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AfrikAffekt

2020
978-3-8233-9285-9
Gunter Narr Verlag 
Russell West-Pavlov

2004 jährte sich zum hundertsten Mal der Ausbruch des Deutsch-Namibischen Krieges (1904-1908) im damaligen Deutsch-Sudwestafrika, der im Genozid an den Herero- bzw. Nama-Völkern gipfelte. Der Versöhnungsprozess findet langsam und vor allem durch symbolische Gesten statt, während formelle Verhandlungen nur schleppend vorankommen. Die vorliegende Studie untersucht die Aufarbeitung des Völkermords an Herero und Nama in der jüngsten deutschsprachigen Belletristik. Sie betrachtet eine Reihe deutschsprachiger Romane von Timms ,Morenga' (1978) bis Jaumanns ,Der lange Schatten' (2015) nicht nur im Rahmen diskursgeschichtlicher bzw. ideologiekritischer Debatten, sondern analysiert sie außerdem mithilfe der Affekttheorie. Dieser Ansatz erlaubt es zu beschreiben, wie literarische Texte mannigfaltige Rituale und Symboliken mit affektiver Reichweite über zeitliche und kulturelle Grenzen hinweg in die Gegenwart tragen und so zum dringend notwendigen interkulturellen Dialog und zur längst überfälligen Versöhnung beitragen können.

AfrikA ekt Deutschsprachige Gegenwartsromane zum Herero- und Nama-Genozid 1904-1908 Ein affekttheoretischer Ansatz C H A L L E N G E S # 5 Russell West-Pavlov herausgegeben von Gabriele Alex, Anya Heise-von der Lippe, Ingrid Hotz-Davies, Dorothee Kimmich, Niels Weidtmann, Russell West-Pavlov Band 5 Challenges for the Humanities Herausforderungen für die Geisteswissenschaften C H A L L E N G E S Russell West-Pavlov AfrikAffekt Deutschsprachige Gegenwartsromane zum Herero- und Nama-Genozid 1904-1908. Ein affekttheoretischer Ansatz © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Lektorat: Margret Westerwinter, Düsseldorf; www.lektorat-westerwinter.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2568-4019 ISBN 978-3-8233-8285-0 (Print) ISBN 978-3-8233-9285-9 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0232-2 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Umschlagabbildung: „Ornament and Crime“ (Ecke Potsdamer Straße / Kurfürstenstraße, Berlin) ©Roberto Uribe Castro, 2019; Foto ©Sonja Linke, 2019. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gefördert vom DAAD aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) 9 1. 11 1.1 11 1.2 16 1.3 18 1. Teil: 23 2. 25 2.1 25 2.2 29 2.3 38 2.4 43 2.5 84 3. 89 3.1 89 3.2 95 3.3 100 3.4 110 3.5 113 3.6 120 2. Teil: 123 4. 125 4.1 126 4.2 128 4.3 131 4.4 134 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hendrik Witboois Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thesen der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie, Methode und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie . . . . . . . . . . . . Seyfrieds Herero und die Unsichtbarkeit der Herero . . . . . . . . Kontext der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Bezugsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama . . . . . . . . . . Lemmers Der Sand der Namib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anträge im Bundestag und die anschließende Debatte . . Welcher Begriff von (Affekt-)Geschichte gilt im Bundestag? . Gleichgültigkeit - zwei Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Performative Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Timms Morenga als paradigmatischer Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre . . . . . . . . . . . . . . . Exemplarische Lektüre: Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metatextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leerstelle und Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historiografische Metafiktion als Verortung des Affekts . . . . 5. 141 5.1 141 5.2 144 5.3. 148 5.4 151 5.4.1 151 5.4.2 154 5.4.3 157 5.5 161 5.5.1 162 5.5.2 163 5.5.3 165 5.6 171 5.7 174 183 6. 185 6.1 186 6.2 190 6.3 193 6.4 199 6.5 206 7. 209 7.1 211 7.2 219 7.3 227 7.4 233 8. 237 8.1 240 8.2 244 8.3 246 8.4 251 Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektgeschichte / Geschichtsaffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Montage-Technik Timms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Montage zum Affekt: Duft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Duft der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Null-Grad“-Geschichtsaffekt: Kognition . . . . . . . . . . . . Geschichtsaffekt als Besitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtsaffekt als Jetztzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwurf eines erweiterten Affektbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . Negative Affekte (Affekt I / II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambivalente Affekte (Affekt I / II / III) . . . . . . . . . . . . . . Positiver Affekt (Affekt III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erweiterte Affektbegriff und die Sprache . . . . . . . . . . . . . . Interesse und Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Teil: Nach Morenga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer . Beetz, Flucht vom Waterberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoffmann, Die schweigenden Feuer: Zusammenfassung, Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fallen des Einfühlungsvermögens bei Hoffmann . . . . . . . Der Verlauf der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiedergutmachung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wackwitz’ Ein unsichtbares Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Schiff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein unsichtbares Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das sichtbare Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verneinung in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kolonialgeschichte und / oder Familiengeschichte? . . . . . . . . . Abstammung als Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternative Stammbäume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Scramble for Africa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 9. 257 9.1 258 9.2 262 9.3 264 9.4 269 9.5 273 10. 279 11. 289 11.1 289 11.2 289 Jaumanns Der lange Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Handlungsstränge: Windhoek vs. Berlin . . . . . . . . . . . . . Fakt vs. Fiktion und die „Enttäuschung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gattung des Krimis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krimi-Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zeit des Affekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Danksagung Hiermit möchte ich meinen Dank an folgende Personen zum Ausdruck bringen: Stephan Mühr und Maxi Schoeman (Pretoria) sowie Andrew Webber (Cam‐ bridge) für ihre Unterstützung der Entstehung dieser Studie in Form einer Arbeit an der Universität Pretoria, deren Spuren in intensiv überarbeiteter Form in den Kapiteln eins bis fünf teilweise noch zu finden sind; Matthias N. Lorenz (Hannover) für seine langjährige Freundschaft und viele Gespräche (nicht nur) zur postkolonialen Germanistik; vier anonyme externe Gutachter für eine Fülle an wertvollen Anregungen zur Argumentation der Studie; Joi Garbe (Leverkusen), Matthias Schmerold und Anya Heise-von der Lippe (Tübingen) sowie Margret Westerwinter (Düsseldorf) für ihre Unterstützung und Sorgfalt bei der Herstellung des endgültigen Texts; allen afrikanischen Kolleg*innen aus dem Süden und Norden, Osten und Westen, mit denen ich im Laufe der Jahre produktive Gespräche geführt habe: Amadou Bâ (Dakar), Adams Bodomo (Wien), Chris Broodryk, Molly Brown (Pretoria), Amina El Halawani (Alexandria), Irma Eloff, Rebecca Fasselt (Pre‐ toria), Gail Fincham (Kapstadt), Antony Goedhals, Tharina Guse (Pretoria), Ashleigh Harris (Uppsala), Harry Garuba († 2020), Pamila Gupta ( Johannes‐ burg), Farah Ismail (Pretoria), Sandra Klopper (Kapstadt), Kulukazi Kahim‐ baara-Soldati († 2019), Patrick Lenahan (Pretoria), Dina Ligaga ( Johannesburg), Justus Makokha (Nairobi), Felix Maringe, Elizabeth Mavhunga, Achille Mbembe, Dilip Menon ( Johannesburg), Stephan Mühr (Pretoria), Danai Mupotsa ( Johan‐ nesburg), Addamms Mututa (Nairobi), Louis Nana (Tübingen), Idette Noomé (Pretoria), Sarah Nuttall, Josiah Nyanda ( Johannesburg), Anthony Obtute (Tü‐ bingen), Dan Ojwang, Ruksana Osman, Bhekizizwe Peterson ( Johannesburg), Vasu Reddy (Pretoria), Meg Samuelson (Adelaide), Mark Sanders (New York), Corinne Sandwith, Maxi Schoeman (Pretoria), Tina Steiner (Stellenbosch), Amir Taha ( Johannesburg), Véronique Tadjo (London / Abidjan), Andries Visagie (Stellenbosch), Ivan Vladislavić ( Johannesburg), Andries Wessels (Pretoria), Merle Williams, Eric Worby ( Johannesburg); meiner Familie, wie immer: Tatjana, mit der so viel von den hier untersuchten Themen gemeinsam besprochen und erlebt wurde; und Joshua, Iva und Niklas, die auch sehr viel vom AfrikAffekt verstehen. Außerdem vielen Dank an Roberto Uribe Castro (Berlin), der es mir gestattete, sein Public Art-Kunstwerk „Ornament and Crime“ (Ecke Potsdamer Straße / Kurfürstenstraße, Berlin © Roberto Uribe Castro, 2019) als Umschlagmotiv zu verwenden; danke ferner an Sonja Linke (Berlin), die das Foto des Kunstwerks zur Verfügung stellte. Danken möchte ich schließlich dem Bundesministerium für Bildung und For‐ schung ( BMBF ) sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst ( DAAD ) für die freundliche Unterstützung des Drucks im Rahmen der Projektförde‐ rungen Thematisches Netzwerk „Literary Cultures of the Global South“ (2015-2018) (Projekt- ID : 57 373 684) und „Futures under Construction in the Global South“ (2019-2020) (Projekt- ID : 57 419 920). 10 Danksagung 1. Einleitung Am 28. Februar 2019 wurde die Bibel Hendrik Witboois zusammen mit seiner Peitsche aus dem Besitz des Stuttgarter Linden-Museums von der Landesregie‐ rung Baden-Württembergs, vertreten durch die Kultusministerin Theresia Bauer, an die Familie Witboois in Anwesenheit des namibischen Präsidenten Hage Geingob in Gibeon / Namibia zurückgegeben ( ARD 2019a). Die Bibel des zum Christentum konvertierten Nama-Anführers - dessen Bild den Umschlag dieses Buches schmückt - wurde 1893 bei einem Überfall deutscher Truppen entwendet und lag seit 1902 im Besitz des Linden-Museums. Die Rückgabe jener Bibel steht als exemplarisches Ereignis in der deutsch-namibischen Kulturpo‐ litik der Gegenwart und als Auftakt zur vorliegenden Studie. 1.1 Hendrik Witboois Bibel Die namasprachige Bibel trägt die handschriftlichen Randnotizen Witboois und stellt daher einen hybriden Text dar. Die namasprachige Übersetzung des Neuen Testaments ist Zeugnis der Missionsarbeit im Rahmen der „Zivilisierung“ des afrikanischen Kontinents durch Europäer; die handschriftlichen Vermerke da‐ gegen machen den Text zu einem afrikanischen literarischen Artefakt, das die europäisch-christliche Vorlage zu eigenen Zwecken verwendet. Dabei werden die körperlichen Spuren der geschichtlichen Erfahrung der Kolonisierung und des antikolonialen Widerstands auf dem gedruckten Papier festgehalten. Trotz des klaren Unterschieds zwischen gedruckten Buchstaben und mit Bleistift auf‐ getragener Handschrift, bietet das Papier eine geteilte Plattform für verschie‐ dene Schriftkulturen und eine gemeinsame Anschlussstelle für die jeweiligen kulturellen Entstehungsräume. Und das Papier reist: Der Text kehrt durch die Rückgabe nicht nur an seinen Heimatort zurück, so dass eine räumliche Zuord‐ nung im geografischen Sinne erfolgt, sondern es eröffnet sich dadurch auch ein Netzwerk zwischen den Kontinenten (Afrika - Europa - Afrika), welches durch die Aus- und Heimreise des Texts entsteht. Zudem bildete die höchst emotionale Übergabezeremonie in Gibeon einen gemeinsamen Rahmen, in welchem die Vertreter*innen der Familie und des Stammes, des namibischen Staates und der baden-württembergischen Landesregierung sowie des Stuttgarter Museums durch eine stark ritualisierte Rückgabe zusammenkamen. Von der Ebene des textsemiotischen Artefakts über die der zwischenstaatlichen Auseinanderset‐ zungen bzw. Verhandlungen bis hin zur Versöhnung und der etwaigen Wieder‐ gutmachung sind verschiedene Aspekte der Hybridität, der Interaktion und der gegenseitigen geschichtlichen Verflochtenheit untrennbar ineinander und mit‐ einander verschränkt. Die Rückgabe der Witbooi-Bibel und -Peitsche bringt mannigfaltige Aspekte einer geteilten Geschichte zum Ausdruck: Die namibisch-deutsche Geschichte, die aus gegebenem Anlass im Jahre 2004 in den Blickpunkt rückt, ist eine afrikanisch-europäische „Verflechtungsgeschichte“ jenseits euroaber auch jenseits afrozentrischer Sichtweisen. Kolonialgeschichte, vorkolo‐ niale und auch nachkoloniale Geschichte verbinden namibische und deutsche Ge‐ schichte in prägnanter, vielschichtiger Weise - und trennen sie zugleich. Namibier, Deutsche oder Namibia-Deutsche, ehemalige Opfer und Täter, ehemalige Kolonisierte und Kolonisatoren, Befreiungskämpfer und Siedler teilen historische Erfahrungen im Sinne einer shared history, einer verbindenden Geschichte, andererseits im Sinne einer trennenden Erfahrung. […] Koloniale Verflechtungen implizierten höchst ambivalente Interaktionen, Spannungen und Abgrenzungen, schufen gemeinsam Konsti‐ tutives wie konstitutiv Trennendes. (Förster / Hendrichsen / Bollig 2004: 19) Annahme der vorliegenden Studie ist, dass die Rückgabe des Kulturraubguts im Jahr 2019 nicht nur eine Verflechtungsgeschichte wieder sichtbar werden lässt, sondern dass dadurch grundlegende und unausradierbare kulturelle Verbin‐ dungen zu Tage treten, die zwar lange Zeit vergessen worden sind, jedoch kei‐ neswegs aufgehört haben sich in den beiden Gesellschaften auszuwirken. Daher stellt allein die Tatsache, Verlorenes wieder zurückzubringen und Vergessenes wieder in Erinnerung zu rufen, einen entscheidenden Schritt in Richtung Ver‐ söhnung und Reparieren einer nach wie vor bestehenden, jedoch schwierigen, gar fragilen Beziehung dar. Solche Verbindungen sowie die Gesten, Symboliken und Rituale, die sie aufrechterhalten und sogar heilen können, sind grundsätz‐ lich kreativer Natur, sie bedürfen aber stets einer kritischen Überprüfung und ideologieentlarvender Kontrollinstanzen. Das Wirken dieser Verbindungen, die sowohl historisch wie gegenwärtig und auf vielen verschiedenen Ebenen zu verstehen sind, ist Hauptgegenstand der hier durchgeführten literaturwissen‐ schaftlichen Untersuchungen. Die Rückgabe der Witbooi-Bibel und -Peitsche stellt ein wichtiges interkulturell-politisches Zeichen dar, denn Baden-Würt‐ temberg machte hier einen Anfang mit der Restitution geraubter Kulturgüter aus Namibia: „Baden-Württemberg hat die ersten Schritte gemacht. Es ist Zeit, dass wir in Deutschland für unser koloniales Erbe gemeinsam die Verantwor‐ tung übernehmen und auch handeln“, so Landesministerin Bauer ( MWK - BW 2019). Eine Rückgabe des Steinkreuzes vom Kreuzkap wurde einige Monate 12 1. Einleitung später vereinbart ( ARD 2019b). Menschliche Gebeine wurden bereits 2011 an Namibia zurückgegeben. Die Rückgabe stellt auch einen wichtigen Schritt in Richtung Versöhnung dar: „Die Rückgabe ist ein Signal, dass wir es ernst meinen. Die Anerkennung des Unrechts ermöglicht die Eröffnung des gemeinsamen Di‐ alogs und bringt uns im Versöhnungsprozess voran“, meinte Bauer ( MWK - BW 2019). Innerhalb des Bundestags wurde eine breite Debatte über den Umgang mit kolonialen Kulturraubgütern angestoßen, die in mehrere parlamentarische Anfragen sowie eine Expertenanhörung mündete (Deutscher Bundestag 2019a). Eine offizielle Entschuldigung und im gegebenen Fall daraus entstehende Wie‐ dergutmachungen, in welcher Form auch immer, wie sie von verschiedenen Seiten gefordert werden, stehen noch aus. Diese kulturpolitischen Rahmenbedingungen liefern die konzeptuelle Um‐ rahmung der vorliegenden Studie: Sie bietet in erster Linie eine Interpretation der deutschsprachigen Belletristik der Gegenwart zum kolonialen Deutsch-Süd‐ westafrika und vor allem zum Deutsch-Namibischen Krieg und anschließenden Genozid an den Hererobzw. Nama-Völkern 1904 bis 1908. Letzteres bedarf zu‐ nächst eines kurzen zusammenfassenden Überblicks. Am 11. Januar 1904 begannen die in der jüngsten geschichtswissenschaftli‐ chen Literatur als Deutsch-Namibischer Krieg bezeichneten Kampfhandlungen mit der Auflehnung der Herero im zentralen Deutsch-Südwestafrika. Im Zuge des rapide zunehmenden Landerwerbs seitens deutscher Siedler bei Verlust der traditionellen auf Rinderbesitz basierenden Wirtschaftsgrundlage der Herero, des rabiaten Eintreibens von Schulden von deutschen Händlern und der weit‐ verbreiteten und ungestraften sexuellen Übergriffe seitens der Weißen ent‐ schlossen sich die Herero zum bewaffneten Kampf. Eine erhebliche Zahl deut‐ scher Farmer wurde ermordet, deren Frauen und Kinder blieben jedoch verschont. Die deutschen Schutztruppen waren im Süden durch einen Aufstand der Bondelwarts gebunden und konnten nur langsam reagieren. Bald wurde Gouverneur Leutwein durch General Lothar von Trotha abgelöst, der eine Ver‐ nichtungsstrategie verfolgte: „Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut und Strömen von Geld“ (zitiert nach Drechsler 1984 [1966]: 156). Nach erheblichen deutschen Truppenverstärkungen wurden die Herero‐ verbände am 11. August 1904 beim Waterberg geschlagen und in die Oma‐ heke-Wüste getrieben. Die Abriegelung möglicher Fluchtwege durch Posten‐ ketten und die Vergiftung der Wasserquellen wurden als absichtlich geplante Vernichtungsmaßnahme durchgeführt: Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserquelle zu Wasserquelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der 13 1.1 Hendrik Witboois Bibel Natur des eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Hererovolkes. (Bericht der Kriegsgeschichtlichen Abteilung 1906, zitiert nach Kößler / Melber 2017: 23-4) Am 2. Oktober 1904 erließ von Trotha den bekannten Schießbefehl: Die Hereros sind nicht mehr deutschen [sic] Untertanen. […] Das Volk der Herero muß […] das Land verlassen. […] Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. (Zitiert nach Zimmerer 2003: 51) Der Schießbefehl setzte die „Ausbürgerung“ der Herero und somit deren Ver‐ treibung in die totale Rechtlosigkeit innerhalb der Kolonialgrenzen fort, d. h. sie konnten sowohl einzeln als auch als Gruppe straffrei getötet bzw. vernichtet werden. Schätzungsweise kamen insgesamt 80 bis 90 Prozent der Herero ums Leben (vgl. Bridgman 1981: 164-5). Provoziert durch die Niederlage und Unterdrückung der Herero entschieden sich viele Nama im Süden des Landen zum bewaffneten Widerstand, vermieden jedoch herkömmliche Kriegsmethoden und verfolgten einen Guerillakrieg, der 14.000 deutsche Soldaten auf sehr effektive Weise band - bis zum Tod Hendrik Witboois am 29. Oktober 1905. Danach kapitulierten viele der Nama-Kämpfer und erlitten ein ähnliches Schicksal wie die Herero. Schätzungsweise kamen 50 Prozent der Nama ums Leben (Speitkamp 2005: 133). Die Kampfhandlungen dauerten noch bis 1907 an. Einer der erfolgreichsten Nama-Kämpfer war Jakob Morenga, bis er 1906 in britische Gefangenschaft geriet und 1907 nach der Flucht ins benachbarte Bechuanaland starb (Bürger 2017: 127-32). Der Krieg wurde am 31. März 1907 für beendet erklärt. Bald nach der Schlacht am Waterberg wurden Gefangenenlager, ausdrücklich als „Konzentrationslager“ bezeichnet, errichtet. In den berüchtigten Lagern in Swakopmund sowie der Lüderitzbucht mit der Haifischinsel kamen zwischen 50 und 90 Prozent der Insassen um. Die Kriegsgefangenschaft für die Herero wurde am 28. Mai 1908 aufgehoben (Zimmer 2003: 58), da die Sterberaten für die Siedler einen ernstzunehmenden Engpass in der Versorgung mit afrikani‐ schen Arbeitskräften bedeuteten. Nama-Gefangene wurden jedoch erst 1914 offiziell aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Die absolute Enteignung der Viehbestände bzw. des Landes der Kolonisierten wurde 1905 vom Reichstag be‐ schlossen und vom kolonialen Gouvernement 1907 bekräftigt. Dadurch wurden riesige Gebiete im Zentrum und im Süden des Landes für weiße Siedler freige‐ geben, die über ein Reservoir völlig entrechteter und wirtschaftlich abhängiger Arbeitskräfte verfügten (Werner 2004). 1908 wurden der Arbeitszwang und die 14 1. Einleitung 1 Textverweise zu Timms Morenga werden in der vorliegenden Studie stets mit doppelter Paginierung angegeben, bezugnehmend zunächst auf die sehr verbreitete und noch als Standard geltende dtv-Ausgabe von 2000, anschließend auf die zum Zeitpunkt der Ver‐ fassung aktuellste dtv-Ausgabe von 2020. Passpflicht eingeführt. Zwangsumsiedlungen wurden durchgeführt und die Rassentrennung, auch einschließlich eines Verbots von Mischehen, wurde ab 1908 beschlossen (Hartmann 2004), so dass die Lineamente eines Vorläufers des Apartheidsystems entstanden, die unverändert von der Südafrikanischen Union während der Besatzung ab 1915, im Übergang zum Mandatsstatus 1919 und schließlich bei der Etablierung der Apartheid 1948 übernommen wurden. Erst 1990 nach der Unabhängigkeit Namibias, der ein Vierteljahrhundert Be‐ freiungskämpfe vorangegangen waren, wurde eine Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit möglich, die bald in die umstrittene Frage der Reparationen mün‐ dete. Die vorliegende Studie untersucht acht zwischen 1978 und 2015 veröffent‐ lichte deutschsprachige Romane zum Deutsch-Namibischen Krieg und zum Ge‐ nozid an den Herero- und Nama-Völkern. Die Romane setzen an verschiedenen geschichtlichen Zeitpunkten an bzw. behandeln die Ereignisse aus sehr weit auseinandergehenden geschichtlichen Perspektiven. Der zentrale Ansatz hier ist jedoch weder die Bewertung der Aufarbeitung historischen Geschehens noch die diskursanalytische Kritik der jeweiligen Ideologien des Kolonialismus bzw. der Aufarbeitung des Kolonialismus, sondern die in den Romanen exponierte Gestaltung der affektiven Verbindungsmodi zwischen Vergangenheit und Ge‐ genwart sowie zwischen Deutschen und den ehemaligen Kolonisierten bzw. den heutigen Namibiern. Stellvertretend für diese literarische Strömung bzw. Untergattung (gegen‐ wärtige literarische Darstellungen des Deutsch-Namibischen Kriegs) wird der bahnbrechende Montage-Roman von Uwe Timm, Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]) als paradigmatisches Beispiel für die Untersuchungsmethodik behan‐ delt. 1 Im Gegensatz zu vielen literaturgeschichtlichen Studien auf diesem Gebiet wird der Roman im Rahmen des allgemein noch relativ kontroversen und um‐ strittenen - im deutschen Kontext noch wenig bekannten - Ansatzes der Af‐ fekttheorie interpretiert. Es wird gezeigt, dass die Montage-Technik Timms nicht nur die kritische „Brechung“ der vermeintlich kohärenten Realität und deren ideologische Konstruktion unterstützt, sondern dass das Nebeneinander‐ fügen von Fragmenten genauso gut die gegenseitige Interaktion und sogar An‐ ziehungskraft von verschiedenen aneinander geratenen Kulturen suggerieren kann. Genau wie im Falle der Restitution von geraubten Kulturgütern geht es darum, nicht nur einen unabdingbaren kritischen Blick auf die Vergangenheit 15 1.1 Hendrik Witboois Bibel und ihre noch in die Gegenwart hineinreichenden Diskurse zu werfen, sondern darüber hinaus zu schauen, welche verbindenden Gesten, Rituale und Symboliken dringend notwendige interkulturelle Brücken bauen können und zur längst überfälligen Versöhnung beitragen können. Neben Uwe Timms Morenga werden eine Reihe anderer Romane untersucht, um über den historisierenden diskursanalytischen Ansatz hinaus eine neue af‐ fekttheoretische Methodik zu erproben: angefangen mit Dietmar Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) über Giselher W. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994), Gerhard Seyfrieds Herero (2003), Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003), Andrea Paluchs und Robert Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) bis hin zu Hellmut Lemmers Der Sand der Namib (2014) und Bernhard Jaumanns Der lange Schatten (2015). Sowohl der kritische, distanzierende, ideologieentlarvende als auch der kon‐ struktive, zusammenbringende Ansatz gehören zur Ausstattung der progres‐ siven Literaturkritik. Nicht zuletzt, weil beide Aspekte immer bereits von der Belletristik selbst mobilisiert werden. Einerseits entfremdet der Text die Realität und dementsprechend das Selbstverständliche an der Realität, um soziopoliti‐ sche Transformationen zu ermöglichen und voranzutreiben. Andererseits kom‐ muniziert die Literatur gleichwohl mit der Leserschaft anhand emotioneller Identifikation, Empathie und Teilhabe sowie anderer nicht-kognitiver ästheti‐ scher Reaktionen zwecks Transformation der Wahrnehmung, Subjektivität und Handlungsfähigkeiten der Leserschaft. Eine solche Doppelausstattung der Li‐ teraturkritik kann wiederum als Teil einer kritisch-konstruktiven Kulturpolitik verstanden werden, die ferner im Rahmen der allgemeinen Verständigung zwi‐ schen den Kulturen eingebettet werden und diese tatkräftig unterstützen soll. 1.2 Thesen der Studie Die Witbooi-Bibel veranschaulicht im Kontext der kulturpolitischen Bestre‐ bungen und Transformationen, die zur Rückgabe führten, die drei Hauptthesen der vorliegenden Studie zur Rolle des „Affekts“ im deutschsprachigen Roman der Gegenwart zum Thema Hererobzw. Nama-Genozid 1904 bis 1908: Metahistorische Romane sind Texte, die gezwungenermaßen die Spannung zwischen Fakt und Fiktion besetzen. Und zwar nicht unbedingt ausschließlich mit dem Ziel, eine historische Wahrheit zu Tage zu fördern oder aufzuarbeiten, sondern eher, um die Verbindung zwischen einem bzw. einer Leser*in einer fik‐ tiven Geschichte und einer „wahren“ Geschichte zu überprüfen. D. h. letztend‐ lich zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu forschen. In den hier unter‐ 16 1. Einleitung suchten Textbeispielen geht es darum, in welchem Verhältnis der bzw. die Leser*in mittels des Texts zum Deutsch-Namibischen Krieg und zum Genozid der Hererobzw. Nama-Völker in Deutsch-Südwestafrika vor über hundert Jahren steht. Metahistorische Romane arbeiten auf den kognitiven Ebenen der Repräsen‐ tation, d. h. wie ein historischer Inhalt textuell dargestellt wird, und der Her‐ meneutik, d. h. wie der Rezipient der Darstellung diese Darstellung entschlüsselt bzw. interpretiert. Diese Ebenen entsprechen den Disziplinen der Diskursana‐ lyse (Zima 1989) und der Rezeptionsästhetik ( Jauß 1970). Allerdings arbeiten solche metahistorischen Romane nicht nur auf diesen zwei Ebenen. Sie wirken gleichzeitig auch auf der „affektiven“ Ebene, d. h. mit der Art und Weise, wie die Verbindung zwischen Text und Leser, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Romanfigur und interpretierendem Subjekt inszeniert und transfor‐ miert wird. Die Verbindung gilt dabei nicht als eine vorgegebene Größe, sondern stellt ein dynamisches Wirkungsfeld dar und bleibt als solches stets beweglich und unstabil. Der „Affekt“ meint hier, laut Spinoza (1972: 157), „die Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Erre‐ gungen“; solche Änderungen des Tätigkeitsvermögens des Körpers werden durch die Tätigkeiten eines anderen Körpers erregt, so dass der „Affekt“ zwangs‐ läufig die transformative Beziehung zwischen mindestens zwei Körpern be‐ zeichnet. Im Rahmen dieser Studie wird ein erweiterter Affektbegriff voraus‐ gesetzt und verwendet. Der „Affekt“ bezeichnet nicht nur Emotionen („Gefühle“) zwischen Menschen, sondern auch anderes „Gefühltes“: Solches, das nicht bewusst wahrgenommen wird, und ebenfalls solches, das zwischen nicht-menschlichen Körpern, auch nicht-lebendigen Körpern verkehrt, so dass jenes „Gefühltes“ nur anhand seiner Konsequenzen abgelesen werden kann. Der „Affekt“ ist überall wirksam als grundlegender Baustein der materiellen Realität in ihrer Dynamik (West-Pavlov 2019); er wirkt dank der räumlichen Nähe bzw. der materiellen Kausalität und bewirkt die Komplexität der „Emergenz“ der na‐ türlichen Welt (Prigogine / Stengers 1980). Er ist wirksam auch im, um und durch den literarischen Text. Der literarische Text kann Affekte im engeren Sinne er‐ wecken und daher im breiteren Sinne, im Rahmen anderer „Affektnetzwerke“, Effekte bewirken. Im Kontext der vorliegenden Studie geht es zum einen um eine radikal erneuerte Beziehung zur Kolonialvergangenheit. Einerseits zu Deutsch-Südwestafrika, der Kolonie, in der der Genozid stattgefunden hat, aber auch ganz konkret zum heutigen Namibia im Sinne einer Bewusstmachung der bestehenden Verhältnisse und Annäherung zwischen den Ländern im Zuge des aufkommenden Globalen Südens. 17 1.2 Thesen der Studie In dieser Hinsicht bezeichnet der literarische „Affekt“ nicht nur die „Gefühle“, die anhand literarischer Figuren registriert oder beschrieben werden, oder die Gefühle, die vom Leser bzw. der Leserin bei der Lektüre empfunden werden, sondern primär die wirkungsgeschichtlichen Verbindungen sowie die daraus entstehenden Transformationen eines jeglichen Verhältnisses zwischen Ver‐ gangenheit und Gegenwart. Dementsprechend beschreibt der literarische „Af‐ fekt“ ferner die wirkungsgeschichtlichen Verbindungen zwischen Subjekten in der Vergangenheit und Subjekten in der Gegenwart und schließlich die uner‐ gründlichen Innovationen, die in der Zukunft dadurch hervorgebracht werden können. Der „Affekt“ birgt daher das Potenzial für eine Veränderung der durch geschichtliche Ereignisse scheinbar vorbestimmten Verhältnisse. Der „Affekt“ beantwortet letztlich die Frage Bhabhas (1994: 212), „wie das Neue in die Welt kommt“. Er bildet eine Basis für einen textanalytischen und kulturpolitischen Ansatz, der die Geisteswissenschaften aus der Sackgasse der trotzdem nach wie vor unabdingbaren Diskursanalyse und der damit einhergehenden Ideologie‐ kritik (vgl. z. B. Felski 2015; McDonald 2018) bringen kann, und welcher sich mit einem positiven Ausgangspunkt der grundsätzlichen Vernetzung und deren transformativer Wirkung verbindet. 1.3 Struktur der Studie Der erste Teil der Studie besteht aus einer theoretischen Einleitung (Kapitel 2) und einer gegenwärtigen diskurspolitischen Kontextualisierung (Kapitel 3), die die Grundlagen für die anschließenden Textanalysen bilden. Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen gelegt. Hier dient zunächst Gerhard Seyfrieds Roman Herero (2003) als Folie für die theoretische Erörterung der Studie. Eingangs wird der allgemeine Kontext der heutigen Li‐ teraturwissenschaft skizziert, vor allem die gegenwärtige Multikrise, einschließ‐ lich der deutsch-afrikanischen Beziehungen, die zunehmend in das Blickfeld der Geisteswissenschaften gerät. Vor allem im Bereich der heute gängigen litera‐ turwissenschaftlichen Ansätze, die meist historisch-kontextualisierend ar‐ beiten, werden Desiderata aufgezeichnet, so dass der Bezug zum heutigen Mo‐ ment oft verloren geht. Im Gegensatz dazu entwirft und erprobt die vorliegende Studie einen affektorientierten Ansatz, in dessen Zentrum ein erweiterter Af‐ fektbegriff steht. Im dritten Kapitel wird, nach einem einführenden Exkurs zum Familienroman Hellmut Lemmers, Der Sand der Namib (2014), eine ausführliche Analyse der Bundestagsdebatten zu den Beziehungen zu Namibia unternommen, um so das 18 1. Einleitung Fundament für die im zweiten und dritten Teil der Studie folgenden Analysen sechs weiterer belletristischer Fallstudien zu legen und sie in den heutigen Kon‐ text einbetten zu können. Ausschlaggebend für diese Untersuchung ist weniger die sehr vorsichtige und ausschließlich „privat“ gemeinte Entschuldigung, die von der damaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul in Na‐ mibia 2004 ausgesprochen wurde, als vielmehr die Nähe zu den fast gleichzeitig stattfindenden Debatten im Bundestag über den Armenienvölkermord ( Jelpke et al. 2015). Es zeigt sich, dass in vielen der herrschenden Diskursmuster Distanz, Gleichgültigkeit und Überheblichkeit, wie gegenüber den heutigen namibischen Verhandlungspartnern, spürbar sind, die in etlichen Hinsichten koloniale Züge aufzeigen. Der zweite Teil der Studie ist dem für diese Untersuchung als paradigmatisch geltenden Roman Uwe Timms aus dem Jahre 1978, Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]), gewidmet. Die Kapitel vier und fünf bauen auf die gegenwartsbezogene (geo-)politische Diskursanalyse der Bundestagsdebatte auf, um eine affektori‐ entierte Textanalyse des Romans zu unternehmen. Es wird gezeigt, dass die Montage-Methode Timms nicht nur einen epistemisch-historischen „Verfrem‐ dungseffekt“ erzeugt, sondern dass das Nebeneinander von Textfragmenten verschiedener Gattungen ein Modell liefert, welches das In-Bezug-Setzen von disparaten geschichtlichen Epochen und anscheinend auseinanderliegenden Völkern, Dingen und Lebensweisen konkret werden lässt. So entwirft Timms Roman auf dem Hintergrund des Deutsch-Namibischen Kriegs und des Hererobzw. Nama-Völkermords ein Konzept für einen auf dem komplexen, dynami‐ schen Gewebe des Lebens beruhenden erweiterten Affektbegriff. Im Anschluss an die Analyse von Morenga werden im dritten Teil der Studie fünf andere Romane aus drei Jahrzehnten untersucht, ausgehend von Dietmar Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) und Giselher W. Hoffmanns Die schwei‐ genden Feuer (1994) (Kapitel 6), über Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003) (Kapitel 7) sowie Andrea Paluchs und Robert Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) (Kapitel 8) bis hin zu Bernhard Jaumanns Der lange Schatten (2015) (Kapitel 9), um die verschiedenen Gestaltungsformen der affektiven Ver‐ bindungsmodi zur afrikanischen Vergangenheit bzw. Gegenwart darzulegen. Die affekttheoretischen Ergebnisse fallen insgesamt bei aller Komplexität der Texte ernüchternd aus, zeigen jedoch auf, inwiefern die Verwobenheit der zwei Kulturen trotz der Entfernung voneinander über ein Jahrhundert weiterbesteht. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Morenga seiner Zeit weit voraus war und bis heute ist. Timm „hat […] den Roman nicht als Parabel auf seine Zeit angelegt, und so konnte und kann der Roman weit über seine Gegenwart hi‐ nausweisen“, so Habeck (2020: 474) in seinem Nachwort zur jüngsten dtv-Aus‐ 19 1.3 Struktur der Studie gabe des Romans. Timms Hauptfigur Gottschalk entwickelt eine starke affektive Verbindung zum Land Südwestafrika und zu seinen Bewohnern, kann dies je‐ doch nicht in eine grundsätzliche persönliche Haltung bzw. Lebenspraxis um‐ setzen - was zugegebenermaßen zu der Zeit, in der der Roman spielt, sowieso fast unmöglich gewesen wäre. Da wo Gottschalk als Figur scheitert, gelingt es aber Timms Text, ein Bündel affektbasierter Schreibstrategien darzubieten, die das kompensieren, was die Figur selbst nicht kann. Diese textuellen Strategien deuten - wohlgemerkt - bereits Mitte der 1970er-Jahre das an, was spätestens heutzutage aufgrund der zunehmenden Verflechtung der beiden Kontinente miteinander an positiven politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Strate‐ gien notwendig wäre, um die bestehende Distanz in eine genuine, gleichbe‐ rechtigte Zusammenarbeit umzuwandeln. Der zukunftsträchtige Charakter der Timm’schen Strategien tritt umso stärker in den Vordergrund, je affektarmer die textuellen Strategien der nachfolgenden Fiktionen des Deutsch-Namibi‐ schen Kriegs ausfallen. Mit teilweiser Ausnahme von Jaumanns Krimi Der lange Schatten (2015) wird in den Texten eine große Distanz zu den dargestellten afrikanischen Bevölke‐ rungen stillschweigend vorausgesetzt und durch die textuellen Strategien der Fiktionen aufrechterhalten. Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) verwendet einen Protagonisten, dessen hybride Identität eine affektive Anschlussstelle für den erzählerischen Einblick in die Welt der nicht-weißen Beteiligten am Deutsch-Namibischen Krieg bietet, solche Einfühlungsperspektiven jedoch in abstrakten Verbündnisträumen verpuffen lässt. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994) ist von einem Deutsch-Namibier verfasst, so dass man von einer gewissen affektiven Nähe zu den afrikanischen Protagonisten ausgehen könnte. Diese Annahme ruht auf der empathischen Darstellung des Herero-Lebens, teil‐ weise untermauert durch eine pseudo-autobiografische Stimme. Es bleibt aber bis zum Ende unklar, inwiefern das hier wortwörtlich verflochtene deutsch-na‐ mibische Schicksal ein residuales koloniales Wissen in Erscheinung treten lässt, das in eine unterschwellige Bejahung des Untergangs des Herero-Volkes mündet und auf diese Weise nicht dessen Ferne, sondern vielmehr dessen Abwesenheit postuliert. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003), Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) und Lemmers Der Sand der Namib (2014) sind deutsche Fa‐ milienromane, welche durch die generisch bedingte Selbstfokussierung auf die deutsche Seite jener „Verflechtungsgeschichte“ zwangsweise die afrikanische Seite mehr oder weniger ausblenden. In diesen Romanen bleibt Afrika weitge‐ hend fernab der deutschen Realitäten von heute. Fazit: Morenga ist nicht grundlos nach wie vor bei der deutschen Leserschaft beliebt, wie die seit vier Jahrzehnten konstant bleibenden Verkaufszahlen und 20 1. Einleitung regelmäßigen Neuauflagen (zuletzt Anfang 2020 mit einem Nachwort von Ro‐ bert Habeck) zeigen. Diese Beliebtheit beruht darauf, dass der Roman ein Pub‐ likum anspricht, das einer affektiven Beziehung zur Vergangenheit und Gegen‐ wart Afrikas offen gegenübersteht, auch wenn er durch seine Montage-Technik keine leichte Kost ist. Bleibt Morenga vielleicht deshalb so erfolgreich, weil die affektive Arbeit, die der Roman leistet, nach wie vor ein Desiderat sowohl in der deutschsprachigen Belletristik als auch in der deutschen Außenbzw. Kultur‐ politik darstellt? 21 1.3 Struktur der Studie 1. Teil: Theorie, Methode und Kontext 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Im Jahr 2003, kurz bevor sich der Beginn des Deutsch-Namibischen Kriegs zum hundertsten Mal jährte, wurde Gerhard Seyfrieds knapp betitelter Roman Herero mit großer medialer Wirkung veröffentlicht. Auf die gebundene Ausgabe im Frankfurter Eichborn Verlag folgte 2004 eine Taschenbuchausgabe im Berliner Aufbau Verlag, was darauf hindeutet, dass der Roman ein Verkaufserfolg war. Der Roman präsentiert sich als penibel recherchierte und historisch genaue Wiedergabe des damaligen Geschehens (Seyfried 2003: 4; Thomma 2003) und evoziert somit zwangsläufig die ewige Frage des Verhältnisses von Fakt und Fiktion (vgl. Koschorke 2012; Roesch 2013). Herero löst jedoch seine Verspre‐ chungen in einem wichtigen Bereich nicht ein: Die titelgebenden Herero zeichnen sich durch Abwesenheit in weiten Teilen der Handlung aus. Diese auffällige Diskrepanz bietet einen fruchtbaren Einstieg in die Materie der the‐ oretischen und methodologischen Fundierung der vorliegenden Studie. 2.1 Seyfrieds Herero und die Unsichtbarkeit der Herero Seyfrieds Herero beeindruckt durch den Umfang von 600 Seiten und die Fülle an Material, die es erlaubt, den Deutsch-Namibischen Krieg in seiner Anfangsphase als quasi-welthistorisches Ereignis zu präsentieren. Der versprochene histori‐ sche Wahrheitsgehalt wird durch verschiedene narrative Methoden unterstützt: Der Roman ist mit Landkarten (Seyfried 2003: Buchdeckel innen), Fotografien (ebd.: 119, 269, 334, 360, 361, 406, 431, 432, 468; allerdings nicht in der Taschen‐ buchausgabe von 2004), Skizzen (ebd.: 50, 154, 156, 198, 233, 330, 336, 350, 380, 382, 455, 494, 506, die ebenfalls in der Taschenbuchausgabe fehlen), Glossaren (ebd.: 594-601) und Quellenverzeichnissen (ebd.: 602-5) ausgestattet; der Text ist voll von Bezügen zu wahren Begebenheiten, geschichtlich belegbaren Orts- und Personennamen sowie technischen Beschreibungen: „Fast nichts an meinen Schilderungen ist fiktiv“, so Seyfried in einem Interview. „Es stimmt alles so weit wie möglich. Ich habe all die Jahre recherchiert und gut 250 Bücher durchgea‐ ckert. Die Figuren sind nahezu alle historisch“ (Thomma 2003). Angesichts des Anspruchs auf Historientreue und insbesondere des pro‐ grammatisch anmutenden Titels ist es umso bemerkenswerter, dass die ver‐ meintlich im Vordergrund stehenden Herero selten vorkommen. Ein Abschnitt des Romans Seyfrieds (2003: 200-1) mit dem Titel „Brandungsneger“ steht in außerordentlich scharfem Kontrast zum Beginn von Uwe Timms Morenga (2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9), in dem Gottschalk auf dem Rücken eines Eingeborenen durch die Brandung zum Strand getragen wird, und zu einer analogen Textstelle in Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen (2004: 18). Da, wo Timm und Pa‐ luch / Habeck die affektive Reaktion Gottschalks bzw. Arabellas auf den intimen Kontakt zwischen den Körpern schildern (ausführlicher wird hierauf in den Unterkapiteln 5.3, 5.5.2 und 8.3 eingegangen), fällt bei Seyfried die völlige Ab‐ wesenheit der afrikanischen Träger ins Auge. Ausführlich geschildert wird je‐ doch die Neugier des Protagonisten Seelig, ob die „Brandungsneger“, die an Bord des Schiffs kommen sollen, tatsächlich sehr schwarzhäutig seien („Bloß braun wäre enttäuschend, aber so richtig schwarz, das muss seltsam aussehen“; ebd.: 201). Die afrikanischen Arbeiter erscheinen allerdings gar nicht. Sie kommen nicht einmal in Sichtnähe, geschweige denn in intimen körperlichen Kontakt mit den Deutschen. Gottschalks erste Auseinandersetzung mit einem solchen Körperkontakt („Er ekelte sich“; Timm 2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9) bahnt den Weg für eine Entwicklung hin zur Vertrautheit mit dem „Geruch nach Erde, Sonne und Wind“ seiner Nama-Geliebten Katharina (ebd.: 254 / 265); ähnlich funktioniert Arabellas Entdeckung, „daß sich die Haut anfühlte, als wäre sie weiß“ (Paluch / Habeck 2004: 18), als leise Andeutung auf die spätere Beziehung zum aufständischen Assa. Im Gegensatz dazu steht Seyfrieds imaginäre Be‐ schreibung der nicht vorhandenen Eingeborenen als geradezu paradigmatisch für die weitgehende Unsichtbarkeit der Afrikaner in einem Roman, der dennoch ihren kollektiven Namen trägt. Da wo Timm und Paluch / Habeck einen visze‐ ralen Affekt beschreiben, der Teil eines Transformationsprozesses ist, der nicht nur andere Menschen, sondern auch das Land und die Umwelt miteinschließt, „schaut“ die Seyfried’sche Figur „gierig hinüber“ (2003: 201) zu einer entfernten, menschenleeren Küste, die somit lediglich als „durchaus paradiesisch[er]“ Ge‐ genstand der kolonialen Raffgier erscheint (ebd.: 201). Gerade in diesem Widerspruch zwischen der Verwendung des Kollektivna‐ mens und der Abwesenheit der Herero spiegelt sich die grundlegende Ambiva‐ lenz in Seyfrieds Roman in Bezug auf die Darstellung der Afrikaner. Einerseits wird durch die häufige Verwendung der erlebten Rede ein unmittelbarer Zugang zum Bewusstsein der wenigen beschriebenen Herero-Figuren suggeriert. Ein solcher Zugang wird sehr früh im Roman anhand der Perspektive der Fokali‐ sierungsfigur Petrus gezeigt, die stellvertretend für einen bestimmten Blick‐ winkel steht: 26 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Petrus […] läuft auf dem heißen Sand durch den lichten Busch, vermeidet, ohne recht achtzugeben, die scharfkantigen Steine und die nadelspitzen Dornen und denkt dabei an Osona und das große Palaver. Wichtig ist die Häuptlingsnachfolge, das hat man auch überall den Deutschmännern erzählt, aber beim Palaver in der Oganda Osona wird es um etwas viel, viel Wichtigeres gehen. Um was es da geht, das hat den Deutji keiner gesagt, das sollen sie nicht wissen. Nur die schwarzen Menschen wissen, daß es um die große Angst und um die große Wut geht und um die gelben Dinger [d. h. um die Weißen]. Es geht um die Otjirumbu [d. h. um die gelben Dinger, die Weißen]. (Seyfried 2003: 21) Die erlebte Rede, die eine auktoriale narrative Perspektive mit einer Figuren‐ perspektive verschmelzen lässt (Fludernik 1993), erzeugt ein Gefühl der unver‐ mittelten Nähe zur Erlebniswelt der Figuren. In dieser Textstelle bietet die er‐ lebte Rede einen Zugang zur Welt der Herero, den die zeitgenössischen Deutschen nicht besitzen. Dementsprechend sagt der Autor in einem Interview, „Es geht mir um die Nähe zu dieser Zeit, auch in der Sprache und im Stil“ (Thomma 2003). Und somit liegt Loimeier (2004: 40) zum Teil falsch, wenn er behauptet, dass „die Leser […] nur durch die deutsche Brille vom Krieg in Na‐ mibia [erfahren]. Die andere Seite der Medaille - also die Perspektive der Nama und Herero - bleibt vollkommen ausgeblendet.“ Wird doch immer wieder eine, wenn auch künstliche afrikanische Sicht der Dinge in die Erzählung eingebaut. Loimeiers Einschätzung ist aber zum Teil auch richtig. Denn andererseits wird durch die erlebte Rede bzw. die eigenen Aussagen der Herero-Figuren eine un‐ überwindbare Fremdheit generiert. Wie durch die soeben zitierte Stelle ersicht‐ lich wird, stört der Einschub von nicht unmittelbar verständlichen Begriffen aus der Herero-Sprache oder die Verwendung ungewöhnlicher semantischer und syntaktischer Strukturen (z. B. „Deutji“, kindisch klingende Verdopplungen usw.) die angeblich mehr oder weniger direkte Vermittlung der Figurenge‐ danken. Somit bleiben sie dem bzw. der Leser*in in dem Moment, in welchem er oder sie der afrikanischen Subjektivität am nächsten kommt. Diesbezüglich merkt Habeck (2004) an: [D]ie Schilderung erfolgt nicht mit dem Blick des Weißen (was wohl so sein muss), sondern bestätigt exakt die Erwartungshaltung, mit der man auf Safari geht, um eine seltene Spezies zu besichtigen. Seyfrieds Versuch, den schwarzen Blick zu kopieren, reproduziert das Klischee des Naturmenschen, also den einfachen Gegensatz von Zi‐ vilisation und Wildnis. Vor allem mit Bezug nicht nur auf die Geschichtlichkeit der Ereignisse, sondern vielmehr auf das Geschichtsbewusstsein der fiktiven Herero wird eine unmess‐ bare Ferne herbeigeführt. Seit der Niederlage am Waterberg ist laut einer der 27 2.1 Seyfrieds Herero und die Unsichtbarkeit der Herero Figuren „der Mond einmal rund geworden und wieder ganz mager und noch einmal rund, und bald wird er wieder mager sein“ (Seyfried 2003: 574). Das Zeitbewusstsein der Herero-Figuren bleibt, so der Text, in einer zyklischen, d. h. nicht-linearen und daher vermeintlich primitiven Logik der natürlichen Welt verhaftet (vgl. Fabian 1983: 30; Ricoeur, Hg. 1975). Nur mit großer Mühe kann die Zeit bemessen werden: Die Figur Petrus „zählt so an die vierzig Sommer“ (Seyfried 2003: 21). Seyfrieds Herero-Figuren verharren in einem nicht ganz zeitlosen, doch nur partiell geschichtlich strukturierten Raum (vgl. Hermes 2009: 232-3). Daher die Ambivalenz der Darstellung: Der Roman gibt vor, den He‐ rero-„Aufstand“ bis in die kleinsten geschichtstreuen Details dazustellen und lässt eine Art experientielle Nähe zu den Gegnern zu, schließt sie aber zugleich aus der Geschichtlichkeit der Geschichte aus. Das „afrikanische“ Afrika ist, wie bei Hegel (1961: 163), „kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung oder Entwicklung aufzuweisen.“ Die Geschichte Südwestafrikas wird „hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt“ (ebd.: 163) und bleibt letztendlich eine europäische Geschichte. Dem Afrikaner dagegen wird eine Teilhabe an jener Geschichte nicht gewährt; sein Wesen ist das eines „Geschichtslose[n] und Unaufgeschlossene[n], das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist“ (ebd.: 163). Die Herero werden somit in eine unüberbrückbare geschichtsphilosophi‐ sche Ferne verbannt, die die Illusion der Erfahrungsnähe untergräbt. Die Er‐ fahrungsnähe dient schließlich nur der epistemologischen Autorität der Erzäh‐ lung, die es erlaubt, die Herero als historische Objekte (etwa nach dem Muster der „Geschichte und Gebräuche“, denen das Interesse Ettmanns gilt [Seyfried 2003: 37]) aus unmittelbarer Nähe zu kennen. Sie selbst treten nicht als historisch bewusste Subjekte auf und bleiben dem deutschen Publikum mentalitätstech‐ nisch und geschichtsbegrifflich anhaltend fern. Es ist kein Zufall, dass es am Ende der Erzählung heißt: „Petrus blieb verschollen“ (ebd.: 592). Somit kann Seyfried schließlich den Völkermord an den Herero bzw. Nama relativieren und als geschichtliches Faktum weitgehend verdrängen (Hermes 2009: 237-40). Das eventuell aufkommende Gefühl der historischen Schuld bzw. der damit einhergehenden Verantwortung in Anbetracht einer zwangsläufig gemeinsamen Geschichte kann dabei vollständig ausgeblendet werden. Die strukturierende Ambivalenz von Seyfrieds Romans, die ein künstliches Gefühl der Nähe erzeugt, um es dann in ein Gefühl der Distanz umzukehren, kann als Symptom der heute allseits herrschenden Ambivalenz Deutschlands gegenüber Afrika im Allgemeinen und Namibia im Besonderen gedeutet werden: Afrika und Europa rücken im Zuge der wachsenden Migrationsströme immer näher zusammen, Deutschland wird sichtbar „afrikanischer“, der gefühlte Abstand bleibt jedoch erhalten und wird in rechtsradikalen Diskursen zusätzlich betont. 28 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Die „Politik der Annäherung“ an Afrika seitens der Bundesregierung entpuppt sich lediglich als Strategie der „Fluchtursachenbekämpfung“ oder ganz einfach als „Fluchtbekämpfung“ (Dünnwald et al. 2017). Im Folgenden fungieren diese strukturierenden Ambivalenzen und Spannungen zwischen Geschichtstreue und erlebter Stimmung, zwischen narratologisch generierter Nähe und ge‐ schichtsphilosophischer Distanz als konzeptuelle Einfassung des theoretischen und methodologischen Rahmens der vorliegenden Untersuchung. Die Studie widmet sich gegenwärtigen literarischen Diskursen zum Deutsch-Namibischen Krieg und anschließenden Genozid im damaligen Deutsch-Südwestafrika 1904 bis 1908 anhand mehrerer zwischen 1978 und 2016 veröffentlichten Romane. Im Gegensatz zum herrschenden Forschungsansatz, der sich vornimmt, die Beziehungen zwischen der historischen Vorlage und der literarischen Fiktion nachzuzeichnen, um die öffentliche Meinung bezüglich der „Aufarbeitung“ des damaligen Völkermords - vor allem im Hinblick auf ein In-Bezug-Setzen des Herero-Genozids zum späteren Holocaust - widerzuspie‐ geln bzw. zu beeinflussen, werden hier die affektiven Dimensionen des schrift‐ stellerischen Unternehmens, den Deutsch-Namibischen Krieg und den Völker‐ mord an den Herero bzw. Nama mit literarischen Mitteln darzustellen, analysiert. Da Seyfrieds Roman Herero beide Aspekte der historischen Bellet‐ ristik aufweist und versucht, wenn auch nur bedingt erfolgreich, sowohl histo‐ rischer Treue wie auch nacherzählter Subjektivitätserfahrung gerecht zu werden, bietet der Text, wie bereits angeführt, einen passenden Einstieg in die Skizzierung des methodologischen und theoretischen Rahmens der Studie. 2.2 Kontext der Studie Seyfrieds Herero erscheint kurz nach dem Ende eines Jahrzehnts des (vermeint‐ lichen) Friedens in der westlichen Welt, das sich an das Ende des Kalten Kriegs nach dem Mauerfall 1989 und die Wiedervereinigung 1990 anschloss. Der Fall der Berliner Mauer bedeutete zugleich, aus der Sicht des amerikanischen His‐ torikers Fukuyama (1989), „das Ende der Geschichte“ und die nachfolgenden zehn Jahre schienen, zumindest aus euro-amerikanischer Perspektive, diese Sichtweise zu bestätigen: Das Ende des Apartheidregimes in Südafrika 1994, das Oslo-Abkommen zwischen den Palästinensern und Israelis 1995 und das Karfreitagsabkommen in Nordirland 1998 ließen eine Epoche mit der Option eines Weltfriedens unter dem Zeichen des „siegreichen“ Kapitalismus näherrücken. Gleichzeitig trat das vereinte Deutschland mit neuem Selbstbewusstsein als po‐ litischer Akteur auf die internationale Bühne, unter anderem verkörpert durch 29 2.2 Kontext der Studie die Amtszeit Joschka Fischers als deutscher Außenminister 1999 bis 2005. In diesem Kontext erwuchs ein neues Interesse an Deutschlands weltgeschichtli‐ cher Vergangenheit - einschließlich der Kolonialvergangenheit, die in den vor‐ hergegangenen Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit geraten war. Dieser Eindruck einer Epoche des Friedens war jedoch nur von kurzer Dauer. Das damit verbundene Interesse an der globalen Vergangenheit Deutschlands war ähnlich limitiert. Loimeier (2004) dokumentiert mit Recht den „hierzulande auf vergleichsweise großes Interesse stoßende[n] Aufstand der Herero und Nama“, der die sehr erfolgreiche Rezeption von Seyfrieds Romans zumindest teilweise erklärt. Loimeier zufolge „mag [dies] damit zusammenhängen, dass der […] Aufstand der Herero und Nama noch nicht aus der Sicht eines schwar‐ zafrikanischen Autors thematisiert wurde“. Ein „wenig entwickelte[s] […] Be‐ wusstsein vom Zusammenhang zwischen deutscher Reichsgründung und der langfristig imperialen Politik Deutschlands“ mündet allgemein in eine „deutsche Geschichtsvergessenheit“, woran „das Deckmäntelchen eines oberflächlichen Interesses am Herero-Aufstand“ leider nicht viel Grundlegendes änderte. Auch die teils eurozentrische Fokussierung auf den Holocaust, worauf später detail‐ lierter eingegangen wird, trug dazu bei. Wesentlich für diese nicht-problemati‐ sierende Sicht der Kolonialvergangenheit ist Seyfrieds bereits erwähnte Aus‐ blendung des Völkermords an den Herero und Nama. Die direkte Beteiligung der Romanprotagonisten am Deutsch-Namibischen Krieg endet vor der Ver‐ treibung in die Omaheke-Wüste, so dass Seyfried den Genozid weitgehend er‐ zählerisch umschiffen kann (Hermes 2009: 237). Ferner stellt der Text in Frage, ob die Vernichtung durch das Verdursten bzw. Verhungern in der Wüste - das Hauptkriterium des Völkermords also - überhaupt beabsichtigt war (Seyfried 2003: 565) und versucht, die Verantwortung für das Sterben auf die Opfer zu übertragen, indem er behauptet, sie hätten die angeblich zur Verfügung ste‐ henden Fluchtwege aus der Wüste nicht genutzt: „[D]a geht es um 400 km oder mehr in wasserloser Wüste, da kann man ja keine Postenketten hinstellen“ (ebd.: 564). Petrus beispielsweise, der als zentrale Fokalisierungsfigur der angeblich afrikanischen Perspektive der Erzählung gilt, schafft es ohne Mühe aus der Wüste zu entkommen (ebd.: 574). Diese Beschönigung der Geschichte des kolonialen Genozids ist nicht voll‐ kommen deckungsgleich mit der allgemeinen Auffassung einer Epoche nach dem zunächst anscheinend endgültigen Ende des Kalten Krieges und den daraus resultierenden wirtschaftlich-politischen Polaritäten. Sie steht aber dennoch im Einklang mit einer überwiegend affirmativen Auffassung der weltgeschichtli‐ chen Stimmung, in der beispielsweise die Kosten des Übergangs in den globalen Neoliberalismus für die Bevölkerungen der einst sozialistischen Länder kaum 30 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Erwähnung fanden (vgl. Ther 2016) oder in der die jugoslawischen Nachfolge‐ kriege von 1991 bis 2001 mit dem Massaker bzw. Genozid von Srebrenica 1995, dem schwersten Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs, lediglich als vorübergehende Aberration wahrgenommen werden konnte. Be‐ zeichnend in diesem historischen Kontext war der Besuch Helmut Kohls in Na‐ mibia 1995, während dessen er es vermied, den Völkermord an den Herero bzw. Nama überhaupt zu erwähnen oder sich mit Vertretern der Opfer zu treffen ( Jamfa 2008: 202). Stattdessen betonte er „die besonderen Verdienste der Deutschsprachigen bei der Entwicklung des Landes“ (Zimmerer 2019: 24). Drei Jahre später sprach der damalige Bundespräsident Roman Herzog während seines Namibia-Besuchs 1998 lediglich von „eine[r] kurze[n] Periode gemein‐ samer Geschichte, die nicht sehr glücklich war“ (Herzog 1998). Zwar räumte er ein, dass „das Verhalten der Deutschen […] nicht in Ordnung“ war, behauptete jedoch, „[e]ine Entschuldigung […] sei nur eine Worthülse, die mehr schade als nutze. Außerdem liege das Ereignis allzu lange zurück“ (Pech 1998). Stattdessen sorgte er sich um die „Pflege der deutschen Sprache“ als Minderheitssprache in Namibia (Herzog 1998). In dem Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Kriegs rückte die Kolonialvergangenheit so zwar in Sichtnähe, wurde in der deutschen Bundespolitik jedoch kaum ernst genommen, geschweige denn problematisiert. Diese Epoche endete mit den New Yorker Al-Qaida-Anschlägen vom 11. Sep‐ tember 2001 und dem bald darauf eingeleiteten Krieg im Irak. In diesem Au‐ genblick, in dem eine sogenannte „Koalition der Willigen“ im „Krieg gegen den Terror“ mobilisiert wurde, lies sich nicht vorausahnen, dass dies der Ausbruch eines bis heute anhaltenden „globalen Bürgerkrieg[s]“ (Berardi 2016) sein sollte. Die Ausblendung des Genozids an den Herero bzw. Nama in Seyfrieds Roman kann in diesem Zusammenhang nicht nur als Symptom des historischen Un‐ wissens über die Vergangenheit gelesen werden, sondern steht auch für das bewusste Ausblenden einer globalen Konfliktlage, deren Konturen mit den Kriegen im Irak und in Afghanistan, mit der Etablierung des Guantanamo-La‐ gers im Januar 2002 und der gleichzeitigen Aufnahme der „Renditionsflüge“ (vgl. Bartelt / Muggenthaler 2006; Luftpost 2006) sowie dem späteren „Drohnenkrieg“ ab 2004 (Amnesty International 2018: 6-7, 51-61; siehe auch Chamayou 2015), beides unter wesentlicher Beteiligung Deutschlands, erst allmählich klar wurden. Die Kluft zwischen der „deutsche[n] Brille vom Krieg in Namibia [ge‐ meint ist Deutsch-Südwestafrika]“ und der „andere[n] Seite der Medaille - also [der] Perspektive der Nama und Herero“ (Loimeier 2004), die dem Roman Seyfrieds strukturell zugrunde liegt, steht so stellvertretend für eine anhaltende Kurzsichtigkeit bezüglich der globalen Situation, in der der Krieg gegen den Terror hauptsächlich auf Kosten von Bevölkerungen im Globalen Süden geführt 31 2.2 Kontext der Studie wird (vgl. z. B. Save the Children International 2019). Im Laufe der 2000er-Jahre wurde jedoch immer mehr mediale Aufmerksamkeit auf die anfangs unbeach‐ teten Opfer des Kriegs gegen den Terror gelenkt. Ab 2001, mit dem Ausbruch des bis heute andauernden Bürgerkriegs in Syrien, der 2015 die sogenannte „Flüchtlingskrise“ in Europa und insbesondere in Deutschland auslöste, wurde endgültig klar, welche Konsequenzen die eng miteinander verbundenen Fa‐ cetten des globalen Kriegs gegen den Terror für Europa hatten. Diese Erkenntnis wurde weiter gestärkt durch eine Reihe von ISIS -Terroranschlägen in Deutsch‐ land 2016 und 2017. Zudem wurden durch die ablehnenden Reaktionen mancher osteuropäischer Staaten gegenüber einer gemeinsamen EU -Politik nach 2015, die Wahl Donald Trumps zum US -Präsidenten und den Brexit-Volksentscheid 2016 sowie die Wahl Jair Bolsonaros zum brasilianischen Präsidenten 2018 un‐ missverständlich sichtbar, wie instabil das globale politische System geworden war. Allmählich ging dieses aufkommende Bewusstsein für die global ver‐ netzten Dimensionen der Konflikte in die zunehmende Wahrnehmung der be‐ reits seit Jahren von Wissenschaftler*innen angekündigten Klimakatastrophe über - einer Katastrophe, die nun nicht mehr ausschließlich als „eine ökologi‐ sche Herausforderung für die Menschheit“ verstanden wird, sondern, in den Worten des deutschen Außenministers Heiko Maas (2019) vor der UN -General‐ versammlung, „immer öfter [als] eine Frage von Krieg und Frieden“. Schritt‐ weise wird sichtbar, dass die heutige Krise in einem historischen System von Kolonialismus und Imperialismus wurzelt, das nicht nur globale Ungleichheiten, sondern auch planetare Zerstörungen hervorgebracht hat (Brand / Wissen 2017). Die seit der Jahrhundertwende aufflammende globale Krise mit ihren mannigfaltigen Aspekten konnte in den 1990er-Jahren in ihren heutigen, er‐ schreckenden Ausmaßen nicht vorhergesehen werden (vgl. Kennedy 1997). Die Unfähigkeit, in die Zukunft zu blicken und die erschreckenden globalen Ent‐ wicklungen der folgenden Jahrzehnte zu erahnen, ist eine tatsächliche Unfä‐ higkeit. Rückblickend das volle Ausmaß der kolonialen Gewalt der deutschen Vergangenheit und deren langfristige Auswirkungen zur Kenntnis zu nehmen, jedoch eine gewollte. Seyfrieds Herero ist durch die Art und Weise, wie der Text die im Titel angekündigte Fokussierung der Erzählung doch verfehlt, ein nega‐ tives Bespiel für einen Historismus manqué, dessen Blindheit für die Gegenwart und unmittelbar bevorstehende Zukunft nun vollends offensichtlich wird. Der Roman kann daher als Ansporn fungieren an eine Lektüre der jüngsten litera‐ rischen Darstellungen des Deutsch-Namibischen Kriegs nicht nur histo‐ risch-kontextualisierend, sondern auch gegenwartsorientiert und daher mit einem geschärften Bewusstsein für lebendige Verbindungslinien heranzugehen. 32 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie In diesem Sinne untersucht die vorliegende Studie diejenigen literarischen Strategien, die die heutige Herero-Fiktion dazu befähigen, eine affektive Ver‐ bindung zu Ereignissen und Subjekten herzustellen, die sowohl zeitlich als auch geografisch weit von unserer Gegenwart entfernt sind. Um dieses Projekt vo‐ ranzutreiben, wird eine Neuauflage des Jauß’schen Ansatzes der Rezeptionsäs‐ thetik unternommen. In Literaturgeschichte als Provokation (1970) nimmt Jauß die historischen „Erwartungshorizonte“ sukzessiver Momente der Textrezep‐ tion unter die Lupe, um deren „Wirkungsgeschichte“ aufzuzeigen. Der „Erwar‐ tungshorizont“, der heutzutage die Lektüre der hier untersuchten Herero-Fik‐ tion steuert, wird durch zweierlei Faktoren bestimmt: einerseits die sich verringernde Entfernung zwischen Afrika und Europa im Zuge einer gewaltigen afrikanischen Migrationswelle, die künftig eher zuals abnehmen wird (Smith 2019; UNDP 2019), andererseits die zunehmende Bedeutung Afrikas für Europa im Hinblick auf Rohstoffe (Dennin 2013). Angesichts einer gegenwärtigen Wie‐ derkehr der vergessenen (wenn nicht ganz unterdrückten) Nähe zu Afrika be‐ züglich der Themen „Demografie“, „Sicherheitspolitik“, „Ressourcen“ und „Kli‐ mamigration“ (vgl. Auswärtiges Amt 2019; Smith 2019; UNDP 2019) ist eine wieder relevant gewordene „Poetik der Relation“ (Glissant 1990) gefragt. Eine solche „Poetik der Relation“ könnte eine kreative Plattform bieten, auf der af‐ fektive Verbindungen zu Afrika wiederaufgebaut werden können. Zweck dieses Wiederaufbaus von affektiven Verbindungslinien wäre die Stärkung von ge‐ meinsamer Handlungsfähigkeit zusammen mit einem Afrika, das lange Zeit be‐ wusst von Europas Außengrenzen ferngehalten wurde. Ein solcher Wunsch ist keine utopische Träumerei, sondern benennt eine notwendige geopolitische Trendwende, die sich beispielsweise in den jüngsten „Afrikaleitlinien“ der Bun‐ desregierung abzeichnet: „Das Wohlergehen Europas ist mit dem unseres Nach‐ barn Afrika untrennbar verbunden“ (Auswärtiges Amt 2019: 2). Mit Blick auf solche geopolitischen Entwicklungen ist es wünschenswert, dass im Bereich des ästhetischen Schaffens eine „Ästhetik der Proximität“ (West-Pavlov 2018) neben einer nach wie vor politisch notwendigen Ästhetik der kritischen „Distanz“ (Felski 2015) in Erscheinung tritt. An dieser Stelle macht die sokratische Tradi‐ tion des kritischen Fragens Platz für eine genauso wichtige Philosophie des Antwortens, die auf einer gegenseitigen Nähe und „Responsivität“ basiert (Wal‐ denfels 1994). Solch eine Ästhetik der Nähe ist von elementarer Wichtigkeit in einem Zeit‐ alter, das von „bürgerlicher Kälte“ (Adorno 1971: 100-2) und einer „globalen Gleichgültigkeit“ (Neumann 2017) geprägt ist. Sowohl innerhalb der Grenzen Europas wie auch zwischen Europa und seinen nicht-europäischen Nachbarn 33 2.2 Kontext der Studie herrschen wütende Diskriminierung bzw. Ausbeutung und eine erschreckende Gleichgültigkeit angesichts dieser Zustände. Zunächst lässt sich in Deutschland zunehmend ein Eindruck der Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts feststellen. Diesbezüglich sagt die Meinungs‐ forscherin Renate Köcher über die 30bis 59-Jährigen: „Wenn die mittlere Ge‐ neration das gesellschaftliche Klima beschreibt, dann hat man das Gefühl, sie fröstelt“ (Mair 2018). Und Köcher weiter: Die mittlere Generation ist wie die gesamte Bevölkerung im Zwiespalt zwischen der wachsenden Zufriedenheit mit der materiellen Situation und dem Unbehagen über die Entwicklungen in Gesellschaft und Politik. […] Das gesellschaftliche Klima ent‐ wickelt sich nach dem Eindruck der mittleren Generation kritisch. Sie diagnostiziert vor allem […] zunehmende Vorbehalte gegenüber Ausländern; zunehmende Rück‐ sichtslosigkeit und weniger Hilfsbereitschaft; weniger Zusammenhalt in der Gesell‐ schaft. (Köcher 2018: 1) Diese weit verbreitete „bürgerlicher Kälte“ ist besonders ausgeprägt in Verbin‐ dung mit ausländischen Menschen, egal, ob sie sich noch in der eigenen Heimat befinden oder bereits in Deutschland eingereist sind. Eine solche „Kälte“ gegenüber Menschen ausländischer Herkunft manifes‐ tiert sich beispielsweise in den Parolen ausländerfeindlicher Gruppierungen in der deutschen Gesellschaft: „In Dresden skandierten Bürger bei einer Versamm‐ lung von Pegida ‚Absaufen! Absaufen! ‘ im Chor. Sie meinten das Schiff Mission Lifeline, das voller Geflüchteter tagelang im Mittelmer herumirrte“ (Topçu 2018: 1). Angesichts des Ausmaßes der sich weiterhin im Mittelmeer abspielenden Tragödie (gestorben waren bis Ende September 2018 fast 2.000 Menschen [Mis‐ sing Migrants 2018], 2017 waren es mehr als 5.000, 2016 mehr als 3.000 und 2015 fast 4.000 [ IOM 2016; IOM 2018]) eine erschreckende Gleichgültigkeit. Bezeich‐ nend für diese Art „bürgerlicher Kälte“ steht die Aussage des damaligen südaf‐ rikanischen Justizministers Kruger zum Foltertot des „Black Conscious‐ ness“-Anführers und Anti-Apartheidaktivisten Steve Biko: „Dit laat my koud“ [„Das lässt mich kalt“] (zitiert nach Woods 1987: 214). Noch weiter zurück, zwar in der fiktiven Geschichte, jedoch ungefähr zeitgleich mit der Aussage Krugers, liegt Timms Beschreibung (2000 [1978]: 234 / 2020 [1978]: 244) des Offiziers der deutschen Schutztruppen Deimling als „kühl-distanziert“ gegenüber den afri‐ kanischen Opfern. Solche „ungrievable lives“ (Butler 2004; 2009) sind per Defi‐ nition die Leben derer, die von „uns, hier“ weit entfernt sind. Allzu oft sind das afrikanische Leben. Dazu kommentiert Achille Mbembe in Bezug auf Afrika, unseren Nachbarn: 34 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Dans maints régimes modernes du discours et dans la connaissance, le terme „Afrique“ évoque presque automatiquement un monde à part; un monde avec lequel beaucoup de nos contemporains éprouvent de la difficulté à s’identifier; une réalité dont ils ne savent parler que sous une forme lointaine et anecdotique […] Pourquoi? Parce que, à leurs yeux, la vie en Afrique n’est jamais la vie humaine toute courte. Elle apparaît très souvent comme la vie d’autres gens dans quelque autre lieu, ailleurs. (Mbembe 2017b: 382) Das Prinzip der „Entfernung“ und der „Distanz“ liegt dem Kolonialunternehmen und dem „Anspruch der Ansiedler, daß die ‚soziale Distanz‘ und das ökonomi‐ sche Interesse mit allen Mitteln der Selbstjustiz durchgesetzt werden dürften“ (Bley 1968: 298), zugrunde. In den heutigen Einstellungen treten jene affektiven Strukturen der kolonialen „Distanz“ bzw. der „Kälte“ erneut zu Tage - an ver‐ setzten Orten, aber mit in vielerlei Hinsicht wesentlich unveränderten Inhalten. Bezüglich der ausweichenden Redewendungen, die von der Staatsministerin Pieper anlässlich der Übergabe menschlicher Überreste namibischer Provenienz 2011 verwendet wurden, notieren Kößler und Melber (2017: 65), dass „[d]ie Um‐ stände des Todes der Menschen, deren Leichen im Dienste einer fragwürdigen Wissenschaft zerfleddert wurden, […] in dieser bürokratischen, offenbar vor‐ gestanzten Sprache, die ständig auf die gleichen ungelenken Wendungen zu‐ rückfällt, nicht der Rede wert [erscheinen]“ - stattdessen manifestieren die neutralen Floskeln nur „Kühle, ja eisige Distanz“. Auch Wieczorek-Zeul (2017: 10) nennt die Formulierungen „respektlos und ohne jede Empathie“. Durch die Wortwahl sollte sowohl menschliche wie geschichtliche Nähe, die eine gefähr‐ liche, geschichtlich-moralische Verantwortung samt möglichem Handlungs‐ druck mit sich hätte bringen können, vermieden werden. Man darf jedoch nicht vergessen, dass auf dem Höhepunkt der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015, die eine nennenswerte Zahl Afrikaner*innen nach Deutschland brachte, auch eine Welle „bürgerlicher Nähe“ in Erscheinung trat. In Deutschland allein engagierten sich ca. sieben Millionen freiwillige Helfer*innen (Bade 2016: 73, 76) - d. h. fast zehn Prozent der Bevölkerung war die Situation der neu angekommenen Geflüchteten nicht gleichgültig. Mit einem Blick in die Vergangenheit könnte man an die „Solidarität“ vieler DDR -Bürger mit dem Befreiungskampf der SWAPO denken, die „[b]ei aller zentralistischen Steuerung […] vielen Menschen eine Herzenssache“ war: Aus dieser Zeit bestehen weiterhin persönliche Freundschaften. Selbst ein ehemaliger hoher SWAPO -Funktionär, der später als Führer der oppositionellen SWAPO -Demokraten wahrlich keiner Sympathien für die sozialistischen Länder verdächtig ist, erwähnt die Herzlichkeit und Wärme, die ihn in der DDR empfing, die er damals als „zweite Heimat“ empfand. 35 2.2 Kontext der Studie Die „zahlreichen persönlichen Bindungen“ zwischen DDR -Entwicklungsar‐ beiter*innen und SWAPO -Mitgliedern, die in vielen Fällen noch bestehen, zeugen von einer Nähe zu Afrika, die über die Grenzen des Kalten Kriegs hi‐ nausgeht und bis in den heutigen Kontext reicht (Schleicher 2006: 126). Jedoch auch diese sehr erfreuliche Solidarität schrumpfte innerhalb relativ kurzer Zeit wieder zugunsten der erneut wachsenden Fremdenfeindlichkeit (Emnid 2017). Im Deutschland der Jetztzeit findet diese Verschiebung weiterhin statt bzw. nimmt mit steigender Ablehnung gegenüber allen Ausländern, Migranten und Geflüchteten weiterhin zu (Decker / Brähler, Hg. 2018). Das Phänomen der „Kälte“ und „Distanz“ ist nicht nur eine Sache der politi‐ schen Lager von Mitte und rechts bzw. der mittleren und unteren Gesellschafts‐ schichten, sondern spiegelt sich auf höchster staatspolitischer Ebene wider. Die aktuelle Afrika-Politik Deutschlands ist ausschließlich auf die Bekämpfung von sogenannten „Fluchtursachen“ ausgerichtet. Das heißt, die vermeintliche An‐ näherung an Afrika, die in letzten Jahren umjubelt wurde, ist zum Teil nur eine Fassade für eine Strategie des Auf-Abstand-Haltens. Der Wunsch nach Abstand geht klar aus den Formulierungen des Auswär‐ tigen Amtes hervor: Die globalen Migrationsbewegungen der letzten Zeit sind nur ein Beispiel von vielen: Die Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent können sich in kürzester Zeit ganz unmittelbar auf Deutschland und Europa auswirken. Eine nachhaltige außen‐ politische Strategie muss darum umfassend ansetzen. (Auswärtiges Amt 2018) „Unmittelbare Auswirkungen“ heißt im Klartext „Migrationsbewegungen“ nach Europa. Etwas vorsichtiger, aber dafür differenzierter formuliert, heißt es in den „Afrika-Leitlinien“: Zum Gesamtbild gehört auch, dass Krisen und Auswirkungen von Konflikten in Afrika (Flucht, organisierte Kriminalität, Proliferation, Terrorismus, Piraterie u. a. m.) Europa und Deutschland immer unmittelbarer treffen. Wachsende Verbindungen zum Maghreb verstärken Probleme subsaharischen Ursprungs. Instabilität löst Migrati‐ onsbewegungen aus, die wiederum Menschenhandel und soziale Unruhen befördern. Die innen- und sicherheitspolitische Kooperation mit Afrika liegt in unserem natio‐ nalen Interesse. Wir können in einer vernetzten und globalisierten Welt, in einem Europa ohne Grenzen, Sicherheit in Deutschland nur dann gewährleisten, wenn wir auch in anderen Regionen dazu beitragen, rechtsstaatliche Strukturen und funktionierende Sicherheitsbehörden aufzubauen. (Auswärtiges Amt 2018a: 4; Hervorhe‐ bungen im Originaltext) 36 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Die Aussage bleibt unverändert, wie die kursivierten Textstellen verdeutlichen: Afrika kann, wenn es in Berührung mit Europa kommt, ausschließlich als Be‐ drohung aufgefasst werden. Daher gilt als Hauptziel des deutschen Engage‐ ments in Afrika nicht etwa der reale Aufbau von mannigfaltigen und nachhal‐ tigen Verbindungen und Kooperationen, sondern es soll vor Ort nur in die Verhinderung einer übermäßig starken Süd-Nord-Migration investiert werden und in nichts anderes. Eine globale Vernetzung der Welt wird aufgerufen, welche jedoch nicht in allzu ausgiebige, konkrete demografische (d. h. zwischen‐ menschliche) Kontakte münden soll. Auch Neuauflagen der bundesrepublika‐ nischen Afrikapolitik betonen weiterhin nur die Absicht, „verstärkt die Flucht‐ ursachen in Herkunftsländern [Afrikas] ressortübergreifend mit Instrumenten und Ansätzen der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik an[zu]gehen“ (Auswärtiges Amt 2019: 20; Hervorhebungen im Originaltext). In solchen Absichtserklärungen ist wenig von der langen geschichtlichen Verbindung zwischen Europa und Afrika zu finden, wie sie etwa im Opus magnum von Braudel (1990) zum Mittelmeer als geschichtsträchtigem konti‐ nentübergreifenden Kultur- und Handelsraum dargelegt wird. Stattdessen wird zwischenmenschlicher Kontakt bzw. Kulturkontakt als bloße Gefahr betrachtet. Nicht einmal Handelskontakte, die seit jeher eine zentrale Überbrückungsfunk‐ tion übernommen haben (z. B. Jardine 1996), fungieren hier als Plattform für menschliche Kontakte: Laut Zapf (2018) sieht die deutsche Politik […] den wirtschaftlichen Aufbau inzwischen aus Angst vor einem Massenzustrom afrikanischer Migranten vorrangig durch das Brennglas der Migrati‐ onsabwehr. Merkel besucht nicht mehr den wichtigsten Handelspartner Südafrika, sondern die Transitländer Mali, Niger und Äthiopien 2017. Nun [d. h. 2018] sind es mit Senegal, Ghana und Nigeria drei Herkunftsländer westafrikanischer Flüchtlinge. Angesichts der Tatsache, dass die Migration aus Afrika das Gesellschaftsbild Deutschlands zunehmend und immer sichtbarer prägt (Mikrozensus 2017; Obute 2017) und prägen wird (Smith 2019), ist es Ziel dieser Studie, einen inno‐ vativen literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansatz zu erproben, der der heutigen Sachlage Rechnung trägt. Die Studie nimmt Kenntnis von den rigoros historisierend-kontextualisierenden Ansätzen, die bislang die Analyse der He‐ rero-Fiktionen geleitet haben, und übernimmt an vielen wichtigen Stellen ihr Wissen, verschiebt jedoch den Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Arbeit auf eine „präsentistische“ Lektüre der Texte (vgl. Grady / Hawkes, Hg. 2007) anhand einer affektorientierten Theorie literarischer Konnektivität. Der „präsentistische“ Ansatz stammt aus der Überzeugung, dass ein realistischer und nüchterner Blick auf die gegenwärtigen „Multikrisen“ und deren ungeheure 37 2.2 Kontext der Studie Dringlichkeit die literaturwissenschaftliche Analyse leiten sollte. Damit geht eine Schwerpunktverschiebung von „fachinternen“ Größen - etwa ästhetischen Kriterien oder der Geschichte von Paradigmenwechseln innerhalb des Fachs - auf „fachexterne“ Faktoren als treibende Kräfte für die Rahmensetzung der Grundlagenfragen der Geisteswissenschaften einher (vgl. West-Pavlov 2018b). Dieser Ansatz arbeitet mit der Leitkategorie der Konnektivität und greift daher auf eine lange theoretische Tradition zurück, die im Folgenden näher erläutert werden soll. 2.3 Stand der Forschung Seyfried bemühte sich in vielen Interviews „weniger als Schriftsteller denn als Chronist und ausgewiesener Experte für kolonialgeschichtliche Zusammen‐ hänge“ aufzutreten (Hermes 2009: 223). Wesentlich für diese Darstellung der texttypisierenden Einordnung des Romans ist die am Anfang des Buchs (Sey‐ fried 2003: 4) stehende Behauptung: „Die geschilderten Ereignisse des Jahres 1904 sind, ebenso die Verhältnisse im Lande, mit Sorgfalt recherchiert worden.“ Dazu findet man am Ende des Romans eine angehängte „Nachbemerkung“ (ebd.: 602-3). Hier wird eine Auflistung der wissenschaftlichen Arbeiten geboten, die die Fiktion unterfüttern. Seyfried bezieht sich in seiner Darstellung der ge‐ schichtlichen Ereignisse jedoch auf einige äußerst problematische historiogra‐ fische Texte - wie zum Beispiel die populärwissenschaftliche Monografie Sturm über Südwest von Walter Nuhn (1989; vgl. Bürger 2017: 252-4) -, so dass sich das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaften und Fiktion als nicht selbst‐ verständlich entpuppt. Daher ist eine Einbettung der vorliegenden Studie im gesamtwissenschaftlichen Umfeld unbedingt erforderlich. Von zentraler Bedeutung ist dabei die seit einigen Jahrzehnten wachsende Anzahl allgemeiner Werke zum Hintergrund der deutschen Kolonialgeschichte. Neben einige Überblickseinführungen zu diesem Thema (Conrad 2016; Speit‐ kamp 2005) gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Kulturgeschichte des deutschen Imperialismus und zur Kolonisierung (Berman 1998; Friedrichs‐ mayer et al., Hg. 1998; Honold / Scherpe, Hg. 2004; Kundrus, Hg. 2004; Per‐ raudin / Zimmerer, Hg. 2011; Schulze et al., Hg. 2008; Zantop 1997; Zimmerer, Hg. 2013). Mit spezifischem Bezug auf Deutsch-Südwestafrika ist besonders die bahnbrechende Arbeit von DDR -Historikern, allen voran Drechsler (1980; 1984; 1984 [1966]; 1996), hervorzuheben. Ebenfalls erwähnenswert ist die daran an‐ schließende Forschung von Geschichtswissenschaftlern aus der Bundesre‐ publik, darunter Bley (1968), Böhlke-Itzen (2004), Zeller / Zimmerer, Hg. (2003a), 38 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Zeller / Zimmerer, Hg. (2005) und Zimmerer (2004). Eine vergleichende Analyse der Forschungen der DDR -Historiker und der westdeutschen Historiker von Bürger (2017) liefert faszinierende Einblicke in diese „Verflechtungsgeschichte“ der gesamtdeutschen Geschichtswissenschaften. Aus der englischsprachigen Welt liegen die an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Arbeiten von Olusoga und Erichsen (2011) sowie von Sarkin (2011) vor. Von besonderer Bedeutung in diesem Bereich sind die allesamt extrem kontroversen Forschungsarbeiten, die mit sehr verschiedenen Akzentsetzungen die möglichen Verbindungen zwi‐ schen dem Hererobzw. Nama-Genozid und dem Holocaust darzulegen versu‐ chen (Fischer / Čupić 2015; Olusoga / Erichsen 2011; Zimmerer, Hg. 2011). Solche Arbeiten werden jedoch von vielen Forschern (z. B. Dedering 2012) zurückge‐ wiesen; vor allem wäre zu fragen, warum die Forschung überhaupt mit solcher Hartnäckigkeit nach kolonialen Vorgängern des Holocausts sucht. Eine solche rückblickende, meta-historiografische Perspektive, wenn auch nicht eng an die Frage des Holocausts geknüpft, verfolgt die Monografie von Bürger (2017). In ihr wird festgehalten, dass die historische Analyse des Deutsch-Namibischen Kriegs und des darauf folgenden Völkermords einen gewissen epistemischen Sättigungsgrad erreicht hat. Folglich sei ein Perspektivwechsel hinsichtlich des geschichtswissenschaftlichen Gegenstands notwendig geworden. Auch wenn sich die vorliegende Studie auf die Analyse belletristischer Texte beschränkt, wird im Grunde ein anderer Umgang mit der Geschichte erprobt. Nicht so sehr das Wissen um Geschichte, obschon dies unabdingbar bleibt, son‐ dern der gelebte Bezug dazu, soll aufgewertet werden. Seyfrieds Herero fungiert jedoch als Beleg dafür, dass der gelebte Bezug zur Geschichte keineswegs für historiografische Objektivität oder Richtigkeit bürgt. Umso wichtiger ist es daher, das Wissen um Geschichte mittels einer Überprüfung der Modi der his‐ toriografischen Investitionen zu kontrollieren. Die wachsende Wirkung postkolonialer Theorien auf die Germanistik bietet einen weiteren Ansatzpunkt für die spezifisch literaturwissenschaftlichen Fa‐ cetten dieser Studie. Hierzu sind die Arbeiten von Dunker (Hg. 2005; 2008), Hermes / Gutjahr (Hg. 2011), Hoffmann / Morrien (Hg. 2012), Honold / Simons (Hg. 2002), Ikobwaa (2013) und Warnke (2009) zu erwähnen. In neueren Sam‐ melbänden, wie dem von Dürbeck / Dunker (Hg. 2014), aufgestellte „Bestands‐ aufnahmen“ bzw. „theoretische Perspektiven“ zielen auf eine Weiterentwick‐ lung der mittlerweile in ihrer eher randständigen Lage gut etablierten postkolonialen Germanistik in Richtung „transkultureller“ (anstatt „postkolo‐ nialer“) Studien, postkolonialer Ökokritik sowie eine rigorosere Erforschung der Überlappungen zwischen NS -Zeit und kolonialem Erbe (Dürbeck 2014: 68-70) ab. Diese Desiderata sind zweifelsohne allesamt begrüßenswert, stellen aber nur 39 2.3 Stand der Forschung minimale Erneuerungen des literaturkritischen Betriebs im Bereich der postko‐ lonialen Germanistik dar. Die weitere Beschäftigung mit den Verbindungen zwischen kolonialen Praktiken und der „Kolonialpolitik“ der NS -Epoche knüpft lediglich an eine bestehende Tradition an, die faktisch bereits mit der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer / Adorno 1971) beginnt. Der vermeintliche Rich‐ tungswechsel weg von den postkolonialen hin zu den transkulturellen Studien weist auf eine Paradigmenerschöpfung hin, die jedoch im Grunde einen „The‐ orieimport“ aus dem englischsprachigen Bereich darstellt und nicht viel mehr als eine Entpolitisierung der postkolonialen Impulse der Germanistik bewirkt. Lediglich die Wende zur postkolonialen Ökokritik, welche auch die Gefahr einer Entpolitisierung birgt, deutet auf die Möglichkeit eines Andockens an die Ge‐ genwart und die allgegenwärtige Bedrohung des Klimawandels, die eng mit der kolonialen bzw. imperialen Geschichte des Kapitalismus zusammenhängt (Klein 2016). Auch sonst bewahren sämtliche im Sinne Dürbecks zu einer Erneuerung der postkolonialen Germanistik aufzugreifenden Impulse einen vorsichtigen Abstand zur Gegenwart und ihren Akteuren. Das in der euroamerikanischen Literaturwissenschaft weitgehend vorherr‐ schende Primat des Historismus sorgt für einen Sicherheitsabstand zwischen dem wissenschaftlichen Subjekt und dem Objekt der Wissenschaft, für ein „con‐ textualising which is also, and more fundamentally, a containment“. Es handelt sich häufig um einen „historicism which removes the [literary text] to a safe distance, to a place where [the text’s historical] difference can’t really challenge us“ (Dollimore 2013: xvi). Dollimores Aussage ist sicherlich absichtlich über‐ spitzt formuliert, stellt aber die dringende Frage der Relevanz der auf die Ver‐ gangenheit ausgerichteten Geschichtswissenschaften zur Debatte. Die gängige Antwort auf diese Frage, die Geschichte liefere wichtige Lehren für die Zukunft, überzeugt jedoch angesichts der schieren Geschwindigkeit gegenwärtiger Transformationen der globalen Lage immer weniger. Die Gegenwart zeichnet sich aber durch eine ungeheuerliche Beschleunigung sowohl des sozioökono‐ mischen Lebens (Rosa 2005, 2013) wie auch des geradezu chaotischen globalen Zerfalls aus, vor allem in Sachen Entdemokratisierung (Kurlantzick 2013; Run‐ ciman 2018a) sowie stetig steigender Gefahren im Zuge der Erderwärmung ( Jones 2017; Mann / Wainright 2017). Der Klimawandel findet statt unter Be‐ dingungen, die durch positive Feedback-Schleifen oder kaskadierende Beschleu‐ nigungsprozesse gekennzeichnet sind (Wallace-Wells 2019): „The climate crisis […] is accelerating faster than most scientists expected“ (Ripple et al. 2019: 2); „Der Klimawandel ist schneller als wir“ (Guterres 2019). Daraus entsteht eine planetare Gesamtlage, für die es keinen historischen Präzedenzfall gibt: 40 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie The rates of system changes associated with limiting global warming to 1.5° with no or limited overshoot have occurred in the past within specific sectors, technologies and spatial contexts, but there is no documented historic precedent for their scale (IPCC 2018: 21). Die Tatsache, dass „die Temperaturen überall auf der Welt und gleichzeitig steigen“, umgerechnet „auf 98 Prozent der Erde“, so jüngste Studien, „ist ein starker Hinweis, dass die von Menschen verursachte globale Erwärmung bei‐ spiellos ist“ (Marks 2019, in Bezug auf Neukom et al. 2019). Und auch in Bezug auf Klimawandelfakten, wie die gerade genannten, muss festgehalten werden, dass sie meist zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bereits überholt und nicht mehr aktuell sind (Gooding 2019: 35; Morton 2019: 13). Mit anderen Worten: Die Vergangenheit liefert heutzutage nur bedingt verwertbare Lehren für die Zu‐ kunft. Deshalb kann der rückwärtsgerichtete Blick des Historismus der Gegen‐ wart und vor allem der nahen Zukunft, insbesondere in Bezug auf die rasanten Änderungen in der postkolonialen Welt bzw. im Globalen Süden, kaum gerecht werden. Die daraus entstehende Notwendigkeit einer Wende literaturwissenschaftli‐ cher Methoden im Allgemeinen und der postkolonialen Literaturwissenschaften im Besonderen und hier speziell im Kontext der Aufarbeitung des Deutsch-Na‐ mibischen Kriegs sowie des Genozids an den Herero bzw. Nama wird durch die Tatsache untermauert, dass in der jüngsten Zeit so gut wie keine neuen Arbeiten zu letztgenanntem Thema erschienen sind. Das Paradigma des literaturwissen‐ schaftlichen Historismus hat sich gewissermaßen erschöpft. Im Zuge der hun‐ dertjährigen Erinnerung an den Völkermord erschienen einige Arbeiten zum literarischen Diskurs der Kolonialepoche mit Bezug zum Deutsch-Namibischen Krieg (Brehl 2009: 101-42; Wassink 2004). Die Monografie von Hermes (2009) erweiterte den diesbezüglichen Kanon literarischer Texte bis in die Gegenwart. Bezeichnend ist jedoch, dass seit ihrem Erscheinen keine weiteren Veröffent‐ lichungen von Bedeutung zu diesem spezifischen Thema veröffentlicht wurden. Es ließe sich vermuten, dass das Paradigma der „koloniale[n] Diskursanalyse“ (vgl. Chrisman / Williams, Hg. 1994), bei aller wissenschaftlichen Bedeutung, erst einmal in seiner Nützlichkeit ausgeschöpft ist. Genau dies scheint parado‐ xerweise die erstaunlich detaillierte, ja geradezu enzyklopädische Monografie von Göttsche (2013) zum Thema „Afrika in der Gegenwartsliteratur“ zu belegen. Seine Studie vermittelt durch die Methodik der panoramaähnlichen Überblicks‐ literaturgeschichte den Eindruck, dass das Feld als mehr oder weniger abge‐ schlossenes Gebiet betrachtet werden kann. Das Versiegen der literaturwissen‐ schaftlichen Produktion zu diesem Thema mag auch daran liegen, dass die einschlägigen geschichtlichen Jubiläen (2004, 2009 usw.) immer länger zurück‐ 41 2.3 Stand der Forschung liegen, so dass die oberflächliche Brisanz der Thematik rapide abnimmt. Ferner liegt die Vermutung nahe, dass das Thema auch unter der allgemeinen Krise der „postkolonialen Studien“ leidet, denen seit Jahren eine „potenzielle Erschöp‐ fung“ diagnostiziert (Yaeger in Agnani et al. 2007: 633) und deren „Jenseits“ eruiert ( Jain 2006; Loomba et al., Hg. 2007; San Juan 1999) wird. Ob das Schwinden der literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit für das damalige Deutsch-Südwestafrika ein Symptom einer breiteren Paradigmenkrise ist, sei jedoch dahingestellt. Die Gründe sind vermutlich verwandter Natur und liegen im Schwinden eines auf Distanz basierenden literaturwissenschaftlichen An‐ satzes ( Jameson 1992: 48). Gleichzeitig erscheinen jedoch weiterhin Studien zu einzelnen Autoren wie Uwe Timm (Almstadt 2013; Basker, Hg. 1999; Ott 2012), so dass man annehmen kann, dass der Leserbezug zu solchen Texten nach wie vor lebendig bleibt. Timms Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]) findet immer noch eine breite Le‐ serschaft, was durch die Neuauflage der KiWi-Taschenbuchausgabe 2015 und den Druck der 15. Auflage der sehr weit verbreiteten dtv-Taschenbuchausgabe 2017 belegt ist. Die Erscheinung einer neuen dtv-Ausgabe 2020 mit einem Nach‐ wort von Robert Habeck hebt die Bedeutung des Werkes noch zusätzlich hervor. Solche Phänomene stehen keineswegs im Widerspruch zum anscheinend ab‐ nehmenden literaturwissenschaftlichen Interesse an belletristischen Darstel‐ lungen Deutsch-Südwestafrikas. Der anhaltende Erfolg von einzelnen Texten wie Morenga deutet darauf hin, dass nicht nur ein kognitives Interesse, sondern darüber hinaus ein affektiver Bezug sowohl zum Stoff wie auch zum textuellen Umgang mit diesem besteht. Weder das Thema und die kritische Auseinander‐ setzung mit diesem beim lesenden Publikum noch die Texte dazu sind überholt. Die Evidenz der Verkaufszahlen und die Vielfalt der Texttypen der in den letzten Jahren zum Thema erschienenen Romane, die in der vorliegenden Studie un‐ tersucht werden, untermauern dies. Zu nennen sind hier der historische Roman (Hoffmann, Die schweigenden Feuer, 1994; Seyfried, Herero, 2003), die Autobio‐ grafie bzw. der Familienroman (Wackwitz, Ein unsichtbares Land, 2003), das Fa‐ miliendrama (Paluch / Habeck, Der Schrei der Hyänen, 2004) oder der Krimi ( Jaumann, Der lange Schatten, 2016). Teilweise, wenn nicht gänzlich, verjährt sind hingegen die herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Zugänge zu den Texten. Umso deutlicher wird, dass hier neue, zusätzliche Ansätze gefragt sind, um jenseits von historisch-kontextualisierenden Studien in der Tradition der kolonialen Diskursanalyse aktuelle und passendere Interpretationszugänge zu jenen nach wie vor brisanten Fiktionen zu finden. Auch die kritische Einstellung zum Thema Deutsch-Südwestafrika besteht weiterhin über eine affektiv-mora‐ lische Verbindung, die es anhand einer Lektüre des paradigmatischen Texts 42 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Morenga (Timm 2000 [1978] / 2020 [1978]) neben einigen anderen oben ge‐ nannten Romanen in der vorliegenden Studie zu untersuchen gilt. 