern und zeitgenössisch, aber es ist ebenso legitim wie 263 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. das magisch-irrationale Ferdinands. Als Triptychon führen die drei Texte unterschiedliche Formen des Umgangs mit Literatur vor, die nicht immer zueinander passen, die manchmal schwer zu erklären und zu plausibilisieren sind. Dennoch stehen sie als gleichberechtigt nebeneinander für die oben zitierte ‚Kunst des Lesens‘. Um das vorzuführen, benutzt Hofmannsthal seine Figuren, die diese Positionen vertreten, ohne dabei durch Autor, Erzählinstanz oder andere Figuren diskreditiert zu werden. Die Optionen stehen gleichberechtigt nebeneinander. Das stellen die Figuren selber mit ihrem geselligen Verhalten dar, aber auch die Erzählinstanz, die diese Gespräche strukturiert und aus der Dialogizität in die Erzählung überführt, trägt dazu bei. Das Gespräch erträgt Differenz und unterschiedliche Positionen. So kommt man zu einer Kunst des Lesens. Literatur Beßlich, Barbara (o. J.). Weltanschauungsliteratur in der Wiener Moderne: Die Politisie‐ rung des Dialog-Essays bei Leopold von Andrian. In: Brasch, Anna S./ Meierhofer, Christian (Hrsg.). Weltanschauung und Textproduktion: Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Berlin: Lang (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsge‐ schichte, Bd. 18) [im Druck] Bohrer, Karl Heinz (2003). Ekstasen der Zeit: Augenblick, Gegenwart, Erinnerung. München/ Wien: Hanser. Bohrer, Karl Heinz (1994). Das absolute Präsens: Die Semantik ästhetischer Zeit. Frank‐ furt/ M.: Suhrkamp. Bohrer, Karl Heinz (1981). Plötzlichkeit: Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Burdorf, Dieter (1999). Gespräche über Kunst: Zur Konjunktur einer literarischen Form um 1900. In: Beyer, Andreas/ Burdorf, Dieter (Hrsg.). Jugendstil und Kulturkritik: Zur Literatur und Kunst um 1900. Heidelberg: Winter, 29-50. Heim, Leonie (2019). „Euer Europa ist ein gefährliches Gewebe“: Hugo von Hofmanns‐ thals Blick aus Asien in seinen ‚Erfundenen Gesprächen und Briefen‘. In: Beßlich, Barbara/ Fossaluzza, Cristina (Hrsg.). Kulturkritik der Wiener Moderne (1890-1933). Heidelberg: Winter, 235-243. Hirsch, Rudolf (1995). Drei Vorträge im Jahr 1902: Mit Aufzeichnungen Hofmannsthals zu ‚Die natürliche Tochter‘ und ‚Torquato Tasso‘. In: Ders. Beiträge zum Verständnis Hugo von Hofmannsthals. Frankfurt/ M.: Fischer, 29-44. Hofmannsthal, Hugo von (1991). Sämtliche Werke: Kritische Ausgabe: Hrsg. v. Rudolf Hirsch u. a., Bd. XXXI, Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ellen Ritter, Frank‐ furt/ M.: Fischer. 264 Jan Andres Hofmannsthal, Hugo von (1979). Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Bd. ‚Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen‘, Frankfurt/ M.: Fischer. Jander, Simon (2008). Die Poetisierung des Essays: Rudolf Kassner, Hugo von Hofmanns‐ thal, Gottfried Benn. Heidelberg: Winter. Laak, Lothar van (2003). Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit: Historisch-systemati‐ sche Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer. Mauser, Wolfram (1995). ‚Sociabilität‘: Zu Hofmannsthals ‚Tasso‘-Feuilleton. In: Aurn‐ hammer, Achim (Hrsg.). Torquato Tasso in Deutschland: Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin/ New York: de Gruyter, 123-144. Mayer, Mathias (1993). Hugo von Hofmannsthal. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Neumann, Gerhard (1996). „Kunst des Nicht-lesens“: Hofmannsthals Ästhetik des Flüch‐ tigen. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 4/ 1996, 227-260. Rispoli, Marco (2018). „Ich misstraue dem zweckvollen Gespräch“: Anmerkungen zu Hofmannsthals ‚Erfundenen Gesprächen‘. In: Born, Marcus Andreas/ Zittel, Claus (Hrsg.). Literarische Denkformen. Paderborn: Wilhelm Fink, 251-272. Rispoli, Marco (2016). Artikel Erfundene Gespräche und Briefe: Zur Einführung. In: Mayer, Mathias/ Werlitz, Julian (Hrsg.). Hofmannsthal-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 313-315 und Artikel Unterhaltungen: Über Goethe, Keller, Wassermann, In: Ebd., 324-327. Schäfer, Peter (2012). Zeichendeutung: Zur Figuration einer Denkfigur in Hugo von Hofmannsthals ‚Erfundenen Gesprächen und Briefen‘. Bielefeld: Aisthesis. Schings, Hans-Jürgen (2003). Lyrik des Hauchs: Zu Hofmannsthals ‚Gespräch über Gedichte‘. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 11/ 2003, 311-340. 265 Erfundene Gespräche, erzählte Gespräche. Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. Überlegungen anhand eines Anamnesegesprächs mit einer Narkolepsie-Patientin Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp 1 Einleitung Angetrieben von der Idee, dass eine Unterscheidung zwischen epileptischen und dissoziativen Anfällen dadurch möglich sein müsste, dass man genau analysiert, wie die Betroffenen ihre Anfälle schildern, begann seit 1995 eine Arbeitsgruppe um Martin Schöndienst (Epilepsiezentrum Bethel) und Elisabeth Gülich (Lehrstuhl für Sprache und Kommunikation an der Universität Bielefeld) systematische Analysen von Anamnesegesprächen mit Anfallspatientinnen und -patienten. Im Zuge dieser Arbeiten konnten etliche erkrankungsspezifische, konversa‐ tionelle Muster und sprachliche Verfahren entdeckt und in verschiedenen Pu‐ blikationen (Gülich/ Schöndienst 1999, Surmann 2002, Gülich 2012) beschrieben werden. Sie werden in der Praxis insbesondere in der Neurologie und Psycho‐ therapie differentialdiagnostisch eingesetzt. Diese Arbeiten setzen wir in der Bielefelder Arbeitsgruppe „Kommunikation in der Medizin“ unter der Leitung von Barbara Job seit einigen Jahren fort. Wir arbeiten dabei mit einem Kinderarzt und Kinderneurologen aus einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) zusammen, der die überwiegende Zahl der Gespräche führt. Das Korpus von Anamnesegesprächen wurde also um die Gruppe Jugendlicher und Kinder erweitert. In diesem Beitrag diskutieren wir den eher ungewöhnlichen Fall einer jungen Patientin, die mit Verdacht auf eine Anfallserkrankung im SPZ vorgestellt wird. Worum es sich bei ihrer Erkrankung genau handelt, war weder zum Zeitpunkt des Gesprächs, noch zum Zeitpunkt der ersten Analyse mithilfe des Scorings bekannt. Inzwischen ist gesichert, dass die Patientin 1 http: / / www.agmedkomm.de/ (Stand: 18.08.2020). 2 https: / / tinyurl.com/ EpiLing und https: / / tinyurl.com/ AngstProjekt (Stand: 18..08.2020). unter einer Unterform einer Narkolepsie leidet. Narkolepsien sind seltene Erkrankungen, bei denen die Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus gestört ist. Die Behandlung mit entsprechenden Medikamenten gegen Narkolepsie ist erfolgreich verlaufen. Wir haben das Gespräch mit dieser Patientin ausgewählt, um zu ermitteln, ob und inwiefern sich die im Gespräch benutzten sprachlichen Strategien der Kinder und Jugendlichen von denen Erwachsener, die zuerst beschrieben und analysiert wurden, unterscheiden und inwiefern sie in ähnlicher Weise für Differentialdiagnostik einsetzbar sind. Nachdem die medizinische Diagnose der Patientin geklärt war, bot sich zusätzlich die Möglichkeit zu analysieren, welche Ergebnisse das Scoring liefert, wenn es für ein Gespräch angewendet wird, bei dem weder epileptische noch dissoziative Anfälle beschrieben werden, obwohl zum Gesprächszeitpunkt beide Erkrankungen als Ursache für die Symptome in Frage kamen. Der Text ist daher folgendermaßen gegliedert: Nach einem Kapitel zum Hintergrund der Diagnostik mithilfe sprachlicher Strategien im Bereich neuro‐ logische und psychiatrische Erkrankungen stellen wir die Patientin für diese Fallanalyse vor. Anschließend beschreiben wir die Ergebnisse der linguistischen Analyse des Anamnesegesprächs mit dieser Patientin. Im nächsten Kapitel diskutieren wir die Unterschiede in den sprachlichen Strategien der jungen Patientin im Vergleich zu den Beschreibungen der Erwachsenen, auf denen die linguistische Analyse basiert. Wir schlagen einige Anpassungen der Ana‐ lyse-Kriterien für diese Patient_innengruppe vor. Schließlich diskutieren wir das Ergebnis der Analyse im Hinblick auf die Art der Erkrankung, die im Gespräch beschrieben wird. 2 Linguistische Analyse mittels Scoring In der Bielefelder Arbeitsgruppe „Kommunikation in der Medizin“ 1 gehen wir in mehreren Projekten der Frage nach, wie sich linguistische Merkmale von Gesprächen mit Patient_innen mit bestimmten Erkrankungen dieser Pa‐ tient_innen in Verbindung bringen lassen. Gülich/ Schöndienst (1999) untersu‐ chen seit Mitte der 90er Jahre in mehreren Projekten 2 die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten einer linguistisch fundierten Analyse von Anfallsbeschreibungen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf epileptischen und dissoziativen Anfällen, in Folgeprojekten auch auf Angstbzw. Panikstörungen 268 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp ( Job et al. 2020), die ebenfalls anfallsartig auftreten können („Panikattacke“). Im Anschluss an diese Forschung untersuchen wir in aktuellen Projekten und in der Kooperation mit einem Kinderarzt und Kinderneurologen in einem SPZ die Anfallsbeschreibungen von Kindern und Jugendlichen (Opp/ Job 2017). Auch das Erkrankungsspektrum wurde ausgedehnt: Neben Patient_innen mit (Verdacht auf) epileptische(n) und dissoziative(n) Anfallserkrankungen untersuchen wir auch Gespräche mit Patient_innen mit Schmerzen (Bauchschmerzen, Kopf‐ schmerzen) (Schürmann in Vorb.), Bewegungsstörungen sowie verschiedenen Formen von Kollaps (Fillies in Vorb.). Dies spiegelt die häufigsten schwerwie‐ genden Symptome im Kindes- und Jugendalter wider, wegen derer ein SPZ aufgesucht wird. Zudem spielt bei den genannten Symptomen die Unterschei‐ dung in eher körperliche bzw. eher psychische Ursachen eine Rolle, da es jeweils spezifische Störungsbilder gibt, die zwar teilweise sehr ähnliche Symptome hervorrufen, jedoch abhängig von der Ursache grundsätzlich verschieden the‐ rapiert werden müssen, analog zur Differentialdiagnostik und Therapie von epileptischen vs. dissoziativen Anfällen. Wir verfahren bei unserer Arbeit so, dass zunächst in der Klinik durch den be‐ teiligten Arzt Gespräche erhoben werden. Diese werden nach einer Information über das Projekt und das Einholen des Einverständnisses von Kindern und Eltern mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und dann nach Bielefeld übersendet. Dort werden die Daten nach GAT2-Konventionen transkribiert (Selting et al. 2009). Um die Weiterverwendung der Daten auch für Projekte, die nicht mit Gesprächsanalyse arbeiten, zu sichern, erstellen wir mithilfe der Software Ex‐ MaraLDA (Schmidt/ Wörner 2014) zeitalinierte Transkripte im Partiturformat. Eine weitere Bearbeitung der Gespräche z. B. durch händische oder automati‐ sche Annotation ist damit möglich. Die transkribierten Daten werden dann zunächst durch den Arzt einem Sub-Korpus zugeteilt (Anfallskorpus, Bauch‐ schmerz-Korpus, Kollaps-Korpus usw.). Unabhängig davon dokumentieren wir die diagnostizierten Erkrankungen bzw. Änderungen der Diagnose im Verlauf des Aufenthalts der Patient_innen im SPZ. Teils in Datensitzungen, teils in einzelnen Projekten werden die Daten dann gesprächsanalytisch untersucht. Außerdem wenden wir, insbesondere für die Gespräche im Anfallskorpus, eine sogenannte Scoring-Tabelle an, die auf den Arbeiten von Reuber et al. (2009) aufbaut. Dabei handelt es sich um eine Anleitung zur qualitativen Analyse, die auf der Basis der Ergebnisse des von Gülich und Schöndienst geleiteten Projekts entwickelt wurde (vgl. auch Knerich/ Opp 2019). Übergeordnetes Ziel des Projekts ist es, die Scoring-Tabelle auf ihre Eignung für die Diagnostik von Kindern und Jugendlichen zu überprüfen bzw. sie für diesen Einsatz anzupassen und weiterzuentwickeln. 269 Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. Das Scoring besteht aus insgesamt 17 Items, die auf einer dreistufigen Skala eingeschätzt werden. Dabei bedeutet „+1“, dass es sich um ein Phänomen handelt, das eher bei Patient_innen mit Epilepsie zu beobachten ist. „-1“ zeigt an, dass diese sprachliche Strategie eher von Patient_innen mit dissoziativen Anfällen verwendet wird. Da viele Verhaltensweisen bei beiden Gruppen zu beobachten sind oder in gemäßigter Form auftreten können, gibt es auch den Skalenpunkt „0“. Falls in einem Gespräch nur sprachliche Strategien verwendet werden, die auf eine epileptische Erkrankung hindeuten, ergibt das Scoring maximal 17 Punkte. Ergibt das Scoring -17 Punkte, sind nur Strategien zu beobachten, die typisch für Patient_innen mit dissoziativen Anfällen sind. Ein Wert nahe 0 bedeutet, dass kein eindeutiges Scoring-Ergebnis vorliegt, die Analyse des Gesprächsverhaltens der Patient_innen also keinen Beitrag zur Differentialdiagnostik liefern kann. Es werden insgesamt drei Kategorien betrachtet: interaktive („interactional features“), thematische („topical features“) sowie linguistische Merkmale („lin‐ guistic features“, Reuber et al. 2009, Anhang). Bei den interaktiven Merkmalen wird eingeschätzt, inwiefern die Patient_innen selbstinitiiert auf verschiedene Aspekte der Anfälle zu sprechen kommen, z. B. ob sie von sich aus Symptome des Anfalls thematisieren, außerdem äußere Umstände und Konsequenzen des Anfalls oder Anfallsunterbrechungsstrategien. Eine weitere wichtige Rolle spielen die Beschreibungen von Bewusstseinslücken im Anfall bzw. Phasen der eingeschränkten Selbstverfügbarkeit sowie das Beschreiben einzelner Episoden im Gegensatz zu „den Anfällen“ als immer gleiche Ereignisse. Patient_innen mit dissoziativen Anfällen beschreiben eher Umstände oder Folgen der Anfälle bzw. der Erkrankung und haben Mühe, auch nach Aufforderung durch den Arzt, spezifische Symptome der Anfälle zu beschreiben. Patient_innen mit Epilepsie haben zwar auch Mühe, die äußerst ungewöhnlichen Sinneseindrücke und Empfindungen zu beschreiben, die verschiedene epileptische Anfälle und Auren auslösen können, sie bemühen sich jedoch stärker selbstinitiiert darum, dem Ge‐ genüber ein detailliertes Bild des Anfalls zu vermitteln (Schöndienst 2017). Diese Aspekte zählen zu den thematischen Merkmalen. Die linguistischen Merkmale umfassen die Benutzung von Metaphern für das Anfallsgeschehen oder die Erkrankung, die Verwendung von Negationen, und die im Gespräch erkennbare Formulierungsarbeit, die die Patientinnen und Patienten zeigen. Dazu gehören Mittel wie Abbrüche und Neustarts, Selbstkorrekturen, Verzögerungssignale wie gefüllte und ungefüllte Pausen etc. Der Übersichtlichkeit halber sind am Ende dieses Artikels alle Items einmal aufgelistet, so wie sie auch im Original von Reuber et al. (2009) zu finden sind. 270 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp Nach der Darstellung der Fallvignette im nächsten Kapitel folgt anschließend die genauere Betrachtung des Scoring-Ergebnisses für die Patientin S. 3 Die Erkrankung Narkolepsie und Fallvignette der Patientin S. Narkolepsie ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört ist. Im Volksmund wird diese Erkrankungs‐ gruppe daher auch als „Schlafkrankheit“ bezeichnet (Hackenberg, 2019). Am bekanntesten ist wahrscheinlich die Kataplexie, bei der die Patient_innen mehrfach am Tag der plötzliche, unüberwindliche Drang befällt, einzu‐ schlafen. Hierbei verlieren die Patient_innen auch - ebenso wie beim Ein‐ schlafen - die Kontrolle über ihren Körper, die Muskelspannung lässt nach, sie sinken in sich zusammen. Es gibt aber auch Fälle, bei denen die Schlafattacken so kurz sind, dass die Patient_innen nur kurz in sich zusammensinken, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Da die Frage, in welchen Situationen man in den „Sekundenschlaf“ sinkt, sehr davon abhängt, in welchem Erregungs- und Wachheitszustand man gerade ist, wird bei den Erkrankten sehr oft zunächst eine psychiatrische Ursache vermutet. Sehr wichtig ist die Abgrenzung zur Epilepsie, da die Medikamente, die bei der Narkolepsie zum Einsatz kommen, gänzlich andere sind, als die Medikamente, die bei Epilepsie wirksam sind. Die Ursache der Narkolepsie ist in den letzten Jahren immer besser ver‐ standen worden. Bei den meisten Erkrankten kann eine Störung im sogenannten Orexin-/ Hypocretin-System zugrunde liegen. Die Patientin S. war zum Zeitpunkt des Interview 7; 2 Jahre alt. Den Eltern war aufgefallen, dass sie beim Gehen immer wieder kurz in sich zusammensackte. Es erfolgte zunächst die stationäre Abklärung im akademischen Lehrkranken‐ haus vor Ort. Als dort keine Ursache gefunden werden konnte, erfolgte die Vorstellung an der Kinderneurologie einer Universitätsklinik. Umfangreiche Untersuchungen, insbesondere in Richtung Epilepsie, blieben ohne Hinweis auf die Ursache der Anfälle. Da aus Sicht der Eltern die Frage, ob hinter den Zuständen eine psychische Ursache stecken könnte, nicht ausreichend bedacht wurde, suchten sie nach Diagnostikmöglichkeiten in dieser Richtung. Sie hörten über einen befreun‐ deten Arzt von unserem Forschungsprojekt und stellten ihre Tochter in dem SPZ vor, das mit der Bielefelder Arbeitsgruppe zusammenarbeitet. Dort führte ein Kinderneurologe mit der Patientin ein Gespräch gemäß dem Gesprächs‐ leitfaden der Bielefelder Arbeitsgruppe. Dieser beinhaltet den Einstieg mit einer thematisch offenen Frage nach dem Anlass des Gesprächs aus Sicht der Patient_innen und das Nachfragen des ersten, letzten bzw. schlimmsten 271 Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. Anfalls oder Ereignisses im Zusammenhang mit der Erkrankung sowie eine anschließende Sozialanamnese. Hier schildert nun der Arzt seinen Eindruck von der Patientin und des Gesprächs insgesamt: S. wirkte schon auf dem Weg vom Wartezimmer zum Arztzimmer aufgeregt, da sie vom Vater gehört hatte, dass sie allein mit dem Arzt sprechen soll. Sie zeigte ein etwas unsicheres, leicht breitbasiges Gangbild, schien manchmal wegzuknicken, drohte aber nie zu stürzen. Neben der Untersuchungsliege stehend war es ihr lieber, sich anzulehnen. Sie zeigte unvermittelt eine deutliche Erschlaffung der Gesichtsmuskulatur und einen dadurch veränderten Gesichtsausdruck und warf den Kopf leicht in den Nacken. Obwohl ihr die Zunge fast aus dem Mund zu fallen schien, konnte sie sich gut und deutlich artikulieren, der Stimme war nichts anzumerken. Manchmal hingen beide Augenlider kurz herab. Nachdem S. sich schnell darauf einließ, dass der Vater den Raum verließ, wollte sie etwas malen. Sie malte rechtshändig mit schneller und geübter Stiftführung eine große Blume. Die neurologische Symptomatik war nicht mehr erkennbar. Im Verlauf des Gesprächs zog sie es vor, während des Sprechens umherzulaufen. S. war freundlich und aufgeschlossen im Kontakt, sie wirkte nicht ängstlich. In ihren Beschreibungen war sie adäquat kindlich ohne erkennbare Tendenz zu dramatisieren. Dieser ärztlichen Einschätzung wird nun die linguistische Analyse zur Seite gestellt. 