eBooks

Spanische Literaturwissenschaft

2023
978-3-3811-0252-5
Gunter Narr Verlag 
Maximilian Gröne
Rotraud von Kulessa
Frank Reiser
10.24053/9783381102525

Der Band bachelor-wissen Spanische Literaturwissenschaft wurde speziell für die Erfordernisse der hispanistischen Bachelor- und Lehramts-Studiengänge verfasst. Er bietet eine präzise Einführung in die Verfahren der formalen Textanalyse im Kontext unterschiedlicher Medien. Darüber hinaus vermittelt er einen Überblick über die relevanten literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze, Fragestellungen und Theorien. Zahlreiche Übungen ermöglichen die rasche Anwendung und Überprüfung des Gelernten und unterstützen einen nachhaltigen Kompetenzerwerb.

ISBN 978-3-381-10251-8 www.narr.de Der Band bachelor-wissen Spanische Literaturwissenscha� wurde speziell für die Erfordernisse der hispanis- � schen Bachelor- und Lehramts-Studiengänge verfasst. Er bietet eine präzise Einführung in die Verfahren der formalen Textanalyse im Kontext unterschiedlicher Medien. Darüber hinaus vermi� elt er einen Überblick über die relevanten literatur- und kulturwissenscha� lichen Forschungsansätze, Fragestellungen und Theorien. Zahlreiche Übungen ermöglichen die rasche Anwendung und Überprüfung des Gelernten und unterstützen einen nachhal� gen Kompetenzerwerb. Gröne / von Kulessa / Reiser Spanische Literaturwissenscha� Spanische Literaturwissenscha� Maximilian Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser 4., überarbeitete und erweiterte Auflage Eine Einführung Spanische Unbenannt-1 1 16.03.2023 14: 02: 40 Unbenannt-1 1 16.03.2023 14: 05: 31 PD Dr. Maximilian Gröne ist Akademischer Oberrat für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Prof. Dr. Rotraud von Kulessa ist ordentliche Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Dr. Frank Reiser ist Akademischer Oberrat am Romanischen Seminar der Universität Freiburg i. Br. Idee und Konzept der Reihe: Johannes Kabatek, Professor für Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der iberoromanischen Sprachen an der Universität Zürich. narr BACHELOR-WISSEN.DE ist die Reihe für die modularisierten Studiengänge ▸ die Bände sind auf die Bedürfnisse der Studierenden abgestimmt ▸ das fachliche Grundwissen wird in zahlreichen Aufgaben vertieft ▸ der Stoff ist in die Unterrichtseinheiten einer Lehrveranstaltung gegliedert ▸ auf www.bachelor-wissen.de finden Sie begleitende und weiterführende Informationen zum Studium und zu diesem Band Maximilian Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser Spanische Literaturwissenschaft Eine Einführung 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2023 3., aktualisierte Auflage 2016 2., aktualisierte Auflage 2012 1. Auflage 2008 DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381102525 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer‐ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1864-4082 ISBN 978-3-381-10251-8 (Print) ISBN 978-3-381-10252-5 (ePDF) ISBN 978-3-381-10253-2 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 10 1 11 1.1 12 1.2 23 2 29 2.1 30 2.1.1 31 2.1.2 33 2.2 38 2.3 41 2.4 42 2.5 45 2.6 47 3 50 3.1 51 3.2 52 3.3 54 3.4 55 3.5 64 70 4 71 4.1 72 4.2 76 4.3 84 4.4 85 5 92 5.1 93 Inhalt Kompetenz 1: Literaturwissenschaftlich denken und arbeiten . . . . . . . . . Begriff ‚Literatur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur ‚an und für sich‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur medial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Poetik des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetiken des Siglo de Oro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thema, Stoff, Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturwissenschaftliches Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzen aus iberoromanistischen Studiengängen . . . . Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Wissenschaftsbegriff der Geisteswissenschaften . . . . . Wissenschaftliche Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenz 2: Literarische Texte analysieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik . . . . . . . . . . . . . Verstehen-- Analysieren-- Interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . Ebenen der Strukturanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturanalyse: Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattung Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lyrik im Siglo de Oro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 101 5.3 104 6 111 6.1 112 6.2 117 6.3 119 6.4 120 6.5 123 6.5.1 123 6.5.2 126 6.6 127 6.6.1 127 6.6.2 128 6.6.3 128 6.7 131 6.7.1 132 6.7.2 134 6.7.3 135 6.7.4 136 7 138 7.1 139 7.1.1 139 7.1.2 139 7.1.3 141 7.2 147 7.2.1 147 7.2.2 148 7.2.3 148 7.2.4 150 8 157 8.1 158 8.2 166 8.2.1 166 8.2.2 170 Lyrik des Modernismo: Antonio Machado . . . . . . . . . . . . . . . . Der lateinamerikanische Modernismo: Pablo Neruda . . . . . . Dramenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dramatische Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drama als Text und Aufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen der Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewichtung von Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Untergliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Offene‘ und ‚geschlossene‘ Form des Dramas . . . . . . . . . . . . Episches Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Experimentelles Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La vida es sueño . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Calderón de la Barca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsangabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse ausgewählter Passagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bodas de sangre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Federico García Lorca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . García Lorcas ‚tragedias rurales‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Inhalt der Bodas de sangre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse ausgewählter Passagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epik und Erzähltextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattung Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählerische Gestaltung oder Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 8.2.3 172 8.2.4 173 8.3 176 8.3.1 176 8.3.2 178 9 182 9.1 183 9.1.1 183 9.1.2 186 9.2 194 201 10 202 10.1 203 10.2 205 10.3 206 10.4 207 10.5 212 10.5.1 213 10.5.2 215 10.5.3 217 10.6 219 10.6.1 221 10.6.2 222 11 227 11.1 228 11.1.1 229 11.1.2 231 11.2 234 11.2.1 234 11.2.2 236 11.2.3 239 12 243 12.1 244 12.2 249 Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur des Erzählten oder Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlung, Geschehen und ‚Plot‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epik analysieren-- Beispiele und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem . . . . . . . . . . . . Kontext eines literarischen Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doña Perfecta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbezügliches Erzählen - Julio Cortázar: Continuidad de los parques . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenz 3: Literarische Texte theorie- und methodenorientiert interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Text, Autorschaft und Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze . . Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Frühe Philologie in Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marxistische Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungen als ‚Sitz im Leben‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feldtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rezeption literarischer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptions- und Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptionsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturalismus und Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff ‚Struktur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der strukturalistische Umgang mit Texten . . . . . . . . . . . . . . . Poststrukturalistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur, Macht und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies . . . Inhalt 7 12.3 252 12.4 255 12.4.1 255 12.4.2 260 12.5 262 12.6 265 270 13 271 13.1 273 13.2 276 13.3 281 13.4 283 13.5 286 14 290 14.1 291 14.2 291 14.3 293 14.3.1 293 14.3.2 295 14.3.3 299 14.4 300 14.4.1 300 14.4.2 302 14.4.3 305 308 312 Postkoloniale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung und Zeugenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung . . . . . . . . . . . Life writing und Testimonial-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediale Simulakren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ecocrítica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenz 4: Texte in anderen Medien analysieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Methoden der Filmtranskription . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tonebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übungen und Beispiele zur Filmanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pedro Almodóvar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsüberblick zu Todo sobre mi madre . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intertextualität, Intermedialität, Hybridgattung . . . . . . . . . . Körperlichkeit und Gender-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretationsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretation unter Gender-Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretation unter poststrukturalistischen Vorzeichen . . . Interpretation aus psychoanalytischer Perspektive . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt  Musterlösungen  Zusatzmaterialien Vorwort zur vierten, überarbeiteten und erweiterten Auflage Die modularisierten Studiengänge der Hispanistik und Lateinamerikanistik an den deutschsprachigen Universitäten haben in den letzten Jahrzehnten eine konzeptuelle Umgestaltung erfahren. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der sog. Bologna-Reform, die auf eine größere Vergleichbarkeit der Studienanforderun‐ gen abzielt, vor allem aber auch eine Entwicklung von fachlichen Wissensstän‐ den hin zu einem kompetenzorientierten Lehren und Lernen einfordert. Dem entspricht der Grundgedanke der Reihe bachelor-wissen, die auf die Vermittlung der grundlegenden wissenschaftlichen Theorien und Analysemethoden ausge‐ richtet ist. Der Stoff ist in 14 thematischen Einheiten auf die Kernlänge eines Semesters abgestimmt und ermöglicht die Strukturierung entsprechender uni‐ versitärer Lehrveranstaltungen. Die Herangehensweise setzt auf eine fachlich anspruchsvolle, zugleich jedoch verständliche Darstellung, die auf anschauliche Beispiele zurückgreift. Ziel ist dabei, ein Verständnis für zentrale fachliche Leit‐ fragen und Problemfelder zu schaffen, Techniken im Umgang mit literarischen und filmischen Texten zu vermitteln und einzuüben und durch die Möglichkeit der Selbstkontrolle bei all dem einen nachhaltigen Effekt zu erreichen. Einen besonderen Stellenwert haben in diesem Zusammenhang die zahlreichen Auf‐ gaben in den einzelnen Abschnitten, welche mit den zugehörigen und auf der website www.bachelor-wissen.de abrufbaren Musterlösungen einen lernförder‐ lichen Zugang zu den Themen des Bandes eröffnen. Auf die vier textanalytischen und gattungsspezifischen Einheiten 4, 6, 8 und 13 folgen zudem jeweils spezielle Übungs- und Vertiefungseinheiten, welche die vorgestellte Methodik exemplarisch anwenden und intensiviert Übungsgelegenheiten an‐ bieten. Eine weitere Vertiefung der behandelten Aspekte findet sich in Form von Zusatzmaterialien ebenfalls auf www.bachelor-wissen.de. Der vorliegende Band der Reihe bachelor-wissen eignet sich gleichermaßen für den akademischen Unterricht wie für das Selbststudium. Er versteht sich als eine möglichst universell einsetzbare Einführung in die analytische Methodik der hispanistischen und lateinamerikanistischen Literatur- und Filmwissenschaft. Darüber hinaus werden wesentliche literatur- und kul‐ turwissenschaftliche Theorien erläutert und bilden die Grundlage für den fachwissenschaftlich kompetenten Umgang mit Texten in den weiteren Stu‐ dienabschnitten. Die vorliegende vierte Auflage wurde sorgfältig aktualisiert, überarbeitet und um umfangreiche Partien erweitert. Augsburg / Freiburg i.Br., Januar 2023 Rotraud v. Kulessa, Maximilian Gröne und Frank Reiser Kompetenz 1: Literaturwissenschaftlich denken und arbeiten Überblick 1 Begriff ‚Literatur‘ Inhalt 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ 1.2 Literatur medial In diesem ersten Kapitel beschäftigen wir uns mit der Definition von ‚Lite‐ ratur‘ als Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft. Wir ziehen dazu Beispieltexte aus der spanischsprachigen Literatur heran und suchen not‐ wendige oder typische Eigenschaften von Literatur. Anschließend lernen Sie einige medientheoretische Grundlagen von Literatur als Schrift-Kunst kennen. Etymologie des Wortes ‚Literatur‘ ‚Schöne Literatur‘ Ästhetik Sprache Roman Jakobson Literarizität Aufgabe 1.1 Text 1.1 Miguel de Cervantes: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605) 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ Zu Beginn unserer Ausführungen wollen wir uns dem Gegenstand unseres Stu‐ diums zuwenden. Was ist eigentlich Literatur? Diese Frage, die auf den ersten Blick geradezu banal erscheinen mag, stellt sich auf den zweiten Blick als über‐ aus komplex dar. Widmen wir uns in einem ersten Schritt der Etymologie (Her‐ kunft) des Wortes: Literatur, span. literatura, stammt aus dem Lateinischen: litteratura = das Geschriebene, Schrifttum. Halten wir fest: Ursprünglich be‐ zeichnet der Begriff ‚Literatur‘ alle schriftlichen Äußerungen und schließt mündliche Äußerungen dagegen aus. Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich der Begriff von einer materiellen Dimension hin zu einer qualitativen. Unter Literatur wurde zunehmend die ‚schöne Literatur‘ verstanden, die wiederum mit dem Begriff der ‚Dichtung‘ konkurrierte. Diese beiden Begriffe ihrerseits implizieren Definitionskriterien: so beinhaltet der Begriff ‚schöne Literatur‘ den Aspekt der Ästhetik; ‚Dichtung‘ wird oft mit der Dichte der Sprache in Zusam‐ menhang gebracht. Ein weiteres Kriterium wäre so der Umgang mit der Spra‐ che. In diesem Sinne stellte der Linguist Roman Jakobson 1921 folgende Frage: „Was macht aus einer sprachlichen Nachricht ein Kunstwerk? “ Der Unter‐ schied zwischen Literatur und Dichtung zu umgangssprachlichen Texten liegt also laut Jakobson in ihrem ‚Kunstwerkcharakter‘, der mit dem Begriff der ‚Li‐ terarizität‘ umschrieben wird. Wir wollen unsere Überlegungen zum Literatur‐ begriff nun fortsetzen, indem wir uns einer Reihe von Texten zuwenden. ? Lesen Sie folgende Texte kurz an und überlegen Sie, welche von ihnen Sie zur Literatur im engeren Sinne zählen würden. Überlegen Sie sich weitere Unterscheidungskriterien neben den bereits angeführten. 1 En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme, no ha mucho tiempo que vivía un hidalgo de los de lanza en astillero, adarga antigua, rocín flaco y galgo corredor. Una olla de algo más vaca que carnero, salpicón las más noches, duelos y quebrantos los sábados, lantejas los viernes, algún palomino de 5 añadidura los domingos, consumían las tres partes de su hacienda. El resto della concluían sayo de velarte, calzas de velludo para las fiestas, con sus pantuflos de lo mesmo, y los días de entresemana se honraba con su vellorí de lo más fino. Tenía en su casa una ama que pasaba de los cuarenta y una sobrina que no llegaba a los veinte, y un mozo de campo y plaza que así ensillaba el rocín como tomaba 10 la podadera. Frisaba la edad de nuestro hidalgo con los cincuenta años. Era de complexión recia, seco de carnes, enjuto de rostro, gran madrugador y amigo de la caza. Quieren decir que tenía el sobrenombre de “Quijada”, o “Quesada”, que en esto hay alguna diferencia en los autores que deste caso escriben, aunque por conjeturas verosímiles se deja entender que se llamaba “Quijana”. 12 1 Begriff ‚Literatur‘ Text 1.2 Guillermo de Torre: Paisaje plástico (1919) 15 Pero esto importa poco a nuestro cuento: basta que en la narración dél no se salga un punto de la verdad. Es, pues, de saber que este sobredicho hidalgo, los ratos que estaba ocioso, que eran los más del año, se daba a leer libros de caballerías, con tanta afición y gusto, que olvidó casi de todo punto el ejercicio de la caza, y aun la administración de 20 su hacienda. Y llegó a tanto su curiosidad y desatino en esto, que vendió muchas hanegas de tierra de sembradura para comprar libros de caballerías en que leer, y así, llevó a su casa todos cuantos pudo haber dellos; y de todos, ningunos le parecían tan bien como los que compuso el famoso Feliciano de Silva, porque la claridad de su prosa y aquellas entricadas razones suyas le parecían de perlas, 25 y más cuando llegaba a leer aquellos requiebros y cartas de desafíos, donde en muchas partes hallaba escrito: La razón de la sinrazón que a mi razón se hace, de tal manera mi razón enflaquece, que con razón me quejo de la vuestra fermosura. Y también cuando leía: … los altos cielos que de vuestra divinidad divinamente con las estrellas os fortifican, y os hacen merecedora del merecimiento que merece la vuestra 30 grandeza. Con estas razones perdía el pobre caballero el juicio, y desvelábase por entenderlas y desentrañarles el sentido, que no se lo sacara ni las entendiera el mesmo Aristóteles, si resucitara para sólo ello. (Cervantes: 2008, 113 f.) (de Torre: 1919, 160) 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ 13 Abb. 1.1 Juan de Jáuregui: Miguel de Cervantes (1600) Text 1.3 Cortázar, Julio: Situación de la novela (1950) Text 1.6 El País, 18. 12. 2008 1 Alguna vez he pensado si la literatura no merecía considerarse una empresa de conquista verbal de la realidad […] cada libro lleva a cabo la reducción a lo verbal de un pequeño fragmento de realidad […] Es así que mientras las artes plásticas ponen nuevos objetos en el mundo […] la literatura se va apoderando 5 paulatinamente de las cosas-[…] (Cortázar: 1950, 223) - - 1 Yo sé un himno gigante y extraño que anuncia en la noche del alma una aurora, y estas páginas son de este himno cadencias que el aire dilata en las sombras. - 5 Yo quisiera escribirlo, del hombre domando el rebelde, mezquino idioma, con palabras que fuesen a un tiempo suspiros y risas, colores y notas. - 9 Pero en vano es luchar; que no hay cifra capaz de encerrarle, y apenas ¡oh hermosa! si teniendo en mis manos las tuyas pudiera, al oído, cantártelo a solas. (Bécquer: 2009, 109) - - 1 R Í O S . ¿Dónde estamos? S O L A N O . En un teatro… R Í O S . ¿Seguro? S O L A N O .-… o algo parecido. 5 R Í O S . ¿Otra vez? S O L A N O . Otra vez. R Í O S . ¿Esto es el escenario? S O L A N O . Sí. R Í O S . ¿Y eso es el público? 10 S O L A N O . Sí. R Í O S . ¿Eso? S O L A N O . ¿Te parece extraño? R Í O S . Diferente… S O L A N O . ¿Diferente? (Sinisterra: 2008, 125) - - 1 Una mezcla de realismo de la vida cotidiana y de mundo mágico, en palabras de la también escritora Ángeles Caso, definirían la última novela de Matute. Ambas dialogaron en tono distendido sobre la literatura y la vida, dos conceptos 14 1 Begriff ‚Literatur‘ Text 1.4 Gustavo Adolfo Bécquer: Rimas (1868) Abb. 1.2 Gustavo Adolfo Bécquer (1836 - 1870) Text 1.5 José Sanchis Sinisterra: Ñaque o de piojos y actores (1980) Suche nach Kriterien Text 1.7 Jorge Luis Borges: La Biblioteca de Babel (1942) que significan la misma cosa, a juicio de Ana María Matute. “La literatura es mi 5 mundo y, en realidad, podría decir que la literatura es la vida de verdad”, remachó la novelista y académica. Situada la trama en la época de la Segunda República, en el ambiente de una familia burguesa, el contraste entre un realismo duro y unas fabulaciones mágicas a través de sus lecturas marcan la formación sentimental de la pequeña Adriana, enamorada de Gavrila, un niño ruso, hijo 10 de una bailarina. “La niña protagonista vive en función de sus lecturas, tal como hice yo que siempre fui una rebelde. Yo tenía auténtica pasión por los cuentos”, recordó Ana María Matute que destacó, una y otra vez, la importancia de la infancia en todas las personas. “La infancia nos marca de una forma tremenda y yo he intentado mantener la niña que fui”, manifestó muy convencida. (El País, 18. 12. 2008) - - 1 El universo (que otros llaman la Biblioteca) se compone de un número in‐ definido, y tal vez infinito, de galerías hexagonales, con vastos pozos de ventilación en el medio, cercados por barandas bajísimas. Desde cualquier hexágono se ven los pisos inferiores y superiores: interminablemente. La distribución de las galerías es invariable. Veinte anaqueles, a cinco largos 5 anaqueles por lado, cubren todos los lados menos dos; su altura, que es la de los pisos, excede apenas la de un bibliotecario normal. Una de las caras libres da a un angosto zaguán, que desemboca en otra galería, idéntica a la primera y a todas. A izquierda y a derecha del zaguán hay dos gabinetes minúsculos. Uno permite dormir de pie; otro, satisfacer las necesidades finales. 10 Por ahí pasa la escalera espiral, que se abisma y se eleva hacia lo remoto. En el zaguán hay un espejo, que fielmente duplica las apariencias. Los hombres suelen inferir de ese espejo que la Biblioteca no es infinita (si lo fuera realmente ¿a qué esa duplicación ilusoria? ); yo prefiero soñar que las superficies bruñidas figuran y prometen el infinito […] La luz procede de unas frutas esféricas 15 que llevan el nombre de lámparas. Hay dos en cada hexágono: transversales. La luz que emiten es insuficiente, incesante. (Borges: 1999, 105-106) Ein erster Blick auf die sieben Texte führt dazu, dass wir einige spontan, ohne sie überhaupt eingehend zu lesen, in die Kategorie Literatur einordnen, so die Texte 1.4 und 1.5, die uns aufgrund ihrer Anordnung und des Schriftbildes sofort an ein Gedicht (1.4) und ein Drama (1.5) denken lassen. Diese spontane Einordnung verdanken wir wiederum unserem Vorwissen (vgl. hermeneuti‐ scher Zirkel, Einheit 4.1), das unser Bewusstsein für literarische Gattungen (vgl. Einheit 2.2) beeinflusst. Ähnlich verhält es sich mit Text 1.6. Hier verrät uns die Quellenangabe, dass es sich um einen Zeitungsartikel handelt, den wir spontan nicht zur Literatur zählen würden. Unsere Entscheidung wird in 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ 15 Paratext Zweck / Funktion Inhalt Kalligramm Autonomie: Eigengesetz‐ lichkeit der Kunst Komposition und Struktur allen drei Fällen durch textexternes Wissen bestimmt bzw. durch eine Form von Paratext (vgl. Einheit 11.2.1), d. h. in diesem Fall einen für sich sprechen‐ den Titel, nämlich den einer bekannten spanischen Tageszeitung. Es stellt sich natürlich die Frage, warum ein Presseartikel für uns nicht zur ‚Literatur‘ zählt. Entscheidend ist hier wohl der Aspekt der Erwartung der Leserschaft, die mit der Presse vor allem den Zweck der Information verbindet. Ein weiteres Un‐ terscheidungskriterium wäre also der Zweck oder die Funktion einer schrift‐ lichen Äußerung bzw. eines Textes. Um diesen für die einzelnen Texte zu klären, müssen wir uns nun jeweils ihrem Inhalt zuwenden. In allen sieben Texten geht es im weiteren Sinne um die Literatur selbst, um das Schreiben, das Lesen, das Erzählen. Der Inhalt ist als Unterscheidungskriterium also erst einmal nicht sachdienlich. Es kommt hinzu, dass sich der Sinn der Texte 1.2 und 1.4 nicht beim ersten Lesen enthüllt. Erkennen wir letzteren (d. h. Text 1.4) zwar aufgrund formaler Kriterien und aufgrund des Paratextes, nämlich des Titels (Rimas), sofort als Literatur, erweist sich Text 1.2 als Problem. Nur vor dem Hintergrund des Titels in Zusammenhang mit literaturhistorischem Wissen erschließt sich der Sinn bzw. Unsinn und damit der Zweck dieses Textes. Der Autor Guillermo de Torre, geboren 1900 in Madrid und gestorben 1971 in Buenos Aires, war Mitglied der Generación del 27 und der Bewegung der ultraístas, eines Zusammenschlusses spanischer Dichter, die auch in die spanische Literatur die europäischen Avantgarde-Bewegungen wie den Fu‐ turismus, den Dadaismus und vor allem den Surrealismus einbringen wollten. Der Titel des Gedichtes von Guillermo de Torre, El paisaje plástico, verweist auf den Zusammenhang von Literatur und bildender Kunst. Es handelt sich bei dem Text um ein so genanntes Kalligramm (caligrama, m.), eine Gedicht‐ form, die auf der Bedeutungsebene mit Wort und Bild spielt, indem Schriftbild und Textbedeutung sich gegenseitig bedingen. Wie bei den dadaistischen Collagen und den Werken der Futuristen handelt es sich um ästhetische Ex‐ perimente, bei denen die formale Neuerung und die Autonomie der Ästhetik im Vordergrund stehen und die somit Kunst und ihre Eigengesetzlichkeit thematisieren. Auch in Text 1.4 steht die Dichtung selbst im Mittelpunkt. Gustavo Adolfo Bécquer (1836-1870) kündigt in dem Einleitungsgedicht zu seinen Rimas (1871), die er in Anlehnung an den Canzoniere Petrarcas ver‐ fasste, eine neue Dichtungsauffassung an und problematisiert dabei insbe‐ sondere die Rolle von Sprache als Universalmedium (vgl. Strophen 2 und 3). Text 1.2 und Text 1.4 haben eines gemeinsam: die Sprache steht im Mittel‐ punkt und verweist gleichsam auf sich selbst. Das Gedicht von Bécquer ist in hohem Maße durchkomponiert bzw. strukturiert. Zunächst durch die Verse, die den Text rhythmisieren (hier im Wechsel von Zehn- und Zwölfsilblern, span. decasílabo und dodecasílabo), dann durch die Strophen (drei Quartette, span. cuartetos), schließlich durch den Reim, einen assonantischen Reim in den geradzahligen Versen (zur lyrischen Form siehe Einheit 4.4). Weiter fallen 16 1 Begriff ‚Literatur‘ Sprache Poetizität Abweichung Deviationsstilistik im Formalismus ! Formalismus (‚Formale Schule‘): zwischen 1914 und 1930 in Moskau und Leningrad tätige Gruppe von Sprach- und Literaturwissenschaftlern Problematik der ‚Abweichung‘ Besonderheiten in der sprachlich-stilistischen Gestaltung auf. So begegnen wir Metaphern wie „la noche del alma“ für die Stimmung des lyrischen Ichs oder Parallelismen wie in Vers 8 („suspiros y risas, colores y notas“). Weiterhin fällt in Vers 10 („¡oh hermosa! “) eine Anrufung (Apostrophe, span. apóstrofe) ins Auge, die die Geliebte des lyrischen Ichs als Adressatin des Gedichts zu erkennen gibt. Allen diesen Eigenheiten ist gemeinsam, dass der Text eine eigentümliche, von der ‚Normalsprache‘ abweichende Sprache verwendet, die sich nicht darauf beschränkt, den Inhalt des Textes darzustellen, sondern auch eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Art und Weise dieser Darstellung lenkt. Diese Eigenschaft von Texten bezeichnet man üblicherweise mit dem Begriff Poetizität (poeticidad, f.). Das Moment der Abweichung als Kennzeichen literarischer Texte ist durch‐ aus naheliegend. Es begegnet uns in der verbreiteten Vorstellung, ‚Literatur‘ sei im Gegensatz zu alltäglicher Sprachverwendung eine Form stilistisch an‐ spruchsvollen, ‚guten‘ Schreibens - insgesamt gesehen zumindest, wobei es freilich auch ‚minderwertige‘ Literatur gibt, die diesen Anspruch zwar nicht einlöst, aber dennoch an ihm gemessen werden kann und wird. Auch Litera‐ turwissenschaftler haben auf diesen Gesichtspunkt abgehoben, am nachhal‐ tigsten die russischen Formalisten. Für sie war es die wesentliche Aufgabe von Literatur, ästhetische Wahrnehmung zu ermöglichen und zu schulen, den Leser ein ‚neues Sehen‘ zu lehren. Voraussetzung dafür war, die gewohnten, ‚automatisierten‘ Wahrnehmungsmuster mit gezielter Verfremdung und Er‐ schwerung der Form zu durchbrechen. Unter weitgehender Absehung vom Inhalt verstanden die Formalisten literarische Texte als Summe der ‚Verfah‐ ren‘, d. h. (verfremdender) Bearbeitungen des sprachlichen Ausdrucks (was Klang, Bildlichkeit, Rhythmus, Reim ebenso einschließt wie Metaphorik, Satzbau und Erzähltechniken). Dahinter steckt der Gedanke, dass man ein Medium - also hier Sprache, aber die Theorie galt auch etwa für die bildende Kunst und ihre Wahrnehmung - ‚spürbar‘ macht, wenn man von der Öko‐ nomie des praktischen Gebrauchs abweicht, also etwa Sprache nicht so ver‐ wendet, wie sie im Alltag benutzt wird, sondern anders, neu - wie dies Bécquers und de Torres Gedichte tun. Innovation und Abweichung wird so zum entscheidenden Wesensmerkmal ‚poetischer‘ Sprache und damit der Literatur. Wissen wir nun, was Literatur kennzeichnet? Das Kriterium der Abwei‐ chung und Innovation besitzt den bereits erwähnten Vorteil, literarische Texte mit einem formalen Anspruch zu assoziieren, und entspricht zudem einer Menge insbesondere lyrischer Texte; indes hat es Schwächen, die nicht übersehen werden dürfen. Wenn nämlich die Formalisten die innovative Überbietung gewohnter sprachlicher Muster - und das heißt: der jeweils vorhergehenden, etablierten literarischen Verfahren - als Wesen und Auftrag der Literatur bestimmen, dann wird deutlich, dass wir erst dann entscheiden 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ 17 ‚Imaginatives‘ Schreiben: Fiktionalität können, ob ein Text ‚literarisch‘ ist, wenn wir wissen, ob und worin er sich von vorhergehenden literarischen Texten unterscheidet, deren Literarizität wir dann wiederum erst in Abgrenzung zur Tradition vor ihnen zu bestimmen haben und so weiter - man kommt so, streng genommen, an kein Ende. Zieht man stattdessen die ‚Alltagssprache‘ als Vergleichsfolie heran, so wird das Sprachempfinden des jeweiligen Lesers der Gegenwart zum ausschlaggeben‐ den Kriterium. Im Falle Borges’, dessen Texte in relativer zeitlicher Nähe zu uns stehen, mag die dadurch bedingte Verzerrung noch gering sein, bei sehr alten Texten zeigt sich rasch, dass der Leser der Gegenwart sehr viel schwerer zu entscheiden vermag, ob ein Text von der damaligen ‚Normalsprache‘ abweicht, also ‚poetisch‘ ist oder nicht (wie z. B. im Fall von Text 1.1) - ganz zu schweigen von anderen Variablen einer jeden Sprache, in der Terminologie der Linguistik etwa diatopische (d. h. regionale), diastratische (sozial-schich‐ tenspezifische) oder diaphasische (anlassabhängige) Varietäten, die es schwer machen, eine ‚Norm‘ und damit die ‚poetische‘ Abweichung festzustellen. Und selbst wenn es ginge, macht einerseits manche Abweichung noch keine Literatur (Dialekte beispielsweise), andererseits gibt es auch Literatur, die keine wesentliche sprachliche Verfremdung erkennen lässt, wie zum Beispiel Text 1.7. Wer diese Texte liest, wird bei hinreichender Kenntnis des Spanischen zunächst kaum jenen sprachlichen oder formalen Widerstand spüren, die unser erster Ansatzpunkt auf der Suche nach Literarizität gewesen war. Wenn wir Text 1.3 und 1.1 miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass die Texte sich inhaltlich beide mit Literatur befassen. Der Text 1.3 untersucht das Verhältnis von Literatur und Realität, während Text 1.1 von der Beziehung zwischen LeserIn und Text handelt. Der Beginn von Text 1.1 deutet aufgrund der entfernt an Märchen erinnernden Erzählweise allerdings gleich darauf hin, dass es den besagten Hidalgo (Kleinadligen) in der Realität nicht gibt, wohl aber die angesprochenen Werke, die er gelesen hat. Auch wenn der fiktive Hidalgo selbst nicht zwischen der Realität und der Fiktion der Romane, die er gelesen hat, unterscheidet, ist dieser Gegensatz doch nicht unerheblich: Auch Text 1.6 handelt von realen Büchern, verzichtet aber als journalistischer Text darüber hinaus auf alles, was seine Glaubwürdigkeit als zweifelhaft erscheinen lassen könnte, wohingegen wir mit Text 1.1 spontan eine erfun‐ dene - und damit literarische - Geschichte assoziieren. Dies ergibt sich aus dem ritterromantypischen Titel und Textanfang sowie aus der Tatsache, dass der Erzähler seine Geschichte als cuento, also als literarische Gattung, ankündigt. Der Text von Cervantes ist im strengen Sinne ‚unwahr‘, erfunden, wie dies für viele andere literarische Texte gilt und von Cervantes im Text selbst auch problematisiert wird („[…] aunque por conjeturas verosímiles se deja entender que se llamaba Quejana. Pero esto importa poco a nuestro 18 1 Begriff ‚Literatur‘ Definition Fiktivität und Fiktionali‐ tät nicht immer deckungs‐ gleich Fiktionalität als nur relative Kategorie cuento; basta que en la narración dél no se salga un punto de la verdad“). Ihr Kennzeichen ist somit Fiktionalität. Fiktionalität (ficcionalidad, Adj. fiktional, ficcional) bezeichnet die Dar‐ stellungsweise eines Textes, der seinen Inhalt als nicht real existierend präsentiert bzw. seinen Gegenstand erst im Sprechakt (z. B. der Erzählung) selbst schafft. Fiktionalität kennzeichnet den Status einer Aussage. Fiktivität (fictividad, Adj. fiktiv, fictivo, ficticio) bezeichnet die Existenz‐ weise von erfundenen, nicht in der Wirklichkeit existierenden Gegenstän‐ den. Fiktivität kennzeichnet den Status des Ausgesagten. Cervantes’ Text ist fiktional, da die von ihm erzählte Welt nicht unabhängig von ihm existiert, er ist aber nicht fiktiv, denn den Text gibt es schließlich in unserer Realität. Die Hauptfigur, Don Quijote, hingegen ist fiktiv, wenngleich der Erzähler vorgibt, sie habe tatsächlich gelebt. Diese Unterscheidung ist wichtig, da zwar die meisten fiktionalen Texte auch ausschließlich fiktive Figuren darstellen, aber eben doch nicht alle: Historische Romane etwa las‐ sen - teilweise oder durchgehend - realgeschichtliche, also nicht-fiktive Per‐ sonen auftreten, erzeugen aber die erzählte Welt mehrheitlich selbst, sei es in Gestalt nicht verbürgter Handlungsdetails, sei es durch psychologische In‐ nenansichten einer historischen Person, sie sind also fiktional. Umgekehrt ist nicht jeder Text, in dem fiktive Personen eine Rolle spielen, deswegen gleich fiktional - eine literaturwissenschaftliche Studie wie z. B. Text 1.6 etwa ver‐ steht sich natürlich als Sachtext, d. h. als nicht-fiktionaler, referenzieller Text (texto referencial), auch wenn in ihr fiktive Figuren eine wichtige Rolle spielen. Ein mögliches Kriterium für Literarizität eines Textes ist demnach allein seine Fiktionalität, nicht die Fiktivität seiner Bestandteile. Nun ist es nicht immer so einfach, Fiktionalität festzustellen. Meist ist die Entscheidung nicht textintern, sondern allenfalls unter Rückgriff auf textexternes Wissen über die historische Wirklichkeit oder zumindest auf die oben bereits erwähnten Paratexte wie die klärende Angabe „Roman“ auf dem Titelblatt zu treffen. Mitunter kann sich der Fiktionalitätsstatus eines Textes sogar ändern: Die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments etwa war über lange Zeit für den abendländischen Kulturkreis zweifellos ein nicht-fiktionaler Sachtext, sogar die ‚Wahrheit‘ schlechthin, heute hingegen wird er auch als Fiktion gelesen und wohl von der Mehrheit der LeserInnen jedenfalls als nicht im wörtlichen Sinne ‚wahr‘ verstanden. (Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass die Entscheidung über Fiktionalität oder Referenzialität, so schwierig sie sein mag, mitunter alles andere als ‚egal‘ ist.) Lassen Sie uns jetzt noch einmal einen Blick auf Text 1.2 werfen, den wir mit dem Kriterium der ‚Abweichung‘ gekennzeichnet hatten. Formal ist der 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ 19 Entpragmatisierung Funktionale statt essenzia‐ listischer Kriterien Ready-mades Abb. 1.3 Marcel Duchamp: Fountain (1917) Aufgabe 1.2 Text von einem alltagssprachlichen Gebrauch extrem weit entfernt. Darüber hinaus drängt sich uns als LeserInnen die Frage auf: „Was wird mit diesem Text eigentlich bezweckt? “ Während etwa Julio Cortázars Text sich mühelos als Abhandlung über die Beziehung von Literatur und Realität zu erkennen gibt, hat Text 1.2, von einem gewissen provokativen Effekt einmal abgesehen, zunächst keinen ersichtlichen Zweck. Er ist ‚entpragmatisiert‘. Die Bestimmung von Literatur als Summe derjenigen Texte, die unmittel‐ baren pragmatischen, also Sach- und Handlungskontexten enthoben sind, stimmt in der Tat gut mit dem gewöhnlichen Verständnis von Literatur über‐ ein. Im Gegensatz zu einem Reiseführer über Barcelona würde wohl niemand die Kriminalromane von Manuel Vásquez Montalbán, die Serie Carvalho, her‐ anziehen, um sich über diese Stadt zu informieren (wenngleich das durchaus denkbar wäre). Allerdings bedeutet dieser Ansatz, dass wir nicht mehr Merk‐ male am Text selbst angeben können, die ihn als literarisch kennzeichnen, sondern wir uns vielmehr auf etwas außerhalb seiner, nämlich den Ge‐ brauchskontext, berufen, in dem er steht: Wir wechseln von essenzialisti‐ schen, also das Wesen eines Textes betreffenden, zu funktionalen Kriterien und erkaufen uns relative Trennschärfe um den Preis, nicht mehr am Text als solchem die Literarizität festzumachen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die letzte Feststellung sind sog. Ready-mades (span. objeto encontrado oder confeccionado). Wie der Begriff bereits andeutet, handelt es sich hierbei um vorgefertigte bzw. vorgefundene Gegenstände, die - überarbeitet oder nicht, neu kombiniert oder völlig un‐ verändert - aus dem praktischen in einen künstlerischen Kontext ‚verpflanzt‘ werden. Konjunktur hatte dieses Prinzip besonders zur Zeit der künstleri‐ schen Avantgarden von 1910 bis 1930, aber es besteht beispielsweise als Ob‐ jektkunst bis in die Gegenwart fort. Eines der berühmtesten Ready-mades der Kunstgeschichte, Fountain, zeigt ein Urinal, das, sieht man einmal von der möglicherweise notwendigen Demontage ab, ohne erkennbare materielle Veränderung durch den Künstler Marcel Duchamp zur Skulptur umgewandelt wurde. Es ist klar, dass mit Erreichen einer Kunstauffassung, die diese Art von künstlerischem Schaffen ermöglicht, die Vorstellung von im Kunstwerk in‐ härenten Wesensmerkmalen überholt wird, und das gilt für alle Kunstformen, auch die Literatur, die natürlich das Ready-made ebenfalls kennt. Die für Duchamps Fountain offensichtlich besonders zentrale Frage ist: Durch welche Faktoren (außer der Position des Urinals und dem Verzicht auf Anschlüsse, die einen ‚pragmatischen‘ Umgang wenig sinnvoll erscheinen lassen) wird eine ‚ästhetische‘ Aufnahme von Artefakten ausgelöst? ? Unterbrechen Sie für einen Moment die Lektüre und beantworten Sie für sich die zuletzt gestellte Frage in Bezug auf Literatur. 20 1 Begriff ‚Literatur‘ Auslösende Faktoren ‚ästhetischer‘ Aufnahme Medialer und institutionel‐ ler Kontext ‚Autor-Funktion‘ (Michel Foucault) Abb. 1.4 Jesse Bransford: Head (Michel Foucault) Die erste und augenscheinlich banalste Antwort lautet, dass Texte als Litera‐ tur rezipiert werden, wenn die jeweilige Umgebung sie als solche kennzeich‐ net; so macht beispielsweise der Buchdeckel, auf dem „Roman“ steht, den Unterschied, oder auch der mündliche Vortrag bei einer Lesung in einer Buchhandlung, die Aufführung in einem Theater usw. Es gibt also bestimmte mediale und institutionelle Kontexte, die gemäß einer (meist unausgespro‐ chenen) kulturellen Vereinbarung Entpragmatisierung und ästhetischen Um‐ gang signalisieren. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Instanz des Urhebers, des Autors, für die Kategorisierung eines Textes. Mit ‚Autor‘ meinen wir üb‐ licherweise dasjenige Individuum, das einen Text geschrieben hat, aber auf diesen objektiven Zusammenhang beschränkt sich der Begriff nicht, wie der Philosoph Michel Foucault (1926-1984) in seinem berühmten Aufsatz „Was ist ein Autor? “ von 1969 ausführt. Ihm geht es in kritischer Absicht darum zu zeigen, wie der ‚Autor‘ zur abstrakten Instanz mit grundlegender Bedeutung für die Beurteilung eines Textes wird. So ist es für einen Text nicht ohne Belang, ob er, sagen wir: Cervantes, Borges oder einem anonymen Autor zugeschrieben wird, selbst wenn sich der Text ‚objektiv‘ dadurch nicht ändert. Denn er ordnet sich damit in ein (typischerweise stimmiges oder in seiner Entwicklung erklärbares) Gesamtwerk ein, das einem vernunftbegabten und spezifisch motivierten Individuum entspringt. Der ‚Autor‘ ist nicht nur diese reale Person, sondern ein Konstrukt der Leserschaft, das auf einen Text be‐ zogen wird, seine Einordnung, Gruppierung und Interpretation ermöglicht und die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Textsinns vereinfacht (was Foucault die „Verknappung des Diskurses“, d. h. der Menge des Sagbaren, nennt). Diese ‚Autor-Funktion‘ als wesentlicher Bestandteil literarischer Texte ist ein Phänomen der Neuzeit - im Mittelalter waren literarische Texte ohne Autorzuschreibung gültig (man fragte nicht nach dem Individuum, das einen Text verfasst hatte), im Unterschied zu anderen Textsorten, etwa me‐ dizinischen Traktaten, die sich zumindest auf eine (meist antike) Autorität berufen mussten, um als gültig anerkannt zu werden. Für unsere Fragestel‐ lung lässt sich diesen Überlegungen entnehmen, dass zum ‚literarischen Werk‘ wird, was von einem ‚Autor‘ kommt - und nicht nur umgekehrt jemand zum Autor wird, weil er ein literarisches Werk geschrieben hat. Ein banaler Text, ein kurzer handschriftlicher Tagebucheintrag etwa oder ein Brief, wie Sie und ich ihn verfasst haben könnten, kann literarische Weihen erhalten, wenn man feststellt, dass er von García Lorca stammt; er wird dann ediert, eventuell von LiteraturwissenschaftlerInnen kommentiert und so fort. Selbst wenn wir nicht biographisch ausgerichtet arbeiten, sondern beispielsweise textimmanent an literarische Texte herangehen, so bleibt der Autor - nicht die reale Person, sondern das Konstrukt, die ‚Funktion‘ - unter Umständen für die Frage entscheidend, was überhaupt unser Gegenstand ist. 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ 21 Aufgabe 1.3 Leerstelle/ Unbestimmtheit (Offenheit, span. apertura) ‚Literatur‘: Kategorie mit klarem Zentrum und un‐ scharfen Rändern Text 1.8 Wolfgang Iser: Die Appell‐ struktur der Texte (1971) ? Lesen Sie nun folgenden Text von Wolfgang Iser und versuchen Sie ein weiteres Kriterium für die Literarizität von Texten anzuführen. 1 […] Wir aktualisieren den Text über die Lektüre. Offensichtlich aber muss der Text einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten gewähren, denn er ist zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Lesern immer ein wenig anders verstanden worden-[…]. 5 Wie ist das Verhältnis von Text und Leser beschreibbar zu machen? Die Lösung soll in drei Schritten versucht werden. […] In einem dritten Schritt müssen wir das seit dem 18. Jahrhundert beobachtbare Anwachsen der Unbe‐ stimmtheitsgrade in literarischen Texten zu klären versuchen. Unterstellt man, dass Unbestimmtheit eine elementare Wirkungsbedingung verkörpert, so fragt 10 es sich, was ihre Expansion - vor allem in modernerer Literatur besagt. Sie verändert ohne Zweifel das Verhältnis von Text und Leser. Je mehr die Texte an Determiniertheit verlieren, desto stärker ist der Leser in den Mitvollzug ihrer möglichen Intention eingeschaltet. (Iser: 1971, 8) Kehren wir noch einmal zurück zu Text 1.2 und versuchen wir Isers Überle‐ gungen darauf anzuwenden. In der Tat erscheint das Werk formal unseren Lesegewohnheiten gegenüber zwar als abweichend, ist jedoch in sich ge‐ schlossen. Nur der Sinn offenbart sich uns nicht spontan; jeder von uns könnte aus dem Text etwas anderes herauslesen. Wolfgang Iser spricht in diesem Zusammenhang von den ‚Leerstellen‘ bzw. der ‚Unbestimmtheit‘ eines Textes. Ein weiteres Kriterium für die Literarizität eines Textes wäre also sein Gehalt an Leerstellen (siehe Einheit 10.6.2) bzw. sein Grad an Interpretierbarkeit. Dieses Kriterium gilt laut Iser vor allem für moderne Literatur, doch auch Cervantes’ Don Quijote lässt sich unterschiedlich lesen, nämlich z. B. als Ge‐ schichte über die Abenteuer des Don Quijote, als Parodie auf den Ritterroman (vgl. Einheit 8.1) oder als Reflexion über die Literatur und das Lesen im All‐ gemeinen, d. h. als autoreferenzieller (auf sich selbst verweisender) oder me‐ taliterarischer (die Literatur generell thematisierender) Roman. Im Text sind alle drei Möglichkeiten und darüber hinaus auch noch viele andere angelegt. Es handelt sich hierbei also um einen sehr offenen, ‚unbestimmten‘ Text (texto abierto). Unsere Beispiele haben gezeigt, dass ‚Literatur‘ eine Kategorie mit recht unscharfen Grenzen ist. Die provisorischen Charakteristika, die wir anhand der Textbeispiele vorgeschlagen haben, liefern keine absoluten Kriterien in dem Sinne, dass die Zugehörigkeit eines Textes zum Bereich des Literarischen überzeitlich und unabhängig von den verschiedenen Gesellschaften, die ihn gelesen haben oder lesen werden, feststünde: Was ‚poetische‘ Sprache ist, hängt von einer schwer zu bestimmenden, zudem historisch, sozial und sogar 22 1 Begriff ‚Literatur‘ Aufgabe 1.4 Intensiver vs. extensiver Literaturbegriff Extensiv verstanden: Literatur ist geschriebene Sprache individuell variierenden ‚Normalsprache‘ ab. Fiktionalität und Referenzialität sind, wie wir sahen, keine unveränderlichen Eigenschaften, und selbst wenn sie es wären, schiene es höchst problematisch, Fiktionalität zur Voraussetzung für Literarizität zu machen. Wie gehen wir beispielsweise mit einer Autobio‐ graphie wie Las confesiones de un pequeño filósofo von Azorín oder den zahl‐ reichen cuadros de costumbres der Romantik um, also Texten, die in häufig didaktischer Absicht die Sitten des einfachen Volkes auf dem Lande oder in der Stadt darstellen und damit referenziell sind? Heute sind sie in allen Lite‐ raturgeschichten verzeichnet. Dieser Umstand weist einmal mehr darauf hin, dass die Beurteilung von Texten und ihrer Wichtigkeit sehr davon abhängt, was bestimmte LeserInnen mit diesen bezwecken, warum und wie sie sie le‐ sen-- ein Kontextfaktor außerhalb des Textes selbst, wie wir im Zusammen‐ hang mit Text-Beispiel 1.2 bereits sahen. So klar die Kategorie ‚Literatur‘ im Alltagsgebrauch auch sein mag und so sehr die erwähnten Charakteristika auch auf viele ‚große‘ Werke (die ‚Klassiker‘) zutreffen mögen, so durchlässig zeigt sie sich an den Rändern (d. h. an untypischen Texten). Dies gilt umso mehr ab der Moderne (ungefähr ab der Mitte des 19. Jh.), mit der weniger ein klares Regelsystem im Sinne von Gattungspoetiken (siehe Einheit 2.2) als der Anspruch permanenter Neuerung zum Kennzeichen von Literatur wird und damit notwendigerweise auch die Grenzen des Literarischen immer wieder verschoben werden. ? Suchen Sie weitere - imaginäre oder Ihnen bekannte reale - Beispiel‐ texte, die gegen die Kriterien der Poetizität und der Fiktionalität zur Bestimmung von Literatur sprechen. 1.2 Literatur medial Bisher haben wir versucht, Literatur anhand bestimmter Eigenschaften von anderen, nicht-literarischen Schriftstücken abzugrenzen. Wir haben damit einen sog. intensiven Literaturbegriff vertreten. Manche Schwierigkeit lässt sich umgehen, wenn man dagegen einen extensiven, also ausgedehnten Lite‐ raturbegriff zugrunde legt, zu unserer Eingangsdefinition zurückkehrt und Literatur gemäß der Ursprungsbedeutung des Wortes als geschriebene Sprache versteht. Diese Definition umfasst ein ungleich größeres Textvolumen und freilich eine Unmenge von Schriftstücken, die gemeinhin kaum ‚Literatur‘ genannt würden (dabei, wie wir sahen, jedoch als Ready-made relativ leicht Literatur werden könnten), lenkt zugleich aber die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der bisher nicht erwähnt wurde und auch sonst häufig stillschwei‐ gend oder gar nicht beachtet wird: die Medialität von Literatur. 1.2 Literatur medial 23 Medium Aufgabe 1.5 Medialität jeder Wahrnehmung Linearität, Abstraktheit und Arbitrarität des Hier ist gleich ein klärendes Wort zum Begriff ‚Medium‘ angebracht. Er wird in zweierlei Bedeutung gebraucht. Wir bezeichnen (1) Datenträger wie Zelluloidfilme, DVDs oder serverbasierte Videostreams als „Medium“. Einen Spielfilm kann ich, die entsprechenden technischen Apparaturen vorausge‐ setzt, mit Hilfe aller genannten Datenträger rezipieren, ohne dass sich der Inhalt (das, was ich sehen und hören kann) deswegen ändert. Allerdings kann der Datenträger indirekt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Inhalt ausüben: so wurden durch die Publikation von Literatur in Massenmedien wie den auflagenstarken Tageszeitungen des 19. Jh. neue Le‐ serschichten mit ihren spezifischen Erwartungen erreicht und die Produktion durch die SchriftstellerInnen beschleunigt und auf kommerziellen Erfolg ausgerichtet. Der Roman am Ende des 19. Jh. ist ohne die Massendistribution in Tageszeitungen nicht denkbar, ebensowenig wie Videoblogs ohne freie Internetportale wie Youtube. - Wir bezeichnen (2) Zeichensysteme als Medien. Das Medium des Films beispielsweise sind bewegte Bilder und Töne, das von Literatur ist die geschriebene Sprache. Im Unterschied zur Bedeutung 1 ist hier der Inhalt nicht ohne Weiteres vom Medium abkoppelbar: Während es möglich ist, einen Roman ohne Informationsverlust als e-Book oder PDF auf dem Bildschirm zu lesen (Datenträgerwechsel), kann man ihn nicht eins zu eins ins Medium (Zeichensystem) des Films überführen (es sei denn, man würde das Quellmedium selbst übernehmen, indem man alle Seiten des Buchs abfilmte). Literaturverfilmung geht zugleich mit Informationsverlust und -zugewinn einher, ist Interpretation, und zwei Verfilmungen ein und desselben literarischen Textes werden stets deutlich voneinander abweichen. ? Versuchen Sie vor dem Weiterlesen, einige medienspezifische Grundeigenschaften von Literatur zu nennen. Der Vergleich mit anderen Me‐ dien (Zeichensystemen) wird Ihnen bei der Suche helfen, ebenso Ihre evtl. bereits erworbenen Grundkenntnisse der Linguistik. Auch wenn es uns bei der Lektüre eines fesselnd geschriebenen Romans oder bei der Betrachtung eines detailrealistischen Films so vorkommen mag, als ob wir dem Dargestellten unmittelbar begegnen, mitunter gleichsam darin ‚eintauchen‘ könnten - worin nach wie vor einer der Hauptreize der Rezep‐ tion gerade von Literatur und Film liegt -, so bleibt es ein unhintergehbares Faktum, dass zwischen uns und diesen Inhalten ein Medium steht und stehen muss: ‚Unmittelbar‘ dringt nichts in unsere Psyche ein (lassen wir religiöse oder parapsychologische Erlebnisse einmal beiseite), und das dazwischen liegende Medium ist nie völlig transparent. Für die Literatur als ‚Wortkunst‘ liegt das mediale Apriori, die vor jeder Poetik liegenden Ausdrucksbedingungen, zunächst einmal in der Bindung an 24 1 Begriff ‚Literatur‘ sprachlichen Zeichens (Ferdinand de Saussure) Signifikant und Signifikat Kultureller Code Sprache. Die Eigenschaften dieses Zeichensystems bestimmen die Eigen‐ schaften von Literatur mit. Der Begründer der strukturalistischen Sprach‐ wissenschaft, Ferdinand de Saussure (1857-1913), hat als zentrale Merkmale sprachlicher Zeichen ihre Linearität, ihre Abstraktheit und ihre Arbitrarität herausgestellt. Linear ist Sprache, weil ihre Ausdrucksseite (der Signifikant, span. significante, m., also Laute oder Buchstaben) aus aufeinanderfolgenden, nicht gleichzeitig übermittelten Zeichen und Zeichenelementen besteht - ich vernehme einen Satz normalerweise eindimensional Laut für Laut, selbst wenn ich u. U. den durch ihn übermittelten Inhalt (die Bedeutung, das Signi‐ fikat, span. significado, m.) oder auch die grammatische Struktur des Satzes sowie seine Einbettung in einen situativen Kommunikationskontext kognitiv nicht linear, sondern ganzheitlich erfasse. Literatur ist demnach eine Kunst‐ form, die in der Linearität des Nacheinanders eine Bedeutung entwickelt, im Gegensatz etwa zum Film, der zwar auch linear abläuft, aber stets gleichzeitig einen mehrdimensionalen Bildraum eröffnet und diesen mit einer großen Bandbreite von Geräuschen, Musik oder Stimmen ausgestalten kann. Abstrakt ist ein sprachliches Zeichen, weil es nach de Saussure zunächst auf ein Kon‐ zept im Kopf des Sprechers oder Hörers und (noch) nicht auf ein konkretes Objekt (Referent) verweist. Ein literarischer Text lässt demnach notwendi‐ gerweise eine relativ große Unbestimmtheit vor allem in Bezug auf Konkre‐ tes - was der Leser bei dem Wort „Haus“ denkt, ist individuell unterschiedlich, während ein Film eben dies sehr viel konkreter und detailgenauer steuert, wenn er „Haus“ ‚sagt‘, d. h. ein solches zeigt. Umgekehrt hat Literatur durch ihre mediale Grundlage eine besondere Stärke eben in der Darstellung von Abstrakta - ein Text kann „Friede“ sagen, ein Film muss, will er sich nicht seinerseits der Sprache bedienen, sondern auf sein Zeichensystem rekurrie‐ ren, Bilderfolgen entwickeln, die dem Publikum diese Bedeutung suggerieren, mit einem freilich viel höheren Aufwand auf der Ausdrucksseite und einer Fülle nicht relevanter Informationen. Arbiträr (willkürlich) sind sprachliche Zeichen in der Regel, weil zwischen ihrem Signifikanten und ihrem Signifikat keine Motivation, d. h. natürliches Verhältnis (Ursache-Wirkung, Urbild-Ab‐ bildung o. ä.) besteht, sondern Ausdruck und Bedeutung nur durch Konven‐ tion aneinander gebunden werden - es ist nicht zwingend, ein Gebäude va‐ riabler Größe mit Fenstern und Türen mit der Lautfolge <haus> zu bezeichnen, man kann es auch <casa>, <maison> oder beliebig anders nennen, wenn sich eine Sprechergemeinschaft im Gebrauch darauf einigt. Literatur ist unmittelbar abhängig von der Konvention eines Codes - ein Text in einer unbekannten Sprache ist noch nicht einmal hinsichtlich des Wortlauts ver‐ ständlich, von symbolischen Bedeutungen ganz abgesehen -, während der Film zunächst einmal seinen Ausdruck jenseits eines Codes vom gefilmten Objekt selbst erzeugen lässt, das Zeichen also höher motiviert ist, abbildet - was nicht heißt, dass im Film nicht auch kulturelle Codes eine zentrale Rolle 1.2 Literatur medial 25 Literatur in verschiede‐ nen ‚Aufschreibesystemen‘ (Friedrich Kittler) Abb. 1.5 Dichtung im Aufschreibe‐ system von 1800 spielen und ein Film nicht jenseits der unmittelbaren Bildinhalte völlig un‐ verständlich sein kann. Die Funktion, die eine Kunstform für eine Gesellschaft zu einem bestimm‐ ten Zeitpunkt übernimmt, liegt dabei nicht allein in ihren eigenen medialen Möglichkeiten begründet, sondern ergibt sich auch aus dem Verhältnis zu konkurrierenden Kunstformen mit anderen medialen Grundlagen. Für dieses mediale Umfeld hat der Literatur- und Medienwissenschaftler Friedrich Kitt‐ ler (1943-2011) den Begriff ‚Aufschreibesystem‘ (span. sistema de registro) geprägt. Er versteht darunter „das Netzwerk von Techniken und Institutio‐ nen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Ver‐ arbeitung relevanter Daten erlauben“ (Kittler 2002: 501), also sowohl die zu einem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Medien (Datenträger und Zei‐ chensysteme) als auch Einrichtungen wie Schulen oder Verlage, die den Um‐ gang mit und den Zugang zu ihnen regeln. Die Rolle des Aufschreibesystems für ein Medium und die auf ihm beruhende(n) Kunstform(en) veranschaulicht Kittler eindrücklich in der Gegenüberstellung zweier historischer Momente: 1800 und 1900. Um 1800 hatte die Schrift das Monopol serieller Datenspei‐ cherung. Es war das einzige Medium, das Vorgänge in ihrer Prozesshaftigkeit festhalten konnte. Diese Speicherung funktioniert nur über menschliches Be‐ wusstsein: keine Aufzeichnung ohne jemanden, der sie durchführt, nieder‐ schreibt. Insbesondere Sprache ist nur durch Schrift speicherbar. Die ent‐ scheidende Voraussetzung dafür, dass Schrift als das Universalmedium begriffen wurde, war eine millionenfache Alphabetisierung, bei der erstmals laut gelesen, Schrift an Stimme gekoppelt wurde. Im Gegensatz zu bisherigen Lernmethoden, die auf dem stummen Auswendiglernen von Wortgestalten bzw. (Bibel-)Versen beruhten, und zur mittelalterlichen Schriftkultur, in der Schreiber oft lediglich Kopisten waren und das von ihnen Kopierte gar nicht lesen konnten, sich also nur mit dem Zeichenträger (Buchstaben) ohne Be‐ deutung befassten, wurde nun dieser gleich hin zu den Lauten übersprungen, d. h. zur gesprochenen Sprache, die, so die implizite Annahme, das Denken selbst repräsentierte. Schrift wurde dadurch nach Kittler immateriell, da man die Materialität der Sprache (Tinte auf Papier, Sprechen als Körpertechnik) aus dem Blick verlor. Und sie wurde universal, weil sie das einzige serielle Speichermedium war, nunmehr von großen Teilen der Bevölkerung benutzt und zudem als Verkörperung des Denkens selbst aufgefasst wurde. Für die Dichtung als sprachliche Kunstform bedeutete dies: Da Denken und Vorstel‐ lungskraft die Grundlage aller menschlichen Produktion und insbesondere der Kunst ist, ging man davon aus, alles sei in Sprache überführbar, also auch Malerei und Bildhauerei, die im Gegensatz zur Dichtung an Materie (Lein‐ wand, Stein usw.) gebunden schienen, d. h. jedes beliebige Artefakt sei letzt‐ lich ohne Informationsverlust in Dichtung zu übersetzen. So wie Schrift ‚Universalmedium‘ war, war Dichtung ‚Universalkunst‘. 26 1 Begriff ‚Literatur‘ Aufschreibesystem von 1900 Abb. 1.6 Literatur im Aufschreibe‐ system von 1900 Zusammenfassung Die technischen Neuentwicklungen des 19. Jh., insbesondere das Gram‐ mophon und der Film, verändern diese Situation grundlegend und führen zum Aufschreibesystem von 1900. Sie ermöglichen nun serielle Datenspeicherung ohne menschliches Bewusstsein und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Grammophon und Film speichern dabei das Reale selbst (Schallwellen auf Wachswalze, Lichtwellen auf chemisch behandeltem Papier) und nicht mehr symbolische Repräsentation (etwa in Buchstaben, die Laute verschriften) oder Bedeutung. Da gesprochene Sprache in ihrer individuellen Gestalt (Stimme) konservierbar wird und äußere Wirklichkeit durch detailreiche bewegte Bil‐ der gespeichert werden kann, ist klar, dass Schrift und mit ihr Literatur nun nicht mehr universal sind. Zudem führen die neuen Aufzeichnungssysteme vor Augen, dass auch geschriebene Sprache von einem materiellen Zeichen‐ träger abhängig ist - sie verliert ihren Status als quasi immaterielles Me‐ dium. Neue Medien und die entsprechenden Kunstformen ersetzen alte nicht, aber sie weisen ihnen neue Systemplätze zu, wie Kittler betont: Die ehemalige Universalkunst ‚Dichtung‘ weicht einer Schriftkunst ‚Literatur‘, die ihre Auf‐ gaben neu zu bestimmen hat. Ihr bleiben mehrere Möglichkeiten. Sie kann sich (1) auf den Bereich konzentrieren, der von den konkurrierenden Medien nicht oder unzureichend erfasst wird. Dazu gehört, wie wir oben bereits sa‐ hen, alles, was nicht konkret (‚real‘) oder bildhaft (‚imaginär‘), sondern abstrakt (‚symbolisch‘) ist; so werden sprachliche Zeichen nicht mehr in den Dienst einer Wirklichkeitsabbildung gestellt, die von anderen Künsten wie der Fotografie besser zu leisten ist, sondern absolut gesetzt - eines der poetologischen Hauptmerkmale des bereits erwähnten Futurismus. Sie kann (2) die Wiederentdeckung der materiellen Zeichen feiern, indem sie mit Buchstaben statt (oder zusätzlich zur) Bedeutung spielt; ein Beispiel hierfür ist das Kalligramm von Guillermo de Torre (Text 1.2). Oder sie ordnet sich (3) den (zunehmend erfolgreichen) Konkurrenzmedien unter, indem sie Me‐ dienwechsel (z. B. Verfilmung) bereits in der Machart des Textes einkalkuliert. Mitunter sind etwa filmische Verfahren auch im Hinblick auf eine selbstbe‐ wusste Erneuerung für Literatur adaptiert worden, z. B. in Gestalt einer Nachahmung von Schnitt und Größeneinstellungen in der Erzähltechnik von Romanen (siehe Einheiten 8 und 9). Ausgehend von Textbeispielen aus der spanischsprachigen Literatur konnten wir in der zurückliegenden Einheit eine Reihe von literarischen Merkmalen beschreiben, die durchaus dem Allgemeinverständnis vom Wesen und Anspruch der Literatur entsprechen und dieses konkretisie‐ ren. Zugleich stellten wir fest, dass es keine absoluten Kriterien für Litera‐ rizität gibt, sondern dass die Zurechnung eines Textes zur ‚Literatur‘ sehr stark durch den Kontext und den jeweiligen Umgang einer Gesellschaft oder eines Individuums mit ihm bestimmt wird. Charakterisiert man sehr 1.2 Literatur medial 27 Aufgabe 1.6  allgemein Literatur als geschriebene Sprache, so richtet sich der Blick auf ihre medienspezifischen Funktionsbedingungen, die anhand einer historischen Gegenüberstellung von 1800 vs. 1900 illustriert wurde. ? Erstellen Sie ein graphisches Resümee der Ausführungen zum Li‐ teraturbegriff. Rubrizieren Sie dabei die verschiedenen Eingrenzungs‐ vorschläge und notieren Sie, farblich abgesetzt, jeweils Einwände und Gegenbeispiele. Eine Möglichkeit hierfür wäre eine Baumstruktur: Literatur Gustavo Adolfo Bécquer: Rimas. Madrid: Espasa-Calpe 10 2009. Jorge Luis Borges: „La Biblioteca de Babel“, in: Ders., Narraciones. Madrid: Cátedra 1999, 105-124. Miguel de Cervantes: Don Quijote de la Mancha. Band I. Madrid: Cátedra 27 2008. Julio Cortázar: „Situación de la novela“, Cuadernos americanos, IX, 1950, 223. El País, 18. 12. 2008. José Sanchis Sinisterra: Ñaque o de piojos y actores. Madrid: Cátedra 12 2008. Guillermo de Torre: „Paisaje plástico“, in: Poesía española de vanguardia (1918-1936). Madrid: Castalia 1995, 160. Michel Foucault: „Was ist ein Autor? “, in: Ders., Schriften zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, 234-270. Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte: Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverlag 1971. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900. München: Fink 4 2003. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgmeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2016. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 28 1 Begriff ‚Literatur‘ Überblick 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Inhalt 2.1 Poetik 2.1.1 Die Poetik des Aristoteles 2.1.2 Poetiken des Siglo de Oro 2.2 Gattungen 2.3 Epochen 2.4 Literaturgeschichte 2.5 Thema, Stoff, Motiv 2.6 Kanon In Einheit 2 wird Ihnen der Begriff ‚Poetik‘ in Abgrenzung zur Litera‐ turgeschichte und Literaturkritik vorgestellt. Wichtige poetologische Schriften werden als Orientierungspunkte im historischen Entwicklungs‐ verlauf hervorgehoben. Ein spezielles Augenmerk gilt in diesem Zusam‐ menhang den literarischen Gattungen, Epochen, thematischen Elemen‐ ten und dem Begriff des Kanons. Der Literaturbegriff im zeitlichen Wandel ! Poetik ist die Lehre von der Dichtkunst Definition Der Begriff ‚Literatur‘, das hat die vorangehende Einheit 1 verdeutlicht, ist inhaltlich nur schwer eingrenzbar und bleibt in seinen jeweiligen Definiti‐ onsversuchen abhängig von der jeweiligen Position in einem historischen und kulturellen Gefüge. Insofern kann man Texte immer nur für ihren bestimmten geschichtlichen Augenblick und unter dem Gesichtspunkt des jeweiligen Literaturverständnisses auf ihre Literarizität hin prüfen. 2.1 Poetik Unter Poetik (poética) versteht man die Lehre von der Dichtkunst, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen befasst sie sich mit dem Wesen von Dichtung, ihrer Bestimmung, ihrer Einteilung in Gruppen gleichartiger Texte und ihrem ästhetischen Wert. Zum anderen will sie in vielen Fällen auch eine Anleitung zum Dichten geben, sei es, dass sie bereits vorliegende bekannte Werke in ihren Vorzügen und Mängeln kritisch betrachtet (deskriptives, d. h. beschrei‐ bendes Vorgehen), sei es, dass sie konkrete Hinweise bzw. Vorschriften für das Verfassen von Werken enthält (normativer Anspruch). Neben den expliziten Poetiken, die sich als eigenständige Abhandlungen zur Literatur darbieten, existieren zahllose aussagekräftige immanente (auch: implizite) Poetiken (poética implícita), welche Autorinnen und Autoren in ihren Vorworten oder Vorreden, Nachworten oder Selbstaussagen (z. B. Interviews) formuliert haben und die über ihr persönliches Literaturverständnis Auskunft geben. Im Falle von ‚Metapoesie‘ bzw. ‚Metapoetik‘ handelt es sich schließlich um Literatur, die selbst Auffassungen und Funktionen von Literatur betrachtet. Literatur und Dichtung: im Gegensatz zum allgemeinen Literaturbe‐ griff (siehe Einheit 1) geht der emphatisch, d. h. bedeutungsschwer auf‐ geladene Dichtungsbegriff (‚hohe‘, ‚schöne‘ Literatur) von vornherein nur von literatur- und menschheitsgeschichtlich ‚wertvollen‘ Texten aus, wobei tendenziell eine Bevorzugung von Versdichtungen anklingt. Insgesamt betrachtet, können Poetiken oder poetologische Betrachtungen (das Adjektiv ‚poetologisch‘ zielt auf die Poetik, das Adjektiv ‚poetisch‘ auf das dichterische Werk ab) eine Reihe von Funktionen erfüllen: ▶ die Beschäftigung mit der Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Dichtung und ihre Abgrenzung von den anderen Künsten; ▶ eine Auseinandersetzung mit dem ‚Schönen‘ und ‚Wahren‘ in der Litera‐ tur (Ästhetik, Literaturphilosophie); ▶ die Erörterung richtiger Rede (Grammatik) und 30 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Text 2.1 Aristoteles: Poetik ▶ ebenso kunstwie wirkungsvoll ausformulierter Rede (Rhetorik); ▶ das Studium stilistischer Besonderheiten bzw. stilistischer Angemessen‐ heit (Stilistik); ▶ die Beschreibung literarischer Gattungen; ▶ die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung einer Sprache (dia‐ chrone Sprachwissenschaft); ▶ die kritische Sichtung literarischer Beispiele (Literaturkritik), oftmals unter ▶ Einordnung in literaturhistorische Zusammenhänge (Literaturge‐ schichte) und ▶ Ableitung allgemeiner Aussagen zu literarischen Phänomenen (Literatur‐ wissenschaft); ▶ Aussagen zu sozio-kulturellen Implikationen bestimmter Textsorten (Li‐ teratursoziologie, Rezeptionsforschung [vgl. Einheit 10]). Welche Aufgaben Poetiken im Einzelnen zu lösen versuchten, aber auch in welchem Maße sie tatsächlich einen Einfluss auf die Produktion literarischer Texte ausüben konnten, ist von Fall zu Fall verschieden und bedingt durch die jeweiligen literaturgeschichtlichen Rahmenverhältnisse. Zahlreiche antike ‚Poetiken‘ formulierten allgemeine Überlegungen und spezielle Kommentare zu den gegebenen literarischen Phänomenen, hatten aber als Dichtungslehren später grundlegenden Charakter für alle nachfolgenden Abhandlungen und konnten dadurch eine normative Wirkung entfalten. Aus heutiger Sicht aber erscheinen sie womöglich als unvollständig und episodisch, da sie allzu sehr den Beschränkungen des einstigen historischen Horizonts unterliegen. Um die eigenständige Entwicklung der spanischen Dichtungslehre und -praxis im europäischen Kontext ansatzweise nachzeichnen zu können, soll zunächst ein Blick auf einen poetologischen Schlüsseltext geworfen werden, die Poetik des Aristoteles. 2.1.1 Die Poetik des Aristoteles Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muss, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu dem selben Thema gehören, wollen wir hier handeln-[…] (Aristoteles: 1994, 5) 2.1 Poetik 31 Abb. 2.1 Aristoteles (384-322 v.Chr.) Mimesis-Begriff Hierarchie der Gattungen Ständeklausel Die nur zum Teil erhaltene Poetik des Aristoteles, die ungefähr um das Jahr 335 v. Chr. entstanden ist, zählt zu den bedeutsamsten kunsttheoretischen Tex‐ ten der abendländischen Kultur. Sie steht an der Seite einer Rhetorik, verlässt aber deren auf die Redekunst zugeschnittene Betrachtung, um sich-- nicht zu‐ letzt anhand der Diskussion wichtiger Referenztexte-- allgemeinen Fragen der zeitgenössischen literarischen Gattungen zuzuwenden. Dazu zählen in erster Linie die Epik, die tragische Dichtung und die Komödie (jener der Komödie ge‐ widmete Teil ist leider nicht überliefert). In Abwendung von Platon, der in dich‐ tungskritischen Passagen seiner Schriften (vor allem Politeia, X 595a-602b) die Dichtung bezichtigt, der Wahrheit der ursprünglichen ‚Ideen‘ in ihrem verzerr‐ ten Abbild nicht zu entsprechen („die Dichter lügen“), und sie einer rigiden Staatsmoral unterwerfen möchte, führt Aristoteles die dichterische Schaffens‐ kraft des Menschen auf ein geradezu anthropologisches Bedürfnis zurück, näm‐ lich den Drang zur Nachahmung (Mimesis, span. mímesis). Demgemäß stelle die Dichtung nichts anderes dar als die Nachahmung gesellschaftlichen Handelns (Praxis, span. praxis, f.), d.h. eine Abbildung der vom Menschen erlebbaren Wirklichkeit. Dass hiermit aber keineswegs ein ungebrochener Realismus ge‐ meint ist, verdeutlichen die weiteren Ausführungen: nicht die Wahrheit im Sinne von faktengetreuer Wiedergabe, sondern die Wahrscheinlichkeit im Sinne einer tief gründenden Einsicht in die menschliche Natur sei das Verdienst der Dich‐ tung, die damit philosophische Qualitäten aufweise und die Aussagekraft der oftmals unwahrscheinlich wirkenden historischen Ereignisse (und damit der Geschichtsschreibung) hinter sich lasse. Von grundlegender Bedeutung für das Literaturverständnis nahezu jegli‐ cher Epoche ist die von Aristoteles thematisierte Verknüpfung der Gattungs‐ wahl mit dem kulturellen und sozialen Prestige. So ordnet er der Tragödie und dem Epos die Nachahmung edler Menschen zu, die es wiederum nach‐ zuahmen gilt, während die schlechten Menschen in ihren Lastern von der Komödie aufgegriffen werden, die sie der Lächerlichkeit preisgeben und somit gewissermaßen abschreckend wirken soll. Für die angesehene Gattung Tra‐ gödie forderte Aristoteles, dass nur Personen von herausragendem sozialen Rang mit einem tragischen Geschick konfrontiert werden dürften, da sich bei ihnen die Wendung von Glück in Unglück durch eine besonders beeindru‐ ckende ‚Fallhöhe‘ (altura de la caída) auszeichne. Wenn also ihr Streben in einer ‚Katastrophe‘ (also im tragischen Ausgang der Tragödie, span. catás‐ trofe) ende, so erschüttere dies die Zuschauerschaft sehr viel mehr als das Unglück einer Figur aus einer niederen sozialen Schicht, die dem Elend von vornherein näher stehe. Eine solche emotionale Erschütterung sowie die durch sie bewirkte innere Reinigung (Katharsis, span. catarsis) galten ihm als wichtige Ziele der Tragödie. 32 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Aufgabe 2.1 Stilarten Abb. 2.2 Quintilian (35-96 n.Chr.) Die drei ‚Aristotelischen Einheiten‘  Zusatzmaterial zur Ars poetica des Ho‐ raz finden Sie auf www.bachelor-wissen.de Aufgabe 2.2 ? Welches über die Dichtung vermittelte Menschenbild lässt sich aus den zuletzt genannten Vorgaben ableiten? Diese Art der Übertragung sozialer Hierarchien in literarische Gattungen gibt Aufschluss über ein wichtiges Kriterium der damaligen Beurteilung von Dich‐ tung: die bei Aristoteles (und Horaz) geforderte ‚Angemessenheit‘ in der Be‐ handlung eines vom Dichter gewählten Stoffes. Die Grundlage hierzu bildete die in den antiken Rhetoriken ausgearbeitete Lehre von den drei Stilarten (lat. ge‐ nera dicendi, span. tres géneros del decir), welche für öffentliche Reden je nach Anlass spezifische Leitlinien formulierten. Dabei handelte es sich zunächst ein‐ mal um Vorgaben, die eine Orientierung dafür boten, welches Thema auf wel‐ che Art und Weise vor welchem Publikum bzw. zu welchem Anlass angemes‐ sen behandelt werden sollte. Daraus erwuchs ein variabel gehandhabtes System, welches jeder Gattung bestimmte Themen, Zielsetzungen, Figuren und eine ei‐ gene Stilart inklusive der geeigneten rhetorischen Figuren zuschrieb (Einteilung in hohen, mittleren und niederen Stil, span. estilo sublime, medio y sencillo). Eine wichtige Mittlerfunktion bei der Überlieferung und der Anpassung der antiken Dichtungslehre spielten unter anderem die römischen Rhetoriker Cicero (106-43 v. Chr.) und Quintilian (35-ca. 96 n. Chr.), letzter insbesondere dank sei‐ nes Lehrwerks Institutio oratoria. Speziell für die Abfassung von Tragödien empfahl die Aristotelische Poe‐ tik, die Handlung vom Ausgangspunkt des dramatischen Konflikts bis zu dessen Ende konsequent zu gestalten und dabei nicht durch übermäßige Länge und unübersichtliche Nebenhandlungen vom zentralen Geschehen ab‐ zulenken (Einheit der Handlung, unidad de acción). Um zugleich die Wahr‐ scheinlichkeit des aufgeführten Bühnengeschehens für die Zuschauerschaft zu erhöhen, sollte sich die dargestellte Handlung höchstens auf den Zeitraum eines Sonnenumlaufs beschränken (Einheit der Zeit, unidad de tiempo). Aus der letztgenannten Vorschrift folgerten spätere Poetiken, die Handlung solle sich auch nur an einem einzigen Ort zutragen, womit in der Regel ein und dieselbe Stadt gemeint war (Einheit des Ortes, unidad de lugar). ? Welche Auffassung von Literatur steht hinter dem Bemühen, Poetiken zu verfassen? 2.1.2 Poetiken des Siglo de Oro Während des Mittelalters (Edad Media, f.) griffen Poetik und Rhetorik wei‐ testgehend ineinander. Gerade in der universitären Ausbildung wurde die Dichtung der Unterweisung im richtigen Sprachgebrauch zugeordnet und 2.1 Poetik 33 ! Siglo de Oro: politische, ökonomische und kultu‐ relle Hochphase Spaniens (ca. 1492 bis 1681) innerhalb der sog. ‚sieben freien Künste‘ (lat. septem artes liberales) den Fä‐ chern Grammatik und Rhetorik unterstellt. Eine Verselbständigung erfolgte erst ab der Renaissance (Renacimiento) unter dem Einfluss der zuvor abge‐ brochenen und nun wieder aufgegriffenen Aristoteles-Rezeption (erste latei‐ nische Übersetzung durch den Italiener Lorenzo Valla, 1498). Dieser Neuan‐ satz führte zu einer systematischeren Auseinandersetzung mit den dichterischen Formen, beispielsweise im 1592 erschienen Arte poética española des Juan Díaz Rengifo, der sein Werk in die drei Teile Poética, Métrica und ein Diccionario de rimas gliederte. Einen gemäßigten neo-aristotelischen Einfluss belegt etwa die Philosophia antigua poética des Alonso López Pinciano (1596). Mit ihr treten die ästhetisch-philosophischen Grundsatzüberlegungen gegen‐ über der handwerklichen Anleitung zum Anfertigen meisterlicher Verse, auf die sich noch der Arte poética konzentrierte, in den Vordergrund. In Francisco de Cascales Tablas poéticas (1617) schließlich wird die platonische Vorstellung von der göttlichen Inspiration des Dichters fassbar, wie sie bereits Horaz im Rahmen der antiken römischen Poetiken konzipiert hatte, ebenso eine Reflexion über die Funktion der unterschiedlichen Gattungen und die Bezüge zwischen der Literatur und den anderen Künsten. Abb. 2.3: Die septem artes liberales (Miniatur von 1180) 34 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle ! Humanismus: Erneuerung der Wissenschaften und der Künste aus dem Geist der Antike, eng verbunden mit der Renaissance Im Zentrum der Poetiken des Siglo de Oro steht der Arte nuevo de hacer comedias (1609) von Félix Lope de Vega Carpio. Unter dezidierter Abwendung vom aristotelisch geprägten Drama des Humanismus orientierte Lope de Vega sich am Geschmack seines zeitgenössischen Theaterpublikums, dessen Bedürfnisse Vorrang gegenüber normpoetischen Bestimmungen erhielten. Daraus folgte ein deutlich flexiblerer Umgang mit den sog. drei Aristotelischen Einheiten: Die Einheit der Zeit sollte zwar innerhalb der Akte gewahrt werden, zwischen den Akten jedoch dürfen sich größere zeitliche Sprünge ereignen. Die Einheit der Handlung wird zumindest empfohlen. Neue Akzente setzen die Vermengung von Tragischem und Komischen, von edlem und niederem Stand sowie ein an der (natürlich: volkssprachlichen) schlichten Alltagssprache angelehnter Sprachstil (vgl. auch Einheit 6.1). Von den zahlreichen Gegenpositionen zu dieser „comedia nueva“ seien hier nur die Tablas poéticas (1617) von Francisco Cascales und entsprechende Passagen in Cervantes’ Don Quijote genannt. 1 [C]uando he de escribir una comedia,/ encierro los preceptos 1 con seis llaves,/ saco 2 a Terencio y Plauto 3 de mi estudio / para que no me den voces, que suele / dar gritos la verdad en libros mudos,/ y escribo por el arte que inventaron / los que el vulgar aplauso pretendieron / porque, como las paga el vulgo 4 , es justo / 5 hablarle en necio 5 para darle gusto./ Ya tiene la comedia verdadera / su fin propu‐ esto como todo género / de poema o poesis, y este ha sido / imitar las acciones de los hombres / y pintar de aquel siglo las costumbres./ […]/ Elíjase el sujeto y no se mire 6 / (perdonen los preceptos) si es de reyes,/ […]/ Lo trágico y lo cómico mezclado,/ y Terencio con Séneca, aunque sea / como otro Minotauro 7 10 de Pasife 8 ,/ harán grave una parte, otra ridícula,/ que aquesta variedad deleita mucho; / buen ejemplo nos da naturaleza,/ que por tal variedad tiene belleza./ Ad‐ viértase que sólo este sujeto / tenga una acción, mirando que la fábula / de ninguna manera sea episódica,/ quiero decir inserta de otras cosas / que del primero intento se desvíen; / ni que de ella se pueda quitar miembro / que del 15 contexto no derribe 9 el todo./ No hay que advertir que pase en el período / de un sol, aunque es consejo de Aristóteles,/ porque ya le perdimos el respeto / cuando mezclamos la sentencia trágica / a la humildad de la bajeza 10 cómica./ Pase en el menos tiempo que ser pueda,/ […] El sujeto elegido escriba en prosa / y en tres actos de tiempo le reparta,/ procurando, si puede, en cada uno / no 20 interrumpir el término del día./ […]/ Comience, pues, y con lenguaje casto 11 / no gaste pensamientos ni conceptos / en las cosas domésticas, que sólo / ha de imitar de dos o tres la plática 12 ; / […]/ pues habla un hombre en diferente estilo / del que tiene vulgar cuando aconseja,/ persuade o aparta 13 alguna cosa./ Dionos ejemplo Arístides retórico,/ porque quiere que el cómico lenguaje / sea puro, claro, fácil, 25 y aún añade 14 / que se tome del uso de la gente,/ haciendo diferencia al que es político / porque serán entonces las dicciones / espléndidas, sonoras y adornadas 15 . (Lope de Vega: 2006, 133 f., 140-145) - 2.1 Poetik 35 Abb. 2.4 Lope de Vega Text 2.2 Lope de Vega: El arte nuevo de hacer comedias (1609) Aufgabe 2.3 ! Hermetismus: an Un‐ verständlichkeit reichende Komplexität der Sinnbe‐ züge, die ein großes kultu‐ relles, zumal literarisches Vorwissen voraussetzen Cultismo und conceptismo 1 precepto Anleitungen zum Dichten, Regeln - 2 sacar schöpfen aus - 3 Terencio y Plauto antike Komödiendichter-- 4 vulgo das gemeine Volk bzw. die Nicht-Spezia‐ listen - 5 necio töricht - 6 mirar berücksichtigen - 7 Minotauro mythologisches Ungeheuer - 8 Pasife / Pasífae Pasiphae, Mutter des Minotaurus - 9 derribar einstürzen-- 10 bajeza Einfachheit, Niedrigkeit-- 11 casto enthaltsam-- 12 plática Gespräch - 13 apartar hier: erörtern - 14 añadir hinzufügen - 15 adornado, -a verziert, rhetorisch geschmückt ? Welche allgemeinen Empfehlungen zur Abfassung von comedias gibt Lope de Vega im obigen Textauszug? Eine weitere literarische Auseinandersetzung des Siglo de Oro wurde im Umfeld der hermetischen Lyrik zwischen den Befürwortern des elitären Hermetismus im Sinne von Luis de Góngora (1561-1627), des sog. culteran‐ ismo, und ihren Opponenten, den Vertretern des conceptismo, ausgetragen. Als Beispiele seien für die zweite Richtung das Libro de la erudición poética (1611) von Luis Carrillo y Sotomayor, für die erste Richtung der Discurso poético (1623) des Juan de Jáuregui genannt. Der culteranismo (auch: gongo‐ rismo, cultismo) steht in diesem Zusammenhang für eine Dichtung, die mit Anspielungen auf antike und neuzeitliche Bildungsinhalte ein hohes Maß an Vorwissen, also eine kultivierte Leserschaft (daher cultismo) voraussetzt. Das typische Spiel mit Formen und Referenzen führt dabei in der Regel zu komplexen Überlagerungen, die für unvorbereitete heutige LeserInnen ohne eine kommentierte Ausgabe im Grunde nicht zu verstehen sind. Der conceptismo wiederum setzt auf ein Spiel mit Gedanken und geist‐ vollen, scharfsinnigen Formulierungen (conceptos). In diese Richtung weist nicht zuletzt die Agudeza y arte de ingenio (1648) von Baltasar Gracián, der den scharfsinnigen Witz (agudeza) - und damit dessen klar präzisierbare Sinnbezüge - als Kern des literarisch-ästhetischen Vergnügens ansieht. Aller‐ dings bleibt festzuhalten, dass Anhänger beider Richtungen zwar teils heftige Anfeindungen ausgetauscht haben, es sich jedoch um zwei Strömungen des Siglo de Oro handelt, die einander nicht in Form gefestigter ‚Schulen‘ gegenüberstanden, und zahlreiche literarische Texte sowohl kultistische als auch konzeptistische Elemente und Verfahren aufweisen. Das 18. Jh. stand im Gegenzug dazu im Zeichen eines klassizistischen Geschmacksideals, das sich in der Bevorzugung von Klarheit, Einfachheit und Gleichmäßigkeit wieder an den antiken Vorbildern orientierte. Großen Einfluss übte zumal die verstärkte Rezeption der Dichtungen und Poetiken der französischen Hochklassik (letztes Drittel des 17. Jh.) aus. Damit einher ging die Besinnung auf die Bildung eines ‚guten Geschmacks‘ beim Publikum, der ebenso ästhetische wie moralische Bezüge umfasste. So wandten sich 36 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Aufgabe 2.4 Aufgabe 2.5 Die Romantik als Ende der Regelpoetik Abb. 2.5 Friedrich Schlegel (Gemälde von Franz Gareis, 1901) Text 2.3 Ignacio de Luzán: Poética (1737) viele Autoren erneut der Aristotelischen Poetik und ihrer Forderung nach Wahrscheinlichkeit und stilistischer Angemessenheit zu, wie z. B. Ignacio de Luzán in der an die Leserschaft gerichteten Vorrede zu seiner Poética (1737) nachdrücklich vermerkt. 1 […] primeramente, te advierto que no desestimes como novedades las reglas y opiniones que en este tratado propongo; porque, aunque quizás te lo parecerán, por lo que tienen de diversas y contrarias a lo que el vulgo comúnmente ha juzgado y practicado hasta ahora, te aseguro que nada tienen menos que eso; 5 pues ha dos mil años que estas mismas reglas (a lo menos en todo lo substancial y fundamental) ya estaban escritas por Aristóteles, y luego, sucesivamente, epilogadas 1 por Horacio, comentadas por muchos sabios y eruditos varones 2 , divulgadas entre todas las naciones cultas y, generalmente, aprobadas y seguidas. (Ignacio de Luzán: 1974, 59) 1 epilogar hier: in der Nachfolge bearbeiten-- 2 varón Mann ? Vergleichen Sie den Textauszug mit dem arte nuevo von Lope de Vega (Text 2.2) und begründen Sie die abweichende Stoßrichtung der Argumentation: Weshalb betont Luzán gerade die antike Herkunft der in seiner Poetik erläuterten Regeln? ? Inwiefern kann man grundsätzlich von einem besonders engen Bezug zwischen der Textsorte ‚Regelpoetik‘ und den klassizistischen und damit neo-aristotelischen Literaturvorstellungen ausgehen? Während sich die klassizistische Ausrichtung diverser Poetiken noch bis weit in das 19. Jh. erstreckte, kam es schon zu dessen Beginn zu einer Rezeption (v. a. deutschen) romantischen Gedankenguts in Spanien, die etwa Friedrich Schlegels Begeisterung für das Siglo de Oro aufgriff, aus politischen Gründen aber unterbrochen wurde. In den 1830er Jahren zeichnete sich sodann eine programmatische Romantik ab, beispielsweise im Vorwort zu El moro expósito (1834) des Duque de Rivas. Wirkungsvolle theoretische Positionen finden sich im Weiteren etwa in Manuel Milá y Fontanals’ Schriften Arte poética (1844), Principios de estética (1856) und Principios de literatura general y española (1873), die den allmählichen Bedeutungsverlust poetologischer Bestimmun‐ gen für die Literatur dokumentieren. So wurde neben der Forderung nach 2.1 Poetik 37  Zusatzmaterial: Antonio Alcalá Galia‐ nos „Prólogo“ zu El moro expósito auf www.bachelor-wissen.de ! Die Einteilung der li‐ terarischen Formen ent‐ spricht der wissenschaftli‐ chen Notwendigkeit von Analyse und Klassifikation Gattungen als Konvention Vorbildcharakter ‚klassischer‘ Werke einer Kombination von sublimen (erhabenen) und grotesken Elementen die Auffassung von der schöpferischen Inspiration des Dichter-Genies vertreten, die sich als Konzept von vornherein jeglicher handwerklich-erlernbaren Kunstfertigkeit widersetzte. Normierende Vorschriften oder eine auf Regel‐ mäßigkeit und Gleichmäßigkeit stützende Ästhetik galten nunmehr als über‐ holt. 2.2 Gattungen Unter den behandelten Kernanliegen von Poetiken ist noch einmal auf einen Aspekt zurückzukommen, der eine eingehende Problematisierung verdient. Der seit dem Altertum zu beobachtende Versuch, die Vielzahl der zeitgenössischen literarischen Formen nach gemeinsamen Merkmalen zu einzelnen Gruppen zu bündeln, stellte lange Zeit eines der grundlegen‐ den Anliegen in literaturtheoretischer und literaturgeschichtlicher Hinsicht dar, das sich seinerseits als aufschlussreich für das Literaturverständnis zu einem bestimmten Zeitpunkt erweist. Vorrangige Aufgabe einer Einteilung in Gattungen ist dabei das Bedürfnis, Texte genau nach generalisierbaren Merkmalen zu beschreiben, sie somit zu klassifizieren und in epochale und literaturgeschichtliche Zusammenhänge einzuordnen. Kriterien für eine Zuordnung können dabei sein: ▶ Form (Vers- und Strophenform bzw. Aufbau und Struktur eines Textes [z. B. Fünfaktschema]; Länge; verwendete Stilmittel; Verwendung sog. Paratexte [vgl. 11.2.1]); ▶ Stoff- und Motivkreis (z. B. in Heiligenlegenden oder im Kriminalroman); ▶ Figuren (bspw. Ständeklausel); ▶ Redekriterium (wer spricht? der Dichter / Erzähler - die handelnden Personen-- beide Parteien im Wechsel); ▶ mediale Aspekte (gedruckter Text, mündlicher Vortrag / Inszenierung, Vertonung, Film, etc.). Die Definition von Gattungen bleibt bei alldem eine sozio-kulturelle Kon‐ vention, die auf besondere historischen Umstände zurückgeführt werden kann, auch wenn für Gattungen ein normativer und überzeitlicher Anspruch erhoben wird. Die normative Gattungslehre ist zumeist darauf angewiesen, sich auf eine gezielte Auswahl von Referenztexten zu stützen, die auf beispielhafte Weise als Vorbild für alle anderen, ähnlich kategorisierbaren Produktionen gelten können. Neben für besonders wichtig gehaltene Werke früherer Epochen, die zumeist als ‚klassisch‘ erachtet werden (etwa im Falle von Vergil, der im Mittelalter als alles überragender Dichter der Antike rezipiert wurde), können 38 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Aufgabe 2.6 Text 2.4 Aristoteles: Poetik Text 2.5 Goethe: West-östlicher Diwan (1819 - 1827) durchaus auch die Werke von Zeitgenossen treten, z. B. bei Aristoteles. Die von Aristoteles überlieferte Gattungseinteilung gibt zugleich ein eindrückli‐ ches Beispiel dafür, wie sehr die Bemühungen um eine Systematisierung dem historischen Wandel ausgesetzt sind. 1 Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung 1 sowie - größtenteils - das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, 5 oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht dieselbe Weise nachahmen. (Aristoteles: 1994, 5) - 1 Dithyrambendichtung antike lyrische Gattung mit musikalischer Begleitung Nicht nur der inzwischen erfolgte Wegfall der letztgenannten Gattungen ist zu bemerken, auch die Gattungsbegriffe selbst, z. B. derjenige der Epik, haben sich grundlegend verändert oder wurden nachträglich ersetzt. Das moderne Lyrikverständnis umfasst z. B. nicht mehr notwendigerweise die musikalische Darbietung wie in der Antike (siehe Einheit 4.4). ? Inwiefern entspricht das von Aristoteles betrachtete antike Epos (z. B. Homers Ilias) nicht mehr dem heute geläufigen Gattungsbegriff ‚Epik‘? Der historische Abstand zum in Text 2.4 zitierten Beispiel lässt erahnen, wie schwierig es ist, allgemeingültige Gattungskategorien aufzustellen. Als besonders erfolgreich hat sich aus unserer heutigen Sicht wiederum die Ein‐ teilung der literarischen Formen in die drei Grundformen Epik - Dramatik-- Lyrik, die sog. Gattungstrias, erwiesen. Sie reicht vom Ansatz her zwar auf bereits bei Aristoteles und Horaz formulierte Gedanken zurück, wurde aber erst im 18. Jh. zum poetologischen Gemeingut erhoben. Bedeutsam wurde in diesem Zusammenhang die Annahme, in den drei Hauptgattungen spiegelten sich gleichsam Wesenszüge der menschlichen Seele, was Goethe auf die für den deutschsprachigen Raum höchst einflussreiche Formel von den „drei Naturformen der Dichtung“ brachte: 1 Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthu‐ siastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch 5 diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswerten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. (Goethe: 1978, 187 f.) 2.2 Gattungen 39 ‚Naturformen‘ der Dichtung Aufgabe 2.7 Gattungstradition Relevant an dieser Deutung ist neben der ahistorisch-wesenhaften Zuschrei‐ bung von Gattungsmerkmalen, die zugleich eine wirkungsästhetische Cha‐ rakterisierung beinhalten, der Hinweis auf die Vermengung dieser Grundten‐ denzen im einzelnen literarischen Text. Hinzu kommt der komparatistische, auf eine Weltliteratur geweitete Blick Goethes. Noch der Schweizer Litera‐ turwissenschaftler Emil Staiger entwarf 1946 in seinen Grundbegriffen der Poetik ein Modell, demzufolge sich jegliche Dichtung aus „Gattungsideen“ ableite, welche im Sinne von allgemeinen Stilqualitäten als ‚das Lyrische‘, ‚das Epische‘ bzw. ‚das Dramatische‘ anzusehen seien. Der Ansatz, die Literatur in ‚Gattungen‘ aufzugliedern, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und ihrer wissenschaft‐ lichen Systematik des ausgehenden 19. Jh., als sich nach dem Vorbild der biologischen Erblehre das Modell des Stammbaums und der Ausdifferenzie‐ rung von Arten und Gattungen etablierte. Versucht man beispielsweise, die narrativen (erzählenden) Gattungen systematisch zu erfassen, so kann zunächst einmal eine schrittweise Unter‐ gliederung nach folgendem Schema vorgenommen werden: Abb. 2.6: Ausdifferenzierung des Gattungssystems am Beispiel Erzählprosa ? Finden Sie anhand eines geeigneten Nachschlagewerks Untergattun‐ gen aus dem Bereich der Lyrik (z. B. Sonett). Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die Trennschärfe der unterschiedlichen Gattungsdefinitionen zweifelhaft ist und nie dem literarischen Formenreich‐ tum gerecht werden kann. Der Versuch, eine global gültige Systematik zu erstellen, ist nur unter der Bedingung möglich, eine Vielzahl von Mischfor‐ men anzuerkennen (z. B. die Ballade als erzählendes Gedicht), auf welche mehrere Gattungszuschreibungen zutreffen. Zugleich werden weitere ‚Hauptgattungen‘ diskutiert (die Satire wie auch der Essay wurden als 4. oder 5. Gattung ins Gespräch gebracht, hinzu kommen aus heutiger Perspektive etwa die Gruppen der didaktischen Texte bzw. der Gebrauchsformen), auch wenn die moderne und postmoderne Literaturtheo‐ 40 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle  Zusatzmaterial zur Gattungsgeschichte finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Aufgabe 2.8 Epochen als in sich möglichst homogene Zeiträume Epochengrenzen rie gerade den Gattungsbegriff radikal in Frage gestellt hat und durch eine weitaus weniger idealisierende und systematisierende Auffassung von Text‐ sorten zu ersetzen sucht. Als literaturgeschichtliche Kategorien besitzen die Gattungen aber einen spezifischen Erkenntniswert, da sie die Kommunika‐ tion über bestimmte Textgruppen erlauben - so unzureichend diese auch sein mag - und auch historische Konventionen benennen, die bei den Literatur‐ schaffenden, im Bereich des literarischen Marktes und bei den Literaturrezi‐ pienten als sinnstiftendes Vorverständnis wirken. ? Versuchen Sie für folgende (Unter-)Gattungen bzw. Typen festzustel‐ len, inwieweit mit dem Gattungsnamen bereits ein Vorverständnis in Bezug auf die Stilart, den Aufbau und die Inhalte verbunden sind: Tragödie; Science-Fiction-Roman; Liebesgedicht. 2.3 Epochen Neben der Gattungstypologie bildet die Einteilung in Epochen (span. épocas, z. B. Siglo de Oro, Romanticismo etc.) einen festen Bestandteil der Literaturge‐ schichtsschreibung, wenngleich auch hier zunehmend der Konstruktcharak‐ ter von Epochenkonzepten betont wird. Zunächst einmal sollen die Epochenbezeichnungen den Fluss der Litera‐ turgeschichte in einzelne, in sich möglichst zusammenhängende Zeiträume einteilen, in denen eine Vielzahl von Texten - oder aber eine kleine Gruppe literarisch besonders relevanter Texte (Kanon, siehe Einheit 2.6) - bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen. Ermöglicht wird diese Einteilung im Wei‐ teren durch die Benennung literaturgeschichtlich bedeutsamer Schlüssel‐ ereignisse, die als Epochengrenzen (límites entre las épocas) Ende und Beginn der dominanten literarischen Entwicklung markieren. Eine derartige Unter‐ gliederung in literarische Epochen erlaubt es, die Veränderungen innerhalb des Gattungssystems bzw. jene der literarischen Formen zu beobachten. Au‐ ßerdem kann man sie mit anderen Periodisierungen, z. B. mit Stilrichtungen der Kunstgeschichte oder mit der (oftmals an Herrscherpersönlichkeiten oder Staatsformen orientierten) Politikgeschichte, vergleichen. Der Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin (1864-1945) verstand im Rahmen seiner stilgeschichtlichen Untersuchungen die Epochenmerkmale ‚barock‘ und ‚klassisch‘ sogar als überzeitliche Typusbegriffe, zwischen denen sich die sti‐ listischen Entwicklungen über die Jahrhunderte hinweg in einer Pendelbe‐ wegung entfalten. Andere Einteilungsversuche betonen stärker Gemeinsam‐ keiten und parallele Entwicklungslinien, wie die spanischen Bezeichnungen Primer Siglo de Oro für die Renaissance und Segundo Siglo de Oro für das Barock 2.3 Epochen 41 Aufgabe 2.9 Epochenschwellen Aufgabe 2.10 nahe legen. Eine weitere Einteilungsmöglichkeit ergibt sich aus der Zuord‐ nung von Autorinnen/ Autoren zu Generationen, deren Biographien durch die gleichen soziopolitischen sowie kulturellen Grundproblematiken oder/ und durch einschneidende Ereignisse geprägt wurden, in Spanien vor allem in der Generación del 98 oder der Generación del 27. ? Aus der deutschen Literaturgeschichte kennen Sie eine Einteilung in Barock, Sturm und Drang, Klassik, Romantik, Realismus usw. Verglei‐ chen Sie diese Abfolge mit der Kapiteleinteilung in einer spanischen Literaturgeschichte (z. B. der von Hans-Jörg Neuschäfer herausgegebe‐ nen Spanischen Literaturgeschichte, vgl. Einheit 3.4) und formulieren Sie Schlussfolgerungen aus dieser Gegenüberstellung. Allen überzeitlichen Definitionsansätzen zum Trotz ist zu beachten, dass Epo‐ chenbezeichnungen erst aus dem nachträglichen, rückwärts gerichteten Blick heraus an Kontur gewinnen, eine zeitliche Distanz zwischen Beobachtendem und Beobachtetem für ein gewisses Maß an Überblick und Objektivierung sorgen muss (als Beispiel hierfür sei die müßige, da zum gegenwärtigen Zeitpunkt unentscheidbare Diskussion angeführt, durch welche Nachfolge‐ bewegung die sog. Postmoderne in den Künsten abgelöst sei). Das starre System aufeinander folgender Epochen kann durch die Berücksichtigung sog. Epochenschwellen (umbral de época) oder Schwellenzeiten aufgelockert werden; unter ihnen versteht man Übergangsperioden mit Mischcharakter, beispielsweise zwischen dem Mittelalter und der sich herausbildenden Neu‐ zeit. ? Betrachten Sie das Für und Wider des Konzepts literaturgeschichtli‐ cher Epochen. Welche Schwierigkeiten können bei dem Versuch auftre‐ ten, Epochen idealerweise als in sich homogene Zeiträume zu bestimmen? Inwiefern erscheint im Speziellen die Einteilung in aufeinanderfolgende Generationen von SchriftstellerInnen sinnvoll? Welche Gründe sprechen schließlich grundsätzlich für die Aussagekraft von Epochenbegriffen? 