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Weihnachtslinguistik

2020
978-3-8233-9452-5
Gunter Narr Verlag 
Konstanze Marx

Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit beginnt ein buntes Treiben, das natürlich von Sprache begleitet ist: sonderbare grammatische Phänomene in Liedversen, prächtige Wörter und deren geheimnisvolle Bedeutung, floskelhafte Wünsche, Weihnachtsgeschichten, -gedichte und -ansprachen u.v.m. Die Autor*innen dieses Buches widmen sich solchen festlichen Untersuchungsgegenständen und stellen etymologische Überlegungen an, teilen lexikographische Beobachtungen, hinterfragen tradierte und neue Wunschpraktiken oder spüren Erzählmustern nach. So ist eine Weihnachtslinguistik entstanden, die keine neue sprachwissenschaftliche Schnittstellendisziplin sein will, sondern vielmehr Glanzpapier, das das inspirierende Spektrum der (hier gewählten) Zugänge und Beschreibungsebenen umhüllt und als das deklariert, was es ist - ein exklusives Geschenk.

Weihnachtslinguistik Konstanze Marx (Hrsg.) Festliche Texte über Sprache Konstanze Marx (Hrsg.) Weihnachtslinguistik Festliche Texte über Sprache Umschlagabbildung: examphotos (Stock-ID: 214511161), Stilesta (Stock-ID: 760164895), Comeback_01 (Stock-ID: 1185852974) © istock 2020 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8452-6 (Print) ISBN 978-3-8233-9452-5 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0266-7 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhaltsverzeichnis Konstanze Marx Vorfreude, schönste Freude. Daher zunächst ein Vorwort .......................... 9 Nina Janich Linguistische Weihnacht in Reimen ............................................................... 17 Von Wünschen und vom Wünschen Ingo H. Warnke 1 Eine Frage stellen in aufgeklärter Unsicherheit ........................................... 23 Michael Beißwenger & Steffen Pappert 2 Nicht nur zur Weihnachtszeit: Die Bedeutung zahlt der Empfänger ...... 29 Matthias Meiler & Alexandros Apostolidis 3 Frohe Weihnachten ★ Καλά Χριστούγεννα .................................................. 37 Silvia Bonacchi 4 Weihnachtswünsche im deutsch-italienischen Vergleich. Die kulturlinguistische Perspektive ................................................................ 45 Thomas Spranz-Fogasy 5 Der Weihnachtsbrief ........................................................................................... 53 Simon Meier-Vieracker 6 Weihnachtsansprachen. Eine mentalitätsgeschichtliche Serie in 70 Folgen ........................................................................................................... 57 Wortwörtliche Bescherung Sascha Wolfer 7 Interessant ist, was relevant ist: Weihnachten im Wörterbuch ................ 67 Wolf-Andreas Liebert 8 „wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben.“ Zur paradoxalen Semantik von Weihnachten ................. 75 Joachim Scharloth 9 Von weihnachtlichen Widersprüchen. Bescherung aus dem rechten Schimpfwortschatz .............................................................................................. 81 6 Inhaltsverzeichnis Grit Liebscher 10 Kanadischer Christkindl Market zwischen zwei Kontinenten ................. 87 Henrike Helmer & Silke Reineke 11 Jesus in der Alltagssprache ............................................................................... 93 Gerd Antos 12 Gibt es einen Weihnachtsmann? Pelzmärtel, Nikolaus, Krampus, Knecht Ruprecht und die Linguistik ............................................................... 99 Gabriele Diewald 13 Zeit der merkwürdigen Wörter ...................................................................... 105 Singen und Klingen in stiller Nacht Alexander Lasch 14 Sind die Lichter angezündet . Weihnachtslieder als seltene linguistische Analyseobjekte ................................................................................................... 113 Wolfgang Imo 15 Komplizierter die Sätze nie werden, als zu der Weihnachtszeit … ........ 123 Birte Arendt & Ulrike Stern 16 Vom „hellichten Schein“ zu „ein Stiern nedderstråhlt“. Varietätenlinguistische und regionalsprachdidaktische Perspektiven auf niederdeutsche Weihnachtslieder ........................................................... 129 Ruth M. Mell 17 Stille Nacht, heilige Nacht. Zum Aspekt der Zeit in traditionellen deutschsprachigen Weihnachtsliedern ......................................................... 135 Musterhafter Erzählzauber Susanne Tienken 18 Stimmungen erzeugen, Erinnerungen schaffen, Ritualen folgen. Wieso wir an Weihnachten Geschichten vorlesen ................................................. 143 Juliane Stude 19 Dem Weihnachtszauber auf der Spur. Wie Kinder schriftliche Weihnachtsgeschichten erzählen .................................................................. 151 Stefan Hauser 20 Oh je, du Fröhliche! Eine kleine Linguistik des Weihnachtswitzes ....... 159 Inhaltsverzeichnis 7 Flimmern im Lichterglanz Axel Schmidt 21 Weihnachten (wie) im Fernsehen .................................................................. 167 Eva Wyss 22 Adventsbotschaften 2.0. Wandel weihnachtlicher Kommunikation und Zeitlichkeit .................................................................................................. 173 Daniel Pfurtscheller 23 „Der Moment wenn die Chefin ein Weihnachtsbaum ist ❤ “. Weihnachten als kommunikative Ressource in der politischen Social- Media-Kommunikation .................................................................................... 181 Carolin Müller-Spitzer 24 Weihnachten, Loriot und die Genderlinguistik .......................................... 189 Katrin Lehnen Linguistische Weihnacht - Abreissen. Loslassen ...................................... 197 Autor*innenverzeichnis ................................................................................... 203 Vorfreude, schönste Freude Daher zunächst ein Vorwort Konstanze Marx Es ist Hochsommer, das Thermometer zeigt 36 Grad und es wirkt noch heißer. Hier im Haus sind die Fenster hoch, die Türen weit, aus meinem Lautsprecher tönen weihnachtliche Klänge. Schon spüre ich die unausgesprochenen Fragezeichen in den Gesichtern meiner Nachbarn. Hoffentlich schieben sie mein wunderliches Verhalten wohlwollend auf die Hitze, argwöhnen allenfalls eine exaltierte Form der Kältetherapie. Ja, zweifelt nur an mir, denke ich, aber horcht auch, wie lieblich es schallt und wagt vielleicht auch einmal einen Blick in die Sozialen Medien, denn der alljährliche Entrüstungswettstreit über die frühzeitig mit Lebkuchen gefüllten Supermarktregale hat längst begonnen. Das, aber vor allem die wunderbare Aufgabe, in diesem Buch Texte zusammenzuführen, die sich aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive mit dem Weihnachtsfest auseinandersetzen, machen mir den gedanklichen Sprung in den Advent und damit zu Ihrem Rezeptionszeitpunkt leicht. Für Sie wiederum sind es ja gerade nicht die zitierten Weihnachtslieder, die unpassend erscheinen, sondern eher die meteorologische Momentaufnahme aus einem heißen Sommer. Also, Weihnachten steht vor der Tür und allein dieser Phraseologismus ist eine genauere linguistische Inspektion wert, nimmt doch hier eine Festivität, ein Feiertag eine Agensrolle ein, die gemeinhin akzeptiert ist, was die hochfrequente Verwendung in der Alltagssprache, in Schlager- und Kinderbuchtiteln und auch Witzen offenbart; eine Agensrolle aber, die aufgrund ihrer diffusen ontologischen Ereignisqualität semantisch gar nicht so leicht mit einem statischen Verb vereinbar und mit Blick auf dessen realweltliche Dimension unmöglich auf einer Fußmatte platzierbar scheint. Die Bedeutung muss also mental übertragen, das Vor-der-Tür-Stehen metaphorisch verstanden werden, etwas, das nicht trivial ist, schon gar nicht für diejenigen, die Sprache erst erwerben. Und rein pragmatisch? Bleiben wir zunächst bei der eben erwähnten Adressat*innengruppe. Welche Schlüsse ziehen wohl Kinder aus dieser Äußerung? Vermutlich das lang ersehnte Ende einer utopischen Wartezeit, vielleicht imaginieren sie eine konkrete Person, deren Klopfen an der Tür die zum Greifen nahe Bescherung verlautbart? An Kinder gerichtet scheint der Handlungswert dieses Sprech- 10 Konstanze Marx akts mit der verheißungsvollen Ankündigung eines kurzfristig eintretenden Ereignisses, mit einem Versprechen gar, dass das mehr oder weniger geduldige Ausharren nun ein Ende habe, beschrieben. Was aber kann diese Äußerung bei Erwachsenen bewirken? Weihnachten steht vor der Tür ? Eine schnelle Recherche auf Twitter im August (! ) zeigt Tendenzen dafür auf, dass der Äußerungszeitpunkt offensichtlich merklich vorverlagert wird, dabei Warnendes, zur Eile Mahnendes mitschwingt. Es baut sich Druck auf ganz im Gegensatz zu dem, was Weihnachten rein lexikalisch transportiert (Fest anlässlich der Geburt Christi) und womit es durchaus auch assoziiert wird: Freude. Freude vs. Stress und Not, alle Punkte der stetig wachsenden To-Do-Liste rechtzeitig vor den perfekt zu inszenierenden Festtagen abhaken zu können und jedes prototypische Element der Vorweihnachtszeit gut zu terminieren: Adventskalender installieren, Wohnung festlich dekorieren, ganze Straßen illuminieren, Weihnachtskarten illustrieren, Wunschzettel formulieren und gründlich studieren, in Geschenke investieren und die Päckchen hübsch verschnüren, Plätzchen backen, schokolieren und natürlich noch verzieren, zwischendrin auch jubilieren, mit entfernten Verwandten telefonieren, Krippenspieltext memorieren, Festtagsmenüplanung zelebrieren und die Ingredienzien akquirieren, Weihnachtsfeier organisieren und darüber informieren, Weihnachtstanne selegieren und das Aufstellen delegieren. Die Liste ist lang, aber im christlichen Kulturkreis erstaunlich gleichartig konstituiert. All das schwingt mit mit dem Satz Weihnachten steht vor der Tür . Soll es ruhig noch ein wenig da draußen verweilen vor der Tür, mag sich manche*r ob des oben genannten Pensums denken, soll es doch noch ein wenig warten, dieses Weihnachten, gerade das vermag vielleicht Ruhe zu verschaffen? Das gesamte Treiben ist begleitet von Sprache - kleine Texte hinter den Kalendertürchen, feste Floskeln, individuelle Wünsche in der Post oder über Messenger verschickt, Liedverse, verbalisierte Sinneseindrücke in Koch- und Backrezepten, Verhandlungen über Baum, Backwerk und Braten, die Weihnachtsgeschichte und Weihnachtsgeschichten, Liebeserklärungen in Weihnachtsfilmen, sprachlose Enttäuschung am Gabentisch oder Streit im trauten Kreis der Familie - und bietet unzählige Anknüpfungspunkte für sprachwissenschaftliche Zugänge: Wunschzettel als Textsorte etwa, Praktiken des Wünschens, feste Phrasen, Semantik der Sinne, Erzählmuster, grammatische Phänomene in tradierten Liedtexten, interaktive Bedeutungskonstruktion in hochemotionalen Situationen, Konflikt- und Schlichtungsgespräche, ja sogar Weihnachtsdiskurse, etymologische Fragestellungen, Sozio- und Dialekte, Framefiller - auch Nina Janich greift diese Anschlussmöglichkeiten in einem Gedicht auf, das den Auftakt der festlichen Texte über Sprache bildet. Klassischerweise ist es auch ein Gedicht, das die Bescherung einläutet, und so folgen die Texte in diesem Buch dem Protokoll des Heiligen Abends, an Vorfreude, schönste Freude 11 dem Gedichte aufgesagt, Wünsche ausgesprochen (Kapitel „Von Wünschen und vom Wünschen“), Geschenke übergeben und ausgepackt werden, was Freude aber auch Enttäuschung nach sich ziehen kann (Kapitel „Wortwörtliche Bescherung“), Lieder gesungen (Kapitel „Singen und Klingen in stiller Nacht“), Geschichten und Witze erzählt (Kapitel „Musterhafter Erzählzauber“) und am Ende der Fernseher eingeschaltet oder das Smartphone aus der Hosentasche gezogen (Kapitel „Flimmern im Lichterglanz“), vielleicht schon ein Jahresresümee gezogen wird. So verfestigt die oben skizzierte Schablone ist, die sich durchaus auf die gesamte Adventszeit ausdehnen lässt, so notwendig ist es auch, damit verbundene Routinen zu hinterfragen, wofür Ingo H. Warnke sensibilisiert. Die Angemessenheit von Weihnachtswünschen kann nicht einfach voraussetzen, wer soziale Diversität anerkennt. Und so wird im Beitrag für ein Innehalten plädiert, ein Nachfragen vielleicht und sei es nur beiläufig - eines, das sich ausrichtet am Gegenüber und sich nicht in kulturell eindimensionalen Formeln verliert. Auf diese Weise entsteht ein Resonanzraum, in dem auch die spezifische Adressierung des vorliegenden Buches bewusstwerden und die Lektüre aller folgenden Texte begleiten darf. Die Konstruktion von Bedeutung ist komplex und eben nicht nur von zugrundeliegenden Textinhalten geleitet. Besonders deutlich wird das natürlich, wenn in der Interaktion gänzlich auf Versprachlichung verzichtet wird, wie Michael Beißwenger und Steffen Pappert in ihrem weihnachtlichen auf Bildzeichen reduzierten WhatsApp-Dialog sehr anschaulich vorführen. Zum großen Amüsement werden die jeweiligen Interpretationen der am Chat Partizipierenden zum Mitlesen zur Schau gestellt - mit dem wunderbaren Effekt, dass Abweichungen die Missverständnispotenziale von Emojis und deren akkumulativer (aber auch exklusiver) Verwendung transparent machen. Am Ende erschließt sich jeder der beiden die guten Weihnachtswünsche des anderen, ein Thema, das auch Matthias Meiler und Alexandros Apostolidis aufgreifen. Sie nehmen die interkulturellen Unterschiede bei Praktiken des Wünschens im deutsch-griechischen Vergleich in den Blick. Silvia Bonacchi kontrastiert Weihnachtswünsche deutsch-italienisch. Beide Texte zeigen auf, dass Wünsche einerseits der Gestaltung, ja Festigung von sozialen Beziehungen dienen, dass solche Rituale aber gleichzeitig auch den Blick freigeben auf Verbindungen innerhalb kultureller Gemeinschaften und sich darüber hinaus loslösen können von ihrem ursprünglichen Zweck und diesen dennoch ein ganz klein wenig mittransportieren. Dafür, so ist bei Thomas Spranz-Fogasy zu lesen, wird durchaus einige Anstrengung in Kauf genommen (er dürfte genau jetzt, da das Editorial dieses Buches entsteht, bereits über den Weihnachtsbrief für dieses Jahr nachdenken). Die Möglichkeit theoretisch allen im Laufe eines Lebens liebgewonnenen Menschen technikunterstützt von Angesicht zu Ange- 12 Konstanze Marx sicht ein frohes Fest zu wünschen, gibt es ja noch nicht allzu lang und sie konnte sich als Routine sicher auch aus ganz praktischen Gründen nicht in unserem vorweihnachtlichen Alltag etablieren. Weihnachtsbriefe hingegen haben den entscheidenden Vorteil, dass mit Zeit und Liebe zum Detail die persönlichen Höhepunkte des Jahres zusammengetragen und dem Gegenüber zum Lesen zu einem selbstgewählten Zeitpunkt angeboten werden können. Ganz im Gegensatz dazu widmet sich Simon Meier-Vieracker Texten, die zu einem festgelegten Zeitpunkt und damit in der Illusion der Gemeinschaftlichkeit gehört und gesehen werden sollen, den bundespräsidialen Weihnachtsansprachen. Seine Keywordanalysen legen offen, dass und wie sich das jeweilige gesellschaftlichpolitische Klima in die Reden eingeschrieben hat, die dadurch zu einem mentalitätsgeschichtlichen Stimmungsbarometer taugen. Es ist die hier zum Einsatz kommende korpuslinguistische Methode und die Konzentration auf Schlüsselwörter, die eine Brücke zum nächsten Kapitel bildet, das mit sprichwörtlichen Wortgeschenken aufwartet. So gewährt Sascha Wolfer Einblick in weihnachtlich-überraschende lexikographische Entdeckungen. Zugriffsstatistiken von Onlinewörterbüchern enthüllen nämlich einen Effekt der sozialen Relevanz, der u. a. anhand der Begriffe Nikolaus und Weihnachten eindrucksvoll nachgewiesen werden kann. Weniger eindeutig, geradezu paradoxal ist die daran anschließende Kontemplation von Wolf-Andreas Liebert, in der er sich der Semantik von Weihnachten über semasiologische und onomasiologische Perspektiven hin zu einer Sphäre zwischen fiktional und faktual nähert, um die Verbindung zwischen gehasstem Leben und Erlösung durch den Hass in einem ewigen Kreislauf zu ergründen. Durch dieses partielle Priming gelingt hoffentlich eine einigermaßen behutsame Vorbereitung auf die Wucht, mit der die von Joachim Scharloth zusammengetragenen Beispiele aus dem rechten Schimpfwortrepertoire auf Sie wirken werden. Die weihnachtlichen Vokabeln in krudesten Wortkompositionen erhalten den Eindruck der Paradoxie noch eine Weile lebendig, die weihnachtliche Stimmung allerdings vergeht. Es handelt sich hier um einen schonungslosen Text, in dem - das wird sehr deutlich - menschenverachtende Gebrauchsweisen distanzierend zitiert werden, um das analysierte sprachliche Material und den damit drastisch zu Tage tretenden Rassismus seiner Benutzer*innen eineindeutig sichtbar zu machen. So wird auch das Dilemma der Invektivitätsforschung zwischen Entlarvung und Benennung rassistischer Stereotype einerseits und ihrer Reproduktion andererseits bei der Lektüre mitunter physisch spürbar. Diesem Text folgt eine gedankliche Reise nach Kanada. Grit Liebscher lädt zu einem virtuellen Besuch auf den Christkindl Market in Kitchener, Ontario - ein verbal schillerndes Ereignis und ein Ort, an dem Gemeinschaftssinn, Authentizitätsanspruch, tradierte Stereotype und lebendige Erinnerungskultur koexis- Vorfreude, schönste Freude 13 tieren und gleichsam die Entstehung von etwas Neuem dokumentieren, das die originären Spuren noch verrät. Vergleichbare Prozesse - nur auf lexikalischer Ebene - werden von Henrike Helmer und Silke Reineke beschrieben. Sie suchen in Aufnahmen gesprochener Alltagssprache nach Jesus! und finden Ergebnisse von Interjektionalisierungsprozessen in emotiv-expressiven, aber vor allem auch responsiv-empathischen Verwendungen; den Geist der Weihnacht quasi reduziert auf o(h)je . Der Herausforderung, den Geist der Weihnacht trotz kindlich-bohrenden Hinterfragens mühsam aufrecht erhaltener Weihnachtsmythen zu bewahren, versucht sich Gerd Antos unter Zuhilfenahme grundständiger linguistischer Zugänge zu stellen. Er hebt also ab auf metasprachliche Reflexionen über Namen, lässt den Weihnachtsmann (dis)kursieren und referenzsemantisch dekonstruieren und letztlich Relevanz- und Wahrheitsmaximen miteinander konkurrieren. Aber nicht nur die Existenz des Weihnachtsmannes, wie er auch immer heißen, wie man ihn auch immer nennen möge, zählt zu den großen Mysterien in der Weihnachtszeit, es ist auch der sprichwörtlich merk-würdige Wortschatz, ein Erinnerungsschatz, an dem uns Gabriele Diewald teilhaben lässt. Es geht um Verhörer und dadurch ausgelöste logische Assoziationen, die die stufenweise sprichwörtliche Arbeit bei der Bedeutungserschließung in Spracherwerbsprozessen nachvollziehbar machen. Es handelt sich hierbei um ein so aktives Bewusstmachen, das es noch viele Jahre später erzählt werden kann und anknüpft an Erfahrungen, auf die vermutlich jede*r von uns zurückgreifen kann. (Ich beispielsweise habe als Kind Bienenstich aus offensichtlichen Gründen nicht angerührt, nicht einmal zu Weihnachten.) Am Ende langt der Text bei einem Ross an, das einer Wurzel ent- und direkt ins nächste Kapitel hineinspringt. Weihnachtslieder, so stellt Alexander Lasch fest, sind seltene linguistische Analyseobjekte, muss sich aber zumindest bei der Lektüre des vorliegenden Buches eines Besseren belehren lassen. Während er nachzeichnet, wie mit ostdeutschen Liedern das gemeinsame Weihnachts-Fühlen und Wollen einer Gemeinschaft auf der Basis sorgfältigst ausgewählter, mit der Ideenlehre konformer Motive gesteuert werden sollte, seziert Wolfgang Imo die eigentümliche Syntax von bekannten Liedversen. Im Feldermodell schiebt er versuchsweise Phrasen hin und her, wobei es beim stark ausgelasteten Vorfeld ordentlich hakt. Nun wird abgewogen: Sollte eine Ausnahme in den derlei ohnehin schon reichen Regelkatalog aufgenommen werden oder zu Gunsten dichterischer Freiheit entschieden? Gerade der letztgenannte Aspekt wird bei Übersetzungen relevant, wie Birte Arendt und Ulrike Stern an zwei niederdeutschen Versionen eines bekannten Weihnachtsliedes verdeutlichen. Sie fragen nach der gelungeren Übertragung und ziehen hierbei die Messung des Dialektalitätsgrads anhand phonetischer, morphologischer, lexikalischer und syntaktisch/ phraseo- 14 Konstanze Marx logischer Parameter zurate. Ruth M. Mell setzt mit ihrem Beitrag noch einmal an der lexikalischen Ebene an und nimmt Zeitbezeichnungen und Deiktika in Weihnachtsliedern unter die linguistische Lupe und findet Licht, das auf den Tag in Abgrenzung der dunklen Nacht verweist, die wiederum attributiv als besonders hervorgehoben wird, als Szenerie, die das Hellwerden und damit das Angst-Nehmende schon mitträgt. So kann der Heilige Abend, so kann die Heilige Nacht umgedeutet werden, sie beherbergt nicht Angst, sondern das Warten auf etwas Schönes. Dieses Warten, das sich auf den gesamten Advent erstreckt, wird - und damit beginnt das nächste Kapitel - aktiv gestaltet. Susanne Tienken vergleicht diese Zeit mit einer Bühne, die gemeinschaftlich bespielt werden will, nach individuellen Regeln, die selbst Traditionen werden können, durchaus, aber bespielt muss sie werden. Ein wichtiges Ritual in diesem Schauspiel ist das gemeinsame Lesen von Weihnachtsgeschichten, in denen sich nicht nur das aktuelle Setting des eigenen gemütlichen Vorlesens repliziert, sondern auch weitere wichtige Versatzstücke für die Kreation eines perfekten Weihnachtsskripts zur Verfügung gestellt werden. Dass Kinder diese Bausteine internalisiert haben, wird im Beitrag von Juliane Stude deutlich. Literarische und filmische Darstellungsweisen finden ebenso Eingang in kindliche Weihnachtserzählungen wie Alltagserfahrungen, etwa die musterhafte Chronologie des Festtages, die Vorfreude und das Warten auf Weihnachten sowie das Überbringen der Geschenke. Der Spielraum, der weihnachtlich spezifisch zwischen Realität und Fiktionalität entsteht, wird dabei kreativ für Überraschendes genutzt. Es handelt sich hierbei um eine Komponente, die Stefan Hauser zufolge konstitutiv für Humor, aber eben auch für Weihnachten ist: Die Spannung kann nur gehalten werden, wenn in ihr die Sicherheit, dass etwas Unerwartetes eintritt, schon angelegt ist. Sein Beitrag hält folglich eine Reihe von Weihnachtswitzen bereit, deren komisches Potenzial sachlich sprachwissenschaftlich analysiert wird und dabei dennoch nicht verlorengeht. Ebensowenig wie im Beitrag von Axel Schmidt, der das nächste Kapitel einleitend unterschiedliche Fernsehformate auf ihre weihnachtliche Passfähigkeit untersucht, dabei natürlich Loriots Hoppenstedts nicht unerwähnt lässt, aber insbesondere im Reality-TV ein mediales Perpetuum mobile entdeckt, das sich Ereignisse, über die es dann berichtet, selbst erschafft und gleichzeitig Identifikations- ( Ja, so feiern wir auch Weihnachten ) und Abgrenzungsangebote ( Hilfe, was hängt denn bei denen am Baum? ) für das Publikum macht. Mit Eva Wyss kehren wir gedanklich noch einmal zurück zum Weihnachtswunschkapitel. Sie hebt in ihrem Text den Medienwechsel als besonders relevant hervor und vermutet im Versenden multimodaler Adventsbotschaften eine Adjustierung bisheriger Grußrituale. Einen geradezu strategischen Einsatz von Social-Me- Vorfreude, schönste Freude 15 dia-Kommunikation weist Daniel Pfurtscheller anhand von Instagram-Postings der fünf führenden österreichischen Politiker*innen nach. Weihnachten wird hier aktiv als kommunikative Ressource genutzt, wobei sehr genau selektiert wird, welche Aktivitäten auf die Vorderbühne geholt - also auch gezeigt - werden und welche nicht, etwa die Abläufe am Heiligen Abend, die in einem privaten Raum stattfinden und dort auch verbleiben dürfen. Manche würden sagen, dass es auch im folgenden Beitrag politisch bleibt, Carolin Müller-Spitzer aber wirbt für eine unaufgeregte Analyse teils widersprüchlicher Forschungsergebnisse zu androzentrisch geprägter Sprache einerseits und für offene, kreative Lösungen andererseits. Ausgangspunkt für ihre Ausführungen ist der oben schon erwähnte Sketch, in dem Opa Hoppenstedt die Frage einer Verkäuferin nach dem Geschlecht seines Enkelkindes unbeantwortet lässt und sich - der Unwichtigkeit dieser Information für die Auswahl eines Geschenks bewusst - seiner Zeit weit voraus präsentiert. Katrin Lehnen hat den dieses Buch abschließenden Text geschrieben. Es ist ein kleiner Jahresrückblick, der von Zeit handelt, die ihr davonläuft, und der ganz nebenbei Einblick gibt in linguistische Methoden, den Anspruch an Forschungsfragen, die Generierung von Hypothesen, die Schwierigkeiten und Rückschläge bei der Datenerhebung und der alles andere als Enttäuschung hinterlässt. So steht nun nicht nur Weihnachten vor der Tür , sondern Ihnen die Lektüre eines Buches bevor, das keine neue Schnittstellendisziplin begründen will, vielmehr ist es Glanzpapier, das das inspirierende Spektrum der (hier gewählten) sprachwissenschaftlichen Zugänge und Beschreibungsebenen (Phonetik, Syntax, Semantik, Pragmatik, Angewandte Linguistik, Diskurslinguistik, Genderlinguistik, Erzählerwerbsforschung, Internetlinguistik, Kognitive Linguistik, Kontaktlinguistik, Kontrastive Linguistik, Korpuslinguistik, Kulturlinguistik, Lexikographie, Medienlinguistik, Namensforschung, Phraseologie, Politolinguistik, Religionslinguistik, Soziolinguistik, Varietätenlinguistik) umhüllt und als das deklariert, was es ist - ein exklusives Geschenk. Dafür, dass sie sich auf diese Bescherung eingelassen haben, möchte ich allen Beiträger*innen von Herzen danken. Die Kuratierung dieses Buches war nicht zuletzt deshalb eine so große Freude, weil die zwischenzeitliche Abstimmung zu skurrilen, höchst witzigen, aber auch sehr berührenden - eben kostbaren - Momenten und Para-Interaktionen geführt hat. Danken möchte ich auch dem Narr- Verlag für die Aufgeschlossenheit gegenüber dieser Idee, die Verwirklichung noch im selben Jahr und für das Entgegenkommen bei allen gestalterischen Fragen, hierbei ganz besonders natürlich meinem hochgeschätzten Lektor, Tillmann Bub, und dem äußerst geduldigen Ansprechpartner in der Produktion, Arkin Keskin. 16 Konstanze Marx Möge das Buch Ihnen soviel Freude beim Lesen bereiten, wie mir im Entstehungsprozess. Möge es zudem von praktischem Nutzen für alle Linguist*innen sein, nämlich als ideales Weihnachtsgeschenk für die lieben Kolleg*innen, aber auch als ganz konkrete Antwort auf die (häufig an Weihnachten im Verwandtenkreis gestellte) Frage, was man eigentlich immer noch an der Uni treibe? Möge es also auch fachfremden Leser*innen einen Eindruck von der Linguistik vermitteln und Einsicht, warum man von diesem facettenreichen, gesellschaftlich so relevanten Fach nicht mehr loskommt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Lesegenuss so fein wie Weihnachtsgebäck, so erhellend wie eine sternenklare Winternacht und so aufregend wie die Wartezeit auf den Heiligen Abend, ich wünsche Ihnen ein Frohes Fest. Konstanze Marx (weihnachtlich gestimmt im August 2020 und nun vier Monate in ungeduldiger Vorfreude) 0 0 0 Linguistische Weihnacht in Reimen Nina Janich Gefragt ist, was die Wissenschaft von Sprache für ein Wissen schafft, wenn für ein Buch sie soll beachten das heil‘ge Wort der Weihenachten . Nun geht das ja etymologisch, vielleicht auch epistemologisch, ganz spannend auch nur graphologisch, doch weniger schlicht nur katholisch. Hört man nur zu und ignoriert, wie Weihnacht meist geschrieben wird, dann könnte man ja fast sich denken, dass Weinliebhaber sich was schenken: Den Wein [zu] achten als ‘ne Regel, die stets erhöht Promillepegel? ! Doch auch wenn Wein im Christentum mit Weihnachten hat was zu tun, weil ohne Wein kein Abendmahl, was wied‘rum nötig jedesmal, wenn man die Messe richtig feiert, so ist das eher rumgeeiert und linguistisch nicht sehr klug. Die Editorin uns ja frug, was wir als Forscher sagen wollen und was die Leute wissen sollen. Drum lasst mich mal kurz überlegen, was wichtig ist an Forscherwegen: In welchem Licht wir könn’n betrachten das Phänomen und Wort Weihnachten ? 18 Nina Janich Ist es zum Beispiel int’ressant, wie Sprache hier Grammatik fand: dass hier ein Dativ ist zu finden, den Mensch an den Termin zu binden? Gemeint ist ze den wîhen nachten, die‘s Abendland so christlich machten. Oder soll’n sprechen wir vom Frame Der letztlich Grund für Weihnachts fame , durch das, was gleich wird evoziert, von defaults , die man provoziert: Was sind hier wicht’ge filler -Werte die man - sie fehlten! - stark entbehrte? Geschenke, Lichter und ein Baum, vom leise rieselnd Schnee ein Traum, dann Plätzchen, Glocken und auch Engel, im Stroh ein kleiner blonder Bengel; doch Zeit auch, Ruhe, Innehalten, ein Sich-Entzieh’n Konsums Gewalten. Dies leitet über zu den Fragen, die uns stets auf der Zunge lagen, wenn wir Diskurse uns anschauen: Kann man denn Weihnacht noch vertrauen? Ist’s noch ein echt Familienfest, vielleicht doch nur Geschenkzwang-Pest? Wie nutzen Politik und Staat den tief ’ren Sinn, wenn Weihnacht naht, um Solidarität zu schüren, die Menschen weg vom Hass zu führen, an Hunger, Armut zu erinnern, und wie medial im Fernsehflimmern, die Religionen zu versöhnen - die ohne Jesus nicht zu höhnen? Vielleicht geht’s aber auch ganz schick mal um ‘nen ganz ganz and’ren Blick: Vielleicht wär‘ auch mal zu erwägen, die Frag‘ soziolektal zu prägen, wie wir an Weihnachten so sprechen Linguistische Weihnacht in Reimen 19 beim Schenken, Schmücken, Brote brechen, und ob beim großen Fest der Liebe Familiensprache Blüten triebe? Was beispielsweis‘ aus Kirchenliedern im Weihnachtssprech sich tut erwidern, ob‘s sowas gibt wie Weihnachtsstil voll Lichterglanz und Worten viel, ob Werbung uns längst hat im Griff: Was hat geladen denn das Schiff? Die Tür macht auf, das Tor macht weit: Der Linguistik Fragen breit konnt‘ ich so nur ganz kurz skizzieren, will mich drin weiter nicht verlieren. Ich glaub, ich kehr zurück zum Wein, der darf an Weihnachten auch sein, und statt mich weiterhin zu fragen, was ich zu Weihnachten könnt sagen, wünsch ich euch nun mit aller Macht ‘ne heilige und stille Nacht. 0 0 0 Von Wünschen und vom Wünschen 1 Eine Frage stellen in aufgeklärter Unsicherheit Ingo H. Warnke „Instinkt ist Sympathie“, heißt es in Henri Bergsons epochalem Werk Schöpferische Evolution , das 1907 unter dem Titel L’évolution créatrice in Paris erscheint: „Instinkt ist Sympathie. Könnte diese Sympathie ihren Gegenstandsbereich erweitern und sich auch über sich selbst zurückbeugen, so würde sie uns den Schlüssel zu den Lebensvorgängen bieten - gerade so wie die voll entwickelte und geradegerichtete Intelligenz uns Zutritt zur Materie gewährt.“ (Bergson 1907/ 2013: 203) Versuchen wir uns also instinktiv und das heißt mit Sympathie einer beiläufigen Frage zum Weihnachtsfest zu widmen, ohne dabei sogleich den üblichen intellektuellen Apparat der Linguistik zu bemühen oder Fragen zur derzeit viel erörterten Cancel Culture zu behandeln. Um Sprache soll es gehen, um eine Abschiedsformel beim vorweihnachtlichen Präsenzshopping, von dem wir allerdings seit Corona nicht mehr recht wissen, ob wir schon über etwas Vergangenes sprechen. Aber die Erinnerung wird noch wach genug sein: Der Erwerb eines Geschenks im analogen Handlungsablauf der vorweihnachtlichen Wochen und Tage und der Abschluss der Handlung durch eine Routineformel: ‚Frohe Weihnachten‘. Viel könnte man dazu sagen, insbesondere auf die Pragmatik von Grußformeln im Allgemeinen eingehen, mit Coulmas (1981: 81-82) die Situationsabhängigkeit von Routineformeln noch einmal erörtern und sich fragen, inwiefern ‚Frohe Weihnachten‘ wie ‚Fröhliche Weihnachten‘ (Coulmas 1981: 99) funktioniert und Beispiel für Konventionalität formelhafter Rede ist. Auch könnte man Fragen der Politeness diskutieren und wahrscheinlich ließen sich dabei einige kluge Beobachtungen anstellen. Ich möchte ‚Frohe Weihnachten‘ allerdings allein in einer spezifischen Kontextualisierung betrachten, die ich aufgeklärte Unsicherheit nenne, und die sich für jeden einstellen kann, der in multikulturellen bzw. diversen Kontexten seine wahrscheinlich vorhandenen monokulturellen, identitätsverbürgten Gewissheiten in Frage stellt. ‚Frohe Weihnachten‘ mag ja dort eine freundliche Geste sein, wo Weihnachten gefeiert wird, aber wo können wir unter Fremden davon schon fest ausgehen, in einer pluralen Gesellschaft, deren Bevölkerung unterschiedlichste Werte teilt und auch in ihren religiösen Überzeugungen, wo es solche gibt, divers ist. Manche*r mag reflexartig am ‚Frohe Weihnachten‘ fest- 24 Ingo H. Warnke halten wollen, doch man verhält sich dann wie jemand, der mit seinem analogen Schlüssel ein digitales Passwort einzugeben versucht. Zugang zum Anderen erreicht man auf diesem Weg nicht verlässlich. Man lernt sich vielleicht in irgendeiner Eigenschaft kennen, allerdings in Praktiken, die Homogenitätserwartungen vor die Akzeptanz möglicher Unterschiede setzt. Selbstverständlich können Routineformeln, wie alle sprachlichen Zeichen in neuen Kontexten, ihre Bedeutungen und Funktionen ändern, sie erhalten andere Werte in neuen Zusammenhängen. Eine retrospektive Affirmation von ‚Frohe Weihnachten‘ im Sinne eines dumpfen Reflexes - das hat man hier schon immer so gesagt - wäre angesichts dessen töricht. Zumal es dieses ‚schon immer‘ wohl auch nie gegeben hat. Und so geht es beim Froheweihnachtensagen um mehr als eine (un)angemessene Formel, es geht um Fragen der Positionierung in einer breiten Debatte um die Anerkennung sozialer Diversität (vgl. dazu Spitzmüller/ Flubacher/ Bendl 2017). Mindestens in den großstädtischen liberalen Milieus hat es sich herumgesprochen, dass nicht alle Menschen Ende Dezember Weihnachten feiern - was dann auch bedeutet, dass ein solches Weihnachtsbuch wie das vorliegende eine recht spezifische Adressierung hat. Eine Routineformel wie ‚Frohe Weihnachten‘ wird dabei schnell von einer überkommenen, mehr oder weniger herzlich gemeinten Wunschformel zum Positionierungsinstrument bzw. besitzt indexikalische Bedeutung als Emblem sozialer Werte (vgl. Agha 2003). Angesichts dessen gilt es beim Froheweihnachtensagen oder dem Verzicht darauf, von einer Freiheit Gebrauch zu machen, auch anders sprechen zu können - wohlgemerkt: nicht zu müssen. Nicht in Positionierungsnotwendigkeiten der Zeitläufte zu tappen und Mauern um mühsam gezüchtete Ausdrucksweisen zu errichten oder an die Mauern der Anderen unsere bestätigenden oder infragestellenden Taggs und Hashtags zu heften, sondern die Möglichkeit zu ergreifen, so zu reden, dass wir einander immer wieder neu oder überhaupt einmal zuhören können und uns anerkennen in unseren Unterschieden. Und hier komme ich auf Bergson zurück. Die verbale Freiheit, die ich meine und die routiniertes Verhalten als fragwürdig erscheinen lässt, ist in meiner Lesart das linguistische Pendant zu Bergsons Rede vom Lebensschwung ( élan vital ): „Der Lebensschwung , von dem wir sprechen, besteht aufs ganze gesehen in einem Schöpfungsverlangen“ (Bergson 1907/ 2013: 285). Nicht die Regeln abgrenzbarer Richtigkeiten eines wie immer gearteten Sprechens weist uns den Weg zueinander, sondern das schöpferische Potential einer immer wieder neuen Suche nach der je angemessenen Ausdruckweise, das, was wir sprachliche Kreation nennen können und was immer kontingent bleibt. Daran müsste im Übrigen auch gedacht werden, sollte es bald überhaupt nur noch Onlineshopping geben. Andernfalls werden nämlich Algorithmen längst identifiziert haben, in welchen 1 Eine Frage stellen in aufgeklärter Unsicherheit 25 Kleingarten sie ihr Geschenk via Drohne abzuwerfen haben und welche identitätsbezogene Grußkarte daran zu heften ist, frei von Instinkt und jenseits der Sympathie, aber sicher passend. Kurz, es geht um die Frage, sollen wir nun Fremden beim Shopping ‚Frohe Weihnachten‘ wünschen oder nicht. Zunächst sollten wir dieser Frage ihre deontische Dringlichkeit nehmen, denn niemand soll oder muss hier irgendetwas tun. Es sollte uns nicht um politische Korrektheit gehen, sondern um die Möglichkeit eines Nachdenkens über ein grundsätzliches ethisches Anliegen, die Adressierung der Rede an die Anderen. Einander mit Sympathie zu begegnen, könnte uns immerhin kreativer machen, als eine hier und da vielleicht gar nicht so passende Routineformel zu setzen. Dies gilt umso mehr, wenn ‚Frohe Weihnachten‘ etwa vs. ‚Frohe Festtage‘ etc. mehr ist als eine Routineformel, sondern Mittel der einschließenden oder ausschließenden sozialen Registrierung (Spitzmüller 2013). Die Frage, welche Firmengrußkarte nun angemessen ist oder was man noch sagen darf/ soll/ kann usw. finde ich dabei sehr viel weniger interessant als die Frage, wie es uns gelingt, den Anderen zu begegnen. Und das tut not. Routineformeln haben in homogenen Gesellschaften die Funktion der Stabilisierung von Wertgemeinschaften. Ändern sich diese durch Säkularisierung, religiösen Pluralismus und Orientierungsdifferenzierungen, werden sie nicht nur zu fossilierten Ausdrucksweisen, die nur noch milieuspezifisch unhinterfragt bleiben können und eine allgemeine Bedeutung schließlich nur noch als Träger der Patina vergangener Tage besitzen, sie führen auch zu unnötigen Zuspitzungen des Aneinandervorbeiredens. Ich plädiere dafür, wo immer man es möchte, ‚Frohe Weihnachten‘ zu wünschen, aber sich zugleich öfter zu fragen, ob man das überhaupt möchte und was man damit bezweckt. Und ob der gute Wunsch, wenn es um diesen geht, hier und da nicht anders und noch viel passender auszudrücken wäre. Instinktiv die alternative Rede bedenken, denn Instinkt ist Sympathie. Ich denke hier an das Konzept der Konvivialität von engl. conviviality . Im Englischen bedeutet es soviel wie Geselligkeit und auch Fröhlichkeit, die nicht zuletzt im ‚Frohe Weihnachten‘ mitgegeben sind. Ich verstehe Konvivialität mit Paul Gilroy (2005: xv) als eine Haltung radikaler Offenheit, die geschlossenen Identitätskonzepten eine Absage erteilt und uns auf die unvorhersehbaren Mechanismen der Identifikation hinweist, „the always unpredictable mechanisms of identification“. Nicht die Identität als jemand mit seinen Routineformeln führt uns zu den Anderen, sondern kreative und sympathiegetragene Identifikationen, die von uns selbst und unseren Gewissheiten hinwegführen. Insofern hilft hier Sprachkritik nicht weiter, sondern die Frage, wie das, was wir sagen, für Andere klingt. Ich spreche auch von Cantabilität und verstehe darunter den Klang unserer Rede „als Folge 26 Ingo H. Warnke einer intendierten Strukturierung von Material (…), mit der Absicht, eine an den Hörer bzw. Leser gewandte Angemessenheit und verändernde Kraft der Sprache zu suchen, die sich atomistischer Rezeption entzieht“ (Warnke 2020: 147-48). Cantabilität ist insofern das Potential eines Textes, ein Gegenüber jenseits atomistischer Keywordsuche zu erreichen und zu ändern, eine Wirkung zu entfalten, die über Informationsvermittlung hinausreicht. Cantabilität ermöglicht damit die Grenzerfahrung einer „Ent-Subjektivierung“ im Sinne Michel Foucaults (…); eines von uns selbst fortgehenden, reichen Klangs (…). (Warnke 2020: 148) Unser Wunsch an die Anderen beim Shoppen vor Weihnachten ist eine Gelegenheit, es auch einmal klingen zu lassen, unsere vermeintliche Identität in Konvivialität hinter uns zu lassen, uns kreativ und sympathisch mit Anderen, etwas oder einer Situation zu identifizieren und Cantabilität zu üben. Linguistisch gewendet wäre statt eines routinierten Wunsches der einfachste Weg dorthin, auch einmal eine für den Augenblick passende Frage zu stellen, und sei sie noch so beiläufig. Feste sind ein guter Ort und eine gute Zeit, dies auszuprobieren, den einen oder anderen intuitiv geeigneten Ergänzungsfragesatz zu formulieren, wo es einem auf der Zunge liegen könnte, ‚Frohe Weihnachten‘ zu sagen. Wohlgemerkt, es geht ums Shoppen, im trauten weihnachtsgeübten Familienkreis am Heiligen Abend mag das alles noch ganz anders sein, wenngleich auch hier die eine oder andere Frage die Konvivialität fördern kann, wie immer diese dann auch aussieht. So bleiben wir, um Bergson ein letztes Mal zu erwähnen, im Lebensschwung. Die aufgeklärte Unsicherheit im Verlust routinierten Sprachverhaltens ist am besten transformiert in konviviales Handeln, wenn wir mehr fragen. In einer Linguistik des Zuhörens (Warnke 2020b) könnte man sich dafür stark interessieren. Wenn Weihnachten wieder einmal näher rückt, wird es Zeit, Fragen zu stellen; das Anerkennen unserer Unterschiede gehört dann dazu. Literatur Agha, Asif. 2003. The Social Life of Cultural Value. Language & Communication , 23(3-4), 231-273. Bergson, Henri. 1907/ 2013. Schöpferische Evolution . Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Hamburg: Meiner. Coulmas, Florian. 1981. Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik . Frankfurt/ M.: Athenäum. Spitzmüller, Jürgen. 2013. Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung. Zeitschrift Für Diskursforschung - Journal Für Discourse Studies (3), 263-287. 1 Eine Frage stellen in aufgeklärter Unsicherheit 27 Spitzmüller, Jürgen/ Flubacher, Mi-Cha/ Bendl, Christian. 2017. Soziale Positionierung: Praxis und Praktik. Wiener Linguistische Gazette 81, 1-18. Warnke, Ingo H. 2020a. Über Cantabilität. The Mouth . Special Issue 4. Worte, Stimmen, Räume: Eine Einladung, 142-168. Warnke, Ingo H. 2020b. Zuhören und der Andere. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 16 (2/ 3), 110-117. 0 0 0 2 Nicht nur zur Weihnachtszeit: Die Bedeutung zahlt der Empfänger Michael Beißwenger & Steffen Pappert Bedeutung ist, was man draus macht. Das gilt für sprachliche Äußerungen gleichermaßen wie für Äußerungen, die mittels Bildzeichen realisiert werden. Beim Handeln mit Sprache wird das, was aus einer Äußerung „herausgelesen“ werden kann, durch die wechselseitige Unterstellung von Kooperation und in diesem Zusammenhang einer Befolgung syntaktischer Konventionen für die Komposition von Satz- und Ausdrucksbedeutungen gesteuert. Für die Entscheidung, welchen Handlungswert und welchen Beitrag zur Weiterentwicklung des laufenden Kommunikationsgeschehens mit dem Gegenüber wir einer Äußerung zuschreiben, beziehen wir zudem Wissen zur Situation und zur Partnerin bzw. zum Partner in unser Deuten ein. Im Falle des Handelns mit Bildzeichen, wie es sich gegenwärtig in Praktiken der Emoji-Verwendung in Kommunikationsdiensten und Plattformen wie WhatsApp-Chats, Facebook, Twitter oder Instagram beobachten lässt, können wir uns nicht auf syntaktische Konventionen stützen. Bildzeichen tragen auch keine stabile, Kontexte übergreifende Bedeutung, wie wir das für Wörter als Einheiten des Wortschatzes gewohnt sind. Die Bedeutung einzelner Zeichenformen wird damit in hohem Maße kontextabhängig und situationsgebunden. Ausschlaggebend für die Interpretation von Äußerungen, die ausschließlich mit Bildzeichen operieren, sind ganz wesentlich das mit der Partnerin bzw. dem Partner geteilte Wissen zum Anlass und zum Thema der Interaktion sowie die Verhaltenserwartungen, die wir unserem Gegenüber abgeleitet aus vorgängigen Kommunikationserfahrungen und geteilter Biographie zuschreiben. Die Bedeutung „zahlt“ somit - eine Metapher aus einem Songtext Marcus Wiebuschs aufgreifend - in noch stärkerer Weise die Empfängerin bzw. der Empfänger der Nachricht als das im Falle sprachlicher Äußerungen der Fall ist: 1 Was eine Dialogäußerung, die ausschließlich aus Emojis zusammengesetzt ist, bedeutet, entscheidet die Adressatin bzw. der Adressat, indem sie/ er die viel- 1 Mit der Textzeile „Die Bedeutung zahlt immer der Empfänger“ wollten wir schon länger einmal einem Beitrag zum Thema Emojis überschreiben. Das Zitat ist dem Song „Teil des Plans“ aus dem Album „Hallo Endorphin“ der Gruppe …But Alive entnommen. Wir danken Marcus Wiebusch für die Inspiration. 30 Michael Beißwenger & Steffen Pappert fältigen Assoziationen, die sich an die enthaltenen Bildzeichen knüpfen lassen, mit Kontextwissen und Annahmen über die Motivationslage der Partnerin oder des Partners „verrechnet“. Dabei kann man sich gehörig missverstehen und aneinander vorbeireden. Es verwundert daher nicht, dass sich in Chats, die z. B. über Anwendungen wie WhatsApp geführt werden, längere Passagen, in denen ohne Sprache und nur über Emojis kommuniziert wird, typischerweise nur dann finden, wenn dies explizit spielerisch motiviert ist. Der nachfolgende Dialog veranschaulicht das. Der Dialog wurde von den beiden Verfassern per WhatsApp „erchattet“. Verabredet war der Versuch, sich ausschließlich mittels Emojis sinnvoll verständigen zu wollen. Hypothesen über das vom Gegenüber Mitgeteilte und Intendierte sowie Intentionen hinsichtlich der eigenen Dialogbeiträge wurden parallel zum Verlauf des Chats von den Beteiligten unabhängig voneinander notiert. Die hier wiedergegebene Repräsentation des Interaktionsereignisses wurde nachträglich aus dem gespeicherten Chatverlauf sowie den schriftlichen Notizen der beiden Beteiligten rekonstruiert. Für den linguistischen Hintergrund, vor dem dieser Dialog entstanden ist (und in dem es u. a. darum geht, warum man nur mit Emojis nicht in gleicher Weise kommunizieren kann wie mit Sprache), verweisen wir auf Beißwenger/ Pappert (2020a, 2020b). Man kann den Dialog aber auch ganz vortheoretisch auf sich wirken lassen - eben getreu dem Motto: „Die Bedeutung zahlt der Empfänger.“ 2 Nicht nur zur Weihnachtszeit: Die Bedeutung zahlt der Empfänger 31 CHATVERLAUF „Frohe Weihnachten, Alter“ 2   Er war wegen Weihnachten beim Frisör?  Er denkt, ich sei beim Friseur gewesen und hätte mir einen Guildo- Horn-Scheitel setzen lassen.    „Du hast die Haare ab? “ „Nein, ich war nicht beim Friseur! “   Ihm ist es peinlich, extra für Weihnachten beim Friseur gewesen zu sein.  Aber nett: Er wünscht mir und meiner Familie frohe Weihnachten (auch wenn, wie er eigentlich weiß, dass keines der vier Familienmitglieder blond ist).    „Euch jedenfalls ein frohes Fest“ 2 Die Darstellung ist wie folgt zu lesen: In der mittleren Spalte steht der Chatverlauf. Jede Zelle der Spalte gibt ein Posting wieder, so wie es zwischen den beiden Beteiligten per WhatsApp ausgetauscht wurde. Grau unterlegt sind je Zeile das Posting sowie die paraphrasierte Äußerungsintention des zugehörigen Produzenten (in Anführungszeichen). Die Paraphrase wurde vom jeweiligen Produzenten unmittelbar nach Verschickung des Postings aufnotiert und war dem Kommunikationspartner während des Chats nicht zugänglich. Kursiv wiedergegeben sind die Hypothesen des jeweiligen Adressaten über den Inhalt des Postings und über die Äußerungsintention seines Produzenten. Die Hypothesen wurden ebenfalls chatbegleitend von den beiden Beteiligten (links: MB, rechts: SP) individuell notiert, und zwar unmittelbar nach Erhalt des betreffenden Postings, und waren dem jeweils anderen nicht zugänglich. Horizontale Pfeile symbolisieren den Zusammenhang von Äußerungsabsicht, Kommunikat (Posting) und Rezeption (verbalisierte Deutungshypothese); vertikale Pfeile symbolisieren den Übergang von der Deutung der Partneräußerung zum eigenen Folgehandeln. 32 Michael Beißwenger & Steffen Pappert CHATVERLAUF „Du weißt ja: Bilder sind schnelle Schüsse ins Gehirn (sensu Kröber-Riel). Aber was das Gehirn in Ermangelung sprachlicher Äußerungsanteile draus macht, ist bunt und vielfältig.“  ( )  Was soll das jetzt? Der Lehrer meint, Bilder seien schnelle Schüsse ins Gehirn. Der Rest ist Schweigen bzw. löst sich in Wohlgefallen auf.  Aha. Er hat also meine Kröber-Riel-Referenz und die Anspielung auf die von uns 2019 daraus gezogenen Schlüsse erkannt: Ohne Sprache spielt sich das Gehirn auf wie ne Diva.   „Ist wohl so, mehr kann ich nicht sagen; außer: Die Gedanken sind frei.“ Und Weihnachten hängt ihm wohl voll zum Halse raus.    „Weihnachten nervt übrigens.“ „Na gut, mein Bester, Weihnachten hin oder her! Aber durch den Titel des von Konstanze Marx herausgegebenen Bandes sind wir nun mal auf das Thema Weihnachten verpflichtet! “  ( ) ( )  Aha, er versteht mich. Der nach oben verweisende Finger bezieht sich wohl auf den kryptischen Teil seiner letzten Nachricht, den ich eh nicht kapiert habe.  Er möchte wissen, ob meine Frau und ich grade unterwegs sind, um einen Tannenbaum zu kaufen.    „Anja und meiner einer gehen jetzt Baum kaufen“ 2 Nicht nur zur Weihnachtszeit: Die Bedeutung zahlt der Empfänger 33 CHATVERLAUF „Was für ne blöde Frage! Wir sind natürlich Eulen nach Athen tragen! “   Ihr Idioten, das ist ja, als trüge man Eulen nach Athen. „lol“   Er lacht sich über seinen offensichtlich nicht komischen Witz schlapp. (16 Stunden Pause) „Guten Morgen! “   Der Mann steht zu früh auf. „Wie geht’s dir heute? “   Er macht sich fit für den 24.  Er ist todmüde, kann es aber nicht fassen, dass es Geschenke gibt.    „Ich bin müde, muss aber noch Geschenke kaufen.“ „Was hattest du denn auf deinem Wunschzettel? “   Er fragt, was auf dem Elfen- (wohl Wunsch-) Zettel steht.  Ein Rennauto, ein Fahrrad und ein Ufo.    „Einen Rennwagen, ein Fahrrad und ein Ufo.“ „Wow! Ich habe mir natürlich Weltfrieden gewünscht.“   Er will den Weltfrieden.  Heiliges Licht der Sonnenblume? Jetzt gibt er den Naturmystiker!    „Peacer.“ 34 Michael Beißwenger & Steffen Pappert CHATVERLAUF „Hä? ? ? ! “   Versteht er nicht. „Fahrt ihr über die Feiertage weg? “   Unternehmen wir eine Reise?  Aha, sie planen ein Picknick. Ein FLEISCH- Picknick.    „Nö. Wir essen, bis wir platzen.“ „Picknick im Winter? ? “   Warum versteht er das nicht? Und wieso Schneemann? „lol“   Ah, ein Witz. Sie fahren von Weihnachten bis Neujahr nach Tschechien in die Berge zum Skifahren.    „Nach dem Fressen geht’s zum Skifahren in die tschechischen Berge“ „Cool! Aber bitte brich dir nicht das Bein! “   Kälte ist gut. Fahrt bitte langsam, sonst Bein - und das wäre zum Kotzen.  