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Der Protagonist in Seyfrieds Herero, Carl Ettmann, ist Kartograf und wird bald nach seiner Ankunft in Deutsch-Südwestafrika zur Schutztruppe eingezogen. Die Zusammenhänge zwischen Kartografie, kolonialer Eroberung und Koloni‐ alkrieg sind hinreichend dokumentiert (Gräbel 2015: 227-82; Hafeneder 2008; Kramann 2016; Rottland 2002; Stockhammer 2006). Nicht nur symbolisch kom‐ munizierten Karten die Besitzansprüche der Kolonialherren, sondern sie waren auch in konkreten Kriegshandlungen und Eroberungsreisen wichtige Wissens‐ apparate für die geophysische Machtübernahme bzw. deren Erhalt. Der Kolo‐ nialkartograf ist daher einerseits eine Verkörperung der Foucault’schen Regel des Wissens als Macht: Wenn man in Südwest einen nach dem Weg fragen kann, dann ihn, den Neuankömm‐ ling Carl Ettmann. Seine Kartenausrüstung ist umfangreich und auf dem neuesten Stand […]. Die Topographie, die Beschreibung eines Ortes oder einer Gegend also, ist sein Beruf; aber sein eigentliches Interesse geht weit darüber hinaus und gilt dem zu kartographierenden Land in seiner Gesamtheit. Ettmann will nicht nur die Karte mit Inhalten füllen, sondern das gezeichnete Gebiet auch kennenlernen und soweit wie möglich verstehen, so daß es „sein Land“ wird. […] Die Silhouetten der Bergzüge, die Formen der Bäume, die Tiere und Menschen, ihre Eigenarten, Geschichte und Ge‐ bräuche, Baustile, Klima und Wetter, alles, alles und jedes interessiert ihn. Darin ist er Alexander v. Humboldt nicht unähnlich. Dessen Beobachtungsgabe oder „Sehver‐ mögen“ er genauso bewundert wie sein unermüdliches Streben nach Kenntnis und Verständnis, nach umfassendem Begreifen. Was man nicht versteht, schrieb Goethe, besitzt man nicht. (Seyfried 2003: 35, 37) Klarer kann das Verhältnis von Kartografie und kolonialer Landnahme nicht ausgedrückt werden. Andererseits sind Kolonialkarten jedoch indigenem Wissen gegenüber weitgehend blind bzw. können dieses nicht kodifizieren, und übersehen oder verfehlen daher viele Ressourcen: „N. B. Die der Karte zugrun‐ deliegenden Materialien beruhen zum Teil nur auf flüchtigen Krokis“ (ebd.: 37). Seyfrieds Roman Herero positioniert sich also implizit im kartografischen Machtgefüge des Kolonialismus. Wie bereits angemerkt, ist es kein Zufall, dass die gebundene Ausgabe auf den inneren Buchdeckeln Kolonialkarten reprodu‐ ziert (die Karten fehlen in der Taschenbuchausgabe von 2004). Signalisiert der 43 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Roman damit doch nicht nur einen Authentizitätsanspruch, der auf einer Viel‐ zahl von zeitgenössischen Dokumenten wie Fotografien, Berichten und eben Landkarten fußt, sondern der Text sagt dadurch auch etwas über seine eigene ästhetische Strategie aus: Er beansprucht implizit denselben Wahrheitsstatus der Kolonialfotografie bzw. -kartografie, der diesen Techniken zur Zeit der Er‐ oberung beigemessen wurde. Der Roman stellt sich so in eine Tradition des Realismus, der meint, durch solche Techniken der Repräsentation Land und Leute wahrheitsgetreu und lückenlos abzubilden und somit absolut in Besitz zu nehmen. Vor allem die Kolonialvergangenheit wird durch den dokumentarischen Realismus vermeintlich vollständig erfasst - mit dem Ergebnis, das der (deutsche) Diskurs des Wissens als epistemologische Macht erneut bestätigt wird. Wie hohl aber diese epistemologische Macht tatsächlich ist, wurde bereits oben am Beispiel der Verdrängung des Völkermords im historiografischen Pro‐ jekt des Romans gezeigt. Es gilt im Folgenden also nicht so sehr, die Kolonialgeschichte neu zu karto‐ grafieren bzw. in kritischen Fiktionen wiederzugeben - diese Aufgabe ist bereits mehr als ausführlich von mehreren Historikern bzw. Autoren, oft auch in ge‐ genseitiger Zusammenarbeit, durchgeführt worden (so diente zum Beispiel Mo‐ renga als Blaupause für kritische Historiker der 1980er [Bürger 2017: 225-35]) -, sondern anhand dieser Historiografie die Gegenwart und den Bezug zur Gegenwart zu kartografieren. Bekanntlich diagnostizierte Fredric Jameson (1992: 43-4) einen Verlust der Fähigkeit des kognitiven Kartografierens unter der Ägide der Postmoderne und schrieb der Kunst das Potenzial zu, diese Fä‐ higkeit zu erneuern (ebd.: 50). Jameson zufolge ist die Rolle der Kunst im Zeit‐ alter der Postmoderne, die Mediation der „representation of the subject’s Ima‐ ginary relationship to his or her Real conditions of existence“ (ebd.: 51; bezugnehmend auf Althusser 1976: 114-7), mit anderen Worten, „to enable a situational representation on the part of the individual to the vaster and properly unrepresentable totality which is the ensemble of society’s structures as a whole“ ( Jameson 1992: 51). Jamesons Beschreibung der Aufgabe der kognitiven Kartografie bleibt nach wie vor brisant, vor allem weil die Komplexität der ak‐ tuellen globalen Lage bei Weitem die der Postmoderne des ausgehenden 20. Jahrhunderts übersteigt. Angesichts der höchst komplexen Schnittstellen zwischen heutigen Lebensformen und dem globalen Neoliberalismus, schreibt Nealon (2016: 113), benötigen wir neue Formen des kognitiven Kartografierens: „[T]he mesh of life and neoliberalism at the molecular level is morphing very quickly indeed, and we need a similarly robust biopolitics, one that moves at the level of life, if we are to diagnose and respond to it.“ Und er führt fort: „[T]his commits us to going forward to a diagnostic rather than a primarily moral 44 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie (proper versus improper) critical discourse about life - to diagnosing what our ‚doing does‘ within an expanded mesh of life“ (ebd.: 121), womit er Foucaults Aussage „people know that they do; they frequently know why they do what they do; but what they don’t know is what they do does“ kommentiert. Mit anderen Worten, die Aufgabe des kritischen Denkens für morgen besteht darin, eine kartografische Diagnose der komplexen netzwerkartigen Zusammenhänge der heutigen Welt zu erstellen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Aufgabe ist das Verstehen der Geschichte aus heutiger Sicht, aber vor allem im Rahmen gegenwärtiger Zusammenhänge. Es geht nicht nur darum zu verstehen, wie die Vergangenheit war und zu beschreiben, „wie es gewesen ist“, sondern auch die kausalen Bezüge und Beziehungen - im breitesten Sinne und unter Berücksich‐ tigung der Vergangenheit - in der Gegenwart zu verstehen und zu erleben. Be‐ sonderes Augenmerk wird dabei auf die heutigen Beziehungen zu Afrika gelegt, die im Folgenden mit Hilfe des Begriffs „Affekt“ näher erläutert werden. Zu‐ nächst gilt es aber, die Werkzeuge und Techniken des kognitiven Kartografierens zu erläutern, d. h. den theoretischen Bezugsrahmen der Studie darzulegen. Die theoretischen Bezüge der Studie sind mehrschichtig. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die literaturwissenschaftliche Analyse im Rahmen einer Verbin‐ dung des hic et nunc des analysierenden Subjekts zu den Texten, zu den darge‐ stellten historischen Ereignissen und zu den heutigen Räumen der geschichtli‐ chen Ereignisse untersuchen. Die verschiedenen Theoriestränge bedürfen einer detaillierten und jeweilig gesonderten Erläuterung. 2.4.1 Die gegenwärtige Multikrise In Seyfrieds (2003: 460) Schilderung der Auseinandersetzung zwischen dem Gouverneur Leutwein und dem General Leutnant von Trotha wird mittels er‐ lebter Rede von einem „Kaffernaufstand am Arsch der Welt“ gesprochen. Die imperiale Weltpolitik, wie sie in Berlin bestimmt wird, unterstützt von „Banken, Handel, Industrie und ihre[n] Vertreter[n] im Reichstag“ oder gelegentlich von „ein paar sozialdemokratischen Negrophilen“ (ebd.: 460) widerlegt, ist weit ent‐ fernt. Seyfrieds Roman bietet eine Sicht der Weltgeschichte von der Peripherie aus. Dennoch positioniert sich das Buch, allein durch seinen Umfang und durch die epische Breite der Handlung (vgl. Lukács 1963 [1920]), als eine Art an den Rand der Weltgeschichte gerücktes Krieg und Frieden: Man denke an Friedrich Langes 1907 in Windhoek veröffentlichten Bildband Deutsch-Südwest-Afrika: Kriegs- und Friedensbilder (Lange 2012 [1907]). Seyfrieds Herero steht ambivalent zur Weltgeschichte: Einerseits beansprucht der Roman nach dem gattungsge‐ schichtlichen Muster des historischen Romans (Lukács 1955 [1937]) einen Anteil an weltgeschichtlichen Geschehnissen für die deutsche Kolonialgeschichte, an‐ 45 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen dererseits attestiert er durch die weitgehend fehlenden Hinweise auf die in Berlin stattfindende Reichspolitik die schiere Distanz zum vermeintlichen eu‐ ropäischen Zentrum der Weltgeschichte und bestätigt dadurch die Hegel’sche (1961: 163) Behauptung, „Afrika [sei] kein geschichtlicher Weltteil“. Herero bietet somit eine merkwürdig verkehrte Widerspiegelung der heutigen weltgeschichtlichen Lage. Auch die heutige Weltbevölkerung erlebt im Zuge nicht nur der gegenwärtigen Klimakrise eine Art epochale, gar epische Welt‐ geschichte, die die Belletristik nur mit erheblicher Mühe darstellen kann (vgl. Ghosh 2016). Auch angesichts des unmessbaren Umfangs des globalen Gesche‐ hens, in das wir verwickelt sind (vgl. Morton 2013), befinden wir uns sozusagen in einer Randstellung: Das globale, ja planetare Ausmaß der heutigen Entwick‐ lungen lässt den einzelnen Mensch mit seiner Einzelperspektive als völlig un‐ bedeutenden Zaungast erscheinen. Auch die Literaturwissenschaften sind von dieser peripheren Belanglosigkeit nicht ausgenommen: Hatten bzw. haben sie doch oft ausgesprochen wenig über die brisantesten aktuellen globalen Pro‐ bleme zu sagen (vgl. Johns-Putra 2019) und oft Mühe mit den aktuellen rasanten globalen Ereignissen Schritt zu halten. Angesichts dieser beinahe sträflichen globaltheoretischen Verspätung beruht der erste theoretische Strang auf der Annahme des epistemologischen und axi‐ ologischen Primats der gegenwärtigen „Multikrise“ (Brand / Wissen 2017; vgl. zudem Beck 2016; Heise-von der Lippe / West-Pavlov, Hg. 2018). Streeck (2017a) liefert in diesem Zusammenhang eine detaillierte Analyse der gegenwärtigen Krise des globalen Kapitalismus. Eine Krise, die laut seiner Prognose ein noch nie geahntes Ausmaß erreicht hat (ebd.: 241, 249-50). Streecks Theorie schließt die gegenwärtige Klimakrise ein (ebd.: 248), vernachlässigt jedoch die longue durée-Geschichte des Anthropozäns und ihre zahlreichen Facetten, die auf die globale Kapitalakkumulation seit der Anfangsphase des Industriekapitalismus im 17. Jahrhundert zurückzuführen sind. Umfangreicher in dieser Hinsicht ist die Studie Bloms (2017). Ferner ist Streecks Analyse weitestgehend auf Europa fokussiert (Tooze 2017), so dass die Rolle bzw. das Schicksal des Globalen Südens innerhalb der globalen Krise hier zu kurz kommt. Ein Beispiel einer tiefergreifenden Analyse, die derartigen globalen Zusammenhängen Rechnung trägt, bietet die Studie von Klein (2016). Die Liste ineinandergreifender Krisen der Gegenwart ist lang, kann jedoch im Rahmen dieser Untersuchung auf die Achse Deutschland-Afrika beschränkt und auf folgende Hauptschwerpunkte fokussiert werden: klimawandelgetrie‐ bene Umweltzerstörung, Wüstenausbreitung und Ressourcenmangel quer durch die Sahelzone (Weizman / Sheikh 2015); daraus entstehende Ressourcen‐ kämpfe, Bevölkerungsverschiebungen und Migration auf der Süd-Südsowie 46 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie auf der Nord-Süd-Achse (McAdam 2014; McLeman 2013; Wennersten / Robbins 2017) sowie die damit verbundenen Transformationen der europäischen Politik im Zuge der rapid steigenden Fluchtvolumina, die Mitte 2019 die Marke von 70 Millionen Menschen erreichten ( UNHCR 2019) und laut Baumgarten (2018) sehr bald die Marke von 80 Millionen erreichen könnten. Dazu kommen auch die anhaltende Wirkung einer neokolonialen Politik seitens der euroamerika‐ nischen Staaten gegenüber Afrika sowie die verschiedenen Versuche seitens der afrikanischen Staaten, sich angesichts der Herausforderungen stets wachsender Bevölkerungen, vielerorts schrumpfender Ressourcen - teilweise im Zuge steigender Meeresspiegel - einerseits sowie des Besitzes global begehrter Rohstoffe wie Land, Mineralien, erneuerbare Ressourcen wie Sonnenenergie etc. ande‐ rerseits im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts innerhalb der Weltgemeinschaft neu zu positionieren. Wozu diese Aufzählung der zahlreichen Facetten einer nur allzu gut be‐ kannten Multikrise? Die Grundannahme der Hermeneutik, dass die Interpreta‐ tion immer vom Standort des Interpreten bzw. der Interpretin aus und anhand seiner bzw. ihrer gegenwartsbezogenen Interessen geleitet wird (Gadamer 1965), gilt als Allgemeinweisheit. In den Literaturwissenschaften jedoch werden die akuten Fragen der Gegenwart generell nicht als hermeneutische Leitfragen aufgegriffen, sondern es gilt nach wie vor ein Historismus, dem es nicht an wissenschaftlichem Rigor mangelt, der aber eine unmittelbare Gegenwartsre‐ levanz ausschließt. Weiter unten wird die Leitkategorie des verbindenden „Af‐ fekts“ als ergänzender literaturwissenschaftlicher Ansatz aufgegriffen, um ein häufig fehlendes Bindeglied zwischen der Literaturwissenschaft und der Ge‐ genwart zu bieten. 2.4.2 Schnittstelle Deutschland - Afrika Zunächst aber soll ein verbindendes Thema angesprochen werden, das die Re‐ levanz der Literaturwissenschaft hervorhebt: die oft verkappten, verschollenen oder verdeckten, aber nach wie vor brisanten Beziehungen zwischen Afrika und Europa, insbesondere zwischen Namibia und Deutschland. Seyfrieds Herero (2003: 588) schließt mit dem Imperativ: „In Gottes Namen! Gehen wir! “ Symbo‐ lisch kehren die Protagonisten dem fiktiv erlebten Afrika den Rücken, als ob die Geschichte (im doppelten Sinne) der deutschen Auseinandersetzung mit dem damaligen Südwestafrika nun abgeschlossen sei und ad acta gelegt werden könne, genau wie der bzw. die Leser*in das Buch nun schließen wird. Dass dem nicht so ist, zeigt ganz einfach die Tatsache, dass solche Romane die Leser*innen der Gegenwart offensichtlich nach wie vor durchaus ansprechen können. 47 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Im Gegensatz zu einer vermeintlich abgeschlossenen Afrika-Geschichte Deutschlands stellt sich hier, analog zu einem gegenwartsorientierten Ge‐ schichtsverlauf, die Frage nach einer Verflechtungsgeschichte, die sich in ähn‐ licher Weise an der gegenwartsorientierten Schnittstelle Deutschland - Afrika ausrichten lässt. Kößler und Melber (2017: 12) stellen fest, dass die Folgen des deutschen Kolonialismus die Strukturen der namibischen Gesell‐ schaft nachhaltig bis in die Gegenwart veränderten und dass nicht zuletzt die demo‐ graphische Zusammensetzung der Bevölkerung ohne die Auswirkungen der genozi‐ dalen Kriegsführung heute anders wäre. Auch wenn die seinerzeit durch die Gewaltverhältnisse geschaffenen Fakten irreversibel sind, gilt es diese im Sinne einer Völkerverständigung handlungsanleitend bewusst zu machen. An dieser Stelle sei auf die bereits zitierte Aussage der Herausgeber des wis‐ senschaftlichen Begleitbands zur wichtigen Kölner Ausstellung zur „Geteilte[n] Geschichte“ Namibias und Deutschlands im Jahre 2004 hingewiesen: Die namibisch-deutsche Geschichte, die aus gegebenem Anlass im Jahre 2004 in den Blickpunkt rückt, ist eine afrikanisch-europäische „Verflechtungsgeschichte“ jenseits euroaber auch jenseits afrozentrischer Sichtweisen. Kolonialgeschichte, vorkolo‐ niale und auch nachkoloniale Geschichte verbinden namibische und deutsche Ge‐ schichte in prägnanter, vielschichtiger Weise - und trennen sie zugleich. Namibier, Deutsche oder Namibia-Deutsche, ehemalige Opfer und Täter, ehemalige Kolonisierte und Kolonisatoren, Befreiungskämpfer und Siedler teilen historische Erfahrungen im Sinne einer shared history, einer verbindenden Geschichte, andererseits im Sinne einer trennenden Erfahrung. […] Koloniale Verflechtungen implizierten höchst ambivalente Interkationen, Spannungen und Abgrenzungen, schufen gemeinsam Konstitu‐ tives wie konstitutiv Trennendes. (Förster / Hendrichsen / Bollig 2004: 19) Aus den oben bereits angeführten Gründen geht es darum, die Beziehung zwi‐ schen dem heutigen Deutschland und seiner Kolonialvergangenheit auch im Kontext der steigenden migrationsbedingten Sichtbarkeit Afrikas in der deut‐ schen Demografie zu reflektieren (Mikrozenzus 2017; Hess-Lüttich 2019; vgl. auch Adebajo / Whiteman, Hg. 2012). Des Weiteren ist sie in den Bereichen von Geopolitik, Ressourcenmanagement bzw. -ausbeutung und Entwicklungspolitik zu verorten. Hier sind vor allem die Zusammenhänge von Bildung, Fachkräften und Migration, von drohenden Krisen im Bereich der Energie und Klima-Un‐ stabilität sowie „climate smart“-Praktiken aus dem Globalen Süden, insbeson‐ dere aus dem südlichen Afrika gemeint [vgl. z. B. Mathews / Kruger / Wentik 2018; Nakashima / Krupnik / Rubis, Hg. 2018]). 48 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Ausgangspunkte der vorliegenden Studie sind die Annahme, dass Afrika nicht nur empirisch, d. h. gemessen an Einwanderungszahlen, in Deutschland zunehmend sichtbar wird sowie die Versuche der Bundesregierung mit einer neujustierten Afrikapolitik (vgl. Ackeret 2016; Auswärtiges Amt 2019; Bundes‐ regierung 2014; Kappel 2017) darauf zu reagieren. Diese Politik zielt, wie bereits angemerkt, hauptsächlich, aber nicht ausschließlich auf Sicherheitsmaßnahmen und die Eindämmung von Flüchtlingsströmen ab. Zusätzlich beinhaltet sie aber auch positive Maßnahmen, welche zusätzlich Ansporn für die Wissenschaft sein sollten, sowohl die Kolonialvergangenheit wie auch Kolonialtexte und deren postkoloniale Adaptionen in einem heutigen Kontext neu zu betrachten, in dem Afrika Deutschland wieder näher kommt. Ein solches Projekt verlangt aber ein neues konzeptuelles Instrumentarium, das imstande ist, den wiederauflebenden Verbindungen zwischen Afrika und Deutschland jenseits der bloßen empiri‐ schen Realitäten der Gegenwart Rechnung zu tragen. Der enge empirische An‐ satz führt allzu oft lediglich zu kurzsichtigem Pragmatismus bzw. Aktionismus mit vorhersehbaren Konsequenzen, daher bedarf es eines Ansatzes, der in der Lage ist, mittels Einbildungsbzw. Einfühlungskraft längerfristige Zukunfts‐ szenarien zu imaginieren und an der konkreten Realisierung solcher Szenarien zu arbeiten. Es ist wichtig, die absolute epistemologische und axiologische Dringlichkeit dieser Gesamtlage und ihrer lokalen deutsch-afrikanischen Manifestationen hervorzuheben, da sie eine grundlegende Neuausrichtung der Geisteswissen‐ schaften fordert. 2.4.3 Fachbezogene Transformationen Seyfrieds Herero enthält eine Vielzahl von Hinweisen auf transmediale Inter‐ textualität (beispielsweise Fotografien, Skizzen und Landkarten, die in den Text integriert sind), weist jedoch überraschenderweise relativ wenige Instanzen li‐ terarischer Intertextualität auf. Einmal wird Fontane (Seyfried 2003: 485) er‐ wähnt: Ettmann reicht Cecilie die wenig nationalpatriotischen Kriegstagebü‐ cher Aus den Tagen der Okkupation (1872) von Fontane. Cecilie hingegen kennt nur die Liebesgeschichten Cécile (1887) und Irrungen, Wirrungen (1888). Fon‐ tanes Kriegsberichterstattung aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871 bis 1872 hätte an dieser Stelle als ironischer Kommentar auf die tatsächliche Brutalität des Deutsch-Namibischen Kriegs dienen können. Aber Nachrichten über die bereits angekündigte Kesselschlacht am Waterberg werden von Ett‐ mann im selben Augenblick als „nur Gerüchte“ heruntergespielt; in ähnlicher Weise schenkt er kurz darauf Cecilies Sorgen über die Landenteignung der Ein‐ geborenen keine Beachtung (Seyfried 2003: 486-7). So wird Fontane als Sitten‐ 49 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen beobachter statt als Kritiker der deutschen Kriegsführung hingestellt, womit die kolonialpolitische Bedeutung der Intertextualität abgemindert wird. Ähnlich wird auch ein Roman von Gustav Frenssen, Jörn Uhl (1901), eingeführt. Mitten auf einer Lichtung neben einem ausgeplünderten Planwagen, auf der ein Mas‐ saker stattgefunden hat, wird ein Exemplar von Frenssens Entwicklungsroman gefunden. Der Roman, der stellvertretend als Träger von Erzähl -bzw. Deu‐ tungsmustern des Fortschritts gilt, wird der Szene der Verwüstung gegenüber‐ gestellt: Ringsum liegen verstreute Briefe und teils zerrissene Bücher. Seelig hebt eines auf. Es ist ein deutsches Buch, „Jörn Uhl“ heißt es, von Gustav Frenssen. Es ist nicht einmal alt, 1902 steht drin, aber durch Regen und Sonne ist es ganz verquollen und mürbe. Er schlägt es irgendwo auf und liest: „… aber wir wollen nicht tanzen. Dazu hätte ich Sie nicht eingeladen. Es ist ein Totenfest.“ Seelig wird es unheimlich zumute. Er legt das Buch wieder hin. (Seyfried 2003: 307-8) Das Buch symbolisiert eine dezimierte deutsche Schriftkultur inmitten einer Landschaft schriftfeindlicher primitiver Barbarei. Trotzdem gelingt es dem deutschen Text fast prophetisch auf seinen eigenen Kontext hinzudeuten und somit seine kulturelle Funktion tapfer aufrechtzuerhalten. Stillschweigend wird hier auch auf Frenssens späteren Roman über Deutsch-Südwestafrika, Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906), der von rassistischen Kolonialstereotypen nur so wimmelt, hingewiesen. Wiederum wird die Funktion der Intertextualität nicht nur entpolitisiert, sondern im Rahmen des Seyfried’schen Romans für ko‐ lonialpropagandistische Diskurse europäischer Herrschaft instrumentalisiert. Noch einmal fungiert Seyfrieds Herero als Zerrspiegel für den in dieser Studie verwendeten literaturwissenschaftlichen Ansatz. In Anbetracht der absoluten epistemologischen und axiologischen Dringlichkeit der oben geschilderten Ge‐ samtlage und ihrer lokalen deutsch-afrikanischen Manifestationen stellt sich die Frage einer gegenwartspolitisch orientierten Literaturwissenschaft innerhalb der ähnlich neu ausgerichteten Geisteswissenschaften. Einerseits müssen die basalen Kategorien des universitären Fachs neu kon‐ zipiert werden. Die universitären Fächer sind aus einem Prozess der systemi‐ schen Ausdifferenzierung entstanden, die eine „Eigenwelt“ erzeugt hat (Luh‐ mann 1990: 684). Der abgeriegelte Hermetismus der universitären Fächer ähnelt, strukturell betrachtet, der geschlossenen Form des Nationalstaates, dessen Iden‐ tität die Geisteswissenschaften sowohl historisch begründet als auch poli‐ tisch-kulturell legitimieren sollte (Rosenberg 1981). Es ist kein Zufall, dass der Entstehungsprozess der modernen Geisteswissenschaften und die National‐ staatsbildungen im 19. Jahrhundert miteinander einhergingen. Diese Funktion 50 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie der Universität und ihrer Fächer ist aber im Zuge der Globalisierung weitgehend weggefallen [Readings 1996: 44-53, 62-9] - und dies ist ein weiterer Grund für die Infragestellung der traditionellen Fächergrenzen. Der weitgehend abgeschottete und selbstreferenzielle Inselcharakter der uni‐ versitären Fächer gehört zum systemischen Charakter und überhaupt zur „Au‐ topoiesis“ bzw. Selbsterhaltung der Hochschullandschaft und ist deshalb an sich kein Symptom einer Krise. Die Isolation der universitären Fächer ist jedoch in‐ sofern problematisch in der heutigen Situation, weil die Geisteswissenschaften größtenteils zur akuten heutigen sozioökonomischen und geopolitischen Mul‐ tikrise, in der sie selbst eingebettet sind, schweigen. Wie Streeck (2017: 237) anmerkt, gibt es eine merkwürdige Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Expertise in Universitäten und politischer Inkompetenz bei den Führungseliten, die die Universitäten selbst anscheinend gar nicht bemerken oder ansprechen wollen. Die Luhmann’sche Theorie bietet trotz alledem ein hervorragendes di‐ agnostisches Instrumentarium, das es möglich macht, den hermetischen Cha‐ rakter der universitären Fächer zu durchleuchten, ohne jedoch einen norma‐ tiven Anspruch zu erheben. Gleichzeitig räumt die Systemtheorie Möglichkeiten der „systemischen Interferenz“ (d. h. Interpenetration und Widersprüchlichkeit) ein (Luhmann 1984: 290-1, 506-7). Solch eine Interferenz, hier in der Form der von „außen“ eindringenden globalen Multikrise, stellt den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie dar. Die von „außen“ einbrechende Krise fordert eine „Ext‐ roversion“ der Geisteswissenschaften (West-Pavlov 2018b). Andererseits muss die fast durchgehend kritische Haltung der Geisteswis‐ senschaften an den Stellen, wo sie tatsächlich in die öffentliche Meinungsbil‐ dung eingreifen, durch andere Akzente ergänzt werden. Die Kritik als eine der primären soziokonzeptuellen Aufgaben der Geisteswissenschaften bleibt unan‐ getastet und mehr denn je notwendig (für ein hervorragendes Beispiel der Sprachkritik seitens gesellschaftlich bewusster Geisteswissenschaften, siehe das jüngste Manifest des Literaturwissenschaftlers und Grünen-Politikers Habeck 2018; besonders interessant ist diese Streitschrift angesichts Habecks schrift‐ stellerischer Tätigkeit als Mitautor des Herero-Romans Der Schrei der Hyänen [Paluch / Habeck 2004] und als Verfasser des Nachworts zur aktuellsten Ausgabe von Timms Morenga [2020 (1978) / 2020 (1978); siehe auch Boltanski 2011)]. Die Kritik verfügt jedoch über eine relativ begrenzte politische Wirkungskraft. Als Mittel, um tatsächliche Änderungen herbeizuführen, bleibt die Kritik nur be‐ dingt wirksam und muss durch andere, konstruktivere Impulse ergänzt werden (was tatsächlich oft passiert, vor allem im außeruniversitären Aktivismus uni‐ versitärer Intellektueller). Die Überzeugung seitens der kritischen Literaturwis‐ senschaften, dass allein eine diskurskritische Haltung genüge, um politische 51 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Transformationen zu bewirken - egal ob angelsächsischer Provenienz oder aus der Frankfurter Schule stammend - ist gut belegt, wie die Formulierung Mbembes (2012) es zum Ausdruck bringt: Theory was always conceived as a political intervention, something somewhat beyond critique as such. What gave it its power was its presupposed capacity both to transform the existing structures of power and to create alternative social arrangements. In this sense, Theory was always understood to be a means of struggle - which allows Mi‐ chael Hardt to define it as a form of „philosophical and political militancy“. Diese Überzeugung der grundlegenden politischen Wirkung der Diskursanalyse entpuppt sich jedoch größtenteils als Selbstblendung (Poovey 2004). In Grosz’ Worten (2005: 2-3): „The critique of text never actually transforms texts or even necessarily produces better, more elaborated and developed texts; not does it commonly change the opinion of adherents to the positions or claims elaborated in those texts.“ Vielmehr wird die universitäre Kritik vom etablierten politischen System toleriert, weil sie eine relativ harmlose Ausdrucksform des Widerstands bietet. Somit werden andere, wirkungsvollere Bewegungen de facto nach dem Muster des „containment“ eingedämmt und gezügelt. Diese Tatsache verringert keineswegs, wie bereits oben angemerkt, die Wichtigkeit der universitären Kritik. Aber sie kann und darf nicht der einzige Bestandteil der intellektuellen Arbeit bleiben, genau wie die Universität nicht der alleinige Standort des intel‐ lektuellen Wirkens bleiben kann (Dollimore 2011; McDonald 2015). Notwendig ist also ein Modus geisteswissenschaftlichen Arbeitens, der nicht nur Kritik, sondern auch positive Wirkungsmuster hervorhebt. Hierzu noch einmal Grosz: I have instead tried to seize and develop what is of use in a text or position, even in acknowledging its potentially problematic claims or assumptions. […] I have tried to develop an affirmative method, a mode of assenting to rather than dissenting from those „primary“ texts […]. One can write most generously and with the most inspi‐ ration working on those texts one loves the most intensely, which have had most impact on one. (Grosz 2005: 2-3) Um zu dieser Art positiver Textarbeit zu gelangen, muss diese Art geisteswis‐ senschaftlichen Arbeitens eine Zusammenarbeit mit einer breiteren Gruppe von Akteuren miteinschließen, so dass neue Typen der vernetzen Handlungsfähig‐ keit (agency) und des gemeinsamen Eingreifens, auch des politischen Handelns, entstehen. Auf mögliche Formen der affektiven Handlungsfähigkeit wird weiter unten detaillierter eingegangen. 52 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie 2.4.4 „Präsentismus“ und affektive Historizität Auffällig an Seyfrieds Herero sind die tagebuchähnlichen Tages- und Datenan‐ gaben am Eingang vieler Abschnitte sowie die fast durchgehende Verwendung des Präsens. Obwohl der Roman den Status eines dokumentarisch geschichtstreuen historischen Romans beansprucht, weicht er mit den soeben genannten Merkmalen von der Gattung des historischen Romans ab und rückt der Gegen‐ wart der Erzählung bzw. der Rezeption näher. Somit wird eine Affinität zum „Präsentismus“ und zur affektiven Historizität sichtbar, die für die vorliegende Studie von grundlegender Bedeutung ist. Das zentrale theoretische Paradigma, das den kritischen Geisteswissen‐ schaften von heute nach wie vor zugrunde liegt, ist der Historismus sowie - im deutschsprachigen Raum - die historische Hermeneutik. Diese miteinander ge‐ koppelten Paradigmen, die am besten bei Gadamer (1965) zu sehen sind, heben die gegenwartsorientierte Fokalisierung der Vergangenheit hervor und erlauben somit die Historisierung der sukzessiven Etappen von „Erwartungshorizonten“ und deren jeweiligen zeitgebundenen Mustern des historischen Verstehens Ko‐ sellecks (1979). Die Konkretisierung jener Konzepte durch die quasi-archäolo‐ gische Ausgrabung von vergangenen Deutungsmustern der geschichtlichen Zeit zeigt eine „Verzeitlichung der Geschichte“ (ebd.: 19) auf, wodurch die ur‐ sprünglich nicht deutlich voneinander getrennten Kategorien Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft am Anfang der europäischen Aufklärung allmählich von‐ einander entkoppelt werden. Das so in Erscheinung tretende „Vergangensein der Vergangenheit“ (Attwood 1996: xviii-xx) ist das vorherrschende Deutungs‐ muster des heutigen Historismus. Auf diese Weise umgeht die gegenwärtige Literaturwissenschaft die Frage des immer bestimmenden „Präsentismus“ jeg‐ licher wissenschaftlichen Untersuchung und somit die Unhintergehbarkeit des Gegenwartsbezugs der Wissenschaft. (Die wenigen Ausnahmen von diesem Muster können ohne weiteres zum minderwertigen Status des „Essays“ herab‐ gestuft werden, wie es Adorno vor Jahren [2003: 9-33] bemerkte.) Populäre Versionen dieses „Preteritismus“ dienen besonders nützlichen Zwecken, wenn es darum geht, die bestehenden Beziehungen zwischen der Kolonialzeit und ihrem heutigem Erbe zu verschleiern: Wie in den Worten von Bundespräsident Roman Herzog, der befindet, „das Ereignis“ des Deutsch-Namibischen Kriegs „liege […] allzu lange zurück“, um eine ausführliche Auseinandersetzung mit ihm zu legitimieren (Pech 1998). Die wissenschaftliche Arbeit der geschichtlichen Kontextualisierung wird durch den Ansatz der (historischen) Diskursanalyse untermauert, die den Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Analyse von der Abbildung sozi‐ aler Realitäten (etwa bei Lukács 1987) hin zur Abbildung von Darstellungen von 53 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen oder Diskursen über soziale Realitäten verschiebt (beispielsweise bei Foucault 1969). Es ist bezeichnend, dass das grundlegende Modell der Mimesis unverän‐ dert bleibt. Es wird lediglich von einer Nähe zur Realität abgerückt, hin zu einer weiter entfernten Position innerhalb der sozialen Landschaft und kommt im Bereich des Diskurses zum Stehen. Das nun besser versteckte Modell der „Ab‐ bildung“ beruht auf einer Trennung (daher das „Ab-„) zwischen Wort und Ding, die im strukturalistischen Modell des Signifikanten gegenüber dem Signifikat aufgehoben wird. Das „Abbild“ wird also aus der empirischen Realität in den Bereich der Darstellungen der Realität verschoben. Das Modell geht jedoch von der wissenschaftlich genauen Darstellung (representation) jener Darstellungen (representations) aus, so dass das Abbildmodell lediglich an einem anderen Ort wiederhergestellt (und „re-präsent-iert“) wird. Der Rahmen dieser Arbeit zeigt hervorragende Beispiele für die historischen diskursanalytischen Forschungen zum Kolonialdiskurs Deutsch-Südwestafrikas von Noyes (1992), Rash (2016) und Warnke (2009). Dass das Modell äußerst wirkungsvoll gewesen ist, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es als Grundprinzip die kritische Distanz zum ide‐ ologischen Diskurs voraussetzt ( Jameson 1992: 48). Dieses grundlegende Modell ist überall in den Geisteswissenschaften wirksam, die sich in ähnlicher Weise etwas abgerückt vom gesellschaftlichen Alltag befinden, aber gleichzeitig ihre Fähigkeit, den Gang der Welt zu beein‐ flussen, häufig überschätzen. Es ist dringend notwendig, das Wort wieder in die Welt zu setzen und das trennende Prinzip „Ab-bild“ zu beseitigen. Im Grunde scheint es so zu sein, dass das synchrone Modell der Diskursanalyse, das oft bei der kontextualisierenden Analyse literarischer Werke verwendet wird, histo‐ risch-hermeneutische Ansätze verfestigt, ohne die zugrunde liegenden struk‐ turellen Probleme der Distanz und der Repräsentation zu lösen. Die vorherr‐ schende Stellung des Historismus beruht auf einer Abkapselung von Beziehungen zur Gegenwart - auf Kosten der möglichen Relevanz der Geistes‐ wissenschaften für die Gesellschaft, die ihre Aufgaben in Auftrag gibt. Es geht hier keineswegs darum, die kritische Diskursanalyse bzw. die dis‐ kursanalytisch gestützte Gesellschaftskritik der letzten Jahrzehnte über Bord zu werfen. In der gegenwärtigen Situation, in der der „‚Ausnahmezustand‘, in dem leben, die Regel ist“ wie es bei Benjamin (1991, V.2: 697) heißt, ist eine Kritik gegenüber der immer weiter fortschreitenden Verklärung der herrschenden Macht- und Ausbeutungsstrukturen dringend notwendig, ja notwendiger denn je (siehe zum Beispiel Butler 2009: 63-100). In Zeiten des fortschreitenden Po‐ pulismus, mitsamt seiner Verbreitung von diskriminierenden Einstellungen durch die Beherrschung der Massenmedien, ist die sogenannte „Critical Dis‐ course Analysis“ (vgl. Wodak et al. 2009) eine unabdingbare Strategie gegen 54 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie einen schleichenden Neofaschismus mit globalen Auswirkungen. In Zeiten von „fake news“ und „alternative facts“ kann auf diskursanalytische Ideologiekritik nicht verzichtet werden. Trotz ihrer dringenden Notwendigkeit beruht diese Kritik aber weiterhin auf skeptischer Distanz, auf nüchternem Abstand, wie Brecht es verlangte. Daher handelt sich bei dieser Arbeit um einen Versuch, einen Dialog zwischen der kritischen Diskursanalyse und einem literaturwis‐ senschaftlichen Ansatz zu ermöglichen, der einen starken Bezug zum gegen‐ wärtigen Kontext herstellt und durch andere auf Nähe und „Proximität“ beru‐ hende Bezugsmodi (vgl. West-Pavlov 2018a) eine kritische Distanz untermauert. Um diesem Problem auf den Grund zu gehen und zu einer möglichen Lösung zu gelangen, ist es lohnenswert, einen kurzen Blick auf einen der wichtigsten Vorreiter des Modells der kritischen Geisteswissenschaften zu werfen: Brecht. Im Zentrum der Brecht’schen Ästhetik steht ein Prinzip der Distanz als Motor des „Verfremdungseffekts“. Von besonderer Tragweite für diese Studie ist die Tatsache, dass Brecht „Fremdheit und […] Abstand“ (Brecht 1976, II .2: 487) nicht nur synchron versteht, d. h. als fundamentalen Bestandteil des theatralischen Ereignisses und als strukturierendes Element des theatralischen Raumes, son‐ dern dass er diesen Abstand diachron betrachtete, d. h. als zeitliche Fremdheit, etwa nach dem berühmten Muster des englischen Schriftsellers L. P. Hartley („The past is a foreign country“) (2015: 5). So heißt es bei Brecht: Der Schauspieler muß die Vorgänge als historische Vorgänge spielen. Historische Vorgänge sind einmalige, vorübergehende, mit bestimmten Epochen verbundene Vor‐ gänge. Das Verhalten der Personen in ihnen ist nicht ein schlechthin menschliches, unwandelbares, es hat bestimmte Besonderheiten, es hat durch den Gang der Ge‐ schichte Überholtes und Überholbares und ist der Kritik vom Standpunkt der jewei‐ ligen darauffolgenden Epoche aus unterworfen. Die ständige Entwicklung entfremdet uns das Verhalten der vor uns Geborenen. Der Schauspieler nun hat diesen Abstand zu den Ereignissen und Verhaltensweisen, den der Historiker nimmt, zu den Ereignissen und Verhaltensweisen der Jetztzeit zu nehmen. Er hat uns diese Vorgänge und Personen zu verfremden. (Brecht 1976, XV.1: 347) Dieses „Technikum […] der Historisierung“ (ebd.; Hervorhebung RWP ) ist ein, vielleicht sogar der zentrale Bestandteil der dialektischen Verstehensweise der Geschichte bei Brecht und entspricht passgenau, wie der Ausdruck „der Jetzt‐ zeit“ es verrät, dem Standpunkt des eng mit Brecht befreundeten Benjamin. Bei Benjamin gewährt nicht die lineare, „additive“ Kontinuität des bürgerli‐ chen Geschichtsbegriffs mit ihrer „leeren, homogene[n] Zeit“ (Benjamin 1991, I.2: 702) die Verbindungen zwischen den Epochen, sondern es sind die Konflikte 55 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen und Auseinandersetzungen zwischen den Ständen und Klassen und daher die Brüche der Geschichte, die deren Kontinuitäten ausmachen. Die Gefahr, die hier lauert, ist paradoxerweise die, dass sich solche Brüche wieder für die Zwecke eines bürgerlichen, kooptierten Prinzips der geschichtlichen Nicht-Kontinuität zweckentfremden lassen. Der logische Schluss der „additiven“, linearen Ge‐ schichtsschreibung ist nicht nur die „Homogenität“, sondern auch das segmen‐ tierte Nacheinander der Ereignisse. Die Ereignisse werden wie Perlen an einer Kette konzeptualisiert, so dass sie ohne Problem als grundlegend voneinander getrennt betrachtet werden können. Die Vergangenheit ist nach diesem Muster endgültig vergangen und hat, je nach Auslegungsbedürfnis, entweder einen rein monokausalen Einfluss auf die Gegenwart; oder, bei Bedarf, einen nur sehr be‐ dingten Einfluss; oder, vor allem, wenn es um moralische Verantwortung geht, keinerlei Verbindung zur Gegenwart. Hier kippt die von Brecht gepriesene Fremdheit der Vergangenheit in eine moralisch befreiende Abgeriegeltheit der Vergangenheit, mit der verhängnisvollen Devise, nicht wir, sondern vergangene Generationen trügen die moralische Last der Vergangenheit. Laut dieser Auf‐ fassung von Zeit ist die Geschichte eine Einbahnstraße mit vielen Schleusen, die keinerlei rückwärtsläufige Strömungen erlauben. So einfach ist die Temporalität in ihrer materiellen Manifestation aber nicht. Die jüngsten Ergebnisse der Ge‐ netik etwa beweisen im Gegenteil, dass Eltern auch von ihren Kindern DNA -Elemente sozusagen „in verkehrter Richtung“ „erben“ können; andere le‐ benswichtige DNA -Elemente werden „seitwärts“ oder „horizontal“ vererbt (Zimmer 2018). Auf dieser biochemischen Grundlage, deren wirkungsgeschicht‐ liche Verbindungslinien durchaus Artengrenzen überspringen können, könnte man einen Geschichtsbegriff entwerfen, der netzwerkartig und multivektorial funktionierte. Daraus könnte man so etwas wie eine „queer history“ ableiten, die zulässt, dass die Geschichtsschreibung von einem „queer desire for history“ (Dinshaw in Dinshaw et al. 2007: 178) aus der Gegenwart herausgetrieben werden kann. So wird auch die „affektive Geschichte“ Agnews verstanden, die geschichtsinteressierte Personen dazu bewegt, beispielsweise an „re-enact‐ ments“ teilzunehmen (Agnew 2007). Der affektive, gefühlsbzw. begehrensbe‐ ladene Bezug zur Vergangenheit kann, unter Berücksichtigung des in dieser Studie zur Geltung kommenden erweiterten Affektbegriffs, nicht nur als Emo‐ tion, sondern auch als multivektorialer Geschichtseinfluss verstanden werden. Ähnlich verhält es sich bezüglich des Begriffs der „postmemory“ Marianne Hirschs (1992), in dem das Geschichtsgedächtnis immer wieder von Generation zu Generation umgebildet wird. So entsteht ein Geschichtsbegriff, dessen Medien nicht mehr allein die Zeit und die archivbezogenen Transmissionen von Texten sind, sondern aus rekur‐ 56 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie siven Verbindungslinien bestehen, die multivektorial verlaufen und verschie‐ dene handlungswirksame Informationen tragen. Deshalb ist es bezeichnend, dass in Brechts Auffassung der Geschichtsdramatik die Distanz nicht ganz in‐ kompatibel mit Synergien und Energien ist. Das, was Brecht aus der Warte des Abstands und der Fremdheit mit Hilfe des „Verfremdungseffekts“ entstehen lässt, fungiert als Intervention in einem Bereich, der vielmehr mit Verbindungen, Proximität und Nähe zu tun hat: Die entscheidenden Vorgänge zwischen den Menschen, welche eine Dramatik der großen Stoffe heute darzustellen hätten, finden in riesigen Kollektiven statt und sind vom Blickpunkt eines einzelnen Menschen aus nicht mehr darzustellen. Der einzelne Mensch unterliegt einer äußerst verwickelten Kausalität und kann Meister seines Schicksals nur als Mitglied eines riesigen und notgedrungen in sich selbst wider‐ spruchsvollen Kollektivs werden. Er registriert nur schwache, dämmrige Eindrücke von der Kausalität, die über ihn verhängt ist. Mit ihm als Mentor erkennt das Publikum, in ihn sich einlebend, erlebt das Publikum nur wenig. Ja, er vermag nicht einmal mehr sich selber zu erkennen oder „auszufühlen“, wenn er nur seinen eigenen Nabel be‐ trachtet, nur subjektiv reagiert. (Brecht 1976, XV.1: 274) An dieser Stelle tritt bei Brecht, einmal abgesehen von seiner Fixierung auf aus‐ schließlich menschliche „Kollektive“, etwas zum Vorschein, das sehr den netz‐ werkartigen Kausalitätsstrukturen solcher oben beschriebenen Synergien und Energien ähnelt. Hier wird aufgrund der riesigen Netzwerke von Verbindungs‐ linien und Einflussachsen, die die lebendige, dynamische Welt ausmachen, das Individuum in den Schatten gestellt. Somit kommt das Gefühl als Modus der Selbsterkennung kaum zur Geltung. Mit Recht wird das „Gefühl“ als Basis der „Einfühlung“ bzw. „Ausfühlung“ von Brecht gänzlich von der Bühne und aus dem Zuschauersaal verbannt. Hier erkennt man eine frappante Verwandtschaft mit dem „Einfühlungsverbot“, das als ästhetisches Leitprinzips des Timm’schen Romans Morenga fungiert (Hamann / Timm 2003). Der Vergleich ist bezeich‐ nend; auch bei Brecht jedoch lässt sich so etwas wie ein Gefühl beim Zuschauer ausmachen: „Der Zuschauer befindet sich […] verstandes- und gefühlsmäßig im Widerspruch“ (Brecht 1976, XV .1: 275; Hervorhebung RWP ). Daher kommen anstelle von „Gefühlen“ eventuell lokale, konkrete „Eindrücke von der Kausa‐ lität“, die nicht so sehr kognitiv als vielmehr konkret-physisch registriert werden. Das sind die „Affekte“ im Sinne Spinozas: physische Kausalverbin‐ dungen, die einen Effekt haben und als Affekt wahrgenommen werden. Darauf wird weiter unten näher eingegangen. In Anbetracht der Wendung hin zu Verbindungslinien quer durch die Ge‐ schichte bis in die Gegenwart, die auch die Zuschauer*innen in solchen Netz‐ 57 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen werken einbinden, ist es sinnvoll, noch einmal die Auswege aus einer Ästhetik der kritischen Distanz und des skeptischen Abstands kurz Revue passieren zu lassen. Zwei Alternativen bieten sich an: Die erste bildet einen unverhohlenen „Prä‐ sentismus“ (Grady / Hawkes 2007), der davon ausgeht, dass alle Geschichts‐ schreibung eigentlich eine „Geschichte der Gegenwart“ beinhaltet. Eine wich‐ tige Variante dieses „Präsentismus“ bilden, wie soeben angemerkt, die „affective histories“, welche untersuchen, wie bestimmte historiografische Praktiken wie z. B. „re-enactments“ die körperlichen und emotionalen Ressourcen der Teil‐ nehmer*innen bzw. Historiker*innen aufgreifen, um die Vergangenheit in der Gegenwart wieder lebendig werden zu lassen (vgl. Agnew 2007). Solche For‐ schungen sind faszinierend, neigen jedoch dazu, den Begriff des „Präsentismus“ in Randbereiche wie die der „re-enactments“ zu verbannen. Trotzdem bietet diese Art des „Präsentismus“ eine zweite Alternative: Sie eröffnet Möglichkeiten, soziale Verbindungen, Synergien und Energien zwi‐ schen Vergangenheit und Gegenwart zu entfalten, die gewöhnlich abgekapselt oder ignoriert werden. In diesem Sinne bilden sich andere, weniger eng einge‐ kreiste Ansätze zur Erforschung der mannigfaltigen Bezüge zwischen Zeitlich‐ keit und Affektivität (z. B. Angerer / Bösel / Ott, Hg. 2014) mit einem flexiblen Begriff des „Affekts“, der einerseits die Emotionen der Subjekte ins Visier nimmt, um zu verstehen, wie und warum die Geschichte in den Augen des historischen Betrachters erscheint, und um andererseits die Gesamtheit der sowohl historisch wie augenblicklich wirksamen Verbindungslinien zwischen verschiedenartigen Akteuren zu beschreiben. Hier fließen die beiden Alternativen in eine tragfähige Theorie zusammen, die imstande ist, einen Ausweg aus einer ausschließlich auf Distanz beruhenden Kritik zu zeigen. Solch eine Theorie der historischen Konnektivität bietet den Literaturwissenschaften ein Repertoire an differenzierten Konzepten der histo‐ rischen Konnektivität, die imstande wäre, historische Ereignisse bzw. deren ge‐ genwärtiges Erbe sowie ihre textuellen Darstellungen bis in Gegenwartsdis‐ kurse miteinander in Verbindungen zu bringen, und zwar anhand einer Verwendung von affektiven Strategien bzw. Technologien. In diesem Sinne wird im Folgenden eine Art literarische Affekttheorie erläutert und beispielhaft in Gang gebracht, ohne dass Elemente der Kritik völlig unberücksichtigt blieben. 2.4.5 Affekttheorie Seyfrieds Roman Herero ist durch eine Vielzahl langer Textstellen gekenn‐ zeichnet, die sehr ausführlich technische Geräte bzw. Waffen, Orte, Land‐ schaften und dergleichen beschreiben. Die Beschreibungsmanie des Romans ist 58 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie von manchen Kritikern als „Beschreibungs-Overkill“ beurteilt worden (Hiel‐ scher 2005: 200). Dieser Auffassung zufolge stellen solche Beschreibungen einen Versuch dar, dem Text als realistische Dokumentation der vergangenen Zeit absolute Legitimität zu verleihen. Demnach bilden die mannigfaltigen Details metaphorische Zeichen, die auf etwas krampfhafte Weise ein Eins-zu-eins-Ver‐ hältnis zwischen vergangener Realität und gegenwärtiger fiktionaler Abbildung herstellen sollen. Ikobwa (2013: 115) spricht (vielleicht versehentlich, jedoch durchaus treffend) von einem „Beglaubigungs-Overkill“ des Seyfried’schen Texts. Bezeichnend ist jedoch, dass solche Methoden der literarischen Darstel‐ lung nicht auf metaphorischen Signifikant-Signifikat-Beziehungen beruhen, sondern, wie Jakobson es in seinen Ausführungen zur Rolle der Metapher bzw. Metonymie in der Literatur ( Jakobson / Halle 1956: 78) anhand von Textstellen aus den Werken Tolstois (genauer: zur Handtasche der Protagonistin in Anna Karenina und den Lippenhaaren und Schultern einiger weiblicher Figuren in Krieg und Frieden) zeigt, auf metonymischen Beziehungen basieren. Dieser „effet de réel“ (Barthes 1968) entsteht aus einer Fülle an Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen, die sie umgeben. Nicht eine monoaxiale Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, sondern multiaxiale Beziehungen zwischen Signifikanten, oder besser: zwischen Signifikaten unter sich und ihren jewei‐ ligen Signifikanten, machen die Welt aus: Seltsame Bezeichnungen gibt es in diesem Land! Er lauschet den Namen nach, den klingenden, fremdartigen Bezeichnungen des zentralen Herero- oder Damara-Landes, die zumeist mit O beginnen: Otjimbingwe, Otjiwarongo; melodische Namen, ein Genuß, sie auszusprechen: Otschi-wa-rongo. Es gibt auch reichlich Zungenbrecher wie Okahoamosondjupa oder Owikangowiagandjira. Weiter südlich im Namaqualand gibt es Namen, deren Herkunft oder Bedeutung ihm ganz rätselhaft ist: Aredariegas, Tsaobis. Klein-Onanis. Nachas, Tinkas. (Seyfried 2003: 8) Namen, Orte und Dinge bilden unter sich, wie Latour (2004: 223-4) gezeigt hat, eine Art Gemeinschaft, deren Wirkung bereits im mittelhochdeutschen „dinc“ und im althochdeutschen „thing“, d. h. Gerichtsversammlung bzw. Parlament, enthalten ist. Von diesem Standpunkt aus erscheint Seyfrieds Roman als nicht ganz gelungener Realismus, dessen technische „Detailbesessenheit“ (Attikpoé 2006: 94) dazu dienen soll, die Modernität des Kolonialismus und seine ethnische Überlegenheit hervorzuheben - so werden z. B. Ettmanns Karten als „auf dem neusten Stand“ beschrieben (Seyfried 2003: 35) - und dadurch die „obszöne Un‐ terseite“ des kolonialen Unternehmens zu selben Zeit zu verdecken und zu le‐ gitimieren. Im Roman erscheint dank dieses Beschreibungswahns eine Welt, in 59 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen der die Dinge überhandnehmen und eine solche Dichte und Substanz erreichen, dass sie eine eigene Existenz und sogar Wirkung erlangen: Die Wand fasziniert sie: da hängt rund ums Kruzifix ein Sammelsurium von Dingen, mit Nadeln angesteckt oder an Nägeln angebunden: getrocknete Blätter, Knöpfe, ein Handschuh, dem zwei Finger fehlen, ein Eichenblatt aus getriebenem Silber. Dazwi‐ schen hängen Papierstücke, das Etikett eines Tintenfasses und ein Billet der alten Mainzer Pferdebahn. (Ebd.: 269) So kann man behaupten, dass Seyfrieds Herero ganz unbeabsichtigt innerhalb seines eigenen ästhetischen Projekts einen Übergang von einem Universum der menschlichen Weltbeherrschung durch Technikbeschreibung und Beschrei‐ bungstechnik zu einem Raum der geteilten menschlichen und nicht-menschli‐ chen Wirkungsfähigkeit vollzieht: Das Bild des dargestellten Geländes entsteht ganz plastisch vor seinem geistigen Auge […]. Höhenlinien, Schraffuren oder Farbtöne formen sich für ihn zu Hängen, Hügeln, Tälern und Schluchten. Aus Signaturen der Bodenbewachsung und aus den Vegetationszeichen wachsen ihm Wälder, Buschgruppen, Sümpfe und Steppe, Wei‐ deland und Karst, gangbares und unwegsames Gelände (ebd.: 7). In diesem Raum sind Menschen und Dinge nicht mehr durch instrumentale Be‐ ziehungen verbunden, sondern multipolare und komplexe kausale Verhältnisse bestimmen die Handlungsmöglichkeiten und -abläufe der Fiktion. Eine solche Transformation untergräbt stillschweigend das Projekt des Seyfried’schen Ro‐ mans. Anstatt eines polarisierten und hierarchisch geordneten Gesellschaftsmodells mit (weißen) Menschen und ihrer modernen Technik auf der einen Seite und den Eingeborenen und der Natur auf der anderen, entsteht im Rahmen von Seyfrieds Ästhetik unfreiwillig ein alternatives Modell dicht verflochtener Kon‐ nektivität, das nicht als „Erzähltes“ nach dem Muster des Realismus dargestellt wird, sondern unsichtbar, aber trotzdem massiv präsent in Seyfrieds eigener Schreibtechnik, d. h. in der Erzählung selbst immanent vorgeführt wird. Beispiele für nicht beschriebene, sondern direkt im Text „performativ“ vor‐ geführte Affekte tauchen an den unwahrscheinlichsten Stellen auf, wie im fol‐ genden Zitat: Carl Ettmann glättet mit der linken Hand das Blatt […]. […] Carl Ettmann ist nicht nur Kartenzeichner, sondern auch Kartenliebhaber, ein ‚Gourmet des Cartes‘, wie es ein Kollege einmal ausgedrückt hat. […] Seine Hand streift über das Papier, der Wan‐ derung der Augen folgend (ebd.: 7-8). 60 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Solche Symptome des Affekts unterlaufen subtil die an vielen anderen Stellen explizit angegebenen Zeichen der Gleichgültigkeit: „‚Naja‘, er zuckt die Ach‐ seln, […] Geschehen ist geschehen, und ein grausamer Krieg wäre es auch dann geworden‘“ (ebd.: 565). Was bei solchen affekt-symptomatischen Textstellen auf dem Spiel steht, ist die Verbindung zwischen den Dingen, zwischen den Wesen und die Art und Weise, wie diese Verbindung die Dinge ändert bzw. transformiert. Auffällig am Text ist die stetige Arbeit, die von der Erzählung aufgebracht werden muss, um die Markierung der Wirklichkeit im Register des empirischen Realismus (Karten, Fotografien, Zeichnungen) in der verbalen Erzählung aufrechtzuer‐ halten. Jeglicher paratextuelle Einschub wird durch einen metatextuellen Be‐ gleittext vorbereitet: Vor einer der Kugelhütten wärmen sich drei Hererofrauen in ihren langen, bunten Gewändern. Es ist ein schön gebauter Pontok, mit einem Kranz aus Riedbinsen rund‐ herum […]. Lutter und Schwarz tragen Cecilie den Tisch herbei und stellen einen Schemel darauf. Auf dieses Behelfsstativ kommt die Kodak. So kann sie die Pontoks aus normaler Augenhöhe photographieren. Die Frauen wollen flüchten, aber Schwarz überredet sie, sitzenzubleiben. (Ebd.: 268-9) Mitten im Wort „norma-/ ler“ wird durch einen Silbenbzw. Seitenumbruch eine schriftsatztechnisch oft als unschön empfundene Unterbrechung erzeugt. An dieser Stelle wird das Foto, dessen Inhalt und Aufnahmeverfahren soeben be‐ schrieben wird, eingeschoben. Weniger bedeutend als die Mikro-Darstellung bzw. -Performanz des ethno-fotografischen Blicks (vgl. Krech 1989; Wiener 1990) ist an dieser Stelle die Performanz der Konnektivität zwischen den viel‐ fältigen Instanzen der Episode. Die Beschreibung des Fotos und seine Entste‐ hungsgeschichte umklammern das Foto und dienen nicht nur als Einrahmung, sondern gar als Einfassung bzw. Halterung. Sichtbar wird an dieser Stelle eine sonst unsichtbare „Naht“, die die Erzählung an der Wirklichkeit festbinden soll. Es handelt sich hier fast um eine „suture“ (Nahtstelle) im Lacan’schen Sinne des Begriffs (Miller 1966), die psychische Strukturen und weltliche Erlebnisse mit‐ einander verbindet. Noch wichtiger ist jedoch die ganz einfache Funktion, die in solchen Kontexten immer wieder performativ aufgeführt wird: Die Verbin‐ dung zwischen den Dingen wird im Text selbst herbeigeführt, just in dem Au‐ genblick, wo sie aneinanderrücken. Somit werden beide transformiert: Der Text erlangt eine erhöhte „Authentizität“ durch die Untermauerung des Bildes; das Bild dagegen wird aus dem bewegungslosen, statischen Zustand herausgeholt und erhält eine narrative Dynamik und Tiefe. Die erzählerische Geschichte ge‐ winnt an zeitgenössischer Substanz. Der reglose Schnappschuss aus der Ver‐ 61 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen gangenheit wird wieder lebendig. Es entsteht somit eine belebte bzw. erlebte Geschichte, die durch einen „affektiven“ Bezug zur Vergangenheit gekenn‐ zeichnet ist (Agnew 2007). Während sich der Text als Performatives immer wieder an die Vergangenheit anschmiegen will, schließt er als Denotatives ex‐ plizit mit einer Abkehr von Afrika: „In Gottes Namen! Gehen wir! “, heißt es in der letzten Zeile des Romans (Seyfried 2003: 588). An solchen Stellen kommen multidirektional transformative Verbindungsmodi - oder eben auch deren Um‐ kehrung ins Negative - zum Vorschein, die in der vorliegenden Studie unter dem Begriff des „Affekts“ zusammengefasst werden. Die vorangegangenen Überlegungen ermöglichen es, eine Typologie von Verbindungsmodi zu erstellen, die die Spannbreite zwischen den Polen der ge‐ sellschaftlichen „Kälte“ (Adorno 1971: 100-2) bzw. der globalen „Gleichgültig‐ keit“ (Neumann 2017), dem synchronen Pendant zu der vom Historismus kon‐ struierten geschichtlichen Distanz, und der „Konnektivität“, welche am besten in der Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität verkörpert wird, die mitten in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 entstand [Bade 2016: 73, 76], dar‐ stellen. Das sind die gesellschaftlichen Facetten der Theorie affektiver Konnek‐ tivitäten, die dieser Studie zugrunde liegt und im Folgenden systematisch dar‐ gelegt werden soll, um die Verwendbarkeit für die literaturwissenschaftliche Textanalyse herauszuarbeiten. Im Rahmen dieses Gesamtkonzepts wird ein erweiterter Affektbegriff ent‐ wickelt und erprobt, den es nun näher zu erläutern gilt. Im Folgenden werden drei „Stufen“ der Verwendung des Begriffs „Affekt“ identifiziert, die im Laufe der kulturbzw. literaturwissenschaftlichen Textanalysen an verschiedenen Stellen zum Tragen kommen werden. Zunächst sollen sie schematisch benannt werden, um ein konzeptuelles Gerüst für die anschließende Detaildarstellung zu schaffen: Affekt I: Der Affekt wird gewöhnlich als Emotion oder Gefühl eines Indivi‐ duums betrachtet und steht meistens im Gegensatz zur Rationalität, obwohl die neueren Emotionstheorien den Affekt als wichtige Ergänzung zu rein rational geleiteten Entscheidungsprozessen sehen (Damasio 1994, 2003). Diese Betrach‐ tungsweise kann man als Affekt I bezeichnen. Neuere Ansätze stellen die Emo‐ tionen oder Gefühle in den Kontext der Körperlichkeit und verstehen die Affekte als physische Regungen, die oft an vorbewusste Vorgänge anknüpfen. Affekt II : Da die Affekte auch aus Bereichen der Subjektivität stammen, die der Ausdifferenzierung des individuellen Bewusstseins und der Persönlichkeit vorangehen, sind die Affekte keine Attribute eines Einzelnen, sondern können transindividuell wirken, sogar über Artengrenzen springen. Diese Auslegung des Affekts kann man als Affekt II bezeichnen. 62 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Affekt III : Der Hinweis auf Artengrenzen überschreitende Affekte bedeutet eine fundamentale Brechung des Affektbegriffs. Er beschreibt nicht mehr ein Gefühl, sondern ein physisches Kommunikationsmedium, das zugleich einen wirkungsvollen Auslöser von Effekten und daher Transformationen darstellt. Affekt aus dieser Warte betrachtet ist nicht nur eine Information, die entlang bestimmter physischer Kanäle fließt, sondern das, was dem Kontakt zugrunde liegt und ihn herstellt und somit die in Verbindung gesetzten Wesen gegenseitig verändert. Der Affekt hat / ist (ein) Effekt. Affekt bedeutet Information und Ver‐ änderung zugleich. Der Affekt wirkt sowohl synchron, auf allen Ebenen und in allen Bereichen des Lebens (auch nicht-menschlichen), wie auch diachron, quer durch die Geschichte. Somit rückt ein netzwerkartiges „Meshwork“ (Ingold 2011) an Verbindungslinien abgeleiteter und gegenseitig übertragener Mit-Handlungsfähigkeiten (dispersed and devolved co-agency) in das Blickfeld, die das Wesen der Geschichte als Wirkung, d. h. die Geschichte als Geschichte des Lebens bildet. Diesen erweiterten Affektbegriff kann man als Affekt III bezeichnen. Der in der vorliegenden Studie erprobte „erweiterte Affektbegriff “ wird mit Sicherheit in bestimmten theoretischen Kreisen auf Skepsis stoßen, nicht zu‐ letzt, weil die hier hervorgehobene Idee der Konnektivität schwer mit dem herrschenden Prinzip der konzeptuellen Diskonnektivität zu vereinbaren ist. Ein Grundmuster des westlich-europäischen Denkens ist die Analyse: Die Ope‐ ration, die eine Größe in ihre Einzelteile zerlegt, um sie anschließend wieder als ein Ganzes zusammenzusetzen. In der Analyse ist die Auflösung die Vorausset‐ zung für die Lösung. Diesem Muster liegt die Annahme zugrunde, die Teile können voneinander getrennt werden, ohne dass sie als solche verschwinden oder zerstört werden. Unversehrt könnten sie danach wieder zusammengeführt werden. Mit anderen Worten: Die Einzelteile erhalten konzeptuell eine eigene Existenz, die durch die Analyse sichtbar wird. Auch wenn das Ganze wieder zusammengebracht wird, bewahren die Einzelteile konzeptuell ihre diskrete Existenz. Dieses Grundmuster unterscheidet sich grundlegend von Denkmus‐ tern des Globalen Südens, zum Beispiel vom chinesischen System der Binär‐ paare, die nur dank ihres Gegenpartes existieren und nicht getrennt vonei‐ nander gedacht werden können ( Jullien 2014: 44-53). Auch physisch gesehen lässt sich das Trennungsmuster kaum halten: Die Einzelteile sind Funktions‐ bündel, die nur in Zusammenhang mit anderen Funktionsbündeln ihre Funkti‐ onen ausüben können; ohne ihre Nachbarn verschwinden sie daher als solche und entstehen nicht zwangsläufig wieder, sobald sie wieder zusammengeführt werden, da die ganze Umwelt im Zuge der Abtrennung nun anders strukturiert ist (vgl. Canguilhem 1972: 137). Das Grundprinzip der Analyse ist daher die 63 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Trennung, die als konzeptueller Ausgangspunkt angenommen wird und aus diesem Grund eine gewisse konzeptuelle „basale Realität“ erlangt. Eine Be‐ griffsbestimmung beruht auf genau dieser Annahme der trennscharfen Be‐ griffsunterscheidung. Problematisch aber wird es mit einem Begriff wie „Affekt“, der als solcher nur schwer dekliniert werden kann, ohne dass die grundlegende Konnektivität, die er beschreibt, in der Analyse selbst verleugnet wird. Deshalb wird der Begriff des „Affekts“ mancherorts mit Skepsis betrachtet. Er beschreibt und führt tendenziell etwas vor, was der Operation der Analyse grundsätzlich zuwiderläuft: [F]irst encounters with a theory of affect might feel like a momentary (sometimes more permanent methodological and conceptual free fall. […] It is no wonder […] that when theories have dared to provide even a tentative account of affect, they have sometimes been viewed as naively or romantically wandering too far out into the groundlessness of a world’s or a body’s myriad over-implications, letting themselves get lost in an over-abundance of swarming, sliding differences […]. (Seigworth / Gregg 2010: 4) Von sich aus aber neigt der Begriff des „Affekts“ dazu, Grenzen zu überschreiten. Somit meint er alles Mögliche und dementsprechend nichts, so die Kritiker des Begriffs. Das Widerspenstige und schwer Fassbare am „Affekt“ wird an manchen Stellen als Schwäche der Affekttheorie gedeutet (Leys 2017). Und weil er ten‐ denziell die Grenzen zwischen Begriffen verwischen lässt, entzieht er dem Wis‐ senschaftler bzw. der Wissenschaftlerin die Grundlage der Kritik der Ideologie und damit auch des Widerstands gegen den Machtmissbrauch oder die Aus‐ beutung. Diese Bedenken sind durchaus berechtigt und es gilt im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen weiterhin das Prinzip der Kritik der Macht und der Ideologie. Das Prinzip der Kritik muss jedoch mit einer konstruktiven Fä‐ higkeit zu Konnektivität einhergehen. Daher wird im Weiteren die Skizze einer Theorie des „Affekts“ entworfen, die versucht, nicht so sehr die verschiedenen Bereiche des „Affekts“ klar voneinander zu unterscheiden, sondern vielmehr die Verbindungen und Koalition zwischen den mannigfaltigen Bereichen des „Af‐ fekts“ zu kartografieren. Zudem wird eine Genealogie der verschiedenen Be‐ reiche, aus denen sich der Affektbegriff entwickelt hat, vorgenommen: Nicht nur, um klar gegliederte Entstehungsprozesse darzulegen, sondern auch, um die geistesgeschichtlichen Kommunikationslinien nachverfolgen zu können. In einem ersten Schritt werden die Grundzüge der dargestellten „Affektstufe“ er‐ läutert; im zweiten Schritt wird die Relevanz der jeweiligen „Stufe“ für die lite‐ raturwissenschaftliche Textanalyse eruiert. 64 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Affekt I: Die Affekte werden gewöhnlich aus dem Bereich der Vernunft aus‐ geschlossen und daher als nicht relevant für das wissenschaftliche Arbeiten be‐ trachtet. Die Affekttheorie kommt zunächst durch eine Auseinandersetzung mit der historisch ab der Aufklärung geltenden Abwertung der Emotionen in der Wissenschaft zustande. Stellvertretend für die Ursprünge dieser Abwertung steht die Gabelung zwischen Descartes’ an ein weibliches Publikum gerichteter Abhandlung Les passions de l’âme (Erstveröffentlichung 1649; Descartes 1969) und seinem Discours de la méthode (Erstveröffentlichung 1637). Erste Impulse für ein Überdenken dieser Abwertung liefert die feministische Philosophie, die herkömmliche Gegensatzpaare männlich / weiblich, Geist / Körper bzw. Denken / Fühlen kritisch unter die Lupe nimmt (vgl. Lloyd 1984). Die Geschichtswissenschaften hatten aber schon vorher begonnen, mit sol‐ chen Urteilen aufzuräumen. Die Geschichte der Liebe hat selbst eine lange Ge‐ schichte, von de Rougements De l’amour en occident (1939) über Luhmanns Liebe als Passion (1982) bis hin zu Reddys komparatistisch angelegtem The Making of Romantic Love (2012). Auch die Angst hat eine Geschichte (Laffan / Weiss, Hg. 2012; vgl. auch Plamper / Lazier, Hg. 2012). An solcher Geschichtsschreibung lässt sich zeigen, dass die Emotionen nicht universell sind, sondern ort- und zeitverbunden. Sie ändern sich im Laufe der Geschichte, weil sie an der Schnitt‐ stelle zwischen Körperpraktiken bzw. Habitus, Mentalitäten und politischen Rahmenbedingungen operieren. Hier spielte die Geschichte der „mentalités“ unter der Obhut der Pariser „Annales“-Schule eine entscheidende Rolle in der Aufwertung des Privatlebens und somit der Emotionen als Leitbegriffe für das Alltagsleben (Ariès / Duby, Hg. 1985-7). Sie bieten Gemütsrepertoires, um die Beziehung zwischen Selbst und Gesellschaft auszuhandeln. Sie sind verankert im Körper, müssen jedoch häufig mittels der Sprache neben anderen Kultur‐ praktiken kommuniziert werden (Finnegan 2014) und überbrücken daher die Unterscheidung von Natur und Kultur. Maßgeblich in diesem Hinblick sind ext‐ reme Emotionen wie „Ekel“ (Menninghaus 1999), der weiter unten im Rahmen der Lektüre des Romans Morenga von Uwe Timm zum Tragen kommen wird. Hauptsächlich mit Hilfe von „emotives“, d. h. geschichtlich kontextualisierten Gefühlssprechakten (Reddy 2001: 63-111), wird beim gleichzeitigen Ausspre‐ chen der Emotionen die „interne“ Landschaft der Person gebildet, so dass Hand‐ lungsstrategien und -abläufe im Rahmen kollektiver Sozialisierungen ermög‐ licht werden. Vor allem die Arbeiten der 1990er-Jahren zur Sprechakttheorie (z. B. Butler 1990; 1993; 1997) hatten einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Emotionsgeschichte im Hinblick auf die Ausbildung von Subjektivität. Die „emotives“ als Gefühlssprechakte stellen einerseits eine vermittelnde Instanz zwischen Gefühlen als mentale bzw. körperliche Zustände und den damit an‐ 65 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen gestoßenen Handlungen dar. Diese Handlungen können sogar selbstbezogene Handlungen, d. h. Praktiken des Selbst (vgl. Foucault 1984) miteinschließen, die wiederum neue Gefühlszustände hervorrufen und somit die gefühlte Subjekti‐ vität weiter ausbilden. Es muss natürlich zwischen „innerlichen“ Gefühlen und sprachlichen Kodifizierungen immer wieder übersetzt werden; trotzdem können affektive Feedback-Schleifen verschiedener Typen bestehen oder neu entstehen. Andererseits erlaubt es der Begriff der „emotives“ insbesondere eine Brücke zu den Literaturwissenschaften zu schlagen, da literarische Texte dem‐ gemäß als komplexe Sprechakte oder als Meta-„emotives“ erscheinen können, die neue Selbstartikulationen bzw. Subjektivitätsmuster und daran anschließend neue Handlungsabläufe ermöglichen. In den jüngsten Entwicklungen der Emotionsgeschichte spielen Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften eine besondere Rolle. In der Sozialpsychologie werden die Gefühle zunächst als Studienobjekte betrachtet, die vom denkenden Subjekt empirisch kategorisiert und untersucht werden können (z. B. Sedg‐ wick / Frank, Hg. 1995). Diese relativ naive Herangehensweise wird bald von Ansätzen aus den Neurowissenschaften, die, wie bei der feministischen Philo‐ sophie, von vornherein eine Überwindung der Gegensätze Denken - Fühlen bzw. Vernunft - Affekt anstreben, überholt. Die Neurowissenschaften be‐ trachten Gefühl und Vernunft nicht als Gegensätze, sondern als miteinander verbundene kognitive Operationen. Die Affekte spielen beispielsweise anhand von sogenannten „somatic markers“ eine wichtige Rolle bei der menschlichen Entscheidungsfindung (Damasio 2000 [1994]: 194-5). Solche Befunde aus den Neurowissenschaften sind nicht unbedeutend, da sie spätere Kritik an der Affekttheorie, z. B. von Leys (2011, 2012), vorwegnehmen, die zuweilen der Affekttheorie in den Geisteswissenschaften etwas voreilig einen Verzicht auf das kritische Denken und die Intentionalität zugunsten eines unkritischen Fühlens attestiert. Diese Kritik ist nicht ganz falsch: Butler (2009: 70) beispielsweise warnt vor einem „persistent split between being affected and being able to think or un‐ derstand“. Doch die Verwendung des Passiven, die den Affekt als schwaches, eventuell weiblich codiertes Attribut darstellt, ist hier bezeichnend und verlangt, mit Hilfe eines anderen Affektbegriffs aufgehoben zu werden. Wo die Affekt‐ theorie versucht, die Kluft zwischen Kognition und anderen Erfahrungs-, Wis‐ sens- und Urteilsmodi zu überwinden, halten solche Kritiken binäre Strukturen aufrecht und monieren eine vermeintliche Umkehrung der bisherigen Hierar‐ chie: [I]n the name of a theory of affect divorced from cognition and meaning, critical thinking is condemned to scornful cynicism and readers are encouraged instead to 66 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie undertake a mode of affective criticism in which „caring“ and „empathetic“ attachment to the objects of inquiry take the place of judgement and critique. (Leys 2012: 889) Die einschlägige neurowissenschaftliche Literatur behauptet aber keineswegs, „affective processes“ seien „responses of the organism that occur independently of cognition or intention“ (ebd.: 802), sondern eher das Gegenteil. Die Emotionen bewirken eine affektive Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten des Menschen, so dass die kognitiven Entscheidungsprozesse, die im Bereich der Vernunft ab‐ laufen, durch affektive Fähigkeiten untermauert, gesteuert und überprüft werden. Somit erlangen die Emotionen sogar eine ethische Dimension, die kei‐ neswegs garantiert ist und aus diesem Grund nicht als sicher angenommen, jedoch auch nicht außer Acht gelassen werden kann. Im Bereich der Literaturwissenschaft galt der Affekt schon länger als Gegen‐ stand der Analyse. Ein wichtiger Beitrag der Literatur war es auch immer, die Gefühlszustände der Figuren zu beschreiben und diese als komplementär zu ihren kognitiv-mentalen Zuständen darzustellen. Affektive Zustände der Fi‐ guren galten als wichtiger ethischer Zugang zur Welt. Vor allem in der Romantik sollten die Emotionen der Figuren ein Gegengewicht zur instrumentellen Ver‐ nunft, die den ethischen Umgang der Menschen miteinander angeblich beein‐ trächtigte, darstellen. Dieser literarische Affekt wird über Sprache vermittelt, teilweise direkt über Figurenrede, Anrede eines Ich-Erzählers bzw. eines lyri‐ schen Sprechers, teilweise indirekt, z. B. über sprachliche Darstellungen von Körpersprache (Korte 1993; vgl. Weigel 2015: 70-137) oder projiziert auf Land‐ schaften oder Wetter nach dem Topos der „pathetic fallacy“ usw. Herkömmliche literaturwissenschaftliche Arbeiten zum Affekt konzipieren diesen Affekt als Diskursaffekt, der anhand von textanalytischen Studien und meist fokussiert durch fiktive Figuren historisch untersucht werden kann (Harbsmeier / Möckel, Hg. 2009; von Koppenfels / Zumbusch, Hg. 2016). Zwar wird die Möglichkeit eingeräumt, soziale Gefühle durch Sprache bzw. Literatur „in Echtzeit“ zu be‐ einflussen, wie etwa im Sinne der klassischen Rhetorik, der Affekt selbst wird jedoch aufgrund der Schwierigkeit des Zugangs zu den nicht textbezogenen Gefühlen fast ausschließlich als Textphänomen betrachtet. Hier wird aufgrund der ähnlich schwierigen wissenschaftlichen Aufarbeitung die extratextuelle Kommunikation der dargestellten Affekte meist ausgeklammert - auch ange‐ sichts der gefühlten Gefahr, allzu leicht in impressionistische Floskeln über die persönliche emotionale Reaktion des Lesers bzw. der Leserin zu verfallen. Solche Arbeiten bleiben daher in den Methoden der herkömmlichen Philologien ver‐ haftet und stellen ihre sprachtheoretischen und wissensgeschichtlichen Voraus‐ setzungen kaum in Frage. Mit anderen Worten, der philologische Ansatz zu Emotionen in der Literatur hält einen sicheren Abstand zum beschriebenen 67 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Phänomen und bewahrt somit die wissenschaftliche Gravitas, verfehlt dadurch jedoch die Motivation vieler Leser*innen von Belletristik und vernachlässigt die subjektive Wirkung derselben literarischen Texte, die, etymologisch gesehen, den vielgeliebten Gegenstand der Philologie bilden. Affekt II : Die Auffassung des Affekts unter Affekt I versteht Affekte als Ge‐ fühle, d. h. als individuelle, beschreibbare Gemütszustände, die dem behälterähnlichen Selbst innewohnen, doch über Sprache bzw. nicht-sprachliche Kör‐ persprache externalisiert und zum Ausdruck gebracht und vermittelt werden können. Zwar werden in den obigen Ausführungen die Funktionen von Emo‐ tionen zunehmend komplex und konstruktivistisch aufgefasst, sie bleiben letzt‐ endlich Attribute der individuellen Person bzw. des Subjekts. Wie aber die oben genannte Schnittstelle Emotion, Entscheidungsfindung und kollektive Soziali‐ sierung verrät, beruht diese Unterscheidung auf einer künstlichen Grenzzie‐ hung, deren Kontingenz kaum zu übersehen ist. Der Übergang zum interpersonellen Bereich markiert die zweite der beiden Achsen der von Seigworth und Gregg (2010: 5-6) aufgestellten Innen-Außen-Af‐ fekt-Typologie. Ganz naiv formuliert heißt es beim Affekt I: Durch Sprache können Gefühle mitgeteilt und dadurch interpersonell werden. Ein Sprechakt im öffentlichen Raum setzt einen Sender sowie einen Empfänger bzw. Adres‐ saten voraus. Auch Übertragungsverfahren sind im Spiel, da „mentale“ bzw. „physische“ Gefühle erst einmal in Sprache „übersetzt“ werden müssen, um kommuniziert werden zu können; die daraus resultierenden „emotives“ lösen ihrerseits „Gefühle“ aus, die ebenfalls sprachlicher Formulierungen bedürfen usw. Dieser Auffassung des interpersonellen Affekts liegt eine ganze Reihe bi‐ närer Gegensätze wie Ich / Nicht-Ich, Innen / Außen, Denken / Fühlen, verbale Sprache / Körpersprache usw. zugrunde, die durch die Emotion zunächst nicht in Frage gestellt werden. Anders verhält es sich, sobald ein Affekt als transindi‐ viduell betrachtet wird, vor allem im Bereich der oft unterschwellig aufgenom‐ menen Körpersprache. Ein bekanntes Alltagsbeispiel für solche Phänomene ist das Gähnen, das fast automatisch ansteckend ist und oft erst nach der Nachah‐ mung sprachlich vermerkt wird. Der Affekt wandelt sich an dieser Stelle von einem Attribut des Individuums zu einem Phänomen, das von mehreren Subjekten geteilt werden kann bzw. diese miteinander verbindet. Zu dieser Wende der Affekttheorie hat eine Viel‐ zahl von Theorierichtungen beigetragen. Als Leitkategorie für die historischen Beschreibungen von soziokulturellen Mentalitäten diente Williams’ (1977: 128-35) kultursoziologischer Begriff der „structures of feeling“, der kulturwis‐ senschaftliche Deutungsmuster für kollektive, kulturelle „Stimmungen“ lieferte, wie etwa bei der „Scham“ der Kolonisierten (Bewes 2011) oder der besiegten 68 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Deutschen der Nachkriegszeit (Koschorke 2012: 64), beim „Erdbeben-Schock“ des Mabo-Entscheids über den Fortbestand indigener Landrechte innerhalb der weißen Siedlerkolonie Australiens (Collins / Davis 2004: 78) oder bei der kol‐ lektiven „Enttäuschung“ im Südafrika der Post-Apartheid-Ära (van der Vlies 2017). Die Politikwissenschaft und die Soziologie hatten bereits empirisch in eine ähnliche Richtung vorgedacht. Das Phänomen wurde vor allem im Zuge der NS -Zeit von Adorno und seinen Kolleginnen und Kollegen (Adorno et al. 1950) als Instrumentarium der totalitären Machtausübung untersucht. Eine Neuauf‐ lage davon gibt es, Han (2014: 64-5) zufolge, im Neoliberalismus, in dem Emo‐ tionen (nicht Affekte! ) ausgenutzt werden, um schnelle, unüberlegte Entschei‐ dungen zugunsten der dem „Konsumkapitalismus“ zugrunde liegenden „Kaufreize und Bedürfnisse“ zu forcieren. Somit werden Emotionen, laut Illouz (2006), zum „Kapital“. Studien haben auch gezeigt, dass eine Reihe „politischer Affekte“ wie Schmerz oder Wut im öffentlichen Diskurs wirkungsvoll zirku‐ lieren (Ahmed 2004). Laut Davies (2018: xiv) haben Angst, Wut, Unsicherheit als „nervous states“, was mit „Gemütszustände“ übersetzt werden kann aber auch mit der Anspielung auf „nervöse Staaten“ spielt, „ [a] greater political po‐ tency than others“ als Zusammenhalt, Mitgefühl oder Großzügigkeit: The nervous system, which produces pain, arousal, stress, excitement, becomes the main organ of political activity. It is as feeling creatures that we become susceptible to contagions of sentiment, and not as intellectuals, critics, scientists or even as citizens (ebd.: 16). Im Gegensatz zu diesen soziologischen bzw. diskursanalytisch geprägten An‐ sätzen haben die poststrukturalistischen Theorien von Deleuze / Guattari (1980) eine Grundlage für die politischen Imaginarien von Hardt / Negri (2005) gelie‐ fert, wonach der Affekt als demokratisches Medium der „Multitude“ fungiert; diese Richtung wurde von Butler (2015) für den Begriff der „assemblages“ auf‐ gegriffen. Nicht nur synchron funktionieren solche „structures of feeling“, son‐ dern auch diachron: Das Trauma kann zum Beispiel auch von Generation zu Generation weitergegeben werden, so dass der Affekt nicht nur eine interper‐ sonelle Dimension aufweist, sondern darüber hinaus intergenerationelle Struk‐ turen erlangen kann (Hirsch 1992). Solche Beschreibungsmuster für kollektive Affekte lassen jedoch die Entstehungsmechanismen solcher Gruppenbzw. Massenaffekte nicht außer Acht. Theorien der Subjektivität haben mannigfal‐ tige Identifizierungsprozesse eruiert, von der „mimetische[n] Rivalität“ Girards (1977) bis hin zu einer Reihe neuerer Arbeiten zum Begriff der Mimesis. Diese Arbeiten bauen auf den lange Zeit in Vergessenheit geratenen Arbeiten von 69 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Tarde (1890) auf und betrachten, jenseits der Abbildtheorie, kulturelle Praktiken der Mimetik und der Imitation als Kern einer Art „Ansteckungstheorie“ des Af‐ fekts (z. B. Taussig 1993). Die Theorien leiten sich auch von Benjamins (1991, II : 142) Begriff der „Sprachmagie“ ab (vgl. Menninghaus 1995), der einen grundle‐ genden Zusammenhang zwischen den Dingen kommuniziert. An dieser Stelle sei ein anderer Befund aus den Neurowissenschaften erwähnt: Die noch nicht lang zurückliegende Entdeckung von Spiegelneuronen wird als Beweis für die neurokognitive Grundlage affektiver Abläufe betrachtet, die den Affekt unwi‐ derruflich in soziale und explizit ethische Kontexte einbinden (Keen 2006, 2007; Breithaupt 2009, 2017). Somit wird der Affekt als Verbindungsmedium für die Bildung von Gemein‐ schaft betrachtet, die sowohl positiv funktionieren kann, indem sie für andere Gemeinschaften anschlussfähig ist, als auch negativ, indem sie auf Exklusion basiert. Der Affekt ist sozusagen eine soziale Energie (Greenblatt 1988) oder ein gesellschaftliches Bindemittel, das an sich nicht zwingend einen moralischen oder kritischen Inhalt hat, sondern einen Rahmen bilden kann, innerhalb dessen kritische Standpunkte aufgenommen oder moralische Positionen eingenommen werden können. Diese implizieren wiederum Unterscheidungen. Doch die Un‐ terscheidung ist eine trennende Operation, die mit Vorsicht zu verwenden ist: Sanders zeigt, dass der moralischen Beurteilung des Apartheidregimes eine Ab‐ sonderung zugrunde liegen könnte, die dem separatistischen Grundgedanken der Apartheid ähnlich war; Sanders zufolge lieferte das Eingeständnis der ei‐ genen unvermeidbaren Komplizenschaft mit der Apartheit die einzige Basis für einen authentischen Widerstand gegen die Apartheid (Sanders 2001). Hier er‐ zeugt der Affekt als soziales Bindemittel - spezifisch in diesem Fall die Kom‐ plizenschaft oder etymologisch das Zusammengefaltet-Sein (siehe dazu Deleuze 1980) - in der Tat ein kritisches Konzept mit politischer Wirkungskraft. Das Konzept des Affekts als soziales Bindemittel ist immer an sich bereits mit Sozi‐ alem behaftet und verlangt eine konzeptuelle Durchführung, die performative Kontradiktionen nicht toleriert. An dieser Stelle wird klar, dass der Begriff des Affekts nicht nur eine des‐ kriptive Funktion hat, sondern auch eine präskriptive, weil er ebenfalls eine performative Dimension aufweist. Der Affekt ist ein Tun, wie es das sprechakt‐ theoretische Konzept der „emotives“ beschreibt, und das Tun hat Konsequenzen, auch politische. Laut Spinoza (1972: 157), der den Begriff des Affekts prägte, meint mit „Affekt“ „die Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeits‐ vermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Erregungen“. Im Gegensatz zu den oben zitierten Kritiken einer vermeintlichen Kluft zwischen Gefühl und Rationalität, 70 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie zwischen Affekt und Kritik, spielt der Affekt eine eher überbrückende Rolle. Der Affekt ist zwangsläufig kognitiv, moralisch und kritisch überlagert, da er die praktische Anschlussfähigkeit eines Körpers bedeutet, und durch die so entste‐ hende Komplexität - ein Kompositum, dass sich aus dem lateinischen „cum“, das „mit“ oder „zusammen mit“ bedeutet, und „plectere“, das mit „flechten“ oder „ineinander fügen“ im Sinne von „verwoben, verflochten“ übersetzt werden kann - automatisch Kognition und moralische Kritik voraussetzt. Es liegen viele literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum transindivi‐ duellen Affekt vor. Stellvertretend für solche Arbeiten kann Menninghaus’ li‐ teraturwissenschaftliche Abhandlung zum Ekel (1999) fungieren. Zwar wird der Ekel dort anhand literarischer und philosophischer Texte untersucht, diese Aus‐ führungen zeigen aber, dass der Ekel stets an der Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Sozialsemiotik und Körper zu lokalisieren ist. Somit wird der Affekt aus dem Bereich des Denkens, wenig überraschend, in den Bereich des Fühlens im breitesten Sinne des Wortes hineingetragen, d. h. weit über die Grenzen des persönlichen Gefühls hinaus. Menninghaus’ Arbeit leistet somit einen wichtigen Beitrag zur konzeptuellen Erweiterung des Affektbegriffs, der für die vorliegende Studie von großer Bedeutung ist. Bei Menninghaus wird jedoch nach wie vor ausgeklammert, wie die Literatur über die Darstellung des grenzüberschreitenden Affekts hinaus den spezifischen literarischen Affekt an den bzw. die Leser*in kommuniziert. Ähnlich verhält es sich bei den oben zi‐ tierten Arbeiten zur Scham der Kolonisierten (Bewes 2011), zum Film nach dem Mabo-Entscheid über das Fortbestehen der indigenen Landrechte in Australien (Collins / Davis 2004) oder zur südafrikanischen Literatur der Post-Apart‐ heid-Ära (van der Vlies 2017). Neuere Arbeiten zur Empathie als Leitkategorie der literarischen Kommunikation versuchen solche Fragen zu beantworten, indem sie sich auf neurokognitive Forschungen wie z. B. zur Bedeutung der Spiegelneuronen stützen, um die affektive Kommunikation zwischen Text und Leser*in zu verstehen (Keen 2006, 2007). Solche Ansätze bleiben jedoch im bür‐ gerlichen Dualismus des Text-Leser*innen-Paares verhaftet und bieten wenig Anschluss für Theorierichtungen wie die der Performativität oder der magi‐ schen Mimesis im Sinne von Benjamins „Sprachmagie“. Vor allem die letzten Ansätze sind außereuropäischen Sichtweisen geschuldet, die die Affekt-Theorie in Bereiche jenseits des Menschlichen transportieren - und somit den Übergang zum Affekt III einläuten. Affekt III : Die zwei Achsen der Affekttheorie (subjektintern und -extern), von Seigworth / Greggs (2010: 5-6) und Clough / Halleys, Hg. (2007) als „social“ oder „affective turn“ bezeichnet, setzen das Soziale mit Sprache als hauptsächlichem Kommunikationsmittel innerhalb dieses Raumes als Rahmen des Affekts voraus. 