2.4 Literaturgeschichte Normative Poetiken verwiesen auf Autorinnen und Autoren und auf die Werke vergangener Zeiten vor allem unter dem Gesichtspunkt ihres Vorbild‐ charakters oder der zu meidenden Fehler, sie enthielten daneben aber bereits Auflistungen von Werktiteln und Namen. Literaturgeschichten (historia de 42 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Biographik Interpretation Kontextualisierung Innovationen oder Meisterschaft Abb. 2.7 Schreibende Frauen blie‐ ben lange Zeit von Litera‐ turgeschichten unberück‐ sichtigt la literatura) hingegen beabsichtigen, einen systematisierenden Überblick zumindest über die für wichtig erachteten Werke einer (meist) Nationallite‐ ratur oder auch einer Gattung zu liefern. Als wesentliche Anhaltspunkte dienen dabei: ▶ Biographien ‚großer‘ Autorinnen und Autoren; ▶ bedeutende literarische Texte, die zumeist Teil des Kanons (s. u.) gewor‐ den sind und die nach Möglichkeit in ihre Entstehungs- und Wirkungs‐ zusammenhänge eingeordnet und auf dieser Grundlage interpretiert werden; ▶ mittel- und längerfristige Tendenzen der literarischen Entwicklung, z. B. in Bezug auf Gattungen und Epochen, die in ihren thematischen und formalen Aspekten aufgezeigt werden; ▶ die Verzahnung der literaturgeschichtlichen Prozesse mit den zeitgleichen politik-, wirtschafts-, sozial-, ideen-, mentalitäts-, kultur- und medienge‐ schichtlichen Kontexten, wobei - je nach Ansatz der Verfasser/ Verfasse‐ rinnen - eine Deutung globaler Zusammenhänge unternommen werden kann (z. B. in sozialgeschichtlicher Perspektive); ▶ die individuelle Leistung einzelner Autoren/ Autorinnen bzw. die womög‐ lich für das Weitere wegweisenden Besonderheiten spezifischer Werke. Neben die genannten Kriterien sind im Laufe der letzten Jahrzehnte neue Gesichtspunkte getreten, die über ältere Konzeptionen des Kanons hinausweisen und Textgruppen in einen eigenen geschichtlichen Zusam‐ menhang stellen. Solche ‚alternativen‘ Literaturgeschichten widmen sich vorrangig der Literatur von ‚Minderheiten‘, so der Geschichte des weib‐ lichen Schreibens, oder der postkolonialen Literaturen; sie verfolgen the‐ matisch-motivische Leitfäden (bspw. eine Literaturgeschichte der Liebe) oder betrachten spezielle Untergattungen bzw. Literaturtypen (etwa eine Geschichte der Utopien). Darüber hinaus können methodische Ansätze zur Abfassung eigener Literaturgeschichten führen. Aus komparatistischer Sicht schließlich kann der enge Rahmen der Nationalliteratur verlassen werden (vgl. z. B. die auf historische Kontinuität der literarischen Konzepte ausgelegte Abhandlung von Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948]). Bis in das 18. Jh. hinein wurde Literaturgeschichtsschreibung als wichtige Aufgabe der poetologischen Schriften wahrgenommen; so findet sich in Spa‐ nien der erste Versuch einer Darstellung der romanischen Literaturen in der Carta proemio al Condestable don Pedro de Portugal (Vorwort und Brief an den Kronfeldherrn Don Pedro von Portugal), einem poetologischen Widmungsbrief des Renaissancelyrikers Íñigo López de Mendoza, Marqués de Santillana von 1445. Die deutsche Romanistik, welche als wissenschaftliche Disziplin noch 2.4 Literaturgeschichte 43  Zusatzmaterialien zur Editionsphilologie finden Sie auf www.bachelor-wissen.de Textphilologie vor den romanischsprachigen Nachbarländern deren literarische Monumente sichtete, leistete seit Ende des 19. Jh. einen wichtigen Beitrag zu einer nun‐ mehr wissenschaftlichen Beschreibung des literarischen Erbes. Ihr Bemühen war es dabei zunächst, literarische Quellen aufzuspüren, zu untersuchen und unter philologischen Aspekten zu edieren, d. h. die Überlieferung zu erfor‐ schen und maßgebliche Textausgaben zu erstellen. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. bildete sich somit im Zeichen des Positi‐ vismus (siehe Einheit 10.2) eine ‚moderne‘ wissenschaftliche Beschäftigung mit der literarischen Überlieferung aus, deren Quellen nach überprüfbaren Daten und Kriterien systematisch erfasst, analysiert und zueinander in Be‐ ziehung gesetzt wurden. Diese einseitig auf die Überlieferungsgeschichte ausgerichtete Textphilologie wurde schließlich aus einer anderen, immer noch dem Positivismus unterstellten Perspektive erweitert, welche in den historischen Entstehungsbedingungen eines Textes den zentralen Angel‐ punkt für die Interpretation erblickte. Im Zuge eines geschärften Geschichts‐ bewusstseins sollte die historische Entwicklung der einzelnen Nationallite‐ raturen aufgearbeitet werden, was nicht zuletzt zur Erstellung von Werk- und AutorInnenkatalogen führte. Eine wichtige Frage, die bis in die Mitte des 20. Jh. verfolgt wurde, beschäftigte sich zudem mit dem vom jeweiligen ‚Volkscharakter‘ geprägten ‚Wesen‘ der Nationalliteratur. Sie war auch ein zentrales Anliegen der frühen Philologie in Spanien um Marcelino Menéndez Pelayo (siehe Einheit 10.3). Die Kontextualisierung der literarischen Werke konnte später unter wech‐ selnden Leitideen fortgeführt werden, so unter der Berücksichtigung von Thesen der Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Volkskunde, der phi‐ losophischen Ästhetik, der Sprachwissenschaft, der Medienwissenschaften u. v. m. Heute hat die Literaturgeschichte unter dem Einfluss von poststrukturalis‐ tischer und dekonstruktivistischer Literaturtheorie (siehe Einheit 11.2) einen Punkt erreicht, an dem viele der für Poetik und Literaturgeschichtsschreibung grundlegenden Kategorien wie Autorschaft, Gattungen, Epochen, Kanon oder Wirkungsästhetik in ihrer Aussagekraft angezweifelt werden. Nichtsdesto‐ trotz liefern Literaturgeschichten nach wie vor unerlässliche Leitfäden für die Annäherung an übergreifende Entwicklungsprozesse und an einzelne Schlüsseltexte, wie immer sich deren Auswahl im Einzelfall auch legitimieren mag. (Eine Auswahl an Geschichten der spanischen Literatur finden Sie in Einheit 3.4) 44 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Stoff Abb. 2.9: El Cid (Denkmal in Burgos) Motiv Sozialer, wirtschaftlicher, politischer & kultureller Kontext Abb. 2.8: Literatur als Kommunikationsnetz 2.5 Thema, Stoff, Motiv Gleichsam ‚unterhalb‘ der allgemeinen Literaturgeschichte (und über natio‐ nalliterarische Abgrenzungen hinweg) lassen sich Entwicklungslinien wie‐ derkehrender Fragestellungen, Probleme und Geschichten nachzeichnen, die in der Literaturwissenschaft und in verwandten Disziplinen mit den Begriffen Stoff (materia), Motiv (motivo) und Thema (tema, m.) bezeichnet werden. Die Abgrenzung zwischen den drei Begriffen ist in der Forschung nicht immer einheitlich geregelt. Als Konsens lässt sich aber festhalten, dass der ‚Stoff‘ eine bereits in ihren wichtigsten Grundzügen bestehende Handlung bzw. ei‐ nen Plot (siehe Einheit 8.3.2) mit seinem Figureninventar bezeichnet, wie er sich in der literarischen Überlieferung etabliert hat und z. B. in mythischen oder religiösen Erzählungen bzw. in den Legenden vorliegt, die bestimmte historische Persönlichkeiten umgeben. Ein Beispiel hierfür wäre der antike Daphne-Mythos, wie er von Garcilaso de la Vega in seinem Soneto XIII ver‐ arbeitet wird (vgl. Zusatzmaterial zu Einheit 5.1), oder der Cid-Stoff (Einheit 8.1). Der Stoff ist stets eine charakteristische Kombination von Motiven, die mit den Personen und einer zu Grunde liegenden Problematik eine Einheit eingehen. Das Motiv selbst ist eine kleinere Einheit innerhalb des Handlungsgefüges, das mit anderen Motiven zusammen in den Gesamttext eingewoben ist und das Geschehen maßgeblich bestimmt oder in kondensierter Form enthält. Als Beispiele seien das Motiv der ‚Verwechslung‘, der ‚Reise‘ oder der ‚verlorenen Jugend‘ genannt. Relevante Motive für die in Einheit 9.2 behandelte Erzählung Continuidad de los parques von Julio Cortázar sind der Eifersuchtsmord und 2.5 Thema, Stoff, Motiv 45 Thema Text 2.6 Das Zusammenspiel von Themen und Motiven Aufgabe 2.11 Nachschlagewerke Aufgabe 2.12 die Begegnung der Liebenden. Dem Drama Bodas de sangre (vgl. Einheit 7.2) und dem Roman Doña perfecta (vgl. Einheit 9.1) wäre das Motiv der Flucht der Liebenden gemein. Das Thema wiederum formuliert in ganz grundlegen‐ der und abstrakter Weise den Sinngehalt des Textes, wie er aus der Verknüp‐ fung von Motiven, Handlungseinheiten und Charakteren entsteht; im Thema wird die zentrale Idee des Textes erfasst, die oftmals auf einer Konfliktsitua‐ tion beruht und die Entwicklung der Charaktere beeinflusst. Im Falle des Ro‐ mans Doña perfecta wie in Lorcas ‚tragedia rural‘ Bodas de sangre wäre das Thema der Rückständigkeit der ländlichen Regionen Spaniens festzuhalten. Themen und Motive haben einen entscheidenden Einfluß auf das Netz textinter‐ ner Beziehungen: Sie koordinieren Handlungsverläufe, verknüpfen diskursive Beziehungen, in denen sich das Geschehen zuspitzt, und integrieren das Textfeld. Darüber hinaus erschließt das Themenstudium die wechselseitige Abhängigkeit von Figurenkonzeption, Motiven und Themen. Ersichtlich wird das Problem eines bisher wenig beachteten Funktionszusammenhangs: Themen und Motive bestim‐ men häufig wiederkehrende Grundmuster literarischer Werke, die Aufschluss geben über ein unausgesprochenes Regelsystem, das der individuellen Formge‐ bung innerhalb einer unüberschaubaren literarischen Produktion zugrunde liegt. (Daemmrich: 1995, XII) ? Klären Sie anhand eines literaturwissenschaftlichen Nachschlage‐ werks den Begriff ‚Leitmotiv‘. Für das Gebiet der Stoff- und Motivforschung liegen zahlreiche Nachschlage‐ werke vor, welche bei der Analyse eines entsprechenden Textes eine wertvolle Hilfestellung geben (siehe hierzu die Zusammenstellung in Kapitel 3.4). Für den deutschen Sprachraum sind an erster Stelle Elisabeth Frenzels Motive der Weltliteratur und Stoffe der Weltliteratur zu nennen. Sie führen in die wesentlichen Elemente des jeweiligen Gegenstandes ein und verfolgen ihn über die Grenzen der Nationalliteraturen hinweg. ? Überprüfen Sie anhand des erwähnten Bandes Stoffe der Weltliteratur den Aufbau des Artikels „Cid“. Welche Nationalliteraturen werden in die Darstellung einbezogen, inwieweit werden die genannten Texte zueinander in Beziehung gesetzt? 46 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle ! Ein Kanon verzeichnet überlieferungswürdige Werke Aufgabe 2.13 Abb. 2.10 Thalia, die Muse der Komödie Deutungskanon Index der verbotenen Bücher 2.6 Kanon Eine wichtige Funktion, die ergänzend zu den bereits genannten von Poetiken und Literaturgeschichten gleichermaßen übernommen wird, besteht in deren Beitrag zur Bildung eines Kanons (span. canon). Unter Kanon versteht man dabei eine Zusammenstellung der wichtigen Werke für einen bestimmten Bereich, z. B. die ‚schöne‘ Literatur, durch kompetente Meinungsträger. Als Vorbild dienen die ‚kanonischen‘ Texte des Alten und des Neuen Testamentes, d. h. jene Texte, die im Gegensatz zu den sog. apokryphen Schriften in die Bibel aufgenommen wurden. Die Kanonbildung hängt direkt vom Literaturverständnis einer ausschlag‐ gebenden Trägergruppe ab, die ein Urteil über Wert und Unwert literarischer Texte fällt und unter ihnen diejenigen herausgreift, welche in Hinblick auf Form und Gehalt als mustergültig, als literaturgeschichtliche Meilensteine und als überlieferungswürdig gelten. Die dadurch zustande kommende Aus‐ wahl vereint daher die im weiteren Sinne gerne als ‚Klassiker‘ (clásicos) oder im Deutschen auch als ‚Höhenkammliteratur‘ bezeichneten Texte. ? Nennen Sie unter Einbezug der bisherigen Ausführungen die mögli‐ chen Meinungsträger, d. h. Gruppen oder Institutionen, welche maßgeb‐ lich an der Bildung eines Kanons beteiligt sein können. Zu bedenken ist auch in diesem Zusammenhang wieder die Zeitgebundenheit der Kanones (Plural von ‚Kanon‘) und die gleichzeitige Existenz mehrerer rivalisierender Kanones. Im Zuge des kulturgeschichtlichen Wandels, der sich auch in der Verän‐ derung der an der Kanonbildung beteiligten Gruppen spiegelt, werden Texte letztendlich daran gemessen, ob sie eine wie auch immer geartete Aussage‐ kraft - und sei es nur im Sinne der literaturgeschichtlichen Tradition - be‐ sitzen. Kanonbildung ist demnach ein besonders eingängiges Phänomen der literarischen Rezeption, wobei mit der Auswahl bevorzugter Texte gleichzei‐ tig ihre Auslegung in weiten Teilen festgelegt wird (‚Deutungskanon‘). Als Kehrseite der Kanonisierung ausgewählter literarischer Werke ist die Ausgrenzung anderer Werke zu betrachten, zumal wenn diese die repressiven Züge der Zensur (censura) trägt. In Spanien (und nicht nur hier! ) ist ein ge‐ waltsames Vorgehen gegen unliebsame Literatur zunächst vorrangig mit dem Wirken der sog. Heiligen Inquisition verbunden (in Spanien: 1478-1834). Diese konnte auf Veranlassung der Kirche bzw. ihrer verantwortlichen Organe die weltliche Herrschaft zum Eingreifen gegen glaubensgefährdende Schriften veranlassen, die auf den 1966 in seiner verbindlichen Form abgeschafften In‐ dex librorum prohibitorum gesetzt wurden. Im Zeichen der politischen Ideolo‐ 2.6 Kanon 47 Aufgabe 2.14 gie steht eine weitere bedeutsame Phase der Einschränkung der Publikations‐ möglichkeiten, nämlich die vom franquistischen Regime (1936-77) ausgeübte censura. Abb. 2.11: Titelblatt des Index librorum prohibitorum von 1711 ? Welche äußeren Faktoren könnten im 20. Jh. auf deutscher Seite die Kanonbildung zur spanischen Literatur beeinflusst haben? In welcher Form kommen Studierende der Literaturwissenschaft heute mit Kanones der spanischen Literatur in Berührung? Wer beschäftigt sich in der Gegenwart beschreibend und wertend mit der Literatur? 48 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Zusammenfassung  Die Bestimmungen, was Literatur ist, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sie funktioniert oder zu funktionieren habe, welche Kriterien über ihren Wert entscheiden und in welche traditionsbildenden Zusammenhänge sie einzuordnen ist, hat seit jeher die kritische Auseinandersetzung mit ihr geprägt und wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter den sich wandelnden sozio-kulturellen Rahmenbedingungen unterschiedlich beantwortet. Nur die Kenntnis der historischen Stufen dieses Meinungs‐ bildungsprozesses erlaubt es, die einzelnen literarischen Texte auch angemessen hinsichtlich ihrer Einordnung in gattungs- und epochenspe‐ zifische Kontexte zu beurteilen und die schwierige Frage nach ihrem ästhetischen Wert, ihren formalen wie inhaltlichen Besonderheiten und ihre Bedeutung für das zeitgenössische Publikum oder spätere Genera‐ tionen zu beantworten. Literatur Aristoteles: Poetik. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2 1994. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen: Narr Francke Attempto 11 2003. Horst S. Daemmrich/ Ingrid Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Tübingen: Francke 2 1995. Johann Wolfgang v. Goethe: West-östlicher Diwan, in: Werke. II. Hg. Erich Trunz. München: C. H. Beck 11 1978, 7-270. Ignacio de Luzán: La poética o reglas de la poesia en general y de sus principales especies (ed. de 1737 y 1789). Madrid: Cátedra 1974. Ángel de Saavedra (Duque de Rivas): El moro expósito. Córdoba y Burgos en el Siglo décimo. I. Madrid: Espasa-Calpe 1982. Lope de Vega: Arte nuevo de hacer comedias. Madrid: Cátedra 2006. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwick‐ lung in der neueren Kunst. München: Bruckmann 1915. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Literatur 49 Überblick 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Inhalt 3.1 Kompetenzen aus iberoromanistischen Studiengängen 3.2 Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissen‐ schaftler 3.3 Zum Wissenschaftsbegriff der Geisteswissenschaften 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 3.5 Arbeitstechniken Nachdem in der vorangegangenen Einheit mit der Literaturgeschichts‐ schreibung und der Literaturkritik bereits zwei wichtige Aufgabengebiete des literaturwissenschaftlichen Arbeitens angesprochen wurden, soll in der nun folgenden Einheit nach den möglichen Tätigkeitsbereichen gefragt werden, die sich im Anschluss an einen BA- oder MA-Studienab‐ schluss für die Absolventinnen und Absolventen eröffnen. Ein wesentli‐ cher Gesichtspunkt für die professionelle Auseinandersetzung mit der Literatur ist in diesem Zusammenhang das zu klärende Kriterium der Wissenschaftlichkeit. Hinzu kommt eine Reihe sog. Schlüsselqualifika‐ tionen, die während des Studiums erworben werden sollen und welche die Kern-Kompetenzen der literaturwissenschaftlichen Ausbildung er‐ gänzen. Nach diesem allgemeinen Überblick wird in einem zweiten Abschnitt auf die für das Studium relevanten Arbeitstechniken eingegangen, etwa die Literaturrecherche, das Verfassen einer wissenschaftlichen Hausarbeit oder die Benutzung bibliographischer Hilfsmittel. Abb. 3.1: Der mittelalterliche Bakkalaureus als Vorläufer des modernen Bachelor-Grades; hier: mittelalterliche Vorlesung Wissen und Kompetenzen 3.1 Kompetenzen aus iberoromanistischen Studiengängen Im Bereich der Romanistik im All‐ gemeinen bzw. den auf spanisch‐ sprachige Kulturen und Literaturen bezogenen Unterdisziplinen (die je nach Ausrichtung mit den Begriffen ‚Iberoromanistik‘, ‚Hispanistik‘ oder ‚Lateinamerikanistik‘ bezeich‐ net werden) gibt es im deutschen Sprachraum ein breites Angebot an Bachelor- und Master-Studiengän‐ gen. In ihnen allen geht es - abge‐ sehen von der grundlegenden fremdsprachlichen Kompetenz! - einerseits um den Erwerb fachspe‐ zifischen Wissens, so auf den Ge‐ bieten der Literatur- (und Kul‐ tur-)Geschichte, der Landeskunde, der Sprachwissenschaft, andererseits um das Erlangen maßgeblicher Kompetenzen, die als praktische Fähigkeiten zur Anwendung von Wissensinhalten definiert sind. Für die hispanistische Lite‐ raturwissenschaft, in die der vorliegende Band einführt, stehen folgende Kompetenzen im Vordergrund: ▶ eine kritisch-wissenschaftliche Lesehaltung und die objektivierbare Be‐ urteilung der Literarizität eines Textes; ▶ das Einordnen von literarischen Texten in literatur- und kulturgeschicht‐ liche Kategorien und Zusammenhänge; ▶ die Beherrschung der zentralen wissenschaftlichen Arbeitstechniken zur Informationsrecherche, -beurteilung und -verarbeitung und die Fähigkeit zur selbständigen Abfassung von nach gültigen fachlichen Standards argumentierenden und kohärenten Arbeiten / Referaten; ▶ die Fähigkeit, lyrische, dramatische, narrative und andere Texte unter Verwendung der spezifischen Kategorien und Techniken zu analysieren; ▶ die Anwendung von literaturtheoretischen Modellen, Ansätzen und Me‐ thoden für die Interpretation von literarischen Texten; ▶ die Ausweitung der kritischen Analyse auf die verschiedenen medialen Repräsentationsformen von literarischen und nicht-literarischen Texten. 3.1 Kompetenzen aus iberoromanistischen Studiengängen 51 Praktikum und Volontariat ! Schlüsselqualifikationen: allgemeine, nicht-fachspe‐ zifische Fähigkeiten 3.2 Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler Nach dem erfolgreichen Abschluss eines Bachelor-Studiums der Hispanistik oder Lateinamerikanistik (oder eines äquivalenten Studiengangs) stehen den Absolventinnen und Absolventen grundsätzlich vielseitige Orientierungs‐ möglichkeiten offen. Dabei ist jeweils zu beachten, ob ein direkter Berufsein‐ stieg möglich ist oder ob noch eine zusätzliche Weiterqualifikation, z. B. in Form eines spezialisierten Master-Studiums benötigt wird. Ausschlaggebend ist das inhaltliche Anforderungsprofil der jeweiligen Tätigkeit (Stellenbe‐ schreibung) bzw. der geforderte Grad des akademischen Abschlusses, häufig auch die vorberufliche Praxiserfahrung, die bei Praktika oder Volontariaten gesammelt wurde. Abgesehen von der Möglichkeit eines nicht studienspezifischen Quereinstiegs zeichnen sich in erster Linie folgende Tätigkeitsfelder ab: ▶ Bildungswesen Das - rein zahlenmäßig - bedeutendste Berufsziel von Studierenden der His‐ panistik ist die Tätigkeit als SpanischlehrerIn an Sekundarschulen, wo Spa‐ nisch flächendeckend als zweite oder dritte Fremdsprache angeboten wird und auf anhaltende Nachfrage trifft. Für diesen Beruf ist in aller Regel ein an den Bachelor anschließender lehramtsbezogener Master (oder ein grundstän‐ diger fünfjähriger Lehramtsstudiengang) sowie ein je nach Bundesland an‐ derthalbbis zweijähriger Vorbereitungsdienst (Referendariat) an einer Schule erforderlich. Daneben bietet der Bildungssektor auch Tätigkeiten im Bereich der Erwachsenenbildung, etwa in Volkshochschulkursen oder spe‐ zialisierten Sprachschulen, oder auch die Übernahme von Aufgaben der in‐ nerbetrieblichen Weiterbildung (neben Sprachunterricht z. B. die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen). ▶ Forschung In diesem Bereich ist ein Aufbaustudium in Form eines Master- und meist auch eines anschließenden Promotionsstudiengangs Voraussetzung. ▶ Übersetzerdienste Neben der Vermittlung von Sprachkenntnissen oder Schlüsselqualifikationen können sprachpraktische Kompetenzen für Übersetzungstätigkeiten in unter‐ schiedlichsten beruflichen Kontexten genutzt werden; im Falle literarischer Übersetzungen kommen hier natürlich auch literaturwissenschaftliche Kom‐ petenzen besonders zum Tragen. Wiederum gilt, dass ohne qualifizierende Zusatzausbildung bzw. vorberufliches Engagement nur schwer eine Anstel‐ lung zu finden sein wird; neben dem breiten hispanistischen Studium gibt 52 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Planungsunsicherheit Notwendigkeit der Speziali‐ sierung  Internet-Adressen zur Berufsorientierung auf www.bachelor-wissen.de es Übersetzerstudiengänge mit sprachpraktischem Fokus. Der Bereich des Dolmetschens ist immer Gegenstand spezialisierter Studiengänge. ▶ Archive, Bibliotheks- und Verlagswesen, Buchhandel Der Bachelorgrad kann auf diesem Sektor als Vorstufe für eine Lehre oder eine spezialisierte Master-Ausbildung dienen. Auch Praktika oder Volontariate können den Berufseinstieg nach dem Bachelor ermöglichen. ▶ Journalismus Analog zum letztgenannten Punkt gilt, dass eine über den Bachelorgrad hinausführende spezielle Qualifizierung in der Regel unerlässlich ist. ▶ Kulturabteilungen Eine Vielzahl von öffentlichen oder privatrechtlichen Institutionen leistet sich auch heute noch spezielle Kulturabteilungen, die ein breites Spektrum an Betätigungsfeldern bieten. Zu denken ist an die Kulturabteilungen der Verwaltungen auf kommunaler, Landkreis-, Landes- oder Bundesebene (Kul‐ tus-/ Bildungsministerium). Zahlreiche Stiftungen beschäftigen spezialisierte GeisteswissenschaftlerInnen, ebenso die Abteilungen für Kultur- und Öffent‐ lichkeitsarbeit großer Konzerne. ▶ Sonstige privatwirtschaftliche Unternehmen Nicht zuletzt gibt es eine kaum einzugrenzende Vielzahl von privatwirtschaft‐ lichen Dienstleistern, bei denen eine Tätigkeit angesiedelt sein kann, etwa im Bereich der Touristik oder des Eventmanagements. So groß und abwechslungsreich das Angebot der möglichen beruflichen Tä‐ tigkeiten für Bachelorbzw. Master-AbsolventInnen erscheinen mag, so we‐ nig können Studierende letztendlich den genauen Verlauf ihrer Karriere kon‐ trollieren. Dennoch ist eine genaue Planung des Studienverlaufs und der begleitenden anderen Formen von Ausbzw. Weiterbildung sinnvoll: Je früher Studierende sich ein geschärftes Ausbildungsprofil zulegen, desto aussichts‐ reicher sind die Chancen für den Erfolg im anvisierten Berufsfeld. Die Ge‐ staltungsmöglichkeiten reichen dabei von der Auswahl des Bachelorstudien‐ faches (bzw. ggf. der Fachkombination aus Haupt- und Nebenfach) über die Kombination der möglichen Module, das Engagement in Praktika, Volonta‐ riaten, studentischen oder akademischen Programmen und sonstigen ehren‐ amtlichen Tätigkeiten bis zur Spezialisierung in einem Master-Studiengang. Daraus folgt im Besonderen für die Entscheidung, sich in einen literatur‐ wissenschaftlichen Bachelor- oder Masterstudiengang der Hispanistik oder Lateinamerikanistik einzuschreiben, dass die Studierenden unbedingt ein ausgeprägtes Interesse an der Sprache und Kultur der spanischsprachigen Welt aufweisen sollen, dass sie außerdem gerne und viel lesen und dass sie 3.2 Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler 53 ‚Natur‘ vs. Geistestätigkeit Intersubjektivität  Zusatzmaterial zum Begriff der Geis‐ teswissenschaften auf www.bachelor-wissen.de die nötige Motivation und Fähigkeit zu selbständigem, teilweise ausdauern‐ dem Arbeiten mitbringen. 3.3 Zum Wissenschaftsbegriff der Geisteswissenschaften Wer ein literaturwissenschaftliches Studium beginnt, vor allem wenn dieses nicht auf eine Karriere im staatlichen Schuldienst abzielt, sieht sich mitunter einem gewissen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Dahinter steckt des öfteren das gängige Vorurteil, die Beschäftigung mit Literatur sei aus gesamtgesell‐ schaftlicher Sicht mehr oder minder überflüssig, ein Luxus für Schöngeister, die lediglich klug über Phantasiegebilde daherzureden wüssten. Hinter dieser Fehleinschätzung verbirgt sich zunächst eine schlichte Unkenntnis über die Studieninhalte und v. a. die im Studium erworbenen Kompetenzen. Darüber hinaus spiegelt sie allerdings ein noch viel tiefer reichendes Problem: die naive Gleichsetzung von ‚Wissenschaftlichkeit‘ mit den ‚Naturwissenschaften‘. Doch auch, wenn sich nicht experimentell ‚beweisen‘ lässt, dass der spät‐ mittelalterliche Ritterroman mit einem Wandel der sozio-kulturellen Gege‐ benheiten in Einklang steht oder dass eine Erzählung von Horacio Quiroga ein neuartiges Bild auf die zwischenmenschlichen Beziehungen wirft, so kön‐ nen die beiden genannten Thesen doch im Rahmen der literaturwissenschaft‐ lichen Methodik belegt werden, und zwar im Sinne einer plausiblen Argu‐ mentation, die von anderen Kennern der Materie in der Diskussion ernst genommen werden kann (Intersubjektivität). Insofern haben die Geisteswissenschaften Teil an einem allgemeinen Wis‐ senschaftsbegriff, der mit folgenden Kriterien umrissen werden kann: ▶ die systematische Ordnung von Erkenntnissen auf einem bestimmten Gebiet, die in ihrem Aufbau den Gesetzen der Logik entspricht und auf der ein Lehrgebäude errichtet werden kann; ▶ die Verwendung einer wissenschaftlichen Fachsprache, deren genau definierte Terminologie eine eindeutige Beschreibung der untersuchten Gegenstände erlaubt; ▶ die Formulierung von rational begründbaren Thesen (Vermutungen), welche mit den bisherigen (am besten: gesicherten) Erkenntnissen des Wissensgebietes in einen systematischen Zusammenhang gebracht wer‐ den können, d. h. mit einer Theorie (wissenschaftlichen Modellen) erklärt werden können; ▶ die intersubjektive Stichhaltigkeit von Thesen und Theorien, d. h. ihre Nachvollziehbarkeit und rationale Überprüfbarkeit von Seiten kompeten‐ ter anderer WissenschaftlerInnen - Wissenschaft lebt deshalb von der kritischen Diskussion, welche Thesen stützt, ihren Geltungsbereich (neu) ermittelt oder sie verwirft. 54 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Aufgabe 3.1 Primärtexte Textkritik  Zusatzinforma‐ tionen auf www.bachelor-wissen.de Historisch-kritische Ausgaben Studienausgaben Leseausgaben Bekannte Primärtextreihen ? Verschaffen Sie sich anhand eines Vorlesungsverzeichnisses oder der Internet-Präsentation der von Ihnen besuchten (oder in Zukunft zu besuchenden) Universität einen Überblick über die Fachbereiche bzw. Fa‐ kultäten. Welche Disziplinen werden gelehrt, wie werden sie gruppiert? 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel Für die konkrete literaturwissenschaftliche Arbeit während des Studiums und danach steht eine unüberschaubare Zahl von Hilfsmitteln in Form von gedruckten oder digitalen Publikationen zur Verfügung, deren Gebrauch nicht nur das Verständnis, die Einschätzung und Interpretation literarischer Texte erleichtert, sondern mitunter erst ermöglicht. Die folgende Übersicht dient lediglich einer ersten Orientierung und muss nach und nach ausgeweitet und individuell angepasst werden. Das Untersuchungsobjekt liegt in der heutigen Literaturwissenschaft, da sehr viele Texte durch die Arbeit früherer Forschergenerationen erschlossen sind, meist in Gestalt gedruckter, zuverlässiger Ausgaben vor. Insbesondere bei äl‐ teren Werken, die mitunter bruchstückhaft oder in verschiedenen Manuskript‐ fassungen überliefert wurden, bedurfte es hierfür der sog. Textkritik, die nach Sichtung der Fassungen und kritischem Vergleich sowie unter Rückgriff auf die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte eine verlässliche Ausgabe erstellt und sämtliche Varianten in dem sog. kritischen Apparat festhält. Eine solche umfassende Referenzausgabe für alle wissenschaftlichen Zwecke, die freilich für eine einfache Lektüre schon aufgrund des Umfangs nicht sehr geeignet ist, heißt historisch-kritische Ausgabe. Eine Stufe schlichter ist die sog. Studienaus‐ gabe, die aber immer noch wissenschaftlich exakt ist, über die Quelle der ab‐ gedruckten Textfassung Rechenschaft ablegt und ausführliche Kommentare und ergänzende Informationen zu Entstehung und Rezeption bietet. Wie der Name andeutet, sind solche Ausgaben für das Studium empfehlenswert. Einfa‐ che Leseausgaben drucken lediglich eine Fassung des literarischen Textes ab, evtl. versehen mit einem Vor- oder Nachwort und gelegentlichen Anmerkun‐ gen. Solche Ausgaben sind allein normalerweise nur für eine erste Lektüre, nicht für die Arbeit am Text vorzuziehen, insbesondere nicht bei älteren oder sehr stark erforschten Texten. Bei neuerer Literatur stehen allerdings naturge‐ mäß oft nur Leseausgaben zur Verfügung. Wichtige Primärtextressourcen zur spanischsprachigen Literatur sind die folgenden: ▶ Unter den Studienausgaben ist v. a. die bei Cátedra erscheinende Reihe Letras hispánicas erwähnenswert, die ausführlich kommentierte und mit bibliographischen Angaben versehene Referenzausgaben der kanoni‐ 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 55 Online-Primärtext- Ressourcen schen spanischen und lateinamerikanischen AutorInnen aller Jahrhun‐ derte bietet. Annähernd vergleichbar sind die Clásicos Castalia aus dem gleichnamigen Verlag. ▶ Genauestens textphilologisch aufbereitet und für wissenschaftliches Spe‐ zialistentum geeignet sind die Ausgaben der Clásicos castellanos, einer von Ramón Menéndez Pidal (siehe Einheit 10.3) gegründeten und seit 1986 in einer neuen Serie fortgeführten Reihe aus dem Verlag Espasa-Calpe. Eine beträchtliche Zahl kanonischer Texte der spanischen und lateinameri‐ kanischen Literatur sind online als Volltexte verfügbar, die man herunterladen und durchsuchen kann, was je nach Untersuchungsziel sehr hilfreich bis unentbehrlich sein kann - zitieren sollte man allerdings unbedingt gedruckte Referenzausgaben, da die Onlinetexte nicht immer sorgfältig lektoriert wer‐ den: ▶ Das mit Abstand größte Portal spanischsprachiger Volltexte, das aber auch Faksimiles, Bibliographien sowie eine Mediathek enthält, ist die Biblioteca virtual Miguel de Cervantes (www.cervantesvirtual.com). Sie ist erste Wahl bei der Suche nach der elektronischen Version eines Textes. ▶ Ebenso stellt die spanische Version von Wikisource, der Textdatenbank der Wikimedia Foundation, unter http: / / es.wikisource.org Volltexte zur Verfügung. Da sie in teilweise recht kleinschrittig getrennten Abschnitten vorliegen, kann die Handhabung dieser Texte, etwa zum Durchsuchen nach Schlüsselbegriffen, etwas unkomfortabel sein. ▶ Vor allem wenn es um entlegenere Texte und / oder alte Ausgaben geht, ist die Biblioteca digital hispánica, das frei zugängliche Archivportal der Spanischen Nationalbibliothek, die wichtigste Fundgrube. Unter http: / / bdh.bne.es liegen Tausende von Büchern, aber auch Graphiken, Karten, Fotos, Partituren usw. als Faksimiles bereit - bei Texten meist in Form von seitenweise durchsuch- und herunterladbaren PDFs. Daneben findet man auf bestimmte Epochen oder Gattungen spezialisierte Webseiten: ▶ Die Datenbank Teatro español del Siglo de Oro stellt Hunderte von Dramen des 16. und 17. Jh. als Volltext mit differenzierter Suchmaske zur Verfügung. Wahrscheinlich hat Ihre Universität ein Abonnement und stellt einen eigenen Zugang bereit (Bibliothekskatalog konsultieren), ansonsten ist deutschlandweit auch eine kostenlose Registrierung als EinzelnutzerIn möglich (www.nationallizenzen.de/ ind_inform_registration). ▶ Das Portal Admyte (Archivo digital de manuscritos y textos españoles) bietet unter www.admyte.com AbonnentInnen Zugriff auf iberoromanische Texte vom Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert in Form von Faksimiles und Transkriptionen. 56 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Übersetzungen Wörterbücher Enzyklopädien ▶ Unter den gattungsspezifischen Online-Ressourcen ist z. B. die beeindru‐ ckende Biblioteca virtual de prensa histórica unter http: / / prensahistori ca.mcu.es zu erwähnen, in der 2022 bereits über 10 Millionen Seiten spanischer Zeitungen von der zweiten Hälfte des 18. Jh. bis 2021 als digitale Faksimiles konsultiert werden können - z. B. auch die Artikel, die Mariano José de Larra (siehe Einheit 8.1 und 10.4) in El Español veröffentlichte. Für die Lektüre solcher Primärtexte ist bei eingeschränkter Kenntnis des Spa‐ nischen zu Beginn des Studiums der Gebrauch von Übersetzungen legitim, wenn sie lediglich als Verständnishilfe benutzt werden und wenn berücksichtigt wird, dass Übersetzungen notwendigerweise eine signifikante (auch inhaltliche) Abweichung vom Original, schlimmstenfalls eine entstellende Interpretation desselben mit sich bringen. Bei literaturwissenschaftlichen Arbeiten ist der Rückgriff auf eine Originalausgabe unumgänglich und Übersetzungen sind nicht zitierfähig (es sei denn, es geht um Fragestellungen zu Übersetzung und Rezeption eines Werks). Deutsche Übersetzungen von besonders kanonischen Texten nicht nur spanischer Sprache finden Sie im Portal des Projekts Guten‐ berg (www.projekt-gutenberg.org) oder bei www.zeno.org. Das erste Interesse gilt bei einem literarischen Werk natürlich dem Pri‐ märverständnis des Wortlauts. Hierfür gibt es eine Reihe von einsprachigen Wörterbüchern der spanischen Sprache: ▶ Als einsprachiges Handwörterbuch für den Alltagsgebrauch empfiehlt sich das im Verlag Larousse erscheinende Diccionario general de la lengua española, das in den Handapparat am heimischen Schreibtisch gehört. Ein traditionelles Referenzwörterbuch und unter www.rae.es/ drae zudem kos‐ tenlos online verfügbar ist das Diccionario de la Real Academia Española. Wesentlich umfangreicher und daher auch für Detailfragen empfehlens‐ wert, leider jedoch nur als voluminöse Papierversion verfügbar, ist das zweibändige Diccionario de uso del español, das ursprünglich von der spa‐ nischen Lexikographin María Moliner entwickelt wurde und bis heute unter ihrem Namen bekannt ist. ▶ Ältere Wörterbücher bis zurück ins 18. Jh. sind über die Webseite der Real Academia Española unter www.rae.es/ recursos/ diccionarios zugänglich. Mit ihnen lässt sich etwa die Bedeutung eines Begriffs in Texten länger zurückliegender Epochen ermessen und belegen. Geht es nicht um rein sprachliche Verständnisprobleme, sondern um fehlende Hintergrundinformationen allgemeiner Art, so ist zunächst ein Blick in enzyklopädische Nachschlagewerke ratsam, zum Beispiel: ▶ Die Gran enciclopedia de España, 22 Bände, 1990 ff., per Abonnement on‐ line unter http: / / gee.mienciclo.com. 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 57 Fachlexika der Hilfswissen‐ schaften ! Enzyklopädien nicht für Fachfragen benutzen Literarische Lexika ▶ Wer keine spanischsprachige Enzyklopädie benötigt, greift zu anderen Enzyklopädien wie dem deutschen Brockhaus oder der berühmten Encyclopaedia Britannica. ▶ Die inzwischen populärste Enzyklopädie überhaupt, Wikipedia, ist nicht nur umfangreich und oft sehr ausführlich und aktuell, sondern natürlich auch in spanischer Sprache verfügbar (http: / / es.wikipedia.org), für sie gilt aber derselbe Warnhinweis wie für andere offene Online-Quellen (s. am Ende dieses Abschnitts). Enzyklopädien sind normalerweise wirklich nur für Hintergrundinformatio‐ nen und zur Orientierung verwendbar. Für detailliertere Informationen zu bestimmten Teilbereichen (wie antike Mythologie, Philosophie, Theologie usw.), die je nach Text große Relevanz besitzen können, stehen Fachlexika der Hilfswissenschaften zur Verfügung, die Sie zumindest in den entsprechenden Institutsbibliotheken finden können. Eigentlich literaturwissenschaftliche In‐ formationen (etwa zu Werken, Autoren, Gattungen) sollten unbedingt aus entsprechender Fachliteratur und keinesfalls aus allgemeinen Enzyklopädien bezogen werden. Hierzu gehören beispielsweise literarische Lexika, die über‐ blicksartig und mit demgemäß geringer wissenschaftlicher Detailschärfe In‐ formationen zu literarischen Texten bieten: ▶ Kindlers Literaturlexikon (im Print zuletzt 2009 in 18 Bänden erschienen, besser allerdings online per Abonnement Ihrer Universität unter www.kll -online.de konsultierbar) bietet zu Tausenden von Werken der Weltlitera‐ tur Inhaltsangaben, Kontextualisierung (Bezüge, Rezeption, Forschung), Verzeichnisse zu Primärtextausgaben, Übersetzungen, Verfilmungen und einige einschlägige Sekundärliteraturangaben. ▶ Auf die spanische bzw. hispanoamerikanische Literatur spezialisiert sind das Diccionario Espasa literatura española (2003) oder der (inzwischen etwas betagte) Oxford companion to Spanish literature von 1978 bzw. seine spanische Übersetzung unter dem Titel Diccionario Oxford de literatura española e hispano-americana (1984). ▶ Darüber hinaus gibt es auf einzelne Epochen, Autoren oder Themen spe‐ zialisierte Lexika wie das Diccionario de la comedia del Siglo de Oro (2002) oder etwa das Nachschlagewerk Spanisch Writers on Gay and Lesbian Themes von David William Foster (1999). Der neuesten (nicht nur spa‐ nischsprachigen) Literatur widmet sich in autorzentrierten Überblicksessays das Kritische Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG), per Abonnement online unter www.munzinger.de. Zum Zwecke der Orientierung, weniger zu einzelnen Werken als zu ge‐ schichtlichen, sozialen und literarästhetischen Kontexten, sind literaturge‐ schichtliche Darstellungen hilfreich, beispielsweise: 58 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Literaturgeschichten Aufgabe 3.2 Stoff- und themenge‐ schichtliche Wörterbücher ▶ Hans-Jörg Neuschäfer (Hg.): Spanische Literaturgeschichte ( 4 2011) bzw. Michael Rössner (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte ( 4 2019). ▶ Ein ‚Klassiker‘ der spanischen Literaturgeschichtsschreibung, der inzwi‐ schen über 20 Auflagen erreicht hat, ist José García López: Historia de la literatura española (zuletzt 2009). ▶ Für eine rasche Groborientierung über Werke, Epochen und ihren soziohistorischen Rahmen mit Textanalysen eignen sich Martin Franzbach: Geschichte der spanischen Literatur im Überblick ( 3 2006) und Hans-Otto Dill: Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick (1999). ▶ Eine in vielerlei Hinsicht unkonventionelle und recht umfassende Dar‐ stellung der spanischen Literatur, die nicht zuletzt wegen ihrer Thesen und anekdotischen Randnotizen fortgeschrittene Studierende interessie‐ ren dürfte, ist Hans-Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur (1990). („Eine“ ist von Gumbrecht bewusst hervorgehoben.) ▶ Per Abonnement Ihrer Universität online verfügbar dürfte David That‐ cher Gies (Hg.): The Cambridge History of Spanish Literature (Printversion 2004) sein. ? Konsultieren Sie zu einem spanischsprachigen literarischen Text, den Sie, wenn möglich, aus eigener Lektüre kennen, ein literarisches Lexikon wie den ‚Kindler‘ und eine Literaturgeschichte wie die von Neuschäfer oder Rössner herausgegebene. Zu welchen Aspekten des Textes erhalten Sie dort jeweils Informationen? Vergleichen Sie diese mit dem Textwissen, das Sie aus Ihrer Lektüre besitzen. Ein einzelnes literarisches Werk steht nicht nur in einem bestimmten epo‐ chalen Kontext, über den Überblicks-Literaturgeschichten Auskunft geben, sondern er ist meist auch Teil einer thematischen Tradition, die eine (oft über die konstruierten Grenzen von Nationalliteraturen hinwegreichende) eigene Geschichte innerhalb der Literaturgeschichte bilden kann. Über sie informiert man sich in stoff- und themen- und symbolgeschichtlichen Nachschlagewer‐ ken wie den folgenden: ▶ Die von der Komparatistin Elisabeth Frenzel erstellten Handbücher Stoffe der Weltliteratur ( 10 2005) und Motive der Weltliteratur ( 6 2008), ▶ Jean-Charles Seigneuret (Hg.): Dictionary of Literary Themes and Motives. 2 Bände. New York: Greenwood Press 1988, ▶ Frank N. Magill (Hg.): Cyclopedia of Literary Characters. 2 Bände. Engle‐ wood Cliffs, N.J.: Salem Press 1963, ▶ Robert Laffont, Valentino Bompiani: Dictionnaire des personnages littéraires et dramatiques de tous les temps et de tous les pays. Neuausgabe 7 Bände. Paris 1999 oder 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 59 Literaturwissenschaftliche Wörterbücher Suche nach Sekundärlite‐ ratur: Bibliographieren Bibliographische Hilfsmittel ▶ das sehr umfassende Lexikon literarischer Figuren, Personen, Typen und Gruppen von Beatrix Müller-Kampel und Eveline Thalmann (Stuttgart: Hiersemann 2013), das zwar selbst unmittelbar keine Informationen zu den literarischen Figuren bereitstellt, dafür aber als ‚Meta-Nachschlage‐ werk‘ angibt, in welchen anderen stoff-, themen- und symbolgeschicht‐ lichen Lexika Informationen zum gesuchten Element und den Texten, in denen es vorkommt, zu finden sind; man erfährt also gleich, wo man nachschlagen sollte. Stellen sich im wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten dann Fragen zur Fachterminologie, zu (Gattungs-, Epochen-, Werk-)Konzepten sowie Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft, so bieten Fachwör‐ terbücher schnelle Orientierung - neben vielen anderen etwa die folgenden bekanntesten Vertreter: ▶ Rainer Hess / Gustav Siebenmann/ Tilbert Stegmann: Literaturwissenschaftli‐ ches Wörterbuch für Romanisten (LWR), Tübingen/ Basel 4 2003. Das Werk bietet v.a. Epochen- und Gattungsübersichten zu den romanischen Litera‐ turen und ist hierfür erste Wahl für Studierende der Romanistik. ▶ Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 8 2013. Ein ‚klas‐ sisches‘ allgemeines Nachschlagewerk, brauchbar trotz der überwiegend germanistischen Ausrichtung. ▶ Zu literaturtheoretischen und methodischen Fragen bietet das von Ansgar Nünning herausgegebene, auch als e-Book verfügbare Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart/ Weimar 5 2013, prägnante Kurzdar‐ stellungen zu allen gängigen Konzepten und wichtigen Personen der Methodendebatten mit Verweisen auf Grundlagentexte. Allen genannten Informationsquellen ist gemeinsam, dass sie erste Orien‐ tierung und Überblick bieten. Für eine adäquate Beschäftigung mit und Teilnahme an Forschungsdebatten sind sie zu oberflächlich und sollten daher auch in Aufsätzen und Seminararbeiten (siehe unten) nicht oder sehr sparsam zitiert werden. Eine Ermittlung und Sichtung der speziellen Sekundärliteratur zum jeweiligen Thema ist daher unerlässlich. Die unüberschaubare Zahl von Fachpublikationen macht es erforderlich, mit System nach einschlägigen Arbeiten zu suchen, zu bibliographieren. Wie kann man hier vorgehen? ▶ Monographische Publikationen (d. h. ganze Bücher zu einem Thema) kann man über Online-Bibliothekskataloge finden, deren wichtigster der Karlsruher Virtuelle Katalog (KVK) ist (http: / / kvk.bibliothek.kit.edu). Es handelt sich um einen Meta-Katalog, der nationale wie internationale Bi‐ bliotheken durchsucht und die Ergebnisse zusammenstellt. Für eine the‐ matische Suche empfiehlt sich insbesondere das Suchfeld „Schlagwort“, das den Inhalt einer Publikation erfasst, auch wenn der entsprechende 60 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Thematische Literaturlisten in entsprechenden Monographien Fachbibliographien Terminus nicht im Titel derselben auftaucht. Es empfiehlt sich, mit diesem Suchkriterium ein wenig zu experimentieren und bei bekannten ‚passen‐ den‘ Publikationen ggf. nachzusehen, unter welchen Schlagworten diese im Katalog rubriziert sind. Abb. 3.2: Karlsruher Virtueller Katalog In den gefundenen monographischen Publikationen sind meist weitere Li‐ teraturangaben zum Thema aufgeführt. Sie sind zwar u. U. selektiv, dafür aber rasch ermittelt und zudem meist hochgradig relevant für ein Thema. Insbesondere Überblicksdarstellungen jüngeren Datums können eine große Hilfe beim Bibliographieren sein. Auch manche Primärtextausgaben beinhal‐ ten brauchbare Bibliographien, jedenfalls für eine erste Einführung in die Forschung zum jeweiligen literarischen Werk. Einen verlässlichen Überblick über die Forschungslage bieten nur Biblio‐ graphien, die sowohl Bücher als auch Aufsätze eines Forschungsgebiets verzeichnen. Für die hispanistische Literaturwissenschaft gehören folgende Hilfsmittel zur ersten Wahl: 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 61 ▶ Die von der Universität Münster im Auftrag des deutschen Hispanisten‐ verbandes betreute Bibliographie der Hispanistik in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz weist unter www1.ivv1.uni-münster.de/ litw3/ SpanBIB für den Zeitraum ab 1978 Publi‐ kationen zu den Sprachen und Kulturen der iberischen Halbinsel nach (also auch zu Portugiesisch, Katalanisch, Galizisch und Baskisch). ▶ Die Romanische Bibliographie, die 1961 als eigenständiges Publikations‐ verzeichnis aus den Supplementheften der Zeitschrift für Romanische Philologie hervorging, verzeichnet jährlich mehrere tausend romanis‐ tische Fachpublikationen, ist also nicht auf das Spanische und auch nicht auf Literaturwissenschaft beschränkt. Wenn Sie im Katalog Ihrer Universitätsbibliothek nach den Titelwörtern „Romanische Bibliographie online“ suchen (und die Ergebnisse eventuell auf Online-Ressourcen einschränken), sollten Sie relativ schnell den Zugang zur Datenbank (Abb. 3.3) finden. Bei einem Klick auf das Suchfeld öffnet sich die Suchmaske mit der Möglichkeit, differenzierte Suchkriterien auszuwählen und zu kombinieren: „Volltext“ für eine grobe Suche im Google-Stil über alle Felder, filigraner und oft besser aber über die Felder „Titel“ (der wissen‐ schaftlichen Publikation, nicht des Primärtextes), „Person“ (das ist der oder die Autor/ in des literarischen Werks, zu unterscheiden vom Feld „Autor“, mit der die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler gemeint ist, der die Publikation geschrieben hat) und vor allem „Schlagwort“. Abb. 3.3: Romanische Bibliographie (hier mit einer Suche nach Publikationen über Cer‐ vantes-Verfilmungen) ▶ Online steht auch die auf Sprach- und Literaturwissenschaften allgemein ausgerichtete International Bibliography der Modern Language Association (MLA) zur Verfügung. Sie hat den Bequemlichkeitsvorteil einer sehr diffe‐ renzierten Suchmaschine für den Zeitraum ab 1926, dabei aber den Nach‐ 62 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten teil einer Konzentration auf angloamerikanische Forschungsbeiträge. Der Zugriff ist nicht frei, aber über die Hochschule normalerweise möglich - suchen Sie am besten im Bibliothekskatalog Ihrer Universität nach „MLA International Bibliography“. Abb. 3.4: MLA International Bibliography ▶ Eine fachübergreifendes Verzeichnis von Zeitschriftenaufsätzen bietet die IBZ (Internationale Bibliographie der geistes- und sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur). Sie umfasst derzeit über 4 Millionen Datensätze zu geisteswissenschaftlichen Artikeln aus aller Welt. Mit Sicherheit stellt Ihre Hochschule einen Zugang bereit - suchen Sie im Katalog oder im Datenbank-Infosystem Ihrer Bibliothek nach „IBZ online“. ▶ Die bibliographische Datenbank Online Contents (OLC) stellt spezifische Zugänge zu sogenannten Sondersammelgebieten (SSG) zur Verfügung, also fach- oder regionenspezifische Teilauszüge des Gesamtkatalogs, die zudem um die Bestände bestimmter spezialisierter Bibliotheken in Deutschland ergänzt werden. Das Ergebnis sind passgenaue Datenban‐ ken zu den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen. Der Zugang ist an allen Hochschulen in Europa und den USA frei - suchen Sie im Katalog nach „OLC-SSG“. Das für uns relevante Sondersammelgebiet heißt „Ibero-Amerika, Spanien, Portugal“. 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 63 ! Vorsicht bei Quellen im Internet Aufgabe 3.3 Schriftliche Abhandlung ▶ Im Handbook of Latin American Studies (http: / / lcweb2.loc.gov/ hlas) findet man bibliographische Hinweise auf Publikationen verschiedenster Fach‐ gebiete über Lateinamerika. Da die Einträge von FachvertreterInnen der Geistes- und Sozialwissenschaften stammen, findet man weniger, dafür qualitativ bessere und zudem kommentierte Angaben. ▶ Eine beliebte, aber mit allergrößter Vorsicht anzuwendende Methode der Ermittlung von Sekundärliteratur ist die Websuche über Suchmaschinen. Man kann zwar auf Sekundärliteratur stoßen, etwa bei Homepages zu bestimmten AutorInnen, aber dies in sehr unsystematischer und unsi‐ cherer Weise. Der Inhalt von Webseiten selbst sollte als Sekundärliteratur extrem kritisch gelesen und Aussagen über literarische Texte stets auf Plausibilität überprüft werden. Zitier- und verwendbar sind in der Regel nur Seiten von akademischen Institutionen, wie beispielsweise des Doku‐ mentenservers der Universität Freiburg i. Br. (www.freidok.uni-freiburg.d e), auf dem nur Arbeiten publiziert werden, deren wissenschaftliches Ni‐ veau gesichert ist. Eine höhere Wahrscheinlichkeit, Suchmaschinentref‐ fer dieser Art zu erhalten, hat man übrigens bei Nutzung des Spezialpor‐ tals Google Scholar (scholar.google.de) - aber auch hier ist Vorsicht geboten. ? Beantworten Sie mit Hilfe der genannten literaturwissenschaftlichen Hilfsmittel folgende Fragen: ▶ Welche spanischen AutorInnen des 17. Jh. haben den Narziss-Stoff aufgegriffen? Welche anderen Texte dieser Stofftradition gibt es? ▶ Von wem wurde das Werk Más allá verfasst? Welcher Gattung ist es zuzurechnen? Wo ist es zuerst erschienen? ▶ Wer hat wo im Jahr 2006 einen Aufsatz zur urbanen Ästhetik im Werk des uruguayischen Schriftstellers Mario Benedetti veröffentlicht? ▶ Wer oder was ist „Lira“? ▶ In welchem spanischen Drama des 17. Jh. kommen die Verse „reco‐ nocida la deuda“ und „todos somos locos“ vor? ▶ Ermitteln Sie zwei grundlegende Publikationen zum literaturwissen‐ schaftlichen Forschungsfeld Imagologie. 3.5 Arbeitstechniken Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur findet normaler‐ weise über schriftliche Forschungsbeiträge statt; selbst die auf einer Tagung präsentierten Vorträge werden, wenn sie als wichtig erachtet werden, übli‐ cherweise anschließend gedruckt. Es ist daher eine zentrale Kompetenz, 64 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Rahmenvorgaben: Fragestellung / These Wissenschaftlichkeit Wahrnehmung von Vorarbeiten Vorgehensweise bei der Erarbeitung wissenschaftli‐ cher Aufsätze: Themenfin‐ dung Bibliographieren Lesen und Exzerpieren Überprüfung der Themen‐ stellung Gliederung Techniken und Standards der schriftlichen Darstellung wissenschaftlicher Befunde zu beherrschen, und sie wird aus diesem Grunde auch in Form von Seminararbeiten während eines Philologiestudiums mehrfach trainiert. Die Regeln einer solchen Arbeit entsprechen im Wesentlichen denen, die auch für ‚echte‘ Forschungsbeiträge (Aufsätze oder Bücher) gelten. Ein Aufsatz behandelt ein umgrenztes literaturwissenschaftliches Problem, das in einer klar formulierten Fragestellung und / oder einer oder mehreren Thesen konkretisiert wird. Er richtet sich an eine fachkundige Person und setzt das entsprechende Grundwissen voraus. Das Thema wird wissenschaft‐ lich abgehandelt (siehe Abschnitt 3.3), d. h. die getroffenen Feststellungen werden argumentativ hergeleitet sowie nachvollziehbar und überprüfbar ge‐ macht. Hierzu sind durchgehend Verweise auf die untersuchten literarischen Texte, ggf. die theoretischen Prämissen und auf bereits vorliegende Arbeiten (Sekundärliteratur) erforderlich. Letztere dokumentieren den jeweiligen Dis‐ kussionsstand, der teils aus kontinuierlicher persönlicher Fachlektüre, gerade am Anfang des Studiums aber meist aus Seminarinhalten und v. a. gezielter bibliographischer Ermittlung (siehe 3.4) bekannt ist. 1. Erster Schritt ist die Themenfindung. Bei Hausarbeiten kann man im Se‐ minar behandelte Inhalte aufgreifen oder ausweiten, wissenschaftliche Aufsätze schließen meist an offene Fragen der bisherigen Forschung an oder eröffnen, angestoßen von einer Beobachtung oder einem neuen theoretischen Ansatz, ein neues Forschungsfeld. Das Erkenntnisinteresse (Frage, These) muss in jedem Fall klar formuliert werden. 2. Es wird zum gewählten Thema ausführlich bibliographiert. Da die Menge des bereits Publizierten in vielen Fällen zu groß für eine extensive Lektüre ist, kommt der Auswahl der relevanten Sekundärliteratur zentrale Be‐ deutung zu: Persönliche Sichtung der augenscheinlich passendsten Pu‐ blikationen (Inhaltsverzeichnis, einzelne Kapitel oder Abschnitte querle‐ sen), Markierung (und bei entliehenen Büchern Fotokopieren oder Digitalisieren) der relevanten Abschnitte. 3. Lesen und Exzerpieren der erhobenen Materialien. ‚Exzerpieren‘ bedeutet, wichtige Aussagen möglichst im Originalwortlaut, evtl. durch eigene Kommentare, die als solche klar gekennzeichnet sind, ergänzt, und mit genauem Verweis zu notieren, am besten elektronisch mit einer Datei pro Publikation. Die exzerpierten Stellen sollten im Sekundärtext markiert und dieser bis zum Abschluss der Arbeit geordnet bereit gehalten werden. 4. Überprüfung der Themenstellung und Eingrenzung. Sind weitere Klärun‐ gen nötig, neue Fragen, Ansätze, Termini usw., die für die Befriedigung des Erkenntnisinteresses unabdingbar sind? Wenn ja, dann nochmals zu Schritt 2. 5. Nun wird die Arbeit gegliedert. Hier ist darauf zu achten, dass jeder Teil bedeutsam für die Fragestellung ist und die Arbeit eine (kausale, hierar‐ 3.5 Arbeitstechniken 65 Niederschrift Mehrmalige Durchsicht Zitieren und Verweisen Beispiele für korrekte bibliographische Angaben chische, logische …) Gedankenführung bekommt, die für die Leserin oder den Leser jederzeit transparent ist. Meist formuliert eine Einleitung das Erkenntnisinteresse und ggf. den Forschungsstand, ein großer ‚Hauptteil‘ (der in der konkreten Arbeit nicht diese Überschrift tragen sollte) beant‐ wortet die gestellte Frage und ein Abschluss resümiert und reflektiert die Ergebnisse, bietet einen verallgemeinernden oder einschränkenden Aus‐ blick oder hält offene Fragen und Aufgaben (sog. Desiderate) für weitere Forschungen fest. 6. Für die Niederschrift wird es sinnvoll sein, die Exzerptnotizen auf die ein‐ zelnen Kapitel und Unterkapitel zu ‚verteilen‘ (etwa aus den Exzerptda‐ teien in verschiedene Kapiteldateien zu kopieren), so dass jeweils die Grundlage, von der aus man argumentiert, zur Hand ist und Verweise schnell eingefügt werden können. Denkbar ist auch, die Gliederung unter Nutzung geeigneter Software als elektronische Mind-Map abzubilden, die zugehörigen Notizen und Gedanken an den jeweils passenden ‚Ast‘ an‐ zuhängen, zu ordnen und dann an der Mind-Map ‚entlangzuschreiben‘. 7. Ein gerne unterschätzter letzter Schritt ist die mehrmalige genaue Durch‐ sicht der Arbeit nach Stringenz und Stimmigkeit, Einhaltung wissen‐ schaftlicher Standards, formaler Einheitlichkeit, aber auch Sprache und Stil (an die gerade in philologischen Fächern zu Recht ein hoher Anspruch gerichtet wird) sowie typographischer Korrektheit (Tippfehler, Satzkon‐ ventionen). Zu den wissenschaftlichen Standards wurde oben schon Wesentliches gesagt. Eine besondere Bedeutung kommt hier dem Umgang mit fremden Erkennt‐ nissen zu. Generell ist jeder fremde Gedanke (ausgenommen Allgemeinwis‐ sen) als solcher zu kennzeichnen und so mit Quellenangabe zu versehen, dass er von der Leserin oder dem Leser des Aufsatzes ohne großen Aufwand in der Originalpublikation zu finden ist. Korrekte Verweise haben beispielsweise folgende Form: Angaben zu Primärwerken ▶ Bei selbstständigen literarischen Texten: Autor / in: Titel des Werks. Ggf. Herausgeber / in der Textausgabe. Ersch.ort: Verlag Auflage Jahr (Reihentitel, Nummer). Z. B. Pedro Calderón de la Barca: La vida es sueño. Hg. von Ciriaco Morón. Madrid: Cátedra 35 2013 (Letras hispánicas, 57). ▶ Bei Primärtexten innerhalb von Sammlungen oder Gesamtausgaben: Autor / in: Titel des Werks, in: Titel der Gesamtpublikation. Ggf. Her‐ ausgeber / in der Textausgabe. Ersch.ort: Verlag Auflage Jahr (Reihentitel, Nummer), Seite(Anf)-Seite(End). 66 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Z. B. Jorge Luis Borges: La biblioteca de Babel, in: Narraciones. Hg. von Marcos Ricardo Barnatán. Madrid: Cátedra 17 2006 (Letras hispánicas, 123), 105-114. ▶ Bei Filmen: Regisseur / in: Titel des Films. Land bzw. Länder Jahr (Datenträger, Distributor des Datenträgers Jahr). Z. B. Alejandro González Iñárritu: Amores perros. Mexiko 2000 (DVD, Warner 2002). Angaben zu Forschungsbzw. Sekundärliteratur ▶ Bei Monographien: Verfasser / in: Titel des Buchs. Untertitel. Ersch.ort: Verlag Auflage Jahr (Reihentitel, Nummer), zitierte Seite(n). Z. B. Kathleen Richmond: Women and Spanish Fascism: the women’s section of the Falange, 1934-1959. London: Routledge 2003 (Rout‐ ledge-- Cañada Blanch Studies on Contemporary Spain, 6), 21. ▶ Bei Aufsätzen in Sammelbänden und Lexika: Verfasser / in: Aufsatztitel, in: Herausg. (Hg.), Titel des Buchs. Unterti‐ tel. Ersch.ort: Verlag Auflage Jahr, Seite(Anf) - Seite(End), hier zitierte Seite(n). Z. B. Wilfried Floeck: „¿Juego posmoderno o compromiso con la rea‐ lidad extraliteraria? El teatro de José Sanchis Sinisterra“, in: Herbert Fritz / Klaus Pörtl (Hg.), Teatro contemporáneo español posfranquista: Autores y tendencias. Berlin: Tranvía 2000, 47-54, hier 49 f. ▶ Bei Zeitschriftenartikeln: Verfasser / in: „Aufsatztitel“, Name der Zeitschrift Nummer [entweder fortlaufende Heftnummer oder Jahrgangsnummer mit Heftnummer innerhalb des Jahres], Jahr [ggf. mit vorangest. Monatsangabe], Seite(Anf)-- Seite(End), hier zitierte Seite(n). Z. B. Victoria Calmes: „Alienación cultural y dislocación de la subjeti‐ vidad en El amante bilingüe de Juan Marsé“, RILCE. Revista de Filología Hispánica 25.2, 2009, 209-219, hier 210. ▶ Bei Online-Quellen: Verfasser / in, „Aufsatztitel“, URL (Konsultationsdatum). Z. B. Jörg Dünne, „Forschungsüberblick ‚Raumtheorie‘“, www.raumth eorie.lmu.de/ Forschungsbericht4.pdf (05. 12. 22). Mit ‚Verfasser/ in‘ ist bei Sekundärtexten diejenige Person gemeint, die die zi‐ tierte Stelle geschrieben hat. Das bedeutet: Der Verweis auf einen Sammelband- oder Lexikonartikel trägt den Namen des Artikelautors (nicht der Herausgebe‐ rin), der Verweis auf die Einleitung oder das Nachwort einer Primärtextausgabe 3.5 Arbeitstechniken 67 KI als Hilfsmittel Typographisches den Namen des Verfassers dieser Einleitung oder dieses Nachworts, also in der Regel eines Literaturwissenschaftlers (nicht des Schriftstellers). Der Verweis erfolgt entweder in Fußnoten (beim ersten Mal ausführlich, ab dann kurz, z. B.: Spear: 1991, 360) oder im Fließtext (in Klammern, nur kurz). Alle zitierten Titel (und nur diese) werden am Ende der Abhandlung alphabetisch und nach Primär- und Sekundärliteratur getrennt im Literaturverzeichnis aufgeführt (dort dann ohne die Angabe zitierter Einzelseiten). Es gibt verschiedene, z. T. durch HerausgeberInnen oder, im Falle der Hausarbeit, möglicherweise durch DozentenInnen vorgegebene Zitierformen; wichtig ist vor allem, dass eine Form konsequent durchgehalten wird. Hilfestellung in Sachen Zitieren und Verweisen bietet das Handbuch Arbeitstechniken Literaturwissenschaft der Germanisten Burkhard Moennighoff und Eckhardt Meyer-Krentler (München: Fink 16 2013 oder online als e-book per Abo Ihrer Bibliothek, dort die Kap. 5 und 6). Das Zitieren wie insgesamt der Umgang mit Quellen kann im Übrigen mit Hilfe von Literaturverwaltungs-Software, z. B. dem (oft per Campuslizenz für Studierende kostenlosen) Citavi oder dem (frei zugänglichen) Zotero, sehr vereinfacht werden. Eine computergestützte Hilfestellung, die weit über derlei arbeitsorgani‐ satorische Aspekte hinausgeht, ist die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, insbesondere von Anwendungen auf Basis generativer Sprachmodelle wie ChatGPT. Da diese Technologie mit ihren Fähigkeiten Kernkompetenzen ei‐ nes philologischen Studiums (etwa Analysefähigkeit, Textstrukturierungs- und Formulierungskompetenz) berührt, zugleich aber intransparent in Bezug auf das Zustandekommen des generierten Outputs ist, ist der Einsatz von KI beim Abfassen wissenschaftlicher Texte grundsätzlich problematisch und kann unter Umständen als eine Form des Plagiats betrachtet werden. Ten‐ denziell bis sehr kritisch wird man in diesem Zusammenhang Anwendungen wie die Planung von methodischen Schritten, die Anfertigung von Gliederungen und die Ausformulierung ganzer Textpassagen sehen, weniger pro‐ blematisch eine rein unterstützende Nutzung bei der Korrektur und eventuell Kürzung von Texten, der Aufbereitung vorhandener Daten, der Auswertung elektronisch vorliegender Primärtexte im Hinblick auf präzise Detailfragen oder der flankierenden Zusammenfassung von für die jeweilige Fragestellung nicht zentraler Sekundärliteratur. Es empfiehlt sich, vor Nutzung von KI bei wissenschaftlichen Arbeiten die diesbezüglichen Standards der jeweiligen Hochschule oder des jeweiligen Publikationsorgans einzuholen und in der Arbeit, ähnlich wie bei herkömmlichen Quellen, an geeigneter Stelle auf den Umfang und die Art von erfolgter KI-Nutzung hinzuweisen. Für die typographischen Vorgaben (Schriftstile, Interpunktionszeichen etc.) schließlich ist es empfehlenswert, sich einmal genau eine neuere Fachpublikation anzusehen. Grundlegendes ist der Zusammenstellung von Christoph Bier unter http: / / bit.ly/ typokurz-cb zu entnehmen. 68 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Zusammenfassung Das Bachelor-Studium hat das Ziel, grundlegende Kompetenzen zu vermitteln, die dank der internationalen Harmonisierung der Studienab‐ schlüsse den Zugang zu einem der vielen geisteswissenschaftlichen Mas‐ terstudiengänge in Europa, aber auch zu zahlreichen außerakademischen Berufsfeldern öffnen. Die Qualifikation hispanistischer Bachelor-Absol‐ ventInnen liegt in der vertieften Kenntnis der hispanophonen Kulturen und der Fähigkeit, sie insbesondere anhand von Sprache und Literatur wissenschaftlich zu beschreiben, aber auch in der allgemeinen Fähigkeit zu kritischer Erschließung gedanklicher Sachverhalte und deren adäqua‐ ter (fremd-)sprachlicher Präsentation im Mündlichen wie Schriftlichen. Für den wissenschaftlichen Austausch über Phänomene wie Literatur sind fachbezogene Hilfsmittel und Arbeitstechniken erforderlich, unter ihnen insbesondere die systematische Ermittlung von Forschungsergeb‐ nissen anhand von Bibliographien und die Präsentation eigener Befunde im Rahmen einer wissenschaftlichen Abhandlung. 3.5 Arbeitstechniken 69 Kompetenz 2: Literarische Texte analysieren Überblick 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Inhalt 4.1 Verstehen-- Analysieren-- Interpretieren 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 4.3 Strukturanalyse: Vorgehensweise 4.4 Gattung Lyrik Dieses Kapitel macht Sie mit verschiedenen Zugängen zu literarischen Texten im Allgemeinen vertraut, von denen der hier wichtigste derje‐ nige der Strukturanalyse ist. Er bildet die Grundlage interpretatorischer Ansätze, die Sie ab Einheit 10 kennen lernen werden. Es werden die verschiedenen Ebenen und die praktische Vorgehensweise bei einer Strukturanalyse sowie sachliche und terminologische Grundlagen zur Beschreibung lyrischer Texte vorgestellt. Verstehen in den Geisteswissenschaften Hermeneutik als Theorie des Verstehens 4.1 Verstehen-- Analysieren-- Interpretieren Geisteswissenschaften (ciencias humanas) unterscheiden sich vor allem inso‐ fern von den Naturwissenschaften, als subjektives menschliches Verstehen ihr zentrales Moment ist, und dies in mehrfacher Hinsicht: Geisteswissen‐ schaftlerInnen sind um eigenes Verstehen bemüht, nehmen bei der Arbeit vom eigenen Verstehen ihren Ausgang und haben im menschlichen Verstehen selbst ihren Untersuchungsgegenstand, denn Literatur beispielsweise ist entscheidend durch den Prozess des Verstehens geprägt: Erstens werden Texte normalerweise für ein um Verstehen bemühtes Publikum geschrieben, so dass Texte immer schon den Verstehensvorgang zu steuern versuchen - sei es mit dem Ziel der Erleichterung oder der Irritation; zweitens reagieren SchriftstellerInnen stets auf vorherige Texte, die sie selbst verstanden haben, so dass die subjektive Aufnahme von Literatur Teil späterer Texte und damit der Literaturgeschichte wird. Diesen Zusammenhang hat die Konstanzer rezeptionsästhetische Schule systematisiert, von der in Einheit 10.6.2 die Rede sein wird. Wie aber vollzieht sich das Verstehen eines Textes? Diese Frage ist Gegenstand der philosophischen Hermeneutik (herme‐ néutica). Der Begriff bezeichnete von alters her zunächst die Ermittlung des ‚wahren‘ Schriftsinns insbesondere der Bibel und diente u. a. dazu, nicht mehr verständliche kanonische Texte wieder lesbar zu machen, mit‐ hin zu ‚übersetzen‘ und so die Kontinuität der Tradition zu gewährleis‐ ten. Seit dem Ende des 18. Jh. entwickelte sich Hermeneutik dann in einem ausgedehnteren Sinne zur Theorie menschlichen Verstehens noch vor jeg‐ lichem gezielten methodischen Zugriff, wobei das Augenmerk verstärkt dem verstehenden Subjekt und seiner Beteiligung am Sinnentstehungs‐ prozess galt. Die Bedeutung eines Textes, so stellte man fest, wird nicht wie in einem Behälter vom Autor zum Leser transportiert und von diesem dann unverändert ‚entnommen‘, sondern Bedeutung entsteht erst im Le‐ seakt, indem Signale des Textes auf das Wissen, die Erwartungen und die Fragen (den ‚Horizont‘) des jeweiligen Lesers treffen (vgl. Einheit 10.6.2). Menschliches Verstehen zielt generell auf die Erzeugung von Kohärenz, Widerspruchsfreiheit in einem Gesamtverständnis, das allen Teilen ihre Bedeutung zuweist. Stellen Sie sich vor, Sie beginnen einen Text zu lesen. In aller Regel wird der erste Satz, isoliert betrachtet, für Sie im Grunde kaum verstehbar sein: Wird beispielsweise ein Eigenname erwähnt, bleibt dieser Verweis völlig leer, da Sie über die fiktive Person, die sich dahinter verbirgt, zunächst keinerlei Informationen haben. Ähnliches gilt etwa für eine einsetzende Handlung, über deren Motivation, Kontext, Folgen, Ziel, Situation Sie noch nichts wissen. Wenn Sie dennoch bei den meisten Tex‐ ten den Eindruck haben zu verstehen, dann liegt das daran, dass Sie diese ersten Sätze auf einen vermuteten Gesamtsinn des Textes beziehen und all 72 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Abb. 4.1 Der hermeneutische Zirkel als Kreismodell Unhintergehbare Subjektivität das, was nicht in der Bedeutung der Einzelwörter liegt, aus diesem Ge‐ samtverständnis heraus ‚auffüllen‘. Im Bestreben zu verstehen - und das gilt nicht nur für Texte, sondern für Verstehen schlechthin - bilden wir permanent Hypothesen, die wir in der Begegnung mit dem Einzelnen überprüfen. Zu Beginn einer Lektüre wird die Bedeutungshypothese nicht dem Text entspringen, den Sie ja noch nicht kennen, sondern Ihrem all‐ gemeinen Weltverständnis, Ihrem kulturellen Hintergrund, Ihrer Biogra‐ phie und Ihrer Leseerfahrung. Im Laufe der Lektüre wird sich dieses Ver‐ ständnis ändern, nämlich dann, wenn der Text Informationen liefert, die nicht in Ihr momentanes Gesamtverständnis passen und eine Modifika‐ tion, vielleicht auch radikale Umkehrung desselben erforderlich machen. Geschieht dies, so werden Sie nicht nur die folgenden Einzelheiten des Textes anders verstehen, sondern Sie werden auch rückblickend das be‐ reits Gelesene neu bewerten, manches als irrelevant erkennen, was Ihnen zunächst bedeutsam schien, und umgekehrt neue Zusammenhänge her‐ stellen. Verstehen ist kein linearer Vorgang, der sich vom ersten bis zum letzten Satz vollzieht, sondern ein ständiges Hin- und Hergehen zwischen einem vorläufigen Gesamtverständnis, das der Leser permanent, dabei meist unbewusst, konstruiert, und den Einzelheiten, d. h. einzelnen Sät‐ zen, Motiven, Figuren, Handlungsepisoden, die nur innerhalb eines sol‐ chen Gesamtverständnisses verstehbar sind. Dieses Modell nennt man den hermeneutischen Zirkel (círculo hermenéutico). Dieser ist prinzipiell unab‐ schließbar: Ein ‚absolutes‘ Verständnis von Literatur gibt es nicht, da Texte niemals den Sinn vollständig festlegen, sondern auch bei wiederholter Lektüre ein zwar durch den Text mitgestaltetes, aber immer auch subjek‐ tiv bestimmtes Gesamtverständnis besteht. Diese Wirkungsweise von Li‐ teratur zu begreifen ist von grundlegender Bedeutung, da sich zeigt, dass ein literarisches Werk eigentlich erst im Dialog mit dem Leser und seinem subjektiven Welt- und Textvorverständnis entsteht. Hier liegt der Grund dafür, dass auch Texte längst vergangener Epochen dem heutigen Leser ‚etwas sagen‘ können, da er sie im Verstehensakt ein Stück weit in seinen persönlichen Horizont integriert. Die Kehrseite des hermeneutischen Zirkels und der Wiederaneignung von Texten durch die Leser ist der Umstand, dass es damit keinen ein für allemal geschlossenen Textsinn gibt, an den man sich annähern könnte, sondern die Subjektivität des jeweiligen Betrachters unhintergehbarer Be‐ standteil des literaturwissenschaftlichen Objekts ist. Anders formuliert: In den auf Verstehen gründenden Geisteswissenschaften ist die untersu‐ chende Person immer Teil dessen, was sie untersucht - es ist beispiels‐ weise schlichtweg nicht möglich, restlos den ‚Sinn‘ zu ermitteln, den ein Text zum Zeitpunkt seiner Entstehung gehabt hat, da die damaligen sub‐ jektiven Verstehensbedingungen (wessen überhaupt? ) nicht vollständig er‐ 4.1 Verstehen-- Analysieren-- Interpretieren 73 Hermeneutische Differenz Ansatzpunkte der Objektivierung Strukturanalyse Abb. 4.2 Strukturanalyse (Schritt 1 und 2) Abstraktes Modell textinterner Funktionen mittelbar sind und wir jeden Text notwendigerweise von unserem heuti‐ gen Standpunkt aus wahrnehmen. Zwischen früheren Rezeptionen und heutigen sowie zwischen diesen und künftigen Lesarten liegt eine herme‐ neutische Differenz, die interpretatorisch annähernd beschrieben (siehe Einheit 10.6.2), aber nicht aufgelöst werden kann. Der Natur literarischer Kommunikation Rechnung zu tragen heißt indes nicht, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen und das Ziel einer überindivi‐ duellen Verständigung über Literatur ins Reich der Utopie zu verbannen. Wenngleich es absolute Objektivität nicht geben kann, so stehen uns doch an beiden Polen des hermeneutischen Zirkels Ansatzpunkte für eine Objektivie‐ rung zur Verfügung: 1. Der Text ist, sobald durch kritische Edition (siehe Einheit 3.4: Textkritik) eine gesicherte Textgrundlage erarbeitet wurde, objektiv gegeben. 2. Der hermeneutische Hintergrund, vor dem ein Text verstanden wird, kann seinerseits annähernd transparent gemacht und entsubjektiviert und der Weg (gr. methodos, also die Methode) zur jeweiligen Ermittlung des Textsinns systematisiert und begründet werden. Eine auf den erstgenannten Ansatzpunkt bezogene Herangehensweise an li‐ terarische Texte ist die Strukturanalyse (análisis estructural, m.). ‚Struktur‘ (estructura) bedeutet allgemein die Gesamtheit aller Teile eines Ganzen und ihre Beziehung untereinander (siehe Einheit 11.1.1). Der Begriff ‚Analyse‘ geht in dieselbe Richtung: Er bezeichnet in der Philosophie die logische Auf‐ lösung, Zerlegung eines Begriffes in seine Merkmale, eines Bewusstseinsin‐ halts in seine Elemente; in den Naturwissenschaften wie der Chemie etwa die Bestimmung der Einzelbestandteile eines Stoffs. Im Gegensatz zu letzterer kann eine literaturwissenschaftliche Strukturanalyse nicht bei den ermittel‐ ten Bestandteilen stehen bleiben, sondern besteht, um mit der Struktur die Beziehung der Teile zueinander deutlich zu machen, aus einer Zerlegung und Wieder-Zusammenfügung, was im Übrigen dem hermeneutischen Wechsel‐ spiel von Teil und Ganzem entspricht. Ziel einer Strukturanalyse ist es, ein Modell herauszuarbeiten, das zeigt, wie der Text ‚funktioniert‘, wie er unter‐ teilt ist, mit welchen sprachlichen und formalen Mitteln er Bedeutung erzeugt. Der Versuch, Strukturen eines Textes aufzudecken, ist nicht frei von Subjek‐ tivität, da es beispielsweise von der Fragestellung und dem Interesse der Be‐ trachtenden abhängt, was als ‚relevanter‘ Bestandteil im Hinblick auf die Ge‐ samtbedeutung gelten kann und welche Strukturen man überhaupt erkennt (siehe hierzu auch Text 12.1); man erreicht aber größtmögliche Objektivität, wenn zwei Prinzipien befolgt werden: 74 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Prinzipien der Strukturanalyse Analyse als erster Schritt zur Interpretation Aufgabe 4.1 1. Die Analyse von Textstrukturen sollte textimmanent bleiben, d. h. von allem Außertextuellen wie AutorIn, Realitätsbezug usw., sofern nicht in‐ nerhalb des Textes explizit darauf verwiesen wird, absehen. Hinsichtlich der Inhaltsebene beschränkt sie sich auf nachweisbare (etwa in Wörter‐ büchern verzeichnete) Wortbedeutungen und Konnotationen (Nebenbe‐ deutungen). 2. Eine Strukturanalyse sollte interpretatorische Offenheit bewahren, also ein notwendiges anfängliches Leseverständnis nicht als zu erreichenden Zielpunkt setzen, sondern anhand der Sinn- und Formstrukturen des Textes kritisch hinterfragen und auch eine mögliche Widersprüchlichkeit oder Mehrdeutigkeit des Textes in Rechnung stellen. Eine solche Ermittlung der Textstrukturen ist Grundgerüst und Vorbereitung einer Interpretation (interpretación). Dieses Objektivierungsverfahren bezieht sich vor allem auf den zweiten der oben genannten Ansatzpunkte der Objek‐ tivierung: die Offenlegung des ‚hermeneutischen Hintergrunds‘ sowie der spezifischen Methode. Dahinter steckt der Gedanke, dass ich mein Textver‐ ständnis objektivieren und damit wissenschaftlich validieren (gültig machen) kann, wenn ich (a) eine nicht von meinem subjektiven Weltverständnis abhängende Grundlage angebe, also z. B. mein Textverständnis in der nach‐ weisbaren Biographie des Autors/ der Autorin (produktionsästhetisch) oder der Erwartungshaltung der Leserschaft (rezeptionsästhetisch) verankere, und (b) die Methode angebe, der ich beim Textverstehen gefolgt bin, so dass andere meine Vorgehensweise nachvollziehen und ggf. kritisieren können. Eine kor‐ rekte Strukturanalyse steckt den Bedeutungsspielraum ab, den anschließende Interpretationen haben, da sie offenkundigen Sinnstrukturen des Textes natürlich nicht widersprechen dürfen; oft aber erschließen sich literarische Texte nicht rein strukturell und textimmanent, so dass die Interpretation eine wichtige literaturwissenschaftliche Arbeitstechnik für ein adäquates Textverständnis darstellt. Wir werden in den Einheiten 10-12 näher darauf eingehen. ? Grenzen Sie in Ihren eigenen Worten nochmals die Begriffe ‚Verste‐ hen‘, ‚Analyse‘, ‚Interpretation‘ voneinander ab. Wie ist es zu begründen, dass trotz wissenschaftlicher Objektivität verschiedene und nicht selten konträre Interpretationen zu einem Text existieren? Können Sie sich Kriterien vorstellen, aufgrund derer man Interpretationen qualitativ beurteilen kann? 4.1 Verstehen-- Analysieren-- Interpretieren 75 Ausdrucksseite vs. Inhaltsseite Abb. 4.3 Sprachzeichen: Ausdrucks- und Inhaltsseite ! Ausdrucksseite: sprachli‐ che Realisierung vom Laut bis zu formalen Gattungs‐ regeln 4.2 Ebenen der Strukturanalyse Sie haben im Zusammenhang mit der Medialität von Literatur als besondere Form geschriebener Sprache (Einheit 1) bereits Ferdinand de Saussures Ge‐ genüberstellung von Ausdrucksseite (Signifikant) und Inhaltsseite (Signifikat) kennengelernt. Als Grundkomponenten jeglicher Art von Zeichen stecken diese beiden Begriffe natürlich Ebenen auch der literarischen Kommunikation und damit der Strukturanalyse literarischer Texte ab. Die Dichotomie von Aus‐ drucks- und Inhaltsseite ist, bezogen auf Einzelerscheinungen, keine absolute: Ein Element, sagen wir: das Konzept ‚Hund‘, ist der Inhalt (Signifikat) der span. Zeichenfolge / pɛrro/ (Signifikant), kann aber zugleich als Ausdruck (Signifikant) für andere Konzepte wie ‚Unterwürfigkeit‘, ‚Treue‘ u.ä. dienen. Hier zeichnet sich bereits ab, wie komplex sprachliche und insbesondere literarische Bedeu‐ tungsstrukturen sein können (und meistens auch sind). Bedenken wir dies mit, wenn wir im Sinne einer ersten Annäherung und eines Wegweisers für die Text‐ beschreibung dennoch sagen: Eine Strukturanalyse hat sich auf zwei Ebenen zu beziehen, die Ausdrucksebene mit der sprachlichen und gattungspoetischen Form und die Inhaltsebene mit dem Thema, den Motiven und Figuren, die ein Text entwickelt. Sehen wir uns das näher an. Sprachliche Äußerungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine be‐ grenzte Zahl kleiner sprachlicher Einheiten (etwa Phoneme, also Laute) zu größeren (etwa Morpheme, d. h. Wörter bzw. ihre bedeutungstragenden Teile) kombinieren und diese wiederum zu noch größeren (Sätze, Texte), wobei die Zahl der verfügbaren Ausdrucksmittel jeweils exponentiell ansteigt. Eine Beschreibung der sprachlichen Form (Ausdrucksseite) eines Textes berück‐ sichtigt idealerweise jede dieser Ebenen, wobei freilich nicht alle möglichen Befunde auch relevant für das Funktionieren des Textes sind, auf das wir ja hinauswollen. In umgekehrter Reihenfolge formuliert gilt das Interesse der Formbeschreibung also: ▶ der Verknüpfung von Sätzen und Absätzen zum Gesamttext, ▶ dem Satzbau (Syntax), d. h. der Komposition von Satzteilen, ▶ der Wortwahl und Wortbildung (Lexik, Morphologie), ▶ der Lautung. Die antike Rhetorik (Theorie der Redekunst) hat zur Beschreibung und Vermitt‐ lung schmuckvoller Rede ein begriffliches Raster entwickelt, das als Hilfsmittel zur Beschreibung auch literarischer Texte als Sonderfall von ‚Rede‘ dienen kann und das Ihnen sicherlich teilweise bereits bekannt ist. Wenn wir an dieser Stelle ausführlicher auf dieses Raster eingehen, dann liegt dies nicht allein an der Notwendigkeit, sich innerhalb einer Fachwissenschaft terminologisch korrekt ausdrücken zu können, sondern auch daran, dass man erfahrungsgemäß leichter einen Sachverhalt erkennt, wenn man einen Begriff dafür hat. 76 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Beschreibung der Ausdrucksseite Rhetorische Stilmittel I: Gestaltung des Ausdrucks Die wichtigsten ausdrucksbezogenen rhetorischen Stilmittel-- geordnet von der Lautüber die Wortbis hin zu Satz(teil)ebene: Alliteration (aliteración): gleicher Anlaut aufeinanderfolgender Wörter. Beispiel: En el silencio sólo se ’scuchaba / un susurro de abejas que sonaban. (Garcilaso de la Vega) Anapher (anáfora): Wiederholung des gleichen Wortes oder mehrerer gleicher Wörter am Anfang mehrerer Sätze oder Satzteile (Gegenteil Epipher). Beispiel: Hora de ocaso y de discreto beso; / hora crepuscular y de retiro; / hora de madrigal y de embeleso. (Rubén Darío) Assonanz (asonancia): Gleichklang von Vokalen, bedeutsam insbesondere am Versende als assonantischer Reim, d. h. Vokalgleichheit ab dem letzten betonten Vokal. Beispiel: agua-- ramas-- canta. Homoioteleuton (homeotéleuton, m.): gleichklingender Wortauslaut (Vor‐ form des Reims). Beispiel: Con natas al gusto gratas. ( Juan de Salinas) Paronomasie (paronomasia): Zusammenstellung von gleich oder ähnlich klingenden Wörtern unterschiedlicher Bedeutung. Beispiel: De medio ar‐ riba, romanos / de medio abajo, romeros. (Lope de Vega) Onomatopöie (onomatopeya), adj. onomatopoetisch: klangnachahmende, lautmalende Wörter. Beispiele: tic, zigzag. Anagramm (anagrama, m.): Buchstabenumstellung. Beispiel: cosa - caso - asco. Häufig bei Pseudonymen. Beispiel: Gabriel Padecopeo (= Lope de Vega Carpio). Salvador Dalí wurde in Anspielung auf seine Geldgier von dem frz. Schriftsteller André Breton mit dem Anagramm „Ávida Dollars“ bedacht. Akkumulation (acumulación): Worthäufung; Nennung mehrerer Unter‐ begriffe anstelle eines Oberbegriffs. Beispiel: Desmayarse, atreverse, estar furioso, / áspero, tierno, liberal, esquivo, / alentado, mortal, difunto, vivo, / leal, traidor, cobarde y animoso (Lope de Vega). Bei geordneter oder voll‐ ständiger Aufzählung spricht man von einer Enumeration (enumeración). Anadiplose (anadiplosis, f.): Wiederholung des letzten Wortes oder der letzten Wortgruppe eines Verses oder Satzes am Anfang des folgenden Verses oder Satzes zur semantischen oder klanglichen Intensivierung. Beispiel: Mi sien, florido balcón / de mis edades tempranas, / negra está, y mi corazón, / y mi corazón con canas. (Miguel Hernández) - Mitunter auch als echoartige Wiederholung nur der letzten Silbe: El Soberano Gaspar / par es de la bella Elvira / vira de amor más derecha, / hecha de sus armas mismas. (Sor Juana Inés de la Cruz) 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 77 Asyndeton (asíndeton, m.): Aneinanderreihung ohne Konjunktionen (vgl. Polysyndeton). Erweckt häufig den Eindruck einer Beschleunigung. Beispiel: Pasó, pasé; miró, miré; vio, vila; / dio muestras de querer, hice otro tanto; / guiñó, guiñé; tosió, tosí; seguíla; / fuese a su casa y, sin quitarse el manto, / alzó, llegué, toqué, besé, cubríla, / dejé el dinero y fuime como un santo. (Anon.) Polysyndeton (polisíndeton, m.): Aneinanderreihung mit stetiger Setzung der Konjunktion (vgl. Asyndeton). Beispiel: Soy un fue y un será y un es cansado. / En el hoy y mañana y ayer junto / pañales y mortaja y he quedado / presentes sucesiones de difunto. (Francisco de Quevedo) Pleonasmus (pleonasmo): übertriebene und unnütze (redundante) Anhäu‐ fung von Wörtern gleicher oder ähnlicher Bedeutung, die keine neuen Merkmale hinzufügen. Beispiel: Pobre ciego que no ve … (Romance). Heute meist gleichbedeutend gebraucht, aber positiver konnotiert ist der Begriff Tautologie (tautología). Figura etymologica (figura etimológica): Verbindung zweier oder mehrerer Wörter gleicher Wortherkunft (vgl. auch → Polyptoton). Beispiel: Viendo que el ver me da muerte, / Estoy muriendo por ver. (Calderón de la Barca) Polyptoton (políptoton, m., pl. políptotos): Wiederholung desselben Wortes in verschiedenen Flexionsformen (Abart der → Figura etymologica). Bei‐ spiel: ¡Qué alegría vivir / sintiéndose vivido! (Pedro Salinas), oder „ver“ im Beispiel zur Figura etymologica. Chiasmus (quiasmo): Überkreuzstellung der Konstruktion zweier Sätze oder Verse: Im zweiten Satz oder Vers stehen die inhaltlich und / oder grammatikalisch dem ersten entsprechenden Wörter in umgekehrter Rei‐ henfolge. Beispiele: Pues dar vida a un desdichado / Es dar a un dichoso muerte (Calderón), Ni son todos los que están, ni están todos los que son (Sprichwort). Ergibt sich daraus ein widersprüchlicher Sinn, spricht man im Spanischen auch von retruécano. Parallelismus (paralelismo): Wiederkehr der gleichen Wort- oder Satzteil‐ reihenfolge. Beispiel: Y la carne que tienta con sus frescos racimos, / Y la tumba que aguarda con sus fúnebres ramos. (Rubén Darío) Hyperbaton (hipérbaton, pl. hipérbatos): Sperrung, künstliche Trennung einer syntaktisch zusammengehörenden Wortgruppe. Beispiel: Mientras por competir con tu cabello, / oro bruñido al sol relumbra en vano (Góngora) [= Mientras oro bruñido relumbra en vano al sol por competir con tu cabello] Anakoluth (anacoluto): Herausfallen aus der Satzkonstruktion. Beispiel: ¿Y su padre de usted no tendré el gusto de verle antes de marcharme? ( Jacinto Benavente) 78 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Aufgabe 4.2 Aufgabe 4.3 Inhaltsebene Makrostrukturell: Thema, Stoff Mikrostrukturell: Motiv, Isotopie Ellipse (elipsis, f.): Auslassung eines Wortes oder Satzteiles; das Fehlende ist jedoch leicht ergänzbar. (vgl. auch → Aposiopese) Beispiel: los montes nos ofrecen leña de balde; los árboles, frutos; las viñas, uvas. (Miguel de Cervantes) Aposiopese (aposiopesis, f.): bewusstes Abbrechen der Rede vor der entscheidenden Aussage, wobei entweder die syntaktische Konstruktion abgebrochen oder der Gedanke (in einem vollständigen Satz) nicht zu Ende geführt wird (Abart der → Ellipse). Beispiel: Fisgona, ruda, necia, altiva, puerca, / Golosa y… basta, musa mía, / ¿cómo apurar tan grande letanía? (Francisco de Quevedo) ? Ordnen Sie die genannten signifikantenbezogenen Figuren ver‐ suchsweise nach Wiederholungsfiguren, Umstellungsfiguren und Aus‐ lassungsfiguren, wobei Sie die Kategorien in verschiedenen Ecken eines Papierbogens zusammenstellen (nicht neben- oder untereinander schrei‐ ben) und evtl. farblich unterscheiden. Wiederholen Sie die Übung, ohne in obiger Zusammenstellung nachzusehen. ? Erfinden Sie frei deutsche Beispiele zu jeder der Figuren. Die zweite Hauptebene der Strukturanalyse ist die Inhaltsbeschreibung. Was aber ist ‚Inhalt‘? Man könnte einfach sagen: Das, wovon der jeweilige Text spricht, das ‚Was‘ des Textes - im Gegensatz zum ‚Wie‘ der Darstellung, dem Ausdruck, um den es uns eben ging. Für das so Umschriebene gibt es zunächst den Terminus Thema (tema, m.; zu Thema, Stoff, Motiv siehe auch Einheit 2.5). Analog zum alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff den ge‐ danklichen Kern, das Problem des Textes innerhalb der Fiktion. Davon zu un‐ terscheiden ist das, was der Text vom außerfiktionalen Standpunkt aus be‐ handelt, was er also beispielsweise für uns heute bedeutet - die Bedeutung oder Signifikanz eines Textes, die Sache der Interpretation ist und in diesen Zusammenhang gehört (siehe Einheiten 10-12). Ein Thema, das bereits vor dem untersuchten Text in weitgehend fixierter Form (mit bestimmter Hand‐ lung, Personen, Orten usw.) besteht, nennt man Stoff (im Span. oft ebenfalls tema oder materia, bei alten und berühmten Stoffen auch mito). Ein besonders altes und berühmtes Beispiel wäre der Ödipusstoff. Thema und Stoff betreffen Texte als ganze: Sie sind makrostrukturelle Kategorien. Unterhalb dieser Ebene, im Bereich der Mikrostruktur, haben wir mit den sog. Motiven (moti‐ vos) zu tun. Damit sind in handlungsbetonten Texten einzelne Situationen oder Vorgänge und ihre Kausalverkettung (beispielsweise die Trennung der Liebenden, die Ankunft des Helden), in nichterzählenden Texten in Anleh‐ 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 79 ! Isotopie: mehrmaliges Auftreten von Bedeutungs‐ merkmalen Opposition, Äquivalenz nung an die Photographie bildhafte Vorstellungen gemeint. Diese Kategorien werden uns im Weiteren noch öfter beschäftigen, so die Handlungsanalyse in den Einheiten 6.7 (Drama) und 8.3.2 (Epik), Thema, Stoff und Motiv als dia‐ chrones (literarhistorisches) Ordnungskriterium in Einheit 2.5. Wegen ihrer besonderen Relevanz hinsichtlich lyrischer Texte bereits hier zu vertiefen ist eine noch unterhalb des Motivs angesiedelte Ebene der Inhaltsstruktur: die Isotopie (isotopía). Der auf den litauisch-französischen Strukturalisten Algirdas Julien Greimas zurückgehende Begriff bezeichnet das mehrmalige Auftreten von semantischen (d. h. Bedeutungs-)Merkmalen in einem Text. Eine Isotopie bilden alle Wörter eines Textes oder Textaus‐ schnitts, die mindestens ein gemeinsames Bedeutungsmerkmal (ein ‚Sem‘ in der Terminologie der Linguistik) besitzen. Dabei gibt es immer mehrere sol‐ cher Isotopien, die sich auch überschneiden können, d. h. sich einzelne Wörter teilen. Ein Beispiel: Die Wortmenge „Reiter“, „rachsüchtig“, „Pferd“, „Zofe“, „Marmor“, „gefiedert“, „Schwert“, „lügen“ weist die Isotopien ‚menschlich‘ (Reiter, rachsüchtig, Zofe, lügen) und ‚tierisch‘ (Pferd, gefiedert) auf, die zusammengenommen als Isotopie ‚belebt‘ der Isotopie ‚unbelebt‘ (Marmor, Schwert) gegenübergestellt werden können: Abb. 4.4: Beispiel für Isotopien Es wären weitere Isotopien, etwa ‚Rittertum‘ (Reiter, Pferd, Schwert), denkbar. Die Bedeutungsmerkmale sind zwar nicht willkürlich, sondern weitgehend vom Gehalt und Kontext der Wörter bedingt-- aber die Isotopien zu konstru‐ ieren und ihre Relevanz zu beurteilen, obliegt den LeserInnen im Zuge ihrer Analyse. Hierbei spielt, wie sich an unserem Beispiel andeutet, auch das Ver‐ hältnis der möglichen Isotopien untereinander eine Rolle. Die Isotopie ‚Ritter‐ tum‘ ist isoliert, während die Isotopien ‚belebt‘ und ‚unbelebt‘ sowie, eine Ebene tiefer, ‚menschlich‘ und ‚tierisch‘ einander gegenübergestellt werden können, Oppositionen bilden. Wie Sie sich erinnern, hatten wir oben Struktur als Ge‐ samtheit aller Teile eines Ganzen und ihre Beziehung untereinander definiert; damit wird deutlich, dass diejenigen Isotopien eines Textes, die in Opposition zueinander treten können und damit eine sehr klare Beziehung aufweisen, grundsätzlich interessant für eine Strukturanalyse sind, wenngleich eine Letzt‐ entscheidung über die Bedeutung einer Isotopie freilich auch von ihrer Aussa‐ gekraft für das ermittelte Thema abhängt. Unser Beispiel zeigt, wie auf der un‐ tersten semantischen Ebene, nämlich anhand der Bedeutung einzelner Wörter, Strukturen ausgemacht werden können: Der Leitfaden ist hier die Suche nach 80 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Rhetorik und gedankliche Seite der Rede Rhetorische Stilmittel II : Ge‐ staltung des Inhalts Äquivalenzen und Gegensätzen. Dies kann auf größere Einheiten, etwa Sätze, ausgeweitet werden. Idealerweise treten so Sinnbezüge und ihre Entwicklung auch in Texten hervor, die auf den ersten Blick kaum Entwicklung, Handlung oder Kohärenz erkennen lassen, und machen sie ‚lesbar‘. Von der praktischen Arbeit mit Isotopien und Oppositionen werden Sie in der nächsten Einheit an‐ hand der Strukturanalyse lyrischer Texte einen Eindruck bekommen. Natürlich hatte nicht erst die strukturalistische Sprach- und Literaturwis‐ senschaft des 20. Jh. (vgl. Einheit 11.1) die Idee, inhaltliche Strukturen in Texten zu systematisieren, sondern auch die antike Rhetorik hat sich für die gedankliche Seite der Rede, die logischen Verbindungen zwischen Textteilen interessiert und wiederum ein terminologisches Raster entwickelt, das Sie nun als literaturwissenschaftliches Hilfsmittel in Grundzügen kennenlernen. Die wichtigsten inhaltsbezogenen rhetorischen Stilmittel: Allegorie (alegoría): Veranschaulichung eines Begriffes oder abstrakten Sach‐ verhalts durch ein rational fassbares Bild, oft in Form der → Personifikation. Beispiel: Así es como se formó y creció el árbol de las ciencias, así se multipli‐ caron y extendieron sus ramas, y así es como, nutrida y fortificada cada una de ellas, pudo llevar más sazonados y abundantes frutos. (Jovellanos) Personifikation (personificación): Übertragung einer menschlichen Eigen‐ schaft oder Tätigkeit auf eine Sache, ein nichtmenschliches Wesen. Beispiel: Donde habite el olvido / allí estará mi tumba. (Gustavo Adolfo Bécquer) Periphrase (perífrasis, f.): allg. Umschreibung eines Begriffs (vgl. auch → Antonomasie). Beispiel: son iguales / los que viven por sus manos (=-einfaches Volk) / y los ricos. ( Jorge Manrique) Antonomasie (antonomasia): Umschreibung eines Eigennamens durch bestimmte Züge seines Trägers oder einen anderen Eigennamen (Son‐ derform der → Periphrase). Beispiele: El príncipe de los ingenios (für Cervantes), el que en buen hora nació (für den Cid, siehe Einheit 8.1), un Nerón (für despotischer Herrscher). Euphemismus (eufemismo): verhüllende Umschreibung (→ Periphrase) einer unangenehmen, anstößigen oder unheilbringenden Sache durch einen mildernden oder beschönigenden Ausdruck. Beispiel: Pasar a mejor vida (für sterben). Metapher (metáfora): Übertragung. Das eigentliche gemeinte Wort wird ersetzt durch ein anderes, das eine sachliche oder gedankliche Ähnlichkeit oder dieselbe Bildstruktur aufweist. Quintilian definierte die Metapher als verkürzten Vergleich, bei dem der Vergleichspartikel weggefallen sei. Eine der wichtigsten und häufigsten Sinnfiguren überhaupt. Beispiel: Yo sé un himno gigante y extraño / que anuncia en la noche del alma una aurora. (Gustavo 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 81 Adolfo Bécquer) - Es existiert eine große Bandbreite von metaphorischen Redeweisen, von konventionellen oder verblassten Metaphern, die durch häufigen Gebrauch kaum als solche wahrgenommen werden („una mano lava la otra“), bis zu sog. absoluten Metaphern, bei denen die Ähnlichkeitsbezie‐ hung zwischen den Bildbereichen durch die Metapher selbst erst gesetzt ist. Beispiel: Se fueron los camellos de carne desgarrada / y los valles de luz que el cisne levantaba con el pico. (Federico García Lorca) Metonymie (metonimia): Ersetzung des eigentlich gemeinten Wortes durch ein anderes, das in einer realen geistigen oder sachlichen Beziehung (wie räumliche Nachbarschaft, Urheberschaft usw.) zu ihm steht (→ Synekdoche). Beispiel: ¡Oh siempre gloriosa patria mía, / tanto por plumas cuanto por espadas! [plumas = Schrifttum, espadas = militärische Macht] (Luis de Góngora) Synekdoche (sinécdoque, f.): Ersetzung des eigentlichen Begriffes durch einen zu seinem Bedeutungsfeld gehörenden engeren oder weiteren Be‐ griff, z. B. Teil für das Ganze (pars pro toto) oder umgekehrt (totum pro parte), die Art für die Gattung, Singular für Plural. Sonderform der → Metonymie. Beispiel: El pan nuestro de cada día, dánoslo hoy. [Brot = Nahrung] (Bibel) Synästhesie (sinestesia): Verschmelzung verschiedenartiger Sinnesemp‐ findungen. Beispiel: Vaga mariposa / que colgabas a la tarde de primavera, / en el cénit azul, una caricia rosa. ( Juan Ramón Jiménez) Litotes (litote, f.): Abschwächung des Ausdrucks, die inhaltliche Verstär‐ kung suggeriert, häufig durch Verneinung des Gegenteils. Beispiel: una moza asturiana, […] del un ojo tuerta y del otro no muy sana. [= auch auf dem zweiten Auge nahezu blind] (Miguel de Cervantes) Hyperbel (hipérbole, f.): Übertreibung. Beispiel: Con mi llorar las piedras enternecen / su natural dureza y la quebrantan. (Garcilaso de la Vega) Antithese (antítesis, f.): pointierte Zusammenstellung entgegengesetzter Begriffe oder Aussagen. Beispiel: Yo velo cuando tú duermes, yo lloro cuando cantas, yo me desmayo de ayuno cuando tú estás perezoso y desalentado de puro harto. (Miguel de Cervantes) Klimax (clímax, m. oder gradación): Anordnung einer Wort- und Satzreihe nach stufenweiser Steigerung im Aussageinhalt. Beispiel: no han de vencer las ansias mías / horas, días, semanas, meses y años. (Pedro Calderón de la Barca)-- Entsprechend: Antiklimax (anticlímax, m.). Oxymoron (oxímoron, m., pl. oxímoros): Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe, die in pointierender Absicht eng miteinander 82 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Aufgabe 4.4 Aufgabe 4.5 verbunden werden. Liegt der Widerspruch im Beiwort, spricht man auch von Contradictio in adiecto. Beispiel: Sosiega un poco, airado temeroso / humilde vencedor, niño gigante, / cobarde matador, firme inconstante, / traidor leal, rendido vi[c]torioso. (Lope de Vega) Hypallage (hipálage, f.): Verschiebung der Wortbeziehung, insbesondere eines Adjektivs oder einer adverbialen Ergänzung. Beispiel: En tan dulce amanecer, / hasta los árboles cantan, / los ruiseñores florecen. (Pedro Espinosa) Zeugma (zeugma, zeuma, m.): Zuordnung eines Wortes zu zwei semantisch oder syntaktisch verschiedenen Satzteilen, oft mit komischer oder verstörender Wirkung. Beispiel: un aire fragoroso que te envuelva y te acaricie y doce pisos (Cortázar). Diese Form wird gelegentlich als komplexes Zeugma (zeugma complejo) dem einfachen Zeugma gegenübergestellt, das die Zuordnung zu gleichrangigen Satzteilen umfasst (la vi marchar, pero no [la vi] volver). Apostrophe (apóstrofe, m.): Abwendung des Sprechers oder Erzählers vom Leser oder realen Publikum, (emphatische) Hinwendung zu anderen, meist abwesenden Personen, Gegenständen oder Abstrakta. Beispiel: ¡Inteligen‐ cia, dame / el nombre exacto de las cosas! ( Juan Ramón Jiménez) Ekphrasis (écfrasis, f.): ausführliche, exkursartige Schilderung von etwas Sichtbarem. Im engeren Sinne: Beschreibung eines Bildkunstwerks im Text. Rhetorische Frage (interrogación oder pregunta retórica): Frage, auf die keine Antwort erwartet wird, da sie den Wert einer Feststellung hat. Beispiel: ¿Serás, amor / un largo adiós que no se acaba? (Pedro Salinas) Praeteritio, auch Paralepsis (preterición, paralipsis, f.): ausdrückliche Übergehung eines Gegenstandes, der dabei jedoch gerade genannt und u. U. hervorgehoben wird. Beispiel: Tiene asimismo maheridas danzas, así de espadas como de cascabel menudo […]; de zapateadores no digo nada, que es un juicio los que tiene muñidos (Miguel de Cervantes). (Dt.: Er hat auch Kunsttänze vorgesehen, sowohl Schwerterals auch Schellentänze; von den Leuten für den Pantoffeltanz will ich gar nichts sagen; es ist ein Wunder, wieviel Tänzer er hierher bekommen hat.) ? Versuchen Sie, die genannten inhaltsbezogenen rhetorischen Stilmit‐ teln zu Klassen zu ordnen. ? Untersuchen Sie das Gedicht „A los celos“ (An die Eifersucht) von Luis de Góngora auf rhetorische Stilmittel. 