OK, die feiern da offenbar irgendwas. Oder stehen beim Sekttrinken Kopf. Oder trinken Sekt in Australien, wer weiß das schon.   „Prost. Wir stoßen aus der Ferne an.“ Jedenfalls gut, dass wir drüber geredet haben. Oder wie man im Pott sacht: Sprechen hilft.  2 Nicht nur zur Weihnachtszeit: Die Bedeutung zahlt der Empfänger 35 CHATVERLAUF  ... oder im Schwäbischen: Mr muss hald mit dr Leud schwätze. also wie schon gesagt: Schöne Weihnachten, alte Frise!   Dir auch, Hals- und Beinbruch! Fühlen Sie sich eingeladen, durch vergleichbare, eigene Experimente spielerisch auszuloten, was Emojis für die schriftliche, interaktional intendierte Kommunikation leisten und wo ihre Grenzen liegen. Für Sprachskeptikerinnen und -skeptiker, die in Emojis eine Bedrohung abendländischer Schriftkultur, womöglich gar der Sprache als Kommunikationsträgerin insgesamt, vermuten, mag das sogar eine wohltuende Entspannungsübung sein. Nicht zuletzt eignet sich der Versuch eines Dialogisierens ausschließlich mit Emojis als kreativer Einstieg in eine Reflexion über Spezifika internetbasierter Kommunikation im Deutschunterricht. Emojis können bestimmte Formen schriftlicher Kommunikation bereichern - aber nicht ersetzen. Stattdessen tragen sie dazu bei, Äußerungsintentionen in schriftlicher Kommunikation erkennbar und die Beziehung zum Gegenüber sichtbar zu machen (vgl. Beißwenger/ Pappert 2019, 2020c). Achten Sie bitte darauf, wenn Sie Ihren Lieben in diesem Jahr Weihnachtswünsche per WhatsApp, Twitter, Facebook, Insta- oder Telegram übermitteln! Literatur Beißwenger, Michael/ Pappert, Steffen. 2019. Handeln mit Emojis. Grundriss einer Linguistik kleiner Bildzeichen in der WhatsApp-Kommunikation . Duisburg: UVRR. Beißwenger, Michael/ Pappert, Steffen. 2020a. Sprachverfall durch Emojis? Eine pragmalinguistische Perspektive auf den Beitrag von Bildzeichen zur digitalen Kommunikationskultur. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 16, 32-50. Beißwenger, Michael/ Pappert, Steffen. 2020b. Warum Emojis keine Wörter sind - aber wichtige Einheiten der Interaktion. In: Gür-Seker, Derya (Hrsg.). Wörter, Wörterbücher, Wortschätze. (Korpus-)Linguistische Perspektiven. Duisburg: UVRR, 116-134. 36 Michael Beißwenger & Steffen Pappert Beißwenger, Michael/ Pappert, Steffen. 2020c. Small Talk mit Bildzeichen. Der Beitrag von Emojis zur digitalen Alltagskommunikation. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 50 (1), 89-114. Open Access: http: / / link.springer.com/ article/ 10.1007/ s41244-020-00160-5 0 0 0 3 Frohe Weihnachten ★ Καλά Χριστούγεννα Matthias Meiler & Alexandros Apostolidis Jemandem Glückwünsche auszusprechen, ist eine vielgestaltige Praktik. Die Gelegenheiten und Anlässe, zu denen sie geäußert werden, sind so unterschiedlich wie zahlreich. Die jeweiligen sozialen Beziehungen und Gruppen, die Glückwünsche nötig oder möglich machen, und die medialen Formate, derer man sich dafür bedienen kann oder sollte, setzen dieser Praktik die Bedingungen, in denen sie ihre je angemessene Ausgestaltung erfährt. In ihrem Kern bleibt freilich eine Sache konstant: die guten Wünsche für den*die andere*n - kommuniziert in Text und Bild, in Rede und Geste, mit Handschlag oder Umarmung, per WhatsApp oder Postkarte, mit Brief oder E-Mail, am Telefon oder über Skype. Schon hier gibt es international bzw. interkulturell deutliche Unterschiede: So soll in Großbritannien bspw. ein einzelner Haushalt - statistisch betrachtet - jedes Jahr 150 Grußkarten erhalten. 1 Es werden sogar Karten ‚von‘ Hunden und an Hunde versendet. In Deutschland zeigt sich demgegenüber keine solche Ausdifferenzierung oder Spezialisierung der Weihnachtspostkarte. Aber Weihnachtswünsche per Post zu versenden, lag nach einer Umfrage von über 14-Jährigen im Jahr 2010 mit 52 % immerhin ‚noch‘ auf Platz 2 (nach dem Telefon mit 75 %). 2 In Griechenland werden Weihnachtswünsche, wenn sie per Postkarte ausgesprochen werden, typischerweise mit einem wohltätigen Zweck verbunden, indem i. d. R. Karten von Hilfsorganisationen (wie z. B. von Το Χαμόγελο του Παιδιού / Das Lächeln des Kindes) gekauft werden. Zudem schreibt man Postkarten kaum im privaten Kontext. Vielmehr pflegen Unternehmer*innen und Politiker*innen in der Weihnachts- und Silvesterzeit damit ihre Netzwerke. Sicherlich betreffen Glückwünsche (wie auch in unserem Fall) ein tatsächliches Ereignis, an dem sie sich möglichst erfüllen sollen. Da man jedoch anders als bei einem Versprechen selten Einfluss auf die Verwirklichung des Gewünschten hat, richtet sich das Äußern von Glückwünschen beinahe primär 1 Vgl. Rach, R.: „Die erste gedruckte Weihnachtskarte. Vor 175 Jahren. DLF Kalenderblatt , 05.12.2018, <https: / / www.deutschlandfunk.de/ vor-175-jahren-die-erste-gedruckte-weih nachtskarte.871.de.html? dram: article_id=435058> 2 Vgl. Rach, R.: „Die erste gedruckte Weihnachtskarte. Vor 175 Jahren. DLF Kalenderblatt , 05.12.2018, <https: / / www.deutschlandfunk.de/ vor-175-jahren-die-erste-gedruckte-weih nachtskarte.871.de.html? dram: article_id=435058>. 38 Matthias Meiler & Alexandros Apostolidis auf die soziale Beziehung zwischen den Kommunizierenden und auf ihre Pflege. Weil jede Art von Beziehung hier ihre eigenen Anforderungen hat, erscheint es besonders wichtig, immer den richtigen Ton zu treffen. Nicht zuletzt deswegen hat sich auch für das ‚richtige‘ Glückwünschen eine Ratgeberliteratur entwickelt - die selbstverständlich auch für Weihnachten guten Rat zu erteilen weiß. So lesen wir bspw. in einem Ratgeber jüngeren Datums: „Die Weihnachtszeit ist eine Zeit der besonders herzlichen Glückwünsche. Gefühlvolle Wörter wie ‚Liebe‘, ‚von Herzen‘, ‚innig‘, ‚besinnlich‘, ‚herzlich‘ dürfen im Glückwunschkontext nicht fehlen“ (Rosenbauer 2007: 28). Das gelte auch für die eher formellen Kontexte, in denen man z. B. Geschäftspartner*innen Wünsche ausspricht. Für diese Anlässe findet man im selben Buch die Formel: „Nicht zu forsch oder kühl formulieren“ (Rosenbauer 2007: 20). Welche Aspekte in solchen Ratgebern besondere Hervorhebung finden, sagt i. d. R. viel über eine Kultur aus - ohne dabei unbedingt zu dokumentieren, wie diese ist, als vielmehr wie einzelne sie gern sehen. In welcher Weise Glückwünsche kommuniziert werden, kann in jedem Falle in Verbindung gebracht werden mit jenen Werten und Normen, die eine Kultur (insbesondere auch für die Gestaltung von sozialen Beziehungen) relevant setzt. Über einen Vergleich erschließen sich diese dabei am prägnantesten. Interessanterweise scheint sich in der griechischen Ratgeberliteratur eine Sparte für das richtige Glückwünschen nicht herausgebildet zu haben. Demgegenüber findet sich entsprechendes für deutsche Glückwunschpraktiken bereits im 19. Jh. Buschs Glückwunschbuch für Kinder, in der Erstauflage 1896 erschienen, empfiehlt neben Versen und Liedern Postkartenwünsche und Geschenkaufschriften in folgender Form: „Weihnachtsgruß für meine herzliebe gute Mutter am 25. Dezember 19 . . von ihrem gehorsamen Sohne Karl“ (Busch 1896/ 1926: 86). Oder: „Dem liebevollen, guten Vater aus Dank und Freude am Heiligen Abende gewidmet von seiner Tochter Else. Köln, den 24. Dezember 19.“ (Busch 1896/ 1926: 86). Das Feld des Glückwünschens ist erkennbar weit und vielschichtig. Wir wollen uns deswegen hier auf einen begrenzten Ausschnitt, gewissermaßen auf den Kern der Praktik, konzentrieren: nämlich auf jene Glückwunschformeln, die im Deutschen und Griechischen heute üblich sind. Aus diesen kommunikativen Routinen wird auch der unterschiedliche Stellenwert ersichtlich werden, den Weihnachten in Deutschland und in Griechenland hat. Beziehungskommunikation ist typischerweise am Anfang oder am Ende von Kommunikationsepisoden besonders ausgeprägt (zum Forschungsfeld der Beziehungskommunikation siehe Holly 2001). Wenn man sich (nach mehr oder weniger langer Zeit) trifft und wenn man (für mehr oder weniger ungewiss lange Zeit) auseinander geht, verständigt man sich immer auch gegenseitig über 3 Frohe Weihnachten ★ Καλά Χριστούγεννα 39 die Art und Enge der zwischenmenschlichen Beziehung, in der man sich befindet, indem man z. B. mehr oder weniger herzliche (s. o.) Worte wählt, sich die Hand gibt, sich umarmt oder (die Wangen) küsst etc. Weil Glückwünsche, wie oben bereits gesagt, zu einem großen Teil v. a. der Beziehungspflege dienen, nisten sich diese auch maßgeblich in die Anfangs- und Endphasen von Gesprächen, Chats, Telefonaten etc. ein. Das bekannte ‚Reinfeiern‘ stellt für diese Kommunikationsroutine eine Ausnahme dar, da hier das zu bewünschende Ereignis in der Kommunikationsepisode selbst stattfindet (und zwar zu einem festgelegten Zeitpunkt: nämlich Mitternacht), anstatt über das Glückwünschen in der Kommunikation thematisiert zu werden. Sollte diese Thematisierung einmal nicht an der präferierten Stelle, d. h. gleich zu Anfang einer Interaktion, geschehen sein, wird ein solches Versäumnis i. d. R. eigens markiert: indem z. B. mittels „ach“ angezeigt wird, dass man sich dieser sozialen Verpflichtung gerade erinnerte. So beginnt ein gewisser Konstantin am 25. Dezember 2018 seine zweite Nachricht in einem WhatsApp-Gruppenchat unter Kommiliton*innen mit: „Ach und frohe weihnachten/ nen paar schöne Feiertage wünsche ich euch […]“. 3 Natürlich ist das Aussprechen von Glückwünschen immer auch ein Anlass aktiv gesuchter Einzigartigkeit. Denn nicht zuletzt können wir mit individuell zugeschnittenen und kreativ formulierten Glückwünschen in besonderer Weise die Wertschätzung des Gegenübers und damit der Beziehung zu ihm*ihr zum Ausdruck bringen. Die Spielräume dieser sprachlichen Individualisierung scheinen bisher noch unerforscht zu sein. Unser Vergleich muss sich daher auf die konventionellen Formen konzentrieren. Dabei ist es naheliegend, bei jenen Wörtern zu beginnen, die das Fest in beiden Sprachen benennen: das Weihnachten & τα Χριστούγεννα (‚ta Christúgena‘ 4 ). Im Deutschen haben wir es - etymologisch betrachtet - mit einer Dativ-Pluralform zu tun, die einer Zeitangabe entstammt ze den wīhen nahten . Die ausschlaggebenden Bestandteile dieser Form wurden bereits im Mittelhochdeutschen des 14. Jh. als Grundform verwendet (Kompositum: wīhenachten ), so wie wir es heute auch tun. Diesem Kompositum wird spätestens im 16. Jh. das grammatische Geschlecht Neutrum regelhaft zugeordnet - vermutlich in Analogie zu das Weihnachtsfest . Erst 200 Jahre später wird die feminine Grundform die Weihnacht gebräuchlich, die heute als stilistisch markiert gilt. Zur ursprünglichen Bedeutung liest man im KLUGE: „Die Betonung der Nacht geht wohl auf die christliche Liturgie zurück, der Plural bezieht sich darauf, dass mehrere Tage gefeiert wurde […]. Ein Zusammenhang mit einem älteren germanischen 3 Datensatz #Qhswl aus der MoCoDa² , 2020, <https: / / db.mocoda2.de/ >. 4 Wir versuchen mit einer an der deutschen Schreibung orientierten Umschrift die griechische Aussprache so gut es geht wiederzugeben, ohne auf eine IPA-Transkription, die i. d. R. nur von Expert*innen lesbar ist, zurückgreifen zu müssen. 40 Matthias Meiler & Alexandros Apostolidis Fest ist denkbar, aber nicht besonders wahrscheinlich“ (Kluge: 987). Heute kann die Semantik des Wortes - gerade auch aufgrund der Geschichte der Wortform (s. o.) - nicht mehr als durchsichtig betrachtet werden. Die übliche Bedeutungsangabe thematisiert die Tageszeit deswegen i. d. R. nicht: „christliches Fest, das die im Neuen Testament berichtete Geburt Christi feiert (25. Dezember)“. 5 Und ob die heutigen großen und kleinen Sprecher*innen angesichts der Tatsache, dass dieses Fest mittlerweile global, kultur- und mitunter religionsübergreifend begangen wird, gerade an jene, eben zitierte Informationen denken, wenn sie das Wort verwenden, kann man vermutlich bezweifeln. Demgegenüber ist die griechische Bezeichnung etwas sprechender. Auch hier liegt ein Kompositum vor. Dieses setzt sich zusammen aus der Genitivform von ο Χριστός (‚o Christós‘) und dem Wort für Geburt η γέννα (‚i géna‘). Wie im Deutschen kann es auf eine Phrase, nämlich auf η Χριστού γέννα (‚i Christú géna‘, wörtlich: Christi Geburt) zurückgeführt werden. Dass das daraus zusammengesetzte Kompositum nicht die grammatischen Eigenschaften von γέννα (‚géna‘, Geburt) hat (nämlich Genus Femininum und Singular), ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei τα Χριστούγεννα natürlich nicht um ein einfaches Kompositum handelt, das man wörtlich einfach mit die Christusgeburt übersetzen könnte. Am Artikel τ α wird ersichtlich, dass eine Pluralform eines Wortes mit dem Genus Neutrum vorliegt. Bereits im Altgriechischen war es üblich, religiöse Feste auf diese Weise (Plural Neutrum) zu benennen: So verfügt der Name für die Feste zu Ehren von Dionysos τά Διονύσια (‚ta Dionísia‘) 6 ebenfalls über die Eigenschaften Plural Neutrum. 7 Mit einer Plural-Neutrum-Form wurden sowohl im Lateinischen wie auch im Griechischen auch die Saturnalia / τά Σατουρνάλια benannt. Das Fest zur Winteraussaat wurde im Römischen Reich traditionell im Dezember gefeiert. Als man im 4. Jh. begann, am 25. Dezember Weihnachten zu feiern, hat man sich wahrscheinlich nicht nur im Datum, sondern auch in der Benennungspraxis für religiöse Feste am genannten Vorbild orientiert. In der oben beschriebenen Form ist das Wort τά Χριστούγεννα (‚ta Christúgena‘, das Weihnachten) aber zum ersten Mal erst in Texten von Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos (905-959) belegt (Babiniotis o. J.). In seiner heutigen, lexikologisch festgehaltenen Bedeutung gleicht das griechische Χριστούγεννα dem deutschen Wort Weihnachten beinahe vollständig. Das Triantafyllidis-Wörterbuch definiert es als „das Fest der Geburt von Chris- 5 „Weihnachten“, Eintrag im DWDS , 2020, <https: / / www.dwds.de/ wb/ Weihnachten>. 6 Im Altgriechischen erscheint τά mit Akzent, im Neugriechischen ohne. 7 „Dionysia“, Eintrag im Online Liddell-Scott-Jones Greek-English Lexicon , 1940, <http: / / ste phanus.tlg.uci.edu/ lsj/ #eid=28083>. 3 Frohe Weihnachten ★ Καλά Χριστούγεννα 41 tus, die man am 25. Dezember feiert“ (eigene Übersetzung). 8 Nichtsdestotrotz ist für die Sprecher*innen des Neugriechischen der innere Aufbau des Kompositums durchsichtiger als das bei Weihnachten für Sprecher*innen des Deutschen der Fall ist. In einem Wörterbuch für Griechisch als Fremdsprache wird daneben noch eine weitere Dimension des Wortgebrauchs angeführt: „Wir nennen Χριστούγεννα die Tage kurz davor und kurz nach dem Weihnachtstag“ (eigene Übersetzung). 9 Auf Deutsch spräche man von der Weihnachtszeit . Weihnachten gilt in Deutschland gemeinhin als mit Abstand wichtigstes Fest des Jahres. Zu diesem Anlass soll man - sprachlich betrachtet - vor allem eines sein: froh bzw. fröhlich . Deutsche Weihnachtswünsche richten sich mit diesen Adjektiven also typischerweise auf das Empfinden der Bewünschten. Mit den drei Wörtern Und fröhliche Weihnachten! enden in den letzten Tagen vor Weihnachten Gespräche häufig; v. a. wenn absehbar ist, dass man sich bis dahin nicht noch einmal trifft. Ein Gefühl der Hochstimmung, eine innere Heiterkeit 10 soll damit für die Verabschiedeten zu Heiligabend und an den zwei Weihnachtsfeiertagen vorherrschend sein. Deutlich unspezifischer ist Schöne Feiertage! (‚schön‘ kann neben der Stimmung immerhin noch anderes mehr sein), was sich gegenüber Frohe bzw. Fröhliche Weihnachten jedoch nicht auch zur Begrüßung eignet. Als nur scheinbar unspezifisch ist die Wunschformel Frohes Fest! zu verstehen. Man hört sie eigentlich nur zu Weihnachten - dem Fest der Feste! Im Gespräch wie ebenso auch auf Postkarten begegnet einem eine Formel mit deutlich größerem Zielbereich, eine Formel nämlich, die in der Lage ist, die sog. Zeit zwischen den Jahren zu umklammern: Frohe Weihnachten und ein gesundes neues Jahr! Wohl vornehmlich im Bereich der Schriftlichkeit anzutreffen, sind Wünsche für besinnliche Weihnachtstage oder für ein gesegnetes Fest . Hier ist sprachlich die Ruhe und innere Einkehr noch präsent, die mit der Adventszeit (i.e.S.) und schließlich der Ankunft Jesu Christi auf Erden verbunden wird. Freilich handelt es sich dabei aber um einen Wunsch, der sich ebenso gut auch für die durchkapitalisierte (Vor-)Weihnachtszeit nicht-religiöser Weihnachtsfeiernder eignet. 8 „Χριστούγεννα“, Eintrag im Λεξικό της Κοινής Νεοελληνικής (Wörterbuch der Neugriechischen Koiné), 1998, <http: / / www.greek-language.gr/ greekLang/ modern_greek/ tools/ lexica/ triantafyllides/ search.html? lq=χριστούγεννα&dq=>. 9 „Χριστούγεννα“, Eintrag im Λεξικό της Ελληνικής ως ξένης γλώσσας για μαθητές της δευτεροβάθμιας εκπαίδευσης (Wörterbuch Griechisch als Fremdsprache für die Sekundärschule ) , Universität Athen, 2007, hier S. 649. 10 So die typische Bedeutungsangabe zum Wort „Freude“, Eintrag im DWDS , 2020, <https: / / www.dwds.de/ wb/ Freude>. 42 Matthias Meiler & Alexandros Apostolidis Das Griechische kennt im Vergleich zum Deutschen für alle nur denkbaren Anlässe konventionalisierte Wunschformeln. Für die Weihnachtszeit z. B. besonders brauchbar ist Καλή χώνεψη ! (‚Kalí chónepsi! ‘), womit nach den Mahlzeiten (wörtlich) eine gute Verdauung gewünscht wird. Aber auch speziell für die Weihnachtszeit und die Zeit um den Jahreswechsel herum finden sich fein ausdifferenzierte und stark formelhafte Glückwünsche. Obwohl Weihnachtstraditionen aus dem deutschsprachigen Raum (wie Lieder und Dekoration) seit der Herrschaft des bayerischen Königs Otto (1815-1867) in Griechenland weit verbreitet und auch heutzutage noch immer üblich sind, zeigt sich in der Sprachlichkeit von griechischen Glückwünschen ein deutlicher Unterschied zu den deutschen. Das typische Wunsch-Attribut ist im Griechischen καλός (‚kalós‘), mit der schlichten Bedeutung ‚gut‘. Eine Abweichung davon, im Sinne individualisierender Variation, ist kaum anzutreffen. Das Muster ist so weit verbreitet, dass es einem in allen nur denkbaren Wunsch-Kontexten begegnet, so z. B. in Καλή γυμναστική! (‚Kalí gimnastikí! ‘, wörtlich: Guten Sport! ) oder Καλό καθάρισμα! (‚Kaló kathárisma! , wörtlich: Gutes Putzen! ). Mit Bezug auf den 25. Dezember kann man sich diesem Muster entsprechend Καλά Χριστούγεννα! (‚Kalá Christúgena! ‘, wörtlich: Gute Weihnachten! ) wünschen und damit, wie oben schon erläutert, den Festtag anlässlich Christi Geburt fokussieren. Dass dieser Tag für sich allein betrachtet in Griechenland aber gar nicht so zentral ist - in der orthodoxen Tradition ist das Osterfest ohnehin viel wichtiger - sieht man an einer anderen üblichen Wunschformel: Die Griechisch-Orthodoxe Kirche fasst mit den sog. Zwölf Tagen ( το δωδεκαήμερο , ‚to dodekaímero‘), die sich vom 25. Dezember bis zum 5. Januar erstrecken, das Feiern der Geburt Jesu zusammen mit verschiedenen anderen Festen, wie z. B. den Tag des Heiligen Basilius. Epiphanias am 6. Januar, eines der wichtigsten Feste Griechenlands, schließt unmittelbar an. Dieser gesamte Zeitraum ist gemeint, wenn man den Wunsch Καλές γιορτές! (‚Kalés giortés! ‘, wörtlich: Gute Feste! ) ausspricht; demgegenüber ist im Deutschen mit Schöne Feiertage ja nur ein Bruchteil dieses Zeitraums gemeint (s. o.). Parallel zu den deutschen Wünschen für eine gesegnete Weihnachtszeit findet man auch im Griechischen Formeln wie Καλό δωδεκαήμερο (‚Kaló dodekaímero‘, wörtlich: Gute zwölf Tage! ) und Ευλογημένο δωδεκαήμερο (‚Eflogiméno dodekaímero‘, wörtlich: Gesegnete zwölf Tage! ), die im speziellen die zwölf Feiertage fokussieren und stark religiös konnotiert sind. In diesem Zwölf-Tages-Zeitraum ist es aber ebenso üblich, sich eines griechischen Glückwunsch-Passepartouts zu bedienen, das bspw. auch zum Geburts- oder Namenstag wie auch zu Mariä Verkündigung oder Mariä Himmelfahrt verwendet werden kann: Χρόνια πολλά! (‚Chrónia pollá! ‘). Wörtlich übersetzt wünscht man dem Gegenüber damit ‚viele Jahre‘, also ein langes Leben. So wäre 3 Frohe Weihnachten ★ Καλά Χριστούγεννα 43 eine Gesprächseröffnung mit den Worten Γεια σου, Δημήτρη μου, χρόνια πολλά! (‚Giá su, Dimítri mu, chrónia pollá! ‘, wort-wörtlich: Gesundheit dir, Dimítris mein, der Jahre viele! ) nicht nur zur Weihnachtszeit möglich. Schon in der alltäglichen Begrüßungsformel Γεια σου (‚Giá su‘, distanzierter mit σας/ ‚sas‘, Ihnen), die üblicherweise mit Hallo (bzw. Guten Tag) übersetzt wird, steckt ja ein spezifischer Wunsch: Γεια bzw. γεια geht zurück auf υγεία (‚igía‘, Gesundheit). Dass in der Anrede das Possessivum μου (mein) dem Namen Dimítris folgt, gibt eine enge zwischenmenschliche Beziehung zum Angesprochenen zu verstehen. Es folgt der schon erwähnte Wunsch für ein langes Leben ( χρόνια πολλά , ‚chrónia pollá‘). Zur Weihnachtszeit lautete eine angemessene Übersetzung für diese so übliche wie flexible Begrüßungsformel dann also: Hallo, mein lieber Dimitris, frohe Weihnachten! Obwohl - wie eingangs gesagt - das Aussprechen von Glückwünschen zu einem großen Teil dem Ausgestalten und Bestätigen der sozialen Beziehung zwischen den Kommunizierenden dienen mag, sagen uns die konkreten sprachlichen Gestalten, die den Kern der weihnachtlichen Glückwunschpraktiken ausmachen und mit Hilfe derer die Beziehungsarbeit geleistet wird, doch viel darüber, welche Rolle das Weihnachtsfest in beiden Ländern spielt. Während die griechischen Wünsche eine viel stärkere Bindung an religiöse Inhalte und Hintergründe reflektieren als die deutschen, steht das Fest dort in einem umfassenderen Kontext religiöser Praktiken, als das die deutschen Wünsche sprachlich widerspiegeln würden. Dieser Kontext religiöser Praktiken schreibt dem Weihnachtsfest in Griechenland aber gleichzeitig nicht den Status zu, das wichtigste Fest des Jahres zu sein, als das es in Deutschland durchaus verstanden werden kann. Aus solchen sprachlichen Fakten kann natürlich nicht einfach abgeleitet werden, welche Relevanz in beiden Sprachgemeinschaften Religion jeweils hat. Die im Deutschen und Griechischen unterschiedlichen Glückwüsche reflektieren aber, dass das gemeinsame Fest ‚Weihnachten‘ in je andere gesellschaftliche Traditionen und Praktiken eingebettet ist, die eigene Charakteristika aufweisen und eigene Gewichtungen vornehmen. Literatur Babiniotis, Georgios. o. J. Χριστουγεννιάτικα της γλώσσας / με πολλές ευχές, www.ba biniotis.gr/ lexilogika/ leksilogika-2/ 478-xristougenniatika-tis-glossas-me-polles-efxes Busch, Adolf. 1896/ 1926. Das Glückwunschbuch . 16. Aufl. Berlin: Schultze. Holly, Werner. 2001. Beziehungsmanagement und Imagearbeit. In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolfgang/ Sager, Sven F. (Hrsg.). Text und Gesprächslinguistik. Bd.-2 . Berlin/ New York: de Gruyter, 1382-1393. 44 Matthias Meiler & Alexandros Apostolidis Kluge, Friedrich. 2011. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Auflage. Berlin/ Boston: de Gruyter. Rosenbauer, Frank. 2007. Grüße und Glückwünsche. Wie sage ich’s richtig? Planegg/ München: Haufe. 0 0 0 4 Weihnachtswünsche im deutsch-italienischen Vergleich Die kulturlinguistische Perspektive Silvia Bonacchi 1 Weihnachtswünsche Während man in Deutschland zu Weihnachten Frohe Weihnachten, mein Schatz! sagt, heißt es in Italien: Buon Natale, carissimo! Nicht nur an den wichtigsten Feiern - dazu gehört Weihnachten - pflegen wir unseren Teuren Glückwünsche (in Italien: auguri ) auszusprechen. Glückwünsche sind Mittel der Beziehungsgestaltung bei wichtigen Anlässen: Zum Geburtstag, zur Taufe, zur Hochzeit, zum Gelingen einer Prüfung oder einer Sportleistung, zu einer beruflichen Entwicklung wünschen wir uns nah stehenden Menschen Glück, Erfolg, Liebe, Gesundheit oder das gute Gelingen des Unternehmens. Aus der Sicht ihrer propositionalen Struktur können sich Glückwünsche aber sehr unterscheiden: von komplexen syntaktischen Konstruktionen bis zu formelhaft standardisierten Nominalphrasen. Oft werden Glückwünsche vom performativen Verb „wünschen“ eingeleitet, manchmal wird dieses vorausgesetzt - so etwa im Deutschen: Ich wünsche euch einen schönen Abend ! vs. Schönen Abend! , im Italienischen: Vi auguro una buona serata ! vs. Buona serata ! Wünsche verblassen manchmal zu Routineformeln, wie etwa Grußformeln, die anfänglich als Wunschformeln entstanden sind: Ich wünsche dir einen guten Tag ! -> Guten Tag ! Ich wünsche dir guten Appetit ! -> Guten Appetit ! Glückwünsche sind aber keine Gelegenheitssprüche, sondern kommunikative Einheiten, die das Resultat einer kulturellen Schichtung sind - denn Kultur ist nicht etwas Einheitliches, sondern wie Gesteine das punktuelle Ergebnis eines immer fortlaufenden Sedimentationsprozesses menschlichen Tuns und menschlicher Sinngebung -, in der Vergangenheit ein Zeichen des Wohlwollens der Götter für die Menschen und heute ein Zeichen der positiven Anteilnahme an einem Ereignis der Person, die sie ausspricht, und die von Empfänger*innen 46 Silvia Bonacchi überwiegend als freudig empfunden werden. Glückwünsche, das kennen wir alle aus unserem täglichen Sprachgebrauch, machen eine Reaktion erforderlich. Wir nehmen sie entgegen, bedanken uns etc. In der Interaktionslinguistik spricht man von einer Sequenzstruktur, wenn man einen Glückwunsch und die Reaktion auf den Glückwunsch als eine Einheit betrachtet. Aus der Sicht dieser Sequenzstruktur kann unser*e Adressat*in unsere Glückwünsche entgegennehmen - dies auch nach bestimmten Regeln der Antwort (meist einer Danksagung) und der Erwiderung (meist eine eventuell verstärkte Wiederholung) - oder nicht - vor allem durch Nichtachtung dieser Regeln der Gegenseitigkeit. Große Feste, wie etwa Weihnachten, verlangen Rituale, die eine Kulturgemeinschaft verbinden. Zu den wichtigsten Ritualen an Weihnachten gehört der Austausch von Geschenken, und Glückwünsche sind ein tief sprachlich kodiertes „verbales Geschenk“, das mit Erwartungen verbunden (wer wem was wie wann wünscht) ist und bestimmten kommunikativen Regeln unterliegt. 2 Was machen wir, wenn wir jemandem etwas wünschen bzw. Glückwünsche aussprechen? Was machen wir eigentlich, wenn wir Glückwünsche aussprechen? Wie wirken wir auf den Gesprächspartner und auf die Welt? Aus pragmalinguistischer Perspektive, die das Sprechen als eine Form des Handelns in der Welt betrachtet, haben Glückwünsche eine komplexe illokutionäre Struktur. Glückwünsche sind eine besondere Form des Wünschens, d. h. Propositionen, die im Rahmen einer deontischen Modalität zukunftsorientiert und dialogisch ausgerichtet sind: Etwas, das dem Adressaten bzw. Gratulierten zugutekommt, soll/ kann/ muss passieren. Glückwünsche stellen also keine Assertive dar, sondern sind eher als supportive expressive Sprechakte zu betrachten, die den Zustand des Sprechers und insbesondere seinen Wunsch, Freude beim Adressaten hervorzurufen, ausdrücken (Larrieta Zulategui 2015: 293). Manchmal haben sie auch eine direktive handlungsleitende Komponente - p(roposition) , dass H(örer) h(andlung) macht; p(roposition) , dass E(reignis) passiert. Im deutschen performativen Verb wünschen und im italienischen augurare lässt sich aus der Sicht ihrer Wortgeschichte ein semantisches Spannungsfeld erkennen, das die kulturelle Breite des Aktes gut erfasst. Das Wort wünschen , ähnlich wie das Englische wish , leitet sich vom indoeuropäischen * ųen- ab (in der Bedeutung „streben“) mit dem indoeuropäischen Inchoativsuffix -sk(e/ o)in der Bedeutung „erstreben“. 1 Das italienische Verb augurare und das Substantiv 1 https: / / www.heinrich-tischner.de/ 22-sp/ 2wo/ wort/ idg/ deutsch/ w/ wunsch.htm (letzte Einsicht: 18.08.2020) 4 Weihnachtswünsche im deutsch-italienischen Vergleich 47 augurio (meist in der Pluralform auguri verwendet) leitet sich vom Lateinischen augurium ab. Gemeint ist damit die Weissagung der Auguren, die im alten Rom die Aufgabe hatten zu ergründen, ob ein geplantes Unternehmen den Göttern genehm sei. Durch die Deutung der Zeichen ( signa bzw. auguria ) verkündete der Augur den Götterwillen, den er erkannte durch die Auspizien 2 - etwa aus dem Flug und dem Geschrei der Vögel und anderer Tiere. Das augurium ist also eng mit der Hoffnung verbunden, dass der Mensch in Harmonie mit dem Willen der Götter seine Entscheidungen trifft und mit dem Vorzeichen, dass in diesem Vertrauen immer etwas Gutes eintritt. Hier bahnt sich also ein Spannungsfeld an zwischen dem augurium als Beweis, dass in der Deutung des Willens der Götter der Mensch seine Götternähe bezeugt, und dem Wunsch als Bestrebung, dass etwas eintritt. 3 Die magische Kraft des Wortes Indem wir jemandem etwas wünschen, enthüllen wir uns als Menschen, die an die magische Macht des Wortes glauben: Das gesprochene Wort kann die Welt beeinflussen. In diesem Sinne treten die Glückwünsche in die Nähe der Zaubersprüche, die eine magische Wirkung hervorbringen sollen - ähnlich wie der berühmte „Hals- und Beinbruch! “ bei den Prüfungen, der wie „der gute Rutsch ins Neue Jahr“ noch vom deutsch-jiddischen Sprach- und Kulturkontakt zeugt. 3 Dem Aussprechen des Zauberspruchs liegt die Überzeugung zugrunde, dass die magische Perfomativität des Spruchs die Welt ändern kann (Haeseli 2011). Glückwünsche können also als eine Art moderne Beschwörungstexte betrachtet werden. In der vorchristlichen, heidnisch-germanischen Frühzeit dienten Zaubersprüche dazu, sich durch die Macht des gebundenen Wortes die magischen Kräfte dienstbar zu machen. Heidnische Zaubersprüche sind dann zu christlichen Heilsegen geworden, die im Mittelalter oft als verbale Therapie durch die Mönchärzte gepflegt wurden (Ernst 2011). Der Zauberspruch kann einen Dämon jagen, der für das Entstehen einer Krankheit verantwortlich ist. Wünsche des Glücks, der Gesundheit, des Erfolgs, die wir zu Weihnachten und anderen Gelegenheiten aussprechen, verraten noch dieses magische Substrat, das weiter- 2 Das lateinische auspicium bedeutet ,Vogelschau‘. Auch das Wort augure leitet sich ab von der Verbindung von av-is/ au-is (Vogel) und gero (machen, leisten). 3 Hals- und Beinbruch geht auf das hebräische hazlacha uwracha (= „Erfolg und Segen“) zurück. Dieser Glückwunsch wurde von Juden beim Abschluss eines Geschäfts in der jiddischen Form hazloche und broche ausgesprochen und von deutschsprachigen Zuhörern als Hals- und Beinbruch verstanden. Einen guten Rutsch ins Neue Jahr ! geht auf den jiddischen Gruß ‚gut Rosch! ‘ (vom hebräischen Wort für ‚Kopf, Start, Anfang, Beginn‘) zurück, später im Deutschen rekontextualisiert und verballhornt. 48 Silvia Bonacchi hin im Menschen lebt, als wolle der Mensch auch heute die Dämonen jagen, die seinem Glück im Wege stehen können. Von diesem magischen Substrat zeugt auch der Weihnachtsbaum, der an die immergrünen Pflanzen erinnert, die in heidnischen Kulturen ein Symbol für Fruchtbarkeit und Lebenskraft waren. 4 Am Beispiel von Weihnachtswünschen: Pragmatische Angemessenheit interkulturell betrachtet Weihnachtswünsche können aus festen standardisierten Formeln bestehen (wie etwa Frohe Weihnachten ! und Buon Natale ! ) ohne bzw. mit vorausgesetztem performativem Verb, oder komplexere Textformen haben. Im Rahmen der nicht standardisierten Formen wird im Deutschen bisweilen auf ad-hoc-komponierte strophische Formen zurückgegriffen, wie etwa: Strahlend hell und wunderbar, so sei für Euch das nächste Jahr! Freude und Besinnlichkeit, das wünschen wir in der Weihnachtszeit ! 4 im Italienischen greift man eher auf argumentative Konstruktionen, wie etwa: Ti abbraccio e ti auguro di trovare sotto l’albero tanta gioia, felicità e amore. Che sia un Natale unico ed indimenticabile. Auguri di buon Natale! 5 Nun stellt sich in einer immer mehr globalisierten Welt die Frage, welche Schwierigkeiten im Austausch der Weihnachtswünsche in der interkulturellen Kommunikation auftreten können. Es handelt sich dabei vor allem um die pragmatische Angemessenheit und um die Fehleranfälligkeit (Miodek 1994, Vivaldi/ Larreta Zulategui 2019). Standardisierte Glückwünsche sind Gegenstand der pragmatischen Phraseologie, die sich mit dem Phänomen der Realisierung der Sprechakte durch Redemittel der formelhaften Sprache bzw. der Routineformeln beschäftigt. Routineformeln sind alleinstehende Wörter oder festgeprägte und plurilexikalische Wortketten, die oft innerhalb einer mehr oder weniger ritualisierten und alltäglichen Situation für die Durchführung eines Sprechaktes benutzt werden. Durch diese Einheiten kann der*die Sprecher*in nicht nur grüßen oder sich entschuldigen, sondern auch Glückwünsche äußern (Burger 1998: 29, 52). Manchmal kommt es in der interkulturellen Kommunikation zu Prozessen der Anpassung und der Aneignung durch uneigentliche Verwendung der fremdsprachlichen Routinen. Das ist der Fall bei der schon erwähnten Verballhornung 4 www.weihnachtsgedichte24.de/ weihnachtswuensche2.html (letzte Einsicht: 18.08.2020) 5 https: / / www.frasimania.it/ auguri-buon-natale-frasi/ 4 Weihnachtswünsche im deutsch-italienischen Vergleich 49 bei ‚Hals und Beinbruch’ und ‚ein guter Rutsch ins Neue Jahr’ (s. hier Fußnote 3), wo eine feste fremdsprachliche Redewendung angepasst, reinterpretiert und rekontextualisiert wird. Zu Weihnachten stehen den Mitgliedern der italienischen und der deutschen Sprachgemeinschaft bestimmte prototypische Weihnachtswünsche zur Verfügung. Oft wird der*die Adressat*in (im Kontext der Familie oder des Freundeskreises) durch appellative Formen explizit genannt. Im Folgenden seien einige Grundformen der am meisten rekurrierenden Formeln präsentiert, die wiederum variiert werden können. Im Italienischen haben wir: 6 Tanti auguri, (carissimi)! Buon Natale (a Voi)! (Auguri di un) Felice Natale! Buone Feste (a te e alla tua famiglia)! Auguro a te e famiglia una felice festa di Natale! Buon Natale e un augurio di buona salute e tanta felicità! Normalerweise werden Weihnachtswünsche mit den Glückwünschen zum Neuen Jahr gekoppelt: Felice anno nuovo! Relativ selten greift man heutzutage im Italienischen auf religiös tradierte Glückwünsche außerhalb ausgeprägt kirchlicher Kontexte zurück. Die häufigste Form ist Santo Natale! , das oft in breitere propositionale Strukturen eingebettet wird: Che la pace, la gioia e la serenità del Santo Natale scenda su di te e su tutta la tua famiglia! 7 Diese Grundstrukturen können variieren mit elativen Formen: Tantissimi auguri ! Felicissime feste ! und Ergänzungen mit Wunschsätzen, die prototypisch von che- … / lasciate che- … (+ Konjunktiv) eingeleitet werden, wie etwa: Tantissimi auguri! Che il Natale possa portare nella vostra casa armonia, pace e serenità! Lasciate che la magia del Natale pervada le vostre anime, accendendo l’amor nei vostri cuori. Buon Natale! Ti auguro di trovare sotto l’albero tanta gipia, felicità e amore. Che sia un Natale unico e indimenticabile. Auguri di Buon Natale! Natale è arrivato. Possa la tua casa essere piena di risate, felicità, armonia, pace e amore. Buone feste! 6 https: / / www.frasimania.it/ auguri-buon-natale-frasi/ 7 https: / / www.frasiepensieri.it/ messaggi-di-auguri-di-natale-religiosi/ 50 Silvia Bonacchi Immer häufiger werden personalisierte Glückwünsche ausgesprochen: Questo Natale fatti il miglior regalo possibile: rimani come sei! Im Deutschen haben wir auch einige standardisierte Weihnachtswünsche. Neben das klassische Frohe Weihnachten ! tritt immer häufiger Frohe Festtage ! Frohes Fest ! - analog zum Italienischen Buone Feste ! -, das den arbeitsfreien Charakter der Feiertage betont. Auch im Deutschen haben wir oft eine Verbindung der Weihnachtswünsche mit den Wünschen für das Neue Jahr, wie etwa: Frohe Weihnachten und ein glückliches, erfolgreiches Neues Jahr wünsche ich Dir und Kathi! Fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr wünschen Euch Chris und Magda! Wir wünschen Euch fröhliche Festtage und einen guten Start ins Neue Jahr! Religiös orientierte Glückwünsche werden im Deutschen mitunter auch heute noch ausgesprochen: Ein gesegnetes und besinnliches Weihnachtsfest wünscht Euch Familie Müller! Frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr wünschen Ute und Heinz! Frohe Weihnachten! Möge Gott Dich heute und für das kommende Jahr segnen und beschützen! In der interkulturellen Kommunikation können solche Fehler auftreten: * buon augurio di Buon Natale 8 * Tutto bene per Natale! 9 * Gute Weihnachten und glückliches Neues Jahr! Viel Liebe dir und deiner Familie! 10 Sind das Fehler? Ich denke nicht - bestimmt keine pragmatischen Fehler. Der Adressat/ die Adressatin erkennt die kommunikative Intention des Sprechers/ der Sprecherin. 5 Schlusswort Heutzutage, wo seit Tausenden von Jahren niemand mehr den Flug der Vögel in Betracht zieht, um den Willen der obwaltenden Götter zu deuten, bleibt der Glückwunsch, der zu besonders feierlichen Anlässen geäußert wird, in unserer immer mehr säkularisierten Welt ein Zeichen der Sehnsucht nach der Magie des 8 Eigenes Korpus, deutscher Muttersprachler mit Italienisch B1 9 Eigenes Korpus, deutscher Muttersprachler mit Italienisch B1 10 Eigenes Korpus, italienischer Muttersprachler mit Deutsch A2 4 Weihnachtswünsche im deutsch-italienischen Vergleich 51 Wortes und das Zeugnis einer von Sprecher*in und Adressat*in geteilten Hoffnung, dass die Zukunft Gutes bereiten möge. Wenn wir unseren Mitmenschen Frohe Weihnachten wünschen, lassen die ausgesprochenen Worte ihre tiefe Schichtung und Ablagerung noch erkennen, wenn das Herz der Sprecher*innen und der Adressat*innen mitschwingen. Es ist der Abklang von Worten, die ein viel älteres Leben haben als diejenigen, die sie aussprechen. Auch in der säkularisierten Perspektive drückt das Aussprechen von Glückwünschen die Hoffnung aus, dass die Zukunft uns einen Zustand des Wohlbefindens bereitet, und genau dieser Wunsch ist der Ausdruck des - ob religiös motivierten oder nicht - Bedürfnisses vom Schutz vor den Übeln des irdischen Lebens und der Fragilität des menschlichen Daseins. Literatur Burger, Harald. 1998. Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Coulmas, Florian. 1981. Routine im Gespräch: Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik . Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion. Ernst, Wolfgang. 2011. Beschwörungen und Segen . Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau Verlag. Haeseli, Christa. 2011. Magische Performativität . Würzburg: Königshausen & Neumann. Larreta Zulategui, Pablo Juan. 2015. Zu den Wunschformeln der deutschen Sprache. Muttersprache 4/ 125, 290-309. Luger, Heinz-Helmuth. 2007. Pragmatische Phraseme: Routineformeln. In: Burger, Harald/ Dobrovol’skij, Dmitrij/ Kuhn, Peter/ Norrick, Neal R. (Hrsg.). Phraseologie / Phraseology. Ein internationales Handbuch zeitgenossischer Forschung , Bd. 1. Berlin/ New York: De Gruyter. 444-459. Miodek, Wacław. 1994. Die Begrüßungs- und Abschiedsformeln im Deutschen und im Polnischen. Heidelberg: Groos. Vivaldi, Valentina/ Larreta Zulategui, Juan Pablo. 2019. Die Wunschformeln: eine kontrastive Analyse zwischen Standardspanischem und -deutschem. Linguistica Pragensia (29/ 1) 47-66. 0 0 0 5 Der Weihnachtsbrief Thomas Spranz-Fogasy Regelmäßig, auf der Rückfahrt vom Sommerurlaub, so um den 10. September herum, begann für uns Weihnachten. Nicht die ganze Fahrt über, aber immer wieder, sangen die Kinder auf den Rücksitzen Weihnachtslieder. Und ich begann, im Kopf schon mal den Weihnachtsbrief zu formulieren. Der Weihnachtsbrief - eine Aufgabe, die mir seit Anfang der 1980er Jahre zusteht. Ein Kollege hatte mich drauf gebracht, mit seinem Weihnachtsbrief. Ausdrücklich als solcher tituliert, andere nennen das Jahresbrief, aus England, USA kommen Christmas oder Xmas Letters. Ich fand das eine gute Idee. Im Weihnachtsbrief wird Verwandten, Freunden und näheren Bekannten mitgeteilt, was im vergehenden Jahr so bei uns in der Familie passiert ist, welche Pläne sich erfüllt, welche sich nicht erfüllt haben. Es geht um Schönes und nicht so Schönes, Lustiges und Trauriges, Geburten und Tode, Krankheiten und Genesungen, Hochzeiten, Feste und Reisen, berufliche und sonstige Pflichten, Erfolge und Misserfolge, um Freunde und Anverwandte. Der Grundton des Weihnachtsbriefs soll dabei heiter sein, Negatives und Trauriges wird eher mal „verpackt“, aber sichtbar gelassen, für den, der es „lesen“ kann und will. Der eigene Anspruch ist auch, jedes Jahr eine eigenständige literarische Form zu entwickeln, z. B. mit einer Grundidee, wie die, das Geschehene aus der Sicht unserer Hauskatze zu schreiben. Und ein Foto muss dabei sein, eins, dass alle Familienmitglieder zeigt, gelegentlich auch eins nur mit den Kindern, neuerdings auch mal nur von uns Eltern; wenn nur drei (von Vieren) abgebildet sind, wird auf die Fotografin/ den Fotografen im Text eigens hingewiesen. Häufig ist es ein Reisefoto, von den großen Reisen. Das Foto ist immer rechts oben. Links daneben steht die Adresse, über beidem mittig und mit 18 Pt Schrift fett und kursiv: Petra , Lina , Rosa und Thomas Fogasy , Weihnachten [Jahr] . Und am Ende des Briefs steht dann noch im dito Format: Ein schönes Weihnachtsfest / / und ein / / Gutes Neues Jahr. In der Großfamilie hieß es dazu immer wieder mal „Ihr macht’s euch aber einfach, einen Brief schreiben, Kopien machen, fertig“ - wenn die wüssten! Sammeln, ordnen, Idee entwickeln, ein sprechendes Foto (aus)suchen, erste Version entwerfen, Familie drüber schauen lassen, zweite, dritte und später die finale 54 Thomas Spranz-Fogasy Version erstellen - es dauert einige Stunden und Tage, bis der Weihnachtsbrief seine fertige Gestalt erreicht hat, verpackt und versandt ist. Der große Anreiz besteht darin, ein ganzes Jahr auf eine Seite zu packen. Und nicht zu sehr zu schummeln mit der Schriftgröße (das war die ersten Jahre mit Schreibmaschine sowieso nicht drin); Times Roman 11 Pt bei 1-zeiligem Abstand war das kleinste Format, meist hat’s aber zu 12 Pt und 1,15 Zeilenabstand gereicht. Die Kosten: ca. 80 Briefe, 20 davon ins Ausland - alles kopieren (anfangs noch 20 Pfennig pro Kopie), eintüten, Briefmarken drauf oder - fürs Ausland - auf dem Postamt bekleben lassen. Im Lauf der Zeit wurde es immer einfacher (und billiger) durch den Emailversand; 20 Exemplare müssen trotzdem kopiert und eingetütet werden für die älteren, netzlosen Verwandten und Freunde. Der Weihnachtsbrief beginnt immer mit einer leisen Klage, dass schon wieder ein Jahr zu Ende geht, aber auch mit einem Verweis darauf, wie vollgepackt, schön oder traurig das vergehende Jahr war. Das geschieht mal mit einem literarischen Zitat wie „eins, zwei, drei im Sauseschritt …“ (Wilhelm Busch) oder „Wirklich schon wieder ein Jahr …“ (Reinhard Mey) oder auch mit einer Beschreibung der aktuellen Schreibsituation: „Da sitz ich nun ich armer Tor …“ (nach Faust). Oder es wird das Lebensgefühl des ganzen Jahres kondensiert: „Ein Glück, dass wir zu viert sind, so hat jede(r) ein eigenes Jahr und zusammen haben wir vier erlebt - und das war nötig anno Domini [ Jahr], wie hätten wir sonst die sprudelnde Ereignisflut bewältigen sollen. Wir können in diesem Brief nur eine Ahnung davon wiedergeben, ein tolles Jahr! “ [das Korrekturprogramm mahnt hier gerade an: „Versuchen Sie, Umgangssprache zu vermeiden“ und bietet für „tolles“ an: „großartiges“] Als nächstes folgt meist das wichtigste Ereignis des Jahres, eine Geburt, ein Todesfall, runde Geburtstage, manchmal auch nachträglich Wichtiges, das zwischen dem Verfassen des letztjährigen Weihnachtsbriefs und dem Jahresende geschehen ist, eine OP, ein Todesfall. Wenn aber die große Weltgeschichte wieder mal einen GAU hingelegt hat, haben wir das auch an dieser Stelle vermerkt: Tschernobyl, Balkankrieg, Golfkrieg, 9/ 11 … Und dann beginnt der eigentliche Bericht. Wer hat was gemacht, was ist passiert, was wurde erreicht, was verpasst, aufgeteilt in Berufliches, Hobbies, Beziehungen. Und dann die Reisen, sie waren und sind natürlich familiäre, gelegentlich auch berufliche Höhepunkte. Der letzte Absatz ist dann wieder eine Engführung und ein Ausblick auf die kommenden Tage, wie das Jahr ausklingen soll, auch, was im folgenden Jahr erwartet, ersehnt, erhofft wird und, ganz wichtig, eine Ansprache an die Empfänger des Weihnachtsbriefs, was wir ihnen für die Weihnachtstage, für das neue Jahr und überhaupt wünschen, und auch, was wir der Welt wünschen. 5 Der Weihnachtsbrief 55 Und, was wird draus? Wir halten viele Kontakte lebendig, über viele Jahre, in denen wir viele der Empfänger nicht sehen, nicht treffen, uns nicht einmal mit ihnen schreiben. Aber wie toll [und wieder meldet sich das Korrekturprogramm: „großartig“ soll ich schreiben], wenn man sich über viele Jahre hinweg nur per Weihnachtsbrief „trifft“ und dann, wie in einem Fall, nach 22 Jahren anknüpft, als ob es gestern gewesen sei. Im konkreten Fall am vorletzten Tag einer langen Reise durch den Westen der USA, in Santa Barbara. Am Strand die Erinnerung, dass ich hier doch Leute kenne, KollegInnen. John und Jenny Gumperz, ersterer damals 83, wollte ich die Kinder nicht zumuten, also habe ich die andere Kollegin, Dorothy Chun, angerufen, spaßeshalber. Sie hatte ich Anfang der 1980er Jahre im Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim kennengelernt. „Kommt doch heute Abend vorbei“, hieß es, und das taten wir. Die Kids erstmal eher widerstrebend, dann aber doch, ob eines riesigen 3x5 Meter Fernsehapparates, einer Nachbarschaft mit Jennifer Aniston und Brad Pitt und auch ob der lieben Kollegin und ihres Mannes wegen begeistert. Und am Ende des Abends dann die Einladung, sich beim nächsten Mal früher anzumelden, wir könnten bei ihnen auch wohnen - das haben wir dann drei Jahre später auch getan: Nach einem sehr schönen Abend haben wir am nächsten Tag die Hausschlüssel in die Hand gedrückt bekommen, wir sollten so lange bleiben, wie wir wollten, sie müssten jetzt nach San Francisco, ihrem Sohn beim Umzug helfen - dies alles eine Folge der Institution des Weihnachtsbriefs. Und es kommen Weihnachtsgrüße zurück, viele, fast hundert, manche als kurze Karten, Briefe, Flyer, aber viele ausführlichere - und, ja, eine ganze Reihe: Weihnachtsbriefe, mit Informationen, die wir anders nie erfahren würden, manch Tragisches, viel Schönes und viele Grüße. Alle Grußschreiben hängen dann überm Kamin bei uns, oft ist die ganze Wand zugehängt. Und sie hängen dann bis nach dem Sommerurlaub (s. o. erste Zeile), dann werden sie radikal abgenommen, nochmal gesichtet. Die Schnüre, an denen alle Weihnachtsgrüße mit Klammern befestigt werden, bleiben, es lohnt sich ja nicht, denn in drei Monaten heißt es ja wieder …: „ja is’ denn heut’ scho Weihnachten? “ … 0 0 0 6 Weihnachtsansprachen Eine mentalitätsgeschichtliche Serie in 70 Folgen Simon Meier-Vieracker 1 Alle Jahre wieder-… In seiner kleinen Philosophie des Festes hat Odo Marquard (1989) das Fest als „Moratorium des Alltags“ bestimmt, als eine wiederkehrende, aber stets nur vorübergehende Aussetzung der Anforderungen und Routinen des Alltags. Das Weihnachtsfest - und man könnte das mit Blick auf die üblichen Arbeitsroutinen in unserer Gesellschaft sicher ausdehnen auf die sogenannte Weihnachtspause - scheint durch diese Differenzqualität gut charakterisiert. Jedes Jahr aufs Neue ist Weihnachten die Zeit, in der man - hoffentlich - nicht arbeitet, nicht pendelt, vielleicht sogar offline geht, und die stattdessen mit allerlei „ritualisierte[n] Formen festlichen Zusammenseins“ (Kopperschmidt 1999, 11) gefüllt wird. Die wohl typischste unter diesen Formen ist mit Sicherheit das Weihnachtfest im Familienkreis (Schüller/ Linke 2016, 2), das jede Familie mit ihren je eigenen Gepflogenheiten begeht. Doch auch die Politik hat ihre Weihnachtsrituale, und die Weihnachtsansprache, von der dieser Aufsatz handeln soll, nimmt unter diesen einen besonderen Platz ein. Die Weihnachtsansprachen, die seit Bestehen der Bundesrepublik von hohen politischen Amtstragenden (zunächst von den Bundeskanzlern und seit 1970 von den Bundespräsidenten 1 ) gehalten und massenmedial verbreitet werden, sind politische Reden, denen die genannte Differenzqualität des Weihnachtlichen in besonderer Weise eingeschrieben ist. Sie treten - stärker noch als die übrigen Reden insbesondere der vor allem mit repräsentativen Aufgaben betrauten Staatsoberhäupter - in Distanz zum politischen Tagesgeschäft und sind zumeist von einem Gestus des Innehaltens und der Besinnung geprägt. Der typische Zeitpunkt am Jahresende wird ähnlich wie in den Neujahrsansprachen der Bundeskanzler*innen häufig für eine Art Rückblick und Bilanz genutzt, die 1 Ich hoffe sehr, dass diese Formulierung schon bald gegendert werden muss, um noch sachlich korrekt zu sein. 58 Simon Meier-Vieracker sich schon dadurch vom Bilanzierten selbst distanzieren muss. Und als medial vermittelte Ansprachen, die alle an ihren privaten Empfangsgeräten hören oder auch sehen können, fügen sie sich zumindest von der Idee her in die familiären Formen des Zusammenseins ein. Zwar dürften die Zeiten vorbei sein, in denen sich landesweit die Familien vor dem Radio oder dem Fernseher versammeln, um die Weihnachtsansprache zu hören, nicht zuletzt wegen der internetbasierten Dissemination, welche die für ältere massenmediale Formate typische Gleichzeitigkeit der Rezeption aufhebt. Aber immer noch richten sich die Bundespräsidenten in ihren Ansprachen an die Mitbürgerinnen und Mitbürger in ihrer häuslichen Umgebung. Weihnachtsansprachen werden nicht etwa vor einer anwesenden Festgesellschaft gehalten und nur zusätzlich übertragen, sondern vorab und eigens für die Übertragung aufgezeichnet, meist in einem Ambiente, das mit den üblichen Weihnachtsutensilien wie dem Adventskranz den häuslichen Umgebungen angeglichen ist. Und so sind die Weihnachtsansprachen auch nicht einfach Verkündigungen oder Rechtfertigungen etwa politischer Maßnahmenpakete, sondern sie werden trotz der raumzeitlichen Zerdehnung der Kommunikationssituation als „eine Art Gespräch mit der Zuhörerschaft“ (Sauer 2001, 230) gestaltet. Auch der Bundespräsident feiert schließlich Weihnachten, so dass er eher für die anderen als zu diesen spricht (Kopperschmidt 1999, 14), die sich in ebenso festlicher, aber privater Atmosphäre befinden. Es handelt sich also bei den Weihnachtsansprachen um Festreden einer ganz besonderen Art, da sie als öffentliche politische Reden in eine familiär-private Alltagsenthobenheit hineinragen. Ihre linguistische Untersuchung ist ein reizvolles, aber bisher nur sehr punktuell durchgeführtes Unterfangen (Sauer 2001; zu Neujahrsansprachen Holly 1996). Dabei eröffnet gerade die Ritualhaftigkeit und alljährliche Wiederkehr der Weihnachtsansprachen besondere Analysemöglichkeiten, indem sich die Ansprachen zu einer lückenlosen Serie mit nunmehr bereits 70 Folgen verbinden. Gerade in der Serialität der Ansprachen lässt sich, gestützt durch quantifizierende Methoden, fragen, wie die Redner jeweils die besondere Aufgabe lösen, die Bevölkerung am Weihnachtsfest in eben jener Mittellage zwischen politischer Öffentlichkeit und festlicher Privatheit zu adressieren. Und es lässt sich fragen, wie sich dies möglicherweise über die Jahrzehnte verschiebt und wie sich die Ansprachen darum auch als Quellen einer bundesrepublikanischen Mentalitätsgeschichte lesen lassen. Datengrundlage für die folgenden Analysen bilden die jeweils publizierten Druckfassungen, die teilweise im Internet (auf bundespraesident.de sowie konrad-adenauer.de) und teilweise in den Publikationen des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung und anderen gedruckten Quellen verfügbar sind. Viele Bundespräsidenten halten zusätzlich eine Weihnachtsansprache an die Deutschen im Ausland, es wurde jedoch jeweils nur die Hauptansprache ins 6 Weihnachtsansprachen 59 Korpus aufgenommen. Das 73.857 Tokens umfassende Korpus wurde für die Analyse mithilfe des TreeTagger nach Wortarten annotiert und lemmatisiert. 