71 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Somit schränken sie die Reichweite des Begriffs in einer Art und Weise ein, die nicht nur dem Inhalt des Begriffs der sozialen Energie („l’immaîtrisable inven‐ tivité que recèle le social“ [Gauchet / Swain 1984: 151]) oder dem sozialen Bin‐ demittel als Medium der Anschlussfähigkeit, sondern sogar der Anschlussfä‐ higkeit des Begriffs eine Grenze setzt. Der Affekt wird zwar aus dem Bereich des individuellen Subjekts herausgehebelt und genießt eine neue Stellung im transindividuellen Freiraum, bleibt jedoch weiterhin im Kreis des Menschlichen. Doch das „Gefühl“ ist ein zweideutiges Konzept, halb mental-seelisch, halb physisch-körperlich geprägt, und dadurch ein Grenzphänomen, das einer ein‐ deutigen Eingrenzung widerstrebt. Mit der Haut als Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen seelischen Gefühlen und somatisch kommuni‐ zierten Körpergefühlen (Schweiß, Errötung oder Blässe, Zittern usw.) (Anzieu 1996) werden ambivalente Gefühlsoberflächen bzw. -bereiche aufgemacht, die im Prinzip offen und nur schwer abzugrenzen sind. Hier tritt eine weitere Wen‐ dung der Affekttheorie in Erscheinung - a less commonly considered strain of affect theory in literary studies, one that […] takes as its project the examination of precisely how affect might be understood to be an impersonal vital force distinct from the subjective domain of consciously codified emotion (Smith 2011: 428). In diesem Kontext muss die Genealogie der Affekttheorie an einer anderen Stelle ansetzen: nicht beim Gefühl und der Emotion als zentralen Begrifflichkeiten, sondern beim Affekt. Dieser Begriff hat eine lange Geschichte, die auf Spinoza zurückgeht. Dieser definiert Affekte, wie oben bereits zitiert, als Erregungen, die das Tätigkeitsvermögen eines Körpers vergrößern oder verringern, fördern oder hemmen können (vgl. Spinoza 1972: 157). Wenn die anscheinend willkür‐ liche Grenze zwischen „Gefühl“ und „Gefühl“, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern aufgehoben werden sollte, wer sollte entscheiden, welche Manifestationen des Affekts zulässig sind? Dürfen nur „empfindungs‐ fähige“ Wesen an Affekt „teilnehmen“? Was ist der Status der „toten“ Materie in Bezug auf den Affekt (vgl. Butler 1993; Bennett 2010)? Die zentrale Stellung des Körpers in der Affekttheorie bringt also dezidiert die Materialität des Affekts ins Spiel und breitet die Reichweite ihres Erscheinungsraums derartig aus, dass sich unweigerlich die Frage „Warum nur dieser (menschliche) Körper und nicht jener (nicht-menschliche) Körper? “ stellt. Massumi bietet in der Einleitung seiner Übersetzung von Deleuze und Guattaris Tausend Plateaus eine knappe, aber sehr brauchbare Definition dieses erweiterten Affektbegriffs: AFFECT / AFFECTION. Neither word denotes a personal feeling (sentiment in De- 72 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie leuze and Guattari). L’affect (Spinoza’s affectus) is an ability to affect and be affected. It is a prepersonal intensity corresponding to the passage from one experiential state of the body to another and implying an augmentation or diminution in that body’s capacity to act. L’affection (Spinoza’s affectio) is each such state considered as an en‐ counter between the affected body and a second, affecting, body (with body taken in its broadest possible sense to include „mental“ or ideal bodies). (Massumi 1987: xvi) Massumi hätte sogar noch andere vegetative, mineralische und sogar geophy‐ sische Körper hinzuziehen können. Weiterhin schreibt er: „Affect, like thought or reflection, could be extended to every level, provided that the uniqueness of its functioning on that level is taken into account“ (Massumi 2002: 37). Der Affekt im erweiterten Sinne reicht weit über den Bereich des Menschlichen hinaus. So kann auch der Bereich des Tierischen oder des Geomorphen miterfasst werden. Um die volle Reichweite jenes erweiterten Affektbegriffs zu verstehen, ist es notwendig, die Entstehungsgeschichte des Begriffs in verschiedenen Wissen‐ schaftsbereichen nachzuvollziehen. Im Folgenden wird gezeigt, dass die kom‐ plexen Handlungsfähigkeiten, die Menschen zugeschrieben werden, von der Physik und den Neurowissenschaften auch anderen „Aktanten“ zugetraut werden. Mit der Erweiterung des Felds der handelnden „Aktanten“ wird in einem ersten Schritt eine Plattform geschaffen, die als Grundlage für Bezie‐ hungen dient, die in einem zweiten Schritt bereits als Wirkung zu verstehen sind. Solche wirkungsvollen Beziehungen manifestieren den Affekt als trans‐ formierende Kraft, die nicht von der Beziehung, in der sie ihre Auswirkung entfaltet, zu unterscheiden ist. Es wird anschließend in einem dritten Schritt gezeigt, dass dieser Affektbegriff mit einem dynamischen Lebensbegriff de‐ ckungsgleich ist. Der erweiterte Affektbegriff dient schließlich als Oberbegriff, in den „lokale“ Begriffe wie „Gefühle“ und „Emotionen“ eingehen, so dass sie zwangsweise eine andere Resonanz erlangen. 1. Jüngste neurowissenschaftliche Studien beschreiben, dass bestimmte ur‐ sprünglich als bewusstseinsgesteuert beschriebene Funktionen (z. B. Entschei‐ dungen zu körperlichem Handeln) offenbar vorbewusst stattfinden. Schmerz‐ reaktionen werden beispielsweise von Teilen des Gehirns gesteuert, die körperliche Entscheidungen schneller treffen, als es dem Subjekt bewusst wird, so dass der „bewusste“ Schmerz erst entsteht, nachdem die Muskeln reagiert haben. Somit sind wir als Bewusstseinswesen „late for consciousness“ (Damasio 1999: 127; vgl. auch McCrone 1999). Das menschliche Bewusstsein arbeitet mit einer Geschwindigkeit von einem Zehntel einer Sekunde, so dass alles, was schneller abläuft, für das Bewusstsein unsichtbar ist (Canales 2009). Es gibt daher eine somatische Vernunft-vor-der-Vernunft bzw. eine vorbewusste Ver‐ nunft, die als wichtiger Bestandteil von Entscheidungsprozessen betrachtet 73 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen wird. Vorbewusst oder „vor-subjektiv“ bedeutet aber nicht nicht-kognitiv, son‐ dern einfach anders-kognitiv. Dies meint, dass sogar innerhalb des Menschen das Nicht-Menschliche eine tragende Rolle spielt, und dies nicht nur als „Infra‐ struktur“ für das menschliche Bewusstsein, sondern als kognitiv autonom han‐ delnde Instanz außerhalb der Reichweite der bewussten Vernunft bzw. Intenti‐ onalität. Ähnliche Impulse für die Affekttheorie kamen aus der Physik. Aufbauend auf den physikalischen Erkenntnissen des frühen 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass eine objektive Messung nicht möglich ist, da der Messapparat immer die Ergebnisse der Messung beeinflusst. Mit anderen Worten, der Beobachter, egal ob menschlich oder mechanisch, ist Teil des Experiments und macht absolute Objektivität unmöglich. Wichtiger aber ist die daraus folgende Tatsache, dass das Endergebnis des Experiments nicht durch die Mitwirkung nicht-menschli‐ cher Akteure, wie beispielsweise Messinstrumente, entsteht (Barad 2007; Planck 1929). Die Menschen sind sogar auf die Mitwirkungsbereitschaft dieser Akteure angewiesen und haben daher laut Stengers (1997) ein verträglich-ethisches Ver‐ hältnis mit Wesen wie Neutronen oder Bakterien. In ähnlicher Weise haben die wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten Latours (z. B. 2011) die Grundlagen für seine Theorie der multiplen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten, die das weltumspannende Netzwerk der Handlungsfähigkeiten ausmachen, die Actor-Network-Theory, kurz: ANT (2005), gelegt. Demzufolge müssen die Grenzen des Sozialen erweitert werden, um die materielle Welt als Gemeinschaft gleichberechtigter Akteure miteinzuschließen. 2. Die Annahme, dass Handlungsfähigkeiten überall unter den Lebensformen und auch darüber hinaus im Bereich der anscheinend leblosen Materie vor‐ handen sind, ist kaum umstritten. Viele neuere Arbeiten zur natürlichen Welt der Tiere und der Pflanzen zeigen, dass diese nicht-menschlichen Bereiche durch eine bislang ungeahnte Komplexität gekennzeichnet sind (Godfrey-Smith 2017; Montgomery 2016; Wohlleben 2015). Wo Handlungsfähigkeit zu finden ist, ist auch Transformation zu finden. In den jüngsten Befunden der „Quantum Gravity Theory“ werden die kleinsten Einheiten des physischen Universums untersucht. Diese Einheiten bilden Schwerkraftpakete, die nichts anderes sind als Bündel an Anziehungs‐ kraft. Sie haben sozusagen keine „physische“ Substanz, sondern sie bestehen aus sich stetig in Änderung befindlichen Kraftverhältnissen, die die Grundlage der physischen Materie bilden. Die Beziehung zwischen den Schwerkraftpaketen an sich ist Transformation. Die Pakete interagieren miteinander, transformieren einander, und diese gegenseitige Beeinflussung ist ihr Wesen. Sie tun dies nicht im Raum oder in der Zeit, da sie Raum und Zeit in ihrer Interaktion konstitu‐ 74 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie ieren. Aus der Dynamik der Interaktionen entsteht die Materie, aus der das physische Universum besteht. Ihre Interaktion bildet die immanente Zeit, die in ihrer stets der Veränderung unterliegenden Existenz allen Dingen innewohnt (vgl. West-Pavlov 2013). Diese Theorie lässt keinen Unterschied zwischen Exis‐ tenz und Transformation zu, noch radikaler, sie lässt keinen Unterschied zwi‐ schen Beziehung und gegenseitiger Transformation zu (Rovelli / Vidotto 2015; Rovelli 2016; Smolin 2000). Die „Quantum Gravity Theory“ bildet eine Art Blau‐ pause für sämtliche Vorgänge im materiellen Universum. Kritiker können be‐ haupten, es handele sich dabei um eine metaphorische Zweckentfremdung na‐ turwissenschaftlicher Konzepte und einen damit einhergehenden „conceptual drift“ (Tsymbal 2004). Massumi (2002: 37) erwidert: The use of the concept of the quantum outside quantum mechanics, even as applied to human psychology, is not a metaphor. For each level, it is necessary to find an operative concept for the objective indeterminacy that echoes what on subatomic level goes by the name of quantum. This involves analysing every formation as partici‐ pating in what David Bohm calls an implicate order cutting across all levels and dou‐ bled on each. Bohm und Hiley postulieren im Rahmen der Quantentheorie eine kon‐ nektiv-transformative „implicate order“, die die einzelnen „explicate orders“ untermauert und ein vereintes Universum manifestiert (Bohm 1983; Bohm / Hiley 1993: 350-89). Ähnlich macht die fraktale Geometrie (Mandelbrot 1983) eine physisch-materiell basierte und kausal verbundene Replikation von iden‐ tischen Mustern über viele aufeinander aufbauende oder ineinander verschach‐ telte Ebenen geltend. Auch in diesem Kontext kommt der Begriff des „Affekts“ als Beschreibungsmuster für multiple, auf mehreren skalaren Ebenen mitei‐ nander verbundene Transformationsvorgänge zum Tragen: „Affect is as good a general term as any for the interface between the implicate and the explicate order“ (Massumi 2002: 37). Die Behauptung, die „Quantum Gravity Theory“ könne sämtliche multiska‐ lare Vorgänge des Universums abbilden, kann etwas überspitzt erscheinen, zumal uns unsere Alltagserfahrung etwas anderes lehrt. Die Tatsache, dass die Existenz den Anschein von Stabilität erzeugt, liegt daran, dass viele Aspekte der Dynamik der Dinge nicht mit bloßem Auge zu erkennen sind oder dass die Veränderung so verlangsamt ist, dass sie wie Sta‐ bilität aussieht. So sagt Bergson beispielsweise: Or, la vie est une évolution. Nous concentrons une période de cette évolution en une vue stable que nous appelons une forme, et, quand le changement est devenu assez considérable pour vaincre l’heureuse inertie de notre perception, nous disons que le 75 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen corps a changé de forme. Mais, en réalité, le corps change de forme à tout instant. Ou plutôt il n’y a pas de forme, puisque la forme est de l’immobile et que la réalité est mouvement. Ce qui est réel, c’est le changement continuel de forme: la forme n’est qu’un instantané pris sur une transition. Donc, ici encore, notre perception s’arrange pour solidifier en images discontinues la continuité fluide du réel. (1908: 327; Her‐ vorhebungen im Originaltext) Demnach kann davon ausgegangen werden, dass Stabilität die Norm ist, wovon Dynamik bzw. Veränderung abweichen würden, während physikalisch gesehen genau das Gegenteil der Fall ist. Dasselbe gilt für Stellung und Bewegung: „Po‐ sition no longer comes first, with movement a problematic second. It is secon‐ dary to movement and derived from it. It is retro movement, movement residue“ (Massumi 2002: 7). Das Ganze läuft auf einen neuartigen Monismus hinaus: In a very real sense, reality is a single matter-energy undergoing phase transitions of various kinds, with each new layer of accumulated ,stuff ‘ simply enriching the reser‐ voir of non-linear dynamics and non-linear combinatorics available for the generation of novel structures and processes. Rocks and winds, germs and words, are all different manifestations of this dynamic material reality, in other words, they all represent the different ways in which this single matter-energy expresses itself. (DeLanda 2000: 21; Hervorhebungen im Originaltext) Einfach formuliert besteht der Skandal dieses Monismus darin, dass er ein ein‐ ziges Kontinuum postuliert, das sich multiskalar vom Nano-Maßstab bis zum galaktischen Maßstab erstreckt (vgl. Avery 2006; Milburn 2008; Morton 2013). Dabei beschränkt sich die menschliche Wahrnehmung auf einen winzigen Mit‐ telbereich zwischen diesen extrem auseinanderliegenden Polen, wie schon An‐ fang des 20. Jahrhunderts die Relativitätstheorie in ihrer Widerlegung der New‐ ton’schen Gesetze des Universums zeigte. Alles, was außerhalb des menschlichen Blicks stattfindet, wird vom Common Sense einfach ausgeblendet und angezweifelt. Das Phänomen des allmählich steigenden Bewusstseins an‐ gesichts der gegenwärtigen globalen Klimakrise zeigt aber, dass eine Verschie‐ bung des öffentlichen Blickwinkels zugunsten solcher „Hyperobjekte“ (Morton 2013) durchaus möglich ist. Wie die Quellen zeigen, entwickelte sich parallel zur Debatte in den Natur‐ wissenschaften eine eng verwandte Diskussion im Bereich der Philosophie, die zunächst unter dem Etikett des „Vitalismus“ und später dem des „New Materi‐ alism“ bekannt wurde. Bereits in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts erar‐ beitete Bergson aufgrund seiner Auseinandersetzung mit den herkömmlichen westlichen Zeitbegrifflichkeiten einen Zeitbegriff, der an der fließenden Krea‐ tivität der natürlichen Welt und der Materie (Bergson 1896), der „créativité con‐ 76 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie tinue d’imprévisible nouveauté qui semble se poursuivre dans l’univers“ (Bergson 2011: 1) anlehnte. Whitehead entfaltete wenige Jahre später verwandte Ideen. Demzufolge besteht das gesamte Universum aus Beziehungen zwischen Dingen, die sich gegenseitig beeinflussen und verändern, so dass die Existenz die Form eines „continuous stream of occurrence“ (Whitehead 1920: 172) auf‐ weist. Diese Beziehungen zwischen den Dingen bestehen jedoch nicht zwischen klar umrissenen Einheiten, sondern manifestieren sich als sowohl synchron verlaufende wie diachron reziproke Dynamiken, innerhalb derer die Dinge ge‐ genseitig auseinander entstehen (Whitehead 1929). Barad (2007: 388) zufolge ist „the dynamic set of changing relations and multiple en / foldings [of any living system] part of its ongoing reconfiguring“. Die Beziehungen sind daher nicht lediglich das Vehikel bzw. der Rahmen der gegenseitigen Interaktion und ste‐ tigen Dynamik, sondern sie sind deren gegenseitige Beeinflussung als solche und bilden daher eine „creative not-quite-human force capable of producing the new“ (Bennett 2010: 118). Diese philosophische Richtung entwickelt sich entlang zweier komplemen‐ tärer und nie ganz voneinander zu trennender Hauptachsen. Einerseits beschäf‐ tigt sich der „Vitalismus“ mit dem prozessualen Charakter aller Lebensabläufe bzw. -formen. Daran anknüpfend ist eine Reihe von Arbeiten entstanden, die das Leben als gemeinsamen, artenunabhängigen Raum (Haraway 2003; Descola 2005) auffassen. Andererseits verlagern die „New Materialisms“ die Untersu‐ chungen in den Bereich der Materie selbst (Bennett 2010; Braidotti 2002; Coole / Frost, Hg. 2010). Die „Object Oriented Ontology“ untersucht das jenseits der tautologisch strukturierten, menschlichen Behauptung, nur Menschen können sprechen, denken, fühlen usw. bestehende Mysterium der Dinge (Harman 2018). DeLanda (2000) entwirft sogar eine Geschichte der Welt aus der Sicht der Materie. Theoretiker wie Deleuze und Guattari (1980) und daran an‐ knüpfend Connolly (2010), Gilbert (2014) oder Massumi (2002, 2015) griffen Ele‐ mente aus beiden Philosophierichtungen auf und entwickelten daraus empha‐ tisch politisch ausgerichtete Varianten des „Vitalismus“ bzw. der „New Materialisms“, oft unter expliziter Verwendung des „Affektbegriffs“. Am Rande dieser Denkbewegungen stehen Theoretiker*innen, die an indigene Traditionen des Globalen Südens anknüpfen, um aus der allgemein bekannten Domäne des „Animismus“ (Bird-David 1999; Garuba 2003; Harvey, Hg. 2013; Harvey 2017; Ingold 2000, 2011; Rose 1996; Viveiros de Castro 2014, 2016) Impulse zu ge‐ winnen. Hier bilden sich an den Schnittstellen zwischen Animismus und poli‐ tischem Aktivismus Konzepte des „Lebens“ als vielfältige „Formen“, „Ethik“ und „Politik“, die die Unterscheidung „Sozius“ / „Biologie“ überbrücken (Fassin 2017) oder des „buen vivir“ (Acosta 2015; de Sousa Santos 2014), das sehr viel 77 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen mit dem Begriff des Affekts gemeinsam hat: „La vie, le pouls de la société, l’in‐ tensité des interactions sociales, le rapport qu’on entretient avec l’environne‐ ment, le fait de s’y sentier bien ou pas, le sentiment de plénitude […]“ (Sarr 2016: 19-20). 3. Es handelt sich hier also um einen erweiterten und äußerst produktiven - fast selbst-ausführenden - Affektbegriff. Mit anderen Worten, die Affekt-The‐ orie in der Variante, die sich von Spinoza ausgehend über Bergson, Whitehead, Deleuze / Guattari, Massumi, Bennett etc. fortsetzt, gilt für sämtliche Ebenen der materiellen Welt: „Affect, like thought or reflection, could be extended to every level, provided that the uniqueness of its functioning on that level is taken into account“ (Massumi 2002: 37). Der erweiterte Affektbegriff fasst den Affekt einerseits als Wirkungskraft (in den bereits zitierten Worten Spinozas [1972: 157], die „Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder […] geför‐ dert […] wird“, in der Formulierung Bergsons [1908: 95-105] ein radikal ausge‐ dehntes „élan vital“) auf, über die alle Wesen, egal ob menschlicher, tierischer, pflanzlicher oder mineralischer Natur, verfügen. Andererseits wird der Affekt, dem erweiterten Affektbegriff zufolge, nicht nur als bloße Auswirkung der Be‐ ziehung verstanden, sondern auch zugleich als deren Substanz betrachtet. Der Affekt bezeichnet daher eine Art kreative, erzeugende Energie, die nur in und durch diese Wirkungskraft besteht. Der Affekt ist die Konnektivität als pro‐ zessuales Verbindungsmedium, durch welches sich die Dinge gegenseitig er‐ mächtigen, sich reziprok zu transformieren. Der Affekt ist daher der Motor und das Medium der Existenz der Dinge als permanentes, dynamisches Wesen-im-Werden. Die Dinge existieren nur, insofern sie sich ändern, d. h. sich am Leben halten, und sie halten sich nur durch ihre gegenseitige Transforma‐ tionskraft am Leben. Der Affekt ist also die treibende, generative Kraft, die allen Dingen innewohnt und sie gegenseitig als prozessuale Wesen (Whitehead 1929) miteinander in Bewegung hält. Der Affektbegriff, der hier dargelegt wird, ist ein erweiterter Affektbegriff, und zwar nicht nur, weil er alle Bereiche des Lebens umfasst, sondern weil er einen Affekt beschreibt, der grundsätzlich und unendlich kreativ bzw. generativ ist. Der Affekt kann an dieser Stelle als „ein Synonym für den noch nicht ma‐ nifestierten Daß-Antrieb (das immanenteste Agens) im Realen überhaupt“ (Bloch 1985: V, 786; Hervorhebungen im Originaltext) verstanden werden. Er ist daher mehr als anschlussfähig für benachbarte Begriffe wie „bíos“ in der affirmativen biopolitischen Theorie Espositos (2006) oder Weheliyes (2014), die explizit der negativen Biopolitik im Sinne Agambens (2002) bzw. die „Nekropolitik“ im Sinne Mbembes (2014) widerstreben. Da wo Agamben in Hinblick auf den Holocaust 78 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie und Mbembe speziell für den Globalen Süden eine umfassende Praxis der Re‐ duzierung des Anderen (vor allem im Rahmen des Kriegs und im Zuge einer anhaltenden Versklavung von Mensch-Dingen) auf „das nackte Leben“ sieht (vgl. Mbembe 2017a, 2017c), postulieren Esposito und Weheliye dagegen das Leben als eine Größe ohne Außen und ohne absolute Negation: „[T]here can be no zōē [d. h. das „nackte Leben“ im Sinne Agambens] that isn’t already bíos [d. h. ein Leben, das sozial und menschlich bleibt]“ (Campbell 2006: 17). Das Leben geht immer weiter, auch unter Bedingungen, die es völlig auslöschen sollten. Angesichts der alternative existence of modes of life alongside the violence, subjection, exploitation and racialization that define the modern human […] we might come to a more layered and improvisatory understanding of extreme subjection if we do not decide in advance what forms its disfigurations should take on (Weheliye 2014: 2). Denn das Wesen des Lebens besteht darin, dass es immer wieder den transfor‐ mativen Anschluss durch Interaktion findet, auch an extremen Orten, wo es anscheinend scheitern sollte: „Le vivant vit à la limite de lui-même, sur sa limite“ (Simondon 1964: 260). Der erweiterte Affektbegriff bildet daher einen übergeordneten Meta-Leit‐ begriff, dem alle anderen Unterbegriffe (z. B. Affekt im Sinn von individuellem Gefühl oder sogar kollektiven Emotionen; literarische Affekte und Kommuni‐ kation von literarischen Affekten; Literaturkritik bzw. -analyse als affektive Ar‐ beit usw.) unterstellt sind. Es geht nicht darum, dadurch eine erneute Begriffs‐ hierarchisierung zu etablieren, sondern aus dem übergeordneten erweiterten Affektbegriff künftig neue Deutungen der bestehenden Unterbegriffe abzu‐ leiten. Der erweiterte Affektbegriff soll somit eine grundsätzlich neue Theorie‐ bildung in vielen Bereichen der Geisteswissenschaften ermöglichen. Kritiker können zu Recht fragen, ob eine derart ausufernde Theorie des Af‐ fekts überhaupt einen Nutzen hat, wenn sie sozusagen alles umfasst. Dazu lauten einige Antworten: Der Klimawandel zeigt ein für alle Male, dass alles mit allem zusammenhängt, und dass kein Tun existiert, das weitreichende Konsequenzen vermeiden kann. Dies ist keine schwammige, wenig rigorose Aussage über ein etwaiges „symbiotic real“ (Morton 2017), sondern stellt erst einmal scho‐ nungslos einen Tatbestand dar. Die Aufklärung dagegen ging von einer grund‐ legenden Trennung der verschiedenen Lebens- und Denkbereiche aus und hat es somit versäumt, „systemisch“ und „netzwerkbezogen“ zu denken (Capra / Luisi 2014). Die heute existierenden wissenschaftlichen Disziplinen fungieren in diesem Sinne als Aufteilungsmechanismen für das Wissen und sorgen dafür, dass man nicht über den eigenen „Kompetenzbereich“ hinaus denkt und keine 79 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen Begriffe oder Methodologien aus dem zugehörigen Kontext nimmt und somit „zweckentfremdet“ (vgl. Luhmann 1990). Angesichts der Komplexität der heut‐ zutage anstehenden Fragen können angemessene Antworten nur aus einer Zu‐ sammenarbeit mehrerer Wissenschaftsbereiche und dank einer „katachresti‐ schen“ Übertragung von Begriffen in fremde Einsatzzonen entstehen (vgl. Posselt 2005; Spivak 1990: 228). Eine produktive Zweckentfremdung des jewei‐ ligen Denkinstrumentariums ist eine Grundbedingung für eine zukunftsorien‐ tierte Wissenschaft. Die Affekttheorie liefert einen Denkanstoß für eine solche Überwindung von Fächergrenzen. Sie verlangt zunächst, dass man grundsätz‐ lich systemisch denkt, auch wenn dies ins Uferlose zu führen scheint. Sie liefert erst einmal ein theoretisches Muster für eine Denkweise, die systematisch nach den Anschlussfähigkeiten der jeweiligen Theoriebereiche und nach möglichen Andockstellen zu anderen Disziplinen fragt und trägt dazu bei, ein dringend notwendiges interdisziplinäres Denken herbeizuführen. Liefert der Affekt im Sinne dieser erweiterten Affekttheorie, wenn er so um‐ fassend alles Mögliche mit einer solchen Positivität miteinschließt, überhaupt ein kritisches Potenzial? Im Sinne von Unterscheidungen, die erlauben, Wahr‐ heit und Nicht-Wahrheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auseinanderzu‐ halten, lautet die Antwort nein. (Für eine Infragestellung jener scharfen Unter‐ scheidungen im heutigen Kontext, vgl. Morton 2019: 19-23, 39-51.) Im Sinne der performativen Produktivität generativer Koalitionen heißt sie ja. Der Af‐ fektbegriff bejaht die dynamische, transformative Anschlussfähigkeit eines jeden Wesens. Eine Praxis, die solche Konnektivitäten und Anschlussfähig‐ keiten in vielen möglichen Bereichen pflegt, ist eine Pflege des Lebens (vgl. Rose 2019), eine konkrete und oft banale Praxis des Widerstands gegen all das, was Trennung mobilisiert, um das Eine gegen das Andere auszuspielen. Deshalb ist der Begriff des Affekts bzw. die Energie, die verbindet, von sich aus kritisch eingestellt gegenüber dem „denial of coevalness“, der eine grundlegende „dis‐ tance between the West and the Rest“ voraussetzt (Fabian 1983: 35), kritisch gegenüber der „bürgerlichen Kälte“ (Adorno 1971: 100-2) sowie dem Vergessen der „Verletzbarkeit“ oder der „Trauerbarkeit“ des Anderen (Butler 2004; 2009). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Affekttheorie den Abstand zwi‐ schen Kritik und Engagement zu überwinden vermag. Sie kann die grundle‐ gende Nähe des Engagements wieder fassbar machen. Die Kritik wird dadurch in eine lebendige Beziehung eingebettet. Mit Hilfe einer Theorie des Affekts können wir die Kritik wieder leistungsfähig machen. Natürlich ist diesem An‐ satz durchaus bewusst, in welchem Maß der Affekt unter Umständen für die verführerischen Kräfte der Demagogie und des Mythos ausgebeutet werden kann. Der Affekt braucht eine Verankerung in der skeptischen Überprüfung aller 80 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Rufe nach Gehorsamkeit bzw. Gefolgschaft. Aber nicht nur das: Er bietet eine solche Verankerung von sich aus. Die Affekttheorie in ihrer Grundform und damit die Frage nach der Anschlussfähigkeit von allen Einzelwesen als deren Existenzgrundlage, liefert ein eigenes Paradigma für eine politisch-ethische Kritik. Die Affekttheorie vereint Affekt und Kritik und bietet daher eine Über‐ windung des „persistent split between being affected and being able to think or understand“, vor dem Butler warnt (Butler 2009: 70). Eine Kritik ohne Affekt zielt ins Leere, Affekt ohne Kritik dagegen verschließt sich der notwendigen Dynamik der weiteren Suche nach Anschlussmöglichkeiten: „[W]hen sentiment crystallizes, it forestalls thinking“, so Butler (ebd.). Im Rahmen eines erweiterten Affektbegriffs wird Sentiment nicht nur zum Gegensatz des kritischen Ver‐ standes, sondern es fungiert durch seinen weitreichenden Einfluss als ermögli‐ chende Matrix von Verbindungen und Beziehungen als grundlegende Voraus‐ setzung von Kritik. Was ist die Relevanz dieses erweiterten Affektbegriffs für die literaturwis‐ senschaftliche Arbeit? Geht nicht ein derartig ausschweifender Begriff weit über die Grenzen dessen hinaus, was im Wirkungsbereich der Literaturwissenschaft gemacht werden kann und soll? Im Gegenteil: Die Literatur hat schon immer das Subjektive an der Erfahrung und daher den Affekt als einen Hauptgegen‐ stand ihrer Darstellungsarbeit genommen, und im Zuge der Entwicklung der romantischen Lyrik sowie des autodiegetischen Romans den Affekt als Verbin‐ dungsmedium zwischen Text (bzw. fiktivem Erzähler) und Leser*in eingesetzt (Hjort / Laver, Hg. 1977; Nell 1988). Diese unbestrittene Ausgangslage bietet eine Plattform für die kühne These der vorliegenden Studie und die Basis des text‐ analytischen Vorgehens. Sowohl der Affekt in der Literatur als auch die Lite‐ raturwissenschaft selbst als Affekt bietet die Möglichkeit, neue Anschlussmo‐ dalitäten zur Welt zu finden bzw. herzustellen. Was könnte dies in der Praxis bedeuten? Die Frage soll im Folgenden in einer Reihe aufeinander aufbauender Schritte beantwortet werden, wobei die literaturwissenschaftliche bzw. textanalytische Praxis zwangsläufig immer wieder verschiedene Strategien miteinander kom‐ binieren und daher die Grenzen zwischen ihnen verwischen wird. 1. Wie in der Erörterung zu Affekt I dargelegt, kann ein solcher Affektbegriff selbstverständlich zunächst als dargestelltes Thema der Literatur aufgefasst werden. Somit wird der „Affekt“ als „Inhalt“ zum Repertoire der literaturwis‐ senschaftlichen Themen hinzuzufügt. Darüber hinaus gibt es jedoch weitere Anschlussmöglichkeiten für einen Affektbegriff in der Literaturwissenschaft. 2. Zunächst könnte man die Möglichkeiten eines affektiven Zugangs zum literarischen Werk überprüfen. Gemeint ist nicht ein „subjektives“ oder „ge‐ 81 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen fühlsbetontes“ „anything goes“, wie es häufig bei Studierenden beobachtet wird: „Das Gedicht vermittelt mir ein Gefühl der Trauer“ o. Ä. Auch nicht gemeint ist der seit Langem negativ besetzte Begriff der ideologiegesteuerten Leseridenti‐ fikation (Radway 1984). Vielmehr geht es um die Aufwertung des Leserinter‐ esses bzw. der Leidenschaft, die allzu oft wenig Beachtung als positiver Motor des Lektüreprozesses in der Literaturwissenschaft genießen (vgl. Felski 2017: 151-94; vgl. auch McDonald 2018). Hierzu sollen beispielsweise jüngere, von den Neurowissenschaften beeinflusste Werke zum Empathiebegriff (Keen 2007) zitiert werden. 3. Diese Fragestellung kann aber auch erweitert werden, um den Affekt als Medium des generativen Kontaktes schlechthin miteinzuschließen. Der Affekt ist bereits von der kognitiven Narratologie eingehend untersucht worden (Hogan 2003). Darüber hinaus kann der Affekt als wichtiges Medium der sprach‐ lichen Vermittlung zwischen Text und Leser verstanden werden. Ein solches Medium fungiert nicht bloß als passiver Kanal, sondern muss als aktives und produktives Gestaltungselement verstanden werden. 4. Darüber hinaus muss dieses Verständnis des Text-Leser-Bezugs auf den Text-Kritiker-Bezug übertragen werden. Anstatt die Literaturwissenschaft als distanzierte und vor allem objektive Wissenschaft der Literatur zu verstehen, die analytisch vorgeht (vgl. Adorno 2003: 9-11), soll sich eine Literaturwissen‐ schaft entwickeln, die bereit ist, die eigene Verschränkung mit dem vermeintli‐ chen Objekt der Forschung anzuerkennen und als Teil der Untersuchung miteinzubeziehen. Dieses Modell kommt aus den Science Studies und beruht auf der Erkenntnis der Physik, dass über den Beobachtungsapparat der wissen‐ schaftliche Beobachter zwangsläufig Teil des Experiments wird, so dass ein ab‐ solut „objektives“ Wissen keinen Bestand mehr hat (Barad 2007; Planck 1929). In diesem Sinne geht es darum, eine neue „Form“ der Literaturwissenschaft he‐ rauszubilden, die im Modus des Affekts, d. h. über das Medium der generativen Verbindung operiert und vor allem diesen Modus bewusst einsetzt. Die Insze‐ nierung des Affekts in der Literatur, d. h. der oben genannte Affekt als Thematik oder als Inhalt der Literatur, soll als Motor für die Art und Weise fungieren, wie Literaturwissenschaft als Studium des literarischen Schaffens betrieben wird. Mit anderen Worten, das untersuchte Objekt gibt die Methodik vor, anhand welcher es untersucht wird. Das mag paradox klingen, entspricht jedoch der Realität: Die klassische Moderne lieferte z. B. dem Poststrukturalismus das Denkwerkzeug, nicht andersherum, wie vermeintlich linguistisch-philoso‐ phisch inspirierte, poststrukturalistische Kritiker meinen könnten. 5. Im Bereich des Literarischen macht diese Verschränkung von Text, Leser*in, Forscher*in und Ansatz, der im Einzelfall als „emotionale Investition“ 82 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie seitens des Forschers bzw. der Forscherin registriert wird und oft die treibende Kraft der literaturwissenschaftlichen Forschung bildet, aus der Literatur we‐ niger ein Objekt der Analyse als einen Mitwirkenden, der dasselbe Feld der lin‐ guistischen, konzeptuellen und ästhetischen Dialektik (vgl. Bloch 1985, VII ), ja sogar Kreativität generativ teilt. Somit erlangen die „Objekte“ des Experiments den Status von Subjekten, da sie genauso am gemeinsamen Wissensunter‐ nehmen beteiligt sind wie der Forscher, wie die „Actor Network Theory“ ( ANT ) (Latour 2005) und der „New Vitalism“ bzw. „New Materialism“ (Bennet 2010; Haraway 2016; Stengers 1997) behaupten. Die hier genannten Denkströmungen sind streng genommen nicht Teil der Affekttheorie, liefern aber verwandte Konzepte der Handlungsfähigkeit seitens nicht-menschlicher Akteure, die Dank der Anschlussfähigkeit der Affekttheorie im Prozess der fortwährenden Theo‐ riebildung immer wieder herangezogen werden. 6. Es kommt hier eine neue Auffassung von Sprache zustande, in der die tra‐ ditionelle Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen aufgrund des Besitzes bzw. Nicht-Besitzes von Sprache aufgehoben wird. Dem sprachlichen Text wird eine eigene sprachliche Handlungsfähigkeit zuge‐ sprochen. Dementsprechend bilden die unterschiedlichen „Sprachen“ des lite‐ raturwissenschaftlichen Unternehmens - analytisch auf der Seite des Wissen‐ schaftlers bzw. der Wissenschaftlerin, kreativ auf der Seites des Texts - nicht die jeweiligen Modi des Subjekts und des Objekts, sondern sind sozusagen ver‐ schiedene „Dialekte“ einer ausdifferenzierten Sprache des ästhetischen Sprach‐ gebrauchs, die sich in unterschiedlichen Weisen kreativ und generativ darstellt. Dies wird beim effektiven und produktiven literaturwissenschaftlichen Ar‐ beiten sogar in der Schule (vgl. Gruschka 2011: 155-66) sichtbar. Die literatur‐ wissenschaftliche Arbeit ist nicht nur deskriptiv, sondern wird zu einem krea‐ tiven Prozess. Die Kluft zwischen dem Schreiben in der Welt und über die Welt und dem Schreiben über das Schreiben verschwindet. Es wird zu einer „Falte“ innerhalb einzelner Schreibtext(ili)e(n) (vgl. Deleuze 2000). Das Schreiben über das Schreiben wird bewusst als eine generative Teilhabe an und in der Welt verstanden, deren spezifische Auswirkungen und Verantwortungen noch zu bestimmen sind. Somit kann die Literaturwissenschaft eine verantwortungs‐ volle und engagierte Antwort darauf geben, wie der Affekt in anderen Lebens- und Gesellschaftsbereichen als weltbildende und geschichtstreibende Größe fungiert, etwa beim Affekt des „Ressentiments“, wie es von Mishra (2017) ge‐ schildert wird. 83 2.4 Theoretischer Bezugsrahmen 2.5 Methodologie Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass statt einer Theorie, die lediglich auf der Verortung von Texten in einem meist weit entfernten geschichtlichen Kon‐ text beruht, eine „affekt“-orientierte Theorie in der literaturwissenschaftlichen Analyse notwendig ist. Theorien der „Empathie“ beim Lesen belletristischer Texte erfreuen sich vor allem im Zuge neuerer neurokognitiver Erkenntnisse großen Zuspruchs, wie beispielsweise in Bezug auf Spiegelneuronen (z. B. Keen 2006; 2007; Breithaupt 2009; 2017). Wiederum lassen sich solche Ansätze allzu leicht im Bereich des individuellen affektiven Leser*innenbezugs zum Text ein‐ grenzen. Wie verhält es sich aber mit Konnektivitäten zwischen einer viel breiteren Spanne an Texten, Akteuren, diskursiven Formationen, kollektiven Akteuren usw., die ohne Ausnahme als Aktanten betrachtet werden sollen und daher über Handlungsfähigkeit verfügen? In dieser Studie wird eine Theorie der Lektüre verwendet, die über die Grenzen von kognitiven bzw. historisierend-kontextu‐ alisierenden Ansätzen hinausgeht, und den literarischen Text nicht nur als einen Raum konvergierender Konnektivitäten ansieht, sondern als einen Aktanten an sich, ausgestattet mit der Fähigkeit, Transformationen mittels Affekt herbeizu‐ führen (vgl. West-Pavlov 2018a). Deshalb wird im Anschluss an die Einleitung eine kontextualisierende Fall‐ studie zur Bundestagsdebatte über die Versöhnung mit Namibia im Zuge der Anerkennung der Hererobzw. Nama-Genozide unternommen. Konnektivität kann nicht ohne Bezugsrahmen hergestellt werden. Die Bundestagsdebatte aus dem Jahr 2016 ermöglicht es, einen Kontext zu identifizieren, in dem literarische Texte innovative Modi der Verbindung zu Afrika erproben können. Die ver‐ schiedenen Stellungnahmen der jeweiligen Parteien und ihrer Vertreter*innen werden nicht lediglich als Meinungsäußerungen, sondern als Manifestationen konfligierender Affektstrukturen bewertet, anhand derer eine Einordnung der gegenwärtigen literarischen Diskurse vorgenommen werden kann, die den weiter unten analysierten Texten zugrunde liegen. Die relevanten literarischen Diskurse werden im Anschluss an die kontex‐ tualisierende Fallstudie zur Bundestagsdebatte anhand einer Reihe literaturwis‐ senschaftlicher Lektüren erläutert. Zunächst wird Uwe Timms Roman Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]) als paradigmatisches Beispiel untersucht. Morenga ist in den mehr als vierzig Jahren seit seinem ursprünglichen Erscheinen 1978 im Münchener Autorenkollektiv AutorenEdition bei mehreren Verlagen (Aufbau, Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch) in verschiedenen Auflagen gedruckt worden. Seit 2000 erscheint der Roman in fast jährlicher Neuauflage beim Deut‐ 84 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie schen Taschenbuchverlag (dtv), deren letzte (2020) mit einem Nachwort von Robert Habeck versehen ist, der, wie bereits erwähnt, selbst Coautor eines in dieser Studie analysierten Romans ist. Der Text ist also offensichtlich nicht nur ein unumstrittener Klassiker, sondern bleibt ein Werk der unmittelbaren Ge‐ genwart, dessen akute Brisanz auch heutzutage anhand der in der Bundestags‐ debatte zum Ausdruck gebrachten Einstellungen, Positionen und Affektstruk‐ turen sehr genau aufgezeigt werden kann (siehe dazu Kapitel 3 unten). Flankierend werden fünf weitere Romane aus drei Jahrzehnten (1989 bis 2015) untersucht, um deren sehr unterschiedlichen affektiven Umgang mit der Vergangenheit des Deutsch-Namibischen Kriegs und dessen Auswirkungen in der Gegenwart zu eruieren: Zunächst werden Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) und Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994) untersucht, um die Ver‐ wendung von indigenen Protagonist*innen bzw. erzähltechnischen Fokalisie‐ rungen zu überprüfen. Anschließend wird die Gattung des Familienromans an‐ hand von Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003) und Paluchs / Habecks Die Schreie der Hyänen (2004) auf affektive Möglichkeiten geprüft. Zum Schluss wird am Beispiel von Jaumanns Der lange Schatten (2015) eruiert, inwiefern die po‐ pulärkulturelle Gattung des Krimis eventuell neue Anschlussmöglichkeiten für die affektive Kulturarbeit einräumt. Die Methodologie der Studie nimmt historische Kontextualisierungen zur Kenntnis, setzt aber die „Geschichte der Gegenwart“ (Foucault 1991: 31) in den Vordergrund. Die detaillierten Textanalysen zielen auf eine Darlegung der af‐ fektiven Indizien und Auslöser, allen voran Paradigmen der „Proximität“ (West-Pavlov 2018a), insbesondere Zeichen der „Oralität“ (Finnegan 1970, 2014; Zumthor 1983). Solche Zeichen der kommunikativen Situation deuten möglicherweise auf einen afrikanischen Intertext des hier untersuchten euro‐ päischen Romans hin, besagen aber auch, dass der Text nicht nur als Ort der „Referentialität“ bzw. der „Darstellung“ fungiert, sondern erlaubt, dass er als „post-repräsentationalistische“ (Thrift 2008) Zone von Verbindungslinien der affektiven Transformation sichtbar wird. Diese Lesart setzt eine sehr detaillierte Analyse der Textstruktur bzw. Be‐ schaffenheit voraus. Die Textanalyse in der deutschsprachigen germanistischen Tradition nimmt im besten Fall die Form einer Beschreibung bzw. einer Klassi‐ fizierung oder Kategorisierung der textuellen Strategien an, im schlimmsten Fall verfällt sie in ein plumpes inhaltsorientiertes Paraphrasieren des Texts bzw. ein liberal-humanistisches Moralisieren über dessen Inhalt. Mehr oder weniger ex‐ plizit und mehr oder weniger stark ausgeprägt liegt den beiden textanalytischen Ansätzen ein Modell der Textanalyse zugrunde, dessen Muster die Naturwis‐ senschaften sind, daher der Terminus der Literaturwissenschaft. Auf die Gefahr 85 2.5 Methodologie hin, bereits Gesagtes zu wiederholen: Grundlegende Annahme dieses Modells ist der Abstand zwischen dem wissenschaftlich beobachtenden Subjekt und dem untersuchten Objekt. Diese Annahme wurde aber in den Naturwissenschaften bereits vor hundert Jahren zunächst durch die Relativitätstheorie revidiert. Diese zeigte, dass sowohl Raum als auch Zeit als messbare Größen vom Standort des Beobachters abhängig sind (Einstein / Infeld 1956; Russell 1928). Die Quan‐ tentheorie zeigte ferner, dass kein absolut objektives Wissen durch experimen‐ telle Verfahren zu erlangen war, da das Beobachtungsinstrumentarium immer die Ergebnisse beeinflusst, um nicht zu sagen: fälscht (Barad 2009; Planck 1929). Nicht weniger gewichtig in der Entstehung eines angeblich objektiven lite‐ raturwissenschaftlichen Zugangs zum Text war die zum Teil verhängnisvolle Verstrickung der germanistischen „werkimmanenten“ Textanalyse mit völki‐ schen Diskursen; der „werkimmanente“ Ansatz, worin das „sprachliche Kunst‐ werk“ (Kayser 1948) der „Kunst der Interpretation“ (Staiger 1955) gegenübersteht, diente auch später einer Ausblendung möglicher geschichtlicher Frage‐ stellungen (ggf. im Dienste der Verschleierung der eigenen Zugehörigkeit zum NS -Machtapparat). Dem „close reading“ ähnliche Ansätze im deutschsprachigen Raum, etwa die philosophischen Lektüren Heideggers, z. B. der Dichtung Höl‐ derlins (Heidegger 1944), bzw. die werkimmanent-transzendentalistischen Text‐ analysen der Nachkriegszeit wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren der ver‐ stärkten soziogeschichtlichen Kontextualisierung geopfert. Im Zuge dieser durchaus politisch notwendigen Historisierung ging die Nähe zum Text verloren, so dass aus der Reformgermanistik der 1968er Generation ein „ungenaues Lesen“ (Rickes 1999) zustande kam. Texte wurden als Symptome für gesellschaftliche bzw. diskursive Strukturen interpretiert, einzelne Text‐ stellen als Belege gehandhabt, aber in ihrer eigenen Komplexität auf der Mik‐ roebene weitgehend ignoriert, weil solche Ansätze durch die werkimmanente Kritik unheilbar „kontaminiert“ waren. Sowohl die eher wissenschaftlich be‐ tonenden wie auch die kritisch-historisch kontextualisierenden Flügel der ge‐ genwärtigen germanistischen Textanalyse erzeugen einen grundsätzlichen Ab‐ stand zum Text, der jedoch den wahren Beweggrund der meisten Leser*innen bzw. Studierenden für die Beschäftigung mit Belletristik völlig vernachlässigt und übergeht: und zwar die gefühlte bzw. gelebte Nähe zur Literatur. Laut Zabka / Schmill / Witte spielen Faktoren wie „Emotion, Motivation, Selbstkon‐ zept [und] Einstellungen“ eine wesentliche, verbindende Rolle zwischen der „Prozess-Ebene“, d. h. dem „Textverstehen als Kognition“, und der „soziale[n] Ebene“ (Zabka / Schmill / Witt 2016: 36; vgl. auch Zabka 2016). Die Liebe zur Literatur, die der Philologie, etymologisch gesehen, zugrunde liegt, geht bei der 86 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie Bemühung um einen eher wissenschaftlichen Ansatz verloren, da sich die af‐ fektive Nähe zum Wort mit der beanspruchten Objektivität der Literaturwis‐ senschaft kaum vereinbaren lässt. Ähnlich betonte die Hermeneutik wiederum in sehr allgemeiner Weise die Rolle des historischen Kontexts des Lesens als Grundlage für die Interpretation eines Texts (Gadamer 1965). Die Hermeneutik trug der Leser*innenposition fast ausschließlich im Rahmen einer historisch rekonstruierbaren Vergangenheit Rechnung. Sobald es um den hermeneutischen „Erwartungshorizont“ des ei‐ genen Interpretationsansatzes ging, verstummte Jauß’ Rezeptionstheorie bei‐ spielsweise gänzlich zum noch sichtbaren Horizont der NS -Zeit - einschließlich der eigenen Kriegsteilnahme als SS -Offizier ( Jauß 1970; Westemeier 2015). Der noch näher liegende Horizont der Leser*innenerwartungen beim aktuellen Li‐ teraturkonsum bzw. der gegenwärtigen Literaturrezeption wird noch stärker in der Literaturwissenschaft (weniger jedoch in der belletristischen Journalistik, vgl. z. B. Neuhaus 2009) vernachlässigt. Wiederum geht es dabei um das, was die meisten Leser*innen tatsächlich zum Studium der Literatur bewegt: die Liebe zur Belletristik (Felski 2015: 179). Marielle Macé (2011: 190) hebt hervor, dass die Lust zum Lesen von der Nähe zum Text lebt. Diese Lust bzw. Liebe wird jedoch in der Literaturwissenschaft wenig berücksichtigt. Daher bedarf es einer Theorie der Textlektüre und -analyse, die nicht nur auf Distanz und Differenz, sondern auch auf Nähe und Ähnlichkeit beruht (vgl. Bhatti / Kimmich, Hg. 2015). So dürfte eine „Ästhetik der Proximität“ (West-Pavlov 2018) eine textanalytische Methode der sprachlich-körperlichen Proximität hervorbringen: „La proximité? Deux lèvres embrassant deux lèvres. Les bords de la figure se redonnant de l’ouvert“ (Irigaray 1982: 77). Im Gegensatz zum „distant reading“ (Moretti 2015) ist es heutzutage an der Zeit, eine erneuerte Kultur des „non-distant reading“ (Liska 2018) herbeizuführen. Genau dies ge‐ währleistet der textanalytische Ansatz des „close reading“. Natürlich birgt der „close reading“-Ansatz die Gefahr der Entkontextualisierung bzw. der Enthis‐ torisierung, so wie es tatsächlich der Fall bei den amerikanischen „New Critics“ war (Zima 1991: 54-9); diese Gefahr kann jedoch durch den Einsatz eines ge‐ schichtsbzw. kontextbewussten „close reading“ wie z. B. bei Eagleton (1978, 2007) eingedämmt werden. Dementsprechend baut die vorliegende Studie auf einem Ansatz der literaturkritischen und textanalytischen Nähe auf, der jedoch an die Fülle von bestehenden kontextbzw. diskursgeschichtsbezogenen Text‐ analysen anknüpft. Dementsprechend lassen die Textanalysen der vorliegenden Studie den Kon‐ text keineswegs völlig außer Acht, zielen jedoch auf ein In-Bezug-Setzen des Vergangenheitskontexts mit dem der Gegenwart sowie mit dem Text selbst, so 87 2.5 Methodologie dass die textimmanenten Strategien und Ressourcen, welche diese Bereiche miteinander kommunizieren lassen, sichtbar werden. Dieser textanalytische Auftrag geht über die Untersuchung der - keineswegs unbestrittenen, wie es immer wieder zu betonen gilt - Verbindungen zwischen dem Herero-Völker‐ mord und dem Holocaust (Fischer / Čupić 2015; Zimmerer, Hg. 2011) hinaus. Dabei werden solche Fragen nicht außer Acht gelassen, sondern in einem grö‐ ßeren Prozess historischer Entwicklungen der verschiedenen Etappen des glo‐ balen Kapitalismus - allzu oft nekropolitischer Art - gelesen, die man mit Sassen (2014) unter dem Begriff der „Expulsion“ zusammenfassen kann. Eine solche Perspektive öffnet die Vektoren und Modi der handlungstragenden bzw. -ge‐ tragenen Kommunikation zwischen den Aktanten, egal ob menschlicher, ge‐ meint sind hier z. B. gegenwärtige Deutsche und Afrikaner, oder nicht-mensch‐ licher Art, wie z. B. Landschaften (Ingold 2000: 189-208), und verortet sich im Rahmen des „geschichtlich-gegenwärtigen Affekts“. 88 2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama Hellmut Lemmers 2014 in einem kleinen Bochumer Verlag erschienener und auf wahren Begebenheiten basierender Familienroman Der Sand der Namib schil‐ dert die Erlebnisse des deutschen Missionars Karl Skär im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika zwischen 1909 und 1930. Die quasi-fiktiven Teile sind eingebettet in ein Gerüst „nicht fiktiver“ Rahmenhandlungen, die in den Jahren 1950, 1968 und 1999 stattfinden. In diesen zeitlich später angesiedelten Rah‐ menerzählungen findet eine Aufarbeitung der zwei unmittelbar nach dem Deutsch-Namibischen Krieg folgenden Jahrzehnte durch nachfolgende Famili‐ enmitglieder statt. Dabei überrascht es, dass der Krieg, der in den öffentlichen Medien in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg relativ verbreitet und unverblümt diskutiert wurde (vgl. Wassink 2004), in der nacherzählten Handlung kaum Er‐ wähnung findet. Diese bemerkenswerte Vernachlässigung des Deutsch-Nami‐ bischen Kriegs dient der vorliegenden Studie zunächst zur Kontextualisierung der unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans stattfindenden Bundestags‐ debatten zum Genozid der Herero und Nama. 3.1 Lemmers Der Sand der Namib Der Missionar Skär, der neben seiner Beschäftigung bei einer Diamantengesell‐ schaft eine Art Seelsorgetätigkeit für die einheimischen Gläubigen im nördli‐ chen Ovambo-Gebiet ausübt, erfährt nur ein einziges Mal etwas über den Krieg und die anschließenden Gräueltaten. Während des Besuchs eines Missionars‐ kollegen Langehagen aus dem Süden wird 1924 erstmalig über die Kriegshand‐ lungen von 1904 bis 1908 gesprochen: Karl ist froh, dass er endlich jemanden gefunden hat, der ihm Auskunft geben kann auf all seine Fragen. Bisher hat in erster Linie der missionarische Eifer sein Denken und Handeln bestimmt. Jetzt will er immer mehr wissen über das Leben der Farbigen, über ihre Vergangenheit. Und vor allem über die Rolle der Weißen hier in Südwest, über Rechte und Rechtmäßigkeit. Im Norden, im Ovamboland, haben sie so abge‐ schirmt und isoliert von allem gelebt, dass solche Fragestellungen kaum aufgekommen sind. (Lemmer 2014: 238-9) In der Tat war der Norden von den Kriegshandlungen relativ verschont ge‐ blieben. Die Ovambo-Bevölkerung litt dementsprechend nicht so extrem unter dem Krieg und seinen Folgen wie die Herero und Nama in den südlichen Lan‐ desteilen. Jedoch erscheint die erstaunliche Ignoranz des Missionars gegenüber der gut publizierten Kriegsführung und Unterdrückung der Einheimischen, die sogar eine Regierungskrise in Berlin auslösten (Speitkamp 2005: 140), weniger das Ergebnis des geografisch betrachtet abseits gelegenen Nordens, als vielmehr der bundesdeutschen Geschichtsverdrängung, welche die Struktur des Famili‐ enromans tief prägt. Die Tatsache, dass der Roman die Unwissenheit des Pro‐ tagonisten erklären und entschuldigen muss, deutet auf ein Bewusstsein über die Verdrängung hin, die nun zum Teil gelüftet werden soll, ohne dass die grundlegenden Strukturen des Romans davon betroffen werden dürfen. Bruder Langehagen erzählt zuerst von dem Witbooi-Aufstand von 1893, währenddessen die Witbooi-Bibel beschlagnahmt wurde: „‚Bei der Erstürmung der Feste Horn‐ kranz im Jahre 1893‘, weiß Langehagen zu berichten, ‚sollen die deutschen Sol‐ daten auf unbewaffnete Frauen und Kinder geschossen haben. Dutzende wurden niedergemetzelt‘“ (Lemmer 2014: 238). Auf die nur nach innen gewandte Frage Karls, „[W]ieviel Unrecht haben die Weißen hier begangen? “ (ebd.: 239), die aus dem Wissen resultiert, dass „ nicht alles mit rechten Dingen zu[ging]“ (ebd.), antwortet Langehagen: „Auch Witbooi soll nach diesem Massaker wehrlose Menschen getötet haben, deutsche Posten und auch Farmer“ (ebd.: 238). Erst nach diesen Verniedlichungen und Relativierungen folgt eine Information über „das unmenschliche Vorgehen des Oberbefehlshabers von Trotha gegen die He‐ rero, die zu Zehntausenden ermordet und vernichtet wurden“ (ebd.). Und mit den folgenden, wenigen Sätzen ist die Schilderung vom Krieg und Genozid ab‐ geschlossen: „Die überlebenden Nama und Herero“, endet Langehagen seinen Bericht, „wurden in Lager inhaftiert. Denk dir, Karl, hier bei uns vor Lüderitzbucht auf der Haifischinsel war ein solches Lager. […] Unsere Leute von der Mission haben dieses Lager zunächst geleitet, bis es schließlich auf ihr Drängen und ihre energischen Proteste hin verlegt wurde. Aber von den zirka 2000 Namen haben kaum mehr als 450 überlebt“ (ebd.: 239). Die Schilderung der Folgen, die sich aus den Ereignissen zwischen 1904 bis 1908 ergeben, sind vor allem an der Stelle erwähnenswert, an der die Missionare als menschliches Gegengewicht dargestellt werden; insgesamt nimmt diese Schil‐ derung jedoch nur eine von 370 Seiten ein. Es ist verstörend, dass diese Ereig‐ nisse an keiner anderen Stelle erwähnt werden. Umso erstaunlicher erscheint 90 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama daher die Reaktion des Protagonisten auf einen früheren Genozid. In diesem Zusammenhang ändert sich sein Gemütszustand schlagartig: Als er [Langehagen] ihm dann von der Buschmannjagd Ende des 18. Jahrhunderts berichtet, kann Karl es kaum ertragen. Sein Herz verkrampft. „Die Kompagnie im Kapland setzte Schussprämien aus“, sagt Langehagen mit trockener, brüchiger Stimme, „die Ergebnisse der Jagd wurden in sogenannten Schussbüchern niederge‐ schrieben. Bei den Zusammenkünften der beteiligten Buren wurden sie hitzig disku‐ tiert und bewertet […].“ Jetzt kann auch der sachliche Langehagen nicht mehr an sich halten. Er fegt die Spielsteine vom Tisch, steht auf. Er geht zum Gelände der Veranda, sieht in den tiefvioletten Himmel, wo irgendwo das Meer sein muss, nur noch ganz schwarz ist. (Ebd.: 240-1) Die Erzählung von der Brutalität der früheren Siedler gipfelt in der Feststellung: „Die Schussprämie auf die Hottentotten zahlte die Kompagnie gegen Vorzeigung der abgeschnittenen Oberlippe“ (ebd.: 241). An dieser Stelle des Gesprächs, als eine konkrete Vorstellung auch jedem rational argumentierenden Mensch das Ausmaß der Unmenschlichkeit in widerwärtigster Weise dokumentieren muss, bricht Karl Skär verzweifelt zusammen. Der Missionar presst sich die Hände vors Gesicht. Er spürt, seine Augen sind tränenblind. Auch wenn er aufblicken würde, hätte er nur tiefstes Schwarz gesehen. In dieser Nacht kann sich am endlosen Himmel über dem südlichen Afrika eigentlich kein einziger Stern zeigen. (Ebd.) Auffällig ist die heftige affektive Reaktion der zwei Figuren auf den historisch belegbaren Genozid der Ureinwohner im südlichen Afrika im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert (vgl. z. B. Adhikari 2010). Die Körpersprache übernimmt die Rolle der Sprache in einem Augenblick, in dem das Ausmaß des Schreckens die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks übersteigt. Angesichts des Irra‐ tionalen des Gräuels versagen die Vernunft und die Sprache als Medien der Kommunikation der Vernunft. Bemerkenswert an dieser Stelle ist vor allem die Diskrepanz zum unmittelbar vergangenen Genozid, den die Deutschen verübten und der in ähnlichen Prak‐ tiken der Körperverstümmelung gipfelte, wie in einem zeitgenössischen Tage‐ buch (Anonym 1907) belegt wird: Gefangene Herero-Frauen im Haifisch‐ insel-Lager wurden gezwungen, die ausgekochten Schädel von gefallenen Herero-Kämpfern mit Glasscherben zu reinigen, so dass sie in Berlin als wis‐ senschaftliche Exponate ausgestellt werden konnten. In einem Bildkommentar berichtet das Tagebuch: 91 3.1 Lemmers Der Sand der Namib Eine Kiste mit Hereroschädeln wurde kürzlich von den Truppen in Deutsch-Süd-West-Afrika verpackt und an das Pathologische Institut zu Berlin ge‐ sandt, wo sie zu wissenschaftlichen Messungen verwandt werden sollen. Die Schädel, die von Hererofrauen mittels Glasscherben vom Fleisch befreit und versandfähig ge‐ macht wurden, stammen von gehängten oder gefallenen Hereros. (Ebd.: 114) Interessanterweise wurden sowohl das Bild als auch die Bildunterschrift aus der in Windhoek veröffentlichten Neuauflage des Buchs (Kroemer 2013) stillschwei‐ gend entfernt. Eine ähnlich Zensur scheint in Bezug auf die Gräueltaten der eigenen kolonialen Schutztruppen stattzufinden, weniger hinsichtlich der ge‐ schichtlichen Substanz - die „Vernichtung“ der Herero wird ja bei Lemmer ge‐ nannt - als vielmehr die affektive Ladung besagter geschichtlicher Ereignisse betreffend. Die nüchterne Erwähnung des Völkermords an den Herero und Nama erweckt so gut wie keine affektive Reaktion bei den Protagonisten, auch wenn hier eventuell eine kognitive Korrektur auszumachen wäre. Noch wich‐ tiger als die Darstellungsebene der Figuren ist die Ebene der textuellen Struktur, auf der keinerlei sonstige Auswirkung jener kognitiven Verschiebung zu spüren ist. Es ist, als arbeiteten die mannigfaltigen narrativen Ebenen (Rahmenerzäh‐ lung, abgerückte historische Handlung mit großväterlichem Protagonisten, se‐ kundärer Erzähler der historischen Gräueltaten usw.) alle zusammen, um den moralisch-ethischen Aufprall des Schreckens abzuwehren. Mit anderen Worten, die Anerkennung des Genozids, die an dieser Stelle des Texts niedergelegt wird, bleibt völlig abgekapselt und ohne Wirkung, sowohl auf der Ebene der Ge‐ schichte als fiktive Erzählung wie auf der Ebene der Geschichte als extratextuelle Rahmenbedingung für jene nationalen Narrative, zu denen Lemmers Roman beitragen will, und sei es nur als winziger Teil eines Ganzen. Im Gegensatz zur affektiven Abkapselung der doch zum kleinen Teil - rein kognitiv - aus der geschichtlichen Verdrängung entlassenen Substanz des Hererobzw. Nama-Ge‐ nozids, kann der Genozid an den San-Völkern des südlichen Afrikas affektiv in vollem Umfang angenommen werden. Eben weil, so könnte man vermuten, nicht abgekapselt werden muss. Und dies aus dem einfachen Grund, dass man dafür keine direkte oder indirekte Verantwortung übernehmen muss. Diese bizarre Diskrepanz in der affektiven Aufnahme der gegenüberge‐ stellten Genozide im Roman Lemmers aus dem Jahr 2014 kann als eine Vorah‐ nung auf eine ähnliche Konfiguration in Bezug auf das tatsächliche deutsche Genozidgedenken aus den unmittelbaren Folgejahren gelesen werden. 2015 werden mehrere Anträge zum 100. Jahresgedenken des Armenienvölkermords 1915 bis 1916 gestellt und 2016 mit einer breiten Mehrheit und moralischer Selbstüberzeugung beschlossen (Deutscher Bundestag 2015b; 2016a). Im selben Zeitraum wurden wiederholt Anträge zum früheren Völkermord an den Herero 92 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama und Nama in Deutsch-Südwestafrika gestellt und abgelehnt. Könnte es also sein, dass Lemmers Roman die affektive Lage der deutschen Nation bezüglich der eigenen afrikanischen Kolonialvergangenheit, sofern sie im Parlament als mehr oder minder repräsentative Vertretung der Stimmen und Stimmung des Volks widergespiegelt wird, mit fiktiven Mitteln und in literarischer Form zum Aus‐ druck bringt? Hier wird natürlich nicht plakativ behauptet, dass der Autor ab‐ sichtlich inszeniert, was das Volk „fühlt“ und somit der Entscheidung des Par‐ laments vorgreift, sondern es wird unterstellt, dass die kollektiven „structures of feeling“ (Williams 1977: 128-35), die nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der Politik einen Niederschlag finden, ebenfalls zu der ästhetischen Ma‐ terie gehören, die dem literarisch Schaffenden zur Verfügung stehen, und daher überhaupt als Voraussetzung des Schreibens gelten, ohne dass bewusst darüber bestimmt werden kann. In diesem Sinne und anknüpfend an die vorangegangene theoretische und methodische Einleitung beschäftigt sich dieses Kapitel mit den Debatten um die Namibia-Frage im Deutschen Bundestag am 17. März 2016, um die gesellschafts‐ affektiven Rahmen der nachfolgenden Literaturanalysen abzustecken. Diese Debatten fielen gleichzeitig mit zwei anderen entscheidenden Ereignissen zu‐ sammen: Zum einen, wie soeben erwähnt, mit der Debatte um den Genozid in Armenien 1915 bis 1916, wozu der Bundestag einen gemeinsamen Beschluss verfasste und - im Gegensatz zur Namibia-Frage - verabschiedete (Deutscher Bundestag 2015b; 2016a). Und zum anderen mit dem nur langsam abflauenden Strom der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten - vor allem aus Syrien - und aus Afrika, der seit dem „Wir schaffen das“-Spruch von Bundeskanzlerin Merkel die Gemüter der deutschen Öffentlichkeit erregt. Die Namibia-Debatte ist für die vorliegende Studie von großem Interesse, weil sie wie eine Art aktuelles Barometer für die „Gefühlslage der Nation“ (Hecht 2000) fungieren kann. Die Debatte zeigt gewissermaßen aktuelle kollektive „Af‐ fektstrukturen“ auf, die angesichts der steigenden Relevanz Afrikas für Deutsch‐ land und der zunehmenden Sichtbarkeit von Afrikaner*innen in Deutschland von großer Bedeutung sind. Auch wenn die Wähler mittlerweile gar nicht glauben, dass ihre Parlamente sie vertreten (Streeck 2013; Rancière 2007: 13 f., 16-7), und sogar die Parlamentarier den Eindruck gewinnen, dass sie die Wün‐ sche der Wähler, die sie vertreten sollen, gar nicht kennen (Runciman 2018b), kann eine parlamentarische Debatte nichtsdestotrotz zumindest ansatzweise die Einstellungen eines gewissen, nicht ganz unbedeutenden Querschnitts der deut‐ schen Bevölkerung widerspiegeln. Vor allem hat diese Debatte für die vorlie‐ gende Studie den Vorteil, dass sie eine aktuelle Bestandsaufnahme bietet, an die ältere und weniger eng am aktuellen politischen bzw. gesellschaftlichen Ge‐ 93 3.1 Lemmers Der Sand der Namib schehen geknüpfte Medien wie die Belletristik anschließen können. Die Bellet‐ ristik ist ein „residuales“ Medium (Williams 1977: 121-7), das im Vergleich zum Bereich des Digitalen bzw. des Virtuellen immer weniger Zuspruch erhält, so dass ihr diagnostisches und kreatives Potenzial, bei aller weiterhin bestehenden Schärfe ihrer sprachlichen und narrativen Strategien, trotzdem eine schwin‐ dende soziokulturelle Reichweite erleidet. Eine parlamentarische Debatte da‐ gegen erreicht, auch wenn sie von einer kleinen Gruppe Berufspolitiker*innen geführt wird, einen Öffentlichkeitsgrad und erzeugt Resonanzen, die literarische Texte heutzutage nur selten beanspruchen können (vgl. Severin 2016). Die Un‐ tersuchung dieser Namibia-Debatte bildet daher so etwas wie einen Prüfstein für die anschließende Lektüre von Timms Morenga (Kapitel 3). Mit der hier aus‐ geführten Analyse der Bundestagsdebatte soll die aktuelle Brisanz der Fragen, mit denen sich Morenga befasst, gezeigt werden. Auch die erstaunlich lang und stabil anhaltende Popularität des Romans kann so beleuchtet werden. Timms Roman wurde Mitte / Ende der 1970er-Jahre verfasst. Der Text genoss durch eine Verfilmung Ende der 1980er (Günther / Timm 2013 [1983]) eine größere trans‐ mediale Verbreitung und ist in zahlreichen Auflagen bei mehreren Verlagen über vier Jahrzehnte hinweg immer wieder gedruckt worden. Als herausragendes Beispiel dafür gilt die dtv-Taschenbuch-Ausgabe. Wie bereits oben angemerkt wurde, erschien die 1. Auflage 2000, weitere Auflagen folgten in ungefähr jähr‐ lichen Abständen, die 15. Auflage erschien 2017. Eine neu paginierte Auflage mit einem Nachwort von Robert Habeck erschien 2020. Trotzdem weist ein li‐ terarischer Text aufgrund der stark veränderten medialen Landschaft gezwun‐ genermaßen einen gewissen Abstand zu den hegemonialen medialen Diskursen der Gegenwart auf, die es gilt, durch ein transmediales vergleichendes Verfahren auszugleichen. Im Folgenden wird zunächst der Kontext der Namibia-Debatte 2016 skizziert, vor allem mit Bezug auf die zwei Anträge der Grünen und der LINKEN . Der Inhalt der jeweiligen Redebeiträge wird kurz zusammengefasst. Anschließend wird der Geschichtsbegriff der temporellen Segmentierung analysiert, der im Laufe der Redebeiträge Anwendung findet; darin wird ein in den Redebeiträgen sichtbarer (und spürbarer) Affekttypus, nämlich der der Gleichgültigkeit, diag‐ nostiziert. Man geht allgemein davon aus, dass eine solche politische Debatte rein thesenartig, d. h. propositionell durchgeführt wird. Diese Sichtweise des politischen Diskurses ist deutlich vereinfacht. Dagegen kann man argumen‐ tieren, erstens, dass die Politik eine höchst emotionelle Angelegenheit ist (Affekt I); zweitens, dass sie mit Formen der Konnektivität und der Exklusivität durch‐ tränkt ist; und drittens, dass sie das kausale und geschichtliche Netzwerk schlechthin darstellt (Affekt II und III ). Deswegen stellt die Gleichgültigkeit als 94 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama Einstellung, als Gefühl und als Verbindungsbzw. Trennungsmodus eine wich‐ tige Größe dar. Diese Gleichgültigkeit wird anschließend als moralische Affekt‐ instanz der Schuldentlastung und der Distanzierung bewertet. Um dies zu ver‐ anschaulichen, werden daraufhin zwei performative Beispiele für die Vorführung von Distanz und Nähe (sowohl auf der geschichtlichen wie auf der geopolitischen Ebene) im Detail analysiert. Abschließend wird das Nachspiel der Debatte kurz geschildert, um die nach wie vor große Brisanz des in der vorliegenden Studie entwickelten und angewendeten affektorientierten Ge‐ schichtsbegriffs hervorzuheben. 3.2 Die Anträge im Bundestag und die anschließende Debatte 2015 steht für eine Zäsur in der deutschen politischen Aufarbeitung des Herero- und Nama-Genozids. Im Zuge der Bundestagsdebatte und ihres Beschlusses zum Armenien-Genozid konnte der Herero- und Nama-Genozid, der auch deutlich früher als der Holocaust stattfand, nun aus seinem Schatten hervortreten, auch wenn der Fokus der deutschen Beschäftigung mit anderen Genoziden selbst‐ verständlich und unvermeidbar immer im Bann des Holocausts stand und steht. Dieser Wende in der bundesrepublikanischen Namibia-Politik ging eine lange und langsame Entwicklung bezüglich der allmählichen Entschleierung des Ko‐ lonialgräuels bei anhaltender Vermeidung des Begriffs des Völkermords ab 1990 voraus. Jene Vorgeschichte detailliert nachzuerzählen, würde den Rahmen der vorliegenden Darstellung bei Weitem sprengen. Ohnehin ist eine sprachpoliti‐ sche Aufarbeitung der Historie diesbezüglich von Kößler / Melber (2017: 40-68) sorgfältig dargelegt worden, weshalb sie an dieser Stelle nicht zwingender‐ maßen wiederholt werden muss. Dennoch ist es wichtig anzumerken, dass nicht zuletzt eine vorbereitende, wenn auch beschlusstechnisch erfolglose Debatte 2012 im Bundestag (2012: 19 354-60) eine Sprachbzw. Denkwende einleitete, die durch die Impulse der Armenien-Debatte 2015 noch einmal Auftrieb erhielt. Bundestagspräsident Lammert bemerkt zur Armenien-Frage: Briefe, in denen sich Bürger nach der Armenien-Debatte an mich wandten, zeigen die in den vergangenen Jahren gewachsene Sensibilität für das Schicksal der Herero und Nama. Petitionen belegen den Wunsch nach einer klaren Haltung des Staates (Lam‐ mert 2015). 95 3.2 Die Anträge im Bundestag und die anschließende Debatte Dementsprechend wurden drei öffentlichkeitswirksame Texte im Juli 2015 kommuniziert: Sowohl die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen (Deutscher Bun‐ destag 2015a) wie auch die Fraktion der LINKEN (Deutscher Bundestag 2015c) reichten am 1. Juli 2015 Anträge zur Namibia-Frage ein. Eine knappe Woche später erschien in der Zeit eine öffentliche Stellungnahme von Bundestagsprä‐ sident Norbert Lammert ( CDU ): An den heutigen Maßstäben des Völkerrechts gemessen - demnach ist der Straftat‐ bestand des Völkermords erfüllt, wenn die Absicht besteht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ -, war die Niederschlagung des Herero-Aufstandes ein Völkermord. So wird es von zahlreichen, auch deutschen Historikern bewertet. (Lammert 2015) Frappierend waren die Gemeinsamkeiten aller drei Texte über die Parteigrenzen hinweg. Insbesondere wiesen die Anträge der Grünen und der LINKEN viele gemeinsame Forderungen auf: die Anerkennung der Schuld am Völkermord an den Herero und eine öffentliche Entschuldigung durch den Deutschen Bun‐ destag, die Stärkung und Weiterführung des bereits begonnenen Dialogs zwi‐ schen der deutschen und der namibischen Regierung, eine verstärkte und nach‐ haltige Entwicklungsarbeit angesichts der historischen Verantwortung gegenüber Namibia, eine bessere Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit durch stiftungsbasierte Initiativen, Denkmäler, Bildungsarbeit usw. sowie eine mit Nachdruck durchgeführte Rückführung namibischer Gebeine aus Deutsch‐ land. Noch interessanter aber waren die Punkte, in denen sich die Anträge unter‐ schieden. Der Antrag der LINKEN ging in zweierlei Hinsicht viel weiter als der der Grünen. Erstens stellte die LINKE die Frage nach einer Wiedergutmachung, die bei den Grünen keine Berücksichtigung fand und generell von der Bundesregierung strikt abgelehnt wurde bzw. immer noch wird. Die LINKE forderte insbesondere „die Einrichtung eines Strukturausgleichsfonds in Namibia unter Einbeziehung der namibischen Nationalversammlung, der Regierung und der betroffenen Be‐ völkerungsgruppen“ (Deutscher Bundestag 2015c: 2). Damit einhergehend ver‐ langte die LINKE für „eine angemessene finanzielle Beteiligung der Unter‐ nehmen und ihrer Rechtsnachfolger, die von Zwangsarbeit, Enteignungen und Vertreibungen in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika profitiert haben, an der Ausstattung des Strukturausgleichsfonds oder anderer im Dialog ausgehandelter Wiedergutmachungsmaßnahmen zu sorgen“ (ebd.: 3). Diese Forderung bezieht sich auf die Tatsache, dass ein unmittelbarer Gewinn seitens der damaligen Kolonialgesellschaft aus dem Deutsch-Namibischen Krieg fest‐ 96 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama gestellt werden konnte (Drechsler 1996: 297-300), weshalb auch einige deutsche Konzerne von den USA aus in dieser Hinsicht verklagt wurden (Torpey 2006: 140). Die LINKE diagnostizierte eine noch länger andauernde Gewinnmaximie‐ rung und leitete daraus eine noch bestehende Bringschuld seitens der deutschen Wirtschaft von heute ab. Besonders diese letzte Forderung der LINKEN resul‐ tierte logischerweise aus einem bestimmten Geschichtsbegriff. Dieser betont die materiellen und wirtschaftlichen Verbindungslinien zwischen der Kolonialver‐ gangenheit und der postkolonialen Gegenwart, die selbst dann noch bestehen, wenn das Ende des deutschen Kolonialimperiums genau 100 Jahre zurückliegt. Des Weiteren betonte der Antrag der LINKEN die über wirtschaftliche Kon‐ sequenzen hinaus weit in die Gegenwart reichende Auswirkung der Kolonisie‐ rung. Es wurde detailliert angemerkt, dass die Auswirkungen des Völkermordes und des deutschen Kolonialismus im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika in der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit Namibias bis heute präsent sind. Die Vertreibung der Bevölkerung und die Aneignung von Lände‐ reien und Viehbeständen unter Missachtung traditioneller Landrechte hat bis heute eine ungerechte Landverteilung zur Folge. (Deutscher Bundestag 2015c: 2) Diese Anmerkungen sind besonders wichtig für die nachfolgende Argumenta‐ tion, da sie die Grundlage für die hier dargestellte Affektgeschichte liefern. Eine solche Affektgeschichte setzt einen Geschichtsbegriff voraus, der auf Kontinui‐ täten statt auf Brüchen und Abständen aufbaut. Ein solcher Geschichtsbegriff fand in der parlamentarischen Debatte über Namibia nur selten Anwendung, überwiegend herrschte ein Diskurs der historischen bzw. zwischenmenschli‐ chen Distanz. Dieser Diskurs der Distanz wiederum lässt nicht nur einen kol‐ lektiven Affekt der Gleichgültigkeit sichtbar werden, sondern generiert diesen zugleich. Daraus entstehen Handlungen, die von einem Grundtenor der Gleich‐ gültigkeit geleitet werden. Somit wird die gesellschaftliche Bedeutung der af‐ fekttheoretischen Untersuchungen der jeweils herrschenden Geschichtsbegriffe klar. Der Antrag der Grünen war weitestgehend deckungsgleich mit dem der LINKEN . Jedoch klammerte er eine historische Perspektive von ununterbro‐ chener Kontinuität bis in die Gegenwart aus und mied, wie bereits erwähnt, sorgfältig jeden Verweis auf eine finanzielle Wiedergutmachung. Bezeichnen‐ derweise zogen die Grünen ihren Antrag im Vorfeld der Namibia-Debatte zu‐ rück, anscheinend auf Bitte der anderen Fraktionen. Allerdings wurde der An‐ trag, infolge der Ablehnung des Antrags der LINKEN im Anschluss an die Debatte nach einigen Monaten erneut gestellt. Der Rückzug des Antrags der Grünen lässt interessanterweise einige Aspekte im Rahmen der Bundestagsde‐ 97 3.2 Die Anträge im Bundestag und die anschließende Debatte batte sehr klar hervortreten: Es wurde nicht nur generell über eine Aufarbeitung des Kriegs bzw. des Völkermords von 1904 bis 1908 diskutiert, sondern auch speziell über die Aspekte, die den Antrag der LINKEN von dem der Grünen unterscheiden. Im Mittelpunkt der Debatten standen so vor allem die Vergan‐ genheit als ein kontinuierlicher Einflussfaktor der Gegenwart sowie die sich daraus ergebenden menschlichen Verbindungen und Verbindlichkeiten. Die Namibia-Frage wurde am 17. März 2016 im Deutschen Bundestag disku‐ tiert (das stenografische Redeprotokoll ist zu finden in: Deutscher Bundestag 2016b: 15 904-13). Vertreter*innen aller Bundestagsfraktionen nahmen an der Debatte teil. Der erste Beitrag von Stefan Rebmann ( SPD ) betonte, wie der fast aller nach‐ folgenden Redner*innen, die historische Verantwortung Deutschlands für den Völkermord an den Herero und Nama und die Notwendigkeit, sich zum Genozid als solchem ohne Umschweife klar zu bekennen. (Der Zeit-Beitrag von Lammert [2015] hatte in dieser Hinsicht, im Zuge langer Verzögerungen im offiziellen Diskurs der Bundesrepublik, unmissverständlich den Ton für alle weiteren po‐ litischen Debatten gesetzt). Im Anschluss daran wendete sich Rebmann, wie viele der nachfolgenden Redner*innen, dem beeindruckenden Beitrag Deutsch‐ lands zur Entwicklungshilfe zu (Deutscher Bundestag 2016b: 15 904-5). An zweiter Stelle redete Nima Movassat ( DIE LINKE ), beginnend mit der Begrü‐ ßung des namibischen Botschafters in Deutschland, der der Debatte beiwohnte. Movassat verteidigte die Entscheidung der LINKEN , ihren Antrag nicht wie gebeten zurückzuziehen. Er forderte eine klare Entschuldigung seitens der Bun‐ desregierung und erwähnte die finanzielle Wiedergutmachung in Form eines Strukturfonds (ebd.: 15 905-6). Als dritte Rednerin sprach Elisabeth Motsch‐ mann ( CDU ). Sie betonte, wie die anderen Redner, dass der Genozid nicht mehr als Faktum in Frage gestellt werden könne und hob die Grausamkeit der Täter hervor, indem sie den Schießbefehl General von Trothas wortgetreu zitierte. Wie Rebmann beantwortete sie die Frage „Was können wir tun? “ mit einem langen Verweis auf die bisherigen und bestehenden Ausgaben im Bereich der Entwick‐ lungshilfe für Namibia. Anschließend griff sie die LINKE wegen ihres nicht zu‐ rückgezogenen Antrags an (ebd.: 15 906-7). Daraufhin folgte ein kurzer Aus‐ tausch zu dieser Frage zwischen Motschmann und Movassat (ebd.: 15 907-8). Als vierter Redner sprach Uwe Kekeritz von den Grünen. Wie Rebmann unter‐ strich er die Entwicklungshilfe in Namibia, forderte dazu aber einen parteiüber‐ greifenden Beschluss des Bundestags, der den Rahmen einer offiziellen Ent‐ schuldigung gestaltete (ebd.: 15 908-9). Als fünfte Rednerin stellte Dagmar Wöhrl ( CDU / CSU ) eine kausale Beziehung her zwischen dem als vage aber bedrohlich eingestuften Aufkommen von Ressentiments gegen Deutsch-Nami‐ 98 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama bier einerseits sowie der Anerkennung des Völkermords und des Wunschs nach Reparationszahlungen andererseits. Diese Diskussion erschwere, so Wöhrl, das bisherige friedvolle Zusammenleben in einem Maße, welches das Gespenst Zimbabwes hervorrufe. Sie sprach sich dafür aus, eine Reparationszahlung von Rechts wegen auszuschließen (ebd.: 15 909-11). Anschließend sprach Ute Finckh-Krämer (Die Grünen). Sie fasste die bisherige Diskussion zusammen, nahm jedoch kaum dazu Stellung, sondern skizzierte lediglich ein Beispiel der guten Versöhnungszusammenarbeit, die eine produktive interdisziplinäre Ver‐ netzung beinhalte, aber die Hauptstreitpunkte umschiffe (ebd.: 15 911-2). Schließlich redete Charles M. Huber ( CDU / CSU ), beginnend mit einer Begrü‐ ßung des namibischen Botschafters. Er verwies erneut auf die hohen Ausgaben für Entwicklungsprojekte in Namibia und das relativ ungezwungene Engage‐ ment deutscher Unternehmen dort. Dann aber skizzierte er, nicht ohne den An‐ trag der LINKEN ins Visier zu nehmen, nuanciert und kenntnisreich die Tücken des Versöhnungsprozesses auf namibischer Seite, vor allem was die Beteiligung der verschiedenen Opfergruppen beträfe. Die Debatte schloss mit der Abstim‐ mung über den Antrag der LINKEN . Der bereits einmal abgelehnte Antrag (Deutscher Bundestag 2015e) wurde aufgrund der negativen Empfehlung des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags (Deutscher Bundestag 2017) erneut abgelehnt. In dieser Debatte trat bei fast allen Parteien außer den LINKEN der Begriff der Wiedergutmachung bzw. Reparationszahlungen als Schreckgespenst hervor. Die Vermeidung von solchen aufkommenden Forderungen stand unausgespro‐ chen in der Argumentation fast aller Redner*innen über eine abgeschlossene Vergangenheit, über verjährte Verantwortlichkeit oder über Entwicklungshilfe als eine Art Ersatzwiedergutmachung, deren Umfang von Deutschland aus kon‐ trolliert werden kann. Um solche Forderungen zuzulassen, darf keine Entschul‐ digung ausgesprochen. Dieses Verbot einer Entschuldigung manifestiert eine transnationale und transgenerationelle Kälte, die nach wie vor die Verhand‐ lungen vergiftet, auch wenn 2019 zumindest nominell etwas Bewegung in die Position der Bundesregierung kam. Allein die LINKEN mit ihrem Vorschlag eines „Strukturfonds“ waren bereit, das vermeintliche Risiko einer Wiedergut‐ machung einzugehen und ließen auf diese Weise der möglichen Auffassung Raum, dass es in der gesamten Debatte weniger um Reparationen geht, die so‐ wieso eine höchst komplexe und problematische Angelegenheit darstellen (vgl. z. B. Meyer 2006; Torpey 2006, insbesondere 134-42), als vielmehr um eine grundsätzliche Affektlage, in der die affektiv-moralisch-ethische Verbindung zum Anderen die zentrale Frage bleibt. In diesem Sinne bemerken Kößler und Melber (2017: 120): 99 3.2 Die Anträge im Bundestag und die anschließende Debatte Die bisherige Positionierung der deutschen Seite stellt denn auch gar nicht die Per‐ spektive eines beträchtlichen Ressourcentransfers als solche in Frage und spricht etwa von einer Zukunftsstiftung. Von der materiellen Substanz her wären diese Vorstel‐ lungen der deutschen Diplomatie durchaus mit den Erwartungen der Opfergruppen zu vereinbaren. Es zeigte sich im Zuge der Auseinandersetzung über den Verhand‐ lungsprozess selbst wie auch im Verlauf der Regierungsverhandlungen, dass es nicht um materielle Transfers per se geht. Vielmehr geht es um den Ausdruck des Bedauerns und der Verantwortung von deutscher Seite, die in solchen Transfers Gestalt an‐ nehmen und dementsprechend als „Reparationen“ bezeichnet werden. Alle Äuße‐ rungen der namibischen Seite verweisen auf diese symbolische Ebene und die zentrale Bedeutung, die ihr für eine konstruktive Lösung zukommt. Im Grunde handelt es sich also um den Affekt in allen - wie oben - dargelegten Facetten (Affekt I bis III ): Als individuelles aber auch kollektives Gefühl im öf‐ fentlichen Raum, als Bindeglied zwischen vergangenem Unrecht und heutiger Verantwortung sowie als Verbindungsmedium zwischen den Völkern. Die Frage der geschichtlichen wie zwischenmenschlichen - auch der kollektiv und histo‐ risch gedachten zwischenmenschlichen - Konnektivität ist die wesentliche Frage, die im Rahmen der Bundestagsdebatte auf dem Spiel stand. 3.3 Welcher Begriff von (Affekt-)Geschichte gilt im Bundestag? Auf Grundlage der oben zusammengefassten Reden der Namibia-Debatte im Deutschen Bundestag können zwei Diskussionshauptstränge identifiziert und analysiert werden. Entscheidend in Bezug auf die zwei Hauptthemen der De‐ batte ist die daraus entstehende Synthese. Diese Synthese besteht einerseits aus einem Geschichtsbegriff, der andererseits einen gewissen Geschichtsaffekt so‐ wohl voraussetzt wie auch generiert. Der erste Diskussionsstrang betrifft die vermeintliche Notwendigkeit eines gemeinsamen Antrags bzw. Beschlusses, welcher angeblich von der LINKEN sabotiert wurde. Dagegen stand die Behauptung, dass es ohne Einzelantrag überhaupt nicht zu einer Debatte gekommen wäre, da ein Beschluss eigentlich von einer parlamentarischen Mehrheit gar nicht gewollt war. Im Endeffekt kreist die Diskussion darum, welcher Sprechakt am geeignetsten ist, über den Genozid zu reden. Bei manchen Rednern bzw. Rednerinnen könnte man den Verdacht hegen, das starke Augenmerk auf den Einzelantrag der LINKEN ziele geradezu darauf ab, eine allzu aussichtsreiche Antragstellung zu verhindern. Diese Selbst‐ bezogenheit der Aussprache wirkt wie ein Selbstzweck: Sie ersetzt die Sprache 100 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama selbst. Der Selbstbezug der Sprache zementiert eine Beziehung zu sich selbst, die eine Beziehung zum Anderen verhindert. (Auf den besonderen deutschen Bezug zur einmaligen Besonderheit und Singularität des Holocausts wird im nachfolgenden Kapitel zu Timms Roman Morenga eingegangen.) Hier schließt der zweite Diskussionsstrang an, bei dem die Frage des kon‐ kreten Vorgehens im Vordergrund steht. „Was können wir tun? “, fragte Motsch‐ mann rhetorisch (Deutscher Bundestag 2016b: 15 906). Viele Redner*innen be‐ tonten, was bereits getan worden war. Dieses Tun lag ihrer Meinung nach in der Vergangenheit. So gesehen sei bereits genug geleistet worden und die An‐ gelegenheit damit abgeschlossen. Entgegen der Aussage von Movassat: „Es kann keinen Schlussstrich geben“ (ebd.: 15 906), sah die Mehrheit der Redner*innen sehr wohl einen Schlussstrich unter der Rechnung und wollte partout eine Dis‐ kussion über Reparationszahlungen verhindern. Die Entwicklungshilfe galt als angemessene Antwort auf eine seit der Kolonialepoche unveränderte Debatte über die (ehemalige) Kolonie. Es handelt sich dabei jedoch um eine Antwort, die von den vermeintlichen Bedürfnissen und Defiziten des Anderen ausgeht und daher vom europäischen Selbst bestimmt wird, anstatt die Schuld bei den Eu‐ ropäern, also sich selbst, zu suchen und somit dem Anderen eine moralische Hoheit und Handlungsfähigkeit (etwa eine moral agency) zuzuerkennen. Beide Diskussionsstränge beruhen auf einem Geschichtsbegriff, der auf der expliziten Ebene die Geschichte als abgeschlossene Vergangenheit auffasst. Der expliziten Ebene liegt jedoch eine latente Ebene zugrunde, die unaufhörlich wirkt. Hier ist die Geschichte stets als treibende Kraft der Ereignisse anwesend: in Gestalt einer kontinuierlich vorherrschenden kolonialen Einstellung, der kausalen Beziehungen und der ununterbrochen anhaltenden Auswirkung des Genozids. Ein entsprechend moderner Geschichtsbegriff der Geschichte als „verzeitlichte Geschichte“ beruht laut Koselleck (1979: 18-9) auf einer starken Segmentierung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ohne dass diese zeitlichen Kategorien ineinander übergehen. Daraus entsteht nicht nur ein Geschichtsbegriff, sondern auch ein Geschichtsaffekt, der so etwas wie eine Gefühlsblockade aufweist: Die Bewohner der Vergangenheit, vor allem die Opfer des historischen Genozids, sind in einer zeitlichen Dimension betrachtet weit weg und weit weg von unserem Mitgefühl, so dass eine daraus resultierende Form von Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Leid in einem weiteren Schritt auf die heutigen Namibier übertragen wird. Die Geschichte als UnBeziehung bzw. die UnBeziehung zur Geschichte schlägt in eine nicht endende Geschichte der (noch nicht ganz postkolonialen) Geschichte der UnBeziehung um. Es ist wichtig, diese drei Argumentationsschritte noch einmal genau zu be‐ trachten. 101 3.3 Welcher Begriff von (Affekt-)Geschichte gilt im Bundestag? Zunächst ist da die Frage nach einem gemeinsamen Einzelantrag. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine rein pragmatische Lösung für eine wir‐ kungsvolle Aussage zur Namibia-Frage seitens des Bundestags, wie es Kekeritz zum Ausdruck brachte: „Völkermord kann letztlich in diesem Haus nur glaub‐ haft aufgearbeitet werden, wenn alle Parteien gemeinsam daran mitwirken. Schuldanerkenntnis, Gedenken und Versöhnung akzeptieren nun einmal keine Parteigrenzen, und deswegen zählen wir auf die Koalition“ (Deutscher Bun‐ destag 2016b: 15 909). Es blieb jedoch nicht lange bei diesem emphatisch bodenständigen Ansatz. Motschmann prangerte die LINKE an für die vermeintliche Untergrabung des parteiübergreifenden Konsenses und für die ebenso vermeintliche Instrumen‐ talisierung der Namibia-Frage für die Zwecke der Parteipolitik: „Sie verkennen, dass sich dieses Thema am allerwenigsten für parteitaktische Manöver eignet“ (ebd.: 15 907). Motschmanns Zurechtweisung war in sich widersprüchlich, da sie ausgerechnet mit solchen Vorwürfen genau den parteipolitischen Kampf entzündete, den sie der LINKEN anlastete, wie zu Recht von Movassat ange‐ merkt wird (ebd.: 15 906). De facto degenerierte die Debatte in Teilen zu einer internen Problemsituation in Bezug auf die Vergangenheitsbewältigung der Parteien. Und tatsächlich kam kein gemeinsamer Antrag zustande: Sowohl der Antrag der LINKEN wie auch der der Grünen wurden abgelehnt. Dies lässt vermuten, dass die „parteitaktischen Manöver“ mit großer Sicherheit zu Lasten Motschmanns gehen. Motschmann machte der LINKEN den Vorwurf, sie missbrauche die Koloni‐ alvergangenheitsbewältigung als Ablenkungsmanöver für eine ausgebliebene Sozialismusvergangenheitsbewältigung: „Sie haben noch so viel mit Ihrer ei‐ genen Vergangenheit zu tun. Kümmern Sie sich erst einmal darum“ (ebd.: 15 907). Dieser Vorwurf war trügerisch, da er die SED -Vergangenheit der dama‐ ligen PDS , die einen Teil der Mitglieder der heutigen LINKEN stellt, als Aus‐ schlusskriterium für eine Beteiligung der LINKEN überhaupt an der Debatte darstellt. Der Vorwurf der belasteten eigenen Vergangenheit vernachlässigt dabei die wegweisende Arbeit der DDR -Historiker*innen an der Aufklärung der Kolonialzeit in Deutsch-Südwestafrika. Ferner lässt er die konkrete und oft sehr pragmatische Unterstützung der SWAPO durch militärische, medizinische, ag‐ rartechnische und humanitäre Hilfe seitens der DDR außer Acht. (Diese Hilfe wirft ein durchaus positives Licht auf die ostdeutsche Namibia-Politik. Vor allem im Vergleich zur Haltung der BRD , die der Politik der südafrikanischen Apart‐ heidregierung in Namibia keineswegs widersprach [Schleicher 2006]; vielmehr gab es in den 1970er- und 1980er-Jahren, wie allmählich bekannt wird, enge und 102 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama tiefgreifende Verstrickungen zwischen der Bundesregierung und dem Apart‐ heidregime [Anthes / Kolvenbach 2019]). Motschmanns Vorwurf einer fehlenden Vergangenheitsbewältigung ist ferner tückisch, da er im Endeffekt versucht, eine andere Vergangenheitsbe‐ wältigung zu verhindern. Die LINKE behauptete, ohne Aufrechterhaltung des bereits schon einmal abgelehnten Antrags (Deutscher Bundestag 2015e) hätte gar keine Debatte stattgefunden: „Hätten wir unseren Antrag zurückgezogen, würde es heute hier keine Debatte geben. Das wäre gegenüber den Nachfahren der Opfer, die einfordern, dass der Bundestag sich mit den Verbrechen von da‐ mals beschäftigt, respektlos“, so Movassat (ebd.: 15 905). Auch wenn die Grünen im Sinne eines gemeinsamen Antrags ihren eigenen zurückgezogen hatten, be‐ jahten sie die Entscheidung der LINKEN , ihren Antrag nicht zurückzuziehen: „Deswegen haben wir unseren Antrag zur historischen Verantwortung Deutschlands in Namibia heute auch abgesetzt. Ich danke dafür, dass ihr euren auf der Tagesordnung belassen habt, damit wir darüber diskutieren können“, so Kekeritz (ebd.: 15 908). Die Idee eines gemeinsamen Antrags entsprang der Überzeugung, die Ent‐ schuldigung solle parteiübergreifend ausgesprochen werden, so dass sie als Ausdruck des deutschen Volkes fungieren könne. Die LINKE stand dieser Be‐ hauptung implizit skeptisch gegenüber. Sie hielt einen Einzelantrag aufrecht, weil sie fürchtete, wie bereits geschildert, ohne einen solchen Antrag komme gar keine Debatte zustande. Eine Debatte zur Namibia-Frage, so die LINKE , sei eigentlich seitens gewisser Fraktionen unerwünscht. Mit anderen Worten, die LINKE glaubte, die mehrheitliche Neigung der Parlamentarier sei eher, den Ge‐ nozid in Vergessenheit ruhen zu lassen. Den Beweis hierfür sah sie darin, dass die Bundesregierung bzw. die Koalition keine Schritte für einen eigenen Antrag unternommen hatte. Movassat merkte an: Ein Rückzug unseres Antrags wäre nur in Betracht gekommen, wenn es einen ge‐ meinsamen Antrag aller vier Fraktionen im Bundestag gegeben hätte. Die Koalition hatte monatelang Zeit, entsprechende Schritte zu machen. Sie haben nicht einmal einen eigenen Antrag vorgelegt. (Bundestag 2016b: 15 905) Obwohl die Verbindung von niemanden explizit gezogen wurde, entstand letzt‐ lich der Eindruck, dass der Antrag der LINKEN vor allem einen Alleingang in Sachen Reparationszahlungen darstellte. Ein gemeinsamer Antrag war ge‐ wünscht, weil ein gemeinsamer Antrag den kleinsten gemeinsamen Nenner be‐ inhalten würde, was automatisch die Erwähnung einer finanziellen Wiedergut‐ machung ausschließen sollte. Auch deswegen waren die Grünen bereit, ihren Antrag zurückzuziehen. In diesem wurden Wiedergutmachungen oder Repara‐ 103 3.3 Welcher Begriff von (Affekt-)Geschichte gilt im Bundestag? tionszahlungen mit keinem Wort erwähnt, was vermuten lässt, dass sich die Grünen aufgrund ihrer gemäßigten Ansprüche eine Zusammenarbeit mit den anderen Fraktionen erhofften. Eine solche Zusammenarbeit ist jedoch bislang (Stand 2020) nicht zustande gekommen. Der Einzelantrag der Grünen, der später noch einmal gestellt wurde, scheiterte. Zweitens wirft die durchgehende Verweigerung Fragen auf. So ist es auffällig, wie oft bei der Frage nach Reparationen finanzielle Leistungen besprochen wurden. Auffällig bei Rebmann zum Beispiel ist der sofortige Übergang von der Aussage, dass „die Bezeichnung von Völkermord sehr wohl angebracht“ sei, zu einer genauen Bezifferung (in Millionenhöhe) der bereits geleisteten Entwick‐ lungshilfe. Mit anderen Worten: Reparationszahlen seien bereits gewährt worden. Dasselbe wurde noch einmal explizit von Kekeritz unterstrichen: „Es kann heute nicht mehr um Entschädigungszahlungen an einzelne Personen gehen. Deutschland engagiert sich - das ist gesagt worden - seit vielen Jahren entwicklungspolitisch stark in Namibia“ (Deutscher Bundestag 2016b: 15 909). Diese Haltung zur Gleichsetzung von Versöhnung und Reparationen mit Entwicklungshilfe stand im deutlichen Widerspruch zur Stellungnahme der LINKEN in ihrem Antrag vom 1. Juli 2015: Der Bundestag unterstützt den darin [d. h. im Beschluss der namibischen National‐ versammlung vom 26. Oktober 2006] angemahnten Prozess eines umfassenden, ziel‐ gerichteten und strukturierten Dialogs ohne Vorbedingungen, das heißt ohne Aus‐ lassung der Wiedergutmachungsfrage als einen wichtigen Bestandteil des Versöhnungsprozesses. Die verstärkte bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Namibia ist wichtig. Sie unterscheidet sich jedoch prinzipiell von Wiedergutmachung und kann diese nicht ersetzen. (Deutscher Bundestag 2015c: 1-2) Diese Position wurde in dem erneuten Antrag der LINKEN vom 16. März 2018 noch einmal bekräftigt: Inzwischen gibt es in Namibia eine rege Diskussion darüber, ob die Entwicklungszu‐ sammenarbeit, die immer den Charakter einer einseitigen Hilfsleistung seitens des Gebers trägt, in diesem Fall der richtige Ansatz ist. Entwicklungszusammenarbeit un‐ terscheidet sich prinzipiell von Wiedergutmachung, die sich aus der Anerkennung eines Anspruchs von Geschädigten für erlittenes Unrecht ergibt. (Deutscher Bun‐ destag 2018: 5) Mit der starken Akzentuierung von Budgets und Entwicklungspolitik - ein‐ schließlich „Defizite[n]“ (Deutscher Bundestag 2016b: 15 904) - und der man‐ gelnden Anwesenheit namibischer Beiträge zur Debatte, erinnerte die Debatte von 2016 zu großen Teilen an frühere Debatten zur Zeit des Kolonialismus am 104 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama selben Ort. Damals wie heute trat die SPD als kritische Instanz hervor, die al‐ lerdings den Grundsatz des Imperialismus ebenso wenig in Frage stellte wie sie heutzutage die Grundsätze der defizitgeleiteten Entwicklungspolitik hinter‐ fragt. Damit wird klar, dass sich die grundlegenden geopolitischen und weltwirt‐ schaftlichen, ja gar ethnozentrischen Einstellungen zur Beziehung mit Afrika kaum geändert haben - abgesehen davon natürlich, dass der unverhüllte Ras‐ sismus und die diskriminierende Sprache nicht mehr salonfähig sind. Das Ko‐ lonialunternehmen wurde im Rahmen des Kapitalismus geboren (vgl. Galeano 1997; Rodney 1972) und stellte in der Debatte von 2016 weiterhin den diskur‐ siven bzw. konzeptuellen Rahmen dar. Das heißt, der abstrahierende Begriffs‐ rahmen des Kapitalismus, der alle Dinge und Beziehungen auf einen rein fi‐ nanziellen Wert reduziert, bestimmt auch die Diskussion um das heutige Namibia in Bezug auf den Genozid von 1904 bis 1908. Mit anderen Worten, weitgehend dieselben Diskursrahmen, die vor hundert Jahren die Beziehung zu den afrikanischen „Untertanen“ bestimmten, bestimmen auch heute die Bezie‐ hung zu den heute lebenden Namibiern. Aus diesen zwei Punkten resultiert nun, drittens, ein Ergebnis. Nämlich die abgeriegelte Segmentierung der Geschichte, genauer: die Abschottung der Ge‐ genwart gegen eine vermeintlich abgeschlossene Kolonialvergangenheit. In Verbindung mit den fortlaufenden Verhandlungen zwischen der Bundesregie‐ rung und der Regierung Namibias, die als Hauptgrund - oder Vorwand? - für die Forderung an die LINKE galten, ihren Antrag zurückzuziehen (Bundestag 2016b: 15 905), stellte der deutsche Verhandlungsführer Polenz klar: „Es kann nicht um persönliche Geldentschädigung an Nachfahren früherer Opfer gehen“. Der Grund dafür ist die geschichtliche Entfernung von den Ereignissen: „Wir haben es in Namibia mit der Ururenkel-Generation zu tun“ (N- TV 2017). Polenz’ Worte sind ein ausgezeichnetes Beispiel für eine Version der Geschichte, der zufolge die Vergangenheit zwar ausschließlich in einer Richtung kausal mit der Gegenwart verbunden ist, nichtsdestotrotz jedoch von den anderen Zeitkate‐ gorien scharf getrennt ist. Die Vergangenheit hat die Gegenwart zwar beein‐ flusst, ist aber absolut vergangen. Als eine von vielen widerspricht dieser Auf‐ fassung in aller Deutlichkeit Christa Wolf mit einer der wohl bekanntesten Aussagen der deutschen Gegenwartsliteratur, die zugleich auch den Beginn ihres Romans Kindheitsmuster darstellt: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd“ (Wolf 1976: 9). Genau dies bewirkt die exemplarische Aussage Polenz’: Die Vergan‐ genheit wird „abgetrennt“, um Wolfs Worte zu nutzen, und somit können Teile der Gegenwart auch abgeriegelt werden - und dies selbstverständlich nach Kri‐ 105 3.3 Welcher Begriff von (Affekt-)Geschichte gilt im Bundestag? terien der Geopolitik und der globalisierten Wirtschaftslogik. Damit treten auch Spuren eines Affekts zu Tage: „Wir […] stellen uns fremd“. Das heißt, wir fühlen eine Distanz zur Vergangenheit, die zugleich eine Distanz und Kälte gegenüber der Gegenwart und seinen Bewohner*innen, unseren Mitmenschen, erzeugt. Sichtbar wird an dieser Stelle so etwas wie eine Umkehr des Fabian’schen (1983: 35) Diktums des „denial of coevalness“, mit dem er die unausgesprochene Behauptung der westlichen Anthropologen meint, vermeintlich primitive Na‐ turvölker, mit denen sie reden, um daraufhin ihr Wissen über diese zu extra‐ hieren, lebten gar nicht in derselben historischen Zeit wie sie, auch wenn sie in der Gegenwart mit ihnen im Gespräch ständen. Im Umgang mit den heute lebenden Nama und Herero wird dieser „denial of coevalness“ in einem geradezu chiastischen Vorgang umgekehrt: Die tatsächliche historische Entfernung wird ausgenutzt, um eine mögliche Nähe oder „coevalness“ in der gegenwärtigen Aushandlung der Vergangenheit abzuwenden. Äußerst merkwürdig - und bemerkenswert - an dieser Haltung ist die Tat‐ sache, dass sie die Geschichte in demselben Moment, in dem sie deren Wieder‐ kehr verneint, fast wortwörtlich wiederholt. Man denke an die weitverbreitete Einstellung der Bundesdeutschen in der Adenauer-Ära, die behaupteten, „daß alles wiedergutgemacht worden war, daß die Vergangenheit Vergangenheit war. Die Zeit der Lager […] war längst vorbei […]. […] ‚Wir‘ hatten Zahlungen ge‐ leistet […]. Wir hatten aufgebaut“ (Endres 1983: 8). Dieselben Topoi der vollzo‐ genen Wiedergutmachungen, der ausreichenden Zahlungen und des Wieder‐ aufbaus, sprich: die Entwicklungshilfe als vorbeugender Ersatz für Reparationszahlungen, und die nicht mehr existierenden Lager sind vergleich‐ bare Ansatzpunkte. Es geht mitnichten um eine abgeschlossene Geschichte, vielmehr scheint die Einstellung gegenüber Namibia lediglich eine Neuauflage einer tief verankerten, jedoch in der Öffentlichkeit nicht mehr salonfähigen Einstellung aus der Nachkriegszeit zu sein. Die Behauptung einer segmentierten Geschichte stellt, geschichtlich gesehen, einen performativen Widerspruch dar und bestätigt genau das Gegenteil vom Behaupteten. Im deutlichen Gegensatz zu dieser segmentierten Begriffsgeschichte, die in Wirklichkeit keineswegs segmentiert ist, stellte der Antrag der LINKEN fest, dass es klare kausale Verbindungen gibt zwischen dem Völkermord, der an‐ schließenden Enteignung der Herero und Nama sowie der heutigen Wirt‐ schaftssituation. Es werden Kontinuitäten zwischen der „ursprünglichen Ak‐ kumulation“ der Kolonialepoche (Marx / Engels 1962: 741-2) und der Unterentwicklung Namibias aufgezeigt. Solche historischen Verbindungen bilden eine vollständige Mikroskopie des Globalkapitalismus, in welchem die heutige Debatte zu kontextualisieren ist: 106 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama Der Deutsche Bundestag ist sich bewusst, dass die Auswirkungen des Völkermordes und des deutschen Kolonialismus im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika in der sozi‐ alen und ökonomischen Wirklichkeit Namibias bis heute präsent sind. Die Vertrei‐ bung der Bevölkerung und die Aneignung von Ländereien und Viehbeständen unter Missachtung traditioneller Landrechte hat bis heute eine ungerechte Landverteilung zur Folge. Insbesondere den Herero und Nama fehlen die Mittel, um Land zu erwerben oder in anderer Form die historischen Verluste wettzumachen und sich eine eigen‐ ständige wirtschaftliche Grundlage wieder aneignen zu können. (Deutscher Bun‐ destag 2015c: 2) Um die Richtigkeit diese Stellungnahme zu unterstreichen, sei hier am Rande angemerkt: Nach wie vor ist etwa die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Besitz von Nachfahren deutscher Siedler, obwohl sie nur etwa sechs Prozent der 2,3 Millionen Einwohner stellen (Buchter 2018). Dieser Zustand resultiert unmittelbar aus der bereits während des Deutsch-Namibischen Kriegs vollzo‐ genen Enteignung der Kolonisierten in Deutsch-Südwestafrika (Kößler / Melber 2017: 28-9). Zusammenfassend lässt sich zum einen konstatieren, dass SPD , CDU , und bis zu einem gewissen Grad sogar die Grünen den Fokus auf die Höhe der Ent‐ wicklungsgelder für Namibia richteten. Zum anderen blieben die Diskurs‐ rahmen des industriellen Kapitalismus, die in ihrer Gesamtheit - gekoppelt mit dem Imperialismus bzw. Kolonialismus - als „war capitalism“ verstanden werden können (Beckert 2015: 28-55), im Wesentlichen unverändert. Diese kausal-strukturelle Kontinuität wird durch eine Verdrängung derselben verschleiert. Ein Geschichtsbegriff der nicht rückgängig zu machenden Zeit‐ schleusen verstärkt den Mythos einer undurchdringlich segmentierten Ge‐ schichtsstruktur, die eine Verantwortung gegenüber der Vergangenheit und sogar gegenüber der Gegenwart beiseiteschiebt - um nicht von der Zukunft zu reden! (Mann / Wainright 2017: 72-3) Daraus entsteht das, was Adorno (1971: 100-2) als „bürgerliche Kälte“ bezeichnet hat. Ein Affekt, welcher sich sowohl gegen die Mitmenschen der Gegenwart, hier sei noch einmal an das oben ge‐ nannte Zitat Renate Köchers (vgl. Mair 2018) erinnert, wie auch gegen die Mit‐ menschen der Vergangenheit richtet, da er auch gegen die Vergangenheit selbst gerichtet ist. Diese Art der Diskursanalyse ist im Grunde nicht neu. Weniger geläufig ist dagegen der Versuch, eine Analyse der Diskursstrukturen umzuwandeln in so etwas wie eine Analyse der „structures of feeling“ (Williams 1977: 129-35) oder „Affektstrukturen“, die nicht nur Sprachstrukturen untermauern, verstärken und multiplizieren, sondern auch über die Grenzen der Sprache hinaus in viele kausale Beziehungen miteinfließen und die produktiven materiellen Verhält‐ 107 3.3 Welcher Begriff von (Affekt-)Geschichte gilt im Bundestag? nisse der Welt nicht nur färben, sondern auch aktiv gestalten. Wie kann man solche „Affektstrukturen“ anhand einer Analyse manifester bzw. latenter Dis‐ kursstrukturen festmachen? Weitere Spuren eines affektiven Geschichtsbegriffs, wohl aber in verkehrter Form, findet man in der Rede Movassats: Deutschland hat sich […] bis heute nicht für diesen Völkermord entschuldigt. Das ist seit Jahrzehnten ein Schlag in das Gesicht der Menschen in Namibia. Es braucht end‐ lich einen klaren Beschluss des Bundestags dazu und eine würdige Geste der Ent‐ schuldigung durch die Bundesregierung in Namibia (Bundestag 2016b: 15 906). Movassats Redewendung von einem „Schlag in das Gesicht“ ist die falsche Me‐ tapher, da es hier nicht um Nähe, und sei es die Nähe der Gewalt, geht, sondern um eine Gleichgültigkeit, die allzu leicht durch geografische Entfernungen und geopolitische Machthierarchien aufrechterhalten werden kann. Dafür ist Mo‐ vassats Vorschlag einer Geste der Entschuldigung auf namibischem Boden umso trefflicher, da auf diese Weise eine Beziehung zumindest auf staatsritueller Ebene zustande kommen könnte. Von großer Bedeutung ist in dieser Hinsicht die einzige Stelle, an der eine Kontinuität der Geschichte in den Beiträgen der Redner*innen der Parteien des konservativen Zentrums festzumachen ist. Die Erwähnung historischer Konti‐ nuität konnte bei Wöhrl ausgemacht werden. Dieser wies im Modus einer Ko‐ lonialnostalgie, ganz in der Tradition der Stellungnahmen der Bundesregie‐ rungen der 1990er-Jahren, auf die „besondere Verantwortung“ gegenüber der deutschsprachigen Minderheit hin: In der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika findet sich noch viel heimische Kultur. Man findet dort noch Bäckereien, dort gibt es auch noch Schwarzwälder Kirschtorte, man findet liebevoll hergerichtete Häuser in Swakopmund, und man hört noch die deutsche Sprache (Deutscher Bundestag 2016b: 15 910). Die fast peinlich wirkende Kitsch-Nostalgie weicht abrupt der als tragisch dar‐ gestellten postkolonialen Realität: Die Zahl der Muttersprachler schwindet allerdings. Die deutsche Minderheit macht zurzeit nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung aus. In Gesprächen, sei es mit Besu‐ chern, die in Namibia gewesen sind, oder mit deutschen Namibiern, hört man, dass sich sehr viel geändert hat, dass das Deutsche langsam verschwindet. (Ebd.) Im Rahmen des Diskurses der Kolonialnostalgie kann „Veränderung“ nur den Verlust der wertvollen Vergangenheit bedeuten. Diese „Veränderung“ sei jedoch kein Zufall, sondern der Verdienst böswilliger Einheimischer: „Deutsch wird aus 108 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama den Lehrplänen gestrichen, deutsche Namen verschwinden von den Straßen‐ schildern. Es heißt, die Regierung habe das Bedürfnis, die Zeichen der Koloni‐ alzeit zu beseitigen“ (ebd.: 15 910). Im Klartext: Die guten alten Zeiten hätten wohl länger gedauert, wenn die postkolonialen Einheimischen nicht das „Be‐ dürfnis“, im Sinne kleinlicher persönlicher Willkür, verspürt hätten, der nach-, aber in der Tat noch-kolonialen Epoche ein unnötig frühes Ende zu setzten. Die wirtschaftliche bzw. politische „Nähe“ Deutschlands zu Namibia, die nach der - laut UNO illegalen - Weiterbesetzung Namibias durch Südafrika ab 1966 wei‐ terhin Bestand hatte, war auch eine „Nähe“ zu der quasi-kolonialen Situation in Südafrika selbst (Freytag, Hg. 1987: 5-6). In der Rede Wöhrls wird solchen de‐ finitiv überholten sozioökonomischen bzw. geopolitischen Ordnungen noch mit einer gefühlten „Nähe“ nachgetrauert. Da diese „Nähe“ eher zu einem ausbeu‐ terischen globalen Wirtschaftssystem und dessen lokalen Stellvertretern besteht als zu den Menschen, die seit mehr als einem Jahrhundert darunter leiden, kann man im Schatten dieser Scheinnähe eine tiefe Gleichgültigkeit vermuten. Die Tatsache, dass sowohl der Antrag der LINKEN als auch der der Grünen von der Großen Koalition abgelehnt wurden, evoziert ein klares und nachhal‐ tiges Bild. Der Antrag der LINKEN (gestellt am 1. Juli 2015; 2015c) wurde am 17. März im Anschluss an die Debatte unter Enthaltung der Grünen abgelehnt (Deutscher Bundestag 2016b: 15 953). Der Antrag der Grünen, auch am 1. Juli 2015 gestellt, jedoch zeitweilig zurückgezogen, wurde ohne Aussprache auf‐ grund der negativen Empfehlung des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags (Deutscher Bundestag 2015d) am 29. Juni 2017 ebenfalls abgelehnt (Deutscher Bundestag 2017). Diese doppelte Ablehnung bekräftigt den Eindruck, dass eine Mehrheit im Parlament nicht willens ist, eine offizielle Entschuldigung auszusprechen und es stattdessen vorzieht, die ganze Arbeit der Vergangenheitsbewältigung einer kleinen Gruppe professioneller Diplomaten bzw. Unterhändler zu überlassen. Vor allem wird durch alle Parteien hinweg der Widerwille sichtbar, sich dem Thema der finanziellen Wiedergutmachung - sprich: Reparationszahlungen - zu stellen, wenn es sich dabei direkt um Opferverbände bzw. Nachfahren der Opfer handelt. Einen gemeinsamen, über Parteigrenzen hinaus unterstützten Antrag gibt es weiterhin nicht; auch eine offizielle Entschuldigung seitens der Bundesregierung ist bislang (d. h. zum Zeitpunkt des Verfassens der Studie 2020) nicht zustande gekommen (vgl. Denzel 2018; Tagesschau 2018). Ferner werden Reparationszahlungen von der Bundesregierung weiterhin ausge‐ schlossen und Sammelklagen von Opferverbänden der Herero und der Nama von der Bundesrepublik als unzulässig abgewiesen. Vermutlich aus diesen Gründen stellte am 16. März 2018 die Fraktion der LINKEN erneut einen Antrag 109 3.3 Welcher Begriff von (Affekt-)Geschichte gilt im Bundestag? zum Thema Namibia im Bundestag, insbesondere bezüglich der Etablierung eines Fonds für die indigenen Bevölkerungsgruppen der Herero und Nama (Deutscher Bundestag 2018a). Aufgrund einer negativen Empfehlung des Aus‐ schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Deutscher Bun‐ destag 2018b) wurde der Antrag am 21. März 2019 abgelehnt (Deutscher Bun‐ destag 2019c: 10 664-10 669). All diesen Tatsachen liegt ebenfalls die kollektive, transhistorische Affektstruktur menschenverachtender Gleichgültigkeit zu‐ grunde, die im obigen Abschnitt angedeutet wurde, und die es gilt, in den fol‐ genden Teilen dieses Kapitels mittels einer vertiefenden Analyse weiter heraus‐ zukristallisieren. 3.4 Gleichgültigkeit - zwei Bedeutungen Movassat fasste die Gesamtlage mit den folgenden Worten zusammen: In Namibia gibt es schon seit 2006 einen entsprechenden einstimmigen Beschluss der Nationalversammlung. Der spricht von Völkermord und fordert Reparation und Drei‐ parteiengespräche der Regierungen unter Einschluss der Opfergruppen (Deutscher Bundestag 2016b: 15 905). Angesichts der sehr klaren Forderung der Regierung Namibias nach Rechtsaus‐ gleich und Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit klang Motschmanns Bemerkung, „[w]ie groß der Wunsch nach Versöhnung und Ver‐ gebung auch aufseiten Namibias ist“, merkwürdig neutral und ausgewogen. Ebenso neutral und ausgewogen wirkte die Formulierung ihrer Aussage: „Wir müssen alles für gegenseitige Versöhnung und Vergebung tun“ (ebd.: 15 906, 15 907). Diese Formulierungen vermitteln den Eindruck, dass die Verantwortung auf beiden Seiten gleich groß sei, dass der „Streit“ von beiden Seiten ausgehe und „Vergebung“ ebenso von beiden Seiten geleistet werden müsse. Selbstver‐ ständlich sind die gewalttätigen Verquickungen auf beiden Seiten in jedweder Kriegssituation unfassbar komplex. Nichtsdestotrotz wirkt die implizite Be‐ hauptung Motschmanns, beide Seiten wären gleichsam dafür verantwortlich, eine Versöhnung herbeizuführen, wie ein Versuch, die Schuld der Deutschen zu minimieren. Dies wird natürlich erleichtert durch die unausgesprochene An‐ nahme, dass die echte, unverminderte Schuld bei den ursprünglichen deutschen Tätern von 1904 bis 1908 liege. Dagegen verbleibe bei den heutigen „Erben“ der Täter nur eine aus der historischen Ferne vererbte - und dadurch verfärbte und verminderte - Schuld. Diese werde - so die Implikation - bereits durch die Fähigkeit, den Genozid namentlich als einen solchen zu bezeichnen, fast voll‐ 110 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama ständig getilgt. Zumal „[z]ur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland […] ein kritischer und bewusster Umgang mit unserer eigenen Geschichte [gehöre]“, der von vorneherein gegen etwaige Außenkritik schütze. Übrig bleibe nur die moralische Verpflichtung zur Entwicklungshilfe, der man durchaus nach‐ komme, da dies „die höchste Entwicklungshilfe pro Kopf in Afrika“ sei, so Motschmann (ebd.: 15 906). Es ist bezeichnend, dass Rebmanns Auflistung: „Unser Engagement reicht von Projekten im Transportwesen und im Bereich der Infrastruktur […] bis hin zum Gesundheitsbereich“ (Deutscher Bundestag 2016: 15 904), ein schlichtes „[u]nser Engagement reicht“ in sich birgt. Diese Annahme des Genug-getan-Habens wurde verstärkt durch die Behauptung, dass nach mehr als 100 Jahren „kein Rechtsanspruch auf Ausgleichszahlung“ bestehe, so Wöhrl (Deutscher Bundestag 2016b: 15 910, 15 911). Das „Gefühl“, das hier kursiert, ist ein Affekt der moralischen Überlegenheit und der (Selbst-)Entlastung durch ein abstraktes Berechnen und „Rechthaben“, welches auf dem zugrunde liegenden Gefühl basiert, nicht unmittelbar in die Ereignisse verstrickt, und daher nicht mit Schuld behaftet zu sein. Indem das Gefühl ent‐ stehen kann, dem Anderen nichts zu schulden, entsteht auch kein moralisches Gefühl der Verbindung. Das Subjekt von heute verkennt dabei jedoch die vielen unsichtbaren historischen und gegenwärtigen Verbindungen vor allem global‐ wirtschaftlicher, geopolitischer und globalökologischer Art, die Europa und Af‐ rika auf mannigfaltige Weise miteinander verflechten. So entstehen ein Affekt der Gleichgültigkeit, die alles andere als gleichgültig ist, sowie ein Gefühl der Unverbindlichkeit, die alles andere als unverbindlich ist. Dieses anscheinend neutrale, de facto jedoch höchst wirkungsgeladene Gefühl der Distanz ähnelt, strukturell gesehen, der Wiederbelebung des distanzierten Schießbefehls (Töten ohne (an)zu / tasten) im performativen Zitat der Rede Motschmanns. Damit wird suggeriert, die Verhandlungspartner hätten einen gleichwertigen Beitrag zu den Verhandlungen zu leisten, was wiederum voraussetzt, dass die Ausgangspositionen gleichberechtigt und vergleichbar sind. Demgemäß wird die historische Ungleichheit bzw. die Kolonialbeziehung ebenso außer Acht ge‐ lassen wie die fundamental ungleiche Kriegssituation. Ferner wird die morali‐ sche Ungleichheit völlig außer Acht gelassen: Auf der deutschen Seite steht moralfaktisch eine historische Schuld, die getilgt werden muss und nicht einfach ohne weiteres aus der Welt geschafft werden kann. Es ist eine moralische Schuld, die in eine verhandlungstechnische Bringschuld übersetzt wird, d. h. in eine Verpflichtung zum Entgegenkommen. Die Andeutung einer vermeintlichen Neutralität der Verhandlungssituation bedeutet, diese Schuld bzw. dieses Etwas-Schulden unilateral auszuradieren. Ausgerechnet in dem Augenblick, in dem die Vergangenheit ausgehandelt wird, wird zugleich jene Vergangenheit 111 3.4 Gleichgültigkeit - zwei Bedeutungen von ihrer schmutzigen, beschämenden Seite bereinigt. Ganz so, als ob die Ereig‐ nisse von damals von nun an völlig neutral betrachtet werden könnten. Eine solche unausgesprochene Behauptung in den Raum zu stellen, ist jedoch in sich äußerst widersprüchlich, da gerade jene Einstellung die strukturellen Macht‐ verhältnisse von damals erneut aufführt. Allein schon in der Geste, den mora‐ lischen Zeigerfinger zu erheben, wird eine Überheblichkeit sichtbar, die eine stillschweigende Neuauflage der vermeintlich zivilisatorischen Kolonialhaltung von damals wiedererkennen lässt. (Besonders deutlich wurde eine solche Hal‐ tung, als die Deutschen eine korrekte Umsetzung der Landreform anmahnten, wobei die Forderung von der Bundesrepublik als Nachfolgerstaat des Deutschen Reiches kam. Mit anderen Worten, vom nationalstaatlichen Nachfolger derer, die die damaligen Enteignungen als unmittelbare Konsequenz des Deutsch-Na‐ mibischen Kriegs vollzogen [Kößler / Melber 2017: 50]). In den späteren Ver‐ handlungen wird diese - hier noch sehr leise artikulierte - Einstellung viel deutlicher, z. B. in dem von Polenz ausgelösten Eklat, als er auf den Vorrang des Holocausts gegenüber anderen Genoziden hinwies (Habermalz / Schlüter 2017). Die namibische Verhandlungspartnerin Esther Utjiua Muinjangue berichtet: [Polenz] sagte uns, wir sollten aufhören, unseren Völkermord mit dem Holocaust zu vergleichen. Das hat uns sehr wütend gemacht, und wir sagten zu ihm: Heißt das, das Leben von einem Nama oder einem Herero hat keinen Wert? […] Unser Völkermord wird ignoriert, weil wir schwarz sind (N-TV 2017). Die etwas unpräzise beschriebenen Gefühle, sollten nicht nur als „Emotionen“, gleichgültig ob individueller oder kollektiver Natur, verstanden werden. Statt‐ dessen sind sie als soziale Teilaspekte von viel umfassenderen, sogar globalen oder kosmischen, Verbindungsmedien aufzufassen, die weit über das Mensch‐ liche hinausreichen und durchaus materiellen Bestand sowie kausale bzw. phy‐ sische Wirkung haben. Dieses Konzept des Affekts ist kein mystisches Ge‐ schwätz, sondern entstammt Theorien der konkret generativen „implizite[n] Ordnung“ in der Physik (Bohm 1983). Letztgenannte ist eine allumfassende Theorie der physischen Kausalitäten (Capra / Luisi 2014), die auf der Fraktal‐ theorie basiert (Mandelbrot 1983), deren multiskalare Spannweite von der Na‐ noskala der Quantum-Schwerkraft-Partikel (Rovelli 2016; Rovelli / Vidotto 2015) bis hin zum kosmischen „Licht(jahr)kegel“ eines Phänomens reicht (Smolin 2000: 55-61; siehe auch Fassin 2017: 22-5). Übertragen auf die Affekt‐ theorie gewinnt man einen Affektbegriff, der Affekte als die spürbaren, fass‐ baren wirkungsmächtigen Leitungen bzw. Kontaktflächen zwischen Ding-Ereignissen (Smolin 2000: 52-4) versteht, die gelegentlich von Individuen als „Gefühle“ oder „Emotionen“ aufgefasst werden können. 112 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama 3.5 Performative Affekte Angesichts der demonstrativen Aufführung historischer Abgeschlossenheit auf Grundlage eines Affekts menschlicher Verschlossenheit ist es frappierend, an welchen Stellen, wie bereits oben mit Bezug auf die Kolonialnostalgie Wöhrls angedeutet, ein Affektfluss doch zugelassen wird. Dieses Phänomen wird auch sichtbar - oder besser: spürbar - während der Eröffnungsrede Motschmanns im Bundestag. Nach einer affektiven Bewertung der Grausamkeit, lässt Motsch‐ mann eine noch exaktere Beschreibung des Affektbegriffs „Schmerz“ folgen: „Der Befehl, den General Lothar von Trotha damals gab, war so grausam, dass es wehtut, ihn hier noch einmal aufzurufen; aber Vergangenheitsbewältigung tut eben weh und muss auch wehtun“ (Deutscher Bundestag 2016b: 15 906). Motschmann fährt fort: „Ich zitiere Trotha: ‚Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen‘“ (ebd.: 15 906). Jedoch passiert an dieser Stelle etwas sehr merkwürdiges in Bezug auf den Affektbegriff des „Schmerzes“. Analog zur Verwendung des Passiven in der deutschen Wissenschaftssprache werden hier die Personalpronomen im Dativ weggelassen. Wem tut es weh, den Prozess der Vergangenheitsbewältigung auf sich zu nehmen? Inwiefern fungiert das Weglassen der Personalpronomen als ein Schutzmechanismus, der das Objekt des Wehtuns aus der Schusslinie zieht und die Vergangenheitsbewältigung als subjektloses und daher für das Subjekt schmerzloses Verfahren ablaufen lässt? Aufgrund der weggelassenen Personal‐ pronomen in Bezug auf die Vergangenheitsbewältigung wirkt dies jedoch eher abstrakt. Angesichts der beschriebenen Evakuierung des Subjekts der Vergan‐ genheitsbewältigung ist es geradezu auffällig, dass ausgerechnet direkt im An‐ schluss an die Aufhebung des Schmerzes der Schießbefehl von Trothas von Motschmann wieder zitiert - ja im performativen Sinne geradezu „aufgerufen“ - wird. Der Akt des Zitierens ist ein höchst paradoxer Sprechakt, der zwei absolut gegenläufige Wirkungen mit sich zieht. Einerseits soll der Aufruf auf der expli‐ ziten Diskursebene bei den Zuhörer*innen von heute das Bewusstsein für die eigene Mitschuld an den Taten von damals schärfen. Andererseits bewirkt das Zitieren des Schießbefehls auf einer eher unterschwelligen Ebene genau das Gegenteil. Bezeichnend ist hier die Tatsache, dass Motschmann die Schlusszeilen aus Trothas Brief zitiert: „Dies sind meine Worte an das Volk der Hereros. Der große General des mächtigen deutschen Kaisers“ (ebd.). 113 3.5 Performative Affekte Entscheidend für diese zweite, gegenläufige Wirkung sind zwei sprachliche Merkmale des Zitats. Zum einen ist die betonte Selbstreferenzialität der ur‐ sprünglichen Aussage von Trothas auffällig: „Dies sind meine Worte“ [Hervor‐ hebung RWP ]. Durch den doppelten Selbstbezug des Sprechaktes (deiktisches Demonstrativpronomen, selbstreflexives Sprachelement) erlangt die Schluss‐ zeile den Status einer rituellen Aussage. Das Wort erscheint durch die Autore‐ ferenzialität wie etwas Eigenständiges, die Wörter wirken beschwörend, be‐ kleiden sich mit einer magischen Wirkung (Calame-Griaule 1965; Taussig 1993). Zum anderen bedient sich die Aussage einer fast parodistischen Imitation des vermeintlich „primitiven“ Sprachduktus des afrikanischen Gegenübers („Der große General des mächtigen deutschen Kaisers“ [Hervorhebung RWP ]). Entsprechend bewirkt die groteske Übernahme des rituellen Sprachgebrauchs der kulturell Anderen die Herabsetzung der Anderen, die in diesem spezifischen Fall ins Extreme mündet, d. h. in deren Vernichtung. Eben diese Ritualität kommt in der Aufführung Motschmanns wieder zum Vorschein. Sie wiederholt und aktualisiert sozusagen die Pseudo-Ritualität von Trothas. Ein Blick auf Motschmanns Rede in der Videoaufnahme des Bundes‐ tags- TV (Motschmann 2016: 0: 27-0: 36) macht diesen rituellen Aspekt des ver‐ meintlich neutralen Zitierens ganz deutlich. Die volle „Körnung der Sprache“ (Barthes 2002) kommt zum Vorschein. Noch deutlicher wird dieser Aspekt der Rede Motschmanns im Vergleich mit einem anderen Zitat von Trothas in der Rede des Grünen-Abgeordneten Movassat (Deutscher Bundestag 2016b: 15 905). Auch in diesem Zitat geht es um „Terrorismus“, „Grausamkeit“ und Vernich‐ tung“: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut und Strömen von Geld“. Es fehlt jedoch im Kommentar Movassats sowohl der sprachliche Selbstbezug wie auch die parodistische Reproduktion der „primitiven“ Sprache. Stattdessen wirkt hauptsächlich die denotative Di‐ mension des Zitats. Ebenfalls lehrreich in dieser Hinsicht ist ein Vergleich mit dem Zitat in Timms Roman Morenga (2000 [1978]: 32 / 2020 [1978]: 33). Hier ist von Trothas Befehl Teil einer Collage von Zitaten aus den Militärbzw. Kolonialarchiven unter der Kapitelüberschrift „Zwei Positionen“. Damit werden einerseits die Vernich‐ tung - d. h. absichtlicher Völkermord - gegen die Rettung zwecks Ausbeutung der eingeborenen Bevölkerung als Zwangsarbeitskräfte gleichsam abgewogen. Bei Timm fehlt jedwedes Pathos, aber auch der denotative Aspekt der Sprache wird hier nicht neutral dargestellt. Vielmehr ist die Methode von Timm, wie bei Benjamin, dialektisch: „Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen“ (Benjamin 1991, V.1: 574). Daher muss die Leserin 114 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama bzw. der Leser zur Kenntnis nehmen, dass weder Grausamkeit noch rassistischer Zynismus der moralischen Entscheidungskraft der damaligen Beteiligten etwas nehmen. Solche derartig einander gegenüber gestellten Zitate in Timms Roman ähneln, wie bei Benjamin (1991, IV .1: 138), „Räuber[n] am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und den Müßiggänger die Überzeugung abnehmen“ und sich jeglicher verklärender und daher wiederholender Ritualität entziehen. Bleibt also zu fragen, ob im Zuge dieser von Motschmann inszenierten Ritu‐ alität auch die Vorführung einer Vernichtungsabsicht durch den wiederaufge‐ griffenen Schießbefehl in irgendeiner Weise ebenfalls nachwirkt. Dementspre‐ chend wäre der von Motschmann erwähnte „Schmerz“ tatsächlich noch einmal auf den Anderen abgeladen. Zusammenfassend kann gesagt werden: Der „Schmerz“ der Vergangenheits‐ bewältigung wirkt abstrakt und unpersönlich, als ob beim Gedenken der Gräu‐ eltat von damals die Siegernachfahren möglichst ohne jegliches Nachempfinden die Schuld von sich fernzuhalten versuchen. Ganz konkret dagegen wirkt der Schießbefehl, der im Hier und Jetzt nicht vom Stellvertreter des großen deut‐ schen Kaisers rezitiert wird, sondern von einer Stellvertreterin des deutschen Staats, dessen Bundeskanzler*in im Verteidigungsfall als Oberbefehlshaber*in der Streitkräfte gilt. Es geht hier also um eine latente performative Durchfüh‐ rung eines vermeintlich vergangenen Befehls, der angesichts der fehlenden Ausrichtung der Vergangenheitsbewältigung auf das sprechende Selbst zwangs‐ läufig wiederholt auf die damaligen Opfer zielt. Mit anderen Worten: Wenn sich das sprechende Subjekt aus der Schusslinie des moralischen Schmerzes zieht (Abstraktionsstrategie), wer kommt stattdessen in die Schusslinie des aufs Neue ausgesprochenen Sprechaktes (Performativitätsstrategie)? Diese Argumentation mag übertrieben wirken. Sie ist es jedoch nur insofern, als dass die latente performative Wirkung mit interpretativer Gewalt explizit gemacht werden muss, um die unterschwellige und deshalb umso mächtigere Auswirkung des Sprechaktes darlegen zu können. Die sanfte diskursive Gewalt, welche durch die unterschwellige Sprachwirkung ausgeübt wird, wird an an‐ deren Stellen in der Rede Motschmanns sichtbar, wenn von „gegenseitige[r] Versöhnung und Vergebung“ gesprochen wird (Deutscher Bundestag 2016b: 15 907). Man darf zu Recht fragen, wer wem vergeben soll. Die Täter können die Opfer um Vergebung bitten, nicht aber diese verlangen. Die Täter müssen den Opfern auch nicht vergeben. Oder geht es hier darum, dass die Täter sich selbst vergeben? Dürfen sich die Nachfahren der Täter nun auch vergeben, da sie durch ihre Bereitschaft, an den Verhandlungstisch zu kommen und durch die Aner‐ kennung der eigenen Schuld, bereits genug getan haben und somit eben jene Schuld getilgt haben? Diese diskursive Selbstpositionierung bereitet den Boden 115 3.5 Performative Affekte für die späteren Vorwürfe über eine nicht-kooperative Haltung der Namibier bei den Verhandlungen. Zwei Topoi der Siegerversöhnung werden dabei sichtbar: Entweder bieten die Sieger der Geschichte den Opfern eine „Versöh‐ nung“ oder „Normalisierung“ an, und zwar unter den Bedingungen, welche die Sieger bestimmen. Oder es kommt zu einer Kultur der floskelartigen Vergan‐ genheitsbewältigung, in der der Sprechakt des Entschuldigens anstelle eines wahrhaftigen Wiedergutmachens steht. Bei dieser Art der Vergangenheitsbe‐ wältigung geht es darum, wie der Nobelpreisträger J. M. Coetzee bissig bemerkt, Entschuldigungen ohne Haftung auszusprechen: „[T]o word apologies without admitting liability“ (Coetzee 2007: 108). Deutlich wird, dass die Verwendung eines affekttheoretischen Ansatzes kei‐ neswegs ohne die Hilfe der Diskursanalyse auskommen kann. Es geht nicht darum, die Diskursanalyse durch die Affekttheorie zu ersetzen, sondern viel‐ mehr wird die Affekttheorie als Komplementierung der Diskursanalyse konzi‐ piert. Da, wo die Diskursanalyse eine objektive Analyse der verwendeten lin‐ guistischen und rhetorischen Strategien ermöglicht, geht die Affekttheorie einen Schritt weiter und fragt nach der relationalen und handlungsorientierten Auswirkung oder Einbettung solch diskursiver Strategien. Das unerlässlich komplementäre Miteinander der jeweiligen Ansätze wird überdeutlich. In Bezug auf die Interpretation der Rede Motschmanns ist dies ebenfalls klar zu sehen: Obwohl die diskursiven Strategien analysiert wurden, geht es weniger um sie als um die daraus entstehenden Affekte. Eine emotionale Wirkung - oder besser noch: eine bestimmte Handlung - aufseiten der Zuhörer herbeizuführen, ist bekanntlich das Ziel der klassischen Rhetorik, das im heutigen bundespar‐ lamentarischen Kontext weiterhin relevant bleibt. Interessant sind vor allem die Affekte, die durch den „Wiederaufruf “ des Schießbefehls erzeugt wurden, welche nicht nur als „Emotionen“ bei den Zuhörer*innen entstehen, sondern in Form „geteilter“ oder „kollektiver Emotionen“ konkrete Beziehungsmodalitäten gestalten und auf diese Weise als kollektive Handlungsrahmen fungieren. Innerhalb dieser Rahmen wird klar, dass das deutsche, durch „Mit-Schuld“ geprägte Subjekt nicht an der historischen bzw. geopolitischen Beziehung teil‐ haben möchte. Es geht auf Distanz und kündigt die Beziehung der Mit-Schuld auf. Parallel dazu bewirkt das performative Ausrufen des damaligen Schießbe‐ fehls, dass eine latente, auf einer nicht sichtbaren Gefühlsebene existierende Beziehung wieder ins Leben gerufen wird, welche auf der Inhaltsebene durch eine distanzierte Vernichtung des Anderen geprägt ist. Die Schusswaffe steht in einer langen Entwicklungslinie der Kampfwaffen, welche die Kontrahenten immer weiter voneinander entfernt. Den Anfang dieser Entwicklung bildet das Schwert als Verlängerung des Arms bzw. der 116 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama Faust; die heutige Drohne, mit Hilfe derer der Soldat bzw. die Soldatin aus einem Abstand von Tausenden von Kilometern den Feind außer Gefecht setzen kann, markiert das äußerste Ende dieser Entwicklung (Chamayou 2015). Das Gewehr transformierte die Kriegsführung auf radikale Weise durch den beträchtlichen Abstand zum Gegner und trug in den kolonialen Kriegen zu einer erheblichen Machtdifferenz bei, die nur durch die Guerillataktiken der Kolonisierten - in diesem spezifischen Kontext der Nama - wieder wettgemacht werden konnten. Im Ausrufen des damaligen Schießbefehls von Trothas werden zwei Affekte, d. h. Beziehungsmodalitäten, hervorgebracht: auf einer expliziten Ebene ein Af‐ fekt der aufgehobenen Mit-Schuld und auf einer latenten ein Affekt der Macht-durch-Distanz. Doch nicht nur in Motschmanns Rede wurden diese la‐ tenten Affektstrukturen für kurze Zeit deutlich spürbar, sie durchdrangen, so die Hypothese dieses Kapitels, die Mehrheit der Redebeiträge in der Na‐ mibia-Debatte im Bundestag am 17. März 2016. Völlig gegensätzlich zur gerade erläuterten Inszenierung einer wiederholten historischen Gleichgültigkeit durch Ausscheiden aus der Mit-Schuld-Beziehung und Einnehmen einer aggressiven Distanziertheit steht die Rede des deutsch-se‐ negalesischen CDU -Abgeordneten und ehemaligen Fernsehschauspielers Charles M. Huber. Bezeichnend ist, dass der zeitweilig in Äthiopien tätige Un‐ ternehmer und Berater als Afrika-Experte der CDU / CSU -Fraktion fungierte, bevor er sein Bundestagsmandat im Jahr 2017 aufgrund fehlender Unterstützung in seinem Wahlkreis Darmstadt aufgab und Ende 2018 in die Nähe der Großstadt M’bour im Senegal zog. Der namibische Botschafter wohnte der Debatte bei, wurde jedoch von fast allen Rednerinnen bzw. Rednern ignoriert. Movassat begrüßte ihn rein formell bzw. protokollarisch, während Motschmann über ihn sprach, als ob er nicht anwesend wäre: „Das wäre […] im Sinne des Botschafters von Namibia ge‐ wesen“. Eine Äußerung, die der Grünen-Abgeordnete Peter Maiwald als „wirk‐ lich dreist“ kommentierte (Deutscher Bundestag 2016: 15 906, 15 907). Huber wählte als einziger Redner die direkte sprachliche Interaktion mit dem Bot‐ schafter: „Excellency, I don’t know, if it’s you up there, but I think, I can’t identify you. I don’t know, if you’re even present.“ Und nach einem Zuruf von der SPD , der „Dort oben! “ lautete, ergänzt er: „Nice to see you, brother“ (Deutscher Bun‐ destag 2016b: 15 912). Angesichts der vorherrschenden latenten Abstraktion von der Geschichte mit Namibia und der Beziehung zu den Opfern sowie ihren Nachfahren in den anderen Redebeiträgen, ist diese direkte Ansprache des Bot‐ schafters von höchster Bedeutung. Sicher kann man hier entgegnen, Hubers Ansprache könnte aufgrund seines Berufs als Schauspieler ein Auftritt gewesen sein. Aber es ist relativ unerheblich, 117 3.5 Performative Affekte ob die Begrüßung „[n]ice to see you, brother“ wirklich von Herzen gemeint war, oder ob es sich hier lediglich um eine Floskel handelte. Wichtig ist, dass diese Begrüßung auch performativ im Sinne von Austin (1962) sowohl ein illokutiver wie auch ein perlokutiver Sprechakt ist. Die Begrüßung führt sprachlich eine etwas stereotypisierte, vermeintliche panafrikanische „Brüderlichkeit“ aus, die jedoch aus genau diesem Grund als tatsächliche Beziehung im Augenblick der Aussprache ins Leben gerufen wird. Im Augenblick des Sprechens wird eine Grundbeziehung suggeriert bzw. hergestellt und genuin in den Raum gestellt. Eine solche Grundbeziehung (Buber 1995) kann selbstverständlich verletzt, ver‐ neint, ausgebeutet oder pervertiert - ja sogar zerstört - werden, sie ist aber zunächst einmal da und wirkt kausal, physisch und historisch. In Hubers Begrüßung des Botschafters kommt, trotz der leicht stereotypi‐ sierenden Ausführung, ein Grundprinzip der afrikanischen Philosophie(n) per‐ formativ zustande. Es ist laut Mbembe (2013: 13) ein Prinzip der „compositio‐ nality“, d. h. der „Kom-Position-alität“ oder Kontiguität: „[T]he other is not outside myself “. Ähnlich wird diese Idee zum Beispiel bei Achebe (1999: 68) formuliert: „Wherever Something stands, Something else will stand beside it. Nothing is absolute.“ Ähnlich kursiert zurzeit der südafrikanische Gedanke des Ubuntu, der mit dem Spruch: „Eine Person ist eine Person durch andere Per‐ sonen“ zusammengefasst wird (zu den nicht unerheblichen Übersetzungsprob‐ lemen des Spruchs, vgl. Sanders 2007: 27-30). Das Konzept des Ubuntu ist kont‐ rovers und sorgt für rege Diskussionen, hat aber in der letzten Zeit in ganz Afrika eine gewisse allgemeine Akzeptanz erlangt (Ogude, Hg. 2018; Ogude, Hg. 2019; Praeg 2014; Praeg / Magadla, Hg. 2014). Diesen Charakter des Ubuntu-Begriffs kann man dem Tenor der Rede Hubers zuschreiben. Sachlich und ohne selbst Stellung zu nehmen, weist Huber auf die Tatsache hin, dass die vermeintliche Missachtung des von der namibischen Na‐ tionalversammlung geäußerten Wunsches nach einer einheitlichen Erklärung im Bundestag durch die Aufrechterhaltung des Antrags seitens der LINKEN auch ein Gegenbeispiel auf namibischer Seite hat. Und zwar handelt es sich dabei um die Nicht-Anerkennung des Abkommens zwischen den beiden Regierungen durch die Workers Revolutionary Party, die darin „eine imperialistische Geste [sieht], welche an den Geschädigten […] vorbeigeht“ (Deutscher Bundestag 2016b: 15 912). Dies mag wohl ein Seitenhieb gegen die „Sinnhaftigkeit“ des An‐ trags der LINKEN sein; kann jedoch auch als pragmatischer Fokus auf die Kom‐ plexität der Durchführung der Wiedergutmachung aufgefasst werden. An‐ schließend führt Huber mit einem weiteren Zitat fort: Ich zitiere aus einer Veröffentlichung durch Chief Riruako, dem Vertreter der Herero Nation, und ich denke, das Sprachrepertoire des Parlaments ist partei- und fraktions‐ 118 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama übergreifend groß genug, das ohne Übersetzer übersetzen zu können: The German state increasingly insisted on doing its business solely with the Namibian Government and not with the parties to the dispute: the Nama and the Herero Nations. (Ebd.: 15 912-3) Hubers Ausführungen können nur zum Teil an die parteipolitischen Querelen adaptiert werden, an welchen er, wenn auch nur ansatzweise, teilnimmt. Er zeigt Komplexitäten auf, ohne einfache Lösungen anzubieten und merkt dabei an, dass, falls wir hier mit der namibischen Regierung in direkter Form zurande kämen, nicht zwingendermaßen damit zu rechnen ist, dass diese Sache für die betroffenen Ethnien dann auch vom Tisch ist. Hier gibt es, wenn ich das bemerken darf, Erklärungsbedarf. (Ebd.) Hubers Annahme scheint sich zu bewahrheiten: 2018, zwei Jahre nach der Rede, klagten Vertreter der Herero- und Nama-Opferverbände in den USA vor Gericht erneut, um an den Verhandlungstisch kommen zu können; Deutschland legte dagegen Widerspruch ein (Pelz 2018a). Immer wieder wurde und wird vor dem Hintergrund geklagt, Deutschland verhandle nur mit der namibischen Regie‐ rung bzw. nur mit ausgewählten Vertretern der Opfergruppen, die bereits am Handlungstisch säßen. Dies ist insofern problematisch, weil die Verweigerung, mit Minderheiten wie den Herero bzw. Nama zu verhandeln, die Tatsache ver‐ schweigt, dass die Herero bzw. Nama gerade durch den Völkermord zu Min‐ derheiten geworden sind. Ferner wird die Lage noch kompliziert durch die Tat‐ sache, dass die namibische Regierung, die ebenfalls direkte Verhandlungen mit Opfergruppen als Minderheiten ablehnt, mehrheitlich durch die Ovambo ge‐ stellt wird, welche weitgehend von damaliger Kolonialgewalt verschont blieben. Dementsprechend warnt Huber vor einer „monothematische[n] Festlegung un‐ sere[r] gegenseitigen Beziehungen bei diesem Thema“, die zur Folge haben könnte, „dass die schwarzafrikanisch-namibische Bevölkerung […] am allerwe‐ nigsten davon profitieren wird“ (Deutscher Bundestag 2016b: 15 913). Hubers Ausführungen sind keineswegs parteibzw. wirtschaftspolitisch neutral - er ist schließlich CDU -Politiker -, jedoch findet sich in ihnen eine grundlegende Auf‐ merksamkeit für die komplexe Lage der betroffenen Gruppen sowie für die im‐ pliziten geschichtlichen Verwicklungen. Jedwede Abstraktion wird zurückge‐ wiesen und stattdessen eine nicht unkritische Sorge für die Menschen formuliert. Die Nüchternheit seiner Worte soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein grundlegender Affekt der Verbundenheit seine Rede untermauert und durchdringt. Eine solche Verbundenheit besteht nicht (nur) aus menschlichen „Gefühlen“. Hubers Rede ist betont unrhetorisch und meidet emphatisch die 119 3.5 Performative Affekte Zurschaustellung oder Erregung von Gefühlen - ganz im Gegensatz z. B. zu der kitschig inszenierten Kolonialnostalgie Wöhrls. Die in Hubers Rede ausge‐ drückte Verbundenheit stellt eine Basisstruktur der Welt in ihrer Generativität dar, die reell existiert und durch den erweiterten Affektbegriff bezeichnet wird. Der Grundtenor von Hubers Rede ist ein Symptom bzw. Anzeichen für diese Basismatrix der Welt. 3.6 Nachspiel Die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Regierung Namibias werden seit 2014 unter der Leitung von Ruprecht Polenz geführt, verlaufen aber stockend, und werden immer wieder von Eklats und Gerichtsverhandlungen überschattet. Regelmäßig werden Vorwürfe dagegen laut, dass die Verhand‐ lungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Transparenz laufen, und dass die Opferverbände nicht an den Verhandlungen beteiligt sind. Die Rhetorik der Bundesregierung verschiebt sich zwar weiterhin leicht, aber die grundle‐ gende Haltung in Bezug auf die Kolonialvergangenheit und das namibische Ge‐ genüber hat sich auch bis zur Fertigstellung der vorliegenden Studie 2020 nicht wesentlich geändert. Polenz formuliert die Haltung der Bundesregierung hin‐ sichtlich des gemeinsamen Texts, der aus den Verhandlungen entstehen soll: „Darin soll das Wort Völkermord vorkommen im Sinne der Völkermord-Defi‐ nition, nicht als Rechtsbegriff, sondern als politisch-historische Einordnung“ (N- TV 2017). Polenz wiederholt: „Wir sagen, es ist keine Rechtsfrage, über die wir sprechen, sondern eine politisch-moralische Frage“ (Habermalz / Schlüter 2017). Solch eine Strategie des „begrifflichen Entgegenkommens“ untermauert das Vorgehen der Bundesregierung seit Anfang der Verhandlungen. Anstatt wie früher „[n]eben dem Ziel der Vermeidung von Reparationszahlungen“ eine „pragmatische Taktik des (Ver-)Schweigens und De-Thematisierens - in der freien Wirtschaft spricht man von „silencing“ - zu verfolgen, versucht die Bun‐ desregierung durch linguistische Kosmetik die Konfrontation etwas zu mildern (Roos / Seidl 2015: 213). Was sich geändert hat, ist, dass eine für die regierungsamtliche Geschichtspolitik po‐ tenziell schädliche - weil gegenwärtige und zukünftige Möglichkeitsräume veren‐ gende -, breitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergan‐ genheit in Zukunft nicht mehr durch rigorose Begriffsvermeidung, sondern durch (juristisch unverfängliches) begriffliches Entgegenkommen zu verhindern versucht wird (ebd.). 120 3. Die Bundestagsdebatte zum Genozid der Herero und Nama Nach der Formulierung von Waldenfels (2010) wird hier eine Annahme der äu‐ ßerst begrenzten Verantwortung für die Tat („responsibility for“) linguis‐ tisch-begrifflich eingeräumt, um eine Antwort an ein Gegenüber („responsive‐ ness to“) zu vermeiden. Anfang 2017 schreiben Kößler und Melber (2017: 114), dass „der bisherige Verlauf der Verhandlungen nicht die Hoffnungen eingelöst hat, die Mitte 2015 mit dem Schwenk im Sprachgebrauch [d. h. Enttabuisierung des Völkermordbegriffs] der Bundesregierung und der Einleitung der Verhand‐ lungsprozesse ab November geweckt wurden“. Ganz im Gegenteil: Der kognitiv orientierte Ansatz der Ideologiebekämpfung durch die Begriffspolitik ändert zunächst wenig an der affektiven Lage und bedarf eines anderen Ansatzes. Roos und Seidl kommen zu der Schlussfolgerung: Die bundesdeutsche Haltung in der Völkermord- und Reparationsfrage ist […] des‐ wegen problematisch, weil sie mitunter noch immer zu verkennen scheint, dass es sich dabei um „keine legale Frage [handelt], sondern primär [um] eine der politischen Ethik beziehungsweise der praktischen Solidarität“ (Roos / Seidl 2015: 216). Eine begriffliche, d. h. diskursive Debatte wird hier geführt, deren Auswir‐ kungen im Bereich der Ethik angesiedelt werden und als „pragmatische“ Frage der „Solidarität“ bezeichnet wird. Mit der Idee der „Solidarität“ kommt man wieder beim Affekt an, da Solidarität eine politische Haltung bezeichnet, die zwar auf einem kollektiven Gefühl beruht, jedoch - noch wichtiger - eine be‐ stimmte Art von Beziehung benennt und zustande kommen lässt. 121 3.6 Nachspiel 2. Teil: Uwe Timms Morenga als paradigmatischer Text 4. Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre Uwe Timms Roman über den Deutsch-Namibischen Krieg Morenga (Erstveröf‐ fentlichung 1978, überarbeitete Versionen 2000 bzw. 2020) stellt den Fakten die Fiktion bzw. der „Wahrheit“ die „Erfindung“ (Koschorke 2012) gegenüber. Der Text beginnt mit der Geschichte und einer Geschichte, mit einem Datum und einer einfachen Mikrohandlung: „An einem Nachmittag im April 1904 schickt der Farmer Kaempffer den Hottentottenboy Jakobus, der schon seit zwei Jahren im Haus dient, nach dem jüngsten Sohn Klaus, der seine Schulaufgaben machen soll.“ (Timm 2000 [1978]: 5 / 2020 [1978]: 5). In diesem Kapitel zu Timms Morenga geht es darum, die der vorliegenden Studie zugrunde liegende Methodik zunächst anhand dieser ersten Zeilen des Romans detailliert und exemplarisch zu erproben. Im Anschluss daran wird im folgenden Kapitel die Methodik in einer Erweiterung auf den gesamten Roman angewandt. Nach dem von Lukács (1955 [1937]) angelegten Muster des historischen Ro‐ mans arbeitet Timm mit wahrer Zeitgeschichte - markiert durch das Datum im April 1904 -, die jedoch durch die Perspektiven beteiligter Individuen, bei denen es sich zumeist um fiktive Figuren wie den Farmer Kaempffer, den Hottentot‐ tenboy Jakobus oder den Sohn Klaus handelt, fokalisiert wird. Lukács führt aus: „[D]er Held wird aus der unbegrenzten Zahl der Gleichstrebenden nur darum herausgegriffen und in den Mittelpunkt gestellt, weil gerade sein Suchen und Finden die Gesamtheit der Welt am deutlichsten offenlegt“ (Lukács 1963 [1920]: 137). In der Spannung zwischen Fakt und Fiktion eröffnet sich eine Kluft, in der ein Fragezeichen erscheint, aufgrund dessen eine Suche veranlasst wird. Die Handlung als Suche nach dem Wissen (Todorov 1980: 9-19) hat hier ihren Ur‐ sprung. Auf dem Hintergrund der panoramaähnlichen Zeitgeschichte („[a]n einem Nachmittag“) stellt Timm im Rahmen des proairetischen Codes (Barthes 1970: 25) die fiktive Geschichte als Fragestellung dar. Die Verbindung der Figur mit dem geradezu archetypischen Handlungsmuster der „Queste“ (quest) (Gu‐ tenberg 2000: 171-93; Lacy 1980: 1; Propp 1972: 42, 52-3, 60) wird als generative Quelle der Erzählung schlechthin dargestellt: Jakobus ist aber verschwunden. Kaempffer sucht, er ruft, er fragt die anderen einge‐ borenen Farmarbeiter. Niemand will ihn gesehen haben. Kaempffer geht ins Haus und an den Schreibtisch zurück. Beim Hinsetzen hat er das merkwürdige Gefühl, als habe sich etwas verändert. Schon will er sich wieder seinen Abrechnungen zuwenden, als er vor sich auf der Fotografie, die ihn als Reserveleutnant zeigt, das kleine Tintenkreuz entdeckt, direkt über seinem Kopf. (Timm 2000 [1978]: 5 / 2020 [1978]: 5) Lotman (1977: 320) macht in seinen Ausführungen zur paradigmatischen Be‐ deutung von Textanfängen und -enden als einrahmende textstrukturelle Kom‐ ponenten auf die Funktion von Eingangstextstellen aufmerksam. Sie weisen oft auf den Ursprungscharakter der Schreibbzw. Erzählaufnahme selbst hin. Be‐ zeichnend ist jedoch an Timms Eingangspassage, dass der Ursprung der Erzäh‐ lung durch ein Phänomen des Verschwindens gekennzeichnet ist, d. h. als Leer‐ stelle erscheint (vgl. Iser 1972: 60-7, 1993). Dementsprechend erscheint der textinterne Verweis auf das Schreiben, das Tintenkreuz, als Enigma oder Mys‐ terium am Rand des Texts. Timms Roman kann daher gelesen werden, so die Hauptthese dieser Studie, als „Queste“-Erzählung, deren Ziel nicht nur die Ko‐ lonialvergangenheit bzw. die Aufarbeitung einer zum Zeitpunkt ihres Verfas‐ sens 1978 weitgehend vergessenen Kolonialvergangenheit ist, sondern vielmehr eine Suche nach dem Wie der Erinnerung und der Aufarbeitung jener Koloni‐ alvergangenheit. Diese Suche nach dem Wie des historischen Erinnerns, die je nach politischer Lage und geschichtlichem Zeitpunkt sehr verschiedene Ant‐ worten hervorzubringen vermag, erscheint heutzutage trotz einer mittlerweile beträchtlichen Anzahl geschichtlicher Studien zum Deutsch-Namibischen Krieg (für einen kritischen Überblick vgl. Bürger 2017) dringlicher denn je. Ziel der vorliegenden Studie ist es, einen neuen Ansatz zum Wie der Wiederherstellung eines Zugangs zur Kolonialvergangenheit zu skizzieren. Anhand der Lektüre von Timms Roman Morenga wird die Gültigkeit dieses Ansatzes zunächst exemplarisch überprüft. Grund dafür ist nicht nur die besonders geeignete Be‐ schaffenheit des Romans, sondern der geradezu paradigmatische literaturge‐ schichtliche Status des Werks. Timms Morenga „continues to act as a benchmark for the poetics and politics of postcolonial memory in German literature“ (Göttschke 2013: 7). Deshalb kommen diesem und dem folgenden Kapitel eine besondere Bedeutung zu. 4.1 Exemplarische Lektüre: Thesen Die ästhetische Programmatik Timms wie auch der literaturgeschichtliche bzw. -kritische Ansatz der vorliegenden Studie soll durch die Analyse des ersten Textabschnitts des Romans zunächst grob skizziert werden. Eine Untersuchung der „Mikrohandlung“, die sich am Beginn des Timm’schen Roman befindet, dient 126 4. Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre der Schilderung dieser Doppelästhetik im Sinne eines einleitenden theoreti‐ schen bzw. methodologischen Überblicks. Auf diese Art und Weise sollen in kondensierter Form die Hauptthesen der Studie dargestellt werden; ferner werden die einschlägigen Theorien der Untersuchung vorgestellt. Dabei wird die leitende Methodologie anhand der oben genannten Textanalyse durchge‐ spielt. Die Einleitung gliedert sich in drei Phasen: Zunächst wird die metatextuelle Ebene der Eingangspassage untersucht; anschließend wird eruiert, inwiefern sich die in der Eingangspassage öffnende Leerstelle als Beziehungsgefüge und als Ort des „Affekts“ entpuppt; schließlich wird die textbetriebene „Affektla‐ dung“ als Motor einer Wiederherstellung der geschichtlichen Verbindungen dargestellt. Dementsprechend lassen sich die drei Hauptthesen der vorliegenden Studie wie folgt benennen: 1. Metahistorische Romane sind Texte, die gezwungenermaßen die Spannung zwischen Fakt und Fiktion besetzen, und zwar nicht unbedingt mit dem Ziel, eine historische Wahrheit zu Tage zu fördern, sondern eher, um die Verbindung zwischen einem bzw. einer Leser*in, einer fiktiven Geschichte und einer „wahren“ Geschichte zu überprüfen, d. h. letztendlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu erforschen. Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, in wel‐ chem Verhältnis der bzw. die Leser*in mittels des Texts zum Genozid der Hererobzw. Nama-Völker in Deutsch-Südwestafrika vor über hundert Jahren steht. 2. Metahistorische Romane arbeiten auf der kognitiven Ebene der Repräsen‐ tation, d. h. wie ein historischer Inhalt textuell dargestellt wird, und der Her‐ meneutik, d. h. wie entschlüsselt bzw. interpretiert der Rezipient diese Darstel‐ lung. Diese beiden Ebenen entsprechen den Disziplinen der Diskursanalyse (Zima 1989) und der Rezeptionsästhetik ( Jauß 1970). Gleichzeitig arbeiten solche Romane aber auch auf der „affektiven“ Ebene, d. h. mit der Art und Weise, wie die Verbindung zwischen Text und Leser, zwischen Vergangenheit und Gegen‐ wart, zwischen Romanfigur und interpretierendem Subjekt inszeniert und trans‐ formiert wird. Die Verbindung gilt hier nicht als eine vorgegebene Größe, son‐ dern sie stellt ein dynamisches Wirkungsfeld dar und bleibt als solches stets beweglich und instabil. Der „Affekt“ meint hier, laut Spinoza (1972: 157), „die Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Erregungen“. Derartige Änderungen des Tätigkeitsvermögens des Körpers werden durch die Tätigkeiten eines anderen Körpers erregt, so dass der „Affekt“ zwangsläufig die transformative Beziehung zwischen mindestens zwei 127 4.1 Exemplarische Lektüre: Thesen Köpern bezeichnet. Im Rahmen dieser Studie wird ein erweiterter Affektbegriff vorausgesetzt und verwendet. Der „Affekt“ ist überall wirksam als grundlegender Baustein der materiellen Realität (West-Pavlov 2019); er wirkt aufgrund der räumlichen Nähe bzw. der materiellen Kausalität und bewirkt die Komple‐ xität der „Emergenz“ der natürlichen Welt (Prigogine / Stengers 1980). Er ist wirksam auch im, um und durch den literarischen Text und dessen geschicht‐ liches Bezugsobjekt. Es geht um eine radikal erneuerte Beziehung zur Koloni‐ alvergangenheit und konkret zum heutigen Namibia, dem Land, in dem Genozid stattfand, im Sinne einer Bewusstmachung der bestehenden Verhältnisse mit dem Ziel einer Annäherung der beiden Länder im Zuge des aufkommenden Globalen Südens. 3. In dieser Hinsicht bezeichnet der literarische „Affekt“ nicht nur die „Ge‐ fühle“, die anhand literarischer Figuren registriert oder beschrieben werden, und auch nicht nur die Gefühle, die vom Leser bzw. der Leserin bei der Lektüre empfunden werden, sondern primär die wirkungsgeschichtlichen Verbin‐ dungen sowie die daraus entstehenden Transformationen eines jeglichen Ver‐ hältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Subjekten in der Vergangenheit und Gegenwart. Und schließlich die unergründlichen In‐ novationen, die in der Zukunft dadurch hervorgebracht werden können. Der „Affekt“ birgt daher das Potenzial für eine Veränderung der durch geschichtliche Ereignisse anscheinend vorbestimmten Verhältnisse. Der „Affekt“ beantwortet letztlich die Frage Bhabhas (1994: 212), „wie das Neue in die Welt kommt“. Der „Affekt“ bildet eine Basis für einen textanalytischen und kulturpolitischen An‐ satz, welcher die Geisteswissenschaften aus der Sackgasse der nach wie vor unabdingbaren Diskursanalyse und der damit einhergehenden Ideologiekritik (vgl. z. B. Felski 2015; McDonald 2018) bringen kann und solche Ansätze mit einem positiven Ansatz der grundsätzlichen Vernetzung und deren transforma‐ tiver Wirkung verbindet. 4.2 Metatextualität Die Eingangstextstelle in Timms Morenga könnte als reine Beschreibung dienen, gäbe es nicht zwei anscheinend beiläufige Signale im Text, die auf eine breitere metatextuelle Bedeutung hinweisen. Das erste Signal bildet die Überschrift des Eingangskapitels: „Vorzeichen“. Diese Überschrift bezieht sich in erster Linie auf die ersten Anzeichen für die steigende Unruhe unter der einheimischen Bevölkerung Deutsch-Südwestaf‐ rikas und den herannahenden Aufstand der Herero 1904. Obwohl das Stamm‐ 128 4. Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre wort „Zeichen“ hier im übertragenen Sinne benutzt wird, bleibt die buchstäb‐ liche Bedeutung des Wortstammes erhalten und verweist daher auf den Text selbst. Durch das Präfix „Vor-“ wird das Wort darüber hinaus in das semantische Feld der Zeitlichkeit hineingezogen, so dass die Kapitelüberschrift eine zusätz‐ liche Bedeutungsschicht erhält, nämlich die der Rolle der Semiotik in der Zeit‐ lichkeit der Geschichtsschreibung und der Erinnerungskultur. Das zweite Signal bildet die Erwähnung der Rückkehr der Hauptfigur an den Schreibtisch: „Kaempffer geht ins Haus und an den Schreibtisch zurück“ (Timm 2000 [1978]: 5 / 2020 [1978]: 5). Die Bewegung zurück ins Haus, d. h. in den eigenen Privatraum, endet am Schreibtisch. Der Schreibtisch fungiert nur dank seiner überaus auffälligen Positionierung auf der ersten Seite des Romans als textinterner Verweis auf den in diesem textstrukturellen Moment einsetzenden Schreibprozess selbst und damit auf den genau in diesem textexternen Augen‐ blick einsetzenden Leseprozess. Diese zeitliche Selbstmarkierung der Textstelle wird überlagert und verstärkt von der vorangegangenen Verzeitlichung des textsemiotischen Prozesses durch die soeben erwähnte Kapitalüberschrift „Vor‐ zeichen“. Der Schreibtisch ist daher ein polyvalentes Zeichen - sozusagen ein „Tintenkreuz“, wie der Text es selbst ausdrückt - für einen doppelten, wenn nicht sogar dreifachen oder mehrfachen Ort bzw. eine mehrfache Zeit. Dieser Ort bzw. diese Zeit ist zunächst der bzw. die des „ursprünglichen“ fiktiven Ge‐ schehens, dann der bzw. die des Timm’schen Schreibens, und schließlich der bzw. die des Lesers oder der Leserin. Allerdings ist „schließlich“ in dieser Auf‐ zählung das falsche Wort für die anhaltende und im Prinzip nie abschließbare Reihe der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Lektüren des Romans. Das Wort „zurück“ unterstreicht also die zeitliche bzw. örtliche Polyvalenz des Schreibtischs: Es scheint auf den ersten Blick eine Bewegung in die Vergan‐ genheit hinein zu bezeichnen, beschreibt aber eine Bewegung in die Zukunft. Der Schreibtisch wird noch einmal besucht, bezogen oder benutzt, so dass eine Wiederholung des Schreibvorgangs und eine Neubesetzung des Orts des Schreibens stattfinden. Der Schreibtisch wird daher zur Schaltfläche eines Hin und Hers, zur Drehschreibe einer Reise rück- und vorwärts in der Zeit. Bezeichnend ist auch die Formulierung, die fast unmittelbar, nämlich ein Satz nach „zurück“ folgt: „Schon will er sich wieder seinen Abrechnungen zuwenden, als […]“. Am Anfang - nicht am Ende - des Texts steht eine Abrechnung, die sofort abgebrochen wird. Eine Abrechnung dürfte normalerweise am Schluss des Texts vorkommen, da, wie Koschorke (2012: 63) anmerkt, „Eine Geschichte zu beschließen heißt, einen Strich unter der Rechnung zu ziehen; ‚zählen‘ und ‚erzählen‘ sind nicht nur etymologisch miteinander verwandt“. Bei Timm aber funktioniert das Abrechnen an dieser Stelle genau umgekehrt: einerseits durch 129 4.2 Metatextualität die verkehrte Positionierung am Anfang des Texts, andererseits durch den Ab‐ bruch der Abrechnungen. In so einer Gestalt „erstarrt [die Geschichte] in einer auf ewig unausgeglichenen Bilanz“. Genau dieser „unerledigte[] Rest“ (ebd.: 64) wird durch eine Schreibspur - das Tintenkreuz - ausgelöst, bewirkt aber zugleich weitere Schreibprozesse sowohl innerhalb des gesamten Textes wie auch außerhalb seines Rahmens, womit die imponierende Druckbzw. Rezept‐ ionsgeschichte des Romans gemeint ist: Die Aufhebung des Abrechnens „ruft gewöhnlich auf Seiten der Rezipienten das Gefühl eines Ungenügens hervor, das, wenn es stark genug ist, zu weiterem Handeln über die erzählte Zeit hinaus antreibt“ (ebd.: 63). Der Schreibtisch fungiert also als Verbindungsfläche, die verschiedene Zeiten und Orte trotz ihrer scheinbar unüberwindbaren Trennung miteinander in Kon‐ takt setzt, er ist eine historiografische und erinnerungskulturelle „Kontaktzone“ (Pratt 1992). Dabei entsteht nicht so sehr eine Art „Entzeitlichung“, die in etwa die segmentierende „Verzeitlichung“ des Zeitbewusstseins der Neuzeit und seine konstituierende „zeitliche Differenz“ (Koselleck 1979: 18-9) aufhebt, sondern vielmehr eine Proximität oder Nähe (vgl. West-Pavlov 2018) der zeitlichen Schichten im Sinne der „Zeitverflechtung“, die laut Mbembe für die Postkolonie typisch ist: Eine solche „Zeitverflechtung“ encloses multiple durées made up of discontinuities, reversals, inertias, and swings that overlay one another, interpenetrate one another, and envelope one another: an entanglement. […] This time is not a series but an interlocking of presents, pasts and futures that retain their depths of other presents, pasts and futures, each age bearing, altering and maintaining the previous ones. (Mbembe 2001: 14, 16; Hervorhebungen im Originaltext) Eine derartige „Verflechtungszeitlichkeit“ wird ab den ersten Zeilen des Romans angedeutet und wirkt daher als programmatisch für das gesamte Projekt Timms. Der zeitliche Aspekt der Schreibprogrammatik Timms wird durch diese mi‐ nimale Handlung noch weiter hervorgehoben. Kaempffer schickt „den Hotten‐ tottenboy Jakobus, der schon seit zwei Jahren im Haus dient, nach dem jüngsten Sohn Klaus, der seine Schulaufgaben machen soll“ (Timm 2000 [1978]: 5 / 2020 [1978]: 5). Der Boy und der Sohn sind verkörperte Metonymien für die nach‐ kommenden Generationen der Afrikaner und der Weißen. Die beiden Kinder stehen stellvertretend für die verkörperlichte Zukunft in ihrem jetzigen Dasein. Durch die Überlagerung des Eingangstexts von einer metatextuellen Deu‐ tungsebene werden die beiden Kinderfiguren zu Akteuren nicht nur am Anfang des Texts, sondern auch in seinem unendlichen „Fortleben“ (Benjamin 1991, IV . 1: 10-1) durch künftige, nicht nur schulaufgabenähnliche Lektüren. Jenes „Fort‐ 130 4. Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre leben“ des Texts ist nicht zuletzt durch die erstaunliche Druckgeschichte des Romans belegt, der seit seiner Erstveröffentlichung 1978 im Verlag Autoren‐ Edition zahlreiche Neuauflagen bei Aufbau (1979), Rowohlt (1981), Kiepenheuer & Witsch (zwei Auflagen 1983 und 1985, mit einer Neuausgabe 2015), und ab 2000 bei dtv mit einer „ungekürzte[n], vom Autor neu durchgesehene[n] Aus‐ gabe“ mit mindestens 15 Auflagen (Stand 2017), gefolgt 2020 von einer dtv-Neu‐ auflage mit einem Nachwort von Robert Habeck, erfahren hat. 4.3 Leerstelle und Affekt So sehr es hier um eine Ästhetik der Proximität und der Verbindung geht, darf jedoch nichts darüber hinwegtäuschen, dass im Zentrum dieser Mikrohandlung vor allem eine Abwanderung, ein Weggang und daher eine Abwesenheit stehen. Die Tatsache, dass der Boy Jakobus einige Zeilen nach Beginn des Romans verschwindet, bestätigt nicht nur die zentrale Rolle der Grenzüberschreitung für jedweden Erzählvorgang (Lotman 1973: 354-7; Propp 1972: 31, 43), sondern spielt eine spezifische Rolle im Rahmen des historiografischen Projekts Timms. In einem Gespräch mit Christoph Harmann lehnt Timm (2003) eine Art „Ein‐ fühlungsästhetik“ als „ein[en] koloniale[n] Akt“ ganz entschieden ab - nicht nur, aber auch aufgrund der „zeitliche[n] und räumliche[n] Ferne zu [s]einem Stoff “. Jakobus’ Weggang steht stellvertretend für die Undurchsichtigkeit des Anderen, zusätzlich auch für das Vergangen-Sein der Vergangenheit, das durch keine schriftstellerische Tätigkeit überwunden werden kann. Dennoch gilt es, diese Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu über‐ brücken, und sei es nur, um der Amnesie gegenüber der Kolonialvergangenheit des heutigen Deutschlands entgegenzuwirken. Ähnlich gilt es, auf welche Art und Weise auch immer, die künftigen Generationen, auf die durch die Figuren Jakobus und Klaus verwiesen wird, wieder zusammenzubringen. Jakobus lässt sich nicht ausfindig machen, da er sich vermutlich den Auf‐ ständischen angeschlossen hat. Jakobus bleibt im Text nur in Form seiner Ab‐ wesenheit vorhanden. Genauso unlokalisierbar bleibt die Gefühlsverflechtung, die daraus entsteht: „Beim Hinsetzen hat er das merkwürdige Gefühl, als habe sich etwas verändert“ (Timm 2000 [1978]: 5 / 2020 [1978]: 5). Der Text weigert sich, der Entstehung des Gefühls einen spezifischen Ursprung, einen klaren Grund oder einen lokalisierbaren Ort zuzuschreiben. „[D]as merkwürdige Ge‐ fühl, es habe sich etwas verändert“, entsteht bei Kaempffer „beim Hinsetzen“ und bezieht sich einerseits auf die plötzliche Abwesenheit Jakobus’, andererseits auf das, was er entdeckt, als er sich „seiner Abrechnungen wieder zuwenden 131 4.3 Leerstelle und Affekt [will]“: „das kleine Tintenkreuz […] direkt über seinem Kopf “ auf der Fotografie des Protagonisten als Reserveleutnant (ebd.). Das Gefühl entsteht, es ist in seiner Heranbildung selbst entrückt von einem bestimmbaren Ort. Der Grund dafür ist einfach: Das Gefühl nimmt seinen Anfang aus einer Beziehungsverflechtung zwischen mehreren Personen: Jakobus, Klaus, Kaempffer und dessen Selbstbild. Das Gefühl ist nicht primär ein internes Phänomen, auch wenn es aus der Be‐ ziehung des weißen Mannes mit sich selbst hervorgeht - vermittelt durch das buchstäbliche „Selbstbild“, in dem er sich widerspiegelt. Stattdessen entsteht es an der Schnittstelle zwischen mehreren Subjekten und deren bewegten Bezie‐ hungen zueinander. Der Text nimmt diese Abwesenheit auf und verwandelt sie zunächst in eine Verschwommenheit, um sie letztendlich in eine Bewegung aufzulösen. Die Leerstelle entwickelt sich aus einer Bewegung und löst eine Bewegung aus. Ja‐ kobus bewegt sich und Kaempffer wird in diese Bewegung miteinbezogen, so dass seine Rückkehr an den Schreibtisch keine Rückkehr zum vorherigen Zu‐ stand darstellt. Stattdessen bewirkt sie eine andere Art Bewegung, und zwar eine Transformation. Kaempffer registriert unterschwellig eine Änderung, ein Unbehagen, „ein merkwürdige[s] Gefühl“. Ein Gefühl, das merkwürdig ist, weil es die Spur einer Änderung bildet (zu einem gegenläufigen Phänomen der „Merkwürdigkeit“, das Veränderungen konterkariert, vgl. Mühr 2021 im Er‐ scheinen). Gefühle entstehen durch Bewegungen: Diese doppelte Bewegung bringt ein Gefühl hervor. Oder eher so: Das Gefühl entsteht nicht aus der Be‐ wegung, sondern das Gefühl ist vielmehr die Bewegung, da die Beziehung der Sachen zueinander sich geändert hat - räumlich, kausal und sogar ontologisch. Das Gefühl geht mit der Änderung hervor. Was hier anhand der Mikrohandlung, die Timms Roman eröffnet, skizziert wird, entzieht sich der klaren Unterscheidung zwischen den Begrifflichkeiten „Bewegung“, „Transformation“ und „Gefühl“. Diese Begriffe gehen ineinander über und geraten in intimsten Kontakt miteinander, anstatt klar voneinander getrennt zu sein. Entgegen einer allgemein angestrebten literaturwissenschaft‐ lichen Schärfung der textanalytischen Begriffe, geschieht im Rahmen dessen, was Timms Text unternimmt, eine Entschärfung der Begriffe zugunsten der Entstehung eines Anti-Begriffs. Ein solcher Anti-Begriff benennt kein stabiles Element der Denkwelt, sondern malt Beziehungen aus, die wiederum als Ent‐ stehungsmatrix für die Transformationen von Dingen, Objekten und Sachen fungieren. Nicht Begriffe definieren die klaren Konturen von Sachen und Kon‐ zepten, sondern Anti-Begriffe skizzieren die Transformationen und Ände‐ rungen, deren Grenzen durch wirksame Beziehungen entstehen. In Timms Text 132 4. Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre kann Kaempffers „merkwürdige[s] Gefühl, als habe sich etwas verändert“ als ein Indiz dafür gesehen werden, wie Verflechtungen von dynamischen Prozessen der gegenseitigen Beeinflussung auf den verschiedensten materiellen und semiotischen Ebenen in die Sprache aufgenommen werden können. Ein Konzept für derartige Prozesse kursiert heutzutage unter der Bezeichnung „Af‐ fekt“. „Affekt“ ist ein Terminus, der das segmentierte Nacheinander einer mecha‐ nischen Kausalität ablehnt, und an dessen Stelle eine polyvalente und gebün‐ delte transformative Verbindung stellt, die gleichzeitig physischer, materieller, semiotischer und sinnesbezogener Natur ist. Angelehnt an Erkenntnisse aus der neuen Physik und den ihr benachbarten Naturwissenschaften, wurde der Begriff „Affekt“ in der Annahme geprägt, dass überkommene Unterscheidungen zwi‐ schen Prozess und Gegenstand, zwischen Semiotik und Material, zwischen Raum und Zeit nicht mehr fähig dazu sind, extrem komplexe, überdeterminierte Dynamiken der lebendigen Materie zu beschreiben. Jeder affektartige Kontakt zwischen zwei oder mehreren Wesen bringt eine Transformation hervor, die deren materielle Struktur und damit auch die Bedeutung - den semiotischen Informationsgehalt - der Wesen verändert. Eine dementsprechende polyvalente Veränderung wirkt sich weiter auf sukzessive Begegnungen aus, die wiederum andere transformative Begegnungen auslösen, und so weiter ad infinitum. „Af‐ fekt“ ist daher ein Fachwort, das sich einer Begrifflichkeitsschärfung entzieht, gerade weil es einen Prozess unbegrenzter Transformationen und Komplexi‐ tätsbildungen, d. h. einen Prozess der Lebensdynamik, beschreibt. Der Mensch bildet in diesem Zusammenspiel keine Ausnahme und ist in diesem endlosen Netz der transformativen Dynamik des „Affekts“ miteingebunden. „Affekt“ schließt menschliche „Emotion“ mit ein, wobei „Emotion“ jedoch nur einen winzigen Teil des riesigen Felds der „Affekte“ darstellt. „Emotion“ ist das, was von einem Individuum intern „gefühlt“, sprachlich umschrieben und daher ggf. mit anderen Individuen geteilt werden kann. Wenn das „Gefühl“ nicht mehr umschrieben, d. h. scharf von anderen Gegenständen getrennt, werden kann, und z. B. die Grenzen des sprachlichen Begriffs verwischt, wie es bei vielen po‐ etischen Texten sowie in Kunst und Musik der Fall ist, fließt es wieder in Rich‐ tung „Affekt“. Timms Mikrohandlung deutet unterschwellig auf eine solche Verflechtung von „Gefühlen“, Bewegungen und Transformationen hin, die ins‐ gesamt eine Art „Affekt“-Kontinuum ausmachen. Diese Sicht der materiellen Welt ist der europäischen Denkart so fremd, dass, auch wenn sie in allgegen‐ wärtigen sozialen Praktiken - wie Sport, Musik, Sexualität, Outdoor-Aktivi‐ täten, Religion, Essen und Trinken - gelebt wird, oft nur dargestellt werden kann 133 4.3 Leerstelle und Affekt in narrativer oder bildlicher Form, so dass einer Erzählung wie Timms Morenga eine besondere Bedeutung zugeschrieben werden kann. 4.4 Historiografische Metafiktion als Verortung des Affekts Dennoch ist Timms Morenga nicht in erster Linie eine latente philosophische Abhandlung, sondern vielmehr ein frühes Beispiel einer historiografischen Me‐ tafiktion (Hutcheon 1998: 105-23; Nünning 1995; Volkmann 2013). Um dem bzw. der heutigen Leser*in die deutsche Kolonialvergangenheit wieder nahezu‐ bringen, stellt der Roman eine Episode aus dieser Kolonialvergangenheit dar, um gleichzeitig einen kritischen Denkprozess über die Art und Weise, wie die Vergangenheit dargestellt wird, auszulösen. Der Text formuliert die Frage, welche Beziehungen zwischen Fakt, Fiktion und Geschichtsschreibung inner‐ halb verschiedener vergangenheitsbezogener Gattungen herrschen, und wie der Leser bzw. die Leserin somit als Subjekt der Geschichte - im doppelten Sinne des Wortes - in den Erzählprozess nicht nur hineingezogen, sondern überhaupt erst konstituiert wird. Dieser Vorgang geschieht jedoch nicht nur über die Kog‐ nition bzw. die Kritik, auch nicht nur über die Imagination bzw. Einbildungskraft des Lesers bzw. der Leserin. Er muss - so die These dieser Studie - im Rahmen eines Prozesses stattfinden, in dem eine „affektive“ Verbindungstransformation auf allen Ebenen - dem Geschichtsbewusstsein, den menschlichen Verbin‐ dungen und geopolitischen Beziehungen - gleichzeitig und miteinander ver‐ bunden eine Wirkung ausübt. Maßgeblich für diesen Vorgang ist die Erwähnung des „kleine[n] Tinten‐ kreuz[es]“ „direkt über seinem Kopf “, das Kaempffer „vor sich auf der Fotografie, die ihn als Reserveleutnant zeigt, entdeckt“ (Timm 2000 [1978]: 5 / 2020 [1978]: 5). Kaempffers „merkwürdige[s] Gefühl, als habe sich etwas verändert“, wird mindestens zum Teil durch die Entdeckung ausgelöst, auch wenn dieser kausale Zusammenhang nicht ganz klar ist und eventuell mit der Abwesenheit von Ja‐ kobus als alternativem Gefühlsauslöser überlappt. Zur „Fotografie“ mit „kleine[m] Tintenkreuz“ bedarf es einiger Bemerkungen. Sie lassen sich in drei Rubriken einteilen, die jeweils mit historischer Kausalität, mit dem Status des Selbst aus historischer Perspektive sowie mit der Schnittstelle zwischen Diskurs und Affekt zu tun haben. 1. Dieser unklare Zusammenhang wird zunächst durch eine kausale Inversion suggeriert: Nicht die Entdeckung löst das Gefühl aus, sondern das Gefühl wird erwähnt und erst danach die Entdeckung als mögliche, teils abgekoppelte Ur‐ sache hingestellt. Die Reihenfolge der Sätze impliziert eine Zerrüttung der an‐ 134 4. Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre geblich linearen, kausalen Zusammenhänge der Geschichte im Augenblick ihrer schriftstellerischen bzw. historiografischen Aufschreibung. Verstärkt wird dieses Phänomen durch die komplizierte Syntax mit Einschüben und Relativ‐ sätzen: „Schon will er sich wieder seinen Abrechnungen zuwenden, als er vor sich auf der Fotografie, die ihn als Reserveleutnant zeigt, das kleine Tintenkreuz entdeckt, direkt über seinem Kopf “. Dennoch folgt die Verzerrung der linearen Geschichte nicht nur daraus, dass die linearen Verbindungen durcheinanderge‐ bracht werden, besteht doch die beschriebene Zeitlichkeit bekanntlich nicht nur in der linearen Reihenfolge oder Chronologie, sondern in einer Bündelung von verschiedenartigen Zeitskalen, die miteinander verwoben sind und einander gegenseitig überlagern (Lévi-Strauss 1984: 300). Die Topografie der Geschichts‐ schreibung nimmt daher nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Form ein. Sowohl die durcheinandergebrachte Satzreihenfolge als auch die räumliche Beziehung der Elemente der Sätze zueinander bestimmen die ge‐ schichtliche Zeitlichkeit, die im Rahmen jenes kleinen Abschnitts in Timms Mikrohandlung zum Vorschein kommt. Zwischen der Textfunktion „Kaempffer“ (Figur), „Reserveleutnant“ (reflektierte Figur der Figur; Selbstbild), „Fotografie“ (intermediale Mise en abyme; Textsorte im Text), „Tintenkreuz“ (Spur des Schreibens, jedoch auch Indiz der nicht-schriftlichen Symbolik), „Kopf “ (Figu‐ renkörperteil, gleichzeitig Metonym des Denkens, des Konzeptualisierens sowie der Handlungssteuerung) bestehen räumliche Bezüge („vor“, „über“, „zu‐ wenden“), die die zeitlichen Bezüge überdeterminieren („schon“, „wieder“, „ent‐ deckt“ - obwohl das letzte Zeichen auch einen zeitlichen Aspekt aufweist). Der Text, etymologisch gesehen einem textilienartigen Netz anverwandt, weist auf einen netzwerkähnlichen Verbund von Textelementen, die alle miteinander ver‐ woben sind. Zwischen ihnen bestehen mannigfaltige Verbindungen, die nicht explizit dargestellt, sondern durch den Satz selbst suggeriert werden. Dieses Netzwerk ähnelt einem Raumzeit-Gefüge, das aus Kausalbeziehungen besteht, die in vielen verschiedenen Richtungen verlaufen können und über mannigfal‐ tige Wirkmechanismen verfügen: physisch-materielle, semiotisch-kommunika‐ tive, emotionell-kognitive. 2. Des Weiteren stellt Fotografie ein Selbstbild dar, dem in der Lacan’schen Theorie des Imaginären (1975: 61-70) Rechnung getragen wird. Das Bild kon‐ stituiert das Subjekt als Selbst-Täuschung und daher als Manko. Das Manko wird erzeugt, indem das Bild eine Ganzheit suggeriert, die das Subjekt als selbsterle‐ bendes Wesen anstrebt, aber nie erlangen kann. Das Manko besteht nicht nur aus der Kluft zwischen verkörperlichter Realität und angestrebtem Ideal, das einem immer wieder entgleitet, sondern auch in der räumlichen Entfernung zwischen dem bzw. der Betrachter*in und dem Bild, welches er bzw. sie „vor 135 4.4 Historiografische Metafiktion als Verortung des Affekts sich“ hat. Aber bereits die Doppeldeutigkeit der Präposition „vor“ lässt er‐ kennen, dass das Manko im Kern des Subjekts aus einer Beziehung zum Ver‐ gangenen entsteht, worauf das Bild hinweist bzw. die das Bild erzeugt. Die zeit‐ liche Kluft zwischen dem betrachtenden Subjekt im Jetzt und dem betrachteten Subjekt in der dargestellten Vergangenheit wird mit der voranschreitenden Zeit immer größer. Auch wenn die Fotografie eventuell als „Vorzeichen“ für eine Wiederaufnahme einer Tätigkeit, und damit auch Identität, als Soldat - nicht umsonst heißt die Figur „Kaempffer“ - im Laufe der nun unmittelbar bevorste‐ henden Ereignisse des Deutsch-Namibischen Kriegs gelesen werden kann. Das imaginäre Wesen und die Vollkommenheit des Subjekts liegen stets „vor“ dem jetzigen Augenblick und „vor“ dem Subjekt, d. h. in einer Zukunft, in der diese Ganzheit eventuell wiederhergestellt werden kann. Das imaginäre Subjekt be‐ findet sich immer irgendwo anders als es tatsächlich ist, immer in der Vergan‐ genheit oder in der Zukunft. Das Subjekt ist immer nur ein „Vorzeichen“. Das Bild ist eine Metapher des Selbst, aber die Metapher rutscht immer wieder weg und verfällt zur Metonymie. Als Metonymie steht das Bild dann als Fehl‐ zeichen da, als Zeichen für ein Irgendwoanders oder ein Irgendwannanders. Das Selbstverfehlen des Selbst kann jedoch in dem Moment des Zerfalls in einen Gewinn umgewandelt werden, und zwar in der Form des Tropus oder der Re‐ dewendung der Synekdoche oder des Pars pro Toto. Das Fehlbild des Reserve‐ leutnants steht nun für das Kolonialsubjekt im Allgemeinen, besser noch für das Kolonialprojekt, das an sich ein „unvollendetes Projekt“ darstellt, genau wie die Moderne, deren Grundlage es bildet (Habermas 1990). Nicht nur das Subjekt also, sondern auch Epochen oder sogar die Geschichte selbst kann bzw. können als fehlendes Ganzes durch die Umwandlung der Metapher in die Metonymie gerettet werden. Genau dies geschieht anhand der Fotografie im Text. Besonders bezeichnend ist die Tatsache, dass die meisten Ausgaben des Ro‐ mans bis 2000 ein Umschlagmotiv verwenden, auf dem eine Gruppe Wider‐ standskämpfer um Morenga abgebildet ist. Morenga selbst ist nicht im Bild, was mit Timms Verweigerung, einen direkten Zugang zur geschichtlichen Person Morengas zu gewähren - „Wer war Morenga? “ (2000 [1978]: 6; 2020 [1978]: 6] - durchaus im Einklang steht. Da die Erstausgabe des Romans bei AutorenEdition erschien, d. h. in einem Autorenbzw. Herausgeberkollektiv, in dem die Autor*innen sich gegenseitig lektorierten und sämtliche Aspekte der Produk‐ tion in Eigenregie führten (Basker 1999: 19-20), kann man davon ausgehen, dass dieses Motiv als Bestandteil des Konzepts für den Roman galt. Ab 2000 schmückte den Umschlag der als Standard geltenden dtv-Ausgabe eine Abbil‐ dung einer kolonialen Malerei des Waterbergs, wo die entscheidende Schlacht im Deutsch-Namibischen Krieg stattfand. In den Vordergrund wird somit ein 136 4. Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre Kolonialromantismus der afrikanischen Landschaft gerückt, woraus mensch‐ liche Figuren verbannt sind. 2020 erscheint Morenga in einer neuen Auflage. Diesmal steht Morenga - allein und schablonenhaft - im Zentrum des Um‐ schlags, d. h. als Einzelsubjekt ohne sozialen Kontext, dafür aber kernig und verschwommen: „[D]ie Hauptfigur“ des Romans, so Habeck (2020: 474), „tritt dennoch kaum je in Erscheinung“. Die Historizität aber auch die Flüchtigkeit bzw. Unfassbarkeit des Selbstbildes werden auf diese Weise noch einmal, wenn auch auf ambivalente, suggeriert. Die Beziehung zwischen Figur, Schreibtisch und Bild, mit dem betrachtenden Lesen als verbindendem Prozess, wird umrahmt von einer analogen Beziehung zwischen Leser*in, Leserort und Text-Bild, mit dem Lesen als umspannendem Verfahren. Wenn aber das Bild im Text nicht nur als verfehlte Metapher des Selbst fungiert, sondern auch als großzügiger metonymischer „Umschlag“, dann bildet ebenso die Beziehung zwischen Leser*in, Text und Bild ein geräumiges Gefüge, in dem nicht nur geschichtliche Zusammenhänge kognitiv, sondern auch affektiv verarbeitet werden können. In diesem Gefüge fungiert die Ent‐ fernung der Elemente nicht mehr als Gefährdung für den Wahrheitsgehalt oder die Authentizität des wiedergegebenen Inhalts, sondern die Nähe der einzelnen zueinander ist die Gewährleistung eines flexibleren geschichtlichen Zusam‐ menhangs. Analog zum vor nicht langer Zeit neu aufgegriffenen Paradigma der Ähnlichkeit (Bhatti / Kimmich, Hg. 2015), das einen großzügigen Mittelweg zwischen den binären Polen der Identität und der Differenz eröffnet, ermöglicht die Nähe als Raum-Zeit-Umwelt der Kommunikation, zusammen mit dem Affekt als Medium, eine neuartige Verflechtungsgeschichte, die nun als solche in Er‐ scheinung treten kann. Das Umschlagmotiv als „Hülse“ für den Text bietet so‐ zusagen eine Projektionsfläche, worauf eine Resonanz (Rosa 2017) zwischen dem beschriebenen Bild im Text und dem gedruckten Bild auf dem Einband eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Figur und Leser*in, entstehen lässt. Diese Resonanz kann beispielsweise mit einer kogni‐ tiven Erkenntnis der Ähnlichkeiten zwischen der Kolonialepoche und der „ko‐ lonialen Gegenwart“ (Gregory 2012) einhergehen; sie kann eine politische Handlung einleiten usw. Entscheidend aber ist, dass eine wirkungsmächtige Verbindung zustande kommt, deren Wesen weder unmittelbarer noch mittel‐ barer, weder kausal-mechanischer noch textueller Art ist. Nicht zu Unrecht könnte man den Einwand erheben, das Umschlagmotiv gelte nicht als integraler Teil des literarischen Texts an sich, sondern bilde le‐ diglich einen „Paratext“ im Sinne Genettes (1989: 29-35). Die Beziehung zwi‐ schen Text und Paratext Fällen ist in derartigen Fällen relativ lose, jedoch nicht gänzlich beliebig. Sie ist durch eine gewisse Kontingenz gekennzeichnet, die 137 4.4 Historiografische Metafiktion als Verortung des Affekts typisch für die Beziehung zwischen Menschen und Geschichte ist. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Marx (1972: 115) zufolge, „machen [die Menschen] ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“. Die Vorbedingungen der Geschichte sind nicht zu ändern, aber aus den massiv überdeterminierten weltlichen Beziehungen der Gegenwart entstehen Zukunftsperspektiven, deren Kontingenz eher offen ge‐ staltet und daher von Kreativität durchtränkt sind. 3. Schließlich ist vor allem in diesem „flüssigen“ Affektumfeld klar: Kaempf‐ fers Unbehagen entsteht aus dem Anblick des kleinen Tintenkreuzes auf der Fotografie, „direkt über seinem Kopf “. Das Kreuz erinnert an das „punctum“ der Barthes’schen Theorie der Fotografie. Das „punctum“ bezeichnet Barthes (1989: 36) als „Stich, kleines Loch, kleine[n] Fleck oder kleine[n] Schnitt“ und meint damit eine Öffnung des Bildes hin zum Betrachter bzw. zur Betrachterin, die einen affektiven Zugang ermöglicht. Einerseits wird der geschlossene Kreis von Kaempffers Selbstbetrachtung durch den „Stich“ aufgebrochen. Das Tintenkreuz liegt über seinen Kopf, d. h. es führt seinen Blick weg von seinem eigenen Bild-Gesicht, und daher weg von der Selbstspiegelung des Narzissmus hinaus ins Leere. Möglicherweise weist das Kreuz auf den eigenen Tod hin, mit anderen Worten darauf, was der narzissti‐ sche Selbsterhaltungstrieb mit aller Kraft abzuwenden versucht. Die imaginäre Ordnung Lacans ist der Ort, an dem der Tod verneint wird, und zugleich desto stärker wieder zum Vorschein kommt. Ferner kann das Kreuz eine „Durchstrei‐ chung“ bedeuten, womit ein Ort des „Aufhebens“ im doppelten Sinne des Ver‐ drängens - Amnesie, Vergessen, und trotzdem Speichern der Erinnerung an einer abgelegenen Stelle - zugleich wegradiert und markiert wird. Nach der Lacan’sche Theorie der Verdrängung werden nicht so sehr traumatische Erleb‐ nisse der Kindheit, sondern die Sprache selbst als die Ortung des illusorischen Fortbestands des Subjekts fortwährend aus dem Bewusstsein verbannt. Ähnlich der Nahtstelle („suture“) der Lacan’schen Theorie Millers (1966), die das Subjekt an den Diskurs - worin ihr flüchtiges Wesen liegt - andockt, und daher das Subjekt in eine permanent aufgeschobene Auflösung bringt, deutet das Tinten‐ kreuz auf das Trügerische der Schrift und des Diskurses hin. Timms Text ver‐ bindet in diesem Sinne auf fatale Weise das Tintenkreuz mit dem Hottentot‐ tenboy „Jakobus, de[n] Treue[n]“, dessen Name nicht zuletzt als eine hämische Anspielung auf den Apostel Jakobus zu lesen ist. In zweierlei Hinsicht ist dies ironisch: Zum einen, weil sich der Jünger absetzt und dadurch alles andere als treu ist, und zum anderen, weil die biblische Referenz auf ein missionierendes Christentum hinweist, ein Teil des kolonialen Apparats, der von den einheimi‐ 138 4. Timms Morenga und die Methode einer Affektlektüre schen Propheten im Dienst der antikolonialen Rebellion zweckentfremdet wurde (vgl. Wenzel 2009). Auch die biblische Sprache ist ein Imaginäres, d. h. ein trügerischer Spiegel, worin der Kolonialherr sein Wesen verkennt. In seiner doppeldeutigen Aussagekraft verweist das Tintenkreuz auf der Fotografie nicht nur auf das Christentum als Teil des Kolonialdiskurses über die vermeintliche Unterwerfung der Einheimischen, sondern es wird zugleich mit einem Zeichen der Negation versehen, das wiederum den zuvor genannten Diskurs als reine Ideologie entlarvt. Andererseits bildet das Tintenkreuz buchstäblich ein „X“ und kennzeichnet die Verortung eines Chiasmus, wodurch der negative Inhalt des Zeichens in sein Gegenteil gekehrt wird. Somit wird durch den „Stich“ oder das „punctum“ auf eine Anschlussstelle hingewiesen, die das Subjekt nicht nur mit dem Diskurs, sondern aufgrund der affektiven Bezogenheit, die erzeugt wird, mit der leben‐ digen Materie verbindet und auf seine unendliche Entstehung aus und in der Materie hinweist. Somit malt das Tintenkreuz eine der Fluchtlinien aus, die eine Nähe des Subjekts zur Welt bestimmt. Anders als die Nahtstelle bezeichnet in dieser Hinsicht das Tintenkreuz jedoch nicht nur das Verschwinden des Sub‐ jekts, sondern auch seine Vergrößerung bis hin zur Auflösung im Netz der Ver‐ bindungen der Welt - im Rahmen der kreativen „Weltbeziehungen“, die laut Rosa (2017) in der „Resonanz“ zur Geltung kommen, oder der „Verschrän‐ kungen“, die Waldenfels (1997: 66-84) zufolge alle Wesen miteinander in Kon‐ takt bringen. Über solche Resonanzlinien wird eine Verbindung zur kolonialen Vergangenheit hergestellt, die nicht nur eine kollektive Aufarbeitung im Sinne etwa der deutschen Nachkriegspsychoanalyse (Mitscherlich / Mitscherlich 1967; Moser 1993) einschließt, sondern ein umfassendes Bündel an konzeptu‐ ellen, affektiven, sozialen, global-geopolitischen und handlungsorientierten Verbindungen ermöglicht. 139 4.4 Historiografische Metafiktion als Verortung des Affekts 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) Etwas ungenau wird Uwe Timms Morenga (2000 [1978] / 2020 [1987]) als die „erste literarische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte“ (Ott 2012: 10) bezeichnet. Genauer gesagt ist der Roman die erste postmoderne literarische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte. Das Postmodernistische liegt im Status des Romans als frühem deutschen Vertreter der Gattung der historiografischen Metafiktion (vgl. Nünning 1995), insofern er spielerisch mit der Geschichte und der Geschichtsschreibung umgeht, Realismus und Fantasie vermischt, konventionstreu wirkende Episoden neben avantgar‐ distischen Textstellen platziert, viele fiktive Elemente gegen authentische (bzw. quasi-authentische) Archivmaterialien ausspielt (vgl. Schmiedel 2007: 90-1) und insgesamt als herrschende Schreibmethodik die Montage bzw. Collage ver‐ wendet (vgl. Reynolds 2008). Die durch die Montage-Technik erzeugte Diskre‐ panz soll die „Historiographie als eine Frage der Perspektive“ hervorheben (Volkmann 2013: 16-7), die auf der Grundlage einer unhintergehbaren Narrati‐ vität ruht, und dadurch eine kognitive Veränderung beim Leser bzw. bei der Leserin verursachen. Die Montage-Technik birgt jedoch auch die Möglichkeit, andere nicht rein kognitiv wirkende Effekte, nämlich Affekte, in Gang zu setzen. In diesem Kapitel wird dargelegt, wie die literarische Montage-Methode nicht nur einen Verfremdungseffekt erzeugt, der die wahren Kausalstrukturen der Geschichte unter Einbezug der Gegenwart darzulegen vermag, sondern andere physische, materielle, gar ökologische Kausalstrukturen zu Tage bringt, die eine positive, lebensbejahende Kraft entfalten können. Insofern bildet die Montage als Schreibmethodik nicht nur die Grundlage für die vermeintliche „Spreng‐ kraft“ des kritischen literarischen Schreibens (Timm 1976: 145), sondern auch für eine integrative, verbindende Kunstform, die deckungsgleich ist mit dem Affekt im erweiterten Sinne. 5.1 Affektgeschichte / Geschichtsaffekt In Timms Roman begleitet der Protagonist Gottschalk einen Wagentransport unter der Leitung eines Leutnants Elschner, mit dem er lange Gespräche führt. In einem Satz, der zunächst innerhalb des Bewusstseins Gottschalks angesiedelt ist, jedoch am Ende einem heterodeiktischen Erzähler zugerechnet werden kann, erfahren wir von der möglichen Bedeutung Elschners im Rahmen einer möglichen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert: „Elschner hatte tat‐ sächlich das Zeug zu einem großen Strategen und hätte wahrscheinlich fünf‐ unddreißig Jahre später die Operationspläne für Walküre und Barbarossa mi‐ tentwickelt […]“ (Timm 2000 [1978]: 372 / 2020 [1978]: 389). Timm verbannt diese potenzielle Weiterentwicklung seiner Geschichte im Rahmen eines hypo‐ thetischen Geschichtsverlaufs jedoch umgehend: „[W]enn ihm nicht im Jahre 1906 eine Hottentottenkugel das rechte Knie zerschmettert hätte. So blieb er in Südwest mit einem steifen Bein, heiratete die Tochter eines Bäckers aus Swa‐ kopmund und farmte am Schwarzrand“ (ebd.). Die doppelte Verwendung des Konjunktivs „hätte“ spielt eine zentrale Rolle: Die erste Verwendung signalisiert einen rein hypothetischen Geschichtsverlauf, in dem Elschner eine Rolle zukommt, die jedoch nie realisiert werden wird. Die zweite Verwendung des Subjunktivs bezeichnet ein Ereignis, das auch anders hätte passieren können, aufgrund dessen aber das bislang offene Schicksal der Figur ausschließlich den einen der möglichen Wege genommen hat. Das zweite „hätte“ bezeichnet daher ein Faktum, das andere Geschichtsverläufe zwar un‐ terdrückt hat, sie jedoch schattenhaft in sich beherbergt. Mit der Unterscheidung zwischen möglichen, aber nicht vollzogenen und tatsächlichen Geschichtsver‐ läufen will Timm den Unterschied zwischen tatsächlichen, aber verdeckten und offenliegenden Geschichtsverbindungen aufzeigen. Auf diese Weise suggeriert Timm, dass der Deutsch-Namibische Krieg 1904 bis 1907 ein Vorläufer der Ver‐ nichtungskriege des Zweiten Weltkriegs, insbesondere des Holocausts, ist. Dementsprechend muss die Aussage Tresckows verstanden werden, wenn er erklärt: „Dieser Krieg war, im Gegensatz zu jedem denkbaren in Europa, ein Aufstand gegen alle tradierten Werte“ (ebd.: 266 / 278). Einerseits wird hier eine leise intertextuelle Verbindung zu Marx geknüpft, der den Prozess des Kapita‐ lismus als eine Zerstörung von „alle[n] bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten“, in deren Rahmen „alles Ständische und Ste‐ hende verdampft, alles Heilige […] entweiht“ wird, bezeichnet (Marx / Engels 1953: 10): „In diesem Hottentottenkrieg stand alles Kopf, alte ehrwürdige Regeln, gültige, tradierte Konventionen, die guten Sitten, sogar des preußischen Ehren‐ kodex wurden hier außer Kraft gesetzt“ (Timm 2000 [1978]: 266 / 278). Entspre‐ chend wird der Kolonialkrieg in Verbindung mit dem kapitalistischen Indust‐ riestaat in der europäischen Heimat gebracht. Andererseits aber werden Anspielungen auf die Vernichtungskriege des Zweiten Weltkriegs (vor allem im Russlandfeldzug) und auf den Holocaust gemacht, in denen sämtliche Regeln des Rechtstaats (einschließlich der Genfer Konvention) im Rahmen eines flä‐ chendeckenden Ausnahmezustands bzw. Kriegszustands aufgehoben (Agamben 142 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) 2005) wurden. Noch stärker werden solche Verhältnisse an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht: „Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis; das Unbeschreib‐ liche, hier wird’s getan“ (Timm 2000 [1978]: 321 / 2020 [1978]: 334). Das Ironische in der Aussage Tresckows ist, dass ausgerechnet solch ein Krieg in Europa statt‐ finden wird, gerade weil er zunächst bei den kolonialen Subjekten (d. h. unter anderem in Deutsch-Südwestafrika) erprobt wurde (Césaire 1973: 12-3; Fanon 1971: 72-3; Foucault 1997: 228-9), deren Leben erst recht als „lebensunwert“ galt (Binding / Hoche 1920): Der Krieg gegen die Herero und Nama […] stellt einen wichtigen Schritt hin zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg dar. In Übersee wurde eine Art Kriegsfüh‐ rung vorweggenommen, die nur 40 Jahre später auch in Europa zum Tragen kam. Die Einordnung als „Rassenkrieg“, das Abdrängen in lebensfeindliche Gegenden, die Zer‐ störung der Nahrungsquellen, die summarischen Exekutionen und die Vernichtung durch Vernachlässigung sind deutliche Parallelen. (Zimmerer 2003: 254-5) In diesem Kontext bezieht sich Timms Verwendung von Begriffen wie „Kon‐ zentrationslager“, Stacheldraht“ oder Sätzen wie „Skelette, nein, etwas in der Mitte zwischen Menschen und Skeletten“ (Timm 2000 [1978]: 26 / 2020 [1978]: 26) bewusst auf die Debatte über die geschichtlichen Wurzeln bzw. das Erbe der NS -Zeit: Uwe Timm bedient sich für den Entwurf dieser Szene kolonialer Bild- und Schrift‐ quellen, aber dennoch ist die verwendete Semantik keineswegs zufällig. Sie knüpft […] bewusst an jene assoziativen Bilder- und Sprachwelten an, die für die Beschreibung nationalsozialistischer Konzentrationslager seit den 1960er-Jahren ikonografisch wurde. (Bürger 2017: 230) Insofern spielt Timm gleichzeitig auf der Ebene der Kausalgeschichte, indem er eine Vorgeschichte des NS -Lagers im kolonialen Namibia suggeriert, und pa‐ rallel dazu auf der Ebene des Affekts. Timm konstruiert eine „Affektgeschichte“, indem er die bildlich gebundenen Affekte des moralischen Sich-Grauens rückwärts in die Vergangenheit übersetzt und dadurch für das gegenwärtige Kulturgedächtnis nutzbar macht. Der „Ge‐ schichtsaffekt“, der auf diese Weise entsteht, benutzt die NS -Zeit als eine ge‐ schichtliche Brücke, um die damit verbundenen „Kollektivgefühle“ wie Empö‐ rung, Grauen und Scham (Koschorke 2012: 64) sowie die Entschlossenheit, dass so etwas nie wieder passiert, auf eine frühere Epoche zu übertragen. Der Affekt als relativ klar identifizierbares „Kollektivgefühl“, welches die am leichtesten nachvollziehbare Verwendung des Affektbegriffs ist (siehe Ahmed 2004), geht in den Affekt als Übersetzungsprozess bzw. Verbindungsstruktur an sich, und 143 5.1 Affektgeschichte / Geschichtsaffekt damit in die radikalere Version des nun erweiterten Affektbegriffs über. Nicht ganz unwichtig ist die Tatsache, dass diese Beschreibung sehr früh im Roman vorkommt. Auch wenn der Roman durchaus nicht-chronologisch strukturiert ist, ist die im Text mobilisierte Affektstrategie keineswegs zweitrangig oder zu‐ fällig und wird gleich am Anfang des Texts in Gang gesetzt. Hiermit wird nicht etwa eine auktoriale Intention unterstützt - es fungieren letztendlich im Text zu viele intertextuelle Quellen, um eine einheitliche Autorenfunktion zuzu‐ lassen -, sondern die politische Wichtigkeit der Affektästhetik wird ohne Um‐ schweife in den Vordergrund gestellt. 5.2 Die Montage-Technik Timms Die Wirkung einer solchen „Affektgeschichte“ wird im vollen Umfang in der unmittelbar nach der „Stacheldraht“-Episode folgenden Textstelle (Timm 2000 [1978]: 25-6 / 2020 [1978]: 26-7) klar, die thematisch sowohl geschichtlich als auch geografisch weit entfernt ist: Gewürzinseln. Sie liegen am Äquator, auf dem 130. Längengrad, in der Molukkensee. Dort wachsen die Gewürznelken, blühen, süßschwer duftend, auf den Feldern im Landesinneren, umschwirrt von Paradiesvögeln, dort werden die Knospen von Ma‐ laien gepflückt, getrocknet und von Trägerkolonnen durch das Geschrei des Dschun‐ gels getragen, begleitet vom nächtlichen Sammettritt des Tigers. (Ebd.: 26 / 27) Die exotische Südseeromantik entpuppt sich bald als Schleier für eine Skizze eines globalen Handelsnetzwerks (vgl. Morton 2000). Die Gewürznelken kommen in Deutschland an: „Dort wurden sie den Bratensoßen und dem Glüh‐ wein beigegeben, entfalteten sie endlich auf der Zunge von Doktor Hinrichsen ihren Geschmack und Geruch, der einmal nur Duft war, auf den fernen Ge‐ würzinseln“ (Timm 2000 [1978]: 27 / 2020 [1978]: 27). Diese Textstelle bietet daher ein Mikroessay zum Grenzüberschreitenden und der Mobilität der Düfte, d. h. zur Mobilität eines Phänomens, das in sich bereits die Unterscheidungen zwischen Handelsware und Kultur, zwischen Äther und Materialität, zwischen Handelswert und Gefühl verschwimmen lässt. Die typografisch klar umrissenen Grenzen der Textstelle mit ihren weißen Rändern und Zwischenräumen wird zur bildlichen Modellierung der literarisch-schriftlichen Geografie des Dufts, der dazu fähig ist, Leerstellen zu überspringen, genau wie er durch Handel die vermeintlichen Leerstellen der Weltmeere zu durchqueren vermag. Diese Glo‐ balromantik hat aber ihre blutige Gegenseite. 144 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) Die oben zitierte „Südseeromantik“ enthält bereits Hinweise auf die rassisti‐ sche Grundlage der kolonialen Ausbeutung. Das Wort „Malaien“ fungierte als Sammelbegriff für asiatische Völkergruppen im deutschsprachigen Wissen‐ schaftsraum im 18. und 19. Jahrhundert und brutalere Auswüchse wie der Be‐ griff „Trägerkolonnen“ unterstreichen dies. Der Name des Doktors Hinrichsen enthält, wenn auch nur subtil, ein Echo des Verbs „hinrichten“ - eine textuelle Anspielung, die sicherlich weithergeholt erscheinen mag, bis man die schiere Anhäufung von Hinrichtungen der Eingeborenen im Timm’schen Text in Be‐ tracht zieht. Angefangen mit einer Episode, in der Gottschalk als vermeintlicher „Doktor“ den Tod eines hingerichteten Gefangenen feststellen soll: „Er sei dafür nicht zuständig, hatte Gottschalk zunächst sagen wollen, er sei schließlich Tier‐ arzt. Aber er blieb und schwieg, da er fürchtete, daß der Schwanebach hätte antworten können: Eben darum“ (Timm 2000 [1978]: 53-5 / 2020 [19 78]: 54-6). Solche Hinweise auf globale Wirtschaftsbzw. koloniale Kriegsverbindungen werden an anderen Stellen im Roman noch deutlicher gemacht. Beispielsweise, wenn Timm anhand von Zitaten aus den Forschungen von Bley (1968) und Drechsler (1966) die Verquickung der deutschen Wirtschaft im kolonialen Un‐ ternehmen Deutsch-Südwestafrika sowie die Steigerung der Gewinne während des Deutsch-Namibischen Kriegs benennt (Timm 2000 [1978]: 42-3 / 2020 [1978]: 43-4) - womit man faktisch von den Effekten eines „war capitalism“ (Beckert 2015: 28-55) im textbezogenen Dreieck Südsee - Afrika - Deutschland sprechen kann. Diese mehr oder weniger sichtbaren Hinweise deuten wiederum auf die wahre Funktionsweise der Textstelle im Roman. Wie bereits angemerkt, ist die „Gewürzinseln“-Episode zwischen zwei the‐ matisch grundsätzlich verschiedenen Textstellen angesiedelt. In der ersten der zwei einrahmenden Episoden werden die „Konzentrationslager“ (Timm 2000 [1978]: 26 / 2020 [1978]: 26) erwähnt, in der zweiten deren Auswirkungen be‐ sprochen: „Woran sie sterben, sagte Gottschalk später zu Wenstrup: Ruhr, Ty‐ phus und Unterernährung. Die verhungern. Nein, sagte Wenstrup, man läßt sie verhungern, das ist ein feiner, aber doch entscheidender Unterschied“ (ebd.: 27 / 28). Die Verschiedenheit der Themen - Konzentrationslager bzw. Hungertot vs. Gewürzinseln und Molukkensee - wird überbrückt durch die nur anscheinend thematisch abweichende Textstelle zur Weltreise der Gewürznelken. Somit klammern Details des brutalen kolonialen Vernichtungskrieges, der meist im alltäglichen Geschichtserzählen in Deutschland ausgeklammert wird, die Süd‐ seeromantik der Duft-Passage ein. Zudem suggeriert Timm durch diese „Ein‐ klammerung“ verschüttete Verbindungen zwischen dem kolonialen Vernich‐ tungskrieg von 1904 bis 1907 und späteren Vernichtungskriegen des 145 5.2 Die Montage-Technik Timms 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel den „Vernichtungskrieg“ in Russland 1941 bis 1945 (Morsch 2016). Wenstrup behauptet, „dahinter steckt System. […] [D]ie Ausrottung der Eingeborenen. Man will Siedlungsgebiet haben“ (Timm 2000 [1978]: 27 / 2020 [1978]: 28), womit der implizite Bezug beispielsweise zum Russlandfeldzug und zum Generalplan-Ost (Rössler / Schleiermacher, Hg. 1993) angedeutet wird. Der koloniale Vernichtungskrieg dient als Muster für die spä‐ teren europäischen Vernichtungskriege (Foucault 1997: 228-9), die wiederum als Muster für den Holocaust dienen: „Die unvergleichlichen Völkermordver‐ brechen beginnen zwar in der Sowjetunion, sie dehnen sich aber bald von dort auf das ganze besetzte Europa aus“ (Morsch 2016). Die Duft-Episode inszeniert, so lässt sich sagen, die Südseeromantik und durch eine leichte stilistische Übertreibung entlarvt sie zugleich diese Romantik als durchaus ideologisiert. Somit tritt ihre Rolle als Tarnung für eine andere Art globaler Netzwerke zu Tage. Jene Netzwerke bestehen aus primär ökonomi‐ schen und - nur anscheinend - sekundär militärischen Verbindungen, deren gegenseitige Nähe zueinander ähnliche Strukturen aufweist. Die Montage‐ technik ermöglicht, durch Stilbruch und Stilkontrastierung Ideologiekritik zu vollziehen. Die erzwungene Nachbarschaft des einander Fremden bzw. Entfernten ist eine Technik, die Timm, wie bereits erwähnt, höchstwahrscheinlich Benjamin entliehen hat. Benjamin verwendet die zersplitternde Methode der Montage, um „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“, um „das ‚ewige‘ Bild der Ver‐ gangenheit“ aufzubrechen (Benjamin 1991, V.2: 701, 702). Im Gegensatz zum „Historismus“, dessen „Verfahren […] additiv [ist]“, denn er „bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufüllen“ (ebd.: 702), schlägt Benjamin eine Historiografie der „Dialektik im Stillstand“ vor (1991, V.1: 577): „Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung“ (1991, V.2: 702). Und Benjamin weiter: Vergangenes historisch artikulieren […] heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt“ (ebd.: 695). Solche „dialektischen Bilder“ erteilen „einer von Spannungen gesättigten Kons‐ tellation“ „einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert“ (ebd.: 702-3). Mit anderen Worten, „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“ (1991, V.1: 576). Benjamin fügt hinzu: „Nur dialektische Bilder sind echte (d. h. nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache“ (ebd.: 577). Warum, so kann 146 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) man an dieser Stelle fragen, spricht Benjamin von einem „Bild“? Es geht nicht darum, sich durch ein „Bild“ einen leichter verständlichen Zugang zum Vergan‐ genen zu verschaffen als durch das schriftliche Archiv. Ganz im Gegenteil, für Benjamin ist das „Bild“ die geeignetste Form, die „raumgewordene Vergangen‐ heit“ (1991, V.2: 1041), d. h. die nicht mehr homogen-lineare Geschichte zu ver‐ anschaulichen. Weil das Ergebnis der nicht-linearen Darstellung der Geschichte andere Verlaufslinien und kausale Erklärungsmuster zu Tage bringt, wird dem Leser bzw. der Leserin durch die Montage-Methode geradezu ein erhöhter kri‐ tischer Umgang mit dem geschichtlichen Material auferlegt. Der Leser bzw. die Leserin ist Adressat einer „Anforderung und Aufforderung, an dem Text, an der Geschichte, weiterschreibend mitzuschreiben“ (Pakendorf 1988: 157). Timms Roman greift auf diese Weise auf die jüngsten Herero-Romane der 2000er-Jahre vor, deren Handlung in toto oder zumindest partiell in ihrer Entstehungszeit angesiedelt [ist]; anstatt historische Ereignisse in gleichsam positivistischer Manier widerspiegeln zu wollen, beschäftigen sich die Texte mit deren gesellschaftlicher Rezeption und nehmen somit den Standort eines Beobachters zweiter Ordnung ein (Hermes 2009: 266). Deshalb erklären, laut Benjamin (1991, V.1: 574), solche Bilder nichts. In seiner Beschreibung der „Methode dieser Arbeit“ sagt er: „[L]iterarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde […] mir keine geistvollen For‐ mulierungen aneignen“. Benjamins dialektische Denkbilder zeigen durch das Aneinanderprallen von Fragmenten, wie die Geschichte als Prozess der Unter‐ drückung und des Widerstands funktioniert: Sie verlangen gleichzeitig, dass die Leserin bzw. der Leser diese Fragmente selbst in einer gegenwartsbezogenen Assemblage zusammenstellt und dazu Stellung nimmt. Bei Timm passiert jedoch - neben einer „Dialektik im Stillstand“, „worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“ (ebd.: 577, 576) - etwas Zusätzliches. Die Arbeit Benjamins ist primär ideologisch-kog‐ nitiv eingerichtet: „Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkenn‐ barkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Mo‐ ments, welcher allem Lesen zugrunde liegt“ (ebd.: 578; Hervorhebung RWP ). Timms literarisches Schaffen ist, wie viele spätere Romane, dank seiner Ver‐ wendung der Montage-Technik durch und durch mit der „Fortdauer zahlreicher Afrika-Stereotypen“ zwecks „einer fortgesetzten kritischen Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands“, wie Hermes (2009: 267) es sagt, beschäftigt. 147 5.2 Die Montage-Technik Timms 5.3. Von der Montage zum Affekt: Duft Timms Roman inszeniert von Anfang an, so die These dieser Studie, einen an‐ deren, zugleich komplementären Zugang zur kolonialen Vergangenheit und zu den afrikanischen Realitäten, der bis in die Gegenwart reicht. Dieser Zugang läuft nicht über die Schiene der Ideologie, der Stereotypen oder gar der Dar‐ stellungsmuster, sondern über Kanäle, die jene soeben aufgezählten Wirkungs‐ bereiche untermauern und ermöglichen: Proximitäten, Verbindungen, somati‐ sche Resonanzen, auf großer Entfernung funktionierende Gefühlszugänge oder Stimmungsräume usw. Die Behauptung, Timms Roman sei im Einklang mit den seit dem „linguistic turn“ herrschenden Theorien des Konstruktionscharakters sowohl der Geschichte wie auch der Subjektivität, greift daher zu kurz. Gewiss reflektiert Timms Schreiben „die unaufhebbare Perspektivität der Erkenntnis und die Unhintergehbarkeit der Sprache“, wie Uerlings (2001: 160) mit Recht notiert, aber dies ist nur ein Teil seines Unterfangens. An dieser Stelle sei warnend angemerkt: Die Welt ist keineswegs nur über Sprache zu rezipieren und zu erfahren. Andere Kanäle sind als Modi der Welt‐ erfahrung und -deutung gegebenenfalls noch wirksamer, und die Affekttheorie hat als Aufgabe, diese nicht-sprachlichen Kanäle bzw. Medien zur Geltung zu bringen und ihnen im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Methoden Gehör zu verschaffen. Der Vorteil der Affekttheorie ist, dass sie im Gegensatz zur post‐ saussureschen Zeichentheorie keinen Bruch zwischen Signifikant und Signi‐ fikat, zwischen Realem und Symbolischem, zwischen Geschehenem und „Ge‐ schichte“ postuliert, sondern ein Netzwerk fließender Übergänge und Verbindungen, die vielfältige Medien - unter anderen auch sprachliche - auf‐ weisen. Deshalb ist es nicht unerheblich, dass Benjamins Montage-Technik - trotz aller Beteuerungen des Gegenteils - von der verpönten Homogenität der Ge‐ schichte, von der Aneinanderreihung von Ereignissen ausgeht, die er ein „Ad‐ ditives“ nennt (Benjamin 1991, I.2: 702) und explodieren lässt, indem er chro‐ nologisch Unvereinbares miteinander in Kontakt bringt. Nur auf dem Hintergrund des „Additiven“ kann er seine „gezielte Regelverletzung“ (Pusch 1990: 11-2, 35-6) durchführen, um eine andere Logik aufkommen zu lassen. Timms Ausführungen zur Reise der Gewürznelken bringen eine ähnliche dia‐ lektische Warengeschichte hervor. Durch den abschließenden Fokus auf den Duft und die damit einhergehende Akzentverschiebung, wenn auch mit Kor‐ rekturen in Richtung „Warenästhetik“ (Haug 2009), wird jedoch im Gegensatz zu Benjamin keine Ästhetik der Brüche (vgl. auch Foucault 1969), sondern eine Ästhetik der Kontinuitäten und der Kontaktflächen sichtbar. 148 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) Daher ist in diesem verschränkten Netzwerkerzählen bzw. dieser montage‐ artigen „Verflechtungsgeschichte“ (Werner / Zimmermann 2002) das formge‐ tragene, durch Typografie und Gestaltung zum Ausdruck gebrachte Konzept des Ineinanders von anscheinend getrennten geschichtlichen Instanzen des Ver‐ nichtungskriegs bzw. des Völkermords nicht der wichtigste Aspekt der Timm- ’schen Montage-Technik. Von noch größerer Bedeutung ist die materielle Basis, die als Grundlage für eine solche im Text dargestellte Verschränkung dient. Und genau dieser materiellen Basis wird durch das Schlussdetail des Dufts eine sichtbare Form verliehen. Dabei geht es nicht nur um historische Kausalitäten, d. h. eine globale Ge‐ schichte des deutschen Völkermords, oder deren literarische Darstellung durch einen Montage-Ansatz, der augenscheinlich Fragmentierung und zugleich Ver‐ bundenheit der Weltgeschichte bzw. des Welthandels zur Schau stellt, sondern um die viel wesentlichere Frage des materiellen Gerüsts, das solchen Verbin‐ dungen zu Grunde liegt. Das Thema der eingeschobenen Textstelle liefert eine metaphorische Antwort auf diese Frage durch das anschließende „Denkbild“ (Benjamin 1991, IV .1: 305-438) des Dufts, welches als Denkbild für den Affekt agiert. Die Textstelle zum Duft ist demnach nicht nur eine Metapher des Affekts, vielmehr führt sie auch ihre Funktionsweise aus. Es ist kein Zufall, dass Timm den Duft als Träger seines Affektkonzepts aus‐ wählt. Ein Duft ruft Gefühle hervor, er ist fast immer mit Gefühlen - ob schön oder unschön, wie beispielsweise bei Abneigung („jemanden nicht riechen können“), Missfallen oder Widerwillen („etwas stinkt mir“) oder Ekel - ver‐ bunden bzw. aufgeladen. Zum Auftakt des Romans wird beispielsweise der Pro‐ tagonist Gottschalk „von einem Neger an Land getragen […]. [E]r roch den sauren Schweiß. Er ekelte sich“; später erfahren wir, dass Gottschalks Nama-Ge‐ liebte Katharina „ein[en] Geruch […] nach Erde, Sonne und Wind“ verströmt (Timm 2000 [1978]: 9, 254 / 2020 [1978]: 9, 265). Düfte werden durch den olfak‐ torischen Sinn wahrgenommen, der im Vergleich zum Seh- oder Tastsinn nicht als Metapher für das rationale Verstehen ( Jay 1993), sondern vielmehr für das Gefühl steht. Während das Tasten einen unmittelbaren Zugang zum Wissen konzeptuell abbildet, suggeriert das Sehen ein distanziertes, objektivierendes Wissen, das seit der Renaissance und der Erfindung der Perspektive als „sym‐ bolische Darstellungsform“ (Panofsky 1980: 99-167) in der europäischen Denk‐ geschichte hegemonisch geworden ist. Das Riechen dagegen schwebt dazwi‐ schen: Einerseits liefert es Erkenntnisse, die nur schwer in rationale Kategorien einzuordnen sind, andererseits funktioniert es auch auf Abstand, manchmal dem kleinen Abstand zwischen menschlichen Körpern, manchmal dem großen Ab‐ stand eines öffentlichen Geruchs, wie etwa Rauch. Da der Geruchssinn bei 149 5.3. Von der Montage zum Affekt: Duft Tieren viel ausgeprägter ist als bei Menschen, rückt er auch in die Nähe des Animalischen, und daher in den Bereich des Instinkts. All dies bedeutet, dass der Duft auf beiden Ebenen des Affekts wirkt: Einerseits auf der Ebene des Ge‐ fühls, sowohl des individuellen wie auch des kollektiven; andererseits auf der Ebene des strukturellen Prozesses, als verbindendes Medium, das sich jeglicher binärer Polarität entzieht. Der Duft funktioniert als räumliches Medium, das eine Mobilität, d. h. ein ständiges Verschieben von Grenzen und Kontaktflächen voraussetzt. Der Geruch ist z. B. mit der erotischen Anziehungskraft oder um‐ gekehrt mit dem abstoßenden Ekel (Menninghaus 1999) verhaftet. Bei allem Räumlichen seines Funktionierens, lässt er jedoch keine Grenzen oder Schranken zu. Der Geruch ist ein fließendes Medium, oft ohne Flüssigkeit. Des‐ halb wird der Duft häufig mittels der semantischen Felder der Wellen, der Wolken oder der Falten beschrieben. Die Schlusszeile der Timm’schen „Gewürzinseln“-Textstelle ist deswegen von besonderer Bedeutung. Am Ende des Absatzes kommen die Nelken nach ihrer langen Reise an, aber der Moment des Ankommens stellt in keiner Weise ein Bremsen der fließenden Dynamik oder einen Abschluss dar. Vielmehr ist das Ende ein Ort des Eröffnens und des Anschlusses, d. h. eines potenziellen Neu‐ anfangs: Die Nelken „entfalteten […] endlich auf der Zunge von Doktor Hin‐ richsen ihren Geschmack und Geruch, der einmal nur Duft war […]“ (2000 [1978]: 27 / 2020 [1978]: 27-8). Die „Ent-Faltung“ gestaltet sich als auswärtiger Vektor der Bewegung. Sie entspringt einer Falte oder einer Welle; das anscheinend Geschlossene wird zum Offenen, ohne dass in der Struktur selbst ein Bruch entsteht. So geht die aus‐ wärtige Bewegung in einem kontinuierlichen Prozess vonstatten. Im Dunstkreis des Geruchs bleibt nichts im Stillstand, es setzt sich immer etwas in Bewegung, und diese Bewegung bleibt in Bewegung, es sei denn, sie wird gewaltsam an‐ gehalten oder eingezäunt. Deshalb ist der Geruch des Schweißes in dem Mo‐ ment, in dem Gottschalk bei der Ankunft in Afrika von einem Ureinwohner an Land getragen wird, so bedeutungsvoll: Gottschalk tritt in einen affektbeladenen Kontakt mit der afrikanischen Umwelt, in der eine stetige Oszillation zwischen Annäherung und Abstand - ein „Gefühl einer zärtlichen Nähe und zugleich einer unüberwindbaren Ferne“ (ebd.: 332 / 346) - in Gang gesetzt wird: „Gott‐ schalk stand auf afrikanischem Boden. Er glaubte, der Boden schwanke unter seinen Füßen“ (ebd.: 9 / 9). Der Duft fungiert also als konkrete Metapher par excellence für den Affekt, sowohl in Bezug auf seinen emotiven Inhalt wie auf seine räumliche Form. 150 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) 5.4 Der Duft der Zeit Aus der Perspektive der Fragestellung, wie „der Duft der Zeit“ (Han 2009) aus‐ sieht, werden im Folgenden drei Modelle einer mehr oder weniger affektbezo‐ genen Zeiterfahrung, d. h. unterschiedlich affektbeladenener Bewohnungen von Zeit, anhand von Textstellen in Timms Morenga durchgespielt werden. 5.4.1 „Null-Grad“-Geschichtsaffekt: Kognition Eine rein kognitiv orientierte Variante des Geschichtsaffekts kann als „Null-Grad“-Version einer solchen Zeiterfahrung genannt werden. Sie verbindet Vergangenheit und Gegenwart über eine Schiene, die nur durch die Mon‐ tage-Arbeit der Fiktion erfolgen kann. Dabei beruft sich diese Fiktion auf Er‐ neuerungen aus den damaligen Geisteswissenschaften, wie beispielsweise die Hermeneutik. Gadamer behauptet, daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet […], daß der Text […], wenn er angemessen verstanden werden soll, d. h. den Anspruch, den der Text erhebt, ent‐ sprechend, in jedem Augenblick, d. h. in jeder konkreten Situation, neu und anders verstanden werden muß. Verstehen ist hier immer schon Anwenden. (Gadamer 1965: 291-2) Jauß (1970) entwickelt den Begriff des „Erwartungshorizonts“, um zu erklären, in welchem konzeptuellen und epistemologischen Rahmen das angewandte Verstehen stattfindet; solche Rahmen verschieben sich stetig im Laufe der Zeit und angesichts der jeweiligen sozialen und politischen Rahmenbedingungen der Lektüre bzw. Interpretation. An bestimmten Stellen schlägt Timms Text eine Brücke zur Gegenwart auf eine Art und Weise, die unmissverständlich eine Lenkung der Aufmerksamkeit des Lesers bzw. der Leserin auf den eigenen „Erwartungshorizont“ bzw. auf den eigenen „Anwendungskontext“ der Lektüre darstellt. Der Zeitpunkt der Erst‐ publikation des Romans wird anhand bestimmter Figuren, beispielsweise dem technikgläubigen Treptow angedeutet: „Treptow hatte die Verdunstungsmenge des Kaspischen Meers ausgerechnet, davon die noch verbleibenden Zuflüsse, die er durch Interpolation gewann, abgezogen. Danach wäre das Meer 1978 trockengefallen“ (Timm 2000 [1978]: 288 / 2020 [1978]: 300). In der Tat fiel der Wasserspiegel des Kaspischen Meeres 1977 auf ein historisches Tief (stieg aber wieder bis 1995 und ist seitdem stabil geblieben) (Caspian Sea Level Project 2018). Nicht so sehr der thematische Inhalt dieser Textstelle ist von Bedeutung, 151 5.4 Der Duft der Zeit sondern der prognostische Vektor der Vorhersage hebt eine wissenschaftliche Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart hervor, die keineswegs eine Einbahnstraße bildet. Die Zukunftsorientierung der Prognose wird stets im Nachhinein - d. h. aus der Warte der „Zukunft“, jetzt Gegenwart geworden - auf Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung überprüft. Solche wissenschaftlichen Mo‐ delle der epochenübergreifenden Epistemologie liefern eine Basis für die fikti‐ onsbasierte Epistemologie eines kognitiven Literaturbegriffs, der bei Timm gilt. In dessen Rahmen verwendet Timm eine Art Zeit-Montage, die das Wissen ausgewählter historischer Momentaufnahmen geschickt gegeneinander aus‐ spielt. Gottschalks Kollege Wenstrup verschwindet sehr früh aus der Handlung, ohne jegliche Erklärung seitens des Autors, hinterlässt einen von ihm anno‐ tierten Text Kropotkins, der von Gottschalk genau gelesen wird und aus dem Auszüge immer wieder zitiert werden. Wenstrups Wörter haben einen andau‐ ernden Nachhall, ein „Fortleben“ im Sinne Benjamins (1991, IV .1: 10-1), das ein Muster für die immer wiederkehrende konzeptuelle Prolepsis des Texts liefert. Eine Randnotiz Wenstrups macht dies deutlich: „Versuch einer sozialen Befrie‐ dung (wenn ich Krupp wäre)“ (Timm 2000 [1978]: 161 / 2020 [1978]: 167). Danach listet Timm eine Reihe Strategien auf, die ziemlich genau die Situation der Ar‐ beiter*innen in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre wiedergeben: hoher Le‐ bensstandard, Individualisierung und dadurch Entpolitisierung der negativen Auswirkungen des Kapitalismus, Beteiligung der Vertreter*innen der Arbeiter‐ klasse an der Optimierung des Kapitalismus und schließlich das Vorgehen, „[d]ie brutale, unschöne Form der Ausbeutung zu den ‚Wilden‘ in den Süden verla‐ gern. […] Dem deutschen Arbeiter wird es, gemessen an seinen schwarzen, braunen, gelben Kollegen, bestens gehen“ (ebd.: 161-2 / 168). Auf diese Art und Weise verbindet sich die erzählte Zeit des Romans mit der Erzählzeit des Lesens, die in sukzessiven Epochen der Gegenwart eingebettet war bzw. ist, von den 1970er-Jahren der ersten Auflagen bis in der 2000er-Jahre der bis dato noch aktuellsten Ausgabe. Es wäre eine rein europäische Kontextualisierung des Ge‐ schilderten, gäbe es nicht Timms Hinweis auf die „globale Arbeitsteilung“, wo‐ durch die Erhöhung des Lebensniveaus der Arbeiter des Globalen Nordens im Zuge der Globalisierung auf Kosten der immer intensiveren Ausbeutung der Arbeiter des Südens erfolgt. Unzeitgemäß ist Timms Verwendung des Begriffs des Globalen Südens, die ihrer Zeit voraus ist: Erst zwei Jahre nach Erscheinen des Romans prägt der Bericht der Nord-Süd-Kommission bzw. Brandt-Kommis‐ sion den Doppelbegriff „Nord-Süd“ (1980), dem wiederum der Bericht der „South Commission“ unter der Leitung Julius Nyereres mit dem Titel „The Challenge to the South“ (1990) folgt. Timm schafft Verbindungslinien, die sich nicht nur über die Zeit, sondern auch über den Raum erstrecken. Dabei werden sie, para‐ 152 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) doxerweise, mit zunehmender Entfernung sowohl von der Ära der fiktiven Handlung wie auch vom Zeitpunkt des Schreibens nicht schwächer, sondern immer stärker. Später stellt Timm eine analoge Verbindung her: Ein kolonialer Vorläufer des Molotov-Cocktails - das von Treptow entworfene „Flaschenwurf‐ geschoß“, genannt „Moloch“ - greift der Timm’schen Epoche mit der Anti-Vi‐ etnamkrieg-Bewegung, „[a]chtzig Jahre später in Hamburg“ (ebd.: 311-2 / 325), voraus, die auch in Timms Roman Heißer Sommer (1974) dargestellt wird. „Schon damals [gemeint ist die Epoche des Kolonialismus] habe sich die Interessenver‐ zahnung von Staat, Kapital und Militär gezeigt“, sagt ein fiktiver Zeitgenosse des Autors, wohl wissend, dass dieses Interessengemenge des „militärisch-in‐ dustriell-politischen Komplexes“ nicht weniger stark, sondern heutzutage immer ausgeprägter ist. Auf diese Weise wird das Bewusstsein für verdeckte sozioökonomische Zusammenhänge durch ein Bewusstsein für geschichtliche Zusammenhänge, die bis in die Gegenwart reichen, ergänzt. Mittels metafiktiver Elemente, die an Stellen wie den gerade genannten zum Einsatz kommen, wird Timms historischer Roman zu einem „präsentistischen“ (vgl. Grady / Hawkes, Hg. 2007). Durch die immer wiederkehrenden Auflagen und Übersetzungen (z. B. Timm 2005) rückt der Roman schrittweise an den Ort bzw. Rezeptionsmoment des Lesers bzw. der Leserin immer näher heran. Diese progressive Annäherung zwischen dem Leser bzw. der Leserin und einem immer weiter entfernten historischen bzw. schriftstellerischen Kontext ist hauptsäch‐ lich ein Phänomen der Kognition. Der Leser bzw. die Leserin soll sich über den Bezug zwischen der kolonialen Vergangenheit und der vermeintlich nicht-ko‐ lonialen Gegenwart kritische Gedanken machen und somit ein schärferes Be‐ wusstsein für die tatsächlichen Verbindungen erlangen. Nur strukturell ähnelt zunächst ein solcher Vorgang dem Affekt, der hier eine Rolle spielen mag, wenn auch eine untergeordnete: Affektive Verbindungen, wie die zuvor beschrie‐ benen, sind nicht vorgegeben, sondern werden immer wieder aufs Neue im Au‐ genblick des Lesens hergestellt und sowohl durch das Wirken des Texts als auch des Lesers aktiviert. Die kognitiv orientierte Montage-Methodik kann zu einem „timing of affect“ (Angerer et al., Hg. 2014: 6-7) führen. Allen voran betrifft dieses „timing“ die Jetztzeit eines netzwerkartigen Beziehungsgeflechts, die mannigfaltige Akteure in einem Raum-Zeit-Kontinuum zusammenbringt, um deren gegenseitige Ver‐ bundenheit und Mit-Handlungsfähigkeit ins Visier zu nehmen. Jede Lektüre findet in einem „Jetzt“ und einem „Hier“ statt, die als Knotenpunkte inmitten eines dynamischen Beziehungsgeflechts verstanden werden sollen. Sofern also die Dissonanzen der Montage-Technik umgekehrt als „Proximitäten“ aufgefasst werden, kippt der Verfremdungseffekt in eine affektgeleitete Arbeit der Her‐ 153 5.4 Der Duft der Zeit stellung von Verbindungslinien, die nicht nur Kritik auslösen, sondern auch „critical empathy“ (Field 2017) und außerdem eine „time of affect“, die das Un‐ vollkommene im menschlichen Leben zusammenbringt und dynamisch ver‐ vollständigt. „[T]o capture the constitutive excess of life, the prevital, the prein‐ dividual“ (Hansen 2004: 626) wird dadurch ermöglicht. 5.4.2 Geschichtsaffekt als Besitz Ein zweites Modell epochenübergreifender Zeiterfahrung auf Basis der Lektüre kann anhand der Holocaust-Bezüge des Timm’schen Texts hergeleitet werden. In diesem Zusammenhang geht es nicht so sehr um eine kognitive Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die nur unterschwellig oder potenziell affektiv beladen bzw. strukturiert ist, sondern eine, die nach dem Muster des Besitzes fast ausschließlich auf einer affektiven Ebene arbeitet. Hier entsteht ein epochenübergreifendes Dreieck: (1) Deutsch-Namibischer Krieg und anschließ‐ ender Völkermord; (2) Kontext der Erstpublikation in den 1970er-Jahren; (3) Kontext der Namibia-Debatte im Bundestag 2016. Die ganze Brisanz der Holo‐ caust-Bezüge des Texts wird erst dann klar, wenn sie in die Nähe der gegen‐ wärtigen Debatte zum Hererobzw. Nama-Völkermord gebracht werden. Ihre Verortung im Leserkontext der 1970er-Jahre erlaubt, vor allem angesichts der neu entbrannten Diskussion über die deutsch-namibische Vergangenheit, eine weitere Kontextualisierung vorzunehmen. Daher lohnt es, sich auf einige, im vorigen Kapitel hervorgehobene Aspekte der Bundestagsdebatte von 2016 zu‐ rückzubesinnen. Während der ganzen Bundestagsdebatte geht es darum, sich in doppelter Hinsicht abzuschirmen: Erstens wird immer wieder betont, die Anerkennung des Völkermords liefere keinen Rechtsanspruch auf finanzielle Wiedergutma‐ chung, da die vergangene und gegenwärtige Entwicklungshilfe eine bereits ab‐ geschlossene Wiedergutmachung in sich darstelle. Zweitens wird konstatiert, die Aberkennung eines Rechtsanspruchs leite sich implizit ab vom Grundprinzip der Einzigartigkeit des Holocausts, der allein Rechtsansprüche mit sich bringe. Beide Abschirmtaktiken bergen ein besonderes Konzept nationaler Identität in sich. Indem man sich überzeugt, man habe dem anderen gegenüber genug getan, gründet man eine Art quantitative, fast mathematische Identität, die auf einer Gleichung zwischen dem Selbst und dem Anderen beruht. Die Gleichung hat eine statische Struktur, die einen Schlussstrich unter die Rechnung zieht. Somit ist der Verkehr zwischen dem Selbst und dem Anderen eingestellt; die Grenzen werden dichtgemacht. 154 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) Das Beharren auf der Einzigartigkeit des Holocausts gegenüber allen anderen Varianten oder Fällen von Völkermord verwandelt des Weiteren den Holocaust in einen Holocaust, der den Deutschen allein, wenn auch paradoxerweise in Form eines unübertrefflichen Schuldbewusstseins, gehört. Stephan Wackwitz, ein Autor, dem sich diese Studie im weiteren Verlauf ebenfalls widmen wird, nennt das Phänomen etwas salopp, aber nicht ganz zu Unrecht, einen „Son‐ derweg der Bußzerknirschung und des Sündenstolzes“ (Wackwitz 2003: 153). Bemerkenswerterweise trägt der Holocaust im Rahmen solcher national-psy‐ chischer Konfigurationen ausgerechnet nicht nur zunächst zu einer Auflösung der eigenen nationalen Identität bei, sondern er stiftet im Laufe der Zeit, wie bei der Freud’schen Theorie der Depression, eine Art negative Identität. Bei Freud werden der Verlust und die daraus entstehende Leere so lange aufrechterhalten, bis sie zu einem hohlen Kern der Identität werden: Die Objektbesetzung […] wurde aufgehoben, aber die freie Libido nicht auf ein anderes Objekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen. Dort fand sie aber nicht eine be‐ liebige Verwendung, sondern diente dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem auf‐ gegebenen Objekt herzustellen. Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ichverlust ver‐ wandelt. (Freud 1999, X: 435; Hervorhebung im Originaltext) Dieser Ichverlust bringt jedoch eine Art „Schatten-Ich“ hervor. Ähnlich geht es den Deutschen in Bezug auf die untilgbare Schuld, die sie sich durch die Er‐ mordung von sechs Millionen Juden aufgeladen haben und zunächst zum kol‐ lektiven Schamgefühl führte. Diese Schuld wird zu einem festen Kern der nati‐ onalen Identität, auch wenn immer wieder Versuche unternommen werden, den Holocaust zu leugnen (Welt 2018) oder als „Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte“ (Fritz 2018; Gauland 2018) zu verharmlosen. Die Un‐ tilgbarkeit der Schuld wird überdeutlich vom deutschen Bundespräsidenten Gauck im Jahr 2015 vorm Bundestag festgestellt: Und mag der Holocaust auch nicht mehr für alle Bürger zu den Kernelementen deut‐ scher Identität zählen, so gilt doch weiterhin: Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. (Bundespräsident 2015) Gauck bringt klar zum Ausdruck, dass sich jede*r Deutsche mit einer unfrei‐ willig geerbten nationalen Identität auseinandersetzen muss, aus der die Last der Vergangenheit nie mehr weggedacht werden kann. Das ist der Weg der un‐ ausweichlichen und unhintergehbaren Übernahme einer Verantwortung für 155 5.4 Der Duft der Zeit einen Völkermord, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind. Dies gilt übrigens genauso für Zugewanderte oder Eingebürgerte - wie der Autor der vorliegenden Studie -, die eine moralische Schuld „erben“, für die sie schlicht unmöglich eine kausale Verantwortung im engeren Sinn tragen können. Wenig beruhigend ist die versteckte Botschaft, die aus Gaucks Worte heraus‐ gelesen werden kann, dass genau die Ereignisse der Vergangenheit zu einem strukturellen Bestandteil der Identität geworden sind, auch wenn keine be‐ wusste Übernahme der nie erloschenen Verantwortung stattfindet, außer im Rahmen der Wiedergabe von längst festgefahrenen Redewendungen. Genau dieser Sachverhalt wird von Freud formuliert: „Die Melancholie“ - mit anderen Worten das Hängen am Verlust des Objekts und somit des Ichs - „entlehnt also einen Teil ihrer Charaktere der Trauer, den anderen Teil dem Vorgang der Re‐ gression von der narzißtischen Objektwahl zum Narzißmus“ (Freud 1999, X: 437). Aus dieser Perspektive kann der durchaus „narzißistische“ Tenor der Aus‐ sage Polenz’ in Zusammenhang mit den Verhandlungen mit den namibischen Opferverbänden interpretiert werden: „[D]ie Bewertung des Holocausts gehört zum deutschen Selbstverständnis. Die Afrikaner, sie müssen dann schon auch ertragen, unser Selbstverständnis zu hören“ (Habermalz / Schlüter 2017). Dieses Identitätstiftende des Holocausts kann und soll zu einem Motor der stetigen Selbstkritik werden, und daher kann es auch eine Identitätsstruktur gründen, die immer im offenen und potenziell transformativen Dialog mit dem jeweiligen Anderen bleibt. Sie kann jedoch gleichwohl zu einem negativen, aber trotzdem sich verstärkenden Selbstbezug erstarren. Im letztgenannten Falle wird die Identität der Deutschen als Schuldtragende des Holocausts zu einer in sich geschlossenen und sich selbst widerspiegelnden Logik - daher die Ver‐ dopplung in Polenz’ Aussage -, wodurch Andere ausgeschlossen werden, sogar in ihrer Ausgeschlossenheit diese Geschlossenheit des „Selbstverständnisses“ „ertragen müssen“, d. h. darunter leiden müssen. Der geschilderte, epochenübergreifende Zeitbezug ist affektiv beladen in einem kaum vorstellbaren Grad, der auch die Gefahren des kollektiven Affekts deutlich macht und im Rahmen eines affektorientierten Literaturbegriffs als eine Warnung hinsichtlich der Grenzen eines solchen Begriffs wirken soll (vgl. Breit‐ haupt 2017). Der Affektbegriff bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Erzeugung, Lenkung und Ausnutzung von meist, aber nicht immer negativen Affekten. Zweck dieser Mobilisierung ist die wirtschaftliche Gewinnsteigerung bzw. politische Manipulation und erfolgt zunehmend in Verbindung mit tech‐ nologischen Geräten und Prozessen (Clough 2007: 2). Gerade deswegen gilt es nun, eine dritte, positivere Anwendung der epochenübergreifenden Zeiterfah‐ rung aufzugreifen. 156 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) 5.4.3 Geschichtsaffekt als Jetztzeit Ein deutscher Fotograf reist durch Deutsch-Südwestafrika und fotografiert die Afrikaner*innen. Das Phänomen der Fotografie veranschaulicht einen be‐ stimmten europäischen Zeitbegriff, der die Zeit als eine Aneinanderreihung von Augenblicken sieht, die voneinander getrennt und daher messbar sind. Durch die Fotografie werden individuelle Augenblicke bildlich festgehalten und aus der „abfließende[n] Zeit“ (Timm 2000 [1978]: 332 / 2020 [1978]: 347) herausge‐ rissen. Jede Fotografie wird zu einem „Stück erstarrte[r] Zeit“ (ebd.: 282 / 294), wodurch auch den Fotografierten ihre Lebendigkeit geraubt wird: „[D]ie Erstarrten“ wurden „auf eine Platte gebannt“ (ebd.). Die Ureinwohner gehen davon aus, die Kamera sei eine „Maschine, die jedem zeigte, wer er war“, so dass der Fotograf „einige Mühe [hatte], die Bewohner davon zu überzeugen, daß es sich nicht um einen Selbsterkenntnisapparat handle“ (ebd.). Aber gerade darum geht es: Die Kamera vervielfältigt den Spiegel und erlaubt modernen Subjekten, sich zu sehen, wie sie von anderen gesehen werden, so dass das von Lacan beschrie‐ bene Spiegelstadium zum zentralen Bestandteil des modernen Bewusstseins wird. Damit einhergehend ist jedoch die Erfahrung des Selbst autonom und au‐ tark, d. h. isoliert im Raum, und, weil die Zeit fast immer über räumliche Meta‐ phern beschrieben wird, auch in der Zeit. Das Selbst wird nicht länger im zeit‐ lichen Prozess, sondern als zeitlich segmentiertes und seziertes Wesen - daher der Begriff der „präparierte[n] Zeit“ (Müller 1972) - betrachtet. Im kolonialen und industriellen Kontext wird die Zeit Medium der Unterwerfung der kolo‐ nialen Untertanen durch eine Assimilation an die verdinglichenden und seg‐ mentierenden Zeitregime des Kapitalismus in seinen Plantagenbzw. Fabrik‐ modi (vgl. z. B. Atkins 1988). Vor diesem Hintergrund entwirft Timms Morenga einen anderen Zeitbegriff, der ein segmentiertes Zeitverständnis radikal ablehnt und die Zeit in einer ver‐ schmolzenen Jetzt-Zeit zusammenbringt, in der die Zukunft bereits vorhanden ist. Oder um es in den Worten des Propheten Shepherd Stürmann zu sagen: „Die Zeit der Erlösung ist nun gekommen“ - nicht „jene[] durch den Herrn Jesus Christus“, der irgendwann in einem fernen, zukünftigen Jenseits anzutreffen ist, sondern „die Erlösung für das Namavolk“ (Timm 2000 [1978]: 78-9 / 2020 [1978]: 82; siehe auch Dedering 1999). Ähnlich verhält es sich mit der kryptischen Wid‐ mung Wenstrups bei der Übergabe seines Exemplars von Kropotkins Gegensei‐ tige Hilfe in der Entwicklung an Gottschalk: „Nicht weil es Weihnachten, sondern weil es Zeit sei“ (ebd.: 72 / 75). (An dieser Stelle sei beiläufig an Barak Obamas lapidaren Wahlkampfspruch „The time is now! “ erinnert.) Koselleck (1979: 19) beschreibt in seiner Geschichte des Übergangs von der Frühen Neuzeit zur Mo‐ derne den Einbruch der „Zeitlichkeit“ in dem Augenblick, in dem die lang er‐ 157 5.4 Der Duft der Zeit wartete Apokalypse immer wieder nicht kam, bis die Zukunft in die Ferne rückte und an ihre Stelle eine „Verzeitlichung der Geschichte“ trat. Bei Shepherd Stür‐ mann, wie bei vielen anderen apokalyptischen Predigern, schmilzt die „verzeit‐ lichte“ Zeit wieder zusammen, so dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr „auseinanderklaffen“, sondern „die Zukunft an die Vergangenheit zurückgebunden [wird]“ (ebd.: 361). Koselleck merkt zu Prophezeiungen der Frühen Neuzeit an: Eine nicht erfüllte Prophetie war stets reproduzierbar. […] Die iterative Struktur apo‐ kalyptischer Erwartungen sorgte dafür, daß gegenläufige Erfahrungen auf dem Boden dieser Welt immunisiert wurden. […] Es handelte sich also um Erwartungen, die von keiner querliegenden Erfahrung überholbar waren, weil sie sich über diese Welt hi‐ naus erstreckten“ (ebd.: 361-2). Innerhalb des fiktiven Kontexts, in dem Stürmann agiert, verhält es sich ähnlich. Wenzel formuliert hierzu: Nicht erfüllte Prophezeiungen galten nicht als „failed [or] fulfilled, but rather as unfailed, alive, and partly realized in the present“ [Hervorhebung im Originaltext]. Sie führt fort: „[T]he heterogeneity of time, a nonsynchronous multiplicity of pasts and presents in which the incompletion of the past implies the unfinishedness of the present“ (Wenzel 2009: 163). „Un‐ finished“ heißt hier „nicht abgeschlossen“ im Sinne einer Nicht-Segmentierung bzw. einer Nicht-Verzeitlichung. Bei Shepherd Stürmann, wie bei vielen anderen apokalyptischen Predigern, schmilzt die „verzeitlichte“ Zeit wieder zusammen. Wenstrup dagegen erlebt eine andere Art Zeiterfahrung, die nicht nur mit der Zeitspanne an sich zu tun hat, sondern eher mit der Qualität der Zeit. Die ent‐ zeitlichte Zeit bringt neben einer Verschmelzung der Zeitsegmente eine neuar‐ tige Beziehung des Subjekts zum Raum bzw. zur Umwelt mit sich. Gottschalk schreibt in seinem Tagebuch: „In meinem Kopf dieses gleichmäßige Rauschen (tags und nachts). Das ist die abfließende Zeit. Und mein Schädel ist die Zeit‐ schleuse“ (Timm 2000 [1978]: 332 / 2020 [1978]: 347). Die Metapher des linearen Flusses der Zeit ist, buchstäblich, noch vorhanden, von der Zeit als Messlatte existiert dagegen keine Spur mehr. Die Zeit ist konkret, hörbar geworden. Das Subjekt ist, mindesten auf einer Achse, kein geschlossenes Wesen mehr, sondern ist teilweise offen zur Welt und zum Zeitstrom. Gottschalk versucht sich vor‐ zustellen, was für ein Zeitgefühl - und dieser Begriff ist wortwörtlich gemeint - damit einhergehen könnte: „Das wäre ein neues Zeitgefühl, durch eine Logik der Sinne“ (ebd.: 380 / 397). Diese Zeit wäre fühlbar, weil sie nun mit der kon‐ kreten Materialität der Welt identisch wäre (West-Pavlov 2013), und das füh‐ lende Subjekt zur Welt hin offen: „[s]ich öffnen, öffnen, öffnen“ (Timm 2000 [1978]: 69 / 2020 [1978]: 72). Dieser materiellen Zeiterfahrung, die einen Ge‐ 158 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) schichtsaffekt im Sinne des erweiterten Affektbegriffs darstellt, widmet sich der Schluss dieses Kapitels. An dieser Stelle ist es jedoch lohnenswert zu fragen, wie diesbezüglich eine derartige Affektgeschichte aussehen könnte. Die Antwort auf diese Frage wird durch einen von vielen selbstreferenziellen Momenten des Texts geliefert. Das Tagebuch eines bei einem Gefecht in den Großen Karassbergen gefallenen deut‐ schen Offiziers wird von Morenga beschlagnahmt und weiter benutzt: Auf dem mit zurückgelassenen Ausrüstungsgegenständen übersäten Gefechtsfeld der Abteilung Kirchner fanden die Aufständischen in einem Koffer das Tagebuch des ge‐ fallenen Leutnants Edzard Fürbringer. Morenga hat dieses Tagebuch fortgeführt in englisch [sic] und aus der Sicht der anderen Seite. Eine ungleichmäßige, eigenwillige Bleistiftschrift. Die Eintragungen zeigen zuweilen in den Zeilen Brüche, als seien sie während eines Ritts gemacht worden. […] Das Tagebuch wurde Morenga beim Über‐ tritt an der englischen Grenze von der Kappolizei abgenommen. Später kam es als Erinnerung in die Hände des Vaters von Leutnant Fürbringer. Das Buch ist leider verschollen. Lediglich einige Seiten blieben als Fotokopie erhalten. (Ebd.: 245, 246 / 255, 257) Wie die Fotografie von Morenga, die ein paar Zeilen früher beschrieben wird, gilt das Tagebuch als historischer Gegenstand. Hier werden Medien einer mo‐ dernen visuellen bzw. schriftlichen Kultur vorgeführt, die „transitionelle Ob‐ jekte“ auf dem Weg zur Fiktion darstellen, die der Leser bzw. die Leserin nun in der Hand hält. Zunächst handelt es sich anscheinend um eine typische Text‐ strategie der klassischen Moderne an der Schwelle zur Postmoderne, die den Text häufig mit pseudo-historischen, erfundenen Texten- wie z. B. bei Borges - durchmischt. Solche Strategien deuten auf die Unmöglichkeit, zum Originaltext Zugang zu erhalten, und - im erweiterten Sinne dieses poststrukturalistischen Gemeinplatzes - überhaupt zu einem Ursprung im philosophischen Sinne zu‐ rückzufinden: „Ce qu’on trouve, au commencement historique des choses, ce n’est pas l’identité encore préservée de leur origine - c’est le désordre des autres choses, c’est le disparate“ (Foucault 1994, II : 138). Der Text als Originalobjekt ist verschollen, es gibt ausschließlich Fotokopien, wodurch eine Resonanz mit dem Foto von Morenga und seinen Mitkämpfern entsteht, und nicht mal diese geben den Text vollständig wieder (Timm 2000 [1978]: 246 / 2020 [1978]: 257). Eine derartige Interpretation des Tagebuchs könnte man durchaus mit dem Bild der „Brüche“ untermauern - wäre diese Lektüre selbst nicht durch die vielen Alli‐ terationen des Satzes „zeigen zuweilen in den Zeilen Brüche“ (ebd.: 245 / 255) unterlaufen. Sie stellen eine gegenläufige Verbindung zwischen den Wörtern her, die wiederum eher das Prinzip der Ähnlichkeit (vgl. Bhatti / Kimmich, Hg. 159 5.4 Der Duft der Zeit 2015; Kimmich 2017) als die Differenz als herrschendes Schreibprinzip er‐ scheinen lässt. „Morenga hat dieses Tagebuch fortgeführt in englisch [sic] und aus der Sicht der anderen Seite“ (Timm 2000 [1978]: 245 / 255). Das Tagebuch bildet eine Variante der „figures du continu“ (Descola 2005: 19-57), die anschei‐ nend getrennte und unversöhnbare Kulturbereiche miteinander verbindet und als Kontinuum erscheinen lässt. Überhaupt ist jenes Tagebuch, wenn auch mit Ungenauigkeiten in der Grammatik versehen (Morenga schreibt auf „englisch“ anstatt „Englisch“), ein Objekt, das von verschiedenen Autoren und verschie‐ denen Kulturkreisen geteilt wird. Es bildet eine Art transkulturelles, translin‐ guistisches „Gemeinwesen“. Das Tagebuch ist von Hand zu Hand weitergereicht worden und kommt beinahe zurück in die Hände seines ursprünglichen Besit‐ zers. Es verkörpert eine geteilte Erinnerungskultur, oder das, was im deutschen Kontext als „entliehene Erinnerungen“ (Georgi 2003) oder „geteilte Ansichten [einer] Erinnerungslandschaft“ (Ullrich 2006) gilt. Dieser Auffassung folgend entsteht so etwas wie ein Affektkontinuum, das über ein mobiles, von Körper zu Körper weitergereichtes Objekt ein komplexes, multi-vektorielles, zeit- und raumübergreifendes Beziehungsgeflecht entstehen lässt. Das Objekt selbst ist nicht nur Medium einer sozialen Verbindungslinie, sondern wird selbst zum Akteur, mindestens zur „affordance“ (Hodder 2012: 48-52), bei großzügigerer Auslegungen zum handlungsfähigen Teilnehmer in einem Übersetzungsprozess (Latour 1986). Bezeichnend ist, dass Morenga in diesem Tagebuch nie von sich selbst redet, sondern nur von anderen: Was an diesen wenigen Notizen auffällt ist, daß Morenga immer von den Bondels spricht, wenn gekämpft wird, nicht von sich oder anderen Führern. Aber heute faßbar, in den wenigen überkommenen Berichten und Dokumentationen, ist nur sein Schicksal und das Schicksal einiger anderer Anführer der Aufständischen. Die an‐ deren, Namenslosen tauchen in den Berichten allenfalls als Zahl auf, hin und wieder einmal ein Name, ein Urteil. (Timm 2000 [1978]: 247 / 2020 [1978]: 257) Diese Textstelle könnte man als kritische Stellungnahme zur postkolonialen Historiografie auffassen, im Sinne von Spivaks (1999) Behauptung, der bzw. die Subalterne könne nicht sprechen. Doch Morenga spricht bzw. schreibt hier - nur nicht von sich selbst. Als bloßes Zeichen von Selbstlosigkeit oder Altruismus kann dies nicht gedeutet werden, sondern als Indiz dafür, dass das Selbst nur in einem Kontinuum oder Geflechtwerk existieren kann. In einem solchen Netz‐ werk steht nicht das Eigene im Zentrum des Geschehens, sondern sein dyna‐ misches Wesen und seine Handlungsfähigkeit entsteht ausschließlich über das Mit-Sein bzw. Mit-Tun seitens anderer. Durch die Übertragung der Handlungs‐ fähigkeit, die nur als eine Art Gabe bestehen kann, treten eine geteilte Existenz 160 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) und eine geteilte Handlungsfähigkeit (dispersed agency) in Erscheinung. In dieser Textstelle wird das Gemeinwesen der Handlungsfähigkeit erst einmal innerhalb eines menschlichen Geflechts ausgebreitet, das Prinzip des Mit-Tei‐ lens selbst widerspricht aber jeglichem Versuch, diese Weitergabe der Hand‐ lungsfähigkeit über die Grenzen der Arten hinaus zu verhindern. Hierin besteht der Kern des erweiterten Affektbegriffs, der nun im Schlussteil des Kapitels er‐ läutert werden soll. 5.5 Entwurf eines erweiterten Affektbegriffs Im Folgenden werden drei Stadien oder Phasen des „Affekts“ skizziert, die einen Übergang von Affekt als „Gefühl“ oder „Emotion“ zum Affekt im erweiterten Sinne zeigen. Mit „Affekt I“ Bezeichnetes beschreibt ein Gefühl oder eine Emotion als ein nicht-rationales Attribut eines Individuums, das trotzdem über den Verstand wahrgenommen wird und in Sprache gefasst werden kann: „Genau genommen war ihm [Gottschalk] zum Lachen gar nicht zumute gewesen“; „[o]bwohl Gott‐ schalk wußte, was für eine Landschaft ihn erwartete, war er enttäuscht“ (Timm 2000 [1978]: 17 / 2020 [1978]: 17, 18). Unter „Affekt II “ dagegen wird das Gefühl als Körperphänomen verstanden: „Es war nicht mehr die Frage, ob dieser Krieg Unrecht sei. Das stand für ihn inzwischen fest. Und es gab Augenblicke, wo er das wie einen körperlichen Schmerz empfand“ (ebd.: 255 / 266). Es handelt sich um eine Emotion, die nicht nur seelisch „gefühlt“ wird, sondern das Gefühl wird tatsächlich als körperlich registrierter Reizzustand empfunden. Dieser Steigerungsprozess von „Gefühl“ zum Gefühlten wird mit teilweise extremer Genauigkeit im Text nachverfolgt: „Gottschalk empfand […] einen fast körperlichen Ekel, eine in Wut gesteigerte Peinlichkeit“ (ebd.: 329 / 343). Hier wird in umgekehrter Reihenfolge der Ent‐ stehung des Ekels nachgespürt: Die Peinlichkeit, eine bereits soziale Emotion (Bewes 2011), wird erst zur Wut, und dann zum Ekel. In manchen Fällen pro‐ duziert der Affekt sogar anfängliche Handlungsvorgänge: „Je mehr sich Gott‐ schalk mit dieser Frage beschäftigte […] desto stärker wurde auch eine Wut in Gottschalk, die er körperlich zu spüren begann, die sich motorisch umsetzen wollte“ (ebd.: 384 / 401). An dieser Stelle verbreitet sich der Affekt nicht nur in der Gruppe, sondern im konkreten Raum, womit ein deutlicher Schritt hin zum „Affekt III “ unternommen worden ist. „Affekt II “ kann aufgrund seiner be‐ schriebenen Körperlichkeit auch geteilt werden und daher in kollektive Emoti‐ onen überschwappen. Da die Emotionen im Sinne von „Affekt I“ und „ II “ 161 5.5 Entwurf eines erweiterten Affektbegriffs sprachlich gefasst werden können, und auch in der Gemeinschaft sprachlich mitgeteilt werden, werden diese Affektarten zu besonderen Objekten literari‐ schen Schaffens (vgl. Johnston / West-Pavlov / Kempf, Hg. 2016; von Koppen‐ fels / Zumbusch, Hg. 2016). Der Affekt im weiteren Sinne kann als „Affekt III “ bezeichnet werden. Damit ist eine körperliche Konnektivität gemeint, die nur partiell in Sprache aufge‐ nommen wird und nicht nur Geist oder Emotion, sondern auch Materie umfasst; sie ist daher ein wirksames Phänomen, das Effekte hat und aus diesem Grund auch ein Träger von Handlungsfähigkeit ist. Affekt bezeichnet die materielle Verbindung zwischen sowohl menschlichen wie nicht-menschlichen - Tiere, Pflanzen, Mineralien usw. - Körpern, die zugleich auch eine gegenseitig über‐ tragene Mit-Handlungsfähigkeit ist. Verschiedene Konkretisierungen dieser Affektphasen und deren Kombinati‐ onsmöglichkeiten werden im Folgenden anhand ausgewählter Textstellen er‐ läutert. 5.5.1 Negative Affekte (Affekt I / II) Ein Gefangener wird erschossen, Gottschalk muss mit seiner eigenen Reaktion bzw. mit seiner Nicht-Reaktion, die er als schlimm empfindet, zurechtkommen. „Affekt I“ und „ II “ kommen in diesem Kontext zum Tragen. Der Mann war erschossen worden, und er hatte nur gedacht: Hoffentlich hört das niemand. Was ist in dich gefahren, dachte Gottschalk, noch immer in die Spiegelscherbe star‐ rend. […] Vielleicht waren es diese unsinnigen Grimassen […], die ihn sich selbst plötzlich so fremd erscheinen ließen […]. Es war dieses kühle Gefühl der Fremdheit, die dann alles in ein klares, helles Licht tauchte: Sein Erschrecken über die Fühllosig‐ keit, wenn er an das Geschehene dachte. Ein Entsetzen über das fehlende Entsetzen. Eine Gleichgültigkeit, die eine Gleichgültigkeit sein dürfte. Während er zum Pfer‐ dekraal hinüberging, dachte er immer: Man muß etwas tun. Dabei fiel ihm auf, daß er, dachte er an sich, immer wieder von einem anderen dachte, daß er zu sich sagte: man und: er. (Timm [1978] 2000: 164 / 2020 [1978]: 170-1) Die Spiegelscherben erinnern an das Lacan’sche Spiegelstadium, vollziehen je‐ doch den Lacan’schen Gedanken der verhängnisvollen Illusion des vollstän‐ digen und autonomen Selbst im Spiegel der Sprache anhand des konkreten Bildes der Spiegelscherben. Die dadurch konkret gewordene, nicht-sprachliche Verzerrung des Selbstbildes bringt ein vorübergehendes und noch unvollstän‐ diges Bewusstwerden seitens der Figur hervor. Dieses kognitive Verfahren, das 162 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) wie bei Lacan durchaus auf die Sprache fokussiert ist, bedient sich wenig über‐ raschend des literarischen Repertoires der Figurenemotionen, nicht aber, um die Realität der Figuren im Akt der Leserrezeption zu untermauern. Vielmehr wird auf diese Weise einerseits die Qualität der Beziehung der Figur zur Umwelt, vor allem zum Geschehen und zum Opfer des Geschehens, d. h. zum erschossenen Gefangenen, hervorgehoben. Andererseits wird die Qualität der Beziehung des Lesers bzw. der Leserin zur eigenen Umwelt und zum Geschehen innerhalb dieser Umwelt hinterfragt. Aus dieser Perspektive sind Figurenemotionen nicht etwa Besitz eines Selbst, sondern eine Qualität bzw. ein Produkt einer Beziehung zum Anderen. Der Begriff des Gefühls, der explizit von Timm verwendet wird, jedoch in einer negativen Form, wird durch den Begriff des Affekts ersetzt. Problematisch ist infolgedessen nicht die Tatsache, dass die Romanfigur „Fühl‐ losigkeit“ empfindet, sondern dass sie nichts, auch nicht die Abwesenheit des Gefühls, empfindet. Mit anderen Worten: Das Erschreckende ist, dass die Be‐ ziehung zum Anderen geleert werden kann; sie wird zu einer Nicht-Beziehung. Doch im Augenblick der Bewusstwerdung der mitmenschlichen Leere seitens der Romanfigur, füllt sich die Leere langsam wieder, aber nicht mit „Gefühl“, sondern mit einer andersartigen Beziehung. Der kognitive Aspekt dieser Ge‐ fühlsänderung ist durchaus Teil des affektiven Prozesses, wie eine Richtung der Affekttheorie gezeigt hat (Damasio 1994, 2003). Die Kognition ist aber dem Af‐ fekt untergeordnet, so wie das Gefühl dem Affekt auch untergeordnet ist. 5.5.2 Ambivalente Affekte (Affekt I / II / III) Gottschalk kommt in Deutsch-Südwestafrika an und tritt zum ersten Mal auf afrikanischen Boden, nachdem er auf dem Rücken eines schwarzen Mannes an Land gebracht worden ist: Als das Boot im seichten Wasser festlief, war Gottschalk einem der dort wartenden Neger auf den Rücken gestiegen. Der Mann war nur mit einer zerrissenen Anzughose bekleidet. Gottschalk fühlte die schwitzende schwarze Haut, er roch den sauren Schweiß. Er ekelte sich. Mit einer sanften Drehung wurde er in den Sand gestellt. Gottschalk stand auf afrikanischem Boden. Er glaubte, der Boden schwanke unter seinen Füßen. (Timm 2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9) Der Affekt des Ekels entsteht im Moment der kolonialen Unterwerfung: Der schwarze Mann trägt auf seinem Rücken den weißen Mann. Der schwarze Mann ist buchstäblich ein Untertan, so dass die hier konkret manifestierte Hierarchie der Körperbeziehung das formell Juristische zum Ausdruck bringt: „Dadurch, 163 5.5 Entwurf eines erweiterten Affektbegriffs daß man zwischen ‚Weißen‘ und ‚Eingeborenen‘ unterschied, schuf man eine endgültige juristische Diskriminierung“ (Bley 1968: 211). Oder ist die Beziehung doch vielleicht anders herum, so dass das Juristische dazu dienen soll, eine erwünschte Hierarchie zu verfestigen, die ständig zu kol‐ labieren droht? Wodurch entsteht „der Anspruch der Ansiedler, daß die ‚soziale Distanz‘ und ökonomisches Interesse mit allen Mitteln der Selbstjustiz durch‐ gesetzt werden dürf[]en“ (ebd.: 298)? Auf jeden Fall scheint die Unterwerfung mit einer körperlichen Nähe einherzugehen, die die Unterscheidung weiß / schwarz, oben / unten, Mensch / Tier beinahe verwischt. Zwecks Aufrechterhaltung der Hierarchie wird die körperliche Nähe also körperlich verworfen, ab-jektiert (Kristeva 1980) in einer Reaktion des Ekels, die einen reflexartigen Versuch darstellt, das Zu-nah-Gekommene auf Abstand zu halten. Besteht mitten in der Bewegung des Verwerfens doch eine Nähe, die das Medium des Affekts ist. Der Affekt unterläuft immer die Grenzen und Schranken des Ich; der Affekt unterläuft ferner die Grenzen der Sprache als linguistischer Vermittler, der Affekt fungiert als Kanal der unmittelbaren Kommunikation. Der Affekt stellt demnach sogar im Augenblick der Erzeugung von Distanz eine gegenläufige Nähe her, die das Kontinuum des Lebens ausmacht. Weil der Affekt keinerlei Grenzen respektiert, bezieht es sich nicht nur auf menschliche Bezie‐ hungen, sondern auch auf die Beziehungen zum Ort und somit zur Geschichte: „Mit einer sanften Drehung wurde er in den Sand gestellt. Gottschalk stand auf afrikanischem Boden. Er glaubte, der Boden schwanke unter seinen Füßen.“ (Timm 2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9) Der Affekt stellt den Kontakt zum anderen Kontinent her. Dieser Kontakt wird zunächst auch negativ zum Ausdruck gebracht: Der Boden schwankt. Rein logisch gesehen, ist das Schwanken nichts anderes als der Fortbestand des Emp‐ findens der wochenlangen Schiffsreise. Textuell und „affektuell“ ist das aber auch eine physikalische Reaktion auf den körperlichen Geruch des Trägers. Zudem kann das Schwanken als Metapher für den Perspektiven-, ja sogar Pa‐ radigmenwechsel stehen, der durch den Kontakt mit der anderen Kultur ent‐ stehen wird: eine „sanfte Drehung“ der Lebensverhältnisse. Ähnlich entsteht die „Schwankung“, mit anderen Worten eine Bewegung oder Mobilität, aus der Be‐ gegnung zwischen Menschen und Ort, die zwangsläufig eine Transformation herbeibringen wird. All das sind aber lediglich Erklärungsmuster, die den Affekt in der narrativen Welt („storyworld“) der Figuren erklären sollen. Interessanter wird es jedoch, wenn der Affekt die beschriebene Realität in ganzheitlich in Besitz nimmt. Gerade dies soll der Ekel verhindern. Ekel wäre daher eine Art Kurzschluss bzw. eine Verwerfung (der Freud’sche Begriff, der von Lacan durch „forclusion“ übersetzt wird [Laplanche / Pontalis 1988: 163-7]), 164 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) die das Ausmaß der Wirklichkeit der Wirklichkeit („le Réel“, vgl. Lacan 1982) unter Kontrolle bringen soll. Diese Wirklichkeit der Wirklichkeit, die niemals von der Repräsentation ausgeschöpft oder erfasst werden kann, wird hier durch den Signifikant „Afrika“ angedeutet. Der Kontinent, seine natürliche Vielfalt, seine unzähligen Sprachen und Kulturen, seine endlos miteinander verwobenen Geschichten stellen insgesamt eine „Réel“ vor, die der Komplexität des Lebens selbst ähnelt. In den Kontexten, in denen Repräsentation der Reduktion von Komplexität dient, erlaubt der Affekt einen konkret physikalischen Anschluss an diese Komplexität, ohne sie reduzieren zu müssen. 5.5.3 Positiver Affekt (Affekt III) In der Episode, in der die Ochsen mit dem Missionar Görth reden, verlässt Timm offenbar den Bereich der kognitiv orientierten Montage-Technik und wechselt auf das Terrain des magischen Realismus. Es überrascht daher kaum, dass eine überwiegend kognitiv ausgerichtete Analyse, wie die von Hermes, solche Text‐ stellen gar nicht einordnen kann. Hermes (2009: 182-3) kann diese nur unter der Rubrik der Inkongruenz und des Kontrasts im Rahmen des Gesamtkonzepts des Romans verbuchen, ohne jedoch den erwünschten kognitiven Gewinn he‐ rauszuholen, der normalerweise bei der Montage-Technik zu erwarten ist. Die Aufgabe der Montage ist, Ungleiches nebeneinander zu stellen, um einen Effekt der Inkongruenz zu erzeugen, dessen Ziel, wie bei Benjamin und Brecht, die Produktion kognitiver Aufmerksamkeit und kritischer Reflexion bildet. Beim magischen Realismus geht es jedoch nicht darum, Inkongruenz mit dem Ziel der Verfremdung hervorzubringen, sondern durch das Zusammenfügen von Un‐ passendem eine Verbindung zu suggerieren, die es „eigentlich“ gar nicht geben kann bzw. soll. Genau diese Unterscheidung wird selbstreflexiv in einer Art figurbezogenem Metakommentar aufgeführt. Nach der Episode der redenden Ochsen wird der Leser bzw. die Leserin informiert: „Was Görth am meisten erstaunte, war später, daß es ihn gar nicht überrascht hatte, einen Ochsen reden zu hören“ (Timm [1978] 2000: 140 / 2020 [1978]: 144). Der erste Teil des Satzes - „Was Görth am meisten erstaunte“ - bezieht sich auf die Inkongruenz der Situation, der zweite dagegen lenkt die Textstrategie wieder in Richtung Kongruenz: „[…] daß es ihn gar nicht überrascht hatte […]“. Diese Kongruenz ist nicht nur semantisch-lo‐ gisch ausgerichtet, sondern wird ganz konkret ausgeführt: „Görth hatte lediglich seinen Schritt etwas verlangsamt und ging, damit der rote Afrikaner nicht so laut sprechen musste, neben ihm“ (ebd. / 144-5). Es handelt sich um ein buch‐ stäbliches Nebeneinander, das Unterschiedliches nicht auf einen etwaigen ge‐ 165 5.5 Entwurf eines erweiterten Affektbegriffs meinsamen Nenner reduziert, jedoch eine Kommunikation zwischen Unter‐ schiedlichen ermöglicht. Hier ist der passende sprachliche Topos nicht die Metapher, die nach dem Muster der Identität funktioniert, sondern die Meto‐ nymie, die durch Assoziierung, Kausalität und Kontiguität, d. h. räumliche Nähe, wirksam wird. Statt Identität, die lediglich die Kehrseite der Differenz bildet, so dass die beiden Begriffe in einem verhängnisvollen Kampf miteinander ver‐ fangen bleiben, spielt die Ähnlichkeit die tragende Rolle, so dass ein Miteinander sowohl eine pragmatische Nähe wie auch eine gemäßigte Distanz kombiniert. Diese mittlere Distanz unter den Zeichen der Ähnlichkeit und der Metonymie erlaubt eine Offenheit - „[s]ich öffnen, öffnen, öffnen“ (ebd.: 69 / 72) -, deren Ergebnis die gegenseitige Transformation und gemeinsame Steigerung von Komplexität bilden. Dies ist eigentlich kein ästhetisches Verfahren, sondern der Prozess der physikalisch-materiellen Dynamik des Lebens selbst. Timms Pro‐ tagonist Gottschalk verkörpert in mancherlei Hinsicht diese Offenheit der Transformation: Gottschalk war sich im übrigen durchaus bewußt, daß er bestimmte Sprechweisen, Betonungen, Gesten, womöglich auch mimische Eigenarten anderer Personen über‐ nahm gegen seinen Willen, denn er hielt es für ein Zeichen von Unreife, von Cha‐ rakterschwäche. (Ebd.: 23-4) Im Gegensatz zur gewöhnlichen Abschottung der Identität, die die Deutschen gegenüber den Afrikanern pflegen - das Muster ist der Geschlossenheit des europäischen Nationalstaats mit seinen abgeriegelten Grenzen und seinem na‐ tionalistischen Selbstverständnis entliehen -, weist Gottschalk eine bemerkens‐ werte Offenheit in seiner Subjektivität auf, die nicht bloß als Charakterzug zu erklären ist, da sie „gegen seinen Willen“ geschieht. Da aber Gottschalk, genau wie seine Landesleute, die eigene Persönlichkeit nur als Abgeschlossenheit denken kann, kann er seine eigene Offenheit einzig als „Charakterschwäche“ verstehen. Er legt an sich selbst den als rassistisch zu wertenden Maßstab der „Entwicklung“ an: „Offenheit“ wird gleichgesetzt mit „Unreife“. Dahinter findet sich die Auffassung einer Entwicklungsgeschichte des Individuums nach dem Muster einer immer festeren und „objektiveren“, d. h. von außen betrachteten, Räumlichkeit (vgl. Piaget / Inhelder 1948; auch Piaget 1946; Lippitz 1983). Über‐ dies verbirgt sich darin eine Entwicklungsgeschichte der politischen Staats‐ formen: Moderne Staaten haben klar umrissene Grenzen wie die modernen Städte, die im Zentrum dieser Staaten stehen, wobei grenzenlose Staaten dege‐ nerieren, vermutlich zu Nomadenverbänden, die keine Grenzen kennen, und daher von ihren Territorien nach dem Prinzip des Terra Nullius vertrieben werden oder gar ausgerottet werden dürfen. Gottschalk weicht von seinem 166 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) Wesen her im Grunde bereits in seinen Beziehungen zu Anderen von dem Mo‐ dell der Abgeschlossenheit ab, welches der Kolonialismus als Grundaffekt und kollektives psychisches Muster voraussetzt (dazu siehe auch Theweleit 1993). Gottschalk besitzt, sozusagen, eine nomadische Psychogeografie, die mobil so‐ wohl nach innen wie nach außen gestaltet ist und auf Anschlussfähigkeit aus‐ gerichtet ist. Er ist ein „primitives“ Wesen, dafür aber Teil der Welt. Eine solche Offenheit, die sowohl politische wie auch kosmische Aspekte aufweist, bietet klare Anweisungen für die Bildung und Aufrechthaltung von Gemeinschaft. Daher vollstreckt sich eine Wendung in Gottschalks Denken über das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gruppe. Auch Gottschalk ist besessen von dem Einzelnen, vor allem, wenn er sich fragt, wie er sich gegenüber dem laufenden Vernichtungskrieg und Völkermord an den Herero und Nama, an dem er zwangsläufig teilnimmt, verhalten soll. Gottschalk meint verzweifelt: „Bestimmte Entwicklungen würden sich ändern, wenn sich der einzelne ent‐ schließen würde, das zu tun, was er für richtig hielte“ (Timm 2000 [1978]: 376 / 2020 [1978]: 393). Er hat Recht, insofern die moralische Verantwortung des Ein‐ zelnen in Zeiten von Unrecht nicht erlöschen darf. Andererseits ist es wichtig anzumerken, dass das Individuum nicht der einzige Ort des moralischen Wi‐ derstands sein kann, vor allem, wenn es darum geht, eine Verantwortung für das Leben als Netzwerk zu übernehmen. Thoreau (1908: 8) sagt: „We are made to exaggerate the importance of the work we do; and yet how much is not done by us! “ Ähnlich positioniert sich Morton (2017: 18-9), der sich für einen „de‐ fault“-Modus hinsichtlich der Rolle der menschlichen Verantwortung zu mora‐ lisch richtigem Handeln ausspricht. Unsere alleinige, selbstüberschätzende Handlungsfähigkeit aufzugeben und eine Beteiligung an der Mit-Handlungsfä‐ higkeit betrachtet er als eine verantwortungsvollere und radikalere Art am Leben als Ganzes - dem „symbiotic real“ - teilzunehmen: This is not as hard as it seems because the basic symbiotic real requires no maintaining by human thought or psychic activity. Western philosophy has been telling itself that humans, in particular human thought, makes things real for so long that an ethics or politics based simply on allowing something real to impinge on us sounds absurd or impossible. Solidarity, a thought and a feeling and a physical and political state, seems in its pleasant confusion of feeling with and being-with, appearing and being, phe‐ nomena and thing, active and passive, not simply to gesture to this non-severed real, but indeed to emerge from it. Since solidarity is so cheap and default, it extends to nonhumans automatically. Innerhalb dieser Spannung bewegt sich Gottschalk in der Wendung seines Den‐ kens: 167 5.5 Entwurf eines erweiterten Affektbegriffs Elschner hatte einmal gelegentlich zu Gottschalk gesagt: Der einzelne ist nichts. Der einzelne ist alles, hatte Gottschalk geantwortet. Was Gottschalk erst jetzt richtig ver‐ stand, war jener Satz von Wenstrup […]: Es gibt keinen einsamen Kampf. Gottschalk schrieb ihn in sein Tagebuch und fügte hinzu: Es gibt keine einsame Hoffnung. (Timm 2000 [1978]: 386 / 2020 [1978]: 404) Daher die Bedeutung von Wenstrups Buch, das Gottschalk zu Weihnachten er‐ hält, Kropotkins Prinzip der gegenseitigen Hilfe in der Entwicklung (ebd.: 72). Das Prinzip des gegenseitigen Helfens bezieht sich aber nicht nur auf das mensch‐ liche Miteinander, konkret geworden in der „Friedfertigkeit [der Nama] […] und [in den] urkommunistischen Formen ihres Zusammenlebens“ (ebd.: 385 / 403). Vielmehr ist es ein Prinzip der Natur. In diesem Zusammenhang kann die Be‐ hauptung des Oberarztes Haring, die Natur zeichne sich durch den Überlebens‐ kampf aus, gelesen werden: Dieses Gesetz, daß sich der Stärkere durchsetze, könne man doch allenthalben be‐ obachten. Fressen und gefressen werden. […] Das Schwache sterbe ab, damit das Stär‐ kere Platz und mehr Licht finde. Nur so gehe es voran und hinauf. Der Kampf ums Dasein sei das grundsätzliche Gesetz des Lebens. (Ebd.: 257 / 268) Gottschalk erwidert mit dem Gegenbeweis der „Hilfsbereitschaft, Solidarität und Freundlichkeit auch innerhalb der Tierwelt“ (ebd.: 277 / 289). Er behauptet, die Natur sei eigentlich eine Struktur bzw. ein Prozess der gegenseitigen Ko‐ operation, indem er auf die gegenseitige Hilfe in der Natur als ein ergänzendes Prinzip hinwies. Nicht allein der Kampf ums Dasein sei bestimmend, sondern gleichermaßen die ge‐ genseitige Hilfe innerhalb der Arten. Eben, entgegnete Haring, innerhalb der Arten […]. Es gäbe Beispiele, sagte Gottschalk, in der die Hilfe auch über die jeweilige Art hi‐ nausgehe (ebd.: 257 / 268-9). Kropotkin zitierend, versucht Gottschalk ein gegenüberstehendes Prinzip der Komplexität durch grenzüberschreitende Interaktion (vgl. Grosz 2011; Riordan 1999: 69-70) aufzustellen, welches im Gegensatz zum Prinzip des „Sozialdarwi‐ nismus“ (vgl. Hermes 2009: 199-201) steht, der durch ein einseitiges Auslegen der Theorie Darwins den europäischen Imperialismus zu rechtfertigen suchte. (Auch Prof. Dr. Brunkhorst bezieht sich auf die gegenseitige Hilfe, aber sieht darin im Gegensatz zu Gottschalk eine Bremse zur Entwicklung durch Konkur‐ renz [Timm 2000 (1978): 359 / 2020 [1978]: 374]). Haring versucht durch die Äußerung „Eben, entgegnete Haring, innerhalb der Arten“, diesen Prozess der steigenden Komplexität durch gegenseitige Hilfe einzudämmen, indem er 168 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) Grenzen aufbaut zwischen den Arten. Er beruft sich damit implizit auf den Grundsatz des vermeintlich wesentlichen Unterschieds zwischen (weißen) Men‐ schen und (schwarzen) Nicht-Menschen (vgl. z. B. ebd.: 17-8, 25, 27, 44, 48, 53-5 / 18, 26, 28, 46, 50-1, 55-7, wo schwarze Menschen als „Tiere“ bezeichnet werden). Später heißt es: „Gottschalk war langsam klar geworden, worum diese Men‐ schen kämpften: um ihr Überleben als Menschen“ (ebd.: 256 / 267). Interessant ist die Tatsache, dass Gottschalk sich dazu gezwungen sieht, das Prinzip der Komplexität, d. h. der interaktiven Entwicklung des Lebens, über die Grenze des Menschlichen hinaus zu denken. Wie Nealon (2016: 113) es zusam‐ menfasst: „[L]ife is a mesh of emerging forms, not a competition among pre-exis‐ ting organisms“. In Morenga wird diese Idee im Rahmen eines Traums, d. h. in einer nur als Traumsprache artikulierbaren Form zum Ausdruck gebracht: „Ich hatte Angst, die Möwen könnten meine Finger für Fische halten. Und tatsäch‐ lich, als ich hinsah, waren meine Finger Fische“ (Timm 2000 [1978]: 261 / 2020 [1978]: 273). Es wird ein Konzept des gegenseitigen Miteinanders entworfen, das zugleich die Kommunikation, die Interaktion und die aus geteilter Handlungsfähigkeit entstehende Kreativität zusammendenkt. „Gegenseitige Hilfe“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur aktive Mitgestaltung neben anderen Tätig‐ keiten, sondern muss radikaler aufgefasst werden: Die gegenseitige Hilfe liefert das Grundmuster für sämtliche transformative Dynamik in der materiellen Welt. Nebeneinander stehende Wesen interagieren miteinander, verändern sich im gegenseitigen Austausch und treten so verändert in neue Interaktionen. Das ist auch der Sinn einer der prägnanten Aussagen des Texts: „Das Andere oder das Neue“ (ebd.: 379 / 396). Die Begegnung mit dem anderen Wessen erzeugt das Neue des daraus entstehenden Lebens, und das Entstehen, das in der neuen Struktur manifest ist, verkörpert die Zukunft, d. h. im Entstehen des Neuen wird die Zeit fassbar. Dieser stetige Prozess der interaktiven Änderung heißt schlicht Leben. Im Rahmen dieses Konzepts muss der Affekt im erweiterten Sinne als Netzwerk aus polyvalenten Verbindungslinien gedacht werden (Affekt III ), die Affekte im engeren Sinne, wie Gefühle und Emotionen, ableiten (Affekt I / II ). Diese abge‐ leiteten, sekundären Affekte oder Emotionen sind nicht als Attribute eines Selbst zu interpretieren, sondern vielmehr als Indizien mannigfaltiger Verbindungs‐ kanäle, die Informationen, Zeichen, Wahrnehmungen, Handlungsfähigkeit und vieles andere transportieren und die damit verbundenen Akteure zu Handlung befähigen, ja sogar als handelnde Akteure ins Leben rufen. In seiner Begegnung mit Morenga und seinen Truppen erfährt Gottschalk zeitweilig und andeutungsweise einen solchen Affekt in Form einer Emotion im 169 5.5 Entwurf eines erweiterten Affektbegriffs Rahmen eines Affekts im erweiterten Sinne, dem Lebensnetzwerk: „Er habe sich nie so fröhlich, so gelöst gefunden wie an diesem Abend, eine Fröhlichkeit, die aus allem kam“ (Timm 2000 [1978]: 419 / 2020 [1978]: 438; Hervorhebung RWP ). Diese Fröhlichkeit kommt „aus allem“, d. h. sie wird aus sämtlichen positiven Lebensverhältnissen hervorgebracht, die hier in diesem Augenblick und an diesem Ort zusammenkommen. Diese Verhältnisse, die zusammen eine Art Ge‐ meinwesen durch mannigfaltige Beziehungen jenseits des Menschlichen bilden, bringen eine Lebensfreude hervor, die wiederum in ein Gefühl, d. h. in einen Affekt im engeren Sinne, umschlagen. Gegen Endes des Romans fragt sich Gottschalk: „Wie kommt es zur Tötung? Wie können Menschen andere erschießen oder erhängen? “ Als Antwort über‐ legt er: „Vielleicht ist etwas in ihnen, was ihnen selbst hassenswert ist, ein Teil ungelebten Lebens“ (ebd.: 388 / 406). Gottschalk führt fort mit einer weiteren Frage: „Was tötet das ab, das Mitfühlen? “ (Ebd.) Innerhalb dieser gebündelten Fragen tritt nun eine Akzentverschiebung zu Tage. Einerseits kann man darin wiederum den Aspekt der Mitmenschlichkeit erkennen. Das „Gefühl“ ist ein Indiz für den Grad an Menschlichkeit, der noch vorhanden ist. Oder auch nicht: Im Anschluss an die Schilderungen eines Vernichtungskriegs, der in Deutsch-Südwestafrika nach der Meinung Elschners erprobt werden sollte, und tatsächlich durchgeführt wird - mit der Andeutung, dieser Krieg sei ein Vor‐ läufer des späteren Russlandfeldzugs (vgl. ebd.: 372-4 / 389-91) -, heißt es weiter: „Es war die Sachlichkeit, diese scheinbare Abwesenheit jeglicher Emo‐ tionen in Elschners Überlegungen, die Gottschalk erschreckten“ (ebd.: 375 / 392). Andererseits kann man etwas weniger das „Fühlen“ im „Mitgefühl“ in den Vordergrund setzen, dafür aber das „Mit“ verstärkt betonen. Dabei lässt Timms Satz erahnen, dass der Schlüssel zur Frage des „Mitfühlens“ nicht so sehr das Abkapseln des „Gefühls“ oder seine Wiederherstellung ist, auch wenn dies ein wichtiger Teil des Komplexes bleibt, sondern das Leben selbst. Das Leben, das gelebt werden kann. Das Leben fungiert in diesem Kontext nicht als Objekt eines beherrschenden Subjekts - nach dem Motto: Lebe Dein Leben! -, sondern als allumfassender, netzwerkartiger Prozess, woran man nicht nicht teilnehmen kann. Daraus entsteht eine Auffassung von Leben, die zunächst wie eine schwär‐ merische Träumerei klingen mag, jedoch auch als eine buchstäbliche Grundlage des Weltwissens verstanden werden kann. So Gottschalk im unmittelbaren An‐ schluss an diese Fragen: „Vielleicht wird es einmal selbstverständlich, jeder Kre‐ atur zu helfen und ebenso den Bäumen, Büschen und Blume, ja sogar der Erde, der Landschaft. […] Der Boden, auf dem ich liege, schwitzt, die Landschaft atmet, warm und feucht“ (ebd.: 389 / 407). 