4 Scoring für Patientin S. Im folgenden Abschnitt stellen wir die Ergebnisse unserer linguistischen Fallanalyse des Gesprächs mit dieser Patientin vor. Hierzu haben die drei Autorinnen des Artikels unabhängig voneinander das Gespräch anhand eines GAT-Basis-Transkriptes und der Audio-Datei mithilfe der eingangs erläuterten Scoring-Tabelle analysiert. Anschließend haben wir unsere Bewertungen zu‐ sammengetragen und diskutiert. Item Ergebnisse der drei Scorings 01 Einstieg 0/ 0/ 0 02 Beschreibung Symptome 0/ 0/ -1 03 Anfallsunterbrechung 0/ 0/ 0 04 Lücke n/ n/ n 05 Lücke elaborieren n/ n/ n 272 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp 06 Episodenbeschreibung +1/ 0/ 0 07 Anfallserleben -1/ -1/ -1 08 Gewichtung Erleben -1/ -1/ -1 09 Gewichtung Lücke n/ n/ n 10 Konturierung Lücke n/ n/ n 11 Rekonstruktion Lücke n/ n/ n 12 Formulierungsaufwand allgemein -1/ -1/ -1 13 Negationen +1/ +1/ +1 14 Formulierungsaufwand Lücke n/ n/ n 15 Kohärenz Metaphern n/ n/ n 16 Metapher „von außen“ n/ n/ n 17 Metapher „Kampf, Anstrengung“ n/ n/ n Tabelle 1: Überblick Scoring; n: nicht bewertbares Item Insgesamt zeigt das Scoring ein Ergebnis nahe null und zwar insbesondere vor dem Hintergrund, dass über die Häfte der Items nicht bewertbar war (4, 5, 9, 10, 11, 14, 15, 16, 17). Drei Items (7, 8, 12) zeigen bei allen Bewerterinnen in Richtung einer dissoziativen Genese des Anfallsleidens. Ein Item (13) wurde von allen als epilepsie-typisch eingeschätzt. Zwei Items (1, 3) wurden mit null bewertet, beschreiben also ein Gesprächsverhalten, dass sowohl bei Epilepsie als auch bei dissoziativen Anfällen vorkommen kann. Bei zwei Items waren sich die Bewerterinnen nicht einig (2, 6). Im Folgenden sollen nun zunächst die nicht bewertbaren Items näher be‐ schrieben werden, um zu verdeutlichen, wie es zu der Nichtbewertbarkeit kam. Anschließend werden die übereinstimmend bewerteten Items und schließlich die Items mit unterschiedlicher Bewertung erläutert. Wie erwähnt, kamen alle drei Linguistinnen zu dem Ergebnis, dass über die Hälfte der Items des Scorings bei dem Gespräch mit Patientin S. nicht auswertbar war. Dies hat vor allem zwei Ursachen: die Art der vorliegenden Erkrankung und das Alter der Patientin. Die Items 4, 5, 9, 10, 11 und 14 bewerten, wie die Patient_innen speziell die Bewusstseinslücke beschreiben, die bei epileptischen Anfällen meist und bei dissoziativen Anfällen immer auftritt. Auch die typische Narkolepsie geht mit einer ausgeprägten Phase der einge‐ schränkten Selbstverfügbarkeit einher, dem Schlaf. Patientin S. erleidet aber 273 Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. Musterdatei NFA_Sammelband.dot in den Beinen und im Gesicht. Die Patientin und der Arzt greifen daher im Gespräch auf Verben zurück wie „umkippen“ und „wegknicken“ und stellen somit den Kontrollverlust der Patientin über ihre Beine in den Fokus. Deutlich wird dieser Aspekt in folgendem Transkriptausschnitt vom Beginn des Transkripts: Ausschnitt 1: Minute 01: 33, P = Patientin, A = Arzt 0052 (1.5) was (-) was is denn nICH gesund, 0053 P: (2.1) <<p> ich fall immer U: M; > 0054 A: (-) hm_HM, 0055 (1.3) du fällst immer UM? 0056 P: (2.5) <dim> papa/ (-) er sagt dass_ich immer (Umkippe); > 0057 ((dumpfes Klopfen 0.9 Sek))[((dumpfes Klopfen))] 0058 A: [STIMMT das denn? ] 0059 P: <<klopfend> jA. (1.8) aber ich will_s nich mehr HAben; 0060 <<hoch/ klopfend> ich darf nicht in die SCHUle wenn ich/ (.) wenn ich die ganze zeit wegknicke-> ((kurze Auslassung, Thema Schule)) 0065 A: (4.2) <<p> HM_hm; > 0066 (0.4) und/ und/ und WER sagt dass du wEgknickst- 0067 P: (1.3) einfach mal SO: : ; 0068 A: (--) hm_HM, Nachdem die Patientin das Problem zunächst mit „umfallen“ (Z.57) benannt hat, wiederholt der Arzt diese Bezeichnung in seinem Folgeturn. Anschließend nutzt die Patientin durch erzählte Rede des Vaters die Formulierung „umkippen“ (Z. 56), um nur zwei Turns später das Verb „wegknicken“ zu verwenden. Nach einer kurzen Episode zum Thema Schulbesuch greift der Arzt diese Formulierung wieder auf („wer sagt dass du wegknickst? “, Z. 66), an die sich dann auch eine körperlich-gestische Darstellung des „Wegknickens“ anschließt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs bleiben beide überwiegend beim „Wegknicken“ als Bekeine solche gravierende Bewusstseinsveränderung: Ihr Anfallsgeschehen ist äußerst kurz (wenige Sekunden) und äußert sich hauptsächlich im Erschlaffen von Muskeln in den Beinen und im Gesicht. Die Patientin und der Arzt greifen daher im Gespräch auf Verben zurück wie „umkippen“ und „wegknicken“ und stellen somit den Kontrollverlust der Patientin über ihre Beine in den Fokus. Deutlich wird dieser Aspekt in folgendem Transkriptausschnitt vom Beginn des Transkripts: Ausschnitt 1: Minute 01: 33, P = Patientin, A = Arzt Nachdem die Patientin das Problem zunächst mit „umfallen“ (Z.57) benannt hat, wiederholt der Arzt diese Bezeichnung in seinem Folgeturn. Anschließend nutzt die Patientin durch erzählte Rede des Vaters die Formulierung „umkippen“ (Z. 56), um nur zwei Turns später das Verb „wegknicken“ zu verwenden. Nach einer kurzen Episode zum Thema Schulbesuch greift der Arzt diese Formulierung wieder auf („wer sagt dass du wegknickst? “, Z. 66), an die sich dann auch eine körperlich-gestische Darstellung des „Wegknickens“ anschließt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs bleiben beide überwiegend beim „Wegknicken“ als Begriff für das Anfallsgeschehen. Es werden keine weiteren Symptome oder Empfindungen seitens der Patientin beschrieben. 274 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp Auf Grund der kurzen Dauer des „Wegknickens“ ist keine Verlaufsbeschrei‐ bung des Anfallsgeschehens zu erwarten, es gibt kein „Abtauchen“ in den und „Wiederauftauchen“ aus dem Anfall, was eine Konturierung der Bewusstseins‐ lücke für die Patientin erst ermöglichen würde. Patient_innen mit Epilepsie bemühen sich an dieser Stelle um eine möglichst genaue Rekonstruktion dessen, was sie noch wissen oder wahrgenommen haben, bevor der Anfall passierte, sowie dessen, was das Erste war, nachdem sie wieder zu sich gekommen sind. Sie versuchen, den Zeitraum dazwischen mit Zeugenaussagen zu füllen oder logisch zu erschließen und bemühen sich im Allgemeinen erfolgreich, ein kohärentes Bild eines Anfallsablaufs zu erzeugen. Mit den Items 15, 16 und 17 wird bewertet, welches metaphorische Konzept von Anfall im Gespräch deutlich wird. Dass der Aspekt des Metaphernge‐ brauchs in der Unterscheidung von epileptischen und dissoziativen Anfalls‐ schilderungen bei Erwachsenen eine wichtige Rolle spielt, konnte Surmann (2005) in seiner Dissertation zeigen. Vereinfacht ausgedrückt (für eine exzellente Darstellung der Problematik empfehlen wir, Surmann [2005] zu lesen) neigen Epilepsie-Patient_innen dazu, den Anfall als externe, bedrohlich handelnde Entität zu konzeptualisieren sowie Metaphern von Kampf und Anstrengung zu verwenden, wohingegen Patient_innen mit dissoziativen Anfällen dies nicht tun. Da die Patientin S. keinerlei Metaphorik für ihre Symptomatik verwendet, konnten diese Items ebenfalls nicht bewertet werden. Im Folgenden gehen wir nun auf die übereinstimmend bewerteten Items ein (7, 8, 12, 13). Drei der bewertbaren Items zeigen in Richtung einer für psychogene Anfälle typischen Beschreibung. In den beiden Items 7 (Anfallserleben) und 8 (Gewich‐ tung Erleben) wird die Beschreibung des Anfallserlebens näher betrachtet und beurteilt, als wie relevant die Patient_innen die tatsächlichen Anfallssymptome im Vergleich zu den Umständen und Folgen der Anfälle darstellen. Die Bewer‐ tung in Richtung dissoziativer Anfälle ergibt sich hier daraus, dass die Patientin fast ausnahmslos und sehr detailliert die Episoden beschreibt, in denen ihr „Umknicken“ stattfindet. Sie spricht weniger darüber, wie das „Umknicken“ genau passiert, wie sie es empfindet, ob es sie einschränkt. Dazu ein Auszug aus dem Transkript: 275 Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. 290 Transkript 2 Minute 06: 44 0140 P: <<undeutlich> also gestern is es passIERT; > 0141 A: (--) WAS war gestern? 0142 P: (-) gEstern ist_es passIERT; (-) 0143 ((Geräusche 1.4 Sek)) 0144 A: äh (bei) WAS is das passiert gestern, 0145 P: (0.8) <<undeutlich> ich bin wEggknickt; > 0146 A: jA (auf einmal); 0147 was WAR da dort? 0148 P: (---) <<p> hm: -> 0149 (---) also (-) ich hab (.) ! SO! gemacht; 0150 (--) <<hoch> und dAnn bin ich WEItergelaufen: ,> 0151 A: ah das war beim l! AU! fen; 0152 P: (-) jA: ; 0153 das kommt immer beim LAUfen; 0154 A: <<nasal> aha,> 0155 <<all> wo seid_ihr denn HINgelaufen,> 0156 P: (2.3) a: lso wir war/ (.) wir sINd 0.9) ähm: (1.5) °h also vOrgestern warn wir im SCHWIMMbad, 0157 A: (.) hm_HM,= 0158 P: =und dann (.) es das (.) AUch einmal passIERT, 0159 (-) aber mama hat_s nicht gesEH: N, 0160 (2.2) u: n: d äh: m (-) dann bin ich RUTschen gegangen, ((weitere Detaillierung der Schwimmbad-Episode)) Das Item 12 bezieht sich darauf, welchen Formulierungsaufwand die Patient_innen darstellen, wenn sie versuchen, das Anfallsgeschehen zu erläutern. Patient_innen mit Epilepsie neigen dazu, unter großen Anstrengungen, d.h. mit vielen Neustarts, mit Pausen, Hesitationen, vagen Ausdrücken und metakommunikativen Ausdrücken die Schwerbeschreibbarkeit der ungewöhnlichen Empfindungen epileptischer Anfälle zu schildern. Dabei schildern sie, Ausschnitt 2: Minute 06: 44 Das Item 12 bezieht sich darauf, welchen Formulierungsaufwand die Pa‐ tient_innen betreiben, wenn sie versuchen, das Anfallsgeschehen zu erläutern. Patient_innen mit Epilepsie neigen dazu, unter großen Anstrengungen, d. h. mit vielen Neustarts, mit Pausen, Hesitationen, vagen Ausdrücken und meta‐ kommunikativen Ausdrücken die Schwerbeschreibbarkeit der ungewöhnlichen Empfindungen epileptischer Anfälle zu schildern. Dabei schildern sie, dass die Empfindungen nicht oder nur sehr schwer zu beschreiben sind, bemühen sich aber trotzdem oft wortreich darum (Gülich/ Furchner 2002, Gülich 2005). Patient_innen mit dissoziativen Anfällen neigen eher dazu, die Anfälle ohne 276 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp solchen Formulierungsaufwand und oft in kurzen, recht generellen Äußerungen mit Fokus auf die Bewusstseinslücke zu schildern („und dann bin ich weg“). Wie im Transkriptausschnitt zuvor erkennbar, zeigt die Patientin S. bis auf einige gefüllte Pausen und Neustarts keinen Formulierungsaufwand, ihre Äußerungen auf das Anfallsgeschehen bezogen sind kurz und erfolgen rasch und flüssig. Der Formulierungsaufwand lässt sich eher mit der noch in der Entwicklung befindlichen Erzählkompetenz (Hausendorf/ Quasthoff 2005) erklären als mit Schwierigkeiten, das Anfallserleben zu beschreiben. Daher muss hier eine Bewertung mit -1 erfolgen. Das letzte Item des Scorings, bei dem sich alle Bewerterinnen einig waren, ist Item 13. Hier werden die im Gespräch verwendeten Negationen genauer betrachtet. Bewertet wird hier, inwiefern die Patient_innen im Gespräch auf holistische Negationen zurückgreifen, um ihr Anfallserleben zu beschreiben. Patient_innen mit epileptischen Anfällen benutzen Negationen meist im Kon‐ text von Handlungen, Empfindungen etc., die nicht mehr möglich sind. Da die Patientin S. nur Negationen im Kontext von solchen Beschreibungen nutzt, und keine holistischen Negationen verwendet, wird dieses Item mit +1 bewertet. Bei zwei der zu bewertenden Items waren sich die Bewerterinnen nicht einig. Zunächst soll Item 2, das die Beschreibung der Symptome an sich fokussiert, erläutert werden. Bewertet wird bei diesem Merkmal zur Interaktion, inwiefern die Patient_innen selbst auf die Beschreibung der Symptome im Gespräch fokussieren, nachdem das Gespräch begonnen hat. Beginnen die Patient_innen selbst damit, die Empfindungen und Erlebnisse, die ihre Anfälle ausmachen, zu beschreiben, deutet das eher auf epileptische Anfälle hin und wird mit +1 bewertet. Wenn die Patient_innen auf Nachfrage des Arztes hier Auskunft geben, entspricht das der Bewertung mit 0. Dieser Bewertung haben sich zwei der Bewerterinnen angeschlossen. Eine Bewerterin entschied sich für den Wert -1, der vergeben wird, wenn auch auf Nachfrage keine Symptome beschrieben werden. Um beide Beurteilungen nachvollziehbar zu machen, sei hier noch einmal ein Transkriptausschnitt präsentiert, der vom Beginn des Gespräches stammt: 277 Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. 292 Transkript 3 Minute 01: 43 0056 P: (2.5) <dim> papa/ (-) er sagt dass_ich immer (Umkippe); > 0057 ((dumpfes Klopfen 0.9 Sek))[((dumpfes Klopfen))] 0058 A: [STIMMT das denn? ] 0059 P: <<klopfend> jA. (1.8) aber ich will_s nich mehr HAben; 0060 <<hoch/ klopfend> ich darf nicht in die SCHUle wenn ich/ (.) wenn ich die ganze zeit wegknicke-> 0061 ((dumpfes Klopfen 0.7 Sek)) (-) <<hoch / all> aber ich will wieder in die SCHUle> t_h°/ in zwei tagen ist wieder SCHU: le; 0062 (1.7) <<hoch> und dann muss_ich ja für die (.) neuen ERSTklässler> vo: rsi: ngen; 0063 (0.9) und da MUSS_ich eigentlich in die schule; 0064 A: (4.5) DAS stimmt; 0065 (4.2) <<p> HM_hm; > Deutlich wird hier, wie für die Patientin das Anfallsgeschehen offenbar abschließend erläutert ist mit der Aussage des Vaters, „sie kippe immer um“. Besonders belastend sind für die Patientin die daraus erwachsenden Folgen: die anhaltende Schulabsenz und die daraus entstehenden negativen sozialen Folgen, wie das verpasste Chor-Konzert, das später noch in Verbindung mit der möglicherweise enttäuschten Lehrerin gebracht wird. Der Arzt fokussiert im weiteren Verlauf noch mehrfach das Anfallsgeschehen, doch nach wenigen Äußerungen kommt die Patientin wieder auf die Umstände und Folgen dieser Ereignisse zu sprechen. Die Bewertung mit 0 ist hier gerechtfertigt, da die Patientin keinerlei Widerstand gegen die Fokussierung des Anfallsgeschehens leistet und dem Arzt hier thematisch folgt. Gleichzeitig schildert sie aber auch nach Aufforderung keine näheren Symptome, sodass hier im Grunde beide Bewertungen, 0 und -1 gerechtfertigt sind. Ausschnitt 3: Minute 01: 43 Deutlich wird hier, wie für die Patientin das Anfallsgeschehen offenbar ab‐ schließend erläutert ist mit der Aussage des Vaters, „sie kippe immer um“. Besonders belastend sind für die Patientin die daraus erwachsenden Folgen: die anhaltende Schulabsenz und die daraus entstehenden negativen sozialen Folgen, wie das verpasste Chor-Konzert, das später noch in Verbindung mit der möglicherweise enttäuschten Lehrerin gebracht wird. Der Arzt fokussiert im weiteren Verlauf noch mehrfach das Anfallsgeschehen, doch nach wenigen Äußerungen kommt die Patientin wieder auf die Umstände und Folgen dieser Ereignisse zu sprechen. Die Bewertung mit 0 ist hier gerechtfertigt, da die Patientin keinerlei Widerstand gegen die Fokussierung des Anfallsgeschehens leistet und dem Arzt hier thematisch folgt. Gleichzeitig schildert sie aber auch nach Aufforderung keine näheren Symptome, sodass hier im Grunde beide Bewertungen, 0 und -1 gerechtfertigt sind. Das letzte zu diskutierende Item ist Item 6. Hier geht es um die Strategien der Patient_innen, einzelne Episoden zur Beschreibung ihrer Anfälle zu fokussieren, oder eher holistisch zu beschreiben, wie die Anfälle wiederholt erlebt werden. Zwei der Bewerterinnen entschieden sich für die Bewertung 0, was bedeutet, dass aus der Erzählung der Patient_innen heraus die einzelnen Anfallsepisoden sowohl für die Patient_innen als auch für die Gesprächspartner_innen kaum 278 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp unterscheidbar sind. Da es sich um viele, häufige und kurze Anfälle bei der Patientin S. handelt, liegt eine gewisse Schwierigkeit in der Unterscheidbarkeit einzelner Anfälle nahe. Gleichzeitig ist die Patientin S. sehr wohl bereit und in der Lage, auf einzelne Situationen, in denen das Anfallsgeschehen aufgetreten ist, zu fokussieren und diese detailliert zu beschreiben. Daher ist die Bewertung mit +1 ebenfalls plausibel. Das insgesamt wenig aussagekräftige Ergebnis von -1 bis -3 Punkten von 8 bewertbaren Items (je nach Bewerterin) ließ sowohl die Linguistinnen als auch den (mit)behandelnden Arzt, der das Gespräch geführt hat, mit dem Eindruck zurück, dass es sich bei der Erkrankung der Patientin S. vermutlich weder um eine epileptische noch um eine dissoziative Erkrankung handelt. Durch einen entsprechenden Hinweis des interviewenden Arztes, der sie im Gespräch beobachten konnte und dabei auch Episoden des „Umknickens“ bzw. Erschlaffens der Gesichtsmuskulatur miterlebte, konnte die weiterführende Diagnostik in Richtung Narkolepsie als mögliche Ursache betrieben werden, die schließlich zur erfolgreichen Behandlung der Patientin S. führte. Im Folgenden gehen wir darauf ein, welche Erfahrungen wir mit dem in dop‐ pelter Hinsicht „nicht passenden“ Scoring gemacht haben und wie das Scoring weiterentwickelt werden könnte, um auch für jüngere Patient_innengruppen sowie möglicherweise andere (aber ähnliche) Erkrankungen außer Epilepsie und dissoziativen Anfallserkrankungen anwendbar zu sein. Wir diskutieren also die Frage nach der linguistisch informierten Diagnostik in der Medizin etwas breiter. 