2 Was eine typische Weihnachtsansprache ausmacht „Davon ausgehend, dass Weihnachtsansprachen gegenüber anderen politischen Reden eine besondere Typik aufweisen, lohnt sich zunächst ein vergleichender Blick auf die Weihnachtsansprachen insgesamt. Als Vergleichsgröße ziehe ich ein gut 2000 Texte umfassendes Korpus mit sämtlichen auf bundespraesident.de publizierten Reden der Bundespräsidenten seit Johannes Rau heran. Es handelt sich vor allem um Grußworte sowie um Festreden etwa im Rahmen von Gedenkfeiern. Eine kontrastierende Analyse verspricht hier also Aufschluss darüber, was die Weihnachtsansprachen von anderen politischen Reden der epideiktischen Gattung unterscheidet. Mein methodischer Zugang sind Keywordanalysen, welche in einem Untersuchungskorpus signifikant häufige und mithin typische Lexeme im Vergleich zu einem Referenzkorpus ermitteln (Culpeper/ Demmen 2015). 2 Dabei erweisen sich zunächst und erwartungsgemäß Ausdrücke wie Weihnachten , Weihnachtsfest , aber auch Licht , Krippe , Geburt , Liebe , Finsternis , Ruhe , Botschaft und Freude als typisch - Ausdrücke also, die auch in einer Weihnachtspredigt zu erwarten wären und sich hier wie dort zu charakteristischen Grundfiguren verbinden wie etwa dem Licht, das die winterliche Dunkelheit überstrahlt: „Jeder kann sich von der Freude anstecken lassen, die von dem Licht ausgeht, das in der Finsternis leuchtet.“ ( Johannes Rau 2002). Auch wenn sich nur einige Redner (und hier besonders der bekennende Katholik Konrad Adenauer) ausdrücklich auf christliche Werte berufen, spielt christliche Symbolik wenigstens auf dieser tiefensemantischen Ebene in allen Weihnachtsansprachen eine wichtige Rolle. Weiterhin finden sich viele Ausdrücke, die auf eine sehr allgemeine Weise die conditio humana adressieren. Mensch ist ein hochsignifikantes Keyword mit 383 Belegen insgesamt, das in den Ansprachen nicht nur als generischer Platzhalter etwa für die Bewohner*innen des Landes fungiert. Häufig finden sich auch regelrechte Wesensbestimmungen des Menschen in seiner Menschlichkeit, zu denen Weihnachten offenbar in besonderer Weise einlädt: „das Weihnachtsfest erinnert uns daran, dass wir Menschen Kraftquellen benötigen, um unser Leben immer wieder zu meistern“, so formuliert Joachim Gauck im Jahr 2015. Und ganz besonders die Sozialität des Menschen, dessen Wesen es ist, ein Mitmensch zu sein, wird immer wieder betont, sei es als Teil einer Familie , als Nachbar oder als Mitglied einer Gesellschaft insgesamt. Der Mensch wird als Teil von Sozial- 2 Keywords werden im Folgenden durch Kursivdruck gekennzeichnet. 60 Simon Meier-Vieracker verbünden bestimmt, deren Mitglieder füreinander da sind und einander zuhören und helfen : „Wir gehören zusammen. Wir stützen einander. Wir sind einander verbunden“ (Christian Wulf 2010). Über die weihnachtlichen Ausdrücke und jene, die das Menschsein als solches thematisieren, hinaus erweisen sich aber auch Ausdrücke als typisch, die eine politische Dimension einbringen. Schon das Wort Gesellschaft deutet darauf hin. Ein häufig wiederkehrender Topos ist zudem die Bezugnahme auf verschiedene gesellschaftliche Bedürfnisse wie bedrohte oder überhaupt fehlende Arbeitsplätze oder ganz allgemein die Not , deren Bewältigung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe bestimmt wird: „Wir alle tragen Verantwortung für die Mitbürger, die unverschuldet in Not gekommen sind.“ (Walter Scheel 1975). Und auch einige der zentralen politischen Schlagwörter, genauer: Hochwertwörter der Bundesrepublik wie Freiheit und Sicherheit werden in den Weihnachtsansprachen immer wieder verwendet (Sauer 2001, 230). Zumeist wird dabei ihr deontischer Bedeutungsgehalt subtil ausgenutzt, wenn etwa die „Erhaltung unserer Freiheit“ (Karl Carstens 1981) als politisches Ziel ausgezeichnet wird, das keiner besonderen Begründung mehr bedarf. Ihrer überparteilichen Stellung entsprechend - auch die Bundeskanzler bis 1969 präsentierten sich in den Weihnachtsansprachen gerade nicht als Parteipolitiker - verzichten die Redner dagegen sowohl auf innergesellschaftlich polarisierendes ideologisches Vokabular als auch auf polarisierende Bedeutungsaushandlungen. Statt der im politischen Tagesgeschäft üblichen semantischen Kämpfe steht hier die Bekräftigung geteilter Normen und Werte im Vordergrund. Zu diesem Befund passt schließlich auch, dass die Pronomen wir und unser höchstsignifikant sind und in den Weihnachtsansprachen noch einmal doppelt so häufig verwendet werden wie in den übrigen bundespräsidialen Reden. Durchgehend werden wir und unser inkludierend gebraucht und etablieren eine kollektivierende Wir-Perspektive, die zwar unterschiedlich weitreichende Kollektive adressiert (Meier 2018, 99), in die aber Redner wie Zuhörende gleichermaßen eingeordnet sind. Ein die Zuhörenden exkludierender wir -Gebrauch, wie er in den Neujahrsansprachen der Bundeskanzler*innen zur Bezugnahme auf die Regierung durchaus typisch ist („Dafür werden wir uns auch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr einsetzen“, Angela Merkel 2020), findet sich in den Weihnachtsansprachen dagegen überhaupt nicht. Die eingangs herausgestellte gesprächshafte Grundausrichtung der Ansprachen kommt in diesem wir -Gebrauch deutlich zum Ausdruck. Und so ist es auch aufschlussreich, dass das wir hier weniger kommissiv verwendet wird, sondern sich besonders häufig mit dem Modalverb wollen zu höchst konzilianten Adhortativen verbindet, mit der sich die Redner selbst in den Kreis der Aufgeforderten einbeziehen: „Dies alles wollen wir gerade um des lieben Friedens 6 Weihnachtsansprachen 61 willen nicht verdrängen, sondern in ruhigen Tagen über unser Zusammenleben nachdenken“ (Richard von Weizsäcker 1992). 3 Weihnachtsansprachen zwischen Politik und Moral Eine Charakterisierung der Weihnachtsansprache wie im vorangegangenen Abschnitt muss natürlich verallgemeinern und eben deshalb auch unvollständig bleiben. Zu groß ist der Zeitraum, aus dem die einzelnen Ansprachen stammen, und zu groß sind die Veränderungen der gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen, in denen sie entstanden sind. Darum sollen im nächsten Schritt die Weihnachtsansprachen untereinander kontrastiert werden. Auch hier wähle ich als Zugriff eine Keywordanalyse und kontrastiere jeweils ein nach Redner gebildetes Subkorpus mit dem Gesamtkorpus. Das, was ohnehin alle Weihnachtsansprachen gemein haben, rückt so in den Hintergrund zugunsten jener Ausdrücke, die für einzelne Redner und mithin ihre Amtszeiten typisch sind. So manche Veränderung in der gesellschaftlich-politischen Großwetterlage, aber auch der mentalitätsgeschichtlichen Gestimmtheit lässt sich an den für die einzelnen Redner typischen Wörtern ablesen. Bei Konrad Adenauer steht der noch junge und brüchige Frieden im Vordergrund in einer Nachkriegsgesellschaft, in der viele Menschen eine neue Heimat finden müssen. Stärker als alle anderen Redner nach ihm gestaltet er aber seine Ansprachen gleichsam als christliche Predigten, in denen wiederholt auf Gott Bezug genommen, Weihnachten ausdrücklich als christliches Weihnachtsfest ausgewiesen und die weihnachtliche Symbolik des Lichts variantenreich bedient wird. In einem durchaus nachkriegstypischen Fokus auf Innerlichkeit (Meier 2013, 207 f.) sind es denn auch der innere Friede und die Besinnung auf die innere Ordnung, die Adenauer zu Weihnachten in geradezu apolitischem Gestus anmahnt. Auch bei Ludwig Erhard stehen weniger realpolitische Fragen im Vordergrund als die nach dem „Sinn menschlichen Zusammenlebens“ (Ludwig Erhard 1965) und den Werten und Haltungen , welche für „unser Volk“ von Bedeutung sind. Georg Kiesinger hingegen, der ganz ausdrücklich im Namen der Regierung spricht, adressiert ausdrücklich die Nation und nimmt besonders die politischen Beziehungen zu anderen Ländern in den Blick. Nochmals realpolitischer wird Gustav Heinemann, bei dem angesichts der Ölkrise von 1973 die Volkswirtschaft in den Fokus rückt. Bei Walter Scheel lassen die Taten von Terroristen die Besinnung auf demokratische Werte wieder relevant werden, aber auch Arbeitslosigkeit und überhaupt allerlei gesellschaftliche Probleme sind wiederkehrende Gegenstände von Scheels Ansprachen. Auch Karl Carstens adressiert gesellschaftliche Herausforderungen, jedoch setzt er bei der Verantwortung der Einzelnen an, wenn er etwa an das notwendige „Gespräch zwischen den Generationen“ (Karl Carstens 62 Simon Meier-Vieracker 1980) erinnert, das bei aller Auseinandersetzung vom Respekt vor den Meinungen anderer geprägt sein soll. Richard von Weizsäckers Amtszeit fällt in die Zeit der Wende, in der das Verhältnis von Ost und West ebenso neu verhandelt werden muss wie die Referenz von Deutsche oder die Neuordnung von Europa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zugleich betont Weizsäcker aber auch die Anforderung, angesichts dieser Neuordnungen sich verstehen zu lernen . Vor allem dies greift dann auch Roman Herzog auf, der nach den politischen Umwälzungen der Wendezeit den Blick wieder stärker auf die moralischen Grundlagen der Gesellschaft lenkt wie Vertrauen , Mitmenschlichkeit und Gespräch , die im scheidenden 20. Jahrhundert als „entscheidende Stichworte für unsere Zukunft“ (Roman Herzog 1997) ausgegeben werden. Bei Johannes Rau verlangt dagegen die internationale politische Lage wieder besondere Aufmerksamkeit. Erstmals seit Kriegsende greift Deutschland auch wieder durch militärische Einsätze in das Weltgeschehen ein und lässt Soldaten ebenso wie zivile Helfer zu wichtigen Adressat*innen der Ansprachen werden. Dies setzt sich bei Horst Köhler fort, der den Soldatinnen und Soldaten , die sich „fern der Heimat im Dienst der Polizei oder der Hilfsorganisationen für Sicherheit und friedlichen Aufbau einsetzen“ (Horst Köhler 2009), regelmäßig besondere Reverenz erweist (man erinnere sich daran, dass gerade die Auslandseinsätze und seine Haltung dazu 2010 eine Debatte auslösten, die schließlich zu seinem Rücktritt führte). Bei Christian Wulff schlägt das Pendel dann wieder zurück zu den moralischen Grundlagen der Gesellschaft , die auf Zusammenhalt , Respekt , Anerkennung und Solidarität angewiesen ist - auch in Reaktion auf die 2011 aufgedeckten NSU-Morde. Bei Joachim Gauck rücken Flüchtlinge in den Fokus, vor allem aber der Terror , der im Jahr 2016 mit dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz auch in Deutschland ankommt, so dass Gegenmittel gegen Wut , Hass und Zorn notwendig werden. Und Frank-Walter Steinmeier richtet schließlich in Zeiten eines erstarkenden Rechtspopulismus den Blick auf die gefährdete Demokratie, welche auf das rechte Maß zwischen dem Recht auf Meinung und Streit angewiesen ist. Auf diesem Wege lässt sich also im Spiegel der Weihnachtsansprachen und ihren je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in ihren Bilanzierungen des zu Ende gehenden Jahres auch eine Geschichte der Bundesrepublik und ihrer normativen Selbstbeschreibungen zeichnen. Bei aller festlichen Distanz zum Alltagsgeschehen zeigt sich wenigstens in serieller Perspektive, dass sich gesellschaftlich-politische Ereignisse und Stimmungslagen in den Reden wiederspiegeln, die wie Seismographen auf entsprechende Veränderungen reagieren. Und es zeigt sich, dass diese zu verschiedenen Zeiten auf je verschiedene Weise Einfluss darauf nehmen, wie überhaupt das Politische Eingang findet in die familiär-private Festlichkeit. Während einige Redner recht sachlich und ereig- 6 Weihnachtsansprachen 63 nisorientiert die politischen Anforderungen der Gegenwart ansprechen, zielen andere eher auf die normativen Grundlagen des Zusammenlebens, die auch stärker die Einzelnen als moralisch Handelnde in die Pflicht nehmen. Dabei deutet sich auch eine Art Pendeleffekt an, der mal eher das Politische und mal eher das Moralische in den Vordergrund treten lässt. Das weihnachtliche Moratorium des Alltags ermöglicht auch der Politik Distanz zum Politischen, doch wird davon in je unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht. Und da man davon ausgehen kann, dass die Redner bzw. ihre Redenschreiber*innen die Vorgängerreden sehr genau studieren, um eigene Schwerpunkte entgegensetzen zu können, wird dieser Pendeleffekt womöglich gerade aus der Serialität der Redegattung heraus erklärbar. Literatur Culpeper, Jonathan/ Demmen, Jane. 2015. Keywords. In: Biber, Douglas/ Reppen, Randi (Hrsg.). The Cambridge Handbook of English Corpus Linguistics. Cambridge: Cambridge University Press. 90-105. Holly, Werner. 1996. Die sozialdemokratischen Bundeskanzler an das Volk. Die Ansprachen von Brandt und Schmidt zum Jahreswechsel. In: Böke, Karin/ Jung, Matthias/ Wengeler, Martin (Hrsg.). Öffentlicher Sprachgebrauch: Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Georg Stötzel zum 60. Geburtstag gewidmet . Opladen: Westdeutscher Verlag. 315-329. Kopperschmidt, Josef. 1999. Zwischen Affirmation und Subversion. Einleitende Bemerkungen zur Theorie und Rhetorik des Festes. In: Kopperschmidt, Josef/ Schanze, Helmut (Hrsg.). Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideikik. München: Fink. 9-21. (= Figuren). Marquard, Odo. 1989. Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes. In: Haug, Walter/ Warning, Rainer (Hrsg.). Das Fest. München: Fink. 684-691. Meier, Simon. 2013. Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20.-Jahrhundert. 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Falls Sie diese Frage mit „ja“ beantworten, versuchen Sie sich zurückzuerinnern, was genau der Anlass war, und wann Sie das Wörterbuch konsultiert haben. Und selbst wenn Sie in der letzten Zeit kein Wörterbuch zur Hand genommen haben: Stellen Sie sich einmal vor, wann Sie eventuell das Bedürfnis verspüren könnten, sich sprachliches Wissen aus einem Nachschlagewerk zu beschaffen. Vermutlich denken Sie an konkrete Anlässe: Sie spielten vielleicht eine Partie „Scrabble“ mit Freundinnen und Freunden und konnten sich nicht darauf einigen, ob „grübe“ ein Wort des Deutschen ist. Oder Sie lasen einen Zeitungsartikel und konnten spontan nichts mit dem Wort „reüssieren“ anfangen. Vielleicht schrieben sie auch gerade eine E-Mail an eine Freundin und suchten nach einem schöner klingenden Synonym zu „billig“. All das sind typische Situationen, in denen Menschen Wörterbücher zur Hand nehmen (Kosem et al. 2018). Auch hierzu wird in der Sprachwissenschaft geforscht: Die sogenannte Wörterbuchbenutzungsforschung ist eine Teildisziplin der Lexikografie , also der Lehre vom Wörterbuchschreiben. Wenn wir uns damit beschäftigen, wie Menschen Wörterbücher benutzen, wollen wir Informationen gewinnen, wie Wörterbücher besser gemacht werden können. Leitfragen sind dabei beispielsweise: Wie kann man die relevante Information möglichst schnell und zuverlässig im Wörterbuch finden? Welche Wörter muss ich in mein Wörterbuch aufnehmen, damit möglichst viele Menschen in möglichst vielen Situationen finden, was sie suchen? Oder ganz allgemein formuliert: wie können wir bessere Werkzeuge herstellen, die Menschen dabei helfen, sprachliche Herausforderungen welcher Art auch immer zu lösen? Und manchmal stoßen die Forschenden dabei auf Phänomene, die sie so nicht erwartet hatten. Ein solches Phänomen möchte ich Ihnen in diesem Beitrag vorstellen. Unsere ursprüngliche Fragestellung lautete: Werden Wörter, die 68 Sascha Wolfer häufig in der Sprache vorkommen, auch in einem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch häufig nachgeschlagen? Ein allgemeines einsprachiges Wörterbuch ist bspw. der Duden, denn die Wörter einer Sprache werden in der gleichen Sprache erklärt (einsprachig) und es gibt keine Einschränkung hinsichtlich des Vokabulars, das im Wörterbuch enthalten ist (allgemein), bspw. auf eine bestimmte Fachsprache. Diese Forschungsfrage ist deshalb für Lexikografinnen und Lexikografen interessant, weil man sich für bestimmte Wörter entscheiden muss, die in einem Wörterbuch (als erstes) beschrieben werden. Wenn nun die Vorkommenshäufigkeit eines Worts in der Sprache ein guter Maßstab dafür ist, wie oft das Wort nachgeschlagen wird, könnte man die Vorkommenshäufigkeit als Auswahlkriterium für zu beschreibende Wörter benutzen. Es gibt drei mögliche Antworten auf die Frage: 1) Vorkommens- und Nachschlagehäufigkeit haben nichts miteinander zu tun. In diesem Fall wäre die Vorkommenshäufigkeit also kein geeignetes Kriterium zur Aufnahme ins Wörterbuch. 2) Seltene Wörter werden häufiger nachgeschlagen, evtl. weil das jene Wörter sind, die wir am seltensten sehen und deshalb am wenigsten darüber wissen. 3) Häufige Wörter werden häufiger nachgeschlagen, evtl. weil es einfach viel mehr Situationen gibt, in denen jemand ein Problem mit solch einem Wort haben kann, denn das Wort wird häufiger in der Sprache angetroffen. Die Antwort auf die Forschungsfrage lautet ganz kurz zusammengefasst: Antwort 3 stimmt. Wörter, die häufig in der Sprache vorkommen, werden im Allgemeinen auch häufig nachgeschlagen. Wir konnten diesen Effekt nicht nur für das Deutsche (Müller-Spitzer et al. 2015) nachweisen (für das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache, DWDS, und für das deutsche Wiktionary), sondern auch für das englische Wiktionary und für ein Swahili-Wörterbuch (de Schryver et al. 2019). Im Lichte dieser Ergebnisse ist es sehr wahrscheinlich, dass sich der Zusammenhang auch für Wörterbücher in anderen Sprachen zeigt. Was wir beim Durchforsten der Wiktionary-Zugriffsstatistiken allerdings zusätzlich entdeckt haben, ist doch einigermaßen überraschend. 7 Interessant ist, was relevant ist: Weihnachten im Wörterbuch 69 Abb. 1: Zugriffe auf die Einträge zu effektiv und effizient im deutschen Wiktionary über vier Jahre hinweg. Links sehen Sie pro Tag und Wort einen Punkt (mit Anpassungslinien). Rechts sehen Sie Radialplots, in denen die Jahre als Kreise dargestellt sind. In Abbildung 1 sehen Sie die Zugriffszahlen in den Jahren 2016 bis 2019 für die zwei Wörter effektiv und effizient . Diese Wörter sind sogenannte Paronyme , d. h. Wörter, die aufgrund ihrer ähnlichen Schreibung und Bedeutung oft verwechselt werden. Die Zugriffe auf diese Wörter halten keine größeren Überraschungen bereit. Man kann zwar beobachten, dass effizient durchweg etwas häufiger nachgeschlagen wird und dass es Perioden gibt, in denen beide generell etwas häufiger (bspw. Ende 2017 und Anfang 2018) oder seltener nachgeschlagen werden. Das hat aber nichts mit den Wörtern selbst zu tun, sondern liegt daran, dass in dieser Phase das deutsche Wiktionary generell häufiger nachgefragt wurde. Viele Wörter und Wortpaare „verhalten“ sich wie effektiv und effizient : Es geht zwar im Großen auf und ab, aber es gibt keine besonders auffälligen „Ausschläge“. Nun betrachten wir die gleichen Visualisierungen für drei andere Wörter, nämlich Ostern , Nikolaus und Weihnachten (siehe Abbildung 2). Obwohl die abgetragenen Werte genau der gleichen Logik folgen wie in Abbildung 1, sehen die Abbildungen komplett anders aus: Auf der linken Seite sind extreme Spitzen zu ganz bestimmten Zeitpunkten erkennbar. Die Zeitpunkte bleiben dabei über die Jahre hinweg ähnlich. Dies zeigt sich auch in den Radialplots auf der rechten Seite, die nun eher wie analoge Uhren mit drei Zeigern aussehen. Auch hier stehen die „Zeiger“ oft auf ähnlichen Werten. Vielleicht haben Sie schon einen Verdacht, woher dieses Muster stammt. Tatsächlich ist es so, dass die Wörter Weihnachten und Nikolaus im Wörterbuch abgerufen werden, wenn 70 Sascha Wolfer Weihnachtszeit ist. Dasselbe gilt für Ostern , und an der Position des roten „Zeigers“ in den Radialplots lässt sich ziemlich genau ablesen, wann im jeweiligen Jahr das Osterfest gefeiert wurde. Abb. 2: Zugriffe auf die Einträge zu Ostern , Nikolaus und Weihnachten im deutschen Wiktionary über vier Jahre hinweg Doch hier wollen wir uns mit der Weihnachtszeit beschäftigen, und um die Stärke dieses Effekts noch deutlicher zu machen, „zoomen“ wir einmal in die Daten hinein. Wir schauen uns nun für die Wörter Nikolaus und Weihnachten in jedem Jahr nur den Ausschnitt vom 1. November bis zum 31. Dezember an (siehe Abbildung 3). In der Abbildung habe ich jeweils den Nikolaustag (6. Dezember) und Heiligabend (24. Dezember) markiert. Es fällt sofort auf, dass die Zugriffe besonders an diesen Tagen sprunghaft ansteigen: Am Nikolaustag rufen viele Menschen den Eintrag Nikolaus ab, an Heiligabend ist es der Eintrag Weihnachten , der besonders viel Aufmerksamkeit erhält. Wie groß dieser Effekt ist, zeigt sich, wenn wir die Zahlen genauer betrachten: Weihnachten wird - wenn wir den 24. Dezember einmal außen vor lassen - durchschnittlich 22 Mal pro Tag abgerufen. Der Durchschnittswert an Heiligabend in den Jahren 2016 bis 2019 beträgt 507 Aufrufe - das ist 23 Mal so viel wie der Restjahresdurchschnitt. Noch extremer sind die Verhältnisse für Nikolaus : Während an allen Tagen - außer dem 6. Dezember - durchschnittlich 7 Mal Nikolaus nachgeschlagen wird, liegt der Durchschnittswert am 6. Dezember bei 473,5 Zugriffen, was ungefähr 68 Mal so viel ist wie im restlichen Jahr. 7 Interessant ist, was relevant ist: Weihnachten im Wörterbuch 71 Abb. 3: Anzahl der Zugriffe auf die Einträge Nikolaus und Weihnachten im November und Dezember der Jahre 2016 bis 2019 Woher diese Effekte stammen, wissen wir nicht, denn die Zugriffsstatistiken für das freie Wörterbuch Wiktionary sind zwar für alle frei abrufbar, aber wir wissen nicht, wer mit welchem Ziel zugreift und auf welchen Internetseiten die Person vorher war. Trotzdem: Offenbar scheinen sich über das Jahr hinweg wenige Menschen für die Wörter Nikolaus und Weihnachten zu interessieren. Doch wenn die Weihnachtszeit kommt, scheinen die Menschen plötzlich - womöglich während sie Geschenke einpacken, den Christbaum schmücken oder den Weihnachtsschmaus vorbereiten - ein Interesse für die Wörter zu entwickeln. Wer weiß, vielleicht wollen einige auch einfach nochmal sichergehen, ob sie „Weihnachten“ richtig schreiben, bevor sie die Karte an Oma und Opa abschicken. Wir haben dieses Phänomen den Effekt der sozialen Relevanz genannt, und Sie können sich vielleicht schon denken, dass er nicht auf die Festtage beschränkt ist. Erntedankfest , die Namen der Jahreszeiten sowie Winter - und Sommersonnenwende zeigen ganz ähnlich auffällige Muster zu den entsprechenden Zeiten. Sogar einmalige Ereignisse schlagen sich deutlich auf die Zugriffsstatistiken im Wiktionary nieder. So lassen sich zum Beispiel deutliche Ausschläge in den Zugriffszahlen entdecken, wenn sprachliche Fragen in einer beliebten Quizsendung im deutschen Fernsehen gestellt werden. So geschehen am 6. Mai 2013 bei „Wer wird Millionär? “: „Wer auf der ‚Tribüne‘ Platz nimmt, tut dies 72 Sascha Wolfer der Wortherkunft zufolge eigentlich, um …“. Noch am selben Tag und mehrere Tage danach schossen die Zugriffe auf die Einträge Tribüne , Tribun , Tribunal usw. in die Höhe. Auch Sportveranstaltungen haben deutliche Auswirkungen: Wann immer die beiden Herrenfußball-Erstligavereine Borussia Dortmund und Borussia Mönchengladbach gegeneinander antreten, erfreut sich der Artikel Borussia großen Zuspruchs. Und sogar der Erfolg von Borussia Dortmund in der Champions League korreliert stark mit den Zugriffen auf Borussia . Das vielleicht überraschendste Ergebnis ist ein deutlicher Anstieg der Zugriffe auf den Eintrag larmoyant (weinerlich, rührselig) am 6. Februar 2013. Zwischen 22 und 23 Uhr verzeichnete das Wiktionary 1 553 Zugriffe (in den Stunden zuvor waren es lediglich je ca. 5 Zugriffe). Als Grund konnten wir auch hier ein Fußballspiel identifizieren, genauer gesagt den ARD-Kommentator. Dieser sagte um 22: 24 Uhr während des Herren-Freundschaftsspiels Frankreich gegen Deutschland: „Der [= Bundestrainer Jogi Löw] ist jetzt aber richtig sauer, das passt dem gar nicht, und … wenn ich das richtig deute, blickt er da eher Richtung Toni Kroos. Das ist ihm ein bisschen zu larmoyant .“ Die Verwendung dieses eher ungebräuchlichen Begriffs führte offenbar dazu, dass über 1 500 Menschen unmittelbar im Wiktionary nachschlugen. Und das ist vielleicht das größte Weihnachtsgeschenk für die Lexikografie: Wörterbücher scheinen tatsächlich noch immer nützliche Werkzeuge zu sein, die Menschen in ganz konkreten Situationen helfen können, ein sprachliches Problem zu überwinden. Da gibt es gar keinen Grund, irgendwie larmoyant zu werden. Literatur de Schryver, G.-M., Wolfer, Sascha/ Lew, R. (2019). The Relationship between Dictionary Look-up Frequency and Corpus Frequency Revisited: A Log-File Analysis of a Decade of User Interaction with a Swahili-English Dictionary. 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The Image of the Monolingual Dictionary Across Europe. Results of the European Survey of Dictionary use and Culture. International Journal of Lexicography 32(1), 92-114. https: / / doi.org/ 10.1093/ ijl/ ecy022 Müller-Spitzer, Carolin/ Wolfer, Sascha/ Koplenig, Alexander (2015). Observing Online Dictionary Users: Studies Using Wiktionary Log Files. International Journal of Lexicography 28(1), 1-26. https: / / doi.org/ 10.1093/ ijl/ ecu029 0 0 0 8 „wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben.“ Zur paradoxalen Semantik von Weihnachten Wolf-Andreas Liebert für Klaus Otte † Wie geht das zusammen, dass wir die Geburt von Jesus Christus in der Weihnachtszeit feiern, diese zum Anlass für alle möglichen Feier- und Festlichkeiten nehmen, wenn dieser Jesus doch sagt, man solle sein Leben auf dieser Welt hassen ( Joh 12, 25)? Aber fangen wir vom linguistischen Anfang an, mit dem deutschen Wort Weihnachten . Falls Sie sich schon einmal - wie ich ständig - vertippt und Weichnachten geschrieben haben, dann haben Sie laut Duden die Bedeutung von Weihnachten eigentlich schon ganz gut erfasst. Denn der Blick in das „Herkunftswörterbuch“ aus dem Hause Duden lehrt uns, dass der Bestandteil Weihvon weihen käme, wie sich sicher viele schon gedacht haben, dass aber weihen von einem untergegangenen althochdeutschen Adjektiv weich abgleitet werden könne, was soviel wie „heilig“ bedeute, als es noch in Gebrauch war (was ja auch interessant für die Bedeutung von Wörtern wie Weichei etc. wäre). Weihnacht Die seit der 2.-Hälfte des 12.-Jh.s belegte Zusammensetzung mhd. wīhenaht besteht aus dem unter ↑weihen behandelten, untergegangenen Adjektiv weich »heilig« und dem Substantiv ↑Nacht. Die Form Weihnachten (mhd. wīhennahten) beruht auf einem alten Dativ Plural mhd. ze wīhen nahten »in den heiligen Nächten«. (DUDEN Herkunftswörterbuch, 2014) So schön sich aber diese Theorie im Duden Herkunftswörterbuch liest, der Kluge belegt dies leider nicht, führt uns aber weiter ins Germanische hinein. Zwar hat unser Weihnachten demnach wahrscheinlich keine germanischen Festivitäten als Vorläufer, wohl aber steckt das germanische weiha- ‚heilig, geweiht, numinos‘ nach wie vor tief in Weihnachten drin. Dass hier weihen das entscheidende Verb ist, wissen wir schon, der Kluge führt dies nun weiter aus: 76 Wolf-Andreas Liebert weihen Vsw std. (8. Jh.), mhd. wī(h)en, ahd. wīhen, as. wīhian. Aus g. weih-ija- Vsw. (und anderen Stammbildungen) ‚weihen, numinos machen‘, auch in gt. weihan und (wohl durch Einfluss anderer Formen) anord. vīgja, afr. wī(g)a. Ableitung von g. weiha- ‚heilig, geweiht, numinos‘ (bezeichnet Dinge und Personen, die Träger des Heiligen und Gegenstand religiöser Verehrung sind. Meint das Heilige im Gegensatz zum Profanen) in gt. weihs, ahd. wīh, as. wīh, mhd. wīch (↑Weihnachten) […] (Kluge 2012) Semasiologisch, also durch die Analyse einzelner Wortbedeutungen, sind wir nun zu einer „Heiligen Nacht“ und dem mehrtägigen „Weihnachten“ gekommen und haben festgestellt, dass wir hier ein Wort mit germanischen Wurzeln verwenden. Jetzt gibt es aus religionslinguistischer Sicht in jeder Kultur einen Begriff des Numinosen, einfach weil es sich dabei um eine Bedingung des Menschseins handelt (vgl. Liebert 2017a, 2018). Was zeichnet nun „Weihnachten“ von den Heilige Nächten anderer Kulturen aus? Hier wechseln wir die linguistische Perspektive zur Onomasiologie, also zur Analyse der Bezeichnungsvielfalt von Weihnachten. Wenn wir den Blick in die mittelhochdeutschen Wörterbücher wie den bekannten Lexer werfen, dann finden wir die Ausdrücke kristnaht , kristisnaht oder auch Christisnacht auch in der Kombination mit heilig z. B. als an der heiligin Christisnacht (s. Kompetenzzentrum 2011). Christ ist das entscheidende lexikalische Element, das den Unterschied macht. Die Christnacht ist viel konkreter auf den christlichen Glauben bezogen, weil hier Jesus von Nazareth angesprochen wird, der auch als ‚Gesalbter‘ (griechisch: christos, hebräisch/ aramäisch: Messias) bezeichnet wird (vgl. Zeller 2011). Gesalbte sind im Alten Testament nur die Könige, gesalbt entweder von Hohepriestern oder von Gott selbst (vgl. Waschke 2006). Die Salbung spielt nun im Bibelzitat des Lebenshasses eine wichtige Rolle: In Johannes 12 geht es nämlich zunächst um die „Salbung in Bethanien“, in der Maria Jesus die Füße salbt, mit ihrem Haar trocknet und der Raum von einem angenehmen, kühlen Duft erfüllt wird. Der fiese Judas will das mit einem vorgeschobenen Argument hintertreiben, wird von Jesus aber abgebügelt. Bei anderen Aposteln wird die Geschichte ein bisschen anders erzählt (vgl. auch Mt 26, 6-13 u. Mk, 14, 3-9), in jeder Variante aber bringt Jesus seine Salbung direkt mit seinem späteren Tod in Bezug, nach welchem er ja mit Myrrhe und Aloe in Tücher gehüllt wird ( Joh 19, 39-40). Jesus könnte sich in dieser Situation einfach als den Gesalbten bezeichnen, Jesus Christus. Indem er dieses an sich königlich-göttliche Ewigkeitszeichen der Salbung mit seiner eigenen Beerdigung und damit seiner Vergänglichkeit in Verbindung bringt, macht er die Bedeutung von Christus und damit auch Weihnachten paradox. Jesus versucht dies auf ver- 8 „wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben.“ 77 schiedene Weise auszudrücken, stößt aber trotz aller Gleichnisse und Gotteszeichen letztlich nur auf den „Unglaube[n] des Volkes“ ( Joh, 12, 37-50). Aber er versucht jedenfalls, irgendwie mitzuteilen, dass der Tod ein Teil des ewigen Zyklus ist, aus dem man nur aussteigen kann, wenn man erkennt, dass man nicht aussteigen kann. Das zentrale Gleichnis unmittelbar vor dem Hasszitat hat also ebenfalls den Tod, jedenfalls in einem dialektischen Sinne, zum Inhalt: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben. ( Joh 12, 24-25) Daraufhin spricht Gott für alle hörbar direkt zu Jesus und die Menge erschaudert (diese bleibt aber wie gesagt letztlich ungläubig, denn wie könnte ein Messias sterben müssen und nicht einfach ewig sein? ) Kurz vor der Kreuzigung wäscht Jesus sogar den Jüngern selbst die Füße ( Joh 13), was diese zunächst verweigern wollen, da sie sich fürchten, das Knecht- Herr-Verhältnis aufzugeben zu müssen, aber Jesus bringt sie dazu, dass sie es geschehen lassen. Das Wort Christ als der Gesalbte ist also unmittelbar mit der Geburt mitgegeben; Tod und Auferstehung. Und Lebenshass des guten Christen auf „sein“ Leben auf dieser Welt Weihnachten ist also die Geburt des Hasses auf dieses, mein Leben. Und dieser ehrlich empfundene Hass ist die Voraussetzung für das ewige Leben. Ist Weihnachten nun historisch zu verstehen? Dass da in der Nacht vom 24. auf den 25.12. im Jahr 0 ein Heiliger geboren wurde, der lehrte das eigene Leben zu hassen? Zur Frage der Einschätzung, welchen ontologischen Status religiöses Sprechen hat, gibt es verschiedene Positionen: die fundamentale, die die Bibel wörtlich nimmt und sich die Welt so zurecht konstruiert, wie es den Bibelworten entspricht, dann die historische, die alles als historisches Ereignis werten will und sich dann natürlich über alles mögliche lustig machen kann (wie Verstöße gegen medizinische oder physikalische Gesetze etc.). Es gibt aber auch eine Position, bei der das religiöse Sprechen einen eigenen Status darstellt: Man kann diesen Status zunächst negativ bestimmen: religiöses Sprechen ist weder fiktional, noch faktual. Es stellt etwas Drittes dar. Dieses Dritte soll nun etwas ausgeführt werden, bevor es dann wieder um Weihnachten geht. Es gibt eine Art Konsens, dass wir unser Dasein in zwei Modi einteilen können, das Faktische (die Welt des selbst Erlebten, der Nachrichten bzw. der Wahrheiten, die man von Vertrauenspersonen erfährt) und das Fiktionale (Romane, Gedichte, Spielfilme - und natürlich: die Wahrheiten der Anderen) und: dass wir die beiden Modi immer sauber trennen können. 78 Wolf-Andreas Liebert Man kann diese Dichotomie von faktual und fiktional als Modi des Daseins auch mit bestimmten Haltungen oder Positionierungen zur Transzendenz identifizieren. Geht es etwa um die Schöpfung der Erde oder die Arche Noah, so wäre eine fundamentale Deutung, dies als tatsächlich anzunehmen. Dies führt zu Haltungen, die wir etwa von den Kreationisten kennen und vielen anderen fundamentalistischen Gläubigen. Auf der anderen Seite stehen religionskritische Haltungen, die religiöses Sprechen samt und sonders als fiktional ansehen. Diese Linie kann von der Aufklärung über Freud und Marx gezogen werden, in der Religion als Wahn, Illusion oder als Massenmanipulation beschrieben wird. Nun könnte man annehmen, dass die aufgeklärte Religion, wie wir sie heute in der katholischen und evangelischen Kirche finden, eine solche dritte oder mittlere Position einnimmt, etwa in Form einer „Christologie“ (Otte, ersch.). Dies ist aber nicht der Fall, denn die meisten Theolog*innen bleiben in dieser Dichotomie verhaftet. Dies betrifft natürlich nicht alle Anhänger des christlichen Glaubens, oder besser des aufgeklärten christlichen Glaubens. Es gibt hier durchaus Ausnahmen, insbesondere wenn sie sich auf die christliche Mystik beziehen. Oder wenn sie selbst die Idee eines Dritten thematisieren wie das „Dritte Auge“ (Halbfas 2011, vgl. auch Liebert 2017b, 2018). An dieser Stelle möchte ich meinem verehrten und geschätzten Kollegen Alexander Lasch (2017) allerdings in einem Punkt widersprechen: Es geht nicht um die Manifestation des Transzendenten in der Welt, sondern um die Manifestation als Welt. Dies ist ein wesentlicher Unterschied, da eine Manifestation in der Welt eine Welt als gegebene voraussetzt, während eine Manifestation als Welt diese Welt erst hervorbringt. Und von dieser Welt ist hier die Rede. Die dritte Perspektive liegt also darin, nicht ein gegenseitiges Transzendentes anzunehmen, was in die Welt wirkt oder sich in der Welt manifestiert und auch nicht darin, nur eine Welt anzunehmen die aus sich selbst heraus existiert und sich dann Metaphern wie des blinden Uhrmachers bedienen muss, sondern in einem fundamentalen Zusammenhang und letztlich einer fundamentalen Nicht- Unterschiedenheit von Transzendenz und Welt. In dieser Perspektive wird auch ein anderer Blickwinkel auf die Zeit möglich: Die Idee eines sich ständig wiederholenden spirituellen Jahres besitzt nahezu jede Religion. Die unendliche Gerade chronologischer Zeitzählung wird dabei überlagert von einem nicht sequenziell fortschreitenden zyklischen Zeitverständnis, in dem sich alles ständig wiederholt. Lässt man sich auf dieses spirituelle Jahr ein, d. h. orientiert man sein alltägliches Handeln am spirituellen Jahr, so ändert sich die Sichtweise auf die Wirklichkeit deutlich. Im Christentum heißt das spirituelle Jahr Kirchenjahr und beginnt in der evangelischen und katholischen Kirche am Abend vor dem ersten Advent und setzt sich mit 8 „wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben.“ 79 der Geburt Jesu Christi über die Kreuzigung und Auferstehung an Ostern, das Pfingstfest sowie Mariä Himmelfahrt fort, bevor es erneut zum ersten Advent beginnt. Die Geburt Jesu Christi findet in diesem Verständnis also nicht an einem historischen Datum statt sondern jedes Jahr aufs Neue. Wenn dies unter der Perspektive historischer bzw. naturwissenschaftlicher Angemessenheit gelesen wird, ist es natürlich blanker Unsinn. Im Rahmen des religiösen Sprechens liegt der Sinn jedoch genau darin, dass wir die Geburt des göttlichen Kindes immer wieder neu erleben, ebenso die Kreuzigung, Auferstehung etc. und dieses nicht nur Jahr für Jahr immer wieder, sondern ewig. Damit sind aber Geburt des Jesus von Nazareth, sein Tod und seine Auferstehung nicht getrennt zu denken, sondern zusammen: der Tod wie im Gleichnis vom „Weizenkorn“ bereits von Anfang an bei der Geburt enthalten. Es geht somit darum, zu erkennen, dass man gerade durch das Festhalten am eigenen Leben das ewige Leben, nach dem man sich sehnt, verliert. In der heiligen Christnacht ist also kein Unterschied zum gesamten christlichen Jahr, die Geburt des „Menschensohns“, der Tod und die Auferstehung als der Gesalbte sind an Weihnachten immer zugleich präsent. Das Sterben und Auferstehen von Moment zu Moment. Goethe hat dies in seinem West-Östlichen Divan die „Selige Sehnsucht“ genannt, in der in ähnlichen Analogien das „Lebendge“ sich nach dem „Flammentode sehnet“ und der „Schmetterling“ „des Lichts begierig“ am Ende „verbrannt“ ist: Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. So verstanden ist die „selige Sehnsucht“ ein Weihnachtsgedicht: In der Heiligen Nacht beginnt das heilige Leben auf dieser Welt mit einem heiligen Hass. Das hassende und gehasste Leben, von dem uns Weihnachten erzählt, ist aber zugleich seine Erlösung durch den Hass. Wie eben im Gleichnis vom Weizenkorn, das in der Erde versinken und sterben muss, bevor es zur Pflanze werden kann, und der Kreislauf sich ewig fortsetzend vollende. Literatur Deutsche-Bibelgesellschaft. 2016. Lutherbibel 2017 . URL: www.die-bibel.de/ bibeln/ on line-bibeln/ lutherbibel-2017/ bibeltext/ . 1 1 Alle Bibelzitate werden aus dieser Ausgabe zitiert. 80 Wolf-Andreas Liebert Dudenredaktion (Hrsg.) 2014. Duden - Das Herkunftswörterbuch. 5. Auflage, bearb. von Jörg Riecke, Christine Tauchmann, Werner Scholze-Stubenrecht . Berlin: Dudenverlag. Goethe, Johann Wolfgang von. 1814/ 1962. Selige Sehnsucht. In: Goethes Werke in zehn Bänden . Zürich, Stuttgart: Artemis. 595. Halbfas, Hubertus. 2011. Das dritte Auge: Religionsdidaktische Anstöße . 8. Aufl. Berlin: Oldenbourg. Kluge, Friedrich. 2012. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 25., akt. und erw. Aufl., bearb. von Elmar Seebold . Berlin, Boston: De Gruyter. https: / / doi. org/ 10.1515/ 9783110223651 Kompetenzzentrum. 2011. Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier: Wörterbuchnetz. URL: www.woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ setupStartSeite.tcl. Lasch, Alexander. 2017. Transzendenz. In: Lasch, Alexander/ Liebert, Wolf-Andreas (Hrsg.). Handbuch Sprache und Religion. Band-18 . Berlin, Boston: de Gruyter. 241-265. Liebert, Wolf-Andreas. 2017a. Religionslinguistik. Theoretische und methodische Grundlagen. In: Lasch, Alexander/ Liebert, Wolf-Andreas (Hrsg.). Handbuch Sprache und Religion. Band-18 . Berlin, Boston: de Gruyter. 7-36. Liebert, Wolf-Andreas. 2017b. Das Unsagbare. In: Lasch, Alexander/ Liebert, Wolf-Andreas (Hrsg.). 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Messias (AT), In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de). 0 0 0 9 Von weihnachtlichen Widersprüchen Bescherung aus dem rechten Schimpfwortschatz Joachim Scharloth Für rund 70 % der Menschen ist Weihnachten zuallererst ein Familienfest, das im privaten Kreis begangen wird, so das Ergebnis einer Umfrage, die die Zeitschrift Chrismon 2018 in Auftrag gegeben hat. 1 Als Ritual hat Weihnachten aber eine über das Private hinausweisende Bedeutung, auch wenn diese den Akteurinnen und Akteuren nicht bewusst ist. Im Vollzug von Ritualen verständigt sich ein Gemeinwesen nämlich über seine Werte und aktualisiert seine soziale Ordnung. Die diskursive Aufladung von Weihnachten als „Fest der Liebe“, als „Friedensfest“, als „Zeit der Besinnung“ oder eben als „Fest der Familie“ verdeutlicht, dass das Fest auch für jene mit Werten und Vorstellungen über sozialen Zusammenhalt verbunden ist, für die Weihnachten nicht mehr die Aktualisierung einer christlichen Kosmologie ist. Der Sinn von Ritualen liegt freilich nicht vollständig fest und die Bedeutung der in Ritualen verwendeten Handlungen und Zeichen ist Gegenstand von Zuschreibung und Auslegung. Dies gilt auch für die zahlreichen Rituale, die in Vorbereitung auf das Weihnachtsfest und an Weihnachten selbst vollzogen werden: der Sankt-Martins-Umzug, die Nikolausfeier, der Besuch beim Weihnachtsmarkt, die Weihnachtsfeier im Betrieb, das Schreiben von Weihnachtskarten, das Plätzchenbacken, der Geschenkeinkauf, Heiligabend, der Spaziergang zu Krippen in unterschiedlichen Kirchen, das Dreikönigssingen etc. So kann beispielsweise der Austausch von Geschenken ganz unterschiedlich symbolisch aufgeladen werden: einerseits zum Zeichen von Freundschaft und Verbundenheit, andererseits zu einer spätkapitalistischen Domestizierung von ursprünglich freien Menschen zu unfreien Kunden und Konsumenten. Besonders in Umbruchszeiten werden Rituale als Generatoren und Repräsentanten gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen zum Debattierfeld für jene, die gesellschaftlichen Wandel herbeiführen oder verhindern wollen. Die Befürwortung eines Rituals oder die Kritik an ihm ist dann ein Medium, in dem eigentlich 1 https: / / static5.evangelisch.de/ get/ ccd/ 00010001GmpW9lOfH1dr6ba8eqtW7id0znV qQmFcceNO96uzUwkD000000190142/ download, 01.08.2020 82 Joachim Scharloth anderes, nämlich die in Frage stehenden Werte und Ordnungsvorstellungen verhandelt werden. Die argumentative Inschutznahme eines Rituals kann dazu benutzt werden, sich zum Repräsentanten und Wahrer von Werten und tradierter gesellschaftlicher Ordnung zu erheben, die Kritik oder Störung von Ritualen hingegen kann dazu dienen, gesellschaftlichen Wandel einzufordern oder diesen sogar zu initiieren. Deutschland erlebt seit 2014 eine signifikante Zunahme an Protestereignissen aus dem politisch rechten Spektrum, rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen, deren Selbstverständigung in sozialen Medien und alternativen Nachrichtenseiten und Blogs stattfinden, verzeichnen erheblichen Zulauf und mit der AfD ist eine rechte Partei in allen Parlamenten auf Bundes- und Landesebene vertreten. Dies hat zur Folge, dass Fragen nach „nationaler Identität“ und „abendländischer Kultur“ häufiger auf der Agenda öffentlicher Debatten stehen, wobei die Abgrenzung zu einem „Fremden“, „Neuen“ oder „Unnormalen“ praktisch immer eine Rolle bei der Bestimmung dieser Konzepte spielt. In solchen Debatten wird auch Weihnachten zu einem Politikum. Etwa dann, wenn darüber gestritten wird, wie denn „richtig“ und „wahrhaft“ Weihnachten zu feiern sei. Oder wenn befürchtet wird, die „heimische Kultur“ sei bedroht, weil man nicht mehr Weihnachten feiern könne oder gar dürfe, weil zu sehr auf Minderheiten Rücksicht genommen werden müsse. Oder wenn dunkle Zukunftsszenarien gezeichnet werden, in denen Weihnachten durch die Bräuche „fremder Kulturen“ ersetzt wird. Die Politisierung Weihnachtens wird zwar auch argumentativ hergestellt, in den meisten Fällen begnügen sich die Akteure jedoch damit, durch die Neubezeichnung einzelner weihnachtlicher Elemente oder Sachverhalte einen bestimmten Interpretationshorizont zu erzeugen. Wer etwa schreibt: „Ich war heute auf dem Noch-Weihnachtsmarkt und habe einen CHRISTStollen gekauft“, legt nahe, dass eine christlich-kulturelle Tradition sich ihrem Ende entgegenneigt, ohne sich lange mit Begründungen aufzuhalten. Häufig haben diese Neubezeichnungen einen pejorativen Charakter. Das heißt, dass man sich mit ihnen nicht nur auf einen Sachverhalt bezieht, sondern zugleich auch negative Eigenschaften an ihm relevant setzt und ihn damit negativ bewertet. Als sprachliche Ready-Mades verdichten sie ein Argument zu einem Wort und sind zugleich Evidenz für das So-sein der mit diesem Wort bezeichneten Realität. Im Folgenden sollen pejorative Ausdrücke mit Weihnachtsbezug aus mehr als 30 rechten Blogs, Foren und Kommentarspalten vorgestellt und daraufhin befragt werden, welche Werte in Debatten über Weihnachten relevant gesetzt werden. 9 Von weihnachtlichen Widersprüchen 83 1 Weihnachtswortschatz als pejorative Ressource Ein Teil des weihnachtsbezogenen Wortschatzes wird auch dann benutzt, wenn die Rede gar nicht von Weihnachten ist, sondern weihnachtliche Denk- oder Verhaltensweisen für Missstände verantwortlich gemacht werden. Besonders prominent ist hier der Gebrauch der Weihnachtsmann-Metapher, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn Kritik an Steuergeschenken oder einer ungezügelten Ausgabenpolitik geübt wird. Dann ist beispielsweise vom Diäten-Weihnachtsmann , vom Steuerzahler-Weihnachtsmann oder von EU-Vorweihnachtsmännern die Rede. Diese Weihnachtsmann-Metaphorik ist allerdings keine Besonderheit rechter Diskurse. Anders liegt der Fall, wenn das Wort „Weihnachtsmann“ als Indiz für kindlich-naiven Glauben gebraucht wird. Kompositionen wie Klimaweihnachtsmann oder Energiewendeweihnachtsmann transportieren Zweifel an Klimawissenschaft und Klimapolitik, wie sie typisch für einen Teil der Rechten sind. Daneben wird der Presse ein erzieherischer Nikolaustonfall oder Politikern ein gravitätisch-nichtssagender weihnachtsansprachlicher Duktus nachgesagt. Forschungsethische Abwägungen machen in rechten Augen Hochschulen zu Blockflöte-und-Weihnachtslied-Universitäten und Fürsorglichkeit wird als Plätzchenmentalität abgewertet. Rein aus einer vermeintlichen äußeren Ähnlichkeit motiviert sind beleidigende Ausdrücke mit Bezug auf Bundeskanzlerin Angela Merkel wie Nussknackervisage , Nussknackerfresse oder Merkel-Nussknacker- Fratze . 