170 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) 5.6 Der erweiterte Affektbegriff und die Sprache Der erweiterte Affektbegriff hat, so könnte man denken, eine Art nivellierenden Effekt, der alles auf ein Kontinuum des dynamischen, sich stets transformierenden Lebens reduziert. Wie verhält es sich denn mit der Sprache, die sich nach diesem Affektbegriff von anderen Kommunikationsmedien bzw. von anderen Formen der Materialität ausdifferenziert? Die strukturalistische Sprachwissen‐ schaft betrachtete die Sprache als ein System von Kontrasten und Differenzen, woraus der Sinn entstand. Die klassische Moderne ab den russischen Formal‐ isten sah in der Literatur eine ähnlich auf Differenz basierende Kunstform, deren Autonomie durch die als Fremdheit (Russisch: ostranenie) signalisierte Anders‐ artigkeit eine Wahrnehmungsänderung auszulösen vermochte. Timms Roman weiß von solchen ästhetischen Entwicklungen und bedient sich bewusst eines Repertoires an Techniken der klassischen Moderne - allen voran die Mon‐ tage -, wenn auch in gemäßigter Form. Dennoch positioniert sich der Roman auch jenseits der Problematik der Differenz, nicht nur auf der Ebene des Inhalts, sondern auch auf der Ebene der ästhetischen Form. Timm verfolgt dieses Pro‐ gramm dadurch, dass er das Prinzip der sprachlichen bzw. ästhetischen Diffe‐ renz aufrechterhält, um festgeschriebene, polarisierte Identitäten, wie die der „Weißen“ bzw. der „Schwarzen“, als eine geläufige Praxis der kolonialen Herr‐ schaft zu unterlaufen, dabei jedoch das transversale Prinzip der Nähe als ästhe‐ tisches Paradigma ins Spiel bringt (Kimmich 2017: 10). Im Folgenden werden drei Beispiele für eine sprachliche Praxis der Nähe erläutert. Die Praxis der Nähe ist zunächst eine Praxis, d. h. sie beruht auf einem Tun, welches sich durch den Alltagskontakt nicht in eine Binarität der Identität bzw. der Differenz auflösen lässt. Dies lässt sich anhand des Umgangs der Soldaten mit ihren schwarzen Dienern zeigen: Von Gottschalk gefragt, warum gerade er, Wenstrup, ein Kind für sich arbeiten lassen wolle, antwortete Wenstrup: Weil die Herrschaft des Menschen über den Menschen abgeschafft werden muß. Und als Gottschalk meinte, das sei denn wohl doch ein Wi‐ derspruch, erläuterte Wenstrup: Sehen Sie, wenn man tatenlos zusieht, wie ein ganzes Volk abgeschlachtet wird und sich zugleich einen Bambusen hält, dann ist das lediglich ein kleiner Seitenwiderspruch, eine private Paradoxie, wenn Sie so wollen, eine Pa‐ radoxie, die sich einmal in Praxis auflösen wird. Gottschalk schien das alles sehr ne‐ bulös. (Timm 2000 [1978]: 57 / 2020 [1978]: 60) Timm stellt das abstrakte Prinzip, hier den Widerstand gegen die Herrschaft und Hierarchie, gegen eine Praxis der Nähe und der Proximität. Was sich in der Praxis abspielt, ist nicht zwangsläufig im Rahmen eines rigiden Theorieaufbaus 171 5.6 Der erweiterte Affektbegriff und die Sprache einzuordnen. Die Praxis der Nähe kann zu ganz anderen sozialen Strukturen führen, die mehr moralische Substanz haben als das Zusehen bei einem Genozid. Der Affekt öffnet andere ethische Räume als die bloßer Prinzipienmoral. Dies lässt sich hervorragend am Beispiel der Sprachlehre zeigen. Und in der Tat ist es so, dass der „Bambuse“ Jakobus als Nama-Sprachlehrer für Wenstrup und Gottschalk fungiert. Die Sprachlehre läuft über die Schiene der physischen Imi‐ tation, d. h. über eine Praxis der durch Nähe aktivierten Ähnlichkeit (vgl. Kim‐ mich 2017: 9-10): Einmal beobachtete man die beiden Veterinäre, wie sie abwechselnd dem Jungen mit dem Zeigefinger in den Mund fuhren, was sie eine Zeitlang in den Verdacht der Pä‐ derastie brachte. Tatsächlich aber versuchten sie lediglich herauszufinden, an welcher Stelle der Mundhöhle und mit welchen Zungenbewegungen die verschiedenen Schnalzlaute erzeugt werden. (Timm 2000 [1978]: 58 / 2020 [1978]: 60-1) Die Sprachlehre ist nicht so sehr ein kognitives Lernverfahren, sondern verläuft über eine Transformation des eigenen Körpers, vor allem des Sprechapparats - Mundhöhle, Zunge, Atem - im Zuge einer auf körperlicher Nähe basierenden Auseinandersetzung mit dem Mund des Anderen und des Selbst. Das zweite Bespiel zeigt, welche Bedeutung das für die Sprache selbst hat. Die Sprache ist nicht mehr das, was die Menschen von den Tieren unterscheidet, ein Medium des Denkens im Gegensatz zum stummen Fühlen, sondern sie ist ein Teil der Welt und umspannt jegliche Lebensbereiche: Hatte Lukas seine [Dagapfeife] ausgeraucht, konnte es passieren, daß er singend zu tanzen begann, in einem Begeisterungstaumel, und auf Gorths Frage, welche Sprache er denn da spreche, antwortete er: das ist die Sprache meiner Hände, hier meiner Füße, sieh, die Sprache meiner Nase, meiner Ohren, eine Kopfsprache, hör, eine Herz‐ sprache, eine Verdauungssprache, eine Sprache, die auch die Rinder verstehen, die Fettschwanzschafe, der Schakal, die Antilope, die Sandviper, die Dornbüsche, die Warteinbißchen. (Ebd.: 133-4 / 138) Es geht hier um Körpersprache, womit üblicherweise keine Sprache gemeint ist, da im allgemeinen Verständnis die Sprache das ist, was sich vom Körper absetzt und dessen Stummheit überwindet. In diesem Beispiel gibt es jedoch ein Kon‐ tinuum der Sprachen, das durch die Aneinanderreihung der angehäuften Sub‐ stantive der Körperteile hervorgehoben wird. Dieses ästhetische Verfahren hat seinen Anfang im körperlichen Sprachlernen Wenstrups und Gottschalks bei Jakobus, wird an dieser Stelle jedoch weitergedacht, so dass es mehrere Kör‐ perbereiche umfasst und immer mehr Platz in Anspruch nimmt. Dadurch wird eine Dynamik, auch eine sprachliche Dynamik der Copia (vgl. Melanchthon 172 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) 2001 [1531]: 127, 175, 235), in Gang gesetzt, die sich unaufhaltsam weiterent‐ wickelt und sich auf die Tiere und sogar die Pflanzen ausbreitet. Diese Sprache ist Ausbreitung und Umarmung und wirkt dementsprechend auf den hörenden Mensch. Er wird angesprochen: Missionar Gorth war nicht abergläubisch, schließlich war er hierhergekommen, um in die Finsternis des Aberglaubens das Licht der Erkenntnis des Herrn und Heilands zu tragen, aber wenn er Lukas so reden hörte, kam ein merkwürdiges Grausen in ihm auf, in dem zugleich etwas wie Neugierde war. (Timm 2000 [1978]: 134 / 2020 [1978]: 138) Durch die Sprache wird der Mensch in den oben skizzierten Prozess der trans‐ formativen Lebensdynamik miteinbezogen und unterläuft selbst eine Transfor‐ mation. Dies kann am besten am dritten Beispiel gezeigt werden. Gegen Ende seines Aufenthalts in Deutsch-Südwestafrika zieht sich Gott‐ schalk aus der Gesellschaft zurück und resigniert scheinbar ganz. Trotz seiner anscheinend vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber der menschlichen Um‐ gebung führt er ein Tagebuch, das zunächst fast ausschließlich aus „meteoro‐ logischen Beobachtungen“ besteht: Die dürre, konventionelle Begrifflichkeit der Meteorologen wird durch eine höchst eigenwillige Sprache gesprengt, die mit kühnen Bildern arbeitet, ja sogar mit neuen Wortschöpfungen, und das zu beschreiben sucht, was selbst aus der ständigen Ver‐ änderung heraus seine Form hervorbringt, was unendlich vielfältig, im steten Wandel begriffen, sich dennoch immer wieder ähnlich wird: die Wolken. (Ebd.: 414-5 / 433-4) Man hätte ohne Gefahr, die Sachlage zu verfälschen, am Ende dieses Satzes die Wörter „die Wolken“ durch „das Leben“ ersetzen können, wie es sich aus einer anderen Textstelle herauslesen lässt : „Gottschalk hat offenbar den Versuch un‐ ternommen, ein Beschreibungssystem zu entwickeln, das jene Bewegung und Vielfalt in sich aufnimmt, ohne wiederum zu einer Nomenklatur zu erstarren“ (ebd.: 415 / 434). Das Leben ist an sich die verkörperte Bewegung und Vielfalt der Welt, die sich stets einer Beschreibung entzieht, auch wenn die Wissenschaft genau das anstrebt, weil sie immer im Wandel ist und nur dadurch eine Konti‐ nuität vorweist. Auch die Kontinuität besteht nicht aus einer Wiederholung des Gleichen, sondern aus einer gegenseitigen Anziehung von Änhlichem, deren Unterschiedlichkeit das Neue hervorbringt. Daher leuchtet es ein, obwohl Timm hier den Begriff „Beschreibungssystem“ verwendet, dass es sich keineswegs um ein System handelt, wie der Autor ein paar Sätze weiter einräumt: Gottschalk stellt sich ein System vor, das „allein auf einer jeweilig neuen Einzelbeschreibung beruht“, da es ja das Neue beschreibt. Würde die Beschreibung bereits verwen‐ 173 5.6 Der erweiterte Affektbegriff und die Sprache dete Ausdrücke wiederverwenden, würde sie deren Neuigkeit verfehlen und sie wieder ins Bekannte einsperren. Deshalb fehlt bei Gottschalks Beschreibungen „[ein gewisser] Abstraktionsgrad[,] [der] auch verallgemeinernde Begriffe zu‐ gelassen hätte“ (ebd. / 434-5). Das konkrete Neue lässt sich nicht wiederholen oder verallgemeinern. Aus solchen Gründen sind Gottschalks Beschreibungen stricto sensu keine Beschreibungen, sondern sie nehmen Teil an der stetigen Erzeugung des Neuen, die sie möglichst genau registrieren. Weniger kämpfe‐ risch, aber im selben Sinne ähneln die Wolkenbeschreibungen Gottschalks dem bewaffneten Kampf Morengas: „Er kämpf[t]e mit seinen Leuten für das Leben“ (ebd.: 398 / 416; Hervorhebung RWP ). Timms Schreibmethode und der damit einhergehende Geschichtsbegriff be‐ ruhen auf dem ästhetischen Verfahren der Montage. Es handelt sich jedoch nur zum Teil um die Erzeugung eines Verfremdungseffekts im Sinne der klassischen Moderne, der eine kognitive Distanz ermöglichen soll. Vielmehr ähnelt Timms Methode der Bastelei (le bricolage) Lévi-Strauss’ (1984), die mit Material aus dem Umfeld arbeitet und sich nie aus dem Gewebe des Lebens heraushebt. Die Mon‐ tage-Technik agiert vielmehr als konkret veranschaulichendes Modell für eine Nähe zum Fremden, die transformative Synergien erzeugt und entfaltet. Im Grunde verwandelt Timm eine Montage-Technik, die aus der Verfremdungsäs‐ thetik der klassischen Moderne stammt, in eine Ästhetik des lebensnahen, le‐ bensbejahenden und lebensfördernden Affekts, die der Collage-Methode des Postmodernismus nur oberflächlich verwandt ist und statt dessen eher an seit Langem bestehenden Traditionen der Lebensphilosophie und neueren Assemb‐ lage-Theorien anknüpft. 5.7 Interesse und Affekt Anhand einer kurzen Textanalyse werden im Folgenden die zugrunde liegenden Hauptthesen noch einmal zusammengefasst. Es ist eventuell überraschend zur Erläuterung eines Ansatzes, der sich immer weg vom Menschen hin zur Umwelt neigt, dem Autor das letzte Wort zu geben, und doch empfiehlt es sich hier. Nicht etwa deshalb, weil er als Schlüssel zum eigenen Text fungieren soll, sondern ganz buchstäblich, weil der Autor, wie sich zeigen wird, selbst aus den Texten, die er geschrieben hat sowie aus den kritischen Textanalysen Anderer, entsteht. Wie Barthes sagt: „Der moderne Skriptor wird im gleichen Moment wie sein Text geboren. Er hat überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben voranginge oder es überstiege […]“ (Barthes 2000: 189). Dieser Überlegung folgend, wird nun ein kurzer Text ins Visier genommen, der sich rückblickend auf die Ent‐ 174 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) stehungsgeschichte des Romans Morenga besinnt. Nicht etwa, um dem schreib‐ enden Ich noch mehr Gewicht zu verleihen, sondern um eine Bündelung le‐ bensstiftender Beziehungen aufzuzeichnen, die dem Schreiben selbst zugrunde liegen. Im Zentrum dieser Beziehungen steht Afrika als Aktant und als Auslöser für das Schreiben. Afrika als solches anzuerkennen, lässt wiederum affektive Verbindungslinien entstehen, die möglicherweise auch konkrete, materielle Än‐ derungen mit sich bringen können. In Zusammenhang mit der hier entwickelten Affekttheorie könnte man zu‐ gespitzt formulieren: Der Autor ist das Produkt der affektiven Verbindungsli‐ nien, die seinen Text in allen seinen Formen entstehen lässt - die hier vorlie‐ gende Studie miteingeschlossen. Ebenso gelten die in diesem Augenblick und an diesem Ort in Erscheinung tretenden Leser*innen als Produkte der vom Text aus in die Welt hinausstrahlenden affektiven Verbindungslinien. Sowohl diese Studie wie auch die aus den mannigfaltigen Leseprozessen entstehenden Inter‐ pretationen - gleichgültig, ob sie sich auf den Roman, auf die kritische Analyse oder auf beides beziehen - werden wiederum zu Knotenpunkten inmitten von Netzwerken affektiver Verbindungslinien. Deren Auswirkungen werden wei‐ tere „Wellen“ schlagen und daher im Prinzip Teil eines unendlichen prozess‐ haften Ganzen werden. Die Auseinandersetzung mit einem literarischen Text bedeutet in diesem Zusammenhang, sich als Teil dieses Prozesses und innerhalb dieser Verbindungslinien anzuerkennen und aktiv an deren Prozesshaftigkeit zu beteiligen. Um diesem Prozess der ununterbrochenen Raum-Zeit-Transformation auf die Spur zu kommen, bietet sich am Schluss der Studie ein kleiner quasi-autobio‐ grafischer Text Timms zur Lektüre an. In einem zwanzig Jahre nach der Publi‐ kation von Morenga verfassten Text schildert Timm die Entstehungsgeschichte des Romans: Mein mich durchs Leben begleitendes Interesse für Afrika, speziell für Südwestafrika - das heutige Namibia - hat, vermute ich, seinen Grund in den abendlichen Erzählungen jener älteren Kameraden meines Vaters, die als Offiziere in Südwest gedient hatten. Sie erzählten Geschichten über die „Eingeborenen“, die nicht pünktlich waren, nicht arbeiten wollten, kräftig logen und ihre Kinder auch nicht ordentlich erzogen, also nicht prügelten. Paradiesische Zustände für mich, ein Kind, das nach preußischen Tugendmustern erzogen wurde, und ein guter Grund, sich fortan für Afrika und die Afrikaner zu interessieren, ein Interesse, das mich begleitet hat, durch die Schule, durch die Universität, wobei sich das Bild ausdifferenzierte, kritischer und vor allem selbstkritischer wurde, eine entschieden politische Richtung in der Studentenbewe‐ gung nahm und schließlich zum Engagement in der Antiapartheidbewegung führte. (Timm 1997: 35) 175 5.7 Interesse und Affekt Timms Selbsterzählung, die möglicherweise ein Fragment etwa eines künftigen autobiografischen Bildungsromans werden könnte, formuliert die Entstehungs‐ geschichte eines Romans. Dieser Roman wiederum ist von Hermand (1995) an‐ gesichts Gottschalks allmählichem Bewusstwerden über die Realität des Kolo‐ nialkriegs zu Recht als Quasi-Bildungsroman beschrieben worden. Es geht demnach um einen Teilbildungsroman über einen Bildungsroman. Zusammen‐ fassend schließt Timm mit dem Ende des Bildungsprozesses, was zugleich den Anfangspunkt für die Entstehung des (Bildungs-)Romans bildet: In der Studentenbewegung wurden […] die kulturelle und ökonomische Situation in der Dritten Welt untersucht und die Ausbeutungsstrategien der westlichen Metro‐ polen aufgedeckt. Es gab auch symbolische Aktionen. In Hamburg haben protestie‐ rende Studenten das vor der Universität stehende Denkmal von Wissmann, einem Afrikareisenden, der auch eine Zeitlang Gouverneur von Deutsch-Ostafrika war, vom Sockel gerissen. Und diese Szene […] brachte mich wiederum darauf, wie sehr in meinem Bewußtsein noch Relikte aus der deutschen Kolonialgeschichte eingelagert waren. Das war die Motivation für die Recherchen, Reisen und für die Arbeit an dem Roman Morenga. Eine Reise in die deutsche Geschichte, also in eine zeitliche und räumliche Ferne, die zugleich aber auch Selbsterkundung war. (Timm 1997: 35) Die Behauptung, das Ende einer autobiografischen Erzählung rücke immer näher an den Zeitpunkt des Erzählens heran und bilde somit dessen Ausgangs‐ punkt, ist ein Gemeinplatz der Autobiografieforschung (vgl. Currie 2007: 62). In der Regel gehört es dazu, dass der Erzähler zudem berichtet, welche Transfor‐ mationsprozesse er durchlaufen musste, um zum Schreiben zu kommen. Dieser Prozess der Transformation wird noch radikaler in diesem „Mikro-Bildungs‐ roman“ über den Bildungsroman Morenga dargelegt. Nicht nur die Zeitlichkeit des Erzählens, sondern auch die Topologie der Narration spielt hier eine beson‐ dere Rolle. Der Schluss der Mikro-Lebenserzählung bildet eine Schleife, die zu‐ rück zum Selbst führt. Zu einem Selbst, das durch die Auseinandersetzung mit der eigenen familialen und nationalen Vergangenheit und mit der des fremden Volks nicht mehr dasselbe ist, sondern ein anderes geworden ist. Distanz und Proximität gehen daher in einer geradezu chiastischen Raum-Zeit-Verflechtung ineinander über: Nicht Afrika, sondern Deutschland rückt, durch die Versetzung nach Deutsch-Südwestafrika, in eine „zeitliche und räumliche Ferne“. Gleich‐ zeitig aber wird die „Selbsterkundung“ über das ferne Afrika umgeleitet, so dass das Subjekt zu einem (post-kolonialen) „Afrikareisenden“ wird und über den Umweg des mittlerweile vertraut gewordenen Afrikas zu sich, nun aber als An‐ deres, zurückkehrt. Afrika wird zu einem affektbeladenen Ort. Einem Aktanten, 176 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) der dank einer durch das Schreiben ins Leben gerufenen existenziellen Bezie‐ hung näher rückt und zum Gegenüber des Selbst avanciert. Das Zitat beginnt mit den Worten: „Mein mich durchs Leben begleitendes Interesse für Afrika“. Die verschachtelte Syntax birgt einige Überraschungen. Das doppelte Possessivpronomen am Eingang des Texts scheint zunächst die Aussage ausschließlich auf das Ich zu fokussieren, die scheinbare Egomanie wird jedoch umgehend in vielerlei Hinsicht dezentriert. 1. Eine nochmalige Erwähnung des Interesses in der Äußerung: „[E]in Inte‐ resse, das mich begleitet hat“, stellt die Subjekt-Objekt-Beziehung auf den Kopf und gibt dem leitenden Interesse, nicht der davon begleiteten Person, den gram‐ matikalischen Vorrang. 2. Das „Interesse“ bezeichnet hier nicht lediglich ein Hobby oder Freizeitver‐ gnügen als Attribut der Person, sondern das Interesse besteht, wie die Etymo‐ logie lehrt, im Wesentlichen aus einer Beziehung: „Inter-esse“ bedeutet wörtlich übersetzt „Zwischen-Sein“. Das Interesse wird daher zu einem Attribut mehrerer Personen oder Aktanten. Vielmehr als ein „Interesse“ im selbstbezogenen, vor‐ teilsuchenden Sinne des Wortes, ist das „Interesse“ in diesem Zusammenhang eine Verbindung, die zwischen zwei Wesen entsteht (vgl. Mühr 2001: 298-307, der ein offenes Modell literarischer Naturals Fremderfahrung entwickelt, worin die Kategorie des „Inter-Esse-Bewusstseins“ eine zentrale Rolle spielt). 3. Dadurch bekommt das „Begleiten“ auch einen anderen Sinn: Nicht nur das Interesse begleitet eine Person, sondern das Begleiten, d. h. das Nebeneinander‐ gehen zweier Wesen definiert überhaupt erst das Interesse. Die auf diese Weise gewendete Subjekt-Objekt-Beziehung entpuppt sich als dialektische Beziehung (vgl. Bloch 1985). 4. Ein solches „durchs Leben begleitendes Interesse“ beschreibt daher nicht nur eine Zeitspanne, die von der Kindheit bis in das erwachsene Alter hinein‐ reicht. Vielmehr beschreibt das Dazwischen der fortschreitenden Beziehung eine Dynamik, die eine stetige Transformation vorantreibt, welche wiederum unter der Bezeichnung „Leben“ verstanden werden könnte. „Durch das Leben“ bedeutet dementsprechend nicht „lebenslang“ im zeitlichen Sinne des Wortes, sondern erklärt einen Entstehungsprozess, der beispielsweise als Antwort auf die Frage: „Wodurch? “ stehen könnte und dessen Antrieb das Leben selbst bildet. Bildung - nicht in einem linearen Sinne, sondern als nicht-linearer Prozess der Komplexitätsbildung überhaupt - wird hier beschrieben. Das Leben in seiner kleinsten Einheit besteht aus einem „Inter-esse“, das ständig Neues hervorbringt und auf multiskalaren Ebenen das Leben seiner konstitutiven Akteure voran‐ treibt: Beispielsweise in dem Mikro-Bildungsroman des imaginierten Uwe 177 5.7 Interesse und Affekt Timm, der eine Entwicklungserzählung über die sukzessiven affektiven Bin‐ dungen Timms zu Afrika bietet. Zusammenfassend lässt sich sagen: 1. Es kann behauptet werden, dass der historische Roman bzw. die metafik‐ tionale Historiografie Timms - ausgehend von historischen Tatsachen und do‐ kumentarischen Archiven - die Art und Weise der historischen Darstellung in Bezug zum heutigen Leser bzw. Mitglied (und daher Vertreter) des heutigen deutschen Nationalstaats (d. h. zum Bundesbürger) grundlegend in Frage stellt. Diese Beziehung ist grundsätzlich eine politische Beziehung von anhaltender Brisanz. Die Arbeit, die der Roman leistet, ist eine metasprachliche und meta‐ narrative kognitive Arbeit mit politischen Konsequenzen. Der Roman steht stellvertretend für eine ganze Reihe politischer Diskurse zur Kolonialvergan‐ genheit und zum heutigen Afrika, unter anderem die Diskurse, die während der Namibia-Debatten im Bundestag zur Sprache kamen. Die parlamentarischen Debatten können als Symptome für weitverbreitete soziale Diskurse verstanden werden, die wiederum im Roman durch ästhetische Effekte zugespitzt und ver‐ fremdet als Gegenstand einer kritischen Reflexion durchgespielt werden. 2. Man kann aber feststellen, dass der Roman mehr leistet als eine lediglich politisch-kognitive Kritik gegenüber den aktuell herrschenden Diskursen über Deutsch-Südwestafrika in der Vergangenheit und über Namibia in der Gegen‐ wart. Die Arbeit des Romans schließt zunächst, weil es um Figuren geht, deren subjektive Erlebnisse geschildert werden, den Bereich des Affekts ein. Es handelt sich jedoch nicht nur um dargestellte Figurenemotionen, sondern auch um Le‐ seremotionen, d. h. um Emotionen, die aus dem Text heraus in einem sozialen Umfeld erzeugt werden (Affekt I, siehe oben Kapitel 4.5). Derartige Emotionen bleiben nicht im Rahmen des individuellen Subjekts eingeschlossen - gleich‐ gültig, ob es sich um fiktive Figuren oder real existierende Leser*innen han‐ delt -, sondern sie sind von vorneherein aus kollektiven Affekten abgeleitet und fließen immer wieder in das Kollektive ein (Affekt II ). Die performative Dimen‐ sion solcher Affekte, deren Natur individuell erscheint, die zugleich aber immer bereits kollektiver Art sind, wurden auch explizit sichtbar im Rahmen der par‐ lamentarischen Debatte zu Namibia. Mit der Dimension des Performativen kommt schließlich eine Qualität des Affekts zum Vorschein, die Affekte über die Grenzen des Menschlichen hinaus wirksam werden lassen und sowohl ge‐ schichtlichen Kausalitäten gleichkommen als auch analog zu diversen sozio‐ ökonomisch wirksamen Netzwerken funktionieren. 3. Der Roman stellt affektive Verbindungslinien dieser Art nicht nur dar bzw. lässt sie nicht nur performativ durchlaufen, sondern er ist Teil solcher Prozesse auf einer grundsätzlichen materiellen Ebene, die als Medium für alle anderen 178 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) Dimensionen wie die politische, ökonomische, geografische usw. dient. Daher kommt dem Roman die Rolle eines Aktants im Netzwerk des kreativen Gesche‐ hens des Lebens als Ganzes zu (Affekt III ). Im Anschluss an die oben analysierte Mikro-Erzählung fasst Timm seinen eng mit Afrika verbundenen Werdegang durch eine Art Programmatik zu‐ sammen. Diese Programmatik ist in der Sprache der individuell-persönlichen Emotion verfasst, kann aber im Sinne eines erweiterten Affektbegriffs (Af‐ fekt III ) verstanden werden. Sie besteht aus zwei aufeinander folgenden Worten, die etwa einer minimalen Handlung im Sinne einer Lotman’schen (1973: 354-7) semantischen Grenzüberschreitung gleich kommen: Allein die Neugier auf das Fremde reicht nicht aus. Die Gier, Neues zu sehen und zu hören, garantiert noch keineswegs eine Sichtweise, die Verstehen ermöglicht. Das setzt etwas anderes, grundsätzlicheres voraus: das Staunen. Ein Staunen darüber, wie die Menschen, wie die Dinge beschaffen sind, das heißt, anders sein können, wie man selbst ist. Die Wahrnehmung dieser Differenz erst läßt eine Reflexion der eigenen Wahrnehmung zu und damit die Möglichkeit der eigenen emanzipatorischen Verän‐ derung im Verstehen. Ein Verstehen, das sich bemüht, die eigene Wahrnehmung als vorläufig und geschichtlich bedingt anzunehmen, um so den anderen, Fremden in seiner Würde wahrzunehmen. (Timm 1997: 42) Hier geht die individuell-persönliche Emotion - das Staunen als Beispiel für Affekt I - in eine kollektive und (trans-)kulturelle Emotion (Affekt III ) über. Man kann jedoch das Staunen noch weiter fassen. Der britische Anthropologe Ingold beschreibt das „Staunen“ so: Astonishment has been banished from the protocols of conceptually driven, rational enquiry. It is inimical to science. […] [S]cientists are often surprised by what they find, but never astonished. Scientists are surprised when their predictions turn out to be wrong (Ingold 2011: 75). Erklärend fügt er hinzu: Surprise, however, exists only for those who have forgotten how to be astonished at the birth of the world, who have grown so accustomed to control and predictability that they depend on the unexpected to assure them that events are taking place and that history is being made. (Ebd.) Dagegen sagt Ingold jedoch: By contrast, those who are truly open to the world, though perpetually astonished, are never surprised. If this attitude of unsurprised astonishment leaves them vulner‐ able, it is also a source of strength, resilience and wisdom. For rather than waiting for 179 5.7 Interesse und Affekt the unexpected to occur, and being caught out in consequence, it allows them at every moment to respond to the flux of the world with judgement and sensitivity. (Ebd.) Zusammenfassend konstatiert er: „Astonishment […] is the sense of wonder that comes from riding on the crest of the world’s continued birth […]“ (ebd.: 74). So verstanden, kann Timms Mikro-Erzählung seiner vom „Staunen“ geleiteten Fas‐ zination für und Auseinandersetzung mit Afrika als Mezzo-Szenario für andere multiskalare Mikrobzw. Makro-Szenarien gesehen werden, wie die verschie‐ denen Anziehungskräfte unter den Elementen der physischen Welt: von der subatomaren Ebene, wie z. B. die Schwerkraftpakete (Rovelli 2016: 149-50) bis hin zum Universum, beispielsweise das „Big Bounce“ des abwechselnd expan‐ dierenden bzw. schrumpfenden Alls (Rovelli 2016: 179-82). Schwerkraft - die Kraft der Anziehung, zum Teil auch der Abstoßung - ist das, was die stetige, gegenseitige Transformation der Welt auslöst und vorantreibt. Bei Timm heißt jene Anziehungskraft auf der menschlichen Mezzo-Ebene zunächst „Neugier“ und wird sogleich durch ein weiteres Wort benannt: das „Staunen“. Das „Staunen“ beschreibt den Affekt der stetigen Welttransformation vom kleinsten Maßstab an. Mit Affekt wird zunächst ein Gefühl bezeichnet, das aus einem Prozess entsteht, in dem die Ergebnisse einer jeglichen Begegnung zwi‐ schen Elementen bzw. Akteuren nicht vorhergesagt werden können. Mit an‐ deren Worten, jede Begegnung bringt grundsätzlich Neues hervor. Das „Staunen“ bezeichnet nicht nur die Reaktion auf das Unvorhersehbare, sondern beschreibt von innen eine aktive, partizipatorische Haltung jener, die an diesem kosmischen Prozess der ständigen Wechsel, der Änderung und Erneuerung der Materie durch Begegnungen - kurz: des Lebens - teilnehmen. Das Staunen stellt jedoch nicht etwa eine apolitische, weltfremde Haltung dar, die von konkreten Fragen der sozioökonomischen Transformation ablenkt werden, sondern es bildet die grundlegende Kraft der Transformation schlechthin ab, die jegliche politische Transformation anzapfen muss, sollte sie nicht von kurzer Dauer und oberflächlicher Wirkung bleiben. Wenn „Afrika“ das Hauptsubstantiv der Timm’schen narrativen Syntax (vgl. Todorov 1969) bildet, könnte man meinen, dass „staunen“ das Hauptverb dar‐ stellt. Angesichts der soeben skizzierten Auffassung des Staunens, dürfte man jedoch die narrative Syntax der Timm’schen Poetik der Interkulturalität noch radikaler formulieren, so dass „Afrika“ nicht nur ein Substantiv bildet, sondern auch nur noch als Verb vorkommen sollte (vgl. Ingold 2011: 175). Derartig dy‐ namisiert als ein Netzwerk interagierender Verben, die aufgrund ihrer grund‐ sätzlichen Energie anziehend bzw. einlenkend aufeinander wirken und daher insgesamt ein Narrativ der affektiven Bindungen, Kausalitäten und Transfor‐ mationen bilden, lassen sich die durchaus politischen Beziehungen zwischen 180 5. Timms Morenga und der Affekt der Geschichte(n) Deutschen und Afrikanern, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu denken - und infolgedessen dem Kolonialkrieg und Genozid und deren heutigem Erbe neu gedenken. 181 5.7 Interesse und Affekt 3. Teil: Nach Morenga 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer Im folgenden Kapitel werden zwei literarische Texte untersucht, in denen der Versuch unternommen wird, die zeitliche Distanz zwischen kolonialer Vergan‐ genheit und moderner Gegenwart einerseits und die räumlich-kulturelle Ent‐ fernung zwischen afrikanischen und europäischen Perspektiven andererseits zu überwinden. Beide Beispiele arbeiten mit literarischen Affekten, die ein Kom‐ positum aus Nähe und Distanz, aus Betroffenheit und Gleichgültigkeit auf‐ weisen. Sie finden sich nicht nur als Gemütszustand des Erzählers bzw. des Le‐ sers oder der Leserin, sondern auch als eine affektive Struktur der grundlegenden Geschichtserfahrung und deren Aufarbeitung in der Gegenwart. Zunächst wird auf den ersten Versuch einer Zeit- und Raum-Überbrückung des DDR -Autors Dietmar Beetz im historischen Roman Flucht vom Waterberg (1989) kurz eingegangen. In Beetz’ Roman wird mit Hilfe eines „Mischlingspro‐ tagonisten“, der mehrere Sprachen spricht, unter anderem Deutsch, und daher plausibel in verschiedene Kulturen Einblick haben kann, die Kluft zwischen den Epochen und den Kulturen überwunden. Das Experiment ist aber nur bedingt erfolgreich. Die Evidenz dieser Unmöglichkeit der Überwindung birgt jedoch in sich einen überraschend vielversprechenden Geschichtsaffekt. Der zweite Versuch einer Grenzüberschreitung wird vom deutschsprachigen namibischen Autor Giselher W. Hoffmann in seinem Roman Die schweigenden Feuer (1994) unternommen. Hoffmann verwendet die Übernahme einer reinen Herero-Erzählerperspektive im Rahmen einer deutschsprachigen Fiktion. Der Versuch Hoffmanns ist weit gewagter und zum Teil recht grenzwertig in der Weise, in der er die Perspektive der damaligen Afrikaner*innen vereinnahmt. Durch seine Grundsätzlichkeit verdient er jedoch eine tiefergehende Untersu‐ chung, die eine verhängnisvolle Verstrickung mit europäischen Geschichtsphi‐ losophien zu Tage fördert. Trotz der Unterschiede zwischen den beiden im vorliegenden Kapitel unter‐ suchten Varianten einer „Einfühlungsästhetik“ (Hamann / Timm 2003) gilt es im Folgenden zu zeigen, dass sowohl die eine wie die andere als recht problematisch erscheinen. Demzufolge kann man die in den zwei Romanen anvisierten Stra‐ tegien zur Distanzreduzierung als mehr oder minder gescheitert betrachten. Das Scheitern ist jedoch in den beiden Romanen jeweils ganz unterschiedlicher Art und verweist implizit und vorgreifend auf zwei Aspekte des gegenwärtigen Stands des deutsch-namibischen Versöhnungsprozesses bzw. der Aufarbeitung des Genozids. Zum einen auf das Stocken: 115 Jahre nach dem Beginn des Deutsch-Namibischen Kriegs und dem anschließenden Genozid herrscht nach wie vor Zaudern hinsichtlich einer formellen Entschuldigung. Zum anderen auf das Hoffen: Zumindest prinzipiell wird eine Entschuldigung in Betracht ge‐ zogen, was an sich eine radikale Kehrtwendung der deutschen Versöhnungs‐ politik darstellt, auch wenn dies bis dato nicht tatsächlich umgesetzt worden ist. 6.1 Beetz, Flucht vom Waterberg In Beetz’ Flucht vom Waterberg wird der Deutsch-Namibische Krieg aus der Sicht des „Rehoboth-Bastards“, d. h. einer aus der gemischten ethnischen Gruppe der Rehoboth Baster stammenden Figur Koopgaard erzählt. Anfangs dient Koop‐ gaard bei den deutschen Schutztruppen, bevor er zu den Herero überläuft und anschließend auch bei den Nama, unter anderem unter der Führung des mythi‐ schen Jakob Morenga, kämpft. Auch wenn der Roman fast durchgehend eine konventionelle heterodiegetische Erzählweise aufweist, ist es auffällig, wie dif‐ ferenziert die afrikanischen Figuren dargestellt werden, und wie schablonenhaft dagegen die deutschen ausfallen. Die differenzierte Darstellung der afrikani‐ schen Figuren dient der Darlegung von sozialer Komplexität. Da Koopgaard Sohn einer Nama-Mutter und eines Rehoboth Basters ist, deren Gemeinschaft eine stark ausgeprägte ethnische und politische („rassenbewußte[]“, so Beetz [1989: 26]) Identität vorweisen kann, ist seine Hybridität von Negativität über‐ schattet und bildet ein Kernmotiv des Romans: Soweit Koopgaard zurück denken kann, hat er sich als Bastard gefühlt, und nicht nur im Sinne der Rehobother. Fremd sein, dazwischen stehen, sich nach einer Gemein‐ schaft sehnen - das hat ihn geprägt, das bestimmt ihn, und das wird ihm in dieser Nacht bitter wie selten zuvor bewußt. Ein Bastard und Bankert, der erst bei Witbooi, dann bei den Herero - und eine Zeitlang sogar bei den Fremdlingen [d. h. bei den Deutschen] - ein Zuhause gesucht hat, der da wie dort nicht heimisch geworden ist, der nie und nirgends heimisch werden wird. (Ebd.: 224-5) Die Merkmale des Affekts I sind unübersehbar an dieser Stelle: „sich als Bastard [fühlen]“; „sich nach einer Gemeinschaft sehnen“; „bitter […] bewußt [werden]“. Solche innerlichen Emotionen sind aber im Rahmen des Romans unmöglich als Merkmale des Affekts II zu interpretieren, da gerade eine Affektgemeinschaft per definitionem dem Nicht-Dazugehörenden verwehrt ist. 186 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer Beetz findet hier Anschluss an ein gängiges Motiv aus der modernen afrika‐ nischen Literatur, die die unüberwindbare Kluft zwischen indigenen und kolo‐ nialen Kulturen nicht so sehr als politisches Problem versteht, sondern als Phä‐ nomen der Verfremdung des individuellen Protagonisten umdeutet (vgl. Gikandi 2000). Die Spannung zwischen der Kolonialkultur und der indigenen Kultur lediglich als innerliches Problem des Einzelnen zu verkennen, obwohl es eigentlich um die Zerstörung jener Kultur im Zuge der Eroberung geht, ist ver‐ führerisch. Denn diese ideologisch aufgeladene Mystifikation bietet sich gera‐ dezu an, da sie als Inhalt direkt an die Form der Erzählung gekoppelt ist. Das Individuum sondert sich per se von der Gemeinschaft ab und bildet sich aufgrund dessen durch eine Grenzüberschreitung. Die Erzählung lebt von Erzählbarem, und das wiederum beruht auf einer semantischen Grenzüberschreitung, die etwas zu erzählen hergibt (Lotman 1973: 356-7). Das Individuum steht deshalb im Rahmen des modernen Romans als Epizentrum der Erzählbarkeit. Daher passt die Meta-Erzählung des verfremdeten afrikanischen Individuums genau zur Erzählform des Romans. Koopgaard erfüllt das grundlegende Kriterium des modernen Romanprotagonisten: Er ist Außenseiter und Grenzgänger. Er ist In‐ dividuum, da er von allen Gemeinschaften ausgeschlossen ist. Er wohnt einem Grenzbereich inne und eine Grenze durchzieht seine fiktive Subjektivität. Der Anschluss an die Komplexität des Protagonisten ist also zugleich auch ein Anschluss an eine Art „Leerstelle“ im Sinne Isers (1972: 60-7), die weniger textueller als vielmehr struktureller oder gar geschichtlicher Natur ist. Deshalb lässt sich die Situation des Protagonisten nur schwer auf kollektive Strukturen übertragen. Aus diesen Gründen läuft die Handlung, wie sich im Folgenden zeigen wird, gleichsam ins Leere. Es entstehen aus der Romanstruktur letztend‐ lich keine zukunftsträchtigen affektiven Bindungen. Koopgard ist und bleibt ein Einzelgänger. Interessanterweise kontrastiert Koopgard in dieser Hinsicht Morenga, an dessen Seite er im proleptischen, paratextuellen Nachspiel des Romans kämpft (Beetz 1989: 264), der als Sohn einer Herero und eines Nama die Stammesgrenzen angeblich überwinden konnte - zumindest in den Diskursen über ihn. Morenga bot insofern die Verkörperung eines Wunschbildes der überethnischen Koope‐ ration, das sowohl der DDR -Orthodoxie wie auch der SWAPO -Führung gelegen kam (vgl. Drechsler 1984 [1966]: 206). Im Vergleich steht Koopgard an der Schnittstelle vieler Grenzen als „Rand‐ erscheinung“, überwindet sie jedoch nicht. Der Ort der Hybridität, des Außen‐ seiters, bietet in Verbindung mit der offenkundigen Komplexität in der Darstel‐ lung des Protagonisten einen affektiven Zugang für den bzw. die Leser*in. Dies 187 6.1 Beetz, Flucht vom Waterberg entpuppt sich rapide als Sackgasse ohne weitere affektive Anschlussmöglich‐ keiten. Wie kommt Beetz aus der Sackgasse des von der Gattung selbst auferlegten Individualismus, der im Rahmen eines zumindest teilweise noch herrschenden sozialistischen Realismus nur als höchst problematisch erscheinen kann? Eine Aufhebung der randständigen Stellung jener „liminale[n] Figur“, der „eine ein‐ deutige Zuordnung zu einem Kollektiven von Anfang an verwehrt“ ist (Hermes 2009: 207), lässt sich nur auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene über eine künftige Überwindung der „Kluft zwischen den Stämmen“ in Form eines „Bund[es] aller Söhne und Töchter des Landes“ (Beetz 1989: 107, 166) realisieren. Der Versuch ist zum Scheitern verdammt. Erschwert wird diese Vorstellung durch die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse, die maßgeblich von der DDR -Geschichtswissenschaft übernommen wird. Bezeichnend ist die zeitliche Nähe der Publikation von Beetz’ Roman zu Drechslers 1984 erschienenem bahn‐ brechenden populärgeschichtswissenschaftlichen Band zu den Aufstände[n] in Südwestafrika. Beetz nennt ohne jegliches Herumschweifen die Oma‐ heke-Wüste „eine Todeszone“, wo absichtlich die „Vernichtung eines ganzen Volkes“ vorgenommen wird (ebd.: 137, 103). Besonders bezeichnend dafür sind die Schlusszeilen des Romans, die das elende Ende der nach Togo deportierten Mitkämpfer vorauserzählt (ebd.: 264). Ebenfalls über Koopgaard wird prolep‐ tisch berichtet, dass er den weiteren Kampf zunächst bei Hendrik Witbooi und anschließend „unter der Führung von Jakob Morenga in einer Schar Verwegener aus vielen Stämmen des Landes“ kämpft, „[…] bis zum bitteren Ende“ (ebd.: 264). Die projizierte endgültige Überwindung der Spannungen zwischen den Stämmen wird ebendaher weit in die Zukunft hinausgelagert. Auch deshalb muss der Roman zwangsläufig mit einem offenen Ende schließen: Die ge‐ schichtliche Leerstelle projiziert in eine ferne Zukunft der Aufhebung der real existierenden Probleme des Widerstands. Zunächst erscheint es so, dass die erzählerische „Einfühlungsästhetik“ im Rahmen des Afrikaromans, die von Uwe Timm als „koloniale[r] Akt“ abgelehnt wird (Hamann / Timm 2003; siehe auch Abschnitt 6.5 unten), in Beetz’ Flucht vom Waterberg als Träger einer von dem bzw. der Leser*in empfundenen Em‐ pathie bzw. einer auf komplexeren Ebenen entstehenden affektiven Verbindung zu den Themenfeldern „Deutsch-Namibischer Krieg“ bzw. „heutiges Namibia“ nur bedingt funktioniert. Der Roman schildert löblicherweise die Ereignisse der Jahre 1904 bis 1908 nicht aus der Sicht der deutschen Kolonisatoren, sondern aus der der Kolonisierten, was auf jeden Fall als frühes Anzeichen eines langsam einsetzenden „postkolonialen“ historiografischen Paradigmenwechsels gesehen werden muss, und eventuell mit der eigenen ärztlichen Tätigkeit Beetz’ in den 188 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer 1970er-Jahren im westafrikanischen Cap Verde zusammenhängt. Der Versuch bleibt jedoch beschränkt auf die Darstellung der Figuren als Individuen, was sich nicht nur als erzähltechnisches Problem entpuppt, sondern auch als geschichtsphilosophisches Dilemma erscheint. Daher kann Beetz’ Roman die her‐ vorgehobene Hybridität des Protagonisten nicht für effektivere affektive oder breiter angelegte geschichtsaffektive Strategien mobilisieren. Doch diese anscheinend ausweglose geschichtsaffektive Lage birgt einige zunächst unsichtbare Möglichkeiten. Bei Beetz wird die Spannung der negativen Hybridität nicht gelöst, sondern absichtlich offengelassen. Die unüberwindbare negative Hybridität wird zu einer strukturellen Differenz in der geschichtsphi‐ losophischen Konzeption des Romans. Die Geschichte kann nicht unmittelbar im Rahmen der erzählten Zeit durch eine umfassende Gemeinschaft geheilt werden, sondern eine solche Heilung muss außerhalb der erzählten Zeit, in der offenen Zeitlichkeit des Erzählens bzw. des Lesens herbeigeführt werden - in „[e]ine[r] Zukunft, die für Koopgaard in jener Nacht im August 1904 noch hinter dem verhangenen, von einzelnen Sternbildern überragten Horizont liegt“ (Beetz 1989: 264). Durch die unüberwindbare negative Hybridität postuliert der Roman stillschweigend eine Geschichte und eine - auch fiktive - Geschichtsschreibung, die per definitionem unvollendet ist: „Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zu‐ gleich erinnert, was noch zu tun ist“ (Bloch 1985, VII : 516). Der hier manifestierte Geschichtsaffekt ist genau das Gegenteil der Indifferenz bzw. der Gleichgültig‐ keit. Er ist durch eine grundlegende In-Differenz, ein In-sich-anders-Sein bzw. In-Sich-änderbar-Sein im Kern der Geschichtserfahrung gekennzeichnet. Diese In-Differenz macht die Geschichte zu einem offenen Prozess des „Noch-Nicht“, das von „Erwartungsaffekten“ durchzogen ist (Bloch 1985, V: 77-84). Angesichts des nach wie vor unvollendeten Versöhnungsprozesses zwischen Deutschland und Namibia bzw. den Opfervertretern der Herero und Nama, erscheint ein sol‐ cher „Erwartungsaffekt“ aktueller denn je. Ein ganz anderes Beispiel für eine versuchte „Einfühlungsästhetik“, die nicht auf der Hybridität des Protagonisten beruht, sondern auf der des Autors, ist Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994). Hoffmanns Roman bietet eine Fülle interessanter Perspektiven bezüglich der Hybridisierung als affektstrategi‐ schem Ansatz, nicht zuletzt aufgrund des höchst problematischen Charakters des Texts, der im Folgenden detailliert dargestellt werden soll. Wo die zum Teil gescheiterte „Einfühlungsästhetik“ Beetz’ im Zuge der geschichtlichen In-Dif‐ ferenz einen „Erwartungsaffekt“ möglich macht, herrscht bei Hoffmann para‐ doxerweise die lückenlose Indifferenz des vollzogenen Geschichtsverlaufs, deren Unveränderbarkeit durch eine fast perverse „Einfühlungsästhetik“ aus‐ gerechnet den Opfern zur Last gelegt wird. 189 6.1 Beetz, Flucht vom Waterberg 6.2 Hoffmann, Die schweigenden Feuer: Zusammenfassung, Voraussetzungen Hoffmanns Die schweigenden Feuer bietet eine fiktionalisierte Version der Ge‐ schichte des Herero-Volkes von 1861 bis 1905 und ist überdies als eine chrono‐ logische Reihung von 25 mit Jahreszahlen versehenen Kapiteln angelegt. Die Erzählperspektive wechselt zwischen einer Ich-Erzählung aus der Sicht des He‐ rero-Jungen Himeezembi, dessen Vater die aufkommende Bedrohung durch die Deutschen prophezeit, aber in seinem Versuch scheitert, die untereinander ver‐ strittenen Völker Südwestafrikas im eigenen Interesse zu einigen, und einer he‐ terodiegetische Erzählung. Der Roman bietet dem bzw. der Leser*in eine Fülle an kulturellen Informationen, die wiederum in einer Vielzahl von zwischen‐ menschlichen Beziehungen eingebettet sind. Letztere wiederum werden einge‐ rahmt von immer wieder wechselnden bzw. neu aufgestellten politischen, sogar kriegerischen, Auseinandersetzungen zwischen Herero, Nama, Ovambo, Bon‐ delwarts und anderen Völkern des südwestlichen Afrikas. Der Roman basiert auf gründlichen geschichtlichen Forschungen (vgl. Loi‐ meier 2002: 102), bietet aber keineswegs einen klaren Überblick über die ein‐ zelnen Ereignisse, geschweige denn über die geschichtliche Gesamtentwicklung der Region in der Zeit vor dem Deutsch-Namibischen Krieg 1904 bis 1908. Die Dichte der kleinteiligen persönlichen, geografischen und historischen Details ist derartig umfassend, dass der Leser bzw. die Leserin nur mit Hilfe der am Schluss des Romans angehängten Zeittafel und des Personenregisters einen ru‐ dimentären Überblick erlangen mag. Wie Loimeier (ebd.: 90) pointiert formu‐ liert, ist der Roman „as a work of fiction […] abstruse and convoluted […]“; „as a simple sequence of historical facts in a fictional setting, it [der Roman] poss‐ esses little literary merit.“ Bedeutend an dem Text ist vielmehr die Art und Weise wie Hoffmann ver‐ sucht, zwischen anscheinend unversöhnbaren Gegensätzen zu vermitteln: zwi‐ schen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen dem Deutsch-Südwestafrika der historischen Handlung und dem gegenwärtigen Deutschland der Publikation. Interessanterweise wurde dieser Roman Hoffmanns im Gegensatz zu seinen früheren Romanen, die zunächst im Selbstverlag in Swakopmund / Namibia er‐ schienen, zuerst 1994 in Deutschland im Wuppertaler Peter Hammer Verlag und erst 1999 in Swakopmund in Taschenbuchformat veröffentlicht (Keil 2003: 328), was für ein relativ großes Interesse aufseiten der deutschen Leserschaft spricht. Allerdings hielt der Peter Hammer Verlag Hoffmann bald danach für „nicht mehr […] tragbar […]; denn als weißer Afrikaner, so die Begründung, passe er nicht mehr in ein von schwarzafrikanischen Autoren dominiertes Verlagspro‐ 190 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer gramm“ (ebd.: 330). Der Autor schildert explizit seine Auffassung dieser Ver‐ mittlerfunktion: „Ich schlage mit meinen Büchern […] Brücken zwischen ver‐ schiedenen Völkern, mache sie miteinander bekannt“ (Hoffmann zitiert nach Loimeier 2002: 102). Belegt wird diese Behauptung der interkulturellen Ver‐ mittlung im engeren Sinne zumindest durch die deutsch-namibischen Doppel‐ veröffentlichungen. Gewagter jedoch ist die Vermittlung, die auf der formellen Ebene stattfindet: Der Roman verbindet persönliche Erfahrung, ausgedrückt in der autodiegetischen Erzählung des jungen Himeezembi, und geschichtliche Berichterstattung bzw. ihr fiktives Äquivalent in der heterodiegetischen Erzäh‐ lung der Ereignisse. Die Vermittlungsfunktion des Texts wird durch die hybride Stellung des Autors als deutschsprachiger Namibier, die ihm die Fähigkeit res‐ pektive das Recht verleiht sowohl als afrikanischer Autor wie auch als deutsch‐ sprachiger - wenn nicht deutscher - Autor zu sprechen. Die sogenannte „Au‐ torfunktion“ (Foucault 1996) wird ganz explizit mobilisiert, um die ästhetische Technik Hoffmanns zu rechtfertigen: „Den ‚fremden Blick‘“, führt Hoffmann aus, und meint damit den eigenen Blick über die Grenzen der europäischen Erfahrungswelt hinaus, „verdanke ich wohl meinem ausgeprägten Einfühlungs‐ vermögen. Außerdem bin ich auf der Farm unter Herero aufgewachsen, habe mit einem Gwi gejagt und Monate im abgelegenen Kaokoland verbracht“ (zitiert bei Loimeier 2002: 102). Wohlgemerkt, diese Äußerung Hoffmanns wird im Fol‐ genden nicht als persönliche Aussage eines Individuums, auch wenn sie die persönliche Erfahrung vordergründig als Wissensquelle darstellt, sondern als ästhetisch-strukturelle Funktion des Texts und seiner durchaus ideologisch mo‐ tivierten Intention betrachtet. Auffällig in diesem Kontext ist die Bedeutung, die bei dieser interkulturellen Vermittlung der Funktion der Affektivität beigemessen wird. Literaturhistorisch gesehen geht die Autobiografie mit dem Aufstieg des „sentimentalism“ und der affektbetonten Romantik einher (vgl. Bell 2000). Daher überrascht es wenig, dass der Autor, der - es sei noch einmal betont - in diesem Kontext als Diskursmuster gilt und nicht in der Analyse als Person oder Individuum fungiert, mit einer solchen Hervorhebung der Affekte seine Biografie darstellt und somit sein schriftstellerisches Schaffen erklärt bzw. legitimiert, auch sein innertextuelles Alter Ego in die diskursiv-narratologische Form der Ich-Erzählung gießt. Das ist in vielerlei Hinsicht eine nicht ganz unproblematische Vorgehensweise. Dabei ist anzumerken, dass die Ich-Erzählung in Hoffmanns Roman nicht kontinuierlich verwendet wird, stattdessen wechselt sie sich mit der heterodie‐ getischen Erzählung ab. Die Vermutung liegt nahe, dass die autodiegetische Er‐ zählung immer wieder abbricht, da die Grenzüberschreitung vom Autor zum Protagonisten (Vergangenheit - Gegenwart, schwarz - weiß, mündlich - 191 6.2 Hoffmann, Die schweigenden Feuer: Zusammenfassung, Voraussetzungen schriftlich …) teilweise als zu extrem empfunden wird und durch einen anderen Modus ausgeglichen bzw. gemäßigt werden muss. Es entsteht eine hybride nar‐ ratologische Struktur, die sich auf zwei verschiedene Erzählmodi, den autodie‐ getischen und den heterodiegetischen Modus, verteilt. Man kann davon aus‐ gehen, dass die autodiegetische Erzählung die Hauptlast der Affektarbeit trägt, während die heterodiegetische Erzählung für die zusätzliche empirisch-fakti‐ sche, semiotische Legitimität ihres affektbeladenen Pendants sorgt. Umgekehrt verleiht die autodiegetische Erzählung der nüchternen Historizität der aukto‐ rialen Narration eine gewisse „gelebte“ Authentizität. Diese „gespaltene Zunge“ Hoffmanns stellt das entscheidende formelle Merkmal eines Romans dar, der im Übrigen ästhetisch recht wenig zu bieten hat. Zwei Arten des „Brückenbauens“ werden dank jener angeblichen auktorialen Empathiefähigkeit im Roman entworfen und im Folgenden untersucht. Die erste Brücke ist die geschichtliche, die das Vergessen eindämmen soll. Stellvertretend für diese Funktion steht die ältere Generation. Himeezembi merkt an: „Meine Großmutter heißt Kurinjaa, weil sie mit ihrer Zunge ständig alte Erinnerungen erweckt“ (Hoffmann 1994: 38). Die geschichtliche Narration wird über Generationen hinweg weitergegeben, kuratorisch dafür zuständig sind in diesem Falle jene Frauen, welche die biologische Generativität und den genealogischen Zusammenhang der Gesellschaft als solche überwachen. Die zweite Brücke, die sich freilich nicht ganz von der ersten trennen lässt, ist eine kulturelle Initiative, die den von Hoffmann beklagten Verlust der Ge‐ bräuche und Traditionen (Loimeier 2001: 102) lindern soll. Beide Brücken sind notwendig, weil, so der Roman, der Genozid an den Herero bzw. Nama eine geschichtlich-kulturelle Zäsur darstellt. Die letzte Zeile des Romans lautet: „Wir hatten aufgehört zu existieren.“ (Hoffmann 1994: 437) Das herausragende Muster für ein dergestaltes heilendes Eingreifen im Rahmen eines zerstörten kollektiven Kulturgedächtnisses ist der Roman des Ni‐ gerianers Chinua Achebe aus dem Jahre 1958, Things Fall Apart (in der deutschen Übersetzung Okonkwo oder Das Alte stürzt, 1983 von Dagmar Heusler übersetzt, bzw. Alles zerfällt, neu übersetzt 2012 von Uda Strätling). Dieser Klassiker der afrikanischen Literatur in englischer Sprache dokumentiert die Kohärenz und Komplexität einer afrikanischen Gesellschaft kurz vor dem Eindringen der bri‐ tischen Kolonisatoren. Achebe rehabilitiert seine Igbo-Kultur gegenüber der gängigen europäischen Annahme, afrikanische Völker hätten nur sehr einfache, gar primitive Kulturen und daher auch keine Geschichte. Mit der fiktiven Re‐ konstruktion der einheimischen Kultur gelingt es ihm ebenfalls zu zeigen, wie ihre Komplexität auch Spannungen und Schwachstellen mit sich bringt, die den Kolonisatoren ein Einfallstor bieten, das längerfristig zum Zerfall der unter‐ 192 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer drückten afrikanischen Kultur beiträgt (vgl. hierzu auch Nandy 1983). Die Dar‐ stellung der Komplexität der Kultur, die so feinmaschig ist, dass der Roman Achebes teilweise einer anthropologischen Abhandlung ähnelt (vgl. Huggan 2001: 40-1; Newell 2006: 95-7), erlaubt wiederum die Behauptung einer ge‐ schichtlichen Kontinuität über die Katastrophe hinaus, die hingegen auf den zerstörerischen Auswirkungen der Risse und Spannungen jener einheimischen Gesellschaft beruht. Eine ähnliche Situation gilt auch für Hoffmanns Roman, birgt aber einige Fallen für sein schriftstellerisches Unternehmen. Habeck (2004) konstatiert dies mit den Worten: Ein Buch wie ‚Die schweigenden Feuer‘ von Giselher W. Hoffmann […], das in Ro‐ manform die Geschichte des Hererostammes aus dessen Sicht erzählt, zeigt zwar, wie schwierig es in diesem Fall ist, sich vom ethnografischen Bericht zu lösen, doch auch, wie vorsichtig man sein muss, nicht nur Vorurteile zu wiederholen. 6.3 Die Fallen des Einfühlungsvermögens bei Hoffmann Ein zentrales Paradoxon der Vermittlungsarbeit, die Hoffmann zu leisten meint, ist, dass sie nicht nur auf affektiver Nähe basiert, sondern auch eine Distanz impliziert, die sich als Kehrseite jener Nähe entpuppt. Die Empathie als Garantie des Zugangs zur anderen Kultur ist täuschend, da sie die Illusion verbreitet, es gäbe einen direkten, unmittelbaren Zugang zur Andersartigkeit, die ohne Ver‐ mittlung bzw. Übersetzung auskommt. (Natürlich ist der ganze Roman in vielen Hinsichten - geschichtlich, kulturell, linguistisch - nichts anderes als ein gi‐ gantisches Übersetzungsprojekt; dies bleibt jedoch durch die „naturalisierende“ Kraft des erzählerischen Realismus weitgehend unsichtbar.) Dass diese Über‐ setzung vermeintlich nicht notwendig ist, kann in Hoffmanns Roman genau deshalb aufrechterhalten werden, da die Kluft, die es zu überwinden gilt, erst in den letzten Zeilen des Romans in den bereits zitierten Zeilen angekündigt wird: „Wir hatten aufgehört zu existieren.“ (Hoffmann 1994: 437) Der Roman birgt das Paradoxon einer für die Struktur der Erzählung grundlegenden Distanz, die sich nicht zeigen darf. Dieses spielt sich auf zwei Achsen ab: einerseits auf der Achse der Zeit, andererseits auf der Achse des Raumes, d. h. der Kulturen in ihrem gegenseitigen Kontakt zueinander bzw. in ihrer Abschottung voneinander. Die Achse der Zeit wird in Hoffmanns Roman in der Beziehung der Genera‐ tionen zueinander verkörpert. Es ist nicht unwichtig, dass der Vater des Ich-Pro‐ tagonisten Himeezembi, Ondangere, Wahrsager bzw. Schamane ist. Seine Rolle besteht im Vorhersagen der Zukunft. Ein Vorgang, der zugleich auf einer Rück‐ bindung zur Vergangenheit beruht, da die Arbeit des Wahrsagers in der Ver‐ 193 6.3 Die Fallen des Einfühlungsvermögens bei Hoffmann mittlung zwischen den Ahnen und dem Volk besteht. Insofern ist der Schamane auch Übersetzer (vgl. West-Pavlov 2019: 73-88), der gleichzeitig zwischen den Zeiten und zwischen den Zeichen vermittelt: „Ondangere […] wartete geduldig auf die nächsten wahrsagenden Zeichen“ (Hoffmann 1994: 46). Dieses Warten bildet einen zeitlichen Abstand, dessen räumliches Pendant der Abstand zwi‐ schen Zeichen und Bedeutung bildet. Exemplarisch zeigt sich dies am Beispiel eines Naturphänomens, dessen Bedeutung Ondangere herauslesen muss: „,Seht! ‘, rief Ondangere. Er hatte in der Windhose ein wahrsagendes Zeichen erkannt: ,Tjamuahas Geist hat uns von der Nama befreit! ‘“ (Ebd.: 49) Nichts verbindet die Windhose als Zeichen und die Befreiung als dessen Be‐ deutung, nur der Schamane kann diese Verbindung herstellen, und die Kluft zwischen Signifikat und Signifikant drängt ihn aus dem Zentrum der Gesell‐ schaft, in der Zeichen und Bedeutung immer fest verbunden sind, in eine Stel‐ lung am Rande des gemeinsamen Lebens. Der Schamane verkehrt in einem Raum des Abstands, der auch ein Abseits ist. Bezeichnenderweise ist der Scha‐ mane fast immer ein Außenseiter, nicht nur weil seine Botschaften vom Volk nicht angenommen werden, sondern auch weil er sich in der Nähe des Heiligen aufhält. Aber auch die Arbeit des Wahrsagers ist eine liminale Arbeit, die Tren‐ nung mit Vermittlung verbindet. Die Vermittlung überwindet die Trennung, bedarf ihrer und beruht auf ihr (vgl. Derrida 1985). Es ist kein Zufall, dass die textinterne Vermittlungsarbeit vom Sohn eines Schamanen übernommen wird. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die der Übersetzung konstitutiv zugrunde liegende Distanz auf der zeitlichen Achse ausradiert werden kann. Himeezembi wird selbst später Wahrsager, ist genera‐ tioneller Übersetzer der Wahrsagerbzw. Übersetzerfunktion. Aber die Span‐ nung zwischen Übersetzung als Nähe und Übersetzung als Abstand wird sehr früh deutlich, wenn Himeezembi sagt, „[I]ch bezweifelte zum ersten Mal, daß mein Vater in das Herz eines Menschen blicken konnte …“ (Hoffmann 1994: 51). Rückblickend stellt der Übersetzer genau jene Tradition der Übersetzung in Frage, die ihm vererbt wurde und die er weiterführen soll. Dieses Paradoxon hat weitreichende Konsequenzen für den Text. Himee‐ zembi fungiert als Erzähler wie ein textinterner Stellvertreter für den Autor, der wiederum versucht, die Herero-Kultur für ein deutschsprachiges Publikum zu‐ gänglich zu machen. Die strukturelle Spannung zwischen Übersetzung als Nähe und Übersetzung als Abstand überträgt sich auf die Autorfunktion Hoffmanns, trotz seiner Beteuerungen seiner vermeintlichen Nähe zu namibischen Völkern. Die Funktion der Mediation hängt bemerkenswerterweise nicht nur von der Nähe zur eigenen Kultur ab, sondern auch von der Distanz bzw. dem Abstand zur selben, die zugleich eine mögliche Nähe zur anderen Kultur herstellt - in 194 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer diesem Fall zu derjenigen Kultur, die in der Sprache der literarischen Vermitt‐ lung verkörpert wird, d. h. zur deutschsprachigen Kultur. Es ist die Tatsache, dass der deutschsprachige Autor Hoffmann kein Deutscher ist, die es ihm even‐ tuell ermöglicht, eine Version der Herero-Kultur der Vergangenheit näherzu‐ bringen, genau wie sie das Vergangen-Sein der Herero-Vergangenheit, die ihre geschichtliche Übersetzungsarbeit notwendig macht, möglich und zugleich un‐ möglich macht. In der Figur Himeezembi werden solche Paradoxa in überspitzter Form dar‐ gestellt. „Wo ist Dein Bogen? “ fragte der Junge. […] „Ich habe ihn … vergessen.“ „Kannst Du dich an deinen Namen erinnern? “ „Himeezembi“, sagte ich, beschämt. Der Junge lachte, denn Himeezembi bedeutet ‚Ich werde nicht vergessen‘. (Ebd.: 36) Der Ich-Erzähler muss den Witz übersetzen, da der bzw. die deutschsprachige Leser*in höchstwahrscheinlich keinen Zugang zur Herero-Sprache hat. Gleich‐ zeitig wird nicht nur der Eigenname übersetzt, sondern das Ganze unterliegt einer umfassenderen Arbeit der unsichtbaren Übersetzung: Die Figuren spre‐ chen in der Erzählung Deutsch, bewohnen jedoch eine erzählte Herero-Welt. Es ist kaum zu vermeiden, dass der Text, auch wenn er die unmarkierte Übertra‐ gung der Erinnerungen eines Herero-Jungen ins Deutsche ist, immer wieder seinen Status als Übersetzung verraten muss. Dies geschieht an den Stellen, wo beispielsweise ein Eigenname nicht einfach kommentarlos verwendet werden kann, sondern übersetzt oder erklärt werden muss. An solchen Stellen muss die stillschweigende Übersetzung explizit werden. An der soeben zitierten Stelle ist das Phänomen besonders frappant, weil der übersetzte Inhalt des Namens auch wiederum Übersetzung ist: nicht nur die zwischensprachliche Übersetzung, die eine Übertragung des Namens ins Deutsche verlangt, sowie die Erklärung eines Witzes bzw. Wortspiels, sondern auch die Übersetzung des Vergangenen in die Erinnerung muss erklärt werden. Darüber hinaus wird der Inhalt des Namens durch einen performativen Wi‐ derspruch explizit gemacht: Ausgerechnet der Junge, dessen Name „Ich werde nicht vergessen“ lautet, vergisst. An dieser Stelle erlangt die Episode, die im Übrigen relativ unbedeutend ist, eine größere Bedeutung. Nur das Unübersetz‐ bare muss übersetzt werden, wie Derrida (1985) in einem berühmten Aufsatz dargelegt hat. Nur eine Geschichte, die in Vergessenheit geraten ist, muss erin‐ nert werden. Nur eine orale Kultur, deren sprachliche Tradition unterbrochen worden ist, muss aufgeschrieben werden. Hier wird ein Aspekt der Geschichte 195 6.3 Die Fallen des Einfühlungsvermögens bei Hoffmann im historischen Sinne, nämlich ihre ständige Entfernung von der Gegenwart, die wiederum ihre Unveränderbarkeit immer weiter verstärkt, sichtbar. Darauf wird im Folgenden detaillierter eingegangen werden. Die zweite Achse des eingangs erwähnten Paradoxons spielt sich in der Di‐ mension des Raumes ab. Hiermit ist der Kulturraum in seinem gegenwärtigen Zustand gemeint, d. h. in der Zeit der Erzählung, auch wenn dieser Kulturraum durch die wiederbringende Funktion der historischen Fiktion rekonstruiert bzw. übersetzt werden muss. Wie bereits oben erwähnt, zeigt der Roman viele Details des Alltagslebens der Herero in der Übergangszeit zwischen der Ankunft der ersten weißen Missionare bzw. Händler und dem Kriegsausbruch 1904. Der Roman wird zu einer Art fiktionalisierte und somit lebendige Anthropologie der Herero, einer, wie Geertz es formuliert, (1993: 3-30) „thick description“. Jener Vorgang beruht freilich auf einer verwandten „thick translation“ (Appiah 1993). Ferner impliziert das Ganze auch eine bewertende Funktion. Die Wiedergewin‐ nung verschwundener, vergangener Kultur in ihrer „ursprünglichen“ Form macht die durch die Kolonisatoren bewirkte Herabstufung der vorkolonialen Gesellschaften rückgängig. Die einheimischen Gesellschaften werden als hoch‐ komplexe Welten mit ihren eigenen Logiken und Gesamtkohärenzen darge‐ stellt. Insofern ähnelt Hoffmanns Roman, wie oben bereits angemerkt, Achebes Klassiker Things Fall Apart, der eine vergleichbare Rolle für das Igbo-Volk spielt. Achebes Roman zeigt darüber hinaus, wie die internen Spannungen und Un‐ gleichheiten der Igbo-Gesellschaft auch Außenseiter der Gesellschaft dazu be‐ wegen, sich den Kolonisatoren anzuschließen. Daher schließt ein Blick auf die Komplexität einer Gesellschaft nicht nur Positives ein, sondern beleuchtet auch diejenigen Schwachstellen im indigenen Sozialgefüge, die Anschlussstellen für die Eindringlinge bieten, beim gleichzeitigen Schaffen von Spielräumen für in‐ digene soziale Außenseiter. Ähnliche Analysen in dieser Hinsicht liefern Nandy (1983) für den Fall Indiens unter der britischen Kolonialherrschaft sowie Dlamini (2014) anhand der Komplexität der Rolle der sogenannten „Askaris“, den Kolla‐ borateuren bzw. Spitzeln des Apartheid-Sicherheitsapparats. Insofern werden auch sämtliche Nuancen der Grauzone bzw. des Mittelgrunds der Interaktion zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten hervorgebracht (vgl. Bhabha 1994). Jene Deutungsstrategie ist jedoch nicht ohne Gefahr. Bei aller gerechtfer‐ tigten Hervorhebung der Komplexität - etymologisch gesehen, das Mitei‐ nander-verflochten-Sein bzw. Miteinander-zusammengefaltet-Sein (vgl. Sanders 2001) - der kolonialen Interaktion kann dieses Deutungsmuster aber auch dazu dienen, die historische Verantwortung seitens der Kolonisatoren für die Zerstörung ganzer nicht-europäischer Gesellschaften herunterzuspielen. 196 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer Dieser verhängnisvolle Diskurs der kolonialen Schuldminderung kommt bei Hoffmann ausgerechnet an den Stellen zum Tragen, wo ein typischer postko‐ lonialer Diskursduktus inszeniert wird. Hier ein Beispiel: Wir pflegten unsere Ahnenfeuer, züchteten Rinder, eroberten neue Weidegründe, schliefen mit unseren Frauen und waren glücklich. Dann kamen die Weißen. Anstatt ihnen unsere Sitten aufzuzwingen, zogen wir ihre Kleider an, erlernten ihre Sprache, beteten zu ihrem Gott, nahmen ihre Werkzeuge in die Hand und setzten uns in ihre Gefängnisse. Und obwohl wir uns nur noch in der Hautfarbe von ihnen unterscheiden, tun sie so, als würde ihnen alles gehören: das Land, die Rinder und die Frauen. (Hoff‐ mann 1994: 402) Bezeichnend an dieser Stelle ist die Tatsache, dass nicht die Protagonisten diese Äußerung machen, sondern eine Randfigur, so dass eine subtile Ironie die Be‐ merkung durchzieht. Der erste Satz fängt mit einer Auflistung typischer Ge‐ bräuche an, endet aber mit einer fast lächerlich märchenhaften Note: Wir „schliefen mit unseren Frauen und waren glücklich“. Anschließend wird eine vereinfachende Umkehrung der kulturellen Verhältnisse durch die Worte „[a]nstatt ihnen unsere Sitten aufzuzwingen“ konstatiert, die so absurd klingt, dass diese Binarität kaum ernst zu nehmen ist. Im Rahmen der herkömmlichen Kolonialgeschichte ist es kaum vorstellbar, dass sich die Kolonisatoren hätten verpflichtet fühlen können, sich der Kultur der Einheimischen unterzuordnen. (In der Frühmoderne bei den Osmanen oder in China war das allerdings tat‐ sächlich der Fall.) Mit der selbstbewussten Annahme einer aus historischer Sicht unmöglichen kulturellen Überlegenheit seitens der Eingeborenen diskreditiert sich die antikoloniale Kritik durch die utopische Unangemessenheit der Aus‐ sage. Umgekehrt gilt die ganze Darstellung der Feinheiten der Herero-Kultur als komplexes Gefüge, das auf eine genauso komplexe Art und Weise die Schuld‐ last für die Eroberung auf diverse Verantwortliche - Kolonisierte nicht weniger als Kolonisatoren - verteilen lässt. Im Rahmen derartiger diskursiver Muster kann sich der europäische Koloni‐ alismus sogar als befriedende Kraft darstellen, die in der Lage gewesen sei, den internen Dauerkonflikten innerhalb der einheimischen Gesellschaften ein Ende zu setzen. Der Kolonisator sei, diesem Diskursmuster zufolge, nicht der Zer‐ störer der indigenen Kultur, sondern durch sein wohlwollendes Regieren seien „Land und Leute“ von „ihrem Ringen um ihr nacktes Leben und ihren unseligen Kämpfen gegeneinander“ (Witte 1935: 135) befreit worden. Jakob Irle (1906: 171-99), eine von Hoffmanns zitierten Quellen, aus denen sein Roman ent‐ standen ist (Hoffmann 1994: 445), berichtet auf mehr als 20 Seiten von den Kriegen zwischen den Herero und ihren Nachbarn während des gesamten 197 6.3 Die Fallen des Einfühlungsvermögens bei Hoffmann 19. Jahrhunderts. Der Abschnitt endet mit gesonderten Kapiteln zum nicht ganz zufällig so benannten englischen „Protektorat“ und zur deutschen „Schutzherr‐ schaft“ (ebd.: 200-6). Mit anderen Worten: Die Einheimischen müssen vor sich selbst geschützt werden. Noch ausgiebiger berichtet Vedder (1934), dessen Buch Hoffmann ebenfalls als Quelle heranzieht, auf 500 Seiten von fast 100 Jahren der „Tyrannei“ und der „Gewaltherrschaft“ sowie über mehrere „zehnjährigen Kriege“. Erst 1890, so Vedder, geht „das alte Südwestafrika“ zu Ende, so dass „Kulturfortschritte“ nun endlich „Kulturhindernisse“ gänzlich verdrängen können. Der Sieg der „Kulturfortschritte“ nimmt Gestalt an durch die „Errich‐ tung des ersten Gebäudes von Windhuk, der Hauptstadt des ‚deutschen Süd‐ westafrikas‘ und - seit dem Weltkrieg - des ‚Mandatsgebietes Südwestafrika‘“ (ebd.: 663). So klingt es in einer typischen Textstelle aus dem Roman Hoffmanns, in der Jan Jonker Afrikaner die Absicht erklärt, gegen die umgebenden Völker in den Krieg zu ziehen: Ich werde mir Gewehre und Munitionen besorgen und gegen Maherero vorgehen, nahm er sich vor, und dann vernichte ich die Witboois, die Bethanier, die Bersebaner, und anschließend die Ambo im Norden, denn nur ein Kapitain kann über das Land zwischen dem Oranje und dem Kunene herrschen […] (ebd.: 152). Diese Kriegspläne werden geschmiedet, obwohl vermutet wird, dass englische bzw. deutsche Kriegsschiffe die Küste Südwestafrikas angreifen könnten, eine Möglichkeit, die Jonker abstreitet: „Wir sind keine englischen Untertanen“, behauptete er […]. „Aber was sollen wir tun, wenn ihre Kriegsschiffe trotzdem in der Wahlfischbucht landen, Pa? “ […] „Niemand wird uns finden, und wenn der englische Kapitän wieder abdampft, verschwindet mit seinem Schiff die Kapregierung hinter dem Horizont.“ „Die Deutschen werden sich nicht damit zufriedengeben, sondern ihre Regierung um Schutz bitten.“ Boois knallte den Deckel auf den Kessel. „Wenn es in diesem Land was zu holen gäbe, würde schon längst an jedem Mast eine englische oder deutsche Flagge wehen.“ Der Alte hat recht, dachte Jonker. (Ebd.: 153-4) Auf den späteren Verlauf der Geschichte zurückblickend, weiß man, dass das Land sowohl durch die Deutschen wie auch ab 1915 die Briten bzw. die Koloni‐ alregierung in Südafrika besetzt werden wird. Somit wird suggeriert, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Bevölke‐ rungen des südwestlichen Afrikas just diejenigen Spaltungen und Schwä- 198 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer chungen hervorbrachten, die die deutsche und anschließend die britische Ero‐ berung des Landes erleichterte. Mit anderen Worten, die Dokumentation der vergangenen Kultur ist auch eine Dokumentation darüber, wie sich die einhei‐ mische Gesellschaft bzw. Kultur zum Teil selbst abschafft bzw. auflöst. Die Achse des Kulturraums, verstanden als Raum der kriegerischen innerafrikanischen Konflikte, wird auf die Achse der Zeit projiziert und trägt somit zur Bestätigung bei, dass die Afrikaner keine Geschichte haben, außer einer Geschichte, in der sie die eigene Geschichte auslöschen. Die Dokumentation der vergangenen af‐ rikanischen Kultur entlastet demgemäß die kolonisierende Macht, die eigentlich die Hauptverantwortung der Zerstörung der vorkolonialen afrikanischen Kultur trägt. In Anbetracht der Tatsache, dass der Autor, ganz gleich, wie seine persönliche Stellung zum Erbe der Kolonisierung ausfällt, zu den Nachfahren dieser Kolonialmacht gehört, kompromittiert das Projekt einer Vermittlung zwischen den Kulturen durch die unvermittelte Darstellung der kriegerischen Zerstrittenheit der Afrikaner unter sich zutiefst. Das Vorhaben einer interkul‐ turellen Vermittlung, die auf einer vermeintlichen Nähe des Autors zu den in‐ digenen Völkern Namibias basiert, kann nur genuin Bestand haben, wenn es sich rigoros von kolonialen Quellen und den darin herrschenden Diskursen dis‐ tanziert. Hoffmanns schriftstellerischer Versuch, seinem in anderen Texten de‐ klarierten Einfühlungsvermögen in Form eines historischen Romans Ausdruck zu geben, wird daher von einer gefährlichen Nähe zu Kolonialdiskursen unter‐ graben. 6.4 Der Verlauf der Zeit Der soeben erwähnte Kolonialdiskurs des friedensstiftenden Kolonialismus ist für das Projekt einer vermeintlichen Empathiefähigkeit insofern verhängnisvoll, als es den Kolonisierten eine Mitverantwortung am Untergang der indigenen Kultur zuschreibt. Historisch gesehen mag das eine gewisse Substanz haben, der Status des Autors bzw. die Sprache des Romans verleihen einer solchen Be‐ hauptung jedoch einen bitteren Beigeschmack. Der Text Hoffmanns kann nicht ganz außerhalb eines geschichtsphilosophischen Umfelds situiert werden, das „einen Perspektivwechsel […] weg von der ideologisch verbrämten Historio‐ graphie eines Zimmerer oder Zeller, oder auch eines ‚ DDR -Staatshistorikers‘ wie Drechsler“ zugunsten „eine[r] andere[n] „Wahrheit“ anstrebt, nach der es „nur unter Berücksichtigung des damaligen Zeitgeistes möglich ist, das Tun oder Lassen unserer Altvordern in Südwestafrika zu begreifen und zu verstehen“ (Droemer 2019). Im Kontext des namibia-deutschen Diskurses des Revisio‐ 199 6.4 Der Verlauf der Zeit nismus, auch wenn sich der Hoffmann’sche Text nicht explizit solchen Dis‐ kursen anschließt, kann keine neutrale Stellung bezogen werden, von der aus eine Schilderung der Konflikthaftigkeit der vorkolonialen Gesellschaften nicht in die Behauptung einer Mitschuld seitens der Kolonisierten an der eigenen Unterwerfung und somit eine Entlastung der Kolonisatoren mündet. Dies wird zwangsläufig zu einer moralischen Geste, die den Kolonisatoren, d. h. den Vor‐ fahren des Autors, einen Freispruch erteilt. Diese hat aber radikale Auswirkungen als geschichtslogische bzw. zeitliche Geste in einem Roman, dessen Schlusszeile das Ende des Volkes der Herero nicht nur dokumentiert, sondern auch, dank der Sieger-Sprache, in der sie verfasst ist, weiter verstärkt: „Wir hatten aufgehört zu existieren.“ (Hoffmann 1994: 437) Bezeichnend ist die Verwendung der Vergangenheitsform, die das Ende des Volkes bereits in dem Moment, da die Aussage stattfindet, als schon vollendet und abgeschlossen inszeniert. Die Aussage bezieht sich daher nicht nur auf er‐ lebtes Unrecht, das so radikal ist, dass es die Untertanen auslöscht, d. h. den expliziten Inhalt der Aussage, sondern es bezieht sich auf das, was von den Pro‐ tagonisten als Mitglieder der Herero-Gesellschaft bereits berichtet wurde, d. h. die performative Schilderung-als-Tun der eigenen Zerstrittenheit. Mit anderen Worten, die Beschreibung der Geschichte der Eroberung Deutsch-Südwestaf‐ rikas und der Unterdrückung des Aufstands während des Deutsch-Namibischen Kriegs wird durch die Erzählstrategie Hoffmanns in die Selbstverantwortung für den eigenen Untergang assimiliert. Diese faktische Übernahme der Selbst‐ schuld wird gekrönt durch die abschließenden Wörter, die auch als Teil dieser Selbstanklage verstanden werden, da sie zum selben sprachlichen Stoff gehören. Der zeitliche Abschluss, ausgedrückt in der grammatikalischen Form des Plus‐ quamperfekts - der vollendeten Vergangenheit - schließt nicht nur ab, sondern auch ein, so dass der Sprechakt zur Selbstanzeige bzw. zur Selbstbezichtigung wird. All das lässt aber die Tatsache außer Acht, dass hier kein Angehöriger des Herero-Volks spricht, sondern ein Angehöriger der Namibier-Deutschen, d. h. ein Nachfahre der Täter von damals. Die Stellung des „Einfühlungsvermögens“ entpuppt sich dieser Logik nach als eine Strategie, um sich sprachlich-literarisch als Eingeborener zu „tarnen“, indem man mit seiner Stimme spricht, um ihn sich selbst anklagen zu lassen. Der Affekt der Nähe wird in diesem Sinne nur in‐ strumentalisiert, um im Nachhinein die Auslöschung durch den Genozid noch einmal zu wiederholen, und sei es auch nur in Form einer sprachlichen Bestä‐ tigung des Ausgelöscht-Seins, des Vergangen-Seins seitens der Ausgelöschten. Statt ein Zeugnis über das getane Unrecht abzulegen, untermauert durch eine vermeintliche Empathiefähigkeit bezüglich der Opfer, die es dem Autor ermög‐ licht, den heutigen Deutschen besonders wirkungsvoll anzusprechen - so die 200 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer explizite Funktion der hybriden Stellung der hier verwendeten Autorfunk‐ tion -, schließt der Roman mit einem Sprechakt, der alles andere als empathisch ist, sondern einem zeitnarratologischen Todesurteil gleich kommt. Deshalb ist es so wichtig, die geschichtszeitlichen Strukturen des Romans besonders unter die Lupe zu nehmen. In dieser Hinsicht ist es kein Zufall, dass der Protagonist die Wahrsager-Rolle seines Vaters übernimmt. Der Wahrsager sieht die Zukunft weit im Voraus, und merkt, wie sie sich nach vorgeformten und unvermeidbaren Mustern entwickelt. Der Protagonisten sieht diese Gabe jedoch deshalb nur als Last: „Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magenge‐ gend aus. Die meisten Menschen stellen sich vor, daß es wundervoll sei, der Gegenwart einen Schritt voraus zu sein. Aber ich wollte nie einen Fuß auf diesen allwissenden Pfad setzen“ (Hoffmann 1994: 158-9). Die Gabe der Sicht in die Zukunft ist ein Fluch, weil sie den Menschen jeglicher Freiheit beraubt, seine Zukunft selbst zu gestalten. Deshalb ist der Wahrsager das narratologische Pen‐ dant zum Historiker. Wie bereits Schlegel (1967-2009, XI : 176) anmerkte: „Der Historiker ist ein rückwärtsgekehrter Prophet“, der genau beschreibt, wie die Ereignisse stattgefunden haben, und welche kausalen Ketten von einem Ereignis zum anderen führen. Da der Modus der Geschichte in den Bereich des empiri‐ schen Faktums fällt, verhält sich die Geschichte wie eine Beschreibung der Un‐ vermeidlichkeit oder Unabwendbarkeit. Weil die Ereignisse so verlaufen sind und nicht mehr geändert werden können, müssten sie so verlaufen, so die Logik der vermeintlichen Zwangsläufigkeit der Geschichte. Genau diese Zwangsläu‐ figkeit will die Alternativgeschichte (auch bekannt als „spekulative“ oder „kont‐ rafaktische Geschichte“, vgl. Ferguson, Hg. 1999) außer Kraft setzten, kann es aber nur mit Hilfe eines Frontalangriffs auf den Wahrheitsgehalt der Geschichts‐ schreibung. Deshalb ist Hoffmanns Roman den geschichtlichen Quellen so ver‐ bunden: Er bewegt sich im Bereich der Fakten, die immer nur als unbewegliche und unveränderbare Größen betrachtet werden können, egal ob man sie aus der Perspektive der Zukunft als Wahrsager oder mit dem Blick zurück als Historiker bzw. als Autor einer historischen Fiktion anschaut. Die Struktur des Romans ist daher zirkulär. Die Handlung bewegt sich auf einen Punkt zu, der schon längst bekannt ist und für die Leser*innen bereits vergangen, mit anderen Worten für immer erstarrt, ist. Die Vergangenheit ist bereits abgeschlossen, etwa nach dem Muster der Aussage einer Figur aus Seyfrieds Herero (2003: 565): „‚Naja‘, er zuckt die Achseln, ‚[…] Geschehen ist ge‐ schehen […]‘.“ Der kollektive Affekt, der hier sowohl geschildert wie auch per‐ formativ bestätigt und dadurch aufrechterhalten wird, ist die Gleichgültigkeit. Der Roman vermittelt insofern eine Art Geschichtsindifferenz. Das Einzige, was der Roman leisten kann, ist eine Wiedergabe der Geschichte, diesmal jedoch aus 201 6.4 Der Verlauf der Zeit der Sicht der Verlierer. Die Struktur der Geschichte, d. h. der Sieg der deutschen Kolonisatoren, bleibt unverändert und wird im heutigen Namibia durch die wirtschaftliche Vorherrschaft der Namibier-Deutschen, vor allem in Zusam‐ menhang mit Landbesitzverhältnissen, nur bestätigt und fortgeführt. Sogar die Figuren des Romans sind sich dessen bewusst und verwenden daher auch das Motiv der Zirkularität: Onotjaris Hände begannen zu sprechen: Wir sind im Kreis gegangen und wieder an der Stelle angelangt, an der wir damals losgegangen sind. Wir sind am Ziel, Himee‐ zembi! Von Okakango führt kein Weg in die Zukunft, sondern nur ein Weg in die Vergangenheit (Hoffmann 1994: 389). Diese Zirkularität gilt nicht nur auf der Ebene des Erzählten, sondern auch auf der Ebene des Erzählens. Die Geschichte als vergangenes Ereignis wird bestätigt, die Vergangenheit als Abgeschlossenes, als Unveränderbares, als das Gegenteil der noch offenen Zukunft wird endgültig besiegelt. Die Gegenwart des Erzäh‐ lens dient letztendlich dazu, die Vergangenheit als Erzähler in ihrer Unverän‐ derbarkeit zu befestigen und daher den Untergang der Kolonisierten im Nach‐ hinein als Unvermeidbares darzustellen. Die Ambivalenz zwischen Vergangenheit und Zukunft (vgl. Bloch 1985, V) wird mit Hilfe des Erzählens getilgt. Im Roman ist die Vergangenheit von vorneherein bereits vergangen. Wie gerade angemerkt, birgt diese geschichtsphilosophische Perspektive nicht nur eine kognitive Struktur, sondern strahlt einen Geschichtsaffekt der Indifferenz aus, die zugleich die Vorherrschaft der militärischen Sieger und deren ökono‐ mische Nachfahren bestätigt und weiterhin untermauert. Besonders klar wird dies in der bereits oben zitierten Textstelle, in der eine Figur über die koloniale Herrschaft klagt: „Anstatt ihnen unsere Sitten aufzu‐ zwingen, zogen wir ihre Kleider an, erlernten ihre Sprache, beteten zu ihrem Gott, nahmen ihre Werkzeuge in die Hand und setzten uns in ihre Gefängnisse“ (Hoffmann 1994: 402). Die Geschichte ist nach dieser Darstellung, die auf subtile Weise die Kolonialkritik des fiktiven Sprechers untergräbt, auch ein Gefängnis. Die historischen Akteure werden dort eingesperrt, alternative Verläufe der Ge‐ schichte werden blockiert. Die Geschichte hat die Struktur einer Einbahnstraße: Sie wird den Afrikanern aufgezwungen, so dass jegliche abweichende Version der Geschichte - der Sprecher imaginiert eine einseitige Auferlegung der Ein‐ geborenenkultur auf den weißen Eindringling - nur als Illusion oder Mythos erscheinen kann. Diese Diskreditierung anderer Geschichtsverläufe färbt auf die ganze Kolonisierungserzählung ab. Die These der Diskreditierung lautet: Die einseitige Erzählung der vermeintlich brutal erzwungenen Kolonisierung ist ein Versuch seitens der Kolonisierten, sich eine falsche Freiheit einzuräumen, die es 202 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer nie gegeben hat, da man diese Freiheit durch die eigene Zerstrittenheit selbst aufgegeben hat. Mit anderen Worten: Wir „setzten uns in ihre Gefängnisse“, so die tatsächlich gemeinte Aussage des Texts, die an dieser Stelle durch die ver‐ meintliche Absurdität der einseitigen Kolonisierungserzählung hervorgehoben wird. Diese zirkuläre Struktur der Darstellung der Geschichte im Roman kann an‐ hand einer aussagekräftigen Textstelle untermauert werden: „Als Maharero uns von den Fesseln der Nama befreite, verschwanden die Schatten der Vergangenheit“, hörten wir Ondangere murmeln. „Ihr glaubt, daß die Sonne nun ewig scheinen wird, aber ich sehe bereits die Schatten wachsen, die den Tag in ewige Nacht verwandeln werden“. (Ebd.: 135) Der Wahrsager Ondangere blickt in die Zukunft, einerseits aufgrund seines Ge‐ schicks, beispielsweise die Gedärme der Tiere zu lesen (z. B. ebd.: 99-100), an‐ dererseits aufgrund des ihm vom Text verliehenen Wissens. Wenn zum Beispiel Ondangere über den zehnjährigen Frieden von 1865 bis 1875 zwischen Herero und Nama hinaus in die düstere Zukunft der Kolonialherrschaft schaut, geht man davon aus, dass er zuerst das sieht, was im Roman später nacherzählt wird. Tatsächlich aber ist das Verhältnis im Rahmen des performativen Akts des Er‐ zählens genau umgekehrt: Der Wahrsager kann in der erzählten Vergangenheit nur das sehen, was die Erzählung des Romans ihm erlaubt. Der vorwärts ge‐ richtete Blick des Wahrsagers ist dem rückwärtsgerichteten Blick des Autors bzw. des Historikers geschuldet. Deswegen ähnelt sich inhaltlich das, was sie jeweils wahrnehmen, so dass Kommendes und Vergangenes identisch aussehen. Mit anderen Worten, die gedoppelte Zeit des autobiografischen Ich-Erzählers, d. h. das Nicht-Wissen der Figur in der erzählten Zeit des gelebten Lebens ge‐ genüber dem gereiften Wissen des älteren erzählenden Ichs in der Erzählzeit (vgl. z. B. Köhn 1969), wird hier anders gestaltet. Die erzählerische Zeit ist ähn‐ lich gesplittet wie in der Autobiografie, die Erzählfiguren sind jedoch ver‐ schieden. Das Gegenüber des allwissenden Autors in der Erzählzeit des Lesers ist der allwissende Wahrsager, der auch als ein Vor-Leser der erzählten Zeit fungiert. Vermittelnd zwischen diesen zwei Instanzen steht die Figur des jungen Hi‐ meezembi, der anfangs weniger über die Welt weiß als sein Vater, aber schnell dazu lernt und die Prophezeiungen des Vaters als vollzogene Tatsachen sehen wird, so dass er, wie alle autobiografischen Ich-Erzähler, immer näher an den Wissensstand des heterodiegetischen Erzählers, der hier dem des Historikers gleicht, herankommt. Im Rahmen des historischen Romans ist es jedoch ausge‐ schlossen, dass er diesen Wissensstand jemals hundertprozentig erreicht. Be‐ 203 6.4 Der Verlauf der Zeit steht doch ein großer Unterschied zwischen dem Endwissensstand des Ich-Er‐ zählers, der ins Jahr 1905 fällt (Kapitel 93; ebd.: 437-9), und dem - virtuellen - Wissensstand des heterodiegetischen Erzählers, der beispielsweise in den zu‐ sätzlichen Informationen des Paratexts, wie z. B. „Die geschichtlichen Ereignisse im Überblick“ (ebd.: 438-41), widergespiegelt wird. Daher bleibt immer ein Rest an rhetorischer Ironie als Kern des Gesamttextgefüges: „Wenn eine Figur Dinge nicht weiß, die aber den Rezipienten bekannt sind, können deren Äußerungen entsprechend ironisch auf Zuschauer, Hörer oder Leser wirken“ (Ironie 2019). Der heterodiegetische Erzähler ist natürlich keine Figur, sondern eine Funktion, die dem historischen Roman als zeitlich gebundener Wissensstruktur zugrunde liegt. Der heterodiegetische Erzähler ist derjenige virtuelle Ort im Text, wo das historische Wissen lokalisiert ist, das überhaupt die Historizität des historischen Romans untermauert. Was sagt diese komplexe dreiteilige Struktur des zeitlichen Wissens über die weiße, deutschsprachige, namibische Erzählinstanz aus? Das Wissen über die Vergangenheit wird dem Vater-Wahrsager teilweise von der - hier zwangsläufig weißen - Erzählinstanz vermittelt. Historisches Wissen wird mit europäischem Geschichtswissen gleichgesetzt (Rüsen 1999) und ist daher ein Geschenk der Weißen - aus der Zukunft zurückgegeben in die Vergangenheit. So wie der Text den Afrikanern von damals eine Stimme verleiht, so verleiht ihnen der Roman historisches Wissen über das eigene geschichtliche Schicksal. Dies erklärt die bemerkenswerte Zeitstruktur der bereits oft zitierten letzten Zeile des Romans: „Wir hatten aufgehört zu existieren.“ (Hoffmann 1994: 437) Genau wie die ersten Zeilen gewöhnlich die Struktur eines Romans verraten, verraten die letzten Zeilen, wie eine Art Ausblick, die Positionierung des Romans in der Zeit, über die der Leser mehr weiß als die Figuren. Deshalb ist der ab‐ schließende Absatz von Hoffmanns historischem Roman von besonderer Be‐ deutung. Zunächst wird ein indirekter Hinweis über den Völkermord an den Herero geliefert: „Glaub mir, es ist einfacher, einen Hammer zu schwingen, als in der Omaheke zu überleben“ (ebd.). In diesem Zitat steckt ein subtiler Hinweis da‐ rauf, wie die Herero-Bevölkerung in die Omaheke-Wüste getrieben wurde und dort zum Zeitpunkt des Kommentars der Figur, d. h. gegen Ende des Jahres 1905, größtenteils bereits umgekommen war. Komplexer noch gestalten sich aber die nachfolgenden Schlusszeilen, die zeitlich zwischen dem Schießbefehl von Trothas und der Revidierung aus Berlin, infolge derer die Überlebenden interniert wurden, anzusiedeln sind: „Die Soldaten werden uns in Ketten legen und in ein Lager stecken“, befürchtete Ku‐ zewe. Sie war so abgemagert, daß ich ihren Oberarm mit einer Hand hätte umfassen 204 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer können. „Die Soldaten können uns nichts mehr antun“, versicherte ich ihr: „Unsere Ahnenfeuer sind erloschen, und die Häuptlinge sterben in einem fremden Land.“ Wir hatten aufgehört zu existieren. (Ebd.) Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Text versucht, den ausge‐ löschten Anderen eine neue Stimme zu verleihen. Das Vehikel dafür ist der Af‐ fekt, genauer die vermeintliche Empathiefähigkeit, die es einem weißen deutschsprachigen Autor ermöglicht, sich mittels der Sprache der damaligen Sieger in die erlebte Erfahrung der Besiegten einzufühlen. Genau dadurch aber, dass dies in der deutschen Sprache erzählt wird, wird die Stimme der anderen nicht mit neuem Leben erfüllt, sondern, ganz im Gegenteil, das Deutsche über‐ schreibt erneut die nicht-deutsche Sprache. Somit entsteht ein in sich wider‐ sprüchlicher Sprechakt, worin die Geste der Wiedergewinnung und der Zu‐ rückbringung die ursprüngliche Entfernung paradoxerweise bestätigt und sogar verstärkt. Diese paradoxale Struktur wird in der Schlusszeile vollendet. Der Satz „Wir hatten aufgehört zu existieren“ vervielfacht die Entfernung zum nicht mehr existierenden Volk. Auch die bereits im Augenblick der Aussprache vergangene erzählte Zeit ist nun verdoppelt und wirkt daher fast unendlich. Die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Deutschland und Afrika wird vergrößert in dem Versuch, sie zu überwinden. So erklärt sich letztendlich die abwechselnde Verwendung der autodiegeti‐ schen und der heterodiegetischen Erzählung bzw. der ständige Wechsel zwi‐ schen einer mit Empathie geladenen persönlichen Erzählung und einer objek‐ tiven Erzählung eines historischen Verlaufs, der nicht mehr rückgängig zu machen und daher Gegenstand der Indifferenz ist. Einerseits bildet die autodie‐ getische Narration die erzähltechnische Manifestation der Stellung des Autors als Namibia-Deutscher, die in der Behauptung Loimeiers (2011: 91) sehr klar formuliert wird: „Hoffmann […] as a Namibian, African author is able to give voice to his characters“. Somit wird die Legitimität des Unternehmens unter‐ mauert. Der Autor spricht als Afrikaner für die Afrikaner, mit der Stimme der Authentizität. Andererseits spiegelt die heterodiegetische Erzählung mit der Andeutung der empirischen Sachlichkeit und der Nähe zu einem Verlauf der Geschichte, der nicht hinterfragt werden kann, die Stellung des Autors als Na‐ mibia-Deutscher wider. Die vermeintliche Objektivität der allwissenden hetero‐ diegetischen Erzählung legitimiert die unterschwellige Freisprechung der da‐ maligen Kolonialherren, mit der die gegenwärtige Autorenposition nicht ganz unverwandt ist. 205 6.4 Der Verlauf der Zeit 6.5 Wiedergutmachung? Um die hier vorliegende Lektüre von Hoffmanns Die schweigenden Feuer abzu‐ schließen, ist es aufschlussreich, sich eine spätere Aussage Timms zu seinem Roman Morenga anzusehen. Timm äußert sich zur ethisch aufrechten Haltung des Schriftstellers hinsichtlich der erzählten Vergangenheit: Wer sich einem historischen Gegenstand annähert, muß eben immer auch diese An‐ näherung thematisieren und damit die Distanz zum Geschehenen festhalten. Von vornherein war mir daher klar, daß ich nicht mit einer auktorialen Erzählerfigur ar‐ beiten wollte, die in alle Herzen hineingucken und alle Bewußtseinslagen ausforschen kann. Zumal die Nama, über die ich schrieb, mir doch sehr fremd waren. Und dann noch Nama, die vor gut siebzig Jahren gelebt hatten. Eine solche Einfühlungsästhetik wäre selbst ein kolonialer Akt. Schwierig genug war es bereits, sich in die Deutschen einzufühlen. Die zeitliche und räumliche Ferne zu meinem Stoff führte also dazu, daß Morenga diese polyperspektivische Form besitzt, mit der ich mich dem Gegenstand langsam, aus verschiedenen Blickwinkeln, annäherte, und diese Annäherung dadurch gleichzeitig reflektierte. Genau aus diesem Grund wird das Treffen zwischen Gott‐ schalk und Morenga nicht aus der Sicht des letzteren wiedergegeben, sondern durch einen Bericht des Deutschen, der wiederum durch die Kommentare eines bornierten Soldaten gebrochen wird. (Timm zitiert nach Hamann / Timm 2003) Timm hält es für wichtig, nicht die „Annäherung“ zum „ historischen Gegen‐ stand“ als unproblematisch bzw. einfach gegeben zu betrachten, dagegen erlaubt sich der Hoffmann’sche Text, gewappnet mit der Überzeugung der Empathie‐ fähigkeit und mittels der autodiegetischen Narration, sich in die „Bewußtseins‐ lage“ eines Vertreters der Herero einzuschleichen. Hoffmanns Roman nähert sich einem historischen Gegenstand an, oder zumindest meint er, dies zu tun, thematisiert diese Annäherung jedoch nicht und versäumt es demgemäß, die tatsächliche Distanz zum Geschehenen festzuhalten. Dabei wird die „Differenz“ der Geschichtlichkeit, ihre intrinsische „In-Differenz“ in einen Affekt der „In‐ differenz“ verwandelt. Gleichzeitig verwendet Hoffmanns Roman eine „aukto‐ riale“, d. h. heterodiegetische Erzählerfigur, „die in alle Herzen hineingucken“ kann, um eine „Distanz zum Geschehenen“ - d. h. zum endgültig Geschehenen - aufzubauen, die den affektiven Zugang zur Vergangenheit instrumentalisiert und sogar missbraucht. Die Ähnlichkeiten mit dem zehn Jahre später veröf‐ fentlichten Roman Seyfrieds, Herero (2003), der mittels der erlebten Rede einen analogen Zugang zur afrikanischen Vergangenheit anstrebt, sind auffällig. Seyfrieds Text weist eine strukturierende Ambivalenz auf, die ein künstliches Ge‐ fühl der Nähe erzeugt, um es lediglich in ein Gefühl der Distanz umzukehren, 206 6. Beetz, Flucht vom Waterberg und Hoffmann, Die schweigenden Feuer und bannt die afrikanischen Figuren an den Rand der Geschichte. Vor allem deren Perspektive bezüglich des Genozids wird dabei ausgeblendet. Somit wird in beiden Fällen bezweckt, die Kolonialvergangenheit wieder „gut“ zu machen - jedoch hauptsächlich aus der Perspektive der Nachfahren der Kolonialsieger. Anders als bei Beetz herrscht bei Hoffmann die lückenlose „Indifferenz“ des vollzogenen Geschichtsverlaufs, deren Unveränderbarkeit durch eine „Einfüh‐ lungsästhetik“ den Opfern zur Last gelegt wird. Die Pseudoeinfühlung eines deutschsprachigen „Afrikaners“, der sich dank seiner Landeskenntnisse und Fa‐ miliengeschichte berechtigt sieht, aus der Sicht der Opfer des damaligen Kolo‐ nialkriegs die Geschichte des eigenen Untergangs nachzuerzählen, erscheint mehr als anmaßend angesichts des heute noch stockenden Versöhnungsprozesses. Man kann hingegen die zum Teil gescheiterte „Einfühlungsästhetik“ Beetz’ als Symptom einer geschichtlichen „In-Differenz“, d. h. als Zeichen einer Zeitlichkeit des Noch-Nicht und des Noch-Offen ansehen. Beetz’ „Einfühlungs‐ ästhetik“ mündet trotz ihrer narratologischen Grenzen und Nachteile in eine Ästhetik des „Erwartungsaffekts“, die ergebnisoffen geführt wird. Drei Jahr‐ zehnte nach dem Erscheinen des Romans in der bald danach nicht mehr exis‐ tierenden DDR spricht Beetz’ Text die Hoffnungen vieler Deutscher und Nami‐ bier an, die eine Versöhnung zwischen den Kulturen der ehemaligen Kolonisatoren und der ehemaligen Kolonisierten nach wie vor anstreben. 