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 83 Kein Patentrezept Vorschlag: Vorgehensweise bei der Strukturanalyse Erste Beobachtungen Lesehypothese 1 ¡Oh niebla del estado más sereno, furia infernal, serpiente mal nacida! ¡Oh ponzoñosa víbora escondida de verde prado en oloroso seno! 5 ¡Oh entre el néctar de Amor mortal veneno, que en vaso de cristal quitas la vida! ¡Oh espada sobre mí de un pelo asida 1 , de la amorosa espuela 2 duro freno! 9 ¡Oh celo, del favor verdugo 3 eterno! , vuélvete al lugar triste donde estabas, o al reino (si allá cabes 4 ) del espanto; 12 mas no cabrás allá, que pues ha tanto que comes de ti mesmo y no te acabas, mayor debes de ser que el mismo infierno. (Góngora: 1967, 446 f.) - 1 espada-… asida über mir hängendes Schwert (Anspielung auf den Damo‐ kles-Mythos) - 2 espuela Sporn; hier: Liebespfeil - 3 verdugo Henker - 4-caber Platz finden 4.3 Strukturanalyse: Vorgehensweise Es gibt keine eindeutige und für die gesamte Breite literarischer Texte gleichermaßen anwendbare Vorgehensweise bei einer Strukturanalyse. Nicht nur, dass verschiedenartige Texte unter Umständen andere Anforderungen an die Strukturanalyse stellen, es spielt gemäß den Grundsätzen der Herme‐ neutik auch eine Rolle, was ich als LeserIn bereits verstehe, mit welchen Fragen ich an den Text herantrete. Hierin liegt der erste Schritt, auch bei einer Strukturanalyse, die textfundierte Objektivität anstrebt. Die folgende Vorgehensweise soll der allgemeinen Orientierung im Umgang mit Texten dienen. Sie ist zunächst nicht gattungsspezifisch; mögliche Besonderheiten im Umgang mit Lyrik kommen gleich im Anschluss zur Sprache. 1. Lesen Sie den Text oder Textauszug mehrmals. Klären Sie dabei evtl. un‐ bekannte Wortbedeutungen und markieren Sie, ohne jeden systemati‐ schen Anspruch, inhaltliche und formale Eigenheiten, die Ihnen auffallen. 2. Formulieren Sie eine Hypothese zum Thema des Textes und stellen Sie (schriftlich oder gedanklich) die vorkommenden Motive zusammen. Wenn möglich, formulieren Sie den mutmaßlichen Inhalt des Textes, d. h. 84 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Inhaltsseite: Thema, Motive, Isotopien, Entwicklung Äquivalenzen, Oppositionen Ausdrucksseite: Einschnitte, Wiederholun‐ gen, Äquivalenzen, Opposi‐ tionen Zusammenführung von Inhalt und Ausdruck Rückkehr zur Lesehypothese Rolle der Gattung für die Strukturanalyse die dargestellten Vorgänge und / oder Zustände, wie Sie sie aus den ersten Lektüren entnehmen. 3. Untersuchen Sie, welche Teile des Textes (Motive, Wortbedeutungen) zu Ihren inhaltlichen Hypothesen passen und welche nicht. Lassen sich et‐ waige Widersprüche in einer modifizierten Hypothese aufheben? 4. Suchen Sie die Isotopien des Textes und ordnen Sie sie nach Relevanz (Häu‐ figkeit des Vorkommens im Text, Bezug zum Thema). Wo gibt es Über‐ schneidungen (Elemente, die zwei oder mehreren Isotopien zugehören), wo Brüche (Elemente, die die Isotopie wechseln, also eine andere Bedeutung annehmen)? Welche der Isotopien entsprechen einander (Äquivalenz), sei es durch lebensweltlichen Zusammenhang, sei es durch gemeinsame Ele‐ mente? Welche stehen zueinander in Gegensatz (Opposition)? 5. Teilen Sie, wenn möglich, den Text vor diesem Hintergrund in inhaltliche Etappen ein und/ oder beschreiben Sie die Entwicklung des Themas/ der Themen. 6. Ermitteln Sie die formalen Einschnitte auf makro- und mikrostruktureller Ebene (Kapitel, Absätze, Sätze, Verse). 7. Suchen Sie nach Wiederholungen, Äquivalenzen und Oppositionen auf den verschiedenen Ausdrucksebenen: Syntax (z. B. Satzwiederholungen oder Parallelismen), Lexik (z. B. Wortverknüpfungen, Wortlänge), Lau‐ tung (z. B. Reim, Paronomasien oder Lautoppositionen). 8. Setzen Sie die formalen Betrachtungen in Beziehung zum Inhalt des Tex‐ tes. Welche Inhalte werden durch formale Mittel aneinander gekoppelt (z.B. Reimwörter) oder einander gegenübergestellt? Stützen die formalen Eigen‐ schaften die Befunde der Inhaltsanalyse oder widersprechen sie ihnen? 9. Kehren Sie zu Ihrer Lesehypothese zurück. Lässt sich durch die ermittelte Struktur des Textes dieser Leseeindruck erklären? Wenn nötig, ergänzen oder korrigieren Sie die erste Beschreibung. 4.4 Gattung Lyrik So sehr sich die Schritte für eine erste Strukturanalyse, die textintern bleibt und von historischen Faktoren, Werkzusammenhängen u. ä. absieht, bei verschie‐ denen Texten wiederholen: Die Unterscheidung von Gattungen ist auch hier relevant, denn die Kategorisierung von Texten in Form von Gattungszuord‐ nung geschieht notwendigerweise auf der Basis wiederkehrender inhaltlicher oder formaler Eigenschaften (siehe Einheit 2.2). Diese bilden naturgemäß ein Orientierungsraster für die inhaltliche und formale Strukturanalyse und erfor‐ dern häufig ein in eine bestimmte Richtung verfeinertes terminologisches In‐ strumentarium der Textbeschreibung. Fragen wir uns also: Was ist für Lyrik (lírica) kennzeichnend? 4.4 Gattung Lyrik 85 Definitionen von ‚Lyrik‘ Innerlichkeit Poetizität und Strukturiert‐ heit des Ausdrucks Abb. 4.5 Poesía visual: Kalligramm des mexikanischen Avant‐ gardisten José Juan Tablada (1871 - 1945) Abb. 4.6 Juan Ramón Jiménez (1881-1958) Es fehlt nicht an Versuchen, lyrische Texte oder gar eine hinter diesen ste‐ hende lyrische ‚Haltung‘ zu definieren. Goethe hatte, wie Sie in Text 2.5 sahen, Lyrik als die „enthusiastisch aufgeregte“ Form bezeichnet. Tatsächlich deckte sich diese heutzutage vielleicht etwas merkwürdig anmutende Formulierung mit der immer noch typischen Vorstellung, Lyrik drücke Innerlichkeit, Emo‐ tionen aus: Die Praxis, die Geliebte mit Gedichten zu umwerben, mag heute nicht mehr verbreitet sein, fest steht, dass der Ausdruck von Gefühlen lite‐ rarhistorisch das mit Abstand wichtigste Thema lyrischer Texte darstellt. Doch schon hier kommen Schwierigkeiten ins Blickfeld, die wir von der Dis‐ kussion des Literaturbegriffs in Einheit 1 her kennen, denn der Ausdruck von Emotionen ist nicht nur ‚das‘ lyrische, sondern ‚das‘ literarische Thema schlechthin und keineswegs nur in Gedichten präsent. Wie beim Literatur‐ begriff gibt es besonders typische Formen, die sich dann in Definitionen wie der Goethes wiederfinden, daneben jedoch eine Vielzahl von - je nach Epoche keineswegs randständigen - weniger typischen oder Mischformen: Auch Ly‐ rik kann erzählen (etwa in der Untergattung Ballade), auch epische Texte wie Romane können eine Innerlichkeit des Sprechers ausdrücken (z. B. Briefro‐ man), die einem Gelegenheitsgedicht völlig fehlt. Mehr Aussicht auf Stimmigkeit als die inhaltliche Bestimmung von Lyrik scheint indessen eine formbezogene Definition zu bieten. Wenn man ein Ge‐ dicht (span. poema) etymologisch auf poetisches Sprechen / Schreiben und Po‐ etizität zurückbezieht, dann wäre Lyrik mehr als andere literarische Gattungen durch einen besonderen Sprachgebrauch gekennzeichnet, welcher der Aus‐ drucksseite ebensoviel oder sogar mehr Bedeutung einräumt als dem ‚Inhalt‘ (siehe Einheit 1.1, Poetizität). In der Tat gehen lyrische Texte häufig neue Wege der Sprachverwendung-- etwa weil komplexe Inhalte in meist kurzen Texten ausgedrückt und damit verdichtet werden--, streben bei teils sehr festgefügtem und konventionalisiertem Inhalt (z. B. dem Frauenlob in der Renaissance) ge‐ rade nach Originalität des Ausdrucks oder sind Schauplatz für Sprachexperi‐ mente (z. B. in der sog. poesía visual oder postextual, die, von den Avantgarden des späten 19. und frühen 20. Jh. wie dem Futurismus inspiriert, v. a. in Latein‐ amerika seit den 1960er Jahren sehr lebendig ist und Schrift zumindest ebenso sehr als visuelles wie als sprachliches Darstellungsmedium versteht-- ähnlich wie in Text 1.2, auf den wir schon ausführlich eingegangen sind). Leichter fest‐ zustellen - dieser Punkt wird Ihnen wahrscheinlich gleich als Merkmal von Gedichten eingefallen sein - ist freilich eine hochgradige Strukturiertheit des Ausdrucks im Vers und in Strophenformen. Auch Vers und Strophe (verso, estrofa) sind weder notwendiges noch hinreichendes Kriterium für Lyrik: Das Drama des Barock etwa ist normalerweise in Versen verfasst, während in der ersten Hälfte des 20. Jh. u. a. von Juan Ramón Jiménez die Gattung des Prosa‐ gedichts (poema en prosa) gepflegt wurde. Diese Form zeichnet sich nicht mehr durch Verse, sondern durch eine weniger festgefügte, aber nachweisbare Struk‐ 86 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Wichtige feste Gedicht- und Strophenformen turierung des Signifikanten und gedankliche Verdichtung aus. Wenn Lyrik also schwerlich über eindeutige Kriterien zu definieren ist, dann empfiehlt es sich, zunächst von einigen typischen lyrischen Untergattungen und konventionel‐ len Formen auszugehen-- zu Vers und Reim gleich mehr. 1. Sonett (soneto): Wichtigste Form des 16. und 17. Jh., aber auch im Moder‐ nismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jh. zentrale Gattung. Ähn‐ lichkeit mit der Kanzonenstrophe, aus der vermutlich das Sonett in Italien entwickelt wurde (zweigeteilter Aufgesang, zweigeteilter Abgesang): Zwei Quartette (= Oktave), zwei Terzette (= Sextine). Das Reimschema (bei dem sich reimende Verse mit dem gleichen Buchstaben bezeichnet werden) ist in den Quartetten meist abba / abba, in den Terzetten freier (meist drei Reimpaare). Die Verse sind typischerweise elfsilbig (endecasí‐ labos). Ein Beispiel ist der Text in Aufgabe 4.5. In der folgenden Einheit wird das Sonett eingehender behandelt. 2. Romanze (romance, m.): Typisch spanische, aus der mündlich tradierten Volksdichtung des Mittelalters herrührende, aber bis in die Gegenwarts‐ literatur ununterbrochen lebendige Form meist erzählender (epischer) Lyrik. Formal ist der romance durch eine beliebige (teils beträchtliche) Zahl von Achtsilblern (octosílabos) mit assonantischem Reim in den geradzahligen Versen gekennzeichnet. 3. Redondilla: Strophe aus vier Achtsilblern mit meist konsonantischem Reim nach dem Schema abba. 4. Octava real: In der Renaissance nach italienischem Vorbild etablierte Strophe aus acht Elfsilblern, von denen die ersten sechs sich alternierend reimen und die letzten beiden ein Reimpaar bilden (abababcc). 5. Décima: Komplexe Form aus dem späten 16. Jh., bei dem zwei unterschied‐ lich gereimte Quartette aus Achtsilblern mit zwei ‚Scharnierversen‘ ver‐ bunden sind, die jeweils einen Reim aufgreifen, also z. B. abba-ac-cddc. Die décima findet sich beispielsweise in Calderóns Drama La vida es sueño, das in Einheit 7 behandelt wird (vgl. Text 7.1, Z. 21 ff. und Text 7.2). 6. Silva: Beliebig lange Folge von Sieben- und Elfsilblern, meist konsonantisch gereimt, aber auch einzelne ungereimte Verse sind möglich. Trotz ihres Ursprungs aus dem 17. Jh. relativ freie Form und daher auch in der Moderne beliebt. Calderóns La vida es sueño eröffnet mit Silvas (vgl. Text 7.1 Z. 1-20). 7. Eine in der Renaissance wichtige Form, die der Silva ähnelt, ist die sog. Lira, bei der 5 sieben- und elfsilbige Verse nach dem festen Schema aBabB wechseln und reimen. Für den Strophennamen stand die erste Strophe von Garcilaso de la Vegas fünfter Kanzone Pate: „Si de mi baja lira / tanto pudiese el son que en un momento / aplacase la ira / del animoso viento / y la furia del mar y el movimiento-[…].“ 4.4 Gattung Lyrik 87 Aufgabe 4.6 Vers und Strophe als Form- und Sinnebene Romanischer Vers durch Silbenzahl bestimmt Rhythmus vs. Metrum Regeln der Versbestim‐ mung verso llano-- agudo-- esdrújulo ? Versuchen Sie, die genannten Strophenformen vereinfacht graphisch darzustellen (z. B. Umrissform). Auch jenseits solcherlei historisch herausgebildeter und fixierter Gedichtfor‐ men bedeutet die Verwendung von Versen und festen Strophenformen eine höhere Strukturierung des sprachlichen Signifikanten und schränkt die Aus‐ drucksmöglichkeiten durch eine Reihe von Zwängen ein. So ist - wenn wir von experimentellen oder parodistischen Gedichten einmal absehen wollen - üblicherweise der Versanfang auch ein Wortanfang, das Versende zugleich Wortende und zudem meist auch Satzteilende; ist es das nicht, d. h. geht die Syntax über den Vers hinweg, handelt es sich um einen Sonderfall, für den eigens der aus dem Französischen stammende Terminus ‚Enjambement‘ (encabalgamiento) eingeführt wurde. Die Vers- und Strophenstruktur bildet also eine weitere Ebene in Form - und Inhalt, denn es kann eine entscheidende inhaltliche Rolle spielen, wo im Vers oder in der Strophe ein Wort steht. Die Kenntnis des Versbaus, der Metrik, ist daher sehr relevant für die Strukturana‐ lyse von Verstexten. So ist etwa in dem Góngora-Vers „en tierra, en humo, en polvo, en sombra, en nada“ die Unaufhaltsamkeit des beschriebenen Verfalls auch metrisch zu sehen, da jede Stufe durch die für den spanischen Vers typische Verschleifung aufeinandertreffender Vokale (Synalöphe) zu einer Silbe gleich auf die nächste weiterverweist („en tierra ͜ en humo ͜ en polvo…“) In den romanischen Sprachen ist der Vers allein durch die Zahl seiner Silben bestimmt (syllabierendes oder numerisches Prinzip, clasificación según el nú‐ mero de sílabas), es wird also nicht, wie in der Antike, zwischen langen und kurzen Silben (quantitierendes Prinzip) oder, wie etwa im Deutschen, zwischen Hebungen (betonte Silben) und Senkungen (unbetonte Silben) unterschieden (akzentuierendes Prinzip). Durch diese metrisch weitgehend unverplante Um‐ gebung bleibt hier im Gegensatz etwa zur germanischen Metrik ein ‚freier Sprechrhythmus‘ erhalten, d. h. nicht jede Silbe ist charakterisiert. Zur Be‐ schreibung des Rhythmus, nicht aber des Metrums, sind also antike Versmaß‐ begriffe wie Jambus oder Trochäus, die Ihnen wahrscheinlich bereits bekannt sind, durchaus verwendbar. Wie bestimmt man spanische Verse? Grundregeln der Silbenzählung: 1. Bei der Silbenzählung ist auf den Versschluss (acento final) zu achten, denn je nach Wortakzent im letzten Wort eines Verses lassen sich in der spanischen Metrik drei Arten von Versen unterscheiden: ▶ normale Akzentstellung auf der vorletzten Silbe (vida, violento): verso llano. ▶ Akzent auf der letzten Silbe (edad, acción): verso agudo. ▶ Akzent auf der drittletzten Silbe (último, ámalo): verso esdrújulo. 88 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Synärese / Synalöphe-- Diärese / Dialöphe Versbezeichnungen Alexandriner Pie quebrado Isometrisch-- heterometrisch Der Vers wird nach der Zahl seiner Silben bezeichnet, wobei immer vom Normalfall eines verso llano ausgegangen wird: Man zählt also immer, als sei der Vers ein verso llano, d.h. als folge seiner letzten betonten Silbe nur noch eine. Das bedeutet, dass bei einem verso agudo eine Silbe hinzugezählt, bei einem verso esdrújulo eine abgezogen wird. Beispiel: „encanto“, „amor“ und „contéstame“ sind metrisch gesehen am Versende alle dreisilbig. 2. Doppelvokale (Diphthonge, diptongo) gelten als eine einzige Silbe („Dios“ einsilbig), Tripelvokale (Triphthonge, triptongo) ebenso („buey“ einsilbig, „despreciéis“ dreisilbig). Auch benachbarte Vokale, die im phonologischen Sinn keinen Diphthong bilden, werden normalerweise metrisch als ein Vokal gerechnet (sog. Synärese, span. sinéresis): „poema“ zweisilbig. Das gilt meist auch dann, wenn eine Wortgrenze dazwischen‐ liegt: „mi amado“ dreisilbig. Man spricht in diesem Fall von Synalöphe, span. sinalefa. Selten werden aufeinanderfolgende Vokale (ob Diphthong oder nicht) getrennt gezählt, weil einer der beiden betont ist, eine Zäsur zwischen ihnen liegt oder es aus lautlichen Gründen sinnvoll erscheint. Dieser Fall heißt Diärese (diéresis) bzw. Dialöphe (dialefa): „süave“ ist hier dreisilbig, mit Trema als fakultativem Zeichen für die Diärese. 3a. Hat man es geschafft, die Silben über alle Synalöphen hinweg und unter Beachtung des Versendes korrekt zu zählen, dann steht das Versmaß fest - bei Unsicherheit empfiehlt sich die Gegenprobe an einem anderen Vers, natürlich unter der Voraussetzung, dass das Gedicht nicht unterschiedliche Verslängen mischt. Man verwendet im Deutschen die schlichten Begriffe Zweisilbler, Dreisilbler usw., im Spanischen die Termini bisílabo, trisílabo, tetra-, penta-, hexa-, hepta-, octo-, enea-, deca-, endeca-, dodecasílabo. Verse mit bis zu acht Silben nennt man versos de arte menor, solche mit neun oder mehr Silben versos de arte mayor. 3b. Eine Sonderform ist der Alexandriner (alejandrino), der sich aus zwei durch Zäsur (syntaktischer Einschnitt, über den hinweg auch keine Synalöphe möglich ist) getrennten Halbversen (hemistiquios) à 7 Silben zusammen‐ setzt, also in der Regel 14 Silben (je nach Versausgang der Halbverse, agudo oder esdrújulo, tatsächlich aber auch mehr oder weniger) hat: Pues es de buen amor, emprestadlo de grado. 1 2 3 4 5 6 (+1) 1 2 3 4 5 6 7 Gibt es in einem Text Verse, die genau die Hälfte der Silben der sie umge‐ benden Verse haben, also beispielsweise einen Viersilbler inmitten von octosílabos, dann verwendet man i.d.R. nicht die entsprechende Versbe‐ zeichnung, sondern spricht einfach von einem Halbvers (span. pie que‐ brado). Die hemistiquios des Alexandriners sind also gewissermaßen eine Form von pies quebrados. 4. Strophen (estrofas) mit gleichbleibendem Versmaß heißen isometrisch. Wechselt das Versmaß (wie etwa bei der Silva, s.o.), so handelt es sich um 4.4 Gattung Lyrik 89 Reim Konsonantisch-- assonantisch Reimfolgen Aufgabe 4.7 eine heterometrische Strophe (estrofa heterométrica). Liegt nicht eine feste Strophenform wie eine der oben genannten vor, so spricht man schlicht von estrofa de 4 etc. versos. Häufig gibt es aber eigene Namen für Strophen mit definierter Länge und festem Reimschema. Verse stehen normalerweise nicht allein, sondern werden an andere Verse ge‐ koppelt. Neben der Syntax, also der grammatischen Verbindung zweier oder mehrerer Verse zu einem Satz, ist hier vor allem der Reim (la rima) von Bedeu‐ tung. Darunter versteht man im Span. wie im Dt. den Gleichklang zweier Wör‐ ter zumindest ab dem letzten betonten Vokal. Stimmen dabei alle Laute überein, spricht man von konsonantischem Reim (rima consonante; Bsp.: tierno - in‐ vierno), sind hingegen nur die Vokale, nicht aber die Konsonanten gleich, so liegt ein assonantischer Reim vor (rima asonante; Bsp.: decía-- mentira-- vida), was im Spanischen im Gegensatz zum Deutschen recht häufig vorkommt. Bei Diphthon‐ gen reimt nur der Vollvokal, der Halbvokal wird nicht berücksichtigt (also wäre inmenso-pierdo-muerto ein korrekter assonantischer Reim). Hinsichtlich der Anordnung der Reime in aufeinanderfolgenden Versen unterscheidet man ei‐ nige häufige Fälle mit eigenen Begriffen, wobei sich reimende Versenden mit demselben Kleinbuchstaben, Besonderheiten wie unsaubere oder identische Reime (rima imperfecta, idéntica) mit Großbuchstaben notiert werden. ▶ Paarreim (rima gemela): aa bb cc… ▶ Kreuzreim (rima cruzada): abab cdcd… ▶ umarmender Reim (rima abrazada): abba cddc… ▶ fortgesetzter Reim (rima continua): aaaaa… Derlei Reimfolgen sind meist Teil einer übergeordneten Strophenstruktur, wie wir sie oben bereits skizziert haben und in der folgenden Einheit am konkreten Beispiel genauer betrachten werden. ? Trennen Sie mit einem senkrechten Strich die Silben der ersten Strophe von José de Esproncedas Canción del pirata. Welche Versart und welches Reimschema liegen vor? Con diez cañones por banda, viento en popa, a toda vela, no corta el mar, sino vuela un velero bergantín. Bajel pirata que llaman, por su bravura, El Temido, en todo mar conocido del uno al otro confín. (Espronceda: 1979, 225) 90 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik Zusammenfassung Aufgabe 4.8  In der zurückliegenden Einheit haben Sie zunächst die allgemeinen Grundlagen der Strukturanalyse kennengelernt. Wie jeder Zugang zur Literatur geht auch sie vom Vorgang des Verstehens aus, der sich nicht linear, sondern vielmehr in Form eines hermeneutischen Zirkels vollzieht, bei dem die Subjektivität des verstehenden Individuums entscheidend mitwirkt. Die Strukturanalyse strebt eine Objektivierung an, indem sie sich auf überindividuelle Bedeutungs- und Formmerkmale des Tex‐ tes konzentriert und die textinternen Funktionen aufzeigt, die Sinn generieren. Zur Beschreibung der Ausdrucks- und Inhaltsseite stehen Begrifflichkeiten der antiken Rhetorik, aber v. a. auch eigentlich litera‐ turwissenschaftliche Termini wie Thema, Stoff, Motiv und Isotopie zur Verfügung. In einem abschließenden Schritt wurde eine Annäherung an die Definition von Lyrik versucht und es wurden spezielle Instrumente zur Analyse von Verstexten erarbeitet. ? Songtexte heißen auf Englisch ‚lyrics‘. Inwiefern passt dies zu unserer Bestimmung von Lyrik? Literatur José de Espronceda: Poesías líricas y fragmentos épicos. Hg. Robert Marrast. Madrid: Castalia 1979. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Braunschweig: Vieweg 1971. Luis de Góngora y Argote: Obras completas. Hg. Juan und Isabel Millé y Giménez. Madrid: Aguilar 6 1967. Antonio Quilis: Métrica española. Barcelona: Ariel 2013. Jürgen Schutte: Einführung in die Literaturinterpretation. Stuttgart / Weimar: Metzler 5 2005. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Literatur 91 Überblick 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Inhalt 5.1 Die Lyrik im Siglo de Oro 5.2 Lyrik des Modernismo: Antonio Machado 5.3 Der lateinamerikanische Modernismo: Pablo Neruda Nach der theoretischen Auseinandersetzung mit Textanalysen bietet diese Einheit konkrete Anregungen für die Strukturuntersuchung von Gedichten. Anhand exemplarischer Texte werden Musteranalysen vorge‐ stellt und es wird die wissenschaftliche Herangehensweise an Lyrik ein‐ geübt. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der literarhistorisch besonders wichtigen Gattung des Sonetts und seinen strukturellen Besonderheiten. Abb. 5.1 Garcilaso de la Vega (1501? - 1536) Prinzip der Harmonisierung Juan Boscán Petrarkismus und Neuplatonismus ! Cancionero: höfische Tradition der häufig auch nachträglich zusammen‐ gestellten Sammlung von Gedichten 5.1 Die Lyrik im Siglo de Oro Zu Beginn des Siglo de Oro steht im 16. Jh. die Renaissanceliteratur nach dem italienischen Vorbild des Petrarkismus (s. Gröne / von Kulessa / Rei‐ ser: 2007, 78 - 84), die insbesondere für die Gattung der Lyrik eine zentrale Rolle spielt. Ein bedeutender Vertreter dieser Erneuerungsbewegung der spanischen Lyrik, die nicht zuletzt die Sevillaner Dichterschule begründet hat, ist neben Juan Boscán (1487? -1542) Garcilaso de la Vega (1501? -1536). Der Dichter entstammt einem vornehmen Toledaner Adelsgeschlecht und verkörpert das Renaissanceideal der armas y letras, d. h. des humanistisch gebildeten Hof‐ manns, der sich sowohl durch seinen Einsatz für den Staat in kriegerischen Auseinandersetzungen als auch durch Bildung und Pflege des kulturellen Er‐ bes auszeichnet. Gegen 1526 verliebt er sich, obwohl verheiratet, in die por‐ tugiesische Hofdame Isabel Freyre (Elisa), die ihm fortan Geliebte und Muse ist. Mehrmalige Italienaufenthalte in politischer Mission, darunter die Jahre 1532-34, die er teilweise in Neapel verbringt, sind grundlegend für den Ein‐ fluss der italienischen Literatur auf seine Dichtung, in der Elemente derselben mit denen der traditionellen iberischen Literatur durch das Prinzip der Har‐ monisierung verbunden werden. Trotz des relativ geringen Umfangs seines dichterischen Werks (8 Coplas, 38 Sonette, 5 Kanzonen, 1 Ode, 2 Elegien, 1 Epistel, 3 Eklogen und etliche Gedichte in lateinischer Sprache) gehört Gar‐ cilaso de la Vega zu den bedeutendsten Dichtern der spanischen Literaturge‐ schichte. Erstmals gedruckt werden seine Gedichte zusammen mit denen Boscáns im Jahre 1543. Maßgebliches Thema von Garcilasos Dichtung ist die Liebe und in Zusammenhang damit die Darstellung des Seelenzustandes des lyrischen Ichs, die Klage über die Unerfüllbarkeit der Liebe, die lobpreisende Beschreibung der Schönheit der angebeteten Dame. Petrarkistische Elemente verbindet er dabei mit neuplatonischen Elementen, die vor allem durch die Übersetzung des italienischen Buches vom Hofmann (1528) von Baldassare Castiglione durch Boscán in Spanien Einzug gehalten haben. Formal steht Garcilaso mit seinen Coplas noch ganz in der Tradition der poesía cancioneril, etabliert aber später den Elfsilbler in der spanischen Dichtung, häufig in Kombination mit dem Siebensilbler und den neuen Strophen- und Gedicht‐ formen wie dem Sonett und der Kanzone. Wir wollen uns nun dem ersten Sonett Garcilasos zuwenden, das sich in die Tradition des Cancioneros einschreibt und vom Liebesleid handelt. 1 Cuando me paro a contemplar mi estado 1 , y a ver los pasos por do 2 me ha traído, hallo 3 , según por do anduve perdido, que a mayor mal pudiera haber llegado; - 5.1 Die Lyrik im Siglo de Oro 93 Text 5.1 Garcilaso de la Vega, Sonett 1  Endecasílabo Liebesklage und Selbstbespiegelung Wegmetapher Syntax und Rhythmus 5 mas cuando del camino estó olvidado, a tanto mal no sé por do he venido; sé que me acabo 4 , y más he yo sentido ver acabar conmigo mi cuidado 5 . - 9 Yo acabaré, que me entregué 6 sin arte 7 a quien sabrá perderme y acabarme si ella quisiere, y aun sabrá querello 8 ; - 12 que pues mi voluntad puede matarme, la suya, que no es tanto de mi parte, pudiendo, ¿qué hará sino hacello 9 ? (Garcilaso de la Vega: 1961, 84) - 1 estado Zustand-- 2 do = donde - 3 hallar verstehen-- 4 acabarse hier: sterben-- 5 cuidado hier: Liebe - 6 entregarse sich hingeben - 7 arte Verstellung - 8 querello quererlo-- 9 hacello hacerlo Eine Übersetzung des Sonetts finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Dieses Sonett eignet sich in zweierlei Hinsicht für einen Einstieg in die Gedichtanalyse: Es veranschaulicht gut die Bauprinzipien der Gattung So‐ nett, einer der wichtigsten lyrischen Formen im 16. und 17. Jh. So ist dieses Sonett im typischen endecasílabo (Elfsilbler) gehalten. In den ersten beiden Strophen, den Quartetten, finden wir den umarmenden Reim (abba) und in den beiden Terzetten ein freies Reimschema (cde dce), entsprechend einer Standardform der Gattung. Darüber hinaus illustriert das Gedicht exempla‐ risch die für Garcilaso charakteristische Verbindung von Liebesklage und Selbstbespiegelung des lyrischen Ichs. Gleich der erste Vers verweist auf diese Selbstbespiegelung („Cuando me paro a contemplar mi estado […]“), wobei die Verben der visuellen Wahrnehmung das Motiv der Selbstbetrachtung un‐ terstreichen („contemplar“, „ver“). Das Thema der existenziellen Reflexion („contemplar mi estado“) wird im zweiten Vers mit der Wegmetapher („los pasos“) weitergeführt, wobei durch den Gebrauch des Passivs („me ha traído“, „anduve perdido“) im zweiten und dritten Vers die Schicksalhaftigkeit des Lebensweges betont wird. Der dritte Vers beginnt mit dem aktivischen Ge‐ brauch des Verbs hallar in der ersten Person Singular („hallo“), der auch durch Syntax und Rhythmus akzentuiert wird, und bildet mit dem 4. Vers eine syn‐ taktische und semantische Einheit. So versteht das lyrische Ich, dass das Schicksal ihm noch mehr Leid hätte zufügen können. Die zweite Strophe beginnt parallel zu der ersten mit „cuando“, wobei mit dem vorhergehenden „mas“ ein Gegensatz angekündigt wird. Wieder domi‐ niert die Metapher des Lebensweges und die Schicksalhaftigkeit desselben. 94 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Polyptoton Schmerzliebe Rhetorische Frage Konzeptismus Todesmotiv Allerdings kommt das lyrische Ich nun im Gegensatz zu der ersten Strophe zu dem Schluss, dass es doch sehr schlecht um es steht. Der dritte und vierte Vers dieser Strophe geben auch die Erklärung, warum dies der Fall ist. Der Akzent liegt hier auf dem Einsatz des Verbs „acabar“ = „zu Ende gehen“, das in unterschiedlichen Beugungsformen gebraucht wird („acabo“, „acabar“), also als Polyptoton. Es handelt sich darüber hinaus um einen Euphemismus: es geht hier natürlich um den Tod. Dieser erscheint umso schmerzlicher, als mit ihm auch das Liebesleid („cuidado“, eigentlich Sorge) zu Ende geht. Dieses Paradoxon ist charakteristisch für die Repräsentation der Liebe als Schmerz‐ liebe, wie sie auch für die italienische petrarkistische Dichtungstradition ty‐ pisch ist. Das erste Terzett beginnt mit dem Einsatz des Personalpronomens „Yo“, d. h. mit der betonten Manifestation des lyrischen Ichs, und greift das Polyptoton („acabaré“) wieder auf. Das Rätsel um das Schicksal des lyrischen Ichs lichtet sich allerdings, da der Sprecher sich freiwillig in die Hände desjenigen begeben hat, der ihn ins Verderben stürzen möchte. Im dritten Vers des Terzetts wird nun klar, dass es sich um eine Frau, („ella“), also vermutlich die Geliebte handelt. In diesem Vers finden wir auch das Spiel mit den Beugungsformen wieder, hier anhand des Verbs „querer“, ein Spiel, das nun die Geliebte an die Stelle des unbenannten Schicksals treten lässt. Die Macht der Liebe wird im letzten Terzett durch das Lautspiel um „pues“ - „puede“ - „pudiendo“, gekoppelt an das Polyptoton „puede“ - „pudiendo“, untermalt. Der Rhythmus des Gedichtes wird im letzten und vorletzten Vers jeweils unterbrochen durch die Isolierung von „la suya“ und „pudiendo“, Syn‐ tagmen, die sich wiederum auf die „voluntad“ beziehen und die Auswirkung des Willens der Angebeteten markieren. Das Gedicht endet so auch mit dem spielerischen Gebrauch des Polyptotons von „hacer“ („¿qué hará sino ha‐ cello? “), einer rhetorischen Frage, die wiederum die Unausweichlichkeit der Situation betont. Es handelt sich hierbei um einen sogenannten Konzeptismus (concepto), eine pointierte Schlusswendung, die typisch für die Dichtung der frühen Neuzeit ist und insbesondere in Sonetten häufig die Gestalt eines lo‐ gischen Schlusses annimmt: Wenn schon der eigene Wille des lyrischen Ichs es ins Verderben stürzen kann, dann wird es der ungleich mächtigere der Geliebten mit Sicherheit tun. Werfen wir abschließend noch einmal einen Blick auf die Isotopien, die das Gedicht dominieren: neben den Elementen, die die Isotopie ‚Weg‘ bilden, haben wir die Verben, die das Todesmotiv andeuten („perder“, „acabar“, „ma‐ tar“). Das Liebesthema selbst erschließt sich ‚zwischen den Zeilen‘. Der Schluss des ersten Verses („mi estado“) bildet mit dem Ende von Vers 8 einen Rahmen („mi cuidado“), so dass das Leid mit Auftauchen der angedeuteten Geliebten („ella“) in Vers 11 als Liebesleid gedeutet werden muss. Die Geliebte bleibt dabei gestaltlos und ist nur in ihrer Rolle als Auslöserin des Liebesleides 5.1 Die Lyrik im Siglo de Oro 95 ! Topos (pl. Topoi): dichteri‐ scher Gemeinplatz, vorge‐ prägtes Motiv oder Argu‐ ment Aufgabe 5.1 Aufgabe 5.2 Aufgabe 5.3 bzw. der Selbstbespiegelung des lyrischen Ichs relevant. Für dieses ist die Liebe gleichzusetzen mit Verletzung, Verderben und letztendlich Todessehn‐ sucht, wobei es zugleich Freud und Leid bedeutet. Mag das Gedicht für die heutigen LeserInnen recht verschlüsselt erscheinen, so handelte es sich für die gebildete Leserschaft der Renaissance um eine toposhaft anmutende Mo‐ tivverkettung (vgl. Einheit 2.5), die klar auf die Liebesthematik verweist. Lesen Sie nun das Sonett in Text 5.2 vor dem Hintergrund Ihrer bisherigen Kenntnisse über Garcilaso de la Vega und beantworten Sie die folgenden Fragen. ? Analysieren Sie den Versbau und das Reimschema dieses Gedichtes. ? Untersuchen Sie das Gedicht auf die darin enthaltenen Isotopien und Motive (vgl. Einheit 4.2). ? Versuchen Sie, die Aussage des Gedichtes zusammenzufassen. 1 En tanto que de rosa y d’azucena 1 se muestra la color en vuestro gesto, y que vuestro mirar ardiente 2 , honesto, con clara luz la tempestad serena 3 ; - 5 y en tanto que’l cabello 4 , que’n la vena del oro s’escogió 5 , con vuelo presto por el hermoso cuello blanco, enhiesto 6 , el viento mueve, esparce 7 y desordena: - 9 coged de vuestra alegre primavera el dulce fruto antes que’l tiempo airado 8 cubra de nieve la hermosa cumbre 9 . - 12 Marchitará la rosa el viento helado, todo lo mudará 10 la edad ligera por no hacer mudanza 11 en su costumbre. (Garcilaso de la Vega: 1961, 95) - 1 azucena Lilie - 2 ardiente glühend - 3 serenar aufhellen, lichten - 4 cabello Haar-- 5 escoger auswählen-- 6 enhiesto hier: stolz-- 7 esparcir hier: zerwühlen-- 96 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Garcilaso de la Vega, Sonett 23  Zusatzmaterialien zu Garcilaso auf www.bachelor-wissen.de Definition Barock Abb. 5.2 Diego Velázquez: Luis de Góngora (1561 -1627) Aufgabe 5.4 Aufgabe 5.5 Aufgabe 5.6 8 airado zürnend - 9 cumbre Gipfel - 10 mudar ändern, wechseln - 11 mudanza Veränderung, Wandel Wie bereits eingangs erwähnt, gehört die Lyrik Garcilaso de la Vegas zur spanischen Renaissanceliteratur, die unter dem Einfluss des Humanismus und der italienischen Literatur steht. Ab der Mitte des 16. Jh. wird die religiöse und kulturelle Vielfalt u. a. aus politischen Gründen verstärkt eingeschränkt und zunehmend von einer theologisch fundierten Denk‐ ordnung dominiert. Eventuelle kritische Überlegungen bedürfen deshalb sprachlicher Verschlüsselung. Stil- und Gedankenfiguren werden unein‐ deutig oder widersprüchlich formuliert. Diese auch in der Renaissance, etwa im Schlussterzett von Garcilasos Gedicht (Text 5.2) angewendete Vorgehensweise wird als conceptismo bezeichnet und findet in der Ba‐ rockliteratur ihre extremste Ausgestaltung. Mit diesem Verfahren werden Effekte wie Sinnestäuschung und Verwirrung erzeugt, die auf das Leit‐ thema des Barock verweisen, den engaño. Ziel der Literatur dieser Zeit ist deshalb häufig die Erzeugung des gegensätzlichen Effekts (desengaño), der versucht zu zeigen, dass das irdische Leben eigentlich nur eine Täu‐ schung ist. Ein wichtiger Vertreter der spanischen Barocklyrik ist Luis de Góngora (1561-1627), in Lateinamerika ist unter anderem die mexikani‐ sche Nonne Sor Juana Inés de la Cruz als maßgebliche Vertreterin der spanischsprachigen Barocklyrik zu nennen. Lesen Sie nun das nachstehende Sonett von Sor Juana Inés de la Cruz und lösen Sie folgende Aufgaben. ? Vergleichen Sie Text 5.3 mit Text 5.2 im Hinblick auf Isotopien und Motive. ? Formulieren Sie die Gesamtaussage des Sonetts von Sor Juana Inés de la Cruz. ? Begründen Sie, warum es sich bei Text 5.3 um ein typisches Barock‐ gedicht handelt. 5.1 Die Lyrik im Siglo de Oro 97  Isotopien Motiv der Vergänglichkeit Petrarkistische Elemente Carpe-Diem-Motiv Procura desmentir los elogios que a un retrato de la Poetisa 1 inscribió la verdad, que llama pasión. - 1 Este que ves, engaño colorido, que, del arte ostentando los primores 2 , con falsos silogismos de colores es cauteloso 3 engaño del sentido; - 5 éste, en quien la lisonja 4 ha pretendido excusar de los años los horrores, y venciendo del tiempo los rigores triunfar de la vejez y del olvido, - 9 es un vano artificio del cuidado, es una flor al viento delicada, es un resguardo 5 inútil para el hado 6 : - 12 es una necia diligencia errada 7 , es un afán caduco 8 y, bien mirado, es cadáver, es polvo, es sombra 9 , es nada. (Sor Juana Inés de la Cruz: 1969, 120-121) - 1 Poetisa Dichterin - 2 primor Vollkommenheit - 3 cauteloso hier: arglistig - 4 lisonja Schmeichelei - 5 resguardo Schutz - 6 hado Schicksal - 7 errada irrig - 8-caduco vergeblich-- 9 sombra Schatten Eine Übersetzung des Sonetts finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Im Sonett Garcilasos dominieren die Isotopien der Natur bzw. Naturer‐ scheinungen („rosa“, „azucena“, „la tempestad“, „viento“, etc.), der Farben („color“, „clara“, „oro“, „blanco“, etc.) und der Zeit („tiempo“, „edad“, „marchi‐ tará“, „mudará“), die zum Motiv der Vergänglichkeit hinführen. Thema des Gedichtes ist die Beschreibung der Geliebten, deren Schönheit mit der der Rose verglichen wird, die jedoch spätestens unter dem Einfluss des Winters verwelkt (Verse 1 und 12). Weiterhin verarbeitet Garcilaso für diese Beschrei‐ bung typische Elemente des italienischen Petrarkismus (s. 2. Strophe). Im Vordergrund steht jedoch nicht wie im Petrarkismus die immerwährende, sondern die vergängliche Schönheit, wobei die Jahreszeiten („primavera“, „la nieve“) die Lebensphasen versinnbildlichen - der Schnee auf dem Haupt (Vers 11) steht natürlich für die weißen Haare. Allerdings ist das Fazit Garcilasos angesichts der Vergänglichkeit ein lebensweltlich ausgerichtetes: Der Text fordert dazu auf, die Rose zu pflücken, solange sie noch blüht, also vom Leben und der Liebe zu profitieren, so lange man noch jung und schön ist. Man 98 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Text 5.3 Sor Juana Inés de la Cruz, Sonett 145 Renaissancegedicht Abb. 5.3 Sor Juana Inés de la Cruz (1651 -1695) Engaño = Täuschung Vanitas-Motiv Intertextualität Metapoetische Dimension spricht in diesem Zusammenhang von dem so genannten Carpe-Diem-Motiv (lat. carpe diem = dt. „Nutze den Tag“). Die lebensweltliche Ausrichtung des Gedichtes, die Liebesthematik und das Lob der Geliebten in petrarkistischer Manier sind in diesem Sonett typische Epochenmerkmale der Renaissance. In Text 5.3 erkennen wir sofort Parallelen zu Text 5.2. So finden wir auch hier die Isotopien der Natur („flor“, „viento“), der-- insbesondere visuellen-- Wahrnehmung („colorido“, „colores“, „sentido“) und der Zeit („los años“, „tiempo“, „vejez“, „olvido“ etc.). Auch hier weisen diese Isotopien auf das Motiv der Vergänglichkeit hin. Hinzu kommt aber die Isotopie der Kunst und Philosophie („arte“, „silogismo“, „poetisa“) sowie jene der Täuschung („en‐ gaño“, „arte“, „falso“, „lisonja“, „vano artificio“, etc.). Schlüsselbegriff ist na‐ türlich „engaño“, die Täuschung, die - wie wir dem Titel des Gedichtes ent‐ nehmen können, der gleichsam eine vorangestellte Erklärung desselben bietet - in Zusammenhang mit Kunst und Literatur gebracht wird. Das Motiv der Täuschung betrifft hier also nicht nur die Sinneswahrnehmungen, son‐ dern auch künstlerische Produktionen wie die Literatur, denen häufig Über‐ zeitlichkeit und Unvergänglichkeit zugestanden wird. Die Kombination des Motivs der Vergänglichkeit mit dem des „engaño“ führt nun allerdings zum Vanitas-Motiv (lat. vanitas = Vergänglichkeit), einer komplementären Vari‐ ante des Carpe-Diem-Motivs. Das Gegenwärtige ist nur noch verlockender Schein. Im Sonett der Sor Juana Inés de la Cruz wird dieses Vanitas-Motiv insbesondere in den beiden Terzetten durch die immer wiederkehrende Ana‐ pher („es un […]“) quasi gebetsbzw. litaneihaft betont und gipfelt im letzten Vers in der Reihung der Elemente der Vergänglichkeit („es cadáver, es polvo, es sombra, es nada“), der übrigens das bekannte Gedichte von Luis de Góngora „Mientras por competir con tu cabello, […]“ anzitiert (vgl. Text 5.4 und Einheit 11.2.1 zur Intertextualität). Das Vanitas-Motiv in Kombination mit der Isotopie der Kunst und dem kommentarhaften Titel des Gedichtes führen uns so zu folgender Gesamt‐ aussage des Sonetts: Es handelt sich in der Tat um eine Selbstreflexion über den Status der Dichterin und des Dichtens - man spricht in einem solchen Fall auch von der metapoetischen Dimension eines Textes -, der vor dem Hintergrund des Vanitas-Motivs als schöner, aber vergänglicher Schein ent‐ larvt wird. Dem Topos des unsterblichen Dichterruhms wird eine Absage er‐ teilt, und der Titel des Gedichtes liefert uns auch die Alternative: die höhere Wahrheit der Existenz, und auch der Existenz des Dichters bzw. der Dichterin liegt nicht im Ruhm auf Erden, sondern in der „pasión“, was hier als Liebe zu Gott verstanden werden kann. Die religiös-spirituelle Ausrichtung dieses Textes muss natürlich unter anderem vor dem Hintergrund der Biographie der Autorin betrachtet werden. In der Tat haben wir mit diesem Sonett ein typisches Barockgedicht vor uns. Der mehr lebensweltlichen Ausrichtung der Lyrik der Renaissance, wie 5.1 Die Lyrik im Siglo de Oro 99 Aufgabe 5.7 Aufgabe 5.8 Aufgabe 5.9 bei Garcilaso, wird eine religiös-spirituelle Orientierung gegenübergestellt. Das Carpe-Diem-Motiv der Renaissance wird zum Vanitas-Motiv und es geht darum, den engaño alles Weltlichen zu entlarven. Dies geschieht in komplexer Verdichtung der Sprache. Durch ihr Zitat im letzten Vers stellt Sor Juana sich darüber hinaus explizit in die Tradition Luis de Góngoras, des wohl bekanntesten Vertreters der spanischen Barocklyrik. ? Untersuchen Sie das folgende Sonett von Luis de Góngora auf Stilfi‐ guren. ? Analysieren Sie Isotopien und Motive dieses Sonetts vor dem Hinter‐ grund Ihres bisherigen Wissens über die Barocklyrik. ? Arbeiten Sie Parallelen und Unterschiede zu den Texten 5.2 und 5.3 heraus. 1 Mientras por competir con tu cabello, oro bruñido 1 al sol relumbra 2 en vano; mientras con menosprecio 3 en medio el llano mira tu blanca frente el lilio bello; - 5 mientras a cada labio, por cogello 4 , siguen más ojos que al clavel temprano; y mientras triunfa con desdén lozano 5 del luciente cristal tu gentil cuello: - 9 goza cuello, cabello, labio y frente, antes que lo que fue en tu edad dorada oro, lilio, clavel, cristal luciente, - 12 no sólo en plata o víola troncada 6 se vuelva, mas tú y ello juntamente en tierra, en humo, en polvo, en sombra, en nada. (Góngora: 1985, 230) - 1 bruñido geschliffen - 2 relumbrar leuchten, glänzen - 3 menosprecio Gering‐ schätzung - 4 cogello cogerlo - 5 desdén lozano hier: mit grandioser Überlegenheit - 6 troncada gebrochen 100 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Text 5.4 Luis de Góngora: Sonetos completos: Sonett 149 Modernismo Abb. 5.4 Antonio Machado (Spani‐ sche Briefmarke von 1978) Kastilienmythos Definition Abb. 5.5 Denkmal Unamunos in Salamanca 5.2 Lyrik des Modernismo: Antonio Machado Mit dem nächsten Textbeispiel vollziehen wir einen Sprung zum Ende des 19. Jh., in die Epoche, für die in der spanischen Literaturgeschichtsschreibung die Begriffe Generación del 98 und Modernismo gebraucht werden. Zu den bekanntesten Vertretern dieser Epoche gehört der Dramatiker und Lyriker Antonio Machado y Ruiz. Der 1875 in Sevilla geborene Dichter veröffentlichte im Jahre 1902 in Madrid seine erste Gedichtsammlung unter dem Titel Soledades, der auf das Leitmotiv der Gedichte hinweist, nämlich die Einsamkeit. Diese ersten Gedichte sind noch sehr an der französischen Romantik und dem Symbolismus orientiert. 1907 wird Machado Französischlehrer in Soria, einer Provinzstadt in Kastilien. Dort lernt er auch seine große Liebe, die 16-jährige Leonor, kennen, die er 1909 heiratet. Leonor verstirbt bereits 1912. Im gleichen Jahr erscheint die Gedichtsammlung Campos de Castilla, die nicht nur die Liebe zu der früh verstorbenen Ehefrau und den Kastilienmythos zum Ge‐ genstand hat, sondern alle für Machado relevanten Themen, wie auch Land‐ schafts- und Wegmetaphorik, den Traum und das Erinnern. Es folgen weitere Gedichtbände, darunter Abel Martín. Cancionero de Juan de Mairena (1936), in dem er die eigene Dichtung und seine Rolle als Dichter hinterfragt. Der Bürgerkrieg zwingt Machado schließlich ins französische Exil, wo er 1939 in dem Künstlerort Collioure im Rousillon verstirbt. Die Generación del 98 und der Kastilienmythos: Die so genannte Generación del 98 bezeichnet eine Gruppe von SchriftstellerInnen in Spa‐ nien in der Zeit um die Wende zum 20. Jh. Der Begriff wurde von einem bedeutenden Vertreter dieser Epoche, Azorín (= José Martínez Ruiz), ge‐ prägt und bezieht sich auf ein historisches Datum, nämlich auf das Jahr 1898, in dem Spanien die letzten Kolonien verliert. Charakteristisch für diese Zeit ist der Widerspruch zwischen der Orientie‐ rung an den europäischen Vorbildern und der Rückbesinnung auf die spa‐ nische Tradition. Der so genannte Konflikt der dos Españas, d. h. zwischen einem liberalen fortschrittlichen und einem rückwärtsgewandten und sich am Katholizismus orientierenden Spanien prägt die Romanliteratur dieser Zeit (vgl. Einheiten 8.1 und 9.1). Emblematisch für diesen Konflikt steht Kastilien, dessen einstiger Größe seine gegenwärtige Dekadenz gegenübersteht. Bei vielen AutorInnen der Zeit, vor allem bei Miguel de Unamuno (1864-1936), dient die Überhöhung Kastiliens, aus der Ele‐ mente des spanischen Nationalcharakters (casticismo) abgeleitet werden, der nationalen Identitätsfindung. 5.2 Lyrik des Modernismo: Antonio Machado 101 Aufgabe 5.10 Aufgabe 5.11 Aufgabe 5.12 Assonantisch gereimte Silva Wir wollen uns nun einem Gedicht aus Antonio Machados Campos de castilla zuwenden. 1 Allá, en las tierras altas, por donde traza el Duero su curva de ballesta 1 en torno a Soria 2 , entre plomizos cerros 3 y manchas de raídos encinares 4 , mi corazón está vagando, en sueños… - 7 ¿No ves, Leonor, los álamos 5 del río con sus ramajes yertos 6 ? Mira el Moncayo 7 azul y blanco; dame tu mano y paseemos. Por estos campos de la tierra mía, bordados de olivares polvorientos, voy caminando solo, triste, cansado, pensativo y viejo. (Machado: 1989, 546) - 1 ballesta Armbrust - 2 Soria Provinzstadt in Castilla y León - 3 plomizos cerros bleifarbene Hügel-- 4 raídos encinares lichte Steineichenwälder-- 5 álamos Pappeln-- 6 ramajes yertos starres Geäst-- 7 Moncayo Gebirge bei Soria ? Beschreiben Sie die formale Gestaltung dieses Gedichts (vgl. Einheit 4.4). ? Analysieren Sie auf der Makrowie auf der Mikroebene, wie die Liebesthematik mit der Naturbeschreibung verknüpft wird. ? Wie wird in diesem Gedicht der oben beschriebene Kastilienmythos verarbeitet? Die zwei Strophen dieses Gedichts entsprechen in ihrem Bau der Silva, für die der Wechsel von 7- und 11-Silblern charakteristisch ist. Dies gilt allerdings nicht für den Reim, der bei der Silva meist konsonantisch ist, hier hingegen assonantisch in den geradzahligen Versen, wie bei der Romanze. Es liegt also eine Verknüpfung zweier traditioneller Gedichtformen vor, die in dieser Kombination eine formale Neuerung bieten. 102 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Text 5.5 Antonio Machado: Campos de Castilla (1907- 1917), „Allá, en las tierras altas“ Traum Leonor Akkumulation Zeitebenen Andalusien / Kastilien Das Gedicht beginnt mit dem Adverb („Allá“), das lokal wie zeitlich ge‐ braucht werden kann, hier aber erst einmal auf eine, wie wir dem zweiten und vierten Vers entnehmen können, real existierende Landschaft verweist, nämlich das Duero-Tal bei Soria in Kastilien. Der Fluss selbst steht als Meta‐ pher auch immer für den Fluss des Lebens und spielt auf die Vergänglichkeit desselben an. Die Adjektive, die die Natur beschreiben, wie „plomizos“, er‐ wecken den Eindruck einer gewissen Trostlosigkeit. Im 3. Vers der zweiten Strophe wird klar, dass es sich um eine winterliche Landschaft handelt („el Moncayo azul y blanco“), die ebenfalls das Motiv der Vergänglichkeit assozi‐ iert, denn der Winter steht häufig für das Ende des Lebens (vgl. auch Text 5.2, 3. Strophe). Am Ende der ersten Strophe manifestiert sich das lyrische Ich metonymisch als „corazón“, als Herz, das natürlich symbolisch für die Liebe steht. Trotz der von der Landschaftsbeschreibung evozierten Melancholie regt es das lyrische Ich zum Träumen an („en sueños […]“), wobei dieser träume‐ rische Zustand auch durch die Interpunktion untermalt wird. Der Beginn der zweiten Strophe richtet sich dann tatsächlich an eine Frau namens Leonor, von der wir aufgrund der biographischen Hintergrundinformationen anneh‐ men können, dass es sich um die Geliebte und Ehefrau Machados handelt. Leonor wird vom lyrischen Ich aufgefordert, mit ihm gemeinsam die Land‐ schaft zu betrachten und sie mit ihm Hand in Hand zu durchwandern. Die einleitende an Leonor gerichtete Frage erklingt allerdings wie ein verzwei‐ felter Aufruf („¿No ves, Leonor, […]? “). In der Tat stehen die ersten vier Verse der zweiten Strophe in Kontrast zu den letzten vier und besonders den letzten zwei Versen, in denen mittels einer Akkumulation von negativen Adjektiven der Seelenzustand des lyrischen Ichs zum Ausdruck kommt, das offensichtlich alleine durch eine Landschaft wandert, die sich ebenfalls gewandelt hat. Die Elemente der „tierra mía“, wie die „olivares“, deuten offensichtlich auf die Heimatlandschaft des Dichters hin, Andalusien. Wir haben in diesem Gedicht also zwei zeitliche Ebenen: die Erinnerungsebene, die sich auf die kastilische Landschaft und die Zeit mit der geliebten Ehefrau bezieht, und die Ebene der Gegenwart, in der sich das lyrische Ich wieder in der Landschaft seiner Her‐ kunft, in Andalusien, befindet, offensichtlich allein, in Trauer und gealtert. Fassen wir zusammen: Es handelt sich also um ein Gedicht, das mittels der Beschreibung von Natur die traumhafte Erinnerung an die verstorbene Geliebte besingt und in konzentrierter Form den Seelenzustand des trauern‐ den lyrischen Ichs schildert. Wir finden in diesem Gedicht die Beschreibung zweier emblematischer Landschaften Spaniens: Andalusien und Kastilien. Allerdings lassen diese sich im vorliegenden Gedicht konkret an den biographischen Hintergrund des Dichters rückkoppeln und sind weniger politisch zu deuten, als dies in ande‐ ren Gedichten der Sammlung Campos de Castilla der Fall ist, wie zum Beispiel in „A orillas del Duero“. 5.2 Lyrik des Modernismo: Antonio Machado 103  Modernismo Abb. 5.7 Rubén Darío (1867-1916) Abb. 5.6: Der Duero in Kastilien Sie finden „A orillas del Duero“ auf www.bachelor-wissen.de. 5.3 Der lateinamerikanische Modernismo: Pablo Neruda Der Beginn des Modernismus in Lateinamerika wird gemeinhin im Jahre 1888 mit der Veröffentlichung von Rubén Daríos (1867-1916) Gedicht- und Kurzprosa-Sammlung Azul angesetzt. Kennzeichend für diese Strömung ist der Versuch der ästhetischen Emanzipation vom spanischen Mutterland, wo‐ bei die Diskussion um die kulturelle Identität des „autochthonen Amerikas“, d. h. die Identität Amerikas vor der Eroberung durch die Europäer, durchaus ambivalent geführt wird. So tritt der Kubaner José Martí (1853-1895) für ein solches autochthones Amerika ein und beruft sich auf die Hochkulturen der Mayas, Azteken und Inkas, während Rubén Darío verstärkt auf einen ge‐ meinsamen lateinischen kulturellen Ursprung verweist und in Frankreich das große kulturelle Vorbild sieht. Auch das Frühwerk des wohl bekanntesten lateinamerikanischen Dichters, des Chilenen Pablo Neruda, gehört zu den Ausläufern des lateinamerikanischen Modernismo, orientiert sich an der fran‐ zösischen poésie pure und ist Ausdruck einer strikten Innerlichkeit. 104 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Biographie Nerudas Abb. 5.8 Pablo Neruda (1904 - 1973) Das literarische Werk Aufgabe 5.13 Aufgabe 5.14 Pablo Neruda, eigentlich Ricardo Eliécer Neftalí Reyes, wurde am 12. Juli 1904 in Parral, dreihundert Kilometer südlich von Santiago de Chile gelegen, als Sohn eines Lokomotivführers und einer Lehrerin geboren. Seine Kindheit verbrachte er im regnerischen Temuco im Süden Chiles. 1920 zog er zum Studium des Französischen und der Pädagogik nach Santiago de Chile. Dort entstand 1923 seine erste Gedichtsammlung mit dem Titel Crepusculario. Im Anschluss an sein Studium war Neruda als Diplomat in asiatischen Ländern, aber auch in Spanien, Argentinien, Mexiko und Frankreich tätig. Während des spanischen Bürgerkrieges und seiner Zeit in Madrid engagierte sich der Dichter gegen die Faschisten und wurde Kommunist. 1940 kehrte er nach Chile zurück, das er jedoch aus politischen Gründen 1948 wieder für mehrere Jahre verlassen musste, wurde 1969 Präsidentschaftskandidat der Kommu‐ nistischen Partei Chiles, verzichtete aber zugunsten seines Freundes Salvador Allende auf den Posten. Er starb am 23. September 1973, kurz nach dem Mi‐ litärputsch, in Santiago de Chile. Nerudas literarische Produktion wird gemeinhin in drei Phasen eingeteilt: das unpolitische Frühwerk, die politische Lyrik und die dritte Phase, die durch eine erneute Abkehr von der politischen Dimension in der Literatur gekennzeichnet ist. Für die lateinamerikanische kulturelle Identitätsbildung ist vor allem die Gedichtsammlung des Canto general (1960) bedeutsam, die im Zeichen der Rückbesinnung auf das autochthon-lateinamerikanische Erbe steht. Wir wollen uns nun im Folgenden einem Gedicht aus der frühen Sammlung Crepusculario (etwa: Buch der Abend- und Morgendämmerung) aus dem Jahre 1923 zuwenden. ? Lesen Sie folgendes Gedicht und analysieren Sie seine Form. ? Arbeiten Sie zum Zweck einer ersten Annäherung die Isotopien in Text 5.6 heraus. Lässt sich aus ihnen eine Struktur ermitteln? - BARRIO 1 SIN LUZ 1 ¿Se va la poesía de las cosas o no la puede condensar mi vida? Ayer-- mirando el último crepúsculo-- yo era un manchón de musgo 2 entre unas ruinas. - 5 Las ciudades-- hollines 3 y venganzas 4 --, la cochinada 5 gris de los suburbios, la oficina que encorva 6 las espaldas, el jefe de ojos turbios 7 . 5.3 Der lateinamerikanische Modernismo: Pablo Neruda 105 Text 5.6 Pablo Neruda: „Barrio sin luz“ (aus Crepusculario, 1923) 7 Strophen à 4 Verse Endecasílabo Enjambement 9 …-Sangre de un arrebol 8 sobre los cerros, sangre sobre las calles y las plazas, dolor de corazones rotos, podre de hastíos 9 y de lágrimas. - 13 Un río abraza el arrabal 10 como una mano helada que tienta en las tinieblas 11 ; sobre sus aguas se avergüenzan 12 de verse las estrellas. - 17 Y las casas que esconden los deseos detrás de las ventanas luminosas, mientras afuera el viento lleva un poco de barro 13 a cada rosa. - 21 …-Lejos… la bruma de las olvidanzas, - humos espesos 14 , tajamares rotos 15 --, y el campo, ¡el campo verde! en que jadean 16 los bueyes 17 y los hombres sudorosos. - 25 …-Y aquí estoy yo, brotado 18 entre las ruinas, mordiendo solo todas las tristezas, como si el llanto fuera una semilla 19 y yo el único surco 20 de la tierra. (Neruda: 1956, 34-35) - 1 barrio Stadtviertel - 2 un manchón de musgo ein Flecken Moos - 3 hollín Ruß - 4 venganza Rache - 5 cochinada Schweinerei - 6 encorvar krümmen, beugen-- 7 turbio trüb-- 8 arrebol Abendrot-- 9 hastío Ekel - 10 arrabal Vorstadt-- 11 tinieblas (f. pl.) Dunkelheit - 12 avergonzarse sich schämen - 13 barro Schmutz - 14 humos espesos dichter Rauch - 15 tajamares rotos geborstene Molen - 16 jadean schnaufen - 17 buey Ochse - 18 brotado hier: aufgekeimt - 19 semilla Same - 20-surco Furche Auf den ersten Blick scheint sich bei dem Gedicht Barrio sin luz von Pablo Neruda eine klare formale Struktur ausmachen zu lassen, so entdecken wir doch gleich die Aufteilung in sieben Strophen mit jeweils vier Versen. Bei näherem Hinsehen erkennt man jedoch, dass das Versmaß zwar die Do‐ minanz des Elfsilblers (endecasílabo) aufweist, von diesem jedoch auch im‐ mer wieder abweicht, so dass wir es mit heterometrischen Versen zu tun haben. Der Rhythmus wird darüber hinaus wiederholt durch Enjambe‐ ments variiert, so in Vers 14 oder in Vers 24. Auch das Reimschema wech‐ 106 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Isotopien Stadt-Land-Opposition Großstadtlyrik Opposition von Leben und Tod selt von Strophe zu Strophe, es dominieren assonantische Reime, doch in Strophe 2 liegt ein konsonantischer Reim vor („suburbios“-„turbios“). An‐ hand einer detaillierten Lektüre des Gedichtes lassen sich folgende domi‐ nierende Isotopien ausmachen: die der Stadt („barrio“, „ruinas“, „cuid‐ ades“, „suburbios“, „oficina“, „calles“, „plazas“, „tajamares“, „arrabal“, „casas“, „ventanas“), die der Natur („manchón de musgo“, „espalda“, „aguas“, „estrellas“, „viento“, „rosa“, „bueyes“, „hombres“, „campo“, „la bruma“, „semilla“, „surco“, „tierra“). Darüber hinaus haben wir die Isoto‐ pie des Lichtes: „crepúsculo“, „luz“, „tinieblas“, „turbio“, „luminoso“, die der Farben: „gris“, „verde“, „arrebol“ und die der Abstrakta, von denen ein Großteil im weiteren Sinne Gefühle bezeichnen: „poesía“, „vida“, „cosas“, „venganzas“, „cochinada“, „dolor“, „corazón“, „hastíos“, „lágrimas“, „des‐ eos“, „olvidanzas“, „tristezas“, „llanto“. Auf der semantischen Ebene lässt sich in Bezug auf die dominierenden Isotopien der Stadt und der Natur das Strukturprinzip der Opposition ausmachen: es handelt sich offensichtlich um den Stadt-Land-Gegensatz, der in der Großstadtlyrik am Ende des 19. Jh. immer wieder in Erscheinung tritt. Die Sehnsucht des Stadtmen‐ schen nach der unberührten Natur und die Darstellung der Stadt als Mo‐ loch muten dabei zur Entstehungszeit dieses Gedichtes toposhaft an, wo‐ bei die Großstadtthematik in Lateinamerika, wo zu Beginn des 20. Jh. riesige Steinwüsten entstehen, von besonderer Relevanz sein dürfte. In Bezug auf die Isotopien des Lichtes und der Farben dominiert der Kon‐ trast zwischen hell und dunkel, der wiederum mit der Opposition von Be‐ lebtem und Unbelebtem, d. h. mit Leben und Tod einhergeht. Diese Oppo‐ sitionen werden in allen Strophen verknüpft mit der Isotopie der Abstrakta, d. h. insbesondere mit den Gefühlsausdrücken. Es dominieren allerdings die negativen Gefühlswahrnehmungen, wie auch die Dunkel‐ heit. Führen wir diese Erkenntnisse auf den Titel des Gedichtes „Barrio sin luz“ zurück, so scheint der Ort der Stadt vornehmlich mit Licht- und Leb‐ losigkeit, d. h. mit Tod assoziiert zu werden. Auch über die Lautähnlich‐ keit (Paronomasie) zu „barro“ (V. 20) wird der Titel-- insbesondere in der Opposition zur Rose-- negativ konnotiert. 5.3 Der lateinamerikanische Modernismo: Pablo Neruda 107 Leitmotiv des Sonnenunterganges Abb. 5.9: Santiago de Chile im Jahre 1929 Sehen wir uns nun die Strophen im Einzelnen an. Die erste und letzte Strophe sollen dabei erst einmal ausgeklammert werden, da sie Gegenstand von Auf‐ gabe 5.15 bilden. Strophe 2 beginnt mit dem Leitthema des Gedichtes: „las ciudades“, und es folgt eine Beschreibung derselben, indem jeder Vers mit einem weiteren der Stadt zugehörigen Element einsetzt, das jeweils in Form eines Vergleichs, Bildes oder einer Metapher negativ konnotiert wird. Die jeweils die Verse einleitenden Substantive verweisen dabei auf das moderne Großstadtleben und die entfremdende Arbeitswelt. Dabei suggerieren die parallel gestalteten Versanfänge eine gewisse Monotonie. Metaphern wie „la cochinada gris“ dürften darüber hinaus bei zeitgenössischen LeserInnen ei‐ niges Befremden ausgelöst haben und zeigen die Modernität des Gedichtes. Die dritte Strophe nimmt nun das Leitmotiv der Gedichtsammlung, nämlich den Sonnenuntergang auf, der mit der Farbe ‚rot‘ ein klassisches Motiv der Dichtungstradition darstellt, hier allerdings in zweimaliger Kombination mit ‚Blut‘ bedrohlich, ja zerstörerisch wird und jeglicher Romantik entbehrt. Auf‐ fallend ist auch der lautmalerische Einsatz der r- und o-Laute, die auf die Farbe rot („rojo“) verweisen und den Eindruck von Bedrohung untermalen. Die Verbindung von Strophe 3 zu Strophe 4 wird unter anderem durch die laut‐ malerische Verwendung von „un arrebol“ und „el arrabal“ hergestellt, die das Motiv des Sonnenunterganges mit der Stadtthematik verknüpft. Die vierte Strophe beginnt mit einer Personifikation des Flusses, der die Vorstadt um‐ armt, und stellt durch den Vergleich mit der eiskalten Hand („una mano he‐ lada“) wiederum die Opposition von Leben und Tod in den Vordergrund. Auch 108 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Verfremdung romantischer Motive Aufgabe 5.15 Lyrisches Ich Endzeitstimmung Motiv der Ruinen werden erneut traditionelle lyrische Motive wie die Sterne, hier ebenfalls in Form einer Personifikation, gleichsam verfremdet. Diese Vorgehensweisen, d. h. die Personifikation und der verfremdende Gebrauch traditioneller, ro‐ mantisch konnotierter lyrischer Motive wie der Rose dominieren auch die 5. Strophe. In der 6. Strophe wird die Opposition Stadt-Land explizit weiterge‐ führt, wobei die Zweiteilung der Strophe - der erste Teil ist der Stadt gewid‐ met, der zweite Teil dem Landleben - die Opposition noch akzentuiert. Das die Strophe einleitende Adjektiv „lejos“, in Verbindung mit den „olvidanzas“ am Ende der Zeile, lässt im Folgenden das Landleben in weiter Ferne erschei‐ nen. Darüber hinaus wird das Landleben im Gegensatz zu traditionellen Dar‐ stellungen nicht verklärt, sondern in seiner Mühseligkeit beschrieben („[…] en que jadean los bueyes y los hombres sudodoros“). Fassen wir soweit zusammen: Die formale und inhaltliche Strukturana‐ lyse des Gedichtes weist auf die Großstadtthematik hin, welche durch die unkonventionelle Kombination von traditionellen Motiven der Lyrik, wie zum Beispiel dem des Sonnenunterganges, mit dem Stadt-Land-Gegensatz veranschaulicht wird. ? Versuchen sie nun die Gesamtaussage des Gedichtes unter besonderer Berücksichtigung der ersten und der letzten Strophe zusammenzufassen. Die erste und die letzte Strophe des Gedichtes sind die einzigen, in denen sich das lyrische Ich manifestiert. Dabei stellen die ersten beiden Verse der ersten Strophe eine existenzielle wie metapoetische Frage, nämlich die nach der Be‐ ziehung von Leben und Dichtung. In den folgenden zwei Versen wird die Existenz des lyrischen Ichs, angesichts des letzten Abendlichtes, quasi als Rückblick betrachtet. Das Motiv der letzten Abenddämmerung suggeriert dabei Endzeitstimmung. Diese wird wieder aufgenommen durch das letzte Wort der Strophe, die Ruinen, die wiederum Verfall symbolisieren. Das lyri‐ sche Ich selbst vergleicht sich hingegen mit einem kleinen Flecken Moos, dem wenigen Überlebenden inmitten des ‚Untergangs‘. Auch in der letzten Strophe tauchen das lyrische Ich wie auch die „ruinas“ gleichsam als Rahmen wieder auf. Im Gegensatz zur ersten Strophe befindet sich das lyrische Ich nun in der Gegenwart, in einem Hier und Jetzt: „Y aquí estoy yo, […]“. Wieder vergleicht es sich mit der Natur, diesmal allerdings eindeutig mit dem Leben, ja sogar mit dem Leben Gebenden, und seine Klage wird zum Leben spendenden Sa‐ men. Die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von Existenz und Dichtung erhält hier also abschließend eine bejahende Antwort. 5.3 Der lateinamerikanische Modernismo: Pablo Neruda 109 Aufgabe 5.16 Zusammenfassung  ? Versuchen sie nun rückblickend die Natur-Motivik und ihre Verknüp‐ fungen über die Jahrhunderte hinweg anhand der Textbeispiele zu be‐ schreiben. In der zurückliegenden Einheit wurden die theoretischen Grundlagen der Lyrikanalyse anhand von sechs Beispielgedichten konkretisiert. Das besondere Augenmerk galt hinsichtlich des Sonetts zunächst der Gat‐ tungsform und ihrer Beziehung zu inhaltlichem Bau und Logik. Bei allen Beispielanalysen wurde das Zusammenwirken von Ausdrucks- und Inhaltsseite vorgeführt. Die Texte von Garcilaso de la Vega, Sor Juana Inés de la Cruz und Góngora stehen im Kontext der Lyrik der Renaissance und des Barock, während die Gedichte Machados und Nerudas sich dem Modernismo zuordnen lassen. An den Texten, die den Zeitraum vom 16. Jh. bis zum 20. Jh. umfassen, lässt sich darüber hinaus die inhaltliche und formale Entwicklung der Gattung nachvollziehen. Dabei lässt sich über die Jahrhunderte hinweg eine Gemeinsamkeit feststellen: Lyrik ist immer auch ein Ort der Reflexion über die Literatur an sich. Literatur Sor Juana Inés de la Cruz: Obras completas. Mexico: Porrua 1969. Luis de Góngora: Sonetos completos. Madrid: Castalia 1985. Antonio Machado: Poesía y prosa. Tomo II. Madrid: Espasa-Calpe 1989. Pablo Neruda: Obras completas. Buenos Aires: Losada 1956. Garcilaso de la Vega: Poesía. Madrid: Anaya 1961. Maximilan Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser: Italienische Literaturwis‐ senschaft. Eine Einführung. Tübingen: Narr 2 2012. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 110 5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen Überblick 6 Dramenanalyse Inhalt 6.1 Dramatische Gattungen 6.2 Drama als Text und Aufführung 6.3 Raum und Zeit 6.4 Figuren 6.5 Figurenrede 6.5.1 Formen der Figurenrede 6.5.2 Funktionen der Figurenrede 6.6 Gewichtung von Figuren 6.6.1 Figurenkonzeption 6.6.2 Figurenperspektive 6.6.2 Figurenkonstellation 6.7 Handlung 6.7.1 Aufbau und Untergliederung 6.7.2 ‚Offene‘ und ‚geschlossene‘ Form des Dramas 6.7.3 Episches Theater 6.7.4 Experimentelles Theater Die Besonderheiten der literaturwissenschaftlichen Betrachtung von dra‐ matischen Texten stehen im Mittelpunkt der beiden folgenden Einheiten. In Einheit 6 werden Ihnen zunächst die grundlegenden Gattungen vorge‐ stellt. Im Anschluss daran können zentrale Aspekte der Analyse erläutert werden, so die Untersuchung der im Stück vorkommenden Figuren, ihrer Interaktion und der Formen der dramatischen Rede. Sie werden mit typischen Strukturmerkmalen der Handlung sowie mit Konzeptionen zur Wirkungsweise des Dramas vertraut gemacht. Die realisierte Aufführung eines Dramentextes eröffnet Ihnen schließlich eine zusätzliche Dimen‐ sion der Interpretation. Geistliches Schauspiel Auto sacramental Carro-Bühne Farce 6.1 Dramatische Gattungen Die Wurzeln des volkssprachigen Theaters liegen einerseits im antiken Drama, andererseits in den mittelalterlichen Schauspielen, die sich als ei‐ genständige Formen ausprägten. Zu Beginn der letztgenannten Entwick‐ lung standen kleinere szenische Dialoge, die den Evangelien entnommen wurden (tropos). Aus ihnen entwickelten sich längere Werke, wie die frag‐ mentarisch überlieferte Representación de los Reyes Magos (12./ 13. Jh.) be‐ legt. Einen wichtigen Platz hatten ferner die Mysterienspiele oder Moral‐ itäten (misterio, moralidad) inne, die zumeist zu besonderen Anlässen im Laufe des Kirchenjahrs (v. a. Fronleichnam) auf öffentlichen Plätzen oder Straßen inszeniert wurden. Zur Aufführung gelangten auch biblische Stoffe oder Heiligenlegenden (comedias de santos), etwa die Bekehrung oder das Martyrium vorbildlicher Figuren, u. a. die Leidensgeschichte Christi, die im Passionsspiel auf die Bühne gebracht wurde (Alonso del Campo: Auto de la pasión, 1486-1499). Ab dem 16. Jh. setzt sich das soge‐ nannte auto durch (abgeleitet von lat. ‚actus‘: Aufführung), das als meist einaktige Darstellung einer breiten Zuschauermenge anschaulich zentrale Inhalte des christlichen Glaubens vorführen sollte. Als Freilichtbühnen dienten prächtig ausgestattete Wagen mit teils mehrstöckiger Dekoration und Maschinerie, welche durch ihre Mobilität das Theater noch breiten‐ wirksamer machten. Die religiöse Bedeutung des Stückes wurde in einem Vorspiel (loa) dargelegt, schwankhafte Zwischenspiele (entremeses) locker‐ ten die ernsten autos auf. Das religiöse Drama ist in der spanischen Lite‐ ratur bis in die Moderne hinein lebendig geblieben, etwa in Miguel Her‐ nández’ Quién te ha visto y quién te ve y sombra de lo que eras (1934). Auf Seiten des nur unzureichend überlieferten frühen weltlichen Theaters entstanden aus Jahrmarktsaufführungen kurze komische Szenen oder Stücke (etwa als Farce, farsa). Ihre Komik trug Züge der sozialkritischen Satire, wobei der derbe Witz auf den ungehobelten Figuren niederen Standes, ihrer groben (dialektalen) Sprache, pantomimischen Einlagen, eingeschobenen Liedern, Prügelszenen etc. beruhte. Als Farcen bezeichnet man dementsprechend Ko‐ mödien mit einsträngig-pointierter Handlung und karikierend-typenhaften Figuren ( Juan del Encina: Auto del repelón, ca. 1507). 112 6 Dramenanalyse Humanistentheater Tragödie ! Comedia = Drama Abb. 6.1: Das Martyrium der Heiligen als Schauspiel. Darstellung von Jean Fouquet (15. Jh.) Von diesen künstlerisch eher einfach gehaltenen Formen setzte sich in der Renaissance unter dem Einfluss der erneut rezipierten antiken Überlieferung die auf Latein verfasste comedia humanística ab, die allerdings in erster Linie zu Unterrichtszwecken an den Universitäten eingesetzt wurde. In diesem Zusammenhang steht zunächst auch die Tragödie (tragedia) nach antikem Vorbild, die durch ein Figureninventar von gehobenem Stand mit kunstvoll geformter Sprache, einen klar strukturierten Aufbau, eine ernste Thematik mit tragischem Konflikt und tragischem Ausgang gekennzeichnet ist (vgl. die Ausführungen zur Aristotelischen Tragödie in Einheit 2.1.1). Die regelkon‐ forme Tragödie konnte als dramatische Gattung in der spanischen Literatur jedoch nur im 18. Jh. einen bescheidenen Platz neben den zahlreichen Son‐ derformen der comedia einnehmen. Die Bezeichnung ‚comedia‘ umfasst so viele Erscheinungsformen, dass sie auch ganz allgemein ‚Theaterstück‘ bedeuten kann. Die notwendigen begrifflichen Unterscheidungen beruhen somit eher auf dem Gegenstand, auf der Verwendungsweise oder der Bauform typischer dramatischer (Un‐ ter-)Gattungen. 6.1 Dramatische Gattungen 113 Komödie Abb. 6.2: Cervantes: Titelseite des Entremés del retablo de las maravillas (1615) Der Begriff ‚Komödie‘ (comedia) bezeichnet im engeren Sinne eine der grund‐ legenden dramatischen Formen, ein Lustspiel mit einer meist auf Verwick‐ lungen im Alltagsleben abzielenden komisch-persiflierenden Handlung, die ein glückliches Ende nimmt. Die Handlungsträger entstammen in aller Regel mittleren oder niederen sozialen Schichten. Als kurze Einakter (entremeses, ab dem 16. Jh. auch als pasos, ab dem 18. Jh. auch als sainetes bezeichnet) konnten komödiantische Stücke zwischen zwei nacheinander aufgeführte Dramen-- oder sogar zwischen deren einzelne Akte-- eingeschoben werden (Cervantes: El retablo de las maravillas, 1615). Die comedia de figurón zielt im Speziellen auf die lächerliche Charakterschwäche einer Hauptfigur (Lope de Vega: La dama boba, 1613) ab, in der comedia de enredo (Intrigenkomödie) steht 114 6 Dramenanalyse Tragikomödie Comedia nueva Corrales Klassizismus: clasicismo die aus komplizierten Verwicklungen resultierende Komik im Vordergrund (Calderón: La dama duende, 1629). Mischformen aus Komödie und Tragödie gruppieren sich allgemein be‐ trachtet unter dem weit gefassten Begriff der Tragikomödie (tragicomedia); sie enthalten in der Regel einen dramatischen Konflikt, der durch komische Episoden aufgeheitert wird, jedoch ein tragisches Ende nimmt. Im erweiterten Sinne wurden schließlich im Siglo de Oro jene dramatischen Texte als ‚come‐ dias‘ bezeichnet, die ihrerseits komische und tragische Elemente zugleich umfassen, so z. B. bei Lope de Vega (vgl. Einheit 2.1.2). In Anlehnung auf den Titel seiner Poetik spricht man zur besseren Unterscheidung hier auch von der comedia nueva. Typisch für das auf Unterhaltung abzielende Theater der Zeit sind die bereits erwähnten Charakter-Komödien oder die comedias de capa y espada, welche auf einer handlungsreichen, mit Konflikten und Duel‐ len durchsetzten Intrige beruhen (Lope de Vega: El acero de Madrid, ca. 1612), sowie das auf die Ausbildung eines spezifischen Ehrenkodex von innerer (honra) und äußerer Ehre (honor) bezogene drama de honor (Lope de Vega: El castigo sin venganza, 1631). Dramatische Aufführungen waren in den Anfängen entweder an den kirchlichen Raum oder an größere öffentliche Plätze mit ihren Bühnen unter freiem Himmel gebunden. Seit dem Mittelalter kamen vereinzelt Inszenierungen in Adelspalästen oder den Aulen der Universitäten hinzu. Im ausgehenden 16. Jh. bildete sich eine neue Möglichkeit heraus, Thea‐ terstücke zu inszenieren: Auf den zwischen städtischen Häusern befind‐ lichen Höfen konnten Bühnen errichtet werden, wodurch sog. corrales de comedias entstanden. Die Abfolge der Zuschauerränge spiegelte dabei die gesellschaftliche Schichtung wider: das einfache Volk (nur Männer, die sog. mosqueteros) stand auf dem Hof, die Frauen befanden sich auf einer gegenüber der Bühne befindlichen erhöhten und abgesonderten Tribünenloge (cazuela). Reichere BürgerInnen nahmen auf den Bänken oder wie die Adligen in den (auch Frauen offen stehenden) Logen (palcos, aposentos) Platz, die in unterschiedlichen Kategorien durch die großen Fensteröffnungen und Balkone gebildet wurden. Dem Klerus war auf der obersten Etage eine eigene kleine Loge (tertulia) vorbehalten. Im Übrigen verfestigte sich die interne Organisation der zuvor fahrenden Schauspielertruppen, die nunmehr einem verantwortlichen Leiter oder Schauspieldirektor unterstanden, dem sog. ‚autor‘. Unter dem Einfluss klassizistischer Ideale brachte das 18. Jh. heroische Dramen (comedias heroicas) und Rührstücke (comedias lacrimosas) hervor (Nicolás Fernández de Moratín: Hormesinda, 1770; Gaspar Melchor de Jovel‐ 6.1 Dramatische Gattungen 115 Abb. 6.4: Género chico: La gran vía (1886) Abb. 6.3: Corral de Comedias, Almagro lanos: Pelayo, 1769). Dass es sich dabei nur um eine von zahlreichen drama‐ tischen Bühnenformen handelte, zeigen die zur gleichen Zeit entstandenen volkstümlichen sainetes, burlesk-schwankhafte Einakter, die mit Tanz- und Gesangseinlagen Szenen aus dem Alltagsleben Madrids präsentieren. Gegen Ende des 19. Jh. konnten sich neue populäre Bühnenformen durchsetzen. So grenzten sich un‐ ter der Sammelbezeichung género chico unterhaltsame Einakter oder Schwänke gegenüber der alta co‐ media, dem bürgerlichen Gesell‐ schaftsdrama (z. B. José Echegaray: El gran galeoto, 1881) ab. Als Weiter‐ entwicklung der sainetes zeichnen sie sich oftmals durch musikalische Elemente aus und verweisen auf den Einfluss der spanischen Ope‐ rette (zarzuela) und des französi‐ schen Boulevard-Theaters (vodevil, m.). Zu beliebten Vertretern des gé‐ nero chico zählen Ricardo de la Vega, Felipe Pérez und José López Silva. 116 6 Dramenanalyse Aufgabe 6.1 ! Drama bedeutet Handlung Lesedrama Als einflussreiche Sonderform dramatischer Gattungen ist schließlich das esperpento (wörtlich: „Vogelscheuche“/ „Schreckgespenst“) von Ramón María del Valle-Inclán anzusehen, eine sehr erfolgreiche Form der gesellschaftskri‐ tischen Groteske (etwa: Divinas palabras, 1920). ? Suchen Sie anhand eines geeigneten Nachschlagewerkes (vgl. Einheit 3.4) ergänzende Informationen zur comedia de capa y espada. Welche Unterformen gibt es? Welche berühmten Autorennamen sind mit der Gattung verbunden? 6.2 Drama als Text und Aufführung Der Begriff ‚Drama‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet Handlung. Zum Ausdruck kommt dabei die Vorstellung, dass das Drama menschliches Handeln nachahmt oder darstellt. Die Figuren treten direkt auf die Bühne und können sogar mit dem Publikum wechselseitige Kommunikation aufnehmen. Die Präsenz der Figuren und ihre dialogische Rede steht somit im Gegensatz zur vermittelnden Erzählerfigur in der Epik. Nun liegen Dramen in der Regel in Form einer gedruckten Textvorlage vor, teilweise werden sie sogar in erster Linie nur für ein Lesepublikum verfasst (Lesedrama, drama para lectura), wie Fernando de Rojas’ Celestina (1499), die zwar zu späteren Bühnenfassungen vielfachen Anlass gegeben hat, ursprünglich aber, wie schon der Textumfang erkennen lässt, kaum für eine Aufführung, sondern wohl eher für ein lautes Vorlesen konzipiert worden war. Auf der anderen Seite gibt es Theaterstücke, denen überhaupt keine Textgrundlage vorausgeht und die eventuell auch nachträglich niemals schriftlich fixiert werden. Hierzu zählen die verschie‐ denen Formen des Stegreiftheaters (comedia de improviso), in dem der detail‐ lierte Handlungsverlauf nicht im Vorfeld geplant wird, sondern auf der Bühne aus dem spontanen Agieren der Schauspieler und Schauspielerinnen heraus entsteht. Die wichtigste literaturhistorische Vertreterin dieser Spielform ist die aus den mittelalterlichen Jahrmarktsspielen hervorgegangene commedia dell’arte, die aus Italien kommend seit dem frühen 16. Jh. auch in Spanien ihre Wirkung entfalten konnte, etwa bei Lope de Rueda (1510-1565). 6.2 Drama als Text und Aufführung 117 Abb. 6.5: Erstdruck der Celestina (1499) Haupt- und Nebentext Dramen liegen also in mindestens zweierlei medialen Kontexten vor, nämlich im Objekt Buch und in der individuellen Aufführung ei‐ nes Stückes, welche noch ergänzt werden können durch die filmi‐ sche Aufzeichnung einer Theaterin‐ szenierung, weiterhin die eigentli‐ che Verfilmung einer dramatischen Textvorlage oder ihre Hörspielfas‐ sung. Während sich die Literatur‐ wissenschaft im Allgemeinen - aber nicht nur! - mit der Analyse des gedruckten Theaterstücktextes aus‐ einandersetzt, ist die aus der Litera‐ turwissenschaft hervorgegangene Theaterwissenschaft stärker mit den Aspekten der wechselnden In‐ szenierungen und der Aufführungs‐ praxis befasst. Der Unterscheidung von Print‐ publikation und Bühnendarbietung entspricht im gedruckten Text selbst die Aufteilung in Haupt- und Neben‐ text. Der Haupttext (texto principal ) umfasst dabei alle auf der Bühne geführ‐ ten Redepassagen, d. h. in erster Linie die Dialogpartien und Monologe (s. Abschnitt 6.5). Der Nebentext (texto secundario) enthält Bühnenanweisungen (didascalias, acotaciones), die sich entweder auf das Agieren der Schauspiele‐ rInnen beziehen oder aber auf das Bühnenbild mitsamt den Requisiten, der Beleuchtung oder speziellen Effekten abzielen. Hinweise zur Inszenierung können im Übrigen aber auch im Haupttext selbst enthalten sein (implizite Inszenierungsanweisungen), wenn eine Figur auf ein Element der Inszenie‐ rung hinweist oder aber aus ihrer Äußerung geschlussfolgert werden muss, dass diese sich auf eine Aktion des Bühnengeschehens bezieht. Ein weiteres Mittel der erzählerischen Gestaltung liegt in der ‚Wortkulisse‘ vor, die inner‐ halb der Rede einer Figur den Schauplatz des Geschehens beschreibt, etwa wenn im modernen Theater die minimalistische Kulisse bewusst keine ent‐ sprechende Anschaulichkeit aufweist. Zum Nebentext, der typographisch und im Layout vom Haupttext deutlich abgesondert wird, gehören: ▶ Titel, ▶ evtl. Motto, Widmung, Inhaltsangabe, ▶ ggf. Vorwort / Nachwort, 118 6 Dramenanalyse ▶ Angaben zum Schauplatz und Zeitpunkt der Handlung, ▶ Personenverzeichnis, ▶ Bezeichnung oder Nummerierung der Handlungsunterteilung in Akte, Szenen etc. (s. Abschnitt 6.7.1), ▶ Nennung der auftretenden Figuren, evtl. mit kurzer Beschreibung, ▶ Bühnenanweisungen für die Gestaltung des Schauplatzes und ▶ Bühnenanweisungen für das schauspielerische Agieren. Vom Haupt- und Nebentext, die der Autor bzw. die Autorin aufgesetzt hat, sind sämtliche weiteren Texte, die eine gedruckte Ausgabe eines Büh‐ nenstücks enthalten kann, zu unterscheiden, etwa die Einleitung oder das Nachwort eines Herausgebers, die von ihm erstellten Anmerkungen (in Fuß- oder Endnoten), Literaturhinweise, Angaben zur Rezeptions- oder Inszenierungsgeschichte oder die Kommentare, Zusammenfassungen und Schauspielerlisten in einem Programmheft (sog. Paratexte, siehe Einheit 11.2.1). 6.3 Raum und Zeit Aus dem Nebentext gehen in der Regel wesentliche Informationen über die Gestaltung des Bühnenraums hervor. Es können aber auch die Figuren selbst sein, die in ihrer Rede die von ihnen wahrgenommene räumliche Umgebung beschreiben (die für die Zuschauer oft so detailliert gar nicht zu erkennen ist); in diesem Fall spricht man von einer ‚Wortkulisse‘ (hipotiposis, f.). Je nachdem, wie viele Informationen der Dramentext über die Schauplätze der Handlung bereithält, kann eine Kategorisierung in einen neutralen, einen stilisierten (wenn er z. B. eine gezielte Wahrnehmungslenkung des Publikums beabsichtigt) oder einen konkretisierten (d. h. detaillierten) Raum vorgenommen werden. Darüber hinaus ist beim realisierten Stück natürlich die Arbeit der Regisseurin oder des Regisseurs maßgeblich für die räumliche Gestaltung. Die Häufigkeit und Radikalität von Ortswechseln gibt schließlich Aufschluss über den Grad der Orientierung des Dramas an der Aristotelischen Einheit des Ortes. Die vom Stück vorgegebene zeitliche Struktur zerfällt in die Ebene der dargestellten Zeit (also die in der Handlung vorgeführte Chronologie der Ereignisse) und die Ebene der Darstellungszeit (also die Aufführungsdauer). Während das Aristotelische Theater von einem dargestellten Zeitraum eines Sonnenumlaufs ausgeht, erlauben Auslassungen im Handlungskontinuum und ggf. nicht der Chronologie gehorchende Zeitsprünge eine davon abwei‐ chende freie zeitliche Gestaltung (vgl. hierzu Einheit 8.2.2). Ein Beispiel ist etwa das Drama ¡Ay Carmela! von José Sanchis Sinisterra, in dem die Darstellung früherer Ereignisse den Handlungsfortgang unterbricht und 6.3 Raum und Zeit 119 Aufgabe 6.2 Aufgabe 6.3 Aufgabe 6.4 Definition: Figur Abb. 6.6 Antike Theatermaske ! Protagonist = Hauptfigur Sprechende Namen sogar die männliche Hauptfigur innerhalb der Geschichte angesichts dieser Achronologie kurzfristig die zeitliche Orientierung verliert. ? Wieso gibt es im Drama (normalerweise) keinen Erzähler? Wer könnte auf dem Theater dennoch seine Funktion einnehmen? ? Weshalb setzte sich die traditionelle Literaturwissenschaft mit ge‐ druckten Dramentexten, selten jedoch mit deren einzelnen Aufführungen kritisch auseinander? ? Überprüfen Sie anhand einer beliebigen Ausgabe, welche Informatio‐ nen der Nebentext in Don Álvaro o la fuerza del sino des Duque de Rivas bereithält. 6.4 Figuren Handlungsträger in einem Stück sind die SchauspielerInnen, die als Darstel‐ lerInnen historische oder fiktive Personen verkörpern. Sie spielen eine Rolle und werden auf der Bühne zu Figuren (personaje) innerhalb eines Stückes, die vom Autor/ von der Autorin zumeist namentlich benannt werden (gerne spricht man aber auch von dramatischen Personen, wobei der Begriff ‚Person‘ jedoch auf das lateinische persona = ‚Maske‘ zurückgeht). Zu unterscheiden sind Neben- und Hauptfiguren (die zentrale Hauptfigur nennt man Protago‐ nistIn, span. protagonista, m./ f.), eine Unterteilung, die sich aus der Anzahl und Länge ihrer Auftritte, evtl. abweichend davon aber auch durch ihre be‐ sondere Funktion innerhalb des Handlungszusammenhangs ergibt. Erste Hinweise auf die Anlage und Deutung der einzelnen Figuren kann die Leser‐ schaft eines Stückes in den Angaben des Nebentextes erhalten, falls entspre‐ chende Hinweise vorliegen (und sei es nur die Beschreibung ihres Kostüms). Weitere Informationen liegen häufig in der für die Figuren gewählten Na‐ mensgebung vor: Eindeutig sind die Kontexte im Falle von historischen Per‐ sönlichkeiten mit bekannter Biographie; ähnlich verhält es sich mit spre‐ chenden Namen, die aus Berufsbezeichnungen oder Funktionen / Rollen abgeleitet werden oder die eine metaphorische bzw. symbolische Auslegung ermöglichen. Der Haupttext eines Stückes hält seinerseits in Form der Figurenrede wichtige Elemente für die Einschätzung der dargestellten Personen bereit: So sind es neben den Charakterisierungen aus dem Munde der anderen an der 120 6 Dramenanalyse Figuren als Funktionsträger im Handlungsgefüge Typen Handlung Beteiligten die Figuren selbst, die sich in Rede (z. B. Selbstreflexion im Monolog) und Handeln vorstellen. In diesem Falle handelt es sich somit um eine figurale Charakterisierung der Betreffenden (caracterización por personajes), die explizit erfolgen kann (caracterización explícita), oder implizit angelegt ist und aus den Aussagen erst gefolgert werden muss (caracterización implícita). Bisweilen dient ein Monolog auch der Zusammenfassung von Geschehnis‐ sen, die nicht direkt auf der Bühne zur Aufführung gelangen können. Zu den im Text erwähnten Hinweisen auf die Anlage der jeweiligen Figur kommen schließlich noch die Interpretation durch die Regisseurin oder den Regisseur (und in Abhängigkeit: durch KostümbildnerIn und Maskenbildne‐ rIn) sowie durch die SchauspielerInnen selbst in Betracht. Festzuhalten bleibt, dass jede Figur im übergeordneten Zusammenhang der Dramenhandlung eine ganz bestimmte Funktion besitzt, die es in der Analyse zu benennen gilt. Dabei geht es im Allgemeinen um Kriterien wie ihre Charaktereigenschaften, ihre Handlungsmächtigkeit, ihr Recht oder Unrecht im Handeln, ihre Bezie‐ hung zu den anderen Figuren des Stücks (s. die Einheiten 6.6 und 8.3.1). Die Anlage der Figuren ist nicht zuletzt im Hinblick auf ihre psychologische Komplexität und ihre Realität suggerierende Überzeugungskraft hin interes‐ sant. Zwei Pole rahmen die Bandbreite der Möglichkeiten: die schematische und einseitige Konzeption von Figuren als Typen oder aber ihre Ausgestaltung zu komplex veranlagten Charakteren. Typen sind als festgelegte Rollen zu verstehen, denen ein ganz bestimmtes Charakterbild mit zugehörigen Verhaltensweisen, sozialem Status, spezifi‐ schem sprachlichen und gestischen Repertoire zu Grunde liegen. Sie verfügen häufig nur über wenige aufeinander abgestimmte Eigenschaften, können in diesem Fall als eindimensional gelten und durchlaufen im Verlauf des Stückes keine Wandlung, weshalb sie grundsätzlich als statische Figuren zu betrach‐ ten sind. Ein Beispiel aus der comedia des Barock ist der sog. gracioso, der Spaßmacher, eine Figur, die durch Wortwitz und vorgegebene Eigenschaften wie Faulheit, Feigheit und ständigen Appetit einen komischen Kontrapunkt zu den existenziellen Problematiken bildet, die im Hauptplot behandelt wer‐ den. Im oftmals satirischen entremés wiederum dient die Typologisierung der Darstellung unterschiedlicher sozialer Schichten oder Berufsstände. Darüber hinaus können gezielt eindimensional angelegte Theaterfiguren als Perso‐ nifikation bestimmter Ideen dienen und eine herausragende symbolische Aussagekraft besitzen, die sie als Allegorien erscheinen lässt, so im auto sacramental. In Pedro Calderón de la Barcas El gran teatro del mundo (verfasst ca. 1635) erscheinen sie beispielsweise nicht nur als Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Stände, sondern auch als Ausdruck menschlicher Gefühle oder abstrakter Konzepte: 6.4 Figuren 121 Text 6.1 El gran teatro del mundo (Erstausgabe 1655) Aufgabe 6.5 Charaktere Ständeklausel Tragische Fallhöhe Hybris Mittlerer Held PERSONAS EL AUTOR EL MUNDO EL REY LA DISCRECIÓN LA LEY DE GRACIA LA HERMOSURA EL RICO EL LABRADOR EL POBRE UN NIÑO UNA VOZ Acompañamiento (Calderón: 1983, 39) ? Schlagen Sie in einem literaturwissenschaftlichen Wörterbuch den Begriff ‚Allegorie‘ nach. Bei welchen der genannten Figuren handelt es sich um Allegorien? Im Gegensatz zu den Typen sind mehrdimensional angelegte Charaktere zu einer inneren Entwicklung fähig, wobei meist eine Verlagerung des dramatischen Konflikts auf die Ebene der Psyche der ProtagonistInnen zu beobachten ist (dynamische Figuren). Jedoch konnte bis zum ausgehenden 18. Jh. nicht beliebig mit den Figuren verfahren werden. Die aus der antiken Poetik tradierte und in der Renaissance wiederbelebte sog. Ständeklausel regelte das Figureninventar der Dramen hinsichtlich ihres sozialen Status. Der tragische Held blieb dem adligen Geblüt vorbehalten, denn seine Fallhöhe, das heißt der Umschwung vom Glück in die Katastrophe, verstärkte den tragischen Effekt in ganz besonderem Maße (siehe Einheit 2.1.1). Auch musste der tragische Held bzw. die tragische Heldin sich insgesamt betrachtet ethisch untadelig verhalten, mit Ausnahme eines aus Verblendung und Überheblichkeit (Hybris, span. hibris/ hybris, f.) gegen‐ über den Göttern bzw. dem Schicksal begangenen schweren tragischen Feh‐ lers (hamartia), der das Verhängnis nach sich zieht. Im Sinne des Aristoteles handelte es sich daher um einen ‚mittleren Helden‘ (héroe ‚medio‘), der weder zu edel noch zu schlecht angelegt war, z. B. die Figur Ödipus in Sophokles’ Tragödie König Ödipus (429-425 v. Chr.). Dem Gelächter durfte im Gegenzug nur das einfache Volk bzw. später das sich formierende Bürgertum preisgegeben werden. Der sozialen Hierarchie entspricht insofern eine parallele Hierarchie der moralischen Qualitäten und zugleich eine Hierarchie der Gattungen, die sich bereits in der Aristotelischen 122 6 Dramenanalyse Aufgabe 6.6 Aufgabe 6.7 Dreipersonenregel  Zusatzmaterialien zu Inszenierung und Regie finden Sie auf www.bachelor-wissen.de Stichomythie Poetik abzeichnet. In ihr heißt es von Tragödie und Komödie: „Die eine ahmt edlere, die andere gemeinere Menschen nach, als sie in Wirklichkeit sind.“ ? Welchen Vorteil könnte es aus Sicht des Autors / der Autorin haben, in einem Drama historische Persönlichkeiten als Figur auftreten zu lassen? 6.5 Figurenrede Die Handlung entwickelt sich in der abendländischen Tradition des Sprech‐ theaters vornehmlich aus der Rede der Figuren. Ihnen stehen mehrere Möglichkeiten des Ausdrucks zur Verfügung, die um die nicht-sprachlichen Kommunikationsweisen (Gestik, Mimik) ergänzt werden. Grundsätzlich kann zwischen gebundener und ungebundener Sprache, also zwischen Vers und Prosa, unterschieden werden. ? Worin berühren und worin unterscheiden sich der Vortrag (die De‐ klamation) von Lyrik und das auf einem dramatischen Text beruhende Schauspiel? 6.5.1 Formen der Figurenrede Ungeachtet der diversen Untergattungen und Typen des Dramas stehen den Figuren verschiedene typische Formen der Rede zur Verfügung. ▶ Dialog Der weitaus größte Teil der dramatischen Produktionen ist durch Dialoge (diálogo) gekennzeichnet, welche von mindestens zwei Personen auf der Bühne gehalten werden. In Anlehnung an die antike Theaterkunst erlaubte die klassizistische Normpoetik sogar nur maximal drei gleichzeitig auf der Bühne präsente Handlungsträger, die einen Wortwechsel führen konnten (von Komparsen [span. comparsa, m./ f.] einmal abgesehen). Unabhängig von der Anzahl der Dialogpartner ist es interessant zu verfolgen, welche Figur wieviel Anteil an dem Dialog erhält und wie Handeln und Sprechen im Stück miteinander verwoben werden (vor allem die Inszenierungspraxis durch Re‐ gisseur oder Regisseurin findet hier großen Spielraum). Ist der Dramentext in gebundener Rede verfasst, können Sprecherwechsel auch in rascher Folge stattfinden, wobei der Redeanteil der einzelnen Figuren auf einen oder zwei (maximal vier) Verse begrenzt ist. Dieses Verfahren, das sich vor allem zu Gestaltung einer erregten Wechselrede eignet, nennt man Stichomythie (es‐ 6.5 Figurenrede 123 Rollenbruch ticomitía, f.). Sie kann sich sogar auf die Verkürzung der Figurenrede zu Halb‐ versen erstrecken (Hemistichomythie, span. hemisticomitía). Erfolgen meh‐ rere Wechsel von Sprechenden innerhalb eines Verses, so handelt es sich um eine Antilabe (antilabe, f.). Im Gegensatz dazu kann der Redeanteil eines Dialogpartners einen Umfang erreichen, der einem längeren Monolog ähnelt; hierbei spricht man von einer Tirade (perorata). ▶ Monolog Der Monolog (monólogo) erfüllt zuerst die Aufgabe, in dramaturgisch effizienter Art und Weise über die Selbstbetrachtung einer Figur, ihre Analyse der sie umgebenden Situation oder über die Vorgeschichte der Handlung zu informieren. Begriffe wie ‚Reflexionsmonolog‘, ‚Entscheidungsmonolog‘, ‚ly‐ rischer Monolog‘ werden immer wieder herangezogen, um die entsprechende Selbstbetrachtung der Figur zu kategorisieren, auch wenn die terminologi‐ schen Abgrenzungen unscharf bleiben. In jedem Fall handelt es sich dabei um eine Konvention der Gattung Drama, da Menschen eher selten zu derar‐ tigen Selbstgesprächen neigen. Weitere Varianten des Monologs tragen eine zumal strukturelle Funktion: sie bilden einen Übergang zwischen Szenen mit Wechsel der Figurengruppe (Brückenmonolog), bereiten als Auftrittsmonolog die darauffolgende Handlung vor (etwa über die Formulierung der Absichten einer Figur) oder fassen als Abgangsmonolog das vorherige Geschehen zusammen. Die rein kommentierende oder das Publikum informierende In‐ tention eines Monologs kann als nicht-aktional bezeichnet werden, während die Vorbereitung einer darauffolgenden Handlung als aktionaler Monolog zu werten ist (Entscheidungsmonolog). ▶ Beiseite-Sprechen Wendet sich die Figur nur kurz von den anderen DarstellerInnen auf der Bühne ab, um eine meist witzige und an das Publikum gerichtete Bemerkung ‚beiseite‘ zu sprechen (hacer un aparte), so durchbricht sie für einen Moment die Illusion des Schauspiels und macht das Publikum zu komplizenhaften Mitwissern ihrer Gedanken. ▶ Botenbericht und Mauerschau Die im Vergleich zum Film sehr eingeschränkten Möglichkeiten des Büh‐ nenraums zur Darstellung von Ereignissen haben zwei Techniken hervorge‐ bracht, die es erlauben, in der erzählenden Rede von Figuren ein für die ZuschauerInnen nicht sichtbares Geschehen zu beschreiben. Der Botenbe‐ richt (informe del mensajero) dient der nachträglichen Bekanntgabe eines vergangenen und sich eventuell in weiterer Entfernung zugetragenen Ge‐ schehens, über das die auf der Bühne anwesenden Figuren in Kenntnis gesetzt werden. Gerne werden im Botenbericht wichtige Auskünfte im Hinblick auf 124 6 Dramenanalyse Diskrepante Informiertheit Text 6.2 Don Álvaro o la fuerza del sino (III, 6) das Schicksal der oder des Protagonisten mitgeteilt, so dass er an strategischen Punkten der Dramenhandlung (Schürzung oder Lösung des dramatischen Knotens, Höhepunkt der Handlung, s. Abschnitt 6.7.1) eingesetzt werden kann. Spielt sich das erzählte Geschehen hingegen gleichzeitig zur Bühnen‐ handlung ab, kann oder soll aber nicht auf der Bühne dargestellt werden (z. B. aus Gründen der Schicklichkeit), so gestattet die sog. Mauerschau (Teichoskopie/ teicoscopia) einer Figur, den anderen wie auch dem Publikum das nur von ihr Gesehene zu beschreiben. Als Beispiel für eine sich dem Zuschauerblick entziehende Schlacht sei auf das oben bereits erwähnte Drama Don Álvaro o la fuerza del sino des Duque de Rivas verwiesen: CAPITÁN. - Granaderos, en su lugar descanso. Parece que lo entiende este ayudante. (Salen los oficiales de las filas y se reúnen, mirando con un anteojo hacia donde suena rumor de fusilería.) TENIENTE.