2 Kritik an Weihnachten Pejorative Ausdrücke zur Kritik am Weihnachtsfest als Ganzem finden sich in großer Zahl. So ist von unnötigem Weihnachts-TAM-TAM-TAM und Weihnachtsbrimborium die Rede, von einem übertriebenem Weihnachtsfirlefanz , Weihnachtscirkus und Weihnachtszinober , sowie von sinnentleerter Weihnachtsfolklore und irrelevantem Weihnachtsgedöns , Weihnachtsgeschwätz , Weihnachtsgequake sowie Weihnachtssalbader . Aber es finden sich auch Ausdrücke, in denen aggressiver die Überflüssigkeit und Schädlichkeit von Weihnachten zum Ausdruck kommen soll, wie Weihnachtskacke , Weihnachtskrebs , Weihnachtswahn oder Weihnachtslüge . Wie die bisher genannten weihnachtskritischen Ausdrücke, so sind auch die folgenden kapitalismuskritisch inspirierten pejorativen Vokabeln nicht spezifisch für rechte Weihnachtskritik. Häufig kritisiert werden Weihnachtskommerz und Weihnachtsabzocke des Winter-Schenkefests , die Weihnachts-Geschenkekauf-Idiotie und die Kontaminierung weihnachtlicher Objekte durch Unternehmensmarketing, wie im Fall des Coca-Cola-Weihnachtsmanns oder des IKEA-Weihnachtskalenders . Verhasst ist einigen auch der 84 Joachim Scharloth Weihnachtsmarkt, der als „Christmas Wonderland“-Weihnachtsmarkt , Weihnachtsmarktgedöns und Weihnachtsmarkthölle verunglimpft wird, auf dem es nur Glühweinplörre , LED-Weihnachtsgefunzel und Weihnachtsgedudel gibt. Überhaupt ist vielen die dauerhafte Last-Christmas-Beschallung oder die Beschallung mit Dauerbrenner-Ohrwurm-Weihnachts-Songs und anderen Weihnachtsschnulzen mindestens ebenso ein Dorn im Auge wie das Weihnachtslied-Gesinge und sonstiges Festtagsgeplärre . Hier begegnen sich also linke Kritik der Kulturindustrie, durch die jedes Kulturprodukt einen Warencharakter erhält, und die konservative Ablehnung eines amerikanischem Kulturimperialismus zugunsten der Bewahrung einer abendländischen Kultur. In beiden ist die Entwicklung der Weihnachtstradition eine Verlustgeschichte, die ein Verlangen nach dem „Authentischen“ oder einem idealisierten Ursprungszustand zur Folge hat. Es gibt freilich auch eine ganze Reihe von Elementen des Weihnachtsfestes, die den Schreiberinnen und Schreibern in rechten Foren und Kommentarspalten nicht gefallen und die Spezifik der rechten Politisierung des Weihnachtsfests sichtbar machen. Dies sind insbesondere Ausdrücke für Dinge und Sachverhalte, die Weihnachtspraktiken anschlussfähig für Nicht-Christen machen sollen wie Willkommenskultur-Adventskalender , Halal-Weihnachtspäckchen , Halal- Glühwein oder eine Halal-Weihnachtswurst . Daneben kritisieren rechte Kommentatorinnen und Kommentatoren die Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz eingeführt wurden, weil dies zu Hochsicherheitsweihnachtsmärkten geführt habe. In Ausdrücken wie Koran-Poller , Koran-Klotz , Anti-Moslem-Poller oder Islamsperre für Zufahrtssperren kommt zum Ausdruck, dass in rechten Diskursen nicht nur islamistischer Terrorismus, sondern der Islam als Ganzes für die Situation verantwortlich gemacht wird. Zur inklusionskritischen und antimuslimischen Aufladung des Weihnachtsmarkts gesellt sich noch eine rassistische, indem rechte Schreiberinnen und Schreiber Menschen aus dem Nahen Osten und den Maghreb-Staaten eine mangelnde Kontrolle des Sexualtriebs zuschreiben, den sie auf Belästigung-Weihnachtsmärkten während der Weihnachtsmarkt-FickiFick-Saison auslebten. Diese Ausdrücke verweisen auf tief verwurzelte Vorstellungen von den „Wilden“, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert Diskurse über das Fremde strukturieren. „Wilde“ nämlich stehen am Anfang einer linear gedachten Menschheitsentwicklung vom Naturzustand zu einem Zustand der Zivilisiertheit. Ihre Sprache und Vernunft ist - in dieser Vorstellungswelt - unterentwickelt, was einen ungezügelten Sexualtrieb und geringe Affektkontrolle zur Folge hat. 9 Von weihnachtlichen Widersprüchen 85 3 Weihnachten als bedrohte kulturelle Institution, deren Zukunft dystopisch im Medium der Sprache skizziert wird Ein Großteil des pejorativen weihnachtsbezogenen Wortschatzes bezieht sich freilich nicht auf das gegenwärtige Weihnachten, sondern thematisiert eine dystopische Vision, in der Weihnachten wahlweise ganz abgeschafft oder durch Anpassung an die Bedürfnisse von Minderheiten bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Die Entweihnachtlichung durch Weihnachtsabschaffer*Innen , für die nicht zufällig die gegenderte Schreibweise benutzt wird, wird demnach in den Augen der Schreiberinnen und Schreiber zu Adventskranz -, Weihnachtsbaum - und Nikolaus-Verbot führen sowie zu einem Ende der Advents-Acrylamid-Belästigung , wie das Plätzchenverbot wegen schädlicher Stoffe in Zukunft euphemistisch genannt wird. Befürchtet wird zudem, dass zentrale Elemente der Weihnachtstradition entweder anders benannt oder aber sogar die zugrundeliegende Institution durch eine andere ersetzt wird, um solchen (vermeintlich linken) Ideologien gerecht zu werden, die von den rechten Autorinnen und Autoren abgelehnt werden. So werde der Noch-Weihnachtsmarkt in Wintermarkt , Schneemarkt oder Zipfelmann-Lichterfest-Markt umbenannt, „Sankt Martin“ werde zum Laternenfest und der Name „Weihnachten“ selbst werde, die christliche Tradition unsichtbar machend, durch Tannenbaum_Feier , Tannenbaumfest , Lichterfest oder Jahres- Endfest ersetzt. Statt von „Lichterketten“ müsse zukünftig von LichterInnenkette oder Lichter_kett_innen gesprochen werden, die im AdventIx für angenehmes Licht sorgen. Nicht mehr rein sprachlicher Natur sind Befürchtungen der Schreiberinnen und Schreiber, dass das Geschlecht weihnachtlicher Figuren sich wandeln müsse, diverser werden oder gar uneindeutig sein könnte. So dürften künftig nur noch Nussknacker*innen zum Einsatz kommen und der Nikolaus diversifiziere sich in Wesen, die Namen tragen wie Nikolaus*_x , Nikolausin , Weihnachtsdrittgeschlechtler , Weihnachtsgendermann , Weihnachtsmann / frau / drittes Geschlecht , Weihnachtsmann_in , WeihnachtsmannfrauIn oder Weihnachtszwitterwesen . Auch vor einem Wechsel der Hautfarbe des Heiligen fürchten sich die Autorinnen und Autoren rechter Foren und fabulieren offen rassistisch vom Negernikolaus oder von St. Clara , der Weihnachtsnegerin . Um Homosexuellen gerecht zu werden und die Frühsexualisierungsideologie zu befördern, dürften in naher Zukunft in Geschäften nur noch der Schwukolaus , der Schwulilaus , der Schwuchtniklaus , der Homolaner-Schoko-Weihnachtsmann , die Weihnachtstunte , der Schokoladen-Weihnachtshomo und der Pädo-Klaus verkauft werden. Sogar homophob-denunzierende Nikolausgedichte haben sich die Autorinnen und Autoren rechter Foren schon ausgedacht, wie „Alle Jahre wie- 86 Joachim Scharloth der / Kommt die Jungfrau nieder / Doch vorher schneit der Nikolaus / Vermählt mit Rupprecht bunt ins Haus / Und macht als neuer Wintersmann / Ganz warm alle Kinder an.“ Auch beim Christkind könne es nicht bleiben: Es werde durch ein Christkind*xx , die Weihnachtsfrau oder DAS Weihnachtssonstwas ersetzt. Neben Geschlecht, Hautfarbe und sexueller Orientierung wird in den dystopischen Projektionen rechter Provenienz auch Religion zu einem treibenden Faktor bei der Ersetzung weihnachtszeitlicher Traditionen. So werde der CHRISTstollen zum Mohammedanerstollen und die Lichterpyramide werde durch das Adventsminarett ersetzt. Der christliche Rauschebart mit Mitra oder Nikolausmütze werde durch Salafisten-Rauschebärte mit Kopfwindeln ausgetauscht und die Heiligen Drei Könige durch eine Flut von Morgenland-Primaten überflüssig gemacht. 4 Performative Selbstwidersprüche Immer wenn wir sprechen, sagen wir nicht nur Dinge über die Welt aus. Wir handeln. Bisweilen tritt das, was wir auf der Sachebene sagen, in Widerspruch zu der Handlung, die aus unserer Äußerung ableitbar ist. Das nennt man einen performativen Selbstwiderspruch. Die Bemühungen Weihnachten zu einem Medium ihrer Wertepolitik zu machen führt die Autorinnen und Autoren rechter Nachrichtenseiten, Blogs und Kommentarspalten in einen solchen Selbstwiderspruch. Die Bemühungen nämlich, Weihnachten zu einer bedrohten kulturellen Institution zu stilisieren, mit deren Untergang auch die durch Weihnachten verkörperten Werte verloren gehen, und sich zum Retter dieser Werte aufzuschwingen, steht in Widerspruch zu den sprachlichen Mitteln. Denn durch sie werden in den Weihnachtsdiskurs rassistische, antimuslimische, antifeministische, homo-, queer- und transphobe Diskurse eingeschrieben, die den Werten, für die Weihnachten vorgeblich stehen soll, diametral widersprechen. 0 0 0 10 Kanadischer Christkindl Market zwischen zwei Kontinenten Grit Liebscher Weihnachten in Kitchener, Ontario, schließt seit über 20 Jahren die Tradition des Christkindl Markets mit ein. Dieser ist besonders unter deutschstämmigen Kanadiern sehr beliebt, die sich in Kitchener in der Region Waterloo seit dem 19. Jahrhundert angesiedelt haben. Für viele gehört der Besuch des viertägigen Christkindl Markets zur jährlichen Familientradition. Das kann ich sowohl aus eigener Perspektive bestätigen, da ich schon über zwanzig Jahre in der Region Waterloo lebe, als auch durch Interviews mit Deutsch-Kanadiern (Liebscher and Dailey-O’Cain, 2013; Schulze, Liebscher, und Siebel-Achenbach, im Druck) sowie (digitalen) Texten wie der Webseite des Christkindl Markets , die im Fokus dieses Artikels steht: www.christkindl.ca. 1 Die vorliegende soziolinguistische Untersuchung basiert zum einen auf der Sichtung der Webseite des Christkindl Markets vom 5. bis 8. Dezember 2019 und zum anderen auf Besuchereinträgen, die seit 1998 auf der Webseite erschienen sind. Aus linguistischer Perspektive stellen sich beim Betrachten der Webseite gleich mehrere Fragen: Wie ist das Verhältnis zwischen Englisch und Deutsch? Wenn man davon ausgehen kann, dass auch Nicht-Deutschstämmige zum Besuch des Christkindl Markets angeregt werden sollen, wie gezielt geht man mit dem Gebrauch des Deutschen um bzw. wann wird Deutsch statt Englisch verwendet? Welche Rolle spielt der Bezug zu Europa, insbesondere europäischen Weihnachtsmärkten, und wie werden Erinnerungsdiskurse relevant? Beim ersten Betrachten der Webseite fällt auf, dass das Englische verständlicherweise überwiegt, was in Anbetracht der antizipierten Leserschaft der Webseite nicht überraschend ist. So richtet sich die Webseite an Besucher/ innen, Darsteller/ innen und Verkäufer/ innen aus der Umgebung, aber auch anderen Teilen Kanadas und den USA, die nicht immer des Deutschen mächtig sind. Gleichzeitig kann jedoch davon ausgegangen werden, dass deutschstämmige Immigranten und deren Familien, und möglicherweise jedwedes Publikum, im Christkindl Market eine Repräsentation deutscher Kultur suchen - die einen zur 1 Die Webseite wird seit 1997 von der Firma ermerge2 gestaltet, der ich an dieser Stelle, und besonders Monica Reid, herzlich für die Bereitstellung von Informationen danken möchte. 88 Grit Liebscher Erinnerung an Europa oder die kanadische deutschstämmige Familie und die anderen zur Begegnung mit einer „deutschen“ weihnachtlichen Atmosphäre auf „Canada’s original Christkindl Market“, wie die Webseite verkündet. Beide Besuchergruppen scheinen in folgender Zeile zum Mitzählen der Tage bis zum nächsten Christkindl Market angesprochen: „140 Days until our festival of German Christmas December 3 to 6, 2020“. Hier impliziert unser Festival der deutschen Weihnacht die Inklusivität aller Gestalter/ innen und Besucher/ innen zu einer Gruppe, also einen Gemeinschaftssinn, und gleichzeitig die Kreation einer kanadischen Version des Originals. Hinweise darauf finden sich unter anderem auch in folgenden Aspekten: • Die Webseite verkündet eine Candlelight Procession (Kerzenprozession) mit dem Hinweis auf das Original: Did you know? At the Christkindl Market procession in Nuremberg, Germany, thousands of children march through the old city’s streets with lanterns . (Wussten Sie schon? Bei der Christkindlesmarkt- Prozession in Nürnberg, Deutschland, laufen tausende Kinder mit Laternen durch die alten Straßen.) Die Beschreibung der Straßen als old (alt) ist sicher kein Zufall, sondern zeugt von der nordamerikanischen Bewunderung des ,alten‘ Europa. Die Erwähnung der Laternen ist zugleich ein Hinweis darauf, dass auch der Kitchener Christkindl Market einen Lauf mit Laternen und Kerzen anbietet. • Die Suche nach Inklusivität zeigt sich auch darin, dass die Ankündigung des Lesens von T. Storms Gedicht von Knecht Ruprecht mit einer Erklärung für Nicht-Eingeweihte erfolgt: the one who knows ‘ if you’ve been bad or good’ (der weiß, ob du böse oder lieb warst). • Die Beschreibung der Spieleisenbahn wird kommentiert mit: After all what is Christmas without trains. Die affirmative Bestätigung steht für jeden, der Weihnachten kennt, außer Frage und denjenigen, die nicht mit diesem Brauch vertraut sind, wird suggeriert bzw. ans Herz gelegt, dass dies ein typisches Element der deutsch-europäischen Weihnacht ist. • Der Anklang des Originals zeigt sich auch darin, dass die Programmbeschreibung einige deutsche Worte enthält: entweder zusammen mit einer englischen Übersetzung ( Kinderecke - Kids Corner ), mit einer englischen Erklärung ( sugar-coated Stollen fruit cakes ) oder ohne Erklärung mit Blick auf ein Erkennungsmoment ( Fritter Haus ). • In der Ankündigung eines Musikduos findet man den zugefügten Kommentar direct from Germany! (direkt aus Deutschland), was den Anspruch auf Authentizität nahelegt. Authentizität ist auch in der Namensgebung einiger lokaler Entertainer zu erkennen, wie z. B. Concordia Enzian Schuhplattler Verein . 10 Kanadischer Christkindl Market zwischen zwei Kontinenten 89 Bei der Sichtung von etwa 120 Besuchereinträgen hat sich folgendes Bild ergeben: Im Vergleich zu anderen Teilen der Webseite ist bei den Besuchereinträgen der Anteil an deutschen Wörtern höher, wobei insgesamt das Englische auch dort noch zu etwa 95 % überwiegt. Dennoch finden sich teilweise komplett deutsche Einträge wie folgender von Besucher/ innen aus Oregon, USA: Ich war nur einmal zu einem Christkindl Markt. Das war circa 1975 in Pforzheim im Schwarzen Wald. Ich kann mich noch nach all diesen Jahren an die wunderbaren Lichter und Aromas, so wie all die schoene Musik und die Weihnachts Stimmung, ganz gut erinnern, als wenn es gestern war. Vielen Dank dass Sie diese herrliche Tradition aus Deutschland herueber gebracht haben. Ich wuenschte wir koennten jaehrlich kommen um den Christkindl Markt zu besuchen . Bei diesem deutschen Eintrag fällt unter anderem auf, dass die Orthographie und Grammatik nicht immer dem Standard des Duden folgen, was ein Zeichen des Sprachkontakts mit dem Englischen bzw. der Rolle des Deutschen als Nichtmuttersprache sein kann. Dazu gehören auch sogenannte translinguale Aspekte, bei denen Sprachen miteinander zu verschmelzen scheinen und sich mischen, wie bspw. in den Einträgen: Ich Liebe Christkindl Markt und Loved the food, gluhwein, apple fritters, sauerkraut . In Anbetracht der Publikumszielgruppen überrascht es auch nicht, dass diese ganz oder teilweise deutschen Besuchereinträge nicht ins Englische übersetzt werden, da es dem Anspruch auf ,deutsche‘ Authentizität verhilft. Dieser Anspruch wird auch in Einträgen wie dem folgenden deutlich: I especially come for the music and the vendors that carry real made in Germany Christmas decorations e.g. Angels, Raüchermänchen and Pyramide . (Ich komme wegen der Musik und den Verkäufern, die echte, made-in-Germany, Weihnachtsdekorationen anbieten, wie z. B. Engel, Räuchermännchen und Pyramiden.) Neben diesem Anspruch auf Authentizität ist ein Erinnerungsdiskurs in den Einträgen zu erkennen. Dieser umfasst unter anderem den Vergleich mit Weihnachtsmärkten in Deutschland mit der Anmerkung, diese selbst besucht zu haben: Just like Germany! Love the organ grinder! (Genau wie in Deutschland! Ich liebe den Orgelspieler! ) and Reminds me of all of the traditional Christmas markets I saw in Germany. (Dies erinnert mich an all die traditionellen Weihnachtsmärkte, die ich in Deutschland gesehen habe.) Der Vergleich mit europäischen Weihnachtsmärkten findet sich zudem in der oft zitierten Verbindung zwischen ,alter‘ und ,neuer‘ Welt: We just returned from Europe and visited 8 Christmas markets. Ours is quite impressive given its youth (20 years VS 700) . (Wir sind gerade aus Europa zurückgekehrt und haben 8 Weihnachtsmärkte besucht. Unserer [in Kitchener] ist sehr eindrucksvoll, wenn man berücksichtigt, dass er sehr jung ist (20 Jahre VS 700)). Weitere Formulierungen von Erinnerungen an Deutschland sind verbunden mit spezifischen Situationen des kanadisch-deutschen Kontakts: We used to go to the Christkindl Markets in Germany when we 90 Grit Liebscher were posted there with the Canadian Armed Forces. We come every year and relive our past . (Wir sind immer zu Christkindlmärkten in Deutschland gegangen, als wir dort mit der kanadischen Armee stationiert waren. Wir kommen jedes Jahr und erleben diese Vergangenheit wieder.) Neben dieser Art der Erinnerung oder durch eher zufälligen oder touristischen Kontakt mit Deutschland, ist der Erinnerungsdiskurs auch durch die Einwanderersituation geprägt. So wiederholen sich Kommentare von Personen, die zur sogenannten ersten Generation der Einwanderer gehören, die also als Erwachsene selbst nach Kanada ausgewandert sind, wie beispielsweise: We come from Nuernberg and Munich originally-… It is nice to see a bit of Germany here in Canada . (Wir kommen ursprünglich aus Nürnberg und München … Es ist schön, hier in Kanada ein bisschen Deutschland zu sehen.) Für die in Kanada geborenen Kinder dieser Einwanderer (die zweite Generation) und deren Kinder (die dritte Generation) kann der Erinnerungsdiskurs auch Momente erfassen, die sie an ihre ,deutsche‘ Kindheit in Kanada erinnern: My mother was German from Darmstadt. We grew up speaking German with all the German customs and festivities. Christmas and Nikolaus Tag were our favourites. Your Christkindl still captures that traditional German feel with the products, food, childrens/ adult choir and German people . (Meine Mutter war Deutsche, aus Darmstadt. Wir sind mit der deutschen Sprache aufgewachsen, mit all den deutschen Traditionen und Festen. Weihnachten und Nikolaustag mochten wir am liebsten. Euer Christkindl [Market] bewahrt dieses traditionelle deutsche Gefühl mit den Produkten, dem Essen, dem Kinder-/ Erwachsenenchor und deutschen Leuten.) Der Drang, traditionelles Wissen und Familientraditionen an die nächste Generation weiterzugeben, ist dabei sehr stark. Dies geht aus den beiden folgenden Einträgen hervor: Perhaps one day our children will attend with their future families (Vielleicht besuchen unsere Kinder eines Tages mit ihren zukünftigen Familien [den Christkindl Market].), You make it possible for people of another age, a new generation, and varied cultures to enjoy the magic . (Ihr macht es möglich, dass Personen eines anderen Alters, eine neue Generation, und verschiedene Kulturen, sich am Weihnachtszauber erfreuen können.) Darüber hinaus zeugen Besuchereinträge von Lernmomenten, wie dem Erkennen von Familientraditionen eines Ehepartners: My husband’s family is German and up until we visited the Christkindl Market a few years ago I only had stories and some samplings of the different Christmas foods from Germany from his family. Until we visited your wonderful market I never really understood the fascination my husband has always had for German Christmas . (Die Familie meines Mannes ist deutsch und bis wir den Christkindl Market vor einigen Jahren besucht haben, war ich nur mit Geschichten und verschiedenen Weihnachtsköstlichkeiten seiner Familie vertraut. Bis ich euren wunderbaren Markt be- 10 Kanadischer Christkindl Market zwischen zwei Kontinenten 91 sucht habe, habe ich nie wirklich die Faszination meines Mannes mit deutscher Weihnacht verstanden.) Zu den Wörtern, die sich auffälligerweise mehrmals in den Besuchereinträgen wiederholen, gehören das englische oder deutsche wonderful/ wunderbar , aber auch Wörter wie heritage und tradition . Daran und auch aus den obigen Beobachtungen wird deutlich, dass der Christkindl Market in Kitchener weit mehr als ein Unterhaltungsort ist. Im kanadischen Kontext spielt er eine starke Rolle für die Konstitution einer deutsch-kanadischen Identität über Traditionen, die mit den Einwanderern aus dem Mutterland reisen. Aus heutiger europäischer Perspektive erscheinen diese Traditionen oft überholt und verwurzelt in der Zeit der Einwanderung. So ist auch der Kitchener Christkindl Market Zeugnis einer Generation von Einwanderern, die natürlicherweise ihr bestimmtes Bild von Europa mitgenommen haben, was längst überholte Traditionen bzw. das Lokalkolarit einer bestimmten Gegend in Deutschland (z. B. Nürnberg) einschließt, und dabei z. B. die heutigen Unterschiede zwischen Weihnachtsmärkten zwischen Süd- und Norddeutschland außer Acht lässt. In Kanada mündet dieses Bild dann in der Präsentation einer deutschen Tradition, mit denen sich deutschsprachige Einwohner/ innen aus sehr unterschiedlichen europäischen Regionen und mehreren Generationen identifizieren können und wollen. Dabei werden Unterschiede in Kauf genommen und es wird das Gemeinsame gesucht, was sich in der Annahme von Traditionen sowie sprachlichen Gewohnheiten zeigen kann, die nicht gezwungenermaßen denen der regionalen europäischen Heimat entsprechen. Der folgende Besuchereintrag weist auf diesen (nicht unproblematischen) Traditionsstolz und das Festhalten an der Vergangenheit hin: As the rest of the world gallops forward, there is a tradition that keeps people in Waterloo Region firmly rooted in the past, at least during Christmas . (Auch wenn der Rest der Welt nach vorn gallopiert, gibt es eine Tradition, die die Menschen in der Region Waterloo fest in der Vergangenheit verwurzeln läßt, zumindest während der Weihnachtszeit.) Der Besuch der Webseite findet jedoch nicht nur zur Weihnachtszeit statt und ist fester Bestandteil der lokalen (virtuellen) Landschaft, besonders in ungewissen COVID-19-Zeiten, die den Besuch des eigentlichen Christkindl Markets , zumindest im Jahr 2020, anders ausfallen lassen werden. Ein Zeugnis für virtuelle Beständigkeit und Bezugspunkt in diesen schwierigen Zeiten ist folgender abschließender Besuchereintrag von der Facebook-Seite vom März 2020: hi my name is isabella and I am 16 and for me Christmas is a very magical time of year because I still believe in Santa clause and right now I am watching your channel an YouTube and that magic I can feel it right now from the comfort of home (hallo mein Name ist Isabella und ich bin 16 und für mich ist Weihnachten eine sehr magische Zeit des Jahres, weil ich noch an den Weihnachtsmann glaube, und 92 Grit Liebscher gerade schaue ich euer Programm auf YouTube und ich fühle diesen Zauber in diesem Moment, während ich zuhause bin). Nicht zuletzt durch dieses Zitat wird deutlich, dass der Kitchener Christkindlmarket und seine Webseite den Anspruch erfüllt, den Zauber der Weihnacht über zwei Kontinente zu transportieren. Literatur Liebscher, Grit/ Dailey-O’Cain, Jennifer. (2013). Language, Space, and Identity in Migration . Basingstoke: Palgrave Macmillan. Schulze, Mathias/ Liebscher, Grit/ Siebel-Achenbach, Sebastian (Eds). (im Druck). Germans of Waterloo Region. Ottawa: Petra Books. 0 0 0 11 Jesus in der Alltagssprache Henrike Helmer & Silke Reineke Religiöse Figuren werden häufig angerufen, so auch Gott (zum Beispiel oh Gott - in vier Wochen ist schon wieder Weihnachten! ). Während Gott als der Angerufene hier noch sichtbar ist, haben sich andere kleine Wörter gebildet, in denen das ursprünglich angerufene Wesen zuweilen gar nicht (mehr) erkennbar ist: Wir suchen daher in Aufnahmen von gesprochener Alltagssprache nach Jesus! als Ausruf und den von Jesus abgeleiteten Ausrufen Jessas und o(h)je . Sprecher*innen drücken in Gesprächen durch verschiedene Mittel eine Vielzahl von Emotionen aus. So zum Beispiel mit Interjektionen, also Ausrufen, die bestimmte Arten von Empfindungen und Emotionen vermitteln können. Die Linguistik unterscheidet unter anderem zwei Arten von Interjektionen (vgl. Nübling 2004: 15 f.): 1. primäre Interjektionen wie ups , oha und igitt , und 2. sekundäre Interjektionen wie Meine Güte , Herrgott oder Donnerwetter . Sekundäre Interjektionen unterscheiden sich von primären dadurch, dass sie lexikalische Elemente enthalten, durch die manchmal sogar ihre (ursprüngliche) Bedeutung noch erkennbar ist. Sofern es sich um Interjektionen handelt, haben sie aber kein Referenzpotenzial mehr - Mein Gott etwa verweist nicht mehr (klarerweise) auf ein übernatürliches Wesen, an das mit dem Ausruf appelliert würde. Ursprünglich referenzielle Ausdrücke können sich zu sekundären Interjektionen entwickeln und diese können sich wiederum zu primären Interjektionen weiterentwickeln - man spricht hier von Interjektionalisierung. Dies passiert häufig bei Tabuwörtern, etwa aus dem fäkalsprachlichen ( Scheiße ) oder religiösen Spektrum (s. Frick 2019, z. B. oh Gott ). Ein Beispiel für die Entwicklung einer sekundären zu einer primären Interjektion ist die von oh (mein) Jesus zu o(h)je . Damaris Nübling (2001) hat bereits detailliert nachgezeichnet, in Bezug auf welche Aspekte sich die Ausrufe ( oh ) Jesus und o(h)je voneinander unterscheiden (z. B. in Bezug auf die Ausdruckslänge und Silbenreduktion, die phonologische Realisierung und die orthographische Variabilität) und inwiefern sich beide Interjektionen ähneln - nämlich vor allem in Bezug auf die Verwendung als spontane, affektive Reaktion, die subjektive Emotionalität ausdrückt. 94 Henrike Helmer & Silke Reineke Da Jesus und o(h)je bisher nicht in authentischen Gesprächen untersucht wurden, hat uns interessiert, wie sich die emotiv-expressive Funktion der Interjektionen in Unterhaltungen zeigt und ob es sich eher um monologische, selbstbezogene Ausdrücke handelt oder ob es (auch) eine interaktive, sozialkommunikative Funktion gibt, wie sie andere Forscher*innen bereits für Interjektionen nachgewiesen haben (etwa Reber/ Couper-Kuhlen 2010). Darüber hinaus hat uns interessiert, ob sich Spuren des Interjektionalisierungsprozesses in Gesprächen aus unterschiedlichen Jahrzehnten nachweisen lassen. 1 Spuren der historischen Entwicklung Wir gehen zuerst der Frage nach, ob sich die oben skizzierten historischen Entwicklungstendenzen exemplarisch auch in Alltagsgesprächen nachweisen lassen. Da die Speicherung von Aufnahmen gesprochener Sprache in größerem Umfang erst ab dem 20. Jahrhundert überhaupt erst möglich war, ist eine echte diachrone (d. h. sprachgeschichtliche) Betrachtung zwar nicht durchführbar. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden jedoch schon viele Sprachaufnahmen des Deutschen gemacht, die uns etwas Aufschluss geben können: Exemplarisch vergleichen wir daher Daten aus den 1950er und 60er Jahren mit Daten aus den 2000er und 2010er Jahren. 1 Dazu haben wir nach drei Interjektionsformen gesucht, nämlich die sekundäre Interjektion Jesus , das daraus abgeleitete Jessas/ Jesses und die primäre Interjektion o(h)je . Der Blick in die Daten zeigt, dass sich in den 1950er und 60er Jahren eine Verwendung von allen drei Interjektionsformen in einigermaßen gleicher Häufigkeit findet: Sie kommen jeweils zwischen 5,1 und 9 Mal pro eine Million transkribierter Wörter ( tokens ) vor (s. die dunkelgraue Linie in Abb. 1). Schaut man nun die neueren Daten an, zeigt sich eine Änderung der Verwendungshäufigkeiten: Es sind noch vereinzelte Belege von Jesus zu finden, im Verhältnis zu allen transkribierten Wörtern aber schon weniger als noch in den 1950er- und 60er- Jahren. Man kann also sagen, dass Jesus als Interjektion heutzutage eher selten verwendet zu werden scheint. Von Jesses/ Jessas lassen sich in allen untersuchten 1 Grundlage für unsere Suche bilden die folgenden Korpora (d. h. systematische Sammlungen von Audio- und z.T. Videoaufnahmen): Die transkribierten Teile der Korpora „Deutsche Mundarten: Zwirner-Korpus“ (ZW) sowie „Deutsche Mundarten: ehemalige deutsche Ostgebiete“ (beide enthalten u. a. Standard- und Vorlesetexte und Erzählungen) für die 1950er und 1960er Jahre. Die Korpora „Deutsch heute“ (Interviews und Maptask- Interaktionen) und das „Forschungs- und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch“ (spontane Alltagsinteraktionen). Alle diese Korpora sind für die wissenschaftliche Öffentlichkeit über die Datenbank für Gesprochenes Deutsch (www.dgd.ids-mannheim.de) zugänglich. 11 Jesus in der Alltagssprache 95 Jahrzehnten ungefähr gleich viele Belege finden. 2 Die auffälligste Veränderung ist jedoch die Häufigkeit von o(h)je : In den neueren Daten wird es 181 Mal und damit 52 Mal pro eine Million tokens verwendet, also sehr viel häufiger als noch in den Daten der 50er und 60er Jahre. 3 Es lässt sich also sagen, dass Jesus in der gesprochenen Alltagssprache zwar noch vereinzelt als Interjektion vorhanden ist, aber viel häufiger - und als solches nicht mehr erkennbar - in o(h)je . Abb. 1: Häufigkeit der Verwendung der Interjektionen pro 1 Mio. tokens Nach dieser Betrachtung von Häufigkeiten wollen wir uns nochmal genauer in den Daten des neueren Deutsch ansehen, wie die Interjektionen in Gesprächen verwendet werden. Werden die Emotionen ausdrückenden Interjektionen Jesus , Jesses/ Jessas und o(h)je wirklich hauptsächlich - wie von der bisherigen linguistischen Forschung gezeigt - monologisch und selbstbezogen verwendet? Finden sich auch interaktive Funktionen mit stärker auf andere Personen bezogenen Ausdrücken von Emotionen? 2 Jesus, Jesses und o(h)je in der Interaktion Jesus ist eine lexikalische, also sekundäre Interjektion, wobei mit dem Ausdruck weder (nachweisbar) Jesus selbst angesprochen wird noch andere Gesprächsteilnehmer*innen. Dies zeigt der folgende Ausschnitt aus einem Experiment, an 2 Die Trennung von Jesus gegenüber Jesses ist dabei nicht immer eindeutig, etwa wenn Sprecher*innen Jessus äußern. 3 Dies muss nicht gezwungenermaßen auch bedeuten, dass o(h)je in der neueren deutschen Sprache generell häufiger gebraucht wird. Eine Rolle können auch unterschiedliche Gesprächstypen in den Datensammlungen spielen, da in den neueren Sammlungen authentische dialogische Gespräche häufiger sind. 96 Henrike Helmer & Silke Reineke dem die beiden Sprecherinnen A und B teilnehmen. Beide haben ein Blatt mit verschiedenen Bildern (z. B. von einem Arzt wie im Beispiel in Zeile 04) vor sich liegen. Auf As Blatt ist ein Weg durch diese Bilder hindurch eingezeichnet, den sie so erklären muss, dass B ihn auf ihrem Blatt nachzeichnen kann. DH_E_00005_SE_35_T_01_c204 01 A jetzt MALST du? 02 also noch nicht malen [hör erst] mal ZU, 03 B [mhm- ] 04 A n KREIS um den arzt bis zu diesem punkt wo du gerade bist, 05 °h und der kreis ist zirka (-) überall ZWEI zentimeter vom arzt entfernt. 06 (---) 07 B bis ich da wieder AN[komme an dem punkt. ] 08 A [bis du wieder an dem] punkt ANkommst ja. 09 (-) 10 B <<p>oh JEsus. 11 n KREIS malen; > 12 A ja der kreis ist hier auch nicht SO rund- 13 also is schon Okay. Als A der Sprecherin B erklärt, dass sie einen Kreis mit Abstand von 2 cm um das Bild des Arztes zeichnen muss (Z. 01-04), versichert B sich erst, dass der Startpunkt auch der Endpunkt ist, es sich also um einen vollständigen Kreis handelt, was A bestätigt (Z. 07 und 08). B äußert danach die sekundäre Interjektion Jesus , kombiniert mit der primären Interjektion oh (Z. 10), und rahmt damit eine weitere Äußerung (Z. 11): „oh JEsus. n KREIS malen; “. Das Nomen Kreis wird dabei besonders akzentuiert (im Beispiel markiert durch die Großbuchstaben), steht also im Fokus der Äußerung. Sprecherin As folgende Versicherung, dass der Kreis nicht genau rund sein muss (Z. 12-13), zeigt an, dass sie Bs Äußerung als den Ausdruck negativer Emotion interpretiert, die sich auf die Schwierigkeit bezieht, einen Kreis per Hand zeichnen zu müssen. Während die Erwähnung des Kreises in Zeile 11 diese Interpretation überhaupt erst ermöglicht, hat der vorangehende Ausdruck oh Jesus vor allem eine monologische, selbstbezogene und dabei affektive, emotiv-expressive Ausdrucksfunktion ohne Appellcharakter. Die primäre Selbstbezogenheit zeigt sich etwa darin, dass die Interjektion leiser geäußert wird als die restliche Rede von B (im Beispiel angezeigt durch das <<p>> = piano). 11 Jesus in der Alltagssprache 97 Diese Funktion findet sich auch bei vielen Beispielen der Interjektionen Jesses und Jessas . Alle drei Interjektionen rahmen Aussagen, die Positives ( jesus großartige Musik ), eher neutral Bemerkenswertes ( un jesses wann d so zurickdenkscht ), aber auch Negatives ( ach jesses do is ja gar nischt los ) beschreiben. Ein Blick in die Daten zeigt aber, dass die Interjektionen in positiven und neutralen Kontexten in den 50er und 60er Jahren tendenziell noch häufiger sind und in den 2000er und 2010ern eher in negativ besetzten Kontexten auftauchen. In jedem Fall ist bei der sekundären Interjektion Jesus und den Varianten Jesses/ Jessas die emotiv-expressive und dabei selbstbezogene Verwendung die Regel. Dies ist anders bei der primären Interjektion o(h)je , die häufigste Variante der drei Formen, bei der die interaktive Funktion in den Vordergrund tritt. O(h)je wird in der Interaktion auch in den schon erwähnten selbstbezogenen, monologischen Funktionen verwendet. Neben diesen schon in der Literatur beschriebenen Verwendungen finden sich auch besonders auf die Interaktivität gesprochener Sprache ausgerichtete, alleinstehende o(h)jes , die als Reaktion auf Äußerungen oder Berichte zu im weitesten Sinne negativen Umständen geäußert werden. Ein Beispiel dafür ist der folgende Austausch zwischen CS und CB, zwei Freundinnen, die miteinander spazieren gehen: FOLK_E_00344_SE_01_T_01_c407 01 CS (.) ((stöhnt)) ich hab heute so KOPFschmerzen, 02 CB °h schon [WIEder; ] 03 CS [schon wi]eder ja, 04 (1.25) 05 CS ich [weiß nich] waRUM. 06 CB [ohJE: . ] 07 (0.46) 08 CS °h seit dieser WOche. ((lacht)) °hh CB äußert ein alleinstehendes ohje (Z. 06), nachdem CS von ihren Kopfschmerzen berichtet hat und drückt damit Mitgefühl aus. Auch wenn Interjektionen zuweilen als Ausruf bezeichnet werden, werden sie häufig - und so auch hier - in normaler (also nicht lauter) Lautstärke geäußert. In diesem Beispiel wird außerdem das e leicht gedehnt (hier durch den Doppelpunkt markiert) sowie mit fallender Tonhöhe produziert (hier durch den Punkt markiert), was den mitfühlenden Charakter der Äußerung verstärkt. In den Daten der 2000er und 2010er Jahre finden sich einige dieser responsiven und Empathie ausdrückenden Verwendungen. Es zeigt sich also, dass die emotiv-expressive Funktion der 98 Henrike Helmer & Silke Reineke Interjektion durchaus nicht nur monologisch auf die Sprecherin selbst bezogen sein muss. Während dies bei Jesus noch der Fall zu sein scheint, scheint bei o(h)je das Spektrum der Verwendung um diesen interaktiven, empathischen Aspekt erweitert zu sein. Die reduzierte Form o(h)je lässt auch in unseren Daten keine Referenz zu Jesus mehr erkennen. Interessant ist jedoch, dass die responsiven o(h)jes den mitfühlenden Aspekt einer Reaktion auf negative Umstände hervorzuheben scheinen. Die Interjektion kann dabei entweder einer direkt angeschlossenen inhaltsbezogenen Reaktion (wie z. B. einem Ratschlag) als empathische Rahmung vorangestellt werden. Oder aber o(h)je wird alleinstehend geäußert (z. B. wenn es anstelle eines Ratschlages erfolgt) und dadurch der Ausdruck des Mitgefühls hervorgehoben. Die Entwicklung der Interjektion von Jesus zu o(h)je ist daher ein schönes Beispiel dafür, wie Sprecher*innen nicht nur selbstbezogen Emotionen ausdrücken, sondern wie sie interaktiv die Emotionen des Gegenübers wahrnehmen und zurückgeben. Literatur Frick, Eckhard S.J. 2019. Kenosis. Eine Sprache für die verborgene Spiritualität finden. In: Eckhard Frick/ Lydia Maidl (Hrsg.). Spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive . Berlin/ Boston: de Gruyter, 277-292. Nübling, Damaris. 2001. Von oh mein Jesus! zu oje! − Der Interjektionalisierungspfad von der sekundären zur primären Interjektion. Deutsche Sprache 1/ 01, 20-45. Nübling, Damaris. 2004. Die prototypische Interjektion: Ein Definitionsvorschlag. Zeitschrift für Semiotik 26, 11-45. Reber, Elisabeth/ Couper-Kuhlen, Elizabeth. 2010. Interjektionen zwischen Lexikon und Vokalität: Lexem oder Lautobjekt? In: Arnulf Deppermann/ Angelika Linke (Hrsg.). Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton . Berlin/ New York: de Gruyter, 69-96. 0 0 0 12 Gibt es einen Weihnachtsmann? Pelzmärtel, Nikolaus, Krampus, Knecht Ruprecht und die Linguistik Gerd Antos Zum festen Bestandteil populärer Weihnachtsüberlieferungen in den USA gehört der Brief einer achtjährigen Virginia an ihren Vater mit der Frage: Gibt es einen Weihnachtsmann? Der verunsicherte Vater übergab diesen Brief an den Redakteur der Zeitung New York Sun, der dann mit einem Leitartikel unter dem Titel „ Yes, Virginia, there is a Santa Claus “ antwortete (21. 11. 1897). So einfühlsam sich seine Begründung auch lesen mag, viele Eltern hätten heute damit ein ethisch-moralisches Problem. Davon zeugt u. a. eine nicht abreißende Diskussion in der Presse und in sozialen Medien. 1 Gewiss: Wohl niemand wird die Wahrheit Kindern so unverblümt wie in der folgenden Mediennotiz präsentieren wollen: „Den Weihnachtsmann gibt es nicht“, rief ein Dirigent in Rom bei einer Aufführung für Kinder. Er wurde gefeuert . 2 Dennoch: Der Weihnachtsmann wirft Fragen auf - nicht nur, weil er als Klettermaxe öffentliche Wände schmückt und er darüber hinaus kommerzialisiert wurde. Wer weiß schon, dass es in anglo-amerikanischen Gegenden über Jahrhunderte hinweg große Vorbehalte allein schon gegen weihnachtliche Festtagsfeiern 3 gab, so wie heute in manch nicht-christlichen Familien. 4 Gleichwohl: 1 Vgl. Stöcker, Christian (2016): Weihnachtsmann und Christkind Lügen Sie ruhig mal kräftig! In: Spiegel Online 18.12.2016, 11.55 Uhr https: / / www.google.de/ search? sa=X&lei=UuwJX_ yeE4LgkgXG6JGIAQ&q=kinder%20weihnachtsmann%20wahrheit&ved=2ahUKEwj8j -zR0sXqAhUCsKQKHUZ0BBEQsKwBKAJ6BAgREAM&biw=1680&bih=867 2 Spiegel online. www.spiegel.de/ panorama/ italien-dirigent-leugnet-weihnachtsmann-undwird-gefeuert-a-1a128125.htm 3 Weil das Weihnachtsfest heidnischen Bräuchen entspringe (und mit der katholischen Kirche verbunden sei), lehnten reformierte Kirchen in Genf und Schottland, aber auch Quäker, Puritaner, Mennoniten und andere Gruppen in den USA Weihnachten als Fest ab. Erst im 19. Jahrhundert wurde Weihnachten (wohl durch den Einfluss des Gemahls von Königin Viktoria, Prinz Albert) in England heimisch. Einen ähnlichen Umschwung gab es in den USA, in dem Weihnachten erst 1856 zu einem staatlichen Feiertag erhoben wurde. 4 In einer Gesellschaft mit einem hohen Anteil an Immigranten scheint folgender Hinweis nicht uninteressant zu sein: „ In einigen jüdischen Haushalten, die als Minderheit in einer christlichen Umgebung leben, kommt es vor, „Weihnukka“ zu feiern. Dabei werden zum 100 Gerd Antos Nicht nur aus der Sicht der Volkskunde oder der Ethnologie 5 ist diese Symbolfigur aus unseren Alltagsbräuchen und -ritualen nicht mehr wegzudenken. Allerdings haben es der Weihnachtsmann und vergleichbare Figuren unserer Alltagskultur in postfaktischen Zeiten nicht immer leicht 6 - eingeschlossen ihren Eltern und Kindern. Denn schon in den sozialen Netzwerken können Kinder erfahren: „ Seien wir ehrlich: Weihnachten in seiner modernen Form basiert auf Betrug - die Existenz des Weihnachtsmanns ist eine Lüge. Genau wie die des Christkinds und Knecht Ruprechts. Allerdings: Kinder lieben diese Lüge. Da ist es auch egal, dass einst der Coca-Cola-Konzern zur Verbreitung der Weihnachtsmann-Legende beigetragen hat “. 7 Nicht nur Eltern stürzen solche WWW-Weisheiten in ein gewisses Dilemma. Kann da die Linguistik vielleicht weiterhelfen - natürlich im Konzert mit der Kirchengeschichte, der Ethnologie oder den Geschichtswissenschaften? Versuchen wir es: Was kindliche Neugierde zunächst anstacheln und zugleich umlenken mag: Der Weihnachtsmann heißt in anderen Ländern anders: Père Noël in der evangelischen Westschweiz, Väterchen Frost in Russland, Sinterklaas in Holland oder Santa Claus in anglophonen Ländern. Bleibt die Frage: Welcher dieser Weihnachtsmänner ist eigentlich mit der Frage nach seiner Existenz gemeint? Bevor man diese Frage überhaupt beantworten kann, muss geklärt werden, ob die zentrale Präsupposition 8 dieser Frage überhaupt erfüllt ist. Denn um welchen dieser Gabenbringer geht es denn hier wirklich? Man braucht dazu nicht einmal die linguistische Namenforschung zu bemühen (Vgl. Debus 2012 oder Nübling / Fahlbusch / Heuser 2012), um Kindern Chanukka-Fest beispielsweise Tannenbäume in Wohnzimmern aufgestellt und mit Kugeln geschmückt, in die Davidssterne eingraviert sind. (…) In einigen muslimischen Haushalten kommt zu Weihnachten eine Gans auf den Tisch und die Kinder bekommen Geschenke. Da die Geburt Jesu Christi im Koran ausführlich beschrieben wird, ist den Muslimen der Ursprung des Weihnachtsfests nicht fremd .“ (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Weihnachtsbrauchtum_in_Deutschland). 5 Hauschild (2012) versucht zu zeigen, dass der „ transkulturelle Gott der Gaben “ im Übrigen eine Figur ist, die in Asien ebenso vorkommt und auch schon vor dem Nikolaus / Weih nachtsmann mythisch verbreitet war. 6 „ Postfaktisch ist das Wort des Jahres, Fake News in aller Munde, die Wahrheit hat einen schweren Stand in diesen Tagen. Und jetzt auch noch das: Weihnachten, das Fest der Lügen. Schadet das nicht den Kindern? “ so die zusammenfassende Einleitung des Artikels von Stöcker (2016). 7 Vgl. Römer, Jörg (2014): Glaube an den Weihnachtsmann Santa Claus oder Papa Klaus? (22.12.14, 19.15 h) https: / / www.spiegel.de/ gesundheit/ psychologie/ weihnachtsmannund-glaube-wenn-kinder-an-santa-claus-zweifeln-a-1008534.html 8 Bekanntlich kann man auf die Frage: „ Ist der gegenwärtige König von Frankreich kahlköpfig “ nicht einfach mit Ja oder Nein antworten, weil es ihn gar nicht gibt. 12 Gibt es einen Weihnachtsmann? 101 (und sich) klarzumachen: Wenn in England oder in den USA der Weihnachtsmann schon Santa Claus heißt, so ist eine Verwechslung mit dem uns bekannten Nikolaus nicht auszuschließen. In der Tat: Der Weihnachtsmann sieht dem ehemaligen Bischof von Myra (in der heutigen Türkei) auf seiner Wanderung durch anderthalbtausendjährige Legenden verblüffend ähnlich. Wie dieser soll er an Menschen, vor allem Kinder, in schweren Zeiten Geschenke verteilt haben. Für Martin Luther immerhin ein Grund mehr, diesen Gabenbringer von seinem Namenstag am 6. Dezember auf das Weihnachtsfest zu verlegen. Nur am Rande: Die linguistische Namenforschung beschäftigt sich mit Fragen der historischen und aktuellen Namengebung 9 , der Namenentwicklung (Vgl. Eichhoff / Seibicke / Wolffsohn 2001) 10 und der Tradierung von Namen, 11 etwa, was der in Franken so beliebte „Pelzmärtel“ mit dem heiligen St. Martin, Bischof von Tours, zu tun hat, der am 10. November, seinem Namenstag, in manchen Landstrichen vor Laternen schwingenden Kindern und auf dem Pferd reitend populärer ist als der Nikolaus. Wenn aber Kinder weiterfragen, lässt sich aus linguistischer Perspektive noch ergänzen: In Österreich und in Teilen Süddeutschlands wird der Nikolaus vom Krampus mit seiner rasselnden Kette und der Rute begleitet. Krampus ähnelt damit verblüffend dem Knecht Ruprecht , der in manchen Gegenden den Weihnachtsmann begleitet. Wer will, der oder die kann dann noch mit seinen Kindern einen Ausflug in unsere sprachhistorische Vergangenheit machen und erzählen, was „Weihnachten“ eigentlich etymologisch bedeutet (so viel wie geweihte d. h. heilige Nacht ). 12 Älteren (Schul-)Kindern kann man vielleicht noch mit der Frage kommen, warum die Geburt Christi mit der winterlichen Sonnenwende zusammenfällt. Aber das gehört in die Kirchen- und Kulturgeschichte. Plätzchen-verteilend lässt sich Kindern in Gesprächen schon einmal zusammenfassen: Der Weihnachtsmann trägt in anderen Ländern andere Namen - übrigens auch in Lappland! Er ähnelt verblüffend dem Nikolaus und wird auch noch wie der Krampus bisweilen vom Knecht Ruprecht begleitet. Wen also hat die zitierte Virginia mit ihrer Frage eigentlich gemeint? 9 Vgl. die lustigen Beispiele in Dambeck/ Stotz (2019) , die nicht nur für einen Rauschbart interessant sein dürften. (Dambeck, Holger/ Stotz, Patrick. 2019. Namen von Friseursalons: Verhairendes Haar-a-kiri. Spiegel Online 12.01.2019, 16: 00 Uhr) 10 Eine Sonderentwicklung hat das „Naming“ genommen, die für neue Produkte einen dazu passenden Namen sucht. 11 Zu dem Phänomen der Namenstradierung gehört leider auch, dass fremdklingende oder sozial abgewertete Namen ein merkwürdiges Eigenleben führen. Ausführlicher und kritisch Kohlrausch (2015). 12 Einen kurzen Überblick bietet der Wikipedia-Artikel: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Weihnachten 102 Gerd Antos Eine Antwort darauf könnten dann Eltern oder Großeltern unter Bezugnahme auf die Text- und Diskurslinguistik und dort auf die Textsortenlinguistik versuchen. Ob es also einen Weihnachtsmann gibt oder nicht, hängt ganz entscheidend davon ab, welche Geschichten, Erzählungen, Legenden oder wissenschaftlichen Darstellungen man in welchem Teil der Welt über ihn vermittelt. Hinzu kommt natürlich, welche Lieder man singt 13 und welche Bilder oder Filme man dazu anschaut. Damit lässt sich selbst Kindern vermitteln, was in den Sprach- und Medienwissenschaften inzwischen ein Gemeinplatz ist: Was wir zu wissen glauben, das wissen wir heute vor allem aus Geschichten, Erzählungen, Bildern oder Filmen. Medien erzeugen ihre ganz eigene „Wirklichkeit“ und das heißt auch: zunächst einmal autopoetisch ganz unabhängig davon, ob und welche „objektive Realität“ dahinter verborgen ist. 14 Dennoch: Im Sinne der linguistischen Vertrauensforschung (Schäfer 2016) kann man sich nicht ganz vor der diskurs-ethischen Frage von Virginia herumdrücken. Immerhin bringt sie ihre Zweifel schriftlich zum Ausdruck. Ihr mit Hinweis auf sogenannte „weiße Lügen“ ein mögliches Schockerlebnis ersparen zu wollen, ist die eine Seite. Der damit unvermeidlich verbundene Vertrauensbruch die andere. Gewiss: Anders als egoistisches Lügen gelten „weiße Lügen“ manchen z. B. im Sinne der Höflichkeits-Maxime als „prosozial“ - insbesondere, wenn damit angeblich keine schlechten Absichten verbunden seien und sich die damit ausgelösten Nebenwirkungen in Grenzen halten. Bei dem Brief des Redakteurs an Virginia mag man durchaus positive Intentionen unterstellen. Allerdings hat er ihren Brief dann in seiner Zeitung veröffentlicht. Ist das kein Vertrauensbruch? Immerhin ist Vertrauen nicht nur eine entscheidende Ressource bei der Reduktion von Komplexität, sondern auch eine grundlegende Prämisse für Kommunikation schlechthin. Im Falle des Weihnachtsmannes können natürlich entwicklungspsychologische Erkenntnisse helfen: Nach einer „magischen Phase“ beginnen Kinder etwa ab 4 Jahren zwischen Realität und Fiktionalität zu unterscheiden. Damit sind wir wieder auf die Frage zurückgeworfen, wieviel Wahrheit wir vertragen wollen oder können. Zugespitzt gefragt: Hat nicht der Dirigent letztlich recht, auch und gerade weil er für seine klare Haltung gefeuert wurde? Linguistisch lässt sich hier noch ein Ausflug in die Referenzsemantik anknüpfen: Danach beziehen wir uns mit einem Eigennamen wie Weihnachtsmann auf etwas anderes jenseits des Zeichens, z. B. auf eine reale oder fiktionale Person. Dieser Hinweis wird aber weder zweifelnde Kinder noch ratlose Eltern 13 Bekannt geworden ist der Weihnachtsmann im 19. Jahrhundert als Gabenbringer besonders durch das populäre Lied: „ Morgen kommt der Weihnachtsmann “ von Hoffmann von Fallersleben (1835) mit einer durch Mozart bearbeiteten französischen Melodie. 14 Vgl. vor allem die einflussreiche Position von Niklas Luhmann (2004). 12 Gibt es einen Weihnachtsmann? 103 weiterbringen. Immerhin könnte man noch den Hinweis auf die wahrheitswertorientierte Semantik dranhängen. Ihr geht es immerhin um die Frage, welche Bedingungen eigentlich erfüllt sein müssen, damit eine Aussage als wahr oder falsch beurteilt werden kann. Was die für Kinder entscheidende Frage betrifft: Wer bringt eigentlich Geschenke - das Christkind oder der Weihnachtsmann? so könnte man mit dem Logiker Gottlob Frege (1962/ 1892) und seinem Hinweis auf den Morgenstern und den Abendstern antworten. Auch hier haben wir zwei unterschiedliche Namen; das Bezugs- oder Referenzobjekt ist aber in beiden Fällen immer der Planet Venus . Damit ist die Frage nach der Wahrheit nicht aus der Welt - ganz im Gegenteil. Darauf hat Paul Grice (1993) mit seinen Kommunikations-Maximen aufmerksam gemacht. Allerdings kann die sogenannte Wahrheits-Maxime mit der Maxime der Relevanz durchaus in Konflikt geraten: Der Dirigent mag zwar eine Wahrheit herausposaunt haben, aber seine Äußerung erscheint in dem genannten Kontext doch ziemlich deplatziert. Fazit: Fragen wie die von Virginia stellen uns vor ein nicht unbekanntes Dilemma. Die sprachliche Erzeugung von möglichen Welten schafft zwar einerseits ganz eigene Wirklichkeitskonstruktionen. Ob und inwieweit sie aber mit Blick auf die Erzeugung „objektiver Welten“ „real“ oder „fiktional“ sind, bleibt andererseits eine beständige Herausforderung für uns alle - nicht nur zu Weihnachten. Literatur Debus, Friedhelm. 2012. Namenkunde und Namengeschichte . Berlin: Erich Schmidt Verlag. Eichhoff, Jürgen/ Wilfried Seibicke/ Michael Wolffsohn. 2001. (Hrsg.): Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung . Berlin: Dudenverlag. Frege, Gottlob. 1892/ 1962. Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Herausgegeben und eingeleitet von Günther Patzig . Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 38-63. Grice, Paul H. 1993. Logik und Konversation. In: Georg Meggle (Hrsg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. 243-265. Hauschild, Thomas. 2012. Weihnachtsmann. Die wahre Geschichte . Frankfurt/ M.: Fischer. Kohlrausch, Kristin. 2015. Der Einfluss des Personennamens auf die Entwicklung und den Lebensweg eines Menschen . München: GRIN Verlag. www.grin.com/ docu ment/ 424086 104 Gerd Antos Luhmann, Niklas. 2004. Die Realität der Massenmedien . Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Nübling, Damaris/ Fabian Fahlbusch/ Rita Heuser. 2012. Namen. Eine Einführung in die Onomastik . Tübingen: Narr. Schäfer, Pavla. 2016. Linguistische Vertrauensforschung. Eine Einführung . Berlin/ Boston: de Gruyter. 0 0 0 13 Zeit der merkwürdigen Wörter Gabriele Diewald Manchmal begegnet einem ein schönes, unbekanntes Wort so unverhofft, wie man bei einem Spaziergang durch den Dschungel vielleicht plötzlich einem seltenen und schillernd bunten Schmetterling gegenübersteht. 