207 6.5 Wiedergutmachung? 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land Im Jahr 1993 bekommt der Vater des Schriftstellers Stephan Wackwitz eines Tages eine Benachrichtigung von einer staatlichen Dienststelle in Berlin-Tegel. Es heißt, die Kamera, die ihm 1939 von britischen Marineleuten im Südatlantik weggenommen worden sei, sei wieder aufgetaucht. Der Schriftsteller-Sohn hofft, dass die Bilder, die der Vater kurz vor der Abreise nach Bremerhaven im Mandatsgebiet Südwestafrika aufnahm, ihm auf fast mysteriöse Weise etwas über seinen eigenen Lebensweg offenbaren könnten. Vor allem stellt die Kamera die Möglichkeit dar, etwas zu retten, das aus der Zeit vor der größten Zäsur der Familiengeschichte stammt, nämlich dem Untergang des Dampfers „Adolph Woermann“ kurz nach der Abreise aus dem südlichen Afrika: Das Nachdenken über die Pocket Kodak meines Vaters verfestigte sich zu einer fixen Idee; als könne ich nicht genug davon bekommen, vom sicheren Gestade meines ei‐ genen Landes und Lebens den Untergang der „Adolph Woermann“ mir immer wieder vorzustellen und auszumalen; als sei an jenem Morgen zu Beginn des Zweiten Welt‐ kriegs mit dem Hausrat meiner Großeltern ein Geheimnis über mich selbst im Südat‐ lantik versenkt worden. (Wackwitz 2003: 26) In diesem familiären Psychodrama verspricht die Kamera eine utopische Über‐ windung der bislang geltenden Zäsur durch den Schiffsuntergang; zumindest bis klar wird, dass der Film die Jahre doch nicht überlebt hat. Der Untergang der „Adolph Woermann“ schiebt der spätkolonialen Vergangenheit der ehemaligen deutschen Kolonie Südwestafrika, die sich zum Zeitpunkt des Verlusts der Ka‐ mera seit zwanzig Jahren in britisch-südafrikanischer Verwaltung befindet, einen Riegel vor. Die Kamera verkörpert in ihrem konkreten Dasein eine Ver‐ gangenheit, die gegen alle Erwartungen doch wieder aufgerufen werden kann. Als Aufnahmegerät für die „technische Reproduzierbarkeit“ (Benjamin 1991, I.1) vergangener Zeiten scheitert sie jedoch, weil das Medium der Aufnahme durch das „Zeitalter“ (so Benjamins Begriff) selbst versagt: Der Film ist nach mehr als fünfzig Jahren völlig zersetzt (Wackwitz 2003: 17). Die Kamera wird dadurch zum Exemplar einer bemerkenswerten Ambivalenz, die sich durch den ganzen Roman zieht: konkrete Faktizitäten können die Distanz der Vergangenheit bzw. deren Verdrängung überwinden; die affektive Ladung jedoch geht verloren bzw. unterliegt weiterhin der Verdrängung trotz - oder vielleicht eben dank - der vermeintlichen Faktizität. Die Kamera bietet dem Schriftsteller-Erzähler Wackwitz zunächst einen per‐ sönlichen Zugang zur Vergangenheit. Da er aber seinen eigenen Standort am „sicheren Gestade [s]eines eigenen Landes“ lokalisiert, wird die Bedeutung der Zäsur und der kurz erhofften Überwindung des Verlusts der Vergangenheit zu einer allgemeinen Denkfigur für die Stellung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in Afrika. Zum Zeitpunkt des Schreibens haben die für die Wie‐ derherstellung eines kollektiven Gedächtnisses wichtigen Ereignisse, wie bei‐ spielsweise die Versöhnungsrede, samt Bitte um Vergebung, der deutschen Ent‐ wicklungsministerin Wieczorek-Zeul in Okakarara (2004) oder die Berliner-Frankfurter Ausstellung „Namibia-Deutschland - Eine geteilte Ge‐ schichte“ (vgl. Förster / Henrichsen / Bollig, Hg. 2004) noch nicht stattgefunden. 2003 herrschte in Deutschland bezüglich der afrikanischen Kolonialvergangen‐ heit nach wie vor eine weitgehende „kollektive […] Amnesie“ (Kößler / Melber 2004: 37), was sich nur langsam änderte. Die bald darauf eintretende „relativ exponierte Stellung“ des Deutsch-Namibischen Kriegs von 1904 bis 1908 „im gegenwärtigen populären und wissenschaftlichen Vergangenheitsdiskurs“ (Eckl 2005: 189) lag noch in der Zukunft und war, wie sich im Nachhinein heraus‐ stellte, von relativ kurzer Dauer. Diese allgemeine Gedächtnislage um die Jahr‐ tausendwende wird in Stephan Wackwitz’ autobiografischem Familienroman Ein unsichtbares Land (2003) nicht so sehr auf inhaltlicher Ebene thematisiert, wo Südwestafrika eine nicht unbedeutende, jedoch bescheidene Rolle spielt, sondern spiegelt sich vor allem auf der Ebene der Erzählform wider. Der Roman setzt sich mit der Möglichkeit auseinander, einen angemessenen Zugang zur kolonialen Vergangenheit Deutschlands herzustellen. Im vorlie‐ genden Kapitel wird untersucht, inwieweit das Buch dieser Aufgabe gewachsen ist. Wie sich herausstellen wird, gelingt es dem Roman allerdings nur bedingt, einen entscheidenden Neuanfang auf diesem Gebiet aufzuzeigen. Ein Zugang zur kolonialen Vergangenheit wird zwar über die Schiene der geschichtlichen Tatsachen teilweise hergestellt, so dass das Buch durchaus als Indiz für und sogar als ein Teil des langsam wieder zum Vorschein kommenden kollektiven Be‐ wusstseins über die koloniale Vergangenheit in Deutsch-Südwestafrika, die bis zum zweiten Weltkrieg noch vorhanden war, wenn auch in einer schwer ideo‐ logisierten Form, zu verstehen ist. Ein „affektives“ Gedächtnis, das eine aktuell lebendige Verbindung zum geschichtlichen Wissen herstellt, wird jedoch im und vom Roman weitgehend ausgeblendet. Ein solches „affektives“ Gedächtnis wird sogar, so die im Folgenden explizierte These, anhand von etwas, das der Freud‐ ’schen „Verneinung“ ähnelt, aktiv blockiert. Dieser ambivalente Sachverhalt auf Textebene entspricht weitgehend dem Stand des kollektiven Erinnerungsver‐ 210 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land mögens der deutschen Öffentlichkeit bezüglich Namibia zum hundertsten Jah‐ restag des Herero-Genozids. 7.1 Das Schiff Sowohl die Hardcoverals auch die Taschenbuchausgabe des Romans ist mit einem Umschlagbild versehen, das einen Dampfer namens „Adolph Woermann“ in voller Fahrt auf dem offenen Meer zeigt. Es ist daher nicht von ungefähr, dass das Schiff in Wackwitz’ Roman eine wichtige Denkfigur bildet. Die offenkundige Bedeutung der Figur des Schiffs gibt hier Anlass, sie als konzeptuellen Einstieg für die folgenden Überlegungen zu nutzen. Das Schiff erfüllt eine mehrfach ein‐ rahmende Funktion, die weit über das ikonische „paratextuelle“ Element des Umschlagbildes (Genette 1989: 29-35) hinausgeht. Nach einem kurzen einlei‐ tenden Abschnitt zu Auschwitz (Wackwitz 2003: 7-11), schließt der Text mit einem Eröffnungskapitel zum Untergang der „Adolph Woermann“ an (ebd.: 12-8). Auch das Schlusskapitel beschäftigt sich mit der „Adolph Woermann“ und trägt den Titel „Schiffbruch“ (ebd.: 272-86). Angesichts der zentralen Stel‐ lung des Schiffs soll im Folgenden anhand von drei Leitideen das konzeptuelle Gerüst dieses Kapitels skizziert werden. 1. Die erste Leitidee lautet: Das Schiff, das von der Walfischbucht aus nach Bremerhaven fahren sollte (ebd.: 13, 16), fungiert im Roman als eine Art be‐ wegliches Verbindungsglied zwischen Deutschland und Afrika. Das Schiff ist das Vehikel für „eine afrikanisch-europäische ‚Verflechtungsgeschichte‘ […], eine shared history, eine verbindende Geschichte“ (Förster / Henrichsen / Bollig 2004: 19). Das Schiff fungiert somit als eine Art globales Nord-Süd-„Raum-Schiff “. Paul Gilroy arbeitet in seinem Klassiker The Black At‐ lantic (1993) die Bedeutung des Schiffs für den nordatlantischen Dreieckshandel heraus: Das Schiff wird zur „Chronotopie“ (Bakhtin 1981: 97-9) für die noch nicht vorstellbare multi-ethnische Gesellschaft, die eine Folge des Sklavenhan‐ dels ist: [S]ailors [were constantly] moving to and fro between nations, crossing borders in modern machines that were themselves micro-systems of linguistic and political hyb‐ ridity. […] [S]hips were the living means by which the points within that Atlantic world were joined. They were mobile elements that stood for the shifting space in between the fixed places that they connected. (Gilroy 1993: 12, 16) Wackwitz’ „Adolph Woermann“ gehört aber nicht zum Wirkungsraum des nordatlantischen Sklavenhandels, der durch die Arbeiten von Gilroy einen ge‐ 211 7.1 Das Schiff radezu paradigmatischen Status erlang, sondern zum Bereich des Kolonialwa‐ renhandels im südatlantischen Ozean, wo eine ganz andere geschichtliche Dy‐ namik zwischen Brasilien, West-Afrika und Südwest-Afrika - vor allem Angola - herrscht (vgl. Bystrom 2018; Bystrom / Slaughter, Hg. 2018). Es ist kein Zufall, dass das Schiff die Rückreise nach Deutschland aufgrund mangelnden Treibstoffs abbricht und - als portugiesischer Frachter getarnt - Kurs auf Süd‐ amerika nimmt (Wackwitz 2003: 30). Trotz gegenteiliger Aussagen in Wackwitz’ Text, die suggerieren, Deutsch-Südwestafrika stelle einen Nebenschauplatz im „Roman“ des Psychodramas des Großvaters dar (z. B. ebd.: 59), weisen sowohl der Handlungsablauf als auch die Struktur des Familienromans dem Schiff eine entscheidende Rolle als bewegbare Drehscheibe zwischen Europa, Afrika und Südamerika zu. Nicht so sehr die wiedergefundene Kamera des Vaters, deren Film nach fünfzig Jahren völlig zersetzt ist (ebd.: 17), liefert den Schlüssel zum „Geheimnis“ der Familie und des Erzählers selbst, sondern das Schiff übernimmt diese Rolle - und zwar gerade, weil es zwischen den strukturierenden Polen der Geschichte hin und her fahren kann. Ferner stellt das Schiff eine Art Zeitkapsel dar. Es bildet eine fahrbare Dreh‐ scheibe zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ein Schiff ist nicht gleich ein Schiff, sondern es kann, wie sich am Beispiel der „Adolph Woermann“ zeigt, im Laufe der Geschichte verschiedene Gestalten annehmen. In der Tat wurden mindestens vier verschiedene Schiffe der kolonialen Woermann-Linie auf den Namen des Direktors der einstmals wichtigsten deutschen Afrika-Reederei Adolph Woermann getauft. Das erste dieser Schiffe wurde 1886 geliefert, sank aber im Jahr 1894 (Kludas 1975: 17). Das zweite Schiff wurde 1888 gebaut und 1896 nach der Umbenennung in „Adolph Woermann“ [ II ] in die Woer‐ mann-Flotte aufgenommen. Dieses Schiff wurde 1906 noch einmal umgetauft (ebd.: 28-9), um Platz für ein drittes, neu gebautes „Adolph Woermann“-Schiff zu machen (ebd.: 58). Auf jener „Adolf Woermann“ (sic! ) fährt Uwe Timms Pro‐ tagonist Gottschalk (Timm 2000 [1978]: 432 / 2020 [1978]: 452) im Jahr 1907 zurück nach Deutschland. (Gottschalk fährt zunächst nach Deutsch-Südwest‐ afrika auf einem Schwesterschiff derselben Linie, der „Gertrud Woermann“ [ebd.: 9, 13, 16 / 9, 13, 16], von der es ebenfalls vier sukzessive Versionen gab [Kludas 1975: 17, 53, 58]). Die „Adolph Woermann“ [ III ] wurde jedoch unmit‐ telbar nach dem Krieg als Kriegsreparation an die Briten übergeben und als Truppentransporter bzw. Immigrantenschiff nach Neuseeland eingesetzt (ebd.: 58; Martin / Thomas 2015: 21). Das vierte Schiff namens „Adolph Woermann“ wurde 1922 gebaut, um den beschlagnahmten Vorgänger zu ersetzen (ebd.: 82). Auf jener „Adolph Woermann“ [ IV ] will die Familie Wackwitz 1939, unmittelbar nach Kriegsausbruch, zurück nach Deutschland fahren. Das Schiff kommt je‐ 212 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land doch nicht weiter als bis zu den St. Helena Inseln im Südatlantik, wo der Kapitän das Schiff versenkt, um dadurch die Übergabe an einen britischen Kreuzer zu verhindern (ebd.: 82). Trotz der Umbenennung, der Beschlagnahmung und des Schiffbruchs deutet der Schiffsname „Adolph Woermann“ in dieser Hinsicht auf eine Kontinuität zwischen den Schiffsgenerationen hin. Die „Adolph Woermann“ ähnelt daher der von Barthes (1975: 50) kommentierten „Argo“ des homerischen Epos, deren Teile eins nach dem anderen ersetzt werden, bis das Schiff völlig neu entsteht, ohne dass sich sein Namen ändert. Laut Barthes stellt ein solches Schiff auf perfekte Weise die Struktur eines Objekts dar, das durch zwei grundlegende Operationen geschaffen wird: „Substitution“ und „Nomination“. Mit seinen suk‐ zessiven Avataren weist der Name des Schiffs „Adolph Woermann“ daher eine bemerkenswerte Stabilität innerhalb der wirtschaftlichen, interkulturellen und geografischen Strukturen auf, obwohl sich die jeweiligen zeitlichen Einord‐ nungen kontinuierlich ändern. Auf diese Weise wird die Kontinuität der Ge‐ schichte und der Historiografie im Roman konkret symbolisiert. Gleichsam sichtbar wird an dieser Stelle der kontinuierliche wirtschaftliche Gewinn, der aus der Kolonisierung und dem Krieg resultiert - die Kolonialkriege miteinbezogen: Durch das Monopol der Truppenbzw. Munitionstransporte er‐ zielte die Woermann-Linie während des Deutsch-Namibischen Kriegs, zum Teil auf illegale Weise, enorme Gewinne. Ein Umstand, der im Reichstag hitzige De‐ batten hervorrief, wie bei Timm in einer dokumentarischen Einlage belegt wird (Timm 2000 [1978]: 43 / 2020 [1978]: 44). Dreißig Jahre später versenkt der Ka‐ pitän der „Adolph Woermann“ sein Schiff, damit die „kriegswichtige Kupfer- und Vanadiumladung“ nicht in den Besitz der Briten gerät (Wackwitz 2003: 32). All diese raum-zeitlichen Aspekte der Figur des Schiffs verkörpern ein zentrales Leitmotiv dieser Studie: die seit Jahrhunderten ununterbrochenen, sozioökono‐ mischen und menschlich-kulturellen Verbindungen zwischen Afrika und Eu‐ ropa. 2. Im Gegensatz zur Idee der Kontinuität lautet die zweite Leitidee: Das his‐ torische Gedächtnis kann erlöschen. Sowohl die interkontinentalen Verbin‐ dungslinien wie auch die geschichtlichen Kontinuitäten können in Vergessen‐ heit geraten. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass die „Adolph Woermann“ versenkt wird. Somit geht in der Erinnerungsökonomie des Romans das kollek‐ tive Bewusstsein über die Kolonialzeit zum größten Teil verloren. Genauso be‐ zeichnend ist aber auch, dass das Schiff nicht 1918 bzw. bereits 1915 in Deutsch-Südwestafrika zusammen mit dem Kolonialreich untergeht, sondern erst 1939, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: 213 7.1 Das Schiff Im September 1939 - die deutsche Wehrmacht war gerade in Polen einmarschiert - wurde mein Vater, ein siebzehnjähriger Junge, als Passagier des Dampfers „Adolph Woermann“ mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern auf der Fahrt vom ehe‐ maligen Deutsch-Südwestafrika nach Bremerhaven vom Zweiten Weltkrieg über‐ rascht. (Wackwitz 2003: 13) Deutsch-Südwestafrika existiert zum Zeitpunkt der Abfahrt bereits seit über zwanzig Jahren nicht mehr als deutsche Kolonie, wird aber weiterhin, mit einem kleinen Eingeständnis des Verlusts, als „ehemalige[s] Deutsch-Südwestafrika“ bezeichnet. In der Tat hofften die damaligen deutschsprachigen Siedler Mitte der 1930er-Jahre auf eine Wiedereingliederung Südwestafrikas in das aufkom‐ mende Dritte Reich (ebd.: 206-7). Die Kolonie führt daher im Bewusstsein der damaligen Deutschen eine Art Schattendasein; ein Halbleben, das erst durch den Zweiten Weltkrieg vollends erlöschen sollte. Zum Teil ist das Schattendasein im Rahmen des Romans plausibel, da der Großvater als Fachmann für die Vertei‐ digung der deutschen Minderheitsidentität zuerst als Pfarrer einer deutschen Gemeinde im unabhängig gewordenen Polen der 1920er-Jahre tätig ist, bevor er Anfang der 1930er-Jahre anschließend die deutsche Gemeinde in Windhoek übernimmt: Andreas Wackwitz war seit seiner polnischen Zeit ein Auslandsdeutscher geworden. Nicht nur Abenteuerlust hat diese Berufswahl bestimmt. Ihr geheimes Motiv lag darin, dass ein evangelischer Pfarrer im polnischen Oberschlesien auch nach 1918 noch viel mehr war als der Amtsträger einer Kirchenverwaltung. Er war das eigentliche Haupt der Gemeinde, im „Volkstumskampf “ der Gegenspieler der katholischen Obrigkeit, der verachteten polnischen Nachkriegsrepublik. Der evangelische Pfarrer von Anhalt war eine Art preußischer Landrat im Widerstand gegen die Versailler Nachkriegs‐ ordnung. (Ebd.: 45; Hervorhebung im Originaltext) Wackwitz kontrastiert den Stellenwert einer Karriere in den britischen Kolonien der 1930er-Jahre mit der Situation der Deutschen in den ehemaligen Kolonien, d. h. in Kolonien, die keine mehr waren, und tut somit die Entscheidung des Großvaters für das südafrikanische Mandatsgebiets in Südwestafrika als „eine Notlösung für den volkstumspolitisch bewährten, aber in der Heimat nach seinen zwölf polnischen Jahren gar nicht mehr besonders verwendungsfähigen Vierzigjährigen“, ab (ebd.: 46). Aber genau darin liegt die textuelle Funktion der Versetzung des Auslandspfarrers: Genauso wie er das untergegangene Kaiser‐ reich im polnischen Oberschlesien schattenhaft aufrechterhalten hat, erhält er nun die vergangene deutsche Kolonialzeit schattenhaft aufrecht - bis zum Au‐ genblick seines Weggangs und des Untergangs des Dampfers „Adolph Woer‐ mann“. 214 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land Der Untergang der „Adolph Woermann“ avanciert zur Leitmetapher für sämtliche Vergangenheitsverluste; für alles, was im „Ozean der Zeit“ (ebd.: 86) versinkt: Immer wieder hieß es bei uns zu Hause auch, dies oder jenes Möbelstück oder Buch, von dem mein Großvater, ein Onkel oder eine Tante sich in einem Moment der Ge‐ dankenlosigkeit fragten, wo es eigentlich geblieben sein könnte, sei ja „mit unterge‐ gangen“. Es war, als lebten die Erwachsenen in solchen unbedachten Augenblicken insgeheim auf dem Meeresgrund. (Ebd.: 28) Die Textstelle ist aufschlussreich: Zunächst sind verlorene Objekte „unterge‐ gangen“, daraufhin geht aber die gesamte soziale Umgebung mit ihnen unter. Damit gemeint ist das Sich-Festklammern der Erwachsenen, vor allem des Großvaters, an einer deutschnationalen Weltordnung, die „ihm im Laufe des Jahrhunderts verloren gegangen ist“ (ebd.: 116; vgl. auch 40, 44, 113, 157). Diese Vergangenheit ist völlig abgekapselt und zieht sogar die Bewohner der Gegen‐ wart in den Bann, so dass sie ein „Hinausgleiten […] aus der Zukunft [des] Landes“ erleben (ebd.: 163). Die Vergangenheit vereinnahmt die Gegenwart und sogar die Zukunft in einer Figur der Zwangswiederholung (vgl. Freud 1999: X, 125-36), die immer wieder im Roman erwähnt wird: Mein Vater und ich, so wenig wir gewollt und geplant haben, scheinen nach dem Schiffbruch der „Adolph Woermann“ im südatlantischen Ozean auf unsere Weise und in unserer Zeit nicht viel anderes und Selbstständigeres getan zu haben, als das Leben meines Großvaters fortzusetzen […] (Wackwitz 2003: 272). Das Schiff zieht alles mit sich nach unten, immer wieder und ad infinitum. Pa‐ radox an dieser Idee ist, dass die Vergangenheit sich immer wieder als vergangen behaupten muss. Das Ende nimmt sozusagen kein Ende. Der Untergang eines Schiffs nicht sein Untergang, sondern eine Form des Überlebens. Aus diesem Grund ist das Schiff auch als Wrack als Figur der unwiederholbaren Vergan‐ genheit ungeeignet, da das Schiff, wie uns die erste Leitidee dieses Kapitels sagt, der Grenzüberschreitung von Raum und Zeit dient. In der Figur des Schiffs werden die Grenzen zwischen Heimat und Fremde, Metropole und Kolonie, Vergangenheit und Gegenwart nie ganz abgeriegelt. Daher kommen an vielen Stellen des Romans die Kolonialvergangenheit und die damit zusammenhän‐ genden Kulturverflechtungen im Fahrwasser des Schiffs zum Vorschein und mit ihnen die Frage, wie man damit in der Gegenwart umgehen soll. 3. Die dritte Idee gibt auf diese Frage eine denkbar ambivalente Antwort. Wie bereits oben angedeutet, geht der Roman auf zwei Ebenen vor: Einerseits wird am Vergangenen einiges wieder zugänglich gemacht, andere Aspekte der Ver‐ 215 7.1 Das Schiff gangenheit werden jedoch umso strenger abgeriegelt. Dies lässt sich auch am Beispiel des Schiffs zeigen. Der Text bietet eine weitere maritime Denkfigur für den Zugang zur Vergangenheit. Diese Denkfigur ist nicht die der Schifffahrt oder des Untergangs, sondern die der Rekonstruktion. Hier stellt das Schiff eine differenzierte Beziehung zur Vergangenheit her. Am Ende von Wackwitz’ Roman erscheint das Schiff in Form eines rekonstruierten Modells der Kom‐ mandobrücke im Deutschen Museum in München (vgl. Deutsches Museum 2019), die der Erzähler mit seinem Sohn besucht: Ich denke daran, dass ich die rekonstruierte Kommandobrücke dieses gesunkenen Passagierdampfers neulich gesehen habe, als ich mit meinem Sohn und seinem Freund im Deutschen Museum gewesen bin; und wie die beiden Jungen gar nicht verstehen konnten, warum mich das noch den ganzen folgenden Nachmittag beschäftigt hat (neulich habe ich sogar geträumt von der holzgetäfelten Pilotenkanzel, vor der die Museumsgestalter ein gemaltes und grell beleuchtetes Panoramagemälde des Ham‐ burger Hafens arrangiert haben, so dass sich die heutigen Museumsbesucher, die Hände auf dem Steuerrad, fühlen können wie Kapitän Burfeind vor der Ausfahrt nach Deutsch-Südwest). (Wackwitz 2003: 273-4) Die Rekonstruktion umfasst lediglich die Kommandobrücke und bezieht sich daher, psychoanalytisch gedeutet, auf das Bewusste, nicht auf das Unbewusste. Auf diese Weise wird angedeutet, dass es vor allem um kognitive Prozesse geht, auch wenn eine solche Rekonstruktion eine große Schnittmenge mit affektbe‐ ladenen „re-enactments“ hat. Mit dem drehbaren Steuerrad und dem Diorama des Hamburger Hafens bietet das Modell genau den „effet de réel“ (Barthes 1982), den der literarische Text, allen voran die Autobiografie mit ihrer auf dem Leser-Pakt basierenden Deckung von historischer Person, textuellem Erzähler und echtem Autor (Lejeune 1975), auch suggeriert. Postkarten der rekonstru‐ ierten Kommandobrücke verdoppeln diesen „effet de réel“ fotografisch und ver‐ wandeln diesen wieder in eine textuelle Form (vgl. Deutsches Museum 1993). Die Rekonstruktion bietet aber Platz für andere, spielerische, performative, auch affektbezogene - „gefühlsbasierte“ - Zugänge zur Vergangenheit (vgl. hierzu Agnew 2007). Dementsprechend wird der nüchterne Bericht über den Besuch im Museum durch die Schilderung eines Traums unterbrochen. Der Traumbe‐ richt wird vorsichtshalber in Klammern gestellt, um seine Irrealität zu unter‐ streichen und Echtzeit und Traumzeit voneinander klar zu trennen. Paradoxer‐ weise wird aber erst während des Traumberichts eine etwas konkretere Beschreibung der Rekonstruktion geliefert, die dann wiederum eine affektive Verbindung zur Vergangenheit („sich […] fühlen […] wie“) ermöglicht. Mit der Schließung der Klammern wird der Traum abgeschlossen und der affektive Zu‐ 216 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land gang, der kurz zum Vorschein gekommen ist, wieder gekappt. Die Rekonstruk‐ tion ist gleichzeitig Teil der heutigen Realität, wird aber von ihr als Exponat eines Museums abgesondert. Sie entspricht daher einer Foucault’schen „Hete‐ rotopie“ (Foucault 2005). Die Rekonstruktion funktioniert wie ein Spiel; d. h. sie ist nicht Teil der Realität, auch wenn sie die Realität imitiert und ihr innewohnt (Bateson 1974: 177-93). Die rekonstruierte Kommandobrücke bietet trotzdem eine Möglichkeit, mindestens ansatzweise einen erfahrungsbasierten und af‐ fektbezogenen Zugang zur Vergangenheit zu erlangen. Das ganze Konstrukt ist aber extrem ambivalent. Realität und Traum, Teil und Ganzes sind zwar miteinander verschränkt, grenzen sich jedoch auch ge‐ genseitig ab. Die Kommandobrücke ist nur ein Teil des Ganzen. Sie bietet die konkrete Erfahrung einer nachgebauten Realität, ohne dass auf das Ganze ein‐ gegangen wird. Südwestafrika, die koloniale Unterdrückung sowie die kriegs‐ wirtschaftlich wichtige Beladung des Schiffs bleiben unsichtbar. Die Komman‐ dobrücke ist eine Synekdoche, die gleichzeitig über die Operation des Pars pro Toto den Bezug zum Ganzen zwar suggeriert, ihn faktisch gesehen jedoch vor‐ enthält. Dementsprechend bleibt die affektive Beziehung zur Vergangenheit letzten Endes auf den begrenzten Raum des Steuerhauses reduziert, ohne dass ein Kontakt zur Realität des außermusealen Alltags hergestellt wird. Es ist nicht zuletzt bezeichnend, dass die Kommandobrücke nachgebaut wird, so dass le‐ diglich die intellektuellen bzw. rationalen Steuerungsmechanismen des Schiffs in den Vordergrund gestellt werden. Das Unbewusste bzw. das Affektive wird hier außer Acht gelassen: Das Zwischendeck eines Auswandererschiffs - aller‐ dings nicht das der „Adolph Woermann“ -, das auch im Deutschen Museum zu sehen ist, findet hier keine Erwähnung. Das originalgetreu nachgebaute Modell der Kommandobrücke stellt im End‐ effekt ein textinternes Modell des Romans dar. Es ist ein Ort, an dem eine in‐ tergenerationelle Geschichte stattfindet. Ein Vater, d. h. der Erzähler, und sein Sohn stehen auf einem Modellschiff bzw. auf einem Teil davon, auf dessen Vor‐ gänger der Großvater Andreas und sein Sohn Gustav, dem Vater des Erzählers, gefahren sind. Getrennt sind die beiden Schiffserfahrungen durch die Zäsur des Schiffsbruchs. Das Modell der Kommandobrücke rettet die Realität des Schiffs über die Zäsur des Untergangs mit Hilfe eines auf Fakten basierenden „effet de réel“ samt vordergründigen „Geschichtsaffekten“ hinweg, kann dies aber nur auf Kosten einer wahren, kausal-affektiven Verbindung zur Gegenwart bewerk‐ stelligen. Insofern ist zu fragen, ob das Modell wirklich in der Lage ist, eine neue, gegenwartsbezogene Verbindung zur Vergangenheit herzustellen, oder ob nicht vielmehr die konkrete Realität des Modells den authentisch affektiven Umgang mit der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit blockiert. Insofern ist es durchaus 217 7.1 Das Schiff plausibel, dass Wackwitz’ Roman die gleichen Strukturen in dem Moment rep‐ liziert, als er sie beschreibt. Tatsächlich ist die Wiederholung halb bewusst, da sie besprochen werden kann. Aufgearbeitet wird sie jedoch nicht, da der Text die gleichen Strukturen in seinem Aufbau und seiner Vorgehensweise wieder inszeniert. Die geeignetste Figur für eine derartige paradoxe Konfiguration bietet der Freud’sche Terminus der „Verneinung“: Ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann also zum Bewußtsein durch‐ dringen, unter der Bedingung, daß er sich verneinen läßt. Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Aufhebung der Ver‐ drängung, aber freilich keine Annahme des Verdrängten. Man sieht, wie sich hier die intellektuelle Funktion vom affektiven Vorgang scheidet. Mit Hilfe des Verneinungs‐ vorgangs wird nur die eine Folge des Verdrängungsvorgangs rückgängig gemacht, daß dessen Vorstellungsinhalt nicht zum Bewußtsein gelangt. Es resultiert daraus eine Art von intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung. (Freud 1999, XIV: 12; Hervorhebung im Originaltext) In der ambivalenten Konfiguration der Verneinung wird das Faktum zugelassen, die affektive Verbindung wird jedoch umso stärker gekappt: „Man sieht, wie sich hier die intellektuelle Funktion vom affektiven Vorgang scheidet“. Diese Kon‐ figuration ist insofern von Bedeutung, als dass sie nicht nur die grundlegende Struktur von Wackwitz’ Roman beschreibt, sondern die allgemeine Lage der Öffentlichkeit in Deutschland ab 2000 modellhaft und strukturell abbildet. Die Verdrängung als solche wird zur Kenntnis genommen, indem beispielsweise der Hererobzw. Nama-Völkermord anerkannt wird. Die affektive Verbindung zur afrikanischen Gegenwart, die eine Transformation der Taten und der politischen Kurse verlangen würde, bleibt jedoch weitgehend ausgeschaltet. Das Motiv des Schiffs und dessen Rekonstruktion umfasst in Wackwitz’ Text nicht nur den Verlust der Vergangenheit und das Ausradieren der kulturellen Verbindungen zwischen Europa und Afrika, sondern auch ihre Teilrückkehr unter streng kon‐ trollierten Bedingungen. Letztere untersagen wiederum die Wiederaufnahme der historisch seit jeher bestehenden affektiven Verbindungen zwischen den Kontinenten und Kulturen. Im vorliegenden Kapitel wird die Figur der Verneinung verwendet, um die Grundstrukturen von Wackwitz’ Roman freizulegen. Die Anwendung der Freud’schen Analyse erfolgt nicht aus rein textanalytischer Willkür, sondern aus dem einfachen Grund, dass Wackwitz’ Text diesen psycho- und textanaly‐ tischen Ansatz selbst immer wieder im Umgang mit dem Text des Großvaters verwendet. Die Freud’schen Theorien werden an mehreren Stellen explizit er‐ 218 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land wähnt (Wackwitz 2003: 219, 230, 257). Der Text wird symptomhaft als Ort der psychischen Undurchdringbarkeit betrachtet. So betont der Erzähler beispiels‐ weise: „Die Konstruktion [der Episode] des Angstanfalls, den mein Großvater vor dem Altar der Kirche in Antonienhütte erlitt, ist verzwickter, als er sich selbst zu denken je erlaubt hätte“ (ebd.: 166). Dasselbe könnte man im Allge‐ meinen Wackwitz’ „Familienroman“ und dessen Erzähler vorhalten. In der vor‐ liegenden Lektüre wird dementsprechend nichts anderes vorgenommen als eine weitere text-(psycho-)analytische „Durchdrehung“ der (Freud’schen) „Schraube“. 7.2 Ein unsichtbares Land Bezeichnend ist, dass der Roman nicht mit der Rahmenfigur des Schiffs, sondern mit dem Motiv des Ortes Auschwitz anfängt. Somit steht nicht nur die gekappte Beziehung zur Kolonialvergangenheit im Mittelpunkt des Romans, sondern auch das europäische Pendant zum Hererobzw. Nama-Völkermord. Der Groß‐ vater war bis 1933 Pfarrer im schlesischen Anhalt (heute Hołdunów), kaum zehn Kilometer entfernt von Oświęcim / Auschwitz, wo ein halbes Jahrzehnt später ein Konzentrationslager eröffnet wurde. Der Erzähler vermutet: Mein Großvater, so scheint es, hat mit seinen Anhalter Erinnerungen ein literarisches Gegenbild zu jenen entsetzlichen Frankfurter Augenzeugenberichten [während der von Fritz Bauer geleiteten Frankfurter Auschwitz-Prozessen] schreiben wollen. Es ist, als habe er sich und uns, dem hessischen Oberstaatsanwalt Fritz Bauer zum Trotz, seine eigenen Erinnerungen an diese Landschaft vor Augen führen wollen. Aber je sorgfältiger er seine schriftstellerischen Mittel aufwendet und in die Waagschale wirft, desto dunkler vertieft sich ihr melancholischer Unterton und desto deutlicher treten, wenn man genau hinsieht, die Bilder des Todes aus der elysischen Gegend seiner Erinnerungen hervor. (Wackwitz 2003: 144) Die Melancholie, so Freud, entsteht aus einer unabgeschlossenen Trauerarbeit, in der sich das Subjekt nicht von dem verlorenen Ideal trennen kann und sich stattdessen an der Abwesenheit des Ideals festklammert (Freud 1999, X: 427-46). Die literarische Beschreibung solcher Zustände stiftet hier wenig Trost und bietet kein Mittel, um das Verlorene festzuhalten, da das Zeichen, wie Lacan in seiner dem Poststrukturalismus angehörigen Theorie des Zeichens aufzeigt, immer eher auf die Abwesenheit des Objekts hinweist und diese verfestigt, als dass es das Objekt erfasst oder vergegenwärtigt. Der „melancholische[] Un‐ terton“ entsteht im großväterlichen Text aus der Unmöglichkeit, in Anbetracht 219 7.2 Ein unsichtbares Land des Grauens von Auschwitz die frühere Anhalt’sche Idylle zurückzuholen. Diese Unmöglichkeit ist auch im Wesen des Zeichens selbst verankert und wird durch die besondere Konfiguration Anhalt / Auschwitz verstärkt. Wir können diese Freud’sche bzw. Lacan’sche Lektüre des großväterlichen Texts aber auch wei‐ terführen und auf die Rahmenhandlung (d. h. auf den quasi-autobiografischen Bericht des autodiegetischen Erzählers) anwenden: Obwohl uns der Erzähler immer wieder versichert, dass sein Vater und er als Enkel unfreiwillig in die Fußstapfen des Großvaters getreten sind, tappt der Erzähler in die gleiche se‐ miotisch-melancholische Falle. Die Auseinandersetzung zwischen der kollek‐ tiven Erinnerung an Auschwitz und der persönlichen Erinnerung an Anhalt könnte man streng genommen nicht so sehr als Gegensatz interpretieren, son‐ dern als - freilich spannungsgeladene - Einheit, und daher als „ein literarisches Gegenbild zu jenen entsetzlichen […] Augenzeugenberichten“ über die Koloni‐ alzeit in Südwestafrika. Diese „entsetzlichen Augenzeugenberichte[]“ werden zwar als Fakt registriert, aber als affektiver Schock nicht angenommen. Um es sehr zugespitzt und vereinfacht auszudrücken, spielt das Buch den Holocaust gegen den Hererobzw. Nama-Genozid aus, so wie der Großvater versucht, Anhalt gegen Auschwitz auszuspielen. Das heißt aber nicht, dass diese Unfä‐ higkeit, sich genuin mit der Kolonialvergangenheit auseinanderzusetzen, dem Schriftsteller Wackwitz, der nicht mit dem autodiegetischen Erzähler des Texts zu verwechseln ist, zur Last gelegt werden soll. Vielmehr ist der Text als Symptom einer allgemeinen gesellschaftlichen Unfähigkeit oder eines kollek‐ tiven Widerwillens seitens der deutschen Nation von heute zu sehen, mit der zunehmend aufkommenden afrikanischen Präsenz nicht nur global, sondern auch hierzulande umzugehen (vgl. Obute 2019). Dieser Sachverhalt findet sich einige Seiten später noch klarer artikuliert: Aber erst heute ist mir klar, wie merkwürdig und eigentlich haarsträubend es ist, dass meine Großmutter kein einziges Mal erwähnt hat, was in dieser Landschaft zehn Jahre später passiert war - so wenig wie es 1964 und 1965 in der Erzählung meines Groß‐ vaters anders als mit diesem unterschwelligen Totenton anklingt. Das schwarze Loch in der Geschichte des Jahrhunderts hatte zu Beginn der sechziger Jahre die geogra‐ phische Lage des Ortes in sich hineingerissen und zugleich war in die Gespräche un‐ serer Familie ein kleines, bedeutsames Schweigen eingeschleppt worden. (Wackwitz 2003: 148) Mit dem „schwarze[n] Loch in der Geschichte des Jahrhunderts“ ist natürlich der Holocaust gemeint. Oder sind damit auch, in einer sehr viel allgemeineren Weise, die Genozide miteinbezogen, die zwischen 1900 und 1999 in Südwestaf‐ rika, Armenien und Ruanda stattfanden - wobei es auch Fälle gibt, wie etwa in 220 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land der Ukraine, über deren Status noch gestritten wird? Die Tatsache, dass man nach diesen fragen muss, zeigt, in welchem Ausmaß das schwarze Loch des Holocausts dazu neigt, auch andere Genozide und die Orte, an denen sie statt‐ gefunden haben, „in sich hineinzureißen“. Diese Tendenz lässt sich auch in Wackwitz’ Text erkennen. Genauso wie sich das Schweigen über Auschwitz in der Familie zunehmend breit macht, je weiter die Aufklärung über den Holo‐ caust voranschreitet, macht sich auch im Text ein Halbschweigen über einen anderen, früheren Genozid breit - nämlich über das „schwarze[] Loch“ des Völ‐ kermords an den afrikanischen Hererobzw. Nama-Völkern Deutsch-Südwestafrikas, der in der Echtzeit um das Jahr 2000 auch in der allgemeinen Öffent‐ lichkeit bekannt wird. Eine neue, „ent-kontextualisierte“ Lektüre dieser Text‐ stelle ist in diesem Hinblick aufschlussreich: Je deutlicher der Gesellschaft um uns wurde, auf welches Ereignis sich dieses Schweigen bezog, desto umfassender hat es sich unter uns ausgebreitet, desto mehr Themen und Gegenstände, Personen und Orte wurden von ihm erfasst - bis wir of‐ fenbar nur unter Einhaltung strenger Regeln, Sicherheitsabstände und Rituale über‐ haupt über etwas reden konnten. Um jenes „Anhalt“ aber, wo mein Vater auf die Welt gekommen war […], war unterdessen die geographische Unbestimmtheit, die um die östlichen Grenzen unseres Lands überhaupt herrschte, zu einem vollends nicht mehr durchschaubaren Nebel verdichtet. Als ich älter wurde, stellte ich mir vor, dass mein Vater aus Thüringen stammen könnte, wo es eine Gegend dieses Namens zu geben schien, und im Übrigen vergaß ich das Thema und fand mich damit ab, dass er aus einem kleinen Dorf in einem unsichtbaren Land stammte. (Ebd.: 148) Das unsichtbare Land umfasst tatsächlich nicht nur die verlorene, vergessene und verdrängte Gegend um das Auschwitz der erzählten Vergangenheit, son‐ dern auch, eben weil sie unsichtbar, unbestimmt und nebelig bleibt, die verlo‐ renen, vergessenen, verdrängten „Killing Fields“ der Omaheke-Wüste. Das im obigen Zitat erwähnte, thematisierte Bewusstsein über Auschwitz in den 1970er-Jahren kann mit dem langsam wachsenden Bewusstsein über den Ge‐ nozid in Südwestafrika in der deutschen Öffentlichkeit verglichen werden. Dies Bewusstsein entsteht durch geschichtswissenschaftliche Arbeiten der siebziger Jahre und nimmt vom Jahr 2000 an stetig zu. Höhepunkte gab es in den Jahren 2004 bis 2007, als sich der Genozid zum hundertsten Mal jährte und im Jahr 2019, als die Bibel und die Peitsche Hendrik Witboois’ zurückgegeben wurde. Der Roman hat aber, wie die Familie Wackwitz in den Nachkriegsjahren, gewisse Schwierigkeiten, mit diesem Bewusstsein umzugehen. Es ist sicherlich nicht so, als würde Wackwitz’ Roman die Gräueltaten des kolonialen Deutsch-Südwestafrikas verschweigen. Wackwitz erwähnt den Ge‐ 221 7.2 Ein unsichtbares Land nozid an den Herero bzw. den Nama durchaus. Dies tut er in aller Deutlichkeit in einer Episode, in der der Großvater im Mandatsgebiet Südwestafrika als Pfarrer tätig ist. Während eines Besuchs des deutschen Soldatenfriedhofs am Fuße des Waterbergs, möchte dieser nun seinem Herero-Diener einen „dummen, grausamen und ziemlich gefährlichen Streich spielen“ (ebd.: 215): So hat er vor, eine halbtote Kobra-Schlange auf den Autositz des Herero-Jungen zu legen, um diesem einen Schreck einzujagen (ebd.: 218, 215). Der Ort dieser Demütigung ist natürlich alles anderes als ein Zufall: „[D]ie Söhne der wilhelminischen Völ‐ kermörder, die den toten Peinigern der großen schwarzen Häuptlinge und Krieger […] am Waterberg ihre Reverenz erweisen wollen“ (ebd.: 219), tun dies am historischen Ort der Schlacht von 1904, die zwar keinen entscheidenden Sieg mit sich brachte, jedoch die verhängnisvolle Flucht in die Omaheke-Wüste ein‐ leitete: Denn man muss sich klar machen, dass dieser Mann zu den letzten Angehörigen eines großen, selbstbewussten und berühmten Kriegervolkes gehörte, das dreißig Jahre zuvor von den deutschen Schutztruppen in dem einzigen Krieg, den das wilhelmini‐ sche Deutschland vor 1914 geführt hat, nicht nur an ebendem Waterberg, wo der Ingenieur Gerhard und mein Großvater die deutschen Kriegsgräber besichtigen wollten, militärisch vernichtend geschlagen wurde, sondern anschließend mitsamt Frauen und Kinder, wohl 80.000 Menschen, in die wasserlose und absehbar den Tod bringende Omaheke-Wüste getrieben worden ist, wo fast alle Hereros nach wochen‐ langem Umherirren elend zugrunde gegangen sind - einer der Late Victorian Holo‐ causts, der zum Bild des europäischen Kolonialismus ebenso gehört wie der Völker‐ mord im belgisch beherrschten Kongo, den Joseph Conrad in seiner Novelle The Heart of Darkness beschrieben hat. (Ebd.: 218-9) Bezeichnend ist, dass die zwei Weißen dem Herero-Jungen lediglich einen „dummen, grausamen und ziemlich gefährlichen Streich spielen wollen“ (ebd.: 218). Die Schlange ist zwar symbolträchtig („die Kobra am Waterberg [ist] nicht einfach eine Schlange“ [ebd.: 220]), aber der Text suggeriert keine weiteren ernstzunehmenden Verbindungen mit dem Genozid mit Ausnahme einiger vi‐ sueller Andeutungen: Genau über diesen Zeilen zeigt ein Foto, wie der Groß‐ vater in Jägerpose mit Gewehr neben einem toten Büffel und dem deutlich klei‐ neren Herero-Jungen posiert. Die Verbindung zu den „Late Victorian Holocausts“ (die Redewendung stammt von Davis [2001]), zum „Völkermord“ und zum „Genozid“ (ebd.: 219, 222) wird zwar an drei verschiedenen Stellen wortwörtlich erwähnt, aber die „manchmal fast unzählig zahlreich scheinenden Bedeutungen der großväterlichen Schlangengeschichte“, die den Erzähler zehn Seiten lang beschäftigen, weisen darauf hin, dass „die einzig greifbare Pointe 222 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land seiner Schlangengeschichte“ (ebd.: 217) ganz woanders liegt. Obwohl die Schlange vorher als phallisches Kolonialsymbol gedeutet worden ist, weicht diese Auslegung am Ende des Kapitels einer anderen: Die Schlange ist „das Be‐ deutendste christliche Symbol für den Teufel und das Böse“ (ebd.: 221-2). Somit kann der Erzähler in einem langen, verschachtelten Satz zu folgendem Fazit kommen: Denn so klar es mir beim Lesen und Nachdenken ist, dass mein Großvater selbst das besiegte und unterschwellig doch noch rumorende Böse, wenn er so etwas je ausge‐ sprochen oder auch nur gedacht hätte, in den seiner Ansicht ganz zu recht dem Ge‐ nozid überantworteten Hereros und in den tückischen, aufständischen Geistern ihres trockenen, feindseligen und unheimlichen Landes gesehen haben würde, so unzwei‐ felhaft weiß sein Enkel im Jahr 2001, dass das Böse […], dessen unverstellter Realität und Konsequenz er sein Leben lang immer wieder um Haaresbreite entgangen ist, in Wirklichkeit zu Hause auf ihn gewartet hat. Es ist ihm nicht in Afrika begegnet, son‐ dern in seinem eigenen Land, in das er 1940 zurückgekehrt ist (ebd.: 222). Mit anderen Worten: Der Völkermord an den Herero ist nicht das Böse des Jahrhunderts par excellence, sondern diese Stellung kann nur dem Holocaust zukommen. Dies ist eine bekannte und nicht ganz triviale Ansicht, die bei‐ spielsweise Ruprecht Polenz gegenüber den heutigen Herero vertritt (siehe Ka‐ pitel 3), aber sie bewirkt an der zitierten Stelle, dass der Genozid der Herero nicht nur verdrängt, sondern verneint wird. So zentral die Schlangengeschichte in Wackwitz’ Familienroman sein mag, ist sie keineswegs der einzige Beleg für die allgegenwärtige Wirkung dieses psycho-textuellen Verfahrens. Es ist bemerkenswert, welche Querverbindung das Buch, ist es doch im Übrigen so erfindungsreich darin, „unterirdische[] Zu‐ sammentreffen“ auszugraben (ebd.: 50), zu bestimmten Zeitpunkten übersieht. Beispielsweise als sich der Großvater nach einer USA -Reise ausführlich über den vermeintlich korrumpierenden Einfluss des „Negers“ auf die amerikanische Gesellschaft in einer Schrift auslässt (ebd.: 159-62), die wichtig genug ist, um später als „Neger-Unsinn“ wiederaufzutauchen (ebd.: 171), wird eine eventuelle Verbindung zu dem in Südwestafrika herrschenden Rassismus, der sowohl unter den deutschen als auch den britisch-südafrikanischen Regierungen weit ver‐ breitet war, nicht hergestellt. Dies ist bemerkenswert für ein Buch, das sich mit „eine[r] Art deutsch [zu] sein“ auseinandersetzt, die darin besteht - mit ver‐ hängnisvollen und grausamen Resultaten für das 20. Jahrhundert - „tief, ernst, protestantisch, tapfer, kindlich, unüberwindlich, eine feste Burg und voll‐ kommen anders als Franzosen, Engländer und Neger“ zu sein (ebd.: 174). 223 7.2 Ein unsichtbares Land Diese Neigung, Verbindungen nicht herzustellen, ist nicht nur in dem Schreib‐ stil des Großvaters allgegenwärtig, sondern scheint ein Grundmuster der ei‐ genen Geschichtserfahrung zu sein: Die seltsame Begabung Andreas Wackwitz’ […] an verschiedenen historisch bedeut‐ samen Orten des letzten Jahrhunderts und während verschiedener historisch bedeut‐ samer Augenblicke seiner Zeit im Hintergrund irgendwie aufzutauchen und anwe‐ send zu sein - ohne dass er sich in diese Momente und Orte wirklich verwickelt, ohne dass sein Auftauchen gerade zu dieser Zeit an diesem Ort irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte oder ihm selbst die Merkwürdigkeit des Ganzen zum Bewusstsein ge‐ kommen wäre. (Ebd.: 47) Der Erzähler zieht daraus die folgende Schlussfolgerung: „Auf diese Weise habe ich inzwischen auf eine nicht ganz geheure Weise ein familiäres Verhältnis zu einigen zentralen Ereignissen des letzten Jahrhunderts gewonnen“ (ebd.: 47). Das Umgekehrte ist aber der Fall: Diese metonymische Beziehung zur Ge‐ schichte, fast, aber nicht ganz, an historischen Orten aufzutauchen und somit kein richtiges „Verhältnis“ zu diesen Orten zu haben, ist das Pendant zur Figur der Verneinung, bei der die verschwundene Vergangenheit als Faktum ange‐ nommen, nicht aber in ihrer Gegenwärtigkeit oder in ihrer kausal-affektiven Präsenz akzeptiert wird. Nur so wird die Rückkopplung an die eigene Geschichte und somit den Text selbst hergestellt: Genauso wie der Großvater, der zwar immer wieder dabei war, aber auf die ein oder andere Weise daneben oder au‐ ßerhalb stand, sieht sich auch der Enkel-Erzähler immer irgendwie durch eine Art ungewollte generationelle Verbindung miteinbezogen, ohne dass klar wird, welche horizontalen Beziehungen damit verflochten sind. Vor allem die Ver‐ bindung zu Afrika wird zur Kenntnis genommen, gleichzeitig aber als nicht weiter relevant behandelt. Symptomatisch dafür ist das Unwissen des Erzählers über die Kongo-Krise von 1960 bis 1961 und deren Hauptprotagonist Lumumba, den er als „Partisanenführer“ beschreibt: „[I]ch wusste damals bestimmt nicht und weiß heute noch nicht so recht, wer Lumumba eigentlich war“ (ebd.: 88-9). So erbt der Enkel-Erzähler vom Großvater anscheinend eine Begabung, metonymische Beziehungen zur Geopolitik der Gegenwart einzunehmen: Auch dass es ihn [den Großvater] in seiner deutsch-südwestafrikanischen Zeit aus‐ gerechnet an einen so prominenten Brennpunkt der Kämpfe und Phantasien meiner Generation verschlug (in die „Dritte Welt“ des sich auflösenden Kolonialismus), könnte unter Gesichtspunkten der Wahrscheinlichkeit noch angehen. Die Umstände seiner Rückkehr nach Deutschland jedoch haben mir […] mehr zu denken gegeben, als vielleicht gut ist, und rücken mir meinen Großvater inzwischen in das geister‐ haft-bedeutungsvolle Licht, das nicht im wirklichen Leben herrschen sollte, sondern 224 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land eigentlich und legitimerweise nur in den Gegenden und Zeiträumen eines Romans. (Ebd.: 49) Bezeichnenderweise wird hier die „Dritte Welt“ gerade deshalb zum halblegi‐ timen Verknüpfungspunkt, weil sie eine Kontaktzone darstellte, die inzwischen nicht mehr existent ist und daher das Deutschland von heute nicht allzu sehr berührt. Menzel (1992) erklärt „das Ende der Dritten Welt“ und zugleich „das Scheitern der großen Theorie“ Anfang der 1990er-Jahre im Einklang mit Fu‐ kuyamas „Ende der Geschichte“ (1989). Wackwitz revidiert an mehreren Stellen seine damalige Mitgliedschaft in der linksradikalen Studentenbewegung (ebd.: 58, 172), so dass die Ablehnung der ,Dritte-Welt-Bewegung‘ auch nicht allzu sehr überrascht. Da die Verbindung zu einem angeblich „imaginären“ Afrika als „Phantasie“ und infolgedessen als kein Faktum der Geschichtsschreibung gilt, kann es im Buch zugelassen werden. Anders sieht es aber aus, sobald es um die Rückkehr nach Europa geht: Auch wenn ein Leopardenfell und ein Busch‐ mann-Bogen (ebd.: 51) als erstarrte Relikte aus vergangenen Zeiten relativ harmlos wirken, muten die wirklichkeitsrelevanten Verbindungen zwischen Afrika und Europa unheimlich und halb bedrohlich an. Wackwitz’ Text wiederholt immer wieder solche Muster, wodurch die Ver‐ bindung zu Afrika gleichzeitig angedeutet und verdrängt wird: Das Geheimnis meiner eigenen Zukunftslosigkeit zu Beginn der siebziger Jahre jedoch scheint mir heute, nachdem ich so lange über die Zukunftslosigkeit meines Großvaters nachgedacht habe, nicht in der südafrikanischen Wüste Namib verborgen zu liegen, sondern[,] [um dieses zu lüften,] würde [ich] mich auch in die Geschichte des [Ersten] Weltkrieges verlieren müssen […]. (Ebd.: 59) Im Zentrum der Diagnose steht daher eine Erzählung über den Verlust von deutschnationalen Träumen, die sich bis zum Philosophen Fichte hin zurück‐ verfolgen lassen (Wackwitz 2003: 170-3). Deren endgültige Krise setzt laut Wackwitz’ kulturgeschichtlicher Auslegung 1918 ein, und wird erst mit der Wiederherstellung der liberal-aufgeklärten Berliner Republik 1990 abge‐ schlossen: Der erste Weltkrieg ist 1918 überhaupt nicht zu Ende gegangen; er ging weiter bis 1989, und in gewisser Weise hat nicht nur mein Vater, sondern auch ich in ihm wei‐ tergekämpft und erst in den letzten fünfzehn Jahren des Jahrhunderts aus ihm he‐ rausgefunden (ebd.: 133). Der Roman behauptet, dass der Nationalismus des Großvaters, dem er lebens‐ lang verhaftet war, im Ersten Weltkrieg entstanden sei. Wie viele seiner Gene‐ ration hätte er sein ganzes Leben lang versucht, den nach dem Ersten Weltkrieg 225 7.2 Ein unsichtbares Land immer weiter schwindenden Traum eines mächtigen Großdeutschlands auf‐ rechtzuerhalten. Erst 1989 / 90, mit der Wiederherstellung eines vereinten Deutschlands, wenn auch nicht eines „Großdeutschlands“, so die These des Buchs, sei dieser Traum endgültig aufgegeben worden. Was am Rande des Ro‐ mans schattenhaft bleibt und nie ganz sichtbar wird, ist die Tatsache, dass jenes fantasierte Großdeutschland immer eine koloniale Komponente beinhaltete, die unter anderem vor allem in der Nazizeit große Bedeutung erlangte. Der Verlust des europäischen Großdeutschlands 1918 ging selbstredend mit dem Verlust eines noch größeren deutschen Weltreichs einher. Das ist die wahre Bedeutung des Titels, die der Roman selbst nur bedingt einräumen kann: [N]icht nur weil das frühere Leben meiner Eltern in einer Zeit tief unter dem Meer oder unterm Schutt der zerstörten Städte lag, ist das Land, in dem ich aufgewachsen bin, mir als Kind oft geisterhaft vorgekommen. Kinder wollen zum Beispiel zuverlässig wissen und in der Schule lernen, wie groß ihr Land ist. Unseres aber schien keine ordentlichen Grenzen zu haben wie andere Länder. Es endete an gepunkteten, merk‐ würdig unzurechnungsfähigen Linien, in Landstrichen, wohin man nicht fahren konnte und von denen niemand eine Vorstellung hatte […]. (Ebd.: 28-9) Gemeint sind in erster Linie all die Bereiche, die seit 1945 zur Sowjetunion oder zu Polen gehören und die als Teile eines ehemaligen Großdeutschlands nur noch als das „unsichtbare Land“ des Buchtitels im Gedächtnis des Großvaters und seiner Generation fortbestehen. Nicht gemeint, aber trotzdem „geisterhaft“ an‐ gedeutet, sind andere Bereiche des ehemaligen deutschen Reichs: Nicht das Reich in seiner Ausdehnung in den 1930er oder 1940er-Jahren, sondern das bis 1918 bestehende Weltreich samt seiner Kolonien - eine Ausdehnung, die bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren eine nicht mehr politische, wohl aber „geis‐ terhafte“ Existenz im Geist der im Mandatsgebiet Südwestafrika gebliebenen deutschsprachigen Siedler bildete. Dieses „unsichtbare[] Land“ wird zum einen durch die Metapher des Schiffs angedeutet, das „tief unter dem Meer“ liegt, und ist zum anderen in einem noch größeren Ausmaß „unterm Schutt der zerstörten Städte“ und der alles andere überschattenden Geschichte des Holocausts be‐ graben. Vor seinem Untergang jedoch fungierte das Schiff als eine Metonymie für die Kolonien, zu denen es Zugang verschaffte: Das Schiff war eine bewegbare Brücke zwischen den weit auseinanderliegenden Teilen eines Weltdeutschlands. Nun ist im Text die Metonymie zur Metapher geworden, eine rhetorische Figur, in der ein Teil durch einen anderen abgedeckt wird. 226 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land 7.3 Das sichtbare Land Wackwitz’ autobiografischer Roman kann in seiner Aussage daher als kollektive „Deckerinnerung“ gewertet werden. Bezeichnenderweise wird dieser Begriff Freuds (1999: I, 531-54) vom Autor selbst verwendet (Wackwitz 2003: 231). Eine Verdecktheit lässt jedoch potenziell immer auch eine Aufdeckung zu, und manchmal scheint der Text diese Arbeit entgegen seiner eigenen Absichten zu verrichten. An verschiedenen Stellen verrutschen die Deckerinnerungen der deutschnationalen Heimat und lassen andere, noch wesentlichere Erinnerungen an eine koloniale Landschaft zum Vorschein kommen, die, der Logik der Ver‐ drängung nach, „unsichtbar“ bleiben sollten. Da es in diesem Text streng ge‐ nommen nicht um Verdrängung als solche geht, sondern um die Operation der Verneinung, werden Erinnerungen sichtbar, die nie völlig verdeckt waren. Es geht demzufolge um metonymische Beziehungen zwischen Landstrichen, die mehr oder weniger miteinander „assoziiert“ oder „dissoziiert“ werden. Das Indiz dafür, dass hier etwas von Bedeutung stattfindet, wird durch einen unüberseh‐ baren „Wiederholungszwang“ geliefert. Fast zwanghaft muss der Text versteckte Indizien seiner eigenen Arbeitsweisen immer wieder aufnehmen, wie beispiels‐ weise in der Erklärung der großväterlichen Begeisterung Anfang 1933 bei einem Aufmarsch der Hitler-Anhänger in Berlin: [Anfang 1933 war] Andreas Wackwitz […] [Hitler gegenüber] skeptisch (worauf er in der Rückschau großen Wert legt). Aber zugleich regte sich die Hoffnung, dass die verräterische [Weimarer] Republik nicht das letzte Wort der deutschen Geschichte bleiben würde, dass Anhalt [in Schlesien] wieder deutsch, dass das Land wieder groß (dass die afrikanischen Kolonien wieder unser) werden könnten. Diese Hoffnung muss verführerisch und fast übermächtig gewesen sein (jenseits der schmachvoll verengten Reichsgrenzen machte sich zudem der Sog des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes, dem die mittelalterlichen Vorfahren gefolgt waren, bemerkbar und der unbe‐ wußte Drang in die freie Weite, den ich später so oft in Südwestafrika fühlte). (Ebd.: 203-4; Hervorhebung im Originaltext) Auch wenn „die afrikanischen Kolonien“ in Klammern gesetzt und somit zu einem Außenbereich der deutschen Geschichte relegiert werden, was den zeit‐ genössischen Fakten zufolge durchaus plausibel erscheinen mag, erhalten sie zwei Zeilen weiter - im eingebundenen Zitat aus der Erinnerung des Großva‐ ters - eine andere Resonanz. Diese Stelle aus den großväterlichen Erinnerungen wird insgesamt fünf Mal im Text zitiert (ebd.: 98, 190, 204, 210, 221) und entfaltet auf ihre Weise einen eigenen psychischen „Sog“ in der Dynamik des Texts. Ganz offensichtlich macht dieser „Sog“ eine gewisse imaginäre Zugkraft des afrika‐ 227 7.3 Das sichtbare Land nischen Kontinents und dessen Landschaften immer wieder in der Erzählge‐ genwart spürbar. Ähnliche textinterne Indizien der eigenen affektiven Textar‐ beit lassen sich beispielsweise in der Erwähnung des „Afrikanischen Heimatkalender[s] […] [, der] wohl noch heute besteht“, ausmachen (ebd.: 199; die Publikation wurde von der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Namibia 1930 bis 2009 herausgegeben [Afrikanischer Heimatkalender 2013]). Auch diese zeitliche Kontinuität, die bis in die Erzählgegenwart reicht und die anscheinenden Gegensätze „Afrika“ und „Heimat“ untrennbar miteinander ver‐ mischt, wird durch einen metatextuellen Verweis in den Erzählfluss eingebettet. Die Zuordnung der Publikation zur Gattung „Kalender“ macht ihre Zeitbezo‐ genheit deutlich. Zwanghaft zeigt der Text immer wieder, wie eng Afrika und Deutschland von jeher miteinander verbunden sind. Er konstatiert dies an keiner Stelle, sondern tut es einfach, so wie die Traumsprache in der Deutung Freuds (1991, II / III : 318-20). Der Text führt diese Kontinuität performativ vor, indem er mit verschiedenen Textfiguren wiederholt die Überlappung der beiden imaginären Landschaften vollzieht. Kern des Unterfangens ist dabei ein Traum des Großvaters, der von Wack‐ witz’ Roman sozusagen immer wieder „geträumt“ wird. Der Text zitiert den Traum an mehreren Stellen, wie bereits oben angemerkt. Der großväterliche Traum stammt aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und findet in Schlesien statt: Es war der Osten, der mir zum ersten Mal richtig ins Blickfeld kam. So fremd er vor mich hintrat, so spürte ich doch auch eine unerklärliche, geheimnisvolle Lockung von ihm ausgehen. War es der unbewußte Drang in die freie Weite, den ich später so oft in Süd‐ westafrika fühlte, war es der Sog des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes, dem die mittelalterlichen Vorfahren gefolgt waren […]? (Wackwitz 2003: 98; Hervorhe‐ bung im Originaltext) Der Text führt hier wie an vier weiteren Stellen (ebd.: 190, 204, 210, 221) und in verschiedenen Konstellationen und Kontexten, eine Überlagerung der jewei‐ ligen Traumlandschaften Polens und Südwestafrikas vor. Damit geht eine dop‐ pelte Überlagerung einher. Einerseits wird eine grundlegende Dynamik der Ko‐ lonialisierung attestiert: Der Drang, in einen weiten Raum einzudringen, der sich „unterwirft“, so dass der eindringende Aktant seine „Taten“ realisieren und zeigen kann. In der Imagination des nationalistischen Deutschlands sind beide Gebiete barbarisch unkultiviert und bedürfen der zivilisatorischen Gestaltungs‐ kraft der Kolonialherrschaft, die sich somit erlauben darf, alles zu machen, was sie für richtig hält, selbst wenn sie damit die Regeln der Rechtsstaatlichkeit ver‐ letzt. Andererseits wird eine „unerklärliche, geheimnisvolle Lockung“ regist‐ 228 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land riert, die der Logik der Eroberung nur zum Teil entspricht. Es bleibt eine Rest‐ bedeutung, die diese reduktionistische Logik übersteigt. Diese „unerklärliche, geheimnisvolle Lockung“ ist zum einen die einer Landschaft, welche jenseits jedes Exotismus durch ihr innewohnende Rhythmen und Konturen eine unver‐ kennbare Zugkraft besitzt. Diese Zugkraft wird beispielsweise in dem Text von Hoffmann dokumentiert und kommt dem zuvor erwähnten Affekt III (siehe oben Kapitel 4) gleich (vgl. auch Jullien 2014). Zum anderen resultiert diese „unerklärliche, geheimnisvolle Lockung“ im Traum daraus, dass die Eigenstän‐ digkeit der Landschaft eben nicht - oder nur in einem sehr geringen Maße - anerkannt werden darf. Eine solche Anerkennung zuzulassen, würde bedeuten, sich auf eine andere Beziehung als die, die unter dem Kolonialregime erlaubt ist, zum Land und zu dessen Bewohnern einzulassen. Und als „Spätfolge“ dieser Anerkennung würde man sich auch eine bis in die Gegenwart reichende Bezie‐ hung zu Afrika eingestehen müssen. Diese Möglichkeit wird beiläufig immer wieder suggeriert: „Wie die Rohre eines ausziehbaren Fernrohrs, sagen die Ge‐ nerationssoziologen, seien die Erinnerungen und Träume der Väter und Söhne und Enkel ineinandergeschoben, und wahrscheinlich lebt wirklich keiner sein innerstes Leben nur für sich“ (ebd.: 188-9). Der Vergleich mit dem Fernrohr ist mit der Leitmetapher des „unsichtbaren Landes“ eng verwoben, jedoch auch mit den verschiedenen Instanzen, die das Buch unbedingt auf Schlesien reduzieren möchten, dabei allerdings immer wieder in Richtung Afrika gleiten, wie ein Fernrohr, das weiter ausgefahren wird, um ein noch entfernteres Ziel zu er‐ fassen. Es lohnt sich, weitere randständige Indizien im Text aufzuzeigen, die diese abgelehnten Überlappungen zwischen den Kontinenten aufdecken. Die Ent‐ scheidung des Großvaters, 1933 in das ehemalige Deutsch-Südwestafrika zu gehen, wird durch die Lektüre von Frenssens Roman Peter Moors Fahrt nach Südwest ausgelöst (ebd.: 189). Es war „tatsächlich eher die Literatur gewesen, die den Ausschlag gegeben hat. Nicht nur seine afrikanischen Aufzeichnungen, sondern eben wahrscheinlich auch sein wirkliches Leben in ‚Südwest‘ hat Frenssens Buch imitiert“ (ebd.). Der literarische „Anstoß“ (ebd.) der großväterli‐ chen Entscheidung nach Afrika zu gehen, ist nicht deshalb so wichtig, weil das Leben die Literatur imitiert - nach dem umgekehrten Paradigma der Beziehung zwischen Wahrheit und Fiktion (vgl. Roessner 2013) -, sondern weil die Fikti‐ onen von damals eben die nachhaltige affektive Ladung des kolonialen Projekts darlegen, die aus der Gegenwart des Erzählers durch die quasi-fiktionalen Ele‐ mente in Wackwitz’ Text systematisch ausgemerzt werden sollen. Deshalb gibt es zum Beispiel mit so viel Nachdruck Denunziationen der 229 7.3 Das sichtbare Land erschütternd schlechte[n] und eigentlich fast unerträgliche[n] Programmromane einer verspäteten kolonialen Wut und Sehnsucht, die schon 1933 politisch völlig il‐ lusionär gewesen ist (nachdem der nationale Erlöser sich mittlerweile auf ‚den Osten‘ kapriziert hatte) […] (Wackwitz 2003: 189). Der Text vermindert die Verbindungen zwischen der kolonialen Vergangenheit und der faschistischen Gegenwart durch die Erwähnung einer „Illusion“. Faktisch aber weckten in den 1930er-Jahren die politisch-territorialen Erfolge der NS -Regierung in Europa bei den Afrika-Deutschen im südafrikanischen Mandatsgebiet die Erwartung, dass ein Wiederaufbau des Kolonialreichs be‐ vorstünde. Der Anschluss des Saargebiets im Jahr 1935 vermittelte den Süd‐ westafrika-Deutschen die Hoffnung, doch noch einmal Teil des „großen deut‐ schen Reichs“ zu werden: [M]eine Großmutter schrieb aus Windhuk an die Schwiegereltern in Laskowitz, wie sie und Andreas es angestellt haben, dass nicht nur überall im Reich, sondern gleich‐ zeitig auch im südwestafrikanischen Wüstenhochland nach der gewonnenen Abstim‐ mung über die Wiedereingliederung des Saarlands die Kirchenglocken läuteten […] [.] [I]m Hintergrund regte sich der Wunsch, die Übergabe Südwests [an das Deutsche Reich] hier noch zu erleben. (Ebd.: 206-7) Mit anderen Worten sahen sich die Südwestafrika-Deutschen während der 1930er-Jahre zum einen als Teil eines global erweiterten Großdeutschlands und zum anderen als Teil eines historischen Kontinuums, das vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hätte reichen können. In der Tat waren diese kolonialen Träume „politisch völlig illusionär“, wie es Wackwitz (ebd.: 189) treffend formuliert, und gehörten vollständig der Vergan‐ genheit an. Als affektiv geladene und alltäglich gelebte utopische Wünsche aber blieben sie durchaus wirkungsvoll, wenn auch nur in symbolisch „verscho‐ bener“ Form, wie die großväterliche Anekdote der Kobraschlange in aller Deut‐ lichkeit zeigt und wie der Erzähler nach einigen Windungen selbst erkennt. Die Kobra wird bei einem Besuch des deutschen Kriegsfriedhofs am Fuße des Wa‐ terbergs entdeckt. Der Großvater durchbohrt den Kopf der Schlange und legt das angeblich tote Reptil ins Auto. Die Schlange verschwindet plötzlich, überlebt aber unentdeckt im Auto der Deutschen. Dies zeigt sich aber erst später, als das Tier nach der Ankunft in Otiwarongo beim Entkommen gesichtet wird (ebd.: 214-7). Zwei Dynamiken sind hier am Werk. Die erste ist räumlich-statischer Natur. Afrika, verkörpert durch die Schlage, überlebt unentdeckt in den Zwischen‐ räumen des europäisch technologischen Fortschritts, verkörpert durch das Auto: „Wir hatten sie 20 Meilen mitgebracht. Wo hatte das Luder gesteckt? “ (Ebd.: 230 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land 216; Hervorhebung im Originaltext). Afrika fährt mit; die Technologie wird von der angeblich besiegten und überholten Natur gekapert. Afrika und Europa bleiben, trotz der angeblichen Zäsur der Tötung, ungeahnt in intimster Nähe beieinander. Die zweite Dynamik ist energischer Natur. Nach einer detaillierten Auslegung lautet das Fazit des Erzählers: [M]an kann es gar nicht anders lesen, als dass Afrika mit der geisterhaften unsterb‐ lichen Kobra vom Waterberg den beiden weißen Helden der Schlangengeschichte da‐ mals gezeigt hat, einen wie dicken und gleichsam über Tod und Durchbohrung hinaus aufrichtungs- und sogar zu einer Verfolgung über 20 Meilen hinweg fähigen Steifen [gemeint ist die Schlange als Symbol der männlichen Potenz, wie der Erzähler mit Verweis auf Freud anmerkt (Wackwitz 2003: 219)] der gedemütigte und auf Tat und Unterwerfung wartende Kontinent immer noch hatte. (Ebd.: 221; Hervorhebung im Originaltext) Die verschränkte und nicht leicht zu entschachtelnde Syntax zeigt, welche Schwierigkeiten der Text hat, sich die gegenwärtige Resonanz der Kolonialver‐ gangenheit im eigenen Gewebe einzugestehen. Diese unsichtbare Nähe der beiden Kontinente zueinander bleibt allerdings nicht ewig verdeckt. Zwar wi‐ dersetzt sich der Text, jedoch muss er zugeben, dass Afrika, ähnlich der Schlange, nach wie vor eine eigene Handlungskraft, Resilienz und Widerspenstigkeit wie auch ein eigenes Durchsetzungsvermögen innerhalb des Texts selbst besitzt und sich immer wieder vom Rand aus in den Vordergrund drängt. Ausgerechnet beim Kriegerdenkmal am Fuße des Waterbergs, dem Ort des endgültigen Sieges der Deutschen über das Herero-Volk und somit am Tor zum absichtlich herbei‐ geführten Völkermord in der Omaheke-Wüste (ebd.: 218), wird die Schlange (nur anscheinend) besiegt. Danach demonstriert sie auf widerspenstige Art und Weise ihre Langlebigkeit, die sich im Text in der Zwangswiederholdung der Textstelle (ebd.: 98, 190, 204, 210, 221) widerspiegelt, in welcher das koloniale Afrika und der unter Nazi-Herrschaft stehende Osten miteinander in Verbin‐ dung gesetzt werden. Es ist an dieser Stelle lohnenswert, diese Überlappungen noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Während der NS -Herrschaft verlagerten sich die faktischen Eroberungspläne - und auch Quasi-Kolonisierungspläne (vgl. Mazower 2008; Wasser 1993; Werber 2008) - der NS -Führung von einem Überseeimperium zu einem europäischen Imperium, wobei aber die Methoden der Kolonisierung fast eins zu eins zur Anwendung kamen. Der Holocaust wurde zum alles andere übertreffenden Skandalon des Jahrhunderts, wie die Vertreter der Kolonisierten diagnostizieren (Césaire 1973: 12-3; Fanon 1971: 72-3), und zwar deshalb, weil 231 7.3 Das sichtbare Land die Opfer keine Afrikaner, sondern Europäer waren. Einer der Vorreiter des Holocausts, der Völkermord an den Hererobzw. Nama-Völkern, wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Afrika ausgeübt und - so kontrovers diese These auch immer sein mag - wiederholte sich dann Mitte des Jahrhunderts in Europa. Während der Genozid an den Hererobzw. Nama-Völkern sechzig Jahre lang weitgehend vergessen blieb, wurde der Holocaust zum Schandfleck des Jahr‐ hunderts. Es wurde deshalb, zumindest aus europäischer Sicht, nur langsam möglich, andere Völkermorde als solche anzuerkennen, geschweige denn zwi‐ schen den verschiedenen Genoziden Verbindungen herzustellen. Eine solch verspätete Verbindung zwischen den Genoziden in Afrika und in Europa lässt der Text durch winzige Textmerkmale erkennen. Beispielsweise wird das Wort „Ding“ zweimal im Text in unterschiedlichen morphologischen Formen verwendet: Einmal in Bezug auf den Herero-Jungen - „Nachkomme dieses umgebrachten Volks“ -, der sich als Überlebender des Völkermords „bei Weißen wie meinem Großvater und dem Kulturingenieur Gerhard als eine Art Diener, Führer und Laufbursche verdingte“ (Wackwitz 2003: 219), Und zum an‐ deren in Zusammenhang mit einer russischen Zwangsarbeiterin, die sich als Dienstmädchen im Haushalt des Großvaters verdingt (und verdinglicht) wird: „Schließlich ließen wir uns russische Mädchen vermitteln. […] Die erste, Marja mit Namen, war ein kräftiges, dralles Ding mit schwarzem Wuschelkopf “ (ebd.: 231). Wackwitz (ebd.: 229) beschreibt die jüdische Bevölkerung des Reichs als „Menschen […], die bei lebendigen Leib so etwas wie Tote geworden waren.“ Etwas später fügt er hinzu: „[S]ie waren ja, der Logik der Dinge nach, so gut wie tot“ (ebd.: 232). Der Ausdruck „der Logik der Dinge nach“ ist zweideutig: Wird er verwendet, um zu beschreiben wie faktisch die allgemeine Lage war, oder wird buchstäblich eine „Logik“ oder ein System beschrieben, das Personen zu Dingen macht, das Menschen verdinglicht, indem es sie verdingt und sie auf „Haus- und Gartensklaven“ reduziert (ebd.: 231)? Der Erzähler führt des Weiteren aus: Das paradoxe Kunststück der Leichen und der Gespenster zum Beispiel, zugleich an‐ wesend und abwesend zu sein, war bei lebendigem Leib die Existenzform und Le‐ bensweise der russischen, ukrainischen, polnischen und französischen Zwangsarbei‐ terinnen und Zwangsarbeiter, von denen sich ab 1943 jeder Haushalt oder jeder Betrieb einen oder mehrere bestellen konnte. Sie verkörperten das Geister- und Lei‐ chenparadox täglich und vor allen Augen. Stumm, rechtlos, unbezahlt wurden sie irgendwo untergebracht und nach Gutdünken verpflegt (oder eben auch nicht ver‐ pflegt). (Ebd.: 229-30) 232 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land Der Großvater verwendet das Wort „Ding“ fast humorvoll; die oben beschrie‐ bene Situation der Zwangsarbeiter zeigt jedoch, was sich hinter dem Terminus verbirgt - nämlich die tatsächliche Reduktion des Menschen auf den Status eines Gegenstands bzw. Dings. Die „Verding[lich]ung“ der jüdischen und nicht-deut‐ schen Bevölkerung Europas kann in einem weiteren Schritt auf die Verwendung des Worts im afrikanischen Kontext - „der sich bei Weißen wie meinem Groß‐ vater und dem Kulturingenieur Gerhard als eine Art Diener, Führer und Lauf‐ bursche verdingte“ (ebd.: 219) - rückbezogen werden, so dass der Ausdruck „sich verdingen“ im Sinne von „einen Dienst annehmen“ seinen wahren Inhalt von sklavenhafter „Verdinglichung“ darlegt. Eben jene „Verdingung“, die laut Espo‐ sito (2016) die Sklaverei seit jeher gekennzeichnet hat und die Mbembe (2017a) zufolge das „Schwarz-“ bzw. „Neger-Werden“ der Welt definiert. 7.4 Verneinung in der Gegenwart Ein weiteres Mal muss betont werden, dass im Rahmen der dargelegten Analyse dieser Studie nicht der Autor Wackwitz Zielscheibe einer psycho-politischen Kritik werden soll. Vielmehr soll anhand der Wendungen von und in Wackwitz’ Text die allgemeine öffentliche Haltung in Deutschland in Bezug auf ihre Af‐ rika-Vergangenheit bzw. -Gegenwart unter die Lupe genommen werden. Wack‐ witz’ Ein unsichtbares Land liefert einen symptomatischen Spiegel für eine Ge‐ sellschaft, die vollends den Strukturen der nicht ganz postkolonialen Verneinung verhaftet bleibt. Sein Roman stellt also, wenn auch in indirekter Form, eine unangenehme Mahnung an die Gesellschaft als Ganzes dar. Dies belegen die verschiedenen Stellen, an denen der Roman die Erinne‐ rungen des Großvaters kommentiert. Hierbei vermischt sich die intellektuelle Erkenntnis über die Brutalität der Deutschen im besetzten Polen - dem soge‐ nanntem „Generalgouvernement“ - mit einem gefühlten Rassismus, d. h. mit einer affektiven Identifikation mit den Besatzern, ja sogar mit einer performa‐ tiven Teilnahme an deren rassistischen Reflexen: Als er 1964 seine Erinnerungen aufschrieb, hat er zum Beispiel zwar einsehen und aufschreiben können, daß nach dem Hitler-deutschen Einmarsch von 1939 die Polen brutal in die Rechtlosigkeit gestoßen wurden. Als ich 1940 Oberschlesien besuchte, war ich entsetzt darüber. Aber als er ein paar Seiten weiter von einem Hund erzählt, den die ganze Familie sehr gern hatte und der 1933 auf unerklärlicherweise verschwunden ist, stößt ihm das deutschnational-rassistische Übel unvermeidlich sofort wieder zu (wahrscheinlich hat ihn irgendein Pole gefangen und gefressen, schreibt er dann plötzlich leider wieder). (Wackwitz 2003: 176; Hervorhebungen im Originaltext) 233 7.4 Verneinung in der Gegenwart Im wahrsten Sinne des Wortes kommt in dieser Formulierung das von Vogl (2008: 75) beschriebene Phänomen des „Zauderns“ als „eine Methode der Infra‐ gestellung, die das System von Gesetz und Urteil […] desorganisiert, zu Vor‐ schein. Mit diesen Momenten ist der Diskurs - wenigstens im zwanzigsten Jahrhundert - selbst zu einem ausgehaltenen Zaudern geworden“. Vogl sieht die Unsicherheit im Allgemeinen in der Fragmentierung der Diskurs-Regime der Moderne verankert: „Vor diesem Hintergrund ließe sich eine signifikante Auf‐ spaltung des diskursiven Feldes behaupten, die vielleicht bis heute die Ordnung des Diskurses ebenso bestimmt wie die Möglichkeit seiner Analyse.“ Auf jeden Fall könnte man eine Fragmentierung der verschiedenen historischen Bewusst‐ seinszustände und der entsprechenden Diskursmuster identifizieren, die sich in einem einzelnen Mensch überlagern und dadurch auf synekdochische Art zum Vorschein kommen. Wie es an einer nicht unähnlichen, im Jahre 1933 angesie‐ delten Textstelle heißt, stammt „diese Distanzierung […] erst aus dem Jahr 1954, aus der Erzählzeit“ (ebd.: 205). Es entsteht daher eine Diskrepanz, eine konflikthafte „Mehrsprachigkeit“ im Herzen der literarischen Figur, die histo‐ risch-politisch bedingt ist. Diese ambivalente Haltung ist tief in die Erzählperspektive des Romans ein‐ gebettet. Wackwitz’ Erzähler zitiert an anderer Stelle ausführlich eine Passage, in der der Großvater von der moralischen Anständigkeit und gesellschaftlichen Teilhabe der in der Gegend um Auschwitz sesshaften jüdischen Mitbürger*innen spricht. Das Zitat schließt mit den folgenden Sätzen: „Wer etwas tiefer sich zu informieren Gelegenheit fand, konnte auch sehen, daß das Familienleben dieser jüdischen Bevölkerung zwar streng, aber sauber und ehrenhaft war. Es ist gut, daß der Mensch nicht in die Zukunft blicken kann“ (ebd.: 177-8; Hervorhebung im Originaltext). Die Reaktion des Erzählers ist genau durch das von Vogl beschrie‐ bene Zaudern gekennzeichnet: Die eigenartig neben allem Erwartbarem liegende moralische Inkompetenz, die Kälte und Herzensträgkeit, die einem aus dem Schlusssatz dieses Abschnitts anweht, hat mir, seit ich ihn zum ersten Mal gelesen habe, die ethische Wetterscheide bezeichnet und sinnfällig gemacht, die das Nicht-hinsehen-und-nicht-davon-reden-Wollen von der moralischen Verrohung trennt. (Ebd.: 178) Der Erzähler beginnt mit einer streng moralischen Beurteilung der „bürgerli‐ chen Kälte“ (Adorno 1971: 100-2). Diese zwischenmenschliche Gleichgültigkeit steckt in der retrospektiven Ablehnung einer damaligen Verantwortung für eine Zukunft, deren Grausamkeit erst im Nachhinein bekannt wird. Eine derartige „achronologische“ Zeitlichkeit, die der Erzähler in Bezug auf seine Familie anw‐ endet, findet sich auch an anderer Stelle: 234 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land Irgendwie konnte ich beim Lesen der Erinnerungen meines Großvaters nicht recht nachvollziehen, warum die Deutschen auf der ‚Adolph Woermann‘ so begierig darauf waren, [1939] nach Deutschland - und dann nach Stalingrad - zu kommen“ (Wackwitz 2003: 30). Im Weiteren führt der Erzähler seine Gedanken zur Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Völkermord aus und rutscht dabei in einen problemati‐ schen Bereich, der zwischen Beurteilung und Verständnis changiert. Letzteres ist insofern nachvollziehbar, als dass diese passive, vielleicht sogar „unwissent‐ liche“ Beteiligung des reichen Globalen Nordens am Leid des Globalen Südens alle inkludiert - den Erzähler wie die Leser*innen. Das Zaudern bietet sowohl einen Ausweg aus schmerzhaften ethischen Entscheidungssituationen wie auch einen psychischen Mechanismus, um das verdrängte Bewusstsein einer Mit‐ schuld an bestimmten kollektiven Vergehen des Jahrhunderts zu bewältigen (vgl. Sanders 2001 für eine südafrikanische Perspektive). In solchen globalen Konfigurationen der Mitschuld befinden sich die Bewohner des Globalen Nor‐ dens mehr denn je (vgl. Beck 2016). Es reicht bereits, das Smartphone in die Hand zu nehmen, um hautnah mit Rohstoffen in Kontakt zu kommen, die auf brutalste Art und Weise in Afrika abgebaut werden, wie zum Beispiel dem hit‐ zeresistenten Coltan oder dem damals bereits auch schon auf der „Adolph Woermann“ verladenen (Wackwitz 2003: 32) und heute für Touchscreens un‐ abdingbaren Vanadium (vgl. Melchers / Schmitz / Seitz / Wilss, Hg. 2007). Und sollten Zweifel an der unmittelbaren Gegenwartsbezogenheit dieser Textstelle im Leser bzw. der Leserin aufkommen, weist der Erzähler ein paar Zeilen später explizit darauf hin: „Ich schreibe dies im Bibliothekszimmer meiner Krakauer Wohnung“ (Wackwitz 2003: 178). Die zeitliche Vergegenwärtigung des Schreib‐ prozesses ist unübersehbar, jedoch stellt sich die Frage, inwiefern diese meta‐ phorische Bibliothek nicht ein Ort der Abschottung bleibt, die womöglich einer unbeabsichtigten Teilverschleierung der dargelegten Verhältnisse dient. Heutzutage ist die Zeit der Amnesie gegenüber der Kolonialvergangenheit Deutschlands vorbei (Zeller / Zimmerer 2003: 9); die Beziehungen bleiben aber nach wie vor weitgehend gekappt. Zwar werden die Fakten über den Genozid in Südwestafrika nicht mehr verdrängt, jedoch wird deren affektive Ebene umso intensiver unterdrückt, so dass der Affekt nun in negativer Form, als Motor einer weitergeführten Teilverdrängung, weiterwirkt. Man kann gegenwärtig eine Art der kollektiven, performativen Verneinung beobachten. Zum Zeitpunkt der Publikation von Wackwitz’ Roman Ein unsichtbares Land im Jahr 2003 - ein Jahr vor der Rede Wieczorek-Zeuls in Okakarara - verfestigte sich die Erinnerungs‐ kultur am Hererobzw. Nama-Genozid allmählich in der deutschen Öffentlich‐ keit; die Bedeutung des Sachverhalts wurde zu dieser Zeit aber noch nicht voll‐ 235 7.4 Verneinung in der Gegenwart ständig anerkannt oder affektiv angenommen. Wackwitz’ autobiografischer „Familienroman“ stellt diese ambivalente Sachlage in seiner eigenen Erzähl‐ struktur genau dar. Anderthalb Jahrzehnte später hat sich die Situation in ge‐ wisser Weise geändert - es besteht keinerlei Zweifel mehr an der Gültigkeit und der Verwendbarkeit des Begriffs des „Völkermords“ wie die Bundestagsdebatte von 2015 zeigt -, die Grundstrukturen sind jedoch zum größten Teil dieselben geblieben: Die Verneinung, d. h. die Erkennung des Vorhandenseins einer Ver‐ drängung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Verdrängung bzw. ihrer Aus‐ wirkungen, besteht nach wie vor. Was weiterhin verdrängt wird, ist nicht mehr die Tatsache des Völkermords. Denn durch just dessen Anerkennung erzielt man sozusagen einen sowohl finanziell wie auch affektiv kostenlosen Freispruch. Vielmehr bleibt die fehlende Beziehung zum Anderen, die den Kern einer ge‐ nuinen Versöhnung bilden würde, weitgehend auf der Strecke. 236 7. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen Eine der Figuren aus dem Roman Der Schrei der Hyänen von Andrea Paluch und Robert Habeck aus dem Jahr 2004 ist Paläontologe. Er arbeitet seit Jahren an einer Handvoll Knochensplitter aus Namibia, aus denen er mühevoll Stück für Stück einen prähistorischen Schädel wieder zusammenbaut (Paluch / Habeck 2004: 44-6). Die Analogie mit der Arbeit des „Detektivs“ Klaus Tiedtke in Jau‐ manns Der Lange Schatten, für den „eine Geschichte“ sich „Stück für Stück“ „zu‐ sammensetzte“ ( Jaumann 2015: 179-80), ist unübersehbar. Interessant an dem Schädel im Roman von Paluch und Habeck ist nicht nur die Wiederherstellung des Ganzen, sondern der verstreute bzw. unerkennbare Zustand, in welchem sich die Splitter an der ursprünglichen Fundstelle befinden. Dieser Zustand der Fragmentierung bildet einen wichtigen metatextuellen Hinweis auf das Kon‐ struktionsprinzip des Texts, das auf einem neugeschichtlichen Zusammenprall mit dem Deutsch-Namibischen Krieg von 1904 bis 1908 und den entsprechenden Deutungsschwierigkeiten für die nachkommenden Generationen beruht. Die Erscheinungsform des Romans Der Schrei der Hyänen ist die der zeitlichen Frag‐ mentierung und der allmählichen Rekonstruktion einer verlorengegangenen Kausallogik. Diese Fragmentierung zunächst zu tilgen, ist das primäre Anliegen der vor‐ liegenden Analyse, denn ausschließlich auf diese Weise können die narrative Dynamik des Romans und seine Logik im Kontext seiner Veröffentlichung dar‐ gelegt werden. Der Schrei der Hyänen erschien zum hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Deutsch-Namibischen Kriegs und bietet eine Art Barometer für den Ablauf der sich danach abspielenden Debatten und Verhandlungen. Die scheinbar platte Nacherzählung einer extrem verschachtelten Erzählung in der chronologischen Reihenfolge der erzählten Ereignisse gibt in ihrer Form gera‐ dezu Aufschluss über die treibenden Kräfte des Erzählens. Die äußerst komplexe und fünf Generationen umfassende Handlung findet in mindestens zwei Epochen statt: Die erste ist die Kolonialvergangenheit, in der Arabella, eine junge Deutsche, in Deutsch-Südwestafrika ankommt und heiratet (1. Generation). Sie wird in die Ereignisse des Deutsch-Namibischen Kriegs verwickelt und lernt zwei männliche Hauptfiguren kennen und lieben: den Herero-Anführer Assa Riarua, den es historisch tatsächlich gegeben hat, und den deutschen Offizier Paul von Kavea. Die zweite Handlungsebene spielt in der Gegenwart, nachdem Namibia seine Unabhängigkeit erlangt hat, als die Deutsche Cosima (4. Generation) von ihrer bislang ungeahnten Familienge‐ schichte und afrikanischen Abstammung erfährt. Verschiedene andere Zeit‐ schichten werden zwischen die zwei Hauptzeitschienen geschoben: Die Zeit zwischen den Weltkriegen, in der Paul von Kavea und Arabella mit ihrer Tochter Nele (2. Generation) zurück nach Deutschland kehren; die Zeit des Zweiten Weltkriegs, zu dessen Anfang Neles Mann getötet wird; die Zeit der 1960er-Jahre, in der Neles Tochter Kriemhild (3. Generation) ein schwarzes Kind, Cosima (4. Generation), zur Welt bringt, das ihr sofort weggenommen und nachträglich für tot erklärt wird; und die Zeit der 1970er-Jahre, in der das an‐ gebliche Waisenkind Cosima in einem Heim in Lüneburg aufwächst, bis sie ihren Ehemann, den Paläontologen Jasper kennenlernt und zusammen mit ihm eine Tochter, Hera (5. Generation), bekommt. Die fragmentierende und nicht-chronologische Erzählsequenzierung dient hauptsächlich der Erzeugung und Aufrechterhaltung der Spannung. Nach und nach kommen die Gründe zu Tage, weshalb Cosima ihre Mutter (Kriemhild) und Großmutter (Nele) nicht kennt. Mit ähnlicher Verspätung erfährt Nele von Kavea, die sich sehr früh schon im Roman als unvermutete Großmutter offen‐ bart, dass nicht Paul von Kavea ihr leiblicher Vater ist, sondern der Herero-An‐ führer Assa, dessen schwarze Hautfarbe sie und ihre eigene Tochter Kriemhild wider Erwarten durch eine seltene genetische Mutation nicht erben. Erst bei der Tochter Kriemhilds, d. h. bei der Enkelin Cosima, kommt die schwarze Hautfarbe wieder zum Vorschein, wodurch sich Kriemhild mit dem rassistischen Vorwurf konfrontiert sieht, sie habe ein Verhältnis mit einem schwarzen Mann gehabt. Dies veranlasst Nele, die Mutter Kriemhilds, mit unglaublicher Brutalität und Herzlosigkeit die Enkelin als totgeboren erklären und verschwinden zu lassen. So kommt es, dass Cosima nichts über ihre Herkunft weiß und diese erst ent‐ deckt, als Nele von Kavea sie kontaktiert, um den Familienbesitz in Namibia, die längst aufgegebene Farm Crewo, durch eine Schenkung bzw. vorzeitige Verer‐ bung an Cosima zu sichern. Erst durch die Auseinandersetzung mit dem in Crewo ansässigen deutschen Fotografen Ketelsen, der genauso Interesse daran hat, seinen De-facto-Besitz zu verteidigen, erfährt Nele, dass sie die Tochter eines Herero ist. Auf den ersten Blick leistet der Roman augenscheinlich einen überragenden Verdienst, indem er den persönlichen Kontakt sowohl zur deutschen Kolonial‐ vergangenheit wie auch zu Afrika als einem nur scheinbar entfernten Kultur‐ raum wiederherstellt. Stillschweigend wählt der Roman mit Assa Riarua eine bedeutende Figur des Deutsch-Namibischen Kriegs als Vorfahren Cosimas aus. Assa Riarua war der Sohn des engsten Vertrauten und Verwandten des Haupt‐ anführers Samuel Maherero. Cosima ist also eine Urenkelin eines afrikanischen 238 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen antikolonialen Widerstandskämpfers ersten Rangs. Der Roman verschweigt je‐ doch die genauen Details der genealogischen Verbindung. Man könnte sogar das Verschwinden der Hautfarbe als Allegorie für das Verschwinden der deut‐ schen Kolonialvergangenheit aus dem öffentlichen deutschen Geschichtsbe‐ wusstsein deuten; ein Verschwinden, das in der Fiktion auch erst am Ende des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt wird: Cosimas Geburt und Erziehung als ver‐ nachlässigtes dunkelhäutiges Waisenkind wäre in diesem Fall eine Analogie für die langsam wieder aufkommende Erinnerung an die Kolonialepoche, zumal sie ihrem Urgroßvater Assa Riarua angeblich sehr ähnlich sieht (Paluch / Habeck 2004: 165, 198). Diese Sicht des Romans als Teil einer zumindest teilweise auf‐ keimenden Renaissance des öffentlichen Gedächtnisses und der Aufklärung einer verdrängten Kolonialvergangenheit ist verführerisch, aber, wie in diesem Kapitel argumentiert wird, leider weitgehend verfehlt. Besonders aussagekräftig im Hinblick auf das Verfehlen einer befreienden Wiederentdeckung der gemeinsamen - wenn auch gewaltdurchtränkten - deutsch-afrikanischen Vergangenheit ist eine Textstelle. In einem Versuch, das genetische Phänomen des Verschwindens bzw. Auftauchens der schwarzen Hautfarbe metadiegetisch zu erklären, lässt der Text Cosimas Mann Jasper aus paläontologischer Perspektive spekulieren, „daß eine Reihe von Mutationen verdeckt ablaufen konnte, bis ein winziger Tropfen den generischen Pool zum Überlaufen brachte und die neue Spezies scheinbar aus dem Nichts heraus ge‐ boren wurde“ (ebd.: 218). Die Zusammenfassung von Jaspers Ideen zu den nicht-linearen, genetischen Entwicklungen, die eine pseudofachliche Erklärung für das sprunghafte Verschwinden und Wiederauftauchen der Hautfarbe in der Familie liefern, verwendet zwei bemerkenswerte Gemeinplätze. Einerseits ver‐ birgt das substantivierte Verb des „Überlaufens“ im metaphorischen „generi‐ schen Pool“ ein Homonym für das „Überwechseln auf die Seite des Gegners“. Diese Bedeutung des Verbs ist im Rahmen des Kriegs in Deutsch-Südwestafrika besonders zutreffend, und zwar im Hinblick auf die ihm zugrunde liegenden „rassischen“ Binaritäten als auch in Bezug auf die bewaffneten, gegnerischen Fronten: Arabella ist eine solche „Überläuferin“, der später aufgrund des Ver‐ hältnisses mit einem Aufständischen der Vorwurf des Hochverrats droht (ebd.: 194). Andererseits enthält Jaspers Zusammenfassung die Metapher der Geburt, die im Laufe des Generationenromans immer wieder entweder als Ort der Of‐ fenbarung der multi-ethnischen Verbindung oder als deren überraschende oder forcierte Nicht-Offenbarung fungiert: „Dem Kind würde seine Herkunft schwarz ins Gesicht geschrieben stehen“ (ebd.: 226) - überraschenderweise je‐ doch ist die Hautfarbe des Kindes weiß. Das „Überlaufen“ Arabellas wird bald nach ihrer Rückkehr nach Deutschland verschwiegen (ebd.: 285), so dass diese 239 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen gemeinsame Geschichte in Vergessenheit gerät. Genauso wird das „Überlaufen“ des zeitweilig nicht sichtbaren genetischen Einflusses von Assa unterdrückt, und zwar auf eine denkbar brutale Art und Weise durch das Entfernen des Kindes (Cosima), dessen afrikanische Herkunft auf einmal mit einem halben Jahrhundert Verspätung auftaucht und doch nun „schwarz ins Gesicht ge‐ schrieben“ steht. Das Gebären und Bewahren von Leben als eine Kontinuität, die nicht „aus dem Nichts heraus geboren wird“, sondern aus dem Intimsten der menschlichen Zwischenkörperlichkeit und der Schwangerschaft, wird somit verneint, behauptet sich aber am Ende in der Familie Cosima-Jasper-Hera. Der Text bleibt jedoch dem „Nichts“ verhaftet und kann der daraus entstehenden Fragmentierung und Segregation bis in die Gegenwart der Veröffentlichung und der nach wie vor ausbleibenden deutsch-namibischen Versöhnung nicht stand‐ halten. 