5 Linguistisches Scoring als Diagnose-Instrument - Aussichten Das ursprüngliche, von Reuber et al. (2009) publizierte Scoring basiert auf Ana‐ lysen von Gesprächen mit erwachsenen Anfallspatient_innen, und überwiegend solchen, die schon längere Zeit erkrankt waren und daher ein Spezialzentrum zur gezielteren Diagnostik aufgesucht haben. Kinder und Jugendliche haben zunächst meistens eine kürzere Erkrankungs‐ dauer und damit verbunden weniger einzelne Anfälle erfahren als erwachsene Anfallspatient_innen. Dadurch haben sie auch weniger Gelegenheit, die Dar‐ stellung von Symptomen und Abläufen der Anfälle verbal zu beschreiben, was sich z. B. auf die Bildung metaphorischer Konzepte auswirkt. Nach einer Studie von Vogt und Indefrey (2017) findet im Alter von 6 bis 14 Jahren eine enorme Entwicklung in der Metaphernkompetenz statt. Es ist daher davon auszugehen, dass Kinder und Jugendliche in Bezug auf ihre Metaphernverwen‐ dung nicht mit Erwachsenen vergleichbar sind. Unsere bisherigen Analysen des 279 Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. Korpus bestätigen dies. Metaphern werden nur selten von den Patient_innen verwendet und wenn, dann von den älteren Jugendlichen. Auch wenn Kinder (in unterschiedlichem Maße) in der Lage sind, wörtlichen von nicht-wörtlichem Sprachgebrauch zu unterscheiden, so braucht es doch offensichtlich noch einige sprachliche Entwicklungsschritte mehr, um auch selbst aktiv metaphorische Konzepte zur Beschreibung von Erlebnissen zu verwenden. Ein weiterer Aspekt, der insbesondere in unserer Fallstudie deutlich wurde, ist, dass die Patientin hier auf multimodale Ressourcen zurückgreift, um ihr Anfallserleben „darzustellen“. Das körpersprachliche Verhalten der Patientin S. kann im Transkript nur anhand von Beschreibungen des Arztes abgeleitet werden: „du sagst, du kippst manchmal weg und dann hast du so vorgemacht, wie du ein bisschen mit dem Bauch wackelst und mit dem Oberkörper so nach vorne oder hinten gehst.“ (Z. 94 ff.). Auch ihre Äußerung „das ist so“ (Z. 97 ff .) begleitet sie mit einer Bewegung, die der Arzt anschließend beschreibt mit: „in die Knie gehst du auch“. Das Beispiel zeigt, wie die Patientin S. und der Arzt gemeinsam dem Anfall eine Gestalt geben. Da das Scoring aber auf eine verbale Detaillierung des Anfallsgeschehens ausgelegt ist, konnten die zahlreichen körperlich-gestischen Bemühungen zur Verdeutlichung der Anfälle nicht berücksichtigt werden. Dies trägt sicherlich zu einer Verschiebung des Scorings bei und zwar eher in Richtung dissoziativer Anfälle, weil die verbalen Detaillierungen und Bemühungen zur Beschreibung zu fehlen scheinen. Es lässt sich weiterhin festhalten, dass das Scoring problematisch ist in allen Fällen, in denen die zugrunde liegende Anfallserkrankung keine gravierenden Bewusstseinslücken im Anfall verursacht, da dann sechs der 17 Items nicht mehr bewertbar sind. Dies war auch bei Patientin S. der Fall. Für die Anwendung in der Praxis bedeutet dies, dass bei Anfallserkrankungen ohne Bewusstseinslücke nur ein Teil der Items aussagekräftig ist. Für unsere Forschung im Bereich der linguistisch gestützten Diagnostik heißt das, weiter nach Strategien in der Behandlung von Patient_innen mit anderen Anfallserkrankungen zu forschen. In Vorbereitung ist eine Analyse von Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen über (zum Teil anfallsartig auftretende) Bauchschmerzen (Schürmann in Vorb.). Weitere Projekte zu anderen Erkrankungen sind in Planung. Schließlich sollte über das Item zum Formulierungsaufwand weiter geforscht werden. Hier zeigt sich, dass es mehrere Gründe für das Fehlen von For‐ mulierungsaufwand bei der Beschreibung von Symptomen geben kann. Im vorliegenden Fall liegt es eher an der Art des Anfallsgeschehens (sehr kurz, ohne Verlauf, ohne Bewusstseinstrübung) und weniger an der Ursache der Erkrankung. Die Zeichen von Formulierungsaufwand, die feststellbar sind, lassen sich auf die noch in der Entwicklung befindliche Kompetenz der jungen 280 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp Patientin zum komplexen Erzählen zurückführen. Weitere, auch vergleichende Studien zu Krankheitserzählungen von Kindern und Jugendlichen (vgl. Schwabe 2006a) wären hier wünschenswert. 7 Fazit Für die Unterscheidung von epileptischen und dissoziativen Anfällen ist die linguistische Auswertung von Arzt-Patient-Gesprächen ein mittlerweile eta‐ bliertes und belegtes Verfahren. Wir haben in unserem Fallbeispiel den Versuch unternommen, dieses Verfahren auch bei einem Gespräch mit einer Patientin anzuwenden, die von einer Narkolepsie betroffen ist. Die Narkolepsie ist eine seltene Erkrankung in der Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus und führt im vorliegenden Fall auch zu anfallsartigen Symptomen. Es zeigte sich (wenig überraschend), dass das standardisierte Scoring, das zur Unterscheidung epileptischer und dissoziativer Anfälle entwickelt wurde, kein klares Ergebnis liefert. Zudem konnten wir einige Punkte aufzeigen, an denen das Scoring für die jüngere Patient_innengruppe angepasst werden kann. Für den Arzt, der anhand seines Gespräches zunächst entscheiden muss, ob er die weitere Diagnostik eher in Richtung einer psychischen oder einer organischen Erkrankung lenken soll, liefert die linguistische Analyse aber ein eindeutiges Ergebnis: Das intensive Nachfragen des Arztes zum Anfallsablauf und zum Anfallserleben führt dazu, dass die Patientin darum ringt, ihr Erleben nachvollziebar zu machen. Sie setzt hier auch Gesten ein. Letztlich gelingt es der Patientin und dem Arzt ein gemeinsames Bild zu bekommen. Diese Punkte sprechen klar gegen eine psychische und für eine neurologische Erkrankung: Bei der Epilepsie, ebenso wie bei unserer Narkolepsie-Patientin, ist die Reaktion darauf, dass der Körper Symptome produziert, die bis dato unerklärt sind, eine Irritation und erzeugt ein Mitteilungsbedürfnis. Des Weiteren bleibt zu erforschen, inwiefern sich die linguistisch gestützte Diagnostik grundsätzlich auf andere Erkrankungen übertragen ließe. Schwierig ist hierbei, dass es nur wenige Krankheiten gibt, die sich so einander gegenüber‐ stehen wie die Epilepsie und die dissoziativen Anfälle. Schließlich möchten wir noch betonen, dass die für unser Projekt durchge‐ führte Fall-Analyse eine Gelegenheit bot, ohne den sonst leider oft üblichen Zeitdruck mit der Patientin ins Gespräch zu kommen. Zusätzlich werden die Gespräche für unser Korpus stets ohne die Eltern oder Erziehungsberechtigten geführt (zur Agency in triadischen Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen vgl. Schwabe 2006b). Wir plädieren dafür, dass alle Kinder und Jugendlichen bei der medizinischen Diagnostik in dieser Weise zu Wort kommen können. 281 Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. Literatur Bruner, J. S. (1978). The Role of Dialogue in Language Acquisition. In: Sinclair, Anne/ Jarvelle, Robert J./ Levelt, Willem J.M. (Eds.). The Child’s Concept of Language. New York: Springer-Verlag, 241-256. Dausendschön-Gay, Ulrich/ Gülich, Elisabeth/ Krafft, Ulrich (2015). Ko-Konstruktionen in der Interaktion: Die gemeinsame Arbeit an Äußerungen und anderen sozialen Ereignissen. Bielefeld: transcript. Fillies, Yvonne (in Vorb.). Sprechen über Kollaps. Dissertation. Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. Universität Bielefeld. Frank-Job, Barbara/ Knerich, Heike/ Opp, Joachim (2020). Interaktive Verfahren beim Sprechen über Angst in Anamnesegesprächen mit jugendlichen Patienten. In: Frank-Job, Barbara/ Michael, Joachim (Hrsg.). Angstsprachen. Interdisziplinäre Zu‐ gänge zur kommunikativen Auseinandersetzungmit Angst. Wiesbaden: Springer VS Research - Soziologie, 169-187. Furchner, Ingrid (2002). „keine absence gleicht der anderen“: Die Darstellung von Bewusstseinslücken in Anfallsbeschreibungen. In: Brünner, Gisela/ Gülich, Elisabeth (Hrsg.). Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdar‐ stellungen. Bielefeld: Aisthesis, 121-159. Gülich, Elisabeth (2012). Conversation analysis as a new approach to the differential diag‐ nosis of epileptic and non-epileptic seizure disorders. In: Deppermann, Arnulf/ Egbert, Maria (Hrsg.). Hearing Aids communication. Mannheim: Verlag für Gesprächsfor‐ schung, 146-158. Gülich, Elisabeth (2005). Unbeschreibbarkeit: Rhetorischer Topos - Gattungsmerkmal - Formulierungsressource. In: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 6, 222-244. www.gespraechsforschung-online.de/ fileadmin/ dateien/ heft2 005/ ga-guelich.pdf Gülich, Elisabeth (2002). Die Beschreibung von Unbeschreibbarem: Eine konversations‐ analytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken (zus. mit Ingrid Furchner). In: Keim, Inken/ Schütte, Wilfried (Hrsg.). Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 161-186. Gülich, Elisabeth/ Schöndienst, Martin (2000). Ansätze zu einer linguistischen Differen‐ tialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen. Methodologie und Anwendungsperspektiven. Vortragsmanuskript. Abrufbar unter: www.uni-bielefel d.de/ lili/ forschung/ projekte/ epiling/ Publikationen/ Differentialtypologie.pdf (Stand: 18.08.2020) Gülich, Elisabeth/ Schöndienst, Martin (1999). „Das ist unheimlich schwer zu be‐ schreiben“. Formulierungsmuster in Krankheitsbeschreibungen anfallskranker Pati‐ 282 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp enten: differenzialdiagnostische und therapeutische Aspekte. Psychotherapie und Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung 1, 199-227. Hackenberg, Annette (2019). Immer müde - Narkolepsie und Hypersonie. Kinder und Jugendmedizin. 19. 200-205. Hausendorf, Heiko/ Quasthoff, Uta M. (2005). Sprachentwicklung und Interaktion: Eine linguistische Studie zum Erwerb von Diskursfähigkeiten. Radolfzell: Verlag für Ge‐ sprächsforschung. Knerich, Heike/ Opp, Joachim (2019). Medizinische und gesprächslinguistische Perspek‐ tiven auf Arzt-Patient-Gespräche mit Kindern und Jugendlichen. Vortrag auf der Tagung Linguistik und Medizin - Sprachwissenschaftliche Zugänge und interdiszi‐ plinäre Perspektiven, 27. -29. März 2019, Universität Paderborn. Opp, Joachim/ Frank-Job, Barbara (2017). Hypothesen zur Genese dissoziativer Anfälle anhand der Anfallsschilderungen. Zeitschrift für Epileptologie 30 (1), 34-38. Reuber, Markus/ Monzoni, Chiara/ Sharrack, Basil/ Plug, Leendert (2009). Using interac‐ tional and linguistic analysis to distinguish between epileptic and psychogenic nonepileptic seizures: A prospective, blinded multirater study. Epilepsy & Behavior 16, 139-144. Schmidt, Thomas/ Wörner, Kai (2014). „EXMARaLDA“. In: Handbook on Corpus Phono‐ logy. Oxford University Press. 402-419. Schöndienst, Martin (2017). Zur differenzialdiagnostischen und -therapeutischen Be‐ deutung diskursiver Stile bei dissoziativen versus epileptischen Patienten. In: Eckart-Henn, Annegret/ Spitzer, Carsten (Hrsg.). Dissoziative Bewusstseinsstörungen - Grundlagen, Klinik, Therapie. 2. Auflage. Stuttgart: Schattauer, 293-309. Schürmann, Mia (in Vorb.). Kinder und Jugendliche sprechen über Bauchschmerzen. Dissertation. Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. Universität Bielefeld. Schwabe, Meike/ Reuber, Markus/ Schöndienst, Martin/ Gülich, Elisabeth (2008). Listening to people with seizures: How can linguistic analysis help in the differential diagnosis of seizure disorders? Communication & Medicine 5(1), 59-72. Schwabe, Meike (2006a). Kinder und Jugendliche als Patienten: Eine gesprächsanalyti‐ sche Studie zum subjektiven Krankheitserleben junger Anfallspatienten in pädiatri‐ schen Sprechstunden. Göttingen: V & R unipress. Schwabe, Meike (2006b). „Ich weiß das ja jetzt am besten auch“: Agency im Sprechen anfallskranker Kinder und Jugendlicher. Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 7, 201-223. www.gespraechsforschung-online.de/ fileadmin/ dat eien/ heft2006/ ga-schwabe.pdf Surmann, Volker (2005). Anfallsbilder. Metaphorische Konzepte im Sprechen anfallskr‐ anker Menschen. Würzburg: Königshausen & Neumann. Surmann, Volker (2002). „Wenn der Anfall kommt“: Bildhafte Ausdrücke und metapho‐ rische Konzepte im Sprechen anfallskranker Menschen. In: Gülich, Elisabeth/ Brünner, 283 Linguistisch motiviertes Scoring als Diagnose-Instrument. Gisela (Hrsg.). Krankheit verstehen: Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krank‐ heitsdarstellungen. Bielefeld: Aisthesis, 93-119. Anhang Scoring-Items aus Reuber et al. (2009, Anhang) Interactional Features 1. General focus on seizure experience (rather than seizure situations or consequences) 2. Description of subjective seizure symptoms 3. Description of seizure suppression attempts 4. Description of ‘gaps’ (phases of reduced self-control or recollection) 5. Response to challenge of statements about ‘gaps’ 6. Description of individual seizure episodes (possible ‘focussing resis‐ tance’: interactional resistance to focus on particular seizures) Topical Features 7. Subjective seizure symptoms 8. Relative importance of subjective seizure symptoms 9. Relative importance of ‘gaps’ (phases of reduced self-control or recollec‐ tion) 10. Contouring of ‘gaps’ in seizure trajectory (eg. detailing of last memory before / first after seizure) 11. Reconstruction of ‘gaps’ (eg. filling own memory gaps with own recol‐ lections / witness accounts) Linguistics Features 12. ‘Formulation effort’ associated with description of subjective seizure symptoms (‘formulation effort’ includes restarts, reformulations, neolo‐ gisms) 13. Negations in descriptions of seizure experience (absolute: ‘I don’t re‐ member anything, contextualised: I remember X but not Y’) 14. ‘Formulation effort’ associated with description of ‘gaps’ 15. Metaphoric seizure conceptualisation 16. External / internal conceptualisation of seizures, Conceptualisation of seizures as a fight / struggle 284 Birte Schaller/ Mia Schürmann/ Yvonne Fillies/ Joachim Opp 1 Das in Kooperation mit Martin Schöndienst (damals Epilepsiezentrum Bethel) durch‐ geführte Forschungsprojekt (www.uni-bielefeld.de/ lili/ forschung/ projekte/ epiling/ , Stand: 05.08.2020) wurde von 1999 bis 2001 von der DFG gefördert und über viele Jahre von der Universität Bielefeld unterstützt. Für eine zusammenfassende Darstellung siehe Frank-Job et al. 2017, Schöndienst 2000 oder Gülich 2012. 2 Der Workshop auf der Veranstaltung in Bad Segeberg 2001 hatte den Titel „Linguistische Analyse von Arzt-Patient-Interaktionen. Sprachliche Verfahren bei der Darstellung von Angst in Gesprächen über Anfälle“ (www.uni-bielefeld.de/ ZIF/ KG/ 2004Angst/ , Stand: 05.08.2020). Das Thema wurde später im Rahmen einer Kooperationsgruppe am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld umfassend untersucht: „Kom‐ munikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst“ (unter der Leitung von Jörg Bergmann, Elisabeth Gülich, Martin Schöndienst und Friedrich Wörmann). Vgl. dazu u. a. Gülich 2020 und Schöndienst 2020. „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ Auf den Spuren des Narrativs in Thure von Uexkülls Psychosomatischer Medizin Elisabeth Gülich 1 Eine (narrative) persönliche Vorbemerkung Meine Spurensuche begann mit einer unerwarteten Einladung zur Jahrestagung der - mir bis dahin unbekannten - Akademie für integrierte Medizin (AIM), die im Jahr 2001 in Bad Segeberg stattfand. Ich sollte dort ein Forschungsforum mitgestalten und die linguistische bzw. konversationsanalytische Arbeit an Arzt-Patient-Gesprächen vorstellen. Da ich mich mit solchen Gesprächen zu der Zeit im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts („Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen“) 1 be‐ schäftigte, entschloss ich mich, über ein gerade aktuelles Thema aus diesem Projekt zu berichten: die kommunikative Darstellung von Angst. 