1 Die meisten Menschen, die in Deutschland sozialisiert wurden, haben Kindheitserinnerungen an Weihnachten und an die Wochen davor. Ein Gutteil dieser Erinnerungen betrifft in meinem Fall neue, nie gehörte Wörter, die sich in dieser Zeit in größeren Scharen unter das alltägliche Wortgemenge mischen. Seltsame Wörter: verwirrend, ein bisschen dunkel-gruselig und unendlich verlockend. Merk-würdige Wörter. Über diese Erfahrung will ich im Folgenden sprechen. Dass sie auch anderen nicht unbekannt ist, zeigt das vorangestellte Zitat von Axel Hacke. Auch wenn es - jahreszeitmäßig und anlassbezogen - ein wenig stört, dass er uns zu einem Dschungelspaziergang abschleppt - vermutlich nicht Bestandteil der Alltagserfahrungen der meisten -, auf dem wir dann einem Schmetterling „gegenüberstehen“. Bin ich schon jemals einem Schmetterling gegenübergestanden? Falls ja, wo stand der Schmetterling? Stand er überhaupt? Oder saß er womöglich mir gegenüber in einem der Clubsessel in der Jungle Lounge und blickte auffordernd zu mir herüber, so dass ich mich zu einem international verträglichen nice to meet you , how do you do veranlasst sah? Naja, lassen wir das! Nörgeln wir nicht länger am schrägen Vergleich herum, sondern schreiten wir zur Tat: zur Rekapitulation, zur Anrufung merkwürdiger Wörter der Weihnachtszeit. Normalerweise fällt der (früh-)kindliche Erstkontakt mit einem Wort dem Vergessen anheim. Daher erscheint allein die Tatsache des sich Erinnern-Könnens (oder die Einbildung, dass es so sei) als etwas Bemerkenswertes, Wertvolles, durchaus aufgeladen mit Sentimenten aller Art: Wie ein Fremdling im Wörtergewimmel zum ersten Mal ins Blickfeld der noch mühsam Lesenden sprang oder unversehens beim gemeinsamen Singen im Kindergarten in die Einflugschneisen der Gehörgänge geriet. Wie er im Stillen geprüft und gewendet, innerlich wiederholt und geübt und schließlich bei Gelegenheit verlautbart 1 aus: Hacke, Axel. 2006. Das Beste aus meinem Leben. Mein Alltag als Mann . München: Kunstmann. 14 106 Gabriele Diewald wurde. Wie sich an diesen (vielleicht) erinnerten Vorgang ganze Bündel weiterer Erinnerungen hängen, Empfindungen auch, die gemeinsam mit dem Wort auftauchen, die an ihm haften wie der Kleber alter Etiketten am Marmeladenglas. Selbst die Tatsache, dass später, zum Teil viel später, Bedeutungen korrigiert, richtige Lautungen nachgetragen werden, dass der gewohnheitsmäßige Gebrauch das Anfangserstaunen abreibt, kann es nicht ganz zum Erlöschen bringen, das Fünkchen Glanz, das sich mit einem solchen Wort verbindet. Das kleine Geschiller eines dahergelaufenen Schmetterlings. Das Aufblitzen eines Schnipsels Goldpapier im Matsch des Gehwegs an einem lichtarmen Tag. Lange wusste ich nicht, was Advent bedeutet. Doch hatte ich selbstverständlich jedes Jahr einen Adventskalender, meinen Adventskalender. Leitstern und Regler einer wochenlangen, gespannten, sich immer höher aufspannenden Erwartung des einen wunderbaren Ereignisses - der Bescherung: Moment, in dem alle Wünsche ihre Erfüllung finden. Die Dramaturgie des Adventskalenders erfordert das sorgfältige, mehrfache Durchzählen der Türchen. Sind wirklich alle Ziffern von 1 bis 24 auf dem bunt bedruckten Pappkarton vorhanden? Auch muss täglich nachgerechnet werden, wie viele der Türchen noch zu öffnen sind bis zur Bescherung. Und niemals, wirklich niemals, darf ein Türchen vor der Zeit geöffnet werden. Bei den Adventskalendern, an die ich mich erinnere, war übrigens nichts hinter den Türchen - keine Süßigkeit, kein Spielzeug, nichts außer einem weiteren kleinen Bild auf Pappe gedruckt. Das genügte, den Bogen weiter zu spannen. Und ganz sicher half es dabei, das Verbot der vorzeitigen Türchenöffnung zu befolgen. Irgendwann, vermutlich in den ersten Grundschuljahren, erfuhr ich, dass Advent lateinisch ist und ‚Ankunft‘ heißt und hier im Besonderen die ‚Ankunft Christi in der Welt‘ bezeichnet. Diese Neuigkeit ließ mich kalt. Es war mir egal, auf wen oder was andere warten. Ich schritt weiterhin jedes Jahr im Advent die 24 Stufen der sich steigernden Gespanntheit hinauf, dem Bescherungszimmer entgegen, in dem sich Wunderbares und Köstliches materialisierte. Ganz sicher. Jedes Jahr. Advent: dramatische Vorbereitung auf die Bescherung. Man könnte, von Entrenchment sprechend, einen eleganten Bogen zur kognitiven Linguistik schlagen. Unter den Köstlichkeiten, die schon Wochen vor dem Fest dazu beitrugen, sämtliche Sinne auf letzteres vorzubereiten und zu trainieren, waren Lebkuchen und Spekulatius. Ab Anfang November traten sie in zunehmender Häufung im Alltag auf. Vorher gab es kein Weihnachtsgebäck. Keine Lebkuchen, keine Spekulatius. Wirklich nicht! Ich schwöre! Kein einziger Lebkuchen, kein Krümel Spekulatius im Lebensmittelhandel im September. Spekulatius war nicht nur wegen des aufregenden Gewürzanteils, sondern auch wegen des Klangs von besonderer Bedeutung. Fremd und verheißungsvoll, 13 Zeit der merkwürdigen Wörter 107 schelmisch und ernst: Vielleicht der Name einer mit besonderen Fähigkeiten und besonderen Befugnissen ausgestatteten Personen? War ich vielleicht auch ein Spekulatius? Spekulieren war ein Wort, das meine Großmutter verwendete, wenn sie über kluge, hochfliegende Überlegungen und Pläne anderer sprach. Es war eindeutig kritisch gemeint. Das wollte nicht so recht passen, zu dem herrlichen Effekt beim Verzehr eines Spekulatius: Der harte Biss und der sofort einsetzende Zerfall im Mund, die Auflösung in bitterscharfsüße Geschmackswellen. Das verdient einen besonderen Namen, hochfliegend hin oder her: Spekulatius . Über die umstrittene Etymologie findet sich an den einschlägig bekannten Stellen vielfältige Auskunft: Sie reicht von ,Zuckerbackwerk als Tischschmuck, Gebäck‘ (aus dem Niederländischen) über ,Betrachtung, Beschauung‘ (aus lat. speculātio ) bis hin zu ,Erzeugnisse zum Wohlgefallen‘ (nach dem Französischen). Viel Spekulier-Raum also. Mit der Wortgeschichte des Lebkuchens verhält es sich im Übrigen nicht viel besser, auch wenn er zunächst - im krassen Gegensatz zum Spekulatius - sehr vertraut, leutselig und eindeutig daherkommt. Aber im Ernst: Was soll das Leb in Lebkuchen sein? Lieb? Leib? Leben? Bei Wolfgang Pfeifer et al., im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen von 1993 2 findet sich s.v. Lebkuchen folgender Eintrag: Lebkuchen m. landschaftliche Bezeichnung für ,Honigkuchengebäck‘, mhd. lebekuoche, mnd. lēvekōke. Das Bestimmungswort ist nicht sicher zu deuten. Möglich erscheint Entlehnung aus lat. lībum ‚Fladen‘, wenn e (statt zu erwartendem mhd. ī, nhd. ei) als volkssprachliche Aussprache eines in den Klosterküchen gebrauchten mlat. libum aufzufassen ist; […]. Erwogen wird ferner, in Lebeine ablautende Form zu dem unter ↗Laib ‚Brot‘ (s. d.) behandelten Substantiv zu sehen; […]. Der Lebkuchen wäre damit als eine Art Fladenbrot zu klassifizieren? Dies kommt - jedenfalls in der Welt der Verfasserin, die auf langjährige und intensive Selbstversuche mit Lebkuchen aller Qualitätsklassen zurückblicken kann - überhaupt nicht in Frage. Auch hier bleibt ein unlösbares Dilemma. So gewiss sich das kulinarische Glück beim Verzehr eines (richtigen) Lebkuchens einstellt, so gewiss bleibt die etymologische Unrast bei der Suche nach der echten, der wahren, der letztendlichen, der erstanfänglichen Bedeutung des Erstgliedes Lebim Kompositum Lebkuchen . Déformation professionelle . Ehemals weihnachtliche Backwaren gibt es mittlerweile fast das ganze Jahr über. Wenn man von einer Evolution der Dinge sprechen wollte, dann wären 2 digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https: / / www.dwds.de/ wb/ etymwb/ Lebkuchen> 108 Gabriele Diewald Lebkuchen und Spekulatius evolutionär erfolgreich. Auf andere ehemalige Weihnachtsutensilien und die begleitende Personage trifft dies nicht zu. Sie sind im Aussterben begriffen - und mit ihnen wohl auch die Wörter. Pelzermärtl und Rumpeldammer haben sich in die hinterwäldlerischsten Gruften des süddeutschen Dialektraums zurückgezogen. Die Rauschgoldengel , diese wundersamen Kreuzungen aus Madonna, Barbie und Tischfeuerwerk, werden auf eBay verramscht. Auch Lametta gehört zu den Verlierern der Weihnachtsevolution. Was für ein Jammer! Lametta, das waren schwere, überraschend leicht zerreißbare Streifen aus Metall. Sie hingen wie flüssiges Silber vom Christbaum. Ständig in Bewegung wie Rauch im Wind, ständig wechselnde Lichtimpulse aussendend wie leichte Wellen im See. Ein Flirren und Flittern, als wäre der Baum ein sprechendes Wesen. Später lernte ich, dass Lamettafäden Eiszapfen symbolisieren sollten - ich hielt das für einen schlechten Scherz. Lamettafäden rannen wie Sand durch die Finger, oder wie Wasser, oder wie beides - schwer und kühl. Sie hinterließen einen metallschmierigen Belag auf den Händen, der eigenwillig roch, nicht sehr gut und wie nichts anderes. Wundersam wie das Objekt war auch der Name. Gab es je ein Wort das zauberhafter die dunkle Jahreszeit erleuchtete? Unverwechselbar in seinem weichen, doch klarschnittigen Rhythmus, mysteriös - vielsagend - nichtssagend in seiner Bedeutung. Heute kann in Klickgeschwindigkeit überprüft werden, dass Lametta aus dem Italienischen kommt und eine Verkleinerungsform von lama ‚Metallblatt‘ ist. Es kann auch erlesen werden, dass die letzte Lamettafabrik im Jahr 2015 ihre Produktion einstellte und dass der Rückgang der Beliebtheit dieses Dekorationsartikels u. a. auf dessen Bleigehalt zurückzuführen ist. All dies mag zutreffen. Doch Lametta ist das Wort und das Ding, das ich bewahren würde, wenn ich ein Wort und ein Ding aus der Weihnachtszeit in ein anderes weihnachtsloses Zeitalter hinüberretten sollte. Und es stört mich nicht, dass ich später, viel später erfuhr, dass Lametta an Weihnachtsbäumen proll sei. Innige, qualitätsvolle christliche Weihnacht käme ohne Lametta am Baum aus, genauer: sei inhärent und notwendig lamettafrei. Es stört mich nicht. Mir wäre ein bisschen Lametta recht. Schön und unnütz wie eine Sternschnuppe. Die tiefsten Kerben im Gedächtnis hinterlassen Reime und Lieder. Je tiefer sie gespurt sind, desto fester haftet auch der ursprünglich zugedachte Sinn. „Es ist ein Ros entsprungen / Aus einer Wurzel zart / Davon die alten sungen / Von Jesse war die Art“ 13 Zeit der merkwürdigen Wörter 109 Unvergessene, unvergessliche Zeilen, auch wenn ich dieses Lied seit Jahrzehnten nicht mehr gesungen habe. Was mich heute am meisten entzückt, ist das alte Präteritum sungen , weil ich es in Einführungskursen in die Linguistik als Beispiel für paradigmatischen Ausgleich in der Verbalflexion verwenden kann (Habe ich das Stichwort déformation professionelle schon fallen lassen? Ach ja, s. o.). Was mich damals faszinierte, als wir dieses Lied im Kindergarten und in der Grundschule sungen , äh sangen , waren die ersten beiden Verse: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart“. Sie führten zu langwierigen Überlegungen. Dass ein Ross ein Pferd ist, wusste ich. Dass Pferde gelegentlich springen und damit auch entspringen, war mir aus eigener Reiterfahrung mit verschiedenen Exemplaren von Rössern sehr präsent. Ferner war ich überzeugt, dass ich wisse, was eine Wurzel sei. Ein Rettich, zum Beispiel, oder eine Möhre. Beide können zart sein, aber auch holzig oder wurmig. Möhren wiederum werden gern von Rössern gefressen. Man legt die Möhre auf die flache Hand und hat ein bisschen Angst, davor, dass das Ross-Pferd, wenn es mit seinen beweglich-wabbernden Lippen die Möhre abtastet, vielleicht versehentlich doch ein bisschen zubeißt. Wie aber hingen nun all diese Dinge im Lied zusammen? Wie kann ein Pferd aus einer Möhre entspringen? Diese Frage stellte sich immer, wenn ich dieses Lied hörte, las, oder mit anderen zusammen sang. Sie zog vorbei wie die Duftschwade, die sich aus dem Räuchermännchen kringelt. Sie kam als Frage und verschwand als Frage. Ich konnte sie mir nie beantworten. Ich fragte niemanden, niemals. Natürlich kann man erklären, was damals geschehen ist. Die Linguistik hat die Bedingungen des „Sich-Verhörens“ vielfach untersucht. Die Sinnsucht beim Hören. Die Re-Interpretation von Phonemen, auf dass sie sich zu einem sinnhaften Wort oder Satz fügen. Von den vielen interessanten Details dieser Studien will ich an dieser Stelle nicht berichten. Was mir bemerkenswert scheint: Die seltsam inkongruenten Bilder - das Ross-Pferd, das aus einer riesigen Möhre entspringt -, beschäftigten mich sehr, aber sie störten mich nicht. Weihnachten war eine Zeit voller Mysterien und merk-würdiger Wörter. Und manchmal auch ein bisschen zum Lachen. 0 0 0 Singen und Klingen in stiller Nacht 14 Sind die Lichter angezündet Weihnachtslieder als seltene linguistische Analyseobjekte Alexander Lasch Lieder lassen uns, wenn wir sie kennen und singen, Teil einer Gruppe sein, die sich im Singen auch immer wieder aufeinander verständigt. Lieder weisen aber nicht nur auf kollektive kommunikative Praxen, sondern auch auf individuelle kognitive Entrenchmentprozesse. Lieder, die wir als Kinder hören, im Vorbeigehen erlernen, singen und uns auch nach Jahrzehnten noch gemeinsam mit anderen in Erinnerung rufen können, sind markantes Merkmal unserer Biographie - sie sind uns selbstverständlich und im Alltag fast nie Gegenstand von Reflexion oder Kritik. Das macht sie zum idealen Vehikel von und zum ausgezeichnet geeigneten Ausdrucksmittel für Ideenlehren. Auch und gerade zu Weihnachten. Zwei dieser Lieder sind für mich und andere Sind die Lichter angezündet und Vorfreude, schönste Freude von Erika Engel-Wojahn (*1911 Berlin; † 2004 Potsdam), die wir mit der Weihnachtszeit verbinden, hören, singen und, selbstredend, an unsere Kinder weitergeben. Sie sind, neben vielem anderem, Zeugen unserer ostdeutschen Biographien und ein Desideratum linguistischer Erforschung. 1 Sind die Lichter angezündet wurde von Hans Sandig (*1914 Leipzig; † 1989 Leipzig) bereits 1957 vertont; Hans Christoph Karl Friedrich Naumilkat (*1919 Schönebeck; † 1994 Berlin) schrieb die Melodie für Vorfreude, schönste Freude , das Sandig erstmals für die Platte Bald nun ist Weihnachtszeit 1970 bearbeitete und einspielte. 2 Beides sind sowohl neue Lieder zur Weihnacht als auch Lieder 1 Lieder sind ein Desideratum der linguistischen Forschung. Das gilt sowohl für eine diskurslinguistische Einordnung (vgl. deshalb immer noch Burel 2013, als auch für die Analyse ritueller Einbettung im Kontext von Ideenlehren (vgl. Lasch 2005) oder die (vor allem visuell orientierte) Multimodalitätsforschung (Wildfeuer/ Bateman/ Hiippala 2020), in der das Lied wenig Beachtung findet. Und in ganz besonderem Maße gilt dieses Forschungsdesideratum für Lieder aus der DDR (vgl. dazu Goll 2016). Eine wirkliche Ausnahme bilden die Arbeiten von Ulla Fix (z. B. Fix 1998), die deshalb im Kontext linguistischer Forschung als Einstieg für beide Desiderata empfohlen seien. 2 Die Informationen über die Musikgeschichte der ehemaligen DDR, Komponist: innen und Texter: innen sind entnommen aus zur Weihen (1999), Müller-Engbers ( 5 2010), dem 114 Alexander Lasch für eine neue Weihnacht . Sie stellen Christi Geburt nicht ins Zentrum, da sie Ausdruck einer alternativen Ideenlehre sind. Das war mir als Kind freilich keinesfalls klar und sie stehen, einmal gelernt, heute für mich neben Es ist ein Ros’ entsprungen und Die Nacht ist vorgedrungen Jochen Kleppers (* 1903 Beuthen an der Oder; Freitod 1942 Berlin). Zweifelsohne gehören sie zu den bekanntesten und zugleich schönsten Liedern dieser neuen Weihnacht , die aus der Feder einer intellektuellen Elite eines neuen Deutschlands stammen, wie nicht nur ein Teil der Kulturschaffenden die ehemalige DDR charakterisierte. Wer die Lieder zum ersten Mal hört, wird zugestehen müssen, dass Texte, Kompositionen und Arrangements der Lieder auf qualitativ sehr hohem Niveau sind. Und das kommt nicht von ungefähr: Die Liste der Autor: innen und Komponist: innen dieser neuen Lieder, darunter auch Engel-Wojann, Sandig und Naumilkat, liest sich wie ein Who is Who dieser jungen Republik: Sandig, Dirigent, Chorleiter, Komponist, avanciert bald nach dem Krieg zu einem der zentralen Akteure in der Musikjugendförderung im Osten Deutschlands. 1948 wird er Musikreferent beim Mitteldeutschen Rundfunk und gründet den Rundfunk-Kinderchor Leipzig, dem er z. B. Sind die Lichter angezündet widmet. Der MDR wird mit dem Pionierchor ab 1949 zum zentralen Sender für (politische) Jugendlieder, der auch durch Sandig wesentlich geprägt und geformt wird. Sandig leitete ebenfalls den Radio-DDR-Jugendchor. Ein ähnlich prominenter Akteur in der Musikjugendförderung ist Naumilkat. Er studierte in Braunschweig, Berlin und Halle an der Saale Musik und Musikerziehung. Er komponierte Vokalwerke vor allem für seine Chöre, darunter die Kinderchöre des Berliner Rundfunks. Adressiert waren sie an Kinder, die ab der Einschulung idealerweise und gemäß der politischen Jugendarbeit in der DDR in den Pionier-Verbänden organisiert waren: Fröhlich sein und singen , Unsre Heimat , Wir haben Ferien und gute Laune , Soldaten sind vorbeimarschiert oder das ‚Bummi-Lied‘ ( Kam ein kleiner Teddybär ) zählen zu den bekanntesten seiner Lieder. Sind die Lichter angezündet und Vorfreude, schönste Freude werden zwar in unterschiedlichen Kontexten vertont, aufgeführt, aufgenommen und veröffentlicht, aber dann auf dem Album Sind die Lichter angezündet 1971, das wohl in den meisten Familien im Osten Deutschlands gehört worden sein dürfte, mit anderen Liedern zusammengeführt. Oh, es riecht gut von Christel Ulbrich (* 1908 bei Tahrandt; † 1996 Bautzen) erschien erstmals 1957 in der Jugendzeitschrift der DDR, Fröhlich und singen . Bekannt ist sie allerdings nicht unter dem Liedtitel Naumilkats, sondern der Kurzfassung FRÖSI. Sandig lässt dieses Lied, Lexikon Musik in der DDR des MDR (verfügbar unter www.mdr.de/ zeitreise/ stoebern/ damals/ artikel75300.html, Stand: 31.07.2020) und der Sächsischen Biographie des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. (verfügbar unter: https: / / saebi.isgv.de/ , Stand: 31.07.2020). 14 Sind die Lichter angezündet 115 wie Vorfreude, schönste Freude , 1970 erstmals für eine Aufnahme einsingen. Still senkt sich die Nacht hernieder von Hermann Heinz Wille (* 1923 Chemnitz; † 2002 Limbach-Oberfrohna) und Sterne über stillen Straßen von Egon Günther (* 1927 Schneeberg; † 2017 Potsdam) werden dafür vertont von Gerhard Wohlgemuth (* 1920 Frankfurt am Main; † 2001 Halle an der Saale). Wohlgemuth ist 1952 Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Komponistenverbandes der DDR. Siegfried Bimberg (* 1927, † Halle an der Saale), der zunächst an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig ist und von 1969 bis 1992 den Lehrstuhl für Musikpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg innehat, vertont zwei Texte für das Album. Joachim Werzlau (* 1913 Leipzig; † Berlin) ist Musikreferent beim Berliner Rundfunk ab Mitte der 50er Jahre und vor allem als Komponist von Kinder-, Jugend- und Pionierliedern sowie als Filmkomponist bei der DEFA bekannt. Er komponierte den Satz für Günther Deickes (* 1922 Hildburghausen; † 2006 Mariánské Lázně) Und wir zünden Lichter an . Eingesungen werden die Lieder von den bekannten Chören der DDR, teils unter der Leitung der genannten Komponisten, u. a. dem Rundfunk-Kinderchor Berlin, dem Rundfunk-Jugendchor Wernigerode, dem Philharmonischen Kinderchor Dresden, dem Kammerchor des Instituts für Musikerziehung der HU Berlin, dem Stadtsingechor Halle und schließlich dem Rundfunk-Jugendchor Leipzig, dessen Aufnahme von Tausend Sterne sind ein Dom von Siegfried Köhler (* 1927 Meißen; † 1984 Berlin/ Ost) in der Bearbeitung Sandigs das Album abrunden. Im Selbstverständnis derer, die das Album Sind die Lichter angezündet 1971 produzieren, wird kulturelle Bildung in den Mittelpunkt der Ausbildung eines neuen Menschen gestellt. Dieses Selbstbild und Selbstverständnis muss man ebenso wenig teilen oder unterstützen wie die Verankerung der Ideenlehre in der politisch motivierten Kindererziehung und -bildung. Diese Ideenlehre, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch breite Teile der Bevölkerung zunächst in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR nicht nur geteilt, sondern auch scharf kritisiert, abgelehnt und angegriffen wurde, wird, gewollt oder ungewollt, zum Signum vieler Biographien - und diesen Zusammenhang machen wir, leider, immer noch viel zu selten zum Gegenstand (nicht nur) linguistischer Analysen. Zum einen sind wir grundsätzlich, mittlerweile über 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, gesamtgesellschaftlich mit der Aufarbeitung einer geteilten und einer gemeinsamen (Kommunikations-)Geschichte viel zu zögerlich. Zum anderen ist gerade die Zuwendung zu Liedern und damit zu einem multimodalen Gegenstand, der gleichfalls noch hinsichtlich seiner Performativität eine besondere Herausforderung darstellt, der Linguistik bisher eher fremd geblieben. Aber ideengeschichtlich und diskursanalytisch offenbaren Lieder und die in ihren sprachlichen Formen sedimentierten Ideen viel über Ideenlehren und kollektive Mentalitäten, das gemeinsame Fühlen und Wollen 116 Alexander Lasch einer Gemeinschaft, die sich im Singen dieser Lieder selbst bestärkt und findet - und ihre Kinder dazu erzieht. Doch, wie gelingt das? Blicken wir, heute im Ausschnitt und exemplarisch, auf die zwei Texte der beiden Lieder Sind die Lichter angezündet und Vorfreude, schönste Freude : 3 Sind die Lichter angezündet 1.1 Sind die Lichter angezündet, Freude zieht in jeden Raum; Weihnachtsfreude wird verkündet Unter jedem Lichterbaum. 1.5 Leuchte Licht mit hellem Schein, überall, überall soll Freude sein. 2.1 Süße Dinge, schöne Gaben Gehen nun von Hand zu Hand. Jedes Kind soll Freude haben, Jedes Kind in jedem Land. 2.5 Leuchte Licht mit hellem Schein, überall, überall soll Freude sein 3.1 Sind die Lichter angezündet, Rings ist jeder Raum erhellt; Weihnachtsfriede wird verkündet, Zieht hinaus in alle Welt. 3.5 Leuchte Licht mit hellem Schein, überall, überall soll Friede sein 3 Die in diesem Beitrag verwendeten Liedtexte werden zitiert nach www.musixmatch. com/ de (Stand: 31.07.2020); den Text zu Sterne über stillen Straßen habe ich für diesen Beitrag auf der Basis eigenen Notenmaterials und Höreindrucks dort eingepflegt. Das Album Sind die Lichter angezündet ist z. B. verfügbar über den Streaming-Dienst Spotify (https: / / open.spotify.com/ album/ 0FBkB7qfMYvyI5LL9fSN10? si=5aLPEad4Qsya7ep_ ajOGFw, Stand: 31.08.2020). 14 Sind die Lichter angezündet 117 Vorfreude, schönste Freude 1.1 Vorfreude, schönste Freude. Freude im Advent. Tannengrün zum Kranz gewunden, Rote Bänder dran gebunden, Und das erste Lichtlein brennt. 1.5 Erstes Leuchten im Advent, Freude im Advent. 2.1 Vorfreude, schönste Freude. Freude im Advent. Heimlichkeit im frühen Dämmern, Basteln, stricken, rascheln, hämmern, Und das zweite Lichtlein brennt. 2.5 Heimlichkeiten im Advent, Freude im Advent. 3.1 Vorfreude, schönste Freude. Freude im Advent. Was tut Mutti, könnt ihrs raten? Kuchen backen, Äpfel braten, Und das dritte Lichtlein brennt. 3.5 Süße Düfte im Advent, Freude im Advent. 4.1 Vorfreude, schönste Freude. Freude im Advent. Kinderstimmen leise, leise, üben manche frohe Weise, Und das vierte Lichtlein brennt. 4.5 Lieder klingen im Advent, Freude im Advent. Statt dem Weihnachtsereignis werden in den Liedern Stimmungslagen und Gefühle adressiert, die vielleicht mit der Weihnachtszeit einhergehen. Motive christlicher Ideenlehre und damit auch christlicher Weihnachtslieder werden umgewidmet und umgearbeitet: Im Mittelpunkt steht das (Sternen-)Licht und Leuchten in dunkler Nacht, das nicht nur die Weisen aus dem Morgenland leitet („Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihn anzubeten.“ Mt 2,2 nach Luther 2017) oder die Hirten auf dem Feld übermannt („Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Lk 2,9-11), sondern in Gestalt des Morgensterns Sinnbild für Jesus Christus selbst ist (Offb. 22,16): „Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt als Zeugen für das, was die Gemeinden betrifft. Ich bin die Wurzel und der Stamm Davids, der 118 Alexander Lasch strahlende Morgenstern.“ In der Umarbeitung wird allerdings beinahe gänzlich auf die gängige Technik der Kontrafaktur (hier die Nachdichtung eines christlichen Liedes auf gleiche Melodie) verzichtet: Texte und Komposition, Arrangements und selbst die Chöre, für die die Lieder geschrieben sind, sind über den Wortsinn hinaus neu . Auch wenn sie Metaphern und Motivik einer christlichen Tradition aufnehmen - nämlich vor allem das aktiv scheinende Licht in der Dunkelheit - , stehen die Lieder für ein neues Weihnachten , was zugleich deutlich macht, weshalb es der hohen und überzeugenden Qualität der Arrangements bedarf, um im Niveau mit der Tradition auf Augenhöhe zu stehen. Dazu werden auf lexikalischer Ebene verfügbare Bilder der christlich geprägten (aber dennoch spezifisch deutschen Weihnachts-)Tradition aufgegriffen, konsequent weiterentwickelt und in die neue Ideenlehre eingepasst. In Vorfreude, schönste Freude etwa steht einer der christlich geprägten Weihnachtsbräuche, nämlich das Entzünden von Adventskerzen (1.4, 2.4, 3.4 und 4.4) auf einem Adventskranz (1.1) im Mittelpunkt, der auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Johann Hinrich Wichern (* 1808, † 1881 Hamburg) führte ihn 1839 im Rauhen Haus ein, um den Kindern, die er dort im Kontext der Inneren Mission betreute, das Warten auf die Weihnacht zu erleichtern. Dieses Hinwarten wird in Vorfreude, schönste Freude zwar titelgebend, allerdings wird die Freude, die motivisch das Lied klammert und vollkommen bestimmt, nicht mehr auf das Warten auf die Ankunft Christi oder die Verkündigung seiner Geburt bezogen, sondern bleibt implizit und auf all die Dinge gerichtet, mit denen man sich im Advent gemeinsam mit Mutti (3.2) die Zeit vertreibt: Basteln , stricken , rascheln , hämmern (2.3), Kuchen backen , Äpfel braten (3.3), und das [Ü] ben manche [r] frohe [n] Weise (4.3). Auch in Sind die Lichter angezündet wird ‚diese‘ Freude gemeint, die durch Lichter und das Leuchten oder besser ‚das‘ Licht im Refrain (1.5, 2.5, 3.5) mit hellem Schein überall gebracht wird (1.5f. und 2.5f.). Denkt man hier bereits an die Funktion des Friedensgrußes, wird dieser in der dritten Strophe des Liedes nicht nur auf der Ebene der Nomina ( Weihnachtsfriede ), sondern auch über ein performatives Verb direkt referenzialisiert: Der Weihnachtsfriede wird verkündet (3.3), damit überall , überall […] Friede sei (3.6). Allerdings ist damit nicht der christliche Friede gemeint, sondern der in der sozialistischen Ideenlehre der ehemaligen DDR propagierte ‚wehrhafte Friede‘. Dafür kann exemplarisch ein weiteres Lied auf dem Album, Sterne über stillen Straßen , stehen. Egon Günther, der das vierstrophige Lied schreibt, wächst in der Herzkammer christlicher und sächsischer Weihnacht, Schneeberg, auf. Nach Kriegsende arbeitet er erst als Neulehrer, studiert dann bis 1951 Pädagogik, Germanistik und Philosophie an der Universität Leipzig. Ab 1958 arbeitet er sehr erfolgreich als Regisseur für die DEFA und veröffentlicht als freier Schriftsteller. Ende der 1970er Jahre kommt 14 Sind die Lichter angezündet 119 es zum Bruch mit der politischen Führung, er verlässt die DDR und kehrt erst nach dem Mauerfall zurück. Sterne über stillen Straßen 1.1 Sterne über stillen Straßen Und das Jahr ist endlich alt, Von den Bergen leuchtet nieder, leuchtet nieder Weiß und einsam schon der Wald. 2.1 Aus der Enge wolln wir treten, Heut ist wunderbare Zeit, Sternenglanz fern in Himmelsweiten, Himmelsweiten Überstrahlt Unendlichkeit. 3.1 Zündet Feuer auf den Hügeln, Auf den Bergen tief verschneit, Dass sie weit die Welt erleuchten, Welt erleuchten, Wie ein Sternbild unsrer Zeit. 4.1 Klingt ein wunderbares Singen, Klingt von weit her, feierlich, Dringt aus vielen tausend Herzen, tausend Herzen, Frieden, wir bewahren Dich. Metaphorisch wird die Weihnacht in die schon bekannten Bilder eingekleidet: Der weiße und einsame Wald (1.4), der Sternenglanz (2.3) und Feuer (3.1) leuchten . An die christliche Tradition erinnern Sterne (als zentrale Zeichen für die Ankunft Christi und für Christus selbst in tiefer Nacht), die wunderbare Zeit (2.2), der Blick auf Himmelsweiten (2.2), die nicht eindeutig zu interpretierende überstrahlt [e] Unendlichkeit (2.4) oder die Bewegtheit der tausend Herzen (4.3). Aus denen dringt (4.3), feierlich (4.2) singend und wunderbar (4.1) klingend, nicht nur der Wunsch nach Frieden (4.4): Frieden, wir bewahren Dich (4.4) ist nicht nur Hoffnungsausdruck und Friedensgruß, sondern konkretes ‚Bekenntnis‘ zur neuen Ideenlehre. Dieser Friede ist ein bedrohter, ihn gilt es aus der Perspektive der Verteidiger gegen Aggressoren zu bewahren (framesemantisch ist dies im Kontext des defending -Frames zu analysieren). Genau darauf ist das irdische Sternbild unserer Zeit (3.4) zu beziehen, das gegen den himmlischen Sternenglanz (2.3) gestellt wird. Diesen gar zu deutlichen Schluss im Sinne der vertretenen Ideenlehre hört allerdings niemand auf dem Album Sind die Lichter angezündet . 120 Alexander Lasch Denn es werden nicht alle vier Strophen von Sterne über stillen Straßen eingesungen; die dritte Strophe, die die politische Motiviertheit und Orientierung an einer neuen Ideenlehre prototypisch ausstellt, fehlt. Dennoch, auch mit diesem Wissen, ist und bleibt Sterne über stillen Straßen für mich ein echtes Weihnachtslied. Ich habe den vierstimmigen Satz, der auch in der Aufnahme zu hören ist, im Chor (wie die anderen hier kurz analysierten Lieder) lieben gelernt - die Tenorstimme singe ich noch heute mit. Dies ist ein Signum meiner ostdeutschen Biographie, in der zwei Wurzeln und zwei Ideenlehren miteinander verbunden sind. Und wie mir geht es vielen. Es ist gesamtgesellschaftlich sehr relevant, welche Lieder wir hören, singen und lernen. Denn wir erkennen daran, welche Ideenlehre uns prägte, und wie wir in ihr (sprachlich) sozialisiert worden sind. Das wird besonders dann wichtig, wenn unerkannt und unmarkiert eine dritte Ideenlehre hinzutritt, die neben viel Licht und Freude einen dunklen Schatten auf die neuen Lieder zur neuen Weihnacht wirft: Es ist für uns eine Zeit angekommen 4 ist in der Textfassung von Paul Hermann (* 1904; † 1970) eingesungen, die 1939 entstand - es ist damit nicht nur das älteste Lied, sondern auch die einzige Kontrafaktur auf dem Album, allerdings eine im Zeichen nationalsozialistischer Ideologie. Die Melodie des schweizerischen Sternsingerlieds selben Titels wird durch Hermann so bearbeitet, dass christliche Gnade winterlicher Freude weicht, die weit von christlicher Tradition abgerückt zum Hauptmotiv des Liedes avanciert - und das passt sich, wenig verwunderlich, in den Liederkreis auf Sind die Lichter angezündet , in dem Licht , Freude und Frieden die Leitbegriffe sind, im sprachlichen Gestus nahtlos ein. Literatur Burel, Simone. 2013. Politische Lieder der 68er: eine linguistische Analyse kommunikativer Texte [OPUS 4]. Mannheim: IDS Mannheim [verfügbar unter: https: / / ids-pub. bsz-bw.de/ frontdoor/ index/ index/ year/ 2013/ docId/ 996, Stand: 31.07.2020]) Fix, Ulla (Hrsg.). 1998. Ritualität in der Kommunikation der DDR. Ergänzt durch eine Bibliographie zur Ritualität [Leipziger Arbeiten zur Sprach-und Kommunikationsgeschichte 6]. Frankfurt/ M.: Peter Lang. Goll, Thomas. 2016. Lieder aus der DDR als Quellen im historisch-politischen Unterricht [verfügbar unter: www.sowi-online.de/ praxis/ methode/ lieder_aus_ddr_quellen_his torisch_politischen_unterricht.html, Stand: 31.07.2020). Lasch, Alexander. 2005. Lebensbeschreibungen in der Zeit. Zur Kommunikation biographischer Texte in den pietistischen Gemeinschaften der Herrnhuter Brüdergemeine und der Dresdner Diakonissenschwesternschaft im 19.-Jahrhundert (Germanistik 31). Münster: LIT. 4 Speziell zu Es ist für uns eine Zeit angekommen vgl. Weber-Kellermann (1982). 14 Sind die Lichter angezündet 121 Müller-Enbergs, Helmut/ Wielgohs, Jan/ Hoffmann, Dieter/ Herbst, Andreas/ Kirschey- Feix, Ingrid (Hrsg.). 5 2010. Wer war wer in der DDR? Berlin: Ch. Links, verfügbar unter: www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/ de/ recherche/ kataloge-datenbanken/ biographische-datenbanken, Stand: 31.07.2020. Weber-Kellermann, Ingeborg. 1982. Das Buch der Weihnachtslieder . Mainz: Schott. Wildfeuer, Janina/ Bateman, John Bateman/ Hiippala, Tuomo. 2020. Multimodalität. Grundlagen, Forschung und Analyse. Eine problemorientierte Einführung . Berlin, Boston: de Gruyter. zur Weihen, Daniel. 1999. Komponieren in der DDR. Institutionen, Organisationen und die erste Komponistengeneration bis 1961 . Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 0 0 0 15 Komplizierter die Sätze nie werden, als zu der Weihnachtszeit-… Wolfgang Imo Weihnachten ist eine schlechte Zeit, Deutsch zu lernen, denn alle Jahre wieder tauchen sie auf, diese Weihnachtslieder mit ihren - sagen wir mal - doch eher originellen Satzstrukturen: Süßer / die Glocken / nie / klingen, als zu der Weihnachtszeit! Oder: Am Weihnachtsbaume, / die Lichter / brennen! Klingt fast so, als wäre der kleine grüne Yoda aus Star Wars mit seinem unorthodoxen Umgang mit den Verben der Weihnachtsmann (womit das Rätsel nach der Identität des Weihnachtsmannes, wenn man mal von Farbe und Größe absieht, gelöst wäre): Euch / lebend / zu sehen / mein Herz / aufs Wärmste / erfreut! Jedes Jahr zur Weihnachtszeit komme ich in Versuchung, in meinem Grammatikseminar Sätze aus Weihnachtsliedern analysieren zu lassen. Und dann lasse ich es entweder kopfschüttelnd sein oder greife ein, um einigermaßen anständiges Deutsch daraus zu machen. Doch was lässt diese Sätze im Deutschen so seltsam klingen? Wie man weiß, ist das Deutsche, was seine Wortstellung angeht, etwas exzentrisch. Während eine Sprache wie das Englische mit der simplen Regel SPO auskommt - erst das S ubjekt, dann das P rädikat, dann das O bjekt - muss man für das Deutsche erst einmal weit ausholen. Das Verb spielt im Deutschen eine wichtige Rolle, und es gibt drei Stellungsvarianten rund um das Verb, die mit unterschiedlichen Satzfunktionen einhergehen: In Verbendsätzen stehen die finiten und infiniten Verbteile am Ende des Satzes, der ‚Rest‘ steht davor. Es handelt sich um mit Konjunktionen eingeleitete Nebensätze (…-dass die Lichter am Weihnachtsbaume brennen werden .), Relativsätze ([ Am Weihnachtsbaume ], an dem die Lichter brennen werden .) oder bestimmte Wunschsätze ( Wie schön die Lichter am Weihnachtsbaume brennen werden! ). Bei Verberstsätzen steht der finite Verbteil am Anfang des Satzes, wie z. B. in Entscheidungsfragesätzen ( Werden die Lichter am Weihnachtsbaume brennen? ) oder Imperativsätzen ( Zünde die Lichter am Weihnachtsbaume an! ). Der Verbzweitsatz ist die häufigste Stellungsvariante - und zugleich auch eine der seltsamsten, sprachvergleichend betrachtet. Häufig ist der Verbzweitsatz deshalb, weil Aussagesätze in dieser Form realisiert werden. Seltsam ist er, weil er erstens dazu zwingt, das Verb auseinanderzureißen (nicht nur er, übrigens - auch Frage- und Imperativsätze 124 Wolfgang Imo zwingen dazu) und zweitens vor dem ersten Verbteil, dem finiten Verb, nur eine einzige Konstituente, d. h. eine eng zusammengehörige Phrase, zulässt: Am Weihnachtsbaume werden die Lichter brennen . Oder: Die Lichter werden am Weihnachtsbaume brennen . Oder, um diese Struktur auf die Spitze zu treiben: Die Lichter werden auch dieses Jahr wieder, genau wie alle Jahre zuvor, an Heiligabend, direkt nach der Bescherung und angezündet von der ganzen Familie, die dabei Weihnachtslieder singt, brennen . Für eine englischsprachige Person, die ordentliches SPO gewöhnt ist, eine äußerst seltsame Struktur. Und so macht sich auch in seinem legendären Aufsatz „Die schreckliche deutsche Sprache“ Mark Twain (o.A./ 1878: 12) über diese Eigenart des Deutschen lustig: „Die Deutschen haben noch eine Art von Parenthese, die sie bilden, indem sie das Verb in zwei Teile spalten und die eine Hälfte an den Anfang eines aufregenden Absatzes stellen und die andere Hälfte an das Ende. Kann sich jemand etwas Verwirrenderes vorstellen? “ Gemeint ist damit die Tatsache, dass im Deutschen, sobald ein mehrteiliges Verb verwendet wird (wenn beispielsweise zu dem Vollverb (wie brennen ) ein Hilfsverb wie haben , sein oder werden oder ein Modalverb wie können , sollen , müssen , dürfen etc. hinzutritt oder das Vollverb zu den sogenannten trennbaren Verben gehört), eine Klammerstruktur entsteht, bei der die Verbteile die Äußerungsteile zwischen ihnen umklammern: Aus Am Weihnachtsbaume brennen die Lichter . wird mit dem Perfekt-Hilfsverb haben der Satz Am Weihnachtsbaume haben die Lichter gebrannt. , mit dem Modalverb müssen wird Am Weihnachtsbaume müssen die Lichter brennen . und mit dem trennbaren Verb anzünden erhalten wir Am Weihnachtsbaume zünden wir die Lichter an . Um etwas Licht in das Chaos deutscher Satzstellung zu bringen, hat Erich Drach im Jahr 1937 ein Modell entwickelt, das heute als Feldermodell oder topologisches Modell weit verbreitet ist. Drach stellte fest, dass sich die Sätze in Felder zerlegen lassen, die sich jeweils um diese ‚auseinandergerissenen‘ Verben herum gruppieren (zu einem Überblick vgl. Imo 2016). Um es nicht zu kompliziert zu machen, schauen wir uns nur die Verbzweitsätze (typischerweise ‚Hauptsätze‘ bzw. Aussagesätze) an: Diese bestehen mindestens aus der linken Satzklammer (lSK), das ist das finite Verb, sowie dem Vorfeld (VF), das ist eine Konstituente davor. Ein solcher minimaler Satz ist beispielsweise Die Lichter (= Vorfeld) brennen (= linke Satzklammer). Optional kann noch eine rechte Satzklammer (rSK) hinzukommen, dort stehen u. a. infinite Verben, und ein Mittelfeld (MF) sowie ein Nachfeld (NF), in denen die übrigen Elemente des Satzes - im Nachfeld typischerweise umfangreiche und komplexe Einheiten wie Adverbialsätze - untergebracht werden (dass der Nebensatz im Nachfeld im folgenden Beispielsatz (1) selbst wieder in Felder unterteilt wird, ignorieren wir hier einfach mal): 15 Komplizierter die Sätze nie werden, als zu der Weihnachtszeit-… 125 (1) VF lSK MF rSK NF Die Lichter werden am Weihnachtsbaume brennen, wenn sie jemand anzündet. Wie man sieht, werden der finite Verbteil (an dem man u. a. Singular und Plural erkennen kann) und der infinite Verbteil getrennt, vor dem finiten Verbteil steht in diesem Fall mit Die Lichter das Subjekt des Satzes. Dass das Subjekt vor dem finiten Verb (d. h. dem Satzglied Prädikat) steht, ist keine Pflicht im Deutschen. Nur das Verb steht fest, der Rest kann fröhlich verschoben werden: (2) VF lSK MF rSK NF Am Weihnachtsbaume werden die Lichter brennen, wenn sie jemand anzündet. Die Satzgliedabfolge ist nun Ortsadverbial ( Am Weihnachtsbaume ), Prädikat I ( werden ), Subjekt ( die Lichter ), Prädikat II ( brennen ), Konditionaladverbial ( wenn sie jemand anzündet ). Aber auch Folgendes ist möglich: (3) VF lSK MF rSK NF Wenn sie jemand anzündet werden die Lichter am Weihnachtsbaume brennen. Wir können den Konditionaladverbialsatz aus dem Nachfeld auch ins Vorfeld verschieben. Was man aber beachten muss: Alles, was im Vorfeld steht, muss eine Einheit bilden. In der linguistischen Terminologie spricht man von einer Phrase. Solche Phrasen kann man unter anderem durch Ersatzproben herausfinden: Wenn ich eine Wortgruppe durch ein Wort ersetzen kann, ist das ein Indikator für eine Phrase: Die Lichter kann ich durch sie ersetzen, am Weihnachtsbaume durch dort und wenn sie jemand anzündet durch dann oder gegebenenfalls : 126 Wolfgang Imo (4) VF lSK MF rSK NF Sie werden dort brennen, gegebenenfalls . Was machen nun unsere Weihnachtslieder mit dieser harten Vorgabe des Deutschen, mit der Regel „Vor dem finiten Verb darf im deutschen Aussagesatz nur eine Phrase stehen.“? Sie halten sich nicht daran. Schauen wir uns unsere Eingangsbeispiele mal im Feldermodell an: (5) VF lSK MF rSK NF Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit. (6) VF lSK MF rSK NF Am Weihnachtsbaume, die Lichter brennen. Gibt es irgendeine Möglichkeit, süßer die Glocken nie oder am Weihnachtsbaume, die Lichter durch ein einziges Wort zu ersetzen, kurz: hat vielleicht irgendein weihnachtsseliger Liedverfasser einen unerkannten tiefen Einblick in die deutsche Phrasenstruktur erhalten, den alle anderen übersahen? Nein. Es ist im Deutschen einfach nur falsch - im Englischen dagegen wären beide Satzmuster korrekt, denn dort gilt ja die allen aus der Schule bekannte Regel SPO, die dazu führt, dass man vor ein Verb auch mehrere Phrasen stellen kann. Wichtig ist nur, dass das Subjekt vor dem Verb steht, wer sonst noch, ist egal: Sweeter the bells never sound than at Christmas time . und On the Christmas tree the lights are burning . ist beides problemlos möglich. Im Deutschen dagegen sind nur folgende Muster erlaubt: (7) VF lSK MF rSK NF Süßer klingen die Glocken nie als zu der Weihnachtszeit. 15 Komplizierter die Sätze nie werden, als zu der Weihnachtszeit-… 127 (8) VF lSK MF rSK NF Die Glocken klingen nie süßer als zu der Weihnachtszeit. (9) VF lSK MF rSK NF Nie klingen die Glocken süßer als zu der Weihnachtszeit. Wer sich über die leere rechte Satzklammer wundert: Diese füllt sich, sobald wir den Satz ins Futur oder Perfekt setzen, ein Modalverb hinzufügen oder ein trennbares Verb wie z. B. losbimmeln verwenden: Süßer haben die Glocken nie geklungen, als zu der Weihnachtszeit. , Süßer können die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit : oder Süßer bimmeln die Glocken nie los, als zu der Weihnachtszeit . Mit dem Weihnachtsbaume haben wir folgende Optionen: (10) VF lSK MF rSK NF Die Lichter brennen am Weihnachtsbaume. (11) VF lSK MF rSK NF Am Weihnachtsbaume brennen die Lichter. Was macht man als Linguist nun? Die einfachste Lösung: Man erfindet einen Namen, damit ist das Phänomen erledigt: Man spricht von doppelter oder mehrfacher Vorfeldbesetzung und listet eine Reihe von Ausnahmen auf, wann dies möglich ist, und versucht, Erklärungen zu finden. Ob man Weihnachtslieder als systematische Ausnahme der Regel hinzufügen sollte? Naja, in jedem Fall dichterische Freiheit … Die Dudengrammatik (2006: 898) führt jedenfalls als Ausnahmen Sätze wie „Der Universität / zum Jubiläum / gratulierte auch Bundesminister (sic! ) Dorothee Wilms.“ oder gar „Gezielt / Mitglieder / im Seniorenbereich / wollen die Kendoka allerdings nicht werben.“. Als Erklärung wird angegeben, dass der zweite Teil dieser Vorfeldbesetzungen „prädikatsnah oder gar locker ins Prädikat integriert“ sei. Außerdem sei fraglich, wie viele Phrasen vorliegen: „Mitglieder im Seniorenbereich“ und „Der Universität zum Jubiläum“ 128 Wolfgang Imo können auch als jeweils eine Phrase aufgefasst werden. Mit anderen Worten: Nichts Genaues weiß man nicht. Oder, etwas seriös wissenschaftlicher formuliert: „Insgesamt sind die Bedingungen, unter denen die Mehrfachbesetzung des Vorfeldes akzeptabel erscheint, noch wenig erforscht.“ (Duden 2006: 899). Und damit wären wir wieder bei Mark Twain (o.A./ 1878: 7): „Ganz bestimmt gibt es keine andere Sprache, die so ungeordnet und unsystematisch, so schlüpfrig und unfassbar ist; man treibt völlig hilflos in ihr umher, hierhin und dahin; und wenn man schließlich glaubt, man hätte eine Regel erwischt, die festen Boden böte, auf dem man inmitten der allgemeinen Unruhe und Raserei […] ausruhen könne, blättert man um und liest: „Der Schüler beachte sorgfältig folgende Ausnahmen.“ Nun ja, es hilft nichts. Außer die Weihnachtstage über mal nicht an Grammatik zu denken und mit Hilfe von Glühwein die Schlüpfrigkeit der deutschen Sprache zu ertränken. Eine entspannte Festtagszeit allen ich wünsche. Möge die Weihnacht mit euch sein. Literatur Drach, Erich. 1937. Grundgedanken der deutschen Satzlehre . Frankfurt/ M.: Diesterweg. Duden. 2006. Die Grammatik . Mannheim: Dudenverlag. Imo, Wolfgang. 2016. Grammatik: eine Einführung . Stuttgart: Metzler. Mark Twain (o.A./ 1878): Die schreckliche deutsche Sprache. In: Pieper, Werner (Hrsg.). Der Grüne Zweig 170. Löhrbach: Werner Pieper’s Medienexperimente. 0 0 0 16 Vom „hellichten Schein“ zu „ein Stiern nedderstråhlt“ Varietätenlinguistische und regionalsprachdidaktische Perspektiven auf niederdeutsche Weihnachtslieder Birte Arendt & Ulrike Stern 1 Niederdeutsche Weihnachtslieder und Übertragungen Das Singen von Weihnachtsliedern gehört sowohl im kirchlichen als auch im öffentlichen und privaten Umfeld zu den vielleicht wichtigsten Traditionen der Advents- und Weihnachtszeit. Der Fundus niederdeutscher Weihnachtslieder besteht aus einigen wenigen originär niederdeutschen Liedern und einer geringen Zahl an zeitgenössischen Kompositionen, zum größten Teil aber aus Übertragungen traditioneller Songs (vgl. z. B. Barbi 2000). Relevant sind diese Lieder auch im Spracherwerb. Die niederdeutsche Sprache wird spätestens seit der Anerkennung als Regionalsprache durch die „Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen“ in den nördlichen Bundesländern in verschiedenen Bildungsinstitutionen vermittelt (z. B. im Kompetenzzentrum für Niederdeutschdidaktik/ Universität Greifswald 1 ). Aktuell fehlt es jedoch noch immer an vielschichtigen didaktischen Materialien für das jahrgangsübergreifende Lehren und Lernen. Um so wichtiger ist es, auf bekannte, ins Niederdeutsche übertragene Texte wie Lieder zurückzugreifen und sie in ihrer Angemessenheit für die Sprachvermittlung zu prüfen. Dass dies kein leichtes Unterfangen ist und varietätenlinguistische Analysen, die die sprachliche Angemessenheit beurteilen, dabei nur ein Bewertungskriterium sein können, wird der folgende Beitrag zeigen. 1 Mehr Informationen dazu sind unter www.germanistik.uni-greifswald.de/ knd zu finden. 130 Birte Arendt & Ulrike Stern 2 Textmaterial „Guten Abend, schön Abend“ Eines der bekanntesten Weihnachtslieder ist das ursprünglich aus der Steiermark stammende „Guten Abend, schön Abend, es weihnachtet schon“. 2 Für dieses Lied liegen zwei unterschiedliche niederdeutsche Textfassungen vor. Es soll im Folgenden gefragt werden, welche Übertragung als gelungener anzusehen ist. Zu diesem Zweck werden im dritten Abschnitt die Unterschiede zwischen den beiden niederdeutschen Textvarianten in varietätenlinguistischer Perspektive herausgearbeitet. Im vierten Abschnitt soll auf dieser Grundlage die regionalsprachdidaktische Angemessenheit geprüft werden. Abb. 1: Niederdeutsche Textvarianten des Weihnachtsliedes „Guten Abend, schön Abend“ 3 Varietätenlinguistische Messung des Dialektalitätsgrades Der folgende Abschnitt vergleicht die beiden niederdeutschen Übertragungen hinsichtlich ihres Variationsabstandes mit dem hochdeutschen Original. Die Metapher des sprachlichen Abstandes geht davon aus, dass der Abstand zwischen zwei sprachlichen Einheiten um so größer ist, je mehr Differenzen rekonstruiert werden können. Dafür wird ein in der Dialektologie und Varietätenlinguistik etabliertes Modell verwendet, das Varianzen auf den folgenden unterschiedlichen sprachsystematischen Ebenen ordnet, quantitativ bündelt und zueinander in Beziehung setzt: auf der phonetischen Ebene der Laute ( das 2 „Guten Abend, schön Abend“ auf: https: / / www.weihnachts-lieder.net/ schoene-weih nachtslieder/ 36. (Stand 11.08.2020) 16 Vom „hellichten Schein“ zu „ein Stiern nedderstråhlt“ 131 vs. dat), der morphologischen Ebene der Wortformen ( am vs. an‘n), der lexikalischen Ebene des Wortschatzes ( Wald vs. Holt ) und der syntaktischen Ebene der Satzbzw. Wortgruppenstrukturen ( sie geben der Heimat einen hellichten Schein vs. un von’n hogen Häben ein Stiern nedderståhlt ). Das Ergebnis besteht in Aussagen über die Dialektalitätsgrade der Lieder, wodurch ihre sprachliche Angemessenheit ermittelt werden kann. Das heißt, auf dieser Grundlage lässt sich u. a. beurteilen, wie stark „niederdeutsch“ die Textvarianten sind. Die Berechnung orientiert sich partiell an dem Modell des Deutschen Sprachatlas‘ (Herrgen et al. 2001), da dieses in zahlreichen dialektologischen Untersuchungen auch zum Niederdeutschen erfolgreich eingesetzt wurde. Der Quotient aus der Summe der Varianzphänomene und der Anzahl der Worte ergibt dann den Dialektalitätsgrad. Das Vorgehen für den vorliegenden Aufsatz gestaltet sich wie folgt: Da die Texte medial schriftlich vorliegen, wurde für die Bestimmung der phonetischen Merkmale keine phonetische Transkription (IPA) vorgenommen. Die Analyse orientierte sich an der graphischen Oberfläche. Aus Gründen der besseren Nachvollziehbarkeit wurde auf eine differenzierte Gewichtung phonetischer Varianten verzichtet und alle Differenzenphänomene dialektalen Ursprungs mit einem Punkt bewertet. Abweichend davon wurden allerdings die Elisionen mit einem halben Punkt einbezogen, da sie auch für die mündliche Sprache typisch sind. Drittens wurde auch die morphologische, die lexikalische und die syntaktisch/ phraseologische Ebene integriert, um ein ganzheitliches Bild zu generieren. Die Daten sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Tab. 1: Vergleich beider Textvarianten anhand unterschiedlicher sprachsystematischer Parameter Wie lassen sich die Befunde interpretieren? 1. Welche Ebene des Sprachsystems differiert am meisten mit dem Original? Den höchsten Wert bei beiden Texten bildet erwartungsgemäß für dialektale Texte die phonetische Ebene. Gleichzeitig ist der Quotient relativ gering dergestalt, dass nicht jedes Wort eine phonetische Abweichung enthält. Das 132 Birte Arendt & Ulrike Stern Textbild zeigt dementsprechend zahlreiche Wörter, wie sie auch im Standarddeutschen vorkommen. Am zweihäufigsten treten morphologische und an letzter Stelle lexikalische Differenzen auf. Das Bild zeigt auf diesen Ebenen also insgesamt eine vergleichsweise Nähe zum standarddeutschen Original. Eine Ausnahme bildet die syntaktisch/ phraseologische Ebene, die bei der Textvariante 1 deutlich größere Differenzen aufweist, da der Autor in anderen Sätzen alternative sprachliche Bilder gesucht hat. 2. Welcher Text ist „gutes“ Niederdeutsch? Bzw. Wie sind diese Differenzen hinsichtlich der niederdeutschen Sprachtypik zu beurteilen? Die realisierten Varianten sind typisch für die niederdeutsche Sprache, wie z. B. die unverschobenen Verschlusslaute p , t , k in dat und ok ; alte Monophthonge in Wiehnachten und lüchten sowie spezifische Lexik in Wischen und Holt für Wiesen und Wald . Dass T1 alternative sprachliche Bilder gesucht hat, belegt ebenfalls eine sprachtypische Orientierung. Die in den Texten gezeigte Nähe zum Standarddeutschen entspricht dem kontinuierlichen Wandel des Niederdeutschen, wodurch sich beide Texte an der aktuellen Sprachwirklichkeit orientieren. 