-- Se va galopando al fuego como un energúmeno 1 , y la acción se 5 empeña más y más. SUBTENIENTE.-- Y me parece que ha de ser muy caliente. CAPITÁN.-- (Mirando con el anteojo.) Bien combaten los granaderos del Rey. TENIENTE.-- Como que llevan a la cabeza a la prez 2 de España, al valiente don Fadrique de Herreros, que pelea 3 como un desesperado. 10 SUBTENIENTE. - (Tomando el anteojo y mirando con él.) Pues los alemanes cargan a la bayoneta, y con brío; adiós, que nos desalojan 4 de aquel puesto. (Se aumenta el tiroteo.) CAPITÁN. - (Toma el anteojo.) A ver, a ver… ¡ay! Si no me engaño, el capitán de granaderos del Rey ha caído muerto o herido; lo veo claro, claro. 15 TENIENTE. - Yo distingo que se arremolina 5 la compañía… y creo que retrocede. SOLDADOS.-- ¡A ellos, a ellos! CAPITÁN. - Silencio. Firmes. (Vuelve a mirar con el anteojo.) Las guerrillas también retroceden.-[…] (Saavedra: 2001, 122) 1 energúmeno Besessener - 2 prez Ruhm, Ehre - 3 pelear hier: kämpfen - 4 desalojar hier: zurückdrängen-- 5 arremolinarse sich zerstreuen, auflösen Während über weite Teile des traditionellen Sprechtheaters neben der direk‐ ten Aktion die Dialoge als Rede und Gegenrede die Handlung bestimmen und vorantreiben, gibt es durchaus auch Partien, in denen den Figuren eine er‐ zählerische Funktion zukommt. Dies ist der Fall im Monolog, im Botenbericht, der Mauerschau, im Beiseite-Sprechen, kann aber auch über den Einsatz eines Chors, eingebetteter Liedtexte oder des Auftretens eines kommentierenden Spielleiters erfolgen, der Zusammenhänge sogar in direkter Hinwendung an das Publikum zu erläutern vermag. Der Botenbericht stellt insofern neben dem Beiseite-Sprechen eine von mehreren Möglichkeiten dar, eine ‚diskrepante Informiertheit‘ (informacíon 6.5 Figurenrede 125 Explizite / implizite Selbst‐ darstellung discrepante) zwischen den Figuren und den ZuschauerInnen im Stück aufzu‐ zeigen und sogar zu überbrücken. Zunächst einmal offenbart der Botenbericht einer oder mehreren Figuren ein wesentliches inhaltliches Element der Handlung bzw. ihrer Vorgeschichte, das sie bislang nicht kannten. Darüber hinaus kann die ‚diskrepante Informiertheit‘ aber auch das Verhältnis zwi‐ schen den Figuren und dem Publikum betreffen, indem die Figuren einer Vorgeschichte des Bühnengeschehens gewahr sind, die sich erst allmählich in Dialogen (oder evtl. in anderen Redeformen) offenbart, was somit den ZuschauerInnen ein besseres Verständnis der Zusammenhänge ermöglicht. Im Gegenzug kann auch das Publikum über ein Mehrwissen verfügen, das sich auf die Unkenntnis einzelner oder mehrerer Figuren bezieht, die in einer entsprechenden Szene nicht zugegen waren und daher über bestimmte Informationen nicht verfügen, wodurch sie eventuell eine Situation völlig unterschiedlich beurteilen. 6.5.2 Funktionen der Figurenrede In der Figurenrede kann man in Anlehnung an das Kommunikationsmodell von Roman Jakobson (1896-1982) unterschiedliche Funktionen unterschei‐ den: die referenzielle Funktion vermittelt Informationen an das Gegenüber, wobei sogar im Falle von Erzählungen die Bühnenhandlung zugunsten eines Berichts zurücktritt und rein sprachlich vermittelt werden kann (bspw. im Botenbericht); in der Ausdrucksfunktion drückt eine Figur ihre persön‐ liche Sichtweise aus und schlägt sich auf expressive Art und Weise der Charakter der Figur nieder, den sie absichtlich oder unwillkürlich enthüllt (inhaltlich, stimmlich, mimisch-gestisch); in der Appellfunktion schließlich will eine Figur einen oder mehrere Redepartner beeinflussen, von ihrer eigenen Einstellung überzeugen oder zu einer Aktion bewegen. Lediglich der Aufrechterhaltung des Dialogs dient ferner die phatische Funktion der Rede, welche ohne die zuvor genannten Aspekte aufzuweisen inhalts- und ausdrucksarm signalisiert, dass die Figur ihrem Gegenüber noch zuhört. In einer selbstreferenziellen Funktion kann sich der sprachliche Ausdruck auf einer metasprachlichen Ebene selbst kommentieren, etwa wenn Repliken vorhergehende Formulierungen des Dialogpartners aufgreifen und ironisch kommentieren. Eventuell kann die Figurenrede auch eine poetische Funktion umfassen, wenn sie aufgrund ihrer offensichtlich kunstvollen Gestaltung vom Publikum als solche wahrgenommen wird. Wichtig bleibt dabei festzuhalten, dass die genannten Funktionen sich in der Regel ergänzen und überlagern. Unabhängig von der gewählten Redeart kann eine Figur sich in Dialog oder Monolog selbst charakterisieren, ihr subjektives Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Diese Eigenbeurteilung hat somit zumeist einen expressi‐ ven Charakter, geschieht aber bewusst und kann dabei auch auf absichtlicher 126 6 Dramenanalyse Fremdcharakterisierung statisch/ eindimensional vs. dynamisch/ mehrdi‐ mensional Verdrehung oder unabsichtlicher Verkennung der von den ZuschauerInnen wahrgenommenen Eigenschaften der Figur beruhen. Im Gegenzug enthüllt eine implizite Selbstdarstellung von der Figur unbeabsichtigt ihre charak‐ terliche und weltanschauliche Eigenart. Häufig sind es hier gerade paralinguistische, also den sprachlichen Ausdruck begleitende Aspekte, welche dem Publikum Hinweise auf die Persönlichkeit der Figur vermitteln, so im Einsatz der Stimme (als Indiz einer Persönlichkeit), der Art der Dialogführung (Eingehen auf den Dialogpartner oder Tendenz zum Monologisieren), in der Wahl des stilistischen Ausdrucks der Formulierungen (Rückschluss auf Bil‐ dungsgrad oder sozialen Stand) oder in den verwendeten Sprachvarietäten (Dialekt, Hochsprache, Fachsprache etc.) oder über die der Figur zugeordnete Kleidung, ihr Aussehen, die von ihr verwendeten Requisiten oder das Interi‐ eur des ihr zugeordneten Milieus (bspw. Wohnraum). Im Gegenzug kann eine Figur auch durch andere Figuren charakterisiert werden (Fremdcharakteri‐ sierung), in expliziten Beschreibungen (in Anbzw. Abwesenheit der fremd‐ kommentierten Figur) oder implizit in der Weise der Reaktion auf sie. Als explizite Fremdcharakterisierung wären zuletzt auch Hinweise des Neben‐ textes oder einer erzählerischen Intervention (z. B. durch den Chor) zu werten. Sprechende Namen oder die konfigurationsspezifischen Beziehungen zu an‐ deren Figuren wiederum sind als implizite auktoriale Charakterisierungs‐ techniken anzusehen. 6.6 Gewichtung von Figuren 6.6.1 Figurenkonzeption Innerhalb des Personals treten die einzelnen Figuren durch einen individuel‐ len Charakter hervor, der durch Selbst- oder Fremdcharakterisierung ange‐ zeigt wird. Dabei kann man statisch angelegte Figuren, die keinerlei substan‐ zielle Entwicklung durchlaufen, von dynamischen Figuren unterscheiden, die eine Entwicklung ihrer Persönlichkeit, einen Wandel ihres Identitätsverständnisses oder ihrer Weltsicht bzw. ihrer Haltung zum dramatischen Konflikt demonstrieren. In ersterem Fall handelt es sich oftmals um eindi‐ mensionale Figuren, welche sich durch eine geringe Anzahl von persönli‐ chen Merkmalen auszeichnen (‚Typen‘ mit einer klar umrissenen Funktion innerhalb der Figurenkonstellationen oder allegorische Personifikationen von Werten, so im mittelalterlichen sakralen Drama/ Moralitäten, z. B. der superbia). Mehrdimensionale Figuren weisen hingegen eine charakterliche Komplexität von teils widersprüchlichen Eigenschaften auf. 6.6 Gewichtung von Figuren 127 6.6.2 Figurenperspektive Die Äußerungen der Figuren sind - jedenfalls in um mimetische Glaubhaf‐ tigkeit bemühten Dramen - Träger einer jeweils individuellen Perspektive, die sich aus ihrer Charakterdisposition (Zuneigung, Abneigung, Naivität, Misstrauen etc.), ihrer ideologischen oder religiösen Weltsicht und ihrem Grad der handlungsimmanenten Informiertheit (Kenntnis der Vorgeschichte, Mitwissen über das Agieren anderer Figuren u.ä.) resultiert. Die vorgebrach‐ ten Perspektiven (perspectivas de los personajes) können Übereinstimmungen aufweisen oder sich widersprechen, was sich in der Figurenkonstellation des Stückes niederschlägt (z. B. HelferInnen, AntagonistInnen). Den VerfasserIn‐ nen von dramatischen Texten ist dabei oft daran gelegen, den ZuschauerInnen durchaus zu verstehen zu geben, welche der von den Figuren vorgebrachten Deutungen des Geschehens zutreffen oder eine kritische Aufmerksamkeit verdienen (‚geschlossene Perspektivenstruktur‘). Nicht zuletzt der Verlauf der Handlung - zumal das Dramenende - bestätigt oder widerlegt ihre Äußerungen. Zugleich verfügt die Sichtweise hervorstechender Figuren (die ProtagonistInnen, mit besonderer Autorität ausgestattete Nebenfiguren wie Weise, Seher, Boten usw.) über ein stärkeres Gewicht. Moderne Dramen kön‐ nen indes durchaus vom Fehlen einer eindeutigen Rechtfertigung bestimmter Figurenperspektiven charakterisiert sein: hier verweigert der Autor/ die Auto‐ rin bewusst eine Lenkung der Meinungsbildung im Publikum, das sich selbst überlassen bleibt und aus den von den Figuren angebotenen Positionen und deren Widersprüchlichkeit eigene Schlussfolgerungen ziehen muss (‚offene Perspektivenstruktur‘). 6.6.3 Figurenkonstellation Das im Drama auftretende Personal (Gesamtheit aller Figuren) kann im All‐ gemeinen anhand von Entsprechungen (Liebende, Helfer und Vertraute) oder Oppositionsbildungen (AntagonistInnen) untersucht werden. Zu die‐ sen Gegensätzen zählen die geschlechtliche Zuordnung (i.d.R. männlich / weiblich), Unterschiede des Alters bzw. Generationszugehörigkeit (alt vs. jung), des sozialen Standes, ethisch-moralischer Rechtfertigung (‚gut‘ gegen ‚böse‘, HeldIn vs. AntagonistIn), der charakterlichen ‚Authentizität‘ (natürlich vs. gekünstelt/ verstellt, naiv gegen ‚verdorben‘), der nationalen oder Gruppenzugehörigkeit (Ähnlichkeit vs. Fremdheit, Freund vs. Feind), eventuell des Bildungsgrades oder der Umgangsformen (Stadt oder Land) oder äußerlicher-körperlicher Attribute (schön oder hässlich). Derartige Merkmaloppositionen (oder -äquivalenzen) ermöglichen die Erstellung einer die Handlung vorantreibenden Figurenkonstellation von für die Handlungsentwicklung relevanten Figuren. Als elementare Funktionen innerhalb der Dramenhandlung definierte Algirdas Julian Greimas HeldIn, 128 6 Dramenanalyse Text 6.3 La dama boba (1613) HelferIn und WidersacherIn als typologische Grundmuster (vgl. Einheit 8.3.1). Innerhalb einer einzelnen Szene bilden diese in eine dynamische Interaktion eingebundenen Figuren eine spezifische Konfiguration, die sich im weiteren Verlauf des Stückes immer wieder ändert bzw. durch andere Konfigurationen abgelöst wird. Bezogen auf die besonders hervor‐ tretenden Haupt- und Nebenfiguren kann über den gesamten Dramenzu‐ sammenhang hinweg von einer Figurenkonstellation (constelación oder configuración de los personajes) gesprochen werden. In Lope de Vegas Komödie La dama boba (1613) muss sich der edle Brautwerber Liseo zwischen den beiden Töchtern Octavios entscheiden: der intelligenten Nise und ihrer tölpelhaft-ungebildeten Schwester Finea, der allerdings eine große Mitgift zur Heirat verhelfen soll. Unter anderem erwächst ihm in Laurencio ein vermeintlicher Konkurrent. Das Verzeichnis der Figuren im Nebentext liest sich wie folgt: LISEO, caballero. TURÍN, lacayo. LEANDRO, caballero. OTAVIO, viejo. MISENO, su amigo. DUARDO, caballero. FENISO, caballero. LAURENCIO, caballero. RUFINO, maestro. NISE, dama. FINEA, su hermana. CELIA, criada. CLARA, criada. PEDRO, lacayo. (Lope de Vega: 1989, 3) Anhand der nachstehenden schematischen Darstellung lässt sich ablesen, wie die wichtigsten Figuren des Dramas in die Handlung eingebunden sind: 6.6 Gewichtung von Figuren 129 Aufgabe 6.8 Aufgabe 6.9 Abb. 6.7: Die Figurenkonstellation in Lope de Vegas La dama boba ? Welche dramatischen Konflikte lassen sich bereits aus dieser Konstel‐ lation ablesen? Welche Beobachtungen lassen sich hinsichtlich dieser Figurenkonstellation formulieren? ? Erstellen Sie eine Skizze der Figurenkonstellation zu Lope de Vegas El caballero de Olmedo (1615-26) nach dem Muster in Abb. 6.7. Sie können sich dabei auf eine Zusammenfassung des Inhalts, beispielsweise in Kindlers Literaturlexikon (vgl. Einheit 3.4), stützen. 130 6 Dramenanalyse Abb. 6.8 Ödipus und die Sphinx Jammer und Schaudern Katharsis 6.7 Handlung Aus der Charakteranlage der Figuren, aus ihrer Motivation und aus ihrer Einbindung in ein Beziehungsgefüge mit anderen Figuren entwickelt sich die dramatische Handlung, die Intrige (el enredo/ la trama/ el argumento). Die Gattungsbezeichnung gibt hierbei einen ersten Hinweis auf ihren Verlauf: Tragödie, Komödie, Tragikomödie oder Hirtendrama geben bereits grundle‐ gende Tendenzen vor. Von der Anlage eines Stücks her betrachtet, kann im Weiteren zwischen dem Konfliktdrama, das aus der Entwicklung eines Konfliktes heraus entsteht (innerer Konflikt im Protagonisten, z. B. zwischen Pflicht und Neigung, oder Parteien-Konflikt zwischen Gruppen von Figuren), und dem analytischen Drama (auch: Urteilsdrama, drama analítico) unterschieden werden. Das ana‐ lytische Drama setzt mit einer problematischen Situation ein, deren Entste‐ hung nachträglich aufgedeckt wird. Klassisches Beispiel für diesen Dramen‐ typ ist König Ödipus von Sophokles (ca. 496-406 v. Chr.), in dem der Protagonist - im Gegensatz zu den ZuschauerInnen - erst allmählich von seinem tragischen Los erfährt, das ihn dazu brachte, den Vater zu töten und die Mutter zu heiraten. Der Ausgestaltung und Lösung des Konflikts wurde in der antiken und in allen später sich auf sie berufenden Dramentheorien eine besondere Bedeutung zugemessen. Aristoteles, der die Literatur gegen Platons Vorwurf der Lügenhaftigkeit in Schutz nimmt, stellt speziell das Ver‐ dienst der Tragödie heraus. Hier erlebt der/ die von einem tragischen Fehler (Hamartia, span. hamartia, f.) belastete HeldIn den Umschwung (Peripetie, peripecia) des Schicksals vom hoffnungsvollen Agieren in die unausweichlich werdende Katastrophe; in der Szene des (Wieder-)Erkennens (Anagnorisis, anagnórisis oder agnición, f.) erlangt der Protagonist das zuvor fehlende Be‐ wusstsein; am Ende steht sein Scheitern (Katastrophe, catástrofe, f.). Indem das Publikum die tragische Heldin oder den tragischen Helden bemitleidet und von diesem Schicksal erschüttert wird, durchläuft es während der Auf‐ führung ‚Jammer‘ und ‚Schaudern‘ (mit Lessing auch: Furcht und Mitleid, span. compasión y terror). Diese heftige emotionale Einbindung in das Büh‐ nengeschehen übt laut Aristoteles auf die Psyche der Betrachter eine läu‐ ternde Wirkung aus: Sie erfahren eine Reinigung von ihren Affekten (Ka‐ tharsis, catarsis, f.), d. h. die angestaute emotionale Erregung wird abgeführt (‚Affektabfuhr‘) und das Publikum kann das Theater innerlich gelöster wieder verlassen. 6.7 Handlung 131 ! In der antiken Tragödie begleitete der Chor als Gruppe von Schauspiele‐ rInnen, TänzerInnen und SängerInnen die Handlung Akte und Szenen Dreiaktschema Exposition Peripetie 6.7.1 Aufbau und Untergliederung Gewöhnlich weisen längere szenische Darbietungen eine innere Unterglie‐ derung auf, die Handlungseinheiten zusammenfasst. Sieht man einmal von der Sonderform des Einakters (pieza en un acto) oder anderer kurzer Schau‐ spielnummern ab, so orientierte sich der Großteil der dramatischen Texte an der bereits in der Antike angelegten Einteilung des Stückes in Akte, die von‐ einander durch Auftritte des Chors abgetrennt werden. Teilweise wurden derartige Akteinteilungen von den HerausgeberInnen und ÜberarbeiterInnen älterer Stücke sogar nachträglich eingefügt. Ein Akt (acto / jornada) ist demnach ein in sich geschlossener Handlungs‐ abschnitt, der in sich noch einmal in Szenen (escena) untergliedert werden kann. Szenen sind in der Regel durch den Aufund/ oder Abtritt von Figuren abgegrenzt (weshalb man für ‚Szene‘ auch den Begriff ‚Auftritt‘ findet), Akte zudem oft durch einen Schauplatzwechsel, der ggf. hinter einem herunterge‐ lassenen Vorhang als Umbau des szenischen Dekors vorgenommen werden kann. Auch entsprechen Akte oftmals eigenen Schwerpunkten in der Figu‐ renkonstellation eines Dramas, so dass im Verlauf des Stückes in den einzel‐ nen Akten unterschiedliche Konfrontationen durchgespielt werden. Unter Abwendung von den antiken Vorbildern setzte sich mit Lope de Vegas Dra‐ men endgültig das Dreiaktschema als bevorzugte Bauform im Theater des Siglo de Oro durch. Die Abfolge der Akte entspricht schließlich der Entwick‐ lung des Handlungsverlaufs. Der erste Akt liefert die Exposition (exposición), die in den thematischen Zusammenhang, die Kontexte des dramatischen Geschehens und die Figu‐ renkonstellation einführt. Dies kann auf mehrfache Weise erreicht werden: Die Informationen können gebündelt zu Beginn des Dramas vorgebracht werden oder sich erst im Laufe der ersten Szenen allmählich enthüllen. Oft‐ mals stehen die beiden Verfahrensweisen in Verbindung mit einem zeitlichen Rückblick, der die Vorgeschichte des Bühnengeschehens referiert, bzw. eines sich in der Gegenwart der dramatischen Handlung entwickelnden Gesche‐ hens, das die Informationen sukzessive einbringt. Schließlich kann noch zwi‐ schen einer monologischen Einführung in das Geschehen und deren allmäh‐ lichen Enthüllung in der Wechselrede von Dialogen unterschieden werden, wobei die relevanten Informationen in letzterem Falle oftmals von Nebenfi‐ guren (Vertrauten, Bediensteten) vorgebracht werden. Im Weiteren erhält der dramatische Konflikt seine eindeutige Form und wird entfaltet (‚erregendes Moment‘ als Auslöser der Handlung, bisweilen auch als ‚Schürzung des dra‐ matischen Knotens‘, span. nudo dramático, bezeichnet), wonach er eine Stei‐ gerung erfährt und im zweiten Akt auf seinen Höhepunkt (punto culmi‐ nante / catástasis, f.) zusteuert. Bereits hier, spätestens aber zu Beginn des dritten Aktes, kann die Peripetie, die Wende im Handlungsverlauf, einsetzen. Auch eine Abfolge mehrerer Peripetien ist möglich. Ein oder mehrere sog. 132 6 Dramenanalyse Dramenende/ Lösung retardierende Momente (momento retardante) zögern den Ausgang der Hand‐ lung hinaus. Im dritten Akt erfolgt schließlich die Lösung (desenlace, m.) des dramatischen Konflikts (bzw. des Knotens). Im Falle einer ‚geschlossenen‘ Bauform des Dramas (siehe nächster Abschnitt, 6.7.2) liegen alle zum Hand‐ lungsverständnis notwendigen Informationen spätestens jetzt dem Publikum vor. Mit dem Dramenschluss einher geht zumeist auch eine von den Autor‐ Innen vorgesehene ‚poetische Gerechtigkeit‘, welche den von den Figuren transportierten Wertekonflikt im Drama auflöst, die Handlungsweisen der ProtagonistInnen beurteilt und in den Augen der Zuschauerschaft rechtfertigt oder widerlegt (Sympathie/ Bewunderung für die tragischen HeldInnen, Spott für das gesellschaftlich unstatthafte Verhalten der Hauptfiguren in der Ko‐ mödie). Gemäß der Aristotelischen Forderung muss sich eine solche Lösung aus der Handlung heraus logisch wie psychologisch motiviert ergeben. Es finden jedoch auch jähe Handlungsumschwünge am Ende von Dramen, etwa in der sprichwörtlichen Intervention eines ‚deux ex machina‘, dem aus der Bühnenmaschinerie auftauchenden Gott und seiner abrupten Intervention (welche auch von anderen überraschenden Auftritten von Autoritäten ge‐ leistet werden kann). In seinem in Einheit 2.1.2 bereits vorgestellten Traktat Arte nuevo de hacer comedias en este tiempo empfiehlt Lope de Vega, die Lösung so spät wie möglich zu erkennen zu geben, denn das (in Lopes Volkstheater häufig ungebildete und undisziplinierte) Publikum wende der Bühne sonst aus Langeweile bald den Rücken zu! Abb. 6.9: Idealtypischer Handlungsverlauf im Drama als Kurvendiagramm Die Handlungsentwicklung verläuft allerdings nicht so schematisch, wie die obige, an Gustav Freytags Technik des Dramas (1863) angelehnte Skizze suggeriert: In der Realität setzt sie sich vielmehr aus einer ganzen Reihe ‚kleinerer‘ Peripetien zusammen, die für einen kontinuierlichen Wechsel der dramatischen Spannung sorgen. 6.7 Handlung 133 Die drei Einheiten: Hand‐ lung, Ort und Zeit Auch gibt es ‚offene‘ Dramenenden, die das Publikum in Ungewissheit über den Ausgang der Handlung oder über deren Bewertung lassen. Damit kann der Anreiz zu einer eigenständigen intellektuellen oder ethischen Auseinandersetzung mit dem Dramenstoff einhergehen, es kann aber auch die pessimistische Weltsicht artikuliert werden, dass es für den dargestellten Konflikt schlicht keine befriedigende Lösung geben kann und die erzeugte Spannung als Unwohlsein an der Existenz unaufhebbar ist. Weitere Verfahren bestehen in der zyklischen Anlage des Geschehens, das einen Abschluss verhindert, oder im modernen Drama in der statischen Anlage von Bühnen‐ handlung und Figuren, die sich jeglicher Entwicklung widersetzen. 6.7.2 ‚Offene‘ und ‚geschlossene‘ Form des Dramas Die klassizistische Regelpoetik verdichtete Strukturmerkmale der antiken Dramen und erhob eine auf ‚Geschlossenheit‘ und Symmetrie beruhende Bauform des Stückes zum Ideal, wie sie sich vor allem in der Tragödie verwirklichte. Hier sollte die Handlung nicht nur den Ansprüchen der Wahrscheinlichkeit und Schicklichkeit entsprechen, sondern sie sollte ein in sich geschlossenes Gesamtbild bieten. Dazu bedarf es eines ausgewogenen Dramenaufbaus mit Exposition, Hö‐ hepunkt und Lösung des Konflikts, der sich in einer kausal-logischen Folge entwickelt, einer überschaubaren und durchgängigen Figurenkonstellation, einer übergeordneten thematischen Einheitlichkeit des Stückes sowie seiner sprachlichen Stimmigkeit. Hinzu kommen grundlegende Vorschriften, die als Lehre von den drei aristotelischen Einheiten ihren festen Platz in der Theatergeschichte eingenommen haben. In seiner Poetik stellte Aristoteles bereits die Forderung nach der Einheit der Handlung (unidad de acción), die sich nicht in Parallel- und Nebenhand‐ lungen verlieren darf und eine schlüssige Entwicklung nehmen soll, und nach der Einheit der Zeit (unidad de tiempo) auf, wonach die dargestellten Ereignisse nicht die Zeitspanne eines Sonnenumlaufs überschreiten sollten. Sie ist unter anderem den Erfordernissen der Aufführungspraxis geschuldet, da ein Stück sich nicht endlos in die Länge ziehen sollte. Aus der Einheit der Zeit leitete man später auch die Einheit des Schauplatzes (unidad de lugar) ab, welche dem festen Bühnenstandort entspricht und somit - wie die beiden anderen Einheiten - der Wahrscheinlichkeit des Dargestellten entgegenkommt. In der Theaterpraxis späterer Epochen genügte es jedoch oftmals, verschiedene Schauplätze innerhalb ein und derselben Stadt als Wahrung der Einheit des Ortes zu betrachten. 134 6 Dramenanalyse Aufgabe 6.10 Tektonischer und atektoni‐ scher Aufbau Aufgabe 6.11 ? Welchen Effekt ruft die Wahrung der Einheiten von Ort, Zeit und Handlung in den modernen Medien Film und Fernsehen hervor? Einer solchen von ihm als ‚geschlossene‘ Form (drama ‚cerrado‘) angeführten Bauweise, die wegen ihres festgefügten Charakters auch als ‚tektonischer‘ Aufbau bezeichnet wird, stellte Volker Klotz in einer 1960 veröffentlichten Monographie eine ‚offene‘ Form (drama ‚abierto‘) gegenüber, die man auch unter dem Begriff des ‚atektonischen‘ Aufbaus fassen kann. Hier stehen die einzelnen Teile des Stückes nur in einem locker-episodischen Zusammen‐ hang, nicht in einem zwingenden Entwicklungsverlauf. Die strenge Abfolge der Akte und Verknüpfung der Szenen wird durchbrochen, die Handlung zerfällt in einzelne Fragmente und wird nicht mehr von einer grundlegenden Figurenkonstellation und Konfliktsituation getragen, eine einleitende und er‐ klärende Exposition findet nicht statt, der Dramenausgang bleibt offen. Auch die Hauptfiguren erhalten nur noch bedingt eine Kontinuität innerhalb des Stückes aufrecht, da ihre Handlungsmotive und stilistischen Ausdrucksmittel wechseln können, wobei ohnehin auf die strenge metrische Form verzichtet wird. ? Sind Einakter durch einen tektonischen oder atektonischen Aufbau gekennzeichnet? 6.7.3 Episches Theater Unter ‚epischem‘ Theater (teatro épico) versteht man in der Nachfolge Bertolt Brechts (1898-1956) eine moderne Dramaturgie, die durch Verfremdungs‐ effekte (V-Effekt; efecto de extrañamiento / alienación) das Theaterpublikum daran hindern will, sich der dramatischen Illusion hinzugeben und somit zu einem nicht-reflexiven, unkritischen Unterhaltungskonsumenten zu werden. Folglich ist nicht eine mimetische Darstellung des Geschehens beabsichtigt, auch keine Identifikation mit den Bühnenfiguren, sondern die Zuschauer‐ Innen sollen sich jederzeit bewusst sein, einer fiktionalen Repräsentation beizuwohnen. Die Figuren sind nicht als realistisch-überzeugende Individuen konzipiert. Sie verkörpern eher die unterschiedlichen Aspekte von komple‐ xen gesellschaftlichen Fragen, und ihre Argumente appellieren nicht an das Gefühl, sondern an den Verstand des Publikums, das über die eigene gesell‐ schaftlich-politische Situation nachdenken und darüber zum aktiven Handeln angeregt werden soll. Eingeschobene Kommentare, das selbst-distanzierte Spiel der Schauspieler und eine nicht-mimetische Bühnengestaltung sind weitere Mittel der Verfremdung. 6.7 Handlung 135 Zusammenfassung Eine eigenständige Adaption Brechtscher Ansätze findet sich z. B. in spanischen Dramen über die Franco-Zeit, in denen das Publikum zu einer Bewusstwerdung gegenüber der diktatorischen Gewalt geführt werden soll, so bei Fernando Arrabal (* 1932) oder Antonio Buero Vallejo (1916-2000): La doble historia del doctor Valmy (1976). 6.7.4 Experimentelles Theater Im Gegensatz zu AutorInnen wie Buero Vallejo, die unter den Bedingungen des franquistischen Regimes im Lande geblieben sind und sich den gegebe‐ nen Möglichkeiten anglichen (posibilismo), entwickelten andere Schritsteller und Schriftstellerinnen ein stärker experimentell und gesellschaftskritisch geprägtes Theater, dessen Schwerpunkt in den 1960er Jahren liegt und das v. a. auch von Exilautoren und -autorinnen getragen wurde. Ein herausragendes Beispiel ist in diesem Zusammenhang Alfonso Sastre, der Anregungen aus dem epischen Theater, dem Theater des Absurden und dem esperpento Vallé-Incláns aufnahm (M. S. V. o La sangre y la ceniza, 1965; Crónicas romanas, 1968) und eher Aufführungskonzepte als vollendete Texte verfasste. Da das Drama in erster Linie als Aufführungspraxis anzusehen ist, gibt die gedruckte Fassung eines Stückes aufgrund der ihr eigenen medialen Beschränkung die Vielschichtigkeit einer Inszenierung nur ungenügend wieder. Nebentexte können in dieser Hinsicht die Intentionen von Autor‐ Innen andeuten. Die Konzeption der Figuren, des Handlungsverlaufs oder die Inszenierung unterliegen epochenbedingten Konventionen, wie sie etwa in poetologische Schriften eingegangen sind (vgl. Einheit 2.1). Die Durchformung der Bühnenrede, v. a. in der sorgfältigen Ausgestaltung der verwendeten Verse, muss in diesem Zusammenhang besonders be‐ achtet werden. Die Handlung eines Dramas beruht auf der Anlage der Figuren und ihrem Zusammenspiel im Rahmen des dramatischen Konflikts. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang die Frage der Gattung (Komödie, Tragödie, Tragikomödie, etc.) und der gewählten ‚offenen‘ oder ‚geschlossenen‘ Form des Stückes, die ihrerseits dazu beitragen, dass es eine bestimmte dramatische Wirkung auf der Bühne entfalten kann, welche durch die interpretierende Leistung der RegisseurInnen und der SchauspielerInnen noch weiter ausgestaltet wird. 136 6 Dramenanalyse  Literatur Aristoteles: Poetik. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2 1994. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frank‐ furt a.M.: Suhrkamp 1957. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart u. a.: G. Fischer 3 1999. Pedro Calderón de la Barca: El gran teatro del mundo. Hg. Eugenio Frutos Cortés. Madrid: Cátedra 1983. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Leipzig: Hirzel 1863. Roman Jakobson: „Linguistik und Poetik“, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, 99-135. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München: Hanser 1960. Ángel de Saavedra, Duque de Rivas: Don Álvaro o la fuerza del sino. Hg. Alberto Sánchez. Madrid: Cátedra 2001. Lope de Vega: La dama boba. La moza de cántaro. Hg. Rosa Navarro Dúran. Barcelona: Planeta 1989. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Literatur 137 Überblick 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Inhalt 7.1 La vida es sueño 7.1.1 Calderón de la Barca 7.1.2 Inhaltsangabe 7.1.3 Analyse ausgewählter Passagen 7.2 Bodas de sangre 7.2.1 Federico García Lorca 7.2.2 García Lorcas ‚tragedias rurales‘ 7.2.3 Zum Inhalt der Bodas de sangre 7.2.4 Analyse ausgewählter Passagen Die in Einheit 6 eingeführten Kriterien der Dramenanalyse können Sie nun am Beispiel von Textauszügen zweier bekannter Dramen der spani‐ schen Literaturgeschichte eingehender in der Anwendung erproben - an einer comedia des Siglo de Oro, Calderón de la Barcas La vida es sueño, sowie an einem ‚poema trágico‘ von Federico García Lorca, den Bodas de sangre. ! Vanitas (lat.): Eitelkeit, Vergänglichkeit alles Irdi‐ schen Abb. 7.1 Felipe IV (1605-1665) auf einem Gemälde von Velázquez La vida es sueño (1635) 7.1 La vida es sueño 7.1.1 Calderón de la Barca Pedro Calderón de la Barca (1600-1681) wurde in einem Madrilener Je‐ suitenkolleg erzogen, studierte Theologie und Jura, um schließlich als Sol‐ dat in Italien und Flandern zu dienen. 1635 wurde er zum Hofdramatiker Philipps IV. ernannt. Neben seinem erfolgreichen Theaterschaffen sollte er weiterhin teils militärisch (Feldzug gegen Katalonien), teils in kirchlichen Funktionen tätig bleiben (1663 Ehrenkaplan bei Hofe). Sein pessimistisches Weltbild betonte den Gedanken der Vergänglichkeit alles Irdischen und des freien Willens des Einzelnen, der sich tugendhaft zu bewähren habe. Sein Werk umfasst weltliche wie geistliche Dramen. Zu den ca. 120 weltlichen comedias zählen Geschichtsdramen (El alcalde de Zalamea, 1651), comedias de capa y espada (La dama duende, 1636), comedias de honor (El médico de su honra, 1637), mythologische Dramen (La hija del aire, 1664) und das Ideen‐ drama La vida es sueño (1635). Hinzu kommen mehrere entremeses und loas. Neben geistlichen comedias (La devoción de la cruz, 1636) sind schließlich vor allem seine autos sacramentales beachtenswert, die von Calderón zur vollen‐ deten Form entwickelt wurden (El gran teatro del mundo, 1675; Los encantos de la culpa, 1634; La cena del rey Baltasar, 1632). 7.1.2 Inhaltsangabe Der 1. Akt eröffnet mit dem Auftritt der als Mann verkleideten Rosaura, die sich auf dem Weg zum polnischen Königshof befindet. Sie sucht dort den Moskauer Herzog Astolfo, der sie nach einer Liaison treulos verlassen hat, bei seinem Onkel, dem pol‐ nischen König Basilio. In ihrem Begleiter Clarín steht ihr ein sog. ‚gracioso‘, die cha‐ rakteristische komische Figur in den comedias des Siglo de Oro, zur Seite. Zunächst treffen die beiden in einer unwirtlichen Bergwildnis jedoch auf einen einsamen Ge‐ fängnisturm, in dem Prinz Segismundo seit seiner Geburt gefangen gehalten wird. Noch während der Schwangerschaft hatte seine Mutter im Traum eine schreckliche Vision, die von den (nicht standesgemäßen) astrologischen Berechnungen seines Va‐ ter noch untermauert wurde: der Sohn werde die Mutter töten (die Geburt verlief für sie tatsächlich tödlich), zum Tyrannen entarten und den Vater in den Staub stoßen. Hierauf wurde die Einkerkerung befohlen, einziger menschlicher Kontakt ist seitdem der Erzieher Clotaldo. Segismundo selbst ahnt von diesen Zusammenhängen jedoch nichts. Vielmehr beklagt er sein Schicksal und zeigt tatsächlich Anzeichen eines cho‐ lerischen Gemüts. Als Clotaldo erscheint, lässt er die beiden ungebetenen Reisenden Rosaura und Clarín verhaften - ihnen droht der Tod, da niemand vom Aufenthalt Segismundos erfahren soll. Indes erkennt Clotaldo an Rosauras Schwert, dass es sich um seine eigene Tochter handeln muss, die offensichtlich einer einstigen Moskauer 7.1 La vida es sueño 139 Abb. 7.2 Calderón de la Barca (1600 -1681) Liebschaft entstammt. Daraus entsteht der Gewissenskonflikt, ob er die Befehle seines Königs treu befolgen und Rosaura dem Tod ausliefern oder sie als Vater beschützen soll. Nur die unvermutete Entscheidung des Königs, seinen Sohn doch auf seine Tauglichkeit als Nachfolger zu testen, rettet die Situation. Astolfo und Estrella, Neffe und Nichte Basilios, verbünden sich unterdessen gegen den ranghöheren Thronan‐ wärter. Im 2. Akt erwacht Segismundo nach der Einwirkung eines Schlaftrunks in kö‐ niglichen Gemächern. Er wird mit allem Prunk und aller Ehrerbietung als König behandelt, während Basilio und Clotaldo sein Verhalten verdeckt beobachten. Ihre Befürchtungen bewahrheiten sich indes: Im jähen Wechsel aus der erbärmlichsten Entbehrung in die ungeahnte Machtfülle verwandelt sich Segismundo in ein jähzor‐ niges Monster, das mit Astolfo in Streit gerät, einen unvorsichtigen Diener ermordet, die zur Kammerzofe von Estrella avancierte Rosaura zu vergewaltigen sucht und auch Clotaldo umzubringen droht. Basilio bereitet durch die erneute Verabreichung eines Schlafmittels dem Experiment ein Ende. Erscheint die Thronfolge Segismundos nunmehr abgewendet, so nimmt die eheliche Verbindung zwischen Estrella und Astolfo Gestalt an. Allerdings verlangt Estrella die Aushändigung eines Porträtbildes, das sie flüchtig bei Astolfo gesehen hat, und das niemand anderen als Rosaura zeigt. Diese wendet geistesgegenwärtig die Situation zu ihren Gunsten und entzweit die beiden im Streit. Segismundo schließlich erwacht wie aus einem Traum in seinem Verlies, ohne das Geschehene begreifen zu können. Zu Beginn des 3. Akts verzweifelt Clarín über sein Los der Gefangenschaft, die er als Mitwisser um die Prüfung Segismundos erleidet, doch gilt seine Klage in erster Linie dem quälenden Hunger. Soldaten erscheinen daraufhin im Turmverlies, sie wollen den rechtmäßigen Thronfolger befreien, um mit ihm gegen den König und den als Fremdherrscher abgelehnten Astolfo ins Feld zu ziehen. Segismundo setzt sich an die Spitze der Volksbewegung, verschont aber das Leben Clotaldos, der seinem König treu bleibt. Rosaura plant unterdessen, Astolfo als Rache für die Entehrung zu ermorden. Ihr Vater Clotaldo versagt ihr dabei allerdings die Unterstützung, da er loyal zu Basilio und seinem designierten Nachfolger steht. So schließt sie sich Segismundo an, legt ihm ihre Lebensgeschichte offen und fordert ihn zur Hilfe auf. Dieser überwindet sein eigenes auf die hübsche Rosaura gerichtetes Begehren und will auch für ihre Ehre kämpfen. Er rückt mit seinen Anhängern rasch vor. Clarín, der sich vor der Schlacht verstecken wollte, wird von einer verirrten Kugel tödlich getroffen; der vor Segismundo fliehende Basilio erkennt nun, dass man dem eigenen Schicksal nicht entrinnen kann. Als Segismundo schließlich hinzukommt und Basilio sich ihm unterwirft, reagiert der Sohn mit Milde; nicht die Sterne täuschten über des Schicksals Lauf, sondern die Menschen irrten sich, wenn sie ihr irdisches Los abzuwenden suchten, so wie Basilio in seinem Sohn das barbarische Wesen erst erschuf, das er durch die unmenschliche Einkerkerung zu bannen glaubte. Gerührt vom großmütigen Wesen Segismundos ernennt er ihn zum Herrscher. Dieser stiftet daraufhin die Ehe zwischen Rosaura und Astolfo, der in die Heirat einwilligt, als Clotaldo sie vor allen 140 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Aufgabe 7.1 als seine eigene Tochter und damit von edlem Geblüt offenbart. Die Ehre Rosauras ist damit wiederhergestellt. Segismundo bittet im Gegenzug Estrella als seinem Rang gemäße Partie um ihre Hand. ? Erstellen Sie auf Grundlage der Inhaltsübersicht eine Skizze der Personenkonstellation im Stück. Welche inhaltlichen Elemente gehören zur Exposition des Dramas, an welcher Stelle findet sich das ‚erregende Moment‘ und worin dürfte der Höhepunkt der Handlung bestehen? Welche Handlungsstränge sind auszumachen? 7.1.3 Analyse ausgewählter Passagen 7.1.3.1 Von der Freiheit (I,2) -[…] ROSAURA: ¿No es breve luz aquella caduca 1 exhalación 2 , pálida estrella, que en trémulos desmayos, 3 pulsando ardores y latiendo 4 rayos, 5 hace más tenebrosa la obscura habitación con luz dudosa 5 ? Sí, pues a sus reflejos puedo determinar, aunque de lejos, una prisión obscura, 10 que es de un vivo cadáver sepultura. Y porque más me asombre, en el traje de fiera 6 yace un hombre de prisiones 7 cargado 8 y sólo de la luz acompañado. 15 Pues huir 9 no podemos, desde aquí sus desdichas 10 escuchemos, sepamos lo que dice. (Descúbrese SEGISMUNDO con una cadena y la luz, vestido de pieles. 11 ) 20 SEGISMUNDO: ¡Ay mísero de mí, ay, infelice! Apurar 12 , cielos, pretendo, ya que me tratáis así, qué delito cometí contra vosotros, naciendo. 25 Aunque si nací, ya entiendo qué delito he cometido: bastante causa ha tenido 7.1 La vida es sueño 141 Text 7.1 La vida es sueño I,2 vuestra justicia y rigor, pues el delito mayor 30 del hombre es haber nacido. Sólo quisiera saber para apurar mis desvelos 13 dejando a una parte, cielos, el delito del nacer, 35 qué más os pude ofender, para castigarme más. ¿No nacieron los demás? Pues si los demás nacieron, ¿qué privilegios tuvieron 40 que no yo gocé 14 jamás? Nace el ave, y con las galas 15 que le dan belleza suma, apenas es flor de pluma o ramillete 16 con alas, 45 cuando las etéreas 17 salas 18 corta con velocidad, negándose a la piedad del nido que deja en calma; ¿y teniendo yo más alma, 50 tengo menos libertad? Nace el bruto 19 , y con la piel que dibujan 20 manchas bellas, apenas signo es de estrellas, gracias al docto pincel, 55 cuando atrevida 21 y cruel la humana necesidad le enseña a tener crueldad, monstruo de su laberinto; ¿y yo, con mejor distinto, 60 tengo menos libertad? -[…] (Calderón: 2005, 89-91) 1 caduco, -a schwach-- 2 exhalación hier: Lichtschein-- 3 desmayo Kraftlosigkeit, Schwäche - 4 latir hier: aufflackern - 5 dudoso, -a unschlüssig - 6 traje (m.) de fiera Gewand eines wilden Tieres - 7 prisiones (f. pl.) hier: Fesseln - 8 cargado hier: bedrückt - 9 huir fliehen - 10 desdicha Unglück - 11 piel (f.) Tierfell - 12 apurar Klarheit erlangen-- 13 desvelos (m. pl.) Eifer, Anliegen-- 14 gozar de sich erfreuen an - 15 galas (f. pl.) festliches Gewand - 16 ramillete (f.) kleiner Blumenstrauß - 142 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Aufgabe 7.2 Selbstbestimmung und Ehre als zentrale Elemente der menschlichen Identität Wortkulisse Ambivalenzen Hell-- dunkel 17 etéreo himmlisch-- 18 salas (f. pl.) der Raum-- 19 bruto wildes, ungebändigtes Tier-- 20 dibujar zeichnen-- 21 atrevido, -a kühn ? Welche Funktion erhalten die Redeanteile von Rosaura und Segis‐ mundo im obigen Auszug? Inwiefern sind sie aufeinander abgestimmt? Welche Bedeutung hat der Auszug im Hinblick auf die Zuschauer, die hier Segismundo zum ersten Mal erblicken? Untersuchen Sie abschließend die rhetorische Gestaltung des Textauszugs! Der zitierte Textauszug ist Teil der Exposition des Dramas und dient zur Ein‐ führung der zentralen Figur Segismundo und grundlegender Motive des Stü‐ ckes, nachdem in der vorhergehenden Szene Rosaura als seine Komplemen‐ tärfigur vorgestellt wurde: Während Segismundo das menschliche Streben nach Freiheit bzw. Selbstbestimmung verkörpert, kämpft Rosaura um ihre persönlichen Ehre, wie sie über die Aufdeckung ihrer sozialen Herkunft wie‐ dergewonnen und in der standesgemäßen Heirat bekräftigt werden wird. Rosauras Redepart nun beschreibt eingangs im Sinne einer Wortkulisse (paisaje de palabras) die Szenerie, in welcher der Protagonist in Erscheinung tritt, und gibt wichtige Hinweise zur Deutung dieser Figur, die sich daraufhin in einem Monolog selbst vorstellt, so dass sich Fremdbeobachtung und Selbst‐ beschreibung ergänzen. Rosauras Rede ist in thematischer Hinsicht von einer für das Barock typischen Ambivalenz gekennzeichnet, und das in dreifacher Weise: 1. Zum einen werden Licht und Schatten nicht nur kontrastiv gegenüber‐ gestellt (ein Verfahren des sog. claroscuro), sondern durchdringen sich gegenseitig, da das schwache Licht die Dunkelheit geradezu vergrößert („hace más tenebrosa / la oscura habitación con luz dudosa“). Dabei han‐ delt es sich um ein typisch barockes Paradoxon mit pessimistischem Grundton: Allen Bemühungen zum Trotz ist der Mensch vom Dunkel des Nicht-Begreifens umgeben und kann bestenfalls erkennen, dass er nichts weiß. Dem entsprechen auf der Handlungsebene des Stückes Segismun‐ dos anklagende Fragen im folgenden Monolog. Auch für den weiteren Verlauf des Dramas ist das Motiv relevant: Da Segismundo abseits der menschlichen Gesellschaft gefangen gehalten wird, ist die Unkenntnis der Regeln des (zumal höfischen) Zusammenlebens mit einem Zustand unzi‐ vilisierter Rohheit und Wildheit gleichzusetzen und bildet die Grundlage für sein tyrannisches Verhalten, als er vom Vater versuchsweise als König eingesetzt wird und sich wie ein Barbar benimmt. Gleichzeitig erkennt Segismundo erst durch seine Erfahrung der anderen Welt (des Palastes) 7.1 La vida es sueño 143 Lebend-- tot Memento mori Mensch-- Tier ! Neostoizismus: An die antike Philosophie anknüp‐ fende Ethik der Weisheit und Mäßgigung Vorbestimmtheit und Willensfreiheit den vollen Umfang seiner Entrechtung, was eine wichtige Voraussetzung für den Bürgerkrieg und damit für den weiteren Plot wird. 2. Das Grabesdunkel von Segismundos isolierter Gefangenschaft setzt zum Anderen weitere Sinnbezüge frei: Die contradictio in adiecto des „vivo cadáver“ erinnert an die ständige Präsenz des Todes im Leben (ein sog. memento mori, dt.: „Gedenke des Todes“) und stellt eine rein irdisch-welt‐ liche Lebensführung in Frage. Das menschliche Sein ist also von vorn‐ herein ambivalent, da es auf zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist: einem minderen irdischen Leben, das in seiner Beschränktheit und Unfreiheit eher dem Tode gleicht, und einem jenseitigen, eigentlichen Leben, wie es die christliche Lehre, aus der sich das Weltbild des Stückes speist, verspricht. 3. Der Zustand des Lebendig-Begrabenseins wird schließlich ergänzt um den Verweis auf die Gefangenschaft in einem tierhaft-primitiven Körper. Bereits in Rosauras einleitendem Redepart erinnert Segismundo in seiner Erscheinung an ein wildes Tier (durch die „traje de fiera“); die antitheti‐ sche Inbezugsetzung von „fiera“ und „hombre“ im selben Vers verschränkt die beiden Anteile von Segismundos Wesen (bzw. eines jeden Menschen) miteinander. In Segismundos Monolog wird das Motiv sodann über den mehrfachen Vergleich mit wilden Tieren aufgegriffen und die eigene Wandlung zum Unmenschen („monstruo“) als notwendige Entwicklung unter den Bedingungen der leidvollen Existenz angedeutet. Der funda‐ mentale Gegensatz zwischen der regelnden Vernunft (‚razón‘), dem von ihr hervorgebrachten Gesetz (‚ley‘) und der alle Schranken brechenden instinktiven Leidenschaft (‚pasión‘), der das Drama in mehrfacher Hin‐ sicht bestimmt, zeichnet sich hier bereits ab. Die an Segismundo exem‐ plarisch illustrierte ethische Aufgabe des Einzelnen besteht letztlich darin, die „fiera“ in ihm der Ratio zu unterstellen (ein Grundgedanke des Neo‐ stoizismus), was dem Protagonisten am Schluss auch gelingt. Im vorliegenden Monolog wird die entscheidende Frage nach der Ursache für die eigene Unfreiheit von Segismundo im Sinne der Lehre von der Erbsünde beantwortet: Der Mensch ist von Anbeginn an unfrei und sündhaft geboren, wie es das Paradoxon „el delito mayor / del hombre es haber nacido“ zum Ausdruck bringt. Dadurch wird der von Segismundo personifizierte Selbst‐ behauptungswille jedoch nicht ausgeschlossen: Indem er sich schließlich als Tatmensch militärisch durchsetzt, wird er gleichzeitig das ihm prophezeite Schicksal erfüllen, womit Willensfreiheit des Einzelnen und Vorbestimmtheit durch Gott bzw. das Schicksal paradoxerweise in eins fallen und der Gegen‐ satz zwischen beiden aufgehoben wird. Die Entwicklung Segismundos umfasst das allmähliche Reifen seiner Er‐ kenntnisfähigkeit, die sich über den gesamten Ereignisverlauf der comedia hinweg ausbildet und eine Kontrolle über die impulsiven Leidenschaften er‐ 144 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Abb. 7.3 Antoine Louis Barye: Theseus kämpft gegen den Minotaurus (1843) möglicht. Rosauras Schilderungen des flackernden Scheins in den ersten vier Versen verweisen in ihrer enumerativen Aneinanderreihung auf die Schwä‐ che Segismundos zu Beginn des Stückes. Sein gespaltenes Wesen und seine unglückliche Existenz werden von ihr in der genannten contradictio in adiecto des „vivo cadáver“ auf den Punkt gebracht. Er verlangt in einer an Gott (über die Metonymie „cielos“) gerichteten Apostrophe Aufklärung über sein Schicksal, wobei zahlreiche Wiederholungen (z. B. im Polyptoton „qué delito cometí […] qué delito he cometido“) und gleichsam rhetorische Fragen („¿y yo […]/ tengo menos libertad? “) Unverständnis und Empörung über das un‐ gerechte Los zum Ausdruck bringen. Der antithetisch angelegte Selbstver‐ gleich mit diversen Tieren, der im Übrigen über den obigen Textauszug hinaus fortgesetzt wird, unterstreicht deren Bevorzugung durch das Schicksal noch durch gewählte Periphrasen und hyperbolische Wendungen („las galas / que le dan belleza suma“) sowie durch Metaphern („flor de pluma“). Parallelismen, Inversionen, Ellipsen oder Hyperbata charakterisieren zusammen mit ande‐ ren Stilmitteln die Satzstellung. Der allegorische Grundtenor des Monologs, der gleichermaßen rhetorisch wie gedanklich von hoher Komplexität ge‐ zeichnet ist, verweist insgesamt auf den kultistisch geprägten Kunstcharakter von Calderóns Dichtung, die gerade nicht auf eine ‚Natürlichkeit‘ der Dar‐ stellung im Sinne eines ungezwungenen subjektiven Selbstausdrucks ausge‐ richtet ist. Statt dessen erfordert das typisch kultistische Spiel mit hochge‐ lehrten Anspielungen ein profundes Vorwissen auf Seiten der Leserschaft, etwa in den Versen 51-58: Bei dem schön gefleckten Tier („el bruto“) handelt es sich um den Stier, der zwar an das vom Pinsel des Schöpfers an den Himmel gemalte Sternbild erinnert, durch äußeren Zwang jedoch zum grausamen Minotaurus wird, der als Monster in seinem labyrinthischen Gefängnis lebt - und hierin bildlich übertragen die Grundsituation Segismundos spiegelt. 7.1.3.2 Zwischen Träumen und Wachen (II,19) In der letzten Szene des II. Aktes erwacht Segismundo aus dem ohnmächtigen Schlaf, in den man ihn nach seiner gescheiterten Prüfung versetzt hatte. Er findet sich erneut in seinem Gefängnis wieder, als wäre nichts geschehen. SEGISMUNDO: Es verdad; pues reprimamos esta fiera condición, esta furia 1 , esta ambición, por si alguna vez soñamos. 5 Y sí haremos, pues estamos en mundo tan singular, que el vivir sólo es soñar; y la experiencia me enseña, 7.1 La vida es sueño 145 Text 7.2 La vida es sueño II,19 Aufgabe 7.3 que el hombre que vive, sueña 10 lo que es, hasta despertar. Sueña el rey que es rey, y vive con este engaño 2 mandando, disponiendo y gobernando; y este aplauso, que recibe 15 prestado, en el viento escribe y en cenizas 3 le convierte la muerte (¡desdicha fuerte! ); ¡que hay quien intente reinar viendo que ha de despertar 20 en el sueño de la muerte! Sueña el rico en su riqueza, que más cuidados le ofrece; sueña el pobre que padece su miseria y su pobreza; 25 sueña el que a medrar 4 empieza, sueña el que afana 5 y pretende, sueña el que agravia 6 y ofende, y en el mundo, en conclusión, todos sueñan lo que son, 30 aunque ninguno lo entiende. Yo sueño que estoy aquí destas prisiones cargado, y soñé que en otro estado más lisonjero 7 me vi. 35 ¿Qué es la vida? Un frenesí 8 . ¿Qué es la vida? Una ilusión, una sombra, una ficción, y el mayor bien es pequeño, que toda la vida es sueño, 40 y los sueños sueños son. (Calderón: 2005, 164 f.) - 1 furia Wüten - 2 engaño Täuschung, Trug, Schein - 3 ceniza Asche - 4 medrar Erfolg haben - 5 afanar sich abplagen - 6 agraviar beleidigen - 7 lisonjero schmeichelnd-- 8 frenesí Raserei ? Um was für eine Form der Rede handelt es sich im vorliegenden Auszug? Mit welchen rhetorischen Mitteln ist sie gestaltet? 146 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Aufgabe 7.4  Abb. 7.4 Federico García Lorca (1898 -1936), Statue in Rosario (Argentinien)  Lieder in den Materialien Generación del 27 ? Fassen Sie in eigenen Worten das sich hier ausdrückende Grund‐ anliegen des Dramas zusammen. Welche Formen der Vergänglichkeit (Vanitas-Motiv) werden aufgeführt? Inwiefern wird durch den desengaño die Läuterung des III. Aktes vorbe‐ reitet? Einen weiteren Textauszug aus La vida es sueño mit zugehöriger Aufgaben‐ stellung finden Sie als Zusatzmaterial auf www.bachelor-wissen.de. 7.2 Bodas de sangre 7.2.1 Federico García Lorca Federico Garcia Lorca wurde im Jahre 1898 in Fuente Vaqueros, einem Dorf in der Gegend von Granada (Andalusien) geboren. Lorca wuchs in einer an‐ dalusischen Großfamilie auf, die sich durch ihre Musikalität auszeichnete. Seine Herkunft und Kindheit übten großen Einfluss auf das Werk des Dichters aus. Im Sommer 1909 zog die Familie nach Granada, wo Lorca 1914 sein Uni‐ versitätsstudium der Rechtswissenschaft, der Philosophie und der Literatur‐ wissenschaft aufnahm. 1920 wechselte er nach Madrid und lernte den Schrift‐ steller Juan Ramón Jiménez, den Regisseur Luis Buñuel sowie den Maler Salvador Dalí kennen, mit dem ihn bald eine enge Freundschaft verband. In Madrid entstand auch sein bedeutendes lyrisches Werk, die Zigeunerro‐ manzen (Romancero gitano, 1928), eine Hommage an Granada und zugleich Darstellung des gesellschaftlichen Konfliktes zwischen den gitanos und der Guardia Civil. Nach seiner Zeit in Madrid führte Lorca sein Studium an der Columbia University in New York fort. Es folgten Reisen nach Kuba und Argentinien. In den 1930er Jahren entstand ein Großteil seines dramatischen Werkes, darunter auch der Zyklus der ländlichen Tragödien (tragedias rurales). Die gesellschaftskritische Tendenz seiner Werke ließ ihn bei der politischen Rechten in Ungnade fallen. Diese Tatsache und seine Homosexualität haben vermutlich am 19. August 1936 zu seiner Ermordung durch spanische Nationalisten geführt. Lorcas Dichtkunst ist sehr durch seine Musikalität und seine Freundschaft zum Komponisten Manuel de Falla beeinflusst. Der Dichter improvisierte und schrieb selbst auch Lieder. Literaturhistorisch gehört Lorca zu der Generación del 27, die unter Beru‐ fung auf Góngora (siehe Einheit 5.1) eine hermetische und avantgardistische Lyrik ausprägte. 7.2 Bodas de sangre 147  Zusatzmaterial: Lorca über Góngora Tragödien Ehrenkodex Antike Tragödie und folklo‐ ristische Elemente Lyrische Tragödie Die Generación del 27 ist eine Gruppe herausragender LyrikerInnen (z. B. Rafael Alberti, Pedro Salinas, Jorge Guillén, Vicente Aleixandre), die sich 1927 anlässlich der Feierlichkeiten zum 300. Todestag von Luis de Gón‐ gora zusammengeschlossen hat. Diesem Referenzpunkt gemäß schufen die 27er eine teils schwierige Metaphorik mit scheinbar dissonanten, kaum logisch zu vereinbarenden inhaltlichen Elementen. Lorca führt die Entwicklung von hier aus zum Surrealismus weiter, wie in Text 7.4 zu sehen ist; andere Mitglieder der Gruppe schlugen teils andere Wege ein, so dass nicht oder nicht lange von einer einheitlichen Konzeption, aber durchaus von einer literarhistorisch für das 20. Jh. wirkmächtigen Pro‐ duktion der 27er die Rede sein kann. 7.2.2 García Lorcas ‚tragedias rurales‘ García Lorcas Ruf als bedeutender spanischer Dramenautor des 20. Jh. beruht maßgeblich auf seiner in den 1930er Jahren entstandenen Tragödientrilogie, bestehend aus Bodas de sangre (1933), Yerma (1934) und La casa de Bernarda Alba (1936 entstanden und 1945 in Buenos Aires uraufgeführt). Allen drei Dramen ist gemeinsam, dass sie vor dem Hintergrund der bäuerlichen anda‐ lusischen Lebenswelt spielen, deren gesellschaftliche Rückständigkeit pro‐ blematisiert wird. Dies geschieht insbesondere in Bezug auf die Rolle der Frau in Form einer harschen Kritik am sogenannten machismo, einem überstei‐ gerten Männlichkeitskonzept, das den Frauen jegliches Recht auf Selbstbe‐ stimmung versagt. So geht es in Bodas de sangre um die Unvereinbarkeit von Leidenschaft und Vernunftehe, in Yerma um die Problematik der Unfrucht‐ barkeit und in La casa de Bernarda Alba um die Auseinandersetzung mit dem spanischen Ehrenkodex (honra pública), der auch in den anderen beiden Dra‐ men eine wichtige Rolle spielt. Die Kombination der Form der antiken Tra‐ gödie mit typisch andalusischen folkloristischen Elementen verleihen der Gesellschaftskritik so eine mythisch-zeitlose Dimension. 7.2.3 Zum Inhalt der Bodas de sangre Die lyrische Tragödie Bodas de sangre (Bluthochzeit) in drei Akten und sechs Bildern beruht auf einer Zeitungsnotiz über einen Brautraub, die am 25. Juli 1928 in der Tageszeitung ABC erschien. Während der Feier einer aus Vernunftgründen vollzogenen Heirat flieht die Braut mit ihrem ehemaligen und nun ebenfalls verheirateten Liebhaber Leonardo, dessen Familie mit der des Bräutigams verfeindet ist. Dieser folgt dem fliehenden Liebespaar, und die beiden Männer bringen sich schließlich gegenseitig um. Zurück bleiben nur die trauernden Frauen, die Mutter des Bräutigams, die Braut und die Frau 148 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Aufgabe 7.5 Archetypen Aufgabe 7.6 Inhaltsangabe zu Bodas de sangre Leonardos. In der lyrischen Tragödie wechseln Prosa- und Versform einander ab, wobei die Verspartien die Chorfunktion der antiken Tragödie erfüllen und die Prosapartien für die dramatischen Dialoge zwischen den Hauptpersonen reserviert sind, die bis auf Leonardo keine Namen tragen. ? Begründen Sie auf Grundlage der Ausführungen in Einheit 6, weshalb die Personen keine Eigennamen tragen und stattdessen lediglich durch ihre Funktion bzw. Stellung in der Gesellschaft bzw. der Familie definiert sind („La Madre“, „La Novia“, „La Suegra“, „La Criada“, „La Vecina“, „El Novio“ etc.). Es handelt sich bei den namenlosen Personen letztlich um sogenannte Arche‐ typen. Die Mutter erscheint als eine Art Demeter (dreifache Muttergöttin aus dem griechisch-kleinasiatischen Raum, die für die Fruchtbarkeit steht) mit bäuerlich andalusischen Zügen, der Bräutigam und Leonardo vertreten dagegen das männliche Prinzip der Kraft und der Gewalt. Der erste Akt setzt ein mit einem Dialog zwischen der Mutter und dem Bräutigam, in dem die Mutter am Beispiel des Vaters und des Bruders das männliche Gewaltprinzip beklagt, das zwangsläufig mit dem Tod der Männer ende. Mit dieser Klage wird auf den tragischen Ausgang der Tragödie vorausgedeutet. Das anschließende Gespräch der Mutter mit der Nachbarin stellt die Exposition Person der Braut (novia) und ihre Vorgeschichte vor. Die Exposition wird im 2. Bild fortgeführt, das im Hause Leonardos situiert ist. Die Schwiegermutter singt dem Kind das Schlaflied vom verwundeten Pferd vor, das nicht trinken möchte, während Leonardos Frau - angesichts seines völlig erschöpften Pferdes - mit Misstrauen über Ziel und Grund der offenbar immer extremeren Ausritte ihres Mannes spekuliert. Durch den Dialog zwischen der Mutter des Bräutigams und dem Vater der Braut erfahren wir die Hintergründe der geplanten Vernunftehe, die vor allem auf materiellen Grundlagen beruht. Der zweite Akt schildert in zwei Bildern die Hochzeit und die Entführung der Braut. Der dritte Akt, dessen erstes Bild im Wald spielt, kombiniert den Auftritt allegorischer Figuren, wie der des Mondes in Gestalt eines Holzfällers mit weißem Gesicht und einer Bettlerin, die beide für den Tod stehen, mit dem Dialog des geflüchteten Paares und dem Erscheinen des suchenden Bräutigams. Das tragische Ende wird allein durch die allegorischen Partien angedeutet. Das Schlussbild zeigt die trauernden Frauen, die den Tod der beiden Männer besingen. ? Versuchen Sie anhand der Inhaltsangabe den Zusammenhang von Figurengestaltung, Aufbau des Dramas und Handlungsführung zu be‐ schreiben. 7.2 Bodas de sangre 149 7.2.4 Analyse ausgewählter Passagen Habitación pintada de rosa con cobres 1 y ramos de flores populares. En el centro, una mesa con mantel. Es la mañana. - (Suegra de Leonardo con un niño en brazos. Lo mece 2 . La mujer, en la otra esquina, hace punto de media 3 .) 1 Suegra: Nana, niño, nana del caballo grande que no quiso el agua. El agua era negra 5 dentro de las ramas. Cuando llega el puente se detiene y canta. ¿Quién dirá, mi niño, lo que tiene el agua 10 con su larga cola 4 por su verde sala 5 ? Mujer (bajo): Duérmete, clavel 6 , que el caballo no quiere beber. 15 Suegra: Duérmete, rosal 7 , que el caballo se pone a llorar. Las patas heridas, las crines 8 heladas, dentro de los ojos 20 un puñal 9 de plata. Bajaban al río. ¡Ay, cómo bajaban! La sangre corría más fuerte que el agua. 25 Mujer: Duérmete, clavel, que el caballo no quiere beber. Suegra: Duérmete, rosal, que el caballo se pone a llorar. Mujer: No quiso tocar 30 la orilla mojada su belfo 10 caliente con moscas de plata. A los montes duros solo relinchaba 11 35 con el río muerto sobre la garganta 12 . 150 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Text 7.3 Bodas de sangre, I,2 ¡Ay caballo grande que no quiso el agua! ¡Ay dolor de nieve, 40 caballo del alba! Suegra: ¡No vengas! Detente, cierra la ventana con rama de sueños y sueño de ramas. 45 Mujer: Mi niño se duerme. Suegra: Mi niño se calla. Mujer: Caballo, mi niño tiene una almohada 13 . Suegra: Su cuna 14 de acero. 50 Mujer: Su colcha de holanda 15 . Suegra: Nana, niño, nana. Mujer: ¡Ay caballo grande que no quiso el agua! Suegra: ¡No vengas, no entres! 55 Vete a la montaña. Por los valles grises donde está la jaca 16 . Mujer (mirando): Mi niño se duerme. 60 Suegra: Mi niño descansa. Mujer (bajito): Duérmete, clavel, que el caballo no quiere beber. Mujer (levantándose y muy bajito): 65 Duérmete, rosal, que el caballo se pone a llorar. (Entran al niño. Entra Leonardo) Leonardo: ¿Y el niño? Mujer: Se durmió. 70 Leonardo: Ayer no estuvo bien. Lloró por la noche. Mujer (alegre): Hoy está como una dalia. ¿Y tú? ¿Fuiste a casa del herrador 17 ? Leonardo: De allí vengo. ¿Querrás creer? Llevo más de dos meses poniendo herraduras 18 nuevas al caballo y siempre se le caen. Por lo visto se las arranca 19 con las piedras. 75 Mujer: ¿Y no será que lo usas mucho? Leonardo: No. Casi no lo utilizo. Mujer: Ayer me dijeron las vecinas que te habían visto al límite de los llanos. Leonardo: ¿Quién lo dijo? 7.2 Bodas de sangre 151 Aufgabe 7.7 Aufgabe 7.8 Aufgabe 7.9 Vers- und Prosapartien Chorfunktion Balladenartiges Wiegenlied Leitmotiv des Pferdes Mujer: Las mujeres que cogen las alcaparras 20 . Por cierto que me sorprendió. 80 ¿Eras tú? Leonardo: No. ¿Qué iba a hacer yo allí en aquel secano 21 ? Mujer: Eso dije. Pero el caballo estaba reventando de sudor. Leonardo: ¿Lo viste tú? Mujer: No. Mi madre. 85 Leonardo: ¿Está con el niño? […] (García Lorca: 2005, 100-103) - 1 cobres (m. pl.) Kupfertöpfe - 2 mecer wiegen - 3 hacer punto de media stricken - 4 cola Schwanz-- 5 sala Saal-- 6 clavel Nelke-- 7 rosal Rosenstock / Rosenstrauch-- 8 crines (f. pl.) Mähne - 9 puñal Dolch - 10 belfo Pferdelippe - 11 relinchar wiehern - 12 garganta Kehle, Hals - 13 almohoda Kopfkissen - 14 cuna Wiege-- 15 holanda feiner Leinenstoff - 16 jaca Stute - 17 herrador Hufschmied - 18 herradura Hufeisen - 19 arrancar (her)ausreißen, (her)ausziehen - 20 alcaparras (f. pl.) Kapern-- 21 secano Trockenland ? Beschreiben Sie das Verhältnis von Vers- und Prosapartien in diesem Textausschnitt. ? Suchen Sie nach Leitmotiven in dem Wiegenlied und beziehen Sie diese auf das Ende des Dramas. ? Interpretieren Sie die Bedeutung des verwundeten Pferdes in dieser Textpassage. Wie bereits erwähnt, alternieren in einigen Bildern in diesem Drama gebun‐ dene (Vers) und ungebundene Rede (Prosa). Die Verspartien beinhalten die lyrischen und die allegorischen Szenen und nehmen die Chorfunktion der antiken Tragödie ein, während die Prosapartien für die dramatischen Dialoge zwischen den Hauptpersonen bestimmt sind. In diesem Textausschnitt weist das von der Schwiegermutter und der Frau Leonardos gesungene balladen‐ artige Wiegenlied vom Todeslauf des verwundeten Pferdes auf das tragische Ende des Dramas voraus. Das Leitmotiv des Pferdes findet sich auch in dem Dialog in Prosaform von Leonardo und seiner Frau wieder. Letztere wundert sich darüber, dass das Pferd schweißgebadet zurückkommt und erneut nach kurzer Zeit die Hufeisen verloren hat. Bezüglich der Aktivitäten Leonardos kommen ihr deshalb Zweifel. Das Sinnbild des Pferdes, das hier die männliche 152 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Kraft repräsentiert und gleichzeitig auf die Verwundbarkeit Leonardos hin‐ deutet, stellt eine inhaltliche Verbindung zwischen den Prosa- und den Verspartien her. Neben dem Pferd erscheint auch der Dolch (puñal) als leitmotivische Vorausdeutung auf das Ende der Tragödie, genauso wie er das männliche Prinzip der Gewalt versinnbildlicht. Im Gegensatz dazu steht die Natur, die hier in Analogie zur Wiege des Kindes als sala verde, als ‚grünes Zimmer‘ des Pferdes, d. h. als Mutter Natur und das weibliche Prinzip dargestellt wird. Weitere Motive, wie der Fluss und das Blut als Titelsymbol des Werkes, verweisen auf die Gegenüberstellung von Leben und Tod. Das Wasser wird dabei grundsätzlich mit Leben assoziiert, insbesondere im andalusischen Kontext, in dem der Ackerbau häufig durch die extreme Trockenheit (secano) erschwert wird. Wir wollen nun einen zweiten Ausschnitt aus dem dritten Akt näher betrachten. 1 Luna: Ya se acercan. Unos por la cañada 1 y otros por el río. Voy a alumbrar 2 las piedras. ¿Qué necesitas? Mendiga: Nada. 5 Luna: El aire va llegando duro, con doble filo. Mendiga: Ilumina el chaleco 3 y aparta los botones, que después las navajas 4 ya saben el camino. Luna: Pero que tarden mucho en morir. Que la sangre me ponga entre los dedos su delicado silbo 5 . 10 ¡Mira que ya mis valles de ceniza despiertan en ansia de esta fuente de chorro 6 estremecido 7 ! Mendiga: No dejemos que pasen el arroyo 8 . ¡Silencio! Luna: ¡Allí vienen! (Se va. Queda la escena oscura.) 15 Mendiga: De prisa. Mucha luz. ¿Me has oído? ¡No pueden escaparse! (Entran el Novio y Mozo 1.° La Mendiga se sienta y se tapa con el manto.) Novio: Por aquí. Mozo 1.°: No los encontrarás. 20 Novio (enérgico): ¡Sí los encontraré! Mozo 1.°: Creo que se han ido por otra vereda 9 . Novio: No. Yo sentí hace un momento el galope. Mozo 1.°: Sería otro caballo. Novio (dramático): Oye. No hay más que un caballo en el mundo, y es éste. ¿Te 25 has enterado? Si me sigues, sígueme sin hablar. Mozo 1.°: Es que yo quisiera… 7.2 Bodas de sangre 153 Text 7.4 Bodas de sangre, III,1 Novio: Calla. Estoy seguro de encontrármelos aquí. ¿Ves este brazo? Pues no es mi brazo. Es el brazo de mi hermano y el de mi padre y el de toda mi familia que está muerta. Y tiene tanto poderío, que puede arrancar este árbol de raíz si 30 quiere. Y vamos pronto, que siento los dientes de todos los míos clavados 10 aquí de una manera que se me hace imposible respirar tranquilo. Mendiga (quejándose): ¡Ay! Mozo 1.°: ¿Has oído? Novio: Vete por ahí y da la vuelta. 35 Mozo 1.°: Esto es una caza 11 . Novio: Una caza. La más grande que se puede hacer. (Se va el Mozo. El Novio se dirige rápidamente hacia la izquierda y tropieza 12 con la Mendiga, la muerte.) Mendiga: ¡Ay! 40 Novio: ¿Qué quieres? Mendiga: Tengo frío. Novio: ¿Adónde te diriges? Mendiga (siempre quejándose como una mendiga): Allá lejos… Novio: ¿De dónde vienes? 45 Mendiga: De allí… de muy lejos. Novio: ¿Viste un hombre y una mujer que corrían montados en un caballo? Mendiga (despertándose): Espera… (Lo mira.) Hermoso galán. (Se levanta.) Pero mucho más hermoso si estuviera dormido. Novio: Dime, contesta, ¿los viste? 50 Mendiga: Espera… ¡Qué espaldas más anchas! ¿Cómo no te gusta estar tendido sobre ellas y no andar sobre las plantas de los pies, que son tan chicas? Novio (zamarreándola 13 ): ¡Te digo si los viste! ¿Han pasado por aquí? Mendiga (enérgica): No han pasado; pero están saliendo de la colina. ¿No los oyes? 55 Novio: No. Mendiga: ¿Tú no conoces el camino? Novio: ¡Iré[, sea] como sea! Mendiga: Te acompañaré. Conozco esta tierra. Novio (impaciente): ¡Pues vamos! ¿Por dónde? 60 Mendiga (dramática): ¡Por allí! (Salen rápidos. Se oyen lejanos dos violines que expresan el bosque. Vuelven los Leñadores. Llevan las hachas 14 al hombro. Pasan lentos entre los troncos.) Leñador 1.°: ¡Ay muerte que sales! Muerte de las hojas grandes. 65 Leñador 2.°: ¡No abras el chorro 15 de la sangre! Leñador 1.°: ¡Ay muerte sola! Muerte de las secas hojas. Leñador 3.°: ¡No cubras de flores la boda! 154 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Aufgabe 7.10 Aufgabe 7.11 Aufgabe 7.12 Zusammenfassung Leñador 2.°: ¡Ay triste muerte! 70 Deja para el amor la rama verde. Leñador 1.°: ¡Ay muerte mala! ¡Deja para el amor la verde rama! (Van saliendo mientras hablan. Aparecen Leonardo y la Novia.) Leonardo: ¡Calla! 75 Novia: Desde aquí yo me iré sola. ¡Vete! Quiero que te vuelvas. Leonardo: ¡Calla, digo! (García Lorca: 2005, 146-150) - 1 cañada Hohlweg - 2 alumbrar leuchten, beleuchten - 3 chaleco Weste - 4 navaja Taschenmesser - 5 silbo Pfiff, Zischen - 6 chorro Strahl - 7 estremecer erschaudern lassen - 8 arroyo Bach - 9 vereda Pfad, Weg - 10 clavar (fest)nageln - 11 caza Jagd - 12 tropezar con treffen, stoßen auf - 13 zamarrear schubsen, schütteln - 14 hacha (f.) Axt ? Analysieren Sie die Personen dieses Textausschnittes in Bezug auf ihre Gestaltung und ihre Funktion. ? Vergleichen Sie Textausschnitt 7.3 und 7.4 hinsichtlich der formalen Gestaltung, der Motivik und der Handlung. ? Erstellen Sie nun in Kenntnis der Zusammenfassung und ausgewählter Passagen abschließend eine schematische Darstellung der Figurenkonstellation und formulieren Sie vor diesem Hintergrund den dramatischen Konflikt (vgl. Einheit 6.6). Die beiden Dramen, die literaturgeschichtlich gänzlich unterschiedlichen Epochen angehören, wurden in Form von exemplarischen Textausschnit‐ ten untersucht. Dabei konnten in beiden Fällen typische Grundelemente der Dramenanalyse berücksichtigt werden, so die Entwicklung des dra‐ matischen Konflikts, die sprachliche Gestaltung, die Figurenkonstellation wie auch zentrale Motive und Symbole. Eine gründliche Analyse muss sich darüber hinaus auf den Zusammenhang des Textganzen stützen und kann in einem weiteren Schritt zu einer methodengeleiteten Interpreta‐ tion übergehen (vgl. Einheiten 10-12). 7.2 Bodas de sangre 155  Literatur Pedro Calderón de la Barca: La vida es sueño. Madrid: Cátedra 2005. Federico García Lorca: Bodas de sangre. Madrid: Cátedra 2005. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 156 7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse Überblick 8 Epik und Erzähltextanalyse Inhalt 8.1 Gattung Epik 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs 8.2.1 Stimme 8.2.2 Zeit 8.2.3 Distanz 8.2.4 Fokalisierung 8.3 Struktur des Erzählten oder Geschichte 8.3.1 Figuren 8.3.2 Handlung, Geschehen und ‚Plot‘ Diese Einheit befasst sich neben einem Überblick über die epischen Textformen mit den spezifischen Merkmalen, die diese gegenüber den bereits behandelten Gattungen Lyrik und Dramatik auszeichnen. Davon ausgehend wird das terminologische und sachliche Instrumentarium für die Analyse von Erzähltexten erarbeitet und eingeübt, wie es sowohl hinsichtlich der Darstellung durch die Erzählerinstanz als auch der dargestellten Welt, des Inhalts von Erzählungen, Verwendung findet. ‚Epik‘ vom Wort her Definition: Epos Cantar de mio Cid Neuere epische Formen Summarischer Überblick Roman Novela sentimental Ritterroman 8.1 Gattung Epik Nähern wir uns der Epik (épica) vom Begriffsursprung her, so finden wir das Epos (span. epopeya, cantar de gesta) als Grundform der Epik. In der Tat ist das Epos nicht nur die älteste, sondern auch lange Zeit die prestigeträchtigste Form der europäischen Literatur. Es handelt sich hierbei um eine für den mündli‐ chen Vortrag bestimmte Verserzählung von beträchtlicher Länge, die Helden‐ taten von nationalhistorischer und -mythischer Bedeutung schildert. Das erste und zugleich berühmteste antike Beispiel ist die Odyssee Homers. Das wich‐ tigste altspanische Epos ist der Cantar de mio Cid (auch Poema de mio Cid ). Die Begriffe ‚poema‘ und ‚cantar‘ lassen bereits erkennen, dass noch im Mit‐ telalter die Gattungsgrenzen zwischen Epik und Lyrik nicht scharf gezogen wurden. Das Werk entstand in der zweiten Hälfte des 12. Jh. und steht im historischen Kontext der maurischen Herrschaft auf der iberischen Halbinsel und der christlichen Rückeroberung (Reconquista). Es schildert den siegrei‐ chen Kampf des christlichen Heerführers Rodrigo Díaz de Vivar, einer histo‐ risch eindeutig belegten Figur (1043-1099), die allerdings ohne die literarische Stilisierung wohl nicht zum Nationalhelden Spaniens schlechthin hätte wer‐ den können, dem zahlreiche weitere - auch außerspanische - Dichtungen (wie die berühmte Tragikomödie Le Cid von Pierre Corneille) gewidmet sind. Die besondere Rolle des Poema de mio Cid liegt auch in seiner konkurrenzlo‐ sen Stellung innerhalb der Gattung-- lediglich zwei weitere kastilische Epen sind bruchstückhaft überliefert. Gehen wir zur Literaturgeschichte nachmittelalterlicher Zeit über, stellen wir fest, dass das ‚älteste‘ Verständnis eines Begriffs wie ‚Epik‘ doch nicht im allgemeinen Sinne das sachdienlichste ist, denn die späteren epischen Formen gehen auf vielfältige Weise über die Charakteristika des Epos hinaus: ▶ Der Roman (novela) ist die wichtigste neuzeitliche epische Form. Er ent‐ wickelt sich in Spanien im ausgehenden Mittelalter als meist allegorische (sinnbildhafte) Prosadichtung über Liebe und das von ihr verursachte Un‐ heil, für die sich der Begriff novela sentimental eingebürgert hat (Diego de San Pedro: Cárcel de amor, 1492). Weitere Kreise gezogen hat die vermut‐ lich bereits im 13. Jh. entstandene Untergattung Ritterroman (libro de ca‐ ballerías), die die Abenteuer und den Minnedienst eines tapferen Ritters in einer märchenhaften Welt zum Gegenstand hat. Der früheste erhaltene Text sind die Quatro libros de Amadís de Gaula, die Garci Rodríguez de Montalvo auf der Grundlage einer verlorenen Fassung zwischen 1482 und 1492 verfasste. Das von vielen zeitgenössischen Autoren als unglaubwür‐ dig und von zweifelhaftem moralischem Wert kritisierte Genre feierte mit dem Amadís einen breiten Publikumserfolg zu einem Zeitpunkt, an dem das Rittertum militärisch und sozial bereits stark an Bedeutung verloren 158 8 Epik und Erzähltextanalyse Abb. 8.1 Frontispiz der ersten Quijote-Ausgabe von 1605 Don Quijote: Ursprünglich parodistischer Roman mit großer Anschlussfähigkeit  hatte. Umso mehr gilt das für den berühmtesten Text der Gattung und der spanischen Literatur überhaupt, den zweiteiligen Roman El ingenioso hi‐ dalgo Don Quijote de la Mancha (1605 / 1615) von Miguel de Cervantes. Der erklärten Absicht seines Autors gemäß lässt sich das Werk als Parodie auf die Ritterromane und allen voran den Amadís lesen: Es greift das Figuren‐ inventar (Ritter und Knappe), die Handlungselemente (Ritterschlag, Aus‐ zug zu Abenteuern, Verteidigung der Armen und Schwachen, Verehrung der Dame) und die archaisierende Sprache auf, erzeugt aber nicht die phantastische Welt der Ritterromane, sondern versetzt die Handlung in die zeitgenössische Wirklichkeit Spaniens, an der der durch die Lektüre von Ritterromanen verrückt gewordene Protagonist immer wieder schei‐ tert. Der Text wäre nicht so berühmt, läge sein Anschluss- und Deutungs‐ potenzial nicht weit jenseits der bloßen Parodie. Er berührt so überzeitli‐ che Fragen wie die nach Idealismus und menschlicher Moral angesichts einer widerstrebenden Wirklichkeit, aber auch sehr moderne Problemati‐ ken wie den Ausschluss des Wahnhaften im Zeitalter der Vernunft (Fou‐ cault). Der Protagonist ist so über den Text hinaus zu einer archetypi‐ schen Figur geworden, die bis heute in Kunst und Literatur immer wieder aktualisiert wird. Den Beginn des Romans kennen Sie aus Text 1.1; eine Inhaltsangabe des Gesamtwerks finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Abb. 8.2: Gustave Doré (1832 - 1883): Illustration zur Don-Quijote-Ausgabe von 1863 (Detail) 8.1 Gattung Epik 159 Schelmenroman Allegorisch-moralistischer Roman Briefroman Historischer Roman Kostumbrismus Realistischer und naturalis‐ tischer Roman Feuilletonroman Modernistischer Roman Ästhetizismus vs. Sorge um gesellschaftlich-politi‐ sche Wirklichkeit Ebenfalls in der frühen Neuzeit entsteht der Schelmenroman (novela pi‐ caresca), der meist in der Form eines fiktiven Lebensberichts die Ge‐ schichte eines Schelms (pícaro) erzählt, d. h. eines durch Unglücke, meist aber gesellschaftliche Bedingungen benachteiligten Hungerleiders und Vagabunden, der sich mit niederen Arbeiten für häufig wechselnde Her‐ ren durchschlägt und so die Welt ‚von unten‘ sieht - und mit ihm in einer frühen Form von Realismus auch die Leserschaft (z. B. im gattungsbe‐ gründenden anonymen Text Vida de Lazarillo de Tormes, 1554). Gesell‐ schaftskritik auf weniger burlesk-volkstümliche als elitär-philosophische Weise bietet der allegorisch-moralistische Roman, der philosophische Einsichten und Anleitungen zur Lebensführung in symbolhafte Bilder übersetzt (Baltasar Gracián: El Criticón, 3 Teile, 1651-57). Er belegt die Aufwertung der bis dahin populären, aber innerhalb des offiziellen Ka‐ nons als minderwertig geltenden Gattung Roman. Im 18. Jh. bereichert der Briefroman (novela epistolar), in dem Briefe fiktiver Figuren und ihr Austausch als Erzählmittel benutzt und damit verschiedene Stile, Per‐ spektiven und Meinungen kontrastiert werden, das Formenspektrum der Gattung ( José Cadalso: Cartas marruecas, 1793). Der Roman des 19. Jh. etabliert sich hinsichtlich des Produktionsaufkommens und der Rezep‐ tion definitiv an der Spitze der Gattungen. Dies geschieht zunächst mit dem historischen Roman (z. B. Enrique Gil y Carrasco: El señor de Bem‐ bibre, 1844), dann mit dem auf Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeit mit Landeskolorit zielenden Kostumbrismus (costumbrismo) (Fernán Ca‐ ballero: La Gaviota, 1849). Dieser kann seinerseits als Vorläufer und mit‐ unter Bestandteil des realistischen (z. B. Juan Valera: Pepita Jiménez, 1874, Benito Pérez Galdós: La familia de León Roch, 1878, siehe auch Ein‐ heit 9) sowie des naturalistischen Romans (z. B. Clarín: La Regenta, 1884 / 85, Emilia Pardo Bazán: Los pazos de Ulloa, 1886 / 87) gelten - beide Strömungen sind in Spanien nicht klar voneinander abzugrenzen, im Ge‐ gensatz zu Frankreich, wo mit Émile Zola der literarische Naturalismus seinen Ausgang nimmt. Verbreitet werden manche dieser Texte nunmehr in Form von Fortsetzungsepisoden in Zeitungen, eine Publikationsweise, die den sog. Feuilletonroman (novela por entregas) als populärliterarisches Genre begründet. Poetologische Zwänge schwinden bis zum Ende des 19. Jh. endgültig und der Roman wird vielgestaltiger. Er thematisiert sich - ebenso wie die Lyrik - zunehmend selbst und löst sich mitunter von Handlungsorientierung zugunsten des kunstvollen sprachlichen Aus‐ drucks (Ramón del Valle-Inclán: Sonatas, 1902-1905). Aber ein konkreter Wirklichkeitsbezug bleibt im Fokus der Romanproduktion, besonders in Form der Auseinandersetzung mit dem in der politischen und kulturellen Krise befindlichen Spanien und seinem vermeintlichen Wesen (so bei der ‚Generation von 98‘, Miguel de Unamuno, Pío Baroja, Ramón Pérez de 160 8 Epik und Erzähltextanalyse Bürgerkriegsroman Indigenistischer Roman ‚Magischer Realismus‘ Autobiographie Novelle cuento Leyenda Microrrelato Ayala u. a.) sowie später in einer teils politisch engagierten Thematisie‐ rung des spanischen Bürgerkriegs (1936-39). In der lateinamerikanischen Literatur zeigt sich eine ähnliche Auseinandersetzung, nicht zuletzt im Bemühen um einen Einbezug der kulturellen Perspektive amerikanischer Ureinwohner im indigenistischen Roman (z. B. José María Arguedas: Los ríos profundos, 1958). Die Einbettung lebendiger indigener Mythen in die Darstellung alltäglicher Wirklichkeit hat in Lateinamerika als ‚magischer Realismus‘ (realismo mágico) in der zweiten Hälfte des 20. Jh. große Be‐ deutung erlangt (Alejo Carpentier: El reino de este mundo, 1949). Litera‐ rische Welterfolge feierten in der jüngeren Vergangenheit sowohl der la‐ teinamerikanische (z. B. Gabriel García Márquez, Roberto Bolaño) als auch der spanische Roman ( Javier Marías, Rosa Montero, Carlos Ruiz Za‐ fón). Abgesehen von zahlreichen weiteren Untergattungen (Kriminalroman, Schauerroman usw.) bestanden und bestehen viele der genannten Ro‐ mantypen mit ihren Formen und Themen bis heute weiter - ob Utopie, Fantastik, Realismus oder historischer Roman - und tragen dazu bei, den Roman zur reichsten epischen Form zu machen. ▶ Eine seit dem 18. Jh. produktive Gattung ist die Autobiographie (autobio‐ grafía), also der Bericht eines Autors/ einer Autorin über sein bzw. ihr Leben und die Herausbildung der eigenen Persönlichkeit, die normaler‐ weise referenziellen Anspruch erhebt und daher, wenngleich in der Ge‐ staltung dem Roman durchaus ähnlich, nicht-fiktional ist (z. B. Diego de Torres Villarroel: Vida, ascendencia, nacimiento, crianza y aventuras del Doctor don Diego de Torres Villarroel, escrita por él mismo, 1743-58, Azorín: Las confesiones de un pequeño filósofo, 1904). ▶ Die Novelle (novela corta) ist eine fiktionale Kurzform, die sich meist auf einen thematischen Kern (dem Namen nach eine ‚neue‘ Begebenheit) und wenige Figuren beschränkt (z. B. Pedro Antonio de Alarcón: El sombrero de tres picos, 1874), jedoch häufig Teil eines Novellenzyklus oder einer Sammlung ist (z. B. Miguel de Cervantes: Novelas ejemplares, 1613 oder die Novelas amorosas y ejemplares von María de Zayas y Sotomayor, über die noch in Einheit 12.2 zu sprechen sein wird). Etwas pointierter, aber nicht stringent von der Novelle abgrenzbar ist der cuento, die Kurzge‐ schichte, eine bis in die Gegenwart und besonders in Lateinamerika po‐ puläre Gattung. Er kann auch fantastische oder märchenhafte Elemente umfassen ( Jorge Luis Borges, Mario Benedetti, Horacio Quiroga u. v. a.). Stärker noch ist letzteres bei der leyenda der Fall, die sich aus mündlicher Tradition speist und in der Romantik eine Hochphase hat ( José Zorrilla, Gustavo Adolfo Bécquer). Eine in der Verkürzung extreme Spielart des cuento ist der besonders in Lateinamerika populäre microrrelato oder mi‐ 8.1 Gattung Epik 161 Essay (Feuilleton-)Artikel Prosa als Kennzeichen von Epik? Abgrenzung zum Drama nicuento (z. B. der nur aus einem Satz bestehende Text El dinosaurio von Augusto Monterroso, 1959). ▶ Der Essay (ensayo) ist eine Art kurzer Prosa-Abhandlung zu einem mo‐ ralischen, philosophischen, politischen o. ä. Problem, ohne die Methodik und terminologische Strenge einer wissenschaftlichen Arbeit, stattdessen mit dem Ziel, Reflexion in ihrem Gang nachvollziehbar zu machen. Der Essay hat naturgemäß zentrale Funktion im Zeitalter der Aufklärung, wo überkommene Ansichten aus den verschiedensten Wissensbereichen auf den Prüfstand gestellt werden (z. B. Benito Jerónimo Feijóo, neunbändige Essaysammlung Teatro crítico universal, 1726-40), er wird aber auch im 19. und 20. Jh. sehr gepflegt, in Spanien (Mariano José de Larra, Ángel Ganivet, José Ortega y Gasset), aber mehr noch in Lateinamerika (Do‐ mingo Faustino Sarmiento, José Martí, Octavio Paz, José Lezama Lima u.a.); ein gemeinsamer Nenner ist hier die Reflexion über nationale Iden‐ tität (in Lateinamerika typischerweise in Abgrenzung zu Europa einer- und den USA andererseits) und gesellschaftlichen Fortschritt. Bis heute ist der Essay ein typisches Feuilleton- und damit journalistisches Genre. Worin besteht angesicht einer solchen (keineswegs erschöpfenden) Aufzäh‐ lung epischer Formen das Merkmal, das sie von anderen Gattungen unter‐ scheidet? Die besondere Länge des Textes, die sich angesichts des Epos sowie der sprichwörtlich gewordenen ‚epischen Breite‘ als Kriterium aufdrängt, ist kein Kennzeichen der Novelle und anderer ‚kleiner Formen‘. Da wir in Einheit 4 die Lyrik in Ermangelung eines besseren Kriteriums über Vers und Strophe identifiziert haben, kommt für die Epik Prosa in Betracht. Tatsächlich wird ‚Prosa‘ nicht selten als Gattungsbegriff gebraucht, obwohl es lediglich nicht-gebundene Sprache bezeichnet. Selbst wenn wir ignorieren, dass eben noch mit dem Epos eine Verstextsorte als Urform der Epik vorgestellt wurde, bleibt das Problem, dass die Mehrheit der Dramen seit dem 18. Jh. auch in Prosa verfasst sind. Tatsächlich bietet - unabhängig von der Unterscheidung Vers-Prosa - ein Vergleich mit dem Drama einen Einblick in die grundsätzli‐ che strukturelle Eigenheit epischer Texte. Sehen wir uns also einen Auszug aus dem berühmtesten epischen Text der spanischen Literatur und die ent‐ sprechende Stelle aus einer der vielen dramatischen Adaptionen genauer an: Miguel de Cervantes’ Quijote im Vergleich zu einem Drama des Romantikers Gustavo Adolfo Bécquer, der weniger seiner Dramen als seiner Gedichte we‐ gen heute einen festen Platz in der spanischen Literaturgeschichte einnimmt. Es handelt sich um das 32. Kapitel des ersten Teils, in dem Quijote und sein Knappe Sancho Panza an einem Wirtshaus ankommen, das Quijote für ein Schloss hält und in dem Sancho bei einem früheren Aufenthalt (Kap. 16 / 17) übel mitgespielt wurde - er hatte sich, ganz gemäß den von seinem Herrn vertretenen Normen, geweigert, die Zeche für die (äußerst schäbige) Unter‐ kunft und die Verpflegung zu zahlen, da diese fahrenden Rittern und ihren 162 8 Epik und Erzähltextanalyse Text 8.1 Miguel de Cervantes: Don Quijote (1605), Kap. 32 (Auszug) Schildknappen kostenlos gewährt werden müsse, woraufhin einige der Gäste ihn in der berühmten manteamiento-Szene mit einer Decke bis zu seiner völ‐ ligen Erschöpfung durch die Luft warfen. 1 Acabóse la buena comida, ensillaron 1 luego y, sin que les sucediese cosa digna de contar, llegaron otro día a la venta 2 , espanto y asombro de Sancho Panza; y aunque él quisiera no entrar en ella, no lo pudo huir. La ventera, ventero, su hija y Mari‐ tornes 3 , que vieron venir a don Quijote y a Sancho, les salieron a recibir con 5 muestras de mucha alegría, y él las recibió con grave continente y aplauso 4 , y díjoles que le aderezasen 5 otro mejor lecho 6 que la vez pasada; a lo cual le respondió la huéspeda que como 7 la pagase mejor que la otra vez, que ella se la 8 daría de príncipes 9 . (Cervantes: 2008, 440) - 1 ensillar aufsatteln - 2 venta Wirtshaus, Schänke - 3 Maritornes Name der Magd - 4 grave continente y aplauso würdevolle Haltung und feierlicher Ton - 5 aderezar herrichten - 6 lecho Bett - 7 como hier: wenn - 8 la = la cama (statt eigentlich lecho) - 9 de príncipes hier: ein fürstliches (Bett) - SANCHO. Yo no entro … - QUIJOTE. Vamos, Sancho, - - ven a mi lado y no temas. - SANCHO. Señor, el gato escaldado 1 … 5 - como el refrán nos lo enseña … - QUIJOTE. ¡Maldito tú y tus refranes! - SANCHO. Mas, señor, si aun se me acuerda - - la aventura de la manta. - - ¿Quiere vuesarced 2 que vuelvan 10 - a echarme por esos aires? - - No … por vida de mi abuela. - - Yo me quedo a campo raso 3 . - QUIJOTE. Menguada la hora aquella - - en que te elegí escudero 15 - y te saqué de la aldea, - - ¡cobarde! - SANCHO. Yo por mi gusto - - un Roldan 4 en valor fuera; - - mas quien nació para ochavo, 20 - en la vida a cuarto 5 llega, - - y … - QUIJOTE. ¡Acabarás! (Colérico.) - SANCHO. Acabé, 25 - entremos, pues, en la venta. - QUIJOTE. Castillo dirás. 8.1 Gattung Epik 163 Text 8.2 Gustavo Adolfo Bécquer: La venta encantada (1859), 2. Akt, 4. Szene (Auszug) Kommunikationstheoreti‐ sche Unterschiede SANCHO. Castillo, - - si así su merced lo sueña. - QUIJOTE. ¿Qué murmuras? 30 SANCHO. Nada, rezo: - - ¿acaso en rezar se peca? - - pero … otro temor me asalta … - - ¿habrá aquí alguna hechicera - - que maleficie a mi rucio 6 ? 35 - No, es que sería muy necia - - la broma, si el mismo día - - en que lo hallé lo perdiera. - QUIJOTE. Nada dicen las historias - - que tus dudas borrar puedan; 40 - pero me inclino a creer, - - que los magos su destreza - - no emplean sino en corceles 7 ; - - el jumento es vil 8 . - SANCHO. ¡De veras! 45 - (Trae al rucio hacia el proscenio.) - - Hijo de mi corazón, - - salvaguardia es tu vileza, - - ojalá que el ser villano - - también para mí lo fuera. 50 QUIJOTE. (Dirigiéndose a los grupos, que han suspendido su fiesta para contemplar tan extrañas figuras.) - - Escuderos, maestresalas, - - heraldos, pajes, doncellas, - - a juzgar por lo que veo, 55 - mi llegada se celebra: - - decid a la castellana - - que tal regocijo ordena - - que el valiente don Quijote - - humilde los pies le besa. (Bécquer: 1949, 83 f.) - - 1 gato escaldado (del agua fría huye) entspricht: Ein gebranntes Kind scheut das Feuer - 2 vuesarced = vuestra merced - 3 a campo raso auf offenem Feld - 4 Roldan Roland, Titelfigur des Rolandslieds, Neffe Karls des Großen, Held des Frankenheeres - 5 ochavo, cuarto alte Münzen - 6 maleficiar al rucio den Esel verzaubern - 7 corcel Streitross - 8 el jumento es vil der Esel ist schäbig Sehen wir von der Versifikation und den divergierenden inhaltlichen Details ab und konzentrieren wir uns auf den kommunikationstheoretischen Unter‐ 164 8 Epik und Erzähltextanalyse Text 8.2: Präsenz von Akteuren, direkte Rede, Ablauf Text 8.1: Gesteuerte, geordnete, resümierte Erzählung Zeigen vs. Erzählen Text 8.3 Aristoteles: Poetik Erzählinstanz Definition schied zwischen diesen beiden Fassungen. Text 8.2 lässt verschiedene Figuren auftreten und agieren: Wie beim Drama üblich, ist eine körperliche Präsenz von Akteuren in einer Aufführung intendiert, in der sich der Text auf die direkte Rede der Figuren beschränkt. Dementsprechend spielen die Eigen‐ heiten der Figuren eine Rolle für die sprachliche Gestaltung, hier etwa der-- im spanischen Drama für die Figur des gracioso, des Spaßmachers, typische - häufige und mitunter kreative Rückgriff auf Sprichwörter („el gato escal‐ dado …“). Die Figuren interagieren als sie selbst, die Szene läuft gleichsam ab. In Text 8.1 seinerseits ‚spricht‘ auch jemand, aber nur eine einzige, allein aus dem vorliegenden Auszug nicht näher bestimmbare Person oder Instanz, die uns das Geschehen rückblickend erzählt und dabei - das ist ein wesent‐ licher Unterschied - steuert, ordnet und bisweilen resümiert. Dies zeigt sich gleich im ersten Satz, wo das für unwichtig Gehaltene ausdrücklich wegge‐ lassen wird („sin que les sucediese cosa digna de contar“) und selbst wichtigere Handlungselemente wie die Angst Sanchos in knappe Worte gefasst werden, ohne dass wir - im Gegensatz zu Text 8.2-- sie ‚miterleben‘ könnten. Diesen ersten wichtigen Unterschied hat die Erzählforschung in verschiedenen gleichbedeutenden Begriffsoppositionen terminologisch erfasst: „Zeigen“ vs. „Erzählen“ bzw. „Showing“ vs. „Telling“, „contar“ vs. „mostrar“, „Mimesis“ (im Sinne von Abbildung, Adj. mimetisch) vs. „Diegese“ (Bericht, Adj. diege‐ tisch) - oder gemäß der in Einheit 4.4 wiedergegebenen Formulierung Goethes „persönlich handelnde“ vs. „klar erzählende“ Form. Den gattungs‐ konstitutiven Unterschied in der Vermittlung von Handlung hat bereits Aristoteles in seiner Poetik erkannt: Nun zum dritten Unterscheidungsmerkmal dieser Künste: zur Art und Weise, in der man alle Gegenstände nachahmen kann. Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten - in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht - oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen. (Aristoteles: 1994, 9) Der letztgenannte Fall ist freilich das Drama, der erste die Epik, wobei Aristoteles zwischen den Möglichkeiten unterscheidet, entweder als Dichter direkt oder „in der Rolle eines anderen“ zu sprechen. Man erkennt bereits an der etwas unbeholfenen Formulierung, dass dem antiken Theoretiker hier eine wichtige, heute geläufige Kategorie fehlt: der Erzähler. Der Erzähler (narrador) ist die innerfiktionale Instanz, die das Geschehen in einem epischen Text berichtend wiedergibt. Sie kann als Figur komplett unkonturiert, abstrakt sein und hinter das Geschehen zurücktreten, ist jedoch auch in diesen Fällen vom realen Autor/ der realen Autorin zu unterscheiden, da der Bericht eines epischen Texts nicht mit den 8.1 Gattung Epik 165 Mittelbarkeit als Gattungs‐ merkmal Narratologie Erzähler als ‚Ursprung‘ der Erzählung Geschichte vs. Diskurs Meinungen, dem Wissen oder dem Blickwinkel seiner Urheberin oder seines Urhebers übereinstimmen muss, der Erzähler außerdem innerhalb der fiktiven Welt auftreten, seine Funktion an eine andere Figur abgeben kann usw. Es zeichnet sich jetzt das entscheidende Gattungsmerkmal der Epik ab: Das Geschehen eines epischen Textes wird durch eine Erzählinstanz vermittelt, epische Texte sind durch Mittelbarkeit bestimmt. Wenn eine Handlung, wenn Figuren nicht unmittelbar gezeigt werden, dann besteht ein gewisser Spielraum in der Art der Vermittlung. Damit wird die Notwendigkeit deutlich, bei Erzähltexten zwischen der Geschichte (historia) : dem ‚Erzählten‘, d. h. den handlungsrelevanten Teilen der fiktiven Welt in ihrem chronologischen, örtlichen und kausalen Zusammenhang, - und dem - Diskurs (discurso) : dem ‚Erzählen‘, d. h. der spezifischen sprachlichen Prä‐ sentation der Geschichte durch die jeweilige(n) Erzäh‐ lerfigur(en) zu unterscheiden. Die Beschreibung der Strukturen auf jeder der Ebenen und des Verhältnisses der beiden zueinander ist eine zentrale Aufgabe der Erzähl‐ theorie oder Narratologie (narratología). Ein besonders flexibler Ansatz ist der von Gérard Genette, den die nun folgenden Erläuterungen in den wichtigsten Zügen wiedergeben. 