2 Dementspre‐ chend wählte ich als Datengrundlage für die gemeinsame Arbeit Ausschnitte aus Gesprächen, in denen Patienten von Angst- und Panikerfahrungen erzählen. Zu meiner Überraschung beteiligten sich die Teilnehmenden an der - für die 3 Für ebenso intensive wie entspannte Arbeitsmöglichkeiten in Freiburg danke ich Marina von Uexküll ganz herzlich; ohne sie wäre diese Arbeit nicht entstanden. Ihr und Karl Köhle bin ich auch sehr dankbar für eine sorgfältige und kritische Lektüre meines Textes dessen Entstehung auch durch die kompetente und tatkräftige Mitarbeit von Ingrid Furchner geprägt wurde. meisten sicher ungewohnten - Arbeit an Gesprächstranskripten mit großem Interesse und viel Verständnis, sie bemerkten, kommentierten und erörterten sprachliche Details und diskutierten lebhaft über die Art und Weise, wie Angst zur Sprache kommt. Unter den Teilnehmenden war auch Thure von Uexküll - diesen Namen hatte ich schon gehört und brachte ihn auch mit dem Begriff Psychosomatik in Verbindung. Insofern wusste ich es durchaus zu würdigen, als er mir nach der Sitzung zu verstehen gab, dass er diese Art der Beschäftigung mit Gesprächen für einen guten Weg hielt. Die Folgen dieser Jahrestagung waren ausgesprochen nachhaltig: Ich wurde Mitglied der Akademie, besuchte fortan fast jede Jahrestagung und auch manche „Modellwerkstatt“, und es wurde allmählich fast Tradition, gemeinsam an Gesprächen - Audio- oder Videoaufnahmen und Transkripten - zu arbeiten. Ich lernte dabei selbst sehr viel und war immer wieder beeindruckt von der Beob‐ achtungsgabe der Teilnehmenden und davon, wie sie scheinbar unbedeutende sprachliche Details als bedeutsam erkannten und treffend beschrieben. Niemand äußerte Unverständnis oder Ungeduld, wenn sich die Aufmerksamkeit auf ein „ähm“, eine Pause, ein Einatmen oder ein Zögern bei der Wortsuche richtete und die Diskussion auch mal länger dabei verweilte. ‚Psychosomatik‘ war für mich schon bald kein Fremdwort mehr, und ich selbst fühlte mich in diesem Kreis auch nicht mehr fremd. Die Zusammenarbeit erstreckte sich über viele Jahre. Die Akademie änderte ihren Namen in „Thure von Uexküll-Akademie für integrierte Medizin“ (Thure von Uexküll war 2004 gestorben), meine Kontakte zur Akademie wurden durch häufige Aufenthalte in Freiburg und durch die Gastfreundschaft von Marina von Uexküll intensiviert und erheblich erleichtert. So blieb es nicht aus, dass ich - als ich wieder einmal im Hause von Uexküll wohnte - mir „den Uexküll“, also das Buch, von dem ich nun schon viel gehört hatte, auch einmal ansehen wollte. Ich stellte mir ein dickes Buch vor, das in einem der zahlreichen Regale zu finden wäre und das ich dann mal durchblättern würde. Auf die Bitte, es mir zu zeigen, kam die Rückfrage, die den Stein ins Rollen brachte: „Welche Auflage denn? “ Ich bekam Zugang zu einem Zimmer mit einem Regal voller Uexküll-Bücher. Da standen u. a. sieben dicke grüne Bände, mit insgesamt mehreren Tausend Seiten: die Auflagen des Lehrbuchs von 1979 bis 2011. 3 286 Elisabeth Gülich 4 Vgl. dazu z. B. Gülich 2017 und 2018. Dass diese Schwerpunkte sich so entwickeln konnten, verdanke ich langjährigen Kooperationen, insbesondere mit Gabriele Lu‐ cius-Hoene, Carl Eduard Scheidt und Martin Schöndienst. 5 Anregungen zu dieser Thematik gaben mir zahlreiche Gespräche in verschiedenen Kontexten der AIM, u. a. mit Werner Geigges, Miriam Haagen, Anna Staufenbiel-Wand‐ schneider und Gisela Volck. Eine kurze Darstellung meiner ersten Eindrücke von den Auflagen 1-7 findet sich in Gülich 2017. Ich entschied mich für die erste Auflage - und machte schon im Inhaltsver‐ zeichnis eine überraschende Entdeckung: Es gab darin ein eigenes Kapitel über das Arzt-Patient-Gespräch. In der Linguistik, besonders in der Gesprächsfor‐ schung war dieses Thema zu jener Zeit zwar bereits als Forschungsgebiet eta‐ bliert, aber es in einem medizinischen Lehrbuch von 1979 zu finden, damit hatte ich nicht gerechnet. Das Schicksal dieses Kapitels interessierte mich, deshalb griff ich gleich zur siebten, der damals letzten Auflage. Dort fand ich nicht nur ein Kapitel über dasselbe Thema wieder, sondern zu meiner Verwunderung noch ein weiteres mit dem Titel „Das Narrativ“. Nun war meine Neugierde geweckt: Gab es in allen Auflagen ein eigenes Kapitel zum „Arzt-Patient-Gespräch“, und wann und wie war das „Narrativ“ hinzugekommen? Letzteres interessierte mich ganz besonders, denn durch interdisziplinäre Forschungsprojekte wie die oben erwähnten hatte sich die narrative Rekonstruktion von Krankheitserfah‐ rungen zu einem meiner Forschungsschwerpunkte entwickelt. 4 Zudem hatte ich im Laufe meiner Zusammenarbeit mit der AIM schon bemerkt, dass in den Vorträgen, Veröffentlichungen und Diskussionen das „Narrativ“ eine nicht unwichtige Rolle spielte. 5 Als ich erfuhr, dass zu der Zeit bereits die achte Auflage in Vorbereitung war, wartete ich schon allein deshalb mit Spannung auf ihr Erscheinen, weil ich wissen wollte, wie es mit dem Narrativ weitergehen würde. Es wäre nun eine ebenso reizvolle wie schwierige Aufgabe, anhand der verschiedenen Auflagen des Uexküllʼschen Lehrbuchs der Psychosomatischen Medizin detailliert nachzuvollziehen, wie kommunikative und speziell narra‐ tive Verfahren in ärztliches Handeln bzw. Arzt-Patient-Interaktion einbezogen werden und wie sich diese Aspekte im Laufe der Jahre entwickelt haben. Das ist im vorliegenden Rahmen nicht zu leisten. Ich habe keineswegs den Anspruch - und wäre auch nicht in der Lage -, die Tausende von Seiten der acht Auflagen sorgfältig durchzuarbeiten und mich umfassend und tiefschürfend in die Psychosomatik einzuarbeiten. Vielmehr will ich in einem kursorischen Überblick deutlich machen, wie in diesem medizinischen Lehrbuch schon sehr früh und zunehmend detailliert auf solche sprachlichen bzw. kommunikativen Aspekte eingegangen wird. 287 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ 6 Vgl. z. B. Goldbach 2006: 81, 139. 7 Nur in der 1. und 2. Auflage wird der Begriff „Lehrbuch“ im Titel gebraucht; ab der 3. Auflage verschwindet er daraus, wird aber manchmal im Vorwort noch gebraucht. 8 Nach Auskunft des Verlags ist bereits eine 9. Auflage geplant. 9 Die 1. Auflage von 1979 umfasst 844 Seiten und 48 Kapitel von 31 Autoren, die 8. Auflage hat 1240 Seiten und enthält 104 Kapitel von 100 Autoren. Meine vergleichende Betrachtung beginnt jeweils mit einer Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses: Welche Kapitel haben mit Kommunikation und speziell mit Erzählen zu tun? In welchem Teil des Buchs stehen sie? Die Gesamtgliede‐ rung wurde in den verschiedenen Auflagen immer wieder verändert. Bei der genaueren Durchsicht betrachte ich dann jeweils vor allem das Kapitel zum Arzt-Patient-Gespräch und ggf. das zum Narrativ und beachte deren Verortung in der Struktur des Buchs. Darüber hinaus achte ich auch auf Kapitel, in denen Kommunikation allgemein oder speziell Erzählen erkennbar eine Rolle spielt, z. B. in der Krankenvisite oder in der Palliativmedizin. Ferner berücksichtige ich Sachregister und Glossar. Auf diese Weise versuche ich nachzuzeichnen, wie sich in diesem Lehrwerk im Laufe der Jahre das Interesse am Erzählen allmählich entwickelt und an Bedeutung gewonnen hat. 2 Thure von Uexküll: Das Lehrbuch Psychosomatische Medizin Thure von Uexküll (1908-2004) gilt als einer der Begründer der Psychosomatik, er wird gern als ihr „Vater“, „Wegbereiter“, „Pionier“ oder „Nestor“ bezeichnet. 6 Sein Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin erschien in der 1. Auflage 1979, 7 die derzeit aktuelle 8. Auflage 2016 unter dem Titel Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. 8 Im Laufe der Jahre und der Neuauf‐ lagen wurde das Werk immer wieder überarbeitet und wesentlich erweitert. 9 Bis zur 6. Auflage (2003) hat von Uexküll das Buch noch selbst mit herausgegeben; bis zur 7. Auflage (2011) erscheint er noch als Autor im Bereich der theoretischen Grundlagen. Unabhängig davon, ob in der jeweiligen Auflage ausdrücklich auf das Er‐ zählen, die Erzählung oder das Narrativ eingegangen wird, spielen für die Beschäftigung mit dem Erzählen und allgemeiner mit Kommunikation die Grundgedanken der Psychosomatik im Sinne von Uexkülls eine wichtige Rolle. Dass es in diesem Lehrbuch von Anfang an ein eigenes Kapitel zum Arzt-Pa‐ tient-Gespräch gab, steht im Einklang mit der Auffassung von der „Öffnung der Psychosomatischen Medizin zu neuen Fragestellungen, neuen Konzepten und neuen Methoden“, die Thure von Uexküll im Vorwort zur 1. Auflage vertritt, 288 Elisabeth Gülich 10 Da im Laufe der Jahre bei den verschiedenen Auflagen der Psychosomatischen Medizin sowohl Titel als auch Herausgeber variieren, werden Zitatstellen aus den einzelnen Auflagen hier zugunsten der Übersichtlichkeit in einer Kurzform angegeben: Uexküll, römische Ziffer für die Auflage, Seitenzahl. 11 Bis zur 7. Auflage stand am Beginn von Teil I „Theoretische Grundlagen“ das Kapitel von Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack „Integrierte Medizin als Gesamtkonzept der Heilkunde: ein bio-psycho-soziales Modell“. als „Antwort auf die Herausforderung der heutigen Situation“ (Uexküll I: V). 10 Dieses Lehrbuch, so schreibt er in der Einleitung, „wendet sich in erster Linie an Ärzte und Medizinstudenten, darüber hinaus aber auch an alle, die sich für die Frage interessieren, welche Rolle die individuell erlebte Wirklichkeit eines Menschen für dessen Gesundsein oder Kranksein spielt“ (ebd.: 1). Schon im Vorwort geht er ausführlich auf die Frage ein, „was unter ‚Psychosomatischer Medizin‘ verstanden und was nicht darunter verstanden wird“ (ebd.: V). Er betont immer wieder - schon in einer frühen Schrift von 1963 -, dass sie „kein neues Spezialfach“ sein soll und dass es also keine geschlossene Liste von Krankheiten gibt, die man als „psychosomatisch“ etikettieren könnte. Vielmehr sei psychosomatische Medizin „eine alle Zweige der Medizin betreffende neue Forschungsrichtung“ (von Uexküll 1963: 13). Darauf berufen sich auch noch die Herausgeber der 8. Auflage, wenn Karl Köhle zu Beginn des ersten Kapitels „Integrierte Medizin“ 11 von Uexkülls Anliegen dahingehend zusammenfasst, dass es unabhängig von der Spezialisie‐ rung möglich sein soll, „eine medizinische Betreuung kranker Menschen zu verwirklichen, welche die körperlichen, seelischen und sozialen Probleme gleich ernst nimmt“ (Uexküll VIII: 4). Dieses Anliegen wird nicht nur darin deutlich, dass immer wieder die Bedeutung der individuell erlebten Wirklichkeit betont wird, sondern auch darin, dass häufig von Falldarstellungen ausgegangen wird (vgl. in der 8. Aufl. Kap. 1.2.3 „Ärztliches Handeln als Fallarbeit (Kasuistik)“): Es soll eine „Theorie der Heilkunde“ entwickelt werden, die sich auf „exemplarische Krankheitsfälle“ gründet. 3 Das Gespräch als „zentrales Kommunikationsmittel zwischen Arzt und Patient“ Im ersten Kapitel der 1. Auflage führt Thure von Uexküll selbst zusammen mit Wolfgang Wesiack in die theoretischen Grundlagen ein. Hier machen die Autoren deutlich, dass die dem Werk zugrunde liegende Konzeption der psycho‐ somatischen Medizin nicht an Vorhandenes anknüpfen kann: „Wir müssen uns daher den Weg zu einer umfassenden Theorie der Heilkunde im Rahmen 289 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ einer Einführung in das vorliegende Lehrbuch selbst suchen“ (Uexküll I: 7). Sie zeigen anhand eines exemplarischen Krankheitsfalls (Kap. 1.2), „daß wir die Erkrankungen unseres Patienten nicht ausreichend verstehen, solange wir die Reaktionen seines Organismus von seiner Umwelt, seinen Objektbeziehungen und der Situation, in der er sich jeweils befindet, trennen“ (ebd.: 9). Es geht ihnen also nicht darum, psychosozial ausgelöste Krankheiten neben internis‐ tischen oder chirurgischen als eine weitere Gruppe von Leiden aufzufassen und somit eine Spezialdisziplin Psychosomatik zu propagieren, sondern darum, bei jeder Krankheit grundsätzlich auch die psychosomatischen Anteile zu erkennen und zu berücksichtigen. Im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem hervorzuheben, dass die Einstellung zum kranken Menschen hier eine andere ist als in der herkömmlichen Medizin und dass diese veränderte Einstellung notwendigerweise auch Konsequenzen haben muss für die Kommunikation. Wenn wir die Situationen und die aus ihnen aufgebaute individuelle Wirklichkeit eines Patienten verstehen wollen, müssen wir daher auch nach ihren unbewußten und vorbewußten Anteilen fragen. Sie entsprechen Programmen, die in der früheren Lebensgeschichte erlernt wurden und die - in pathologischen Fällen - nicht in die später erlernten Programme integriert werden können. (ebd.: 23) Auch wenn es hier nicht explizit gesagt wird, ist davon auszugehen, dass die individuelle Situation und die Lebensgeschichte jeweils kommunikativ bzw. narrativ vermittelt werden müssen. Insofern ist es nur konsequent, wenn im vierten Teil des Lehrbuchs mit dem Titel „Diagnostische und therapeutische Verfahren psychosomatischer Krankenversorgung“ dem ärztlichen Gespräch - „jenem bisher in Theorie und Praxis der Medizin stark vernachlässigten Bereich“ (ebd.: 361) - ein eigenes Kapitel gewidmet wird (Kap. 18, Wolfgang Wesiack). Dieses Kapitel betont gleich zu Beginn die grundlegende Bedeutung des Ge‐ sprächs als „zentrales Kommunikationsmittel zwischen Arzt und Patient“: Die psychosomatische Medizin, die sich die Aufgabe gestellt hat, die gesamte Inter‐ aktion zwischen Arzt und Patient zu umfassen, und dabei vor allem die Aspekte der Beziehung und des emotionalen Erlebens berücksichtigt, ist in ganz besonderem Maße genötigt, die diagnostischen und therapeutischen Qualitäten des gesprochenen Wortes zu untersuchen und zu nützen. (ebd.) Nachdem das Gespräch, obwohl es in den Sprechstunden und am Krankenbett ununterbrochen praktiziert wird, bei der Entwicklung diagnostischer und the‐ rapeutischer Techniken „lange Zeit keinen Platz in der medizinischen Theorie“ hatte, soll es nun „einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich“ gemacht und 290 Elisabeth Gülich „in den Bereich der lehr- und lernbaren ärztlichen Verhaltensweisen überführt“ werden (ebd.). Der Terminus „ärztliches Gespräch“ wird dabei sehr weit gefasst: als „Überbzw. Sammelbegriff für alle zwischen Arzt und Patient gewechselten Worte“. Auffallend ist, dass die Autoren hier schon auf den „Zeitfaktor“ hinweisen: Für die Kommunikation mit dem Patienten werde immer weniger Zeit vorgesehen, weil „die theoretische Bedeutung des ärztlichen Gesprächs nicht erkannt oder mißachtet“ werde (ebd.). Die Autoren hoffen, dass dieser „beklagenswerte Zustand“ sich künftig verbessert, fürchten aber - leider zu Recht -, dass dies ein Problem bleiben wird (ebd.: 361 f.). Den Ausgangspunkt für die Betrachtung des ärztlichen Gesprächs bilden zwei exemplarische Krankheitsfälle (Kap. 18.2): der eines 49-jährigen überge‐ wichtigen Mannes mit Herzproblemen und der einer 29-jährigen Patientin, die unter Schlaflosigkeit, Unruhe und Herzklopfen leidet. Anschließend wird zu‐ nächst eine „Strukturanalyse“ des Gesprächs vorgenommen. Präsentiert werden zum einen der „Versuch einer informationstheoretischen Analyse“ (Kap. 18.3), zum anderen eine „psychoanalytische Interpretation des ärztlichen Gesprächs“ (Kap. 18.4). Für Arzt-Patient-Kommunikation sind in der 1. Auflage noch weitere Ka‐ pitel relevant: „Die Institutionalisierung der psychosomatischen Medizin im klinischen Bereich“ (Kap. 15, Karl Köhle und Peter Joraschky) und „Anamne‐ seerhebung in der psychosomatischen Medizin“ (Kap. 16, Rolf Adler). Hier werden verschiedene Typen von Gesprächen thematisiert, z. B. das Erstgespräch mit der Schwester, die Visite (Oberarzt- und Chefarztvisite, Pflegevisite) sowie Interaktionen wie Schichtübergabe oder Stationskonferenz. Bei der Anamnese ist es für den Arzt wichtig zu entscheiden, welche psychischen und sozialen Angaben im Zusammenhang mit den erhobenen somatischen Daten relevant sind. Er muss zudem in der Lage sein, die betreffenden Daten zu erheben. Das erfordert eine bestimmte Technik der Anamneseerhebung, für die ein Interviewschema vorgeschlagen wird (Kap. 16.2). In dem Zusammenhang wird auch ein Beispiel für die Verschriftlichung eines Interviews (Kap. 16.4) gegeben, das anscheinend recht genau den Wortlaut einer Audioaufnahme wiedergibt; allerdings werden - anders als in einem Transkript - konventionelle Satzzeichen wie in geschriebener Sprache verwendet. In Randkommentaren zur Analyse werden verschiedentlich auch Stimme und Sprechweise berücksichtigt. Schließlich spielt Kommunikation konsequenterweise auch eine Rolle im siebten Teil des Buchs, in dem es um „Psychosomatische Aspekte internistischer Krankheiten“ geht (ebd.: 557 ff.). Hier ist vor allem Kapitel 48 „Zum Umgang mit 291 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ unheilbar Kranken“ (Karl Köhle, Claudia Simons, Hubert Urban) zu erwähnen, in dem das Gespräch einen besonderen Stellenwert hat. Fazit: Das Gespräch mit dem Patienten spielt in der Psychosomatik Thure von Uexkülls von Anfang an eine wichtige Rolle, die in verschiedenen thematischen Zusammenhängen deutlich wird. Im Sachverzeichnis wird beim Stichwort „Gespräch“ vor allem auf das oben genannte Kapitel 16 über die Anamnese‐ erhebung verwiesen. Außerdem findet sich ein Hinweis auf ein Kapitel, das ein beispielhaftes Gespräch mit einem Herzinfarktpatienten enthält. Dessen Redebeiträge sind in indirekter Rede wiedergegeben. Die 2., „durchgesehene Auflage“ von 1981 hat einen unwesentlich größeren Umfang als die erste; der Inhalt wurde dem Vorwort zufolge weitgehend unverändert übernommen. Speziell das Erzählen bzw. das Narrativ wird in den beiden ersten Auflagen nicht eigens thematisiert und auch im Sachverzeichnis nicht aufgeführt. In der 3. Auflage von 1986 tritt das Erzählen jedoch stärker in Erscheinung. 