3. Welches ist die gelungenere Version? Diese normativ orientierte Frage lässt sich allein mit varietätenlinguistischen Analysen nicht beantworten, sondern nur unter Einbezug verschiedener Perspektiven, wie im folgenden Fazit erörtert werden soll. 4 Regionalsprachdidaktisches Fazit: Was ist eine gelungene Übertragung? In der Vermittlung der niederdeutschen Sprache wird einerseits immer wieder die Nähe zum Standarddeutschen betont und als Brücke zum Sprachlernen genutzt. Andererseits aber liegt das Vermittlungsziel darin, die Eigenständigkeit der Regionalsprache deutlich zu machen. In diesem Spannungsverhältnis sollen im Folgenden die Textvarianten bewertet werden. In der linguistisch begründeten Sprachkritik hat sich zur Bewertung sprachlicher Äußerungen das Konzept der Angemessenheit als relationales und kontextsensitives Kriterium (Arendt/ Schäfer 2015: 97) etabliert. Für den vorliegenden Fall hieße das, dass nicht der Dialektalitätsgrad allein ausschlaggebend ist, sondern in Anlehnung an verschiedene Angemessenheitsmodelle die folgenden drei Kriterien in die Beurteilung von Übertragungen einbezogen werden können: 1. textsortenspezifische Angemessenheit, 2. adressatenorientierte Angemessenheit der beabsichtigten Verwendung und 3. sprachtypische Angemessenheit. 1. Bei dem betrachteten Weihnachtslied handelt es sich um einen poetischen Text mit ästhetischer Funktion in Paarreimform, der durch die Melodie an 16 Vom „hellichten Schein“ zu „ein Stiern nedderstråhlt“ 133 eine nur geringfügig änderbare Silbenzahl gebunden ist. Beide Varianten machen von dieser Änderungsmöglichkeit keinen Gebrauch. Während in T2 das Reimschema des Originals mit einem Anfangskehrreim, bestehend aus einer jeweils identischen ersten und zweiten Zeile in jeder Strophe, übernommen wird, variiert T1 diesen Kehrreim hin zu einer eigenständigen zweiten Zeile. Beide Entscheidungen können als gelungen beurteilt werden, auch wenn T2 im Hinblick auf den didaktischen Einsatz auf höherem Kompetenzniveau zu bevorzugen wäre, da die Version mehr Eigenständigkeit entwickelt. 2. Ziel des Ausgangstextes im Hinblick auf die beabsichtigte Verwendung ist mittels einer vorrangig weltlich-beschreibenden Botschaft die Schaffung und Vermittlung positiv-emotionaler Bilder mit den Schwerpunkten Natur, Heimat und Gemeinschaft. Beim Ziel der Übertragungen und der Art ihrer Adressaten lassen sich Unterschiede erkennen. T1 entstand für die jährlichen niederdeutschen Weihnachtsprogramme der Fritz-Reuter-Bühne 3 Schwerin, richtet sich also an ein eher erwachsenes, vorrangig rezipierendes Publikum. Betont wird vor allem der inhaltliche Aspekt der Gemeinsamkeit und - über das Original hinausgehend - der Besinnlichkeit. Anstelle des abstrakten Begriffs Heimat werden konkrete Motive für die nähere Lebenswelt gefunden („Wischen un Holt“). Der eigentliche Zweck von T2 ist nicht bekannt, es kann aber vermutet werden, dass das Singen durch die Adressaten im Vordergrund stand und keine spezifische Altersgruppe ins Auge gefasst wurde. Diese Textvariante übernimmt die Bilder des Originals beinahe eins zu eins. Es handelt sich hier um eine fast wörtliche Übersetzung, während T1 eine Übertragung mit hohem Eigenständigkeitsgrad darstellt. Für den Einsatz in der Sprachvermittlung mag die hohe Invarianz zum Ausgangstext bei T2 einerseits insbesondere für Sprachanfänger*innen förderlich sein, da sie aufgrund der vorauszusetzenden Bekanntheit ein schnelles Erfassen und Wiedergeben des Liedes ermöglicht. Andererseits erscheint die niederdeutsche Version hier nur wie eine maßgeblich lautlich modifizierte Version des Standarddeutschen. Hier ist also letztlich adressatenabhängig zu gewichten. 3. Die varitetätenlinguistische Analyse ergab für beide Texte eine erkennbare Orientierung an der aktuellen niederdeutschen Sprachwirklichkeit inklusive zahlreicher standarddeutscher Varianten. Ein genauerer Blick auf die übertragenen Varianten im Textkontext zeigt aber gravierende Differenzen bei der Umsetzung auf. So bedürfte das Lexem hellicht (T2, 1. Strophe, 4. Zeile) einer genaueren Untersuchung, da im Niederdeutschen unterschiedliche Bedeutungen möglich sind, was an dieser Stelle allerdings nicht vertieft werden kann. In- 3 Fritz-Reuter-Bühne (2012) (Hrsg.): Hell ward dat in uns Stuben. Plattdütsch Wiehnachten mit de Fritz-Reuter-Bühn. Schwerin. (CD) 134 Birte Arendt & Ulrike Stern teressant ist insbesondre die syntaktisch/ phraseologische Ebene, auf der beide Texte hochgradig differierten: Der Anspruch von T1, es nicht bei einer bloßen Imitation zu belassen, führte in der Endkonsequenz zu einer Verschiebung der inhaltlichen Schwerpunkte. Statt statischer Bilder wird in den drei Strophen eine Progression von „nu is’t nich miehr wiet“ über „nu gahn wi tausamen up’t Wiehnachtsfest tau“ bis hin zu „de Wiehnacht is dor“ beschrieben. T2 orientiert sich überwiegend am Original. Eine Ausnahme bildet die letzte Zeile der dritten Strophe: So möt dat tau Wiehnachten bi uns ok sien. / / So muss es zu Weihnachten bei uns auch sein . Die Unterstreichungen markieren die Betonungen, die sich aus der Melodie ergeben. Die Verwendung des Modalverbs möten/ müssen erweckt den irritierend normativen Eindruck einer Notwendigkeit, was durch die Melodie besonders betont wird. Gleichzeitig wird die Präposition bi/ bei hervorgehoben, was weder formal noch inhaltlich einen Sinn ergibt. Die natürliche Sprachmelodie wird also sinnentstellend von der Melodie des Liedes überlagert. Es liegt hier eine Art „Pseudotext“ vor, der das Original schematisch imitiert. Wie gezeigt wurde, liegt der Focus von T2 auf der Treue zum Originaltext. Der Zieltext kann mit Ausnahme der letzten Zeile keinerlei Eigenständigkeit für sich beanspruchen. Zu den unbestrittenen Grundannahmen der Translationswissenschaft gehört allerdings, dass die beste Übersetzung nicht wie eine Übersetzung klingen sollte. Für eine regionalsprachdidaktische Verwendung ist es unerlässlich, mit Texten zu arbeiten, die auch die Eigenständigkeit und Vorzüge der Sprache betonen, statt ein im schlimmsten Fall blasses Abziehbild der standardsprachlichen Version zu erstellen. Diesen Anspruch kann unserer Ansicht nach nur T1 für sich beanspruchen. Literatur Arendt, Birte/ Schäfer, Pavla. 2015. Angemessenheit - pragmatische Perspektiven auf ein linguistisches Bewertungskriterium. aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur . 02, 97-100. Barbi, Eberhardt. 2000. Pampower niederdeutsche Liederhefte. Hoch kloppt dat Hart: Lieder zur Weihnachtszeit . Pampow: NordwindPress. Herrgen, Joachim/ Lameli, Alfred/ Rabanus, Stefan/ Schmidt, Jürgen Erich. 2001. Dialektalität als phonetische Distanz. Ein Verfahren zur Messung standarddivergenter Sprechformen . Marburg (www.deutscher-sprachatlas.de/ publikationen/ dialektalitaets messung) (Stand: 11.08.2020) 0 0 0 17 Stille Nacht, heilige Nacht Zum Aspekt der Zeit in traditionellen deutschsprachigen Weihnachtsliedern Ruth M. Mell Wie vertraut sind uns die Texte traditioneller Weihnachtslieder? Haben darin bestimmte Wörter bereits unsere Aufmerksamkeit gewonnen oder gibt es welche, die diese in besonderem Maße verdienen? Dies ist insofern der Fall, als uns die Analyse bestimmter Wörter und ihrer Kontexte etwas über die hierzulande verbreiteten Vorstellungen bzw. die Konzeption von Weihnachten verraten kann. Daher wird in diesem Beitrag ein zentraler Wortschatzbereich traditioneller deutschsprachiger Weihnachtslieder untersucht, nämlich derjenige der Zeitbezeichnungen bzw. Deiktika 1 . Die hohe Relevanz dieser Weihnachtswörter für das kulturelle Verständnis und die Deutung von Weihnachten soll nun im Folgenden gezeigt werden. Um das Untersuchungsmaterial zu konkretisieren, soll zunächst der allgemeingebräuchliche Begriff des Weihnachtsliedes in den Fokus rücken: Das Weihnachtslied ist ein wichtiger Bestandteil unserer Weihnachtstradition. Weihnachtslieder gehören ebenso zur Advents- und Weihnachtszeit, wie das gemeinsame Schmücken des Christbaumes, der Adventskalender oder das fest- 1 Insofern sich alle Aktivitäten und Handlungen von Menschen zeitlich und räumlich verorten lassen, stellt auch die Sprache Wörter zur Verfügung, mit denen man sich auf Gegenstände, Orte, Zeitpunkte oder andere Personen beziehen kann. Diese Form der Bezugnahme wird Deixis genannt. Sie erfolgt mithilfe von so genannten deiktischen oder indexikalischen Ausdrücken, wie zum Beispiel ich , du , dieses , jenes , dort , hier , morgen , heute . Ein deiktischer Ausdruck wird Deiktikon (Plural Deiktika ) genannt. Für uns von besonderem Interesse ist die temporale Deixis, welche das Erleben von Zeit konstituiert, indem ein Bezug zum Äußerungszeitpunkt und somit eine zeitliche Orientierung hergestellt wird. Besonders deutlich wird dies etwa in der Verwendung temporaler Adverbien wie gestern , heute oder morgen . Doch nicht nur in der Lexik, also in den Wörtern selbst, findet sich Deixis , sondern auch in der Grammatik einer Sprache. Mit Blick auf die temporale Deixis spielen dann auch die Tempora von Verben eine besondere Rolle, insofern ihre Interpretation vom Sprechzeitpunkt abhängig ist. Kennt man diese nicht, bleibt für den Hörer oder die Leserin unklar, worauf sich zeitliche Referenzen wie sofort oder morgen beziehen. Ohne dieses Wissen kann die Bedeutung einer Äußerung nicht interpretiert und damit auch nicht verstanden werden. 136 Ruth M. Mell liche Weihnachtsessen. Weihnachtslieder werden ganz privat in der Familie gesungen, aber sie ,beschallen‘ uns auch etwa in Kaufhäusern, um unsere weihnachtliche Einkaufsfreude noch stärker zu motivieren. Laut Duden ist ein Weihnachtslied, ein Lied, das traditionsgemäß zur Weihnachtszeit gesungen wird (und dessen Text sich auf Weihnachten bezieht) (vgl. Duden: Weihnachtslied). Diese Definition lässt aufhorchen: So scheint die zentrale Lesart von Weihnachtslied hiernach zu sein, dass es sich um ein Lied handelt, welches, einem Brauchtum oder einer familiären Konvention folgend, zur Weihnachtszeit gesungen wird . Dass sich der Text des Liedes inhaltlich auf Weihnachten beziehen muss, scheint für die Lexikograph*innen bei Duden nur ein nebengeordneter Bedeutungsaspekt zu sein, welcher nicht zwingend eingelöst werden muss. Diese Interpretation legt jedenfalls die Klammersetzung an der entsprechenden Stelle nahe. Der Duden liefert damit eine eher als grundlegend zu bezeichnende, aber wenig detaillierte Definition dessen, was unter einem Weihnachtslied verstanden werden soll. Dieser folgend, bezeichnet man mit Weihnachtslied im allgemeinen Sprachgebrauch also alle Lieder, die um die Weihnachtszeit gesungen werden und unterscheidet nicht, wie etwa die Musikwissenschaft, zwischen so genannten Winterliedern und Weihnachtsliedern . Auch die Liturgie macht in der Definition feinere Unterscheidungen: So schließt der liturgische Weihnachtsliedbegriff eben diese Winterlieder aus den Weihnachtsliedern explizit aus und beschränkt sich auf konfessionell gebundene Werke, deren Text sich ausdrücklich auf das christliche Weihnachtsfest bezieht. Eine weitere spezialisierte und ebenfalls aus der christlichen Liturgie stammende Differenzierung unterscheidet dann noch einmal zwischen Weihnachtslied und Adventslied und damit zwischen Liedern, die sich inhaltlich auf das Weihnachtsfest selbst oder eben auf die Vorweihnachtszeit bzw. die Adventszeit beziehen. Der gewählten Bezeichnung Weihnachtslied im Titel des Beitrags liegt allerdings das grundlegende Verständnis des allgemeinsprachlichen Wortgebrauchs zugrunde, wenn sowohl Texte von Adventsliedern als auch von liturgischen und säkularen Weihnachtsliedern im Folgenden untersucht werden. Im christlichen Glauben ist der Advent (von lat. adventus - Ankunft ) die Zeit vor der Geburt von Jesus Christus und damit die Zeit des Wartens auf den im Alten Testament angekündigten Messias . Adventslieder drücken in ihren Texten daher, oftmals mit Bezug zum Alten Testament, die Sehnsucht nach der Ankunftszeit des verheißenen Erlösers und Heilbringers aus. So wird im bekannten Adventslied „Wir sagen euch an den lieben Advent“ (T: M. Ferschl 1954; M: H. Rohr 1954) der Advent als „heilige Zeit“ besungen. Adventsliedtexte thematisieren häufig die jetzt notwendig werdenden Vorbereitungen und seelischen Prozesse, die nun in Gang gesetzt werden müssen: Die vielfältigen Aufgaben der Menschen sollen sich alle auf das freudige innerliche und äußere Vorbereiten 17 Stille Nacht, heilige Nacht 137 auf diese Zeit beziehen, was etwa in den Versen von „Wir sagen euch an den lieben Advent“ in den Worten „Machet dem Herrn die Wege bereit. Freut euch, ihr Christen, freuet euch sehr! “ seinen metaphorischen Ausdruck findet. Den zeitlichen Charakter eben jenes Bereitmachens für diese besondere Zeit erhalten viele Lieder auch durch die verwendeten Imperative, etwa des deiktischen Bewegungsverbs „kommen“ (Klein 2001: 585), welche prominent in den Liedtiteln, aber auch in den Texten selbst zu finden sind. Der Imperativ ist eine grammatische Kategorie des Verbs. Er wird für Aufforderungen oder zu befolgende Ratschläge benutzt, welche in naher Zukunft eingelöst werden sollen. Daher wird der Imperativ auch Befehlsform genannt. Im Fall der Weihnachtsliedverben wäre inhaltlich wohl am ehesten von einer Form der Handlungsaufforderung zu sprechen: So ist mit dem Advent die Zeit gekommen, in der sich die Menschen ganz besonders freuen sollen. Grund dafür ist, nach christlichem Glauben, das Ankommen Gottes in der Welt selbst und zwar durch die Geburt Jesu. Dafür müssen jedoch ,die Tore weit und die Türen in der Welt hoch‘ gemacht werden. Diese Allegorie bezieht sich auf Psalm 24 und ist der ursprüngliche Text der israelitischen Liturgie auf den Einzug der Bundeslade in den Tempel. In „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ (T: G. Weissel 1623/ 1642; M: Halle 1704) wird dieser Text auf die Geburt Jesu bezogen, der in der 1. Strophe als „Herr der Herrlichkeit“, „König aller Königreich“ und „Heiland aller Welt zugleich“ bezeichnet wird. Oft treten Imperative in Verbindung mit der Interjektion „O“/ „Oh“ auf, was beim Singen und Hören eine steigernde Wirkung hervorrufen soll und als Ausdruck von Innigkeit und Sehnsucht nach Jesus verstanden werden kann. So wenden sich die Gläubigen auch Jesus selbst zu und bitten voller Hingabe, falls die menschlichen Bemühungen doch nicht ausreichen, ihn selbst um Hilfe: Er selbst soll die Himmel aufreißen ( Jes 63, 19), eine ,Tür‘ zwischen Himmel und Erde öffnen, so dass der doppelte flehentliche Ruf „O komm, o komm“ vernommen werden kann. Typische deutsche Advents- und Weihnachtslieder aus den letzten Jahrhunderten, die heute auch immer noch häufig gesungen werden, tragen daher Titel wie die folgenden: „O komm, o komm, du Morgenstern (T: O. Schulz 1975, M: Frankreich 15. Jahrhundert), „Kommet ihr Hirten“ (dt. T: C. Riedel 1868; M: unbekannt), „Ihr Kinderlein kommet“ (T: C. v. Schmid ca. 1810; M: J. A. P. Schulz 1794), „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ (T: G. Weissel 1623/ 1642; M: Halle 1704), „O Heiland, reiß die Himmel auf “ (T: F. Spee 1622; M: Köln 1638), oder „Tochter Zion, freue dich“ (T: F. H. Ranke 1820/ 1826; M: G. F. Händel 1747). Bei dem bekannten und häufig zu den Kinder-Weihnachtsliedern gezählten „Ihr Kinderlein, kommet“ fällt dabei sogar eine dreifache Wiederholung der Aufforderung in den ersten Versen auf: „Ihr Kinderlein, kommet, oh kommet doch all! Zur Krippe her kommet in Bethlehems Stall […]“, wodurch eine Intensivierung und Steigerung 138 Ruth M. Mell der Aufforderung bewirkt wird. Es soll sofort losgehen, keine Minute soll nun ungenutzt verstreichen! Weihnachtslieder im engeren Sinne, vor allem nach liturgischem Verständnis, rücken inhaltlich zumeist die Geburt Jesu Christi, und gerade nicht die adventliche Zeit davor, ins Zentrum. In der Bibel (Lk 2, 9-13) wird das Weihnachtsereignis als Geburt eines Kindes in einem Stall mitten in der Nacht dargestellt. Laut dem eben bereits zitierten Liedtext wird in „dieser hochheiligen Nacht“, wie es in „Ihr Kinderlein kommet“ heißt, „das Kindlein“ Jesus von Maria geboren, um als Mensch und zugleich als Sohn Gottes bzw. als sein Stellvertreter auf der Erde alle, die an ihn glauben, zu erlösen und ihnen die Wiederauferstehung von den Toten zu bringen. Gläubige Christen feiern daher diese Nacht als Beginn einer neuen Zeitrechnung, weswegen bereits um 500 diese Nacht bzw. das angenommene Geburtsjahr Jesu Christi durch den Mönch Dionysius Exiguus zum Jahr 1 in der christlichen Jahreszählung erklärt wurde. Dieses Ereignis führt damit zur Etablierung einer neuen Zeitrechnung, welche zwischen Datierungen ‚vor Christus‘ (v. Chr.) und ,nach Christus‘ (n. Chr.) unterscheidet. Sehr prominent und inhaltlich ins Zentrum gerückt wird dieser Zeitpunkt der Geburt Jesu in der Nacht auch in dem bekannten und zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärten Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ (T: J. Mohr 1816; M: F. X. Gruber 1818). Die Adjektive still und heilig spezifizieren diese Nacht bereits im Titel in zweifacher Weise als besonders. Die Wiederholung des Substantivs Nacht weist dabei zudem auf die große Bedeutung der Tageszeit hin. Jesus wird in der Nacht geboren. Vor allem in der vorindustriellen Zeit galt die Nacht ob ihrer Dunkelheit den Menschen immer schon als gefahrvoll und angsteinflößend. Umso verständlicher muss für die gläubigen Christen dieser Zeit damit die Metapher von Jesus als „Licht der Welt“ ( Joh 8, 12) in der gefahrvollen Nacht gewesen sein. So kann Jesu Licht durch sein Erscheinen in der Nacht viel heller erstrahlen als am Tag und weithin sichtbar werden. Das für die Feier gewählte kalendarische Datum am 24.12., nahe am Datum der Wintersonnenwende am 21.12. wie dem der antiken Sonnenwendfeier am 25.12., bekräftigt dabei die christliche Vorstellung, dass mit der Geburt Jesu symbolisch in dieser Nacht das Licht in die Welt kommt. Betrachten wir daher an dieser Stelle die Bedeutung der Nacht und des Lichts im christlichen Glauben noch etwas näher. Schon in der Schöpfungsgeschichte trennt Gott mit den Worten: „Es werde Licht! “ die nächtliche Finsternis vom hellen Tag. Die Finsternis der Nacht ist ein widergöttliches Chaos, welches allein durch die Trennung vom Licht und die Benennung des Chaos als lajlāh (Nacht) durch Gott gezähmt ist (vgl. Lanckau 2008). Die Nacht als ,gezähmte Finsternis‘ ist bereits in der Genesis Sinnbild der Herrschaft, Allmacht und Herrlichkeit Gottes. Die Geburt des Christuskindes 17 Stille Nacht, heilige Nacht 139 soll nun erneut die Finsternis zähmen, in der die Menschen gefangen sind, um den Bund Gottes mit den Menschen zu erneuern. So erklärt sich dann auch die christliche Zuschreibung dieser Nacht als heilig . Manche Lieder, wie das auf einem Gedicht von J. Klepper basierende „Die Nacht ist vorgedrungen“ (T: Jochen Klepper 1938, M: Johannes Petzold 1938), „Inmitten der Nacht“ (T und M: überliefert, 19. Jahrhundert) oder „Stille Nacht, heilige Nacht“ thematisieren daher die große Bedeutung der Nacht bereits durch die prominente Nennung im Titel. Auch in „Ihr Kinderlein, kommet“ wird die Nacht bzw. das Erhellen der Nacht, dort allerdings erst in der 1. Strophe, im Vers „Und seht, was in dieser hochheiligen Nacht der Vater im Himmel für Freude uns macht“ in den Fokus gerückt. Im Weihnachtslied „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ (T. urspr. 1795 K. F. Splittegarb, ver. v. G. Wustmann, 1885; M: C. G. Hering, 1909, ver. v. M. F. P. Bartsch, 1811) verweisen sowohl das Temporaladverb morgen im Titel sowie der Vers „Einmal werden wir noch wach“ der 1. Strophe auf das Vergehen der Nacht und das Anbrechen des Tages sowie mit diesem Tag auf das Erscheinen von Helligkeit und Licht als Metapher für die Geburt Jesu. Anders als in „Stille Nacht, heilige Nacht“ wird Nacht hier im alttestamentlichen Sinne als etwas zu Überwindendes aufgefasst und entsprechend kontextualisiert. Positiv konnotiert ist in jenem Lied dann zwar nicht die Nacht , aber doch der Abend , welcher dann in der 2. Strophe ebenfalls als heilig beschrieben wird: „Wißt ihr noch, wie vor’ges Jahr | Es am heil’gen Abend war.“ Hier spiegelt sich in der Lexik die Tradition der Feier von Weihnachten am Abend des 24. Dezember. In „Stille Nacht, heilige Nacht“ erfahren wir noch mehr über diese heilige Nacht und Jesus, besungen als „holder Knabe im lockigen Haar“, durch dessen Geburt „uns schlägt die rettende Stund“. Gerade dieser Vers verdient im Zuge unserer Betrachtung noch einmal unsere Hinwendung, denn im Wort Stund wird der Zeitraum der gesamten Nacht auf die Geburtsstunde selbst, d. h. auf den zentralen Moment der Ankunft Gottes auf der Erde, eingegrenzt. Das ist der Höhepunkt dieser Zeit, des adventlichen Wartens und das eigentliche Weihnachtsereignis. Die Vorstellung einer dunklen Nacht , erhellt von einem warmen Lichtschein, wie sie etwa in „Stille Nacht“ heraufbeschworen wird, dazu noch weißer Schnee. Eine solche Szenerie ist für viele der Inbegriff des Weihnachtsfestes am Heiligen Abend , in der Heiligen Nacht . Die Thematisierung des Weihnachtsereignisses in der Dunkelheit des Abends und der Nacht sowie des sich Bereitmachens auf diese heilige Nacht bzw. ganz konkret auf die rettende Stund ist zentraler Bestandteil der Weihnachtsliedlexik. Wie gezeigt werden konnte, ist dieser Weihnachtswortschatz mit zeitlichem Bezug in vielen traditionellen Weihnachts- und Adventsliedern zu finden. Häu- 140 Ruth M. Mell fig sind diese Wörter bereits in den Liedtiteln enthalten. Darüber hinaus wird nicht selten ihr semantischer Wert durch mehrmalige Wiederholung im Titel oder dann folgend in den Strophen verstärkt. Auch die Dichotomie von Tag und Nacht im Sinne der christlichen Theologie tritt in der Lexik der Adventswie der Weihnachtslieder immer wieder deutlich hervor: Mit der Geburt Jesu kommt in die Finsternis und Nacht der menschlichen Existenz das lang ersehnte und herbeigewünschte Licht; und die Sterndeuter, in christlichen Kontexten die „Heiligen Drei Könige“ genannt, folgen dem hellen Stern am nächtlichen Himmel, der sie zur Krippe im Stall leitet. Dieser Licht-Symbolik verleihen wir auch heute noch Ausdruck, wenn jedes Jahr auf ’s Neue Kerzen am Adventskranz oder am Baum entzündet werden. Ebenso bringen Kinder Licht hinter die verschlossenen ,Fensterchen‘ des Adventskalenders, indem sie ihre ,Türchen‘ oder Päckchen öffnen. Auch diese Form der Schaffung von Tradition und Brauchtum mit Bezug auf die regelmäßige Wiederholung und das jährliche Wiederkehren dieses Festes in immer gleicher Weise ist in der Lexik der Weihnachtslieder selbst angelegt. So singen wir „Alle Jahre wieder“ (T: W. Hey 1837; M: F. Silcher 1842) dieselben traditionellen Weihnachtslieder und erinnern uns immer wieder gerne „wie vor’ges Jahr | Es am heil’gen Abend war.“ Literatur Die Bibel. 1993. Einheitsübersetzung. Altes und neues Testament. Freiburg/ Berlin/ Basel: Herder. Klein, Wolfgang. 2001. Deiktische Orientierung. In: Haspelmath, Martin/ König, Ekkehard/ Oesterreicher, Wulf/ Raible Wolfgang (Hrsg.). Sprachtypologie und sprachliche Universalien . Berlin/ New York: de Gruyter, Vol.1/ 1, 575-590. Lanckau, Jörg (2008): Nacht . In: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet. Online: www.bibelwissenschaft.de/ fileadmin/ buh_bibelmodul/ media/ wibi/ pdf/ Nacht_AT___2018-09-20_06_20.pdf 0 0 0 Musterhafter Erzählzauber 18 Stimmungen erzeugen, Erinnerungen schaffen, Ritualen folgen Wieso wir an Weihnachten Geschichten vorlesen Susanne Tienken In meinem Bücherregal verborgen hinter dem Lesesessel, gibt es eine kleine Weihnachtsecke. Sie besteht aus einer überschaubaren Anzahl verschiedener Bücher mit Weihnachtsgeschichten. Es gibt daneben auch eine ansehnliche Strecke mit Reiseführern unterschiedlichen Benutzungsgrades, eine Ecke mit hübschen aber unpraktisch großformatigen Kochbüchern sowie ein wenig weiter zur Raummitte hin, die Ecke mit Gartenbüchern wie eine Mahntafel unvollendeter Ambitionen. Während aber die letztgenannten thematisch eher peripheren Bücher allmählich aussortiert und nach und nach dem Büchertisch der lokalen Wohltätigkeitsorganisation überantwortet werden, kann sich mein Bestand an Weihnachtsbüchern behaupten. Ich bringe es nicht über mich. Weihnachtsbücher sind eben nicht nur Gebrauchsgegenstände, sondern sie sind oftmals symbolträchtige Artefakte, die behalten oder eingekauft werden, um Stimmungen zu erzeugen, die Erinnerungen wachrufen oder die schon darauf angelegt sind, zukünftige Erinnerungen überhaupt erst zu schaffen. Anders als viele andere Gattungen sind Weihnachtsgeschichten dazu da, gemeinsam gelesen, nämlich vorgelesen zu werden. Weihnachtsgeschichten helfen dabei, einen bestimmten Zeitabschnitt im Jahr bedeutsam zu machen, selbst für diejenigen, die mit dem religiösen Gewicht der Festtage nicht vertraut sind. Warum ist das so? Eine der wichtigsten Antworten auf diese Frage ist: 1 Weihnachten wird gemacht oder: Alle Jahre wieder Weihnachten ist eines unserer größten Feste, zu dessen ritualhaften Begehen und seiner Vervollkommnung uns eine enorme Bandbreite an Ressourcen zur Verfügung stehen, ja manchmal gar aufgedrängt werden: Weihnachtsmärkte, Weihnachtsmusik und Weihnachtslieder und -gedichte erfreuen uns, Weihnachtsgottesdienste läutern uns und stillen unser Bedürfnis nach Spiritualität, Weihnachtsfilme und Weihnachtstheater unterhalten uns, Weihnachtsteller, die Weihnachtsgans, Weihnachtsplätzchen sättigen uns, Weihnachtsbeleuch- 144 Susanne Tienken tung, Weihnachtsgeschirr und Weihnachtsdekoration glitzern und glänzen für uns, Weihnachtsengel begleiten uns, Weihnachtskleider, Weihnachtspullis und Weihnachtsstrümpfe kleiden, schmücken und wärmen uns. Ohne Weihnachtsbaum ist die Weihnachtsstube kahl. Und dann gibt es eben auch noch die Weihnachtsgeschichten. Es scheint fast so, als ob sich beliebige Gegenstände, Zusammenkünfte oder Kunstformen in den Dienst des Festes stellen lassen, solange das Bestimmungswort Weihnachts davorgesetzt wird. Dieser sprachliche Weihnachtszauber gelingt allerdings nur bedingt: Alles, was Weihnachten zu Weihnachten macht, funktioniert nämlich nur zu einer bestimmten Zeit . Ein Weihnachtsmarkt im April wäre ein Bluff, ein Weihnachtsgottesdienst schon im Februar unmöglich, die Weihnachtskekse im Mai eher ein Kuriosum und der Weihnachtspulli im Juni nicht rührend, sondern einfach nur hoffnungslos. In Internetforen wie Gutefrage.net wird dementsprechend hingebungsvoll diskutiert, ab wann denn Lebkuchen gekauft werden können. Dabei schwingt in Fragen wie dieser auch die Suche nach dem Normalen , dem Angebrachten , dem Sollen mit. Recht schnell beginnen die Diskussionen, ab wann denn der geeignete, der richtige Zeitpunkt zum Essen oder Verkauf von Lebkuchen sei. Während dann einige achselzuckend meinen, jede und jeder könne selber entscheiden, setzen andere das alljährliche Lebkuchendebut vehement auf den ersten Advent, frühestens jedoch auf Mitte November fest. Alles andere sei, so der O-Ton im Forum, völlig krank . Dass wir bestimmte Dinge als passend, schön und richtig empfinden, liegt zum Teil an der Konvention, an die wir uns gewöhnt haben, aber auch daran, dass der Sinn von Ritualen und deren Bestandteilen sich unter anderem einer zeitlichen Begrenzung ergibt, die durch den Einsatz der genannten Ressourcen und Praktiken (wie Plätzchen backen, basteln, Flöte spielen etc.) markiert wird. Ansonsten verwässert der Sinn des Herausgehobenen , das, was Rituale besonders, bemerkenswert und überhaupt erst sinnvoll macht. Auch Weihnachtsgeschichten werden nur zu einer begrenzten Zeit vorgelesen, sie sind damit Teil des Stoffs, aus dem Weihnachten gemacht ist. Gewissermaßen wie Der goldene Schlüssel der Brüder Grimm, mit dem eine verheißungsvolle Kiste geöffnet werden kann. Die Weihnachtszeit ist größtenteils an das Kirchenjahr gebunden und beginnt mit dem ersten Advent und endet am 6. Januar. Weihnachten an sich erstreckt sich für die meisten vom Heiligen Abend beziehungsweise Ersten Weihnachtstag bis zum Zweiten Weihnachtstag. Genau wie andere Rituale hat also auch Weihnachten einen Anfang und ein Ende, selbst wenn dies im Falle von Weihnachten irgendwie doch geringfügig verhandelbar ist, weil wirtschaftliche Interessen und neue Familienkonstellationen dies erfordern. Damit kommen wir zu einer weiteren Erklärung, warum Weihnachtsgeschichten zum Einsatz kommen: 18 Stimmungen erzeugen, Erinnerungen schaffen, Ritualen folgen 145 2 Weihnachten passiert gemeinschaftlich oder: Fröhliche Weihnacht überall Weihnachten ist nur schwer zu entgehen. Das liegt besonders daran, dass sich Menschen sprachlich miteinander austauschen. Es wird über Weihnachten geredet , geschrieben , nach Weihnachtsplänen gefragt . Weihnachtslieder werden gesungen und Weihnachtsgeschichten vorgelesen . Alte Anekdoten werden ebenso ausgekramt wie der Weihnachtsschmuck aus den Kartons auf dem Dachboden. Nach Weihnachten findet dann die Auswertung desselben im Medium Sprache statt: Wie war denn dein Weihnachten? Weihnachten ist eine Angelegenheit des Kollektivs, Weihnachten geschieht gemeinschaftlich, d. h. gesellschaftlich, familiär oder im Freundeskreis und der Norm nach eben nicht allein. Selten ist daher wohl das Mitleid für einsame Menschen so groß wie an Weihnachten. In Weihnachtsgeschichten ist das Motiv einsamer, oft armer Menschen, die gerade an Weihnachten unverhofft menschliche oder göttliche Zuwendung erhalten, dementsprechend häufig. Weihnachten alleine zu feiern ist nämlich zwar möglich, aber schwierig, da entweder mindestens eine andere Person anwesend sein muss, damit die Bühne für Weihnachten entstehen kann. Falls die Bühne Weihnachten dann erst einmal eröffnet ist, kann durchaus alternativ Weihnachten gefeiert werden: Ohne Weihnachtslieder, Geschenke oder besonderes Essen. Wichtig ist dann lediglich, sich über eine Umgestaltung, eine Anpassung der herkömmlichen Rituale wiederum gemeinsam zu verständigen. Dies wird besonders bei Paaren deutlich, die zum ersten Mal gemeinsam Weihnachten feiern. Alleine kann Weihnachten gefeiert werden, indem gewohnte Rituale der spezifischen Nahrungsaufnahme, des Medienkonsums, des Gottesdienstbesuchs alleine durchgeführt werden, was aber immer in dem Bewusstsein geschieht, an einem kollektiven Ereignis teilzuhaben. Selbst wer sich dagegen entscheidet, Weihnachten zu feiern, muss sich irgendwie dazu verhalten. Niemand entgeht der osmotischen Wirkung gesellschaftlicher Rituale, was an unserer Sozialisierung liegt. Dies führt uns zum dritten Punkt: 3 Weihnachten und Weihnachtsgefühle werden erlernt oder: Ihr Kinderlein kommet Dass Weihnachten und weihnachtliche Rituale gerade dazu genutzt werden, sich selbst als Familie zu definieren, neu zu erfinden bzw. die Rollen innerhalb einer Familie zu befestigen, ja gar den Sinn des Zusammenlebens in einer Familie zu manifestieren, ist eines der Ergebnisse einer groß angelegten Studie des Forscher*innenteams rund um die Theologen Maurice Baumann und Ro- 146 Susanne Tienken land Hauri von der Universität Bern. Im Rahmen ihres Forschungsprojekts sind zahlreiche Interviews mit Vertreter*innen mehrerer Generationen durchgeführt worden. Zudem sind die Kinder in den Familien gebeten worden, Weihnachten fotografisch zu dokumentieren und zu kommentieren. In den Erzählungen über Weihnachten wurde deutlich, dass entweder die als besonders traditionell und allgemein typischen Dinge und Episoden in den Vordergrund gerückt wurden, oder aber das, was sich scharf gegen die Konvention abzeichnet (etwa der umgestürzte oder fehlende Tannenbaum). Als wahre Katastrophe wird aber empfunden, wenn andere Familienmitglieder die gemeinsamen Rituale nicht anerkennen, sich der erwarteten Gemeinschaft entziehen, einfach nicht mitmachen . Ein gelungenes Weihnachten, egal in welcher Form und mit welchem Habitus (ökologische Strohsterne oder lila Lametta, Gänsebraten mit Knödeln oder Kartoffelsalat mit Würstchen, Christvesper oder Fernsehen, Bescherung oder nicht, Popmusik oder Weihnachtsoratorium) es vollzogen wird, erfordert nämlich nicht nur das richtige Timing, sondern auch, dass alle mitmachen. Dieses Mitmachen in Ritualen ist erlernt und wird durch beständige Wiederholung wesentlicher Elemente von Jahr zu Jahr eingeübt. Zur Weihnachtszeit ist der Kontakt zwischen den Generationen ausgeprägt, das Gefühl eines Zusammenhalts wird durch die Bewahrung familiärer Rituale gewährleistet. Die Berner Studie hat gezeigt, dass Gewohnheiten der vorherigen Generationen bei Familiengründungen weitergeführt werden. Das Vorlesen von Weihnachtgeschichten gehört zweifelsohne zu diesen Familientraditionen hinzu. Aus der Leseforschung wissen wir, dass Vorlesen keine monologische und monotone Tätigkeit ist, sondern ein Interaktionsformat und eine Art des Zusammenseins. Sowohl Vorleser*innen und Zuhörer*innen stellen und beantworten Fragen, nicken zustimmend, tauschen Blicke aus, bewerten die Moral von der Geschicht‘ und rezipieren Inhalte, aber auch den Stil von Erzählungen. Das gemeinsame Lesen ist ein Lernprozess, in Geschichten wird das Was in der Welt dargelegt, aber auch das ausgewählt, was als erzählenswert zu gelten hat und wie über die Dinge in der Welt gesprochen werden kann. Eine Suchanfrage im Leipziger Wortschatzportal zeigt, dass in den dort erfassten Internetquellen, die sowohl Pressetexte als auch z. B. Blogs umfassen, Weihnachtsgeschichten besonders häufig als Teil eines Vorlesekontextes Erwachsene-Kinder erscheinen. Erwachsene lesen oder erzählen und Kinder lauschen - eine pädagogische Situation wird mit ästhetischem Genuss verbunden. Zudem wird deutlich, dass das häufigste Adjektiv in Verbindung mit Weihnachtsgeschichten das superlativische schönsten ist, gefolgt von musikalisch , besinnlich und gemütlich . Diesen Adjektiven ist gemeinsam, dass sie keine absoluten Qualitäten bezeichnen, sondern subjektive Einschätzungen aufzeigen. Sie sind sogenannte affektive Adjektive, deren emotionale Bedeutung durch die wiederholte Verwendung in 18 Stimmungen erzeugen, Erinnerungen schaffen, Ritualen folgen 147 ähnlichen Situationen allmählich übernommen wird. Es lässt sich deshalb im vierten Punkt und als Fazit festhalten: 4 Geschichten geben den Weihnachtston an oder: Leise rieselt der Schnee In Weihnachtsgeschichten ist Weihnachten an sich meistens das Thema, wenigstens aber das Setting. Daher lohnt sich ein näherer Blick auf Weihnachtsgeschichten, um das Erlernen von Gefühlen und Einstellungen gegenüber Weihnachten zu verstehen. Weihnachten hat eine spezifische Ästhetik, die in den Geschichten vermittelt wird. Ich kehre an mein Bücherregal zurück, dass neben einem Erbstück aus den 1970er Jahren auch eine neuere Anthologie sowie die Werke diverser schwedischer Kinderbuchautor*innen und eine Weihnachtsgeschichte Erhard Dietls über die Antihelden Die Olchis enthält. Zwischen dem Erscheinen beider Anthologien von 1976 und von 2001 liegen 25 Jahre, also eine ganze Generation. Verblüffenderweise finden wir in beiden Anthologien Vertreter*innen des klassischen deutschen Bildungskanons, etwa Annette von Droste-Hülshoff oder Joseph von Eichendorff. Auch ist in beiden das Lukasevangelium abgedruckt. Gedichte von Goethe, Heine, Storm, Rilke, Morgenstern, Matthias Claudius machen den Anspruch deutlich, neben Stimmungen auch Bildung zu vermitteln. Zudem eröffnen die traditionellen Lieder, Geschichten und Gedichte den Vorleser*innen auch den Rückblick in die eigene Kindheit. Sie ermöglichen die Verwurzelung der Generationen im gemeinsamen Lesen. Das Gefühl So war es schon immer und es wird weiter bestehen verbindet die Generationen. Zu den althergebrachten Texten gesellen sich auch neuere Autor*innen wie etwa James Krüss und Kirsten Boie und sozialkritische Autor*innen wie Gudrun Pausewang oder Wolfdietrich Schnurre. Die anderen Werke in meinem Regal (Astrid Lindgren, Sven Norqvist, Juija Wieslander, Erhardt Dietl) decken die Zeit von den frühen 1960er Jahren bis 2009 ab. Es lassen sich erstaunliche Ähnlichkeiten finden, nämlich: In den Weihnachtsgeschichten liegt in der Regel immer Schnee , obwohl ja das biblische Setting etwas Anderes nahelegen könnte. Dieser Befund weist darauf hin, dass die christliche Botschaft verweltlicht und in einem allgemeinen Familienfest aufgegangen ist. Der Schnee funktioniert in den Geschichten oft als lang ersehnter Freudenquell für Kinder, die endlich Schlitten fahren oder im Schnee toben können. Das gilt auch für die literarischen Figuren des Katers Findus, der Kinder aus Bullerbü oder Mama Muh. Schnee funktioniert aber auch als ästhetisierendes Element: eine tief verschneite Landschaft ist märchenhaft und schön , oft passieren in ihr wunderhafte Dinge, ein Zauber wohnt in einer 148 Susanne Tienken solchen Welt. Die verschneite Landschaft bringt auch mit sich, dass es leise ist. Die Stille führt zur verstärkten Wahrnehmung der Natur. Die Nähe zur Romantik schimmert auch dann deutlich durch, wenn der Schnee und vor allem die Kälte zur existentiellen Bedrohung des Todes durch Erfrieren werden. Schnee und Kälte dienen also oft auch als Folie für die weihnachtliche Errettung der von bitterer Armut und Hunger bedrohten Figuren durch gutherzige Menschen oder Tiere. Der literarischen Idealisierung des vor Kälte gestorbenen Kindes widersetzt sich zum Beispiel Maxim Gorki ausdrücklich: Er lasse keine armen Kinder umkommen und bittere Qualen erleiden, nur um reiche Kinder an deren Existenz zu erinnern. In den Weihnachtsgeschichten wird meistens aktiv auf Weihnachten hingearbeitet . Etwas geschieht vor Weihnachten . Der Fokus auf die Vorweihnachtszeit bestätigt sich auch bei der Suche nach Weihnachten im Leipziger Wortschatzkorpus. Vor ist die häufigste Präposition. Vor Weihnachten wird meistens gebacken - hier ist Astrid Lindgrens Weihnachten in Bullerbü geradezu stilbildend. Kinder sind an diesen Vorbereitungen der Weihnachtsbäckerei beteiligt, unter Anleitung ihrer Mütter oder Großmütter. Die Väter holen stattdessen den Weihnachtsbaum, wobei die Kinder ihnen behilflich sind. Die Vorbereitungen auf Weihnachten in den Weihnachtsgeschichten sind also konventionell gegendert, nur der Junggeselle Petterson fällt mit seinen häuslichen Fähigkeiten aus dem Rahmen. Zu den Weihnachtsvorbereitungen gehört oft auch eine gute Tat. Dies kann in der Versorgung von fremden , armen , alten und vor allem hilfsbedürftigen Menschen mit Weihnachtsessen und menschlicher Wärme bestehen, oder auch in der Rettung bedrohter oder verfolgter Tiere. In den Herzen ist’s warm , das wird in den Weihnachtsgeschichten vorgemacht. Weihnachtsgeschichten schlagen oft Lösungen vor, sie befürworten eine aktive Freizeit, ein freundliches Miteinander und Solidarität, sie wertschätzen Natur und sie brechen soziale Ungerechtigkeiten auf. Sie erweitern nicht zuletzt den Wortschatz und eröffnen damit längst vergangene und gerade darum vielleicht auch neue Horizonte. Deshalb mein Rat an alle, die Kinder in der Nähe haben: Setzen Sie sich zusammen und lesen Sie vor, was das Zeug hält! An die gemeinsamen Stunden des Lesens werden Sie und die Kinder sich auch noch lange nach Weihnachten erinnern. Literatur Baumann, Maurice/ Hauri, Roland (Hrsg.). 2008. Weihnachten: Familienritual zwischen Tradition und Kreativität . Stuttgart: Kohlhammer. Belliger, Andréa/ Krieger, David J. (Hrsg.). 2013. Ritualtheorien: ein einführendes Handbuch . 5., aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Springer VS. 18 Stimmungen erzeugen, Erinnerungen schaffen, Ritualen folgen 149 Gressnich, Eva/ Müller, Claudia/ Stark, Linda (Hrsg.). 2015. Lernen durch Vorlesen. Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Schule . Tübingen: Narr Francke Attempto. Erwähnte Weihnachtsbücher Dietl, Erhard. 2013. Die Olchis feiern Weihnachten . 6. Auflage. Hamburg: Oetinger. Lindgren, Astrid. 2015. Weihnachten in Bullerbü . Hamburg: Oetinger. [Schwed. Original 1963]. Naumann, Jürgen (Hrsg.). 1976. Weihnachten. Die schönsten deutschen Weihnachtslieder, Gedichte, Reime und Weihnachtsgeschichten . Köln: Lingen Verlag. Nordqvist, Sven. 1989. Pettersson kriegt Weihnachtsbesuch . Hamburg: Oetinger. [Schwed. Original 1988]. Lehmkuhl, Sabine (Hrsg.)/ Briswalter, Maren (Ill.) 2001. Das große Ravensburger Buch zur Advents- und Weihnachtszeit. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag. Wieslander, Juija/ Nordqvist, Sven. 2009. Mama Muh feiert Weihnachten . Hamburg: Oetinger. [Schwed. Original 2008]. 0 0 0 19 Dem Weihnachtszauber auf der Spur Wie Kinder schriftliche Weihnachtsgeschichten erzählen Juliane Stude Wie kaum ein anderer Jahresabschnitt lädt die Adventszeit zum Erzählen von Geschichten ein: Weihnachtsgeschichten für Kinder. In diesem Beitrag soll es hingegen um Weihnachtsgeschichten von Kindern gehen. Entstanden sind diese im Rahmen einer auf Phantasiegeschichten abzielenden Schreibaufgabe im Unterricht eines dritten Schuljahres. 1 Kindliche Erzähltexte können aus vielfältigen Blickwinkeln betrachtet werden. Die hier eingenommene Perspektive fragt nach den Ordnungsprinzipien und sprachlichen Gestaltungsmitteln, mit denen Kinder Weihnachtsgeschichten entfalten, also danach, wie junge Schreiber/ innen ihre Vorstellungen von Weihnachten in erzählbare Mitteilungen bringen. Wird Erzählen als „Formsprache der inneren Welt“ (Merkel 2000) verstanden, so ist hiermit auch die - in der Linguistik allerdings eher randständig bearbeitete - Frage berührt, welche Erfahrungsbereiche in Kindertexte einfließen. In welchem Verhältnis schöpfen Kinder beim Aufbau fiktiver (Weihnachts-)Welten aus ihrem Alltag, aus tradierten Mythen, aus medialen Rezeptionserfahrungen und/ oder aus dem, was sie selbst aus der Phantasie hervorbringen? 1 Kindertexte als Gegenstand der Erzählerwerbsforschung und darüber hinaus Doch was macht sprachliches Handeln überhaupt zum Erzählen und was lässt sich daraus für die Analyse kindlicher (Weihnachts-)Geschichten ableiten? Aus Sicht der linguistisch und sprachpsychologisch geprägten Erzählerwerbsforschung ist für Narrationen zweierlei bedeutsam: zum einen geht es unter dem 1 Die für den vorliegenden Beitrag durchgeführte Analyse nutzt 13 Schreibprodukte aus dem an der TU Dortmund durchgeführten DFG-Projekt „Orale und literale Diskursfähigkeiten: Erwerbsmechanismen und Ressourcen (OLDER)“, das längsschnittlich zwei Grundschulklassen beim Aufbau mündlicher und schriftlicher Diskursfähigkeiten begleitet hat. Die von der Lehrerin initiierte und nicht näher spezifizierte Aufgabe lautete Schreibe eine Weihnachtsgeschichte. Die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt durchschnittlich acht Jahre alt. 152 Juliane Stude Gesichtspunkt „globaler Vertextungskompetenz“ (Quasthoff/ Kern/ Ohlhus/ Stude, 2019) darum, erlebte oder imaginierte Ereignisse in einer bestimmten Abfolge miteinander zu verknüpfen und zu strukturieren. Bruner (1986) bezeichnet diese Ebene des Erzählens als landscape of action. Erhalten die geschilderten Geschehnisse zudem eine emotionale Qualifizierung, etwa durch Einblicke in das Innenleben der Figuren, in ihre Pläne und Wünsche wie es z. B. durch Rede- und Gedankenwiedergabe möglich wird, spricht Bruner von einer landscape of consciousness. Erst diese zweite Ebene liefert mittels evaluativer Mittel Deutungshinweise, wie die Geschichte zu verstehen ist und gewährleistet so das „Herstellen einer gemeinsamen Welt“ (Ehlich 1983), die „Versetzung in einen gemeinsamen Erlebnisraum“ (Pätzold 2013) zwischen Erzähler/ in und Zuhörer/ in bzw. Leser/ in. Die Fähigkeit, beide Erzählebenen zu berücksichtigen, stellt Kinder nachweislich im Mündlichen mindestens bis zum Ende des Grundschulalters, im Schriftlichen bis hinein in die Sekundarstufe noch vor größere Herausforderungen. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass sprachliche Mittel erst dann ihre narrationsspezifische Funktionalität entfalten, wenn sie imstande sind, den narrativen Kernpunkt einer Geschichte kenntlich zu machen. Der Erwerb so verstandener „globaler Markierungskompetenz“ (Quasthoff et al. 2019) setzt also voraus, dass Kinder die von ihnen verwendeten Textelemente in ihrer strukturellen Relevanz für die Gesamtkonstruktion der Geschichte erfassen. Während in der mündlichen Gesprächssituation mehrfach die Möglichkeit besteht, die Erzählwürdigkeit einer Geschichte gemeinsam mit dem/ der Zuhörer/ in herauszuarbeiten, sind Kinder in der monologischen Schreibsituation herausgefordert, diese mit geeigneten Explizitheitsformen selbständig zu etablieren. Für die untersuchten Kindertexte lassen sich hieraus zwei Anschlussfragen ableiten: Was ist der jeweilige narrative Kern der kindlichen Weihnachtsgeschichten? Wie gelingt es den Kindern, diesen Kern sprachlich in schriftlichen Texten zu verdeutlichen? 2 Beobachtungen zu den schriftlichen Erzählungen In dem hier zugrunde liegenden Datensatz kreisen die Geschichten vorrangig um drei Themenbereiche: die musterhafte Chronologie des Festtages, die Vorfreude und das Warten auf Weihnachten sowie das Überbringen der Geschenke . Als Figuren finden sich sowohl menschliche Protagonisten als auch phantastische Wesen - erwartungskonform allen voran der Nikolaus bzw. der Weihnachtsmann. Die Wahl der Figuren beeinflusst maßgeblich, ob die Geschichte eher den Erfahrungsbereich der realen Welt abdeckt oder aber ob Phantasievorstellungen, die wiederum „eine eigene innere Erlebniswelt konstituieren“ (Merkel 2000: 82), Platz gewinnen. 19 Dem Weihnachtszauber auf der Spur 153 3 Landscape of Action - Das Skript des Weihnachtstages Traditionellerweise folgt der Ablauf an Heiligabend in vielen Familien einem bestimmten Skript. Auch etliche Kinder nutzen die Chronologie des Festtages als roten Faden für die Handlungsabfolge ihrer Geschichte, in der sie vorrangig menschliche Protagonisten auftreten lassen. Wie die ersten beiden Auszüge (B1, B2) illustrieren sind hierbei genaue Zeitangaben, das akribische Beschreiben des Weihnachtsessens sowie die Quantifizierung der Geschenke charakteristisch. B1 - 05w (Auszug) Pauline nach dem Essen gingen sie in ihr Zimmer die Weihnachtsgeschenke Für Mama und Papa einpacken Dann gingen sie raus Spielen Abends um 6.00 Uhr gingen sie rein sie aßen ein Weihachtsmenü ein Weihnachtsmenü mit Fleisch, Katofeln und Gemüse mit Pommes, danach gingen sie nach oben dann gingen sie Geschenke aus gepackt. B2 - 08w (Auszug) Kristin Sie fuhren um 5 00 Uhr zu Kirche und wieder zuruck. Als sie um 7 00 Uhr zuruck kammen war der platz unterm Tannenbaun vol mit Geschenken. Es waren 5 für Anna 6 für Leon und 7 für Helena. Die ausgeprägten Verfahren der Detaillierung stehen einem sparsamen Verwenden evaluativer Deutungshinweise gegenüber: insgesamt werden die Ereignisse vergleichsweise emotionslos geschildert und kaum bewertet. Dies bedeutet nicht, dass die Geschichten von keiner Grundstimmung getragen wären. Der narrative Kern scheint vielmehr gerade im Ausdruck dessen zu liegen, dass sich Weihnachten durch skriptgetreues Erleben traditioneller Abläufe wie dem gemeinsamen Festessen, der Bescherung etc. auszeichnet. 154 Juliane Stude 4 Landscape of Consciousness - Die Vorfreude als das Erzählwürdige an Weihnachten Ein zweiter in den Kindertexten prominenter narrativer Kern lässt sich in der Vorfreude auf Weihnachten ausmachen. So verleiht beispielsweise der Verfasser der nächsten Erzählung (B3) unter Verwendung gleich mehrerer evaluativer Mittel dem mit Weihnachten assoziierten Gefühl des vorfreudigen Wartens erzählerischen Ausdruck. Es finden sich Intensivierungen ( die sich immer, immer und immer freuten ), Bewertungen ( endlich war es soweit ), Innenschauen ( die beiden waren so glücklich ), Figurenrede mit Exklamation ( Was gibt es denn Schöneres als Weihnachten! ) sowie ein retardierendes Moment. 2 Der so erzeugte Spannungsbogen wird schließlich im gemeinsamen Feiern des Weihnachtsfests kohärent aufgelöst und das Ende der Geschichte vom Verfasser zusätzlich mit einer metasprachlichen Abschlussformel sowie exzessiver Interpunktion ( Ende!!!!!!!!! ) markiert. B3 - 15 m Jens Eine WeihnachtsGeschichte Es warn einmal zwei kinde ein Junge und ein Mädchen die siech immer,immer und imm er auf Weihnachteen feuen. Endlich war es so weit heute war wider Weihnnachten! Die Beiden waren so glük lich. Dan fragt die Beide die Mama was giept es den schöneres als Weihnachten? Mama andfortet: "Nein"! Dan nach 5 mienuten haten der Opa, die Oma, der Papa, die Mama, der Junge und das Mäd chen Alle haten Weihnachten gefeiert. Ende! ! ! ! ! ! ! ! ! 