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs 8.2.1 Stimme Es liegt nahe, für eine Beschreibung der spezifischen Präsentation der Ge‐ schichte durch einen Text zunächst an der Erzählinstanz anzusetzen, die wir ja eben als das wichtigste Gattungsmerkmal epischer Texte herausgestellt haben. Manche Texte führen eine Erzählerfigur derart ein, dass sie für den Leser die Konturen einer Person bekommt, etwa weil sie über sich selbst spricht. In anderen Texten erfahren wir nichts über den Erzähler. Dennoch ist klar, dass es selbst in diesen Fällen eine Erzählinstanz gibt, denn die sprachlichen Äußerungen, die den epischen Text bilden, haben notwendiger‐ weise einen Ursprung - schließlich gibt es, von Wahnzuständen einmal ab‐ gesehen, keine Rede ohne jemanden, der redet, und das gilt auch für solche 166 8 Epik und Erzähltextanalyse Stimme (voz narrativa): Wer spricht? Verhältnis des Erzählers zur erzählten Handlung Abb. 8.3 Heterodiegetischer Erzähler Abb. 8.4 Homodiegetischer Erzäh‐ ler (Typ 1 und 2) Abb. 8.5 Autodiegetischer Erzähler extradiegetische Ebene Texte. Eine erste narratologische Frage zielt also auf diesen Ursprung: Wer spricht? Wer sagt ‚Ich‘ oder könnte ‚Ich‘ sagen? Abgesehen von möglichen Details zur Figur des Erzählers, die jeder Text beliebig setzen oder offen lassen kann, hat die Erzählforschung eine erste abstrakte Kategorisierung von Erzählertypen mit entsprechender Termino‐ logie erarbeitet, die das Verhältnis des Erzählers zur erzählten Handlung er‐ fasst. Es geht hier zunächst um die Frage, wie sehr er an den Geschehnissen beteiligt ist. Folgende Möglichkeiten sind hier zu differenzieren: ▶ Heterodiegetischer Erzähler (narrador heterodiegético): Der Erzähler ist nicht Teil der erzählten Welt. Das Geschehen wird also in der dritten Person geschildert, was allerdings nicht ausschließt, dass der Erzähler als ‚Ich‘ hervortritt, etwa um seine Meinung zum Verhalten der fiktiven Figuren kundzutun - nur gehört dieses ‚Ich‘ nicht zur selben Welt wie die anderen Figuren. ▶ Homodiegetischer Erzähler (narrador homodiegético): Der Erzähler ist Teil der erzählten Welt. Hier sind verschiedene Abstufungen denkbar: Der Erzähler kann unbeteiligter Beobachter des Geschehens sein (Typ 1), er kann daran als Nebenfigur beteiligt sein (Typ 2) oder die Haupt‐ figur der Geschichte darstellen. Diese Unterscheidung ist keine abso‐ lute; ein Erzähler kann beispielsweise am Beginn seiner Schilderung unbeteiligter Beobachter sein, im weiteren Verlauf die Rolle einer Ne‐ benfigur annehmen und am Ende zur Hauptfigur werden. Für letztge‐ nannten Fall existiert aufgrund seiner besonderen Relevanz ein eigener Terminus, nämlich ▶ Autodiegetischer Erzähler (narrador autodiegético): Der Erzähler ist Prot‐ agonist (Hauptfigur). Dies ist nicht nur in vielen Romanen, sondern ty‐ pischerweise in autobiographischen Texten der Fall. Bei letzteren besteht nicht nur Identität zwischen Hauptfigur und Erzähler, sondern auch mit dem Autor bzw. der Autorin; wird das durch den Namen oder/ und andere überprüfbare Daten eindeutig im Text bezeugt, spricht man mit dem Be‐ griff des französischen Literaturwissenschaftlers Philippe Lejeune von einem autobiographischen Pakt (pacto autobiográfico). Jeder Erzähler wendet sich an einen Erzähladressaten - das ist in der Regel der implizite Leser (lector implícito), also die vom Text vorgesehene Stelle, die der jeweilige reale Leser im Leseakt einnimmt und individuell ausfüllt (in einzelnen Fällen kann dies auch eine fiktive Figur sein). Dieser in jedem Er‐ zähltext notwendigerweise stattfindende Vorgang markiert die erste Ebene der erzählerischen Kommunikation, die wir extradiegetische Ebene (nivel ex‐ tradiegético) nennen („extra-“ deshalb, weil der implizite Leser und die Kom‐ munikation mit ihm normalerweise nicht Teil der erzählten Welt sind, also 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs 167 erzählendes vs. erzähltes Ich hypo-/ metadiegetische Ebene außerhalb der Diegese stehen). Diese Ebene kann auch als Rahmenerzählung (marco narrativo) realisiert sein. Die erste Handlungs- oder Geschichtsebene (siehe Abschnitt 8.3), die von der Erzählerrede auf der extradiegetischen Ebene konstituiert wird, nennen wir Ebene der Diegese oder intradiegetische Ebene (nivel intradiegético). Auf dieser Ebene spielt sich in der Regel die ‚eigentliche‘ Handlung der Erzählung ab. Abb. 8.6: Narrative Ebenen Auf ihr gibt es auch unter Umständen den Erzähler der extradiegetischen Ebene nochmals, nämlich im genannten Falle eines homo- oder autodiegeti‐ schen Erzählers; es ist dann meist notwendig, seine intradiegetische Reali‐ sierung von der extradiegetischen zu unterscheiden, denn selbst wenn es sich um ‚dasselbe‘ Individuum handelt, so sind doch oft sein Status, sein Kennt‐ nishorizont etc. jeweils sehr unterschiedlich: Wenn etwa in einem autobio‐ graphischen Text ein hochbetagter Autor seine Kindheit erzählt, so kann die Person, die er mit „Ich“ bezeichnet, in jedem Einzelfall entweder das erzäh‐ lende Ich (sp. yo narrante oder yo narrador, also der Greis mit all seinem Wissen und seiner Erfahrung) oder aber das erzählte Ich (sp. yo narrado oder yo-per‐ sonaje, also das Kind von damals, das sein Leben noch vor sich hat) sein. Zusätzlich zum extradiegetischen Erzähler gibt es häufig Figuren innerhalb der erzählten Welt, die ihrerseits erzählen, wobei sie sich an andere fiktive Figuren wenden. Dieser Fall einer ‚Erzählung in der Erzählung‘ ist eher die Regel als die Ausnahme. Wir haben dann einen intradiegetischen narrativen Diskurs (oder eine Binnenerzählung, sp. relato enmarcado), dessen Geschichte dann wiederum eine Ebene tiefer, auf der sog. hypo- oder metadiegetischen Ebene (nivel hipo-/ metadiegético) situiert ist (und auf der dann wieder der intradiegetische Erzähler vorkommen kann, je nachdem, ob er seinerseits hetero-, homo- oder autodiegetisch ist). Ein Beispiel mag diese verwickelten Verhältnisse deutlicher machen: In dem aus Text 1.1 bekannten Auakt zu Cervantes’ Don Quijote erzählt ein zunächst nicht näher bestimmter Erzähler die Geschichte des Kleinadligen Alonso Quijano, der aufgrund allzu ausgiebigen Konsums von Ritterromanen verrückt geworden ist. Die 168 8 Epik und Erzähltextanalyse Kategoriale Grenze zwischen Ebenen Metalepse Unzuverlässiges Erzählen dort beginnenden Erlebnisse von Quijano alias Don Quijote konstituieren die intradiegetische Ebene, auf der es zu Begegnungen kommt, bei denen die Figuren ihrerseits Geschichten erzählen, beispielsweise die Lebens- und Leidensgeschichte des Adligen Cardenio, den Quijote und Sancho zerlumpt und ausgemergelt in der Sierra Morena antreffen (Teil I, Kap. 24) und dessen berichtete Erlebnisse sich narrativ auf der hypodiegetischen Ebene abspielen. Die extradiegetische Ebene wiederum wird im Roman spätestens in Kap. 9 fassbar, wo der Erzähler seinen Diskurs mit dem Hinweis unterbricht, das ihm vorliegende Manuskript ende an dieser Stelle. Wir erfahren jedoch sofort im Anschluss, dass er bei einem Antiquar in Toledo zufällig auf die Fortsetzung von Quijotes Geschichte aus der Feder des (fiktiven) arabischen Historikers Cide Hamete Benengeli gestoßen ist, die er von da an in Übersetzung zitiert und damit weitererzählt. Die Verschachtelung von Erzählungen ist theoretisch natürlich beliebig fortsetzbar-- es kann also ‚hypo-hypodiegetische‘ Ebenen usw. geben. Normalerweise sind diese Ebenen strikt getrennt: Im Gegensatz zum ext‐ radiegetischen Erzähler ‚wissen‘ die intradiegetischen Erzähler wie alle an‐ deren Figuren nicht, dass sie Teil einer (gedruckten) Geschichte sind, die ein anderer Erzähler erzählt und ein Leser liest. Dennoch bieten fiktionale Texte die Möglichkeit, diese kategoriale Grenze zu überschreiten und damit einen kalkulierten Bruch der Ebenen zu erzeugen, der häufig auf eine Zerstörung der Illusion oder spielerisch-parodistische Effekte abzielt. Eine solche Meta‐ lepse liegt beispielsweise vor, wenn die Hauptfigur eines Romans beschließt, den Autor desselben und damit ihren Schöpfer aufzusuchen, um ihm gegen‐ über ihr Recht auf eine autonome Existenz einzufordern, wie dies in Miguel de Unamunos Niebla (1914) der Fall ist, oder auch wenn, wie im zweiten Teil des Quijote, die Figuren von der nicht autorisierten Fortsetzung des ersten Teils erfahren und daraufhin beschließen, eine andere Route zu wählen, um den Plagiator Lügen zu strafen (Kap. 59) - ein sehr modernes Element in ei‐ nem alten Text. Ähnliches liegt in Text 1.5 vor, wo die Figuren eines Thea‐ terstücks sich über das Theater unterhalten. - Die Metalepse wird uns in in Kap. 9.2 wieder begegnen. Die LeserInnen eines literarischen Textes sind sich in der Regel seiner Fik‐ tionalität bewusst (vgl. Einheit 1.1) und beurteilen daher die Diegese (das Er‐ zählte im Sinne der fiktiven Handlungswelt und der in ihr vorkommenden Figuren) nicht mit einem an der Realität bemessenen Wahrheitsbegriff, son‐ dern akzeptieren die erzählte Welt mit deren innerfiktionaler Logik zumeist als in sich konsistent. So können selbst Science-Fiction- oder Fantasy-Romane trotz aller Widersprüche zu unserer Erfahrungswirklichkeit in der Imagina‐ tion nachvollzogen werden und schlüssig wirken. In manchen Fällen führen indes Brüche in der Erzählung zu einem Vorbehalt auf Seiten der Rezipienten und erwecken im Sinne des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs 169 Impliziter Autor Phantastische Literatur Erzählte Zeit vs. Erzählzeit Wayne C. Booth den Eindruck eines ‚unzuverlässigen Erzählers‘ (engl. unre‐ liable narrator, span. narrador sospechoso), wenn die Erzählinstanz sich offen‐ sichtlich in einem Widerspruch zu den intradiegetischen Sachverhalten be‐ findet. Dies ist bspw. der Fall, wenn eine Figur als intradiegetischer Erzähler auftritt, die von anderen Figuren oder vom extradiegetischen Erzähler in ihren Aussagen in Frage gestellt oder widerlegt wird. Als Beispiel kann der poly‐ phone Roman Pepita Jiménez (1874) von Juan Valera angeführt werden, in dem mehrere Erzähler um die intradiegetische historische Wahrheit der Be‐ gebenheiten ringen. Durch bestimmte Erzählelemente kann auch ein durch‐ gängiger Erzählerdiskurs kompromittiert werden, so durch maßlose Über‐ treibungen im Pícaro-Roman oder aufgrund von wahnhaft-assoziativem Monologisieren. Stimmt das Wertesystem des Erzählers nicht mit demjenigen des ‚impliziten Autors‘ (autor implícito) überein, den die Leser im Lektüre‐ prozess konstruierten, kann der Text sogar eine unterschwellige moralische Kritik am Erzähler zu erkennen geben, etwa im Historischen Roman Yo el Supremo (1974) des paraguayischen Schriftstellers Augusto Roa Basto, in dem eine komplexe Konstruktion von Textebenen die monomanischen Macht‐ phantasien des autodiegetisch von sich selbst berichtenden Diktators Dr. Francia in ihrem Wahrheitsanspruch widerlegt. Doch auch die extradiegeti‐ sche Erzählinstanz kann sich in unvereinbare Aussagen verstricken. In man‐ chen Strömungen wie der Phantastischen Literatur beruht die ästhetische Wirkung mitunter darauf, dass die Erzählerrede systematisch als uneindeutig, in ihrem Wahrheitsstatus unklar und nicht einzuordnen erscheint; ein Bei‐ spiel hierfür ist der Roman La invención de Morel (1940) des Argentiniers Adolfo Bioy Casares, wo der in Tagebuchform verfasste Bericht des autodie‐ getischen Erzählers auf einer fundamentalen Täuschung beruht, über die der Erzähler selbst zunächst Mutmaßungen anstellt (und sich selbst damit als po‐ tenziell unzuverlässig ausweist), bevor sie am Ende aufgedeckt wird. Avant‐ gardistische Texte können mitunter im Zeichen einer postmodernen Ästhetik auch gezielt die handlungslogischen, zeitlichen oder räumlichen Bezüge im Unklaren lassen und die Leserschaft so mit einer unaufhebbaren Deu‐ tungs-Unsicherheit der Erzählung konfrontieren. 8.2.2 Zeit Wir hatten eben den Erzähler als diejenige Instanz herausgestellt, die die Wiedergabe des Geschehens bestimmt und dabei das Geschehen ordnet und resümiert. Dass der Erzähler in Text 8.1 insbesondere letzteres tut, wird nicht nur durch seinen expliziten Hinweis deutlich, sondern durch den bereits bei flüchtiger Betrachtung offensichtlichen Umstand, dass der Diskurs der narrativen Fassung kürzer ausfällt als derjenige der dramatischen Version. Der in beiden Fällen gleichen Zeit, die die Ereignisse der erzählten Welt 170 8 Epik und Erzähltextanalyse Abb. 8.7 Möglichkeiten des Zeitverhältnisses Aufgabe 8.1 Ordnung Formen achronologischen Erzählens für ihren Ablauf benötigen (sog. erzählte Zeit, span. tiempo de la historia), entsprechen unterschiedlich große Zeiträume, die der Vorgang des Erzählens bzw. Lesens in Anspruch nimmt (sog. Erzählzeit, span. tiempo del discurso). Geht man davon aus, dass dramatische Darstellungen grundsätzlich die Echtzeit abbilden und damit hier die Erzählzeit gleich der erzählten Zeit ist, dann erweist sich Text 8.1 als geraffte erzählerische Darstellung, da die Erzählzeit kürzer als die erzählte Zeit ist. Für das Verhältnis von Erzählzeit (die man angesichts unterschiedlicher individueller Lesegeschwindigkeiten objektiv nach dem Seitenbzw. Wort‐ umfang des Erzähltextes bemisst) und erzählter Zeit bestehen fünf termino‐ logisch unterschiedene Möglichkeiten: ▶ Zeitdeckendes Erzählen (narración en tiempo real) liegt vor, wenn, wie im dramatischen Modus, Erzählzeit und erzählte Zeit übereinstimmen. ▶ Ist die Erzählzeit, wie in Text 8.1, kürzer als in einer zeitdeckenden Erzählung, so spricht man von einer Raffung (aceleramiento). ▶ Im Extremfall wird die Erzählzeit so verkürzt, dass Vorgänge der erzählten Welt nicht mehr wiedergegeben, sondern übersprungen werden. Man spricht hier von einer Auslassung oder Ellipse (elipsis, f.). ▶ Ist die Erzählzeit länger als in einer zeitdeckenden Erzählung, liegt eine narrative Dehnung (dilatación) vor. ▶ Der Extremfall ist hier eine Erzählerrede, die keine Vorgänge der erzähl‐ ten Welt mehr beschreibt, d. h. der Ablauf auf der Ebene der Geschichte steht gleichsam still. Dieser Fall heißt daher Pause (pausa). ? Wie könnten Ihrer Meinung nach konkret erzählerische Mittel ausse‐ hen, die zu einer Raffung, einer Dehnung und einer Pause führen? Ebenso, wie der Erzähler sich (und der Leserschaft) mehr oder weniger Zeit für die Darstellung von Ereignissen lassen kann, ist er frei, die Reihenfolge der Darstellung zu bestimmen; nichts zwingt ihn, die Dinge gemäß der Chronologie zu präsentieren, in der sie sich abgespielt haben. Tatsächlich sind Teilumstellungen erzählter Episoden relativ häufig in Texten anzutreffen - und auch im Film, wo Sie sie sicherlich als ‚Rückblende‘ bereits kennen. Hier haben sich die folgenden Termini eingebürgert: ▶ Anachronie (anacronía): Oberbegriff für den Bruch der chronologischen (also den realen Abläufen innerhalb der Geschichte entsprechenden) Ord‐ nung. Man unterscheidet weiter zwischen ▶ Analepse (analepsis): ‚Rückblende‘, nachträgliche Darstellung des Früheren (also bspw. B-C-A-D), und ▶ Prolepse (prolepsis): Vorschau, erzählerische Vorwegnahme des Spä‐ teren (also bspw. A-B-D-C). 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs 171 Reduktion der Mittelbarkeit Dramatischer Modus Distanz als Grad der Mittelbarkeit Verfahren der Distanzierung Figurenrede Aufgabe 8.2 Direkte-- indirekte-- resümierte Rede 8.2.3 Distanz Oben wurde bereits die Möglichkeit erwähnt, dass der Erzähler bzw. die Er‐ zählerin bis zur scheinbaren Abwesenheit hinter die erzählte Geschichte zu‐ rücktritt: In der Tat kann eine längere Passage eines Erzähltextes das Gespräch zweier oder mehrerer Figuren in direkter Rede wiedergeben, ohne dass irgend‐ eine erkennbare Intervention seitens eines Erzählers erfolgt. Die für epische Texte charakteristische Mittelbarkeit ist in solchen Fällen aufgehoben, der Text geht zum dramatischen Modus über, stellt wie in einem Theaterstück dar, statt im eigentlichen Sinne zu berichten. Es sind also verschiedene Grade von Mit‐ telbarkeit möglich, je nachdem wie präsent der Erzähler ist und wie stark er die Darstellung kontrolliert. Dieser Grad der Mittelbarkeit heißt Distanz (distan‐ cia). Minimale Distanz liegt also im dramatischen Modus vor. Sie nimmt zu, je mehr der Text die Präsenz des Erzählers markiert. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Erzähler als ‚Ich‘ auftritt, eventuell Einzelheiten zu seiner Per‐ son erkennen lässt oder gar die narrative Situation selbst thematisiert, sei es explizit durch Kommentare zu seiner Erzählerrede, sei es implizit, etwa indem er die Hauptfigur als „unseren Helden“ bezeichnet und so nicht nur auf die Fiktionalität des Erzählten, sondern auch auf die Kommunikation mit dem Leser hinweist. Derart offensichtliche Distanznahme ist freilich, von be‐ stimmten Kontexten wie dem realistischen Roman des 19. Jh. abgesehen, eher selten. Verhältnismäßig leicht zu ermitteln ist die Distanz indes anhand der Figurenrede, für deren erzählerische Präsentation ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten besteht. Die direkte Rede ohne Einleitung entspricht dem dramatischen Modus und stellt die unmittelbarste Form der Redewie‐ dergabe dar. Sie kann aber auch stärker durch den Erzähler, also mit größerer Distanz, geleistet werden. ? Unterbrechen Sie hier für einen Moment die Lektüre und versuchen Sie, die ersten vier Zeilen der zweiten Tirade Sanchos aus Text 8.2 („Mas, señor […]“) mit größerer Distanz, also mit mehr Steuerung durch den Erzähler wiederzugeben. Die Präsenz des Erzählers wird stärker, wenn die Figurenrede nicht mehr direkt ‚gehört‘, sondern ‚aus zweiter Hand‘ wiedergegeben wird. Dies ist zunächst der Fall bei Formen der indirekten Redewiedergabe, schließlich bei resümierender Präsentation, die den Wortlaut der ursprünglichen Rede nicht mehr erkennen lässt. Der Protest Sancho Panzas könnte z. B. auf folgende Weise erzählt werden: 172 8 Epik und Erzähltextanalyse Direkte Rede Erlebte Rede Indirekte Rede Resümierende Rede Zunahme der Distanz Aufgabe 8.3 Blickwinkel ≠ Sprecherposition (1) „Mas, señor, si aún se me acuerda la aventura de la manta. ¿Quiere vuesarced que vuelvan a echarme por esos aires? “ (wie Original) (2) Sancho protestó. Era que aún se acordaba de la aventura de la manta. ¿Quería Don Quijote que volvieran a echarle por esos aires? (3) Sancho protestó diciendo que aún se acordaba de la aventura de la manta y preguntándole a Don Quijote si quería que volvieran a echarle por los aires. (4) Sancho protestó temiendo que las cosas se repitieran. (5) Sancho protestó. Beispiel (1) entspricht der direkten Rede (discurso directo) des Originals aus Text 8.2, also dem unmittelbaren dramatischen Modus. Die Versionen (2) und (3) sind Formen indirekter Redewiedergabe, wobei (2) ein Beispiel der sog. erlebten Rede (discurso oder estilo indirecto libre) darstellt, einer Form von Erzählerbericht (hier erkennbar durch 3. Person sowie Vergangenheitstem‐ pus), in dem die direkte Rede durch Syntax (hier Frage ohne Redeeinleitung) und Deixis (Perspektive, hier „esos“, das natürlich auf den Standort der Figu‐ ren bezogen ist) noch spürbar ist; bei (3) handelt es sich dagegen um ge‐ wöhnliche indirekte Rede (discurso indirecto) im Erzählerbericht. Die Beispiele (4) und (5) geben die Rede unterschiedlich stark resümierend wieder - der genaue Wortlaut ist nicht mehr zu erahnen. Die Präsenz des Erzählers nimmt innerhalb unserer Beispiele von Version zu Version zu, und mit ihr die Dis‐ tanz. Diese Verfahren der Redewiedergabe und damit Distanzierung sind frei‐ lich nicht nur für Gesprochenes, sondern ganz analog auch für Gedanken (also ‚unausgesprochene‘ Rede) möglich. ? Wiederholen Sie nun die Aufgabe: Wenden Sie die unterschiedlichen Verfahren der Redewiedergabe, die Sie kennengelernt haben, auf die anschließende Tirade Quijotes („Menguada la hora-[…]“) in Text 8.2 an. 8.2.4 Fokalisierung Mit den Kategorien Stimme und Distanz haben wir uns bislang mit dem Standort des Erzählers und seiner Präsenz in der Erzählung befasst. Im Ge‐ gensatz zur realen Welt ist in der Fiktion mit Sprecherstandort und -präsenz aber noch nicht alles über den Blickwinkel gesagt, aus dem ein Geschehen berichtet wird: Der Einblick in und das Wissen um die Vorgänge in der er‐ zählten Welt sind nicht zwangsläufig identisch mit dem ‚natürlichen‘ Kennt‐ nisstand der erzählenden Person. Auch wenn es in der literarischen Praxis oft der Fall ist, dass ein außerhalb der erzählten Welt stehender, also heterodie‐ getischer Erzähler alles weiß, also etwa in die Köpfe der Figuren sehen kann, ist das dennoch nicht zwangsläufig der Fall, ebensowenig wie eine in der ersten Person erzählende Figur der erzählten Welt (homodiegetischer Erzäh‐ 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs 173 Text 8.4 Narrative Varianten der zweiten Tirade Sanchos aus Text 8.2 Wer sieht? Fokalisierung Text 8.5 Narrative Varianten einer Textstelle aus dem Quijote, Kap. 35 ler) notwendigerweise auf ihren Standpunkt festgelegt ist: Es spricht nichts dagegen, dass sie im Unterschied zu den Möglichkeiten der realen Welt ge‐ nauen Einblick in das Innenleben der übrigen Figuren hat. Von der Frage, wer spricht, ist also die Frage nach dem Wissenshorizont oder dem Blickwinkel zu unterscheiden: Wer sieht? Um die Spielarten der Fokalisierung (focalización), die als narratologische Kategorie auf diese Frage antwortet, genauer zu umreißen, sehen wir uns eine weitere Textstelle aus dem Quijote sowie mögliche erzählerische Varianten derselben an. Es handelt sich um die berühmte Episode des Kampfs gegen die Weinschläuche aus dem 35. Kapitel des ersten Teils. (1) Y, con esto, entró [el ventero] en el aposento 1 , y todos tras él, y hallaron a don Quijote en el más estraño traje del mundo […] y en la derecha, desenvainada 2 la espada, con la cual daba cuchilladas a todas partes, diciendo palabras como si verdaderamente estuviera peleando con algún gigante. Y es lo bueno que no tenía los ojos abiertos, porque estaba durmiendo y soñando que estaba en batalla con el gigante: que fue tan intensa la imaginación de la aventura que iba a fenecer 3 , que le hizo soñar que ya había llegado al reino de Micomicón 4 , y que ya estaba en la pelea con su enemigo. Y había dado tantas cuchilladas en los cueros 5 , creyendo que las daba en el gigante, que todo el aposento estaba lleno de vino. Lo cual visto por el ventero, tomó tanto enojo, que arremetió 6 con don Quijote-[…]. (Cervantes: 2008, 488) (2) Llegando don Quijote al gran reino de Micomicón, vio al gigante que había usurpado el reino de la princesa. Y como a ésta le había prometido deshacer aquel agravio y matar a ese follón, desenvainó su espada, se encomendó 7 de todo corazón a su señora y arremetió a su adversario con una increíble furia, dándole gritos y diciendo que le daría venganza a la alta princesa desta tierra, ejercitando el oficio para el que Dios le había echado al mundo. Lo pasó muy mal el atrevido gigante; diole don Quijote tantas cuchilladas que se derramó su sangre por todas partes. Estaba el caballero por tajarle 8 la cabeza cuando oyó tras él una voz conocida. (3) Entró el ventero en el aposento, y todos tras él, y hallaron a don Quijote en el más extraño traje del mundo, y en la derecha, desenvainada la espada, con la cual daba cuchilladas a todas partes, diciendo palabras como si estuviera peleando con algún gigante. Aunque tenía los ojos cerrados y parecía estar dormido, rajaba los cueros de tal modo que todo el aposento estaba lleno de vino. Lo cual visto por el ventero, arremetió contra don Quijote. 1 aposento Gemach, Kammer-- 2 desenvainada (Schwert) gezückt-- 3 fenecer hier: bestehen - 4 Micomicón äthiopisches Königreich, das ein Riese der rechtmäßigen Herrscherin entrissen haben soll; Erfindung der Dorfbewohner, um don Quijote in die Schänke zurückzulocken (Kap. 29) - 5 cueros hier: Weinschläuche (aus Leder) - 6 arremeter angreifen-- 7 encomendarse sich anempfehlen-- 8 tajar abschneiden 174 8 Epik und Erzähltextanalyse Nullfokalisierung Interne Fokalisierung Externe Fokalisierung Abb. 8.8 Fokalisierungswechsel Erzählsituation Erzählprofil Die drei Fassungen gleichen sich hinsichtlich der Stimme - es spricht eine hier nicht näher bestimmte Erzählerfigur, die aber jedenfalls nicht an der Handlung beteiligt ist - sowie weitgehend der Distanz. Sie unterscheiden sich aber durch den jeweiligen Einblick, das Wissen des Erzählers: ▶ Version (1), die dem Originaltext entspricht, bietet dem Leser nicht nur die äußeren Vorgänge (Situation in Quijotes Zimmer), sondern auch die Wahrnehmungen des Protagonisten („estaba en batalla […] había llegado al reino de Micomicón […]“ usw.), die explizit als Traum gekennzeichnet werden, sowie die Gemütslage, die dieser unerfreuliche Vorfall beim Gastwirt hervorruft. Der Erzähler hat den Überblick, er weiß mehr, als jede Figur wissen kann. Er hat keinen Fokus, keine eingegrenzte Wahr‐ nehmung. Man nennt diese Einstellung daher Nullfokalisierung (focali‐ zación cero). ▶ Version (2) schildert das Geschehen aus dem Blickwinkel und dem Wis‐ senshorizont - nicht aber mit der Stimme (! ) - einer der Figuren, nämlich des Protagonisten. Dies zeigt sich deutlich daran, dass wir die Wahrneh‐ mung don Quijotes teilen, also auf die Traumszene beschränkt sind und zunächst nichts von den äußeren Vorgängen erfahren, (die erst am Ende durch die Stimme des Gastwirts in die Szene eindringen), und darüber hinaus die subjektive Bewertung des Erlebten durch die Hauptfigur prä‐ sentiert bekommen („atrevido gigante“). Der Erzähler sagt hier genau so viel, wie eine bestimmte Figur weiß. Diese erzählerische Einstellung nennt man interne Fokalisierung (focalización interna). ▶ Version (3) wiederum zeigt das Geschehen kameragleich ‚von außen‘. Wir erfahren nur, was die beteiligten Personen auch sehen und hören können, Bewusstseinsvorgänge werden ausgespart. Der Erzähler sagt also weniger, als jede einzelne Figur weiß. Diese erzählerische Einstellung nennt man externe Fokalisierung (focalización externa). Die Fokalisierung gibt grosso modo an, welcher Figur das Interesse des Er‐ zählers gilt und steuert die Wahrnehmung und Bedeutungskonstruktion der LeserInnen. Anders als bei der Kategorie Stimme ist ein Wechsel der Fokali‐ sierung insbesondere innerhalb längerer Texte durchaus häufig (variable Fo‐ kalisierung). Die Kategorien Stimme, Distanz und Fokalisierung sind die we‐ sentlichen Merkmale narrativer Präsentation im Diskurs, sie bestimmen die sog. Erzählsituation, ihre Entwicklung im Laufe eines Textes das sog. Erzähl‐ profil. Bestimmte Erzählsituationen können typisch für literarische Epochen und Strömungen werden. Wir werden dies in Einheit 9 am Beispiel von Text 9.3 noch genauer sehen. 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs 175 Inhaltsanalyse bei epi‐ schen und dramatischen Texten Fiktive Personen Charakterisierung Explizit Implizit Stoffgeschichte 8.3 Struktur des Erzählten oder Geschichte Auf der Ebene des erzählten Inhalts besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen epischen und dramatischen Texten - das sie unterscheidende Merkmal ist ja, wie wir oben sahen, das der Vermittlung, also der Diskurs. Daher stellt auch die Strukturanalyse der Inhaltsseite epischer Texte ähnliche Fragen und benutzt vergleichbare Verfahren wie die Dramenanalyse. Die hier dargestellten Ansätze sind also - je nach Untersuchungsobjekt - nicht nur für Erzähltexte, sondern auch für Theaterstücke verwendbar und umgekehrt (vgl. Einheit 6, Dramenanalyse). Auch hier ist Aufgabe einer Strukturanalyse, wie bereits in den Grundüberlegungen in Einheit 4 skizziert wurde, die Teile des Erzählten zu ermitteln und ihre Beziehung zueinander herauszuar‐ beiten. Dies ermöglicht es, von der nacherzählbaren ‚Textoberfläche‘ zu einer Beschreibung der abstrakten Funktionen zu gelangen. Die offensichtlichen und wichtigsten Teile eines Erzähltextes sind die Figuren/ Personen und die Handlung/ Ereignisse. 8.3.1 Figuren Unter Figuren versteht man die fiktiven Personen, d. h. Menschen oder ver‐ menschlichte Wesen (etwa die Tiere in Fabeln), die in einem Text auftreten und die Handlung tragen. In aller Regel liegt diesen Figuren ein mehr oder weniger kohärentes Muster von Handlungsweisen und Eigenschaften zu‐ grunde, das man in Analogie zu demjenigen realer Menschen ihren Charakter nennen kann. Für eine Figurenanalyse ist eine Charakterisierung ein mögli‐ cher erster Schritt. Sie kann sich, besonders häufig etwa im realistischen Roman des 19. Jh., auf explizite Kommentare des Erzählers stützen, der seine Figuren eigens in die Geschichte ‚einführt‘, oder aber den impliziten Weg einer Rekonstruktion aus dem Verhalten einer Figur in der fiktiven Welt gehen. Je nach Fall kommt unter Umständen auch ein Blick auf die Stoffgeschichte in Betracht, wenn es sich nämlich um eine Figur handelt, die nicht nur im vor‐ liegenden Text entwickelt wird, sondern eine literarhistorische Vergangen‐ heit hat. Dies ist beispielsweise für die Titelfigur des Theaterstücks Las mo‐ cedades del Cid (1618) von Guillén de Castro der Fall, in dem der Autor die Jugendjahre des spanischen Nationalhelden und damit die Vorgeschichte des Cantar de mio Cid auf die Bühne bringt. Es gilt aber auch für weniger my‐ thenumwobene Gestalten wie beispielsweise den Marqués de Bradomín, ei‐ nen dandyhaften Adligen und Hauptfigur der bereits erwähnten Sonatas (1902-05) von Ramón del Valle-Inclán. Insbesondere solche über einen ein‐ zelnen Text hinausgehenden Figuren scheinen ein Eigenleben zu entwickeln und machen einen Hinweis vonnöten, der bei der Charakterisierung fiktiver Figuren grundsätzlich beachtet werden sollte: 176 8 Epik und Erzähltextanalyse ! Hinweis: Gefahr der Psychologisierung fiktiver Figuren Emotion Figurenkonstellation Leitfragen für die Erstel‐ lung einer graphischen Personenkonstellation Greimas’ Aktantenschema ▶ Literarische Figuren sind nicht Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Zeichensysteme innerhalb eines Textes und auf diesen beschränkt. Die Vorstellung von realen Personen und Emotionen spielt zwar sicherlich bei der Textabfassung durch Autorinnen und Autoren eine gewichtige Rolle, und umgekehrt entstehen, teilweise gesteuert durch den Text, beim mehr oder weniger empathischen Leserindividuum im Leseakt wiederum Gefühle und die Vorstellung von menschlichen Individuen - ein Prozess, den die in den letzten Jahren verstärkt im Fokus stehende literaturwis‐ senschaftliche Emotionsforschung analytisch zu beschreiben sucht. Eine Charakteranalyse überschreitet aber die Grenze zu unzulässiger Speku‐ lation, wenn Aussagen über die ‚Psyche‘ ohne Textgrundlage („Rodrigo fühlt sich dadurch wahrscheinlich provoziert …“) oder ‚nach‘ dem Text (z. B. zukünftiges Weiterleben) getroffen werden, denn es gibt - im Falle fiktiver Figuren-- nur den Text. Für ein Verständnis der Struktur der erzählten Welt ist es zentral zu wissen, welche Funktion und ggf. symbolische Bedeutung eine Figur im System der Figuren hat. Hierbei spielt u. U. die Charakterisierung eine wichtige Rolle, weil sie die Handlungsmöglichkeiten und -motivationen vorgibt; es geht darüber hinaus aber um eine abstraktere und relationale Beschreibung einer Figur. Der Weg dorthin führt normalerweise über die Ermittlung der Personenkonstellation, einer (beispielsweise graphischen) Übersicht über die Figuren und ihre Konflikte und Allianzen, bei der die folgenden Fragen als Leitfaden dienen können: ▶ Welche Figuren gibt es im Text? ▶ Auf welchen Ebenen (emotional, rechtlich, wirtschaftlich …) stehen sie in Beziehung zueinander? (Hier werden bei komplexen Geschichten ggf. mehrere Schemata vonnöten sein.) ▶ Sind sie eigenständig oder treten sie nur mit anderen Figuren auf ? ▶ Wo bestehen - auf den verschiedenen Interaktionsebenen - Oppositionen zwischen den Figuren? ▶ Beruhen die jeweiligen Beziehungen auf Gegenseitigkeit oder bestehen sie nur in einer Richtung? ▶ Welchen Wert hat eine Figur für die andere? ▶ Welche anderen Figuren beeinflusst jede Figur im Lauf der Handlung? Eine Übersicht über die Personenkonstellation kann den Platz einer Figur im System und damit ihre Funktion für das Geschehen verdeutlichen. Diese und die symbolische Bedeutung sind je nach Text und erzählter Welt verschieden; es gibt aber Ansätze, um solche Funktionen ganz abstrakt zu beschreiben. So hat der Strukturalist Algirdas Julien Greimas, von dem auch der Isotopie-Be‐ griff stammt (Einheit 4.2) vorgeschlagen, die sog. ‚Tiefenstruktur‘ (‚estructura profunda‘) von Erzähltexten mit Hilfe von 6 Aktantenkategorien (actantes) 8.3 Struktur des Erzählten oder Geschichte 177 Motiv als ‚Mini-Ereignis‘ Geschehen: chronologi‐ sche Abfolge der Motive zu beschreiben, die in drei Oppositionspaare gegliedert sind und die jeweils eine Funktion in der Handlung definieren: Subjekt (Held; sujeto) vs. Objekt (objeto), Adressant (Sender; destinador) vs. Adressat (Empfänger; destinatario), Adjuvant (Helfer; ayudante) vs. Opponent (Gegenspieler; oponente). Eine Figur kann dabei im Laufe der Handlung verschiedene Aktanten realisieren (beispielsweise vom Opponenten zum Adjuvanten werden) oder ein Aktant kann von mehreren Figuren (oder aber durch Nichtpersonales oder Abstrakta wie die Natur, u. U. auch gar nicht) realisiert werden. So könnte im Falle von Calderóns Drama La vida es sueño, das Sie in Einheit 7 kennen gelernt haben, Rosaura als Subjekt, Astolfo als Objekt, Clotaldo als Adjuvant, Segismundo zunächst als Opponent, dann als Adjuvant (wodurch sich die Konversion dieser Figur abbilden lässt), die Ehre (die handlungsbestimmender Faktor und damit durchaus Aktant ist) als Adressant, Rosaura selbst (gleichzeitig mit ihrer Subjekt-Rolle) als Adressat formalisiert werden (da sie das ‚Objekt‘ Astolfo sich selbst ‚zuführen‘ muss). Dabei ist die Zuweisung der Subjektrolle, hier an Rosaura, keineswegs immer zwingend, sondern hängt vom jeweiligen hermeneutischen Standpunkt ab: Je nach Vorannahme über die Gattung, die relevante Sinnebene usw. kann eine andere Figur als ProtagonistIn erscheinen. Auch zeigt ein Quervergleich mit Lorcas ebenfalls in Einheit 7 vorgestelltem Drama Bodas de sangre, dass das Modell nicht problemlos auf alle Texte anwendbar ist, beispielsweise weil manche Werke der Moderne das ‚Subjekt‘ als handlungstragende und -verantwortende Einheit selbst in Frage stellen. Eine Beschäftigung mit den von Greimas vorgeschlagenen Kategorien ist aber auch in solchen Fällen sinnvoll, weil selbst ihr Scheitern oder die Notwendigkeit, sie anzupassen, im Umkehrschluss etwas über das untersuchte Werk verraten. 8.3.2 Handlung, Geschehen und ‚Plot‘ Folgt man dem Programm der Strukturanalyse und zerlegt die Handlung bis in ihre kleinsten Bestandteile, also gewissermaßen die ‚Atome‘ der Ge‐ schichte, hat man es mit Mikroereignissen zu tun, die wir in Kapitel 4.2 bereits unter dem Begriff Motiv eingeführt haben. Im Grunde ist jeder Satz, der einen (absichtsvollen oder sich von selbst vollziehenden) Vorgang beschreibt, ein solches Motiv. (Die Motivgeschichte allerdings verwendet den Begriff aus‐ schließlich für größere Zusammenhänge, vgl. Einheit 2.5) Die Handlung eines Textes setzt sich aus diesen Motiven zusammen, aber allein die Summe der Motive macht noch nicht die Handlung aus. Der zweite Teil des Strukturana‐ lyse-Programms besteht, wie Sie sich erinnern, darin, die Beziehung der er‐ mittelten Teile eines Ganzen zu klären. Die Beziehung zwischen Motiven ist zunächst natürlich eine chronologische: Die Vorgänge eines Erzählstrangs (von dem es mehrere geben kann) folgen in der Zeit aufeinander - in der Zeit 178 8 Epik und Erzähltextanalyse Freie Motive und ‚Realitäts‐ effekt‘ (Barthes) Plot: kausale Abfolge von Motiven Leitfragen für die Plotbeschreibung Ereignis Situationslogik Sequenzlogik Figurenlogik der erzählten Welt, die nicht unbedingt mit der Chronologie des Diskurses, der erzählerischen Vermittlung übereinstimmt (s. o.: Anachronie). Die Motive in ihrer zeitlichen Ordnung nennt man Geschehen. Die meist wichtigere Art von Beziehung zwischen Motiven ist jedoch die kausale: Bestimmte Motive folgen nicht nur zeitlich auf frühere, sondern gehen auch ursächlich auf sie zurück, werden von ihnen ausgelöst, sind verknüpft. Andere, die sog. freien Motive, hängen kausal nicht mit anderen zusammen, sie dienen allein der Gestaltung der erzählten Welt und ihrer Figuren, können beispielsweise deren Plausibilität erhöhen, dienen mit den Worten Roland Barthes’ dem ‚Realitäts‐ effekt‘ (efecto de lo real). Innerhalb des Geschehens gibt es nun eine oder mehrere Ketten von Ereignissen, die zueinander in einem Verhältnis von Ur‐ sache und Wirkung stehen. Diese Ketten nennen wir Plot (trama). Folgende Fragen sind hier interessant: ▶ Wie ist die Gesamtgestalt des Plots: linear, zirkulär, episodisch,-…? ▶ Wenn es mehrere Handlungslinien gibt: Sind die Plots unabhängig von‐ einander oder interferieren sie? Auf welche Weise? ▶ Wo liegen die Wendepunkte eines Plots? -- das heißt: ▶ Wo verändert sich der Konflikt (steigert oder entspannt sich)? ▶ Wo verändert sich die Personenkonstellation? Wo nehmen die Figuren etwa neue Aktantenrollen an? Besonders relevant für die Plotanalyse sind diejenigen Momente, in denen das Nicht-Erwartete oder -Erwartbare geschieht; sie bilden die Ereignisse im strengen Sinne. Gerade bei einem so alltäglichen Begriff empfiehlt sich eine präzise Unterscheidung (nicht nur in literaturwissenschaftlichen Zusammen‐ hängen): Wenn morgens die Sonne aufgeht, ist das zwar ein Vorgang, aber kein Ereignis - ein solches ist indes gegeben, wenn eines Morgens die Sonne nicht aufgeht. Ereignisbegründende Verstöße gegen das Erwartbare können auf der Ebene der Situationslogik (in einer gegebenen Lage müsste etwas pas‐ sieren, was im Text ausbleibt, oder es dürfte umgekehrt etwas nicht passieren, was im Text geschieht) oder der Sequenzlogik (ein normalerweise folgender nächster Schritt erfolgt nicht oder anders) oder der Figurenlogik (eine Hand‐ lung oder das Ausbleiben einer Handlung passt nicht zu einer Figur, ihrem Charakter, ihren Rechten etc.) liegen. Zu beachten ist, dass diese Logiken nicht aus dem Wissen über Verhältnisse in der realen Welt abgeleitet sein müssen, sondern abweichend davon auch von der Gattung und dem einzelnen Text gesetzt sein können; so ist es in einem Märchen typischerweise kein Ereignis, wenn ein Zauberer sich in einen Drachen verwandelt, denn das ist nach den gewöhnlichen ‚Spielregeln‘ der Gattung erwartbar. Ein hilfreicher spezifischer Ansatz in diesem Zusammenhang ist der des estnischen Strukturalisten Jurij M. Lotman, der abschließend skizziert werden soll. Lotman geht davon aus, dass die entscheidenden Ereignisse eines Plots 8.3 Struktur des Erzählten oder Geschichte 179 Unüberschreitbarkeit der Grenze Bedeutung des erzählten Raums Aufgabe 8.4 Zusammenfassung diejenigen sind, bei denen eine Grenze überschritten wird - streng genommen macht für Lotman diese Grenzüberschreitung erst den Gehalt (das Sujet) eines Erzähltextes aus, sie sind seine notwendige Bedingung, im Unterschied etwa zu Empfindungslyrik. Die Grenze ist dann relevant, wenn sie die erzählte Welt in zwei Teilräume (evtl. bei mehreren Grenzen mehr als zwei Teilräume) teilt, die einander in verschiedenerlei Hinsicht entgegengesetzt sind: Sie sind als Räume, d. h. topographisch (z. B. Wald vs. Zivilisation) und ggf. topologisch (z. B. innen vs. außen), aber vor allem auch semantisch getrennt, also mit bestimmten gegensätzlichen Bedeutungen assoziiert (z. B. gut vs. böse). Entscheidend für die Handlung ist, dass diese Grenze von der betreffenden Figur (in der Regel dem Helden bzw. der Heldin) normalerweise nicht über‐ schritten werden kann. Der oder die zentralen Momente eines Erzähltextes sind die versuchten oder geglückten Übergänge zwischen den Teilräumen. Lotmans Ansatz weist darauf hin, dass die Frage der Räume innerhalb fiktiver Welten und ihre Beziehung zur Handlung von entscheidender Bedeutung sein können, wenn es darum geht zu beschreiben, wovon ein Text eigentlich ‚han‐ delt‘. ? Wählen Sie, wie die frühen Strukturalisten, einen Ihnen bekannten einfachen Text (etwa das Grimmsche Rotkäppchen oder die leyenda El monte de las ánimas von Gustavo Adolfo Bécquer, die Sie in einer Werk‐ ausgabe des Autors oder online bei Wikisource [http: / / es.wikisource.org/ wiki/ Portada] finden), und versuchen Sie ihn mithilfe der Greimasschen Aktantenkategorien und der Lotmanschen Sujettheorie zu beschreiben. Die vielfältigen Formen epischer Texte sind im Unterschied zu Dramen durch die Mittelbarkeit der von einem Erzähler getragenen Darstellung bestimmt. Der Erzähler ordnet, rafft oder dehnt die Erzählung in zeitlicher Hinsicht. Er steht zum Geschehen in einem bestimmten Beteiligungsver‐ hältnis, das durch die narratologische Kategorie der Stimme beschrieben wird. Seine Präsenz schafft eine mehr oder minder große Distanz der lesenden Person zum Geschehen, die sich besonders deutlich an Formen der Redewiedergabe ablesen lässt. Die Darstellung kann unabhängig vom Standort des Erzählers auf unterschiedliche Wissenshorizonte ausgerich‐ tet, d. h. fokalisiert sein. Die Beschreibung der Inhaltsseite von Erzähltex‐ ten hat v. a. die Charakterisierung, Aktantenrolle und Konstellation der Figuren sowie die entscheidenden Momente der Handlungsentwicklung, Wendepunkte des Plots zum Gegenstand. Strukturalistische Ansätze wie diejenigen Greimas’ und Lotmans bieten Kategorien für eine funktions‐ bezogene, abstrakte Beschreibung erzählter Figuren und Handlungen. 180 8 Epik und Erzähltextanalyse  Literatur Aristoteles: Poetik. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2 1994. Roland Barthes: „Der Wirklichkeitseffekt“, in: Ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, 164-172. Gustavo Adolfo Bécquer: La venta encantada, in: Teatro de Gustavo Adolfo Bécquer. Hg. Juan Antonio Tamayo. Madrid: Consejo superior de investigaciones científicas 1949, 45-134. Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago: Chicago UP 1961. Miguel de Cervantes: Don Quijote de la Mancha. Band I. Madrid: Cátedra 27 2008. Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 3 2010. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Braunschweig: Vieweg 1971. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 4 1993. Ansgar Nünning: Unreliable narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwür‐ digen Erzählens in der englischsprachigen Literatur. Trier: WVT 1998. Augusto Roa Bastos: Yo el supremo. Madrid: Alfaguara 2 1986. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Literatur 181 Überblick 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Inhalt 9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem 9.1.1 Kontext eines literarischen Projekts 9.1.2 Doña Perfecta 9.2 Selbstbezügliches Erzählen - Julio Cortázar: Continuidad de los parques Wie schon bei den Gattungen Lyrik und Dramatik hat diese zweite Einheit zur Epik und Erzählanalyse das Ziel, die Konzepte und Hilfsmittel aus der zurückliegenden theoretischen Einführung in ihrer Anwendung zu zeigen und ihre Relevanz für das Verständnis epischer Texte zu verdeutlichen. Die Fülle epischer Texte macht hier auch ein exemplari‐ sches Vorgehen notwendig. Unser Augenmerk gilt daher der bis heute wichtigsten epischen Gattung, dem Roman, und hier zunächst der ent‐ scheidenden Entwicklungsphase auf dem Weg zu seiner modernen Form, dem Realismus des 19. Jh. In einem anschließenden zweiten Schritt geht es um den experimentellen Umgang mit erzählerischen Verfahren in der Literatur des 20. Jh. Es werden Analysebeispiele auf makrostruktureller (Ganztext-)Ebene auf der Grundlage von Inhaltsangaben sowie mikro‐ strukturelle Analysen anhand von Textauszügen demonstriert und in Übungen vertieft. Zur Person Abb. 9.1 Benito Pérez Galdós (1843 -1920) auf einer 1971 veröffentlichten Sondermarke Die Generación del 68 und der intellektuelle Aufbruch Realismus-- Naturalismus Erneuerung Liberalismus 9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem 9.1.1 Kontext eines literarischen Projekts Benito Pérez Galdós ist mit nicht weniger als 78 Romanen, 24 Theaterstücken und einer großen Zahl von Artikeln einer der produktivsten Autoren der spanischen Literatur und prominenter Vertreter des Realismus in Spanien. Aufgewachsen auf den Kanarischen Inseln in bürgerlichem Milieu, lernt Galdós schon früh die englische Sprache und Literatur kennen und beginnt im Alter von 20 Jahren das Jura-Studium in Madrid. Er verkehrt in den tertulias, Gesprächskreisen, die Zentren des intellektuellen Lebens der Hauptstadt waren, und im Ateneo, einer damals außerordentlich einflussreichen privaten Akademie. Nach einem Frankreichaufenthalt, während dessen er sich mit den Werken Balzacs und Dickens’ beschäftigt, bricht er sein Studium ab und widmet sich ab 1870 ganz der Schriftstellerei, schon bald mit großem Erfolg. 1889 wird er in die Real Academia Española aufgenommen. Überdies engagiert er sich politisch und wird mehrmals als Abgeordneter ins Parlament gewählt, zunächst als liberaler Monarchist, dann nach der Jahrhundertwende zweimal für die Sozialisten. Galdós ist der herausragende Vertreter einer Aufbruchsbewegung, die ge‐ mäß dem für die spanische Literatur häufig herangezogenen Generationen‐ modell als Generación del 68 bezeichnet wird und zu der weitere sehr bekannte AutorInnen wie Pedro Antonio de Alarcón (1833-91), José María de Pereda (1833-1906), Clarín (Pseudonym von Leopoldo Alas, 1852-1901) und Emilia Pardo Bazán (1851-1921) zählen. Bei aller Verschiedenheit lassen sich die ge‐ nannten Autoren annähernd auf den gemeinsamen Nenner einerseits des li‐ terarischen Realismus, von dem noch die Rede sein wird, und des Naturalis‐ mus, andererseits einer Sehnsucht nach politischer Erneuerung Spaniens und eines entsprechenden literarischen Engagements bringen. Ihre Werke be‐ schäftigen sich mit Spanien, seinem Nationalcharakter und seinen Werten, und stellen die Frage nach dem Weg aus einer nicht zu Unrecht als krisenhaft empfundenen Gegenwart. Diese Frage möchten - vereinfacht gesagt - man‐ che mit der Rückbesinnung auf das vermeintlich originär Spanische, die Tra‐ ditionen und Werte der Vergangenheit, manche mit zivilisatorischer und technischer Innovation sowie politischer Öffnung beantwortet sehen, etwa nach dem Vorbild europäischer Nachbarländer. Galdós vertritt entschieden die zweite, liberale Position und befürwortet den Anschluss an die europäi‐ sche Entwicklung sowie die Demokratisierung. 9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem 183 ‚Zweigleisiges‘ Romanprojekt Episodios nacionales ! Karlistenkriege: Aufstände absolutis‐ tisch-katholischer Kräfte gegen die liberale Regie‐ rung, benannt nach dem 1830 aus der Thronfolge verdrängten Don Carlos (V.) Novelas contemporáneas Abb. 9.2: Erschießung von Aufständischen in Estella (1836) während des ersten Karlisten‐ kriegs (anonyme Zeichnung von 1846) Das umfassende Romanprojekt, das Galdós nach dem Modell der Comédie hu‐ maine von Honoré de Balzac entwirft, besteht aus zwei Serien, die einen un‐ terschiedlichen Zeitrahmen in den Blick nehmen, aber nicht zuletzt aufgrund einer bestimmten sozialen und politischen Perspektivierung und der (eben‐ falls an Balzac angelehnten) Technik wiederkehrender Figuren zwischen den Romanen durchaus ein Ganzes bilden. Die Episodios nacionales sind relativ kurze Texte über die jüngste politische Geschichte und decken den Zeitraum von der Seeschlacht von Trafalgar 1805 (Trafalgar, 1873), in der die alliierte spanisch-französische Flotte durch die Engländer unter Admiral Nelson ge‐ schlagen wurde, bis zum Ende des dritten Karlistenkriegs 1876 unter Cánovas del Castillo (Cánovas, 1912) ab. Es handelt sich gleichsam um Momentaufnah‐ men ‚individualisierter‘ Geschichte, also entsprechend der Gattung des histo‐ rischen Romans um die Einbettung des Einzelnen in die bekannten großen Zusammenhänge, worin freilich der Mehrwert der romanhaften gegenüber der objektiv-historischen Darstellung besteht. Das synchrone Pendant hierzu bil‐ den die Novelas contemporáneas, die in ihren überwiegend in der Hauptstadt Madrid situierten Plots das Ringen Spaniens um den Anschluss an die Mo‐ derne und die ihn hemmenden rückwärtsgewandten Kräfte thematisieren. Historischer Wendepunkt für Galdós - und das macht ihn zum exemplari‐ schen Vertreter der Generación del 68 - sind dabei die sechs Jahre Liberalis‐ mus nach der Septemberrevolution von 1868, das sog. sexenio democrático, in dessen Verlauf es zu einer ersten kurzlebigen Republik auf spanischem Boden kommt. Galdós’ politische Warte ist denn auch stets die des Liberalen, sein 184 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Politisches Engagement und Polarisierung ‚Zwei Spanien‘ Mimesis und Realismus Definition Vorgebliche Wirklichkeits‐ entsprechung Text 9.1 Benito Pérez Galdós: „Observaciones sobre la novela contemporánea en España“ (1870) sozialer Fokus liegt auf der bürgerlichen Mittelschicht, die für ihn Träger der Entwicklung ist und der er im späteren Werk unter der Restauration Versa‐ gen vorwirft. Seine Tendenz zeigt sich, insbesondere in den frühen Werken, auch in einer starken Polarisierung: Spanien ist in seinen Romanen Bühne antagonistischer Kräfte, Schauplatz des Widerstreits zwischen einem mo‐ dern-liberalen und einem traditionalistisch-konservativen Weltbild, womit er das in der spanischen Kulturgeschichte immer wieder diskutierte Thema der ‚Zwei Spanien‘ in besonders drastischer Form aktualisiert. Ungeachtet der von Galdós kaum verhohlenen Parteinahme erhebt sein Werk durchaus den An‐ spruch, ähnlich wie Balzacs Comédie humaine die Totalität gesellschaftlicher Wirklichkeit der ersten Hälfte des 19. Jh. exemplarisch darzustellen, vertritt also neben der auf politische Bildung und Beeinflussung der Leserschaft aus‐ gerichteten Intention auch eine mimetische Poetik (vgl. Einheit 2.1). Wenn Galdós für die spanische Literatur ein Modell realistischen Schreibens par ex‐ cellence schafft, das ‚Realismus‘ mit zu einem Epochenbegriff macht, dann liegt das einerseits sicherlich an dem angestrebten Wirklichkeitsbezug seiner Ro‐ mane, andererseits aber auch an der Erzähltechnik, denn: Der Begriff Realismus verweist an sich weniger auf einen exakten Wirk‐ lichkeitsbezug - denn die realistischen Texte sind doch nahezu immer fiktional und nicht im strengen Sinne realitätsbezogen - als auf eine spezifische Darstellungsweise, die eine ‚Als-ob-Situation‘ erzeugt und über die Fiktivität der Gegenstände hinwegtäuscht, etwa durch besonders de‐ taillierte Beschreibungen, Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten der empirischen Welt u. ä. Dass das Fiktive aufgrund einer spezifischen Präsentationsweise real, das Reale hingegen mitunter unwirklich scheinen kann, literarischer Realismus also nicht tatsächliche, sondern meist nur vorgebliche Wirklichkeitsentspre‐ chung bedeutet, betont Galdós selbst in seinem programmatischen Aufsatz „Observaciones sobre la novela contemporánea en España“: 1 La verdad es que existe un mundo de novela. En todas las imaginaciones hay el recuerdo, la visión de una sociedad que hemos conocido en nuestras lecturas: y tan familiarizados estamos con ese mundo imaginario que se nos presenta casi siempre con todo el color y la fijeza 1 de la realidad, por más que 2 las innumerables 5 figuras que lo constituyen no hayan existido jamás en la vida, ni los sucesos tengan semejanza ninguna con los que ocurren normalmente entre nosotros. Así es que cuando vemos un acontecimiento extraordinariamente anómalo y singular, decimos que parece cosa de novela; y cuando tropezamos con algún individuo extremadamente raro, le llamamos héroe de novela, y nos reímos de 9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem 185 Aufgabe 9.1 Provinz und Spanienproblem Inhaltsangabe zu Doña Perfecta 10 él porque se nos presenta con toda la extrañeza e inusitada forma con que le hemos visto en aquellos extravagantes libros. En cambio, cuando leemos las admirables obras de arte que produjo Cervantes y hoy hace Charles Dickens, decimos: “¡Qué verdadero es esto! Parece cosa de la vida. Tal o cual personaje, parece que le hemos conocido.” (Galdós: 1990, 108) 1 fijeza Festigkeit-- 2 por más que so sehr, obschon ? Wo wird Galdós’ Parteinahme für eine ‚realistische‘ Poetik sichtbar? Zeigen Sie, wie hier literarische Wertung mit Kanonbildung (vgl. Einheit 2.6) einhergeht. 9.1.2 Doña Perfecta Als Anschauungsmaterial für die Romananalyse soll nun einer der bekann‐ testen Romane Pérez Galdós’ dienen, Doña Perfecta (1876), in dem er im Gegensatz zu den meisten seiner Novelas contemporáneas nicht Madrid, sondern die Provinz zum Mittelpunkt der Darstellung macht. Sie ist für Galdós ein beispielhafter Ort, an dem das für die geistige Modernisierung Spaniens entscheidende Problem der Religion und der Toleranz verhandelt werden kann - mit einem klaren publikumsbildenden Engagement, für das dem Autor nach dem Ende des letzten Karlistenkriegs 1876 der richtige historische Moment gekommen zu sein schien. Der junge, gebildete und weltläufige Ingenieur Pepe Rey reist aus Madrid in die Provinzstadt Orbajosa, um seine Tante Perfecta, die neben dem Kleriker don Inocencio in der religiös-konservativen und antiliberalen Gesellschaft ihres Ortes eine Führungsrolle spielt, und deren Tochter Rosario zu besuchen. Hintergrund des Besuchs ist die von Pepes Vater vorgeschlagene Eheschließung zwischen seinem Sohn und Rosario. Perfecta, die sich ihrem Bruder nicht zuletzt aufgrund seiner früheren finanziellen Unterstützung verpflichtet fühlt, befürwortet zunächst diesen Plan. Pepe ist von Rosario angetan, nicht jedoch von Orbajosa. Die anfangs nur auf dem verwahrlosten Erscheinungsbild des Ortes beruhende Abneigung Pepes bekommt weitere Nahrung durch die sich mehr und mehr abzeichnende Rückständigkeit der Bewohner sowie den unaufgeklärten Katholizismus, die Pepe Rey besonders in Gestalt des Geistlichen don Inocencio brüsk gegenübertreten. Die ihrerseits unübersehbare Lust des Städters an der Provokation und sein ungestü‐ mes Drängen auf Veränderung lässt die anfängliche vordergründige Freundlichkeit der Bewohner Orbajosas in immer deutlichere Ablehnung umschlagen. Allein im Verhältnis zu Rosario entwickelt sich Nähe und schließlich Liebe. Doña Perfecta ist allerdings inzwischen entschlossen, die Verbindung ihrer Tochter mit Pepe Rey 186 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Aufgabe 9.2 Aufgabe 9.3 um jeden Preis zu verhindern und weitere Begegnungen zwischen den beiden zu unterbinden. Eines Morgens werden Truppen aus Madrid nach Orbajosa verlegt, um karlistische Umtriebe gegen die liberale Zentralregierung zu stoppen. Es stellt sich heraus, dass der Oberst der Kavallerie, der im Hause doña Perfectas einquar‐ tiert wird, Pinzón, ein alter Freund Pepe Reys ist. Nach dessen offenem Bruch mit der Tante gewährleistet Pinzón die Kommunikation zwischen den Liebenden und gibt Pepe zudem ein Gefühl der Sicherheit, ungeachtet des wachsenden, sich im Haus Perfectas selbst formierenden Widerstands der Bewohner Orbajosas gegen die Militärs und mit ihnen Pepe Rey. Die Bedrohung wird indes konkret: María Remedios, die Hausdame Perfectas und Nichte Inocencios, schlägt vor, ihm nachts aufzulauern und ihn einzuschüchtern; insgeheim ist sie vom Wunsch besessen, ihren Sohn Jacinto an Pepes Stelle mit Rosario zu verheiraten und damit den sozialen Aufstieg ihrer Familie zu vollenden. Als Perfecta ihre Tochter bei dem Versuch ertappt, nachts heimlich zu Pepe zu gehen, eskaliert die Situation: Rosario verteidigt ihre Liebe und kündigt an, Pepe zu heiraten und mit ihm zu gehen, woraufhin Perfecta unverzüglich ihre Getreuen mobilisiert, insbesondere den einfältigen, grobschlächtigen Caballuco. Kurz darauf findet man Pepe Rey erschossen im Garten. Die offizielle Erklärung lautet Selbstmord. Rosario verfällt dem Wahnsinn, doña Perfecta flieht in übersteigerte Religiosität. ? Wenden Sie das Aktantenmodell von Greimas auf den Roman, soweit Sie ihn nun kennen, an. Wie stellt sich Ihrer Meinung nach die Personen‐ konstellation dar? ? Beschreiben Sie in Kenntnis des Lotmanschen Ansatzes die Raum‐ struktur der erzählten Welt und bringen Sie sie mit der politischen Position des Autors in Zusammenhang. Achten Sie hierbei insbesondere auf die semantischen Konnotationen verschiedener Räume und ihrer Angehörigen. Die Beziehung zwischen dem Protagonisten und Rosario bildet nicht nur innerfiktional den Anstoß für die Handlung, sondern stellt auch im weiteren Verlauf die zentrale Achse dar, um die herum sich der Konflikt entwickelt: Rosario ist zu Beginn für Pepe bestimmt, der während des gesamten Romans auf sie als Ziel (oder ‚Objekt‘ im Sinne Greimas’) ausgerichtet bleibt und zudem von ihr dabei unterstützt wird. Die bei Romanbeginn vorgezeichnete Handlungs‐ tendenz wird hinsichtlich dieser beiden Figuren beibehalten bzw. verstärkt. Gegenüber dieser Konstante schöpft der Roman seine Dynamik aus dem sich vom zunächst Positiven zum Negativen umkehrenden Verhältnis Pepes zu den übrigen Bewohnern Orbajosas: Sie alle, die zunächst für die LeserInnen mehr 9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem 187 Doppelte Grenzüberschrei‐ tung Restitutive Handlung Topographische, topologi‐ sche und semantische Opposition ! Kazikentum: Inoffiziel‐ les System politischer Einflussnahme einer loka‐ len gesellschaftlichen Füh‐ rungsperson (cacique) oder minder als Helfer erscheinen, werden zu Gegnern. Mit Greimas ließe sich die Konstellation der in unserem Resümee erwähnten Figuren ungefähr wie in Abb. 9.3 (gegenüberliegende Seite oben) veranschaulichen. Das Sujet des Textes lässt sich bereits anhand der Personenkonstellation, aber auch an der räumlichen Struktur ablesen, und dies sogar in doppeltem Sinne: Pepe Rey verlässt ‚seinen‘ Raum Madrid und kommt in die Provinz; diese Grenzüberschreitung spiegelt Rosario, indem Sie sich anschickt, ‚ihren‘ Raum zu verlassen und mit Pepe in die Stadt zu gehen. Durch die Ermordung des Protagonisten wird dessen Transgression aufgehoben, die seiner Verlob‐ ten verhindert - beide Grenzüberschreitungen sind letztlich ohne Bestand, was in der Terminologie Lotmans zu einer restitutiven Handlung führt. Die notwendige Opposition der Teilräume ist in Galdós’ Roman außerordentlich deutlich markiert. Sie besteht auf topographischer Ebene in dem Gegensatz zwischen der Großstadt Madrid und dem Provinzstädtchen Orbajosa, in der hierzu parallelen topologischen Verortung im Zentrum bzw. in der Peripherie sowie - und das ist freilich der wichtigste Aspekt - in einer vielschichtigen semantischen Antithese: Kazikentum (caciquismo) und Selbstjustiz versus Rechtsstaatlichkeit, katholischer Traditionalismus versus aufgeklärtes Fort‐ schrittsdenken, Karlismus versus Liberalismus, Armut versus Prosperität. Abb. 9.3: Mögliches Aktantenmodell zu Doña Perfecta 188 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Semantische Einordnung der Figuren durch den Text Namen Text 9.2 Benito Pérez Galdós: Doña Perfecta, Kap. 2 Rollen und Symbolwert der Figuren Hochzeit der ‚Zwei Spanien‘ Text 9.3 Benito Pérez Galdós: Doña Perfecta, Kap. 1 Galdós’ Sorge um eine klare politische Aussage, die sich auf die ästhetische Qualität seines Romans mitunter nachteilig auswirkt, zeigt sich dadurch, dass die semantische Einordnung der Figuren nicht allein durch ihre eindeutige Zugehörigkeit zu einem der Teilräume, sondern zudem über ‚sprechende‘ Namen nahegelegt wird. Caballuco ist nicht nur ein versierter Reiter, sondern er ist im übertragenen Sinne auch derjenige, der sich von der Kazikin und dem Dorfgeistlichen lenken lässt und die ausführende, selbst aber nicht ver‐ antwortliche Kraft (auch in physischem Sinne) darstellt. Die eigentlich posi‐ tive Konnotation der Namen Perfecta und Inocencio erweist sich angesichts eines frühen Kommentars des Protagonisten als ironisch. Im zweiten Kapitel stellt er bei seinem Pferderitt durch die karge Provinz wiederholt die Diskre‐ panz zwischen Benennung und tatsächlicher Beschaffenheit fest: - ¿El Cerrillo de los Lirios? -- dijo el caballero, saliendo de su meditación--. ¡Cómo abundan los nombres poéticos en estos sitios tan feos! […] Palabras hermosas, realidad prosaica y miserable. (Galdós: 1996, 13) Wie der erzählte Raum sind auch die Rollen der einzelnen Figuren relativ klar abgegrenzt, was ihre symbolische Qualität unterstreicht. Gegenüber dem rückwärtsgewandten Kazikentum (Perfecta) und dem unaufgeklärten Katho‐ lizismus (Inocencio) lässt sich Rosario als Verkörperung eines jungen pro‐ vinziellen Spanien lesen, das noch offen ist für die Stimme des Fortschritts und mit dem eine Vereinigung möglich ist; nicht umsonst bildet Rosario mit Pepe Rey die einzige konfliktfreie Beziehungsebene des Romans, die Liebe, wohingegen alle anderen Ebenen - politisch, weltanschaulich, rechtlich, wirtschaftlich - vom Konflikt des Protagonisten mit Orbajosa bestimmt sind. Pepe Rey als Symbol des Liberalismus und des Fortschritts findet seinerseits nicht umsonst den Militär Pinzón als alter ego neben sich, da er wie dieser den Fortschritt notfalls mit Gewalt nach Orbajosa zu bringen sucht. Die Hochzeit zwischen Rosario und Pepe Rey, die gleichermaßen den Ausgangs- und Ziel‐ punkt des Plots darstellt, wird so in recht offensichtlicher Weise als Vereini‐ gung der ‚Zwei Spanien‘ lesbar, die von den rückwärtsgerichteten Kräften (Perfecta) ebenso heimtückisch wie brutal verhindert wird. Sehen wir uns nun Passagen des Textes für exemplarische Mikroanalysen an. Der Roman setzt ein mit dem ersten Kontakt des Madrider Ingenieurs mit der Provinz im schäbigen Bahnhof von Villahorrenda. Dieses Einstiegskapitel hat nicht nur expositorische Funktion im Hinblick auf den Protagonisten, sondern stellt zugleich grundlegende Lektüreregeln für den Roman auf. 1 Cuando el tren mixto descendente, núm. 65 (no es preciso nombrar la línea), se detuvo en la pequeña estación situada entre los kilómetros 171 y 172, casi todos los viajeros de segunda y tercera clase se quedaron durmiendo o bostezando 1 dentro de los coches, porque el frío penetrante de la madrugada no convidaba 9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem 189 5 a pasear por el desamparado 2 andén. El único viajero de primera 3 que en el tren venía bajó apresuradamente, y dirigiéndose a los empleados, preguntóles si aquél era el apeadero 4 de Villahorrenda. (Este nombre, como otros muchos que después se verán, es propiedad del autor.) 10 - En Villahorrenda estamos - repuso el conductor, cuya voz se confundía con el cacarear de las gallinas que en aquel momento eran subidas al furgón 5 --. Se me había olvidado llamarle a usted, señor de Rey. Creo que ahí le esperan a usted con las caballerías. - ¡Pero hace aquí un frío de tres mil demonios! - dijo el viajero envolviéndose en su manta-. ¿No hay en el apeadero algún sitio dónde descansar y 15 reponerse antes de emprender un viaje a caballo por este país de hielo? No había concluido de hablar, cuando el conductor, llamado por las apre‐ miantes 6 obligaciones de su oficio, marchóse, dejando a nuestro desconocido caballero con la palabra en la boca. Vio éste que se acercaba otro empleado con un farol pendiente de la derecha mano, el cual movíase al compás de la marcha 7 , 20 proyectando geométrica serie de ondulaciones luminosas. La luz caía sobre el piso del andén, formando un zig-zag semejante al que describe la lluvia de una regadera. - ¿Hay fonda o dormitorio en la estación de Villahorrenda? - preguntó el viajero al del farol. 25 - Aquí no hay nada - respondió éste secamente, corriendo hacia los que cargaban y echándoles tal rociada 8 de votos, juramentos, blasfemias y atroces invocaciones que hasta las gallinas escandalizadas de tan grosera brutalidad, murmuraron dentro de sus cestas. - Lo mejor será salir de aquí a toda prisa - dijo el caballero para su capote 9 --. 30 El conductor me anunció que ahí estaban las caballerías 10 . Esto pensaba, cuando sintió que una sutil y respetuosa mano le tiraba suave‐ mente del abrigo. Volvióse y vio una oscura masa de paño pardo sobre sí misma revuelta y por cuyo principal pliegue asomaba el avellanado 11 rostro astuto de un labriego castellano. Fijóse en la desgarbada 12 estatura que recordaba al chopo 13 en- 35 tre los vegetales; vio los sagaces ojos que bajo el ala de ancho sombrero de terciopelo viejo resplandecían; vio la mano morena y acerada que empuñaba una vara verde, y el ancho pie que, al moverse, hacía sonajear el hierro de la espuela. - ¿Es usted el señor don José de Rey? - preguntó echando mano al 40 sombrero. - Sí; y usted - repuso el caballero con alegría - será el criado de doña Perfecta que viene a buscarme a este apeadero para conducirme a Orbajosa. - El mismo. Cuando usted guste marchar… La jaca corre como el viento. Me parece que el señor don José ha de ser buen jinete. Verdad es que a quien de casta 45 le viene… 190 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Aufgabe 9.4 Aufgabe 9.5 Aufgabe 9.6 Vermeintlicher Wirklich‐ keitsbezug - ¿Por dónde se sale? - dijo el viajero con impaciencia -. Vamos, vámonos de aquí, señor… ¿Cómo se llama usted? - Me llamo Pedro Lucas - respondió el del paño pardo, repitiendo la intención de quitarse el sombrero-- pero me llaman el tío Licurgo. ¿En dónde está el equi- 50 paje del señorito? - Allí bajo el reloj lo veo. Son tres bultos. Dos maletas y un mundo de libros para el señor don Cayetano. Tome usted el talón. Un momento después señor y escudero hallábanse a espaldas de la barraca llamada estación, frente a un caminejo que partiendo de allí se perdía en las veci- 55 nas lomas desnudas, donde confusamente se distinguía el miserable caserío 14 de Villahorrenda. Tres caballerías debían transportar todo, hombres y mundos.-[…] Antes de que la caravana se pusiese en movimiento, partió el tren-[…]. Al entrar en el túnel del kilómetro 172, lanzó el vapor por el silbato 15 , y un aullido 60 estrepitoso 16 resonó en los aires. El túnel, echando por su negra boca un hálito blanquecino, clamoreaba como una trompeta, al oír su enorme voz, despertaban aldeas, villas, ciudades, provincias. Aquí cantaba un gallo, más allá otro. Principiaba a amanecer. (Pérez Galdós: 1996, 7-10) 1 bostezar gähnen - 2 desamparado verlassen - 3 de primera = de primera clase - 4 apeadero Haltestelle - 5 furgón Gepäckwagen - 6 apremiante dringend - 7 al compás de la marcha im Rhythmus des Schritts - 8 rociada Schwall - 9 capote Regenmantel - 10 caballería hier: Pferd - 11 avellanado haselnussfarben, hier: dunkel - 12 desgarbado grobschlächtig - 13 chopo Pappel - 14 caserío Weiler - 15 silbato Pfeife-- 16 aullido estrepitoso ohrenbetäubendes Geheul ? Inwiefern verdeutlicht der Textauszug die Vereinbarkeit von Realismus und Fiktionalität? ? Untersuchen Sie die vorhandenen Motive auf Isotopien und beziehen Sie sie auf die Struktur des erzählten Raums. ? Zeigen Sie die Parteinahme des Autors. Bedienen Sie sich dabei narratologischer Kategorien. Gleich zu Beginn stellt der Text den realismustypischen Eindruck von Wirk‐ lichkeitsbezug her, indem das Geschehen anhand exakter Koordinaten lokalisiert wird („el tren mixto descendente, núm. 65“, „estación situada entre los kilómetros 171 y 172“ [1 f.]). Diese Referenzialität ist allerdings eine nur 9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem 191 Fiktionalität Realitätseffekt Negativ konnotierte Isotopien Abgrenzung des Protagonisten scheinbare, da die Kilometerangaben aufgrund der explizit nicht genannten Bahnlinie („no es preciso nombrar la línea“) keine Verortung in der tatsäch‐ lichen spanischen Provinz ermöglichen und zudem weitere Fiktionalitätssig‐ nale („autor“ [8], „nuestro desconocido caballero“ [17 f.]) eine strikt realitäts‐ bezogene Lektüre verhindern. Der Text suggeriert so Wirklichkeitsnähe bei gleichzeitiger Exemplarität und Allgemeingültigkeit des Dargestellten: Was hier so genau beschrieben wird, kann überall in Spanien sein. Der Realismus der Darstellung speist sich weiter aus einer Vielzahl von Details, die der er‐ zählten Welt Konsistenz und Kontur verleihen, also eine konkrete Vorstellung von ihr begünstigen. Hierzu gehören insbesondere eine Reihe freier, d. h. im weiteren Verlauf nicht handlungsrelevanter Motive, deren Aufgabe es ist, ei‐ nen Realitätseffekt (vgl. Einheit 8.3.2) zu erzeugen, so etwa die eingehend beschriebenen Lichtreflexe, die die Lampe des Bahnbediensteten auf den Bahnsteig wirft („un farol pendiente de la derecha mano, el cual movíase al compás de la marcha, proyectando geométrica serie de ondulaciones lumi‐ nosas“ [19 ff.] usw.). Die meisten Motive der Schilderung besitzen allerdings semantische Ge‐ meinsamkeiten, die für die Struktur des erzählten Raums und damit für den Gesamttext durchaus bedeutsam sind. Der überaus negative Eindruck vom Schauplatz dieses Kapitels beruht, wie ein genauerer Blick zeigt, auf einer Reihe solcher Isotopien. Hierzu zählen etwa die Verlassenheit und Traurigkeit des Or‐ tes („desamparado andén“ [5], „Aquí no hay nada“ [25], „barraca llamada esta‐ ción“ [53 f.], „lomas desnudas“ [55], „miserable caserío“ [55]), die Kälte („el frío penetrante de la madrugada“ [4], „un frío de tres mil demonios“ [13], „país de hielo“ [15]), die Grobschlächtigkeit der Menschen („dejando a nuestro descono‐ cido caballero con la palabra en la boca“ [17 f.], „respondió éste secamente, cor‐ riendo hacia los que cargaban y echándoles tal rociada de votos, juramentos, blasfemias y atroces invocaciones […]“ [25 ff.], „grosera brutalidad“ [27]), die ironisch mit dem mehrfach erwähnten Gegacker der Hühner überblendet wird („cuya voz se confundía con el cacarear de las gallinas“ [9 f.]) sowie die Dun‐ kelheit, insbesondere in der Beschreibung des Pedro Lucas („oscura masa de paño pardo“ [32], „avellanado rostro“ [33], „mano morena“ [36]), die mit der Dunkelheit der Nacht („madrugada“ [4]) vor dem Sonnenaufgang und dem Handlungsauftakt am Ende des Kapitels korrespondiert. Diese umfassende, weil mehrere Sinne einbeziehende Negativcharakteri‐ sierung findet ihr Gegenstück in der Figur des Pepe Rey, nicht nur durch dessen Fremdheit und seinen mehrfach betonten Abscheu angesichts der Umgebung („Pero hace aquí un frío de tres mil demonios“ [13], „Lo mejor será salir de aquí a toda prisa“ [29], „Vamos, vámonos de aquí, señor“ [46 f.]), sondern auch durch einige wenige Elemente, die ihn jedoch signifikant von der Umgebung absetzen: das soziale Niveau („[e]l único viajero de primera que en el tren venía“ [5 f.]), die Ungeduld („apresuradamente“ [6], „con impa‐ 192 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Zwei Sphären Parteinahme des Autors Heterodiegetischer Erzähler-Autor Interne Fokalisierung Aufgabe 9.7 Text 9.4 Benito Pérez Galdós: Doña Perfecta, Kap. 18 ciencia“ [46]; vgl. dagegen die Trägheit des Aufbruchs) sowie die Bildung („un mundo de libros“ [51]). Hinter diesem Kontrast verbirgt sich die Opposition zweier Sphären, nämlich Stadt und Land, die ihrerseits u. a. mit Fortschritt bzw. Zurückgebliebenheit assoziiert sind, was sich im vorliegenden Text be‐ reits anhand der Verkehrsmittel (Zug vs. Pferd) zeigt. Der Zug als Symbol des technischen Fortschritts wird erneut am Ende in geradezu ironischer Weise an die Stelle der ländlichen Umgebung gesetzt, indem er und nicht die Hähne, mit denen das Kapitel endet, die Welt aufweckt. Diese Beobachtungen zeigen, dass sich bereits in diesem ersten Kapitel das Ereignis im Sinne Jurij M. Lotmans vollzieht, nämlich die Überschreitung ei‐ ner Grenze, die vom Protagonisten und seinesgleichen im Regelfall nicht überschritten werden kann oder wird - und in der Tat ist Pepe Rey, wie wir oben bereits sahen, offenbar der einzige seiner ‚Art‘, der in Villahorrenda aussteigt („[e]l único viajero de primera“ [5]). Innerhalb der Opposition zwi‐ schen liberal-progressivem und konservativ-restriktivem ‚schwarzen‘ Spa‐ nien zeigt sich Galdós’ Parteinahme für die liberale Seite bereits zu Beginn an dem illusionsbrechenden Verfahren, den sprechenden Namen des Ortes, an dem sich das erste Kapitel abspielt, ausdrücklich als Erfindung des Autors zu kennzeichnen („Este nombre, como otros muchos que después se verán, es propiedad del autor“ [7 f.]), womit dem Namen „Villahorrenda“ („entsetzliche Kleinstadt“) die Qualität eines Kommentars zukommt. Dem entspricht die narrative Gestaltung, da der heterodiegetische Erzähler, der sich eingangs als der Autor zu erkennen gibt, zwar überwiegend extern und damit neutral fokalisiert, jedoch in Bezug auf den Protagonisten - und nur auf ihn - auch interne Fokalisierung zulässt („Lo mejor será salir de aquí a toda prisa-- dijo el caballero para su capote […] Esto pensaba […]“ [29-38]). Er schafft mit diesem Verfahren die Grundlage für eine Identifikation nicht zuletzt des Le‐ sers mit Pepe Rey, der gemäß der Formulierung des Erzählers zu „unserem“, nämlich Galdós’ und des Lesers, Helden wird („nuestro desconocido cabal‐ lero“ [17 f.]). Das einleitende Kapitel erweist sich so als programmatischer Auftakt des politisch engagierten Romans. ? Lesen Sie nun den zweiten Auszug aus Doña Perfecta und beantworten Sie die anschließenden Leitfragen. 1 Y ya que se ha dicho esto tan importante, bueno será añadir que los batallones enviados allá en los días de la historia que referimos no iban a pasearse por las calles; llevaban un objeto que clara y detalladamente se verá más adelante. Como dato de no escaso interés, apuntaremos que lo que aquí se va contando 5 ocurrió en un año que no está muy cerca del presente, ni tampoco muy lejos, así como también puede decirse que Orbajosa (entre los romanos urbs augusta 1 , si 9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem 193 ‚Boom‘ lateinamerikani‐ scher Literatur Buenos Aires-- Paris Abb. 9.4 Julio Cortázar (1914-1984) bien algunos eruditos modernos, examinando el ajosa, opinan que este rabillo 2 lo tiene por ser patria de los mejores ajos 3 del mundo) no está muy lejos ni tampoco muy cerca de Madrid, no debiendo tampoco asegurarse que enclave 10 sus gloriosos cimientos al Norte, ni al Sur, ni al Este, ni al Oeste, sino que es posible esté en todas partes y por doquiera 4 que los españoles revuelvan sus ojos y sientan el picar 5 de sus ajos. (Pérez Galdós: 1996, 167-168) 1 urbs augusta lat.: erhabene Stadt - 2 rabillo hier: Endung - 3 ajo Knoblauch - 4-por doquiera wo auch immer-- 5 picar hier: stechender Geruch ? Kommentieren Sie den Auszug hinsichtlich des Realismus. Welche Stellung nimmt der Erzähler bezüglich der erzählten Welt ein? Mit welchen stilistischen Mitteln beschreibt er sie? 9.2 Selbstbezügliches Erzählen - Julio Cortázar: Continuidad de los parques Mit dem argentinischen Schriftsteller Julio Cortázar begegnen wir im zwei‐ ten Schritt dieser exemplarischen Einheit zur Epikanalyse einer repräsen‐ tativen Figur der neueren spanischsprachigen Literatur. Dies gilt zunächst einmal insofern, als er neben bekannten anderen AutorInnen wie Gabriel García Márquez den sog. ‚Boom‘ der lateinamerikanischen Literatur ab den 1960er Jahren verkörpert, ihn im Urteil nicht weniger Literaturwissen‐ schaftlerInnen sogar ausgelöst hat. Diesem Interesse der breiten europäi‐ schen Öffentlichkeit an lateinamerikanischer Literatur geht ein weniger auffälliger, aber wichtiger Austausch zwischen Lateinamerika und Europa voraus, der sich wesentlich auf der Achse Buenos Aires - Paris abspielt. Julio Cortázar symbolisiert diese bezeichnenderweise schon in seiner Per‐ son: Als Sohn eines argentinischen Handelsattachés und einer franzö‐ sischstämmigen Mutter in Brüssel geboren, kam er über die Schweiz und Spanien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nach Argentinien. Er stu‐ dierte Literatur und Philosophie an der Universität von Buenos Aires und wurde Mitte der 1940er Jahre Professor für französische Literatur in Men‐ doza, bevor er 1951 aufgrund seiner Gegnerschaft zum Peronismus nach Frankreich emigrierte und dort mit Unterbrechungen bis zu seinem Le‐ bensende blieb. Er ist heute als Übersetzer insbesondere von Edgar Allan Poe sowie als Autor von Kurzgeschichten (als deren Meister er neben sei‐ nem Landsmann Jorge Luis Borges gelten kann) und Romanen bekannt. 194 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Abb. 9.5 Jorge Luis Borges (1899-1986), argentini‐ sche 2-Peso-Münze an‐ lässlich seines 100sten Geburtstages Sprachskepsis und ‚Ent‐ machtung‘ des Autors Text 9.5 Julio Cortázar: Continuidad de los parques (1956) Diese greifen-- und das macht ihn in einem dritten Sinne zu einem reprä‐ sentativen Autor der neueren spanischsprachigen Literatur - typische spät‐ moderne Problematiken auf und entwickeln sie weiter. Dazu zählt v. a. der - vom literaturwissenschaftlichen Poststrukturalismus (vgl. Einheit 11.2) geteilte - Zweifel an der Transparenz von Sprache, an ihrer eindeu‐ tigen Zuordnung zu Bedeutung, an der Trennung zwischen Signifikant und Signifikat (vgl. Einheit 1.2, 4.2 und 11.1) und damit an der Abbildbarkeit von Wirklichkeit durch Sprache, die doch dem literarischen Realismus, wie Sie ihn im vorigen Abschnitt streiflichtartig kennengelernt haben, letztlich zu Grunde liegt. Die ästhetischen Ausdrucksmittel Cortázars und anderer avantgardistischer AutorInnen des 20. Jh. führen stattdessen die traditio‐ nellen Erzählformen teils spielerisch, teils phantastisch-verfremdend an ei‐ nen Punkt, wo die vertrauten Kategorien instabil werden und Sprache nicht mehr die Wirklichkeit abbildet und ihr nachgeordnet ist, sondern ein ‚Ei‐ genleben‘ entwickelt. Dementsprechend besitzt der Autor nicht mehr, wie bei Galdós, die ‚Autor-ität‘ in einem wohlgeordneten Textuniversum, son‐ dern der Leser wird explizit zum Mitschaffenden-- etwa in der Weise, dass Cortázar dem Leser im Vorwort seines wohl berühmtesten Romans Ra‐ yuela (1963) bei der Lektüre die Reihenfolge der Kapitel und damit die Struktur des erzählten Plots überlässt. Als Analyseobjekt bietet sich eine der vielen Kurzgeschichten Cortázars an, in denen er phantastische Elemente so dosiert, dass der Bezug zu einer an sich glaubwürdigen Realität bestehen bleibt, diese aber dadurch als umso befremdlicher erscheint und ihre Selbstverständlichkeit für den Leser verliert. Wir wählen Continuidad de los parques, erschienen in Cortázars zweitem Kurzgeschichtenband Final del juego von 1956. Había empezado a leer la novela unos días antes. La abandonó por negocios urgentes, volvió a abrirla cuando regresaba en tren a la finca; se dejaba in‐ teresar lentamente por la trama, por el dibujo de los personajes. Esa tarde, después de escribir una carta a su apoderado 1 y discutir con el mayordomo 2 una 5 cuestión de aparcerías 3 volvió al libro en la tranquilidad del estudio que miraba hacia el parque de los robles. Arrellanado 4 en su sillón favorito de espaldas a la puerta que lo hubiera molestado como una irritante posibilidad de intrusiones 5 , dejó que su mano izquierda acariciara una y otra vez el terciopelo 6 verde y se puso a leer los últimos capítulos. Su memoria retenía sin esfuerzo los nombres 10 y las imágenes de los protagonistas; la ilusión novelesca lo ganó casi en seguida. Gozaba del placer casi perverso de irse desgajando 7 línea a línea de lo que lo rodeaba, y sentir a la vez que su cabeza descansaba cómodamente en el terciopelo del alto respaldo, que los cigarrillos seguían al alcance de la mano, que más allá de los ventanales danzaba el aire del atardecer bajo los robles. 15 Palabra a palabra, absorbido por la sórdida disyuntiva 8 de los héroes, dejándose ir hacia las imágenes que se concertaban y adquirían color y movimiento, fue 9.2 Selbstbezügliches Erzählen - Julio Cortázar: Continuidad de los parques 195 Aufgabe 9.8 testigo del último encuentro en la cabaña del monte. Primero entraba la mujer, recelosa; ahora llegaba el amante, lastimada la cara por el chicotazo 9 de una rama. Admirablemente restañaba 10 ella la sangre con sus besos, pero él rechazaba 20 las caricias, no había venido para repetir las ceremonias de una pasión secreta, protegida por un mundo de hojas secas y senderos furtivos. El puñal se enti‐ biaba 11 contra su pecho, y debajo latía 12 la libertad agazapada 13 . Un diálogo anhelante corría por las páginas como un arroyo de serpientes, y se sentía que todo estaba decidido desde siempre. Hasta esas caricias que enredaban el 25 cuerpo del amante como queriendo retenerlo y disuadirlo, dibujaban abomina‐ blemente la figura de otro cuerpo que era necesario destruir. Nada había sido olvidado: coartadas 14 , azares, posibles errores. A partir de esa hora cada instante tenía su empleo minuciosamente atribuido. El doble repaso despiadado 15 se interrumpía apenas para que una mano acariciara una mejilla. Empezaba a 30 anochecer. Sin mirarse ya, atados rígidamente a la tarea que los esperaba, se separaron en la puerta de la cabaña. Ella debía seguir por la senda que iba al norte. Desde la senda opuesta él se volvió un instante para verla correr con el pelo suelto. Corrió a su vez, parapetándose 16 en los árboles y los setos, hasta distinguir en 35 la bruma malva del crepúsculo la alameda que llevaba a la casa. Los perros no debían ladrar, y no ladraron. El mayordomo no estaría a esa hora, y no estaba. Subió los tres peldaños del porche 17 y entró. Desde la sangre galopando en sus oídos le llegaban las palabras de la mujer: primero una sala azul, des‐ pués una galería, una escalera alfombrada. En lo alto, dos puertas. Nadie en la 40 primera habitación, nadie en la segunda. La puerta del salón, y entonces el puñal en la mano. La luz de los ventanales, el alto respaldo de un sillón de terciopelo verde, la cabeza del hombre en el sillón leyendo una novela. (Cortázar: 1973, 9-11) - 1 apoderado Bevollmächtigter, Verwalter - 2 mayordomo Hausverwalter - 3 aparcería Verpachtung - 4 arrellanado gemütlich ausgebreitet - 5 intrusión Eindringen - 6 terciopelo Samt - 7 desgajar losreißen, -lösen - 8 sórdida disyuntiva schmutzige Alternative, Wahl - 9 chicotazo Schnellen, Hieb - 10 restañar (Blutung) stillen - 11 entibiarse lauwarm werden - 12 latir pulsieren - 13 agazapada kauernd - 14 coartada Alibi - 15 repaso despiadado hier: erbarmungsloses gedank‐ liches Durchspielen - 16 parapetarse sich verstecken - 17 peldaños del porche Treppenstufen zur Veranda ? Beziehen Sie diesen Text auf die allgemeinen Ausführungen zu Cortá‐ zar. Worin besteht das Befremden, das dieser Text beim Leser auslösen kann? 196 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Aufgabe 9.9 Erzählter Leseakt Wiederholungen und ‚Kurz‐ schluss‘ der Ebenen Extradiegetische, intradie‐ getische und metadiegeti‐ sche Ebene ? Beschreiben Sie die narrativen Verfahren, die der Wirkung des Textes zu Grunde liegen. Konzentrieren Sie sich dabei auf die Kategorie der Distanz. Cortázars Kurzgeschichte beschreibt, wie ein Leser sich in die Handlung eines Romans vertieft, in dem zwei Liebende den Mord an einem Dritten planen, der ihnen im Wege steht. Es liegt nahe anzunehmen, dass wir es mit dem trivialen Sujet einer Liebesaffäre und eines Mordes am Ehemann der Frau zu tun haben, aber streng genommen steht das überhaupt nicht im Text, sondern entspringt der Hypothese, die der Leser aufgrund seines Weltwissens über menschliche Untreue oder seines Lektürewissens über publikumswirksame literarische Themen sogleich bildet - ein Beispiel für den hermeneutischen Prozess (vgl. Einheit 4.1). Am Ende betritt die Hauptfigur der gelesenen Ge‐ schichte den Raum, in dem der Leser sitzt, der sich somit als Opfer des fiktiven Verbrechens in dem Roman erweist, den er selbst gerade liest. Die Identität des Mordopfers und des fiktiven Lesers wird dabei unzweideutig durch eine Reihe von Wiederholungen („novela“ [1,42], „mayordomo“ [4,36], „puerta“ [7,40], „terciopelo verde“ [8,41 f.], „alto respaldo“ [13,41], „ventanales“ [14,41]) sowie durch die - bei Kenntnis des Gesamttextes als Vorgriff erkennbare - Angst des fiktiven Lesers vor einem möglichen Eindringling („irritante posi‐ bilidad de intrusiones“, 7) markiert. Der Mörder ‚überspringt‘ also, ohne dass man es während des Lesens wirklich bemerkt, eine der drei Ebenen der Er‐ zählung: Abb. 9.6: Strukturebenen in Continuidad de los parques Die extradiegetische Ebene ist die der für jeden Erzähltext konstitutiven Kom‐ munikation zwischen der Erzählerinstanz und dem impliziten Leser, an des‐ sen Stelle in jedem einzelnen Leseakt vorübergehend der reale Leser tritt; die intradiegetische Ebene ist die (ebenfalls in jedem Erzähltext notwendigerweise vorhandene) erste Handlungsebene; die (nicht notwendige) metadiegetische Ebene ist die der Erzählung in der Erzählung. Normalerweise sind die Ebenen getrennt: So ‚weiß‘ eine Figur normalerweise nicht, dass sie Teil eines erzähl‐ 9.2 Selbstbezügliches Erzählen - Julio Cortázar: Continuidad de los parques 197 Metalepse Distanz Fiktiver Leser als Vermittlerfigur Passivität-Rezeptivität des fiktiven Lesers Freiwerden der Subjektposition Situation auf E 3 mit minimaler Distanz ten und gelesenen Textes ist. Ein Bruch dieser Trennung haben wir unter dem Begriff Metalepse im vorigen Kapitel kennen gelernt. Wie wird dieser Effekt hier narrativ realisiert? Wir hatten festgestellt, dass Erzähltexte durch die Präsenz einer Vermitt‐ lerfigur gekennzeichnet sind und diese Präsenz stärker oder weniger stark markiert sein kann; wir hatten die Bandbreite von Möglichkeiten unter den Begriff der narrativen Distanz gefasst (vgl. Einheit 8.2.3). Im vorliegenden Text besteht eine solche Distanz nicht nur zwischen dem realen Leser (E 1 ) und dem fiktiven Leser (E 2 ), sondern auch zwischen E 1 und der metadiegetischen Ebene E 3 . Die Vermittlerfigur ist hier kein Erzähler, sondern der fiktive Leser, der als einziger die Geschichte E 3 liest und über dessen Wahrnehmung wir an ihr teilhaben. Eine genaue Analyse der Kategorie Distanz anhand des fiktiven Lesers zeigt, dass letzterer und mit ihm die Ebene E 2 aus dem Diskurs ver‐ schwinden. Dies vollzieht sich nahezu unmerklich in mehreren Schritten. Die anfänglich aktive Rolle des fiktiven Lesers, verstärkt durch den abrup‐ ten Beginn der Erzählung, geht rasch in eine passiv-rezeptive Haltung über. Dies ergibt sich scheinbar aus der geschilderten Situation einer Romanlek‐ türe - ‚scheinbar‘ deshalb, weil Lektüre, wie wir schon sahen (vgl. Einheit 4.1, Hermeneutik) und noch sehen werden (vgl. Einheit 10.6), keineswegs ein passiver, sondern äußerst aktiver Vorgang der Bedeutungserzeugung ist -, lässt sich aber auch konkret anhand der Verben aufzeigen: Ab Mitte des zwei‐ ten Satzes, als der Lesevorgang beginnt, drücken die auf den fiktiven Leser bezogenen Verben Passivität und Rezeptivität aus, sei es durch ihre Semantik (dreimal passivisches „lassen“: „se dejaba“ [2], „dejó“ [8], „dejándose ir“ [15 f.]; dann mehrfach Sinneswahrnehmung: „[g]ozaba“ [11], „sentir“ [12], „fue tes‐ tigo“ [16 f.]), sei es durch ihre grammatische Form (Partizip Perfekt mit typi‐ scher Passivbedeutung: „[a]rrellanado“ [6], „absorbido“ [15]). Wo dies nicht der Fall ist, geht die grammatische Subjektposition vom fiktiven Leser meto‐ nymisch auf andere Instanzen über; so behält nicht er die Namen der Figu‐ ren, sondern sein Gedächtnis („[s]u memoria retenía […]“ [9]), nicht er vertieft sich, sondern die Illusion nimmt ihn ein („la ilusión novelesca lo ganó“ [10]), nicht er raucht, sondern die Zigaretten halten sich in Reichweite („los cigarillos seguían al alcance de la mano“ [13]). Dadurch ist die Präsenz des fiktiven Lesers und mit ihr die Distanz so weit reduziert, dass wir ‚nahtlos‘ in E 3 wechseln können („Primero entraba la mujer […]“ [17]), zumal dort nicht gleich eine Handlung, sondern vielmehr eine Situation geschildert wird: die „schmutzige Alternative“ („sórdida disyuntiva“ [15]) der Figuren zwischen Gewalt und Zärtlichkeit, die in Gestalt von Isotopien umgesetzt ist („besos“ [19], „caricias“ [20,24], „pasión“ [20] vs. „sangre“ [19], „puñal“ [21], „destruir“ [26]). Dass die Situation und nicht die Handlungskette oder handelnde Figu‐ ren im Mittelpunkt der Darstellung steht, zeigt sich an den imperfecto-Formen (mit Verben, die im gegebenen Kontext normalerweise im pretérito indefinido 198 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Wechsel der Protagonisten‐ rolle: Metalepse durch Elimination von E 2 Aufgabe 9.10 Aufgabe 9.11 Zusammenfassung stehen würden: „entraba“ [17], „llegaba“ [18], „restañaba“ [19] usw.) sowie dem Umstand, dass auch hier die Subjektposition auffallend häufig nicht von den eigentlich Handelnden eingenommen wird („[e]l puñal se entibiaba“ [21 f.], „latía la libertad“ [22], „[u]n diálogo anhelante corría“ [22 f.], „esas ca‐ ricias […] dibujaban“ [24 f.], „[n]ada había sido olvidado“ [26 f.], „cada instante tenía su empleo“ [27 f.], „[e]l doble repaso despiadado se interrumpía“ [28 f.], „una mano acariciara“ [29]). Die Formulierung „[u]n diálogo anhelante corría por las páginas“ (22 f.) ist zugleich der letzte explizite Hinweis darauf, dass wir es mit einem (fiktiven) Text zu tun haben. Mit Beginn des zweiten und letzten Absatzes erst übernehmen zunächst beide Figuren, dann der Mann die Protagonistenrolle in einer nun im pretérito indefinido gestalteten Handlungskette, die sich in kürzer werdenden und teils elliptischen Sätzen steil auf die Schlusspointe hin beschleunigt. Dass er weniger als Held einer Geschichte-in-der-Geschichte, sondern eher als Protagonist ‚ersten Grades‘ wahrgenommen wird, liegt daran, dass die eigent‐ liche Hauptfigur der ohnehin handlungsarmen und wenig markanten Plot‐ ebene E 2 , nämlich der fiktive Leser, längst schrittweise aus dem erzählerischen Diskurs eliminiert wurde und die narrative Distanz so gering ist, dass wir den Inhalt von E 3 für die intradiegetische Ebene halten können, wodurch die paradoxe Begegnung am Ende des Textes scheinbar ‚bruchlos‘ möglich wird. Ohne den geschulten narratologischen Blick, den Sie in Einheit 8 erworben haben, ist diese Funktionsweise von Cortázars Kurzgeschichte freilich kaum zu erkennen. ? Erstellen Sie einen Strukturplan des Textes, aus dem die schrittweise Vorbereitung der Metalepse, wie wir sie analysiert haben, sichtbar wird. ? Interpretieren Sie den Titel der Erzählung. Eine erste exemplarische Beschäftigung mit spanischsprachiger Erzähl‐ literatur hatte mit Benito Pérez Galdós einen Hauptvertreter des litera‐ rischen Realismus und der ‚Schriftstellergeneration‘ von 1868 zum Ge‐ genstand, dessen Literatur sowohl Wirklichkeitsnähe und erzählerische Glaubwürdigkeit als auch eine Parteinahme zugunsten des politischen Liberalismus und der umfassenden Erneuerung Spaniens anstrebt. Sein Roman Doña Perfecta bezieht aus dem Gegensatz zwischen einem religiös geprägten, rückständigen Provinzspanien und dem weltlich-aufgeklärten und fortschrittlichen Spanien der Metropole sein inhaltliches und struk‐ turelles Grundmodell. Dies lässt sich auf der Makroebene anhand der Personenkonstellation und des erzählten Raums, aber auch mikrostruk‐ 9.2 Selbstbezügliches Erzählen - Julio Cortázar: Continuidad de los parques 199  turell in dem von uns untersuchten ersten Kapitel zeigen, wobei der heterodiegetische Erzähler erkennbar Stimme und Meinung des Autors vertritt. Eine zweite exemplarische Analyse galt antirealistisch-experi‐ mentellen Erzählverfahren des 20. Jh. Julio Cortázars Kurzgeschichte Continuidad de los parques nutzt geschickt eine schrittweise bis zum Extrempunkt reduzierte narrative Distanz, um einen überraschenden Bruch der Wirklichkeitsebenen herbeizuführen und damit die Trennung von Text und Inhalt, Sprache und Wirklichkeit zu problematisieren. Literatur Julio Cortázar: Final del juego. Buenos Aires: Ed. Sudamericana 15 1973. Benito Pérez Galdós: Doña Perfecta. Madrid: Alianza 1996. Benito Pérez Galdós: „Observaciones sobre la novela contemporánea en España“, in: Ders., Ensayos de crítica literaria. Barcelona: Península 2 1990, 105-120. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 200 9 Epik analysieren-- Beispiele und Übungen Kompetenz 3: Literarische Texte theorie- und methodenorientiert interpretieren Überblick 10 Text, Autorschaft und Rezeption Inhalt 10.1 Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze 10.2 Positivismus 10.3 Exkurs: Frühe Philologie in Spanien 10.4 Psychoanalyse 10.5 Literatursoziologie 10.5.1 Marxistische Literaturwissenschaft 10.5.2 Gattungen als ‚Sitz im Leben‘ 10.5.3 Feldtheorie 10.6 Die Rezeption literarischer Werke 10.6.1 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte 10.6.2 Rezeptionsästhetik In diesem ersten Kapitel zu den literaturwissenschaftlichen Interpreta‐ tionsmethoden lernen Sie einige klassische Ansätze kennen, die lite‐ rarische Texte im Hinblick auf die ‚Kardinalpunkte‘ der literarischen Kommunikation erklären, nämlich die AutorInnen und ihr jeweiliger Kontext einerseits und die Leserschaft andererseits. Produktionsorien‐ tierte Zugänge gehen davon aus, dass Literatur ihren Ursprung spiegelt und aus ihm ihre Bedeutung bezieht, sei es auf individueller Ebene, wie positivistische und psychoanalytische Deutungen meinen, sei es auf überindividuell-gesellschaftlicher Ebene, wie die Literatursoziologie in ihren verschiedenen Ausprägungen annimmt. Rezeptionsästhetische Ansätze betonen demgegenüber die Beteiligung der Leserschaft an der Bedeutungskonstruktion, wie sie sich im hermeneutischen Zirkel zeigt. Objektivierung von Verstehen Strukturanalyse Interpretation Pluralität der Interpretationen 10.1 Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze Will man sich über die Bedeutung von literarischen Texten verständigen, so bedarf es einer Objektivierung des prinzipiell subjektiven Verstehensprozes‐ ses. In Einheit 4 wurden zwei Ansatzpunkte für eine solche Objektivierung genannt. Der erste begreift den Text als vorgegebene Menge sprachlicher Zeichen mit einem idealerweise auszumachenden überindividuellen Bedeu‐ tungsgehalt, wie er etwa in Wörterbüchern fixiert wird, und untersucht ihre wechselseitigen Beziehungen. Auf diesen Ansatzpunkt stützt sich die Struk‐ turanalyse, die ein Modell der Funktionsweise eines Textes zu erarbeiten und dabei weitestmöglich von textexternen Faktoren abzusehen versucht. Sie wurde in den zurückliegenden sechs Einheiten anhand der drei Großgattun‐ gen vorgeführt. Der zweite Ansatzpunkt jener Objektivierung besteht darin, die theoretischen Voraussetzungen (Prämissen) und den Weg (Methode), die zu den jeweiligen Befunden geführt haben, offenzulegen und einer kritischen Überprüfung zugänglich zu machen. Eine Aussage über die Bedeutung des Textes, die diesen Ansprüchen genügt, heißt Interpretation. Sie ist unabding‐ bar, um über das Potenzial und den literarhistorischen Stellenwert eines Tex‐ tes zu urteilen, und stellt eines der zentralen Aufgabengebiete der Literatur‐ wissenschaft dar. Die Bandbreite verschiedener, teilweise konträrer Interpretationen eines Textes rühren von den unterschiedlichen Prämissen und methodischen Zu‐ gängen her, die ihnen jeweils zugrunde liegen. Eine gültige Interpretation ist dann gegeben, wenn die Prämissen und der Wortlaut des interpretierten Werks schlüssig zu einer Feststellung über seine Bedeutung vereint werden. Die Prämissen aber werden erst vom jeweils Untersuchenden an den Gegen‐ stand herangetragen; sie müssen ihrerseits natürlich plausibel sein, aber zwingend sind sie in aller Regel nicht. Aus diesem Grund gibt es zu einem bestimmten Zeitpunkt, insbesondere aber auch in verschiedenen Entwick‐ lungsphasen der Literaturwissenschaft, mehrere unterschiedliche Annahmen darüber, worauf sich eine Textdeutung stützen sollte. Da im Gegenstands‐ bereich der Geisteswissenschaften die (auch ‚professionell‘) Verstehenden mit ihren Fragen und Vorerwartungen stets an ihrem Untersuchungsobjekt teilhaben, können konträre Forschungsmeinungen nebeneinander bestehen und beide gleichermaßen ‚objektiv‘ und gültig sein (was nicht bedeutet, dass die jeweiligen VertreterInnen nicht auch energisch um ihre Thesen streiten). Die Vielfalt möglicher Ansätze, die sich im Laufe der Fachgeschichte herausgebildet haben, sollen in den nun folgenden Einheiten in Auswahl umrissen werden. Da es sich nicht selten um recht komplexe Theoriegebäude und Methoden handelt, bleiben die Ausführungen notwendigerweise sum‐ marisch. 