4 Die allmähliche Entwicklung des Interesses am Erzählen Die 3. Auflage von 1986 ist, ebenso wie später die 4., ausgewiesen als „neu bearbeitet und erweitert“; im Vorwort wird sie sogar als „eine fast durchgängige Neufassung“ charakterisiert. Die rasche Entwicklung auf verschiedenen Gebie‐ ten der Psychosomatischen Medizin, heißt es dort, habe zu neuen Einsichten und neuen Gewichtungen geführt. Auch in bisher nur somatisch orientierten Disziplinen sei das Interesse an dieser Ausrichtung gewachsen. Die Gliederung wurde im Wesentlichen beibehalten. Das Buch wurde aber im Umfang erheblich erweitert (von 860 auf 1355 Seiten); Teil II „Allgemeine Psychosomatik“ enthält mehrere Kapitel neuer Autoren. Hinzugefügt wurde ferner ein gesondertes Verzeichnis der Fallberichte. Schon Kapitel 1 „Wissenschaftstheorie und Psychosomatische Medizin, ein bio-psycho-soziales Modell“ (Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack) lässt deutliche Unterschiede zur vorherigen Version erkennen, auch manche theore‐ tischen Neuansätze, darunter auch solche aus der linguistischen Gesprächsfor‐ schung, die für den vorliegenden Zusammenhang besonders interessant sind. Das Kapitel über das ärztliche Gespräch von Wolfgang Wesiack (hier als Kap. 14) steht wie in den beiden vorherigen Auflagen im Teil „Diagnostische und therapeutische Verfahren“. Hier sind auf den ersten Blick keine wesentlichen Änderungen erkennbar. Das Gespräch mit vielfältigen Aspekten steht aber auch in Kapitel 15 im Vordergrund: „Die Krankenvisite - Probleme der traditionellen Stationsarztvisite und Veränderungen im Rahmen eines psychosomatischen Be‐ 292 Elisabeth Gülich 12 Man findet hier zum Beispiel Hinweise auf Autoren und Autorinnen aus der Konver‐ sationsanalyse (wie Harvey Sacks), der Erzählforschung (wie Uta Quasthoff) und der Analyse medizinischer Kommunikation (wie Armin Koerfer und Thomas Bliesener). Ein Gesamtliteraturverzeichnis des Bandes ist im Internet zugänglich (https: / / shop.elsevier. de/ uexkuell-psychosomatische-medizin-9783437218347.html, Stand: 05.08.2020). handlungskonzepts“ (Dirk Fehlenberg, Claudia Simons, Karl Köhle). Das Kapitel ist in dieser Form neu (vorher war es der Anamneseerhebung untergeordnet). Es beginnt mit einer ausdrücklichen Wertschätzung der Arzt-Patient-Kommuni‐ kation in der Psychosomatik: Psychosomatisch verstandene Medizin ist in einem besonderen Ausmaß auf den in‐ tensiven Dialog zwischen Arzt und Patient angewiesen. Der Zugang zur individuellen Wirklichkeit des Patienten […] erschließt sich nur im direkten persönlichen Kontakt, durch ein Gespräch, das auf dem Hintergrund einer tragfähigen Arzt-Patient-Bezie‐ hung geführt werden kann und dessen Thematik auch die Biographie des Patienten mit einbezieht. Erst im Dialog wird die Erkrankung als Teil der Lebensgeschichte des Patienten, im Hinblick auf ihre Entstehungsbedingungen und ihre subjektiv geprägten Folgen, faßbar. (Uexküll III: 244) Hier wird nicht nur die Bedeutung der „individuellen Wirklichkeit“ und der Biografie des Patienten betont, sondern als Zugang dazu auch explizit das „Gespräch“ benannt. Damit wird ein starkes Gewicht darauf gelegt, dass der Patient dem Arzt sein je individuelles Krankheitserleben wie auch dessen biografische Einbettung in irgendeiner Weise kommunikativ vermittelt. Zwar ist auch hier nicht ausdrücklich von Erzählen oder vom Narrativ die Rede, aber manche lebensgeschichtlichen Aspekte können anders kaum zum Ausdruck gebracht werden. In dieses neue Kapitel werden auch Konzepte und Ergebnisse kommunikati‐ onsanalytischer Forschung einbezogen, insbesondere Untersuchungen des tra‐ ditionellen Visitengesprächs. 12 Forschungsresultate zu diesem Setting werden zusammengefasst und durch Überlegungen zu ihrer Praxisrelevanz ergänzt. Ausführlich wird auf „[d]ie Veränderung der Stationsarztvisite unter den Zielsetzungen einer psychosomatisch-ganzheitlichen Behandlung (patienten‐ zentrierte Visitenführung)“ (Kap. 15.3) eingegangen, und es werden „[p]rak‐ tikable Gesprächsformen für die psychosomatische Visite“ entworfen. Hier werden auch zwei Fallbeispiele herangezogen, aus denen lange verschriftlichte Gesprächsausschnitte präsentiert werden. Im Zusammenhang mit Gesprächsformen in der Visite wird nun auch ausdrücklich das Erzählen thematisiert, wenn auch vorerst in einer sehr ein‐ gegrenzten Weise: Es erscheint als eine Form von Initiative, die der Patient 293 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ ergreifen kann, mit der er aber oft keinen Erfolg hat. Denn wenn er dies entgegen den Erwartungen des Arztes tut, entsteht möglicherweise ein Konflikt. Dieser Aspekt des unerwünschten Erzählens wird in der 4. Auflage von 1990 noch etwas weiter ausgeführt, darum zitiere ich hier die neuere Version: Das Erzählen. Der Konflikt zwischen Patient und Arzt resultiert bei Erzählungen - sofern sie überhaupt ansatzweise zugelassen werden - daher, daß der Arzt an den entsprechenden Stellen gemäß den für ihn im Vordergrund stehenden medizinischen Erfordernissen einen Bericht erwartet und sein Rückmeldeverhalten entsprechend ausrichtet. Das vom Patienten initiierte Muster - Erzählung - wird in den Reaktionen des Arztes nicht aufgenommen (insbesondere fehlen expansionsstimulierende Ele‐ mente), sondern durch Rückfragen, Minimalreaktionen und Ähnliches zum Erliegen gebracht. (Uexküll IV: 267 f.) Dass es hier in Bezug auf Patientenerzählungen heißt „sofern sie überhaupt ansatzweise zugelassen werden“ (dieser Zusatz fehlt übrigens in der 3. Auflage), unterstreicht, dass Ärzte diese Art von Initiativen seitens der Patienten im All‐ gemeinen als problematisch oder zumindest nicht selbstverständlich ansehen. Als typischer Auftakt für das Erzählen einer Geschichte wird beispielhaft ein Fall angeführt, in dem der Arzt die Patientin zunächst auch dazu ermuntert, aber als sie beginnt, sie sogleich unterbricht. Durch seine Reaktion wird das Thema dieser Initiative so verändert, dass es der Patientin in der restlichen Zeit der Visite nicht mehr gelingt, zum Kern ihrer Erzählung vorzudringen (ebd.: 447). In solchen Fällen verkürzen die Patienten typischerweise die Erzählmuster und bedienen damit zugleich das vom Arzt erwartete Muster. Behandelt wird das Erzählen auch in dieser 4. Auflage nicht im Kapitel über das ärztliche Gespräch, sondern im Zusammenhang mit der Krankenvisite (hier Kap. 18). In einem „zusammenfassenden Problemaufriß“ charakterisieren die Autoren (dieselben wie in der 3. Auflage) die Stationsarztvisite in ihrer traditionellen Form (Kap. 18.2.2) als „das gescheiterte Arzt-Patient-Gespräch“. Mit den daran anschließenden Überlegungen dazu, wie sich die Stationsarztvi‐ site in einem psychosomatischen Ansatz mit entsprechenden Zielsetzungen verändern muss (Kap. 18.3), erfährt das Erzählen zumindest indirekt eine neue Wertschätzung. Im Sachverzeichnis findet sich allerdings weder in der 3. noch in der 4. Auflage ein Eintrag zu Erzählen oder zu Narrativ. In der 5. Auflage (1996) betrachten die Herausgeber im Vorwort die Entwick‐ lung der Psychosomatischen Medizin seit der 1. Auflage des Lehrbuchs, die „die Aufgabe für eine weit in die Zukunft reichende Entwicklung umrissen“ hatte (Uexküll V: V). Der Verlauf dieser Entwicklung mache deutlich, dass die „Integration psychosozialer Aspekte ‚quer‘ zu der rasch fortschreitenden Auf‐ 294 Elisabeth Gülich splitterung in Spezialdisziplinen verläuft“ (ebd.). Mit „quer“ sind hier u. a. auch die spezifischen Fragen der Diagnostik und Therapie gemeint. Die 5. Auflage zeichnet sich laut Vorwort auch dadurch aus, dass die integrative Funktion des Grundkonzepts in den einzelnen Kapiteln stärker betont wird. Hinsichtlich der Bedeutung des Erzählens zeigen sich keine wesentlichen Neuerungen. Das Thema wird auch hier im Kapitel über die Krankenvisite behandelt und erscheint gegenüber den vorherigen Auflagen wenig verändert. Allerdings werden mögliche Anknüpfungspunkte von Erzählen deutlicher. Beispielsweise wird in Kapitel 20 „Theorie des diagnostischen Prozesses“ (Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack) abschließend an einem „exempla‐ rischen Krankheitsfall“ gezeigt, dass eine Teildiagnose (in diesem Fall eine Rippenfraktur) für die Behandlung und Rekonvaleszenz nicht ausreicht, wenn sie nicht in eine Gesamtdiagnose eingeordnet wird. Dazu müssten lebensge‐ schichtliche Zusammenhänge hergestellt werden. Hier drängt es sich geradezu auf, einen Schritt weiterzugehen: Um solche Beziehungen zwischen einem singulären (Krankheits-)Ereignis und größeren Lebenszusammenhängen her‐ zustellen, liegt es nahe, den Patienten erzählen zu lassen! Das Kapitel zum ärztlichen Gespräch (Wolfgang Wesiack) hat sich gegenüber den vorherigen Auflagen kaum verändert. Wie in der 4. Auflage richten die Autoren zum Abschluss das „Augenmerk noch auf allgemeine Verhaltensweisen des Arztes […], die für das Gelingen oder Mißglücken eines ärztlichen Gesprächs verantwortlich sind“ (Uexküll V: 387). In dem Zusammenhang finden sich Hinweise auf weiterführende Literatur auch aus der linguistischen Gesprächs‐ forschung sowie eine Zusammenfassung der „wichtigsten Gebote und Verbote“ für erfolgreiche ärztliche Gespräche (ebd.: 387). Erzählen wird in diesem Zu‐ sammenhang allerdings nicht gesondert benannt. Eine stärkere Gewichtung des Erzählens ist dann ab der 6. Auflage (2003) erkennbar, der letzten, an der Thure von Uexküll noch selbst mitgearbeitet und deren Erscheinen er noch erlebt hat. Dass es ihm wichtig und notwendig erschien, Erzählen und Erzählungen stärker zur Geltung zu bringen, kommt an verschiedenen Stellen zum Ausdruck, besonders deutlich in dem folgenden Zitat aus einem Interview: Ein Punkt, der nicht vergessen werden darf, ist, daß man den Patienten seine Krankheitstheorie schildern läßt. Was fehlt ihm seiner Meinung nach? Da entsteht ein kleines ‚Narrativ‘ als Möglichkeit einer Beteiligung an der Ikonizität. Die Geschichte öffnet einen Raum in der Zeit, in dem der Patient mit dem Arzt in seine Vergangenheit gehen kann. Der Arzt hat damit die Möglichkeit, bei Ereignissen, die der Patient be‐ richtet, ‚dabei‘ zu sein. Dieses Dabeisein ist Voraussetzung dafür, etwas zu verstehen. 295 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ 13 Otte hat eine Biografie von Thure von Uexküll auf der Grundlage von Interviews verfasst, die er mit von Uexküll geführt hat. Der Behandlungsauftrag kommt vom ‚Narrativ‘ oder vom Narrativen. (Otte 2001: 186) 13 In Bezug auf Arzt-Patient-Kommunikation gibt es in der 6. Auflage eine ganze Reihe von Neuerungen. So wurde das bisherige Kapitel von Wolfgang Wesiack über das ärztliche Gespräch hier - wie auch in den nachfolgenden Auflagen - nicht wieder aufgenommen, sondern durch zwei andere ersetzt: Zum einen findet sich im Teil „Theoretische Grundlagen“ ein neues Kapitel „Kommunikation“ (Kap. 2, Karl Köhle), in dem sehr differenziert auf den Patienten als Subjekt eingegangen wird, auf sein individuelles Erleben und auf die „Patientenwahrheit“, die nicht die „Arztwahrheit“ ist (Uexküll VI: 45). Zum anderen enthält der Teil „Diagnostik“ ein ebenfalls neues Kapitel „Die ärztliche Konsultation“ (Kap. 26, Jozien Bensing und Wolf Langewitz). Dieses hebt mit Nachdruck die Bedeutung von Kommunikation hervor, die in der Überschrift von Abschnitt 1.1 als ein „unterschätztes Werkzeug in der Medizin“ bezeichnet wird: Es ist mittlerweile sehr gut belegt, dass Kommunikation wahrscheinlich als das mäch‐ tigste Instrument in der Medizin angesehen werden sollte, nicht nur für den Aufbau einer Arbeitsbeziehung mit dem Patienten, sondern auch für den diagnostischen und therapeutischen Prozess […]. In der täglichen klinischen Praxis ist allerdings das Ansehen der Kommunikation nach wie vor schlecht. (Uexküll VI: 415) Ein wesentlicher Aspekt für eine „Veränderung der Arzt-Patient-Beziehung“ (Titel von Abschnitt 2) liegt darin, welche Relevanzsetzungen Ärzte durch ihr kommunikatives Verhalten dem Patienten übermitteln. Wenn sie nur medizi‐ nische Fragen stellen, bekommen sie nur Antworten zur körperlichen Seite der Erkrankung und werden „die Geschichte des Patienten in seinen eigenen Worten nie zu hören bekommen“. Wenn sie hingegen „den Patienten einladen, seine eigene Geschichte zu erzählen, dann werden Patienten dies als ein Zeichen dafür ansehen, dass ihre Erkrankung mehr bedeutet als die Konzentration auf den unmittelbar betroffenen Körperteil“ (ebd.). Ziel der medizinischen Konsultation muss es daher sein, „die komplette Agenda des Patienten aufzu‐ decken“ (Abschn. 5.2: 422). Dazu gehört auch, die Belastung durch die Krankheit kennenzulernen; das wird ermöglicht durch aktives Zuhören, durch Empathie 296 Elisabeth Gülich 14 Diese für den Uexküllʼschen Ansatz zentralen Gedanken nimmt Leiß wieder auf: Für ihn fängt die „ärztliche Tätigkeit mit dem Zuhören an“ (Leiß, im Druck, Kap. 6), und er betont die Rolle des Arztes „als Ermöglicher eines salutogenen Narrativs“ (Leiß, im Druck, Kap. 10). 15 Vgl. Kap. 15 in der 3. Auflage, Kap. 18 in der 4. Auflage, Kap. 29 in der 5. Auflage. 16 Der Begriff Narrativ wird auch im Sachregister aufgeführt, aber der einzige Eintrag dazu verweist auf die betreffende Seite im Glossar. Diesen Text über das Narrativ hat die AIM in das Glossar auf ihrer Homepage übernommen (http: / / uexkuell-akademie.d e/ glossar/ #post-643, Stand: 05.08.2020). und „alle Techniken, mit denen die Patienten unterstützt werden, ihre eigene Geschichte zu erzählen“ (ebd.). 14 Auch das Kapitel über die Visite wird in der 6. Auflage wieder aufgenommen, mit einer aufschlussreichen Veränderung im Titel: „Die Krankenvisite - Chance für ein weiterführendes ärztliches Gespräch“ (Kap. 29, Dirk Fehlenberg, Claudia Simons, Karl Köhle). In den vorherigen Auflagen stand es jeweils unter der Über‐ schrift „Die Krankenvisite - Probleme der traditionellen Stationsarztvisite und Veränderungen im Rahmen eines psychosomatischen Behandlungskonzepts“. 15 Dass hier ausdrücklich das Gespräch fokussiert wird, steht im Einklang mit der grundsätzlichen Wertschätzung der Kommunikation. Als typisches Beispiel für das Scheitern des Arzt-Patient-Gesprächs in der traditionellen Stationsarztvisite wird der oben skizzierte Versuch einer Patientin angeführt, eine Erzählung zu beginnen, die jedoch vom Arzt unterbrochen wird. Daran wird gezeigt, dass eine psychosomatische Behandlung nur durch eine Veränderung der Stationsarztvisite erreicht werden kann. Und dazu - das suggeriert zumindest der thematische Zusammenhang - gehört eben auch, dass Erzählaktivitäten der Patienten ermöglicht oder wenigstens zugelassen werden. Neu ist in dieser Auflage schließlich ein „Glossar der Grundbegriffe einer Medizin als Wissenschaft“ (Kap. 89, Thure von Uexküll und Jörg Michael Herrmann). Dieses Glossar enthält auch einen Eintrag „Das Narrativ“ (Uexküll VI: 1364). 16 Darin manifestiert sich zweifellos ein steigendes Interesse an diesem Thema und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Narrativ bzw. mit Er‐ zählen auch auf theoretischer Ebene. Der Terminus „Narrativ“ wird definiert als „Textschema, das in allen Kulturen für die Ordnung von Erfahrung und Wissen grundlegend ist“. In diesem Schema „wird ein Zusammenhang von Geschehen und Handlung in eine nach Relevanzgesichtspunkten geordnete und unter einer temporalen Anschauungsform stehende Geschichte überführt“ (ebd.). Es wird unterschieden zwischen narrativen und theoretischen Texten. Die Funktion solcher Geschichten komme dann zum Tragen, „wenn erklärungsbedürftige Tatbestände nicht durch eine Theorie (kausaler, funktionaler, statistischer oder rationaler Art) erklärt werden können“ (ebd.). Diese Begriffsbestimmung hebt 297 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ also abstrakte, schematische und theoretische Aspekte hervor. Sie erweckt fast den Eindruck, als sei das Erzählen von Geschichten sozusagen ein Mittel zweiter Wahl für den Fall, dass die Theorie keine Erklärung bietet. Demnach wäre eine theoretische Erklärung vorzuziehen; nur wenn es eine solche nicht gibt, sind „Geschichten […] unerlässlich“ (ebd.); dann also müsste man sie „zulassen“. Erstaunlicherweise wird hier kaum an kommunikative Aspekte angeknüpft, die im Buch selbst viel stärker im Zentrum stehen. Wenn es dort heißt, dass in die Diagnosestellung und/ oder in die Therapie die Lebensgeschichte des Patienten einbezogen werden muss, so wird die spezifische Leistung des Erzählens im konkreten Arzt-Patient-Gespräch offensichtlich anders gewichtet. Ab der 7. Auflage zeichnen sich dann sehr deutliche Veränderungen in Bezug auf das Erzählen ab: Dort wird zum ersten Mal ein eigenes Kapitel mit der Überschrift „Das Narrativ“ eingefügt, das einen Aspekt aus dem neu geschrie‐ benen Kapitel über das Arzt-Patient-Gespräch aufgreift und weiter ausführt, und zwar den „narrativen Erkenntnismodus“ aus Kapitel 28.1 „Erkenntniswege im Erstgespräch“ (Karl Köhle). Beides wird auch in der 8. Auflage wieder aufgenommen. 5 Patientenerzählungen zulassen oder: Der narrative Erkenntnismodus Die 7. Auflage von 2011 steht unter dem Titel Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis und präsentiert sich als „komplett überarbeitet“. Im Vorwort, wo das Buch ausdrücklich als „Lehrbuch“ bezeichnet wird (s. o. Anm. 7), gehen die Herausgeber noch einmal auf Thure von Uexkülls „Gesamtkonzept“ ein und weisen auf die Neubearbeitung hin: 75 der insgesamt 108 Kapitel seien neu verfasst worden. Vor allem für den Bereich Therapie wird in einer kurzen Übersicht über alle Bereiche herausgestellt, dass er „erheblich erweitert und durchgängig aktualisiert“ wurde. Wie in den meisten vorherigen Auflagen ist auch in der 7. Auflage das Kapitel über das „Arzt-Patient-Gespräch“ (Kap. 28) in den Teil „Diagnostik“ eingegliedert. In der 8. Auflage trägt es dann (hier als Kap. 27) den Titel „Arzt-Patient-Kommunikation“. Ihm folgt das neue Kapitel über das Narrativ: als Kapitel 29 (7. Aufl.) bzw. 28 (8. Aufl.). Im Folgenden beziehe ich mich auf die beiden Kapitel jeweils in der neueren Version, also der 8. Auflage. In der 8. Auflage (2016) gibt es zahlreiche weitere Neuerungen - so zu lesen auf dem hinteren Buchdeckel: Neue Themen wurden berücksichtigt, neue Medien einbezogen, und das Buch wurde „stärker auf ärztliches Han‐ deln, Arzt-Patienten-Kommunikation und therapeutische Ansätze, Unterstüt‐ zung von Krankheitsverarbeitung und Krankheitsverhalten (Adherence) ausge‐ 298 Elisabeth Gülich 17 In der 8. Auflage nimmt der Bereich „Klinik“ (Teil VIII) den größten Teil des Buchs ein: Er umfasst die Kapitel 55-101 (= S. 587-1166) über die einzelnen Erkrankungen. 