5 Die Leerstellen von Weihnachten als Tor zur Fiktionserzeugung Weihnachten lässt etliche Leerstellen offen. So bleiben z. B. die beiden Fragen ungeklärt, wie der Weihnachtsmann (aus der phantastischen Welt) zu den Menschen (in die reale Welt) kommt und wie den Kindern die Geschenke überbracht werden. Zum Abschluss dieses Beitrags soll ein Blick darauf gerichtet werden, wie genau die Kinder eben diese Leerstellen in ihren Texten füllen. Bevorzugt 2 Dieses baut der Verfasser in Form einer zeitlichen Verzögerung ( dann nach 5 Minuten ) in Kombination mit dem erneuten Aufzählen aller Einzelfiguren unmittelbar vor der personellen Zusammenfassung ( Alle hatten Weihnachten gefeiert) ein. 19 Dem Weihnachtszauber auf der Spur 155 nehmen die Kinder hierzu einen Perspektivwechsel vor und schildern das Weihnachtsereignis aus Sicht der Erfahrungswelt des Weihnachtsmannes bzw. des Nikolauses. Wie B4 und B5 zeigen, gelingt es dabei, den/ die Leser/ in in eine fiktive Welt zu versetzen. Beide Texte liefern ein Deutungsangebot zur Frage, was eigentlich in der anderen, phantastischen Welt vor sich geht, während die Menschen auf der Erde auf Weihnachten warten. Auf diese Weise sind sie lesbar als phantasievolles Pendant zu jenen Geschichten, bei denen wie oben gezeigt die menschliche Vorfreude auf Weihnachten das strukturelle Zentrum bildete. B4 - 04 m Georg Die Geschichte vom Weihnachtsmann Der Weihnachsman im seihnen Haus er bereitet ales vor weil balt Weihnachten ist. Er muss noch das Rentier Strigeln und im das Futter in legen. Dan muss er noch den Schlitt en kontolie ren Er seubert die Wonung und die Fenster. Dann muss er den Sack nahen. Jetst ist Heilichabend. der Weihnachts mann fühlt die Geschenge ein. er legt den Rentiren das Zaumzeug an. und färt loss und wirft die Gesc henge. in den Schornstein sie Rutschen unter den tanen Baum. The End B5 - 06w Nina Der Nikolaus Es war im Dezember Machte der Nikolaus schomer fertig for Weihnachten der Nikolaus rufte er di Rentire er rufte die Helfer was schdet zu helfen mac ht die Rentire fertie für Weihnachten und jes war es entlich Weihnachten er schfinkte sich auf sein schliten dan war er Bei den Kinder dan war er über al und da war er wider am Nortpul. den hat der Nikolaus ein Kakau getrunken. 156 Juliane Stude Bemerkenswert ist, wie die fiktive Welt mitunter von menschlichen Alltagserfahrungen durchdrungen wird - so putzt der Weihnachtsmann u. a. nochmal schnell die Fenster vor dem großen Festtag (B4) und der Nikolaus gönnt sich ein gutes Getränk nach getaner Arbeit (B5). Das eigentliche Überbringen der Geschenke tritt in den Hintergrund, vielmehr bildet das Abarbeiten der langen to-do-Liste des Weihnachtsmannes/ Nikolauses den narrativen Kern der Geschichten. Anders geht der Verfasser des letzten Beispiels vor, der sich ganz dem Phantasieren hingibt und die Geschenkeübermittlung - imaginiert als Plünderung im ICE-Waggon des Weihnachtsmannes - in den Mittelpunkt seiner poetischen Geschichte stellt. B6 - Dirk 14m Fahren zu Weihnachten Inter Citi Express zu Weihnachten zu fahren macht allen Kindern spaß, denn der Weihnachtsmann hat einen eigenen Waggon. Den die Kinder plündern können das macht allen Kinder spaß. 6 Fazit Der mit Weihnachten verbundene Spielraum in Bezug auf die Einschätzung, was real und was phantastisch ist, lädt Kinder offenbar auf vielfältige Weise zu narrativer Textproduktion ein. Wie die Erzählungen zeigen, scheinen insbesondere die Leerstellen von Weihnachten anregende Schreibimpulse zu liefern und zugleich die Ingredienzen des Weihnachtsgeheimnisses auszumachen. Die Texte eröffnen für uns also auch Einblicke, worin aus Kindersicht der besondere Zauber von Weihnachten liegt. Insgesamt ist in den Kindertexten das Aufeinandertreffen von weihnachtlichen Alltagserfahrungen und Fiktionalem kennzeichnend, wenngleich die Wirkweise medialer Rezeptionserfahrungen dabei kaum bis ins Letzte auseinander zu differenzieren ist; denken wir hier beispielsweise allein an den Einfluss literarischer und filmischer Darstellungsweisen wie etwa die von Santa Claus mit fliegendem Rentier-Schlitten - ein Mythos, den gleich mehrere Kinder in ihren Texten aufgreifen, auch wenn sie im Folgenden einen davon abweichenden Plot entwickeln. Aus Aneignungsperspektive wäre weiter zu untersuchen, unter welchen Einflussfaktoren sich die Fähigkeit zur Fiktionserzeugung im Narrationserwerb 19 Dem Weihnachtszauber auf der Spur 157 vollzieht. Schon hier war erkennbar, dass sich manche Kinder bei der Vertextung ihrer Geschichte ganz auf das sichere Netz der realen Welt verlassen. Wieder andere tasten sich zaghaft an das verbale Entwerfen einer über den alltäglichen Erfahrungsbereich hinausgehenden Welt an, begeben sich aber während ihrer Bemühungen zur Fiktionserzeugung streckenweise immer wieder zurück in das sichere Terrain der Alltagsskripts und einige wenige von ihnen gehen gemeinsam mit ihrem/ ihrer Leser/ in bereits ganz das Wagnis des Phantasierens ein. Literatur Bruner, Jerome S. 1986. Actual minds, possible words . Cambridge: HUP. Ehlich, Konrad. 1983. Alltägliches Erzählen. In: Sanders, Willy/ Wegenast, Klaus (Hrsg.). Erzählen für Kinder - Erzählen von Gott . Stuttgart: Kohlhammer. 128-150. Merkel, Johannes. 2000. Spielen, Erzählen, Phantasieren . München: Antje Kunstmann Verlag. Pätzold, Margita. 2013. Literales Erzählen: Von außen angeregt und von innen hervorgebracht. In: Becker, Tabea/ Wieler, Petra (Hrsg.). Erzählforschung und Erzähldidaktik heute . Tübingen: Stauffenburg Verlag. 279-293. Quasthoff, Uta/ Kern, Friederike/ Ohlhus, Sören/ Stude, Juliane. 2019. Diskurse und Texte von Kindern. Praktiken - Fähigkeiten - Ressourcen: Erwerb . Tübingen: Stauffenburg. http: / / dx.doi.org/ 10.17877/ DE290R-20360 0 0 0 20 Oh je, du Fröhliche! Eine kleine Linguistik des Weihnachtswitzes Stefan Hauser Zwischen Weihnachten und dem verbalen Humor gibt es eine grundlegende Ähnlichkeit, über die in der Philosophie des Abendlandes bislang noch viel zu wenig nachgedacht worden ist. Es ist höchste Zeit, dass dies hier nachgeholt wird. Und zwar geht es um das von Preisendanz (1970) treffend formulierte Prinzip der „Erwartung von Unerwartetem“. So ähnlich wie Kinder spezifische Erwartungen an die weihnachtliche Bescherung hegen und dabei zugleich auch mit allerlei Überraschungen rechnen, verhält es sich auch beim verbalen Humor: „Die Erwartung von Unerwartetem bestimmt unsere Einstellung, wenn uns ein Witz angekündigt ist; genauso erwarten wir freilich auch, dass sich dieses Unerwartete als etwas von vornherein durchaus Erwartbares herausstellt“ (Preisendanz 1970, 27). Mit Bezug auf das spannungsreiche Verhältnis von Erwartung und Überraschung befinden wir uns an Weihnachten (zumindest was die Bescherung betrifft) also in einer Situation, die durchaus einige Parallelen zur Rezeption von verbalem Humor hat. Man kann es auch als eine «paradoxe Verpflichtung» bezeichnen, die ein Witzerzähler eingeht, denn «er hat jemanden zu überraschen, der vorgewarnt ist, dass er überrascht wird« (Marfurt 1977, 44). Wie kommt es nun aber bei Sprachspielen und (Weihnachts-)Witzen zu diesem Überraschungsmoment? Und wie ist es erklärbar, dass ich überrascht werde, obwohl ich diese Überraschung eigentlich erwarte? Typisch für den verbalen Humor ist, dass entscheidende Sachverhalte nur angedeutet, aber nicht ausgesprochen werden, um die Hörer bzw. Leserinnen von Sprachspielen und Witzen zu bestimmten Inferenzleistungen zu bewegen. Dazu muss man den Text gewissermaßen „auspacken“ und ihn einer sprachlichen Analyse unterziehen. Der dafür notwendige Interpretationsprozess basiert einerseits auf der Fähigkeit, Weltwissen und (meta-)sprachliches Wissen zu kombinieren und andererseits auch darauf, verschiedene Sachverhaltsbereiche gedanklich zueinander in Beziehung setzen zu können. Hierzu ein Beispiel aus dem Englischen: What do you call Santa’s little helpers? - Subordinate Clauses. 160 Stefan Hauser Die ungewöhnliche Verwendungsweise von „Subordinate Clauses“ bzw. die daraus resultierende Mehrdeutigkeit dient hier als verbindendes Element, um populärkulturelles Wissen über die weihnächtliche Figur Santa Clause mit grammatischen Begrifflichkeiten in eine unerwartete Verbindung zueinander zu bringen. Im Englischen wird mit „subordinate clauses“ zwar typischerweise die syntaktische Kategorie der Nebensätze bezeichnet, aber in einem (sprach)spielerischen Kontext lässt sich der Begriff eben auch auf die Gehilfen von Santa Clause beziehen, womit zwischen zwei komplett disparaten Sachverhaltsbereichen eine überraschende Gemeinsamkeit hergestellt wird. Solche Sprachspiele, die immer auch Gedankenspiele sind, beziehen ihren Reiz daraus, dass sie durch ein spezifisches textuelles Arrangement sprachliche Mehrdeutigkeiten inszenieren und diese in eine Beziehung zu verschiedenen Sinnzusammenhängen setzen. Während im obigen Beispiel auf die scherzhafte Frage im Prinzip auch eine ernsthafte Antwort denkbar wäre, geht im folgenden Beispiel bereits aus der Art der Fragestellung die unernste Modalität hervor. In diesem Fall wird durch das Zusammenspiel von Frage und Antwort ein Interpretationsprozess in Gang gesetzt, der die Kontrastierung von realen Erfahrungshorizonten mit fiktiven Möglichkeitsräumen voraussetzt: Wo tanzen Schneemänner und Schneefrauen? - Auf dem Schneeball. Das Statische, das Schneemännern und Schneefrauen in der realen Welt typischerweise innewohnt, wird hier gedanklich suspendiert, indem mit der Möglichkeit gespielt wird, dass auch unbelebte Objekte, wie sie Schneemänner und -frauen darstellen, sich gesellschaftlichen Vergnügungen hingeben. Ausgelöst wird dieses Gedankenexperiment durch die semantische Aufladung von Schneeball mit einer zusätzlichen Bedeutung, die ansonsten so nicht konventionalisiert ist, aber in diesem fiktiven Kontext eine durchaus „sinnvolle“ Lesart bietet. Auf einer anderen, vielleicht etwas weniger elaborierten sprachspielerischen Pointierungstechnik beruht das folgende Beispiel. Hier werden lautliche Ähnlichkeiten und semantische Unterschiede zwischen dem Verb rentieren und dem Nomen Rentier zur Erzielung des komischen Effekts genutzt: Warum benutzt der Weihnachtsmann keinen Schlitten mit Elektroantrieb? - Es rentiert sich nicht. In den zahlreichen psychologischen und linguistischen Modellierungen, die die Funktionsweise des sprachlichen Humors zu erklären suchen, spielt die Idee eine zentrale Rolle, wonach in Sprachspielen und Witzen zwei verschiedene Bedeutungsebenen angelegt sind, die sich in einem komischen Kontrast zueinander befinden. Für das Auseinanderklaffen der beiden im Text angelegten Bedeutungsebenen wird in der Literatur zumeist auf das Konzept der Inkongruenz 20 Oh je, du Fröhliche! 161 verwiesen. Um die Pointe von Sprachspielen und Witzen zu verstehen, gilt es, die im Text angelegte Inkongruenz zu erkennen und aufzulösen. Auch beim folgenden Beispiel spielt einerseits das Erkennen von lautlichen Ähnlichkeiten und andererseits die Fähigkeit, gedanklich verschiedene Bezugssysteme zu aktivieren, eine wesentliche Rolle: Who’s the wife of Santa Clause? - It’s Mary Christmas. Für die Existenz von Santa Clause gibt es zwar bislang keine belastbare wissenschaftliche Evidenz. Und ob er verheiratet ist, ist ebenfalls unbekannt. Aber gesetzt den Fall, er hätte eine Frau, wäre ihre Name bestimmt „Mary Christmas“. Und wenn die beiden eine Katze und einen Hund hätten, hiessen diese vermutlich „Jingle“ und „Bell“. In seiner zwar nicht ganz widerspruchsfreien, aber ingesamt durchaus lesenswerten Theorie des verbalen Humors, die auf den klingenden Namen „Semantic Script Theory of Humor“ (SSTH) hört, bezeichnet Raskin (1985) diejenigen sprachlichen Elemente, die mit verschiedenen Bedeutungsebenen eines Witzes kompatibel sind, als „Semantic Switch Trigger“. Sie sind für den pointierungsrelevanten Prozess des Umschaltens von der einen Bedeutungsebene auf die andere verantwortlich. Im folgenden Beispiel gilt dies für das Verb ausgehen : Zwei benachbarte Kerzen am Christbaum kommen ins Gespräch. Fragt die eine Kerze die andere: „Sag mal, was hast du heute Abend so vor? “ Sagt die andere: „Ich gehe aus.“ Ähnlich wie in den anderen Beispielen sind auch in diesem Witz zwei Deutungsmöglichkeiten angelegt, die erst am Textende offengelegt werden. Marfurt spricht in diesem Zusammenhang von „polyfunktionaler Vertextung“ (Marfurt 1977, 66) und bezeichnet damit die im Text angelegte doppelte Sinnstruktur. Auch im folgenden Beispiel spielt dieses Prinzip eine entscheidende Rolle; hier beruht die Pointe auf der gleichzeitigen Aktualisierung der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung einer festen Wortverbindung: Warum klettern Ostfriesen im Dezember nur noch durchs Fenster? - Weil Weihnachten vor der Tür steht. Einerseits muss ich in der Lage sein, verschiedene Lesarten einzelner Textelemente zu erkennen (hier: „etwas steht vor der Tür“) und andererseits muss ich fähig sein, vom inkongruenten Textende her den Gesamtzusammenhang des Textes im Hinblick auf die zweite Sinnebene zu reevaluieren. Diese Flexibilität des Denkens, die in Teilen der englischsprachigen Humorliteratur als „reversible thinking“ bezeichnet wird, ist für das Verstehen von Sprachspielen und Witzen eine wichtige Voraussetzung. Wenn man sich mit der kindlichen Entwicklung des verbalen Humors befasst (vgl. dazu Hauser 2005), erfährt man 162 Stefan Hauser viel darüber, in welchen Teilschritten sich die Entwicklung dieses reversiblen Denkens vollzieht und wie sich sprachliche Kompetenzen und Wissen über die Welt gegenseitig bedingen. Neben den bislang erwähnten Beispielen, die man allesamt der Kategorie der sprachbasierten Pointierungsverfahren zuordnen kann, gibt es aber auch Pointentechniken, denen eine handlungsbezogene Inkongruenz zugrundeliegt. In der älteren Forschungsliteratur war dafür die Unterscheidung in „Wortwitze“ und „Sachwitze“ gebräuchlich. Als ein wesentliches Unterscheidungskriterium für diese beiden Pointierungsverfahren ist gelegentlich die Übersetzbarkeit in andere Sprachen postuliert worden: Während handlungsbasierte Inkongruenzen ihr komisches Potential durch eine Übersetzung in eine andere Sprache nicht verlieren, lassen sich Sprachspiele und Witze, die auf sprachbasierten Pointen beruhen, nicht ohne Weiteres in eine andere Sprache übersetzen. Ob dies ein hinreichendes Unterscheidungskriterium ist, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Aber wie sich mit den folgenden zwei Beispielen illustrieren lässt, gibt es sehr wohl Witze, deren Pointe nicht auf sprachlicher Mehrdeutigkeit basiert: Die Schwiegermutter hat dem Schwiegersohn zu Weihnachten zwei Krawatten geschenkt. Sogleich bindet er sich eine der beiden Krawatten um. Darauf die Schwiegermutter: „Die andere gefällt dir wohl nicht! ! “ Man kann die paradoxe Erwartungskonstellation, mit der sich der Schwiegersohn konfrontiert sieht, in Anlehnung an Watzlawik als eine Form von „double bind“ bezeichnen: Bindet sich der Schwiegersohn nur eine Krawatte um, weckt er bei der Schwiegermutter den Verdacht, die andere Krawatte könnte ihm nicht gefallen. Bindet er sich beide Krawatten um, macht er sich zur Lachnummer. Umgangssprachlich nennt man so eine Situation „eine schöne Bescherung“. Auch im nächsten Beispiel beruht die Pointe nicht auf einer sprachlichen Mehrdeutigkeit, vielmehr erklärt sich der komische Effekt aus kulturellen Wissensbzw. Erfahrungsbereichen, die nicht von den Strukturen einer Einzelsprache abhängig sind: Was sind die vier wichtigsten Lebensphasen eines Männerlebens? 1. Du glaubst an den Weihnachtsmann. 2. Du glaubst nicht mehr an den Weihnachtsmann. 3. Du bist der Weihnachtsmann. 4. Du siehst aus wie der Weihnachtsmann, ob du es glaubst oder nicht. Die Ironie besteht darin, dass in diesem scherzhaften Lebenszyklus alle für relevant postulierten Entwicklungsschritte eines Männerlebens an der Figur 20 Oh je, du Fröhliche! 163 des Weihnachtsmannes festgemacht werden. Für den komischen Effekt ist eine mehrstufige Steigerung verantwortlich, die auf der vierten Ebene ihren strukturellen Kulminationspunkt findet, während sie in biografischer Hinsicht unmissverständlich als Tiefpunkt markiert wird. Wie aus der disziplinär weitverzweigten Humorforschung hervorgeht, gibt es zahlreiche weitere, mitunter sehr komplexe Pointierungsverfahren, die in semiotisch vielfältigen Ausprägungen vorkommen. So sind etwa in Comics über die sprachlichen Mehrdeutigkeiten hinaus auch grafische Ambiguitäten an der Erzeugung von komischen Kontrasten beteiligt: In diesem Cartoon 1 finden sich mehrere Inkongruenzen, die durch das speziell arrangierte Zusammenspiel von Text- und Bildelementen ein fingiertes Missverständnis in Szene setzen. Wer mit der Weihnachtsgeschichte vertraut ist, weiß, dass Josef und Maria weder die drei Weisen noch drei Weizen aus dem Morgenland bestellt haben. Letzteres suggeriert aber die Darstellung des mit einer Fliege bewehrten Kellners, der huldvoll und ahnungslos darauf wartet, seine ihm aufgetragene Bestellung ordnungsgemäß abliefern zu können. Aus einer linguistischen Perspektive kann man von Glück reden, dass es sowohl im Morgenwie auch im Abendland mehr als nur drei Weisen gibt, die sich mit dem verbalen Humor beschäftigen. Dass es oftmals auch die vermeintlich „kleinen“ Dinge des Alltags sind, die für linguistische und andere Erkenntnisse ertragreich sein können, darf durchaus als „frohe Botschaft“ bezeichnet werden. 1 Bildquelle: https: / / www.pinterest.ch/ amdreask/ weihnachten/ 164 Stefan Hauser Literatur Hauser, Stefan. 2005. Wie Kinder Witze erzählen. Eine linguistische Studie zum Erwerb narrativer Fähigkeiten . Bern: Peter Lang Verlag. Marfurt, Bernhard. 1977. Textsorte Witz. Möglichkeiten einer sprachwissenschaftlichen Textsorten-Bestimmung . Tübingen: Niemeyer (= Linguistische Arbeiten 52). Preisendanz, Wolfgang. 1970. Über den Witz . Konstanz: Universitätsverlag. (= Konstanzer Universitätsreden 13). Raskin, Victor. 1985. Semantic Mechanisms of Humor . Dordrecht, Boston, Lancaster: Reidel. 0 0 0 Flimmern im Lichterglanz 21 Weihnachten (wie) im Fernsehen Axel Schmidt Weihnachten ist rituell. Neben vielem Anderen. Rituale sind handlungsförmige Symbole (Soeffner 1989). Sie dienen nicht bloß einem Zweck, wie etwa eine Tür verriegeln, um Einbrüchen vorzubeugen. Vielmehr verweisen sie auf einen damit verbundenen und durch den Vollzug der Handlung zugleich aktualisierten Sinn. Das gilt im Falle von Weihnachten insbesondere für das Schenken. Mit einem Geschenk versehe ich mich mit einer Dauerpräsenz beim Geschenkten (Allert 2017). Schenken ist reziprok und verpflichtet zur Gegengabe (Mauss 1968), was Beziehungen bekräftigt. An Weihnachten ist das als direkter Austausch organisiert ist, wobei die Geschenke der Kinder - um sie von der Verpflichtung einer Gegengabe zu entlasten - vom Christkind kommen (Stegbauer 2002). Weihnachten ist zudem ein gesellschaftlich geteiltes Ritual, das Positionierungen erzwingt. Tilmann Allert (2017) unterscheidet drei Umgangsweisen mit aufgezwungener weihnachtlicher Ritualität: Jene, die Ritualität eher unbewusst praktizieren (,so ist das eben‘); jene, für die Weihnachten eine sakralisierte Zeit zur Muße bedeutet; und jene, denen das „Alle Jahre wieder“ zuwider ist und die Weihnachtsflucht betreiben (etwa durch Reisen, bewusst gewählte konträre Aktivitäten oder Einigeln). Was allen gemeinsam ist - so Allert weiter - ist die Zäsur: Einmal im Jahr gibt es eine Auszeit, die die üblichen Alltagsroutinen routiniert durchbricht. Hiervon profitieren nicht nur Konsumgüterindustrie und der Einzelhandel, sondern auch die Massenmedien, allen voran das Fernsehen. Weihnachten wird medial gerne aufgegriffen. In seinen medialen Repräsentationen verdichten und überspitzen sich Grundzüge. Weihnachten wird in fiktionalen wie non-fiktionalen Genres ebenso wie in gemischten Genres wie Reality-TV und Scripted Reality verarbeitet. 1 Fictional Christmas Weihnachtsfilme passen entweder zur Weihnachtsstimmung und werden deshalb gerne zur Weihnachtszeit geschaut ( Sissi oder Drei Haselnüsse für Aschenbrödel ) oder die Filmhandlung thematisiert Weihnachten ( Kevin - Allein Zu Haus ) bzw. ist sogar das Hauptthema des Films ( Der Grinch ). Das Fernsehen ,zeigt‘ diese Filme nicht nur zu Weihnachten, sondern macht sich in seinen 168 Axel Schmidt Selbstankündigungen selbst zur Quelle eines populärkulturellen Kanons von „Weihnachtsklassikern“ (so die Ankündigungen in TV-Zeitschriften wie Hörzu) 1 , die es lange Zeit selbst mitgeschaffen hat. So strahlte das ZDF bis in die 1990er Jahre eigens produzierte Weihnachtsserien wie Silas oder Tim Thaler aus. Weihnachten wird auch in Fernsehserien, allen voran den TV-Familien begangen - hier feiern (bürgerliche) Weihnachtsklischees fröhliche Urstände (schön zusammengefasst in den Specials Das größte Fest des Jahres - Weihnachten bei unseren Fernsehfamilien ). In ebenso zu Klassikern avancierten satirischen Formaten wie Loriots Weihnachten bei Hoppenstedts („früher war mehr Lametta“) oder - im Showformat - Fröhliche Weihnachten - Die große Weihnachtsshow (mit Bastian Pastewka alias Wolfgang und Anke Engelke alias Annelise ) werden Weihnachtsklischees und der leere Ritualismus der Festtage auf die Schippe genommen (als Hörspiel sei empfohlen: Helge Schneiders Weihnachten bei den van den Bergs ). 2 Factual Christmas Weihnachten wird aber ebenso als außerhalb der Medien stattfindendes Medienevent inszeniert. Dayan/ Katz (1996) unterscheiden in ihrer Studie drei Arten von Medienevents: Krönung ( coronation ), Wettkampf ( contest ) und Eroberung ( conquest ). Weihnachten gehört als Traditionspflege zur ersten Kategorie. Durch die massenmediale Live-Übertragung von Christmetten, -vespern und Weihnachtsoratorien werden raum-zeitlich unterschiedliche Kontexte synchronisiert und auf diese Weise im „globalen Dorf “ (McLuhan/ Powers 1995) gemeinsam feierlich begangen und so gemeinschaftlich erlebbar gemacht. 3 Factional Christmas Am skurrilsten ist wohl die Wiederkehr weihnachtlichen Alltags im so genannten Reality TV. Als Mischung aus fiction und fact ( faction ) ist es bemüht, Alltag als Medienereignis zu inszenieren. Ob in künstlichen Settings á la Dschungelcamp (Sat1) oder Big Brother (RTL) oder in natürlichen Lebensumgebungen wie in Dokusoaps á la Frauentausch (RTL II), bekommen wir Menschen vorgeführt, die keine erfundene Rolle, sondern sich selbst spielen und die in ihrem sprachlichen Miteinander keinem Dialogskript folgen. Die angloamerikanische Reality-TV-Forschung hat das auf die Formel no actor, no script gebracht. Trotz starker Inszenierung beanspruchen Reality-Formate authentisches Leben zu zeigen (Schmidt 2012). ,Inszenierte Authentizität‘ - vermeintlich ein Widerspruch 1 Eine Liste findet sich unter: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_von_Weihnachtsfilmen 21 Weihnachten (wie) im Fernsehen 169 in sich - funktioniert durch die gekonnte Mischung der Zutaten: Situationen werden arrangiert, vorzugsweise als Herausforderungen (oder: challenges ), der Umgang mit ihnen wird den ,Darstellenden‘ überlassen. Auf diese Weise erscheint die ,Vorderbühne‘ nicht allzu ,sauber‘ (Goffman 1969; Meyrowitz 1990). Ein wesentliches Hilfsmittel hierfür ist der menschliche Körper. Während er im Schauspiel als Trägheitsmoment durch Training zu überwinden gesucht wird, nutzt ihn das Reality-TV als Anker für authentische Darstellungen: Durch arrangierte Extremsituationen zum Weinen, Schwitzen oder Brechen gedrängte Menschen werden Ambitionen sich zu inszenieren ausgetrieben (Klug/ Schmidt 2014; Schmidt 2015; Schmidt/ Deppermann 2018). Netter Nebeneffekt solcher Formate: Das Fernsehen schafft sich die Ereignisse selbst, über die es dann berichtet. In solchen „Made-for-TV-factuals“ (Hill 2007, 49) spiegeln sich gesellschaftliche Rituale in besonderer Weise (Reichertz 2000). Ihre halb- oder pseudo-dokumentarische Rahmung suggeriert: ,so feiern die Mustermanns Weihnachten‘ und lädt so zum sozialen Vergleich ein. Zudem reflektieren sie aufgrund ihrer Gemachtheit (vermeintlich) kanonische Vorstellungen über Weihnachten und dessen Rituale und geben auf diese Weise Einblick in einen „gesellschaftlichen Wissensvorrat“ (Berger/ Luckmann 1969). In Reality-Formaten geschieht das in der Regel nicht als Affirmation (wie bei den meist öffentlich-rechtlichen ,Fernsehfamilien‘), sondern - wie für diese Formate üblich - als Abgrenzungsangebot: ,so feiert man doch nicht Weihnachten‘. Traditionspflege durch Verballhornung der Abweichung. Weihnachten wird im Reality-TV gerne gefeiert. Kaum ein langlebigeres Format ohne Weihnachtsspecial. Von der sozialen Sprengkraft des Weihnachtsfests weiß auch eine Pionierin des so genannten Helptainment-Genres (heißt so viel wie: Expert*innen helfen Menschen in Not zur Belustigung des Fernsehpublikums), Katharina Saalfrank alias Die Super Nanny , ein (wenig weihnachtlich anmutendes) Lied zu singen: „An Weihnachten ist man oft mit Menschen zusammen, die man das ganze Jahr über sonst aus gutem Grund nicht sieht“ (Interview im Tagesspiegel 2 von 2011; das Zitat ist im Stile des Genres aus dem Zusammenhang gerissen). Ob bei den Geissens, den Wollnys, den Ritters oder in Big Brother und Frauentausch - überall wird in weihnachtlicher Vorfreude nach Herzenslust gelästert, gezankt und geschrien. Selbst beim deutschen Urgestein des Genres, den Fussbroichs , darf eine Weihnachtsfolge nicht fehlen. 3 Etwas gehobener geht es beim medial aufbereiteten Weihnachtsalltag der Katzenbergers zu. Daniela Katzenberger, alias „die Katze“, Reality-TV-Star, be- 2 www.tagesspiegel.de/ gesellschaft/ medien/ interview-mit-super-nanny-alles-was-kindertun-und-sagen-hat-sinn/ 5992862.html 3 Einen Einblick gibt: www.youtube.com/ watch? v=Zu6ZsGnbRk0 170 Axel Schmidt kannt aus Daniela Katzenberger - natürlich blond (Vox, ab 2015 RTL II) steht im Mittelpunkt eines 2016 ausgestrahlten Formats mit dem Titel Daniela Katzenberger - Mit Lucas im Weihnachtsfieber (RTL 2). Die Sendung zeigt - typisch für Weihnachten - größtenteils nicht die Begehung des Festes selbst, sondern vorweihnachtliche Aktivitäten. Obwohl diese teilweise deutlich abweichen von den Aktivitäten Normalsterblicher (etwa der Besuch einer Generalaudienz des Papstes auf dem Petersplatz in Rom), handelt es sich größtenteils um thematisch passende (wie besagte Papstaudienz) oder um eigenwillige Variationen gesellschaftlich geteilter Grundvorstellungen (so ist etwa die Weihnachtsdeko in rosa). Vor allem wird aber die zeitliche Grundstruktur eines ,dem Weihnachtsfest Entgegenfieberns‘ (so auch der Sendungstitel: „… im Weihnachtsfieber“) affirmiert. Die für eine Weihnachtsstimmung so wichtigen Einstimmungsrituale, wie Adventskerzen und -kränze sowie Adventskalender mit eingebauten Countdown (erst 1, dann 2 usw.), Haus und Hof dekorieren, Weihnachtsbaum schmücken, Geschenke besorgen und verpacken, Plätzchen backen usw., werden so nicht nur inhaltlich aufgegriffen und gezeigt, sondern mit der realen Lebenszeit der Zuschauenden synchronisiert (was auch langlaufende fiktionale Formate wie die nun abgesetzte Lindenstraße so attraktiv machte). Wir können miterleben, wie Daniela und Lucas - zeitgleich mit uns - Weihnachtsvorbereitungen treffen. Dass sie von den Unseren in der einen oder anderen Hinsicht abweichen, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Auch die Person/ Figur Katzenberger selbst tut einer weihnachtlichen Traditionspflege keinen Abbruch. Ihr Identifikationsangebot liegt weniger in der Person selbst, die aufgrund ihrer künstlichen Übertriebenheit eher zur Abgrenzung einlädt, als vielmehr in ihrer in und durch das Fernsehen verbreiteten und ermöglichten Biographie: Eine Medienkarriere, die im Medium selbst hergestellt, gezeigt und verfolgt wird. Bernd Gäbler (Publizist und Dozent für Journalistik) bezeichnet das im Magazin Stern als den „Katzenberger-Effekt“ 4 : „Die Medienmaschine selbst funktioniert heute nur noch mit der scheinbar offenen Zurschaustellung des manipulativen Handwerks und der ambivalenten Funktion der Medien, künstliche Welten zu schaffen und sie zu durchschauen“. Die scheinbare Transparenz, die Reality-Formate anbieten, provoziert fortlaufend zu einer eigenen Realitätseinschätzung und macht sie deshalb für Zuschauer so attraktiv. ,Feiern die Katzenbergers tatsächlich so oder ist das durch’s Fernsehen vorgegeben? ‘. Ob real, Fake oder beides - eines vermitteln solche Sendungen in jedem Fall: Weihnachten feiern: ja, aber jeder nach seiner Façon. Eine solche 4 Gäbler, Bernd. 2010. Fernseh-Trend „White Trash“: „Der Katzenberger-Effekt.“ Stern (www.stern.de/ kultur/ film/ medienkolumne/ fernseh-trend--white-trash--der-katzenber ger-effekt-3112458.html). 21 Weihnachten (wie) im Fernsehen 171 Toleranzmoral - typisch für das Reality-TV-Genre - hat Jürgen Link (2005) als „Normalismus“ bezeichnet: Das Spektrum des Normalen wird um das erweitert, was regelmäßig feststellbar ist - das Fernsehen als Realitäts- und Sinngenerator (Keppler 2015). In diesem Sinne: Besinnliche Weihnachten - ob ohne, mit oder (wie) im Fernsehen. Literatur Allert, Tilman. 2017. Latte Macchiato: Soziologie der kleinen Dinge . Frankfurt/ M.: Fischer. Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas. 1969. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie . Frankfurt/ M.: Fischer. Dayan, Daniel/ Katz, Elihu. 1996. Media events: the live broadcasting of history . Cambridge: Harvard Univ. Press. Goffman, Erving. 1969. Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag . München: Piper. Hill, Annette. 2007. Restyling factual TV: audiences and news, documentary and reality genres . London: Routledge. Keppler, Angela. 2015. Das Fernsehen als Sinnproduzent. Soziologische Fallstudien. Berlin: de Gruyter. Klug, Daniel/ Schmidt, Axel. 2014. Körper(-Darstellungen) im Reality-TV - Herstellung von Wirklichkeit im und über das Fernsehen hinaus. Sozialer Sinn , 15, 1, 77-107. Link, Jürgen. 2005. Versuch über den Normalismus . Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. McLuhan, Marshall/ Powers, Bruce R. 1995. The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21.-Jahrhundert. Oxford: Oxford University Press. Meyrowitz, Joshua. 1990. Redefining the Situation: Extending Dramaturgy into a theory of social change and media effects. In Riggins, Stephen H. (Hg.): Beyond Goffman: studies on communication, institution, and social interaction. Vol.96 . Berlin: de Gruyter. 65-97. Reichertz, Jo. 2000. Die frohe Botschaft des Fernsehens. Kulturwissenschaftliche Untersuchung medialer Diesseitsreligion . Konstanz: UVK. Schmidt, Axel. 2012. Das „Reality-Prinzip“. Programmatisches Plädoyer für die Kombination produkt- und produktionsanalytischer Zugänge in der Erforschung faktualer TV-Formate. Medien & Kommunikationswissenschaft , 30, 3, 362-391. Schmidt, Axel. 2015. Am Rande der Praktik - Körperliche Eigendynamiken und ihre Funktionalisierung am Beispiel von Reality-TV. In: Deppermann, Arnulf/ Feilke Helmuth/ Linke, Angelika (Hrsg.). Sprachliche und kommunikative Praktiken, Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2015 . Berlin; New York: de Gruyter. 205-228. Schmidt, Axel/ Deppermann, Arnulf. 2018. Inszenierte Kontrollverluste - wie Reality- TV den Körper braucht. In Autenrieth, Ulla/ Klug, Daniel/ Schmidt, Axel/ Deppermann, Arnulf (Hrsg.). Medien als Alltag . Köln: Herbert von Halem. 246-320. 172 Axel Schmidt Soeffner, Hans-Georg. 1989. Auslegung des Alltags - Alltag der Auslegung . Frankfurt/ M: Suhrkamp. Stegbauer, Christian. 2002. Reziprozität. Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit . Opladen: Westdeutscher Verlag. Film und Fernsehen Big Brother , 2000-2011, 2015, 2020, 13 Staffeln (RTL II). Daniela Katzenberger - Mit Lucas im Weihnachtsfieber , 2016 (RTL 2). Das größte Fest des Jahres - Weihnachten bei unseren Fernsehfamilien , 3 Folgen, 1991-1995, Regie: Klaus Grabowsky & Peter Hill (ZDF). Der Grinch , 2000, Regie: Ron Howard. Die Fussbroichs: Eine Kölner Arbeiterfamilie , Dokumentarfilmreihe 1989-2001, Regie: Ute Diehl (WDR). Die Geissens - Eine schrecklich glamouröse Familie , seit 2011, 18 Staffeln (RTL II). Die Ritters , Stern TV, seit 1994 (RTL). 0 0 0 22 Adventsbotschaften 2.0 Wandel weihnachtlicher Kommunikation und Zeitlichkeit Eva Wyss Die Adventszeit beflügelt die zwischenmenschliche Kommunikation in vielerlei Hinsicht. Man nimmt sich Zeit für ein Gespräch mit den Nachbarsleuten, ruft endlich mal an, wo man sich schon lange hätte melden sollen. Kommt dazu, dass im Bekanntenkreis gern die traditionellen Grusskarten und Neujahrsbriefe geschrieben und auch gelesen werden. Immer populärer ist es aber auch, Grüsse und Wünsche in sozialen Medien zu versenden. Die Botschaften fügen sich meist mühelos in die medialen Möglichkeiten ein, sodass der Medienwechsel kaum bemerkt wird. Doch die Texte, die dabei entstehen, sind Postings , also multimodale Texte in denen meist ein Bild oder eine Fotografie mit Geschriebenem und teilweise auch mit Tönen kombiniert wird. In den sozialen Medien haben sich mittlerweile aber auch schon neue Formate ausgebildet: weit verbreitet und typisch sind die Selfies, die auch in der Weihnachtszeit als individualisierte Schnappschüsse von Weihnachtsvorbereitungen oder -feierlichkeiten gepostet werden. Auch wenn die Verlagerung der persönlichen Kommunikation vom Gespräch, einem Telefonat oder vom handschriftlichen Text in die multimodale Kommunikation der sozialen Medien gut gelingt, verändern sich dadurch aber stets auch unmerklich einzelne bedeutende Aspekte der menschlichen Interaktion. Aus diesem Grund führt der Medienwechsel bisweilen zu Irritationen: So kommt es auf der einen Seite vor, dass sich bisweilen eine Unsicherheit in der Einschätzung von Postings bemerkbar macht. War über die Kontaktnahme hinaus überhaupt etwas „gemeint“? Sollte man darauf antworten, einen Kommentar schreiben oder sie „liken“? Auf der anderen Seite greift die Digitalisierung auch stark in das Zeiterleben jedes einzelnen ein. Da mit dem Smartphone aufeinander nachfolgende Ereignisse fast zeitgleich erfahren werden, kommen zur eigenen Lebenswirklichkeit weitere Ebenen dazu, die durch die beschleunigte Versendung und Lektüre von Postings auch das individuelle Zeiterleben verdichten. In der Folge wird dies durchaus als Zeitdruck erlebt. 174 Eva Wyss 1 Weihnachtspost in den Anfängen der Internetkommunikation Die digitalen Kommunikationsmedien haben bereits in den 1970er Jahren Einzug gehalten in unseren kommunikativen Weihnachtsalltag. Begonnen hatte dies mit digitalen Grüßen, die per E-Mail verschickt oder in Foren (den Newsgroups des Usenet) gepostet wurden. Besonders beliebt war die Gestaltung besonderer Nachrichten durch ASCII-Art. Diese Gelegenheitskunst stammte damals von verschiedenen Künstler*innen - beispielsweise Joan G. Stark - aus dem englischsprachigen Raum. Bald aber gab es auch deutschsprachige Adaptionen und Kreationen, wie die folgende, die an die käuflichen Festtagskarten angelehnt war (vgl. Abb. 1): Abb. 1: Weihnachtsgruß aus: www.asciiart.eu/ holiday-and-events/ christmas/ other „ASCII-Art“ (engl.) steht hier für eine spielerische populäre Kunstform, bei der Werke oder Bildkompositionen aus den 128 Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen des ersten ASCII-Zeichensatzes in einer nichtproportionalen Schrift zusammengefügt werden. An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, wie der Medienwechsel von zwei fundamentalen Prinzipien geprägt ist: Auf der einen Seite steht das konservierende, sich an den bestehenden sprachlichen und gestalterischen Formen und Formaten ausrichtende so genannte stilistische Trägheitsprinzip (nach Bausinger), auf der anderen Seite bemerkt man eine kommunikative Innovation. Die stilistische „Trägheit“ lässt sich hier auf verschiedenen sprachlichen und kommunikativen Ebenen festhalten: es werden gemeinhin übliche Grußformeln verwendet, die altbekannte Bildsymbolik wird adaptiert, und die bekannte Gattung des Weihnachtsgrußes wird insgesamt nach einem bekannten Text-Bild-Muster 22 Adventsbotschaften 2.0 175 gestaltet, so wird zum Beispiel der Grußtext hier nun mit Adressvorlagen - in der Rauchwolke der Spielzeuglokomotive platziert. Neu ist die Bildgestaltung in einem Computer-Code, der aber gleichzeitig an die Typewriter-Art angelehnt wird. Neu war damals auch das Verfertigen des Textes am Computer und die Versendung über eine internetfähige Kommunikationstechnologie (vgl. dazu auch Marx/ Weidacher 2019, Wyss 2003). In der Zwischenzeit wurden in verschiedenen Kommunikationsmedien und -plattformen neue Adventsrituale kreiert und adaptiert: sie reichen von Online- Weihnachtskalendern, zu Online-Weihnachtsgeschichten in Häppchen bis hin zu unendlich vielen Selfiemotiven, die Menschen beim Backen, beim Geschenke einpacken oder vor dem Tannenbaum zeigen. Gerade die Christbaum-Selfies sind so beliebt, dass man bisweilen denkt, es sei eine Weihnachtsbaum-Challenge am Laufen. 2 Adventsbotschaften 2.0 Von einer Adventsbotschaft neuerer Art haben Studierende der Universität Koblenz-Landau im letzten Wintersemester (2019/ 20) berichtet. Seit etwa 2 Jahren würden ihnen in der Adventszeit von Freund*innen weihnachtliche Botschaften per WhatsApp zugestellt. Gerade am 1. Adventssonntag würden sich Wünsche zum 1. Advent häufen. Solche zweiteiligen Adventsbotschaften bestehen aus einer Fotografie des Adventskranzes mit brennender Kerze, die den größten Teil der Nachricht ausmacht. Unter dem Bild ist ein kurzer Grußtext zu lesen (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Screenshot einer WhatsApp-Adventsbotschaft (© B. C. Gnau, mit herzlichem Dank für die Abdruckerlaubnis) 176 Eva Wyss Der 1. Advent-Gruß folgt einem stereotypen Muster, wird aber bisweilen leicht variiert. Häufig wird er mit einem oder mehreren Emojis abgeschlossen. Man liest da beispielsweise: „Einen schönen 1. Advent <Herz-mit-Diamant-Emoji> (GN, 2017), Einen schönen 1. Advent und eine besinnliche Weihnachtszeit (GN, 2018), Von uns auch einen besinnlichen ersten Advent. <Kerzenemoji> <Herz-mit-Schleife-Emoji> (GN, 2019) Wie schon bei der Weihnachtskarte wird auch hier wiederum ein bekanntes Bildmotiv verwendet. Im Gegensatz zu den vorgedruckten Weihnachtskarten, findet sich hier eine Momentaufnahme aus einem privaten Innenraum. Es wird das konkrete Objekt mit brennender Kerze wiedergegeben, das damit das private Adventsritual dokumentiert. Wie war nun die Wahrnehmung der Studierenden? Anscheinend kam neben der Freude über die nette Aufmerksamkeit auch eine gewisse Irritation auf. Die Irritation lag vor allem darin, dass Sie nicht wussten, wie und ob sie nun diese nette Geste erwidern sollten. Darüber hinaus handelt es sich aus sprachwissenschaftlicher und multimodaler Sicht um ein neues und teilweise unvertrautes Textformat, das zwar durch die stilistische Trägheit als gattungsähnlich wahrgenommen wird, doch letztlich handelt es sich (noch) nicht um eine Gattung, was für die Frage der Folgekommunikationen bekannt sein müsste. Da noch keine eindeutigen sprachlichen Regeln gebräuchlich und verstaut sind, überlegt man sich notwendigerweise, welche Regeln man anwenden könnte und auch sollte. Man fragt sich vielleicht, ob auch eine Nachricht ohne Fotografie möglich wäre oder ob der Text auch derart kurz und stereotyp ausfallen sollte? Dazu kam eine Ambivalenz, also dieses Nebeneinander von widersprüchlichen emotionalen Bewertungen, die zu einem inneren Konflikt führt. Vermutlich lag die Ambivalenz sowohl an der Irritation, wie im Erleben des Drucks, der durch den Ausbau des eigentlichen Gruß- und auch des Kranz-Rituals geschah. Denn durch das Fotografieren und Versenden des Adventsgrußes kommen zwei weitere mediengestützte Handlungen dazu, die das gesamte Ritual in einen medialen Handlungsraum überführen, mit Friedrich Krotz „mediatisieren“. (vgl. Krotz 2012). Aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive kann man diesen Druck durch die Annäherung des sozialen Ereignisses (des Rituals) an das mediale Ereignis (die Versendung des Postings) erklären. Diese durchaus verschiedenen Ereignisse rücken mit den Möglichkeiten von Smartphone und Internet nun zeitlich so eng zusammen, dass sie sich bisweilen sogar überlappen. Eine derartige Zusammenführung bewirkt eine Beschleunigung der Kommunikation, die einen zeitlichen Druck auslöst. Infolgedessen wird damit das individuelle Zeiterleben neu strukturiert. Die Hamburger Medienwissenschaftlerin Irene 22 Adventsbotschaften 2.0 177 Neverla spricht in diesem Zusammenhang von einer „polychronen“ Wirklichkeit, einer Vervielfachung des Zeiterlebens (vgl. Neverla 2002). So ist es durchaus verständlich und nachvollziehbar, dass selbst mit einer solch freundschaftlich aufmerksamen Botschaft die Gemütlichkeit des Adventssonntags in der Tat gestört werden kann. 3 Mediale und praktische Erweiterungen des Adventskranz- Rituals? Da - wie man mir mitteilte - in studentischen Kreisen neben dem Versenden digitaler Adventsgrüße auch die Praxis des Adventskaffees an Beliebtheit gewinnt, zeigt sich ein Wunsch, althergebrachte Rituale wieder verstärkt in den Advents-Alltag zu integrieren. Da mir selbst diese Rituale nicht geläufig waren, stellte sich mir die Frage, inwiefern diese Traditionen des Adventsgrusses und -kaffees überhaupt verbreitet ist? Mit einigem Erstaunen stellte ich fest, dass die Wünsche zum 1. Advent - nach einer kleinen Umfrage in meinem durchmischt konfessionellen, schweizerisch-deutschen Bekanntenkreis - bis auf wenige Ausnahmen eher unüblich sind oder wenn man die Wünsche austauscht, dies nicht aufgrund einer konfessionell strengeren Praxis geschieht. Auch unter den jüngeren Personen oder in katholischen Familien wurde mir keine durchgängige Praxis berichtet. Eine Studentin berichtet hingegen, ihre streng katholische Oma würde dieses Grußritual mit Nachdruck einfordern: „Wir [meine Oma und ich] wünschen uns immer einen schönen ersten Advent (aber nur per Telefon, denn ich wohne über 200 km von ihr entfernt). Darauf achtet meine Oma immer.“ Doch weitere Familienmitglieder würden sich nicht danach richten. Da auch Bausinger (1982) in seinen Studien zur Entwicklung des Kranzrituals in Deutschland den Adventsgruss nicht erwähnt, könnte man denken, dass man diesem kommunikativen Ritual, wenn es überhaupt bemerkt wurde, bisher keine weitere Bedeutung beigemessen hat. Auch zu der oben genannten linguistischen Besonderheit des Adventskaffees hatte ich meine Gewährspersonen um Ausführungen und Angaben gebeten. Hier stellt sich heraus, dass dieses Kompositum gerade in Deutschland teilweise als eine feste Fügung interpretiert wird und auch als ein habituelles Ritual beschrieben wird, das als eine Verbindung des Kaffees mit Plätzchen während dem Adventskranzritual üblich ist. Teilweise wird der Ausdruck aber eher als eine spontane Bildung gesehen, im Sinne des sonntäglichen „Kaffee und Kuchen“-Rituals, das nun auch am Advent durchgeführt wird. (Im Vergleich dazu vielleicht der Nadelbaum als ein verfestigtes Kompositum, während der Lieblingsbaum 178 Eva Wyss als eine spontane Bildung gesehen wird.) In der Schweiz ist der Ausdruck auch im Neutrum, wie dies zu erwarten wäre, wenn das gemeinsame Kaffeetrinken gemeint wird, ganz allgemein nicht üblich. Ein Blick in das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (dwds.de) weist in einer Recherche lediglich 13 Treffer aus, die von heute in die Anfänge der 1990er Jahre reichen. Da der Ausdruck von den Lexikograf*innen richtigerweise gerade nicht als ein im deutschsprachigen Raum übergreifendes verfestigtes Kompositum wahrgenommen wird, wird er in den Wörterbüchern nicht nachgewiesen. 4 Advent 2.0 In den sozialen Medien zeigt sich eine Vielfalt an sprachlich-medialen Adventsritualen, die für junge Studierende an Bedeutung gewinnen. Die multimodalen Postings werden über die verschiedenen aktuellen Plattformen versendet und erleichtern auch im Advent die Kommunikation. Dabei bildet sich ein Medienwechsel aus, der grundsätzlich von einem Bezug zu sprachlich-kommunikativer Tradition getragen wird, aber gleichzeitig innovative Momente aufweist. Gerade die Grüsse zum 1. Advent gewinnen neben dem Adventskaffee für junge Studierende an Bedeutung, weil sie über die ihnen vertrauten Plattformen eine unbeschwert-leichte Kommunikation ermöglichen. Dabei wird versucht, die Beschaulichkeit des Advents, die vermissten Rituale, als ein Momentum digitaler Besinnlichkeit zurückzuholen. Doch die Kommunikation am Handy wird oft von einer Ambivalenz begleitet: Man freut sich zwar über die neuen auch bequemen Möglichkeiten des Austauschs, der gleichzeitig von einem Unbehagen begleitet wird. Diese Ambivalenz kann mit der Parallelisierung der Lebenswelt durch einen fortwährenden zeitgleichen Nachrichtenfluss der sozialen Medien begreiflich gemacht werden, der zu einer Veränderung des Zeiterlebens führt. Der Medienwechsel in der Weihnachtskommunikation - hier nun vom Wünschen z. B. am Telefon hin zu multimodalen Grußbotschaften - ist über die Fragen der Ausgestaltung der Kommunikate, der Postings, hinaus durch die Veränderung der raumzeitlichen Arrangements im Medienkontext weit komplexer und nicht einzig auf die Medialität hin zu erklären. Denn über die Sprache und Kommunikation hinaus verändert sich neben dem individuellen Zeiterleben auch die gesellschaftliche Zeitkultur. 22 Adventsbotschaften 2.0 179 Literatur Bausinger, Hermann. 1982. Der Adventskranz - ein uralter Brauch? In: Martin Blümcke (Hrsg.). Abschied von der Dorfidylle? Stuttgart: Konrad Theiss Verlag. 46-53. https: / / publikationen.uni-tuebingen.de/ xmlui/ handle/ 10900/ 47904 Marx, Konstanze/ Weidacher, Georg. 2 2020. Internetlinguistik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch . Tübingen: Narr. Krotz, Friedrich. 2012. Medien und Zeit. Mediatisierung von Zeit. Zeit und Medien 2/ 2012, 25-34. Neverla, Irene. 2002. Die polychrone Gesellschaft und ihre Medien. medien & zeit , 17 (4), 46-52. Günther, Ulla/ Wyss, Eva. 1996. E-Mail-Briefe - eine Textsorte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Hess-Lüttich, Ernest W.B./ Holly, Werner/ Püschel, Ulrich (Hrsg.). Textstrukturen im Medienwandel . Frankfurt/ M.: Peter Lang. 61-86. Wyss, Eva. 2003. Metamorphosen des Liebesbriefs im Internet. Eine korpusgestützte, textlinguistische und kommunikationswissenschaftliche Bestimmung des Liebesbriefs und seiner Pendants im Internet. In: Höflich, Joachim/ Gebhardt, Julian (Hrsg.). Vermittlungskulturen im Wandel: Brief - E-Mail - SMS . Frankfurt/ M.: Peter Lang. 199-231. 0 0 0 23 „Der Moment wenn die Chefin ein Weihnachtsbaum ist ❤“ Weihnachten als kommunikative Ressource in der politischen Social-Media-Kommunikation Daniel Pfurtscheller 1 Einführung Das Schöne an Weihnachten? Es kommt verlässlich jedes Jahr. Für die strategische Social-Media-Kommunikation ist es daher ein dankbares Fest. Es hat kalendarische Planbarkeit, eine positive emotionale Grundstimmung und einen reichhaltigen Schatz an kulturellen Traditionen, Bildern, Liedern etc. Aus dieser Perspektive ist Weihnachten eine kommunikative Ressource, die auch für politische Akteure interessant ist, die Social Media nutzen um sich selbst zu präsentieren und über digitale Medien mit ihren Anhängern und Fans in Verbindung zu bleiben. In diesem Beitrag widme ich mich der Frage, wie österreichische Politiker*innen (und deren Kommunikationsteams) sich in der Weihnachtszeit auf Instagram präsentieren: Welche Rolle spielt die Weihnachtszeit in der politischen Kommunikation auf Instagram? Wie werden sprachliche und kulturelle Praktiken, die man mit Weihnachten verbindet, im Rahmen einer politischen Selbstinszenierung verwendet? Um diese Fragen zu beantworten, charakterisiere ich zunächst die Möglichkeiten, die Instagram als Mittel der politischen Kommunikation bietet. Dann stelle ich mein Untersuchungsmaterial und den politischen Kontext vor. Die Analyse konzentriert sich auf die zeitliche Nutzung und thematischen Repertoires. Abschließend diskutiere ich die Ergebnisse im Zusammenhang mit der kommunikativen Aneignung von Weihnachten. 2 Politischer Sprachgebrauch auf Instagram Instagram ist ein werbefinanzierter Onlinedienst mit Smartphone-App. In Österreich hat Instagram zurzeit ca. 2,4 Millionen Nutzer*innen und zählt damit 182 Daniel Pfurtscheller zur beliebtesten Plattform hinter Facebook, dessen Mutterkonzern beide Dienste betreibt. Instagram ist vor allem bei jüngeren Menschen beliebt, weshalb politische Akteure hier gezielt jüngere Anhänger anzusprechen versuchen. Instagram ist ganz auf das Teilen von Fotos und Videos ausgelegt. Dafür bietet es spezielle Funktionen und Formate. Reine Textbeiträge, wie etwa beim Kurznachrichtendienst Twitter üblich, gibt es nicht. Politische Sprache ist auf der Bilderplattform Instagram daher immer bildbezogen: visuell als Begleittext zu Postings, als sichtbare Beschriftung im Bild, oder als gesprochensprachliche Äußerungen in Videos. Besonders deutlich wird die technisch-mediale Prägung von Kommunikation bei sogenannten Stories : Diese Funktion erlaubt es, selbstablaufende Slideshows bestehend aus Fotos und Videos zu erstellen, die mit Beschriftungen, GIFs und interaktiven Bausteinen (Links, Abstimmungs-Buttons, Textfeldern, etc.) angereichert werden können. Story-Beiträge haben ein Seitenverhältnis von 9: 16 (Länge und Breite des Smartphone-Bildschirms). Videos sind auf 15 Sekunden beschränkt, längere Beiträge können auf mehrere Bildschirmseiten (Frames) aufgeteilt werden. Im Gegensatz zu regulären Instagram-Postings, die auf dem Profil zu sehen sind, bleiben Stories in der Regel flüchtig: Sie erscheinen in einem speziell gekennzeichneten Bereich, wo sie 24 Stunden verfügbar sind. Dieser Live-Charakter und die technischen Möglichkeiten bzw. Einschränkungen machen Instagram-Stories zu interessanten Orten, um eine medial formatierte Inszenierung des Themas Weihnachten zu beobachten. 