10.1 Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze 203 Literarische Kommunikation Autorschaft als Interesse der Interpretation: Produk‐ tionsorientierte Interpreta‐ tionsmodelle Versteht man Literatur als einen Sonderfall sprachlicher Kommunikation, in der von einem Sender eine Botschaft auf einem Trägermedium über einen Kanal an einen Empfänger übermittelt wird, der sich, wie wir im Zusam‐ menhang mit der Hermeneutik bereits sahen, dialogisch mit der Botschaft auseinandersetzt und sie mitgestaltet, so zeigt sich eine Reihe möglicher Faktoren, die eine Interpretationsmethode in den Mittelpunkt rücken kann. Abb. 10.1: Vereinfachtes Modell literarischer Kommunikation Eine auf den Text bezogene, also textimmanente Herangehensweise haben Sie bereits mit der Strukturanalyse in Theorie und Praxis kennengelernt. Da jegliche Interpretation sich zwangsläufig auf den Text bezieht, auf diesem also immer der Fokus liegt, bildet die Strukturanalyse auch eine sinnvolle Vorar‐ beit für Textinterpretation allgemein. Interessiert man sich nicht nur für eine sprachliche Äußerung als solche, liegt es wohl am nächsten, nach ihrem Ur‐ heber oder ihrer Urheberin zu fragen - schließlich gilt ihm auch im Alltag oft der erste Blick, etwa bei einem Brief, den man bekommt, oder beim Stöbern in einer Buchhandlung. Eine fachgeschichtlich besonders frühe Frage ist da‐ her die nach der Autorin bzw. dem Autor. Produktionsorientierte Interpretati‐ onsmodelle, die also von der Prämisse ausgehen, dass es für den Sinn und die Relevanz eines Textes entscheidend ist, von wem und aus welchem Kontext heraus er verfasst wurde, haben, in sehr unterschiedlicher Ausprägung und mit wechselnder Konjunktur, bis heute ihren Platz im literaturwissenschaft‐ lichen Instrumentarium. Einige prominente produktionsästhetische Ansätze (estética de la producción) werden in den nun folgenden Kapiteln 10.2 bis 10.5 skizziert. 204 10 Text, Autorschaft und Rezeption Positivismus: Objektivität der Fakten Abb. 10.2 Hippolyte Taine (1828 -1893) Rasse, Milieu, Moment Literatur: Naturalismus 10.2 Positivismus Literarische Texte zeichnen sich meist dadurch aus, dass sie ihre Gegenstände selbst erzeugen und sich auch, im Unterschied zu Sachtexten, nicht daran messen lassen (müssen), inwieweit sie mit realen, überprüfbaren Gegeben‐ heiten übereinstimmen. Jedoch erschöpft sich ein Text nicht in der von ihm dargestellten Textbedeutung, sondern besitzt darüber hinaus eine bestimmte Botschaft, Aussageabsicht, ein Ziel oder einen Textsinn. Dieser Sinn ist immer Sinn für jemanden, und es erscheint durchaus plausibel, sich hier auf die Per‐ son, die den Text verfasst hat, und ihre lebensweltliche und intellektuelle Umgebung zu konzentrieren und literarische Werke als Verweis auf Wirk‐ lichkeit (mimetisch) oder Autorpersönlichkeit (expressiv) zu lesen. Wenn‐ gleich es durchaus Texte gibt, die ihren eigenen literarischen Ursprungs‐ standort und ihren Zweck explizit thematisieren (Autobiographien beispielsweise), haben wir es doch zumeist mit einer indirekten Form der Widerspie‐ gelung zu tun. Eine produktionsorientierte Herangehensweise, die bei der Ermittlung die‐ ser Widerspiegelung eine Objektivität nach dem Vorbild der Naturwissen‐ schaften anstrebt, ist der Positivismus (positivismo). Er geht zurück auf das Erkenntnis- und Geschichtsmodell, das Auguste Comte in seinem Cours de philosophie positive (1830-42) entwickelte, und ist hinsichtlich der Anwen‐ dung auf Literatur v. a. mit dem Namen Hippolyte Taine verbunden. Der Be‐ griff ‚Positivismus‘ leitet sich von der programmatischen Beschränkung auf ‚positive‘, d. h. beobachtbare Fakten ab. Unter Ausklammerung subjektiven Verstehens entwickelte Taine eine Theorie, der zufolge Literatur sich kausal auf objektiv beschreibbare Determinanten zurückführen lässt. Diese sind für ihn Rasse (span. raza), Milieu (span. medio, ambiente) und Moment (span. momento): Rasse bezeichnet im Unterschied zu den unguten Assoziationen des Begriffs im Deutschen nicht nur Ererbtes, sondern auch soviel wie ‚Na‐ tionalcharakter‘, Moment den geschichtlichen Zeitpunkt einer kulturellen Erscheinung bzw. ihres Urhebers, Milieu als der wichtigste Terminus deren soziale Ursprungsumgebung. Als literarisches Konzept hat Taines Positivis‐ mus sich v. a. im Naturalismus des 19. Jh. niedergeschlagen. Als literaturwis‐ senschaftlicher Zugang widmete sich der Positivismus einem ausgiebigen Quellenstudium, das insbesondere den biographischen Fakten zur jeweiligen Autorin bzw. zum jeweiligen Autor und deren Umfeld sowie dem jeweiligen Text und seinen mutmaßlichen Vorgängern galt, wobei man sich zuallererst mit einer genauen Ermittlung der Textgestalt im Rahmen der Editionsphilo‐ logie beschäftigte. Das Ziel war die Schaffung einer möglichst großen Basis belegbarer außertextueller, aber den Textsinn determinierender Fakten und der Verzicht auf eine wie auch immer geartete ‚ideologische‘ oder systema‐ tisierende Interpretationsperspektive seitens des Untersuchenden. 10.2 Positivismus 205 Problematik des literatur‐ wissenschaftlichen Positi‐ vismus Leistungen positivistischer Literaturwissenschaft Abb. 10.3 Marcelino Menéndez Pelayo (1856-1912) ! Geistesgeschichte (histo‐ ria de las ideas oder del pensamiento): Forschungs‐ richtung, die Kunst als Aus‐ Der Positivismus ist in seiner Reinform aus heutiger Sicht unhaltbar, da er etwa Einsichten der Hermeneutik in die Eigengesetzlichkeit kulturel‐ ler Untersuchungsgegenstände und damit der Geisteswissenschaften (vgl. Einheit 3.3) nicht berücksichtigt, was dazu geführt hat, dass der Begriff „positivistisch“ spätestens seit den 1960er Jahren mithin eher als Schimpfwort für theoretisch unbedarftes und unkritisches Faktensammeln gebraucht wird. Der Positivismus ist insbesondere aus drei Gründen dennoch bedeutsam: ▶ Im Unterschied zu vielen vorpositivistischen Auseinandersetzungen mit Dichtung bedeutete er eine nicht-normative Herangehensweise, die den Gegenstand verstehen, beschreiben, erforschen will, ohne ihn sogleich an poetologischen Normen zu messen. ▶ Der Positivismus hat mit der Berücksichtigung des Milieus eine wich‐ tige Kategorie der produktionsorientierten Literaturinterpretation einge‐ führt. Sie wird zwar bei Taine entgegen seinem Anspruch nicht ‚objektiv‘ genutzt, sondern bleibt spekulativ, u. a. weil die Hilfswissenschaft Sozio‐ logie noch nicht weit genug entwickelt war, wird aber später von der Literatursoziologie (siehe unten, Abschnitt 10.5) in methodisch reflektier‐ ter Form und mit Erkenntnisgewinn aufgegriffen. ▶ Er hat gegen Ende des 19. Jh. zu einem Quellen- und Faktenstudium geführt, durch das zahllose Texte genau erschlossen und ediert wurden - eine wertvolle Forschungsleistung, auf der vielfach noch heutige Text‐ ausgaben und andere Hilfsmittel beruhen. 10.3 Exkurs: Frühe Philologie in Spanien Das eigentliche positivistische Quellenstudium zur spanischen Literatur nahm, wie die Romanistik als Disziplin insgesamt, von Deutschland seinen Ausgang. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jh. spanische Philologen die Aufarbeitung ihrer Literatur begannen, ging es neben der Textedition bereits um das Bemühen, Spe‐ zifika der spanischen Nationalliteratur und innerspanische Traditionslinien her‐ auszuarbeiten. Diese wurden dann als Symptome eines überzeitlichen spani‐ schen ‚Wesens‘ verstanden, ähnlich wie bereits zuvor in der deutschen Romantik, die in Spanien begeistert eine mittelalterliche, nicht durch aufkläreri‐ schen Rationalismus steril gewordene Kultur wiederzuerkennen glaubte und spanische Texte ins Deutsche übertrug (August Wilhelm Schlegel übersetzte Calderóns Dramen, Ludwig Tieck Cervantes’ Don Quijote). Ein solcher Ansatz, den man als geistes- oder ideengeschichtlich bezeichnet, ist der des Gründervaters der spanischen Philologie, Marcelino Menéndez Pelayo. Seine Editionstätigkeit galt neben einer Gesamtausgabe der Werke Lope de Vegas der Erarbeitung von Anthologien (Zusammenstellungen) mittelalterlicher spanischer (Antología de poetas líricos castellanos, 1890-1916) und hispanoamerikanischer Dichtung (An‐ 206 10 Text, Autorschaft und Rezeption druck eines übergeordneten (und überindividuellen) Na‐ tional- oder Epochengeistes versteht Abb. 10.4 Ramón Menéndez Pidal (1869-1968) ! Stilistik (estilística): Textanalyse, die sich auf von der Norm abwei‐ chende sprachliche Oberflä‐ chenmerkmale bezieht, um einen Autoren-, Werk- oder Epochenstil zu ermitteln Abb. 10.5 Sigmund Freud (1856-1939) tología de poetas hispano-americanos, 1893-95). Dabei ist sein Standpunkt, im Ge‐ gensatz zum Programm des Positivismus, bewusst kein neutraler, sondern der des orthodoxen Katholizismus, der für ihn den Kern der spanischen Kultur aus‐ macht und den er teilweise recht vehement vertritt-- so besonders eindrücklich in dem achtbändigen religions- und kulturgeschichtlichen Monumentalwerk Historia de los heterodoxos españoles (1880-82), in dem er eine Lanze für die aus seiner Sicht reine Lehre brechen wollte und doch den außer- und antikatholi‐ schen Strömungen in Spanien letztlich ein Denkmal gesetzt hat. Auch sein Schü‐ ler Ramón Menéndez Pidal widmete sich der Editionsphilologie, so mit einer Antología de prosistas españoles, die in 10 Auflagen 1832 bis 1978 den älteren lite‐ rarischen Kanon Spaniens festschrieb. Daneben betrieb er Stilstudien, d.h. er versuchte den typischen Autorstil etwa der Mystikerin Teresa de Ávila allein anhand einer genauen Beschreibung sprachlicher Strukturen von der Satzbis zur Lautebene zu fassen-- ein Beispiel dafür, dass die heute geläufige Trennung von Sprach- und Literaturwissenschaft damals so nicht existierte, was sich auch an den Arbeiten seiner Schüler Dámaso Alonso und Rafael Lapesa zeigt. Auch Me‐ néndez Pidal suchte in Los españoles en la literatura nach dem ‚roten Faden‘ in der spanischen Literatur, den er allerdings nicht, wie sein Lehrer, im orthodox-ka‐ tholischen Volksgeist, sondern in Konstanten wie der formalen Schlichtheit („so‐ briedad“), der Volksnähe („el arte para todos“) und ethischer wie ästhetischer Strenge („austeridad ética y estética“) fand. Aber auch diese letztlich geistesge‐ schichtlich anmutende Vereinfachung blendet Entscheidendes aus, etwa im Mit‐ telalter die arabischen, jüdischen und provenzalischen Kultureinflüsse, und be‐ hauptet eine Geschlossenheit der spanischen Nationalliteratur, die es so nicht gibt. Unter seinen zahlreichen Schülern, die ihrerseits zu Autoritäten der spani‐ schen Philologie des 20. Jh. geworden sind, hat sich insbesondere Américo Cas‐ tro gegen diese Kontinuitätsthese gewandt. 10.4 Psychoanalyse Mit der von Sigmund Freud etwa ab der Jahrhundertwende entwickelten und vertretenen Psychoanalyse (psicoanálisis, m.) wird das Bild vom Individuum und den psychischen Bedingungen seines-- auch künstlerischen-- Handelns revolutioniert. Identifizierte man bis dato ein Individuum in geistiger Hin‐ sicht mit der Gesamtheit seiner aktuellen Bewusstseinsvorgänge (Gedanken, Absichten usw.) und Erinnerungen, so bemerkte Freud in seiner klinischen Arbeit, dass die beobachteten ‚abnormen‘ psychischen Symptome und Ver‐ haltensweisen sich nicht mit den bewussten, von den PatientInnen wahr‐ nehmbaren Prozessen erklären ließen; sie rührten vielmehr von seelischen Strukturen und Kräften her, die sich dem Bewusstsein entziehen, unbewusst 10.4 Psychoanalyse 207 Psychische Qualitäten: bewusst, vorbewusst, unbewusst Psychischer Apparat Instanzen: Ich - Es - Über-Ich Psyche als Ort von Konflikten Über-Ich, Normen und Tabus (inconsciente) waren, im Gegensatz zu den bewussten Wahrnehmungen und Gedanken im jeweiligen Moment und denjenigen, die durch einen Aufwand des Individuums wieder bewusst werden können und die er vorbewusst (pre‐ consciente) nennt - wie etwa Erinnerungen. Freud postulierte die Existenz unbewusster psychischer Prozesse nicht nur für diejenigen Fälle, wo sie zu behandlungsbedürftigen Verhaltensweisen führen, sondern in der menschli‐ chen Psyche schlechthin, was eine differenzierte Darstellung des psychischen Apparats (aparato psíquico) notwendig machte. Hier erkennt Freud drei sog. Instanzen: ▶ Den bisher mit der Psyche allein identifizierten Teil, der bewusst wahr‐ nimmt, fühlt, Bewegungen auslöst etc., nennt Freud das Ich (el Yo). ▶ Die Sphäre der ererbten, physiologischen Bedürfnisse, der häufig un‐ bewussten Triebe nennt Freud das Es (el Ello). Das Es ist der älteste, sozusagen ‚primitivste‘ Teil des psychischen Apparats. ▶ Im Heranwachsen bildet sich durch den Einfluss der sozialen Umgebung, insbesondere der Eltern, eine innere Instanz der Normenkontrolle und des Verbots heraus, die Über-Ich (el Superyó) genannt wird. In der psychoanalytischen Theorie erweisen sich die Psyche eines Individu‐ ums und die auf ihr gründenden Handlungen also nicht als einheitliches und stimmiges Ganzes, sondern als Zusammenspiel mehrerer Instanzen mit radikal entgegengesetzten Zielen. Abb. 10.6: Psychischer Apparat nach Freud Die Ansprüche des Es stehen häufig in Konflikt mit den - teils unbewussten, teils vorbewussten-- Normen und Tabus, deren Einhaltung das Über-Ich fort‐ während einfordert. Dem Ich als dem bewussten und handelnden Teil der Psy‐ che kommt die Aufgabe zu, zwischen den konträren Anforderungen zu ver‐ 208 10 Text, Autorschaft und Rezeption Verdrängung Sublimation Realitätsprinzip vs. Lustprinzip Kompromiss Sexualtrieb  Kurzübersicht über die Entwicklungsphasen nach Freud auf www.bachelor-wissen.de Bezug zu Literatur mitteln: zulässige Triebe (etwa Nahrungsaufnahme) zu befriedigen, verbotene zu verdrängen (reprimir ; Subst. represión), also in unbewusstem Zustand zu halten, oder aber maskiert, d. h. durch Zensur unkenntlich gemacht oder auf akzeptable Ersatzbefriedigungen (darunter künstlerisches Schaffen) umgeleitet (sublimiert), zuzulassen. Zudem muss das Ich sein Handeln mit den Gegeben‐ heiten der äußeren Umwelt abstimmen, ist dem Realitätsprinzip verpflichtet-- im Gegensatz zum Es, dass allein dem Lustprinzip gehorcht (principio del placer/ de realidad). Es gibt gemäß der psychoanalytischen Theorie keine ru‐ hende Psyche, kein absolut stimmiges Handeln - jede psychische Äußerung ist das Ergebnis dynamischer Prozesse, ist potenziell spannungsreicher Kompro‐ miss. Eine Handlung ist in diesem Sinne dann ‚korrekt‘, wenn sie den Ansprü‐ chen des Über-Ichs und der Realität genügt, dabei verbotene Triebe auf akzep‐ tablen Umwegen befriedigt (sog. Triebabfuhr) und Triebverzicht und die daraus resultierende Unlustspannung in möglichst engen Grenzen hält. Unter den Trieben ist nach Freudscher Vorstellung der Sexualtrieb (die sog. Libido, span. la libido) der wichtigste. ‚Sexuell‘ ist hier in einem weiten psychoanalytischen Sinne zu verstehen, denn das Objekt des Sexualtriebs ist meist variabel, also nicht etwa immer nur ein Partner, sondern evtl. ein beliebiges Ersatzobjekt, und die Triebquelle sind nicht etwa immer die Genitalien, sondern auch andere erogene Zonen, von denen einige in bestimmten kindlichen Entwicklungspha‐ sen besonders wichtig werden. Freud ging davon aus, dass psychische Pro‐ bleme der/ des Erwachsenen maßgeblich von einem gestörten oder unvollkom‐ menen Übergang zwischen diesen Phasen und damit einer fehlenden Ablösung von frühkindlichen Triebobjekten verursacht werden. Was hat all dies mit Literatur zu tun? Zunächst einmal ist die Psychoanalyse ihrem Anspruch nach eine Theorie über die mentale Seite des Menschen ins‐ gesamt und damit auch über die von ihm geschaffene Kunst. Demgemäß muss eine autororientierte Interpretation von Texten diese auch als Produkt des Unbewussten lesen und darf ihre Bedeutung nicht, wie im Positivismus, mit offensichtlichen Fakten oder der (bewussten) Intention des Autors gleichset‐ zen. Wenn Freud sich schon früh für literarische Texte interessierte, dann v. a. auch deshalb, weil sie für ihn einen der privilegierten Zugänge zum Unbe‐ wussten darstellten. Im Regelfall sind unbewusste, insbesondere verdrängte psychische Inhalte per Definition nicht zugänglich; es gibt aber, abgesehen von pathologischen Fällen wie Neurosen und Psychosen, in denen aufgrund innerer Konflikte die Abwehrmechanismen (Verdrängung) des Ich nicht ord‐ nungsgemäß funktionieren und die Impulse des Es in Handlungen (Sympto‐ men) sichtbar werden, eine Reihe besonderer Umstände, die auch beim ge‐ sunden Individuum Einblick in das Unbewusste gewähren. Hierzu gehören der Traum, der Freud als Königsweg zum Unbewussten gilt, ebenso wie der Tagtraum und andere Phantasiebefriedigungen, zu denen auch die Literatur zählt, sowie die Fehlleistungen, also unbeabsichtigte Äußerungen und Hand‐ 10.4 Psychoanalyse 209 Literatur als Phantasiebe‐ friedigung im abgekoppel‐ ten Raum Traum-Analogie Entstehung eines Traums nach Freud Erste Entstellung Latenter Traumgedanke Zweite Entstellung lungen wie etwa Versprecher. Da, so Freuds Annahme, im Schlaf keine Ver‐ bindung zwischen Gedachtem und Realität (Handeln) besteht, ist die Kon‐ trolle der Impulse aus dem Es weniger notwendig als im Wachzustand und daher die zensierend-verdrängende Ichfunktion schwächer, weshalb sich im Traum unbewusste Gedanken und Wünsche in maskierter Form artikulieren können. Tagtraum und künstlerische Aktivitäten vollziehen sich zwar im Wachzustand und unter ‚regulärer‘ Zensur, sie sind aber ebenfalls als Phan‐ tasien von der Realität abgekoppelt, haben keinen äußeren Nutzwert, sondern folgen dem Lustprinzip. Es besteht für Freud eine strukturelle Analogie zwi‐ schen Traum und Kunstwerk, zwischen Traumentstehung und künstlerischer Produktion, wodurch letztere mit den am Traum erprobten Methoden ent‐ schlüsselt, interpretiert werden kann. Abb. 10.7: Traumarbeit und Kunstarbeit Durch seine Beobachtungen an PatientInnen ging Freud davon aus, dass ein verdrängter, unbewusster Wunsch, der in das Bewusstsein gelangen will, sich zunächst mit vorbewussten Inhalten verknüpft - etwa jenen Erinnerungen an kürzlich oder am zurückliegenden Tag Erlebtes (Tagesreste), die erkennbar in Träumen wieder auftauchen. Dadurch entstellt (maskiert) sich der Wunsch ein erstes Mal. Er ist jetzt latenter Traumgedanke, jenes verbotene Substrat eines Traums, das die Traumanalyse aufzudecken sucht. Um die Zensur‐ schranke, die das Ich infolge der Ansprüche des Über-Ichs errichtet, zum Be‐ wusstsein hin passieren zu können, muss sich der latente Traumgedanke er‐ neut entstellen, bis gewährleistet ist, dass das Bewusstsein den anstößigen Gehalt des Traums nicht mehr aus eigener Kraft zu entschlüsseln vermag. Beide Entstellungen vollziehen sich nach den alogischen Prinzipien des Un‐ bewussten (Primärvorgang), insbesondere der Verdichtung (condensación; Zu‐ sammenführung mehrerer Wünsche oder Gedanken zu einem), Verschiebung (desplazamiento; Übertragung der Triebintensität auf ein anderes, im Traum möglicherweise nebensächlich scheinendes Objekt) und Verbildlichung (sim‐ bolización; Darstellung abstrakter Sachverhalte als Bild, etwa sexuelle Anzie‐ 210 10 Text, Autorschaft und Rezeption Sekundäre Bearbeitung Traumdeutung-- Textinterpretation Aufgabe 10.1 Text 10.1 Methodenfragen bei der Anwendung der Psycho‐ analyse auf Literatur hung als Zug an einem Seil). Passiert der latente Traumgedanke die Zensur und erreicht die Qualität des Vorbewussten, wird er vom Ich noch nach den Regeln des Sekundärvorgangs (proceso secundario; Realitätsprinzip), also ge‐ mäß der Logik, Chronologie usw. geordnet, bevor er vom Träumer als mani‐ fester Traum geträumt wird, von dem er berichten, den er aber nicht eigentlich verstehen kann. Beim literarischen Text verläuft der Weg analog, wobei die vorbewussten Inhalte seinem Stoff oder Thema entsprechen, der latente Traumgedanke dem unbewussten, durch das Werk befriedigten Wunsch, die sekundäre Bearbeitung der sprachlichen Gestaltung und Anpassung an Gat‐ tungsregeln (z. B. Verse, Erzählstruktur) und der manifeste Traum dem ‚ma‐ nifesten Text‘, also der Textoberfläche, wie sie der Lektüre direkt zugänglich ist. Wie die psychoanalytische Traumdeutung mit Hilfe der Assoziationen der PatientInnen, ihrer Reaktionen auf die Analysesituation und biographischer Informationen den Weg vom manifesten Traum zurück zum latenten Traum‐ gedanken zu gehen versucht, verfolgt eine psychoanalytische Textdeutung das Ziel, die unbewussten Anteile des Werks herauszuarbeiten, mithin die verdrängten Wünsche, die der Autor oder die Autorin mit dem jeweiligen Text zu befriedigen sucht, die Konflikte, aus denen er hervorgegangen ist - und die in der Psyche der Leserin bzw. des Lesers wiederum entsprechende Abwehr- oder Befriedigungsreaktionen hervorrufen können. Selbst wenn die Psychoanalyse heute in einigen Aspekten als überholt oder zumindest spekulativ gilt, weil etwa für ihre Behauptungen zur früh‐ kindlichen Psyche naturgemäß keine empirischen Belege erbracht werden können, so liefert sie doch Einblick in grundlegende psychische Strukturen und Vorgänge und kann zum Verständnis der Textentstehung wie der Be‐ deutungskonstitution oder der Rezeption (Wirkung) eines Werks beitragen. Zudem ist sie v. a. in Gestalt des Surrealismus auch für künstlerisches Schaffen selbst unmittelbar produktiv geworden. ? Lesen Sie folgenden Auszug aus einem Methodenaufsatz zur Psy‐ choanalyse. Auf welche Unterschiede zwischen der Traumdeutung in der therapeutischen Situation einerseits und der Literaturinterpretation andererseits weist der Verfasser hin und wie ist ihnen zu begegnen? Welche psychoanalytischen Deutungsebenen werden genannt und worin besteht die Problematik ihres Verhältnisses? [C]ualquier psicólogo o psiquiatra, digno de tal nombre, no interpreta un sueño ‘desde los elementos constitutivos del mismo’, sino desde las asociaciones del paciente al sueño, que, aunque con él se relacionan, no forman parte de él. Es decir, no forman parte de su contenido manifiesto. El caso del crítico literario 10.4 Psychoanalyse 211 Aufgabe 10.2 Individuelle vs. kollektive Dimension literarischen Schaffens Soziale Funktion ‚Gesellschaft‘ in der Literatur 5 es algo distinto; no tiene al autor tendido en un diván. Tiene, sin embargo, un contexto: la obra literaria del autor estudiado, dentro de la cual insertar el símbolo o pasaje objeto de análisis. Para esta tarea encuentra apoyo en el acceso a una metodología, sin la cual no hay análisis ni ciencia posibles. Aguirre 1 mismo acaba reconociéndolo cuando matiza 2 el párrafo anterior: “La suma de 10 las interpretaciones de distintos sueños puede conducir a establecer ‘verdades generales’, o, mejor, ‘leyes generales de tendencia’, pero resultará siempre muy peligroso aplicar las mismas, sin previa y cuidadosa discriminación 3 , a los casos concretos e individuales”. Esto es otra cosa. El peligro es cierto, pero no puede excluir la referencia al método, ni deja tampoco de aplicarse a otros métodos. 15 Existe, además, el peligro contrario de inclinarse excesivamente por lo concreto o individual con olvido de lo general; o sea, con olvido de que las verdades indivi‐ duales son también verdades generales o humanas. Con olvido, en otros términos, de la universalidad de los símbolos o del carácter colectivo del inconsciente. (Feal Deibe: 1977, 312) - 1 Aguirre Literaturwissenschaftler, gegen dessen Kritik sich der Verfasser wendet-- 2 matizar nuancieren-- 3 discriminación hier: Abwägung, Differenzierung ? Sehen Sie sich nochmals die Personenkonstellation und den Handlungs‐ verlauf des Dramas La vida es sueño (Einheit 7) an. Welche grundlegenden Einsichten der Psychoanalyse lassen sich auf dieses Stück anwenden? 10.5 Literatursoziologie Die in Text 10.1 angesprochene Spannung zwischen individueller und kol‐ lektiver Dimension betrifft freilich nicht allein die Befunde der Psychoana‐ lyse; sie gilt für Literatur insgesamt, da nicht nur die Publikation eines Textes ein sozialer Akt und daher bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen (Nor‐ men, Codes etc.) unterworfen ist, sondern auch die beteiligten Individuen, allen voran der Autor, von ihrem sozialen Umfeld beeinflusst werden, mithin von einer bestimmten Position aus die Gesellschaft wahrnehmen. Mitte des 20. Jh. kommt es unter dem Einfluss des Marxismus zu einer Erneuerung der literaturwissenschaftlichen Theorie- und Methodenbildung, deren wichtigste Forderung darin besteht, einen literarischen Text nicht mehr allein als Er‐ gebnis eines individuellen Schaffensprozesses aufzufassen, sondern ihn als in erster Linie gesellschaftliches Produkt in seiner spezifischen sozialen Funktion zu begreifen. Die These der sozialen Bedingtheit literarischer Texte ist natürlich nichts Neues; sie findet sich - wie übrigens viele literaturwissenschaftliche Theo‐ 212 10 Text, Autorschaft und Rezeption Abb. 10.8 Mariano José de Larra (1809 -1837) Marxismus Abb. 10.9 Marxistisches Gesell‐ schaftsmodell Dialektischer, basisbe‐ gründeter Determinismus reme - lange vorher in der Literatur selbst, nämlich beispielsweise in Texten der Romantik, die sich als breite Bewegung aus einer neuen postrevolutio‐ nären Gesellschaft verstand und Literatur dementsprechend in den Worten ihres herausragenden Vertreters Mariano José de Larra als „la expresión, el termómetro verdadero del estado de la civilización de un pueblo“ (Larra: 1940, 158) begriff. Auch die positivistische Methode hatte für sich in Anspruch ge‐ nommen, den sozialen Entstehungskontext eines Werks mit zu bedenken, tat dies aber unkritisch und ohne eine theoretische Reflexion über Gesellschaft und ihren Bezug zum Werk. 10.5.1 Marxistische Literaturwissenschaft Ein Modell für eine kritische Literatursoziologie (sociología de la literatura) fand die neuere Literaturwissenschaft beim Marxismus. Karl Marx (1818-1883) hatte zwischen der ökonomischen Basis (base económica) einer Gesellschaft, d. h. den miteinander verschränkten Produktionsverhältnissen (condiciones de producción; z. B. Arbeitsteilung, Entlohnung, Konsum) und Produktivkräften (fuerzas productivas; z. B. den am Produktionsprozess be‐ teiligten Menschen), und dem sog. Überbau (superestructura), der ‚geistigen‘ Seite, der Ideologie und ihrer Bereiche (z. B. Recht, Religion, Kunst), unter‐ schieden. Der Stand und die Entwicklung einer Gesellschaft sind für Marx bedingt durch das Wechselspiel (Dialektik) dieser beiden Pole, wobei letztlich die ökonomische Basis der bestimmende Faktor sei. So werden beispielsweise die materiellen Eigentumsverhältnisse in einer Gesellschaft durch die Gesetze geregelt, die ‚Eigentum‘ definieren, es vor bestimmten Formen der Aneignung (Diebstahl) schützen und seinen Transfer (Verkauf) ordnen; zugleich wird die Rechtsordnung einer Gesellschaft von den materiellen Machtverhältnissen an der Basis bestimmt - also, sehr vereinfacht gesagt, die Gesetze werden von denjenigen gemacht, die das Geld haben, was letztlich aus marxistischer Sicht der entscheidende Faktor ist. Der für die Literaturwissenschaft folgenreichste Aspekt dieses dialektischen, basisbegründeten Determinismus ist die These, dass Kunst als Überbauschicht - und damit auch Literatur - von der ökono‐ mischen Basis bestimmt wird und diese widerspiegelt, wenn nicht in ihrer Gesamtheit, so doch ausschnittsweise (etwa je nach der Klasse, der die Au‐ torin oder der Autor zugehört, und ihrer Partizipation an den Produktions‐ mitteln): Angehörige des Großbürgertums, so die Überlegung, reflektieren in ihren Werken die Basis anders als schreibende ProletarierInnen und wählen hierfür andere Formen (Gattungen). 10.5 Literatursoziologie 213 Vermittelte Widerspiege‐ lung in Literatur Abb. 10.10 Georg Lukács (1885-1971) Text 10.2 Literatur und materieller Status des Autors Die Prämisse einer weitgehenden Determination von Literatur durch die ökonomische Basis birgt insofern ein methodisches Problem, als in vielen literarischen Texten nicht direkt von Produktionsverhältnissen die Rede ist. Die Widerspiegelung (reflejo) lässt sich also häufig nicht, wie noch in den interpretatorischen Arbeiten von Georg Lukács, einem der Wegbereiter marxistischer Literaturbetrachtung, durch einen Blick auf den ideologischen Gehalt eines Textes und seine Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand aufzeigen; vielmehr ist der Zusammenhang sehr viel vermittelter. Eine Vorstellung von einem vermittelten Zusammenhang zwischen mate‐ rieller Situation und literarischem Schaffen bietet ein Blick auf die Produkti‐ onskontexte mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur in Europa: En la Edad Media las condiciones también cambian con los tiempos: los juglares 1 recorren los caminos de la Europa occidental recitando aquellos pasajes de los cantares de gesta 2 más en boga 3 . Los trovadores 4 , por lo general, recitan sus propios poemas, y suelen ser personas de una situación social más bien elevada- 5 […], pero también puede darse el trovador que vive de su profesión. De los tres ambientes que caracterizan la Edad Media - el castillo, la iglesia y la calle - procederán producciones orientadas distintamente: en el castillo será el juglar o el trovador quien tendrá la palabra[; ] en la Iglesia son los religiosos quienes, con una gran independencia económica, pueden escribir las obras religiosas que 10 caracterizan a este estamento 5 (piénsese en Berceo o en el Arcipreste de Hita 6 ); en la calle es el juglar. En la época renacentista se volverá necesariamente al sistema del mecenazgo 7 , que perdurará hasta bien entrado el siglo X V III . Cierto que la invención de la imprenta permitirá una mayor difusión de la Literatura, y, por ello, una cierta independencia del autor. Pero no nos engañemos: el escritor 15 continuará en gran medida dependiendo de su ‘protector’ a quien dedica, natu‐ ralmente, sus producciones. En el siglo X V III será la posibilidad de tratarse con la nobleza y la asistencia a las sesiones de los célebres salones 8 lo que permitirá el progreso social y literario del autor. Es a partir del siglo X I X cuando, de hecho, el escritor conquista su libertad económica, y cuando, por ende 9 , puede practicar 20 su profesión para vivir. (Alsina Clota: 1984, 222) - 1 juglar Spielmann, der niederer Herkunft war und Verse meist populärer Herkunft oder anderer Autoren vortrug und mit Instrumentalbegleitung sang - 2 cantar de gesta Epos (siehe Beginn Einheit 8.1) - 3 en boga en vogue, ‚angesagt‘ - 4 trovador Troubadour - 5 estamento Stand - 6 Gonzalo de Berceo (ca. 1197-ca. 1264) und Juan Ruiz, Arcipreste de Hita (1. Hälfte 14. Jh.) berühmteste Vertreter der mittelalterlichen geistlichen Dichtung in Spanien - 7 mecenazgo Mäzenatentum - 8 salones Salons, regelmäßige Treffen von (oft einflussreichen) Intellektuellenzirkeln, bei denen Literatur, Kunst und Philosophie, aber auch aktuelles Zeitgeschehen diskutiert wurden-- 9 por ende folglich 214 10 Text, Autorschaft und Rezeption Abb. 10.11 Mittelalterliche Juglares (Abbildung aus den Canti‐ gas von Alfonso el Sabio, 2. Hälfte des 13. Jh.) Aufgabe 10.3 Vermittlung durch Gattung Abb. 10.12 Erich Köhler (1924-1981) ? Wie hängen Ort und Medien der literarischen Produktion mit den Inhalten zusammen? Welchen Einfluss könnten die Orte Schloss, Kloster und Straße auf die dort gepflegte Literatur, ihre Inhalte und Formen gehabt haben? 10.5.2 Gattungen als ‚Sitz im Leben‘ Der Romanist Erich Köhler (1924-1981) hat den marxistischen Ansatz aufge‐ griffen und weiterentwickelt, indem er der Individualität der Autorin bzw. des Autors, der ja bei aller geschichtlichen und sozialen Bedingtheit das Werk erst realisiert, einen größeren Stellenwert einräumte und zudem das Abbildungs‐ verhältnis zwischen Basis und Literatur auf der Ebene des Gattungen, Gat‐ tungssystem (el sistema de los géneros literarios) - und nicht im offensichtlichen Inhalt eines einzelnen Werks - ansiedelte. Einzelne Gattungen, so Köhlers These, haben einen spezifischen ‚Sitz im Leben‘ (lugar en la vida), werden ge‐ tragen von bestimmten Gruppen oder Klassen und repräsentieren deren Blick auf die Basis - aber nicht unmittelbar, sondern durch ihren Platz im System der Gattungen, das in seiner Gesamtheit dem gesellschaftlichen Leben homolog ist: Gesellschaftliche Rivalitäten und historische Veränderungen, insbesondere an Wendepunkten der Geschichte (Revolutionen etwa), zeigen sich nach Köhler also durch Umbesetzungen im Gattungssystem: Einzelne Gattungen sterben aus oder erfahren formale oder inhaltliche Modifikationen, wenn die sie tra‐ genden Klassen bedeutungslos werden oder aber aufsteigen. Besondere Blüte‐ phasen führt Köhler dabei weniger auf einzelne Gruppen als auf vorüberge‐ hende Allianzen rivalisierender sozialer Klassen zurück. Eines der klarsten Beispiele dafür, dass Literatur in vermittelter Weise soziale Veränderungen spiegelt, ist der Schelmenroman (siehe Einheit 8.1, Übersicht Roman), der Mitte des 16. Jh. mit dem anonymen Lazarillo de Tormes seinen Anfang nimmt und sich von bestehenden Gattungen deutlich abhebt: La novela picaresca-[…] es la historia de un personaje vulgar 1 . Precisamente por esto la novela picaresca se opone en esta época al libro de caballería que no se sitúa en ninguna época, en ningún espacio, termina por poner los pies en tierra. La nueva ficción se inserta en estas tres categorías: 5 tiempo, espacio y causalidad. La novela picaresca es un relato la mayoría de las veces en forma autobiográfica; el personaje narra sus desventuras 2 en el mundo. Ya desde este momento el mundo es visto desde una perspectiva personal y no objetiva; no se abre ante la mirada del pícaro, como un espectáculo; es sentida por el personaje; esto origina una especie de relativismo; cada uno tenemos 10 nuestra perspectiva, ideas y puntos de vista sobre el mundo, sobre lo que éste es y lo que debería ser. Pues si el pícaro describe el mundo tal como cree que fue y 10.5 Literatursoziologie 215 Text 10.3 Die Gattung Schelmenro‐ man als Symptom sozialer Veränderung Aufgabe 10.4 será es porque, en lo que se refiere al presente, el personaje se siente totalmente inadaptado, no está a gusto 3 . 15 Así la novela picaresca corresponde al estado tambaleante 4 de la sociedad en que aparece. La aristocracia y el comercio se disputan el poder, sobre todo en Sevilla, ciudad a la vez noble y comercial. ¿El prestigio social procede del dinero? ¿Está ligado, por el contrario, a la sangre, a la herencia 5 , a la ascendencia? El autor plantea la pregunta y la responde.-[…] 20 Antes los mendigos pedían pan, vestidos, pero nunca dinero. La novedad es el cura avaro que hace dinero, el hidalgo 6 que necesita dinero para vivir. En resumen, existe como una nostalgia de un estado anterior basado en el equilibrio de los tres órdenes: la aristocracia, el clero y el tercer estado. El autor no condena el nuevo régimen, prefiere burlarse de él y hacer reír a los demás. 25 […] ¿Cuál es la relación del Lazarillo con la realidad? El autor no se propone en absoluto copiar la realidad, sino construir un mundo novelesco que, curiosa coincidencia, corresponde, a su nivel, a la esencia de la sociedad de su época. Repetimos: no se trata de una copia porque en 1550 sólo existen 150 000 pícaros sobre nueve millones de habitantes en España. En el caso del Lazarillo no se 30 trata de la sociedad tal como aparece, en la superficie, se trata de la sociedad tal como es en el fondo, en su red de fisuras 7 , en su red de rupturas; la sociedad va a desmoronarse 8 y esto es lo que nos dice el autor. (Aubrun: 1969, 144-148) - 1 vulgar hier: von niederer Herkunft, aus dem Volk - 2 desventura Unglück - 3 estar a gusto sich wohl fühlen - 4 tambaleante schwankend, im Umbruch begriffen - 5 herencia Erbe - 6 hidalgo Kleinadliger - 7 en su red de fisuras in den Rissen, die sie (die Gesellschaft) durchziehen-- 8 desmoronarse bröckeln, auseinanderfallen ? Wie stellt sich, gemäß dieser Analyse, das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und literarischem Text im Falle des Schelmenromans dar? In welcher Hinsicht entspricht dies Köhlers Ansatz, in welcher nicht? Etwa zeitgleich zu Köhlers Arbeiten werden in der spanischsprachigen Lite‐ raturwissenschaft ähnliche literatursoziologische Ansätze entwickelt. So geht etwa Juan Ignacio Ferreras in seinen Fundamentos de sociología de la literatura (1980) davon aus, dass in einer Gesellschaft bestehende Weltanschauungen (Ideologien, also Überbauphänomene) ihren literarischen Artikulationsort häufig in tradierten Formen, insbesondere bereits existierenden Gattungen finden, die mit neuen Inhalten verbunden werden, oder mehr noch: die eine neue Funktion annehmen. Umgekehrt können Gattungen und Texte ‚sterben‘, wenn die Weltanschauungen, die ihre Genese bedingt haben, innerhalb einer Gesellschaft an Wert verlieren, etwa weil es die sie tragende(n) Gruppe(n) nicht mehr oder unter veränderten Bedingungen gibt. Solche Texte bestehen 216 10 Text, Autorschaft und Rezeption Abb. 10.13 Der Schelm trinkt heimlich den Wein des Herrn (aus ei‐ nem Manuskript des 14. Jh.  Zusatzmaterial zur spanischsprachigen Litera‐ tursoziologie finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Differenzierung: Gesell‐ schaftliche Felder Kapital als Determinante Abb. 10.14 Pierre Bourdieu (1930-2002) Symbolisches Kapital Relative Autonomie der Felder an sich natürlich weiter, sind dann aber nicht mehr als ‚Literatur‘ wirksam, sondern nur noch als historisches, gleichsam zum Gegenstand akademischen Interesses erstarrtes Dokument. Ferreras weist ausdrücklich darauf hin, dass die für ihn zentrale soziologische Funktionsbeschreibung stets um andere ge‐ netische (produktionsästhetische) Ansätze, wie wir sie bisher in diesem Ka‐ pitel vorgestellt haben, sowie um textimmanent-strukturbezogene Analysen zu ergänzen sind, bewahrt sich also eine methodische Offenheit, wie sie auch für Köhlers Ansatz gilt. Innerhalb der marxistischen Literaturwissenschaft ist weiterhin die Historia social de la literatura española (en lengua castellana) (1978 / 79) von Carlos Blanco Aguinaga, Julio Rodríguez-Puértolas und Iris M. Zavala zu nennen, die Literaturgeschichte unter dem Aspekt der Spie‐ gelung von Produktionsverhältnissen und Klassengegensätzen, aber auch der intendierten Rückwirkung auf Leser, also dialektisch neu betrachten. 10.5.3 Feldtheorie Auch der Ansatz des Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) beleuchtet den Zusammenhang zwischen sozialen Strukturen und kultureller Produktion, lehnt aber den Totalitätsanspruch einer letztlich die gesamte Gesellschaft be‐ stimmenden ökonomischen Basis zugunsten eines differenzierteren Modells ab. Er greift hierfür auf die - in verschiedenen Ausprägungen auch bei an‐ deren Soziologen wie Niklas Luhmann formulierte - Beobachtung zurück, dass sich die moderne Gesellschaft in verschiedene Bereiche untergliedert, die er ‚Felder‘ (campos) nennt: u. a. Ökonomie, Recht, Politik, aber auch Kunst und Literatur. Innerhalb dieser Felder spielen durchaus Determinanten wie das Kapital eine Rolle; in Abgrenzung vom Materialismus marxistischer An‐ sätze betont Bourdieu allerdings, dass nicht allein ökonomisches Kapital (Geld), sondern auch andere Formen wie Prestige oder fachliche Autorität auschlaggebend sind, die er unter dem Begriff des symbolischen Kapitals (capital simbólico) zusammenfasst. Die Felder besitzen zwar Anknüpfungs‐ punkte und geben sich gegenseitig Impulse - allein schon dadurch, dass jeder von uns notwendigerweise in mehreren Feldern agiert, aber auch durch in‐ stitutionelle Verbindungen wie die zwischen Recht und Ökonomie -, müssen aber getrennt betrachtet werden, da sie relativ autonom sind, also verschie‐ denen Regeln gehorchen und verschiedene Zustände kennen: Jemand, der innerhalb des Feldes der Politik eine dominante Position einnimmt (sagen wir: die Regierungschefin), ist dadurch innerhalb eines anderen Feldes (etwa der Kultur) nicht automatisch bedeutsam, verfügt dort nicht über vergleichbares Kapital (selbst wenn immer wieder der Versuch zu beobachten ist, die Domi‐ nanz innerhalb eines Feldes für den Erfolg in anderen, zumal im ökonomi‐ schen, nutzbar zu machen, etwa durch den Absatz von Politikermemoiren). 10.5 Literatursoziologie 217 Konkurrenz innerhalb der Felder Dominierender und dominierter Pol Literarische Texte und die Position des Autors / der Autorin im literarischen Feld Individueller Habitus Aufgabe 10.5 Die Felder definieren nicht nur gesellschaftliche Teilräume, sondern sind Macht- und Konkurrenzbereiche, innerhalb derer die beteiligten Individuen und Gruppen rivalisieren. Ihr jeweiliges Kapital bestimmt die Position inner‐ halb eines feldinternen Koordinatensystems zwischen dominierendem und dominiertem Pol, wobei der dominierende Pol sich dadurch auszeichnet, dass hier überwiegend die Normen und Zugangskriterien des Feldes definiert wer‐ den. Welche Form(en) von Kapital (ökonomisch, kulturell, symbolisch etc.) ausschlaggebend sind, hängt vom jeweiligen Feld ab: So ist im literarischen Feld der Besitz von ausschließlich ökonomischem Kapital (durch Absatz von ‚Bestsellern‘) eher ungünstig, das durch die Anerkennung kleinerer intellek‐ tueller Kreise (etwa KritikerInnen oder akademische Literaturwissenschaft) erlangte symbolische Kapital hingegen oft entscheidend für Aufstieg und Annäherung an den dominierenden Pol, auch (und u. U. gerade) ohne kom‐ merziellen Erfolg. Hier zeigen sich für Bourdieu die Unzulänglichkeiten eines marxistischen Ansatzes, der die materielle Basis generell zum bestimmenden Faktor erhebt. Vielmehr steht Literatur in einem breiteren feldinternen insti‐ tutionellen Kontext, bei dem neben kommerziellen Faktoren auch die durch KritikerInnen, Verlage, Wissenschaft, AutorInnen usw. vermittelte Anerken‐ nung und das daraus bezogene symbolische Kapital zu berücksichtigen sind. Literarische Texte werden also auch mit Bourdieus Feldtheorie auf ihren sozialen Entstehungskontext hin untersucht, dabei aber innerhalb des - seit Mitte des 19. Jh. weitgehend eigengesetzlichen - literarischen Feldes mit sei‐ nen spezifischen Determinanten betrachtet. So sind beispielsweise nicht al‐ lein das Klassenbewusstsein eines Autors und die materielle Situation seiner sozialen Gruppe soziale Determinanten für Form (z. B. Gattung) und Inhalt seiner Werke, sondern die Position im literarischen Feld: Eine junge, aufstre‐ bende Autorin wird zum Beispiel v. a. die Genres und Inhalte meiden, die von etablierten, mit hohem Kapital ausgestatteten Literaten vertreten werden, und stattdessen die ‚Lücken‘ im Feld suchen, die er besetzen kann, die Mög‐ lichkeiten der Subversion und Innovation ausloten. Grundlage dieses Agie‐ rens im Feld, der Stellungnahme (toma de posición) durch literarische Pro‐ duktion, ist der individuelle ‚Habitus‘ (habitus, m.), eine (meist unbewusste) Verhaltensdisposition, die das jeweilige Individuum im Laufe seiner Ausein‐ andersetzungen im Feld erworben hat, also die Anpassung seiner mentalen Strukturen an diejenigen des Feldes und seine Regeln. Feldexterne Impulse (wie Klassengegensätze) werden demgegenüber im autonomen literarischen Feld nicht direkt wirksam, sondern reinterpretiert. ? Lesen Sie den folgenden Textauszug aus einer literatursoziologischen Studie zum spanischen 18. und 19. Jh. und beantworten Sie die anschlie‐ ßenden Fragen. 218 10 Text, Autorschaft und Rezeption Text 10.4 Autonomisierung des lite‐ rarischen Feldes im spani‐ schen 18. und 19. Jh. Insertado en un campo social estratificado 1 , el ámbito 2 que hacia finales del siglo XIX español iba a constituir lo que P. Bourdieu denomina los “campos artístico y literario”, estaba determinado en la primera mitad del siglo XVIII por mecanismos de control ajeno 3 . Los representantes de los grupos sociales 5 dominantes en el campo del poder, los nobles y el clero, seguían acuñando 4 las convenciones del gusto. Así como el acceso a la erudición 5 estaba reservado a los que disponían de prestigio social y del capital económico necesario, así la producción y el consumo del arte estaban reservados a las mismas élites. Los 10 inicios de la formación de un campo (artístico y) literario y con ello el cambio del concepto de poesía se explican en el marco de un proceso durante el cual empezaba a flexibilizarse la rígida jerarquía 6 social. Correspondían estas transformaciones estructurales con las que se estaban produciendo paralelamente en los subcampos, de la economía, de la administración pública y de la educación. 15 En este último campo se manifestaban los primeros indicios de una diferenciación de espacios dedicados a la producción y el consumo de saberes específicos y de su institucionalización. Este desarrollo, si bien no 7 comenzó abruptamente con el cambio de dinastías, sí era llevado adelante por el “clima reformista” de los gobiernos de Felipe V y Fernando VI. Ahora bien, la presentación de la 20 organización del campo social y de las fuerzas que obraban en él se dedicará en lo siguiente a la identificación de aquellos actores e instituciones que iban a constituir el campo (artístico y) literario, la determinación de su posición en el campo social y de sus relaciones con el campo del poder. Para ello se ofrece partir de las clasificaciones españolas de las Artes y las Ciencias, con el fin de 25 aclarar, en particular, el concepto de lo que oficialmente se llamaba el Arte en aquellos años. (Gunia: 2008, 89) - 1 estratificado stratifiziert, in Schichten strukturiert - 2 ámbito Bereich, Sphäre - 3 ajeno fremd - 4 acuñar prägen - 5 erudición Bildung, Gelehrsamkeit - 6 jerarquía Hierarchie-- 7 si bien no wenn nicht ? Welche Konzepte der Bourdieuschen Feldtheorie werden von der Autorin aufgegriffen? Welche Voraussetzungen und welche Folgen hat der beschriebene Prozess der Autonomisierung des literarischen und künstlerischen Feldes? 10.6 Die Rezeption literarischer Werke Gegen Ende der 1960er Jahre gewann die Erkenntnis zunehmend an Einfluss, dass jegliche Bedeutungszuschreibung an einen Text nicht allein auf der Aus‐ sageabsicht der Autorin bzw. des Autors oder den biographischen bzw. (lite‐ 10.6 Die Rezeption literarischer Werke 219 Wer versteht was wie und warum? Text 10.5 Andrés Amorós: Introduc‐ ción a la literatura (1980) ratur-)geschichtlichen Bedingungen der Textentstehung beruht (produktions‐ ästhetische Deutung), auch nicht einseitig auf den formalen und inhaltlichen sinnstiftenden Bezügen im einzelnen Text selbst (werkimmanente Analyse; análisis inmanente, m.), sondern in besonderem Maße von der individuellen Wahrnehmung durch die Leserin oder den Leser erst geschaffen wird. Damit rückten die Fragen in den Vordergrund, wer auf Grund welcher Vorausset‐ zungen was in einem literarischen Text auf welche Art versteht. Ausgangs‐ punkt dieser auf den Leser ausgerichteten Theorie ist das bereits in Einheit 4.1 vorgestellte hermeneutische Grundprinzip, welches Sinn immer nur aus dem Blickwinkel eines diesen Sinn stiftenden Subjekts begreift, das von spezifi‐ schen historischen Rahmenbedingungen geprägt ist. Das heißt aber auch, dass es niemals eine endgültige Interpretation eines Textes geben kann, sondern nur eine geschichtliche Abfolge (ebenso wie ein zeitgleiches Nebeneinander) von unterschiedlichen Betrachtungsweisen, die auf je unterschiedlichen Vor‐ aussetzungen beruhen. Damit verliert das Kunstwerk seinen überzeitlichen Charakter; nicht seine unwandelbare, da formal-ästhetisch oder ideell vollen‐ dete Einzigartigkeit gilt es von Seiten der Leserinnen und Leser nachzuvoll‐ ziehen und zu erläutern, sondern seine zeitgebundene einstige wie auch da‐ von abweichend gegenwärtige Bedeutung ist zu erschließen. 1 Claro está que el éxito popular masivo (ambicionado por todo escritor, lo confiese o no) también tiene sus inconvenientes. Supongamos que el escritor ha alcanzado ya una cierta fama y - lo que es más importante, a estos efectos - posee un público lector, más o menos amplio, que le sigue con fidelidad. En ese 5 caso, no es aventurado suponer que los lectores, en general, seguirán pidiendo siempre a “su” autor el mismo tipo de obra; si se atreve a defraudar 1 estas esperanzas, es fácil que sus ventas desciendan y que le acusen de haber traicionado su auténtica línea, de que ya está en decadencia […] A la vez, cualquier escritor vivo sentirá la necesidad íntima de renovarse, de abrirse a nuevos horizontes 10 estéticos y vitales. En algunos casos, el conflicto puede llegar a plantearse con cierto dramatismo. El problema, por supuesto, no es exclusivo de los escritores; pensemos en el caso de los pintores de éxito, que forman parte de la “cuadra” de un marchante y se ven condenados, por razones comerciales, a repetirse monótonamente. 15 En términos generales, la imagen pública muy definida ayuda a vender un producto, pero también puede encadenar a su creador. Como se ha dicho tantas veces, se plantea el juego dialéctico entre la máscara y el rostro: algunos escritores crean su máscara, componen su propia figura; así, el público siente el placer de reconocer unos rasgos conocidos (como el visitante del museo disfruta 20 comprobando que las figuras del Greco son alargadas y las mujeres de Rubens, opulentas). (Amorós: 2001, 98) - 1 defraudar hier: enttäuschen 220 10 Text, Autorschaft und Rezeption Aufgabe 10.6 Literaturgeschichtliche Quellen Empirische Leserforschung ? Wie stellt dieser Text die Beziehung zwischen Leser und Autor dar? 10.6.1 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Wenn wir an dieser Stelle weiterdenken, so ergibt sich daraus für die Litera‐ turwissenschaft die Notwendigkeit, den historischen oder soziokulturellen Abstand zwischen dem eigenen Standpunkt und der Textwahrnehmung durch die zeitgenössische Leserschaft zu klären. Die Untersuchung von überlieferten Rezeptionszeugnissen (Fremdkommentare zu den oder Selbst‐ kommentare der AutorInnen; Stellungnahmen der Literaturkritik; literatur‐ geschichtliche Darstellungen oder Aufbereitung in schulischen Lehrbüchern, Rezensionen) hat insofern innerhalb der allgemeinen Literaturgeschichts‐ schreibung einen festen Platz. Sie vergegenwärtigen die historische Abfolge der einzelnen Interpretationen von literarischen Texten und werfen ein Licht auf ihre Wirkung auf das jeweilige Publikum. Es versteht sich, dass aus wissenschaftlicher Sicht die zeitbedingten Wandlungen in den Rezeptionsvo‐ raussetzungen in eine solche Betrachtung mit einbezogen werden müssen. Im speziellen Sinn beschäftigt sich die Rezeptionsforschung mit der Auf‐ nahme literarischer Texte einer Autorin bzw. eines Autors oder einer literari‐ schen Bewegung bei ihrem Publikum. Eine mögliche methodische Herange‐ hensweise besteht zum Beispiel in der Form von Umfragen beim literarischen Publikum der Gegenwart. Hierbei können umfassende empirische Datenmen‐ gen erhoben werden, welche über die sozialen oder psychologisch-kognitiven Faktoren Aufschluss geben, auf welchen die Lektüre und Wirkung der Texte beruht. Wichtige Faktoren können in diesem Zusammenhang sein: ▶ Alter, ▶ Geschlecht, ▶ Beruf, ▶ Bildungsstand, ▶ konfessionelle Ausrichtung, ▶ soziales Umfeld, ▶ Medienzugriff und Art ihrer Nutzung. Bestimmte Gattungen oder Gruppen literarischer Werke lassen sich beson‐ ders prägnant vor dem Hintergrund ihres vorrangigen Publikums definieren, etwa die v. a. von einer weiblichen Leserschaft konsumierten Ärzteromane oder die Kinderliteratur, die eigenen Rezeptionsansprüchen genügen muss. Eine andere Zugriffsmöglichkeit bietet die Auswertung historischer Quel‐ len, etwa der Benutzerverzeichnisse von Leihbüchereien, die es ermöglichen, das Publikum bestimmter Textsorten im Hinblick auf seine sozialen Voraus‐ setzungen und seine Geschmacksbildung näher zu bestimmen. 10.6 Die Rezeption literarischer Werke 221 Der hermeneutische Zirkel Abb. 10.15: Der hermeneutische Zirkel als Spiralmodell Rezeptionsästhetik 10.6.2 Rezeptionsästhetik Neben das hier grob umrissene historisch-soziologische Interesse an der Leserschaft tritt die hermeneutische Betrachtung des Lesevorgangs an sich, d. h. als Prozess der Informationsverarbeitung und Bedeutungsbildung. Als Basis dient den entsprechenden literaturtheoretischen Ansätzen die An‐ nahme, dass ein Text in seinem Sinngehalt nicht von vornherein vollständig vorliegt, sondern vielmehr durch ‚Leerstellen‘ (‚espacios en blanco‘) bzw. eine charakteristische ‚Unbestimmtheit‘ (indeterminación) gekennzeichnet ist: Sinn oder Bedeutung sind in der Regel gerade nicht explizit ausformuliert, sondern werden z. B. nur in Anspielungen, Symbolen, Auslassungen oder zu erstellenden Zusammenhängen erahnbar; dies zwingt die Lesenden, selbst aktiv zu werden, auf der Grundlage ihres augenblicklichen Verständnisses Hypothesen über die Deutung des Textes aufzustellen und sie mit Hilfe der weiteren Informationen des Textes zu überprüfen. Diese Beobachtung lässt sich in Anlehnung an Hans-Georg Gada‐ mer im Modell des hermeneuti‐ schen Zirkels aufgreifen, der be‐ reits in Einheit 4.1 vorgestellt wurde und auf den wir an die‐ ser Stelle noch einmal zurückkom‐ men: Das Vorwissen, das die Lese‐ rInnen mit in die Lektüre eines Textes hineintragen, ermöglicht ih‐ nen erste Deutungsansätze in Bezug auf den Gesamttext. Dieses anfäng‐ liche Textverständnis ändert sich jedoch im Laufe der Lektüre, je mehr neue Informationen gewonnen werden. Erst nach Abschluss der Lektüre ergibt sich ein mehr oder weniger kohärenter Gesamteindruck. Dieser dient als Vorverständnis (oder Teilverständnis) ‚zweiten Grades‘ für die - wichtige! - nochmalige Lektüre, die es ermöglicht, die zuvor oft nicht zufriedenstellend geklärten Textpartien sozusagen in einem neuen Licht zu lesen. Doch damit ist die Spiralbewegung des anwachsenden Textverständnisses noch nicht abgeschlossen: Immer neue Lektüren führen zu einem immer stimmiger erscheinenden Gesamteindruck vom Text (oder aber zur Erkenntnis seiner nicht auflösbaren Unstimmigkeiten; siehe Einheit 11.2.2), ohne aber freilich jemals die Gewähr für eine ‚richtige‘ oder einzig plausible Interpretation geben zu können. Den wichtigsten Beitrag zur Theorie der literarischen Rezeption von Seiten der deutschsprachigen Romanistik legte der Konstanzer Literaturwis‐ senschaftler Hans-Robert Jauß (1921-1997) in der von ihm begründeten Rezeptionsästhetik (estética de la recepción) vor. Ihr Augenmerk richtet sich 222 10 Text, Autorschaft und Rezeption Erwartungshorizont Ästhetische Distanz Text 10.6 Hans-Robert Jauß zum Erwartungshorizont auf die wechselseitige Bezogenheit von Geschichte, Werk und Lesenden im sinnbildenden Prozess der Lektüre. Von besonderer Bedeutung ist hierbei das von Seiten der Leserin oder des Lesers mit eingebrachte allgemeine Vorwissen bzw. das Vorverständnis vom Text, das Jauß im Begriff des ‚Erwartungshori‐ zonts‘ erfasst. Der Erwartungshorizont (horizonte de expectativas) des Lesers leitet sich aus seinem persönlichen Vorwissen, seiner Leseerfahrung vor dem allgemei‐ nen geschichtlichen Hintergrund ab: ▶ die Erfahrung von LeserInnen im Umgang mit literarischen Formen (etwa die adäquate Einschätzung von Fiktionalität) und ihre Kenntnis von benachbarten Texten (evtl. von den betreffenden AutorInnen selbst), zu denen sich inhaltliche oder formale Bezüge stiften lassen (literaturge‐ schichtliches Vorwissen); ▶ die sich daraus speisenden meist unbewussten Annahmen, welche die Le‐ serInnen vor ihrem kulturellen Hintergrund dem Text entgegenbringen, ihre Erwartungshaltung (z. B. bezüglich des glücklichen Ausgangs einer Komödie oder der rhetorischen Gestaltung eines Renaissance-Sonetts); ▶ sämtliche persönlichen Erfahrungen der LeserInnen, die bei der Lektüre angesprochen werden; ▶ die in einer bestimmten Gesellschaft geltenden Konventionen und Nor‐ men, z. B. geteilte Auffassungen über Geschlechterrollen oder moralische Grundwerte. Gemäß der Dynamik des hermeneutischen Zirkels wird der vom Text bei den LeserInnen zunächst aufgerufene Erwartungshorizont nur in Teilen im Ver‐ lauf der Lektüre bestätigt, in anderen Bereichen aber widerlegt oder modifi‐ ziert. Werden alle in einen Text gelegten Erwartungen des Publikums erfüllt, so ist dies für Jauß ein untrügliches Zeichen seiner Trivialität und eines nur geringfügigen ästhetischen Wertes. Denn die ästhetische Erfahrung, welche die Lesenden in ihrer Auseinandersetzung mit einem Text machen können, beruht genau auf seinem Anteil an unvermuteten Lösungen, seiner nicht-kli‐ scheehaften Neuerungskraft. Die Distanz zwischen dem Erwartungshorizont der Leserschaft und dem neuen Werk - die sog. ästhetische Distanz (distancia estética) - spricht Jauß zufolge für seine künstlerische Qualität. Sollte sie sich als wegbereitend für eine Umorientierung des herrschenden literarischen Geschmacks bzw. der gültigen literarischen Normen erweisen, so kann ein regelrechter Horizontwandel (cambio de horizonte) stattfinden, welcher den Erwartungshorizont des Publikums gegenüber den zukünftig erscheinenden Texten bedingt. 1 […] Ein literarisches Werk, auch wenn es neu erscheint, präsentiert sich nicht als absolute Neuheit in einem informatorischen Vakuum, sondern prädisponiert sein Publikum durch Ankündigungen, offene und versteckte Signale, vertraute 10.6 Die Rezeption literarischer Werke 223 Aufgabe 10.7 Horizontwandel Merkmale oder implizite Hinweise für eine ganz bestimmte Weise der Rezeption. 5 Es weckt Erinnerungen an schon Gelesenes, bringt den Leser in eine bestimmte emotionale Einstellung und stiftet schon mit seinem Anfang Erwartungen für ‚Mitte und Ende‘, die im Fortgang der Lektüre nach bestimmten Spielregeln der Gattung oder Textart aufrechterhalten oder abgewandelt, umorientiert oder auch ironisch aufgelöst werden können. Der psychische Vorgang bei der 10 Aufnahme eines Textes ist im primären Horizont der ästhetischen Erfahrung keineswegs nur eine willkürliche Folge nur subjektiver Eindrücke, sondern der Vollzug bestimmter Anweisungen in einem Prozeß gelenkter Wahrnehmung, der nach seinen konstituierenden Motivationen und auslösenden Signalen erfaßt und auch textlinguistisch beschrieben werden kann.-[…] 15 Ein entsprechender Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontverän‐ derung bestimmt auch das Verhältnis vom einzelnen Text zur gattungsbildenden Textreihe. Der neue Text evoziert für den Leser (Hörer) den aus früheren Texten vertrauten Horizont von Erwartungen und Spielregeln, die alsdann variiert, korrigiert, abgeändert oder auch nur reproduziert werden. Variation 20 und Korrektur bestimmen den Spielraum, Abänderung und Reproduktion die Grenzen einer Gattungsstruktur. Die interpretierende Rezeption eines Textes setzt den Erfahrungskontext der ästhetischen Wahrnehmung immer schon voraus: die Frage nach der Sub‐ jektivität oder Interpretation und des Geschmacks verschiedener Leser oder 25 Leserschichten kann erst sinnvoll gestellt werden, wenn zuvor geklärt ist, welcher transsubjektive Horizont des Verstehens die Wirkung des Textes bedingt. Der Idealfall der Objektivierbarkeit solcher literarhistorischen Bezugssysteme sind Werke, die den durch eine Gattungs-, Stil- oder Formkonvention gepräg‐ ten Erwartungshorizont ihrer Leser erst eigens evozieren, um ihn sodann 30 Schritt für Schritt zu destruieren, was durchaus nicht nur einer kritischen Absicht dienen, sondern selbst wieder poetische Wirkungen erbringen kann. […] ( Jauß: 1970, 175 f.) ? Wieso verläuft dem obigen Textauszug zufolge die sinngebende Lek‐ türe eines Textes nicht willkürlich? Was versteht Jauß unter einem ‚transsubjektiven Horizont‘? Der Erwartungshorizont ermöglicht es, dass der literarische Text im seltensten Fall als eine hoffnungslose Ansammlung von Unbestimmtheits- oder Leerstellen empfunden wird. Nicht zuletzt sorgt der Text selbst dafür, dass er die Lektüre der Leserschaft in gewissem Maße lenkt. Seine sog. Appellstruktur (estructura apelativa; Wolfgang Iser) plant die Mitarbeit der Lesenden an der Deutung von Leerstellen von vornherein mit ein, so dass bewusst gesetzte Textmerkmale die Aufmerksamkeit kanalisieren helfen. In Form des fikti‐ 224 10 Text, Autorschaft und Rezeption Impliziter Leser Zusammenfassung ven, also nur gedachten impliziten Lesers (lector implícito) baut der Text sei‐ nerseits eine Art Erwartungsprofil im Hinblick auf sein vermutetes Publikum auf, indem er sich an dessen Erwartungshorizont anpasst, und suggeriert ihm fast unmerklich eine bestimmte Leserrolle (z. B. die Rolle des absichtlich pro‐ vozierten Lesers in Teilen der surrealistischen Literatur). Literaturwissenschaftliche Interpretationsmethoden zielen auf objekti‐ viertes Textverstehen ab, das erreicht werden kann, wenn der Erkennt‐ nisweg (Methode) und die Prämissen (Vorannahmen über eine sinnvolle ‚Frage an den Text‘, über den entscheidenen Faktor der literarischen Kommunikation) offengelegt und plausibel gemacht werden. Die jewei‐ ligen Prämissen ermöglichen eine Klassifizierung von Interpretationsan‐ sätzen. Autor- und produktionsorientierte Zugänge gehören mit dem Positivismus und den teils als Gegenbewegung entstandenen geistesge‐ schichtlichen und autorstilistischen Ansätzen zu den fachgeschichtlich ersten Interpretationsmodellen. Das durch Freuds Psychoanalyse radikal veränderte Bild vom Individuum führte zu Literaturauffassungen, die nunmehr weniger auf die bewusste als die unbewusste psychische Leis‐ tung des Autors/ der Autorin abhoben. Freud sieht den künstlerischen Schaffensprozess analog zur Phantasiebefriedigung im Traum und pos‐ tuliert die Übertragbarkeit entsprechender Deutungsmethoden auf den literarischen Text. Literatursoziologischen Ansätzen ist demgegenüber gemeinsam, dass sie Literatur als zwar durch ein Individuum realisiert, aber letztlich durch gesellschaftliche Gegebenheiten bedingt sehen. Die marxistische Literaturwissenschaft geht von einer letztinstanzlichen De‐ terminierung des literarischen Textes durch die ökonomischen Grund‐ lagen (Basis) aus. Der Ansatz von Erich Köhler stimmt grundsätzlich damit überein, berücksichtigt aber stärker die Tatsache einer meist nur sehr indirekten Spiegelung des Ökonomischen in literarischen Texten. Bourdieus Feldtheorie engt demgegenüber den Fokus auf das weitgehend autonome literarische Feld ein, in dem sich ein Text und sein Autor bzw. seine Autorin positioniert. Rezeptionsorientierte Ansätze beruhen demgegenüber auf der Einsicht, dass literarische Texte nicht nur von Beginn an für eine Leserschaft geschrieben, sondern auch von LeserIn‐ nen erst mit Bedeutung gefüllt werden. Die grundsätzliche teilweise Unbestimmtheit der Texte ermöglicht eine Beteiligung der RezipientIn‐ nen, fordert sie sogar durch ihren Appellcharakter, und hier kommen neben individuell-biographischen auch geschichtliche, sozio-kulturelle und literarhistorische Bedingungen zum Tragen. Wichtige Texte, die über lange Zeiträume hinweg gelesen werden, treffen dabei nicht nur auf wechselnde Rahmenbedingungen und Erwartungen der jeweiligen Leserschaft, sondern gestalten letztere selbst durch ihre anfangs innova‐ 10.6 Die Rezeption literarischer Werke 225  tive Kraft mit und verändern damit den Horizont, mit dem spätere Texte gelesen (und geschrieben) werden. Literatur José Alsina Clota: Problemas y métodos de la Literatura. Madrid: Espasa-Calpe 1984. Charles Aubrun: „La miseria en España en los siglos XVI y XVII y la novela pica‐ resca“, in: Arthur Doucy u. a. (Hg.), Literatura y sociedad. Problemas de metodología en sociología de la literatura. Barcelona: Roca 1969, 143-152. Carlos Blanco Aguinaga u. a.: Historia social de la literatura española (en lengua castellana). 3 Bände. Madrid: Akal 3 2000. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 6 2014. Carlos Feal Deibe: „García Lorca y el psicoanálisis. Apostillas a unas apostillas“, in: Bulletin of Hispanic Studies 54 / 1977, 311-314. Juan Ignacio Ferreras: Fundamentos de sociología de la literatura. Madrid: Cátedra 1980. Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen. Frank‐ furt / Main: Fischer 3 2014. Inke Gunia: De la poesía a la literatura. El cambio de los conceptos en la formación del campo literario español del siglo XVIII y principios del IXI. Frankfurt a. M.: Vervuert / Madrid: Iberoamericana 2008. Erich Köhler: Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch-soziologischen Literaturwissenschaft. München: Fink 1976. Mariano José de Larra: „Literatura. Rápida ojeada sobre la historia e índole de la nuestra. Su estado actual. Su porvenir. Profesión de fe“ (El Español, 18 de enero de 1836), in: Ders., Artículos de crítica literaria y artística. Hg. J. R. Lomba y Pedraja. Band II. Madrid: Espasa-Calpe 1940, 158-169. Georg Lukacs: Die Theorie des Romans. Berlin: Cassirer 1920. Hippolyte Taine: Philosophie der Kunst. Berlin: Spiess 1987. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 226 10 Text, Autorschaft und Rezeption Überblick 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus Inhalt 11.1 Strukturalismus 11.1.1 Zum Begriff ‚Struktur‘ 11.1.2 Der strukturalistische Umgang mit Texten 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 11.2.1 Intertextualität 11.2.2 Dekonstruktion 1.2.3 Historische Diskursanalyse In der dritten methodenzentrierten Einheit werden Sie zunächst mit den Grundzügen des sog. linguistic turn verschiedener Wissenschaften vertraut gemacht, der die Sprache als ein grundlegendes Ordnungsmodell auffasste und zu einer (teilweisen) Umorientierung des literaturwissen‐ schaftlichen Feldes führte. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse des Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure wurde ‚Text‘ in erster Linie als Struktur und System und nicht mehr als durch Schrift fixierte Gedanken verstanden. Der Einfluss dieser Betrachtungsweise auf zahl‐ reiche weitere Entwicklungslinien theoretischer Ansätzen soll Ihnen anschließend in Auswahl vorgestellt werden. So wurde die Ausweitung des Textbegriffs von einer allgemeinen Theorie der Intertextualität be‐ gleitet, welche auf die unüberschaubare Vielfalt der Sinnbezüge zwischen Texten verschiedenster medialer Form hinwies. Damit ging aber auch in der sog. poststrukturalistischen Phase der Theoriebildung eine Betonung der Vieldeutigkeit (Polysemie) des Textes einher, die jegliche eindeutige Sinnfixierung in Frage stellte, sie dekonstruierte. Als weitere nach-struk‐ turalistische Theorie zeigt die Historische Diskursanalyse wiederum, wie scheinbar zeitlose Konzepte über ‚naturgegebene‘ Gegenstände in Wirklichkeit das Ergebnis bestimmter geschichtlicher Regeln und Macht‐ strukturen sind. Der literarische Text als Zeichensystem Saussures duales Zeichen‐ modell Abb. 11.1 Ferdinand de Saussure (1857 -1930) Langue und parole Paradigma 11.1 Strukturalismus Unter dem Sammelbegriff ‚Strukturalismus‘ (estructuralismo) werden in der Regel eine Reihe von Modellen und Methoden zusammengefasst, die sich in literaturtheoretischer Hinsicht seit der Mitte der 1950er Jahre entfalten konn‐ ten und bis heute in vermittelter Form einen nachhaltigen Einfluss auf die Literatur- und Kulturwissenschaft ausüben. Bereits der russische Formalis‐ mus hatte zu Beginn des Jahrhunderts versucht, literarische Texte anhand linguistischer Kriterien von alltagssprachlichen Texten zu unterscheiden. Die Prager Strukturalisten um Roman Jakobson (1896-1982) sahen darauf auf‐ bauend hinter der poetischen Funktion der Sprache eine besonders dichte Strukturierung des Signifikanten, also des Lautbildes bzw. der materiell fass‐ baren äußeren Textgestalt. Dadurch wurde eine neue Sichtweise vom Text als geordnetes System von Zeichen entworfen. Der Text sollte aus strukturalis‐ tischer Sicht nicht mehr in Abhängigkeit von äußeren Faktoren interpretiert werden (auch nicht der etwaigen Aussageabsicht der AutorInnen), sondern als ein selbständiges Gebilde, dessen Bedeutung sich allein aus den in ihm selbst verankerten Elementen und ihrer Verknüpfung zu einem eine Ganzheit formenden System ergibt. Der Frage, wie genau eine solche Bedeutung zu‐ stande kommt, widmet sich die strukturalistische Analyse, welche der inter‐ pretatorischen Willkür einer subjektiven Textauslegung vorbeugen will. Der Vorstellung von Sprache und Text als einem in sich kohärenten System liegen unter anderem zwei Einsichten des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure (1857-1913) und seines 1916 erschienenen Cours de linguistique générale zu Grunde. Zum einen stellte er ein Zeichenmodell vor, in dem die lautliche Gestalt des Gesprochenen (der Signifikant; el signi‐ ficante) in einer willkürlichen (arbiträren), auf Konventionen beruhenden Beziehung zum inhaltlichen Konzept oder Vorstellungsbild (das Signifkat; el significado), steht (siehe Einheiten 1.2 und 4.2). Zum anderen verweist Saussure auf den Unterschied zwischen einem abstrakten Gesamtsystem der Sprache (frz. langue; span. lengua), das von bestimmten sprachlichen Regeln definiert wird und das beim Sprechen jeweils von den Sprechenden in einer individuellen Form einen Ausdruck findet (frz. parole; span. habla), der nur eine von zahllosen Möglichkeiten darstellt. In einer solchen konkreten Äu‐ ßerung, also etwa dem gesprochenen oder geschriebenen Satz, beruht die Be‐ deutung auf der Stellung des einzelnen sprachlichen Zeichens innerhalb grö‐ ßerer Zusammenhänge: ▶ auf der paradigmatischen Ebene wird ein Zeichen unter vielen gleichar‐ tigen, assoziativ miteinander verknüpften Zeichen ausgewählt, wobei sich seine eigene Bedeutung erst aus der Abgrenzung zu den verwandten Zeichen derselben Gruppe, des Paradigmas (el paradigma), ergibt (ein vereinfachtes Beispiel: unter ‚Hut‘ verstehen wir etwas anderes als unter 228 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus Syntagma Bedeutung als ‚relationaler‘ Begriff Ein System von Funktionen Formalisierung ‚Mütze‘ oder ‚Kappe‘, welche jeweils mögliche Bedeutungsunterschiede innerhalb des Oberbegriffs ‚Kopfbedeckung‘ angeben); ▶ auf der syntagmatischen Ebene wird das ausgewählte Zeichen in die syn‐ taktische Struktur eingereiht, d. h. es tritt in Beziehung zu den anderen Bestandteilen des Satzes, welche unterschiedliche Funktionen tragen und erst in ihrer Gesamtheit die Satzaussage bilden (el sintagma). Aus diesen Grundannahmen leitet sich ab, dass sprachliche Zeichen (Laute, Wörter, Satzgebilde, etc.) sich nicht mehr vornehmlich aus dem Bezug zur Wirklichkeit ableiten, sondern zuerst als formale Relation betrachtet werden. Das Zeichen erhält einen Status als objektiv beschreibbarer wissenschaftli‐ cher Gegenstand, der nur durch seine Stellung innerhalb des eigenen Systems definiert wird. Den sprachlichen Zeichen kann genau dann eine präzise Funk‐ tion zugeschrieben werden, wenn man ihre genaue Position innerhalb dieses übergeordneten Systems bestimmt: Sie müssen als Teil einer ‚Struktur‘ er‐ kannt werden, welche allein die Bedeutung trägt. 11.1.1 Zum Begriff ‚Struktur‘ Unter ‚Struktur‘ (estructura) ist die rein formale Beziehung der Teile eines Ganzen zueinander zu verstehen (vgl. Einheit 4.1). Daher kann der Struktur‐ begriff auch von zahlreichen Wissenschaften auf ihre diversen Untersu‐ chungsgegenstände angewandt werden, außer in den Naturwissenschaften etwa in der Sprachwissenschaft, der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie, der Psychoanalyse etc. Die Art und Weise, wie welche Ein‐ zelelemente miteinander verknüpft sind, verleiht ihnen im Rahmen des über‐ geordneten Ganzen ihre jeweiligen Funktionen. Ein festes Beziehungsgefüge von Funktionen ergibt eine Struktur, die sich wiederum innerhalb eines Ge‐ samtsystems von Strukturen (z. B. der Sprache) eingliedert. Eine Struktur kann nicht unter Anwendung empirischer Verfahren ‚bewiesen‘ werden, son‐ dern ist nur über die theoretische Modellbildung ableitbar, also ein Konstrukt des menschlichen Geistes, nicht aber eine quasi materielle Eigenheit des be‐ trachteten Objekts. Die Aufdeckung von Strukturen, die einem Untersuchungsgegenstand seine Bedeutung verleihen, läuft darauf hinaus, von den inhaltlichen oder formalen Details abzusehen, denn letztere sind lediglich Ausdruck einer spe‐ zifischen, auf externe Rahmenbedingungen zurückführbaren Aktualisierung oder Füllung ihres strukturellen Gerüsts. Die Perspektive richtet sich also nicht mehr auf eine historische Vielfalt von Formen (diachrone Perspektive; perspectiva diacrónica), sondern auf die Regeln, durch die ein Feld von gleichzeitig existierenden Phänomenen abgesteckt werden kann (synchrone Perspektive; perspectiva sincrónica). Damit einher geht aber zugleich die Suche nach abstrakten Formeln, nach möglichst allgemeingültigen Schemata, 11.1 Strukturalismus 229 Aufgabe 11.1 Text 11.1 Roland Barthes: Die strukturalistische Aktivität welche eine Vielzahl von gleichartigen individuellen Ausgestaltungen der Struktur erfassen können. Im Anklang an die Formulierung fundamentaler Gesetzmäßigkeiten, wie sie von den Naturwissenschaften vorgenommen wird, versuchen die Richtungen des Strukturalismus daher, abstrakte, forma‐ lisierte Beschreibungen ihrer Gegenstände zu erstellen. ? Betrachten wir zur Konkretisierung und gleichzeitig zur Übung als fiktives Beispiel folgenden Vorgang: Jemand möchte ein Medium an einer entsprechenden Leihstelle ausleihen. Dabei ist es im Prinzip unerheblich, ob es sich bei dem Medium um ein Buch, eine Zeitschrift, eine DVD, eine CD, eine Landkarte oder Ähnliches handelt. Auch macht es keinen grundlegenden Unterschied aus, ob er sein Medium einer kommunalen, kirchlichen oder universitären Einrichtung entnimmt oder ggf. von einer Videothek oder einem anderen spezialisierten Anbieter bezieht. Wie könnten Sie mit eigenen Worten die für das Entleihen nötigen Schritte beschreiben, so dass sie für alle möglichen Fälle zutreffen? Die obige Aufgabe ist lediglich ein Beispiel für die vielfältigen Untersu‐ chungsfelder, die mit Hilfe strukturalistischer Ansätze erschlossen werden können. Ihnen allen gemeinsam ist ein Vorgehen, das der französische Sprachwissenschaftler und Literaturkritiker Roland Barthes (1915-1980) in einem berühmten Aufsatz wie folgt beschrieb: 1 -[…] Der Strukturalismus ist demnach für alle seine Nutznießer im wesentlichen eine Tätigkeit, das heißt die geregelte Aufeinanderfolge einer bestimmten Anzahl geistiger Operationen: man könnte von strukturalistischer Tätigkeit sprechen, wie man von surrealistischer Tätigkeit gesprochen hat-[…] 5 Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein „Objekt“ derart zu rekonstituieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine „Funktionen“ sind). Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein Simulacrum 1 des Objekts, aber ein gezieltes, „interessiertes“ Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas 10 zum Vorschein bringt, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb. Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen; das ist scheinbar wenig (und veranlaßt manche Leute zu der Behauptung, die strukturalistische Arbeit sei „unbedeu‐ tend, uninteressant, unnütz“ usw.). Und doch ist dieses Wenige, von einem 15 anderen Standpunkt aus gesehen, entscheidend; denn zwischen den beiden Objekten, oder zwischen den beiden Momenten strukturalistischer Tätigkeit bildet sich etwas Neues, und dieses Neue ist nichts Geringeres als das allgemein Intelligible: das Simulacrum, das ist der dem Objekt hinzugefügte Intellekt, und dieser Zusatz hat insofern einen anthropologischen Wert, als er der Mensch 230 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus Aufgabe 11.2 Anordnung des sprachlichen Materials 20 selbst ist, seine Geschichte, seine Situation, seine Freiheit und der Widerstand, den die Natur seinem Geist entgegensetzt. Man sieht also, warum von strukturalistischer Tätigkeit gesprochen werden muß: Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer „Abdruck“ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber 25 nicht kopieren, sondern verständlich machen will. (Barthes: 1966, 191 f.) - 1 Simulacrum-- Modell, Nachbildung ? Nach welchen Kriterien erfolgt laut Barthes das Zerlegen und die Rekonstruktion des Untersuchungsgegenstandes? Was ist das Ziel dieser beiden Operationen? 11.1.2 Der strukturalistische Umgang mit Texten Die von Barthes vorgeschlagene Zergliederung und anschließende modell‐ hafte Nachbildung eines Textes entspricht der in Einheit 4 eingeführten Strukturanalyse, wobei das „Objekt“ oder „Simulacrum“ bei Barthes auf das verweist, was wir als ‚Modell textinterner Funktionen‘ bezeichnet haben. Sie lässt sich prinzipiell auf jede Textsorte anwenden, doch verdienen gerade li‐ terarische Texte besonderes Interesse, denn sie zeichnen sich aus struktura‐ listischer Sicht durch eine spezielle Verwendung der Sprache aus (Literarizität bzw. Poetizität), welche sie von den Formen der Alltagssprache unterscheidet (vgl. hierzu Einheit 1.1). Literarische Texte verweisen auf die gesteigerte Be‐ deutung ihres sprachlichen Materials und seiner Anordnung, indem auf den Ebenen des Lautes, des Satzbaus und der Konzepte (also auf der phonologi‐ schen, syntaktischen und inhaltlich-konzeptuellen Ebene) Strukturen ables‐ bar werden. Der Text soll in der Gesamtheit seiner bedeutungstragenden Strukturen erfasst werden. Aufschlussreich für die Textanalyse sind insofern vor allem ▶ Äquivalenzen, Homologien (Entsprechungen, Ähnlichkeiten), ▶ Parallelen, ▶ Inversionen und ▶ Gegensätze (Oppositionen) als mögliche Beziehungsmuster zwischen Textelementen im Gesamtzusam‐ menhang. Wichtige strukturelle Beziehungen ergeben sich ▶ in der Gestaltung von Vers, Metrum, Rhythmus und ▶ im Aufbau und in der Anordnung der Strophen für die Lyrik, ▶ in Form von Stilmitteln und Tropen, 11.1 Strukturalismus 231 Text 11.2 Narciso Pizarro: Análisis estructural de la novela (1970) ▶ als gemeinsamer semantischer Bezug einzelner Ausdrücke (die Bildung von Isotopieebenen; siehe Einheit 4.2), ▶ aus der Betrachtung von Handlungstypen, Figurentypen, Bewegungs‐ richtungen, örtlicher Lage, zeitlicher Abfolge und weiterer schematisier‐ barer Aspekte (vgl. Einheit 8.3). Im Prinzip haben Sie das skizzierte Vorgehen bei der Textanalyse in einer grundlegenden Form bereits in Einheit 4 kennengelernt. Eine strukturalisti‐ sche Analyse im engeren Sinne geht jedoch bei ihrer Textbeschreibung weit über die dort vorgestellte Systematik hinaus. Ihr streng formales Verfahren ist in Reinform allerdings nur selten befolgt worden. Seine konsequenteste Anwendung fand es bei der Untersuchung von Textsorten, die von vornherein über eine gewisse Geschlossenheit und sorg‐ fältige Konstruktion verfügten, v. a. im Bereich der Lyrik. Daneben wurden besonders auf dem Gebiet der Analyse narrativer Texte Standards gesetzt (vgl. Einheit 8), denn die Zergliederung der Texte in ihre strukturbildenden Funktionszusammenhänge ermöglichte die Schaffung neuer Kategorien, so der Tiefenstruktur bei Greimas (vgl. Einheit 8.3.1) oder die narratologischen Untersuchungsfelder ‚Distanz‘, ‚Fokalisierung‘ oder ‚Stimme‘ bei Genette (vgl. Einheit 8.2). Eine Illustration des Bestrebens, einen Text in seine grundlegenden Funk‐ tionen zu zergliedern, gibt Narciso Pizarro in Análisis estructural de la novela am Beispiel der fundamentalen Handlungselemente (hier: ‚acontecimiento‘). 1 La noción de acontecimiento - definida como descripción de un proceso de producción o de cambio en el que interviene al menos un personaje - es un concepto fundamental del método de análisis aquí propuesto.-[…] En una novela, por ejemplo, un acontecimiento A i es: X se casó con Y. Analizado 5 como acontecimiento para X (en el discurso de X), A i representa la producción de una significación por el intercambio con Y. En la misma novela, y en un elemento de discurso precedente, sabemos que para X (X soporte de ese elemento de discurso) el matrimonio con Y (potencial todavía) representa la realización del valor “interés económico”, A i es entonces, par X, la realización del valor interés 10 económico (en el proceso A i ). El esquema (1) indica las distinciones efectuadas. Estas distinciones no presen‐ tan demasiadas dificultades. Lo que sí es difícil es la representación de los valores realizados - o no - en cada acontecimiento. En efecto, decir que A i es R (V i ) para X, no es difícil. Lo difícil es establecer en el análisis del discurso soportado por X 15 cuál es el conjunto de valores realizados en el acontecimiento: es decir, establecer la notación completa de cada A i en términos de V i . En otras palabras, la significación de A i para el personaje, en el discurso soportado por el personaje… Esquema (1) Acontecimiento A i : “X (se casa con) Y” 232 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus Aufgabe 11.3 Aufgabe 11.4 20 representación de un proceso de intercambio entre X e Y: intercambio de informa‐ ción significante (“sí quiero”). representación de la realización de un valor para X (en el discurso de X) y de otro (que puede ser el mismo) valor para Y (en el discurso de Y), es decir, efectuación de la inserción del (de los) soporte(s) en un proceso (social) de producción de cambio. 25 El ancontecimiento se analiza entonces como R (V 1 ) para X, como R (V 2 ) para Y. Para X casarse con Y. → realización del interés económico-= R (V 1 ) A 1 para X-= R (V 1 ) A 1 para Y-= R (V 2 ) - (Pizarro 1970: 147-150) - 1 soporte-- Träger, Urheber ? Welche einzelnen Schritte durchläuft Pizarros Argumentation im obigen Textauszug? ? Beziehen Sie Pizarros Beschreibung auf Barthes’ Erläuterungen in Text 11.1. Inwiefern ist das, was Pizarro beschreibt, eine „strukturalistische Tätigkeit“? Der wegweisende Einfluss des strukturalistischen Ansatzes lässt sich letztlich darauf zurückführen, dass er zu einer neuen Systematisierung der Textanalyse führte, die intersubjektiv überprüfbare Aussagen ermöglicht. Während die strukturalistische Textanalyse im engeren Sinne jedoch darauf ausgerichtet war, am konkreten Textbeispiel objektivierbare Strukturen aufzudecken und daraus verallgemeinerbare Schlussfolgerungen zu ziehen, wurde die von Saussure eingeleitete Skepsis gegenüber der Eindeutigkeit sprachlicher Mitteilungen seit Ende der 1960er Jahre noch radikalisiert. Die Arbitrarität des Zeichens wurde nunmehr zum Anlass genommen, über die formale Anordnung sprachlicher Zeichen hinaus weiter reichende Aussagen über die Möglichkeiten der mensch‐ lichen Kommunikation zu treffen. In der Folge stießen von nun an die rein formale Analyse wie auch das strukturalistische Selbstverständnis einer ebenso exakten wie formalisierbaren Wissenschaft auf Ablehnung. Stattdessen wurde die grundlegende Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen der Entste‐ hung oder Zuschreibung von Bedeutung in den Mittelpunkt gerückt. Vor allem in Frankreich, wo der Strukturalismus ausgehend von der Linguistik bereits in zahlreichen Disziplinen (Anthropologie, Psychologie, Literaturwissenschaft) präsent war, entwickelten sich eine ganze Reihe von theoretischen Ansätzen und Disziplinen, die sich mittelbar aus den strukturalistischen Vorgaben speisten. 11.1 Strukturalismus 233 Entgrenzung des Textes Intertextualität als Grund‐ phänomen Abb. 11.2 Julia Kristeva (*1941) Nicht wenige der Beteiligten überwanden in diesem Zusammenhang ihre eige‐ nen früheren Positionen oder führten sie in eine andere Richtung weiter. Dabei entstand ein komplexes wissenschaftliches Feld, das kein in sich geschlossenes Gesamtbild abgeben konnte oder wollte. 11.2 Poststrukturalistische Ansätze Ohne der Bandbreite der Ansätze gerecht werden zu können, kann festgehalten werden, dass mit der Zeit im Bereich der poststrukturalistischen Theoriebil‐ dung der Bezugsrahmen erweitert wurde und über den Einzeltext (oder das in sich geschlossene Zeichensystem) hinauswies (pos[t]estructuralismo). Indem der Referent (und damit letztlich außertextuelle Faktoren) erneut eine Rolle spielten, erfolgte eine Loslösung vom rein immanenten Vorgehen bei der Analyse. Je mehr das Gewicht dabei auf die Feststellung verlagert wurde, dass ein Zeichen eine schier unüberblickbare Vielfalt möglicher Bezüge und Bedeu‐ tungen umfassen kann, desto mehr wurde auch die Vorstellung aufgegeben, man könne feste Bedeutung tragende Strukturen und präzise modellierbare Systeme ausmachen, die als ebenso objektive wie eindeutige Analyseergebnisse vorlägen. Der Akzent wurde stattdessen bisweilen auf die prinzipielle Unend‐ lichkeit der vom Zeichen hervorgebrachten Verweise gelegt. 11.2.1 Intertextualität In diesem Zusammenhang ist es aus literaturwissenschaftlicher Sicht besonders interessant, sich mit den in einem Text enthaltenen Verweisen auf andere Texte zu beschäftigen. Obwohl absichtliche Bezüge im Allgemeinen ebenfalls unter den Begriff ‚Intertextualität‘ (intertextualidad) fallen, basiert der intertextuelle Ansatz in einem weitaus fundamentaleren Sinne gerade auf der Ausklamme‐ rung von bewussten Anspielungen eines Autors/ einer Autorin auf ehemalige Lektüren. Dass literarische Texte sich auf andere Texte beziehen, wird vielmehr als eine ganz grundsätzliche Eigenschaft angesehen, die auf dem sozialen Cha‐ rakter der Sprache beruht: Alles, was der Einzelne beim Sprechen äußert, hat er sich erst selbst zu einem früheren Zeitpunkt in anderen Zusammenhängen an‐ eignen müssen. Das im Laufe des Lebens gesammelte Sprachmaterial (bspw. Worte, Formulierungen, Redewendungen etc.) wird lediglich für den konkreten Sprechakt neu zusammengestellt und akzentuiert. Insofern ist ein Text für die französische Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva, die maßgebliche Vorden‐ kerin dieses theoriegeleiteten Intertextualitäts-Ansatzes, nichts weiter als ein Mosaik aus Zitaten oder Transformationen vorgängiger Texte. Indem die Grenzen des Textes aufgelöst werden, vollzieht die Intertextu‐ alitätstheorie einen radikalen Bruch mit der Vorstellung von der in sich 234 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus ‚Tod des Autors‘ Intertextualität als pragmatischer Ansatz Transtextualität ! Pastiche: literarische Nachahmung eines Text-Vorbilds geschlossenen Einheit des Werks, zugleich auch mit der Vorstellung von einer sinnstiftenden Autorschaft. Die Person der Autorin oder des Autors, ihre Aussageabsichten und Interpretationshinweise verwischen unter den unkontrollierbaren Verweismöglichkeiten des sprachlichen Materials, das niemandem alleine ‚gehört‘. Damit wird ebenfalls die Fähigkeit der LeserIn‐ nen in Frage gestellt, dem Text einen eindeutigen Sinn zuzuschreiben. Roland Barthes ging in diesem Zusammenhang so weit, den ‚Tod des Autors‘ als In‐ stanz der Deutungshoheit auszurufen („La mort de l’auteur“, 1968). Gegenüber der abstrakten Theorie der Intertextualität verspricht der von Gérard Genette formulierte Ansatz einer ‚Transtextualität‘ einen höheren pragmatischen Nutzen für die Untersuchung einzelner literarischer Texte. Genettes Ausführungen fügen sich in den Rahmen seiner breit angelegten Narratologie (vgl. Einheit 8.2) und gehen auch in diesem Fall mit einem spe‐ ziellen begrifflichen Instrumentarium einher. Ausgangspunkt für die Be‐ schäftigung mit transtextuellen Bezügen ist die Unterscheidung zwischen dem Hypotext (hipotexto), dem zuvor schon bestehenden Ausgangstext, und dem Hypertext (hipertexto), welcher die Vorlage umformt. Insgesamt inven‐ tarisiert Genette fünf mögliche Beziehungen zwischen Texten: ▶ Intertextualität (intertextualidad ): die absichtsvolle Bezugnahme auf ei‐ nen Text, z. B. in Form von Zitaten oder Anspielungen, aber auch als Plagiat (ein Text wird unter falschem Autornamen noch einmal veröffent‐ licht); ▶ Metatextualität (metatextualidad ): eine kritische Betrachtung eines ande‐ ren Textes, seine Beschreibung und Kommentierung, die sozusagen von einer übergeordneten Warte aus - der Metaebene - vorgenommen wird, den Bezugstext jedoch nicht mehr unbedingt zitieren muss; ▶ Hypertextualität (hipertextualidad ): die als solche nicht mehr kommen‐ tierte Transformation eines Hypotextes, beispielsweise durch Neubear‐ beitung eines Stoffes oder Verwendung eines bestehenden Motives oder Themas; weitere Möglichkeiten der Transformation bieten etwa die Par‐ odie, das Pastiche oder die Adaption in einem anderen Medium; ▶ Architextualität (architextualidad ): die einer großen Gruppe von Texten gemeinsamen literarischen Merkmale, z. B. Gattungsmerkmale oder Ent‐ sprechungen auf der Ebene des Stils, die nur noch eine sehr allgemeine Zugehörigkeit zu literarischen Grundformen belegen. Eine Sonderrolle kommt der sog. Paratextualität (paratextualidad ) zu; bei ihr handelt es sich um das Verhältnis zwischen dem (Haupt-)Text und den ihn einrahmenden textuellen Elementen (den Paratexten), beispielsweise Titel, Gattungsangabe, Widmung, Impressum, Vorwort, Anmerkungen, Nachwort usw. 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 235 Kritik an der Hermeneutik Jacques Derrida Phonozentrismus und Logozentrismus Zur Verdeutlichung sei an dieser Stelle bereits im Vorfeld auf Einheit 14.3 verwiesen, welche sich am Beispiel des Mediums Film mit gezielten intertextuellen und intermedialen Verweisen befasst. 11.2.2 Dekonstruktion Im Zentrum der poststrukturalistischen Ansätze befindet sich immer wieder die Annahme, dass die Sprache die Welt nicht mehr abbilden, darstellen oder erklären kann, sondern lediglich naive BeobachterInnen über dieses Unver‐ mögen hinwegtäuscht. Eines der herausragenden Kennzeichen poststruktu‐ ralistischer Theorien ist daher die Forderung nach einer kritischen Selbstre‐ flexion im Umgang mit jeglicher Art von Text, um das Bewusstsein dafür zu stärken, dass jede vermeintliche Bedeutungszuschreibung, also gezielte In‐ terpretation, von vornherein ein hoffnungsloses Unterfangen darstellt. Damit werden nicht nur die Grundannahmen der Hermeneutik als illusionär abge‐ stempelt, welche auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Deutbarkeit des Textes abzielt, sondern auch die strukturalistischen Versuche, den Text als in sich stabile Struktur zu beschreiben. Die Verfahrensweisen des Strukturalis‐ mus werden jedoch keineswegs für obsolet erklärt, im Gegenteil: ihre Wei‐ terentwicklung wird der nun umgekehrten Zielsetzung unterstellt zu belegen, dass die Aufstellung von Klassifikationen, Typologien, Funktionen oder Strukturen immer wieder von der prinzipiellen (Bedeutungs-)Offenheit des sprachlichen Zeichens unterlaufen wird. Wenn aber weder AutorIn noch Le‐ serIn in der Lage sind, den ‚Sinn‘ eines Textes dingfest zu machen, dann be‐ deutet dies zugleich eine radikale Infragestellung eines Jahrhunderte alten Umgangs mit Texten und schließlich der (bisherigen) literaturwissenschaft‐ lichen Tätigkeit selbst. Den maßgeblichen Beitrag zur Ausbildung der dekonstruktivistischen Li‐ teraturtheorie stellen die Überlegungen des französischen Philosophen Jacques Derrida (1930-2004) dar: Im Sinne der Saussureschen Aufspaltung des sprachlichen Zeichens in die Opposition von Signifikant und Signifikat bildet dieses keine geschlossene Einheit und trägt auch keine von ihm selbst ausgehende Bedeutung mehr; die Bedeutung eines Zeichens beruht statt des‐ sen einzig und allein auf seiner Abgrenzung von benachbarten Zeichen: ein Zeichen ist das, was alle anderen Zeichen nicht sind. Seine Bedeutung ist daher keine Eigenschaft mehr, sondern nur die Beziehung zu anderen Zeichen. Die Bedeutung lässt sich somit nur entlang einer unendlichen Verkettung von Zeichen als ‚Spur‘ verfolgen und erahnen, da eine Gesamtschau aller sprach‐ lichen Zeichen - und damit der Überblick über das System Sprache - für keinen Menschen möglich ist. Die Selbsttäuschung des Menschen, ein autonomes Subjekt zu sein, das seiner Sprache mächtig ist und dank ihrer Hilfe mit anderen Menschen kom‐ 236 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus ‚Große Erzählungen‘ Polysemie und Differenz munizieren kann, ist laut Derrida darauf zurückzuführen, dass der Mensch sich beim Sprechen als eigenmächtiges und vernünftiges Subjekt erlebt: Im Sprechen kann Gedanken und Gefühlen Ausdruck verliehen werden; Spre‐ chen ist eine scheinbar unmittelbare Form der Kommunikation; das Hören der eigenen Stimme ist eine Möglichkeit, sich selbst über die Sinnesorgane wahrzunehmen. Das Selbstbild des Menschen beruht insofern in weiten Teilen auf der gesprochenen Sprache (Phonozentrismus; fonocentrismo), nicht etwa auf der geschriebenen. Nicht minder trügerisch ist für Derrida die Vorstellung vom sprachlichen Zeichen als einer untrennbaren Einheit von Ausdruck und Sinn (Logozentrismus; logocentrismo). Würde man nämlich annehmen, die Lautseite eines Zeichens sei unmissverständlich an eine einzige Bedeutung geknüpft, dann wäre Kommunikation - und damit eine sinnvolle Ordnung der Welt - von einer sprachphilosophischen Warte aus betrachtet unproblematisch. Man könnte in einem solchen Vertrauen in die Sprache sogar soweit gehen, dass jeglicher Sinn von einer ‚transzendentalen‘, d. h. über das Materielle hinausweisenden Instanz, etwa von Gott, der ‚Natur‘ oder der Vernunft, garantiert wird. Nun ist es ein wesentliches Anliegen des poststrukturalistischen Denkens, die von François Lyotard sogenannten ‚großen Erzählungen‘, welche der menschlichen Existenz einen Sinn unterlegen (also Religionen, Mythen, Welt‐ modelle, Ideologien etc.), als Illusionen zu entlarven, da auch sie nichts weiter als ‚Texte‘ darstellten (siehe Einheit 12.1). Der menschlichen Existenz wird also ebenso ein tröstlicher Sinn abgesprochen wie der Sprache. Letzteres kommt besonders bei der Betrachtung der schriftlich fixierten Sprache deut‐ lich zum Vorschein, deren Vieldeutigkeit (Polysemie; polisemia) leichter ein‐ sichtig ist jene des gesprochenen Wortes. Und genau an diesem Punkt setzt das Vorgehen der Dekonstruktion (deconstrucción) bei Derrida an: Dieser greift scheinbar unproblematisch-sinnvolle Aussagen aus einem Text heraus, untergräbt sie aber zugleich, indem er in einer spielerischen Umschreibung der Worte und Formulierungen alle Sinnbezügen wieder auflöst, sie ad ab‐ surdum führt. Dieses Vorgehen zielt darauf ab zu zeigen, dass der Text nichts weiter ist als ein dynamisches Feld von unendlich vielfältigen und wandel‐ baren Sinnbezügen, eine fortlaufende Verschiebung von Bedeutungen, da er zahllose Assoziationen wachrufen (eine ‚Ausstreuung‘ - span. diseminación - von Sinnangeboten) und die eingefahrenen Denkmuster verunsichern kann - ganz allgemein gesehen verliert der Text seine (eindeutige) Bedeutung im Überangebot an Lektürepfaden. An die Stelle des einen, mit sich ‚identischen‘ Sinns rückt die ‚Differenz‘ (diferencia) als maßgeblicher Ausdruck der ‚De‐ zentrierung‘ von Bedeutung. Die intensiven Lektüren, welche dekonstruktivistische Lesarten an ihren Textbeispielen inszenieren, bedienen sich daher selbst bevorzugt der Para‐ phrase, des Sprachspiels, der Auflösung von Metaphern oder Metonymien, 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 237 Umkreisen des Textes in der Lektüre Text 11.3 Jacques Derrida: Dissemination (1972) um den vermeintlichen Aussagegehalt des Textes zu demontieren, zu dekon‐ struieren, anstatt einen solchen begrifflich zu fixieren. Daraus resultiert nicht die Ableitung einer bestimmten sprachlichen Struktur, sondern die ureigene Freiheit der Bedeutungsstiftung auf der Wort- und Satzebene, wie Derrida sie in seiner ‚Lehre‘ einer Grammatologie verankert hat. Da Sprache allerdings nie in der Lage sein kann, einen stabilen Sinn zu kommunizieren, betont der dekonstruktivistische Ansatz seinerseits, keine - und sei es auch nur negative - Deutung des Textes formulieren zu können. Anstatt eine dezidierte Aussage zu treffen, ist er daher aus Respekt vor den eigenen Prinzipien dazu gezwungen, sein Thema in immer neuen Anläufen zu umkreisen und spielerisch-assoziativ (nicht: systematisch! ) in den verschie‐ densten Aspekten zu beleuchten - ein Vorgehen, das dekonstruktivistische Texte naturgemäß schwer lesbar macht. Betrachten wir in diesem Sinne zum Abschluss die Derridasche Vorstellung vom Text, dessen ‚Sinn‘ oder ‚Aussage‘ nicht mehr fixierbar erscheint: 1 Ein Text ist nur dann ein Text, wenn er dem ersten Blick, dem ersten, der daher kommt, das Gesetz seiner Zusammensetzung und die Regel seines Spiels verbirgt. Ein Text bleibt im übrigen stets unwahrnehmbar. Nicht, daß das Gesetz und die Regel Unterschlupf fänden im Unzugänglichen eines Geheimnisses - 5 sie geben sich schlechthin niemals preis: der Gegenwart, einem solchen, das man in einem strengen Sinne eine Wahrnehmung nennen könnte. In der Gefahr, stets und wesensmäßig, derart endgültig verlorenzugehen. Wer wird je um ein solches Verschwinden wissen? Die Verschleierung der Textur kann durchaus Jahrhunderte erfordern, ihr 10 Gewebe […] freizulegen. Gewebe umhüllendes Gewebe. Jahrhunderte, das Ge‐ webe freizulegen. Es also einem Organismus gleich wiederherstellend. Endlos sein eigenes Weben […] regenerierend hinter der schneidenden Spur, Dezision einer jeden Lektüre. Der Anatomie oder Physiologie einer Kritik immer eine Überraschung vorbehaltend, die glaubte, Herr des Spiels zu sein, alle Fäden 15 davon zugleich zu überwachen, sich so dem Trug hingebend, den Text erblicken zu wollen, ohne daran zu rühren, ohne an den „Gegenstand“ Hand anzulegen, ohne Gefahr zu laufen, dem irgendeinen neuen Faden hinzuzufügen - einzige Chance, ins Spiel einzutreten, indem man die Finger zur Hilfe nimmt. Hinzu‐ fügen heißt hier nichts anderes als zu lesen geben. Man muß sich auf die 20 Ordnung einlassen, um das da zu denken: daß es nicht darum geht, hinzuzudich‐ ten, außer in Anbetracht, daß hinzudichten können auch heißt, sich darauf zu verstehen, dem gegebenen Faden zu folgen. Das heißt, wenn man uns noch folgen möchte, dem verborgenen Faden. Wenn es eine Einheit gibt von Lektüre und Schrift - wie das heute so leichthin gedacht wird -, wenn die Lektüre 25 Schrift ist, so bezeichnet diese Einheit weder die unterschiedslose Verschmelzung noch die Identität völliger Ruhe; das ist, das die Lektüre mit der Schrift vermählt, 238 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus Aufgabe 11.5 Michel Foucault ! Diskurse als epochenspe‐ zifische geregelte Formen, über bestimmte Wissens‐ bereiche (etwa den Men‐ schen) zu reden muß handgemein werden und einen trennenden Schnitt ziehen. (Derrida: 1995, 71 f.) ? In welche Metaphorik bindet Derrida seine Überlegungen zum Text ein? Zeigen Sie anhand des obigen Auszugs die grundlegend andere Auf‐ fassung vom Text gegenüber dem zuvor skizzierten strukturalistischen Vorgehen. 