18 Köhle übernimmt diese Unterscheidung von J. Bruner (vgl. Uexküll VIII: 290). Der Text von Kap. 27.1 ist mit Ergänzungen und den entsprechenden Literaturhinweisen auch im Internet zugänglich (www.netmediaviewer.de, Stand: 05.08.2020). Darauf folgt Kap. 27.2 „Techniken der patientenzentrierten Kommunikation“ (Langewitz); in Kap. 27.3 nimmt dann Karl Köhle das Thema „Sprechen mit unheilbar Kranken“ wieder auf (ebenfalls im Internet zugänglich). In der 7. Auflage ist als Kap. 28.2 „Anamnese und körperliche Untersuchung“ (Rolf H. Adler) eingeschoben, und als Kap. 28.4 wurde „Das Gespräch bei der Visite“ (Heidemarie Weber) hinzugefügt. richtet“. Das Vorwort betont die veränderte Sicht auf Theorie und Praxis durch die „Auffassung, dass Medizin keine angewandte theoretische Wissenschaft, sondern Handlungswissenschaft ist. Als Ärzte sind wir in unserem Handeln dem einzelnen Hilfe suchenden Kranken verpflichtet“ (Uexküll VIII: V). Damit wird auch das verstärkte Interesse an Kommunikation begründet: In einer als Handlungswissenschaft konzipierten, auf Verständigung und Kooperation ausgerichteten Medizin hat ärztliches Kommunikationsverhalten eine zentrale Funk‐ tion. Folgerichtig wurden die Beiträge zur Arzt-Patient-Kommunikation erweitert, semiotische und sprachwissenschaftliche Aspekte berücksichtigt. Beispiele und ma‐ nualisierte Anleitungen erleichtern die Umsetzung in die Praxis. (ebd.) Die praxisbezogene Ausrichtung wird noch zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass im Bereich „Klinik“ 17 die Darstellung der einzelnen Erkrankungen jeweils „dem Verlauf ärztlichen Handelns“ folgt. Dabei dient jedes Mal eine Kasuistik als Einführung, d. h. die einzelnen Kapitel beginnen mit einer „Patientenge‐ schichte“, einer zusammenfassenden narrativen Darstellung des Krankheitsver‐ laufs und der bisherigen Behandlung. Das Erzählen gewinnt schon vor dem oben genannten eigenen Kapitel besondere Bedeutung: Im Kapitel „Erkenntniswege im Erstgespräch“ (Kap. 27.1) unterscheidet der Autor Karl Köhle zwischen einem „paradigmatischen“ und einem „narrativen Erkenntnismodus“. 18 Schon zu Beginn der Einleitung betont er die weitreichende Bedeutung von Kommunikation als zentraler Aufgabe ärztlichen Handelns. Insbesondere bei der ersten Begegnung präge das Gespräch die Beziehung zum Patienten (Uexküll VIII: 289). Mit Bezug auf von Uexkülls Gesamtkonzept verweist Köhle darauf, dass „für die klinische Arbeit im Rahmen des biopsychosozialen Verständnismodells gerade auch Kenntnisse über die individuelle Wirklichkeit unserer Patienten, ihr Erleben der Alltagswelt und die subjektive Bedeutung der von ihnen berichteten belastenden Ereignisse“ benötigt werden (ebd.). Zugang zu diesen Erfahrungen erhält man ihm zufolge 299 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ auf zweierlei Weise: über den paradigmatischen und über den narrativen Erkenntnismodus. Der paradigmatische Modus erlaubt, mithilfe gezielter Fragen die Be‐ schwerden aufgrund bestimmter Merkmale medizinischen Kategorien zuzu‐ ordnen: Aus den Klagen des Patienten wird im Verlauf dieses Verfahrens „ein Fall von …“ (ebd.: 290). Das medizinische Wissen zu dieser Art von Fällen erlaubt dann deduktive Schlussfolgerungen: „Wenn ein Fall von …, dann gilt …“. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist bei diesem Vorgehen immer eine asymmetrische zwischen einem Experten und einem hilfesuchenden Laien. Die Daten werden aus ihrem Kontext isoliert, und der so gewonnene Krankheitsbe‐ richt entspricht nicht unbedingt dem tatsächlichen Anliegen des Patienten. Der narrative Erkenntnismodus nutzt die Fähigkeit des Menschen, Erfah‐ rungen und Erlebnisse in Form von Geschichten zu erzählen und als Zuhörer solche Geschichten zu verstehen. „‚Narrative‘ ermöglichen einem Erzähler, Handlungen und Geschehnisse aus seiner subjektiven Sicht regelgeleitet zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden und zu kommunizieren. Narrative prä‐ sentieren und repräsentieren die subjektive Wirklichkeit des Erzählers“ (ebd.). Der Arzt lässt sich vom Patienten durch Geschichten in dessen Welt einführen und gewinnt dadurch ein Verständnis von seinen Belastungen. So entsteht zwischen Arzt und Patient eine partnerschaftlich-dialogische Beziehung. Zwei Gesichtspunkte sind hier besonders interessant und in einem medizi‐ nischen Lehrbuch sicher ungewöhnlich: Zum einen wird der Arzt angeregt, sich nicht nur damit zu beschäftigen, was erzählt wird, sondern auch damit, wie es erzählt wird. Zum anderen wird in die Darstellung des „narrativen Erkenntnismodus“ das Zuhören und damit die interaktive Seite des Erzählens einbezogen, wenn es heißt: „Auch als Zuhörer wirken wir an der Gestaltung der Erzählung mit, unabhängig davon, ob uns der Patient zunächst unzusammen‐ hängend erscheinende Assoziationen oder schon ausformulierte Geschichten anbietet. Unser Anteil passt sich der Aktivität des Patienten an, ergänzt sie komplementär“ (ebd.). Die Mitgestaltung erfolgt nicht nur durch sprachliche Elemente wie beispielsweise offene Fragen, sondern auch mithilfe anderer kommunikativer Ressourcen, z. B. Blickkontakt, Kopfnicken oder lautlicher Hö‐ rersignale. Diese Beiträge werden als „Gegenleistungen“ des Arztes bezeichnet; es wird betont, dass sie „nicht als ‚geschickte Gesprächstechnik‘ missverstanden werden“ sollen (ebd.). Am Ende des Abschnitts über den „narrativen Erkenntnismodus“ wird eine Art Fazit formuliert, das drucktechnisch und farblich hervorgehoben ist: „Im Zu‐ hören und mit auf den ersten Blick unbedeutend erscheinenden Interjektionen erkennen wir vorausgegangene ‚Leistung‘ des Patienten an. Unsere ‚Antwort‘ 300 Elisabeth Gülich 19 Es wäre sehr reizvoll, sich im Einzelnen mit der Rolle des Erzählens in der „Reflektierten Kasuistik“ zu beschäftigen, zumal diese auch auf Tagungen oder bei Modellwerkstätten und in den Regionalgruppen der AIM häufig praktiziert und viel diskutiert wird. Aber das würde in diesem Rahmen zu weit führen. Einen Einblick in die Diskussion gibt Geigges 2013. Leiß (im Druck, Kap. 8) geht ausführlich auf die „Reflektierte Kasuistik als methodisches Werkzeug der Integrierten Medizin“ ein, auch auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Arbeit von Balintgruppen. 20 Diese interdisziplinäre Kooperation hat sich auch schon in früheren Veröffentlichungen niedergeschlagen, z. B. Koerfer/ Köhle/ Obliers 2000, Koerfer/ Köhle 2007, Koerfer et al. 2010. zeigt ihm, dass er etwas bewirkt. Damit fühlt er sich in seinem Selbsterleben unterstützt“ (ebd.). Dieses Fazit steht am Übergang zum Kapitel „Wege zur Integration in der Praxis“ (Kap. 27.1.3), in dem es darum geht, wie die beiden dargestellten Erkenntnismodi im klinischen Alltag miteinander verbunden werden können. Bemerkenswert ist gleich im ersten Abschnitt die Erwähnung des Internisten und Psychoanalytikers Felix Deutsch, der Wert darauf legte, die Ausführungen der Patienten auf der Grundlage von Tonaufzeichnungen und Transkriptionen zu interpretieren, um der „Tendenz zur Selbsttäuschung von Ärzten“ in Bezug auf Arzt-Patient-Gespräche entgegenzuwirken (ebd.: 291). Eine Möglichkeit, den narrativen Erkenntnismodus in der Praxis zu nutzen, ist, bei der Gesprächsführung einer „biografischen Orientierung“ zu folgen, d. h. im Anamnesegespräch Viktor von Weizsäckers viel zitierte Fragen Warum gerade jetzt, Warum gerade hier und Warum gerade so“ zu stellen (ebd.). Im Gesamtkontext der Psychosomatik von Uexkülls drängt sich diese Orientierung geradezu auf. Die immer wieder betonte Notwendigkeit, den lebensgeschicht‐ lichen Kontext der Erkrankung zu berücksichtigen, legt es nahe, nicht nur „zuzulassen“, dass Patienten erzählen, sondern ihnen dafür ganz bewusst Raum zu geben. Die „narratologische Orientierung“ (ebd.: 292), die der narrative Erkennt‐ nismodus mit sich bringt, hat auch maßgeblich zur Entwicklung einer Form von Fallarbeit beigetragen, die Bestandteil des Uexküllʼschen Konzepts der „integrierten Medizin“ ist: die „reflektierte Kasuistik“, die das Vorgehen im gesamten Verlauf der Fallarbeit bestimmt (ebd.) und in der auch narrative Elemente eine Rolle spielen. 19 Darüber hinaus legt sie nahe, auch narratologische Forschungen aus anderen Disziplinen heranzuziehen und dabei insbesondere sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse zu berücksichtigen. Diese An‐ sätze und das Plädoyer für eine stärkere und systematischere Berücksichtigung des Erzählens finden ihren Ausdruck vor allem in dem Kapitel über das Narrativ, das Karl Köhle zusammen mit einem Linguisten, Armin Koerfer, verfasst hat. 20 301 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ 6 Ein eigenes Kapitel zum „Narrativ“ „Nur Anekdoten und Geschichten“ ergäben sich aus einer biografischen Ana‐ mnese - mit diesem Ausspruch eines ärztlichen Kollegen leitet Karl Köhle das Kapitel „Das Narrativ“ ein. Die Bemerkung habe ihn „irritiert“, darum habe er für den nächsten aufzunehmenden Patienten eine gemeinsame Untersuchung vorgeschlagen. Der betreffende Fall wird in Form einer „Patientengeschichte“ (s. o.) kurz zusammengefasst: Der 60-jährige Pat. war nachts nach einem akuten Herzinfarkt aufgenommen und versorgt worden. Auf meine vorsichtige Frage nach seiner Lebenssituation blickte er mich zugleich erstaunt und traurig an: Am Vortag habe er sich aus der „Handwerks‐ rolle“ streichen lassen. Mit seiner vom Vater übernommenen Korbflechterei habe er sich trotz maximaler Anstrengung nicht mehr gegen Billigimporte behaupten können. Der Wahlspruch des Vaters, „Handwerk hat goldenen Boden“, habe so für ihn leider seine Gültigkeit verloren. Wir spürten tiefe Niedergeschlagenheit und Resignation. In nur 3 Minuten vermittelte uns der Pat., in welch krisenhafter Lebenssituation er krank geworden war […] (Uexküll VIII: 325) Es waren also keineswegs nur belanglose „Anekdoten und Geschichten“, die der Arzt aus dieser Form der Anamnese gewann. Den Patienten seine aktuelle Lebenssituation erzählen zu lassen, erwies sich vielmehr als eine wichtige Vor‐ aussetzung für seine Behandlung. Das überzeugte offenbar auch den zunächst skeptischen Kollegen. „Uns schien evident zu sein, dass der vom Patienten angebotene Einblick in seine individuelle Wirklichkeit für die weitere Planung seiner Therapie und Rehabilitation relevant war. In der klinischen Arbeit erhalten wir solche ‚data‘ […] in Fülle, wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen“ (ebd.). Allerdings sind die „Patientengeschichten“ wie oben schon erwähnt keine Er‐ zählungen der Patienten selbst, sondern ärztliche Zusammenfassungen dessen, was die Patienten im Gespräch mit dem Arzt erzählen. Dementsprechend wird über die Patienten in der dritten Person berichtet, wobei häufig Äußerungen von ihnen in direkter oder indirekter Rede wiedergegeben werden. Im Kapitel über das Narrativ dienen neben dem oben zitierten Einleitungs‐ beispiel sechs weitere Patientengeschichten dazu, verschiedene Aspekte der „Komposition“ von Erzählungen (Kap. 28.3) und Funktionen des Erzählens (Kap. 28.4) zu illustrieren. Darüber hinaus werden im Text kurze Ausschnitte aus den Gesprächen selbst wörtlich zitiert, von denen einige auch als Audioauf‐ 302 Elisabeth Gülich 21 Zu dem Kapitel werden im Internet (www.netmediaviewer.de, Stand: 05.08.2020) mul‐ timediale Ergänzungen zur Verfügung gestellt, auf die jeweils im Verlauf des Textes hingewiesen wird. Dazu gehören Transkripte, einzelne Patientenäußerungen aus Au‐ dioaufnahmen und Filmausschnitte, u. a. aus einem Interview, das Maximiliane Mainka mit Thure von Uexküll geführt hat („Freiburger Interview“). 22 Das Konzept ‚Transformation‘ wird hier von Ricœur übernommen (Uexküll VIII: 327). Die Transformation in der Patientengeschichte wird auch in einer schematischen Darstellung (ebd.: Abb. 28.2) verdeutlicht. nahmen zugänglich sind. 21 Schließlich werden zu einzelnen Fällen auch längere Ausschnitte aus Gesprächstranskripten wiedergegeben. Diese verschiedenen Typen von Daten lassen eine hohe Wertschätzung der Arzt-Patient-Gespräche und insbesondere der Krankheitserzählungen der Patienten erkennen. Wie die verschiedenen Datentypen miteinander verbunden werden, zeigt bereits das erste Beispiel im Abschnitt 28.3.1 „Transformation: von der Chronik zum Narrativ“ (ebd.: 326). Hier wird zunächst ein Gesprächsanfang zitiert: A: So, Frau K., jetzt schildern Sie mir Ihre Symptome … äh … Ihre Be‐ schwerden. P: Schwindel, dermaßen schlimmer Schwindel, dass ich kaum noch gehen kann. Danach folgt die „Patientengeschichte“: „Bis es nicht mehr ging“ Frau K. klagt über „Schwindel“, der sie seit 1 ½ Wochen massiv behindere. Seit 22 Jahren hilft sie, ihr von Trisomie beeinträchtigtes Enkelkind zu versorgen, seit 4 Jahren pflegt sie nach einem Schlaganfall ihren an Herzrhythmusstörungen leidenden Ehemann. Nun sorgt sie sich auch noch um ihre Tochter, bei der vor 6 Monaten „Multiple Sklerose“ diagnostiziert wurde. (ebd.) Wie die Patientin selbst dem Arzt ihre Krankheitsgeschichte erzählt, kann man anhand des Gesamttranskripts nachvollziehen, das im Internet zugänglich ist. Ihre Erzählung ist dadurch charakterisiert, dass sie eine Reihe von Vorfällen (Erkrankungen von Familienangehörigen) mit ihrer eigenen Krankengeschichte verknüpft und sie dadurch neu ordnet: Sie „transformiert […] die chronologische Sukzession dieser Vorfälle (Chronik) in einen ‚Plot‘“ und macht durch diese „neue Konfiguration […] das Ausmaß ihrer krankheitsbedingten Behinderung“ deutlich (ebd.: 327). 22 Die psychische Belastung durch die Schwindelerkrankung wird in der Darstellung durch wörtliche Zitate aus dem Gespräch zur Geltung gebracht, die im Ergänzungsmaterial im Internet auch als Tonaufnahme zu hören sind, z.B.: Also, ist sehr schlimm, Herr Doktor. Ich geh ungeheuerlich gegen 303 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ 23 Der Titel von Kap. 28.3.2 lautet „Dramaturgie: vom Referieren zum Evaluieren“. 24 Köhle und Koerfer stellen schematisch eine Weiterentwicklung dieser Normalform dar, in der die „Evaluation“ an der Spitze steht (Uexküll VIII: 328, Abb. 28.3); dabei beziehen sie sich auch auf Labov (1972), der die Evaluation nicht als ein Element in der Abfolge der Erzählung auffasst, sondern als eine die ganze Erzählung durchziehende sekundäre Struktur. Eine kritische Würdigung des Modells von Labov und Waletzky findet sich in Bamberg 1997; aus der Sicht der Gesprächsforschung wird vor allem das Fehlen der Interaktion kritisiert (vgl. dazu Gülich/ Mondada 2008, Kap. 9). Auch Köhle und Koerfer weisen darauf hin, dass das Modell von Labov und Waletzky die Hörerperspektive vernachlässigt, die sie gerade für die Medizin als besonders wichtig herausstellen (Uexküll VIII: 330). mich an. Das ist so schlimm, ich kann die Kinder von meiner Tochter nicht mehr nehmen. Und dat heißt schon wat (ebd.). Die Einbindung des Originaltons unter‐ streicht zusätzlich, dass es beim Erzählen der Krankheitsgeschichte nicht nur um die geschilderten Beschwerden geht, die entsprechend dem „paradigmatischen Erkenntnismodus“ als bestimmte Symptome klassifiziert werden können, son‐ dern dass für den „narrativen Erkenntnismodus“ auch die Art ihrer Darstellung relevant ist. So bekommt die „Komposition“ (so der Titel von Kap. 28.3) auch eine interaktive Dimension: „Die Umorganisation der Ereignisfolge zum Narrativ dient gleichzeitig dem Selbstverständnis der Sprecherin und der Einbeziehung des Hörers“ (ebd.). Zur „Komposition“ gehört neben der „Transformation“ auch eine „Drama‐ turgie“ (Kap. 28.3.2), die mit „Referieren“ und „Evaluieren“ 23 die „beiden Haupt‐ funktionen des Erzählens“ umfasst. Köhle und Koerfer orientieren sich hier an einer „Normalform“ mündlicher Erzählungen, die von den Linguisten Labov und Waletzky (1967) auf der Grundlage eines Corpus von Erzählungen in Interviews erarbeitet wurde und in der Erzählforschung viel Beachtung gefunden hat. Danach lässt sich die Globalstruktur einer mündlichen Erzählung als eine Ab‐ folge von sechs Elementen beschreiben: Abstract, Orientierung, Komplikation, Evaluation, Resolution, Coda. 24 Mithilfe dieser Elemente analysieren Köhle und Koerfer die Erzählung der Patientin von ihrer Schwindelerkrankung. Dabei wird insbesondere der Unterschied zwischen Referieren und Evaluieren deutlich: Die Patientin referiert „die ‚berichtenswertesten‘, für den Verlauf relevanten Ereignisse“; erzählt werden dagegen z.T. „unerhörte“ Ereignisse aus der Kran‐ kengeschichte ihrer Tochter - das entspricht der „Komplikation“ (Uexküll VIII: 327). Sie bewertet die Ereignisse als sehr schlimm (s. o.) oder mit es war furchtbar; sie zitiert den Neurologen, der über ihre Tochter sagt: es ist ein ganz, ganz schlimmer MS-Fall (ebd.: 328). Wichtig für ihre eigene Krankheit ist vor allem ihre Einstellung dazu, die durch die Reformulierung besonders hervorgehoben wird: Und da werde ich nicht mit fertig. Da werde ich nicht mit fertig. 