3 Untersuchungsmaterial und Kontext Für eine Analyse habe ich alle Instagram-Stories gesammelt, die im Dezember 2019 von den Accounts der führenden Politiker*innen aller fünf österreichischen Parlamentsparteien veröffentlicht wurden. Insgesamt wurden auf den Accounts 67 Stories veröffentlicht, bestehend aus 287 einzelnen Story-Abschnitten (Bilder bzw. Video-Frames). Tabelle 1 gibt eine Übersicht über das Datenmaterial. Tab. 1: Die untersuchten Accounts der Parteispitzen der fünf österreichischen Parlamentsparteien (sortiert nach dem Ergebnis der Wahl 2019) und die Anzahl der im Dezember 2019 veröffentlichten Instagram-Stories (Summe der geposteten Bild- und Videoframes, sowie die durchschnittliche Story-Länge in Frames) 23 „Der Moment wenn die Chefin ein Weihnachtsbaum ist ❤“ 183 Weihnachten 2019 war in Österreich von Regierungsverhandlungen geprägt. Am 29. September hatte eine vorgezogene Parlamentswahl stattgefunden. Vorausgegangen war ein politischer Skandal. Die sogenannte Ibiza-Affäre rund um den damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache, ehemaliger Obmann der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) stürzte die Regierung im Mai 2019 in eine Krise, eine Übergangsregierung wurde bis zur Neuwahl eingesetzt. Wahlsieger wurde erneut die bürgerlich-konservative Volkspartei (ÖVP), die mit Sebastian Kurz bereits zuvor den Bundeskanzler gestellt hatte. Nach ersten Sondierungen mit allen vier im Parlament vertretenen Parteien nahm Kurz Koalitionsgespräche mit den Grünen auf. Am 1. Jänner wurde eine Einigung erzielt, am 7. Jänner wurde die erste türkis-grüne Regierung angelobt. 4 Zeitliche Dimension: weihnachtliche Nutzungsprofile Bei einer ersten Analysefrage geht es um die Frequenz und Art der Nutzung der Story-Funktion. In Abbildung 1 ist eine kalendarische Übersicht der Nutzungsaktivität zu sehen. Jedes Kästchen entspricht dabei einem Tag, jede Spalte ist eine Adventwoche (beginnend mit dem Sonntag). Ein graues Kästchen heißt, dass an diesem Tag ein Story-Beitrag erschienen ist; wenn es sich dabei um einen der Beiträge mit Weihnachtsbezug handelt, ist das Kästchen schwarz markiert. Als Weihnachtsbeitrag habe ich jede Story gezählt, die (zumindest in Teilen) Weihnachten (also weihnachtliche Aktivitäten, Feste, Tradition etc.) sprachlich thematisiert oder einen Weihnachtsbezug über das Bild erkennbar macht. Abb. 1: Die Nutzungsprofile aller im Dezember 2019 veröffentlichten Stories (grau) und weihnachtsbezogenen Story-Beiträge (schwarz) auf den Accounts der fünf Parteispitzen Die zeitliche Verteilung bietet insgesamt ein heterogenes Bild. Kein Account hat täglich Stories veröffentlicht, nur Sebastian Kurz hat jeden Adventsonntag eine Grußbotschaft veröffentlicht. Bei der Frequenz liegen Kurz und Beate Meinl-Reisinger von den liberalen NEOS an der Spitze, bei beiden überwiegen 184 Daniel Pfurtscheller im Dezember die Stories mit Weihnachtsbezug. Auf dem Account von Rendi-Wagner waren ebenfalls viele Stories zu sehen, allerdings war ein Großteil ohne expliziten Bezug auf Weihnachten. Weniger frequent ist die Nutzung bei Werner Kogler (Grüne) und Norbert Hofer (FPÖ). Hier konzentrieren sich die Weihnachtsbeiträge auf die Zeit rund um den Heiligen Abend. 5 Thematische Dimension: politische Weihnachts-Repertoires Eine zweite Analysefrage zielt auf die thematischen Aspekte von Weihnachten, die in den Politiker-Stories auftauchen. Die Darstellung in Abbildung 2 zeigt, welche weihnachtlichen Aktivitäten, Traditionen und Symbole das Repertoire der Accounts ausmachen. Abb. 2: Weihnachtliche Repertoires (Ergebnisse einer offenen Codierung von 67 Politiker-Stories) Neben der klassischen Grußbotschaft tauchen in den Stories eine ganze Reihe von weihnachtlichen Aktivitäten und Traditionen auf: Weihnachtsmärkte (Rendi-Wager), Weihnachtslieder (Kurz, Meinl-Reisinger), Weihnachtskekse (Rendi-Wager) und das Schmücken des eigenen Christbaums (Hofer). Religiöse Symbole oder Traditionen spielen keine Rolle, einzig der (zumindest leicht religiös konnotierte) Adventskranz kommt mehrmals vor. Besonders auffällig beim Auftritt von ÖVP und NEOS sind virtuelle Adventkalender. Die Tagesstruktur des Kalenders wäre ja an sich perfekt auf das 23 „Der Moment wenn die Chefin ein Weihnachtsbaum ist ❤“ 185 Format der Instagram-Stories umlegbar. Jedoch hat keine der Parteien einen Tag-für-Tag Story-Adventkalender umgesetzt. ÖVP und NEOS haben die Adventkalender-Beiträge extern veröffentlicht (auf der Parteiwebseite bzw. dem Instagram-Profil) und nur über Teaser in den Stories beworben. Für den „türkisen Adventkalender“ (ein Charity-Gewinnspiel, bei dem Spenden für ein Kinderhospiz gesammelt wurden) hat Kurz mehrmals in der Form von Video- Spendenaufrufen geworben. Als Requisite diente der ÖVP ein Ikea-Regal mit Einschubboxen (Abbildung 3). Abb. 3: Der ÖVP-Sprecher Peter Eppinger bewirbt den „türkisen Adventkalender“ Die NEOS haben für ihren Adventkalender jeden Tag ein Video auf ihrem Instagram-Profil veröffentlicht. In den Stories werden diese Videos nur unregelmäßig mit verlinkten Teasern beworben. Inhaltlich dominiert die Unterhaltung: Gezeigt werden lustige Spiele und teilweise absurde Aufgaben mit weihnachtlichem Anstrich. Die Politiker*innen singen beispielsweise Weihnachtslieder nach oder verpacken große Büropflanzen in Geschenkpapier, zum hörbaren Gaudium aller Anwesenden. Mitunter werden aber auch politische Themen eingebunden, etwa wenn bei einem Ratespiel eine der Personen als „kalte Progression“ auftritt oder die Parteichefin ihre politischen Wünsche ans Christkind schreibt. Auch auf visueller Ebene wird Lockerheit inszeniert, z. B. treten die Beteiligten in der Regel in Weihnachtspullovern auf. Dass die Inszenierung von Weihnachten nicht bei der Deko des Parteibüros halt macht, sondern auch die Kleidung als semiotische Fläche nutzt, ist im politischen Kontext auffällig. Explizit zum Thema gemacht wird diese Art der weihnachtlichen Kostümierung anlässlich der NEOS-Weihnachtsfeier, als Meinl-Reisinger mit einem grünen Weihnachtspullover in 3D-Optik auftritt, Christbaumkugeln und Kopfschmuck inklusive (Abbildung 4). In der Story ist am nächsten Tag der Beitrag eines NEOS-Mitarbeiters zu sehen, der mit einem Video einer Tanzszene (mit pinken Herzchen-Filter) den Abend so kommentiert: „Der Moment wenn die Chefin ein Weihnachtsbaum ist ❤ #aboutlastnight“. 186 Daniel Pfurtscheller Abb. 4: Weihnachtliche Verkleidung der NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger Besonders eignet sich das Storyformat für Alltagserzählungen im Stil von Videoblogs. Solche Mini-Erzählungen sind einerseits auf den Alltag der Politiker*innen in der Weihnachtszeit ausgerichtet (z. B. TV-Auftritte oder das Mitwirken bei Charity-Events), andererseits auf das private Umfeld, z. B. das Keksebacken (Rendi-Wagner) oder Schmücken des Christbaums (Hofer). Für die strategische politische Kommunikation sind solche Alltagsgeschichten aber immer auch ein Risiko, da sie sich nicht in einem kontrollierbaren Setting vorproduzieren lassen. Weihnachtsgrüße zum Heiligen Abend waren auf allen Accounts zu finden und machen gewissermaßen das weihnachtliche Minimalprogramm aus. Grüße können entweder vorproduziert sein (als Grußkarten, die zum Teil auch Weihnachtslieder enthalten). Bei Videogrüßen melden sich die Parteichefs in der Regel vor Ort in einem Stand-Up-Format. Dabei wird der Gruß situiert und gleichzeitig zur Selbstinszenierung genutzt: Kurz betont in einem Adventgruß seine engagierte Arbeitsethik („Wir sind grad mitten in den Regierungsverhandlungen, das heißt bei uns ist es auch am Wochenende sehr intensiv. Ich wünsche euch aber trotzdem einen schönen und hoffentlich ruhigen dritten Adventsonntag“, sebastiankurz-20191215.3). Pamela Rendi-Wagner nimmt ihren Weihnachtsgruß am 24.12. gleich direkt im geschäftigen TV-Studio auf (Abbildung 5). 23 „Der Moment wenn die Chefin ein Weihnachtsbaum ist ❤“ 187 Abb. 5: Instagram-Story der SPÖ-Parteichefin Rendi Wagner vom 24.12.2019 Bei der Inszenierung des privaten Weihnachtsfests gibt es klare Unterschiede. Während Kurz und Kogler keine Bilder liefern, sind bei den anderen Parteispitzen die eigenen Christbäume zu sehen. Interessant ist dabei die Art der Inszenierung der eigenen Familie: Die Tochter von Norbert Hofer tritt regelmäßig in seinen Stories auf. Pamela Rendi Wagner lenkt den Blick durch eine gezielte Perspektive (Abbildung 5). Die Möglichkeit einer teil-anonymisierten Selbstinszenierung des eigenen Weihnachtsfests ist bei Beate Meinl-Reisinger zu sehen, die sich an Heiligabend im Kreis ihrer Familie präsentiert, gleichzeitig aber die Gesichter hinter Emojis verbirgt und so den Akt des Verbergens selbst sichtbar macht (Abbildung 6). Abb. 6: Instagram-Story der NEOS-Parteichefin Meinl-Reisinger vom 24.12.2019 188 Daniel Pfurtscheller 6 Fazit: Weihnachten als Ressource, Pflichtprogramm und Deko- Hintergrund Ob wir wollen oder nicht, Weihnachten durchdringt unseren Alltag. In den politischen Instagram-Stories ist Weihnachten aber nicht nur ein Deko-Hintergrund oder Pflichtprogramm, sondern wird auch gezielt als kommunikative Ressource genutzt. Dabei werden bestimmte Aspekte für die Inszenierung ausgewählt, während andere Aktivitäten, außen vor bleiben. Das betrifft nicht nur den christlich-religiösen Bereich, sondern auch säkulare Aktivitäten (wie die Bescherung, das Weihnachtsessen, etc.). Hier beginnt anscheinend der wirklich private Teil, der nur sehr selektiv zum Gegenstand einer politischen Inszenierung gemacht wird. Ein zentrales Moment von Instagram-Stories ist die in der Hier-Jetzt-Ich- Perspektive angelegte Synchronizität. Mündliche Alltagserzählungen sind retrospektiv: Wenn wir Kolleg*innen oder Freunde nach der Weihnachtspause treffen, folgt als typische Form der Alltagsinteraktion die Frage: „Na, wie ist Weihnachten bei euch gelaufen? “. In Instagram-Stories wäre ein solches Nachreichen unangebracht und müsste quasi-synchron am Heiligen Abend geschehen. Aber da haben hoffentlich sogar die Fans der Parteien etwas Besseres zu tun als sich mit Instagram-Stories zu beschäftigen. Das wäre jedenfalls mein Weihnachtswunsch. 0 0 0 24 Weihnachten, Loriot und die Genderlinguistik Carolin Müller-Spitzer Themen rund um binäre Geschlechtseinteilungen, soziale Folgen von Rollenklischees und auch geschlechtergerechte Sprache sind hochaktuelle Themen. Die Zusammenwirkung von biologischer Geschlechtszuordnung und sozial erlernten Geschlechterrollen (dann meist als Gender bezeichnet) werden viel diskutiert, nicht nur im Zusammenhang mit Sprache. Gender spielt auch da eine Rolle, wo es eigentlich nicht notwendig ist: es gibt Matschhosen für Jungen vs. Mädchen, Trinkflaschen getrennt nach Geschlecht, saure Gurken aufbereitet nach Kriterien des Gender-Marketing in „knackiglieblich“ und „knackig-kräftig“, Erstlesebücher für Mädchen, die von Prinzessinnen handeln und solche für Jungen, die von Drachen und Piraten handeln usw. (vgl. auch Hasel 2016). Dies sind Entwicklungen, die im Laufe der letzten Jahre durch gezieltes Gendermarketing 1 verstärkt wurden. Allerdings zeigt sich die Relevanz von Geschlecht für unsere soziale Ordnung auch an einer der (meist) ersten Fragen nach der Geburt eines Kindes und zwar: „Und, was ist es? “ Theoretisch könnte sich dieses „was“ auf alles Mögliche beziehen, de facto ist damit das Geschlecht gemeint. Allein dies macht deutlich, wie salient, d. h. wie bedeutsam im Alltag die Geschlechtszuordnung ist. Unser intuitives Denken ist darauf trainiert, Einordnungen nach dem Geschlecht schnell vorzunehmen, da sie für unser soziales Handeln sehr relevant sind. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie sitzen jemandem gegenüber, den sie vom Geschlecht her nicht zuordnen können: Dies würde vermutlich zu Irritationen und Unsicherheiten führen, auch wenn Sie es nicht wollen. Gerade deshalb haben es Menschen schwer, die sich diesen binären Geschlechtsvorstellungen entziehen müssen oder wollen. 1 „Gendermarketing teilt Menschen schon im Kindesalter in zwei Gruppen und zwingt sie immer wieder, sich zu positionieren. Und ganz nebenbei werden beiden Geschlechtern uralte Rollenbilder übergestülpt: Die Mädchen sind zarte Prinzessinnen, liebevolle Puppenmuttis oder schnurrende Kätzchen, die Jungs sind wilde Abenteurer, mutige Piraten oder technikbegeisterte Helden.“ (Diana Sierpinski: Preis für plumpes Gender-Marketing, ntv Panorama, 03.03.2017, https: / / www.n-tv.de/ panorama/ Preis-fuer-plumpes-Gender-Marketing-article19728943.html); allerdings kann Gender-Marketing auch dazu genutzt werden, Firmen z. B. für die Bedürfnisse weiblicher Kundinnen zu sensibilisieren, vgl. „Gender-Marketing“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 30. April 2020, 07: 09 UTC. URL: https: / / de.wikipedia.org/ w/ index.php? title=Gender-Marketing&oldid=199444036. 190 Carolin Müller-Spitzer Dass diese Wichtigkeit der Geschlechtszuordnung nicht selbstverständlich ist, hat Loriot gewohnt visionär schon 1978 auf sehr treffende Weise in einem Sketch über einen Weihnachtseinkauf karikiert, in dem er als „Opa Hoppenstedt“ 2 ein Geschenk für sein Enkelkind einkaufen will. Die Frage der Verkäuferin nach dem Geschlecht gestaltet sich dabei schwierig: Ein Junge oder ein Mädchen? Tja-… Sie werden doch wohl wissen, ob Ihr Enkelkind ein Junge oder ein Mädchen ist. Wieso? Wie heißt denn das Kleine? Hoppenstedt, wir heißen alle Hoppenstedt. Und mit Vornamen? Dickie, Dickie Hoppenstedt Und es, äh, es ist ein Mädchen? Nee-… Also ein Junge? Nee nee nee nee nee. Ja, was ist es denn nun? So genau kann ich das nicht sagen. Wie ist es denn angezogen? Hosen, blaue Hosen. Na, vielleicht haben Sie es ja auch mal ohne Höschen gesehen. Nein, wozu denn? Loriot stellt hier pointiert den Stellenwert von Geschlecht für die Wahl des richtigen Geschenks in Frage. Er soll sein Enkelkind schon vor der Beratung in eine Schublade einordnen (Mädchen oder Junge), verweigert sich dem aber. Wie ist es aber in der Sprache? Welche Form von Schubladen sind uns da vorgegeben? Das Deutsche hat bekanntlich drei grammatische Genera: maskulinum, femininum und neutrum. Das Genussystem im Deutschen wird daher auch den „sex-based gender systems“ zugeordnet (Corbett 2013). Dabei hat das Genussystem einen semantischen Kern, d. h. die Einordnung nach grammatischem Geschlecht ist nicht beliebig. In der Regel werden biologisch männliche Perso- 2 Weihnachten bei Hoppenstedts ist der Titel der vierzehnten Folge der Fernsehserie Loriot in der Schnittfassung von 1997. Sie stellt eine auf etwa 25 Minuten gekürzte Überarbeitung der sechsten Folge der Originalserie Loriot von 1978 dar. Erstmals wurde Weihnachten bei Hoppenstedts vom Ersten am 29. Juli 1997 ausgestrahlt (https: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Weihnachten_bei_Hoppenstedts). Die Folge ist zu sehen unter: https: / / www. youtube.com/ watch? v=MpEYKv6mGNI. S. auch Carolin Küppers: Soziologische Dimensionen von Geschlecht (2012), https: / / www.bpb.de/ apuz/ 135431/ soziologische-dimensio nen-von-geschlecht? p=all. 24 Weihnachten, Loriot und die Genderlinguistik 191 nen auch mit einem maskulinen Substantiv bezeichnet, andersherum ist eine Personenbezeichnung für eine weibliche Person in der Regel ein Femininum. So fasst z. B. Gottsched in seiner Grundlegung einer deutschen Sprachkunst aus dem Jahr 1748 zusammen: „Wörter, die männliche Namen, Ämter, Würden oder Verrichtungen bedeuten, sind auch männliches [sic] Geschlechtes. Z.E. der Mann, der Herr, der Graf, der Fürst, der König, der Kaiser; (…) Diese Regel hat gar keine Ausnahme; weil sie sich auf das Wesen der Dinge gründet, und gar nicht auf die zufälligen Endungen der Wörter sieht (…)“ (Gottsched 1748: 161). Zum Femininum schreibt er: „Alle Namen und Benennungen, Ämter und Titel, Würden und Verrichtungen des Frauenvolkes sind weibliches [sic] Geschlechtes. Z. E. (…) Benennungen 3 , Frau, Mutter, Tochter, Schwester […], Ämter , Kaiserin, Königinn, Herzoginn […], Würden , Prinzessinn, Feldmarschallinn, Oberstinn, Hauptmännin, Hofräthinn, Doctorinn […], Verrichtungen , Wäscherinn, Näherinn, Stickerinn […]“ (Gottsched 1748: 167; vgl. auch Doleschal 2002: 47) Es gibt im Deutschen aber auch zahlreiche Beispiele, die diesem semantischen Kern (zumindest auf den ersten Blick) widersprechen: das Mädchen ist neutrum, der Elefant kann schwanger sein (weil die Bezeichnung auch für eine Elefantenkuh verwendet wird) und die Schnecke ist zwar ein Femininum, ist aber im Laufe ihres Lebens sowohl männlich wie weiblich. Dass auch diese Abweichungen, also Nomen, bei denen eine sogenannte Genus-Sexus-Divergenz vorliegt, z.T. einem semantischen Muster folgen, deutet sich in verschiedenen Studien an (Köpcke/ Zubin 1996; Nübling 2018). So ist z. B. das Mädchen als junge, noch nicht verheiratete Frau auch in anderen indogermanischen Sprachen im Neutrum anzufinden (Corbett 2013), wohingegen der Junge von Geburt an Maskulinum ist. Meistens gibt es in den geschlechtsspezifischen Genussystemen also einen semantischen Kern und dieser besteht laut Corbett (2013) in der Mehrheit der Systeme, wie auch z. B. im Französischen und Deutschen, in der Verbindung zum biologischen Geschlecht. In der Linguistik wird diese Frage der Verbindung von biologischem und grammatischem Geschlecht in den letzten Jahren vermehrt diskutiert. Die Genderlinguistik untersucht dabei ganz allgemein den Zusammenhang von Sprache und Geschlecht, d. h. die sprachlichen und kommunikativen Beiträge zur Gestaltung von Männlichkeiten, Weiblichkeiten, Zwischen- und Transidentitäten und auch den Einfluss von Sprache auf Geschlechtergerechtigkeit (Kotthoff/ Nübling 2018). Dabei gehen insbesondere beim Thema geschlechtergerechte Sprache die Meinungen weit auseinander. Was - um beim Loriot-Thema zu bleiben - sind die richtigen sprachlichen Mittel, um das Geschlecht nicht extra hervorzuheben, wenn man es nicht betonen will? 3 Im Original fett gesetzt. 192 Carolin Müller-Spitzer Zum einen gibt es die Meinung, dass das sogenannte generische Maskulinum diese Funktion sehr gut erfüllen würde, dass also z. B. Schüler eine neutrale Bezeichnung für Schüler*innen jeglichen Geschlechts sei (vgl. z. B. Eisenberg 2018). Allerdings weisen zahlreiche Studien darauf hin, dass grammatisch männliche Personenbezeichnungen im Sprachverständnis oft nicht neutral verstanden, sondern eher auf (biologisch) männliche Personen bezogen werden (z. B. Kotthoff/ Nübling 2018: 91-127; Gygax et al. 2009). Das liegt zum Teil auch daran, dass in der Regel männliche Personenbezeichnungen - wie oben schon ausgeführt - eben auch Männer bezeichnen. Auch Forschungsergebnisse aus der Ökonomie lassen diese neutrale Funktion des generischen Maskulinums bezweifeln. In verschiedenen Studien wurde versucht, die ökonomischen Folgen von geschlechtsspezifischen Genussystemen und damit die Auswirkungen der Sprache auf die Chancengleichheit von Männern und Frauen zu messen. Beispielsweise zeigen Daten aus 105 Ländern aus den Jahren 2001-2015, dass es in den Ländern, in denen die dominante Landessprache ein geschlechtsspezifisches Genussystem hat, die geschlechtsspezifische Kluft in der unternehmerischen Aktivität größer ist als in vergleichbaren Ländern (Hechavarría et al. 2018). Eine weitere Studie zu Arbeitsmarktergebnissen auf der Grundlage einer Stichprobe von über 100 Ländern deutet darauf hin, dass Länder, in denen die Mehrheitssprache Geschlecht stark markiert, eine geringere Erwerbsbeteiligung von Frauen aufweisen (Mavisakalyan 2011). Ähnlich zeigt eine weitere umfangreiche Studie, dass die Intensität der Unterschiede zwischen Frauen und Männern in der Sprache mit der Erwerbsbeteiligung von Frauen, der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und den Quoten für die politische Beteiligung von Frauen zusammenhängen (Gay et al. 2018). 4 Diese Studien lassen vermuten, dass Sprachen, in denen man durch das Genussystem nicht gezwungen wird, geschlechtsspezifische Einordnungen vorzunehmen, im Verhältnis vielleicht auch offener über Geschlechterrollen denken lassen. Dies wiederum spricht - wenn man sich um geschlechtersensible Sprache bemüht - sehr für eine sogenannte Neutralisierung, also das, was Loriot auch andeutet: das Enkelkind ist einfach ein Kind. Auch auf genderleicht , einer Seite des Deutschen Journalistinnenbundes, heißt es: „Nehmen Sie geschlechtsneutrale Oberbegriffe“ 5 wie Beschäftigte , Anwesende , Studierende , Lehrkräfte , medizinisches Personal oder Eltern und Geschwister . Solche Epizöna gibt es allerdings nicht für alle Gruppen, außerdem zeigen wiederum andere Studien, dass nur explizit feminine Bezeichnungen tatsächlich z. B. die Selbstwirksamkeit von Mädchen, sich einen 4 https: / / voxeu.org/ article/ language-matters-gender-grammar-and-observed-gender-di scrimination. 5 https: / / www.genderleicht.de/ schreibtipps/ . 24 Weihnachten, Loriot und die Genderlinguistik 193 Beruf zuzutrauen, bewirken (Vervecken/ Hannover 2015). Die Appellfunktion von expliziten weiblichen Benennungen ist in diesem Kontext wahrscheinlich größer. Doppelnennungen oder das Binnen-I integrieren wiederum nicht Menschen, die sich in der binären Geschlechterordnung nicht wiederfinden. Dafür wird jedoch immer häufiger das Gendersternchen oder das Gendergap verwendet. Alle diese Versuche, die männlich geprägte Sicht in der Sprache zu relativieren oder neue, zeitgemäße Formen zu finden, werden allerdings auch von deutlicher Ablehnung begleitet, die auch medial stark forciert wird. Sprache spiegelt und archiviert kulturelle Gegebenheiten (Linke 2018: 347-348; vgl. auch Günthner/ Linke 2007: 16; Kämper 2019: 372-373). Diese sprachlichen Auseinandersetzungen sind daher im Kontext von langsamen Umwälzungen festgelegter Geschlechterrollen und im verstärkten Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit in vielen Bereichen zu sehen. Vermehrt rückt sowohl in der Linguistik wie in der öffentlichen Diskussion in den Blick, wie die androzentrische Ausgestaltung unserer Gesellschaft sich in der Sprache eingeschrieben hat und es wird diskutiert, ob und wie dies zu verändern sei. Es wäre ein schönes - nicht nur linguistisches - Weihnachtsgeschenk, wenn wir uns diesen Fragen noch weniger als bisher als Pro- oder Kontra- Debattenkultur nähern würden, sondern die zum Teil auch widersprüchlichen Forschungsergebnisse kritisch analysieren und gleichzeitig offen und kreativ nach Lösungen suchen würden. Auf jeden Fall ist die androzentrisch geprägte Sprache, wie sie sich im generischen Maskulinum spiegelt, keine natürlichere Sprache als eine geschlechtergerechte Sprache (vgl. auch Gardt 2018). Das generische Maskulinum, die männliche Ausprägung einer Personenbezeichnung, die aber für alle gelten soll, ist eher ein Spiegel der sozialen Normen, die lange galten. Und soziale Normen kann man natürlich ändern. In diesem Sinne schreibt die nigerianische Schriftstellerin Adichie im Kontext von der Erziehung von Mädchen, dass „Biologie ein interessantes und faszinierendes Fach ist, dass […] Biologie aber nie als Rechtfertigung für soziale Normen“ zu akzeptieren sei. „Soziale Normen werden von Menschen geschaffen, und es gibt keine soziale Norm, die nicht verändert werden könnte.“ (Adichie 2017: 65) Genauso ist auch die Relevanz des Geschlechts eines Kindes für den Geschenkekauf keine natürliche Gegebenheit, sondern etwas, was sich in unserer Gesellschaft so etabliert hat und was Loriot mit „Weihnachten bei Hoppenstedts“ treffend karikiert. Doch in einem hatte Opa Hoppenstedt zumindest laut dem Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache nicht recht: Früher war doch nicht mehr Lametta 6 : 6 DWDS-Wortverlaufskurve für „Lametta“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https: / / www.dwds.de/ r/ plot? view=2&corpus=zeitungen&norm=abs& 194 Carolin Müller-Spitzer Abb. 1: Früher war doch nicht mehr Lametta. Literatur Adichie, Chimamanda Ngozi. 2017. Liebe Ijeawele: Wie unsere Töchter selbstbestimmte Frauen werden . Frankfurt/ M.: Fischer Taschenbuch. Corbett, Greville G. 2013. Sex-based and Non-sex-based Gender Systems. In: Dryer, Matthew S./ Haspelmath, Martin (eds.). The World Atlas of Language Structures Online . Leipzig: Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology. https: / / wals.info/ chapter/ 31 Doleschal, Ursula. 2002. Das generische Maskulinum im Deutschen. Ein historischer Spaziergang durch die deutsche Grammatikschreibung von der Renaissance bis zur Postmoderne. 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Ein paar Tage später waren die Geschäfte in Deutschland dicht und fast keine Menschen und Autos mehr unterwegs. Mein Wohnort, Frankfurt a. M., war innerhalb von drei Tagen eine Geisterstadt, Wolkenkratzer, leere Straßen, Bilder wie aus einer Gothic Novel. Ende März dachte ich erstmals über den Beitrag nach und fragte mich, wie man angemessen über Weihnachten schreiben könnte, wenn die Welt auf unbestimmte Zeit stillstünde und im Fernseher nur noch Infektionsraten, Todeszahlen, Krankenhäuser und Friedhöfe gezeigt wurden. Im April hatten die Feuilletons, Facebook, Twitter und Instagram schon lauter kluge Sachen über den Virus und seine sozialen, politischen und psychischen Folgen gesagt und meine Kolleg*innen und ich erprobten, wie es ist, wenn ein Seminar nicht mehr aus leibhaftigen Menschen, sondern aus schwarzen Mini- Bildschirmen besteht und der akademische Diskurs in die Dauerschleife wechselnder Videokonferenzen gerät. Oder wegen technischer Probleme einfriert. Potentielle Weihnachtsbeiträge wurden von Jitsi, Webex, Zoom und Skype verdrängt. Im Mai trat neben eine unglaubliche Erschöpfung, die sich niemand richtig erklären konnte, aber alle kannten, der unausweichliche Drang, sich bei jeder Mahlzeit wie an den Weihnachtstagen zu verhalten und sogenannte Corona- Kilos anzulegen. Der pandemische Möglichkeitsraum, der zwischendrin unendlich viel Zeit und einen launigen Beitrag über linguistische Weihnachten suggeriert hatte, schrumpfte zur Besenkammer. Ich fühlte mich wie die Frau in einer Karikatur des New Yorker Magazine zu Beginn der Corona-Krise: „Day 6! 198 Katrin Lehnen Couldn’t decide between starting to write my novel or my screenplay, so instead I ate three boxes of mac and cheese and then lay on the floor panicking“ (newyorkermag Instagram). Ein Weihnachtsbeitrag war nicht in Sicht. Im Juni sah - bis auf Masken und fehlende Umarmungen mit Freunden - vieles so aus, als wäre nichts gewesen. Draußen traten sich die Menschen in Parks, Geschäften und Fußgängerzonen wieder auf die Füße. Konstanze Marx fragte dann und wann nach, ob ich ihr ein paar Stichworte zu meinen Beitrag senden könnte. Anstatt welche zu schicken, las ich noch einmal in der Einladung nach, was genau von mir verlangt war. Dort hieß es unheilvoll: Natürlich setze ich Deiner Kreativität keine Grenzen, sondern bin voller Vertrauen, dass Dein Text genau das sein wird, was ich mir für dieses Buch vorstelle. Einzig das Thema „Weihnachten“ ist vorgegeben. Ich wurde nervös. Kreativität und Vertrauen , zwei Schlüsselkonzepte menschlichen Daseins, die mit Corona ein wenig unter die Räder gekommen waren. Die Frage, wie man die zwiespältigen Erfahrungen der letzten Monate zu einem weihnachtlichen Linguistikbeitrag verarbeiten, und wie man mit dem Vertrauensvorschuss der Herausgeberin umgehen könnte, wenn man nicht mal Stichwörter schickte, blieb weiter offen. Die Zeit lief trotz der viel beschworenen Entschleunigung viel schneller davon als üblich. Mitte Juni dachte ich eines Morgens, ich könnte etwas zu Abreisskalendern machen. Die Idee kam ein bisschen aus dem Nichts, aber sie hatte mit Sprache und Weihnachten zu tun und fügte sich auf angenehme Weise in mein Bedürfnis, die Dinge chronologisch anzugehen. Die Frage nach dem Verhältnis von Zeit, Sprache, Abreisskalendern und Weihnachten schien mir zu diesem Zeitpunkt ideal. Die linguistische Einschlägigkeit lag auf der Hand: Abreisskalender arbeiten mit Witzen, Weisheiten, Wortspielen, Merksprüchen, Aphorismen, Karrikaturen und Zitaten. Sie arbeiten mit Sprache. Im Juli konkretisierte ich die Forschungsfrage: Wie thematisieren Abreisskalender die Weihnachtstage vom 24.-26.12.2020? Und was sagen sie uns (vielleicht) über den weihnachtlichen Zeitgeist, der noch nichts von Corona wusste. 1 Abreisskalender und Weihnachten - Linguistische und methodische Grundlagen Den Anfang der Untersuchung bildete eine theoretische Reflexion mit dem Ergebnis, dass Abreisskalender auf interessante Weise mit Zeit und Sprache spielen. Jeden Tag wird ein Tag abgerissen und mit der Rezeption eines kurzen Sprach-Spiels landet das Blatt im Papierkorb. Flüchtig und hybrid ist der Ab- Linguistische Weihnacht - Abreissen. Loslassen 199 reisskalender ein interessanter Einzel- und Grenzgänger unter den Textsorten. Ein linguistischer Über- oder Supertext, der vor den Augen seiner Nutzer*innen schrumpft. Der Tag reisst ab und das Jahr läuft runter. Selten waren Verlust und Vergänglichkeit haptisch und praktisch so greifbar. Am Ende des Jahres bleiben drei Weihnachtstage, vier merkwürdige Tage zwischen den Jahren und ein Silvestertag, der schon fast dem neuen Jahr gehört. Eine kurze Recherche ergab, dass der Abreisskalender in keiner linguistischen Textsortenlehre auftaucht, aber eigentlich ein interessanter Kandidat für (post-) (strukturalistische) Intertextualitätstheorien sein müsste. Die Forschungslücke wertete ich als ersten Befund meiner Studie. Methodisch betrachtet war die Idee mit dem Abreisskalender natürlich clever. Man könnte korpuslinguistisch arbeiten und einen bunten Querschnitt von Weihnachtsblättern unterschiedlicher Abreisskalender zusammenstellen und hätte auf diese Weise schnell eine Materialgrundlage und ein geordnetes Vorgehen für die Analyse. Sicherlich wäre auch eine asynchrone oder interkulturelle Betrachtung von Abreisskalendern linguistisch ergiebig - Kalendersprüche zu Weihnachten im Lichte ihrer Zeit oder Kulturspezifische Aspekte weihnachtlichen Feierns am Beispiel von Abreisskalendern - aber dafür waren die verbleibenden Wochen zu kurz. Wie sich überhaupt herausstellte, dass die Zeit etwas eng für eine aufwendige Korpusstudie wurde. Aber ich war guter Dinge und sicher, schnell ein einschlägiges Korpus von Abrissblättern aufzubauen. Die Daten waren ja schon in der Welt, sie mussten nur noch aufgesammelt werden. Ich selbst hatte keinen Kalender, erinnerte mich aber, meiner Schwester letztes Jahr zu Weihnachten einen geschenkt zu haben. Und ich hatte bei einer Freundin den Abreisskalender des New Yorker in Erinnerung. Ich bat beide, mir die Blätter der drei Weihnachtstage zu fotografieren und startete eine weitere Umfrage im Freundeskreis. Keine/ r der Angesprochenen nutzte Abreisskalender, jede/ r glaubte aber, andere zu kennen, die das tun und alle versprachen mir, entsprechende Nachfragen zu starten und mir zügig Fotos zu schicken. Bis auf den Abreisskalender vom Missy Magazin einer Freundin kam nichts zurück, auch nicht auf Nachfrage. Am 26. Juni hatte ich ein Korpus von 9 Blättern aus 3 Kalendern, am 1. August war Abgabe des Beitrags. Der zweite Befund meiner Studie resultierte in der Erkenntnis, dass Abreisskalender in manchen Kreisen kaum genutzt werden, und/ oder dass meine Freund*innen tendenziell unzuverlässig sind. Ich gab mich mit der geringen Ausbeute nicht zufrieden und suchte im Online-Handel nach Abreisskalendern des laufenden Jahres. Die Suchanfrage ergab eine große Treffermenge. Das thematische Spektrum von Abreisskalendern war auf den ersten Blick unübersichtlich, beim zweiten Hinsehen ergaben sich aber thematische Schwerpunkte für das Jahr 2020: 1. Wissen (z. B. Brockhaus. 200 Katrin Lehnen Was so nicht im Lexikon steht ), 1a Unnützes Wissen (z. B. Unnützes Wissen ’20: 365 skurrile Fakten, die man nie mehr vergisst ), 2. Sprüche und Weisheiten (z. B. Hurra! Ach nee, doch nicht. Tagesabreisskalender 2020: Ein genialer Spruch für jeden Tag ), 3. Achtsamkeit (z. B. Heilende Worte für jeden Tag ). Ich hatte die Recherche in der Annahme gestartet, dass Tagesabreisskalender nach der Hälfte des Jahres auch nur noch die Hälfte kosten, so wie es im analogen Buchhandel schon ab Mitte Januar der Fall ist. Aber kein einziger Kalender im Internet war reduziert. Ich war innerlich nicht bereit, den vollen Preis zu bezahlen, wenn ich von 365 Blättern ohnehin nur 3 benötigte. Ich ließ von einer ergebnisoffenen, kostenintensiven Bestellung ab. Meine nächste Idee für das Korpus führte mich in eine Frankfurter Buchhandlung. Ich fragte die Buchhändlerin, ob sie im Keller noch Abreisskalender vom laufenden Jahr hätten, die ich vielleicht vergünstigt abkaufen könnte. Die Buchhändlerin sah mich relativ fassungslos an. Offensichtlich hatte ich etwas total Bescheuertes gefragt und nicht begriffen, wie das Kalendergeschäft funktioniert. Ich hatte auch nicht gesehen, dass sich direkt neben der Buchhändlerin eine Auslage mit Kalendern für das Jahr 2021 befand. Es war ein bisschen wie mit dem Weihnachtsgebäck, das man ab August im Supermarkt kaufen kann und auch bei Aldi würde man tendenziell nicht nach dem Stollen vom letzten Jahr fragen. Es blieb zunächst bei einem Textkorpus von 9 Kalenderblättern und ich entschied mich von der ursprünglich anvisierten quantitativen Korpusuntersuchung methodisch auf eine explorative Studie oder exemplarische Analysen zu wechseln. In der Gewissheit, dass mir mit dem Abreisskalender von Der Postillon drei qualitativ hochwertige Kalenderblätter sicher wären und das Korpus auf einen Schlag um 25 % ansteigen würde, kaufte ich den Abreisskalender für knapp 12€ online dazu. Im Ergebnis kam es zu einem weiteren, überraschenden Befund meiner noch jungen Textsortenstudie: Die Einträge des Postillons waren - anders als alle anderen seiner Veröffentlichungen - albern, blöd und nicht zu gebrauchen. Auf dem Kalenderblatt des 24. Dezember stand: „Schenkten sich nichts: Ehepaar prügelt sich unterm Weihnachtsbaum“, auf dem 25.: „Stille Nacht: Vater versteckt Blockflöten der Kinder zu Weihnachten“ und auf dem 26.: „Oh Dusselige: Frau vergisst Text von Weihnachtslied“. Das wollte ich mir für eine genauere linguistische Analyse nicht antun. Mit einem Textkorpus von 9 Kalenderblättern bot sich inzwischen auch eine explorative Studie nicht mehr an, ich hätte mich ab jetzt auf Einzelfallanalysen zu konzentrieren. Linguistische Weihnacht - Abreissen. Loslassen 201 2 Abreisskalender und Weihnachten - post-empirische Einzel(zu) fall(s)analysen Ich startete mit einer aufwendigen Analyse meines ersten Fallbeispiels, einem übersetzten Zitat von Charles Dickens: „Ich werde Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, es das ganze Jahr hindurch aufzuheben“ (Diogenes Abreisskalender, 24.12.2020). Ich merkte schnell, dass es nicht viel zu analysieren gab. Das Ganze war selbsterklärend. So wie die anderen 8 Fallbeispiele auch. Mir dämmerte, dass ich über die letzten Wochen irgendwie den Faden verloren hatte. Die Fragestellung (oder die Kreativität) und das Ziel (oder das Vertrauen) waren mir - gleich einem Abreisskalender - mit jedem Tag abhandengekommen. Wie ließe sich der weihnachtliche Zeitgeist 2020 einfangen, wenn man sich auf 9 zufällig verfügbare Kalenderblätter stützte? Wie wollte man plausibel machen, dass Zitate von Charles Dickens problemlos in einem Analyserahmen mit Gedichten auftauchen: „THE KEY/ LOVE OPENS THE HE- ARTS/ LOVE OPENS THE MINDS/ LOVE OPENS THE LIMITS/ LOVE OPENS YOUR HEART/ LOVE OPENS YOUR MIND/ LOVE OPENS YOUR LIMITS/ LOVE IS THE KEY“ (Missy Magazin, 24.12.2020). Mir war schleierhaft, wie ich mich selbst zu einem Projekt hatte überreden können, das aus einer vagen Idee und fehlenden Grundlagen bestand. Das Ende Juli eintreffende Kalenderblatt einer Freundin gab Aufschluss über meinen Zustand, der darin enthaltene Ratschlag kam allerdings zu spät: Begib Dich in der Gegenwart in Situationen, die dich dein erfülltes Ziel auf allen Ebenen erleben lassen (Seelenquickies für jeden Tag, 24.12.2020, Hervorhebung im Original). Die Sache mit der Achtsamkeit war plötzlich wieder da. Vielleicht, gestand ich mir, hätte ich das Projekt früher aufgeben und das dem Abreisskalender inhärente Motto beherzigen sollen, das der Diogenes Verlag im Titel seines Abreisskalenders 2020 so schlicht und wahr auf den Punkt gebracht hatte: Abreißen, loslassen. 202 Katrin Lehnen Abb. 1: Diogenes Abreisskalender, Titelblatt (https: / / www.diogenes.ch/ leser/ titel/ unti tled/ abreissen-loslassen-2020-9783257510805.html) Es half nichts, am Ende meiner Betrachtung landete ich da, wo die Karikatur des New Yorker Abreisskalender am 24.12.2020 längst war: bei viel zu großen Erwartungen und viel zu kleinen Weihnachtsmännern. Abb. 2: New Yorker Abreisskalender, 24.12.2020 0 0 0 Autor*innenverzeichnis Gerd Antos lehrte und forschte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist emeretierter Professor für Angewandte Linguistik und interessiert sich insbesondere für Rhetorik der Selbsttäuschung, Verständlichkeitsforschung und Wissenstransfer. Mit Weihnachten verbindet er das Erstaunen darüber, wie fünf Enkelkinder (1-8) allein durch Sprache zu verzaubern sind. Alexandros Apostolidis ist Politikwissenschaftler. Zurzeit studiert er Demokratiepädagogik und soziale Kompetenzen an der Freien Universität Berlin. An der Linguistik interessiert ihn insbesondere die grenz- und kulturübergreifende Interaktion zwischen den Sprachen und Sprache als politisches Mittel. Mit Weihnachten verbindet er Paris, Familie und Melomakarona, eine griechische Süßspeise mit Orangensaft, Walnüssen, Honig und Zimt. Birte Arendt lehrt und forscht an der Universität Greifswald. Sie ist Leiterin des Kompetenzzentrums für Niederdeutschdidaktik sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft und interessiert sich insbesondere für die Vermittlung der niederdeutschen Sprache, Spracherwerb und linguistisch begründete Sprachkritik. Weihnachten verbindet sie mit Familie, gemeinsamem Singen und vielen Heimlichkeiten. Michael Beißwenger lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Professor für Germanistische Linguistik und Sprachdidaktik und interessiert sich insbesondere für internetbasierte Kommunikation, digital gestütztes Lehren und Lernen und die Zeitlichkeitsbedingungen sprachlichen Handelns. Weihnachten verbindet er mit Dylan Thomas, der Augsburger Puppenkiste und Helge Schneiders Hörspiel-Frühwerk. Silvia Bonacchi lehrt und forscht an der Universität Warschau. Sie ist Professorin für Linguistik und Interkulturelle Kommunikation und interessiert sich insbesondere für Kulturlinguistik, Genderlinguistik und sprachliche Konflikte. Die gebürtige Italienerin verbindet mit Weihnachten eine Feier, an der sich eine multikulturelle Familientradition spürbar macht, die mit Sorgfalt und tiefem gegenseitigen Respekt bis heute gepflegt wird. Gabriele Diewald lehrt und forscht an der Leibniz-Universität Hannover. Sie ist Professorin für Deutsche Gegenwartssprache und interessiert sich insbeson- 204 Autor*innenverzeichnis dere für Grammatikalisierung, Wissenschaftssprache und geschlechtergerechte Sprache. Weihnachten verbindet sie mit vielerlei überraschenden Entdeckungen. Stefan Hauser lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschule Zug. Er ist Professor sowie Leiter des Zentrums Mündlichkeit und interessiert sich insbesondere für Gesprächslinguistik, Spracherwerb und Text- und Medienlinguistik. Weihnachten verbindet er mit Weihnachtswitzen … ; -) Henrike Helmer lehrt regelmäßig an der Universität Mannheim und forscht am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Pragmatik und interessiert sich insbesondere für die Grammatik des gesprochenen Deutsch, Interaktionale Linguistik sowie quantitative und qualitative Datenanalysemethoden. Mit Weihnachten verbindet sie eine gesellige Zeit mit Muße für Lese-Tage, Herr-der-Ringe-Marathons und Spieleabende. Wolfgang Imo lehrt und forscht an der Universität Hamburg. Er ist Professor für die Linguistik des Deutschen und interessiert sich insbesondere für Interaktionale Linguistik, Grammatik und qualitative Korpuslinguistik. Mit Weihnachten er verbindet der Satzstellungen gar seltsame … Nina Janich lehrt und forscht an der Technischen Universität Darmstadt. Sie ist Professorin für Germanistische Linguistik und interessiert sich insbesondere für Wissenschaftskommunikation, Sprachkritik und Werbesprache. Mit Weihnachten verbindet sie im besten Fall Familie, Feierlichkeit, Frieden und Faulenzen, im schlimmsten Fall falsche Erwartungen, fehlende Entspanntheit und Fahrerei. Alexander Lasch lehrt und forscht an der Technischen Universität Dresden. Er ist Professor für Germanistische Linguistik und Sprachgeschichte und interessiert sich insbesondere für Konstruktionsgrammatik, Varietäten und Digital Humanities. Mit Weihnachten verbindet er, in Sachsen aufgewachsen, eine fünfte Jahreszeit. Katrin Lehnen lehrt und forscht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie ist Professorin für Germanistische Sprach- und Mediendidaktik und interessiert sich insbesondere für medienspezifische Schreibprozesse, Kommunikation im Lehrerberuf und eristische Literalität. Autor*innenverzeichnis 205 Mit Weihnachten verbindet sie Regen statt Schnee, Gans statt Gemüse, kurze Nächte und lange Kater. Wolf-Andreas Liebert lehrt und forscht am Campus Koblenz der Universität Koblenz-Landau. Er ist Professor für Germanistische Linguistik und interessiert sich insbesondere für Kulturwissenschaft, Diskurs- und Dialogforschung sowie Sprache und Religion. Mit Weihnachten verbindet er eine hoffnungslose Hoffnung. Grit Liebscher lehrt und forscht an der University of Waterloo (Kanada). Sie ist Professorin für Angewandte Linguistik und interessiert sich insbesondere für Soziolinguistik, Mehrsprachigkeit und Sprache und Identität. Mit Weihnachten verbindet sie eine deutsch-kanadische Mischung, sowohl kulinarisch-kulturell - die Linsensuppe am Heiligabend und den Truthahn mit Süßkartoffelmus am Weihnachtstag - wie auch sprachlich: Frohe Weihnachten und Merry Christmas. Konstanze Marx lehrt und forscht an der Universität Greifswald. Sie ist Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft und interessiert sich insbesondere für Internetlinguistik, den Zusammenhang zwischen Sprache, Emotion und Kognition und Text- und Diskurslinguistik. Mit Weihnachten verbindet sie den Anspruch ihr gesamtes Kollegium mit den feinsten Plätzchen und den glorreichsten Weihnachtstweets zu versorgen. Simon Meier-Vieracker lehrt und forscht an der Technischen Universität Dresden. Er ist Professor für Angewandte Linguistik und interessiert sich insbesondere für Korpuslinguistik, Digitale Linguistik und Sprache und Fußball. Mit Weihnachten verbindet er die ruhigen Stunden, in denen man am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags in den neuen Büchern schmökern kann. Matthias Meiler lehrt und forscht an der Technischen Universität Chemnitz. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation und interessiert sich insbesondere für Medienlinguistik, Methodologie und Praxistheorie. Mit Weihnachten verbindet er Wärme, Weihrauch und gelbes Licht. Ruth M. Mell lehrt und forscht an der Technischen Universität Darmstadt. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Lehrerbildung und interessiert sich insbesondere für Internationalisierung und Interkulturalität, Sprache und Heterogenität sowie Digitale Didaktik. Mit Weihnachten verbindet sie den Duft von Tannennadeln und frisch gebackenen Plätzchen, festlich gezierte Weihnachtsbäume, Lichterzauber allüberall, 206 Autor*innenverzeichnis gemeinsames Musizieren und das unbeschreibliche Glück, schöne Momente mit den liebsten Menschen teilen zu dürfen. Carolin Müller-Spitzer lehrt an der Universität Mannheim und forscht am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Sie ist apl. Professorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Lexik und interessiert sich insbesondere für Genderlinguistik, empirische Wörterbuchbenutzungsforschung und quantitativ-empirische Methoden zur Untersuchung lexikalischer Phänomene. Mit Weihnachten verbindet sie gemütliche Stunden mit der Familie und eine Auszeit zum Jahresausklang. Steffen Pappert lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Germanistische Linguistik und interessiert sich insbesondere für Medienkommunikation, Sprache in der Politik, Multimodalität und Textanalyse. Mit Weihnachten verbindet er hektisches Treiben und Völlerei so wie die fehlenden Emojis, die das darstellen könnten. Daniel Pfurtscheller lehrt und forscht an der Universität Wien. Er ist Universitätsassistent in der Germanistischen Sprachwissenschaft und interessiert sich insbesondere für Medienlinguistik, multimodale Text- und Diskursanalyse und Zeitschriftenforschung. Mit Weihnachten verbindet er den Duft von Kiachln 1 und das Reden über Schnee. Silke Reineke lehrt regelmäßig an der Universität Mannheim und forscht am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Pragmatik und interessiert sich insbesondere für Verfahren der Anzeige von Wissen und Verstehen in der Interaktion sowie den Aufbau und die Erschließung von Korpora gesprochener Sprache. Mit Weihnachten verbindet sie Geschichten. Joachim Scharloth lehrt und forscht an der Waseda Universität in Tokyo. Er ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft und interessiert sich insbesondere für Korpuslinguistik, Forensische Linguistik und Sprache in der Politik. 1 Rezept für ca. 24 Stück: Aus 1 kg Mehl, 1 l Milch, 3 Eiern, 1 Würfel Germ, 65 g Butter und einer Prise Salz einen Germteig herstellen, gehen lassen; Kugeln formen, flachdrücken und auseinanderziehen, ohne dass in der Mitte ein Loch entsteht; in Butterschmalz schwimmend ausbacken; mit Sauerkraut bzw. mit Preiselbeeren und Staubzucker servieren; oder — Daniel Pfurtschellers Lieblingsvariante — am Innsbrucker Christkindlmarkt essen. Autor*innenverzeichnis 207 Seit er in Tokyo lebt, verbindet er mit Weihnachten LED-Illuminationen, Erdbeerkuchen, Kentucky Fried Chicken und Cosplay. Axel Schmidt lehrt an der Universität Mannheim und forscht am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Er ist apl. Professor und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Pragmatik und interessiert sich insbesondere für Methoden der Qualitativen Sozialforschung, Audiovision und Fernsehforschung und Populärkulturforschung. Mit Weihnachten verbindet er mal weniger und mal mehr als mit Weihnachten. Thomas Spranz-Fogasy lehrt an der Universität Mannheim und forscht am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Er ist apl. Professor und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Pragmatik und interessiert sich insbesondere für Beratung/ Therapie, Schlichtung und umweltpolitische Diskussion. Mit Weihnachten verbindet er die Vorfreude beim Verfassen des Weihnachtsbriefs und ruhige Stunden am Kamin. Ulrike Stern lehrt und forscht an der Universität Greifswald. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum für Niederdeutschdidaktik und interessiert sich insbesondere für die Vermittlung des Niederdeutschen, für Literatur und Theater. Mit Weihnachten verbindet sie die Sehnsucht nach dem Zauber, den diese Zeit im Jahr einmal gehabt haben muss. Juliane Stude lehrt und forscht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie ist Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und interessiert sich insbesondere für Sprachdiagnostik, Erwerb mündlicher und schriftlicher Diskursfähigkeiten und sprachliche Praktiken in den Kontexten Familie - Peergroup - Schule. Mit Weihnachten verbindet sie die Vorfreude auf das legitime Nichtstun zwischen den Jahren. Susanne Tienken lehrt und forscht an der Universität Stockholm. Sie ist assoziierte Professorin am Institut für Slawische und Baltische Sprachen, Finnisch, Niederländisch und Deutsch und interessiert sich insbesondere für Kulturanalytische Linguistik, Medienlinguistik und Historische Soziolinguistik. Mit Weihnachten verbindet sie Nieselregen und die morastigen Weiten der norddeutschen Tiefebene. Ingo H. Warnke lehrt und forscht an der Universität Bremen. Er ist Professor für Deutsche Sprachwissenschaft unter Einschluss der interdisziplinären 208 Autor*innenverzeichnis Linguistik und interessiert sich insbesondere für Kommunikative Räume des Widerspruchs, Deutsche Sprache im Kolonialen Archiv und Liminalität und das Ephemere. Mit Weihnachten verbindet er das, worüber hier nicht gesprochen wird, außerdem aber auch die Erinnerung an die Wichtigkeit responsiven Handelns. Sascha Wolfer lehrt regelmäßig an der Universität Mannheim und forscht am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Lexik und interessiert sich insbesondere für Psycholinguistik, Eyetracking-Forschung und Möglichkeiten und Grenzen von Data Mining und „Big Data“. Mit Weihnachten verbindet er tonnenweise neue LEGOs. Eva Wyss lehrt und forscht an der Universität Koblenz-Landau. Sie ist Professorin für Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik und interessiert sich insbesondere für Kulturwissenschaftliche Linguistik, Sprache, Emotion und Emotionalisieren und Mediensprachgebrauch. Mit Weihnachten verbindet sie gemütlich unterhaltende Abende im Kreis der polyreligiösen Familie und Freunde, bei denen mit großem Enthusiasmus und in vielen Sprachen weihnachtliche und Hanukkah-Lieder gesungen werden. 0 0 0 ISBN 978-3-8233-8452-6 Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit beginnt ein buntes Treiben, das natürlich von Sprache begleitet ist: sonderbare grammatische Phänomene in Liedversen, prächtige Wörter und deren geheimnisvolle Bedeutung, floskelhafte Wünsche, Weihnachtsgeschichten, -gedichte und -ansprachen u.v.m. Die Autor*innen dieses Buches widmen sich solchen festlichen Untersuchungsgegenständen und stellen etymologische Überlegungen an, teilen lexikographische Beobachtungen, hinterfragen tradierte und neue Wunschpraktiken oder spüren Erzählmustern nach. So ist eine Weihnachtslinguistik entstanden, die keine neue sprachwissenschaftliche Schnittstellendisziplin sein will, sondern vielmehr Glanzpapier, das das inspirierende Spektrum der (hier gewählten) Zugänge und Beschreibungsebenen umhüllt und als das deklariert, was es ist - ein exklusives Geschenk.