11.2.3 Historische Diskursanalyse Zu den Autoren, deren philosophische Untersuchungen einen starken Ein‐ fluss auf die poststrukturalistisch ausgerichtete Literatur- und Kulturwissen‐ schaft ausüben, zählt Michel Foucault, dem wir in Einheit 1.1 bereits begegnet sind. In seinem auf Grundideen des Strukturalismus aufbauenden Ansatz der historischen Diskursanalyse - die wegen ihrer weitreichenden kulturwissen‐ schaftlichen Implikationen nicht mit der sprachwissenschaftlichen Diskurs‐ analyse gleichgesetzt werden kann - widmete er sich der Untersuchung be‐ stimmter geschichtlicher Verbindungen (‚Formationen‘) aus Denk-, Rede- und Verhaltensweisen. So stellte er heraus, dass die Geschichte einer Kultur in Abschnitten verläuft, die geprägt sind von einer jeweils vorherrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vom Menschen (‚Episteme‘, span. episteme, f.) und von den sie stützenden machthabenden Institutionen. Diese unterschwellig funktionierende Allianz beeinflusst und durchdringt das Selbstverständnis des Menschen, seine Anschauungen, seine Verhaltens‐ weisen - seine Subjektivität. An den Beispielen des ‚Wahnsinns‘ und der Se‐ xualität konnte Foucault mit Hilfe des von ihm untersuchten historischen Quellenmaterials verdeutlichen, wie Vorstellungen von ‚Gesundheit‘ und ‚Normalität‘ auf entsprechenden Diskursen und den mit ihnen verbundenen ‚diskursiven Praktiken‘ (als ihre Umsetzung in Handeln; prácticas discursi‐ vas) beruhen. Unter Diskursanalyse (análisis del discurso) ist demnach ebenso die Untersuchung von menschlichem Verhalten wie von Texten zu verstehen, an denen nachvollzogen wird, welches Wissen zirkuliert, welche Medien es benutzt, welche Tabus aufgebaut werden, mit welchen sprachlichen Mitteln und vor dem Hintergrund welcher Autorität dabei vorgegangen wird. 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 239 Abb. 11.3: Der Psychiater Pinel in der Salpêtrière, Gemälde von Robert Fleury 1795 Literarische Texte bilden nur einen Teilbereich der analysierbaren Texte, indem auch sie Hinweise auf die zu ihrem Entstehungszeitpunkt gültigen Diskurse geben (man kann sie bspw. dahingehend untersuchen, welche Ansichten zu ‚abnormem‘ Verhalten oder sexual-moralischen Normen sich in ihnen finden). Texte können jedoch stets auch Gegendiskurse formulieren, welche sich von den vorherrschenden ‚offiziellen‘ Diskursen absetzen. Obwohl Michel Foucault selbst keine spezielle Methode für die Analyse literarischer Texte ausgearbeitet hat, hat die Literaturwissenschaft von ihm wichtige Impulse in methodischer wie thematischer Hinsicht erhalten. Dazu zählt beispielsweise die Betrachtung der Textzeugnisse von gesellschaftlichen AußenseiterInnen, wie sie zumal von Seiten der literaturwissenschaftlichen Gender Studies (vgl. Einheit 12.2) stark beachtet wurde. Ein Beispiel für die kritische Analyse von Diskursen liefert Foucault anhand seiner bereits in Einheit 1.1 resümierten Beobachtungen zur Rede über ‚den Autor‘ bzw. zu den Vorstellungen, die zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten mit ‚Autorschaft‘ verbunden waren. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Wahnsinn und Gesellschaft (Origi‐ nalausgabe 1961, erw. Ausg. 1972) hinterfragt Foucault den heute gültigen medizinischen (und daraus gespeist: sozio-kulturellen) Diskurs über den ‚Wahnsinn‘, bzw. versucht er zu ergründen, welche Bedeutung dem Wahn beigemessen wurde, bevor er zum Gegenstand psychiatrischer Lehrmeinun‐ gen wurde. 240 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus Aufgabe 11.6 Zusammenfassung Text 11.4 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Vorwort zur dt. Ausgabe (1969) 1 [Heute] kommuniziert der moderne Mensch nicht mehr mit dem Irren. Auf der einen Seite gibt es den Vernunftmenschen, der den Arzt zum Wahnsinn delegiert und dadurch nur eine Beziehung vermittels der abstrakten Universa‐ lität der Krankheit zulässt. Auf der anderen Seite gibt es den wahnsinnigen 5 Menschen, der mit dem anderen nur durch die Vermittlung einer ebenso abstrakten Vernunft kommuniziert, die Ordnung, physischer und moralischer Zwang, anonymer Druck der Gruppe, Konformitätsforderung ist. Es gibt keine gemeinsame Sprache, vielmehr es gibt sie nicht mehr. Die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trifft 10 die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und läßt all die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, die ein wenig an Gestammel erinnerten und in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, im Vergessen versinken. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur 15 auf einem solchen Schweigen errichten können. Ich habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache zu schreiben, vielmehr die Archäologie dieses Schweigens. (Foucault: 1978, 8) ? In welchem Verhältnis steht der medizinische Diskurs über den Wahnsinn zur Kommunikation allgemein? Welche Auswirkungen hat diese Feststellung für das hier vertretene Konzept von ‚Sprache‘? Was meint Foucault schließlich mit „Archäologie“? Die strukturalistische Textbetrachtung ging mit einer sprachwissen‐ schaftlich inspirierten und stark formalisierten Zerlegung des Textes in seine einzelnen Bedeutung tragenden Bestandteile einher, wodurch neue Erkenntnisse über die Literarizität von Texten gewonnen werden konnten. Dies gilt gleichermaßen für den Bereich der Intertextualität, welcher sich mit den generellen oder den konkreten Bezügen zwischen Texten befasst. Doch weist die Aufgabe der rein immanenten Betrach‐ tungsweise, wie sie von strengen strukturalistischen Analysen gefordert wurde, auf eine neue Ausrichtung der literaturtheoretischen Ansätze hin. Unter dem Vorzeichen des Poststrukturalismus können die zuvor entwi‐ ckelten Analyseverfahren auf neue Gegenstände übertragen werden, etwa die Spuren übergreifender historischer oder sozialer Strukturen in der Literatur. Andererseits begünstigt die auf einer sprach- und erkennt‐ nisphilosophischen Ebene geführte Auseinandersetzung mit der Sprache ein zweifelndes Nachdenken über jedwede Möglichkeit der Sinnstiftung und Kommunikation. 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 241  Literatur Roland Barthes: „Die strukturalistische Aktivität“, Kursbuch 5 (Mai 1966), 190-196. Jacques Derrida: „Platons Pharmazie“, in: Ders., Dissemination. Wien: Passagen Verlag 1995, 69-192. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 3 1978. Narciso Pizarro: Análisis estructural de la novela. Madrid: Siglo XXI de España Editores 1970. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 242 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus 12 Kultur, Macht und Kritik Inhalt 12.1 Kulturwissenschaften 12.2 Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies 12.3 Postkoloniale Theorie 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 12.4.1 Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung 12.4.2 Life writing und Testimonial-Literatur 12.5 Mediale Simulakren 12.6 Ecocrítica In Einheit 1 sind Sie mit der Reflexion auf die spezifisch literarischen Ei‐ genschaften von Texten, ihre Literarizität, vertraut gemacht worden und haben in den folgenden Einheiten verschiedene Aspekte des hermeneu‐ tischen, medientheoretischen und methodisch vorgehenden Zugriffs auf sie kennengelernt. Literatur kann jedoch auch als kulturgeschichtliches Dokument betrachtet werden. Definition ‚Kultur‘ Cultural Studies Diskursanalyse 12.1 Kulturwissenschaften Der Begriff Kulturwissenschaften umfasst ein breites Spektrum von For‐ schungsansätzen unterschiedlicher Fachrichtungen, die sich mit Formen von ‚Kultur‘ auseinandersetzen. Unter Kultur versteht man die von Menschen geschaffenen kollektiven bedeutungstragenden Systeme, Weltdeutungen, Werte und Normen, Wis‐ sensformen, Empfindungsweisen, die sich in Sinnentwürfen, Denk- und Verhaltensweisen, Symbolen, Institutionen, nicht zuletzt auch in media‐ len Vermittlungen (Texten) manifestieren. In einem ganz allgemeinen Sinn setzen sich die Kulturwissenschaften aus den Disziplinen der traditionellen Geisteswissenschaften (siehe Einheit 3.3) zusammen, wobei jedoch die jeweiligen Fachgrenzen zugunsten transdiszi‐ plinärer Perspektiven geweitet werden. Im Vordergrund stehen dabei unter anderem die Erforschung von Aspekten der Alltagskultur und der Mentalitätsgeschichte, der Identitäts- und Alteritätsentwürfe, der Erinnerungs‐ kulturen und der Medienkulturwissenschaft. Nicht zu verwechseln ist dieses Verständnis einer insgesamt nur vage definierten kulturwissenschaftlichen Tätigkeit mit den britischen Cultural Studies (span. estudios culturales), die ein klarer umrissenes Profil aufweisen, auf der marxistischen Gesellschaftstheo‐ rie aufbauen und sich in erster Linie mit der Volkskultur (im Gegenentwurf zur Elitekultur herrschender Gruppen) beschäftigen. Eine solche Populärkul‐ tur (engl. popular culture, span. cultura popular) umfasst die von den breiten Bevölkerungsschichten produzierte Kultur, ist jedoch nicht zu verwechseln mit der für sie produzierten herrschaftsstabilisierenden Massenkultur. Einen zentralen Anstoß zu den sich in der Folge ausformenden Kulturwis‐ senschaften lieferte Foucaults Diskursanalyse. Sie lenkt die Aufmerksamkeit vom Individuum und vom singulären Text weg und untersucht das ihnen übergeordnete kulturelle Bedingungsgefüge, das sich aus Machtverhältnis‐ sen, Wissensständen und Wertehierarchien bildet und die Denkmöglichkei‐ ten und das Verhalten der Einzelnen determiniert (vgl. Einheit 11.2.3). Eine in erster Linie ideologiekritische Untersuchungsrichtung schlug die Frankfurter Schule (Escuela de Fráncfort) um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer ein, die in einer Weiterentwicklung marxistischer und psychoanalytischer Positionen ein rational begründetes, gesellschaftskritisches Handeln einfor‐ derte. Als weiterer Einfluss kann daneben die französische Annales-Schule (Escuela de los Annales), benannt nach der gleichnamigen sozialwissenschaft‐ lich und historisch ausgerichteten Zeitschrift, benannt werden. Hier wurden mehrere Leitideen der jüngeren Geschichtswissenschaften entwickelt: die 244 12 Kultur, Macht und Kritik Mentalitätsgeschichte Aufgabe 12.1 New Historicism Hinwendung zu einer Geschichte des Alltags (historia de la vida cotidiana), die zugleich durch eine Perspektive ‚von unten‘ der traditionellen Chronik von staatlichen oder militärischen Großereignissen entgegengesetzt war und eine Vielzahl von historischen Quellen heranzog (z. B. Sterberegister, Gerichtsprotokolle); die Mikro-Geschichte (microhistoria), welche in zuvor oftmals als randständig erachteten Quellen detaillierte Informationen zu den Lebensumständen einzelner Personen sammelte, um daraus verallgemeiner‐ bare Erkenntnisse zu gewinnen; schließlich der Einbezug von zuvor ebenfalls nicht beachteten mündlichen Quellen in ihrer subjektiven Wahrnehmung, der Oral History (historia oral). Diese neuen historiographischen Untersuchungs‐ felder mündeten im Weiteren in die Strömung der Mentalitätsgeschichte (historia de las mentalidades), welche die vorherrschenden Denk- und Emp‐ findungsweisen in einer Kultur zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt herauszuarbeiten suchte. Die Mentalitätsgeschichte untersucht die kulturelle Sinngebung in einer Gruppe oder einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeit‐ punkt. Es handelt sich dabei um Einstellungen, Denkweisen, Kollektiv‐ vorstellungen und Gefühle, um Selbst- und Weltbilder, handlungsleitende Werte und Normen, welche die kollektive Wirklichkeitserfahrung von Menschen bilden und den jeweiligen Wissensstand der Epoche begrün‐ den. Diese zumeist nicht explizit formulierten und reflektierten Denk- und Gefühlsstrukturen werden in breiten Teilen der Bevölkerung als selbstverständlich und allgemeingültig akzeptiert. Als kognitive, ethische und affektive Dispositionen sind sie die Voraussetzungen für kollekti‐ ves und individuelles Handeln. Die mentalitätsgeschichtliche Forschung grenzt sich insofern von einer rein ereignisgeschichtlich orientierten Historiographie ab und untersucht ein möglichst breites Spektrum an kulturellen Artefakten als Überlieferungsträger, wobei nicht zuletzt auch fiktionale Texte mit einbezogen werden. ? Wo sehen Sie Berührungspunkte zwischen der Mentalitätsgeschichte und der von Michel Foucault konzipierten Historischen Diskursanalyse? Im US-amerikanischen Raum ergab sich in der Betrachtung von Text, Ge‐ schichte und Kultur der New Historicism (neohistoricismo oder nuevo histori‐ 12.1 Kulturwissenschaften 245 Abb. 12.1 Stephen Greenblatt Kulturelle Narrative Geschichtliche Erzählmuster cismo), der auf die wechselseitige Bedingung dieser Elemente verwies: Die Kulturgeschichte bildet den Entstehungsrahmen für Texte, welche ihrerseits die kulturgeschichtliche Entwicklung beeinflussen. Damit wendete sich der New Historicism von der zuvor in den Vereinigten Staaten maßgeblichen werkimmanenten Literaturbetrachtung des New Criticism ab, der program‐ matisch von sämtlichen außerliterarischen Kontexten absehen wollte und stattdessen ein ‚close reading‘ (span. lectura ‚interior‘ del texto) praktizierte. Insbesondere die Schriften des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt (geb. 1943) widmeten sich der ‚Rehistorisierung‘ des Li‐ teraturverständnisses. Neben dem Aufzeigen der geschichtlichen Kontexte literarischer Produktionen steht dabei die Deutung der Geschichte als lesbarer Text, der erzählerische oder sogar fiktionale Charakteristika in sich trägt - ein Interdependenzverhältnis, das Greenblatt später als Poetics of Culture bzw. Cultural Poetics bezeichnet. Ganz allgemein zeigen sich die Kulturwissenschaften in poststrukturalis‐ tischer Manier von der Auffassung geprägt, dass Kultur, Gesellschaft und Geschichte als ‚Texte‘ aufzufassen sind, die lesbar gemacht werden können. In diesem Sinne finden sich die Grundannahmen einer Gesellschaft in sog. ‚kulturellen Narrativen‘ (narrativas culturales) wieder. Sie bedingen struktu‐ rell die Art und Weise, wie Ereignisse und Prozesse wahrgenommen werden, helfen zu werten und zu ordnen, erzeugen Vorstellungen von Identität und reduzieren somit die Komplexität der unübersichtlichen Gegenwart. Indem sie also einen Sinnzusammenhang stiften, strukturieren sie das Wissen und regulieren die Interpretation von Geschichte, nicht zuletzt indem sie auf etablierte Darstellungsmuster zurückgreifen. Die kulturellen Narrative sind historisch relativ konstant, können aber im historischen Verlauf immer wieder verändert werden. Sie umfassen u. a. Gründungsmythen (‚Geburt der Demokratie‘ im klassischen Athen), Zukunftsmythen (‚klassenlose Ge‐ sellschaft‘) und Vorstellungen von vermeintlichen Volks-Charakteren (ste‐ reotype Zuschreibungen). Beispiele für solche Narrative sind die ‚Befreiung‘ Spaniens von der Herrschaft der Muslime in der christlichen Reconquista oder die ‚Entdeckung‘ der Neuen Welt durch Christoph Kolumbus. Derarti‐ gen offensichtlich von politischen Macht-Interessen gestützten Narrativen können kritische ‚Gegennarrative‘ entgegengesetzt werden (bspw. Lilith als Gegenfigur zur biblischen Eva, Imperialismuskritik in Opposition zur globalisierten Marktwirtschaft). Der US-amerikanische Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White (1928-2018) stellte in seinen Untersuchungen heraus, dass Geschichte nicht als eine Reihe neutraler Fakten vermittelt wird, sondern stets einer sprachlichen Darstellung bedarf. Solche historiographischen Erzählformen bedienen sich wiederum vorgegebener Strukturmuster, welche eine objektive 246 12 Kultur, Macht und Kritik Abb. 12.2 Hayden White Text 12.1 Hayden White: Metahistory ( 2 2015) Aufgabe 12.3 Sicht auf die historischen Ereignisse verunmöglichen (Metahistory, 1973). Ge‐ schichte erweist sich vor diesem Hintergrund als ein narratives Konstrukt. White bezeichnet diese kritische Selbstbetrachtung der Geschichtsschreibung als ‚metahistory‘ (metahistoria) und die entsprechenden Erzählmuster als ‚patterns of meaning‘. Diese überformen die historischen Fakten fiktional, so dass zwischen ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘ nicht mehr unterschieden werden kann, was unter anderem auf der unhintergehbar subjektiven Perspektive der Er‐ zählenden beruht und sich bspw. bereits in der selektiven Auswahl von In‐ formationen, Details und herangezogenen Kontexten niederschlägt. Historio‐ graphische Erzählungen von Ereignissen und von deren Verkettung sind darüber hinaus in der Regel so arrangiert, dass sie einen kausal-sinnvollen Entwicklungsverlauf suggerieren, was White als ‚plot‘ (trama literaria, patrón narrativo) bezeichnet. Grundlegende Plotstrukturen sind: ▶ Romanze (romance, m.): die Probleme können überwunden werden, alles entwickelt sich zum Besseren, das ‚Gute‘ siegt über das ‚Böse‘; ▶ Satire (sátira): der Versuch der Weltverbesserung scheitert, daraus er‐ wächst indes die Erkenntnis der Beschränktheit des Menschen; ▶ Komödie (comedia): der Mensch scheitert in Teilen, am Ende jedoch steht eine Versöhnung mit der Gesellschaft; ▶ Tragödie (tragedia): die Menschheit muss scheitern, die Gesellschaft entwickelt sich nicht weiter, die Gegebenheiten sind unveränderlich. 1 Ich betrachte […] das Werk des Historikers als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung. Geschichtsschreibungen (und ebenso Geschichtsphilosophien) kombinieren eine bestimmte Menge von ‚Daten‘, theoretische Begriffe zu deren ‚Erklärung‘ sowie eine narrative Struktur, um ein Abbild eines 5 Ensembles von Ereignissen herzustellen, die sich in der Vergangenheit zugetra‐ gen haben sollen. Zudem haben sie, so behaupte ich, einen tiefenstrukturellen - allgemein poetischen und insbesondere sprachlichen - Gehalt; er fungiert als das vorkritisch akzeptierte Paradigma, wie eine spezifisch ‚historische‘ Er‐ klärung auszusehen hat. Dieses Paradigma spielt in allen historiographischen 10 Schriften, deren Horizont umfassender als der des Archivberichts oder der Monographie ist, die Rolle des ‚metahistorischen‘ Elements. (White: 2 2015, 9) ? Beurteilen Sie auf Grundlage Ihrer bisher erworbenen Kenntnisse, inwiefern die LeserInnen in der Regel sehr wohl einen prinzipiellen Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Literatur ansetzen. Inwieweit greift Whites Argumentation zudem auf ein Grundprinzip geisteswissenschaftlichen Vorgehens zurück? 12.1 Kulturwissenschaften 247 Große Erzählungen Abb. 12.3 Jean-François Lyotard Postmoderne Von einer philosophischen Warte aus betrachtet Jean-François Lyotard (1924-1998) die Grundannahmen über die wichtigen Entwicklungsprozesse der Moderne westlich-abendländischer Gesellschaften und stellt diese ‚gro‐ ßen Erzählungen’ (grandes relatos/ metarrelatos) in Frage. Weder der Fort‐ schritts- und Gleichheitsoptimismus der Aufklärung (wissenschaftlicher Fortschritt als fortlaufende Optimierung, Emanzipation des Subjekts durch die Vernunft) noch die Hegelsche Geschichtsphilosophie (spekulative Philo‐ sophie des Idealismus und Bildungshumanismus) noch die marxistische Ideo‐ logie in ihrem Glauben an eine gerechtere Gesellschaft und einem auf sie zulaufenden geschichtlichen Entwicklungsprozess hätten sich bewahrheitet. In allen Fällen handle es sich vielmehr um ‚große Erzählungen‘ oder ‚Meta-Er‐ zählungen‘, welche eine universelle und totalisierende Deutung der Mensch‐ heitsgeschichte und ihres Sinns entwerfen, um für Wissenschaft und Politik eine legitimierende Funktion zu erfüllen. In der Folge können auch andere Ideologien, die Religionen, die Psychoanalyse usw. als ‚große Erzählungen‘ betrachtet werden. Der technologische, gesellschaftliche und kulturelle Wan‐ del des späten 20. Jahrhunderts, der Stand der Wissenschaften und der Er‐ kenntnis ließen nach Lyotard keinen naiven Glauben an sie zu, da das post‐ moderne ‚Wissen‘ an zentraler Stelle die Erkenntnis von der Begrenztheit der intellektuellen Möglichkeiten des Menschen und die Relativität jedes Wahr‐ heitsanspruchs beinhalte. An die Stelle der großen Erzählungen sollten nun‐ mehr ‚Mikro-Erzählungen‘ rücken, als Vielfalt von rivalisierenden Diskursen, die nach je eigenen Regeln funktionieren. Der Begriff der ‚Postmoderne‘ wurde im Übrigen von Lyotard selbst erstmalig aus dem Bereich der Architektur (hier v. a. auf den Bauhaus-Stil angewandt) auf den Bereich der Philosophie und Geschichtstheorie übertragen. Die Postmoderne bezeichnet in diesem Sinne die kulturge‐ schichtliche Periode nach der ‚Moderne‘ und wird oftmals mit den gesellschaftlichen, künstlerischen und medialen Umbrüchen angesetzt, die sich ab den 1960er Jahren in Europa und den USA ereigneten. Kennzeichen für die sich daraus ergebenden philosophischen, soziopo‐ litischen und ästhetischen Ansätze, Konzepte und Theorien sind: eine radikalisierte Krise der Sprache und der Erkenntnis, die Infragestellung von Wissensständen und von Machtpositionen, die Dekonstruktion (vgl. Einheit 11.2.2) vermeintlich unumstößlicher ‚Wahrheiten‘ oder Gewiss‐ heiten, die Forderung nach Aufhebung der verschiedensten Formen von Diskriminierung, das Verwischen der Grenze zwischen Hochkultur und Populärkultur, die Vermengung von Kunst und Kommerz, Phänomene der Globalisierung, der Vernetzung und der Intertextualität, die Virtualisie‐ rung der Wirklichkeit durch die neuen Medien, eine gesteigerte kritische 248 12 Kultur, Macht und Kritik Kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwis‐ senschaft ! Gender als sozial konstru‐ ierte Geschlechterrolle Geschlechterdifferenz Selbstbetrachtung auf allen Ebenen und der spielerische Umgang mit den dekontextualisierten Bruchstücken der einstigen Sinnsysteme. Eine kulturwissenschaftliche Sicht auf Literatur begreift diese als textuelle bzw. mediale Ausdrucksform von Kultur. Unser Verständnis von Kultur und ihrer Geschichte selbst ist von Grund auf sprachlich-literarisch geprägt. Literatur gibt Auskunft über die unausgesprochenen Grundannahmen und Wirklichkeitsvorstellungen einer Epoche, über das Wissen und die Werte, die in ihr zirkulieren. Ein derartiger Ansatz erfordert die Neuausrichtung des Literaturbegriffs auch auf Formen populärer oder trivialer Literatur - also einen Abschied von der sog. ‚Höhenkamm-Literatur‘; zugleich wird das Feld der kanonisierten literarischen Ausdrucksformen (vgl. Einheit 2.6) um weitere Textsorten und andere mediale Formen erweitert (bspw. auch um expositorische Texte, insbesondere aber um Spielarten des ‚life writing‘, s. u. Einheit 12.4.2). Im Sinne der Kulturanalyse ist zu fragen, in welchem Verhältnis die Literatur zu den Diskursen einer Gesellschaft steht, welche Funktion sie ihrerseits erfüllt und wie sie die soziokulturellen Vorstellungen und Grundannahmen ihrer Entstehungszeit verarbeitet. 12.2 Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies Ausgehend von der Feminismusbewegung einer Simone de Beauvoir über die französischen Differenzfeministinnen hat sich ab Beginn der 1980er Jahre die sogenannte feministische Literaturwissenschaft herausgebildet, die sich zu‐ nächst der Untersuchung von Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern in der Literatur, anschließend zunehmend der weiblichen Autorschaft sowie einer weiblichen Schreibtradition zugewendet hat. Ab dem Ende der 1980er Jahre wurde die feministische Literaturwissenschaft von den Gender Studies abge‐ löst. Im Gegensatz zum Konzept des biologischen Geschlechts (sex) versteht der Gender-Begriff Geschlechterrollen bzw. -identitäten als sozio-kulturelle Konstrukte. Gender studies (estudios de género) sind keine literaturwissenschaftliche Me‐ thode an sich, sondern vielmehr ein interdisziplinärer Ansatz, der es erlaubt, kulturelle Phänomene, die von Geschlechterdifferenz (bzw. dem hierarchischen Verhältnis zwischen Männern und Frauen) geprägt sind, zu untersu‐ chen. Die Geschlechterdifferenz beruht unter anderem auf dem Phallogozent‐ rismus (falogocentrismo), der unser Weltbild prägt (dem Mann, verbildlicht durch den Phallus, wird dabei allein das Wort [logos] zugeschrieben). Aus diesem Weltbild ergibt sich auch die feste Zuschreibung von Dichotomien in 12.2 Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies 249 Literarische Produktion von Frauen Marginalisierung Bezug auf Geschlechteridentitäten, wie ‚Stärke‘, ‚Vernunft‘, ‚Kultur‘ für den Mann und ‚Schwäche‘, ‚Gefühl‘ und ‚Natur‘ für die Frau. Der sogenannte ‚Dif‐ ferenzfeminismus‘ (feminismo de la diferencia) in den 1970er Jahren versuchte, diese Zuschreibungen aufzulösen oder unter dem Aspekt der Differenz aufzuwerten, indem er in der Literatur das Konzept des ‚weiblichen Schrei‐ bens‘ (escritura femenina) vertrat. Im Gegensatz dazu löst der Gender-Begriff diese Geschlechterdifferenzen auf, indem er jegliche Geschlechteridentität als kulturelles Konstrukt entlarvt, das im poststrukturalistischen Sinn genauso auch wieder dekonstruiert (Einheit 11.2.2) werden kann. Darüber hinaus berücksichtigen die Gender Studies auch Geschlechteridentitäten jenseits des binären Modells Mann-Frau, wie Homosexualität oder Transsexualität (vgl. Einheit 14.4.1). In der Literaturwissenschaft konzentrieren sich die Gender Studies in der Romanistik heute vor allem auf die literarische Produktion von Frauen (Frau‐ enliteratur) und bedienen sich dabei, zuweilen in Kombination, der verschie‐ denen herkömmlichen Methoden. Nach wie vor interessiert dabei die Frage nach dem Status weiblicher Autorschaft, der bis in die heutige Zeit von Mar‐ ginalisierung und Ausgrenzung gekennzeichnet ist, was sich häufig auch ex‐ plizit oder implizit in den Texten von Frauen manifestiert. Sehen wir uns hierzu einen Text einer prominenten spanischen Autorin des 17. Jh. an: María de Zayas y Sotomayor (1590-1661), die vor allem durch ihre Novellensammlung Novelas amorosas y ejemplares in der Tradition von Boccaccios Decameron und der Novelas ejemplares von Cervantes bekannt wurde. 1 Al que leyere Quién duda, lector mío, que te causará admiración que una mujer tenga despejo 1 no sólo para escribir un libro, sino para darle a la estampa, que es el crisol 2 donde se averigua 3 la pureza de los ingenios. Porque hasta que los escritos 5 se gozan en las letras de plomo, no tienen valor cierto, por ser tan fáciles de engañar los sentidos, que la fragilidad de la vista suele pasar por oro macizo 4 lo que a la luz del fuego es solamente un pedazo 5 de bronce afeitado 6 . Quién duda, digo otra vez, que habrá muchos que atribuyan a locura esta virtuosa osadía 7 de sacar a luz mis borrones 8 , siendo mujer, que en opinión de algunos 10 necios es lo mismo que una cosa incapaz. Pero cualquiera, como sea no más de buen cortesano, ni lo tendrá por novedad ni lo murmurará por desatino 9 . Porque si esta materia de que nos componemos los hombres y las mujeres, ya sea una trabazón 10 de fuego y barro, o ya una masa de espíritus y terrones 11 , no tiene más nobleza en ellos que en nosotras; si es una misma la sangre; los 15 sentidos, las potencias y los órganos, por donde se obran sus efectos, son unos mismos; la misma alma que ellos, porque las almas ni son hombres ni mujeres: ¿qué razón hay para que ellos sean sabios y presuman que nosotras no podemos serlo? (Zayas: 2000, 159) 250 12 Kultur, Macht und Kritik Text 12.2 María de Zayas y Soto‐ mayor: „Al que leyere“ (1637) Abb. 12.4 María de Zayas y Sotomayor Aufgabe 12.4 Bezüge zu anderen Ansätzen Aufgabe 12.5  Kanonrevision 1 despejo Klugheit, Talent-- 2 crisol Prüfstein-- 3 averiguar erforschen, herausfin‐ den - 4 macizo massiv - 5 pedazo Stück - 6 afeitado hier: blank geschliffen - 7 osadía Kühnheit - 8 borrón Entwurf, Manuskript - 9 desatino Unsinn - 10 trabazón Verbindung-- 11 terrones Klumpen ? Welches Selbstbild liefert uns María de Zayas in Bezug auf den weiblichen Autorstatus ihrer Zeit? Die Problematik der weiblichen Autorschaft und der häufig festzustellenden Autozensur der Frauen führt uns in den Bereich der Literatursoziologie (Ein‐ heit 10.5). Die Untersuchung der Texte der Frauenliteratur dagegen bedient sich der Erzählforschung (Einheit 8), der Intertextualität (Einheit 11.2.1) sowie der Dekonstruktion (Einheit 11.2.2). Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie Frauen mit ihren vorwiegend von Männern geprägten literarischen Vorbildern umgehen. Es lässt sich feststellen, dass diese von den Autorinnen häufig im Hinblick auf die spezifischen Lebensumstände der Frauen hin subvertiert, also unterlaufen, oder die binären Geschlechteroppositionen gar dekonstruiert werden. ? Lesen Sie Cervantes’ Novelle La fuerza de la sangre und María de Zayas’ Novelle La fuerza del amor (Texte auf www.bachelor-wissen.de) im Ver‐ gleich und beantworten Sie folgende Fragen: Inwiefern kann man bei der Novelle von María de Zayas von der Subversion des cervantinischen Mo‐ dells sprechen? Was lässt sich diesbezüglich über die Plotstruktur und die Botschaft des Textes aussagen? Aus der Frage nach den literarischen Vorbildern für Autorinnen ergibt sich die Frage einer ‚weiblichen literarischen Tradition‘, wie sie sich z. B. in den Novellen von María de Zayas zeigt. Spezifika einer weiblichen literarischen Tradition lassen sich darüber hinaus an Plotstrukturen, Raum- und Zeitdar‐ stellung sowie an der Erzählperspektive festmachen. In diesem Zusammenhang steht auch die Frage nach der Rezeption von Frauenliteratur, die in der Vergangenheit häufig als ‚minderwertige‘ Imita‐ tionen eben der männlichen Vorbilder angesehen wurde und die mittels einer ‚Relektüre‘ vor dem Hintergrund ihrer ‚Alterität‘ (Differenz) neu gelesen und damit häufig revalorisiert, neu bewertet wird. Eines der wichtigsten Anliegen der Gender-Forschung in der Literaturwissenschaft ist somit die Revision des Kanons, d. h. das Überdenken der bisherigen Literaturgeschichtsschreibung, indem die literarische Produktion von Frauen sukzessive neu entdeckt, neu 12.2 Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies 251 Interkulturalität ! Imagologie: Literaturwis‐ senschaftliche Untersuchung von nationalen oder gruppenspezifischen Fremd- und Selbstbildern indigenismo ediert, neu gelesen wird. Dazu gehört natürlich auch die Reflexion über die Mechanismen der Kanonbildung, wie sie u. a. durch die Anwendung der Theorie des literarischen Feldes (Einheit 10.5.3) auf den Bereich der Frauen‐ literatur erfolgen kann. 12.3 Postkoloniale Theorie Die Abgrenzung von Selbst- und Fremdbildern, wie sie bereits im Rahmen der Stereotypenforschung und der komparatistischen Imagologie vorgenommen wurde, hat im Zeichen einer interkulturellen Hermeneutik und zumal in den Postcolonial Studies (teoría poscolonial ) eine neue Relevanz erhalten. Im Rah‐ men der Alteritätsforschung wird dabei Alterität (alteridad ) als ‚das Andere‘ (‚el otro‘) verstanden, das sich vom Konstrukt der eigenen Identität abhebt. Die kulturelle Bedingtheit der Selbst- und Fremdwahrnehmung wird kritisch untersucht und entgegen vermeintlicher wesenhafter (essenzialistischer) Ei‐ genarten werden ihre Relativität, Wandelbarkeit und wechselseitigen Beein‐ flussungen betont. Auch gilt es, nach Möglichkeit eine eurozentristische Per‐ spektive zu vermeiden, um nicht neue Formen der bereits von Antonio Gramsci (1891-1937) diagnostizierten ‚kulturellen Hegemonie‘ (hegemonía cultural ) im Sinne einer unterdrückenden oder diskriminierenden Fremdzu‐ schreibung zu erschaffen. Den Eigenwert indigener Kultur und Identität in den Vordergrund zu stellen ist Kern der zunächst literarisch-künstlerischen, später auch politischen Strömung des indigenismo. Eine derart kritisierbare Fremdzuschreibung unterläuft bspw. dem fran‐ zösisch-bulgarischen Strukturalisten Tzvetan Todorov in seiner Studie Die Eroberung Amerikas - Das Problem des Anderen (1984), in der er die ‚Neue Welt‘ aus der Sicht der Europäer als das zunächst völlig ‚Andere‘ nachzeichnet, das von der europäischen Kultur einerseits dominiert, andererseits assimiliert wurde, was auf seine Europäisierung durch die Zivilisation der Kolonisatoren hinausläuft. Ebenso werden die vom US-amerikanischen Literaturwissen‐ schaftler Edward W. Said (1935-2003) diagnostizierten Dichotomien (als konzeptuelle Gegensätze) zwischen ‚Europa‘ und dem ‚Orient‘ inzwischen als zu simplifizierend wahrgenommen. Said hatte in Orientalism (1978) für das ausgehende 19. Jahrhundert anhand von literarischen und nicht-literarischen Texten den Konstrukt-Charakter eines stereotypen Orient-Bildes aufgedeckt, das vor dem kulturellen Selbstverständnis der europäischen Autoren als Projektionsfläche von fanatischem Irrationalismus, Barbarei, vormodernem Traditionalismus und geographischer Peripherie erscheint. Demgegenüber betonen jüngere Ansätze die wechselseitige Beeinflussung und Durchdringung von Kulturen. Der indisch-US-amerikanische Literatur‐ wissenschaftler Homi K. Bhabha (geb. 1949) etwa hat mit seinem Konzept der 252 12 Kultur, Macht und Kritik Hybridität ‚Third space‘ Abb. 12.5 Wolfgang Welsch Transkulturalität Subaltern Studies ‚Hybridität‘ (hibridez, f.) einen über die Postcolonial Studies hinaus fruchtbaren Schlüsselbegriff der modernen Kulturwissenschaften eingeführt. In The Loca‐ tion of Culture (1994) versteht er die Kolonisation und ihre Nachwirkungen als ein Konglomerat reziproker Beeinflussungen, welche die (Ex-)KolonisatorIn‐ nen ebenso wie die (Ex-)Kolonisierten in ihren Identitätsentwürfen prägen. Durch ‚Mimikry‘ (mimetismo) versuchten zunächst die Dominierten, sich die Kultur der überlegenen EuropäerInnen anzueignen und sie zu imitieren. Da diese Angleichung jedoch stets nur in Teilen erfolgen konnte und neue kultu‐ relle Mischformen erzeugte, kann sie im Idealfall den Kolonisierenden als Zerr‐ bild ihrer selbst einen Spiegel vor Augen halten und zum Überdenken ihrer eigenen Position und Identitätsentwürfe anregen. Bhabha sieht denn auch in den Formen kultureller Hybridität ein subversives Potenzial, das essenzialisti‐ schen Zuschreibungen (wie sie noch von Said hervorgehoben wurden) entge‐ genwirkt. So könne sich zwischen den Kulturen ein ‚Dritter Raum‘ (third space, span. tercio espacio) etablieren, welcher der interkulturellen ‚double vision‘ (vi‐ sión doble), also dem doppelten Blick und Wirklichkeitsverständnis der Grenz‐ gänger zwischen den Kulturen entspricht und in einer Überschneidungs-Zone des ‚in-between‘ (el entre-lugar) neue Perspektiven eröffnet. Ebenfalls eine Theorie der kulturellen Hybridität (hibridez cultural ) entwickelte bereits vor Bhabha der argentinische Anthropologe Néstor García Canclini (geb. 1939) in Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad (1990). Er un‐ tersucht dabei in einem interdisziplinären Ansatz Mischformen aus Tradition und Moderne in Lateinamerika, und dies sowohl in ihrer politischen, sozialen wie auch kulturellen Ausprägung, welche den Weg einer postmodernen Ent‐ wicklung eröffnen und aus einer Dynamik zwischen Elite- und Volkskultur, zwischen Globalem und Lokalem (‚glocalización‘) entstehen. Auf eine ähnliche Aufwertung interkultureller Grenzverwischungen zielt der Ansatz des deutschen Kulturphilosophen Wolfgang Welsch (geb. 1946), der drei grundlegende neuzeitliche sozio-kulturelle Entwicklungsstadien vonein‐ ander unterscheidet: In der multikulturellen Gesellschaft koexistieren Angehö‐ rige unterschiedlicher kultureller Lebenspraktiken ohne deren gegenseitige Durchdringung (multiculturalismo). In einer interkulturell geprägten Gesell‐ schaft wird der Dialog zwischen differierenden Kulturen, deren Lebensweisen und Wertesystemen gesucht, wobei das Eigene sich vom ‚Anderen‘ weiterhin abhebt (interculturalismo). Erst in einer transkulturell ausgerichteten Gesell‐ schaft werden in Hybridisierungsprozessen auf der individuellen wie auf der Gruppen-Ebene Elemente aus der Identität des Anderen übernommen und zu ‚patchwork-Identitäten‘ kombiniert (transculturalismo). Die postkoloniale Kritik hat nicht nur Auswirkungen auf die Kanon-Dis‐ kussion (vgl. Einheit 2.6), sondern auch auf die Lesart von literarischen Texten vor dem Hintergrund der Machtverhältnisse in Kultur und Gesellschaft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass den von einer Teilhabe an den entsprechenden 12.3 Postkoloniale Theorie 253 Abb. 12.6 Gayatri Spivak ‚Writing back‘ ! Intersektionalität ist das Zusammenwirken unter‐ schiedlicher Mechanismen der Marginalisierung und Diskriminierung, so hin‐ sichtlich Ethnizität, Gen‐ der, Bildung, Religion, so‐ zialer Klasse, Alter etc. Abb. 12.7 Gloria Anzaldúa Text 12.3 Gloria Anzaldúa: Border‐ lands/ La Frontera. The New Mestiza (1987) Strukturen Ausgeschlossenen oftmals die Möglichkeit fehlt, die eigene Posi‐ tion zur Sprache und in ein öffentliches Bewusstsein einzubringen. Die in‐ disch-US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak (geb. 1942) stellt in diesem Sinne die entscheidende Frage Can the Subaltern Speak? (1988) und begründete in einer Verbindung marxistischer, feministischer und dekonstruktivistischer Ansätze die Subaltern Studies, wel‐ che sich mit den Marginalisierten und Sprach-Ohnmächtigen auseinander‐ setzen, etwa der Rolle der durch Kolonialismus und Patriarchat doppelt un‐ terdrückten südasiatischen Frauen. Als Teil der kulturellen Hegemonie ist dabei der literarische Kanon anzusehen, dessen explizite oder implizite Wer‐ tehierarchien durch ein strategisches ‚Gegen-den-Strich-Lesen‘ (lecturas a contrapelo) kritisch revidiert werden sollen. Dem korrespondiert im Grund‐ satz das von Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin in The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures (1989) vorge‐ schlagene Verfahren des ‚writing back‘ (contra-escritura), ein im Zuge der postkolonialen Emanzipation erforderliches Anschreiben postkolonialer Texte gegen die herrschenden eurozentrischen Vorstellungen von Sprache, Ästhetik, Literaturbetrieb und -wissenschaft. In besonders markanter Weise gelangen kulturelle Hybridisierungen und intersektionale Prozesse (interseccionalidad ) in einem Werk der US-amerika‐ nischen Aktivistin Gloria Anzaldúa (1942-2004) zum Ausdruck. Borderlands/ La Frontera. The New Mestiza (1987) leistet die Überschreitungen mehrerer Grenzen: Der Text situiert sich zwischen Prosa und Lyrik, zwischen fiktiona‐ len und non-fiktionalen Passagen, zwischen Autobiographie, Essay und Kul‐ turgeschichte, zwischen der englischen und spanischen Sprache sowie Slangs; die Autorin versteht sich als chicana mit Persönlichkeitsanteilen auf der Grundlage ihrer mexikanischen Abstammung wie auch ihrer Sozialisation in der US-amerikanischen Gesellschaft; darüber hinaus erblickt sie als Lesbierin in sich gleichermaßen weibliche und männliche Wesenszüge. Als Grenzgän‐ gerin begreift Anzaldúa sich daher als ‚neue Mestizin‘, welche das Konzept ‚Grenze‘ an und für sich in Frage stellt und als Unterdrückungsmechanismus brandmarkt. 1 The U.S.-Mexican border es una herida abierta where the Third World grates against the first and bleeds. And before a scab 1 forms it hemorrhages again, the lifeblood of two worlds merging to form a third country - a border culture. Bor‐ ders are set up to define the places that are safe and unsafe, to distinguish us from 5 them. A border is a dividing line, a narrow strip along a steep edge. A borderland is a vague and undetermined place created by the emotional residue of an unnatural boundary. It is in a constant state of transition. The prohibited and forbidden are its inhabitants. Los atravesados live here: the squint-eyed 2 , the perverse, the queer, the troublesome, the mongrel 3 , the mulato, the half-breed, 254 12 Kultur, Macht und Kritik Aufgabe 12.6 10 the half dead, in short, those who cross over, pass over, or got through the confines of the “normal.” Gringos in the U.S. Southwest consider the inhabitants of the borderlands transgressors, aliens - whether they possess documents or not, whether they’re Chicanos, Indians or Blacks. Do not enter, trespassers will be raped, maimed, strangled, gassed, shot. The only “legitimate” 15 inhabitants are those in power, the whites and those who align themselves with whites. Tension grips the inhabitants of the borderlands like a virus. Ambivalence and unrest reside there and death is no stranger. In the fields, la migra 4 . My aunt saying, “No corran, don’t run. They’ll think you’re del otro lao.” In the confusion, Pedro ran, terrified of being 20 caught. He couldn’t speak English, couldn’t tell them he was fifth generation American. Sin papeles - he did not carry his birth certificate to work in the fields. La migra took him away while we watched. Se lo llevaron. He tried to smile when he looked back at us, to raise his fist. But I saw the shame pushing his head down, I saw the terrible weight of shame hunch his shoulders. The deported 25 him to Guadalajara by plane. The furthest he’d ever been to Mexico was Reynosa, a small border town opposite Hidalgo, Texas, not far from McAllen. Pedro walked all the way to the Valley. Se lo llevaron sin un centavo al pobre. Se vino andando desde Guadalajara. (Anzaldúa: 4 2012, 25 f.) - 1 scab Schorf - 2 the squint-eyed die Schielenden - 3 mongrel Bastard - 4 la migra (ugs.) US-Grenzkontrolleure ? Welche inhaltlichen und formalen Elemente nutzt Anzaldúa im obigen Textauszug, um die Vorstellung von ‚Grenze‘ zu hinterfragen? 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft Wie das Beispiel Gloria Anzaldúas zeigt, wird die kritische Betrachtung von Macht und kulturellen Bedeutungszuschreibungen häufig zumindest teilweise auf der persönlichen Betroffenheit der AutorInnen gegründet. Tat‐ sächlich bilden individuelle biographische Erfahrungen und ihr Wechselver‐ hältnis mit kollektiven Erfahrungszusammenhängen ein weiteres zentrales Arbeitsgebiet kulturwissenschaftlich orientierter Literaturwissenschaft. 12.4.1 Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung Um die kulturelle Rahmung von Lebensläufen erfassen zu können, wurden verschiedene Ansätze der Gedächtnisforschung entwickelt, die individuelle und kollektive Erinnerungen untersuchen. 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 255 Gedächtnisarbeit Formen von Gedächtnis Die Cultural Memory Studies (Estudios de la memoria cultural ) gehen von der Grundannahme aus, dass der Umgang mit der Vergangenheit die kulturelle Identität einer Nation bzw. einer Gruppe prägt, indem er eine gemeinsame Sicht auf die eigene Vergangenheit entwirft. Die Erinnerungs‐ forschung ist in diesem Kontext nicht identisch mit Geschichtswissenschaft, da Erinnerung kein ‚originalgetreues‘ Abbild vergangener Ereignisse liefert, sondern deren Rekonstruktion leistet. Erinnerung ist somit nicht frei von der subjektiven und selektiven Perspektive der Erinnernden, von ihren Werten und Normvorstellungen. Auch erfolgt Erinnerung jeweils gerichtet aus dem Kontext der Gegenwart als beeinflussendem Faktor, denn sie hat für die Gegenwart eine bestimmte Relevanz, die es zu klären gilt. Schließlich widersprechen sich Erinnerungen unterschiedlicher Gruppen, weshalb es Erinnerungskulturen nur im Plural geben kann. Unter ‚Gedächtnis‘ (memoria) kann man dabei den Speicher von Erinne‐ rungen, auch die Fähigkeit zu erinnern und den Akt der Erinnerung bezeich‐ nen, während ‚Erinnerung‘ (recuerdo) als bewusst erfahrenes Resultat des Sich-Erinnerns angesehen werden kann - wobei die Begriffe oftmals nicht trennscharf verwendet werden. Grundlegend für die Betrachtungen ist die Einsicht in den Umstand, dass die Erinnerung stets durch die Persönlichkeit und die Bedürfnisse der Erinnernden subjektiv geprägt ist, es demnach auch keine neutrale und objektive Erinnerung (und eine darauf aufbauende His‐ toriographie) geben kann. Stattdessen existieren konkurrierende Interpreta‐ tionen von Ereignissen, folglich von ‚Geschichte‘. Das liegt bereits im Cha‐ rakter der Gedächtnisarbeit (trabajo de la memoria) begründet: ▶ sie selegiert wichtig erscheinende Informationen, ▶ füllt eigenständig unverstandene Detail-Lücken, ▶ glättet die Erzählung zu einem in sich logisch erscheinenden Zusammen‐ hang, ▶ ergänzt subjektiv bedeutsame Themen, ▶ modifiziert die Reihenfolge von Elementen, ▶ benutzt eigene Wörter und Umschreibungen auf der Ausdrucksseite und ▶ sie bedient sich bekannter narrativer Muster oder Deutungs-Schemata. Zudem hat die Gedächtnisforschung einige grundlegende Unterscheidungen hinsichtlich der Formen und Funktionen von Gedächtnis ermittelt (vgl. Erll: 2017, 27-29, 80-82): ▶ deklarative oder explizite vs. nicht-deklarative oder implizite Gedächtnis‐ systeme: deklarative Gedächtnisinhalte sind willentlich abruf- und erzähl‐ bar, bei nicht-deklarativen Gedächtnisinhalten ist das hingegen nicht oder nur eingeschränkt der Fall. Wir können auf beiden Seiten weitere Unterteilungen vornehmen: 256 12 Kultur, Macht und Kritik Aufgabe 12.7 Medien - deklarative Systeme umfassen (a) das episodische Gedächtnis, das Wissen um die selbst erlebte Vergangenheit bezeichnet, und (b) das semantische Gedächtnis, das gelerntes, meist medial vermitteltes Welt‐ wissen enthält, - nicht-deklarative Systeme umfassen (a) das prozedurale Gedächtnis, das automatische, ohne weiteres Nachdenken ablaufende, gleichsam ‚im Körper verinnerlichte‘ Vorgänge wie etwa die Fähigkeit zu gehen beinhaltet, und (b) weitere nicht verbal zugängliche oder kontrollierbare Erinnerungen wie etwa Traumata. ▶ Speichervs. Funktionsgedächtnis: Das Speichergedächtnis bezeichnet das ‚Archiv‘, die Gesamtheit passiver, derzeit nicht aktiv genutzter Erin‐ nerungsinhalte, während im Funktionsgedächtnis die (Re-)Aktivierung und Nutzung von Erinnerungsinhalten gemäß den jeweiligen aktuellen Erfordernissen erfolgt. Die Zuordnung von Erinnerungen zu den beiden Kategorien ändert sich (im Gegensatz zur vorherigen Gegenüberstellung) hier relativ leicht, da sie nur den aktuellen ‚Nutzungsstatus‘ und keine Wesenseigenschaft bezeichnen. ▶ Jede dieser Gegenüberstellungen lässt sich zudem einerseits auf der Ebene des einzelnen Individuums, andererseits aber auch bei einer Gruppe, einem Kollektiv treffen (siehe dazu unten). Nicht zu vernachlässigen ist im Übrigen die Rolle des Vergessens, da es einen wichtigen Bestandteil der psychischen Balance bildet. Erinnerung kann jedoch auch unterdrückt werden: unbewusst im Falle nicht gelöster Traumata; als strukturelles Schweigen bei institutionell tabuisierten Themen; als strategisches Schweigen, als gezielte interessenbedingte Zurückhaltung von Informationen (z.-B. zum Selbstschutz). ? Erstellen Sie am Beispiel Ihres eigenen Studiums einen Überblick zu den unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses, die darin involviert sind. Zur Analyse des individuellen oder kollektiven Gedächtnisses muss in der Regel auf dessen mediale Ausformungen zurückgegriffen werden, wobei Texte, Bilder, Kunstwerke, nicht zuletzt Literatur eine zentrale Rolle spielen. Deren Überlieferung wird durch Institutionen wie Museen, Archive, Biblio‐ theken abgesichert. Medien erlauben die Kommunikation über Gedächt‐ nis-Inhalte, beeinflussen letztere jedoch wiederum durch ihre eigene Form. Im Falle weit zurückreichender kollektiver Erinnerungen sind sie grundsätz‐ lich unabdingbar, da den erinnerten Ereignissen kein biographisch-episodi‐ sches Substrat (individuelles Erlebnis) in den Köpfen der Angehörigen der Erinnerungsgemeinschaft mehr entspricht, sondern diese etwa durch ritua‐ lisierte Erzählungen, Lieder oder Gegenstände im Gedächtnis konstruiert 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 257 Kollektives Gedächtnis Postmemory Erinnerungsorte werden müssen. Medien ermöglichen darüber hinaus transkulturelle Erinne‐ rungen, die nicht an einen engen örtlich-zeitlichen Erfahrungskontext ge‐ bunden sind, sondern weltweit geteilt werden können (globale Ereignisse oder populärkulturelle Erzeugnisse, die für Fangemeinden bedeutsam oder sogar identitätsstiftend sind). Im Umgang mit den Erinnerungen von Einzelpersonen oder dem Ge‐ dächtnis einer Gruppe oder einer gesamten Gesellschaft wurden zahlreiche, durchaus divergierende Konzepte formuliert, von denen eine Auswahl im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen. Der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945) entwickelte das grundlegende Konzept des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ (me‐ moria colectiva). Gedächtnis - auch das der einzelnen Person - wird vor allem als ein soziales, nicht lediglich als ein invididuelles Phänomen betrachtet und umfasst im Sinne der obigen Ausführungen wesentliche Elemente der kollektiven Identität. Das kollektive Gedächtnis ist dabei bedingt durch die symbolischen Ordnungen (als Ausdruck der relevanten Werte) und kulturellen Traditionen einer Gesellschaft, die über Sprache und soziales Handeln vermittelt werden. Daher müssen stets die Rahmenbedingungen und Überlieferungsformen von Gedächtnis für dessen Analyse mit berücksichtigt werden, ebenso wie es durch die gegenwärtigen Bedürfnisse einer Gruppe oder Gesellschaft bedingt ist. Mit dem speziellen Fall der Überlieferung von Erinnerung an den Holocaust an die Nachfolgegenerationen der direkt betroffenen Traumatisierten, Über‐ lebenden, Opfern und Zeugen befasst sich die rumänisch-US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch (geb. 1949) unter dem Begriff der ‚Postmemory‘ (posmemoria). Es handelt sich um eine private Weitergabe geschichtlicher Erinnerung, um die Übertragung von Gedächtnisinhalten an andere, lokal oder zeitlich entfernte Personen oder Gruppen. Da die trauma‐ tisierenden Ereignisse vor oder kurz nach der Geburt der Folgegeneration(en) stattgefunden haben, wurden sie von dieser nicht (oder ggf. nicht bewusst) erlebt. Dennoch ist die spätere Generation aber von der daraus resultierenden Familienatmosphäre, vom Erzählen der Eltern bzw. Großeltern oder dem von ihnen praktizierten Verschweigen geprägt. Der von dem französischen Historiker Pierre Nora (geb. 1931) - in Anleh‐ nung an die antiken ‚Topoi‘ im Sinne von Gemeinplätzen - geprägte Begriff ‚Erinnerungsorte‘ (lugares de la memoria) bezeichnet Orte, Objekte, Symbole und Ereignisse, welche die kulturelle Identität einer Nation bestimmen. Dazu zählen Denkmäler und Museen, institutionalisierte Feiern bzw. Feiertage, weiterhin Fahnen, nationale Symbole, Nationalhymnen, schließlich wichtige künstlerische, sprachliche oder literarische Bezugspunkte einer Kultur. 258 12 Kultur, Macht und Kritik Kulturelles Gedächtnis Abb. 12.8 Aleida Assmann Text 12.4 Aleida Assmann: Erinnerungsräume Von Seiten der deutschen Kulturwissenschaft haben Jan und Aleida Ass‐ mann (geb. 1938 und 1947) aufbauend auf dem ‚kollektiven Gedächtnis‘ von Halbwachs die Theorie vom ‚kulturellen Gedächtnis‘ (memoria cultural ) ent‐ wickelt. Letzteres bildet die Grundlage des Selbstbildes einer Gruppe bzw. der kulturellen Identität einer Gesellschaft und hilft, nationale Einheit zu stiften. Die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses werden von Generation zu Gene‐ ration, oft über sehr lange Zeiträume hinweg, weitergereicht. Diese Gedächt‐ nisinhalte umfassen ein kollektives Wissen über die Vergangenheit und deren Relevanz für die Gegenwart und erfahren in der Überlieferung eine spezielle Pflege: sie werden immer wieder in geregelter, ‚geformter‘ Weise thematisiert, inszeniert und in symbolischen Medien ausgedrückt (Texte, Kunst, Architek‐ tur, Riten). Die sozialen Institutionen bzw. besonders hierfür legitimierten Kulturträger, die die Überlieferung in Form von Selektion (Auswahl der immer noch relevant erscheinenden Inhalte und Formen, ggf. aber auch Zensur), Speicherung (dabei auch restaurative Pflege der Überlieferungsträger), Kom‐ munikation (und damit Aufrechterhaltung der Präsenz der Gedächtnisin‐ halte) betreuen, sorgen für die Aneignung und Tradierung des kollektiven Wissens. Nicht zu vernachlässigen ist diesbezüglich der Umstand, dass das kulturelle Gedächtnis politische Machtverhältnisse legitimieren oder delegi‐ timieren kann und daher wiederum ein starkes Interesse an seiner Formung besteht. Vom kulturellen Gedächtnis im engeren Sinne, das mit Hilfe von Medien über längere Zeiträume entindividualisierte Zusammenhänge tradiert und das sich durch einen überzeitlichen Bedeutungshorizont auszeichnet, muss das ‚kommunikative Gedächtnis‘ unterschieden werden, welches aus der lebendigen Erinnerung, die lebende Menschen untereinander teilen und über die sie in jeweils eigener Perspektivierung kommunizieren, besteht. Je nach zeitlicher Entfernung der erinnerten Ereignisse können sich die Tradierung über das kommunikative Gedächtnis und jene über das kulturelle Gedächtnis überlagern, etwa wenn es noch Zeitzeugen gibt, die Ereignisse aber bereits eine Fixierung und Ritualisierung erfahren haben. 1 Die Gestalt und Qualität kultureller Erinnerungsräume […] sind sowohl von politischen und sozialen Interessen als auch vom Wandel der technischen Medien bestimmt. […] Zum einen entstehen Erinnerungsräume durch jene partielle Ausleuchtung von Vergangenheit, wie sie ein Individuum oder eine 5 Gruppe zur Konstruktion von Sinn, zur Fundierung ihrer Identität, zur Orientierung ihres Lebens, zur Motivierung ihres Handelns brauchen. Sol‐ che an einen individuellen oder kollektiven Träger gebundene Erinnerung ist grundsätzlich perspektivisch angelegt; von einer bestimmten Gegenwart aus wird ein Ausschnitt der Vergangenheit auf eine Weise beleuchtet, 10 dass er einen Zukunftshorizont freigibt. Was zur Erinnerung ausgewählt wird, ist stets von den Rändern des Vergessens profiliert. Fokussierendes und konzen‐ 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 259 Aufgabe 12.8 Life writing (Auto-)Biographien trierendes Erinnern schließt Vergessen notwendig mit ein, so wie man […] den Rest des Raumes verdunkelt, wenn man eine Kerze in die Ecke trägt. Dieser ‚bewohnte‘ Erinnerungsraum steht quer zu jenem historischen Zeitkonzept, das 15 die ‚Trennung von Vergangenheit und Zukunft‘ ( J. Ritter), bzw. die ‚Kluft zwischen Erfahrungen und Erwartungen‘ (R. Koselleck) betont. Neben his‐ torischer Zeiterfahrung, die davon ausgeht, dass seit der Neuzeit Vergan‐ genheit und Zukunft, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont immer we‐ niger miteinander zu tun haben, gibt es Erinnerungsräume, in denen sich 20 Zukunftserwartungen keineswegs von Bildern der Vergangenheit ablösen, son‐ dern von bestimmten Geschichtserinnerungen angestoßen und untermauert sind. Die Möglichkeit, mehr niederzuschreiben, als das menschliche Gedächtnis behalten kann, hat zu einer Durchbrechung des Gleichgewichts im Haushalt des kulturellen Gedächtnisses geführt. Gedächtnisumfang und Erinnerungsbedarf 25 sind auseinander getreten und lassen sich seither nicht mehr in eine einfache Gleichgewichtslage bringen, weshalb in schriftverwendenden Gesellschaften nicht mehr die Bewahrung des Gedächtnisses, sondern die Auswahl und Pflege des Erinnernswerten im Mittelpunkt steht. (Assmann: 1999, 408 f.) ? Inwiefern ist die von Aleida Assmann im Textauszug betrachtete Gedächtnisarbeit eine konstruierende Tätigkeit? 12.4.2 Life writing und Testimonial-Literatur Die sich in der postmodernen Philosophie und Ästhetik wie auch in den Ge‐ schichtswissenschaften abzeichnende Hinwendung zu den ‚Mikro-Geschich‐ ten‘ findet im steigenden Interesse an dokumentarischen oder aber literari‐ schen individuellen Lebensbeschreibungen ein Korrelat, die unter dem Sammelbegriff Life writing erfasst werden können. In den Blick rücken dabei auch nicht-kanonische Texte, die alltäglichen Lebenserfahrungen, Vorstel‐ lungen und emotionalen Erlebnisse der Einzelnen. Dazu zählen traditionelle Genres wie die Autobiographie bzw. Biographie oder die Memoiren, daneben Brief, Tagebuch, Reisenotizen, die Testimonial-Literatur (literatura testimo‐ nial, auch el testimonio), schließlich Kolumnen, Blogs oder Biopictures. Sie alle können aus kulturwissenschaftlicher Sicht Einblick in kollektive Denk- und Empfindungsweisen geben, dabei aber ggf. sogar den Blick auf eine ‚Ge‐ gengeschichte‘ weiten, also gegen die offizielle Geschichtsschreibung gerich‐ tete alternative Darstellung mit dissidentem Charakter. Biographien und Autobiographien beschreiben die Lebensläufe von Perso‐ nen, die in der Regel über einen bestimmten Bekanntheitsgrad verfügen und deren Leben als aufschlussreich für ein bestimmtes Milieu oder einen Zeitab‐ schnitt angesehen werden. Dies steht dezidiert bei Memoiren im Vordergrund, 260 12 Kultur, Macht und Kritik Testimonial-Literatur deren VerfasserInnen nicht ihr privates Leben, sondern ihre herausragende Rolle in der Gesellschaft zum Ausgangspunkt der Selbstbetrachtung machen und dabei über wichtige Ereignisse einer Epoche und prominente weitere Per‐ sönlichkeiten berichten. Autobiographien und Memoiren sind grundsätzlich von der subjektiven Einstellung der AutorInnen geprägt und können daher zumindest in Teilen ggf. den Verdacht unzuverlässigen Erzählens erwecken, was jedoch für die Leserschaft im Hinblick auf den individuellen Charakter der jeweiligen Person aufschlussreich sein kann. Bei der Testimonial-Literatur handelt es sich um persönliche, ebenfalls subjektiv perspektivierte Berichte von ZeitzeugInnen, die ausführlich zu be‐ stimmten dramatischen Ereignissen Stellung beziehen, nicht zuletzt um einer offiziellen Geschichtsdarstellung zu widersprechen. Sie können zunächst mündlich vorgebracht und erst in einem zweiten Schritt unter Mithilfe professioneller Schreibender niedergelegt werden. Im Mittelpunkt stehen Menschenrechtsverletzungen, Kriegsgräuel, Genozide, Verschleppungen, Diskriminierung oder andere traumatisierende Geschehnisse. Die Grenze zur Autobiographie wird immer wieder verwischt, allerdings erzählen die ZeugInnen vor dem Hintergrund der Erfahrungen einer gleichermaßen be‐ troffenen Gruppe, für die sie Gerechtigkeit, und sei es nur im nachträglichen Gedenken, einfordern. In der novela testimonio kann auch eine Hybridisierung historiographischer und stärker vertretener fiktionaler Elemente vorgenom‐ men werden. Obwohl schon einzelne frühe Texte, etwa über die Kolonisierung Lateinamerikas (z. B. Bartolomé de la Casas: Brevísima relación de la destruc‐ ción de las Indias, 1552), zur Testimonial-Literatur gezählt werden, gewinnt sie auf breiter Ebene seit dem Zweiten Weltkrieg, v. a. im Zusammenhang mit der Holocaust-Literatur als Gattung an Kontur. Vor allem in Lateinamerika wer‐ den ab den 1970er Jahren testimonios im Zusammenhang mit den nationalen Unabhängigkeitsbewegungen, mit revolutionärer und konterrevolutionärer Gewalt, mit politischer Repression, in jüngerer Vergangenheit mit dem Terror krimineller Kartelle veröffentlicht, zum Teil als Begleiterscheinung der ein‐ berufenen Wahrheitskommissionen, Gerichtshöfe oder anderen juristischen Prozesse zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen (bspw. in Chile oder Argentinien). Die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung in Guatemala wurde von Rigoberta Menchú (geb. 1959) in Me llamo Rigoberta Menchú y así me nació la conciencia (1983) angeklagt. Der Text handelt unter anderem von den Gewalttaten, die Regierungstruppen im Kampf gegen Guerilla-Verbände an der Bevölkerung des guatemaltekischen Hochlandes verübten, denunziert jedoch zudem die allgemeinen elenden Lebensbedingungen der einfachen Landarbeiterfamilien, deren Alltage und Gebräuche zugleich beschrieben werden. Grundlage des Buches war ein mehrteiliges Interview, das Menchú der venozolanischen Anthropologin Elisabeth Burgos 1982 gab, welche dann 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 261 Text 12.5 Rigoberta Menchú: Me llamo-Rigo‐ berta Menchú-y así me nació la conciencia Aufgabe 12.9 bei der Verschriftung half. 1992 erhielt Menchú für ihre vielfältigen Aktivitä‐ ten als Menschenrechtlerin den Friedensnobelpreis. 1 Me llamo Rigoberta Menchú. Tengo veintitrés años. Quisiera dar este testimonio vivo que no he aprendido en un libro y que tampoco he aprendido sola ya que todo esto lo he aprendido con mi pueblo y es algo que yo quisiera enfocar. Me cuesta mucho recordarme toda una vida que he vivido, pues muchas veces 5 hay tiempos muy negros y hay tiempos que, sí, se goza también pero lo importante es, yo creo, que quiero hacer un enfoque que no soy la única, pues ha vivido mucha gente y es la vida de todos. La vida de todos los guatemaltecos pobres y trataré de dar un poco mi historia. Mi situación personal engloba toda la realidad de un pueblo. (Burgos Debray: 1983, 30) ? In welchem Verhältnis steht die ‚Stimme‘ der Erzählerin zu den zu berichtenden Ereignissen? Was fällt Ihnen in Hinblick auf die sprachliche Gestaltung des Textauszugs auf ? Wesentlich für Testimonialliteratur und ihre Rezeption sind naturgemäß die Authentizität und die persönliche Betroffenheit, die die Stimme der Zeugin oder des Zeugen gewissermaßen mit der Autorität des Erlebten ausstatten. Dass die damit einhergehenden Maßstäbe mitunter zu Kontroversen dar‐ über führen, wie glaubwürdig und wie repräsentativ ein testimonio ist und welche kulturellen Vorannahmen grundsätzlich eine Rolle spielen, sobald Angehörige bisher ungehörter subalterner Gruppen das Wort ergreifen, zeigt exemplarisch die durch Rigoberta Menchús Zeugenschaft ausgelöste Debatte (siehe hierzu Hartwig: 2018, 469-472 sowie grundlegend Sarlo 2005). 12.5 Mediale Simulakren Eines der wesentlichen kulturwissenschaftlichen Forschungsinteressen gilt den Medien und der Art und Weise, wie sie die kommunizierten Inhalte be‐ dingen bzw. die menschliche Erkenntnismöglichkeiten an und für sich be‐ gründen (vgl. auch Einheit 1.2 und Einheit 11.2). Eine besonders vehemente Kritik an den aktuellen Massenmedien formulierte in diesem Zusammenhang 262 12 Kultur, Macht und Kritik Abb. 12.9 Jean Baudrillard der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard (1929-2007). Er gilt ebenfalls als einer der ‚Väter‘ des Poststrukturalismus und verbindet Elemente aus Strukturalismus und Materialismus zu einer Kritik an der spätkapitalis‐ tischen Gesellschaft. Ausgehend von der strukturalistischen Semiotik (Zei‐ chentheorie) ergibt sich, wie bereits erläutert, die Bedeutung des einzelnen sprachlichen Zeichens aus seiner Stellung im Gesamtsystem, da ein Zeichen seine Bedeutung nicht durch seine referenzielle Koppelung an ein Bezeich‐ netes erhält, sondern durch seine Differenz zu allen anderen Zeichen (siehe Einheit 12.1). So trägt das sprachliche Zeichen für ‚casa‘ nicht die Bedeutung des Hauses in sich, sondern hat einen Platz im System, innerhalb dessen es beispielsweise ‚Stall‘ oder ‚Kraftwerk‘ oder ‚Stadt‘ usw. entgegengesetzt ist. Aus der Sicht von Baudrillard erzeugen die modernen Medien allerdings im‐ mer mehr Zeichen, die ihrerseits nicht unmittelbar auf die Wirklichkeit refe‐ rieren, sondern diesen direkten Bezug nur suggerieren. Zeichen sind für ihn nicht mehr Verweisinstrumente mit eindeutiger Referenz, sondern austausch‐ bare Symbole. Die Gesellschaft hinter den Zeichen wird insofern immer un‐ durchsichtiger, unbegreiflicher, während gleichzeitig von den Medien eine exzessive Zeichenproduktion vorangetrieben wird. In seiner Simulationsthe‐ orie unterscheidet er drei ‚Ordnungen des Simulakrums’ (des Zeichens): ▶ Imitation: im klassischen Zeitalter dominieren Zeichen, deren Referenten für sich genommen gar nicht existieren, etwa Königtum, Adel oder Heiligkeit, sondern aus gesellschaftspolitischen Gründen gesetzt werden; ▶ Produktion: in der Industriellen Revolution werden Objekte zum Produkt einer endlosen Produktionslinie, weshalb die Zeichen nicht mehr eindeu‐ tig auf jedes einzelne von ihnen verweisen können; ▶ Simulation: in der Gegenwart ist in den modernen Massenmedien eine endlose Reproduktion von Zeichen ohne realen Referenten zu beobach‐ ten. Baudrillards Kernthese läuft auf das Phänomen der ‚Simulation‘ hinaus: Der Unterschied zwischen Zeichen und Wirklichkeit verschwindet, wird unentscheidbar. Die Zeichen verweisen dabei nicht mehr auf die Wirklichkeit, sondern bilden ein weitgehend geschlossenes selbstreferenzielles System. Sie simulieren in der Hyperrealität die einstige Realität, statt diese abzubil‐ den. Das deutlichste Beispiel für Baudrillards Sicht findet sich in seiner provokanten These, „der Golfkrieg hat nicht stattgefunden“, da er von den Medien inszeniert worden sei und man bei der Berichterstattung nicht mehr zwischen der Inszenierung und Simulation von (Kriegs-)Realität und den (von Baudrillard in ihrer Existenz nicht bestrittenen) tatsächlichen Ereignissen unterscheiden könne. 12.5 Mediale Simulakren 263 Definition Simulakrum Text 12.6 Jean Baudrillard: Das Andere selbst Für Baudrillard sind die Zeichen, wie sie die modernen Medien erzeugen und vermitteln, zu ‚Simulakren‘ geworden, d. h. zu Produkten bzw. Ge‐ genständen einer Simulation. Sie täuschen die Referenz auf die Wirklich‐ keit nur noch vor und führen ein Eigenleben, da sie über wechselseitige Verweise mit einander vernetzt sind (z. B. in der vielfachen Wiederver‐ wendung von Bildmaterial in der Berichterstattung oder Internetblogs, welche auf Filme verweisen, die ihrerseits auf Romanen basieren). Da‐ durch entsteht eine neue, übergeordnete Form von Wirklichkeit, die Hyperrealität, welche eine Differenzierung zwischen ‚echt‘ und ‚unecht‘, zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ nicht mehr erlaubt. 1 Heute gibt es […] Bildschirm und Vernetzung. Keine Transzendenz oder Tiefe mehr, sondern die immanente Oberfläche von Funktionsabläufen, die glatte und funktionstüchtige Oberfläche der Kommunikation. Im Verhältnis zum Fernsehbild, dem schönsten, prototypischen Objekt dieser neuen Epoche, 5 werden das gesamte uns umgebende Universum und unser eigener Körper zu Kontrollbildschirmen. Wir projizieren uns nicht mehr mit den gleichen Affekten, den gleichen Phantasmen von Besitz, Verlust, Trauer, Eifersucht in unsere Objekte hinein: die psychologische Dimension hat sich verflüchtigt, selbst wenn man sie noch immer minutiös nachvollziehen kann. […] 10 Private Telematik 1 . Jedermann bemerkt, dass er von den Kommandos einer hypothetischen Maschine vorwärtsbewegt wird, dass er in einer voll‐ kommenen souveränen Position isoliert ist, unendlich entfernt von seinem ursprünglichen Universum, also ganz genau in der Situation eines Astro‐ nauten in seiner Kapsel - im Zustand der Schwerelosigkeit, der zu einem 15 ständigen Flug in der Erdumlaufbahn und zur Beibehaltung einer ausreichenden Geschwindigkeit im Leerraum zwingt, droht doch ansonsten das Zerschellen auf dem Ursprungsplaneten. Dass der orbitale Satellit im Universum des Alltags Wirklichkeit ge‐ worden ist, hat seine Entsprechung in der Hochstilisierung des häuslichen 20 Universums zur Raummetapher, einschließlich der Versetzung der Zwei-Zim‐ mer-Küche-Bad-Wohnung in die Erdumlaufbahn in der letzten Mondphase, also in der Satellisierung des Realen selbst. Die Hypostasierung 2 des irdischen Wohnalltags in den Weltraum bedeutet das Ende der Metaphysik, den Beginn der Epoche der Hyperrealität. Damit will ich sagen: Was hier als Gedankenspiel 25 entworfen, was in den irdischen Wohnverhältnissen als Metapher erlebt wurde, wird künftig ganz und gar ohne Metapher entworfen, und zwar in den absoluten Raum, in den Raum der Simulation. Unsere Privatsphäre selbst ist kein Schauplatz mehr, auf der [sic] sich eine Dramaturgie des Subjekts abspielt, das sich mit seinen Objekten herumschlägt 264 12 Kultur, Macht und Kritik Aufgabe 12.10 Ökokritik Definition ‚Ökologie‘ 30 wie mit seinem Abbild: wir existieren darin nicht mehr als Dramaturg oder Akteur, sondern als Terminal, in dem zahlreiche Netze zusammenlaufen. Dessen unmittelbarste Präfiguration 3 ist das Fernsehen, aber der Wohnraum selbst wird heute als Empfangs- und Bedienungsraum begriffen, als Kommandobild‐ schirm, als Terminal, ausgestattet mit telematischer Macht, das heißt mit der 35 Möglichkeit, alles über Entfernungen hinweg zu erledigen, was im Hinblick auf die telematische Heimarbeit sogar den Arbeitsvorgang einschließt - und natürlich Konsum, Spiel, soziale Beziehungen und Freizeit. (Baudrillard: 1987, 10-11, 13-14) - 1 Telematik hier: Verbindung von Television und Informatik - 2 Hypostasierung hier: Verselbständigung im Sinne einer eigenen Realität - 3 Präfiguration Urbild ? Welchen Vorwurf erhebt Baudrillard im Textauszug gegen die modernen Massenmedien? Wie geht er dabei rhetorisch vor? 12.6 Ecocrítica Ab den 1990er Jahren werden im nordamerikanischen Raum ökologische Fragestellungen auch in der Literaturbzw. Kulturwissenschaft zur Anwen‐ dung gebracht und der so genannte Ecocriticism (span. ecocrítica) entwickelt. Dieser setzt sich auch um die Jahrtausendwende in den romanischen Wis‐ senschaftskulturen durch. Ökologie (von altgriech. Oikos: ‚Haus‘, Haushalt und logos: ‚Lehre‘) bedeutet ursprünglich die Lehre vom Haushalten. Sie wird dann zu einer Unterdisziplin der Biologie, die die Beziehung der Lebewesen untereinander und mit ihrer Umwelt untersucht. Seit den 1970er Jahren wird der Begriff zusehends politisiert und steht nun vielmehr für die Umweltbewegung, die kritisch Position bezieht gegen die Ausbeutung der Natur und deren Verschmutzung. Die Ökokritik untersucht die Beziehung von Mensch und Umwelt bzw. Natur in literarischen Texten und anderen künstlerischen Produktionen. Gerade in den 2010er und 2020er-Jahren hat die Umweltkrise, angefangen bei der Res‐ sourcenknappheit, über die Luftverschmutzung, die Erderwärmung hin zur Corona-Pandemie auch in der Literatur ihren Niederschlag gefunden. Die Frage nach der Beziehung von Mensch und Tier wird neu gestellt, indem der 12.6 Ecocrítica 265 Anthropozentrismus vs. Biozentrismus Text 12.7 Juan Ramón Jiménez: Platero y yo Aufgabe 12.11. Anthropozentrismus (antropocentrismo), also die (oft stillschweigend voraus‐ gesetzte) Weltanschauung, der zufolge der Mensch den Mittelpunkt der Welt bildet, infrage gestellt wird. Ihm entgegengesetzt wird der Biozentrismus (biocentrismo), der allem Lebendigen einen ethischen Eigenwert zuerkennt und der damit zu den philosophischen Fundamenten der Ökokritik gehört. Ein wesentlich früheres Beispiel in der spanischen Literatur findet sich dafür im Roman Platero y yo (1914) des spanischen Autors Juan Ramón Jiménez (1881-1958), der 1956 den Literaturnobelpreis erhielt. Der Roman erzählt episodenhaft die Beziehung des Erzählerichs zu seinem Esel, die für seine Kindheitserinnerungen steht. 1 Platero es pequeño, peludo, suave; tan blando por fuera, que se diría todo de algodón, que no lleva huesos 1 . Sólo los espejos de azabache 2 de sus ojos son duros cual dos escarabajos 3 de cristal negro. Lo dejo suelto, y se va al prado, y acaricia 4 tibiamente con su hocico 5 , 5 rozándolas apenas, las florecillas rosas, celestes y gualdas 6 … Lo llamo dulce‐ mente: «¿Platero? », y viene a mí con un trotecillo alegre que parece que se ríe, en no sé qué cascabeleo 7 ideal… ( Jiménez: 2009, 91) - 1 huesos Knochen - 2 de azabache rabenschwarz - 3 escarabajo Käfer - 4 acariciar streicheln - 5 hocico Schnauze - 6 gualdo,a goldgelb - 7 cascabeleo Schellengeläut ? Analysieren Sie Text 12.7 vor dem Hintergrund der darin skizzierten Beziehung von Mensch und Tier unter besonderer Berücksichtigung der Darstellung des Esels. Im Zentrum des Romans steht die Figur des Esels, der als Freund des Erzählers quasi menschliche Züge erhält und zum eigentlichen Protagonisten wird. Die Beschreibung zu Beginn des Romans erinnert in Details wie der Beschreibung der schwarzen Augen an lyrische Darstellungen von Frauengestalten und entwirft eine eigene Schönheit des Tieres, mit dem das Erzählerich wie mit einem Freund zärtlich kommuniziert („Lo llamo dulcemente“). Wie andere Texte der spanischen Literatur der Jahrhundertwende, etwa jene der generación del 98 (vgl. Einheit 5.2), entwirft der Roman eine spanische rurale Identität, die das Landleben einer städtischen Moderne gegenüberstellt. Ein weiteres Beispiel für eine identitätsstiftende Instrumentaliserung von Naturbeschreibungen findet sich in den Gedichten der Sammlung Campos de Castilla (1912) von Antonio Machado (siehe Text 5.5). Die Ökokritik fokussiert nicht zuletzt die soziale Funktion von Literatur und geht von einer Verbindung zwischen Ethik und Ästhetik aus. Dabei ist weiterhin zu unterscheiden zwischen der Ökokritik, die sich auf die Unter‐ 266 12 Kultur, Macht und Kritik Ökopoetik ! Mapuche: in Mapudungun bedeutet ‚Mapu‘ Erde und ‚che‘ Mensch: „Menschen der Erde“ Text 12.8 Cristian Alarcón: El tercer paraíso (2022) Aufgabe 12.12 suchung von ökologischen Fragestellungen und Themen fokussiert, und der Ökopoetik (ecopoética), die sich stärker auf die Untersuchung einer ökologi‐ schen Formsprache konzentriert, wie sie zum Beispiel in der chilenischen poesía mapuche zu finden ist (vgl. Camasca 2020). Die indigenen Naturvölker zwischen Chile und Argentinien pflegen eine ganzheitliche und religiöse Vi‐ sion des Kosmos in Verbindung mit den Traditionen ihrer Vorfahren (cosmo‐ visíon ancestral ) und haben eine harmonische Beziehung zu ihrer Umwelt, die ihre Lebensgrundlage bildet. Die Mapuche haben sich erbittert gegen die spa‐ nischen Kolonisatoren zur Wehr gesetzt, um ihre eigenen Werte gegen die europäischen Besatzer zu verteidigen (vgl. Einheit 12.3 zu Postkolonialismus). In dem zeitgenössischen lyrischen Roman des chilenischen Autors Cristian Alarcón (geb. 1970) lassen sich Spuren einer mythisch anmutenden Beziehung zwischen Mensch und Natur finden. In diesem Text wird eine Reihe von Gärten entworfen, die in Anlehnung an den Topos (vgl. Einheit 5.1) des locus amoenus eine paradieshafte symbiotische Beziehung zwischen dem Menschen und der Pflanzenwelt skizzieren, die nicht zuletzt zum Erinnerungsort für die Traditionen der Vorfahren wird. 1 Al final del camino de piedras, justo antes del precipicio, el jardín desborda como una ola inesperada. Detrás de su diseño caprichoso se impone un cielo azul brotado de nubes blancas. Asusta lo inquietante del barranco bajo el que parece estar el mundo entero. Los rosales se encadenan sin pausa. Hacia los 5 bordes crecen los pensamientos. Camino en el laberinto como si se tratara de una pradera. Los amancay 1 y las espuelas de caballero se mecen con el viento leve junto a las margaritas. Los lirios acosan a los narcisos amarillos. Las dalias bordó y carmín 2 estallan en pleno ardor. A pesar de las nubes, la luz se cuela en todos los rincones, horizontal y penetrante, dando en estigmas 3 , 10 pétalos y filamentos; pegando en mi cara, en mis brazos, en mi cuello, en mis orejas, en mis manos. A medida que me toca, siento cómo la piel se hincha 4 y adquiere el rojo de una insolación. (Alarcón: 2022, 13) - 1 amancay Goldamaryllis - 2 bordó y carmín tiefrot (wörtl: bordeauxfarben und karmesinrot) -3 estigma Narbe - 4 hincharse hier: anschwellen ? Analysieren Sie Text 12.8 unter Berücksichtigung einer ökopoetischen Perspektive, also im Hinblick auf die Darstellung der Beziehung zwischen Mensch und Natur. 12.6 Ecocrítica 267 Literatur Cristian Alarcón: El tercer paraíso. Barcelona: Penguin Random 2022. Gloria Anzaldúa: Borderlands/ La Frontera. The New Mestiza. San Francisco, CA: Aunt Lute Books 4 2012. Bill Ashcroft/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin: The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London u.a.: Routledge 1989. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ge‐ dächtnisses. München: Beck 1999.- Jean Baudrillard: Das Andere selbst. Wien: Edition Passagen 1987. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes & Seitz 2011. Jean Baudrillard: -Simulacra and Simulation. Ann Arbor: University of Michigan Press 2004. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Staufenburg 2000. Elisabeth Burgos Debray: Me llamo Rigoberta Menchú. La Habana: Casa de las Américas 1983. Edwin Camasca: „La literatura en la perspectiva de la ecocrítica“, Tesis 13 (16), 2020, 97-110, DOI: 10.15381/ tesis.v13i16.18895. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart: Metzler 3 2017. Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 3 2010. Antonio Gramsci: Briefe aus dem Kerker. Frankfurt a.M.: Fischer 1972. Stephen Greenblatt: Renaissance self-fashioning. From More to Shakespeare. Chicago, Ill. [u.-a.]: Univ. of Chicago Press 1980. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin (u.-a.): Luchterhand 1966. Susanne Hartwig: Einführung in die Literatur- und Kulturwissenschaft Lateinameri‐ kas. Stuttgart: Metzler 2018. Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. New York [u.-a.]: Columbia University Press 2012. Juan Ramón Jiménez: Platero y yo. Madrid: Cátedra 25 2009. Julia Kristeva: Sēmeiōtikē. Recherches pour une sémanalyse. Paris: Seuil 1969. Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris: Les Editions de Minuit 1979. Pierre Nora: Erinnerungsorte Frankreichs. München: Beck 2005. Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009. Beatriz Sarlo: Tiempo pasado. Cultura de la memoria y giro subjetivo — una discusión. Buenos Aires: Siglo veintiuno editores Argentina 2005. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2016. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the subaltern speak? Postkolonialiät und subal‐ terne Artikulation. Wien usw.: Turia + Kant 2008. 268 12 Kultur, Macht und Kritik Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas - das Problem des Anderen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität? “, in: Lucyna Darowska / Thomas Lüttenberg / Cladia Machold (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld: transcript 2010, 39-66. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19.-Jahrhundert in Europa. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2 2015. Literatur 269 Kompetenz 4: Texte in anderen Medien analysieren Überblick 13 Filmanalyse Inhalt 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription 13.2 Bildebene 13.3 Tonebene 13.4 Montage 13.5 Filmisches Erzählen Neben der kritischen Betrachtung gedruckter Werke oder der dramati‐ schen Inszenierungspraxis hat sich im Medium Spielfilm eine zusätzliche Ausdrucksform literarischer Texte eröffnet. Um die Produktionen der ‚siebten Kunst‘ angemessen untersuchen zu können, werden Ihnen nun die wichtigsten formalen Kriterien der Filmanalyse vorgestellt, welche die in den bisherigen Einheiten behandelten Aspekte (dramatischer Kon‐ flikt, Figurenkonstellation, Entwicklung der Handlung, etc.) im neuen medialen Kontext ergänzen. Dabei geht es auch um die Erörterung der Frage, inwieweit der Film auf typische Erzählverfahren der Literatur zurückgreift. Ebenen der Interpretation Als audiovisuelles Massenmedium, das sich in mehrfacher Hinsicht erzähle‐ rischer Verfahren bedient, kann der Film einer umfassenden Analyse unter‐ zogen werden, die im Folgenden zumindest in ihren Grundzügen vorgestellt werden soll. Der Schwerpunkt wird dabei auf die technischen und formalen Voraussetzungen gelegt, also auf die filmischen Mittel, welche für die Gestal‐ tung einer Geschichte oder Handlung zum Einsatz kommen; gleichzeitig muss eine derartige Analyse die Untersuchung der Struktur, der Figurenkonstella‐ tion, der Motive oder der intertextuellen (hier besser: intermedialen) Bezüge einbeziehen, wie sie in Analogie bereits in den Einheiten 6 bis 9 behandelt worden ist und hier nicht nochmals eigens erörtert wird. Dabei soll jedoch zumindest eingangs betont werden, dass eine umfassende Filmanalyse sich nicht allein auf diese Umsetzung filmischer Mittel beschränkt, sondern meh‐ rere Ebenen umfassen sollte: 1. Die vielschichtigen Entstehungsbedingungen, in welche sich die Verfas‐ sung der Filmvorlage oder des Drehbuchs, schließlich die Produktion selbst einschreiben (hierzu zählen kommerzielle Rahmenbedingungen, technische Neuerungen, das Aufgreifen von in der Gesellschaft beachte‐ ten Themen, gattungsgeschichtliche Vorgaben, stilistische Strömungen u.v.m.); 2. im Speziellen: das künstlerische Profil des Regisseurs/ der Regisseurin, wobei u. a. Selbstkommentare zum Film (etwa in Interviews oder in filmtheoretischen Schriften) Hinweise auf persönliche Intentionen wie auch auf das anvisierte Publikum liefern; 3. die von einer konkreten Fragestellung geleitete Interpretation von Fi‐ guren und Handlungen im Rahmen einer den gesamten Film umfas‐ senden Zusammenschau, die sich auf eine genaue Analyse der (unten beschriebenen) filmischen Mittel stützt und einen methodischen Ansatz - etwa in biographischer, psychologischer, feministischer, soziologischer, historiographischer, mediengeschichtlicher oder dekonstruktivistischer Hinsicht-- verfolgt; 4. den Einbezug von Rezeptions-Zeugnissen (bspw. Filmkritiken, bereits vorliegende Interpretationen und Analysen) und - falls möglich - eine Würdigung der Nachwirkungen des Werks. Zusammenfassend gesagt, sollten für eine umfassende Filmanalyse auch die theoriegeleiteten Perspektiven berücksichtigt werden, die Sie in den Einheiten 10-12 überblicksartig kennengelernt haben. 272 13 Filmanalyse Einstellungsprotokoll Text 13.1 Einstellungsprotokoll (Auszug) zu Luis Buñuel: Los olvidados 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription Eine eingehende Filmanalyse setzt ein mehrfaches Betrachten des Films vor‐ aus; um Details zuverlässig zu erfassen und zugleich das gesamte Werk nicht aus dem Blick zu verlieren, haben sich verschiedene Methoden herausgebil‐ det, welche versuchen, die wesentlichen Elemente des Films schriftlich fest‐ zuhalten, sie zu transkribieren (trascribir). Die Basis hierfür bildet die Ein‐ stellung (plano cinematográfico) als kleinste Einheit des Filmgeschehens; ihre Begrenzung bildet der Schnitt (montaje). In einem Einstellungsprotokoll wer‐ den - für ausgewählte Passagen oder für das Filmganze, das bei einer durch‐ schnittlichen Dauer von 90 Minuten im Mittel um die 400-700 Einstellungen umfasst - normalerweise folgende Informationen verzeichnet: laufende Nummer und Länge der Einstellung; Kameraaktivitäten; Beschreibung des Sichtbaren; Transkription des zu Hörenden; ggf. Art des Übergangs zwischen aufeinanderfolgenden Einstellungen. Als Beispiel für ein Einstellungsprotokoll wollen wir uns die Eingangsse‐ quenz aus Luis Buñuels Los olvidados (1950) ansehen: Nr. Dauer in Sek. Kamera-Ak‐ tivitäten Beschreibung des Sichtbaren Tonspur 1 9" Panorama Standbild (leichte Untersicht) Überblendung Stadtsilhouette von Manhattan, im Vordergrund fährt ein Schiff von links nach rechts Off-Sprecher, begleitet von einer langsamen Flötenmu‐ sik: „Las grandes ciudades modernas, Nueva York, Pa‐ rís, Londres, esconden tras sus magníficos edificios ho‐ gares de miseria 2 7" Totale (starke Untersicht) Schwenk nach oben Überblendung Eiffelturm que albergan niños mal nu‐ tridos, sin higiene, sin es‐ cuela, semilleros de futuros delincuentes. 3 10" Panorama Schwenk nach rechts Überblendung Big Ben, Themse La sociedad trata de corre‐ gir este mal. Pero el éxito de sus esfuerzos es muy limi‐ tado. Sólo en un futuro pró‐ ximo podrán ser reinvindi‐ cados los derechos del niño y del adolescente para que sean útiles a la sociedad. 4 4" Panorama (Aufsicht) langsamer Schwenk nach rechts Überblendung Zentrum von Mexiko-Stadt México. La gran ciudad mo‐ derna no es excepción a esta regla universal. 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription 273 Aufgabe 13.1 Sequenzprotokoll Nr. Dauer in Sek. Kamera-Ak‐ tivitäten Beschreibung des Sichtbaren Tonspur 5 4" Panorama (Aufsicht) langsamer Schwenk nach links Überblendung Front des Palacio Nacional Por eso esta película basada en hechos de la vida real no es optimista. 6 4" Panorama (Aufsicht) langsamer Schwenk nach links Überblendung Palacio Nacional auf der Seite der Kathedrale Y deja la solución del pro‐ blema a las fuerzas progre‐ sivas de la sociedad.“ 7 6" Totale (Untersicht) Überblendung Brachfläche hinter heruntergekom‐ menen Häusern von Mexiko-Stadt lärmende Kinder, zwi‐ schendurch olé-Rufe ? Betrachten Sie das Einstellungsprotokoll. Mit welchen gestalterischen Mitteln wird hier über die einzelnen Einstellungen hinweg Kontinuität erzeugt? Welche Wirkung soll insgesamt betrachtet bei den Zuschauer- Innen erzeugt werden? Mehrere (im Hinblick auf Handlungselemente, Schauplätze, Zeitabschnitte oder präsente Figuren) zusammenhängende Einstellungen bilden zusam‐ men eine größere Handlungseinheit, eine Sequenz (secuencia). Sie vereinen zumeist unterschiedliche Szenen (escena), d. h. Gruppen von Einstellungen, welche durch die Beibehaltung der Figuren, des zusammenhängenden räumlichen Dekors und den Verzicht auf Zeitsprünge (Erzählzeit = erzählte Zeit) zusammengehalten werden. Das Protokollieren von Sequenzen und Subsequenzen (z. B. einzelne oder sich ergänzende Szenen) bietet eine weniger aufwendige Möglichkeit, den Handlungsverlauf eines Films zu beschreiben; hierfür werden größere Blöcke nach inhaltlichen (Handlung‐ sorte, Personen, grober Handlungsverlauf) und formalen Kriterien (z. B. Kameraarbeit) beschrieben und der zeitlichen Abfolge entsprechend auf‐ gezeichnet. Angewendet auf das obige Beispiel von Buñuels Los olvidados ergibt sich folgendes Protokoll der ersten Filmsequenzen: 274 13 Filmanalyse Text 13.2 Sequenzprotokoll (Auszug) zu Los olvidados 00’00 Vorspann 01’36 Sequenz 1: Moderne Großstädte In einer schnellen Abfolge von Einstellungen werden pittoreske Ansichten der Großstädte New York, Paris, London und Mexiko-Stadt gezeigt. Eine Sprecherstimme aus dem Off verweist auf die wenig bekannten Elendsviertel, in denen Kinder aus ärmlichen Verhältnissen in kriminelle Laufbahnen getrieben werden. Der Film, so die Stimme, beschreibe die reale Situation in Mexiko-Stadt, ohne Optimismus. 02’20 Sequenz 2: El Jaïbo In einem verwahrlosten Armenviertel spielen Jugendliche und Kinder zwi‐ schen Bauruinen einen Stierkampf nach. Zigaretten werden verteilt, ein Junge, der zur Arbeit aufbricht, wird verspottet. Die Neuigkeit wird ausge‐ tauscht, dass El Jaïbo aus der Jugendstrafanstalt ausgebrochen ist. Nach einem harten Schnitt wird El Jaïbo an einer verkehrsreichen Straße gezeigt. Bevor er sich von einem fliegenden Händler einen Imbiss kaufen kann, flüchtet er vor einem haltenden Streifenwagen. Die nächste Szene zeigt ihn bei den Jugendlichen, die er mit seinen Erzäh‐ lungen aus der Jugendstrafanstalt zu beeindrucken weiß. Sie folgen ihm als Anführer der Clique. 05’19 Sequenz 3: Der blinde Musiker Auf einem Marktplatz wartet Ojitos, der von seinem Vater dort zurückge‐ lassen wurde, vergeblich auf dessen Rückkehr. Unweit entfernt spielt Don Carmelo, ein blinder Musiker, für Geld. Jaïbo und seine Bande kommen hinzu, Jaïbo erteilt Anweisungen, um den Blinden auszurauben. Pelón will insgeheim dessen Umhängetasche mit einer Rasierklinge losschneiden, Don Carmelo bemerkt ihn und versetzt dem Fliehenden einen schmerzhaften Stockhieb. Aus Angst vor seiner Mutter wagt Pelón sich nicht mehr nach Hause. Der Blinde wiederum lässt sich von Ojitos über die belebte Straße führen. Jaïbo verfolgt ihn mit Pelón und Pedro, um Rache zu üben. Auf dem Brachland vor einem Rohbau überfallen sie den Blinden mit Steinen und zerstören seine Instrumente. Der am Boden liegende Don Carmelo hebt den Kopf, vor ihm steht ein schwarzes Huhn. 11’10 Sequenz 4: Nachtquartier Pedro streichelt zu Hause ein Huhn im Stall der Baracke, in dem die Familie wohnt. Die Mutter kommt mit drei kleinen Kindern in den Wohnraum und verteilt Essen. Als der hungrige Pedro hinzutritt, verweigert ihm die Mutter das Essen, da er sich wieder die ganze Nacht mit Gaunern herumgetrieben habe. […] 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription 275 Aufgabe 13.2 Der ‚Realitätseffekt‘ des bewegten Bildes ? Verschaffen Sie sich einen Überblick über den weiteren Handlungs‐ verlauf, ggf. mit Hilfe eines entsprechenden Nachschlagewerkes (z. B. Internet Movie Database, www.imbd.com). Inwiefern führen die oben genannten vier Sequenzen in die Thematik des Films ein? Worin besteht die expositorische Funktion der Sequenzen speziell im Hinblick auf die Figur Pedro? Neben den beiden erwähnten Methoden, die ihrerseits auf unterschiedliche Art und Weise, d. h. gegebenenfalls unter Einbezug weiterer Kriterien, ange‐ wandt werden können, existieren noch andere Verfahren der Filmtranskrip‐ tion, vor allem unter Berücksichtigung graphischer Elemente (ausführlich hierzu: Korte 2010). An den zwei vorgestellten Modellen dürfte jedoch bereits deutlich geworden sein, dass eine Filmanalyse sich bei der Beschreibung des vorgeführten Materials stets auf drei Dimensionen erstrecken muss: auf optische Informationen (was ist zu sehen? ), auf akustische Informationen (was ist zu hören? ) und auf die Zusammenstellung des aufgezeichneten Materials im projektierten Film über Schnitt und Montage (welche Abfolge ergibt sich? ). 