304 Elisabeth Gülich Diese Evaluation kontrastiert die Patientin nun mit Selbstbewertungen hin‐ sichtlich ihrer früheren Fähigkeit zur Bewältigung schwieriger Situationen: Sie sei sonst sehr stabil gewesen, habe alles immer im Griff gehabt, ihre Tochter habe immer gesagt: ich hab die Kraft von der Mutti bekommen (ebd.; vgl. Kap. 28.3.3 „Verlaufsformen“). Indem sie von ihren früheren Leistungen erzählt, vergewissert sie sich ihrer Kompetenzen. „Bereits die Prozedur der Narrativ‐ komposition trägt zur Wiederherstellung von Kohärenzerleben bei“ (ebd.: 329). Die Stabilisierung des Selbstgefühls (Kap. 28.4.1) ist eine zentrale Funktion des Erzählens, die auch für die Beziehung zwischen Arzt und Patient wichtig ist. „Wer erzählt, möchte einen anderen ‚erreichen‘, sich verstanden fühlen. Der Erzähler möchte den Hörer in seine Geschichte einbeziehen […]“ (ebd.: 330). Die Beispielanalyse zeigt, dass der Arzt der Patientin zuhört und ihr Leiden und ihre Probleme anerkennt. Die Patientin verfügt über eine ausgeprägte narrative Kompetenz, sie ist in der Lage, dem Arzt ihre Situation ‚vor Augen zu führen‘, sodass er „das Erlebte mitfühlen und nachvollziehen kann“ (ebd.). Die kommunikativen Verfahren, die sie dazu einsetzt, werden von Köhle und Koerfer sehr genau und differenziert beschrieben (sprachliche Mittel wie direkte Rede ebenso wie stimmliche und körperliche Ressourcen, z. B. Blickrichtung und Körperhaltung). Dadurch wird die zweite wichtige Funktion des Erzählens „Vergangenes vergegenwärtigen“ (Kap. 28.4.2) deutlich herausgearbeitet. Weiterhin wird betont, dass diese Funktionen interaktiv realisiert werden, der zuhörende Arzt spielt also bei der narrativen Rekonstruktion der Krankheitsge‐ schichte auch eine wichtige Rolle. Diese Auffassung ist in der traditionellen Medizin alles andere als selbstverständlich: „In der Medizin wird die Fähigkeit des Arztes zuzuhören, seine Rolle als Co-Konstrukteur im Erkenntnisprozess […] noch kaum reflektiert“ (ebd.: 331). Ein Kernpunkt der Konzeption des Narrativs liegt also nicht zuletzt auch darin, das „Erzählen als Co-Konstruktion“ zu verstehen (Kap. 28.5). Damit wird es in einen direkten Zusammenhang mit einer zentralen Aufgabe der Psychosomatischen Medizin gebracht: dem Herstellen einer gemeinsamen Wirklichkeit. Thure von Uexküll hat diesen Gedanken immer wieder zum Ausdruck gebracht. Er geht auch in dem „Frei‐ burger Interview“ (s. o. Anm. 21) ausführlich darauf ein, dass Arzt und Patient in verschiedenen Wirklichkeiten leben. Der Arzt wisse nicht, wie die Wirklichkeit des Patienten aussieht, ebenso wie der Patient die Wirklichkeit des Arztes nicht kenne. Damit überhaupt eine diagnostische und therapeutische Beziehung entstehen könne, müssten Arzt und Patient sich auf eine zumindest in Teilen gemeinsame Wirklichkeit einigen. Der Fall der Patientin mit den Schwindelattacken - dessen Darstellung etwa die Hälfte des Narrativ-Kapitels einnimmt - zeigt, dass Erzählen im Sinne einer 305 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ 25 Die Funktion der Narrative als komplexe semiotische Systeme besteht darin, „Erfah‐ rungen und Erlebnisse für sich oder in Kommunikation mit anderen (wieder) zu einem kohärenten funktionalen Ganzen zu verbinden“ (ebd.: 335). Co-Konstruktion entscheidend zur Entstehung einer solchen gemeinsamen Wirklichkeit beiträgt. Darüber hinaus kann es offenbar auch selbst heilende Wirkung entfalten: Eine Anmerkung zu diesem Fall weist darauf hin, dass die Patientin im Rahmen einer katamnestischen Befragung sieben Jahre später berichtete, sie habe nach diesem Gespräch nie wieder an Schwindel gelitten (ebd.). Insgesamt ist auffällig, wie viel im Kapitel über „Das Narrativ“ mit kon‐ kreten Fällen gearbeitet wird: Die behandelten Themen werden systematisch durch Fallpräsentationen eingeleitet und bestimmte Aspekte an Transkriptaus‐ schnitten verdeutlicht. Die sieben geschilderten Fälle belegen vor allem, dass bzw. in welchem Maße es für die Diagnose und Behandlung wichtig ist, die Patienten erzählen zu lassen oder sie sogar dazu anzuregen. Das wird neben mehreren „positiven“ Fällen auch anhand eines Negativbeispiels verdeutlicht, in dem der Arzt der Patientin keine Möglichkeit zum Erzählen gibt, sondern durch eine Serie von „Trichterfragen“ den Fokus schnell auf körperliche Symptome verengt. „Mit dieser ‚Technik‘ gelingt der Zugang zur individuellen Wirklichkeit von Patienten meist nicht“ (ebd.: 332). So wird die Chance vertan, mithilfe des narrativen Erkenntnismodus zu einer Diagnose zu kommen. Die Rolle des Narrativs für die Diagnosestellung wird noch einmal einge‐ hend im letzten Teil des Kapitels behandelt, in dem ein zentraler Aspekt der Uexküllʼschen Psychosomatik zum Tragen kommt: „Semiotische Arbeit in ärztlicher Diagnostik“ (Kap. 28.6). In diesem Rahmen werden Narrative als „komplexe semiotische Systeme“ aufgefasst und ihre diagnostische Rele‐ vanz wird ausdrücklich festgestellt: „Wenn wir in einer ‚integrierten Medizin‘ ‚Krankheit‘ auch im Zusammenhang mit Passungsstörungen zwischen dem Patienten und seiner Umwelt konzipieren, können Patientenerzählungen ent‐ scheidend zu einer ‚umfassenden‘ Diagnostik beitragen“ (ebd.: 335). Das hängt wesentlich mit der dadurch erreichten Stabilisierung des Selbstgefühls und der Wiederherstellung von Kohärenzerleben 25 zusammen, die zuvor am Beispiel der Patientin Frau K. gezeigt wurde. Bei dieser „semiotischen Arbeit“ benötigen die Patienten Unterstützung durch den Arzt, um „Fragmente zu einem Ganzen [zu] verbinden“ (Kap. 28.6.1) und so „ihr fragmentiertes oder negativ bewertetes (Lebens-)Narrativ zu ‚heilen‘“ (ebd.). Das gelingt oft nur, wenn auch der Arzt „konzeptgeleitet Verbindungsarbeit“ leistet (ebd.: 335 f.). Diese kann beispiels‐ weise darin bestehen, dass er hilft, Erlebnisse oder Erfahrungen des Patienten 306 Elisabeth Gülich 26 Der Titel von Kap. 28.6.2 lautet: „Unsagbares in seinem Fortwirken verstehen“. 27 Vgl. dazu auch in Kap. 37 „Systemische Therapie und Familiendynamik“ den Ab‐ schnitt 37.5.2 „Krankengeschichte als Lebenserzählung (Narrativ)“. zu versprachlichen, die diesem selbst „unsagbar“ erscheinen, 26 und somit bei dessen Lebensnarrativ „die Rolle eines Co-Konstrukteurs“ übernimmt (ebd.: 338). 27 Wie das im Einzelnen vor sich geht, zeigen Köhle und Koerfer an einem Transkriptausschnitt, der anders als die „Patientengeschichte“ erlaubt, Zusam‐ menhänge zwischen Kindheitserlebnissen und Krankheitsentwicklung detail‐ liert zu rekonstruieren. Diese interaktive Konstruktion einer „gemeinsamen Wirklichkeit“ kann auch „‚Vergessenes‘ wieder auffinden helfen“ (Kap. 28.6.3), wie an einer letzten, ungewöhnlich langen Patientengeschichte („Versteinert“, ebd.: 339) gezeigt wird. Das Narrativkapitel endet mit einer Anmerkung zur Bedeutung des Erzählens für den psychotherapeutischen Diskurs (ebd.: Fußn. 9), die eine Brücke zur interdisziplinären Erzählforschung schlägt. Die deutlich gestiegene Bedeutung des Themas Erzählen im Uexküll-Lehr‐ buch schlägt sich in der 8. Auflage schließlich auch sehr anschaulich im Sachregister nieder: Während es in den früheren Auflagen (mit Ausnahme der 6.) weder zu Narrativ noch zu Erzählen oder Erzählung Einträge gab, sind hier nicht nur Einträge für beide Begriffe zu finden, sondern zusätzlich für weitere verwandte Begriffe (u. a. Narrativer Diskurs, Narratologie). Außerdem werden zahlreiche Unterbegriffe aufgeführt, allein für Narrativ sind es über 40. Diese Auflistung lässt eine ebenso umfassende wie differenzierte Beschäftigung mit dem Thema erkennen. Allerdings beziehen sich fast alle Verweise auf das Narrativ-Kapitel; in den übrigen Kapiteln scheint das Erzählen also keine besondere Rolle zu spielen. 7 Erzählen als Dreh- und Angelpunkt einer sprechenden Medizin „Die Tatsache, daß Menschen Geschichten erzählen, wurde für Thure von Uexküll zum Dreh- und Angelpunkt einer sprechenden Medizin“ (Otte 2001: 186). Diese Entwicklung lässt sich auch an den verschiedenen Auflagen seines Lehrbuchs nachvollziehen: Von der Rolle der Lebensgeschichte für den Aufbau der individuellen Wirklichkeit des Patienten, die im ersten Kapitel der 1. Auflage thematisiert wird (s. o.), bis zum Kapitel über das Narrativ in der 8. Auflage kommt das Interesse am Erzählen immer deutlicher zum Ausdruck. In einem seiner Gespräche mit Rainer Otte hat Thure von Uexküll die lebenswichtige Bedeutung so zusammengefasst: „Wenn wir unsere Wirklichkeit erzählen, 307 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ 28 Dass mit denselben Begriffen nicht unbedingt dasselbe gemeint ist, habe ich an Beispielen aus eigenen interdisziplinären Forschungsprojekten gezeigt (Gülich 2006). 29 Das wird besonders deutlich bei Leiß (im Druck), der ausdrücklich die „Aktualität Thure von Uexkülls“ zum Thema macht. Ich danke Ottmar Leiß für die Möglichkeit, Einsicht in das noch unveröffentlichte Buch zu nehmen. erfinden wir sie jedes Mal neu. Eine Erzählung ist das Schicksal eines Menschen. Sie konstruiert ein Selbst“ (Otte 2001: 176). Nun, da ich am Ende meiner „Spurensuche“ angekommen bin, müsste ich eigentlich noch einmal von vorn anfangen, die früheren Auflagen erneut zur Hand nehmen und sie im Licht des inzwischen Gelesenen und Gelernten erneut durchsehen. Nach dem Überblick, den ich mir - und hoffentlich auch der Leserin und dem Leser - verschafft habe, könnte ich nun instruierter und gezielter versuchen zu verstehen, was aus medizinischer Sicht mit Begriffen wie Gespräch, Gesprächsstruktur, Erzählung, Geschichte, Narrativ usw. im Einzelnen gemeint ist. Die Begriffe decken sich oft nicht mit denen in der linguistischen Gesprächsforschung, sie können sich aber vielleicht ergänzen. 28 Zudem wäre es nicht nur interessant, sondern auch notwendig, weitere Kapitel des Lehrbuchs - auch rein medizinische - durchzugehen und noch genauer zu prüfen, an welchen Stellen welche Aspekte von Kommunikation und/ oder von Erzählen mehr oder weniger ausdrücklich thematisiert werden. Allerdings wäre dies nicht im Alleingang zu machen - und das nicht nur wegen des immensen Seitenumfangs, sondern weil es auch medizinisches Wissen und klinische Einblicke erfordern würde. Dieser potenzielle nächste Schritt wäre also ein Forschungsprogramm - und zwar ein interdisziplinäres. Das Interesse an Arzt-Patient-Kommunikation und am Erzählen in diesem Kontext, das meine Spurensuche geleitet hat, habe ich in gewisser Weise von außen an das Lehrwerk der Psychosomatischen Medizin herangetragen. Es war zum einen motiviert durch die linguistische Gesprächsanalyse und Erzählfor‐ schung und durch entsprechende eigene interdisziplinäre Forschungsarbeiten zu Kommunikation im medizinischen und speziell im psychosomatischen Be‐ reich, die ursprünglich im Kontext der Psychosomatischen Epileptologie situiert waren. Zum anderen war mein Interesse motiviert durch den Wunsch, mehr über die Grundlagen und Hintergründe der „narrativen Medizin“ zu erfahren. Da erschien es passend, mit dem Lehrwerk Thure von Uexkülls zu beginnen, das die Psychosomatische Medizin bis heute entscheidend prägt. 29 Anhand der verschiedenen Auflagen des Lehrwerks die Entwicklung zu verfolgen, eröffnete einen vielversprechenden Zugang zu diesem neuen, wenngleich für mich seit einigen Jahren nicht mehr ganz unbekannten Feld. Der Prozess der allmählichen Entwicklung mit Konstanten und Veränderungen, etabliertem Wissen und 308 Elisabeth Gülich 30 Hier wäre vor allem der von der DFG eingerichtete Sonderforschungsbereich 129 „Psy‐ chotherapeutische Prozesse“ zu erwähnen; für eine zusammenfassende Information siehe Kächele/ Novak/ Traue 1989. 31 Vgl. dazu z. B. Lucius-Hoene 2008, Greenhalgh/ Hurwitz 2005 und ansatzweise Gülich 2017. 32 Einen gewissen Überblick bietet das Handbuch Busch/ Spranz-Fogasy 2015. 33 Für Beispiele solcher interdisziplinären Kooperationen im Bereich psychosomatischer Fortbildung siehe Neises/ Ditz/ Spranz-Fogasy 2005 (darin zum Thema Krankheitserzäh‐ lungen: Gülich 2005), Jenkins/ Reuber 2014, Ekberg/ Reuber 2015. Neuerungen verschiedenster Art hat seine eigene Dynamik, ist lehrreich und regt zum Nachdenken an - sowohl über die eigenen Methoden, Ziele und Perspektiven als auch über die der anderen Disziplin. Natürlich wird der vorliegende Beitrag den acht Auflagen des Lehrbuchs nicht gerecht, er betrachtet sie eher oberflächlich. Man müsste tiefer eintauchen in die Konzeption der ‚Integrierten Medizin‘, die sich aus der ‚Psychosomati‐ schen Medizin‘ entwickelt hat (s. Uexküll 2000/ 2013), um wirklich zu verstehen, worum es in den Bereichen Kommunikation und Erzählung genau geht. Und dazu müsste man die medizinischen Probleme und die Konventionen besser kennen, um auch eine medizinische Perspektive zur Geltung zu bringen. Ich habe mich hier bewusst auf von Uexkülls Lehrbuch konzentriert und nicht versucht, weitere Veröffentlichungen von ihm und über ihn systematisch einzu‐ beziehen, weil mich gerade die Verbindung von Theorie und Praxis faszinierte. Ich habe auch nicht versucht, die Einbettung in größere Forschungszusam‐ menhänge zu skizzieren 30 oder gar Verbindungen zu anderen Ansätzen der „narrativen Medizin“ herzustellen 31 - das wäre eine neue Forschungsarbeit. In der Gesprächsforschung haben sich in den letzten Jahrzehnten For‐ schungsbereiche und -netzwerke wie „Linguistik und Medizin“ oder „Medizin und Interaktion“ entwickelt. Arzt-Patient-Gespräche sind ein viel und intensiv bearbeitetes Forschungsgebiet, ebenso Krankheitserzählungen. Gesprächsfor‐ scher und -forscherinnen arbeiten oft mit großem Engagement an vielen interessanten Einzelprojekten über die verschiedensten Krankheiten und die verschiedensten Themen, in der Regel anhand empirisch erhobener Daten aus natürlichen Situationen. 32 Damit verbindet sich oft der - manchmal auch von medizinischer Seite geäußerte - Wunsch, durch stärkere Einbeziehung der linguistischen Kommunikationsbzw. Gesprächsforschung die medizinische Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten zu verbessern oder zumin‐ dest Anregungen dafür zu geben. 33 Die sind oft auch willkommen; so entstehen immer häufiger interdisziplinäre Kooperationen. Dabei wird jedoch von linguistischer Seite manchmal nicht ausreichend zur Kenntnis genommen, was aus medizinischer Sicht und im medizinischen 309 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ 34 Zitat aus einem Diskussionsbeitrag Thure von Uexkülls auf einem Lehrkörpertreffen der AIM am 19./ 20.05.2000, abgedruckt in Hontschik/ Bertram/ Geigges 2013. Die Her‐ ausgeber fügen als Anmerkung hinzu: „Diese zeitliche Dimension wird von der Medizin als ‚Narrativität‘ wieder entdeckt.“ Bereich über Arzt-Patient-Gespräche oder das Erzählen von Krankheiten bereits geforscht, geschrieben und gelehrt wird, an welchen Theorien man sich dabei orientiert, welche Aspekte im Zentrum stehen, welche Akzente gesetzt, welche Ziele verfolgt werden. Interdisziplinäre Erzählforschung kann nicht nur darin bestehen, dass die Linguistik oder die Gesprächsanalyse Anregungen für die me‐ dizinische oder klinische Praxis gibt, sondern die medizinische Forschung und Praxis sollte auch den Ausgangspunkt für linguistische Forschungsinteressen bilden. Insofern kann meine Spurensuche in der Psychosomatischen Medizin Thure von Uexkülls auch verstanden werden als ein Plädoyer für die medizinische Weiterbildung von Linguisten. Schon allein durch die oberflächliche und natür‐ lich auch von meiner linguistischen Perspektive geprägte Durchsicht der acht Auflagen habe ich von Thure von Uexküll viel gelernt. Beeindruckt hat mich nicht zuletzt seine Offenheit für andere Disziplinen: Er theoretisiert nicht über interdisziplinäre Forschung, er praktiziert sie mit großer Selbstverständlichkeit und mit großem Engagement für seine Patienten. Dabei verliert er nie aus den Augen, dass er nicht Krankheiten behandelt, sondern kranke Menschen. Und das hat eindeutig etwas mit deren „Geschichten“ zu tun: Lebende Systeme oder Ganzheiten aus Organismus und Umwelt sind keine statischen Gebilde. Sie entstehen, wachsen und vergehen als Geschichten. Für die Medizin sind Krankengeschichten Geschichten einer Krankheit. Sie sollten auch Geschichten eines Kranken sein, die der Phantasie einen Raum in der Zeit eröffnen, in dem Arzt und Patient in die Vergangenheit gehen, und, was entscheidend ist, bei allem, was sich in dieser Geschichte ereignet, ‚gemeinsam dabei sein‘ können. (von Uexküll 2000/ 2012: 70) 34 Literatur Die Auflagen der Psychosomatischen Medizin Vorbemerkung: Die folgenden Angaben zu den einzelnen Auflagen (Titel, Herausgeber) entsprechen den auf dem jeweiligen Titelblatt angeführten; diese sind nicht immer identisch mit denen auf dem Buchdeckel. Der Name Thure von Uexküll oder Uexküll wird in verschiedenen Rollen genannt: als Herausgeber, Autor und bei den späteren Auflagen auch als Bestandteil des Titels. 310 Elisabeth Gülich Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin. Herausgegeben von Thure von Uexküll, unter Mitarbeit von Rolf Adler, Jörg Michael Herrmann, Karl Köhle, Othmar W. Schonecke, Wolfgang Wesiack. [1. Auflage] 1979. München/ Wien/ Baltimore: Urban & Schwarzenberg. Lehrbuch der psychosomatischen Medizin. Herausgegeben von Thure von Uexküll. Mit‐ herausgeber: Rolf Adler, Jörg Michael Herrmann, Karl Köhle, Othmar W. Schonecke, Wolfgang Wesiack. 2., durchgesehene Auflage 1981. München/ Wien/ Baltimore: Urban & Schwarzenberg. Thure von Uexküll - Psychosomatische Medizin. Herausgegeben von Rolf Adler, Jörg Michael Herrmann, Karl Köhle, Othmar W. Schonecke, Thure von Uexküll, Wolfgang Wesiack. 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage 1986. München/ Wien/ Balti‐ more: Urban & Schwarzenberg. Thure von Uexküll - Psychosomatische Medizin. Herausgegeben von Rolf Adler, Jörg Michael Herrmann, Karl Köhle, Othmar W. Schonecke, Thure von Uexküll, Wolfgang Wesiack. 4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 1990. München/ Wien/ Balti‐ more: Urban & Schwarzenberg. Thure von Uexküll - Psychosomatische Medizin. Herausgegeben von Rolf H. Adler, Jörg M. Herrmann, Karl Köhle, Othmar W. Schonecke†, Thure von Uexküll, Wolfgang Wesiack. 5., neubearbeitete und erweiterte Auflage 1996. München/ Wien/ Balti‐ more: Urban & Schwarzenberg. Uexküll - Psychosomatische Medizin. Modelle ärztlichen Denkens und Handelns. Her‐ ausgegeben von Rolf H. Adler, Jörg M. Herrmann, Karl Köhle, Wolf Langewitz, Othmar W. Schonecke†, Thure von Uexküll, Wolfgang Wesiack. 6., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2003. München/ Jena: Urban & Fischer. Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. Rolf H. Adler, Wolfgang Herzog, Peter Joraschky, Karl Köhle, Wolf Langewitz, Wolfgang Söllner, Wolfgang Wesiack (Hrsg.). 7., komplett überarbeitete Auflage 2011. München: Elsevier, Urban & Fischer. [Auf dem Buchdeckel: Uexküll Psychosomatische Medizin] Uexküll - Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. Karl Köhle, Wolfgang Herzog, Peter Joraschky, Johannes Kruse, Wolf Langewitz, Wolfgang Söllner (Hrsg.). Mitherausgeber der Vorauflagen: Rolf H. Adler, Jörg Michael Herr‐ mann, Othmar Schonecke, Thure von Uexküll, Wolfgang Wesiack. 8. Auflage 2016. München: Elsevier. Zitierte Literatur Bamberg, Michael (Hrsg.) (1997). Oral Versions of Personal Experience: Three Decades of Narrative Analysis. The Journal of Narrative and Life History 7: 1-4 (Sonderheft). Busch, Albert/ Spranz-Fogasy, Thomas (2015). Handbuch Sprache der Medizin. Berlin/ Boston: de Gruyter. 311 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ Ekberg, Katie/ Reuber, Markus (2015). Can Conversation Analytic Findings Help with Differential Diagnoses in Routine Seizure Clinic Interactions? Communication & Medicine 12: 1, 13-24. Frank-Job, Barbara/ Gülich, Elisabeth/ Knerich, Heike/ Schöndienst, Martin (2017). Klini‐ sche Differenzialdiagnostik und linguistische Analyse von Gesprächen: Neue Wege in Datenerhebung, Analyse und Auswertung im interdisziplinären Forschungskon‐ text. In: Kochler, Carsten/ Rinker, Tanja/ Schulz, Eberhard (Hrsg.). Neurolinguistik, Klinische Linguistik, Sprachpathologie. Frankfurt/ M. u.a.: Peter Lang, 185-217. Geigges, Werner (2013). Reflektierte Kasuistik als Instrument der Forschung und Lehre einer Integrierten Medizin. In: Hontschik, Bernd/ Bertram, Wulf/ Geigges, Werner (Hrsg.), 347-362. Goldbach, Günter (2006). Der ganze Mensch im Blickfeld: Aus der Geschichte der psycho‐ somatischen Medizin in Deutschland. Baden-Baden: Deutscher Wissenschaftsverlag. Greenhalgh, Trisha/ Hurwitz, Brian (Hrsg.) (2005). Narrative-based Medicine - spre‐ chende Medizin: Dialog und Diskurs im klinischen Alltag. Bern: Hans Huber. Gülich, Elisabeth (2020). Wie Angst zur Sprache kommt: Ein linguistischer Beitrag zur Diagnostik von Angsterkrankungen. In: Job, Barbara/ Michael, Joachim (Hrsg.). Angstsprachen. Interdisziplinäre Zugänge zur kommunikativen Auseinandersetzung mit Angst. Wiesbaden: Springer, 49-82. Gülich, Elisabeth (2018). Using Illness Narratives in Clinical Diagnosis. Narrative Reconstruction of Epileptic and Non-Epileptic Seizures and Panic Attacks. In: Lu‐ cius-Hoene, Gabriele/ Meyer, Thorsten/ Holmberg, Christine (Hrsg.). Illness Narratives in Practice: Potentials and Challenges of Using Narratives in Health-Related Contexts. Oxford: Oxford University Press, 203-219. Gülich, Elisabeth (2017). Medizin. Zur narrativen Rekonstruktion von Krankheitser‐ fahrungen in Arzt-Patient-Gesprächen. In: Martínez, Matías (Hrsg.). Erzählen: Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, 140-148. Gülich, Elisabeth (2012). Conversation Analysis as a New Approach to the Differential Diagnosis of Epileptic and Non-Epileptic Seizure Disorders. In: Egbert, Maria/ Depper‐ mann, Arnulf (Hrsg.). Hearing Aids Communication. Integrating Social Interaction, Audiology and User Centered Design to Improve Communication with Hearing Loss and Hearing Technologies. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung, 146-158. Gülich, Elisabeth/ Mondada, Lorenza (2008). Konversationsanalyse: Eine Einführung am Beispiel des Französischen. Tübingen: Niemeyer. Gülich, Elisabeth (2006). Das Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität. Deutsche Sprache 34, 6-17. Gülich, Elisabeth (2005). Krankheitserzählungen. In: Neises, Mechthild/ Ditz, Su‐ sanne/ Spranz-Fogasy, Thomas (Hrsg.), 73-89. 312 Elisabeth Gülich Hontschik, Bernd/ Bertram, Wulf/ Geigges, Werner (Hrsg.) (2013). Auf der Suche nach der verlorenen Kunst des Heilens: Bausteine der Integrierten Medizin. Stuttgart: Schattauer. Jenkins, Laura/ Reuber, Markus (2014). A Conversation Analytic Intervention to Help Neurologists Identify Diagnostically Relevant Linguistic Features in Seizure Patientsʼ Talk. Research on Language Social Interaction 47: 3, 266-279. Kächele, Horst/ Novak, Peter/ Traue, Harald C. (1989). Psychotherapeutische Prozesse: Struktur und Ergebnisse. Der Sonderforschungsbereich 129: 1980-1988: Aus dem Psy‐ chosozialen Zentrum der Universität Ulm. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse 35: 4, 364-382. Koerfer, Armin/ Köhle, Karl/ Obliers, Rainer/ Thomas, Walter/ Albus, Christian (2010). Narrative Wissensgenerierung in einer biopsychosozialen Medizin. In: Dausend‐ schön-Gay, Ulrich/ Domke, Christine/ Ohlhus, Sören (Hrsg.). Wissen in (Inter-)Aktion: Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern. Berlin/ New York: de Gruyter, 91-131. Koerfer, Armin/ Köhle, Karl (2007). Kooperatives Erzählen: Zur Konstruktion von Patien‐ tengeschichten in der ärztlichen Sprechstunde. In: Redder, Angelika (Hrsg.). Diskurse und Texte. Tübingen: Stauffenburg, 629-639. Koerfer, Armin/ Köhle, Karl/ Obliers, Rainer (2000). Narrative in der Arzt-Patient-Kom‐ munikation. Psychotherapie & Sozialwissenschaft 2, 87-116. Labov, William (1972). The Transformation of Experience in Narrative Syntax. In: Labov, William. Language in the Inner City: Studies in the Black English Vernacular. Philadelphia: University of Philadelphia Press, 354-396. Labov, William/ Waletzky, Joshua (1967). Narrative Analysis: Oral Versions of Personal Experience. In: Helm, June (Hrsg.). Essays on the Verbal and Visual Arts. Seattle: University of Washington Press, 12-44. Leiß, Ottmar (im Druck). Konzepte und Modelle Integrierter Medizin: Zur Aktualität Thure von Uexkülls (1908-2004). Bielefeld: transcript Verlag. Lucius-Hoene, Gabriele (2008). Krankheitserzählungen und die narrative Medizin. Reha‐ bilitation 47, 90-97. Neises, Mechthild/ Ditz, Susanne/ Spranz-Fogasy, Thomas (Hrsg.) (2005). Psychosomati‐ sche Gesprächsführung in der Frauenheilkunde: Ein interdisziplinärer Ansatz zur verbalen Intervention. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Otte, Rainer (2001). Thure von Uexküll: Von der Psychosomatik zur Integrierten Medizin. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schöndienst, Martin (2020). Zum Nutzen gesprächsanalytischer Ansätze in der Dif‐ ferentialdiagnose und Therapie von epileptischer und von Panik-Angst. In: Job, Barbara/ Michael, Joachim (Hrsg.). Angstsprachen: Interdisziplinäre Zugänge zur kommunikativen Auseinandersetzung mit Angst. Wiesbaden: Springer, 35-47. 313 „Wenn wir zulassen, dass Patienten von sich erzählen …“ Schöndienst, Martin (2000). Konversationsanalytische Zugänge zu Gesprächen über Anfälle. In: Jacobi, Rainer-M.E./ Claussen, Peter C./ Wolf, Peter (Hrsg.). Die Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie. Festschrift für Dieter Janz. Würzburg: Königshausen + Neumann, 73-84. von Uexküll, Thure (2000/ 2013). Von Psychosomatischer zu Integrierter Medizin. In: Hontschik, Bernd/ Bertram, Wulf/ Geigges, Werner (Hrsg.), 61-72. von Uexküll, Thure (1963). Grundfragen der psychosomatischen Medizin. Reinbek: Rowohlt. 314 Elisabeth Gülich Autorinnen und Autoren Dr. Jan Andres, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld. Prof. Dr. Sarah Dessì Schmid, Philosophische Fakultät, Romanisches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. Sascha Diwersy, CNRS-UMR Praxiling, Université Paul Valéry Montpellier 3. Yvonne Fillies M.A., Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld. Prof. (em.) Dr. Elisabeth Gülich, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld. Prof. Dr. Kai Kauffmann, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld. Prof. Dr. Bettina Kluge, Fachbereich 3: Sprach- und Informationswissenschaften, Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation, Stiftung Universität Hildes‐ heim. Dr. Heike Knerich, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Biele‐ feld. Dr. Anna Kurpiers, Fakultät für Kulturwissenschaften, Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn. Dr. Peter Menke, Fakultät für Kulturwissenschaften, Institut für Germanistik und Ver‐ gleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn. Prof. Dr. Wiltrud Mihatsch, Philosophische Fakultät, Romanisches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. Joachim Opp, Chefarzt, Leiter des Kinderneurologischen Zentrums des Ev. Kranken‐ hauses Oberhausen. Prof. Dr. Katja Ploog, UO Laboratoire Ligérien de Linguistique, Lettres Langues Sciences Humaines (LLSH), Université d'Orléans. Dr. Julia Sacher, Zukunftsstrategie Lehrer*innenbildung (ZuS), Universität zu Köln. Dr. Birte Schaller, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Biele‐ feld. Prof. Dr. Roland Schmidt-Riese, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Roma‐ nistik, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt. Mia Schürmann M.A., Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld. Prof. Dr. Maria Selig, Fakultät für Sprach- Literatur- und Kulturwissenschaften, Roma‐ nistik, Universität Regensburg. Prof. Dr. Tilmann Sutter, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld. Prof. Dr. Esme Winter-Froemel, Philosophische Fakultät, Neuphilologisches Institut/ Romanistik, Julius-Maximilians-Universität Würzburg. 316 Autorinnen und Autoren ScriptOralia herausgegeben von Barbara Frank-Job und Ulrich Eigler Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / www.narr-shop.de/ reihen/ s/ scriptoralia.html 115 Klaus Jacobi (Hrsg.) Gespräche lesen Philosophische Dialoge im Mittelalter 1999, 523 Seiten €[D] 99,- ISBN 978-3-8233-5425-3 116 Thomas Baier (Hrsg.) Studien zu Plautus’ Amphitruo Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 27 1999, 243 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-8233-5426-0 117 Lore Benz (Hrsg.) Terenz und die Tradition Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 28 2000, nicht verfügbar ISBN 978-3-8233-5427-7 118 Lore Benz (Hrsg.) ScriptOralia Romana Die römische Literatur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 29 2001, 347 Seiten €[D] 64,- ISBN 978-3-8233-5428-4 119 Ulrike Auhagen Der Monolog bei Ovid Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 30 1999, 244 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-5429-1 120 Stefan Pfänder Aspekt und Tempus im Frankokreol Semantik und Pragmatik grammatischer Zeiten im Kreol unter besonderer Berücksichtigung Von Französisch-Guayana und Martinique 2000, 282 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-8233-5430-7 121 Stefan Faller (Hrsg.) Studien zu Plautus’ Persa Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 31 2001, 315 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-5431-4 122 Eckard Lefèvre Plautus’ Aulularia Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 32 2001, 227 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-5432-1 123 Reinhard Wendt (Hrsg.) Sammeln, Vernetzen, Auswerten Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht 2001, 218 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-5433-8 124 Claus D. Pusch Morphosyntax, Informationsstruktur und Pragmatik Präverbale Marker im gaskognischen Okzitanisch und in anderen Sprachen mit CD-Rom 2001, X, 305 Seiten €[D] 69,- ISBN 978-3-8233-5434-5 125 Ulrike Auhagen (Hrsg.) Studien zu Platus’ Epidicus Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 33 2001, 349 Seiten €[D] 64,- ISBN 978-3-8233-5435-2 126 Claus D. Pusch / Wolfgang Raible (Hrsg.) Romanistische Korpuslinguistik Romance Corpus Linguistics Korpora und gesprochene Sprache Corpora and Spoken Language 2002, VIII, 506 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-5436-9 127 Thomas Baier (Hrsg.) Studien zu Plautus’ Poenulus Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 34 2004, 320 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-6063-6 128 Rolf Friedrich Hartkamp / Florian Hurka (Hrsg.) Studien zu Plautus’ Cistellaria Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 35 2004, 491 Seiten €[D] 120,- ISBN 978-3-8233-6078-0 129 Rolf Friedrich Hartkamp Von leno zu ruffiano Die Darstellung, Entwicklung und Funktion der Figur des Kupplers in der römischen Palliata und in der italienischen Renaissancekomödie Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 36 2004, 266 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6079-7 130 Claus D. Pusch / Johannes Kabatek / Wolfgang Raible (Hrsg.) Romanistische Korpuslinguistik II Romance Corpus Linguistics II Korpora und diachrone Sprachwissenschaft Corpora and Diachronic Linguistics 2005, VIII, 587 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6148-0 131 Sybille Paulus Wissenschaftliche Textsorten in der italienischen Renaissance Der Sprachwechsel aus dem Lateinischen in der astronomischen, meteorologischen und kosmologischen Literatur 2005, 434 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-6165-7 132 Katrin Eberle Plautus’ Aulularia in Frankreich Die Rezeption der Figur des Geizigen von Pierre de Larivey bis Albert Camus Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 37 2006, 226 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6219-7 133 Eckard Lefèvre Plautus’ Rudens Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 38 2006, 223 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6237-1 134 Marc-Olivier Hinzelin Die Stellung der klitischen Objektpronomina in den romanischen Sprachen Diachrone Perspektive und Korpusstudie zum Okzitanischen sowie zum Katalanischen und Französischen 2007, XIV, 286 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6346-0 135 Amina Kropp Magische Sprachverwendung in vulgärlateinischen Fluchtafeln (defixiones) Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 39 mit CD-Rom 2008, 341 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6436-8 136 Heiner Böhmer Grammatikalisierungsprozesse zwischen Latein und Iberoromanisch 2010, XII, 548 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-6564-8 137 Esther Strätz Sprachverwendung in der Chat- Kommunikation Eine diachrone Untersuchung französischsprachiger Logfiles aus dem Internet Relay Chat 2010, 207 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6611-9 138 Eckard Lefèvre Plautus’ Bacchides Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe, Band 40 2011, 205 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6681-2 139 Anja Reinkemeyer Die Formenvielfalt des langage SMS im Wechselspiel zwischen Effizienz, Expertise und Expressivität Eine Untersuchung der innovativen Schreibweise in französischen SMS 2013, 350 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6743-7 140 Santiago del Rey Quesada Diálogo y traducción Los Coloquios erasmianos en la Castilla del s. XVI 2015, 510 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6925-7 141 Esme Winter-Froemel / Araceli López Serena / Álvaro Octavio de Toledo y Huerta / Barbara Frank-Job (Hrsg.) Diskurstraditionelles und Einzelsprachliches im Sprachwandel / Tradicionalidad discursiva e idiomaticidad en los procesos de cambio lingüístico 2015, X, 378 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6945-5 142 Daniel Kallweit Neografie in der computervermittelten Kommunikation des Spanischen Zu alternativen Schreibweisen im Chatnetzwerk www.irc-hispano.es 2015, XII, 432 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6926-4 143 Gabriella Parussa / Maria Colombo Timelli / Elena Llamas-Pombo (Hrsg.) Enregistrer la parole et écrire la langue dans la diachronie du français 2017, 188 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6989-9 144 Teresa Gruber / Klaus Grübl / Thomas-Scharinger (Hrsg.) Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz? Mediale und konzeptionelle Aspekte sprachlicher Variation 2020, ca. 300 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8236-2 145 Bettina Kluge / Wiltrud Mihatsch / Birte-Schaller (Hrsg.) Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Festschrift für Barbara Job zum 60.-Geburtstag 2020, 320 Seiten €[D] 78,- 978-3-8233-8353-6 Giessener Beiträge Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Festschrift für Barbara Job zum 60. Geburtstag herausgegeben von Bettina Kluge, Wiltrud Mihatsch und Birte Schaller Dieser Band ist einer großen Bandbreite an Phänomenen und interdisziplinären Fragestellungen im Umfeld der kommunikativen Übergänge zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit gewidmet. Neben der auch theoretischen Auseinandersetzung mit dem Koch-Oesterreicherschen Nähe-Distanz-Modell untersuchen die Beiträge insbesondere Spannungsfelder im Bereich von Standardisierungsprozessen, die Emergenz neuer Diskurstraditionen in der internetbasierten Kommunikation und die Konsequenzen der technisch bedingten Entkopplung von Mitteilung und Verstehen, die sprachlichen Übergänge bei Übersetzungen, die Dynamiken spezifischer Gesprächssituationen sowie Aspekte der Kommunikation in der Medizin und ihr differentialdiagnostisches Potenzial. Kluge / Mihatsch / Schaller (Hrsg.) Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ISBN 978-3-8233-8353-6 18353_Umschlag.indd Alle Seiten 18353_Umschlag.indd Alle Seiten 21.10.2020 16: 11: 48 21.10.2020 16: 11: 48