13.2 Bildebene Für das Kino ist das bewegte Bild charakteristisch. Gleichsam photographi‐ sche Standbilder, Schrifttafeln (im Stummfilm, span. película muda) oder ein‐ geblendete Schrift (Untertitel/ subtítulo) können diese auf Bewegungsabfolgen ausgerichteten Aufnahmen unterbrechen oder ergänzen und tragen dann ganz bestimmte Funktionen, die es zu hinterfragen gilt. Erfasst werden die Bilder von der Kamera (cámara de cine), die als vermittelnde Instanz zwischen den Zuschauern und dem Filmgeschehen steht: Obwohl sie im Normalfall in dieser Rolle gar nicht wahrgenommen wird, weil das Gesehene uns ‚unmit‐ telbar‘ vor Augen steht und uns in einem sogartigen Realitätseffekt in die Bilderwelt hineinzieht, muss stets beachtet werden, dass es sich dabei um eine medial vermittelte ‚Wirklichkeit‘ handelt (auch bei dokumentarischen Auf‐ nahmen! ). Die Kamera ist mehr als nur ein ‚künstliches Auge‘, sie erfasst die Bildinhalte, wählt den Blickwinkel, steuert insgesamt über die Art und Weise des Filmens unsere Wahrnehmung der dargebotenen Inhalte - und wird somit zu einer Erzählinstanz, die analog zu den in Einheit 8 genannten Möglich‐ keiten das Geschehen präsentiert. Im Übrigen gehört auch das von der Kamera nicht Gezeigte (das ‚Off ‘, engl.: off camera, span. fuera campo) unter Umstän‐ den durchaus zum filmischen Universum, etwa in den spannungsreichen Sze‐ nen von Horror- oder Kriminalfilmen, die absichtlich visuelle Informationen 276 13 Filmanalyse Einstellung Komposition Einstellungsgröße vorenthalten und nur auf der akustischen Ebene andeuten (z. B. über Schreie aus der Ferne). Davon abzugrenzen ist das Voice-over-Verfahren. Es ist der extradiegetischen Ebene zugeordnet und umfasst bspw. Kommentare oder Monologe der Erzählinstanz oder auch von Figuren, die aus einer Distanz zur Szene heraus sprechen. Der Begriff ‚Einstellung‘ (plano) bezeichnet zunächst einmal, wie ein Bildinhalt von der Kamera erfasst wird. Das Bildformat (marco / recuadro del plano) definiert ein nach vier Seiten begrenztes Bildfeld. In dieser Kadrierung wird ein Ausschnitt aus einem Geschehen vorgenommen. Das Bildfeld kann nach den Kriterien der Komposition hinterfragt werden: die Betonung bestimmter Linien oder Formen, Kontraste zwischen hellen und dunklen Flächen oder Farben, Bezüge zwischen Bildelementen (bspw. das Spannungsverhältnis zwischen einem Einzelnen und der ihm gegenüber‐ stehenden Gruppe), auch die Gleichzeitigkeit von statischen und bewegten Elementen können neben vielen anderen hierbei aufschlussreich sein. Ein zweites Merkmal ist die Größe der Einstellung, für die folgende Raster zur Verfügung stehen, wobei unterschieden wird zwischen Aufnahmen eines größeren szenischen Umfelds und vorrangig auf die DarstellerInnen ausgerichteten Aufnahmen (alle folgenden Einstellungen sind Luis Buñuel: Los olvidados entnommen): ▶ Panorama oder Weit/ plano panorámico bzw. gran plano general: ein aus großer Distanz gegebener Überblick, etwa über eine Landschaft oder eine Stadt, meist von einer erhöhten Warte aus vorgenommen, evtl. mit einem Weitwinkel-Objektiv oder einer Schwenkbewegung der Kamera einge‐ fangen; Menschen wirken im Rahmen dieser dominierenden Umgebung verloren (vgl. Abb. 13.1); Abb. 13.1: Panorama: Die Einstellung zeigt die ganze Weite des ‚Zócalo‘ Abb. 13.2: Totale: Die Kinder werden in der städtischen Umgebung erfasst ▶ Totale/ plano general (P. G.): ein einzelner Schauplatz wird im Überblick erfasst: die Figuren und ihr weiteres räumliches Umfeld sind zu erkennen; mit dieser Einstellung kann zu Beginn einer Sequenz ein Handlungsraum vorgestellt werden (vgl. Abb. 13.2); 13.2 Bildebene 277 ▶ Halbtotale/ plano conjunto (P. C.): die Figuren sind ganz zu sehen, mit ihnen noch ein Großteil der unmittelbaren szenischen Umgebung; Men‐ schengruppen und Bewegungen von Personen im Raum lassen sich somit gut erfassen (vgl. Abb. 13.3); Abb. 13.3: Halbtotale: Vor dem Hintergrund tritt die Dreiergruppe isoliert hervor Abb. 13.4: ‚Amerikanisch‘: Beide Erzieher erscheinen mit den Händen in den Hosenta‐ schen besonders selbstgefällig ▶ Halbnah/ plano figura (P. F.), auch plano entero (P. E.): die Figuren füllen in ihrer vollen Größe das Bild; von der räumlichen Umgebung sind nur noch kleinere Anteile im Bild zu sehen; Menschen interagieren gut erkennbar mit ihrer näheren Umgebung, v. a. mit anderen Figuren; ▶ Amerikanisch/ plano americano (P. A.), auch plano medio largo: der Körper wird nur noch vom Kopf bis zur Mitte des Oberschenkels (in Western wegen des Pistolenhalfters! ) gezeigt (vgl. Abb. 13.4); ▶ Nah/ plano medio (P.M.), auch plano medio corto (P. M. C.): der Körperaus‐ schnitt ist auf Kopf und Teile des Oberkörpers reduziert (P. M.: ab Taille aufwärts; P. M. C.: ab Brust aufwärts); in dieser Einstellung können Mimik, Gestik - v. a. als Gesprächsverhalten - besonders gut gezeigt werden (vgl. Abb. 13.5); Abb. 13.5: Nah: Der Schmied wird als grim‐ mig und entschlossen gezeigt Abb. 13.6: Groß: Ein genaues Portrait des verunsicherten Ojitos ▶ Groß/ primer plano (P. P.) bzw. primerísimo primer plano (P. P. P.): das Ge‐ sicht füllt das Bildfeld von den Schultern ab (P. P.) oder vollständig (P. P. P.) 278 13 Filmanalyse Perspektive Aufgabe 13.3 Kameraschwenk und Kamerafahrt aus und ermöglicht eine genaue Studie der Mimik der portraitierten Figur, was für die ZuschauerInnen eine Auseinandersetzung mit deren Gefühlen und Gedanken suggeriert (vgl. Abb. 13.6); ▶ Detail/ plano detalle (P. D.) bzw. plano particular : vergrößerte Nahauf‐ nahme eines einzelnen Elements, z. B. einer Hand oder eines Gegenstan‐ des, dessen Funktion für den Handlungsablauf dadurch stark betont wird. Die Wirkung der Einstellungsveränderungen auf die Zuschauerschaft lässt sich als Distanz oder Nähe zum Filmgeschehen auffassen. In Kombination mit der Einstellungsgröße ist auch auf die Kameraperspektive (angulación de la cámara) zu achten. Hier kann unterschieden werden zwischen: ▶ Aufsicht/ picado (Vogelperspektive): der von oben herab gerichtete Blick suggeriert Überblick und Kontrolle; ▶ Normalsicht (normal ): Referenzpunkt ist die Horizontlinie oder die Au‐ genpartie der im Film gezeigten Figuren; die ZuschauerInnen befinden sich mit ihnen ‚auf Augenhöhe‘, was den normalen Sehgewohnheiten entspricht; ▶ Untersicht/ contrapicado (Froschperspektive: das sichtbare Objekt wirkt übermächtig und bedrohlich. ? Um welche Einstellungsgröße und Kameraperspektive handelt es sich im nachfolgenden Beispiel? Abb. 13.7: Einstellung aus Luis Buñuel: Los olvidados Die genannten Möglichkeiten werden über die Zeitdauer einer Einstellung zumeist nicht statisch verwendet, sondern sind Teil eines Bewegungsablaufs. Neben dem Zoom (zoom), welcher mittels eines Objektivs die optische Distanz zum gefilmten Objekt verändert, handelt es sich dabei um Bewegungen der Kamera (movimientos ópticos). Hier wird zwischen Schwenk und Kamerafahrt bzw. Kombinationen aus beiden unterschieden. Der Schwenk (panorámica) wird als Veränderung der Ausrichtung und des Neigungswinkels auf einem still stehenden Stativ vollzogen, entweder zu den Seiten (panorámica horizon‐ 13.2 Bildebene 279 Licht, Farbe tal ), nach unten bzw. oben (panorámica vertical ) oder in Schieflage (inclina‐ ción a la derecha / izquierda). Die Kamerafahrt (trávelin) setzt die gesamte Kamera-Apperatur mitsamt Stativ in Bewegung, z. B. auf einem Schlitten (charriot, m.), auf einem Kamerawagen (dolly, m.), auf einem fahrenden Auto oder an einem Kran (grúa). In der Parallelfahrt begleitet die Kamera auf diese Weise ein sich bewegendes Objekt (trávelin lateral oder paralelo); in der Vorfahrt (trávelin de aproximación) bewegt sie sich auf das Objekt zu, in der Rückfahrt (trávelin de alejamiento) von ihm fort. Die von der Kamera ausgeführten Bewegungen vermitteln den Zuschauern den Eindruck, stärker in das Geschehen auf der Leinwand mit einbezogen zu sein. Im Gegenzug können sich natürlich auch die Objekte vor der Kamera bewegen, was zum Beispiel bei einer Bewegungsrichtung auf die Zuschauer hin ein Gefühl der Bedrohung vermitteln kann. Das Kinobild ist geprägt durch Helligkeitsstufe, Farbton und Sättigungs‐ grad. Man unterscheidet dabei zwischen sichtbarer (Lichtquelle im Bild) oder unsichtbarer Beleuchtung. Die Lichtverhältnisse werden zumeist in natura‐ listischer Manier gemäß unserer Alltagserfahrung gestaltet, darüber hinaus aber auch dem intendierten Charakter der Szene angepasst. Gegebenenfalls werden durch Spots Details besonders hervorgehoben oder eine expressive Lichtführung wird eingesetzt, um künstlerische Effekte oder Spannung zu produzieren. Die Wahl der Farbtemperatur zwischen Kunst- und Tageslicht (luz artificial/ natural) erzeugt kalte oder warme Stimmungen. Der Grad der Helligkeit changiert zwischen dem Low-Key-Stil (iluminación ‚low key‘ ), der die Bildelemente zum größten Teil in Dunkelheit hüllt, ein Erkennen behin‐ dert und bedrohlich wirken kann, dem Normalstil, der ‚natürliche‘ Farben und gleichmäßig gute Sichtbarkeit erzeugt, und dem High-Key-Stil (iluminación ‚high key‘ ), der in intensiv strahlendem Licht ebenfalls Details auflöst und eine symbolische Überhöhung des Gezeigten auszudrücken vermag. Davon zu unterscheiden ist ‚hartes‘ Licht, das klare Konturen erzeugt (z. B. im Scheinwerferkegel) und ‚weiches‘, eher diffuses Licht. Die Beleuchtung kann das gefilmte Objekt von vorne ausleuchten (Vorderlicht/ luz frontal), von der Seite (luz lateral ), von oben (luz cenital ), bzw. von unten (luz enfática) oder im Gegenlicht (a contraluz) verschwimmen lassen. Seitenlicht oder einzelne Lichtspots konturieren beispielsweise Gesichtszüge oder lassen bestimmte Einzelheiten der Requisiten oder Raumumgebung deutlicher hervortreten. Neben dem Licht vermag auch die Farbgebung, Stimmungen zu erschaffen, was nicht zuletzt auf einer jeweils kulturspezifischen Farbsymbolik beruht, die allerdings nur ungenau erfasst werden kann und eine große Bandbreite an Interpretationen zulässt. Szenen mit dominantem Blau erscheinen vor‐ wiegend leer, kühl und klar, stehen für das Unendliche ebenso wie für Melancholie; Grün suggeriert als Gesichtsfarbe negative Emotionen, kann aber auch als Landschaftseindruck Vitalität verströmen; Gelb wirkt unter an‐ 280 13 Filmanalyse Aufgabe 13.4 ‚Off‘ und ‚On‘ derem freundlich, während Rot mit besonders vielen Assoziationen wie Liebe, Gewalt, Feuer, Gefahr und generell Intensität versehen ist. Unabhängig davon können bestimmte Farben auch mit einer für den jeweiligen Film spezifischen Bedeutung assoziiert sein und Sequenzen miteinander verbinden. Neben der Kameraarbeit und der auf sie ausgerichteten Beleuchtung gilt es schließlich, die Bildinhalte selbst genau zu beschreiben und zu deuten. Dabei sind neben der Gestaltung des Raums (Schauplatz, Kulisse bei Studio-Auf‐ nahmen) die evtl. symbolhaften Gegenstände (Requisiten), die Kostüme und Masken, schließlich die schauspielerischen (und sprecherischen) Leistungen der Akteure selbst zu betrachten. ? Beschreiben Sie die in dem folgenden Beispiel eingesetzte Beleuchtung. Abb. 13.8: Einstellung aus Luis Buñuel: Los olvidados 13.3 Tonebene Nach den Anfängen des Kinos als Stummfilm (cine mudo) hat sich ab 1927 der Tonfilm durchgesetzt (cine sonoro). Die Tonebene des Films (sonido cinema‐ tográfico), deren Bestandteile heutzutage zumeist künstlich erzeugt oder in der Post-Produktion (pos[t]producción) überarbeitet werden, umfasst hervor‐ gehobene Einzelgeräusche und -laute (efectos de sonido), eine atmosphärische Tonkulisse, Sprache und Musik. Ist die Lautquelle in der erzählten Welt des Films hörbar, aber nicht im Bild sichtbar (z. B. die Stimme einer Figur im Nebenraum), so befindet sie sich im ‚Off ‘; für den Fall einer sprechenden Per‐ son wird hier der Begriff ‚Off-Stimme‘ (voz en off ) verwendet. Ist ein Sprecher nur für das Kinopublikum, nicht aber im filmischen Raum hörbar, so spricht man von einer ‚Voice-over‘-Technik (voice-over oder voz superpuesta). Voice-over kann asynchron (z. B. für einen heterodiegetischen, d. h. außerhalb der filmischen Welt stehenden Erzähler) oder synchron (z. B. autodiegetischer 13.3 Tonebene 281 Rede Atmo Akustischer Raum Gedankenmonolog einer Figur) eingesetzt werden. Gelegentlich wird der Be‐ griff ‚Off-Stimme‘ ohne Differenzierung auch für Voice-over gebraucht. Bei der gesprochenen Sprache ermöglicht die Sprechweise im Zusammen‐ hang mit dem Grundcharakter einer Stimme - gerade auch bei der nachträg‐ lichen Synchronisierung (durch die Schauspieler selbst oder durch Sprecher in anderen Sprachen; doblaje, m.) - dem Inhalt des gesprochenen Textes eine verstärkende oder zusätzliche Dimension zu verleihen, etwa beim Ausdruck von Wut oder Pathos, aber auch als ironische Distanz zum Gesprochenen. Da‐ bei ist aufschlussreich, ob die im Film zu sehenden Personen selbst sprechen, ob sie miteinander sprechen oder für sich, eventuell sogar zum Zuschauer gewandt diesen ansprechen (was einer Form von Metalepse gleichkommt; vgl. Einheit 8.2.1); oder ob eine Stimme aus dem Off für die Szene wichtige Informationen liefert bzw. einen Kommentar zur Handlung abgibt (bspw. kann die off-voice speziell im Rahmen einer internen Fokalisierung zum Einsatz kommen). Um eine Einstellung als ‚natürlich‘ oder ‚stimmig‘ zu empfinden, benötigen Zuschauer und Zuschauerinnen in vielen Fällen eine akustische Kulisse, welche sich aus mehr oder minder diskreten Hintergrundgeräuschen zusam‐ mensetzt - eine sog. Atmo. Die Atmo (Atmosphärischer Ton, ambiente sonoro) bildet Umweltgeräusche ab oder simuliert diese, um der Handlung eine realistische Wirkung zu verleihen, den jeweiligen Raum in einer ‚akustischen Totale‘ durch typische Geräusche zu charakterisieren (Tonlandschaft; paisaje sonoro) oder um Spannung zu erzeugen. Häufig wird dabei auf künstlich er‐ zeugte Effektgeräusche (efectos sonoros) und stereotypisierte Töne zurückge‐ griffen, die vom Kinopublikum einfach einzuordnen sind (Vogelgezwitscher für Naturidylle, Sirenengeheul für Gefahr). Kehren bestimmte Geräusche in einem Film wieder, so können sie durchaus nuancierte Ton-Isotopien bilden und zu einem bedeutungstragenden Element werden (z. B. die klinischen Herzfrequenz-Töne in Pedro Almodovars Hable con ella, 2002). Synchron eingesetzte musikalische Elemente können Handlungen klangnachahmend paraphrasieren (sog. Underscoring) oder gar ironisch unterlegen, bspw. wenn ein Instrument die Bewegungen der Figuren überzeichnend nachahmt (sog. Mickey-Mousing). Die Tonspur (banda sonora) hat Teil an der filmischen Narration, weit über die inhaltlichen Aussagen der Dialoge hinaus, die ja bereits über die Stimm‐ modulation, Akzente oder Sprechlautstärke eine spezielle Ausdrucksseite umfassen. Orte und Zeitpunkte werden akustisch inszeniert, was auf das Film‐ publikum eine orientierende Funktion ausübt (Zuordnung zu Schauplätzen und historischen Epochen). Die Stereo- oder Mehrkanaltontechnik ermög‐ licht ferner eine konkrete räumliche Verortung (rechts, links, Raumtiefe) und kann bei intradiegetischen Tonquellen, die im Bild erscheinen, ein Raumge‐ fühl erzeugen. Subjektivierende Toneinstellungen erlauben es, die subjektive 282 13 Filmanalyse Filmmusik ! Leitmotiv: ein musikali‐ sches Motiv, das wieder‐ kehrend einer Figur, einer Situation, einem Ort oder Objekt zugeordnet ist Wahrnehmungsposition des erlebenden Subjekts zu simulieren und dabei die subjektive Kameraführung zu ergänzen, bspw. bei gedämpftem oder verzerrtem Klang in der Wahrnehmung von betäubten oder unter Drogen‐ einfluss stehenden Figuren. Auch können einzelne Geräusche als Tonakzent gezielt hervorgehoben (‚akustische Naheinstellung‘), der Geräuscheindruck intensiviert (z. B. bei Fausthieben) oder die gerichtete Aufmerksamkeit einer Figur ausgedrückt werden (z.-B. in deren Lauschen auf ihr Herzklopfen). Vielfältige Funktionen übernimmt auch die Filmmusik (música cinemato‐ gráfica). Stammt sie aus einer intradiegetischen Quelle (im On oder im Off), so trägt sie zur Raumgestaltung bei (z. B. in einem Konzerthaus) und kann über typische Melodien oder Instrumentierungen einen historischen Zeitab‐ schnitt evozieren. Musik charakterisiert zudem Personen und Handlungen. Als Leitmotiv kann sie dabei strukturbildend wirken (etwa als musikalisches Thema, das dem Erscheinen einer Figur zugeordnet ist, vgl. das bekannte ‚James-Bond-Motiv‘), ebenso wie sie als Übergang oder musikalische Klam‐ mer Szenen oder Sequenzen miteinander verbindet und Zusammenhänge stiftet. Die jeweilige klangliche Gestaltung kann der Handlung eine Stim‐ mung unterlegen (Mood-Technik), sie dramatisieren, entschleunigen oder auch parodieren, und bewirkt eine emotionale Lenkung des Publikums. Mög‐ lich sind ebenfalls kontrapunktische Effekte, die eine Bild-Ton-Schere eröff‐ net (etwa wenn gewalttätige Szenen mit klassischer Musik unterlegt werden). Das subjektive emotionale Erleben der Figuren oder ihre psychische Verfas‐ sung können ebenfalls mit musikalischen Mitteln ausgedrückt werden, die ggf. stark verzerrt eingesetzt werden (Dissonanzen als Indiz für Anspannung oder Panik). Zugleich kann eine gesamte Szene auf diese Weise von extra‐ diegetischer Seite aus charakterisiert bzw. kommentiert werden, wobei ein Zurückdrängen der Atmo durch die Filmmusik oftmals eine besondere In‐ tensivierung des Geschehens bedingt oder ihm einen Anstrich von Irrealität verleihen kann. Das gänzliche Verstummen der Tonebene schließlich kann die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen auf die visuellen Handlungsele‐ mente lenken oder befremdlich wirken. Als synästhetische Wahrnehmung können Bilder und/ oder Töne auch weitere Sinneseindrücke suggerieren, z. B. Gerüche, haptische Erfahrung oder Geschmack (etwa bei der Inszenierung der Zubereitung oder des Verzehrs von Speisen). 13.4 Montage Die Abfolge der Einstellungen im fertig gestellten Film entspricht normaler‐ weise nicht der Reihenfolge der Dreharbeiten. Auch wird nur ein geringer Teil des Materials schließlich im Film verarbeitet. Entscheidend für seine 13.4 Montage 283 Schnitt Schuss/ Gegenschuss Weicher Schnitt künstlerische Gestaltung ist daher der eine Auswahl treffende Schnitt (corte) des Materials und die anschließende Montage (montaje) der Fragmente zu einem aus ihnen konstruierten Gesamtkomplex. Auch wenn das Drehbuch die grobe Vorlage für das Endprodukt liefert, so entsteht die in einem Ein‐ stellungsprotokoll erfassbare endgültige Form erst im Laufe einer aufwendi‐ gen Bearbeitung der Aufnahmen, zu der der Einsatz spezieller Filterverfahren, die Einfügung von gesprochenem (oder geschriebenem) Text, von Geräu‐ schen oder Musik wie auch von computergestützten Spezialeffekten zählt. Die Montage der Einstellungen zielt im Allgemeinen darauf ab, einen Er‐ zählfluss zu erzeugen, bei dem sich über längere Passagen hinweg eine quasi selbstverständliche Abfolge von aus unterschiedlichen Kamerapositionen aufgenommenen Bildern ergibt. Die einzelnen Einstellungen erscheinen da‐ bei als folgerichtig gereihte Stationen einer Handlungskette. Als Beispiel kann das sog. Schuss-Gegenschuss-Verfahren (campo/ contracampo) dienen, wie es gerne bei der Inszenierung eines Gesprächs zwischen zwei Dialogpartnern verwendet wird. Hier sieht die Kamera der zuhörenden Figur über die Schulter (Overshoulder-Einstellung, span. toma por encima del hombro) oder über‐ nimmt ihren Blick auf die gerade sprechende Figur; beim Wechsel der Spre‐ cherin oder des Sprechers ändert sich sogleich die Kameraperspektive und gibt den Blick auf den aktiven Dialogpartner frei. Abb. 13.9 und Abb. 13.10: Beispiele für Schuss/ Gegenschuss aus Luis Buñuel: Los olvidados Den ZuschauerInnen fällt diese künstlich arrangierte Abfolge von Einstel‐ lungen zumeist nicht weiter auf, zu sehr entspricht sie ihrer auf die redende Person gerichteten Aufmerksamkeit, deren Text sich als verbindender roter Faden durch die Einstellungswechsel zieht. Während der stetige Wechsel von Einstellungen von den ZuschauerInnen als ‚natürliche‘ Eigenart des Films vorausgesetzt wird, bildet gleichzeitig die innere Kohärenz der Szenen und Sequenzen eine wichtige Basis des filmischen Erzählens. Aufschlussreich ist an dieser Stelle das Verfahren des weichen Schnitts (corte suave), das die Me‐ dialität des Films zu Gunsten einer Wirklichkeitsillusion in den Hintergrund treten lässt; die Plausibilität der Bilderfolge ist insofern ein Kennzeichen des filmischen Realismus. In einer schlüssigen Abfolge bauen die einzelnen Ein‐ 284 13 Filmanalyse Harter Schnitt Achsensprung Plansequenz Formen der Montage stellungen aufeinander auf, folgen sie dem Geschehen. Überblendungen er‐ lauben in anderen Fällen das kurzzeitige Verschmelzen zweier aufeinander‐ folgender Bilder (fundido encadenado). Im Gegenzug kann die Montage auch anstelle eines solchen unauffäl‐ lig-fließenden Übergangs einen beabsichtigten Bruch zwischen zwei Einstel‐ lungen erzeugen, etwa bei einer unvermittelten Abfolge von Tag- und Nacht‐ aufnahmen oder unerwarteten Schauplatzwechseln (harter Schnitt/ corte brusco). Ein ‚jump cut‘ (jump-cut) liegt vor, wenn ein Handlungsablauf immer wieder durch Ellipsen so unterbrochen wird, dass es auf die ZuschauerInnen irritierend wirkt. Ein Verfahren, das lange Zeit als Kunstfehler galt, stellt in diesem Zusammenhang der sog. Achsensprung (salto de eje) dar, bei dem die Kameraposition die Handlungsachse zwischen zwei Filmfiguren überspringt, sie also in der Folgeeinstellung von der gegenüberliegenden Seite aus beob‐ achtet, was einem realen Beobachter nicht möglich wäre, ohne um die Be‐ trachteten herumzugehen. Ist ein solcher Positionswechsel nötig, so sollte er sich daher über eine Reihe von vermittelnden Zwischenpositionen erstrecken, welche auf nachvollziehbare Art und Weise die Akteure umrundet. Bilderfolgen, welche gegen unsere Wahrnehmungsgewohnheiten versto‐ ßen, verweisen also auf die Künstlichkeit des Films und seinen Charakter als Kunstwerk, weshalb sich in derartigen Fällen die Frage nach der Funktion ei‐ nes solchen Vorgehens aufdrängt. In diesem Sinne nutzte bereits das Kino der russischen Avantgarde (Sergej M. Eisenstein, 1898-1948) eine sprunghafte, assoziative Montagetechnik, welche nicht auf Illusionsbildung ausgerichtet ist, sondern den Kunstcharakter des Films betont. Ein weiteres Kriterium bei der Montage der geschnittenen Einstellungen ist die Frequenz ihrer Abfolge, die zwischen stakkatohaftem Tempo oder ele‐ gischer Langsamkeit über die Dauer einer Einstellung entscheidet und zur unterschiedlichen Akzentuierung innerhalb des Films (z. B. als Dynamisie‐ rung des Geschehens oder Ruhepause) eingesetzt werden kann. Von einer Plansequenz (plano secuencia) spricht man, wenn eine Einstellung über einen längeren Zeitraum ohne Schnitt weitergeführt wird, im Besonderen unter Verwendung einer Reihe von ausgeklügelten Bewegungen der Kamera, und im Sinne einer Miniatur-Sequenz mehrere Handlungseinheiten umfasst. Zugleich erlaubt die Montage die Ausbildung eines Erzählzusammenhangs über die Anordnung von zusammengehörenden Einstellungen innerhalb einer oder mehrerer Sequenzen. Die Kausalmontage (montaje lineal ) führt chronologisch Ursache und Kon‐ sequenz als Handlungsfolge vor Augen. Eine alternierende Montage (montaje alterno) bildet zwei oder mehrere gleichzeitig ablaufende Handlungsstränge im Wechsel ab. Unter Schachtelmontage (montaje invertido) versteht man eine achronologische Aneinanderreihung von Handlungsabschnitten, die Rückblenden, Voraussichten und Gegenwärtiges mischt. Ein Cutaway (plano 13.4 Montage 285 Erzählzeit und erzählte Zeit Aufgabe 13.5 recurso) besteht aus einer Einstellung, die als kurze Unterbrechung nicht die Hauptaktion bzw. die gerade handelnde Figur zeigt, sondern einen Ne‐ benaspekt, z. B. ein begleitendes Detail des Schauplatzes oder die Mimik eines zuhörenden Gesprächspartners. Dadurch können ergänzende Informa‐ tionen geliefert werden, häufig wird aber in erster Linie die Montage von Einstellungen erleichtert, um Brüche zwischen ihnen zu verdecken. Im Cross-cutting (montaje cruzado) wird ein oftmals simultaner Überblick über verschiedene Handlungsorte erstellt. Die Parallelmontage (montaje paralelo) stiftet inhaltliche oder symbolische Bezüge zwischen im Wechsel gezeigten längeren Handlungssträngen. Bei deutlichen Gegensätzen kann sie als Kon‐ trastmontage die ZuschauerInnen assoziativ (Assoziationsmontage; montaje asociativo) oder durch Reflexion (intellektuelle Montage; montaje intelectual ) zu einer Erkenntnis führen. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die Gegen‐ überstellung von Szenen aus einem Schlachthaus und der Niederschlagung eines Volksaufstandes in Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925). Im Match Cut (continuidad cinematográfica/ raccord ) ergibt sich aus einer Gemeinsamkeit der Bildinhalte in Form und/ oder Bewegung ein ‚pas‐ sender‘ Übergang zwischen zwei Einstellungen, die ganz unterschiedlichen Handlungseinheiten, Schauplätzen oder Zeitpunkten angehören, um bei den BetrachterInnen die Assoziation einer Kontinuität, eines inhaltlichen Zusam‐ menhangs zu erzeugen. Werden Texte in das filmische Bild eingeblendet, so handelt es sich um Inserts (intertítulos). Natürlich kann darüber hinaus die chronologische Reihenfolge der Hand‐ lungselemente der erzählten Zeit (tiempo de la historia) aufgelöst werden, Handlungsepisoden können übersprungen (Ellipse/ elipsis) oder Sequenzen aus unterschiedlichen Zeiträumen miteinander kombiniert werden, etwa als flash-back oder flash forward, span. retroceso temporal bzw. avance temporal (vgl. Einheit 8.2.2 ‚Anachronie‘). Auf der Ebene der Erzählzeit (tiempo del dis‐ curso) erlauben Zeitraffer (movimiento acelerado / cámara rápida) und Zeitlupe (movimiento ralentizado/ cámara lenta) eine Raffung oder Dehnung. ? Worin besteht der Unterschied zwischen dem Schuss-Gegen‐ schuss-Verfahren und der Parallelmontage? 13.5 Filmisches Erzählen Sowohl die visuelle als auch die akustische Vermittlung des Filmgeschehens an die ZuschauerInnen beruht gemeinhin auf einem sorgfältig ausgearbeite‐ ten Konzept. Die Art und Weise, wie die Kamera die Ereignisse in den Blick nimmt, wie auch die Auswahl des Tonmaterials sind Voraussetzungen für die 286 13 Filmanalyse Genres Unbeteiligte/ beteiligte Kamera Fokalisierung sich im Kopf des Publikums vollziehende ‚Lektüre‘ des Films. Aus der Zu‐ sammenstellung des Bild- und Tonmaterials in Schnitt, Montage und Syn‐ chronisation entsteht die äußere Gestalt des Films, die Ebene des discurso, während auf der Ebene der historia das Geschehen vor der Kamera Schau‐ spielerinnen und Schauspieler in ihrem Sprechen und Handeln zeigt. Die er‐ zählte Handlung besitzt in der Regel ebenso wie das Drama einen inneren Aufbau mit Exposition, Entfaltung des Konflikts, beschleunigenden und ver‐ zögernden Elementen, Höhepunkt und Schluss, sofern dieser nicht mit Ab‐ sicht offen gehalten wird. Thema, Plot und Story eines Films werden von einer Filmanalyse ebenso in den Blick genommen wie die in ihm auszumachenden stofflichen oder motivlichen Elemente, die Figurenkonstellation, der sich ent‐ wickelnde Konflikt. Innerhalb der Filmgeschichte haben sich dabei eine Reihe von typischen Erzählmustern herausgebildet, die auf Konventionen beruhen und bestimmte Themen, ihre typischen Stoffe, Motive, Handlungsmuster, Figurenkonstellationen und ästhetische Verfahren der Inszenierung und Ka‐ meraarbeit umfassen: die Genres. Ihre Grenzen und Merkmale sind nicht im‐ mer klar definiert, doch haben sich Genres wie Liebes- oder Kriminalfilm, Western, Science-Fiction, Thriller oder Komödie in der Zuschauer-Wahrneh‐ mung als feste Größen etabliert. Solche Erzählmuster greifen auch auf die Art und Weise der Erzählung über, etwa bei schockierenden harten Schnitten im Horrorfilm. In Analogie zu den in Einheit 8 vorgestellten Kriterien kann die Ebene des discurso auf narrative Verfahren hin untersucht werden, die teilweise schon in die obige Darstellung eingeflossen sind. Dafür muss die narratologische Systematik Gérard Genettes (vgl. Einheit 8.2.4) allerdings in Teilen modifiziert werden. Da die Wahrnehmung des Publikums an die Kamera- und Ton-Aufnahmen und deren Montage gebunden ist, stellt sich einerseits die Frage nach der Präsenz der Tonkamera in der Diegese, andererseits die Frage nach der kognitiv-emotionalen Involvierung der ZuschauerInnen in das Geschehen. So kann die Kamera einen nicht markierten Standpunkt einnehmen und so weit hinter den gezeigten Ereignissen zurücktreten, dass ihre Präsenz vom Kinopublikum völlig vergessen wird und die Illusion einer filmischen Trans‐ parenz entsteht. Die Kamera nimmt damit die Position einer unbeteiligten Beobachterin ein. Andererseits kann sie jedoch die Geschehnisse auch von einem Standpunkt innerhalb des Geschehens aus vermitteln und als beteiligte Beobachterin den Figuren in ihrem Tun bspw. über Kameraschwenks oder -fahrten folgen (motivierte Kamerabewegungen; movimientos de cámara motivados). Darüber hinaus kann sie selbst aktiv in die Diegese eintreten und als autonome Kamera (cámara viviente) ein Eigenleben entwickeln, etwa in ausgeklügelten Kranfahrten oder bei der 360-Grad-Umkreisung von Figuren. Daneben sind unterschiedliche Formen der Fokalisierung zu beobachten. Gibt die Kamera weniger Wissen preis, als es die Figuren oder die Erzählin‐ 13.5 Filmisches Erzählen 287 Aufgabe 13.6 Zusammenfassung stanz besitzen, ist eine externe Fokalisierung (focalización externa) gegeben. So kann der Beginn eines Spielfilms Ort oder Begebenheiten zeigen, deren Bedeutung den ZuschauerInnen (noch) nicht begreiflich sind. In der Regel folgt die Kamera jedoch einer oder - im Wechsel - mehreren Figuren durch die Handlung. Ein solches Verfahren der internen Fokalisierung (focalización interna) überwiegt in fiktionalen, erzählenden Filmen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Fokalisierung auf eine Figur, da die Zuschauer‐ Innen in ihren Wahrnehmungen an die Erlebnisse der jeweiligen Figur ge‐ bunden werden. Diese focalización sobre un personaje folgt somit dem Ge‐ schehen, indem sie einer Figur ihre besondere Aufmerksamkeit widmet, diese begleitet und sie dadurch speziell hervorhebt. Als focalización a través de un personaje kann die Kamera sogar das Geschehen aus der Perspektive der Figur selbst erfahrbar machen: die - im Normalfall nur episodisch eingesetzte - sog. subjektive Kamera (cámara subjetiva) identifiziert sich mit den visuellen und akustischen Wahrnehmungsmöglichkeiten der erlebenden Figur. Dabei ent‐ spricht der Point-of-View-Shot (plano subjetivo) dem direkten Blick aus deren Augen, während zuvor und/ oder danach montierte ‚objektive‘ Einstellungen für das Publikum den Wahrnehmungszusammenhang klarstellen. Zusätzlich können im Rahmen der internen Fokalisierung Gedanken und Rede einer Fi‐ gur als Voice-over eingebracht werden und somit sprachlich ihre individuelle Sichtweise artikulieren. Im Falle der Null-Fokalisierung (focalización cero, hier auch: focalización espectatorial ) wiederum weiß die Erzählinstanz mehr als die Figuren und kann ihr Wissen den ZuschauerInnen vermitteln, z. B. durch gesprochene (Voice-over) oder schriftliche Texte (Inserts) oder im Bild ge‐ zeigte Informationen. Ein entsprechendes filmisches Beispiel für den letzteren Fall ist eine Einstellung, die bereits ein Telefon zeigt, bevor dieses für die an der Handlung Beteiligten überraschend klingelt. ? Weshalb können Kameraarbeit und Schnitt nur im übertragenen Sinn als Erzählinstanz bezeichnet werden, wie sie in einem fiktionalen litera‐ rischen Text vorliegt? Die Filmanalyse bedient sich eines auf das Medium speziell zugeschnit‐ tenen Zugriffs, der neben den inhaltlichen Gesichtspunkten vor allem auf die Art und Weise der filmischen Darstellung ausgerichtet ist. Ka‐ meraführung und Montage können in diesem Zusammenhang als die wichtigsten Elemente der Ebene des discurso ausgemacht werden, die im Sinne einer Erzählinstanz das Dargebotene vermitteln, wenngleich zusätzlich auch Erzählerfiguren bzw. Kommentare aus dem ‚Off ‘ diese Aufgabe übernehmen können. Die Analyse kann sich der in Einheit 8 vorgestellten narratologischen Ansätze bedienen, die sich in erster Linie 288 13 Filmanalyse  auf den Spielfilm übertragen lassen. Andererseits kann natürlich in weiten Teilen auf die Kategorien der Dramenanalyse zurückgegriffen werden (vgl. Einheit 6). Dass es sich jedoch nicht um eine schlichte Wiedergabe von Literatur im Film handelt, wird in der folgenden Einheit betrachtet. In jedem Fall ist die filmische Gattung in die an die Analyse anschließende Interpretation mit einzubeziehen, wenn es darum geht, die thematische und ästhetische Ausrichtung des untersuchten filmischen Textes zu ergründen. Filmedition Luis Buñuel: Los olvidados. Mexiko 1950 (DVD, Films sans frontières 2001). Literatur Helmut Korte: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Berlin: Erich Schmidt 4 2010. Sergej M. Eisenstein: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Frank‐ furt-a.M.: Suhrkamp 2006. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Filmedition 289 Überblick 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse Inhalt 14.1 Pedro Almodóvar 14.2 Inhaltsüberblick zu Todo sobre mi madre 14.3 Leitlinien der Analyse 14.3.1 Filmisches Erzählen 14.3.2 Intertextualität, Intermedialität, Hybridgattung 14.3.3 Körperlichkeit und Gender-Perspektive 14.4 Interpretationsansätze 14.4.1 Interpretation unter Gender-Aspekten 14.4.2 Interpretation unter poststrukturalistischen Vorzeichen 14.4.3 Interpretation aus psychoanalytischer Perspektive Nachdem Ihnen in Einheit 13 formale Aspekte der Filmanalyse vorgestellt wurden, soll in der folgenden Einheit ein Kinofilm in seinen Grundzügen analysiert und interpretiert werden. Mit Todo sobre mi madre (1999) von Pedro Almodóvar fällt die Wahl nicht nur auf eine der erfolgreichsten Produktionen des spanischen Kinos der letzten Jahrzehnte, sondern auch auf ein vielschichtiges Werk, das gesellschaftliche Problemfelder ebenso aufgreift wie es die filmästhetischen Neuerungen des zeitgenössischen Kinos illustriert. Abb. 14.1 Pedro Almodóvar Pedro Almodóvars Todo sobre mi madre zählt zu den bekanntesten Werken des eigenwilligen spanischen Cineasten. Unter den zahlreichen Auszeichnungen für dieses Werk findet sich der Oscar des Jahres 2000 für den besten fremd‐ sprachigen Film. Wenngleich auf Vollständigkeit verzichtet werden muss, können im Folgenden doch einige zentrale Aspekte der Filmanalyse und -interpretation ausgeführt werden. 14.1 Pedro Almodóvar Die Kindheit und Jugend des 1951 geborenen Regisseurs war für ihn in zumindest zweifacher Hinsicht problematisch: Er wuchs in der Extremadura und damit fern kultureller Zentren auf und musste mit Widerwillen kirchliche Schulen besuchen. Erst nach der auf eigene Faust vollzogenen Übersiedlung nach Madrid fand er die Bedingungen für seine allmähliche künstlerische Entfaltung. Den wesentlichen zeitgeschichtlichen Hintergrund dafür bildete die intellektuelle Befreiung der unmittelbaren post-franquistischen Ära, die im Underground-Milieu der sog. movida madrileña ihren Ausdruck fand. Sie verstand sich als jugendliche Alternativbewegung, die sich auf breiter Ebene durch die Ablehnung der überkommenen konservativen Strukturen in Politik, Gesellschaft und Moral auszeichnete und dies u. a. in sexueller Freizügigkeit und Drogenkonsum auslebte. Der damit einhergehende Nonkonformismus prägt Almodóvars Filme in mannigfacher Hinsicht, unter anderem im Aufbre‐ chen der verankerten Geschlechterrollen und den psychologischen Portraits von Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, die zueinander in Beziehung gesetzt werden. 14.2 Inhaltsüberblick zu Todo sobre mi madre Todo sobre mi madre fokussiert auf die Erlebnisse der Protagonistin Manuela, die als Krankenschwester in der Koordinationsstelle für Organtransplantationen eines Madrilener Krankenhauses arbeitet. Ihr Sohn Esteban, der alles über seine Mutter in Erfahrung bringen möchte, begleitet sie als Zuschauer zu einem simulierten Patientengespräch: In der gestellten Trainingssituation spielt Manuela eine Mutter, der zwei Ärzte die schockierende Nachricht vom Tod ihres Kindes überbringen, um sie zugleich zur Einwilligung in eine Organspende zu bewegen. Kurz darauf, am Abend seines 17. Geburtstages, wird Esteban Opfer eines Autounfalls. Als die beiden Ärzte aus dem Training auf Manuela zukommen, weiß sie sofort, worum es geht. Estebans Herz wird in einer schnellen Einstellungsfolge auf dem Weg in eine Klinik nach La Coruña begleitet. Manuela reist ebenfalls dorthin und beobachtet unerkannt 14.1 Pedro Almodóvar 291 heimlich den Empfänger der Transplantation, einen Mann in ihrem Alter, als er später erleichtert die Klinik verlässt. Estebans beide letzten Wünsche bestimmen fortan den Handlungsverlauf: Unmit‐ telbarer Auslöser des Unfalls war sein Versuch, ein Autogramm der Theaterdiva Huma Rojo zu erhalten, die mit einer Inszenierung von Tennessee Williams Stück A Streetcar Named Desire (dt.: Endstation Sehnsucht) auf Tournee ist. Kurz zuvor hatte er die Mutter eindringlich gebeten, ihm endlich die Identität seines vermeintlich bereits verstorbenen Vaters zu enthüllen, über den er nie Genaueres erfahren hatte. Manuela, die den Verlust nicht verwinden kann, begibt sich von Madrid nach Barcelona. Sie trifft dort zunächst auf einen alten Freund, Agrado, der als Transsexueller auf den Strich geht. Er soll helfen, Lola, den ebenfalls transsexuellen Vater Estebans, von dem Manuela sich vor über 17 Jahren Hals über Kopf getrennt hatte, wiederzufinden. Auf ihrer Suche lernt sie Schwester Rosa kennen, die in einer sozialen Einrichtung für die Prostituierten sorgt. Wie sich kurz darauf herausstellt, ist Rosa von niemand anderem als von Lola verführt und geschwängert worden. Rosa sucht bei Manuela Zuflucht. Diese nimmt Kontakt zur Schauspielerin Huma Rojo auf, die gerade von ihrer Assistentin und Geliebten Nina, einer Drogensüchtigen, in einer Beziehungskrise allein gelassen wird. Manuela gewinnt Humas Vertrauen und ersetzt schließlich Nina auch in ihrer Bühnenrolle der Stella, die Manuela in ihrer Jugend selbst einmal gespielt hatte und die deutliche Parallelen zu ihrer eigenen Beziehungsproblematik zu Lola aufweist. Noch unter dem Eindruck ihres Theatererfolges erfährt sie von Rosa, dass diese HIV-positiv ist. Rosa zieht bei Manuela ein. In der Garderobe von Huma kommt es zur Konfrontation mit Nina, die Manuela bezichtigt, eine ‚Eva Harrington‘ zu sein, d. h. sich in die Produktion eingeschlichen zu haben, um ihr die Rolle abspenstig zu machen. Manuela berichtet daraufhin von ihrer früheren Erfahrung als Laien-Schau‐ spielerin an der Seite Lolas und vom Tod ihres Sohnes als dem wahren Motiv der Kontaktaufnahme zu Huma. Diese ist bestürzt und besucht Manuela am nächsten Tag in ihrer Wohnung. Da Manuela sich nur noch um Rosa kümmern möchte, schlägt sie Huma Agrado als Ersatz für die Stelle der persönlichen Assistentin vor. Während Rosa immer pflegebedürftiger wird, versuchen Ensemble-Mitglieder Agrado wieder in die Rolle der Prostituierten zu drängen und auszunutzen. Ein Treffen zwischen Rosa und ihrer Mutter verdeutlicht die Entfremdung der beiden voneinander; der demente Vater ist bereits außerstande, die Zusammenhänge zu begreifen und wird daher überhaupt nicht informiert. Ein heftiger Streit zwischen Huma und Nina lässt die abendliche Aufführung von A Streetcar Named Desire platzen. Agrado improvisiert vor dem erstaunten Publikum die wahre Geschichte ihres Lebens, und das heißt: ihre schönheits-chirurgischen bzw. geschlechtsumwandelnden Eingriffe. Ihr Fazit lautet jedoch, man sei umso authentischer, je näher man dem Traum komme, den man von sich selbst habe. Auf der Fahrt ins Krankenhaus verabschiedet sich Rosa von ihrem spazieren gehenden Vater, der sie jedoch nicht erkennt. Auf Rosas Beerdigung erscheint die todkranke Lola. Sie möchte ihren Sohn, das Kind Rosas sehen, da sie sich stets nichts mehr als einen Sohn gewünscht habe. Manuela klärt sie über die Existenz 292 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse Aufgabe 14.1 Etappen und den Tod Estebans, dem sie den ursprünglichen Namen seines Vaters gegeben hatte, auf. Manuela bringt Rosas - ebenfalls auf den Namen Esteban getauftes - Baby daraufhin zu Lola und zeigt ihr das Notizbuch Estebans, in dem dieser das Verlangen formuliert, den Vater zu finden, unabhängig davon, wer oder wie dieser sei und was er der Mutter einst angetan habe. Da die Situation im Hause von Rosas Eltern unhaltbar wird, entscheidet sich Manuela mit dem kleinen Esteban unvermittelt nach Madrid zu fliehen. Zwei Jahre später kehrt sie nach Barcelona zurück: das noch unerklärliche Verschwinden der HIV-Erreger aus seinem Blut soll bei einem medizinischen Kongress vorgestellt werden. Ein freundschaftliches Zusammentreffen mit Agrado und Huma beschließt den Film. ? Erstellen Sie eine Sequenzanalyse des gesamten Films. Formulieren Sie auf dieser Grundlage oder mit Hilfe der obigen kurzen Inhaltsangabe erste Überlegungen zur Bedeutung des Themenkomplexes ‚Körperlichkeit‘ im Film. 14.3 Leitlinien der Analyse 14.3.1 Filmisches Erzählen Die Makrostruktur des Handlungsverlaufs von Todo sobre mi madre lässt klar abgrenzbare Etappen erkennen. Die deutlichsten Einschnitte - die Reisen von Madrid nach Barcelona zu Beginn und gegen Ende des Films - werden durch analoge Einstellungen markiert: Sie zeigen die Fahrt des Zuges durch einen langen Tunnel, wobei die Kamera an der Spitze des Zuges angebracht ist und nur seine rasante Vorwärtsbewegung durch den vorbeieilenden Raum erfasst. Im zweiten Fall wird zusätzlich ein horizontal den Kader durcheilender Zug gezeigt, der durch die Fahrt nach links bzw. später nach rechts die Gegenläufigkeit der Reiserichtung andeutet. Seit- und Vorwärtsbewegung erfassen hier unterschiedliche Dimensionen der Durchquerung des Raums und kombinieren eine statische Kameraposition (bei bewegtem Objekt) mit einer effektvollen Kamerafahrt. Fährt die Kamera auf das größer werdende Licht des Tunnelendes zu (vgl. Abb. 14.2), wird darüber hinaus ein Prozess des Übergangs oder gar der Geburt symbolisch angedeutet. Weitere Abgren‐ zungen von Sequenzen untereinander sind in traditioneller Manier durch harte Schnitte bei gleichzeitigem Orts-/ Zeitwechsel gekennzeichnet. Auffällig sind indes die zahlreichen fließenden Übergänge zwischen Einstellungen, Szenen und sogar Sequenzen, die entweder inhaltlich durch vorausweisende Thematisierungen, durch langsame Überblendungen oder durch eine über den Schnitt hinweglaufende Kontinuität der Tonspur realisiert werden. 14.3 Leitlinien der Analyse 293 Erzählperspektive Nähe vermittelnde Einstellungen Text 14.1 Schluss-Widmung Abb. 14.2: Die Tunneldurchquerung als Symbol des Übergangs (Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre) Die Erzählperspektive ist über den gesamten Film hinweg an Manuela gebunden: Die ZuschauerInnen sehen nur, was sich in Gegenwart Manuelas zuträgt und verfügen auch über keine ihr Wissen überschreitenden Infor‐ mationen - es handelt sich somit um eine auf ihre Person zugeschnittene Erzählperspektive, die Manuela zur Reflektorfigur für das Publikum macht und letzteres somit zur Identifikation mit ihr einlädt. Wenn auch die in Einheit 8 vorgestellte narratologische Terminologie Gérard Genettes nicht ohne Weiteres auf das Medium Film anwendbar ist, handelt es sich im vorliegenden Fall doch um eine Art interne Fokalisierung, wobei die Protagonistin selbst nicht als Erzählerin auftritt und Kameraarbeit, Montage, Inserts (Texteinblendungen) u. a. auf einen heterodiegetischen Erzählerstandpunkt verwei‐ sen. Die zahlreichen Dialogszenen unterstreichen, dass gerade Manuela mit allen anderen Filmfiguren in Beziehung steht, während die Kamera in der Regel eine normale Position auf Augenhöhe der Gefilmten einnimmt und sie in halbnahen Einstellungen (sowie Naheinstellungen und Großaufnahmen) erfasst, was den Betrachtenden den Eindruck einer unaufdringlichen Nähe zu den Figuren vermittelt. Dieser Effekt wird in vielen Fällen durch die Montage ergänzt, die beispielsweise in Dialogszenen länger andauernde Einstellungen wählt. Die Ebenen von Erzählzeit und erzählter Zeit schließlich verlaufen durch die zeitliche Raffung der Ereignisse nicht deckungsgleich: mehrere El‐ lipsen werden durch diskrete Inserts ausgewiesen und lediglich das Wid‐ mungs-Insert direkt am Filmschluss stellt einen markanten Kommentar von Seiten des Regisseurs dar. A Bette Davis, Gena Rowlands, Romy Schneider … A todas las actrices que han hecho de actrices, a todas las mujeres que actúan, a todos los hombres que actúan y se convierten en mujeres, a todas las personas que quieren ser madres. A mi madre. (Almodóvar: 2005, 181) 294 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse Metadiegetischer Film-im-Film Aufgabe 14.2 14.3.2 Intertextualität, Intermedialität, Hybridgattung Pedro Almodóvar nutzt in vielen seiner Filme intertextuelle bzw. intermediale Bezüge zur Stiftung zusätzlicher Sinnzusammenhänge. In Hable con ella (2002) beispielsweise zitiert er u. a. anhand einer Einstellung der Figur Alicia das Motiv der schlafenden Schönen aus der bildenden Kunst (z. B. Giorgione: Schlummernde Venus, um 1508). Todo sobre mi madre wiederum zeigt ein brei‐ tes Spektrum von Referenzen. Allen voran steht der Einfluss des Kinofilms. Bereits in der ersten Sequenz wird das Familienleben von Manuela und Es‐ teban durch das gemeinsame Betrachten der im Fernsehen ausgestrahlten Dramakomödie All about Eve von Joseph L. Mankiewicz (1950) geprägt. Der in schlechter Bild- und Tonqualität eingespielte Schwarzweißfilm (vgl. Abb. 14.3) macht den zeitlichen Abstand zwischen Hypo- und Hypertext besonders deutlich. Der Filmausschnitt zeigt Eve Harrington (Anne Baxter) bei ihrer vermeintlich naiven Kontaktaufnahme mit dem von ihr verehrten Filmstar Margo Channings (Bette Davis). Esteban reflektiert bei dieser Gelegenheit über die spanische Übersetzung des amerikanischen Filmtitels Eva al des‐ nudo, welche bereits sexuell konnotiert ist, und spielt darüber hinaus auto‐ referenziell (selbstbezüglich) auf den Titel von Almodóvars Film an. Abb. 14.3: Eve Harrington wird Margo Channings vorgestellt und rückt im Bild in den Kreis ihrer Vertrauten (Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre) ? Verschaffen Sie sich mit Hilfe eines Nachschlagewerks (zum Beispiel der Internet Movie Database unter www.imdb.com) einen Überblick über die Handlung von All about Eve. Welche Parallelen hierzu werden offen‐ sichtlich von Almodóvar in Todo sobre mi madre gezogen? Abgesehen von den klaren Entsprechungen auf der Ebene des Plots zeichnet sich die Verwandtschaft zu Mankiewicz’ Vorlage bereits im von Almodóvar 14.3 Leitlinien der Analyse 295 Screwball comedy: Beziehungskomödie des Hollywood-Kinos v. a. der 30er und 40er Jahre Intermedialer Bezug zu Fotografien Text 14.2 Huma Rojo Aufgabe 14.3 Aufgabe 14.4 gewählten Filmgenre ab, das durch eine Mischung komischer und tragischer Elemente charakterisiert ist. Almodóvar bezeichnete Todo sobre mi madre selbst als screwball drama, als eine Hybridgattung aus der turbulenten screw‐ ball comedy und dem klassischen, auf emotionale Rührung der ZuschauerInnen abzielenden Filmdrama - eine Mischung, die in unterschiedlicher Ge‐ wichtung auch in anderen Produktionen Almodóvars zum Tragen kommt, etwa in Tacones lejanos (1991) oder in Kika (1993). Abb. 14.4: Das Photo von Bette Davis dient als intermediale Referenz (Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre) Die inspirierende Rolle, welche Bette Davis neben anderen Schauspielerinnen auf die Filme Almodóvars ausübte, wird in Todo sobre mi madre nicht zuletzt durch ein Insert vor dem Abspann markiert (vgl. Text 14.1). Ein weiterer Hinweis liegt in Form einer Fotografie vor, die am Schminkspiegel in Huma Rojos Garderobe hängt und somit über das für Identitätsfragen stehende Spiegelmotiv auf Humas großes Vorbild verweist, wie sie selbst im Dialog erläutert: Huma: Empecé a fumar por culpa de Bette Davis. Por imitarla. A los dieciocho años ya fumaba como un carretero. Per eso me puse Huma. (Almodóvar: 2005, 88) ? Welche Konnotationen können mit dem Künstlernamen Huma Rojo verbunden werden und Aufschluss über die Filmfigur geben? ? Fassen Sie zusammen, auf welchen unterschiedlichen (medialen) Ebe‐ nen die Referenzen von Todo sobre mi madre auf All about Eve umgesetzt werden. Dass das Medium Fotografie eine wesentliche Rolle innerhalb des Films spielt, zeigt sich vor allem am Foto Estebans, das Manuela nach seinem Tod ständig begleitet, bis sie es Huma überlässt, die es zu den Aufnahmen von Bette Davis und einem Foto von Nina und sich selbst an den Spiegel heftet. Somit steht es einerseits für die materialisierte Erinnerung an den verlorenen 296 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse Bezug zum Theater Aufgabe 14.5 Sohn. Andererseits gewinnt es durch Großaufnahmen (vgl. Abb. 14.5) eine besondere Aussagekraft, die über den eindringlichen Blick Estebans geradezu seine Präsenz oder eine Art Weiterleben suggeriert. Lola lernt den eigenen Sohn nur über das Foto kennen, das Bild führt Lola und Manuela für einen Augenblick nachträglich als Elternpaar zusammen. Somit verweist es auf etwas Abwesendes, um das sich allerdings die gesamte Geschichte dreht, denn schließlich bricht Manuela eigentlich für Esteban auf, um Lola zu finden, sucht den Kontakt zu Huma, die schicksalhaft mit dem Tod Estebans verbunden ist, und findet in Rosa eine zweite von Lola geschwängerte Frau. Erst am Ende des Films hat das Foto seine Funktion für Manuela verloren: Als Ersatzmutter von Rosas Sohn, Esteban III, hat sie das Abbild gegen ein lebendes Kind eingetauscht. Abb. 14.5: Das Foto als Stellvertreter des verstorbenen Sohnes (Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre) Einen zusätzlichen intermedialen Sinnzusammenhang stiftet die Bezug‐ nahme des Films auf das Theater. Manuela ist bereits durch ihre Lebensge‐ schichte mit dem Theater verbunden, sie hat in der Jugend, zusammen mit Lola / Esteban I, intellektuelle Kabarettszenen aufgeführt (mit Bezügen zu den Texten des französischen Existenzialisten Boris Vian) und vor allem die Rolle der Stella in Tennessee Williams’ Drama A Streetcar Named Desire (1947) interpretiert. ? Verschaffen Sie sich anhand eines geeigneten Nachschlagewerks (z. B. Kindlers Literatur Lexikon) einen Überblick über die Handlung von A Streetcar Named Desire. Welche Handlungsparallelen zu Todo sobre mi madre liegen vor? Wie werden die Charakterzüge der einzelnen Figuren bei Tennessee Williams von Almodóvar auf seine Figuren übertragen? In Todo sobre mi madre werden vor allem zwei Bezugspunkte bei den Theaterbesuchen Manuelas vor Augen geführt: die Problematik der jungen Mutter Stella in Konfrontation mit ihrem brutalen Ehemann Kowalski sowie dessen offene Feindschaft gegenüber Stellas älterer Schwester Blanche, die hier von Huma Rojo gespielt wird. Letztere tritt noch mit einem weiteren 14.3 Leitlinien der Analyse 297 Aufgabe 14.6 Spiel im Spiel Bezug zur Schrift Text 14.3 Federico García Lorca: Bodas de sangre, II,2 Theaterstück im Verlauf des Films als Schauspielerin in Erscheinung: Gegen Ende interpretiert sie die Rolle der Mutter in García Lorcas Bodas de sangre (vgl. Einheit 7.2) und greift damit das Motiv der um das getötete Kind trauernden Mutter nochmals auf. 1 Madre: Pero no es así. Se tarda mucho. Por eso es tan terrible ver la sangre de una derramada 1 por el suelo. Una fuente que corre un minuto y a nosotros nos ha costado años. Cuando yo llegué a ver a mi hijo, estaba tumbado en mitad de la calle. Me mojé 2 las manos de sangre y me las lamí 3 con la lengua. Porque era 5 mía. Tú no sabes lo que es eso. En una custodia 4 de cristal y topacios pondría yo la tierra empapada 5 por ella. (García Lorca: 2005, 132 f.) - 1 derramar vergießen-- 2 mojar benetzen-- 3 lamer (ab-)lecken-- 4 custodia hier: Monstranz-- 5 empapar durchnässen, tränken ? Welchen Effekt soll der Monolog der Mutter / Huma Rojos an dieser Stelle auf die ZuschauerInnen ausüben? Die Einbindung von Theateraufführungen oder zitierten Filmszenen (ein sog. ‚Spiel im Spiel‘; span. representación en la representación) führt dazu, dass wichtige Motive in unterschiedlichem medialen Zusammenhang wiederkeh‐ ren und eine komplexe Verschachtelung der Bezüge in Todo sobre mi madre bewirken. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Spiel, denn Almodóvars Figuren sind eingebunden in einen Verweiszusammenhang von Rollen, die ihre eigene Identität überlagern oder gar in Frage stellen. Eine letzte intermediale Referenzebene eröffnet sich über den Einbezug der Schrift in die filmische Darstellung. So werden neben Estebans Aufzeich‐ nungen über seine Mutter auch das nachträgliche Autogramm Humas in Großaufnahmen ins Bild gesetzt. Ein intertextueller Verweis auf Truman Capotes Music for Chameleons (1980) gibt zu Beginn des Films über Estebans schriftstellerisches Selbstverständnis in chiffrierter Form Auskunft, da sich in Capotes Erzählsammlung reale Versatzstücke und fiktionales Erzählen mischen. (Gleichzeitig bündeln sich in der historischen Person Capote die Motive Homosexualität und Drogensucht.) Hintergründig spielen schriftliche Texte zudem in Form von Theaterplakaten eine Rolle, die den Stücktitel Un tranvía llamada deseo verkünden und damit ebenso auf das Motiv des (sexu‐ ellen) Begehrens wie auch auf die Produktionsfirma der Brüder Almodóvar, El Deseo S. A., anspielen. 298 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse Aufgabe 14.7 Text 14.4 Abb. 14.6: Humas Autogramm verweist auf die Rolle der Schrift im Film (Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre) ? Unter anderem über die Einbindung von Kinofilm und Theaterstücken erhält das Motiv ‚Schauspielen‘ einen überragenden Stellenwert in Todo sobre mi madre. Rekapitulieren und interpretieren Sie auf Grundlage der bisherigen Ausführungen die Zusammenhänge. 14.3.3 Körperlichkeit und Gender-Perspektive Ganz offensichtlich ist die Thematik um Geschlechtlichkeit und Gender im Filmwerk Almodóvars omnipräsent, denn seit den frühen Filmen Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón (1980) oder Laberinto de pasiones (1982) bilden Formen sexuellen Begehrens, auch seine Schattenseiten wie Vergewaltigung oder Missbrauch, gleichsam eine Konstante. Wenngleich sich Almodóvar außerhalb seiner Filme selten zur gesellschaftlichen Stellung von Homosexu‐ ellen äußert, bilden Homosexualität, Travestie und Transsexualität in seinem Werk wichtige Facetten. Manuelas Suche nach dem Vater Estebans beginnt im Drogen- und Strichermilieu Barcelonas. Wie die ZuschauerInnen im Laufe der Handlung erfahren, hat Esteban I alias Lola sich operativ Brüste erstellen lassen und ist über sexu‐ elle Ausschweifungen und Drogenmissbrauch mit HIV infiziert worden - ein zum Erscheinungszeitpunkt des Films hochbrisantes gesellschaftspolitisches Thema. Während Lola jedoch erst am Ende der Handlung in Erscheinung tritt und unterdessen ausschließlich aus dem Munde anderer charakterisiert wird, findet über die sogleich präsente Agrado das Motiv Transsexualität / Travestie seine erste Ausgestaltung. Die Konfrontation der Prostituierten mit der Bru‐ talität der Freier wird dabei ebenso in Szene gesetzt wie ihr Selbstverständnis als Frau. 1 Agrado: ¡No puedo con las drags 1 ! Son unas mamarrachas 2 . Han confundido circo con travestismo. ¡Qué digo circo! ¡Mimo 3 ! Una mujer es un pelo, una uña, una buena bemba 4 para mamarla 5 o criticar. Pero vamos a ver… ¿dónde 14.3 Leitlinien der Analyse 299 Unterschiedliche Formen von Geschlechterrollen und Partnerschaft Frauen im Zentrum des Geschehens se ha visto una mujer calva? No puedo con ellas, son unas mamarrachas 5 (Almodóvar: 2005, 65) - 1 drags (f. pl.) Drag-Queens - 2 mamarracha Witzfigur, Vogelscheuche - 3 mimo Farce, frivole Klamotte - 4 bemba dicklippiger Mund - 5 mamársela a alguien jemandem einen blasen Während Agrado in der Regel ausschließlich mit männlichen Freiern zu tun hat, ist Lolas Sexualität auf Partner beiderlei Geschlechts ausgerichtet. Huma Rojo wiederum repräsentiert mit ihrer eingestandenen Abhängigkeit von der jüngeren Nina eine lesbische Liebe, während wir über Manuela nur von ihrer heterosexuellen Beziehung zu Esteban I wissen. Damit werden im Film un‐ terschiedliche Formen von Sexualität, Geschlechterrollen und Partnerschaft thematisiert, wobei die letztgenannte und kulturell als ‚Normalität‘ erachtete randständig bleibt. Stattdessen tritt ein Spiel mit Geschlechterrollen in den Vordergrund, das traditionelle Identitätskonzepte in Frage stellt und auflöst und in Analogie zum Motiv des Schauspielens gesetzt wird, was auf ein konstruktivistisches bzw. performatives Verständnis von Gender verweist. 14.4 Interpretationsansätze Ebenso wie in den bisherigen Beobachtungen nur die wichtigsten Grundten‐ denzen des Films in Augenschein genommen werden konnten, muss sich die Interpretation von Todo sobre mi madre mit einigen zentralen Aspekten begnügen. Das Hauptinteresse liegt dabei auf der ansatzweisen Illustration und Erprobung von theoretischen Positionen, die in den Einheiten 10 bis 12 vorgestellt wurden und die hier in vereinfachter Form künstlich voneinander abgegrenzt werden, obwohl sie in Teilen mehrfach angeführt werden könn‐ ten. 14.4.1 Interpretation unter Gender-Aspekten Almodóvars Film wurde vielfach als Produkt einer ‚weiblich‘ konnotierten Ästhetik wahrgenommen. Bereits auf der inhaltlichen Ebene fällt auf, dass das Filmgeschehen sich fast ausschließlich um Frauen dreht. Der einzige he‐ terosexuelle Mann, der jugendliche Esteban II, verstirbt gleich zu Beginn, alle anderen männlichen Figuren sind auf unbedeutende Nebenrollen reduziert. Zwar begibt sich Manuela auf die Suche nach jenem ehemaligen Partner und Elternteil, der Esteban II in seinem Leben schmerzhaft fehlte - ihrem einsti‐ gen Freund Esteban I -, doch hat sich dieser mittlerweile selbst operativ ‚ver‐ weiblichen‘ lassen. Insofern erkundet das Geschehen unter Gender-Gesichts‐ 300 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse Geschlechterrollen als Identitätsentwürfe Manuela als Vermittlerfigur Aufgabe 14.8 punkten ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Identitätsentwürfe: Manuela in der Rolle der heterosexuellen und zugleich pragmatisch-aufgeschlossenen Mutter, Huma und Nina als lesbische Liebende, Rosa als vermeintlich entse‐ xualisierte Fürsorgerin, Rosas Mutter als im Bürgerlichen erstarrte und da‐ durch emotional blockierte Mutter, Agrado als harmoniebedürftige transse‐ xuelle Prostituierte und Lola als exzessiv-rauschhaftes Zwitterwesen. Die ZuschauerInnen begegnen allen Genannten über die Mittelsfrau Ma‐ nuela, die, wie bereits erörtert, die filmische Narration perspektiviert. Sie verkörpert über ihre Eigenschaften nicht zuletzt eine ebenso ‚starke‘ wie emotionale Frau, die sich als verständnisvolle Alleinerziehende unabhängig von männlicher Bevormundung eine eigene Existenz aufgebaut hat. Manuela ist aufgrund ihrer - im Verhältnis zu den anderen stärker akzentuierten Frauenfiguren gesehenen - ‚Normalität‘ in besonderem Maße geeignet, sich den Zuschauenden als Identifikationsfigur anzubieten und mit den ‚Anderen‘ vertraut zu machen oder zum Nachdenken über sie anzuregen. So werden alle weiteren Figuren in ihrer Gegenwart in die Handlung eingeführt (Manuela als Fokus) oder aus der Sicht einer ‚neutralen‘ Kamera erfasst, die sie zwar nicht mit dem Blick Manuelas, aber noch viel weniger mit einem ‚männlich‘ konnotierten Blick erfasst. Ein solcher liegt für gewöhnlich nicht nur als sub‐ jektive Kamera vor, welche die Perspektive eines männlichen Protagonisten imitiert, sondern wird beispielsweise über die Montageabfolge erzeugt, deren erste Einstellung männliche Figuren zeigt, um sodann eine Frau auftreten zu lassen, die evtl. sogar aus der Blickrichtung der Vorgenannten hinzutritt. Der feministischen Filmtheorie und -analyse ist die Beobachtung zu verdanken, dass ein solcher ‚männlicher‘ Blick in der Filmgeschichte ein überaus geläu‐ figes Mittel ist, um Frauen auf subtile Weise als abhängig gegenüber Männern bzw. deren dominant gesetzter ‚männlicher‘ Geschlechterrolle darzustellen. Die Schnitttechnik (weiche Übergänge), personenbezogene halbnahe Ein‐ stellungen und eine feinfühlige musikalische Untermalung können im Wei‐ teren ebenfalls als Spiel mit traditionellen Gender-konnotierten Wahrneh‐ mungsmustern (hier vermeintlich ‚weiblicher‘ Art) interpretiert werden. ? Fertigen Sie ein Einstellungsprotokoll für den Übergang vom 6. zum 7. Kapitel der hier benutzten Filmedition an (ab 34’47: „No cojas el cuaderno, por favor“ bis 36’40: „Nina se ha ido“; vgl. Almodóvar: 2005, 79-84). Welche narrativen filmischen Verfahren lassen sich beobachten? Während Manuela eine dem Publikum vertraute Rolle von Weiblichkeit übernimmt, sorgen Agrado und Lola für Irritation, da sie die herkömmlichen Geschlechterrollen aufgelöst haben. Die Hybridität der Geschlechteridentitä‐ ten manifestiert sich auf körperlicher Ebene in den gleichzeitig gegebenen 14.4 Interpretationsansätze 301 Aufgabe 14.9 Prekäre Identitätsentwürfe Geschlechtsmerkmalen Penis und weibliche Brust. Die eklatanten charakter‐ lichen Unterschiede zwischen ihnen lassen sie in diesem Zusammenhang geradezu als zwei Seiten einer von Männern entworfenen Weiblichkeit erscheinen, die sich in die Extrempole ‚allgefällige Prostituierte‘ (Agrado) und ‚egoistisch-todbringende femme fatale‘ (Lola) aufspalten, wie bereits die Namensgebung andeutet. Während Agrado in ihrer übertriebenen Fürsorg‐ lichkeit, Häuslichkeit (wir sehen sie beispielsweise beim Bügeln) und sexu‐ ellen Disponibilität ein Zerrbild der domestizierten Frau abgibt, tritt in der aidskranken Lola stärker die männlich-destruktive Seite in den Vordergrund, die auf das Klischee einer rücksichtslosen Sexualenthemmung hinausläuft. ? Deuten Sie unter Berücksichtigung der hier entfalteten Aspekte den Ausgang von Manuelas Suche nach Lola / Esteban I, der sie in einem Café das Foto von Esteban II und das Baby Esteban III präsentiert. Abb. 14.7: Welche Signalwirkung geht von dieser Einstellung aus? (Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre) 14.4.2 Interpretation unter poststrukturalistischen Vorzeichen Todo sobre mi madre vereint eine ganze Reihe von Merkmalen, die auch in der poststrukturalistischen Theoriebildung aufgegriffen wurden. An erster Stelle ist eine Krisenhaftigkeit unterschiedlicher Identitätsentwürfe zu nennen, die zugleich als stets nur vorläufig und veränderbar vorgestellt werden. Manuelas Leben gerät durch den Unfalltod ihres Sohnes aus den Fugen; die Reise nach Barcelona ist eine Reise in ihre eigene verleugnete Vergangenheit, die zu‐ gleich dazu dient, eine neue Lebensperspektive anstelle der alten aufzubauen. Als schließlich Esteban III den ersten Sohn ersetzt, verweist dieser Neubeginn als zyklisches Element auf die Wiederkehr des längst vergangen Geglaubten 302 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse Text 14.5 Intermediale Verschränkung und widersetzt sich einer stufenweise chronologisch-linear aufsteigenden Existenzentwicklung. Esteban II selbst zeigt als jugendlicher Mann deutliche Anzeichen der Orientierungssuche: Der Drang, alles über seine Mutter und seinen Vater in Erfahrung zu bringen, verweist auf die Notwendigkeit, über sich selbst Klarheit zu gewinnen - eine Suche, die gleichsam symbolhaft im Nichts des Todes endet. Huma Rojo formuliert in eigenen Worten den fort‐ währenden Wunsch, eine andere (etwa ihr Vorbild Bette Davis) zu sein; in Aussehen und Verhalten sei sie daher nie sie selbst gewesen. Auch muss sie das Scheitern ihrer leidenschaftlichen Beziehung zu Nina konstatieren. Ag‐ rado und Lola schließlich verkörpern geradezu die Überblendung unter‐ schiedlicher (geschlechtlicher) Identitäten, sie sind Leib gewordene Hy‐ brid-Wesen, die jede für sich ihrem Leben einen Sinn abzuringen versuchen. Agrados großer Auftritt vor dem überraschten Theaterpublikum verleiht als Sprachrohr Almodóvars Worten Ausdruck: Lo que les estaba diciendo, ¡cuesta mucho ser auténtica! Pero no hay que ser tacaña 1 , con nuestra apariencia. Una es más auténtica cuando más se parece a lo que ha soñado de sí misma-… (Almodóvar: 2005, 154) 1 tacaño, -a knauserig Einen weiteren Ansatzpunkt zur Deutung des Films liefert seine beschriebene intermediale Verschränkung. Sie illustriert ein nicht eingrenzbares Gefüge aus Zusammenhängen und Beeinflussungen und verweist auf das Phänomen Intertextualität in seiner Kristevaschen Bandbreite. Deren Tragweite reicht allerdings über inhaltliche Entsprechungen zu anderen Filmen (All about Eve) bzw. zu Theaterstücken (A Streetcar Named Desire; Bodas de sangre) hinaus. Untersucht man die verschiedenen Medientypen auf ihre Funktion in Todo sobre mi madre, so zeigt sich, dass geschriebene Sprache, Fotografie, Kino‐ film und Theater jeweils in spezifischen Kontexten in Erscheinung treten. Motiviert wird die Handlung in der erwähnten Weise durch den zweifachen Wunsch Estebans, alles über seine Mutter bzw. seinen Vater herauszufinden. Doch ist mit diesem grundlegenden Bedürfnis zugleich ein konkretes Projekt verbunden: Esteban möchte die Informationen zu einer Reportage verarbei‐ ten und sich damit seinem Berufsziel Schriftsteller nähern. Die Notizen, die er hierfür verfasst, begleiten Manuela über den weiteren Verlauf des Films hinweg und werden mehrfach in Großaufnahme eingeblendet. Was Esteban mit seinen Aufzeichnungen bezweckt, kann als Konsequenz seiner eigenen Identitätssuche aufgefasst werden: Er dokumentiert und durchdringt das Leben und die Vergangenheit seiner Mutter, um Gewissheiten daraus zu gewinnen, an denen er sich orientieren kann und die ihm Sicherheit vermitteln. Die Fixierung seiner Beobachtungen und Gedanken zielt aufgrund der eigenen schriftstellerischen Ambitionen auf die Möglichkeit ab, das Festgehaltene in gültiger Form nicht nur für sich selbst zu konservieren, 14.4 Interpretationsansätze 303 Text 14.6 Schauspiel und Lüge sondern auch anderen mitzuteilen. Denselben Effekt zeitigt im Übrigen auch das Medium Fotografie, wie wir am Beispiel des Portraits von Esteban bereits gesehen haben: Über den Tod hinaus vermittelt die starre Momentaufnahme eine unnatürliche Präsenz, der die Wandelbarkeit des Lebendigen vollständig abgeht und die insofern als festgehaltene Erinnerung künstlich bleibt. Abb. 14.8: Foto und Schrift fließen in der Figur Esteban in eins (Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre) Ganz anders verhält es sich in Todo sobre mi madre mit dem Motiv des Rollen- oder Schauspiels: Manuela erscheint schon in der ersten Sequenz als Schauspielerin im Dienste der Fortbildungssituation ‚Angehörigengespräch‘. In ihrer Jugend stand sie selber auf der Bühne und springt schließlich an Humas Seite für die abwesende Nina in der Rolle der Stella ein. Gleichzeitig reduziert Manuela ihr schauspielerisches Talent auf eine ganz alltägliche Fähigkeit: Manuela: Sé mentir muy bien, y estoy acostumbrada a improvisar. […] Mi hijo decía que era muy buena actriz. (Almodóvar: 2005, 112) Damit rückt das Schauspiel im Sinne des Platonischen Vorwurfs (vgl. Einheit 2.1.1) in die Nähe des Lügenhaften, der Täuschung, der Verwischung der Grenzen zwischen Sein und Schein, und steht für das Spiel mit engaño und desengaño. Ähnliches gilt auch für die Eigenproblematik von Huma Rojo, der Berufsschauspielerin, bei der Leben und Bühne untrennbar ineinander übergehen, so dass nicht mehr entschieden werden kann, was an ihr ‚echt‘ oder Nachahmung ist. Der intertextuelle Verweis auf Mankiewicz’ All about Eve hebt die Motivverkettung von Schauspielertätigkeit und betrügerischer Täuschung zusätzlich hervor. Letztlich können sogar Agrado und Lola unter dem Aspekt des Trügerischen, Vorgeblichen betrachtet werden, da ihr femi‐ nines Äußeres nicht mit der genetischen Geschlechtsanlage übereinstimmt, sie somit fortwährend auf ihre markante Geschlechter-Rolle verweisen und Agrado darüber hinaus noch ein beeindruckendes bühnenwirksames Impro‐ visationsvermögen an den Tag legt. Über die Gegenüberstellung von Schrift und Fotografie verweist der Film insofern einerseits auf eine vergebliche Simulation von Realität bzw. Authentizität und andererseits auf eine ‚leben‐ dig‘-prozesshafte und dabei die Fiktion umspielende Schauspielkunst. 304 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse Kindheit und Erwachsen‐ werden Mutter-Sohn-Beziehung 14.4.3 Interpretation aus psychoanalytischer Perspektive Kehren wir noch einmal zu Esteban II zurück, wie er zu Anfang des Films in Erscheinung tritt. Es handelt sich um einen jungen Mann, der mit dem 17. Geburtstag am Ende der Pubertät steht (sein mit Spielzeug dekoriertes Zim‐ mer verweist noch auf die Kindheit) und nun mit einem weiteren Abschnitt des Erwachsenwerdens konfrontiert ist. Darunter fällt zum einen die Frage der Berufswahl, die noch einigermaßen naiv-idealistisch mit dem Wunsch, Schriftsteller zu werden, beantwortet wird. Die Kunst erhält somit eine wich‐ tige Funktion für die Identitäts-Suche Estebans. Das literarisch zu gestaltende Motiv wird der unmittelbaren Umgebung entnommen, es ist die eigene Mut‐ ter. Dass Esteban zu ihr eine besonders enge Beziehung hat, suggerieren die Szenen einträchtigen Beisammenseins, etwa vor dem heimischen Fernseher (hier läuft im Übrigen zunächst ein Werbespot für Baby-Windeln, was auf der Ebene des filmischen Erzählens als subtil-ironischer Kommentar zu Estebans regressiver Mutter-Fixierung gedeutet werden kann). Die innige Beziehung zwischen Mutter und Sohn bei gleichzeitig abwesendem (für Tod gehaltenen! ) Vater ist eine typische ödipale Konfiguration. Immerhin soll sie nunmehr durchbrochen werden, da die Suche Estebans nach seinem Vater auf seine Reifung hindeutet. Für kurze Irritation im Verhältnis zwischen Manuela und Esteban sorgen zwei weitere Momente. Da ist zum einen die locker-scherz‐ hafte Rede von männlicher Prostitution, die der Mutter übel aufstößt (im weiteren Verlauf erfahren die Zuschauer ja auch warum). Das Thema Sexua‐ lität, vor allem die käufliche homosexuelle Geschlechtlichkeit des Stricher‐ milieus, verweist auf Phantasien Estebans, die wahrscheinlich von ihm gar nicht tiefer erfasst werden, aber wiederum für seine Orientierungssuche spre‐ chen. Und noch ein weiteres Mal scheint Esteban der Kontrolle seiner Mutter zu entgleiten: Gegen ihre Einwände und jegliche Vernunft möchte er unbe‐ dingt ein Autogramm der offensichtlich sehr verehrten Huma Rojo erhalten (ein Autogramm, das wieder auf das Motiv Schrift im Zusammenhang mit Estebans Sinnsuche anspielt). Die Faszination, die von Huma Rojo auf den Jungen ausgeübt wird, wird nicht näher präzisiert, changiert jedoch anschei‐ nend zwischen körperlicher Attraktivität und Mutterersatz. Zumindest sug‐ geriert jene Einstellung, die Manuela vor dem übergroßen Konterfei Humas auf einer Plakatwand zeigt, dass zwischen beiden Frauen für Esteban eine Parallele besteht - und nicht von ungefähr ähnelt Huma in Frisur und Ge‐ sichtszügen in gewissem Maße Manuela. Sieht man das Verlangen Estebans nach einer ‚Zuwendung‘ Humas (das Autogramm) im Zusammenhang mit dem Wunsch, den fehlenden Vater zu entdecken, erwächst Manuela in der Schauspieldiva eine Konkurrentin, eine geradezu übergroße Konkurrentin, an die sie tragischerweise ihren Sohn durch den Autounfall gleichsam verliert. Bezieht man die Geschehnisse zurück auf den auf Manuela liegenden narra‐ tiven Fokus, so handelt es sich um das von der Mutter erlebte Drama des sich 14.4 Interpretationsansätze 305 Zusammenfassung aus seiner ödipalen Abhängigkeit emanzipierenden Sohnes, der sinnbildlich für sie verloren geht und stirbt. Abb. 14.9: Die Einstellung setzt beide Frauen zueinander in Beziehung (Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre) Auch die Interpretation von Filmen vollzieht sich im Idealfall als Wech‐ selspiel von formaler Analyse und theoriegeleiteten Deutungsansätzen. Angewendet auf das gewählte Beispiel wird dabei deutlich, dass sich Pedro Almodóvar in Todo sobre mi madre mehrerer viel diskutierter Fragen der gegenwärtigen Gesellschaft annimmt. Kann man bereits in der Thematisierung sexueller Aktivität eine Reaktion auf die konservativ-au‐ toritären Zustände unter dem Franco-Regime erkennen, so verweisen die Bereiche Transsexualität und gleichgeschlechtliche Partnerschaft über die brüchig gewordenen Gender-Rollen zusätzlich auf ein grundlegendes Bedürfnis der Identitätssuche. Letzteres spiegelt sich auch in der Auflö‐ sung traditioneller Familienformen bzw. den in eine Krise geratenen El‐ tern-Kind-Beziehungen. Esteban II und III verkörpern in dieser Hinsicht die Frage nach der Zukunft, auf die sich noch keine Antwort abzeichnet. Stattdessen zielt Almodóvar mit seiner behutsamen Inszenierung auf eine Bewusstwerdung des Publikums ab, dem die Identifikation mit der Hauptfigur eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen im Film vorkommenden Konflikten und Charakteren ermöglicht. Die poststruk‐ turalistische Infragestellung eindeutiger Lebensentwürfe wie auch die intermediale Durchdringung des Films machen die ZuschauerInnen auf ein Lebensgefühl der komplexen Zusammenhänge aufmerksam, in denen das Streben nach Eindeutigkeit und analytischer Rationalismus ihren kulturellen Stellenwert eingebüßt haben. 306 14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse  Filmedition Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spanien / Frank‐ reich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertainment 2008). Literatur Pedro Almodóvar: Todo sobre mi madre. Guión original. Hg. von Klaus Amann. Stuttgart: Reclam 2005. Federico García Lorca: Bodas de sangre. Madrid: Cátedra 2005. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Filmedition 307 Abbildungsverzeichnis Sämtliche Abbildungen sind, sofern nicht anders vermerkt, Wikimedia Com‐ mons entnommen. Abb. 1.1: Juan de Jáuregui: Miguel de Cervantes (1600). Abb. 1.2: Valer‐ iano Domínguez Bécquer: Gustavo Adolfo Bécquer (1862). Öl auf Leinwand. Abb. 1.3: Marcel Duchamp: Fountain (1917). © Association Marcel Du‐ champ / VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 1.4: Jesse Bransford: Head (Michel Foucault). 2004, 24,1 × 31, 7 cm. Acryl und Graphit auf Papier. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Feature Inc. Abb. 1.5: Dichtung im Aufschreibesystem von 1800 (Originalabbildung). Abb. 1.6: Literatur im Aufschreibesystem von 1900 (Originalabbildung). Abb. 2.1: Aristoteles (384-322 v. Chr.). Marmor, römische Kopie nach dem griechischen Bronze-Original von Lysippos (um 330 vor Chr). Museo Nazionale Romano di Palazzo Altemps, Rom. Abb. 2.2: Quintilian (35-ca. 96 n. Chr.). Schedelsche Weltchronik (1493). Abb. 2.3: Die septem artes liberales aus dem Hortus delicia‐ rum von Herrad von Landsberg (um 1180). Abb.-2.4: Lope de Vega. Abb.-2.5: Philipp Veit: Friedrich Schlegel (1810). Kreide. Abb. 2.6: Ausdifferenzierung des Gattungssystems am Beispiel Erzählprosa (Originalabbildung). Abb.-2.7: Herkulaneischer Meister: Portrait eines Mädchens (um 50 n. Chr.). Wandmale‐ rei, Museo Archeologico Nazionale, Neapel. Abb.-2.8: Literatur als Kommu‐ nikationsnetz (Originalabbildung). Abb. 2.9: Virgil Solis: Thalia, Die Muse der Komödie (1562). Abb.-2.10: Titelkupfer zum Index librorum prohibitorum von 1711. Abb.-3.1: Mittelalterliche Vorlesung. Miniatur aus dem 14.(? ) Jahrhun‐ dert. Abb. 3.2: Karlsruher Virtueller Katalog (Screenshot). Abb. 3.3: Roma‐ nische Bibliographie (Screenshot). Abb.-3.4: MLA International Bibliography (Screenshot). Abb. 4.1: Der hermeneutische Zirkel als Kreismodell (Original‐ abbildung). Abb. 4.2: Strukturanalyse (Schritt 1 und 2) (Originalabbildung). Abb. 4.3: Sprachzeichen: Ausdrucks- und Inhaltsseite (eigenes Beispiel). Abb. 4.4: Beispiel für Isotopien (Originalabbildung). Abb. 4.5: Kalligramm von José Juan Tablada in: J. J. Tablada, Obras. Bd. 1: Poesía. Hg. Héctor Valdés. México 1971, S. 396. Abb. 4.6: Joaquín Sorolla y Bastida: Juan Ramón Jiménez, Detail eines Porträts von 1903. Abb. 5.1: Garcilaso de la Vega. Abb. 5.2: Diego Velázquez: Porträt des Dichters Luis de Góngora y Argote (1622). Öl auf Leinwand, Museum of Fine Arts, Boston, Maria Antoinette Evans Fund. Abb. 5.3: Miguel Cabrera: Sor Juana Inés de la Cruz (1750). Abb. 5.4: Antonio Machado (Spanische Briefmarke von 1978). Abb.-5.5: Denkmal Unamunos in Salamanca. Abb.-5.6: Der Duero in Kastilien; Foto: © JoaoMiranda. Abb.-5.7: Rubén Darío. Abb. 5.8: Pablo Neruda während einer Aufnahmesitzung in der Library of Congress, 20 Juni 1966. Abb. 5.9: „El edificio de la ‚Luz‘“, Ahumada esq. Compañía, Santiago de Chile. 16. August 1929, unbekannter Fotograf, Archivo Fotográfico Chilectra. Abb. 6.1: Jean Fouquet: Martyrium der hl. Apollonia. Miniatur aus dem Stundenbuch des Étienne Chevalier (15. Jh.). Musée Condé, Chantilly. Abb. 6.2: Cervantes: Titelseite des Entremés del retablo de las maravillas (1615). Abb. 6.3: Corral de Comedias, Almagro © Th. Scheerer. Abb.-6.4: Género chico: La gran via (1886). Abb.-6.5: Erstdruck der Celestina von Fernando de Rojas, Fadrique Alemán de Basilea, Burgos, 1499. Abb.-6.6: Römische Theatermasken. Mosaik (um 100 v. Chr.), Kapitolinische Museen, Rom. Abb. 6.7: Die Figurenkonstellation in Lope de Vegas La drama boba (Originalabbildung). Abb.-6.8: Gustave Moreau: Ödipus und die Sphinx (1864). Öl auf Leinwand, Metropolitan Museum of Art, New York. Abb. 6.9: Idealtypischer Handlungsverlauf im Drama als Kurvendiagramm (Originalabbildung). Abb. 7.1: Ausschnitt aus: Diego Rodríguez de Silva y Velázquez, Felipe IV de castaño y plata (etwa 1631 / 32). Öl auf Leinwand, National Gallery, London. Abb.-7.2: Calderón de la Barca. Abb.-7.3: Antoine Louis Barye: Theseus kämpft gegen den Minotaurus (1843). Bronze, Musée du Louvre: Foto: Siren. Abb. 7.4: Federico García Lorca, Statue in Rosario (Argentinien). Foto: ©-Mrexcel. Abb.-8.1: Frontispiz der ersten Quijote-Aus‐ gabe von 1605. Abb. 8.2: Gustave Doré: Illustration zur Don-Quijote-Ausgabe von 1863 (Detail). Abb. 8.3: Heterodiegetischer Erzähler (Originalabbildung). Abb. 8.4: Homodiegetischer Erzähler (Typ 1 und 2) (Originalabbildung). Abb. 8.5: Autodiegetischer Erzähler (Originalabbildung). Abb. 8.6: Narrative Ebenen (Originalabbildung). Abb. 8.7: Möglichkeiten des Zeitverhältnisses (Originalabbildung). Abb.-8.8: Externe Fokalisierung, Interne Fokalisierung, Nullfokalisierung (Originalabbildung). Abb. 9.1: Benito Pérez Galdós auf einer 1971 veröffentlichten Sondermarke. Abb. 9.2: Erschießung von auf‐ ständischen in Estella (1836) während des ersten Karlistenkriegs (anonyme Zeichnung von 1846). Abb.-9.3: Mögliches Aktantenmodell zu Doña Perfecta (Originalabbildung). Abb. 9.4: Julio Cortázar. Foto: Walter Bruno Berg. Abb. 9.5: Jorge Luis Borges, argentinische 2-Peso-Münze anlässlich seines 100sten Geburtstages. Abb. 9.6: Strukturebenen in Continuidad de los parques (Originalabbildung). Abb. 10.1: Vereinfachtes Modell literarischer Kommu‐ nikation (Originalabbildung). Abb. 10.2: Hippolyte Taine (1828-1893). Ras‐ terdruck eines Gemäldes von Léon Bonnat. Abb.-10.3: Marcelino Menéndez Pelayo. Abb. 10.4: Portrait von Ramón Menéndez Pidal (1955). Sociedad Cultural Benito Prieto. Abb.-10.5: Sigmund Freud um 1905. Foto von Ludwig Grillich. Abb. 10.6: Psychischer Apparat nach Freud (Originalabbildung). Abb. 10.7: Traumarbeit und Kunstarbeit (Originalabbildung). Abb. 10.8: Mariano José de Larra. Abb.-10.9: Marxistisches Gesellschaftsmodell (Origi‐ nalabbildung). Abb.-10.10: Georg Lukács, 3. Juli 1952. Foto von Horst Sturm. Bundesarchiv, Bild 183-15304-0097 / CC-BY-SA. Abb.-10.11: Mittelalterliche Juglares (Abbildung aus den Cantigas von Alfonso el Sabio, 2. Hälfte des Abbildungsverzeichnis 309 13. Jh.). Abb. 10.12: Erich Köhler (1924-1981). Foto: Romanisches Seminar, Universität Freiburg. Abb. 10.13: Der Schelm trinkt heimlich den Wein des Herrn. Aus einem Manuskript der Decretales von Gregorio Magno (Decretales de Smithfield, f. 217v.). Cfr. RICO, Francisco (ed. lit.), Lazarillo de Tormes, Madrid, Cátedra, 1998 (decimotercera edición, primera ed. de 1987), portada y pág. 88* y n. 22 y 23 de su „Introducción“. Abb. 10.14: Pierre Bourdieu. Foto: Joseph Jurt. Abb. 11.1: El Cid (Denkmal in Burgos). © Larrea. Abb. 11.2: Wilhelm-Tell-Statue in Altdorf. Abb.-11.3: Granada: Blick auf die Alhambra. Foto: Pablo Forcén Soler. Abb. 11.4: Castas Romero: José Cadalso (1855). Museo Municipal, Cádiz. Abb. 11.5: Emilia Pardo Bazán. Denkmal in La Coruña. Abb.-11.6: Der hermeneutische Zirkel als Spiralmodell (Originalab‐ bildung). Abb. 11.7: María de Zayas y Sotomayor. Abb. 12.1: Stephen Jay Greenblatt. © Bachrach. CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: StephenJayGreenblatt.jpg. Abb. 12.2: Hayden White. © Hayden V. White Papers at University of California, Santa Cruz Special Collections. CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Hayden_White.jpg. Abb. 12.3: Jean-François Lyotard. © Bracha L. Ettinger. CC BY-SA 2.5, https: / / commo ns.wikimedia.org/ wiki/ File: Jean-Francois_Lyotard_(cropped).jpg. Abb.-12.4: Carl Spitzweg: Der arme Poet (1839). Öl auf Leinwand, Neue Pinakothek München. Abb. 12.5: Wolfgang Welsch. © Feinak. CC BY-SA 4.0, https: / / c ommons.wikimedia.org/ wiki/ File: Wolfgang_Welsch.jpg. Abb. 12.6: Gayatri Spivak. © Robert Crc, Gayatri Spivak on Subversive Festival, 18.05.2012. https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Gayatri_Spivak_on_Subversive_Festiva l.jpg. Abb.-12.7: Gloria Anzaldúa. © K. Kendall. CC BY 2.0, https: / / common s.wikimedia.org/ wiki/ File: Gloria_Anzaldua.jpg. Abb.-12.8: Aleida Assmann. © Jussi Puikkonen/ KNAW Koninklijke Nederlandse Akademie van Weten‐ schappen. CC BY 2.0, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Aleida_Ass mann_(14016269326).jpg. Abb. 12.9: Jean Baudrillard © Europeangraduate‐ school. CC BY-SA 2.5, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Jean_Baud rillard.png. Abb. 13.1: Panorama (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb.-13.2: Totale (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb. 13.3: Halbtotale (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb.-13.4: , Amerikanisch‘ (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb. 13.5: Nah (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb.-13.6: ‚Groß‘ (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb. 13.7: Einstellung (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb. 13.8: Einstellung (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb. 13.9, Abb. 13.10: Beispiele für Schuss - Gegenschuss (aus: Luis Buñuel, Los olvidados. Mexiko 1950 [DVD, Films sans frontières 2001]). Abb. 14.1: 310 Abbildungsverzeichnis Pedro Almodóvar in Madrid. © 2008 Roberto Gordo Saez. Abb. 14.2: aus Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spanien / Frank‐ reich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertainment 2008). Abb. 14.3: aus Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spanien / Frankreich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertainment 2008). Abb. 14.4: aus Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spanien / Frankreich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertainment 2008). Abb. 14.5: aus Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spanien / Frankreich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertainment 2008). Abb. 14.6: aus Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spa‐ nien / Frankreich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertain‐ ment 2008). Abb.-14.7: aus Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spanien / Frankreich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertainment 2008). Abb. 14.8: aus Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spanien / Frankreich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertainment 2008). Abb. 14.9: aus Pedro Almodóvar: Alles über meine Mutter / Todo sobre mi madre. Spanien / Frankreich 1999 (DVD, Universum Film / Kinowelt Home Entertainment 2008). Abbildungsverzeichnis 311 Sachregister Die Verweise beschränken sich auf diejenigen Seiten, auf denen Definitionen und Erläuterungen sowie Problem- und Anwendungskontexte des jeweiligen Begriffs zu finden sind. Rhetorische Figuren und Stilmittel sind im Register nicht aufgeführt; sie sind auf den Seiten 76-78 und 80-82 zusammengestellt. Achsensprung-285 Adaption-27, 235 Akt (acto, jornada) -35, 114, 119, 132 Aktant-177ff., 187f. Alterität-244, 251f. Anachronie-171, 179, 286 Anagnorisis-131 Analepse-171 Äquivalenz-80, 85, 231 Architext-235 ‚Aristotelische‘ Einheiten-→ Einheiten, aristotelische Ästhetische Distanz-223 Aufschreibesystem-26f. Autobiographie-23, 161, 167, 205 Autonomismus, autonom-16, 217ff., 225 Autor, Autor-Funktion-21f., 42f., 58, 72, 75, 161, 165, 167f., 191, 193, 195, 202, 204f., 207, 209, 212-216, 219, 221, 234f., 239f., 249, 251 Auto sacramental-112, 121, 139 Barock-41f., 86, 97, 99f., 121, 143 Basis (ökonomische)-213f., 217f. Beiseite-Sprechen-124 Beleuchtung-280f. Biographie (Gattung)-43 Botenbericht-124 Briefroman-86, 160 Cancionero-93 Carpe-diem-Motiv-98ff. carro-Bühne-112 Charakter, Charakterisierung-46, 114f., 120ff., 131, 176f., 299 Chor-132, 149, 152 Comedia, Comedia nueva-35f., 112-116, 121, 133, 139 Corral-115f. Cuento-18f., 161, 194f., 197, 199f. Datenbank-56, 62f. Dekonstruktion-44, 236ff., 251, 272 Deskriptivität, deskriptiv-30 Deutungskanon-47 Dialog (Drama) 117f., 123f., 149, 152, 284, 294 Didaskalie-118 Diegese-165 Differenz-237, 249ff. Direkte Rede-→ Rede diseminación-237 Diskurs (Narratologie)-166, 168ff., 176, 179, 198f. Diskursanalyse-239 Distanz, ästhetische → Ästhetische Dis‐ tanz Distanz (Narratologie)-172f., 175, 180, 197-200, 279 Drama-35, 39f., 112f., 115ff., 119f., 122f., 125, 129-136, 139, 141, 149, 152, 155, 162, 165, 170-173, 176, 287, 295f. Dramatische Gattungen (Übersicht)-112f., 117 Dramatischer Knoten-125, 132 Drehbuch-272, 284 Drei ‚aristotelische‘ Einheiten-→ Ein‐ heiten, aristotelische Dreipersonenregel-123 Ecocrítica-265 Effektgeräusche-282 Einheiten, aristotelische-33, 35, 119, 134 Einstellung-277 Einstellung, Einstellungsgröße-273f., 277ff., 283ff., 293ff., 301f., 305f. Einstellungsprotokoll-273, 301 Empirische Leserforschung-221 endecasílabo-87, 89, 94, 106 Engaño-- desengaño-97, 99, 146f., 304 Enjambement-88, 106 Epik, episch-32, 39f., 86, 117, 135, 158, 162, 165f., 176 Epische Gattungen (Übersicht)-158, 161 Episches Theater-111 Epochen-206f. Epochen, Epochengrenze, Epochenschwelle 41-44, 47, 56, 99, 101, 175, 185, 239 Epos-32, 39, 158 Ereignis-178f., 193 Erinnerung-→ Gedächtnis Erlebte Rede-→ Rede Erwartungshorizont-223ff., 260 Erzähler-117, 120, 165-173, 175f., 180, 193f., 197f., 200, 294 Erzählprofil-175 Erzählprofil, Erzählsituation-175 Erzählte Zeit-170f., 274, 286, 294 Erzählzeit-170f., 274, 286, 294 Essay-40, 162 Exposition-132, 134f., 141, 143, 149, 189, 276 Fallhöhe-32, 122 Farce-112 Feld, literarisches-217ff. Feministische Lit.kritik/ -wiss.-240, 249 Feuilletonroman-160 Figur-19, 33, 38, 45, 73, 120-125, 127, 129, 131, 135, 143, 149, 159f., 165-169, 172-180, 187ff., 197ff., 272, 274, 276, 287, 294f., 297, 300f., 304 Figurenkonstellation 130, 132, 134f., 141, 155, 177, 179, 187f., 212, 272, 287 Fiktion-224 Fiktion, Fiktionalität-18f., 23, 79, 135, 161, 165, 169, 172f., 176f., 185, 191f., 197ff., 288, 298 Fiktionalität-223 Filmanalyse-271ff., 276, 287f., 290f. Filmtranskription-271, 273, 276 Fokalisierung (Film)-232 Fokalisierung (Text)-173ff., 193, 294 Formalismus-17, 228 Gattungen, Gattungssystem-15, 18, 31- 34, 38-41, 43, 60, 76, 85ff., 94, 110, 122f., 158-162, 166, 178, 211, 215f., 221, 224 Gattungshierarchie-32 Gedächtnis-255-259 Geistesgeschichte-206f. Geisteswissenschaften-54, 72f., 203, 206 Gender-→ Sex / Gender / Geschlechter‐ rolle Gender Studies-249f. Generación del 27-16, 42, 147f. Generación del 98-42 Genie, Genieästhetik-38 Habitus-218 Handlung-33, 35, 45f., 72f., 79ff., 112, 114f., 117, 119ff., 123, 125, 129, 131-136, 141, 143, 149, 155, 159f., 162, 165ff., 175-180, 187f., 197ff., 232, 272, 274, 276f., 279, 284-287, 293, 297, 303 Haupt-/ Nebentext-118ff., 129 Hermeneutik-72, 74f., 178, 197, 204, 206, 220, 236 Hermeneutischer Zirkel-73f., 222f. Hermetismus, hermetisch-36, 147 Hirtendrama-131 Sachregister 313 Historischer Roman-160 Höhenkammliteratur-47 Homologie-215, 231 Horizont-224 Horizont, Horizontwandel-73 Horizontwandel-223f. Humanismus-35, 93, 113 Hybridität-295f., 301, 303 Hybris-122 Hypotext / Hypertext-235, 295 Ideologie-47, 205, 214, 216, 237 Imagologie-252 Impliziter Autor-170 Impliziter Leser-167, 225 Indigenismo-252 Indirekte Rede-→ Rede Inszenierung (Drama)-112, 115, 118f., 123, 287 Interkulturalität-252 Intermedialität-272, 295-298, 303 Interpretation 21f., 24, 43f., 51, 55, 72, 75, 79, 121, 203-206, 209ff., 220ff., 224, 228, 236, 272, 300ff., 305f. Intersubjektivität-54 Intertextualität-99, 234ff., 272, 295, 298, 303f. Intrige-114f., 131 Isotopie-80, 85, 95-99 jump-cut-285 Kamerafahrt-279f. Kameraperspektive-279, 284 Kameraschwenk-277, 279 Kanon-43, 47f., 160, 186, 207, 251 Kapital-218 Kapital, symbolisches-217f. Katastrophe (Drama)-32, 122, 131 Katharsis-32, 131 Klassiker-23, 47, 59 Klassizismus-36f., 115, 123, 134 Knoten, dramatischer-→ Dramatischer Knoten Kollektives Gedächtnis-→ Gedächtnis Kommunikation-74, 117, 123, 164, 167, 172, 197, 203f., 233, 237, 241 Komödie-32, 39, 47, 114f., 123, 129, 131, 295 Komparatistik-43 Kompetenz-51f., 54, 64 Konfiguration (Drama)-129, 305 Konflikt (Drama)-33, 113, 115, 122, 130- 136, 155, 179, 287 Konstellationsschema (Drama)-129f. Konzeptismus (conceptismo)-36, 95 Kultismus (cultismo, culteranismo)-36 Kultur-244 Kulturelles Gedächtnis-→ Gedächtnis Kulturwissenschaften-244, 246, 253 Kurzgeschichte-→ Cuento Leerstellen-22, 222, 224 Leitmotiv-283 Lesehypothese-84f. Leyenda-161, 180 Literaturbegriff-12, 23, 28, 30 Literaturgeschichte 31, 38, 41-44, 47, 51, 58f., 217, 221, 223, 251 Literatursoziologie 206, 212f., 216ff., 225, 251 Literaturverfilmung-24, 27, 118 Logozentrismus-236f. Lyrik-36, 39f., 85ff., 91, 93, 97, 99, 101, 105, 107, 109f., 147ff., 158, 160, 231 Lyrische Gattungen (Übersicht)-87 Makrostruktur-79, 293 Märchen-18, 158 Marxismus-212-215, 217f., 225 Mauerschau-124f. Medium, Medien, medial-16f., 24, 26ff., 44, 135, 204, 215, 221, 235f., 239, 303 Mentalitätsgeschichte-244f. 314 Sachregister Metalepse-169, 198f. Metapoetizität, metapoetisch-30, 99, 109 Metatext, Metatextualität-235 Methode-43, 54, 60, 64, 74f., 203, 206, 211-214, 217, 240, 249f., 272f. Metrik, Metrum-88ff., 106 Microrrelato-161 Mikrostruktur-79, 85, 102, 178 Mimesis-32, 165, 185 Mittlerer Held-122 Modernismo-87, 101, 104, 110 Monolog (Drama)-121, 124, 143ff., 298 Montage-283-287, 301 Motiv-38, 43, 45f., 79f., 84f., 94-101, 103, 108ff., 143f., 152f., 178f., 191f., 287, 295f., 298ff., 304f. Musik-116, 147, 284, 301 Mysterienspiel-112 Narrativ, kulturelles-246 Narratologie 166-175, 180, 191, 199, 232, 235, 294 Naturalismus-160, 183, 205 New Historicism-245f. Normativität, normativ-30f., 38, 42, 206 Novelle-161f., 250f. Objektivität, objektiv 42, 51, 74f., 84, 203, 205f., 224, 229, 233f. Offene/ geschlossene Form (Drama)-134f. Offenheit-22, 236 Ökokritik-→ Ecocrítica Online-Ressourcen-57, 62 Operette-116 Opposition-80, 85, 107, 165, 177f., 188, 193, 231, 236, 251 Paradigma-228 Paratext-16, 19, 38, 235 Peripetie-131ff. Personenkonstellation-→ Figurenkons‐ tellation Petrarkismus-93, 98f. Phonozentrismus-236f. Plot-45, 178ff., 189, 199, 251, 295 Poetik, poetologisch-30-40, 43, 115, 122f., 134, 160, 165, 185f. poetisch-17f., 22, 30, 86, 228 Poetizität, poetisch-17, 23, 86, 231 poetologisch-206 Polysemie-237 Positivismus-44, 205ff., 209, 213 Postkoloniale Theorie-252 Postmoderne-40, 42 Primärtext-55, 57f., 61f., 67 Produktionsästhetik-75, 217, 220 Prolepse-171 Prosa-86, 123, 149, 152f., 158, 162 Protagonist-120, 125, 131, 143, 167, 175, 178, 192f., 199, 294, 301 Psychoanalyse, psychoanalytische Lit.wiss.-207ff., 211f., 305 Psychologisierung-177 Raffung-171, 286, 294 Raum (Erzählung, Drama)-119, 180, 187ff., 191f. Ready-made-20, 23 Realismus-32, 160f., 183, 185f., 191f., 194f., 284 Realitätseffekt-179, 192, 276 Rede-117ff., 121, 123f., 146, 165f., 172f., 284 Referenzialität, referenziell-19, 23, 161, 191 Regisseur-119, 121, 123, 272, 294 Reim-16, 77, 85, 87, 90, 94, 96, 102, 106f. Renaissance-34f., 41, 43, 87, 93, 96f., 99f., 113, 122 Retardierendes Moment-133 Rezeption-47, 74f., 119, 219, 221f., 251, 272 Rezeptionsästhetik-222, 224 Sachregister 315 Rhetorik-31-34, 76f., 81, 83, 143, 146 Rhythmus-17, 88, 94f., 106 Rollenbruch-124 Roman 19f., 22, 24, 27, 158-161, 167, 176, 183-189, 193ff., 215f. Romanze (romance)-87, 102, 147 Schlüsselqualifikationen-52 Schnitt-273, 275f., 284f., 287f., 293, 301 Schuss/ Gegenschuss-284, 286 Sekundärliteratur-58, 60, 64f., 67 Sequenzprotokoll-274f. Sex / Gender / Geschlechterrolle-240, 249ff., 299ff. Siglo de Oro-33, 35ff., 41, 93, 115, 132 Signifikant/ Signifikat-25, 76, 195, 228, 236 Silva-87, 102 Simulakrum-263f. Sonett-87, 93ff. Ständeklausel-32, 38, 122 Stegreiftheater-117 Stichomythie-123f. Stilarten-33 Stilistik-31, 207 Stimme (Narratologie)-166f., 173, 175 Stoff-38, 45f., 59, 74, 79f., 235, 287 Stoffgeschichte-176 Strophe-16, 38, 87-90, 231 Struktur-16, 38, 74ff., 80, 85f., 88, 228, 230f. Strukturalismus-228, 230, 233, 236, 239 Strukturanalyse-74ff., 79f., 84f., 88, 109, 176, 178, 203f., 229, 231f. Subaltern Studies-253f. Surrealismus-16, 148, 211 Synchronisation-287 Syntagma-229 Szene (Drama)-132 Szenenverknüpfung-135 Teichoskopie-→ Mauerschau Testimonialliteratur-260ff. Textimmanenz, textimmanent-75, 204 Textkritik-55 Textphilologie-44 Theaterwissenschaft-118 Thema 32f., 43, 45f., 58-61, 79f., 84f., 235 Tirade-124 ‚Tod des Autors‘-235 Ton (Film)-281, 286f. Topos-96 Tragikomödie-115, 131 Tragischer Held-122 Tragödie-32f., 113, 123, 131f., 134 Transkulturalität-253, 269 Transtextualität-235 Typen (Drama)-121f. Überbau-213, 216 Übersetzung-57 Urheber-166 Vanitas-Motiv-99f., 139, 147 Verfilmung-→ Literaturverfilmung Verfremdung-135 Vermittlung-215 Vers-88ff. Wörterbuch-57, 60, 122 Zäsur-89 Zeit (Narratologie)-170f., 178f. Zensur-47 Zoom-279 316 Sachregister mehr Bücher zum Thema | bequem online bestellbar | Print- und eBooks www.narr.de/ service Wirtschaft Theologie Literaturwissenschaft Medien- & Kommunikationswissenschaft Tourismus Linguistik Politik & Soziologie Unsere Top-Themen für Sie Technik Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de BUCHTIPP Dieser Band wurde speziell für die Erfordernisse der frankoromanistischen Bachelor-Studiengänge entworfen. Er bietet nicht nur eine sorgfältige Einführung in das relevante fachliche Grundwissen, sondern zeichnet sich durch die besondere Berücksichtigung praxisrelevanter Aspekte aus. Zahlreiche Übungen ermöglichen als integrativer Bestandteil des Konzepts die rasche Anwendung und Überprüfung des Gelernten und unterstützen einen nachhaltigen Kompetenzerwerb. Für die vierte Auflage wurde die der modernen Medienlandschaft gewidmete Einheit 13 grundlegend überarbeitet. Entsprechend der Relevanz in den frankophonen Ländern (hier neben Frankreich v.a. Belgien und Kanada) wurde die Comic-Literatur als eigener Schwerpunkt neu aufgenommen und in den für die Analyse zentralen Kategorien vorgestellt. Maximilian Gröne, Frank Reiser Französische Literaturwissenschaft Eine Einführung bachelor wissen 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2017, 274 Seiten €[D] 23,99 ISBN 978-3-8233-8112-9 eISBN 978-3-8233-9112-8 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de ISBN 978-3-381-10251-8 www.narr.de Der Band bachelor-wissen Spanische Literaturwissenscha� wurde speziell für die Erfordernisse der hispanis- � schen Bachelor- und Lehramts-Studiengänge verfasst. Er bietet eine präzise Einführung in die Verfahren der formalen Textanalyse im Kontext unterschiedlicher Medien. Darüber hinaus vermi� elt er einen Überblick über die relevanten literatur- und kulturwissenscha� lichen Forschungsansätze, Fragestellungen und Theorien. Zahlreiche Übungen ermöglichen die rasche Anwendung und Überprüfung des Gelernten und unterstützen einen nachhal� gen Kompetenzerwerb. Gröne / von Kulessa / Reiser Spanische Literaturwissenscha� Spanische Literaturwissenscha� Maximilian Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser 4., überarbeitete und erweiterte Auflage Eine Einführung