8.1 Kolonialgeschichte und / oder Familiengeschichte? Die oben skizzierte lineare Darstellung der Handlung bzw. der Familienkonfi‐ gurationen hebt absichtlich die fragmentierte Form des Romans auf, um seinen Inhalt ohne erzählzeitliche Verschiebungen darzulegen. Somit kommt der Hauptinhalt des Romans zum Vorschein, und damit wiederum der Beweggrund der synkopierten und nicht-linearen Erzählstruktur. Cosimas Herkunft wird verschleiert, um die soziale Scham einer vermeintlichen „Rassenschande“ zu vermeiden. Erst als Besitzansprüche wiederauftauchen, wird es notwendig, die versteckte Herkunft zu lüften. Die Offenbarung von Cosimas Herkunft wird für Nele jedoch zum Verhängnis, als die Dynamik der Offenlegung der Familien‐ vergangenheit sich ihrer Kontrolle entzieht und die Entdeckung der eigenen, noch tiefer und länger vergrabenen afrikanischen Herkunft nach sich zieht. Unmissverständlich formuliert dient die Fragmentierung der Handlung nicht etwa einem Verfremdungseffekt wie in Timms Morenga, sondern verstärkt le‐ diglich die Erzeugung und möglichst lange Aufrechterhaltung der Spannung. Die Handlung hat die affektive Ladung eines Krimis - wie der Kriminalroman Jaumanns, Der lange Schatten, der im nächsten Kapitel diskutiert wird -, in dem der Affekt dem Wissensgewinn selbst gilt. In Paluchs und Habecks Roman ist dieser Wissensgewinn aber nicht hauptsächlich auf die Kolonialvergangenheit gerichtet, auch wenn der Roman die Anfänge des Deutsch-Namibischen Kriegs (Paluch / Habeck 2004: 84-6), dessen Ende mit dem berühmten Schießbefehl (ebd.: 194, 284), die Vertreibung der übrig gebliebenen Herero-Verbände in die Wüste (ebd.: 273, 282), die heute als Genozid gilt und die Einrichtung von Kon‐ 240 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen zentrationslagern für die wenigen Überlebenden (ebd.: 286) schildert. Vielmehr gilt der Wissensgewinn einer Familiengeschichte: Warum ist die Familienver‐ gangenheit verschwiegen worden und welcher vermeintliche Skandal mit wel‐ chen zeitverschobenen Konsequenzen liegt all dem zugrunde? Festzuhalten bleibt, dass Der Schrei der Hyänen ein deutscher Familienroman über Afrika ist, aber zu Afrika in der Vergangenheit und vor allem in der Gegenwart unterhält er keine affektiven Verbindungen. Bezeichnenderweise beschäftigen sich zwei Figuren im Roman mit der Zu‐ sammensetzung von Fragmenten zwecks Herstellung eines Ganzen. Jasper, der bereits eingangs vorgestellte Paläontologe, fügt prähistorische Knochensplitter zusammen, um durch die wiederhergestellten Knochenformen die menschliche Entstehungsgeschichte zu rekonstruieren. Diese Geschichte ist auch, zumindest auf den ersten Blick, die Geschichte eines Bruchs: Das Problem, in dessen Zentrum der Schädel stand, waren zwei Linien menschen‐ ähnlicher Vorfahren, von denen nur eine in die Gegenwart weiterführte. Die andere riß ab. Dabei waren Individuen der zweiten Linie nicht schlechter entwickelt als die frühen Hominiden, nur spezialisierten sie sich auf andere ökologische Nischen. Und als beide Arten aufeinandertrafen, starb eine aus. Ob es einen Kampf, gar einen palä‐ ontologischen Genozid gab oder ob bisher unentdeckte Körpermerkmale der Grund dafür waren, daß nur eine Linie überlebte, war ein beliebtes Kongreßthema. In dem Augenblick, als er den Kiefer fixierte, begriff er [ Jasper], daß die eine Art gar nicht ausgestorben, sondern in der anderen aufgegangen war. Ihr Erbgut war nicht tot, sondern Teil des Menschenstammes, wenngleich ein phänotypisch unsichtbarer Teil. (Ebd.: 46) Diese Ausführung formuliert eine Analogie zum merkwürdigen Verschwinden der schwarzen Hautfarbe Assas. Die schwarze Hautfarbe, welche zwar bei seiner Tochter Nele, der Enkelin Kriemhild und der Ur-Urenkelin Hera vorhanden sein sollte, es aber nicht ist, kommt erst wieder bei seiner Urenkelin Cosima zum Vorschein. Obwohl Jasper bewusst wird, dass ein Teil des Erbguts noch vor‐ handen ist und lediglich unsichtbar wird, löst der Roman diese Sichtweise nicht ein, weil Assas Rolle als dem afrikanischen Gründer der Familie genauso un‐ sichtbar und bedeutungslos bleibt. Allgemeiner zum Ausdruck gebracht, spielen Afrikaner im Roman kaum eine Rolle, so kommt beispielsweise im Namibia der Gegenwart keine afrikanische Einzelfigur vor. Der Roman lässt das Schwarzsein der Weißen zum Vorschein kommen, die schwarzen Afrikaner treten jedoch selten hervor. Hera dagegen empfindet die Ankunft der neu entdeckten Großmutter als Schnitzeljagd: „[P]lötzlich hatte sie das Gefühl, als hätte sie die Situation schon 241 8.1 Kolonialgeschichte und / oder Familiengeschichte? einmal erlebt, als sei das, was gerade passierte, der Teil der Schnitzeljagd, den sie nicht finden konnte“ (ebd.: 61). Sie muss aber bald einsehen, dass dem nicht so ist: „Sie hatte sich getäuscht. Die Frau, die behauptete, ihre Urgroßmutter zu sein, hatte nichts mit der Schnitzeljagd zu tun“ (ebd.: 63). Hera stellt fest, dass Nele von Kavea zunächst keine wiederhergestellte Wahrheit zu bieten hat: Ei‐ nerseits, wie immer wieder betont wird, weil sie Cosima wichtige Details vor‐ enthält, andererseits, weil sie selbst nicht die ganze Wahrheit über ihre eigene Herkunft kennt. Letzten Endes erweist sich Heras Auffassung im Gegensatz zu Jaspers als richtig. Die Wiederentdeckung der Familienvergangenheit führt nicht zu einer Auseinandersetzung mit dem weiteren Kontext dieser Vergan‐ genheit, nämlich einer Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit im Rahmen des Romans. Der Grund dafür ist vermutlich, dass die Wiederherstellung der Wahr‐ heit über die Familiengeschichte zwar die Zugehörigkeit Cosimas in der Fami‐ lienlinie gewähren kann, jedoch dagegen nicht in der Lage ist, die Familienzu‐ gehörigkeit des Urgroßvaters Assa Riarua hervorzubringen. Die vermeintliche Rassenschande dient einem Bruch, der sich in der erzählerischen Fragmentie‐ rung widerspiegelt und somit erzähltechnisch integriert wird, der sich durch die erzählerische Fragmentierung erst recht wiederherstellen lässt, nicht aber da‐ durch zum Anlass einer weiteren, multi-ethnischen Integration wird. Die wie‐ derentdeckte Vaterschaft von Assa ist lediglich ein Auslöser für die Handlung. Sie wird instrumentalisiert und nicht als solche anerkannt. Sie findet keinen Platz innerhalb des sozialen Gewebes der Familie. Insofern findet hier auf der Ebene der erzählerischen Sozialkonfigurationen des Romans ein „Kampf, gar ein paläontologisches [hier: erzählerisches] Genozid“ statt, wie Jasper es formuliert. Im Roman wird vorwiegend eine Familienstruktur geschildert, die sich durch Brüche und nicht-vorhandene Kontakte auszeichnet. Arabella hat keinen Kon‐ takt zu Deutschland, auch nicht zu Frank. Arabella hat keinen Kontakt zu Nele. Nele hat keinen Kontakt zu Paul, wohl aber hat Paul Kontakt zu Neles Tochter Kriemhild. Nele hat keinen Kontakt zu Kriemhild, die gezwungen wird, ihre Tochter Cosima abzugeben. Als Cosima wiederum nach Afrika reist, um diesen verlorenen Kontakt wiederherzustellen, kann Jasper nur schwer Kontakt zu Cosima herstellen. Der fehlende Kontakt untereinander geht mit dem fehlenden Kontakt zu Afrika und zur Vergangenheit einher. Am Ursprung dieser Kette von nicht existenten Beziehungen steht der abgebrochene Kontakt zu Assa Riarua, dem Liebhaber Arabellas und Vater Neles. Fazit dieser Reihung von Beziehungs‐ brüchen ist, dass Afrika nicht in seiner Ganzheit gesehen wird, sondern lediglich dazu instrumentalisiert wird, den Kontakt untereinander als weißes Konglo‐ merat wiederherzustellen. Assa, stellvertretend für Afrika, ist das fehlende Teil des Puzzles, welches Hera in der Schnitzeljagd vermisst und welches der Roman 242 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen jedoch nicht als Schlüssel zum Ganzen anerkennen will. Der Roman unterliegt einer nach wie vor vorherrschenden Hegel’schen Auffassung der Weltge‐ schichte: „Afrika […] ist kein geschichtlicher Weltteil“ (Hegel 1961: 163). Herausragendes Indiz dafür ist die bis weit in die Geschichte hineinreichende Abwesenheit der Afrikaner: „[Arabella] hörte zum ersten Mal, daß es in Südwest eine Bevölkerung jenseits der Deutschen gab“, erfährt der Leser bzw. die Leserin erst nach zwanzig Seiten der in Afrika stattfindenden Handlung (Paluch / Ha‐ beck 2004: 24). Wie oben bereits angemerkt, gibt es gegen Ende des Romans, als Cosima in Richtung Crewo durch Namibia reist, keinen namibischen Protago‐ nisten. Afrika ist in diesem Roman genauso leergefegt wie in nahezu allen klas‐ sischen weißen Siedlererzählungen über Afrika, die das Land als „a vast, empty, silent space“ darstellen, da die Afrikaner gar nicht wahrgenommen werden (vgl. Coetzee 1988: 7, 177). Solche Erzählungen „have turned away from native, Af‐ rican people and focused instead on African landscapes“ (Hughes 2010: xii). Was sie zum Ausdruck bringen, ist „a real inability of the European eye to look at the world and see anything other than European space - a space which is by defi‐ nition empty where it is not inhabited by Europeans“ (Noyes 1992: 196). In der Formulierung des Generals von Sethor, der fiktiven Version von Trothas, lautet dies: „Dann kamen die Deutschen, und als Samuel [Maherero, einer der He‐ rero-Anführer] den Gouverneur fragte, wer ihm erlaubt hat, am heiligen Ort Häuser zu bauen, hat er gesagt: Es war niemand da, den ich fragen konnte“ (Paluch / Habeck 2004: 185). Diese verhängnisvolle Abwesenheit afrikanischer Figuren in der deutschen Imagination der kolonialisierten Landschaft spiegelt wiederum die Abwesenheit eines real existierenden Afrikas für die deutsche Leserschaft wider. Der Roman zeigt das, was er selbst nicht wissen kann oder darf (vgl. Macherey 1971: 101-10), und zwar, dass er von Afrika de facto nichts weiß und praktisch keinen affektiven Kontakt zu diesem Kontinent hat bzw. - noch schlimmer - lediglich das „touristische“ Interesse an Afrika und somit auch den „Afrika-Boom“ in der Literatur (Göttsche 2015: 3) widerspiegelt, welcher mit einer nicht verminderten, affektiven Distanz zu Afrika einhergeht. Es ist kein Zufall, dass Cosima ein Reisebüro leitet, wo sie mit allen möglichen Af‐ rika-Stereotypen arbeitet, um ihre Kunden zu locken [Paluch / Habeck 2004: 53, 299]. Cosima ist die Figur schlechthin, die im Rahmen der symbolischen Arbeit des Texts mit der Wiederherstellung eines gegenwärtigen Bezugs zu Afrika „be‐ auftragt“ worden ist. Dies bedeutet, dass die Aufrechterhaltung der exotischen bzw. damit einhergehenden rassistischen Floskeln, mit denen sie als Vertreterin des Afrika-Tourismus hantiert, höchst problematisch erscheint. Problematisch ist es nicht zuletzt, weil Cosima dadurch ihre eigene Ausgrenzung - zunächst unbewusst als Deutsch-Afrikanerin der dritten Generation - aufrechterhält. Der 243 8.1 Kolonialgeschichte und / oder Familiengeschichte? Tourismus entpuppt sich als Kehrseite der Unsichtbarkeit Afrikas in der Welt, die auf einer Eingrenzung der menschlichen Gemeinschaften aufgrund von ras‐ sistischen Ausschlusskriterien beruht und deren Grundgedanke von einem harten (Pseudo-)Biologismus gespeist wird. 8.2 Abstammung als Ausgrenzung Cosima wächst als dunkelhäutiges Waisenkind im engstirnigen Deutschland der 1960er- und 1970er-Jahre auf. „Im Kinderheim hatte Cosima gelernt, daß Ab‐ stammung ein Mittel war, andere auszugrenzen“ (Paluch / Habeck 2004: 59). Jenseits der persönlichen Erfahrungen Cosimas wird dieses allgemeine Prinzip durch zwei männliche Figuren und deren weiblichen Entouragen untermauert. Paul von Kavea, der Vater von Nele von Kavea, und Clemens Stadler, der Vater von Cosima, agieren aufgrund der im ersten Fall berechtigten und im zweiten Fall unberechtigten Annahme, dass ihre Töchter von anderen Männern gezeugt worden sind. In diesen beiden Generationskonfigurationen - „Paul-Ara‐ bella-Nele“ und „Clemens-Kriemhild-Cosima“ - wird die tatsächliche oder ver‐ meintliche Nicht-Vaterschaft des juristischen Vaters zum Motor der Handlung. Entscheidend ist, dass der Roman in einen Abstammungsbegriff investiert, der rein biologisch definiert ist und keine anderen Formen der „Verwandtschaft“ zulässt: „Ihr Vater war nicht ihr Vater“, sagt sich Nele von Kavea (ebd.: 287, 289) und macht Paul von Kaveas faktisch existierende väterliche Erziehung zu‐ nichte. Nur die biologische Vaterschaft zählt sowohl in der narrativen Welt („storyworld“) des Romans als auch in ihrer eigenen Erzähllogik, da die Hand‐ lung ausschließlich von der Verletzung dieses biologischen Abstammungsprin‐ zips abhängt. Das Mysterium, das der Roman nach und nach preisgibt und erst am Ende vollständig lüftet, ist der Bruch der familiären Kontinuität: Nicht Paul von Kavea ist der Vater von Nele, sondern Assa Riarua: Die Wurzeln ihres Stammbaumes zappelten als Zweige im Wind, sie selbst, Nele von Kavea, war eine Schwarze, eine Negerin. Ihr Vater war nicht ihr Vater, und Nele war nicht Nele. […] Sie war nicht mehr die Enkelin des früheren Gouverneurs, sondern stammte von einem schwarzen Eingeborenen ab (ebd.: 287, 289). Die Kehrseite dieser Logik ist die Abwertung der weiblichen Komponenten der Familienlinie: „Nachdem Paul von Kavea nicht mehr ihr Vater war, konnte sie [Nele] sich auch nicht mehr an die blasse Gestalt ihrer Mutter [Arabella] erin‐ nern“ (ebd.: 290). Diese Abwertung der Weiblichkeit als Mitgarantie der Ab‐ stammung ist bemerkenswert, vor allem angesichts der Tatsache, dass die 244 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen weiblichen Figuren die Kontinuität der Familienlinie allesamt bewahren. Bis auf Paul von Kavea spielen alle anderen männlichen Figuren eher Nebenrollen in‐ nerhalb Handlungslogik. Als Beispiel dafür gilt Jasper, Paläontologe und ei‐ gentlich makelloser Ehemann von Cosima, der aber mit keiner anderen Rolle im Roman beauftragt ist außer derjenigen, die Schädelsymbolik ins Spiel zu bringen. Nicht einmal er, sondern sein Chef Fred Zukker, rettet Cosima in Na‐ mibia nach dem Brand in Crewo. Es ist umso überraschender, dass der Roman trotzdem auf die negative Seite des Abstammungsbruchs fokussiert ist. Er kann keine „disjunktive Verwandt‐ schaft“ im Sinne von Noudelmann (2012; 2016) zulassen. In diesem Sinne gibt Nele den Ton an, wenn sie die mittlerweile psychisch gestörte Kriemhild einem Paar auf dem Land zur Pflege übergibt und „[i]m Grunde ihres Herzens [nicht] verst[eht] […], wie man einem fremden Menschen gegenüber so fürsorglich sein könnte“ (Paluch / Habeck 2004: 269). Eine solche Unmöglichkeit alternativer Abstammungsprinzipen hat mehrere Gründe. Zum Teil ist sie strukturell: Würde der Text nicht so fest an der biolo‐ gischen Abstammung klammern, wäre das treibende Prinzip der Handlung, d. h. die skandalöse Verletzung der Familienlinie durch eine außereheliche Bezie‐ hung und „Rassenschande“ außer Funktion gesetzt. Mit anderen Worten: Alter‐ native Abstammungsprinzipien beherbergen bereits eine Verletzung der Norm und schwächen daher den Spannungsmotor des Erzählens. Als Hauptprinzip der Beziehungswelt des Romans gilt die gekappte Verbindung als Grundstruktur der Familienbeziehungen: Schon bald muss Paul von Kavea feststellen, „daß Nele schon lange aufgehört hatte, sich an Menschen zu binden“; und „es [ihr] nie gelungen, in die Verschlossenheit ihres Vaters einzudringen“ (ebd.: 42, 43). Das Prinzip der gekappten Beziehungen spart lediglich die Konfigurationen „Co‐ sima - Jasper - Hera“ und „Paul - Kriemhild“ aus. Sämtliche anderen Figuren‐ paare wie „Arabella - Frank“, „Arabella - Assa“ („Assa war, was er immer ge‐ wesen war, fremd“ [Paluch / Habeck 2004: 264]), „Arabella - Paul“, deren Beziehung nach der Geburt Neles auf gegenseitiger „Wortlosigkeit“ beruht (ebd.: 285), „Nele - Ehemann“, der so bedeutungslos ist, dass er keinen Namen verdient (ebd.: 82-3, 266-8), „Nele - Kriemhild“, „Kriemhild - Clemens“ und „Kriemhild - Cosima“ sind durch eine grundlegende Beziehungslosigkeit gekennzeichnet. Die Dominanz der Beziehungslosigkeit innerhalb und zwischen den Generati‐ onen wird zum Grundtenor eines Romans, dessen Ziel auf den ersten Blick die Wiederherstellung der Kommunikation und der Kontinuität ist. Diese Wieder‐ herstellung gelingt dem Roman aber nur bedingt, eben weil die Generationen, die als solche Anerkennung verdienen, nicht über die Grenzen des Deutschen hinaus konzipiert werden können. Das Abstammungsprinzip des Romans ist 245 8.2 Abstammung als Ausgrenzung nicht nur von Brüchen gekennzeichnet und von einer männlichen perspektive geprägt, sondern es ist auch strukturell - und das nicht nur im Kopf der Figuren - grundlegend monokulturell und eurozentrisch. 8.3 Alternative Stammbäume Gleichwohl lässt der Roman zwei alternative Versionen der Abstammung er‐ ahnen, die er selbst aber nicht einlösen kann. Wenn im Folgenden diese zwei Versionen geschildert werden, muss die Textanalyse unter dem Vorbehalt stehen, dass der Text solche nicht-biologischen Auswege aus der Geschichte der Brüche und der Beziehungslosigkeiten nicht in vollem Umfang zulassen kann oder will. Ob der Text daraus ein eigenes kulturelles Projekt macht oder man die Aussage des Texts als Diagnostik einer Gesellschaft sieht, die in Bezug auf den Nachbarn Afrika eher den Weg der Abgrenzung und Abschottung bevor‐ zugt, sei dahingestellt. Wichtig ist aber festzuhalten, dass der Text alternative Modi der „Verwandtschaft“ signalisiert bzw. registriert, sie jedoch resolut in einem Randbereich der Symbolik einkaserniert, so dass sie keinen nennens‐ werten Einfluss auf die Gesamtlogik der Handlung haben. Die erste Version eines alternativen „Verwandtschaftsmodell“ wird symbo‐ lisch durch zwei Bäume dargestellt: Die Wurzeln ihres Stammbaumes zappelten als Zweige im Wind, sie selbst, Nele von Kavea, war eine Schwarze, eine Negerin. […] Ihr Leben lang hatte sie das Gefühl ge‐ habt, etwas bewahren zu müssen, und plötzlich war alles egal, nichtig. Sie blieb vor Kriemhild sitzen, allein wie unter dem Kameldornbaum bei Gewitter. Sie spürte ihre Kopfhaut, als würde Regen darauftropfen, und fühlte ihre Wirbelsäule, als liefe Wasser innenwärts an ihr runter. (Paluch / Habeck 2004: 287) Der Stammbaum wird dem Kameldornbaum, einer einheimischen namibischen Akazienart, gegenübergestellt. Bemerkenswert ist, dass Cosima sofort nach dem Kameldornbaum sucht, als sie in Crewo ankommt (ebd.: 236). Der Kameldorn‐ baum ist der einzige Baum, den Arabellas Mann Frank nicht abholzt (ebd.: 94) und symbolisiert deswegen die Kontinuität der afrikanischen Natur und der menschlichen Siedlung: „Eine einmal angelegte Siedlung wird immer wieder Menschen beherbergen“, sagt der Chef-Paläontologe Fred Zukker (ebd.: 47). Der Baum bildet also einen Ort der Zusammenkunft und der Gemeinschaft, wenn auch - aber nicht nur - einer weißen Siedlergemeinschaft, da sie in der Sozial‐ struktur, der Kultur und der Literatur Afrikas von jeher eine besondere Stellung genießen (vgl. Calame-Griaule, Hg. 1969). Der Baum steht als Symbol für eine 246 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen organische Verwurzelung in einer Umwelt mit ihrer eigenen Geschichte, so dass der Text an dieser Stelle die Möglichkeit eines anderen Zugangs zu Neles Ge‐ burtsland suggeriert. Eine paar Seiten später wird diese Möglichkeit dezidiert angedeutet: „Sie […] stammt von einem schwarzen Eingeborenen ab“ (Paluch / Habeck 2004: 289). Das Verb „stammen“ bezieht sich hier im übertragenen Sinne primär auf den Baum, und deutet an, dass die organische Verbindung zum ge‐ erdeten Naturwesen den wahren Sinn der Abstammung untermauert. Bei einem solchen Deutungsansatz ist jedoch Vorsicht geboten. Wesentlich ist nicht das Organische und Natürliche, das sich allzu leicht in ein faschistisches National‐ bewusstsein, auch ein afrikanisches nach dem Muster der „Négritude“, integ‐ rieren ließe, sondern der Aspekt des „Spürens“ und „Fühlens“, d. h. ein Affekt I, der das Leben als Teil einer netzwerkartigen Umwelt erleben lässt und deswegen im Bereich der Affekte II und III einzuordnen ist. In diesem Augenblick der Rückbesinnung kommt Nele von Kavea plötzlich in physischen Kontakt mit ihrem eigenen körperlichen Wesen und erlebt es als eine Art Baum oder „Säule“, der bzw. die vom Regen bewässert wird. Gemeint ist hier nicht ein zentralistisches Prinzip, das eine einheitliche und abgegrenzte Blutsgemeinschaft um sich sammelt, da solche Gemeinschaftsstrukturen tradi‐ tionellen afrikanischen Gesellschaften mit ihren offenen Grenzen und aggluti‐ nativen Mitgliedschaftsdynamiken fremd sind (Herbst 2014: 40-57; Kopytoff, Hg. 1987; Mamdani 1996: 292). Vielmehr ist mit dem Baum ein Verwandtschafts‐ prinzip von offenen, mobilen Versammlungsorten gemeint, ähnlich des Clusters von Sprachbildern, das zum Tragen kommt, als Paul von Kavea endlich anfängt, die Wahrheit über die Familie auszusprechen: „Nele setzte sich zu ihnen ins Gras und faßte in die feste Narbe. Sie wußte nicht, wie lange sie keine Erde mehr berührt hatte“ (Paluch / Habeck 2004: 270). Zu diesem Zitat sind verschiedene Aspekte anzumerken: 1. Durch die Verwendung des botanischen Begriffs der „(Gras-)Narbe“, in die Nele „faßt“ und so die Erde „berührt“, wird die Umwelt als hautähnliche (Ge‐ fühls-)Schnittstelle dargestellt. Die Umwelt - genau wie die Zwischenmensch‐ lichkeit, die einen Teil der Natur bildet -, ist ein Raum der Begegnung und des Kontakts in einem fast haptischen Sinn, in dem sich ein Affekt im körperlichen Sinne ereignet. 2. Die Idee der Erdung wird auf diese Weise evoziert. Nicht im Sinne eines organischen Ursprungs, sondern als rhizomatischer, zusammenhängender Be‐ wuchs am Boden. An einer anderen Stelle wird ein solches Konzept mit bildli‐ chen Mittel sehr deutlich dargestellt: [Paul von Kavea] blieb vor einem Spinnennetz stehen und versuchte, den Anfang und das Ende des Fadens zu erkennen. Die Speichenfäden schienen das Fachwerk des 247 8.3 Alternative Stammbäume Netzes zu sein und wurden selbst von einem Rahmen getragen, der sich in vielen kleinen Verknüpfungen fortsetzte. Offensichtlich gab es mehr als nur einen Anfang, und um ein Netz zu erstellen, mußte man immer wieder von vorne beginnen. Der Kern des Netzes war seine Gesamtheit. (Ebd.: 130) Die Ablehnung eines singulären Ursprungs zugunsten eines rhizomartigen Netzwerkes mit mannigfaltigen Ausgangspunkten ist von großer Bedeutung. Wie oben angemerkt, ist in dem Roman die sonst vorherrschende Idee des (männlichen) Ursprungs als zeitlich orientiertes Hauptmerkmal eines auf Aus‐ grenzung basierenden Abstammungsprinzips von vorneherein problematisch. Stattdessen wird in dieser Textstelle eine „verstreute Verwandtschaft“ mit vielen Zugängen und Anknüpfungspunkten, allerdings fast beiläufig, durch die Bilder der „Grasnarbe“ und des „Spinnennetzes“ suggeriert. Bemerkenswert ist auch, dass der Ort diese Verwandtschaft als vegetal-organisch, d. h. im Gegensatz zum beispielsweise männlich konnotierten Stein, tendenziell weiblich konnotiert wird; ferner wird das Gras von einer Frau wahrgenommen, und zwar über einen haptischen Sinneskanal, nicht über den kognitiv-intellektuellen Kanal. 3. Es wird kein reines, makelloses Entstehungsmoment der Gemeinschaft aufgerufen, sondern das Homonym „Narbe“ bezieht sich auf ein Hautzeichen, das von einer früheren Verletzung zeugt. Eine Narbe markiert den Ort einer Heilung, die die Verletzung nicht spurlos verschwinden lässt, sondern die Ge‐ schichte als schmerzhaften Prozess sichtbar macht. Für das hier angedeutete alternative Abstammungsprinzip, dessen Entstehungskonzept eine gemein‐ same, jedoch durch Ausbeutung und Genozid gezeichnete, deutsch-afrikanische Geschichte ist, erweist sich das „Fassen“ und „Fühlen“ des Grases bzw. des Baumes als „Narbe“ als geeignetes Sprachbild. Zusammenfassend kann man in Bezug auf die zwei oben zitierten Textstellen sagen, dass „Spüren“ und „Fühlen“ auf affektive Verbindungen sowohl zur Um‐ welt wie auch zu anderen Menschen deuten, die überall sonst im Roman gekappt und abgetötet sind. Es wurde zu Beginn dieses Abschnitts betont, dass die alternativen Versionen der Verwandtschaft, die am Rande des Texts angedeutet werden, keinen wei‐ teren Einfluss auf die Erzähllogik haben. Demzufolge kann die positive Dimen‐ sion der Aussage: „Sie […] stammt von einem schwarzen Eingeborenen ab“ (ebd.: 289), nur in einer ‚widerborstigen Lektüre‘ - des sogenannten „resisting rea‐ ding“ (vgl. Fetterley 1978) - von außerhalb des Texts hervorgehoben werden. Für die in der narrativen Welt („storyworld“) gefangenen Betroffenen wird die Aussage sofort von dem „schwarzen Eingeborenen“ relativiert. Nele von Kavea kann sich eine multi-ethnische Verbindung nur als unnatürliches Vorkommnis vorstellen, wie sich an ihrer unvermittelten Reaktion zeigt, als sie die Hautfarbe 248 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen von Kriemhilds Baby erblickt: „‚Mit einem Neger‘, sagt sie angewidert“ (Pa‐ luch / Habeck 2004: 133). Das körperliche Miteinander von Individuen, die aus verschiedenen Kulturen stammen, kann nicht als Chance und Potenzial be‐ griffen werden, sondern löst bei ihr nur Ekel aus. Nele von Kavea setzt die Unmöglichkeit einer alternativen Verwandtschaft in die Tat um, indem sie de facto Selbstmord begeht. Als sie feststellt, dass sie das Haus doch nicht aufgeben kann, rennt sie in das bereits brennende Haus und stirbt in den Flammen. Damit besiegelt sie den Abbruch eines von ihr nicht gewollten Neuanfangs. Allerdings stellt der Roman dieses Ende, obschon leise, so doch auf doppelte Weise in Frage: „Selbstmord verhindert nicht, daß das fal‐ sche Leben weitergeht“ (ebd.: 225, 302). Eine zweite Version eines alternativen Abstammungsprinzips wird in einem Identitätstausch durch Kleidungswechsel suggeriert. Arabella wird gefangen‐ genommen und dann von dem Herero-Anführer und ihrem späteren Liebhaber Assa Riarua gerettet. Zwischendurch gerät sie in einen Hinterhalt und zwischen die Fronten des Gefechts. Assa zieht nach der Schlacht die Kleider des gefallenen Marinesoldaten Thomas Bonin an, der Matrose auf dem Schiff war, mit dem Arabella nach Afrika kam und der während der Überfahrt das Objekt ihrer Be‐ gierde darstellte. Nun verliebt sie sich in Assa, der „schließlich […] als dritter Maat vor ihr [stand]“ (ebd.: 184). Hervorzuheben ist, dass der Transfer der af‐ fektiven sexuellen Bindung von der oberflächlichen Kleidung getragen wird, trotzdem aber dem sich darunter befindlichen und grundsätzlich anderen Men‐ schen gilt. Die Kleidung ist äußerlich, ermöglicht aber gerade dadurch eine Überbrückung der menschlichen Unterschiede. Und nicht, wie man es bei einer Uniform erwarten könnte, die Versperrung in gruppenähnliche, kollektive Iden‐ titäten. Hier kommt ein alternatives Abstammungsprinzip zum Tragen, das so‐ wohl Differenz wie Identität, Oberflächlichkeit wie Tiefe zusammenbringt und somit jegliche Ausgrenzungsdynamik unterbindet. So verhält es sich in Bezug auf die genetische Metahandlung des Romans hinsichtlich des zentralen, verhängnisvollen Themas der Hautfarbe. Ein solches alternatives Abstammungsprinzip wird im Roman angedeutet, indem Assa Ri‐ aruas Erbgut bei Nele (Arabellas und Assas Tochter) und Kriemhild (Neles und Clemens Tochter) nicht sichtbar wird, während es bei Cosima (Kriemhilds Tochter) jedoch wieder in Erscheinung tritt und Nele aus sozialer Scham dazu veranlasst, ihre neugeborene Enkelin verschwinden zu lassen, um schließlich bei Hera (Cosimas Tochter) wieder unsichtbar zu werden. Was hier anhand einer „selten[en], aber durchaus möglichen Gegebenheit“ (Hermes 2012: 150) im ge‐ netischen Bild der abwechselnd unsichtbar bzw. sichtbar werdenden Hautfarbe zum Ausdruck kommt, ist die über Generationen hinaus bestehende, zwar nicht 249 8.3 Alternative Stammbäume anerkannte, deshalb jedoch keineswegs weniger miteinander „verflochtene“ Geschichte der Deutschen und der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Länder Afrikas. Wenn auch nur (oder gerade ausgerechnet) anhand des Phäno‐ mens der Hautfarbe, deren Oberflächlichkeit just durch das Verschwinden bzw. Wiederauftauchen in Erscheinung tritt, wird ein Prinzip einer tieferen und ge‐ rade deshalb nicht-linearen Verbundenheit entworfen - das Prinzip einer „Ver‐ flechtungsgeschichte“ (Werner / Zimmermann 2002). Miteinander verflochten können nur grundsätzlich verschiedene, aber nicht gänzlich inkompatible Stränge sein, daher die konzeptuelle wie gelebte Möglichkeit solcher Ge‐ schichte(n) als „Verflechtungszeiten“ (Mbembe 2002: 14; vgl. auch Nuttall 2009). Gleiches wird indirekt in der letzten Zeile des Romans angedeutet: „Da saß sie [Kriemhild] ihm [Paul] gegenüber und streichelte seine Finger, zärtlich, als wären sie schwarz“ (Paluch / Habeck 2004: 303). Die abschließende Textstelle erinnert an Arabellas Ankunft in Afrika: Die letzten Meter wurden die Frauen von den Krunegern durch die Dünung getragen. Arabella hielt sich an einer breiten, schwarzen Schulter fest und war erstaunt, daß sich die Haut anfühlte, als wäre sie weiß. Sie hatte etwas anderes, Pelziges oder Rauhes erwartet. (Ebd.: 18) Die intertextuelle Anspielung auf eine der Anfangsszenen in Timms Morenga, in der sich Gottschalk von einem Afrikaner durch die Brandung tragen lässt (2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9), ist offensichtlich. Während Gottschalk sich jedoch „ekelt[]“, entdeckt Arabella durch den Hautkontakt eine grundlegende, menschliche Ähnlichkeit. So stellt der Text von Anfang an fest, dass der Blick täuscht und dass das Fühlen den eigentlich wahren Zugang zur Haut ermöglicht. Das Tasten lässt verstehen, dass alle Hauttypen gleich sind, oder vielleicht besser, dass alle Hautarten gleich anders sind. Der Schlüssel zur alternativen Wahrnehmung einer mannigfaltigen „Verflechtungsgeschichte“ ist nicht das Sehen, worauf die Unterscheidung schwarze Haut / weiße Haut beruht, sondern das Tasten, das Fühlen, das eine andere Verbundenheit, nämlich eine nicht sichtbare Grundähnlichkeit zulässt. Bemerkenswert ist vor allem die Beziehung zwischen den beiden einleitenden und abschließenden Textstellen. Zusammen betrachtet bilden sie eine chiastische Figur, die eine Inversion widerspiegelt. Die Haut des Afrikaners fühlt sich an „als wäre sie weiß“ (Paluch / Habeck 2004: 18); die Finger des Deutschen werden von der Enkelin gestreichelt „als wären sie schwarz“ (ebd.: 303). Die Überkreuzung schwarz-weiß / weiß-schwarz sug‐ geriert eine Verknotung oder Verflechtung der jeweiligen afrikanischen und deutschen Geschichten, in welche der Roman in seiner geografischen Doppel‐ struktur verankert ist. Die Figur Paul von Kavea ist die einzige, die imstande ist, 250 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen sich eine solche Verbundenheit als Grundlage einer chiastischen „Verflech‐ tungsgeschichte“ vorzustellen: „Paul empfand sein Leben als merkwürdig zeit‐ versetzt, zeitversetzt und in einem Möbius-Band gefangen“ (ebd.: 130). Ob und inwiefern extrem vorsichtige Andeutungen wie diese überhaupt eine tragbare Kulturpolitik der Verflechtungsgeschichte anstoßen können, ist mehr als frag‐ lich - zumal der Roman eine solche Verflechtungsgeschichte anscheinend nur imaginieren kann, indem er das verhängnisvolle Hautfarbenregister aufrecht‐ erhält. Somit bleibt er vermutlich dem rassistischen Denkmuster der Farben verhaftet und untergräbt die von ihm suggerierten Alternativen im Augenblick ihrer Entstehung. 8.4 „Scramble for Africa“ Die freilich als utopisch einzustufende Möglichkeit einer farbblinden Transver‐ salität oder Überlappung der Haut als Kontaktzone bleibt im Roman eher ein Randphänomen oder ein kosmetischer Nachtrag, der keinen großen Einfluss auf die grundlegende Logik der Gesamterzählstruktur nimmt. Der Roman ist ein Familiendrama, in dem es um zwei gegenübergestellte Probleme geht: Einerseits handelt es sich um das Verschweigen und Lüften einer „Rassenschande“ in einer norddeutschen Adelsfamilie mit einer längst vergessenen Kolonialvergangen‐ heit, die metonymisch für die deutsche Kolonialvergangenheit als Ganzes fun‐ giert; andererseits wird der Kampf um den Besitz einer Farm in Afrika thema‐ tisiert, den zwei weiße Deutsche zwischen sich austragen. Um den Stoff noch einmal in Erinnerung zu rufen: Der ausgewanderte deut‐ sche Fotograf Ketelsen bewohnt seit Jahren das Haus Crewo, hat aber jetzt Angst, das Haus zu verlieren. Im Zuge der Unabhängigkeit überprüft die SWAPO die Landbesitzverhältnisse und unabhängig davon, ob sie den weißen Farmern, einschließlich Nele von Kavea, Rechtssicherheit gewährt oder die Be‐ sitzverhältnisse neu ordnet, befindet sich Ketelsen in einer prekären Lage (Pa‐ luch / Habeck 2004: 78). (Wohlgemerkt, diese fiktive Sachlage entspricht nicht dem tatsächlichen Verlauf der politischen Ereignisse in Namibia [vgl. Bollig 2004; Mufune 2010; Werner 2004].) Da Ketelsen fotografisches Beweismaterial über das schwarze Kind Kriemhilds (Cosima) besitzt, ist er in der Lage, die Fa‐ milienlüge des angeblich totgeborenen Kindes zu lüften (ebd.: 196-216). Auf dieser Grundlage versucht er, die Familie zu erpressen. Deshalb will Nele von Kavea als Gegenerpressung Kriemhilds Tochter Cosima nun das Haus schenken, so dass Ketelsen es nicht mehr behalten kann. Ketelsen dagegen gibt sich als der Lebensgefährte der angeblich verstorbenen Kriemhild aus, um wiederum Co‐ 251 8.4 „Scramble for Africa“ sima dazu zu bewegen, ihm das Haus zu überschreiben. Es kommt am Ende des Romans zu einem Showdown zwischen den dreien Parteien im Haus Crewo selbst, wo Cosima endlich erkennt, dass sie „offensichtlich der Zankapfel zweier Heuchler“ ist: „Ketelsen hatte sie betrogen, Nele erst recht. Es war nie um ihre wahre Vergangenheit gegangen“ (ebd.: 294). An dieser Stelle zeigt der Text sehr deutlich etwas über seine eigene Struktur und seinen erzähldynamisch blinden Fleck: Im Grunde genommen ist der Roman gar nicht an Afrika interessiert. Die Handlung bleibt einer weißen Logik ver‐ haftet, wonach „wir eine Farm in Afrika haben“ (ebd.: 64). Der Text wiederholt somit ein intertextuelles Motiv, das vor allem aus Karin Blixens Roman „Jenseits von Afrika“ (2010: 7) bekannt ist: „Ich hatte eine Farm in Afrika am Fuße der Ngongberge.“ Es geht letzten Endes um eine weiße Geschichte. Der Besitz Af‐ rikas, stellvertretend anwesend durch die Farm Crewo, die als Metonymie für Afrika als Ganzes fungiert, wird zwischen mehreren weißen Figuren verhandelt, in einer eurozentrischen Konstellation, in der die in Deutschland geborene und aufgewachsene schwarzhäutige „Pseudo-Afrikanerin“ Cosima lediglich als Ver‐ mittlungsinstanz fungiert. Dies ist eigentlich von Anfang an klar, wie Ketelsens Gedanken eingangs zeigen: „Er konnte Nele nicht drohen, weil er selbst er‐ preßbar war. Es war ein austariertes Kräfteverhältnis mit der Farm im Mittel‐ punkt“ (Paluch / Habeck 2004: 43). Nicht Afrika, nicht Cosima, sondern der der kolonialen Logik noch verhaftete, weiße Besitz eines Objekts aus der Kolonial‐ zeit ist der Mittelpunkt der Handlung. Die Herkunft Cosimas wird nur dann relevant, wenn sie als Vermittlerin gebracht wird. Ihr eigentlicher Status als Verbindung mit Afrika und als Verortung einer „Verflechtungsgeschichte“ zwi‐ schen Afrika und Europa bzw. Namibia und Deutschland ist absolut zweitrangig. Diesen Tatbestand kann der Text jedoch nicht offenlegen bzw. argumentieren, sondern nur performativ, d. h. handlungsbasiert, durchführen. Es geht also um einen fiktiven „scramble for Africa“ auf deutschem Terrain und der Roman kann demgemäß als fiktive Neuauflage der Berliner Konferenz von November 1884 bis Februar 1885 gelesen werden: In dieser wurde über die Teilung Afrikas zwischen den europäischen Kolonialmächten ausgehandelt. Nichts anderes ist Thema im Roman, obgleich der Prozess hier nur auf symbol‐ ischer Ebene abläuft. Die Afrikaner selbst haben keinen Zugang zum geschil‐ derten Besitzstreit: Bezeichnend ist, dass Cosima die Farm, bevor sie abbrennt, Ketelsen überschreibt und somit nie in Besitz nimmt. Sie selbst sagt bei der Ankunft in Namibia: „Ich will sehen, was nicht zu mir gehört“ (ebd.: 234, 287). Wenn am Ende des Texts Hera, die Tochter von Cosima, fragt: „Und was machen wir jetzt mit dem Land? Es ist doch noch unseres? “, antwortet Cosima: „Wir lassen es den Tieren, Nashörnern und so“ (ebd.: 301). Eine Rückgabe des Landes 252 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen an die ursprünglichen menschlichen Bewohner - „Uns gehört Hereroland“, singen die einstigen Herero-Aufständischen (ebd.: 144) - scheint für den Text nicht in Frage zu kommen. Dem Roman geht es ausschließlich um europäische Besitzverhältnisse (ebd.: 238). Angesichts der Brisanz der Landreformfrage in Namibia (sowie Südafrika und Simbabwe) in der Gegenwart, wo der Besitz der weißen Farmer von afrikani‐ schem Boden, wenn auch mit verschiedenen Akzentuierungen in den jeweiligen Debatten (Bollig 2004; Cousins / Walker, Hg. 2014; Mufune 2010; Scoones 2011; Werner 2004), nach wie vor extrem umstritten ist, erscheint die geschilderte fiktive Ausgangslage naiv und äußerst vereinfacht, wenn nicht gar zynisch. Vorgespielt wird Europas vorzeitige Kündigung einer möglicherweise anderen Zukunft des afrikanischen Kontinents (Mbembe 2013). Der Text verkörpert daher ein gescheitertes „re-memory“ im Sinne Morrisons und Mishras. „Re-me‐ mory“ bedeutet für Toni Morrison eine Erinnerung, die unabhängig von ein‐ zelnen Personen oder Gruppen an einem Ort haftet, wie es eine Figur in Mor‐ risons Beloved schildert: Some things you forget. Other things you never do. But it’s not. Places, places are still there. If a house burns down, it’s gone, but the place - the picture of it - stays, and not just in my rememory, but out there, in the world. What I remember is a picture floating around out there outside my head. I mean, even if I don’t think it, even if I die, the picture of what I did, or knew, or saw is still out there. Right in the place where it happened. (Morrison 1988: 35-6) Durch „re-memory“ entstehen „public place[s] of haunting“ (Dobbs 1998: 568); d. h. Orte, wo Erinnerungen eine eigene Dynamik entwickeln: „Operating in‐ dependently of the conscious will, memory is shown to be an active, constitutive force that has the power to construct and circumscribe identity, both individual and collective, in the image of its own contents“ (Lawrence 1991: 189). Sudesh Mishras (2018: 19) Neudefinition des Begriffs „re-memory“ im Kontext der post‐ kolonialen Kulturen des pazifischen Raums bzw. Ozeaniens „augments this in‐ sight to incorporate forms of radical revisioning, where memory presents an event in a new guise or form as a consequence of a change in perspective due to a particular historical dynamic“. Das „re-memory“ stellt infolgedessen die Transformationen eines Ereignisses der kollektiven Erinnerung dar, die im Zuge von geschichtlich veränderlichen Erinnerungspolitiken zum Vorschein kommen. Solche möglichen alternativen Versionen der kollektiven Erinnerung können mit Hilfe von verschütteten oder subalternen Perspektiven wieder ins Leben gerufen werden. Folglich treten nicht nur alternative Versionen vergan‐ gener Ereignisse zu Tage, sondern es können auch alternative Visionen der Zu‐ 253 8.4 „Scramble for Africa“ kunft konzipiert werden. „Re-memory“ heißt in diesem Zusammenhang nicht so sehr das Wiederauftauchen einer vergessenen Kolonialvergangenheit, die als ,Täter-Opfer-‘ und daher als ,Schuld-Entschuldigung-Reparations-Erzäh‐ lung‘ strukturiert ist, sondern den Neuentwurf einer noch mehr vergessenen und eigentlich noch zu erfindenden Verflechtungsgeschichte. Daher kann man auch in diesem Zusammenhang von „affective memory“ sprechen (Sharpe 2014). Ein solches „re-memory“ wird an verschiedenen Stellen des Romans Schrei der Hyänen angeboten, immer wieder jedoch nur in einer symbolisch verschleierten Form und ohne eine genuine Infragestellung des „master narra‐ tive“, des weißen kolonialen bzw. neokolonialen Landbesitzes zu ermöglichen. Deshalb können die verstreuten Beispiele des „re-memory“ im Roman von Pa‐ luch / Habeck nur bedingt Platz für eine alternative „Verflechtungsgeschichte“ der geteilten Erinnerung schaffen. Da eine solche neu erfundene Geschichte im Rahmen des Romans kaum zustande kommt, stellt der Text in performativer Form ein gescheitertes „re-memory“ dar. So kommt es zu einer erstaunlichen Abschottung der archivbasierten Ver‐ gangenheit am Ende des Texts. Paul von Kavea bietet Cosima seine Afrika-Ta‐ gebücher zur Lektüre an: „Wenn Du lesen willst, wie die ganze Geschichte anfing“, sagte Paul. Cosima sah das Heft an, nahm es aber nicht. Sie schaute in seine Augen, und nun erkannte sie die Ähnlichkeit mit dem Mann auf der alten Fotografie. „Ich will es nicht wissen. Ich will, daß sie weitergeht.“ Paul nickte. Daß Cosima sein Heft nicht nahm und lesen wollte, machte klar, daß sie sich den Chroniken und Überlieferungen dieser Familie nicht aussetzen wollte. Und zum letzten Mal verschwieg Paul die Wahrheit vor einem Menschen, den er liebte. Er hatte sich geschworen, es nie wieder zu tun, aber diesmal tat er es nicht aus Bequem‐ lichkeit, sondern für Cosimas Frieden. (Paluch / Habeck 2004: 302-3) Die deutsch-afrikanische Figur lehnt das Wissen über die eigene Vergangenheit ab, das wir als Leser*innen durch die Lektüre ihrer Geschichte erworben haben. Diese Ablehnung eines geschichtlichen Wissens über die Kolonialvergangen‐ heit der eigenen Familie, d. h. im Endeffekt über die metonymisch skizzierte gesamtdeutsche Kolonialvergangenheit, wird auch heftig kritisiert: Cosima turns her back both on family history and colonial history […]. The problem is not that one of the novel’s characters makes this choice of building the future without enquiry into the past. The problem is that the novel as a whole appears to follow the same discourse of closure, which raises the theme of German colonial involvement only to move it aside (Göttsche 2015: 373). 254 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen Die von Göttsche angedeutete Problematik wird an dieser Stelle umso deutlicher durch die komplizierte Überlappung der Erzählniveaus. Die Leser*innen stehen außerhalb der bald abgeschlossenen Geschichte, die die Figur von innen wei‐ terleben will. Das Weiterleben der eigenen Geschichte beruht aber anscheinend nicht nur auf Cosimas selbstauferlegtem Unwissen, sondern auf einem von außen erzwungenen Unwissen: „Es lag ihm [Paul von Kavea] auf der Zunge zu antworten, daß Cosimas Mutter [Kriemhild, d. h. Pauls Enkelin] lebte. Aber da Cosima sie nie gekannt hatte, würde sie Kriemhild auch nicht vermissen“ (Pa‐ luch / Habeck 2004: 302). Der Urgroßvater zieht es im Moment der Familien‐ wiederzusammenkunft vor, seiner Urenkelin das Wissen über die Existenz ihrer tatsächlich noch lebenden Mutter vorzuenthalten. Es entsteht eine verschach‐ telte Situation dramatischer Ironie: Die „Zuschauer“ wissen etwas, das einer der „Schauspieler“ nicht weiß. Durch die Struktur des von außen erzwungenen Un‐ wissens der Figuren in der „storyworld“ und des zugleich existierenden Wissens um die Zusammenhänge der Verwandtschaftsverhältnisse aufseiten der Leser*innen, werden diese zu Komplizen des Betrugs. Der Text zeigt nicht nur auf seinen eigenen blinden Fleck, sondern stellt den für ihn selbst unsichtbaren Status als ausschließlich weiß-europäische Geschichte zur Schau. Indem sie diese Zurschaustellung wahrnehmen, werden die Leser*innen Teil einer ge‐ samtgesellschaftlichen Komplizenschaft des aktiven Vergessens: einerseits des Vergessens der Kolonialvergangenheit, andererseits des Vergessen einer ge‐ meinsamen „Verflechtungsgeschichte“ (Werner / Zimmermann 2002). Auf diese Art sagt der Roman am Schluss das, was er nicht weiß und dass er nicht weiß sowie das, was wir nicht wissen, und dass wir es nicht wissen. Wie Ketelsen sind die Leser*innen somit im Leseprozess „zum Negativ seiner [bzw. ihrer] Erschei‐ nung geworden“ (Paluch / Habeck 2004: 234). Man kann daher dem Roman bestenfalls einen diagnostischen, prophetischen Wert zuschreiben. Dieser Interpretation folgend, greift der Text performativ da‐ rauf vor, was sich tatsächlich im Laufe der Bundestagsdebatten und der Ver‐ handlungen über die Rückgabe von menschlichen Gebeinen und Sakralobjekten ereignet hat: Ein Vorgehen, bei dem die Kolonialvergangenheit angesprochen und der Genozid namentlich genannt werden, um beides alsbald beiseite zu schieben und aus der Welt zu schaffen. Nach der Formulierung von Waldenfels (2010) wird hier eine Verantwortung für die eigene Vergangenheit („responsi‐ bility for“) übernommen, ohne dass man auf den anderen, an dieser gemein‐ samen Vergangenheit beteiligten durch ein „Antworten-Auf “ („responsiveness to“) zugeht. Die vermeintliche Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit aus Sicht der ehemaligen Kolonisatoren bedeutet nichts anderes als die Bewältigung der Vergangenheit auf Kosten der ehemaligen Kolonisierten bzw. deren Nach‐ 255 8.4 „Scramble for Africa“ fahren. Eine rein kognitiv-epistemologische Vergangenheitsbewältigung dient in diesem Fall lediglich dazu, die trotzdem unterschwellig nachwirkenden, ge‐ schichtlichen und geopolitischen Beziehungen zu kappen. Der Text selbst scheint dies zwischendurch zu erahnen. In einem wichtigen Austausch mit seiner Frau Cosima verteidigt Jasper seinen Beruf als Paläontologe: „Weil man die Probleme, die man hat, verstehen lernt, wenn man sich mit seiner Abstam‐ mung auskennt“. Cosima erwidert: „Es nützt nichts, Probleme zu verstehen, man muß sie lösen. Du verschluckst Dich auch, obwohl Du weißt, wie es dazu kommt“ (Paluch / Habeck 2004: 66). Ideologien zu durchleuchten, Mythen bloß‐ zulegen, vermeintlich harmlose Denkmustern zu entlarven, das sind die Strate‐ gien der kognitiv-basierten Diskursanalyse bzw. -kritik. Das Bloßlegen der My‐ then ändert aber nur bedingt etwas am tatsächlichen Gewebe der real wirkenden Beziehungen, von den persönlichen bis hin zu den geopolitischen. Genauso bri‐ sant ist die Art und Weise, wie das Leben weitergeht (in der negativen Formu‐ lierung Arabellas und Pauls und in der positiven Cosimas) anhand von Bezie‐ hungen und Kontakten, mit anderen Worten über affektive Verbindungen. Diese gilt es zu hegen und zu pflegen, auch mittels literarischer Darstellungen über Generationen hinaus. 256 8. Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen 9. Jaumanns Der lange Schatten In Bernhard Jaumanns Kriminalroman Der lange Schatten (2015) führt einer der Protagonisten, der deutsch-namibische Journalist Claus Tiedtke, vor, was die Essenz eines Kriminalromans ausmacht: „[D]as, was wirklich zählte, [fand] an‐ derswo [statt]. In seinem Kopf nämlich. Stück für Stück setzte sich eine Ge‐ schichte zusammen“ (ebd.: 179-80). Der Detektiv entschlüsselt die rätselhafte Geschichte eines Verbrechens, indem er, dank seiner Einbildungskraft und seines mentalen Geschicks, einzelne Indizien zu einem Gesamtbild zusammen‐ führt. In Jaumanns Roman impliziert der Ausdruck „eine Geschichte“ jedoch viel mehr als nur die Geschichte eines spezifischen Verbrechens: Es geht um die Geschichte als Verbrechen. Die Stücke der Geschichte werden zusammenge‐ führt, um die verwischten Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegen‐ wart, zwischen Deutschen und Namibiern wieder sichtbar zu machen. Folglich werden die bis in die Gegenwart herrschenden (neo-)kolonialen Verhältnisse zu Tage gefördert. Gleichwohl findet diese Arbeit der Zusammenführung nicht nur im Kopf des Einzelnen statt, sondern anhand von öffentlichen, rituellen und institutionellen Vorgängen: in der feierlichen Rückgabe von erbeuteten Hererobzw. Nama-Schädeln aus einer Kolonialsammlung in Berlin. Ebenso wenig er‐ folgt die Wiederzusammenkunft der zwei getrennten Geschichten ausschließ‐ lich durch Kopfarbeit, sondern bedarf aus der Sicht des Romans der Arbeit des Affekts. In diesem Kapitel zu Jaumanns Der lange Schatten baut sich die Argumenta‐ tion wie folgt auf: Der Roman besteht aus zwei Handlungssträngen, die zu‐ nächst, so wird es dem Leser bzw. der Leserin suggeriert, eng miteinander ver‐ woben sind. Einerseits einer Entführung in Namibia und andererseits ein Skandal um die Rückgabe von Hererobzw. Nama-Schädeln in Berlin. Der zweite Handlungsstrang basiert zum Teil auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 2011. Die zwei Handlungen erweisen sich aber als nahezu vollständig von‐ einander entkoppelt, so dass auf der Ebene der grundlegenden Handlungs‐ struktur die Gleichgültig Europas gegenüber Afrika widergespiegelt wird. Diese Struktur wird auf einer zweiten Ebene - der Kluft zwischen Fakt und Fiktion - abgebildet. Da die fiktive Handlung durch die Fügungen des Textgeschehens teilweise jedoch wieder in den Rahmen der tatsächlich stattgefundenen Ereig‐ nisse übergeht, findet sich die Kluft zwischen Fakt und Fiktion an diesen Stellen auf null reduziert. Eine Geschichte, in der die Kluft zwischen Fakt und Fiktion die Kluft zwischen dem europäischen und dem namibischen Geschichtsbe‐ wusstsein annulliert, wird insofern unmöglich. Diese Annullierung ist aber eng mit der Gattung des Kriminalromans verbunden und erklärt die Wahl der Gat‐ tung als Mittel zum Umgang mit der Kolonialgeschichte. Eine kurze Schilderung der verschiedenen Funktionen der Gattung ,Kriminalroman‘ zeigt die Machtlo‐ sigkeit der Gattung, deren paradigmatische Funktion der Wissensvorführung als Prozess sowohl im Rahmen des fiktiven Umgangs mit der Kolonialvergan‐ genheit wie auch im Kontext der aktuellen Afrikapolitik Deutschlands statt‐ finden sollte. Insofern ist Jaumanns Kriminalroman exemplarisch für das post‐ koloniale Schreiben, das seine eigenen Gattungsmerkmale kritisch unter die Lupe nimmt und in Frage stellt. Jaumanns Roman kann lediglich als ein Beispiel für die „Ent-Täuschung“ dienen, die heutzutage in den afrikanischen Ländern aufkommt. Sie ist einerseits spürbar in der Abhängigkeit als Folge nicht erfüllter Versprechen, und findet andererseits ihren Ausdruck in der Verweigerung eines angemessenen Umgangs mit der Kolonialvergangenheit seitens der Bundesre‐ gierung. Genau in dieser „Ent-Täuschung“ liegt aber die Funktion von Jaumanns Kriminalroman, den man eventuell besser als „Anti-Kriminalroman“ bezeichnen könnte. Zunächst betont der Roman den strukturellen Grund für diesen Affekt der Enttäuschung, der nämlich aus der Gleichgültigkeit der Deutschen gegen‐ über den Forderungen der einstigen kolonialen Untertanen rührt. Am Ende aber macht Jaumanns Kriminalroman mit einem überraschenden Schluss einen kon‐ kreten Lösungsvorschlag dafür, wie ein affektiver Bezug zur heutigen Ge‐ schichte aussehen könnte, der sich der im Roman diagnostizierten Gleichgül‐ tigkeit der Gegenwartsgesellschaft widersetzt. 9.1 Zwei Handlungsstränge: Windhoek vs. Berlin Der erste Handlungsstrang des Kriminalromans Der lange Schatten ist vorwie‐ gend in Deutschland verortet. Zunächst spielt sich das Geschehen in Freiburg im Breisgau ab, danach jedoch verlagert es sich schwerpunktmäßig nach Berlin. Der junge Herero Kaiphas wird im Auftrag eines Unbekannten nach Deutsch‐ land geschickt, um das Freiburger Grab des kolonialen Rassenforschers Eugen Fischer zu schänden, seinen Schädel zu entfernen und eine Art Gegenschädel‐ raub durchzuführen. Er soll dann den Fischer-Schädel zusammen mit einigen Herero-Schädeln, die gerade zu diesem Zeitpunkt in Berlin an die namibische Delegation überstellt werden, nach Namibia zurückbringen. Der deutsch-nami‐ bische Journalist Claus Tiedtke, der die Delegation begleitet, erfährt davon und untersucht den Fall. Er kommt allmählich zu der Erkenntnis, dass diese Grab‐ 258 9. Jaumanns Der lange Schatten schändung bei der Rückgabefeier der Hererobzw. Nama-Schädel einen Skandal verursachen soll. Es stellt sich heraus, dass Kaiphas vom Innenminister Kawa‐ nyama mit dieser Aufgabe betraut worden ist, um die Herero-Delegation im Rahmen der Verhandlungen mit der deutschen Regierung zu diskreditieren. Da‐ durch soll der Alleingang einer einzelnen ethnischen Gruppe vereitelt werden, um eventuell aufkommende inter-ethnische („tribale“) Konflikte im Gesamtin‐ teresse der namibischen Nation zu vermeiden ( Jaumann 2015: 155-7). Kawa‐ nyama unterstützt die Herero-Forderungen in der Realität keineswegs, stachelt Kaiphas aber mit telefonischen Nachrichten an, in denen es um das grausame Leiden der Herero-Krieger bzw. -Gefangenen geht (ebd.: 17-8, 54, 165), um so die Herero-Kampagne ins Leere laufen zu lassen. Die Pläne Kawanyamas entgleisen, nachdem Kaiphas während einer Routi‐ nekontrolle einen Polizisten erschießt. Als Folge lastet Kawanyama dem Beauf‐ tragten Kaiphas ein erfundenes Attentat an, um ihn auf indirekte Weise mit Hilfe der übereifrigen und gewaltbereiten Berliner Kripo aus dem Weg zu schaffen (ebd.: 259). Der unbewaffnete Kaiphas wird während der Rückgabezeremonie von der Berliner Polizei niedergeschossen, aufgrund dessen eine Massenpanik ausbricht (ebd.: 231-46) und beide Seiten sind endgültig diskreditiert: Die He‐ rero sind mit dem Vorwurf konfrontiert, einen Gegenschädelraub veranstaltet zu haben, auch wenn der Raub nicht von ihnen, sondern vom Ovambo-Innen‐ minister Kawanyama ausgeht, und die Deutschen haben einen unbewaffneten Afrikaner ohne Gerichtsverfahren umgebracht: Es gab zwei eindeutige Verlierer und einen strahlenden Gewinner, nämlich die nami‐ bische, von Ovambos dominierte Regierung. Die aufmüpfigen Hereros waren gründ‐ lich diskreditiert, die trampeligen Deutschen würden in Zukunft gern ein wenig mehr Hilfe [d. h. Entwicklungshilfe] leisten, um ihren Amoklauf durch den Porzellanladen vergessen zu machen, und wer bot sich nun als Vermittler an, um historische Lasten abzubauen? Wer könnte da eine gute Figur abgeben? Genau, die SWAPO-Regierung. (Ebd.: 258) Am Ende des Krimis wird Kawanyama jedoch entlarvt und begeht Selbstmord. Damit ist der erste Erzählstrang handlungslogisch abgeschlossen. Der zweite Erzählstrang spielt dagegen in Windhoek, der Hauptstadt Nami‐ bias, wo die namibische Detektivin Clemencia Garises vom deutschen Bot‐ schafter Engel mit der Aufklärung eines Verbrechens beauftragt wird: Die Frau des Botschafters, Mara Engel, wird zusammen mit dem Herero-Kind Samuel, das sie adoptieren möchte, entführt. Anstelle eines Lösegelds wird vom Bot‐ schafter verlangt, dass er bei der Rückführungsfeier für die heimgebrachten Schädel in Windhoek, etwas überspitzt nach dem Muster der tatsächlich ge‐ 259 9.1 Zwei Handlungsstränge: Windhoek vs. Berlin haltenen Rede der Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul 2004, eine umfas‐ sende Entschuldigung ausspricht und finanzielle Reparationen für die Herero bzw. Nama in Aussicht stellt: „[Sie] werden […] eine öffentliche Rede halten. Und zwar bei der Gedenkfeier für die aus Berlin kommenden Schädel unserer Ahnen. Da werden Sie im Namen Ihrer Re‐ gierung ein eindeutiges Schuldeingeständnis für den Völkermord an den Hereros ab‐ legen. Sie werden erklären, dass Deutschland zu seiner historischen Verantwortung steht und alles tun wird, um seine Schuld wiedergutzumachen. Ein paar konkrete Ideen dazu werden Ihnen sicher einfallen. Wir hoffen sehr, dass Ihnen eine überzeu‐ gende Rede gelingt […]. Eine gute Rede und sie [Mara] kommt unversehrt zu Ihnen zurück. Eine schlechte oder mittelmäßige Rede und sie ist tot. So einfach ist das.“ (Ebd.: 89) Es stellt sich heraus, dass Mara die Urenkelin des Rassenforschers Fischer ist, dessen Grab just zu dem Zeitpunkt der Entführung geschändet wird (ebd.: 85-7). Die Adoption des Herero-Waisen stellt für Mara eine Art persönliche Wieder‐ gutmachung der rassistischen Verbrechen ihres Urgroßvaters dar: Die Prägungen der Abstammung können überwunden werden, würde sie sich ein‐ reden, denn jeder hat die Wahl, und ich, ich habe den Mut besessen, mich vom ver‐ brecherischen Rassismus meiner Vorfahren radikal loszusagen und auf die richtige Seite zu wechseln. (Ebd.: 295) Da aber die Adoption durch das dafür zuständige namibische Amt blockiert wird, lässt sich Mara von dem hererostämmigen Familienminister erpressen, und erpresst selbst anschließend ihren eigenen Mann, indem sie sich freiwillig auf eine inszenierte Entführung einlässt (ebd.: 288; 301-2). Obwohl es dem Bot‐ schafter nicht gelingt, die von ihm erwünschte Entschuldigung auszusprechen, kostet es letztlich nicht das Leben seiner Frau, da diese schließlich gar nicht entführt wurde. Was aus dem Ehepaar Engels wird, erfährt der bzw. die Leser*in nicht, auch wenn Clemencia, die am Ende die Konspiration aufdeckt, sich deren gegenseitige Entfremdung vorstellt ( Jaumann 2015: 306). Allerdings wird ange‐ deutet, dass die Detektivin Clemencia Garises und ihr früherer Freund, der Deutsch-Namibier Claus Tiedtke, das Kind, das Mara entgeht, adoptieren und eine neue Familie gründen wollen (ebd.: 310-1). Bemerkenswert an dem Roman ist, wie bereits ausgeführt, die Tatsache, dass die beiden Handlungsstränge im Grunde nur äußerst geringfügig miteinander zu tun haben. Lediglich an dem Punkt, an dem sich Clemencia und Claus ge‐ genseitig um Hilfe bitten, um die jeweiligen Untersuchungen in Windhoek bzw. Berlin durchführen zu können und sie sich Details mitteilen. An nur einer Stelle 260 9. Jaumanns Der lange Schatten konvergieren die zwei Handlungsstränge: In der vorletzten Szene konfrontiert Clemencia Kawanyama mit den Fakten seiner Intrigen, deren Hauptschauplatz eigentlich Berlin ist. In der letzten Szene verfolgt sie schließlich die flüchtende Mara aus dem Parlamentsgarten in Windhoek (ebd.: 258-74, 308). Im Übrigen schildert der Krimi zwei Rätseln, die sich zwar auf gewisse Weise gegenseitig spiegeln, letztlich jedoch nur partiell in der Figur der namibischen Detektivin Clemencia, die bereits im Zentrum anderer Krimis von Jaumann stand, über‐ schneiden. Dass die namibische und die deutsche Geschichte so wenig miteinander zu tun haben, ist zum Teil dadurch bedingt, dass die jeweiligen Komplotte nicht zum Erfolg führen und sich deshalb geografisch nie überkreuzen. Kaiphas schei‐ tert mit seinem Auftrag, den Schädel Fischers nach Hause zu bringen, und Mara scheitert in ihrer selbst auferlegten Mission, Samuel zu „retten“ und zurück nach Deutschland zu bringen. Claus reflektiert: Hätte beides geklappt, wäre ein makabrer Austausch zwischen den Kontinenten zu‐ stande gekommen. Der tote deutsche Rassist als verspätete symbolische Kriegsbeute der Herero-Nachfahren gegen den traumatisierten Herero-Jungen als Wiedergutma‐ chungsobjekt der reuewilligen Rassisten-Urenkelin (ebd.: 307). Mit dieser doppelten, aber zugleich getrennten Erzählstruktur wird nicht nur die Konstruktion eines etwas zu perfekt geschlossenen Handlungskreises er‐ schaffen: Mara war praktisch zeitgleich mit dem Freiburger Vandalenakt hier in Namibia ent‐ führt worden, während sich ebenfalls gerade jetzt eine namibische Delegation in Deutschland aufhielt. […] Damit schloss sich der Kreis. Wie auch immer das alles zusammenhängen mochte, es erschien Engels mehr als beunruhigend. (Ebd.: 87) Wie so viele der Gedanken des deutschen Botschafters, die zumeist im Modus der erlebten Rede vermittelt werden, bewahrheitet sich diese Beobachtung je‐ doch nicht: Der Kreis schließt sich nicht. Zunächst versichert Claus seiner früheren Liebhaberin Clemencia, „[d]ass alles zusammenhängt. Deine Entführung und meine Grabschänder“ (ebd.: 171). Aber „Claus’ Theorie […] klang […] zu rund, zu glatt. Das rührte wohl daher, dass Claus trotz seiner Beteuerungen, wie untrennbar alles zusammenhänge, nur seine Berliner Geschichte berücksichtigt hatte“ (ebd.: 185). Vielmehr ent‐ sprechen die Erzählkonditionen durch die merkwürdige Trennung zwischen den Erzählsträngen auf nüchterne Weise der grundlegenden Kluft zwischen den zwei Erzähluniversen. Jedoch ändern die Erzählbedingungen die echte Welt nicht. Das Erzählinteresse kann nur bedingt das Interesse des außerliterarischen 261 9.1 Zwei Handlungsstränge: Windhoek vs. Berlin Publikums beeinflussen. Nicht umsonst empfindet Claus „fast so etwas wie Mit‐ leid mit diesen Hereros und Namas, die sich einbildeten, irgendwen in Europa würde es interessieren, was ihren Vorfahren angetan worden war“ (ebd.: 14). Kraft der beiden rätselhaften Verbrechen gelingt es dem Kriminalroman, zwei Welten zusammenzubringen; sobald die Rätsel aber gelöst sind, fallen diese Welten wieder auseinander. Jaumann (ebd.: 27) selbst fragt: „Also bedingen sich Mord und Ort gegenseitig, finden sie in der schrittweisen Entwicklung zuei‐ nander? “ Da in diesem Roman sowohl der Mord als auch der Ort verdoppelt sind, stimmt dies nur teilweise: Ort und Mord finden lediglich insofern zuei‐ nander, als dass der jeweilige Ort und das dort verübte Verbrechen nicht mitei‐ nander in Berührung kommen. Fazit: Das übergeordnete Rätsel des Kriminal‐ romans ist nicht nur ein Verbrechen bzw. in diesem Text zwei Verbrechen, sondern es besteht vielmehr in den zunächst mysteriösen Verflechtungen der beiden Rätselgeschichten. Die Lösung des Rätsels ist nüchtern und sogar ziem‐ lich pessimistisch: Trotz der fast hundertfünfzigjährigen „Verflechtungsge‐ schichte“ ist die Kluft zwischen den zwei Ländern tiefer denn je. Die Kluft im‐ pliziert in diesem Fall vor allem Desinteresse, also Gleichgültigkeit. Obwohl Jaumann versucht, mit der Gattung des Kriminalromans das Interesse des Pub‐ likums für Namibia und die mit Deutschland verbundene Geschichte zu wecken, lässt der Roman das Scheitern des Vorhabens schon im Voraus erahnen. 9.2 Fakt vs. Fiktion und die „Enttäuschung“ Die Handlung basiert auf einer wahren Begebenheit. Im Oktober 2011 reiste eine namibische Delegation für die Restitution von Hererobzw. Nama-Schädeln nach Berlin, um in der Berliner Charité einer Rückgabezeremonie beizuwohnen. Reale Personen, wie der namibische Kultusminister, Kazenambo, oder der He‐ rero-Paramount Chief, Kuaima Riruako, die Mitglieder der Delegation waren, kommen - neben fiktiven Gestalten wie Kawanyama - als Figuren in Jaumanns Krimi vor. Die Unruhen während der Rückgabezeremonie sind nicht ganz frei erfunden, da die anfängliche Brüskierung seitens der Bundesregierung, die eine Unterzeichnung des Rückgabevertrags verweigerte, tatsächlich während der Feier in der Berliner Charité eskalierte: Staatsministerin Cornelia Pieper (FDP) vom Auswärtigen Amt hielt eine Rede, die es einmal mehr vermied, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzu‐ erkennen und um Entschuldigung zu bitten. Am Ende ging der Protest gegen diese Art der offiziellen Geschichtsklitterung fast in einen Tumult über, Pieper verließ grußlos den Saal (Kössler / Wegmann 2011). 262 9. Jaumanns Der lange Schatten Die fiktiven Handlungsergänzungen, die über die Tatsachen hinausgehen, sind dabei so gestaltet, dass sie sich wieder auf null reduzieren: Kaiphas wird von der Berliner Kripo niedergeschossen, Kawanyama begeht Selbstmord, Mara rennt weg und verschwindet in den Kulissen des Romanschlusses. Mit anderen Worten lösen sich alle Hauptpersonen der nicht-wirklichen Ereignisse auf, so dass nur die Basis-Tatsachen weitgehend unangetastet bleiben. (In anderen his‐ torischen Romanen fügt sich das nicht-wirkliche Geschehen in das tatsächlich stattgefundene, so dass sich auch in diesen Fällen die Fiktion wieder auf null reduziert. Die Fiktion darf sich nicht zu weit aus den Rahmen des bekanntlich Wahren herauswagen, sonst verfällt sie in die Gattung der „hypotheticals“ oder „counterfactuals“ [Ferguson 1999]. Ferguson selbst [ebd.: 416-40] bietet ein Beispiel dafür, dass sich ein abweichender Verlauf der Geschichte wieder mit der wahren Bahn der Ereignisse zusammenführen lässt.) Auf diese Art und Weise verbietet sich der Roman, der gegenwärtigen Realität Konkurrenz zu machen. Beispielsweise verfasst Botschafter Engels tatsächlich eine öffentliche Entschuldigung, die weit über das hinausgeht, was im Rahmen der aktuellen Außenpolitik Deutschlands zulässig wäre: „Als Botschafter und im Namen der Regierung der Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des dafür verant‐ wortlichen Kaiserreichs möchte ich mein tiefes Bedauern für die damaligen Ver‐ brechen ausdrücken und mich beim ganzen namibischen Volk, speziell aber bei den besonders betroffenen Gruppen der Hereros und Namas entschuldigen“ ( Jaumann 2015: 125; Hervorhebung im Originaltext). In der „möglichen Welt“ der Fiktion (Pavel 1988) lässt der Text kurz eine utopische Entschuldigung erscheinen, an‐ nulliert diese jedoch alsbald. Der Botschafter löscht die Worte sofort von seinem iPad - „Nein, so ging das auf keinen Fall! “ (ebd.) - und spricht bei der Rückga‐ befeier keine Entschuldigung aus, sondern zitiert lediglich das biblische Sprich‐ wort „Wer ohne Schuld ist, […] der werfe den ersten Stein“ (ebd.: 304), was in etwa der konservativen Replik gegen Kolonialentschuldigungen entspricht, wo‐ nach die anderen Kolonialherren sich genauso schlimm verhalten hätten und die Kolonisierten ebenfalls Unterdrücker bzw. Kriegsverbrecher gewesen seien. Es entsteht dadurch auch kein diplomatischer Eklat: „Ausgezeichnet, Herr Bot‐ schafter, sehr effektvoll. Man sollte die Wirkung symbolischer Gesten nie un‐ terschätzen“, kommentiert ein Mitglied der namibischen Regierung überaus zy‐ nisch (ebd.: 305). Die wahre Geschichte bleibt in dieser Hinsicht von der fiktiven Geschichte unberührt. Mit anderen Worten wird nichts inszeniert, was sich von der gegenwärtigen Lage zu weit entfernen würde. Der Roman ermöglicht, mit dem hybriden Modell Fergusons (Hg. 1999) gedacht, eine Art „counterfactual“ oder spekulative Geschichtsschreibung, worin verschiedene Szenarien vorläufig ausprobiert werden können, bevor sie zurückgezogen werden, so dass der tat‐ 263 9.2 Fakt vs. Fiktion und die „Enttäuschung“ sächliche Verlauf der Ereignisse nicht angetastet wird. Somit fügt sich die spe‐ kulative Geschichte wieder nahtlos in die aktuelle ein und demonstriert damit auf ausdrückliche Weise sowohl ihre Nähe zur als auch ihre Vereinbarkeit mit der aktuellen Geschichtslage. Entscheidend ist jedoch nicht so sehr der bescheidene Spielraum, der im Rahmen des Romans angeboten wird, sondern vielmehr die Tatsache, dass es anscheinend nur innerhalb dieses fiktiven Rahmens überhaupt einen Spielraum gibt. So scheint die Realität außerhalb des Romans sämtliche Möglichkeiten von Protest oder Widerstand zu drosseln - auch wenn sie potenziell nicht mit der Realität unvereinbar sind. Sogar die Einbringung einer Ideologiekritik wird auf diese Weise untergraben, weil die Wahrheit, auch wenn sie zu Tage gebracht wird, keine Auswirkung auf die Realität hat. Die gelösten Rätsel des Diskredi‐ tierungsversuchs und der selbstinszenierten Entführung laufen beide „ins Leere“, wodurch sie mit der außerfiktiven Realität, so wie wir sie kennen, kei‐ neswegs kollidieren. Dies erzeugt aufseiten des Romans eine gewisse Realitäts‐ treue und lässt die Realität als die einzige Möglichkeit erscheinen, wogegen die Fiktion mit ihren Transformationsbzw. Änderungsimpulsen kaum Gewicht hat. Es ist daher wenig überraschend, dass der Affekt, der hier zum Vorschein kommt, ein Affekt der „Enttäuschung“ ist. Die „Enttäuschung“ bezieht sich nicht nur auf die Welt des Romans, sondern stellt darüber hinaus ein grundlegendes kollektives Gefühl im postkolonialen südlichen Afrika der Gegenwart dar (van der Vlies 2017). Die Entlarvung der ideologischen Täuschung führt nicht zur Emanzipation, sondern lediglich zur Ent-Täuschung. Die Täuschung der Ideo‐ logie ist nur noch sekundär; primär ist die Erkenntnis, dass eine Entlarvung der Ideologie keineswegs die herrschenden sozioökonomischen Verhältnisse än‐ dert, selbst wenn sich die politischen Verhältnisse, z. B. im Zuge der Unabhän‐ gigkeit bzw. des Ausklingens der Apartheid, einem Wandel unterziehen. Die Ent-Täuschung ist der Affekt der Geschichte, die sich in ihrer Ausweglosigkeit als Sackgasse erweist. In der Ent-Täuschung über die gescheiterte Dekolonisie‐ rung im Allgemeinen und im speziellen Falle Namibias und über die blockierte Versöhnung mit Deutschland, so die These des vorliegenden Kapitels, liegt der Schlüssel zur Bedeutung der Gattung des Kriminalromans. 9.3 Die Gattung des Krimis Um die Stellung des Kriminalromans im Falle Jaumanns zu erläutern, sollen im Folgenden in einer kleinen Auswahl einige soziosymbolische Funktionen vor‐ gestellt werden, die diesem Texttypus innewohnen. Eine Minimaltypologie, die 264 9. Jaumanns Der lange Schatten die soziologischen Funktionen der Gattung des Kriminalromans beleuchtet, verweist auf drei grobe Deutungsmuster. Es geht dabei nicht darum, eine fein‐ gliedrige Typologie der Untergattungen aufzuzeigen, sondern lediglich drei Grundfunktionen herauszustellen, um die besonderen Charakteristika des Ge‐ genwartskrimis in ihrem Bezug zur Kolonialgeschichte Namibias hervorzu‐ heben. Bei den ersten beiden Typen gilt das Wissen des Detektivs als eine Art Macht. Todorov zufolge ist der Kriminalroman eine „gnoseologische“ oder „epistemo‐ logische“ Erzählgattung (Todorov 1987: 53-4). Der Leseansatz, der vom Text angeboten wird (vgl. Dunker 1991), ist weniger von der Frage „Was passiert danach? “, als von der Frage „Wie ändert sich die Wahrnehmung im Laufe der Geschichte? “ geprägt. Diese soziologische Funktion des Kriminalromans bleibt in den ersten zwei Haupttypen der Gattung stabil. Über den Topos des Wissens wird Macht entweder hegemonisch ausgeübt oder antihegemonisch zurückge‐ wonnen. Im dritten Typus wird dagegen wenig Macht ausgeübt. Im Gegenteil dient der Krimi dazu, eine besondere Art der Machtlosigkeit angesichts der Ge‐ schichte zum Ausdruck zu bringen. Beim ersten Haupttypus erscheint der Kriminalroman als eine bürgerliche Gattung, deren Rolle darin besteht, die Ordnung der bürgerlichen Mittelschicht gegenüber der proletarischen Kriminalität durch die Aufklärung des Verbre‐ chens auf symbolische Weise zu gewährleisten. Auf der Handlungsebene insze‐ niert das Wissen des Detektivs die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung: „Der Krimileser […] wünscht Verunsicherung, ja, aber am Ende will er seine Sicherheiten wieder bestätigt sehen. Er sehnt sich nach scheinbar un‐ erklärlichen Rätseln, ja, aber am Schluss will er sie aufgeklärt haben“, schreibt Jaumann (2016: 36) selbst. Traditionell gilt dies für das bürgerliche Europa (Knight 1980), jedoch nimmt diese Funktion des Kriminalromans momentan auch im literarischen Raum des südlichen Afrikas eine zentrale Stellung ein (Warnes 2012). Beim zweiten Haupttypus wird die Macht des enthüllenden Blicks gegen ebendiese gesellschaftliche Ordnung gewendet, der dieser Blick beim ersten Haupttypus dienen sollte. Es handelt sich um eine „postkoloniale“ Gattung. Im indigenen (australischen) Kriminalroman beispielsweise dient der kognitive As‐ pekt als Fokalisierung dazu, die Kolonialvergangenheit zu entschleiern und die kollektiven Kolonialverbrechen aufzuklären (West-Pavlov 2003). Alternativ bietet der Kriminalroman ein Instrumentarium dafür, den undurchschaubaren Korruptionsstaat zumindest symbolisch zu durchleuchten (Naidoo / Le Roux 2014). Man könnte zunächst vermuten, dass Jaumanns Krimi eine ähnliche 265 9.3 Die Gattung des Krimis Funktion ausübt, doch wie im Folgenden aufgezeigt wird, sorgt Jaumann dafür, dass genau diese Funktion nicht zum Tragen kommt. Der dritte Haupttypus der Gattung kann dem postmodernen Kriminalroman zugeordnet werden (Irwin 1994). Hier schrumpft das Paradigma des Wissens im Zuge des „postmodernen Wissens“ (Lyotard 1994) zu einer „kleine[n] Erzäh‐ lung“. Der aufklärerische Blick bietet kein Wissen, sondern nur eine von meh‐ reren möglichen Darstellungsformen, die als die Deutungsmuster einer un‐ durchschaubaren Realität fungieren. Somit tritt die Gattung nicht mehr als Instrumentarium der Wissensvermittlung, sondern nur noch als problematisie‐ rende Darstellung eines solchen Instrumentariums hervor. Genau diese letztgenannte Konfiguration lässt sich bei Jaumann erkennen. Anders als im Falle der traditionell am Wissen orientierten kriminalistischen Erzählformen wird bei Jaumann eigentlich nichts enthüllt. Genauer: Das, was enthüllt wird, entpuppt sich gar nicht als Verbrechen - wie zum Beispiel Maras inszenierte Entführung - bzw. ist das, was (an Kolonialverbrechen) enthüllt wird, ohnehin bereits mehr als bekannt. Dementsprechend baut Jaumann von Anfang an kurze Schilderungen in den Text ein, die einerseits die Kolonialver‐ gangenheit und andererseits die gegenwärtige Afrikapolitik Deutschlands be‐ treffen. Zweifelsohne positiv zu bewerten ist, dass diese Schilderungen die längst bekannten Fakten auf popularisierende Weise noch besser und breiter bekannt machen; jedoch enthüllen sie insgesamt gesehen nichts. Insofern, als dass er keine verdeckten Verbrechen enthüllt, entspricht Jaumanns Text also einem Haupttypus des Kriminalromans. Aufgedeckt wird lediglich, dass die Verbrechen keine waren bzw. dass die Verbrechen schon längst bekannt sind und bis in die Gegenwart hineinreichen. Das im Roman „Aufgedeckte“ lässt sich in zwei Gruppen unterteilen: 1. Die meisten der soeben erwähnten Schilderungen der Kolonialvergangen‐ heit werden von dem zunächst anonymen Betreuer Kaiphas, der sich später als Kawanyama entpuppen wird, telefonisch übermittelt und dienen dazu, Kaiphas in seinem Schändungsauftrag zu ermutigen: „Auf der Haifischinsel vor Lüderitz wächst kein Gras […]. Da gibt es nur graue Felsen und ein wenig Sand […]. Dort haben die Deutschen ein Konzentrationslager für ihre Gefangenen eingerichtet. Für die Reste des Herero-Volks. Achtzig Prozent der Inhaf‐ tierten haben die Insel nicht mehr lebend verlassen. Sie starben an Hunger, Skorbut, an anderen Krankheiten und an Peitschenhieben mit der Sjambok“ ( Jaumann 2015: 17-8). „Vor mehr als hundert Jahren“, sagte die Stimme aus dem Telefon, „mussten die Frauen der Hereros die Leichen ihrer abgeschlachteten Männer ausgraben. Da das Fleisch noch nicht verwest war, mussten sie die Schädel auskochen. Dann bekamen sie 266 9. Jaumanns Der lange Schatten Glasscherben in die Hände gedrückt. Sie wurden von den Deutschen gezwungen, damit die Knochen blank zu schaben.“ (Ebd.: 54) „[H]öre zu, was ich Dir vorlese: Ozombo - Windhuk, 2. 10. 1904. Ich, der große General der Deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. […] Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers. Hast Du das verstanden? “ (Ebd.: 165; Hervorhebung im Originaltext) „In Namibia“, sagte Kaiphas, „haben die Deutschen ziemlich aktiv zugeschlagen. Von mehr als achtzigtausend Hereros haben gerade mal fünfzehntausend den Krieg über‐ lebt.“ (Ebd.: 161) Da solche Schilderungen von Kawanyama stammen und der Diskreditierung der Herero dienen, können sie nicht als neutral betrachtet werden. Deshalb werden sie als direkte Rede, d. h. in Anführungszeichen, wiedergegeben. Ande‐ rerseits ist die Tatsache nicht ganz unwichtig, dass Kawanyama an diesen Stellen nicht als Herero spricht, so dass seine Worte einen allgemeinen Wahrheitsgehalt erlangen, der nicht mit bestimmten gruppenbezogenen Interessen verbunden ist. 2. Eine zweite Gruppe von Schilderungen gibt die im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts geltende Haltung der Bundesregierung wieder: Engels und seine Mitarbeiter hatten einen halben Roman über die Bedeutung der an‐ stehenden Schädelrückgabe verfasst, über den Zusammenhang mit der kolonialen Vergangenheit, die damit verbundenen Interessen der SWAPO-Regierung, die Be‐ findlichkeiten und Empfindlichkeiten in Namibia und speziell in den besonders be‐ troffenen Bevölkerungsgruppen der Hereros, Namas und Deutschstämmigen. Die Antwort umfasste magere sieben Sätze. Engels überflog sie und schüttelte den Kopf. Die in Berlin hatten nichts begriffen. Sie hatten nicht einmal begriffen, dass es wichtig sein könnte, die Problematik zu begreifen. (Ebd.: 32) Doch das Auswärtige Amt hatte darauf bestanden, die Sache so hoch wie möglich zu hängen. Man wollte die wichtigsten namibischen Politiker beständig daran erinnern, was Deutschland finanziell leistete, und sie damit dezent darauf hinweisen, mit poli‐ tisch heiklen Fragen wie denen nach Konsequenzen der Kolonialzeit vorsichtig und taktvoll umzugehen. (Ebd.: 47) Ein Vertreter der Bundesregierung war nicht anwesend, angeblich wegen der zu kurz‐ fristigen Einladung. Dass dies nur als Vorwand und beispiellose politische Brüskierung der namibischen Delegation gewertet werden musste, darüber waren sich alle Dis‐ kussionsteilnehmer einig. (Ebd.: 15-6) 267 9.3 Die Gattung des Krimis [Die deutsche Regierung] hatte sich […] doch bereits im Vorfeld geweigert, den Rück‐ gabevertrag zu unterzeichnen. Sie sei dazu gar nicht berechtigt, da nicht sie, sondern die Berliner Charité Eigentümerin der Schädel sei. Formaljuristisch mochte das stimmen, politisch konnte es von namibischer Seite nur als Affront aufgefasst werden. Mangels eines gleichrangigen Gegenparts hatte es deshalb auch Minister Kazenambo abgelehnt, seine Unterschrift zu leisten. So bat nun Professor Einhäupl, der Vor‐ standsvorsitzende der Charité, Esther Moombolah vom Heritage Council of Namibia aufs Podium. (Ebd.: 227) Als die deutsche Staatsministerin ans Rednerpult trat, ahnte Claus, dass sie es nicht leicht haben würde. Schon gar nicht, wenn sie sich darauf beschränkte, wieder einmal die sattsam bekannte Position der Bundesregierung auszubreiten. Und genau das tat sie. Sie sprach von tragischen und grausamen historischen Ereignissen, als wären diese unversehens aus dem afrikanischen Himmel gefallen, und vermied jede Formu‐ lierung, die auf eine deutsche Verantwortung, auf ein Schuldeingeständnis oder gar eine Verpflichtung zur Wiedergutmachung schließen lassen könnte. (Ebd.) Wie alle ehemaligen Kolonialmächte versuchte Deutschland, rechtsverbindliche Ver‐ antwortlichkeiten zu bestreiten, um keinen Präzedenzfall zu schaffen. Denn sonst stünden schon bald andere in Berlin vor der Tür, um die Hand aufzuhalten, nämlich die Politiker aus Tansania, Kamerun, Togo und wo sonst überall das Kaiserreich seinen Platz an der Sonne zu erobern versucht hatte. (Ebd.: 61) Auch in diesen Zitaten werden allzu gut bekannte Tatsachen vornehmlich in Form erlebter Rede wiedergegeben, d. h. die Fakten werden durch das Bewusst‐ sein des Botschafters Engels oder des Journalisten Claus Tiedtke fokalisiert. Andererseits lehnen sich viele dieser Ausführungen an leicht zugängliche Quellen aus dem Bereich des politischen Kommentars an, auch wenn solche Quellen nicht explizit angegeben werden (vgl. ebd.: 312). Jaumanns Kriminalroman enthüllt weder unbekannte Kolonialverbrechen, gelten diese doch als längst bekannt und sind seit Jahrzehnten immer wieder wissenschaftlich belegt worden, noch entdeckt er unbekannte gegenwärtige Politikskandale bzw. die aktuelle Indifferenz der Bundesregierung gegenüber Namibia. Auf diese Weise stellt der Kriminalroman seine eigene Machtlosigkeit zur Schau. Seiner genretypischen Hauptfunktion, dem Drama des Aufdeckens, wird er nicht gerecht; er kann lediglich in einer metapoetischen Geste die Tat‐ sache des Scheiterns darstellen. Als ein Vertreter der „genre fiction“, wie z. B. auch die Populärliteratur, die im Gegensatz zur „literary fiction“ (Belletristik) (Gelder 2004) definiert ist, scheint der Roman auf den ersten Blick eine Reflexion über die eigene ästheti‐ sche Praxis auszuschließen. Jedoch täuscht dieser Eindruck. Die Gattung des Kriminalromans trägt stillschweigend eine Reflexion über die Fiktion als Wis‐ 268 9. Jaumanns Der lange Schatten sensmedium in sich. Genauso implizit negiert Jaumanns Roman die gattungs‐ bezogenen Annahmen, die dort normalerweise gelten. Nicht so sehr ihr kogni‐ tiver Aspekt, sondern die nicht hegemoniale und populäre Einordnung der Gattung kommt an dieser Stelle zum Tragen. Die Gattung des Kriminalromans setzt sich hier den bildungsbürgerlichen Werten entgegen, die in den herkömm‐ lichen und sogar den postkolonialen Kriminalroman sowohl auf affektive als auch auf negierende Weise als epistemische Funktionen eingebettet sind. Jau‐ manns Roman rechnet mit solchen herkömmlichen Formen ab. Natürlich mo‐ bilisiert der post-postkoloniale Krimi der Gegenwart durchaus Gemeinplätze der „Ausgrabung“ (de Kock 2016: xiii-xiv), wovon Jaumann zu Anfang des Ro‐ mans spielerisch ein irreführendes Paradebeispiel bietet, oder des „sleuthing“ (Naidoo / Le Roux 2014), um eine Aufklärung von undurchsichtigen soziopoli‐ tischen Verhältnissen in der „Postkolonie“ zu symbolisieren. Diese Gemein‐ plätze werden in Jaumanns Kriminalroman jedoch revidiert. Die echte Ausgra‐ bung am Anfang des Romans entpuppt sich innerhalb der komplexen innernamibischen Machtkämpfe als Ablenkungsmanöver. Daher verdeutlicht der dritte Haupttypus des Kriminalromans die Ablehnung der großen Erzäh‐ lungen der „Aufdeckung des Verbrechens“ (Lyotard 1992) und negiert durch den „Verlust der Handlung“ („plot loss“) (de Kock 2016: xi, xiv, xvi) eine mögliche Befreiung oder Vergangenheitsbewältigung durch Detektion. In der radikalsten Form des gegenwärtigen Kriminalromans entdeckt der Leser bzw. die Leserin nichts, was nicht bereits bekannt ist. Zudem führt das Wissen, über das die deutsche Öffentlichkeit bereits verfügt, in keinster Weise eine Emanzipation von der Vergangenheit herbei. Diese Art der Kriminalliteratur enthüllt höchstens ebendiese Tatsache, dass man sich in einer Sackgasse der Geschichte befindet. Aber ist das alles? Registriert Jaumanns Kriminalroman lediglich die „Ent-Täu‐ schung“ der postkolonialen Sackgasse? 9.4 Krimi-Affekt Jaumanns Kriminalroman bestätigt die Unveränderlichkeit der Geschichte und daher die unveränderte Vorherrschaft der Europäer: „Die Deutschen hätten ge‐ siegt. Wieder einmal“ ( Jaumann 2015: 182). Der Roman unterstreicht die un‐ überwindbare Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auch wenn Kai‐ phas’ Betreuer meint, „,Die Deutschen haben vergessen, dass Krieg herrscht. Vielleicht meinen sie, dass er schon lange zu Ende ist. Er wird aber erst enden, wenn sie für alles bezahlt haben, was sie damals verbrochen haben.‘“ (Ebd.: 55) 269 9.4 Krimi-Affekt Kaiphas’ gewaltsamer Tod verfestigt einerseits die Idee, dass der Deutsch-Na‐ mibische Krieg noch nicht beendet ist: In dem Moment, in dem er stirbt, werden Kaiphas’ Gedanken wiedergegeben, so dass sein Tod in einem Vorlesungssaal der Berliner Charité mit der letzten Schlacht am Waterberg gleichgestellt wird: In deinem Rücken versperren die steilen Felsen des Waterbergs den Fluchtweg. […] Dann stürmst du voran, in die Richtung, aus der die Groot Rohrs [d. h. die deutschen Kanonen] schießen. […] [D]u sammelst ihre Kugel mit deinem Körper ein […] (ebd.: 244-5). Mit dieser traumähnlichen Sequenz unterstreicht der Roman, wie ernst er die Wiederholung der kolonialen Vergangenheit in der Gegenwart nimmt. Durch die Verwendung der zweiten Person werden die Leser*innen in diese nicht enden wollende Kriegsgeschichte miteinbezogen. Andererseits jedoch besiegelt Kai‐ phas Tod das Schweigen darüber, da mit seinem Tod auch die historischen Zu‐ sammenhänge, die seinen Auftrag erklären, erwischt werden: „Erst als Kaiphas in sich zusammensackte, war plötzlich Schluss und in die Stille hinein hörte man [den Kripo-Kommissar] Feller leise sagen: ‚Nicht schießen‘“ (ebd.: 245; Hervor‐ hebung RWP ). Mit dem Tod des Herero-Kriegers geht die Botschaft aus der Vergangenheit verloren. Obwohl die kurze fiktive Aktualisierung der Schlacht vom Waterberg die Leser*innen als Adressaten direkt miteinbezieht, bleibt sie eine die Leser*innen miteinbeziehende flüchtige Halluzination in Kaiphas’ Kopf und ist als solche im Rahmen der Gesamterzählung durch den auffällig anderen Erzählmodus und die getrennte Seitenformatierung unmissverständlich vom sonstigen Geschehen abgesetzt. Somit hebt der Roman die Kluft zwischen den einstigen Kolonialherren und der heutigen postkolonialen Nation besonders hervor. Diese Kluft drückt sich zunächst durch Gleichgültigkeit aus: Hier [in Frankfurt] hatte man schon alles gesehen, hier interessierte sich niemand für afrikanische Folklore und schon gar nicht dafür, warum sie getragen wurde und was die ganze Delegation nach Deutschland führte und ob vor mehr als hundert Jahren eine kaiserliche Schutztruppe einen Kolonialaufstand blutig niedergeschlagen hatte. (Ebd.: 12) Sogar Claus Tiedtke spürt als deutschstämmiger Namibier diese Kluft: Dort [in Namibia] war er geboren und aufgewachsen, es war genau so sein Land wie das seiner Mitbürger, egal, welche Hautfarbe sie besaßen und in welcher Sprache sie ihre ersten Worte gestammelt hatten. Und doch schien sich die Distanz zwischen ihm und der Delegation vergrößert zu haben, seit sie in Frankfurt gelandet waren. (Ebd.: 11) 270 9. Jaumanns Der lange Schatten Tiedtke fungiert im Text als Mittlerfigur zwischen den Leser*innen und der Handlung. Die Nähe zur Romansituation, die seine Figur den Leser*innen er‐ öffnet, gibt eine Grundlage, um diese affektive Distanz - oder besser: diesen Affekt der Distanz als Diskrepanz - hautnah mitzuerleben. Eine der besonderen ästhetisch-affektiven Errungenschaften des Romans ist, anstelle von Wissen ein Erlebnis des blockierten Wissens bzw. des gelöschten Gedächtnis zu ermögli‐ chen, das die damit einhergehenden Affekten - allen voran Frust (ebd.: 132) und Enttäuschung - angesichts der erlebten Ankunft in der Sackgasse der Ge‐ schichte miteinbezieht. Jaumann erprobt demzufolge verschiedene Affektpositionen bzw. -stel‐ lungen, die dem post-postkolonialen Subjekt bzw. der Gemeinschaft als Opti‐ onen zur Verfügung stehen. Drei nicht zufriedenstellende Optionen werden zu‐ nächst am Beispiel verschiedener Figuren dargestellt und nach dem Modell des Affekts I durchgespielt: 1. Als erste Affektposition wird die Indifferenz als Grundhaltung des Bot‐ schafters vorgeführt. Sein Widerwille gegen eine Entschuldigung für den Völ‐ kermord von damals ist im ganzen Text zu spüren und wird am Ende des Romans noch einmal in aller Deutlichkeit hervorgehoben: Was gingen ihn die Intrigen der namibischen Regierung, die deutschen Kolonialver‐ brechen, die Hereros, die Schädel, die Toten an? Schuld und Verantwortung und Ge‐ rechtigkeit, das hatte doch von Anfang an nicht gezählt. Ihm war immer nur Mara wichtig gewesen. (Ebd.: 310) Engels persönliche Beziehung zu seiner Frau schließt eine weitere ethische Ge‐ meinschaft aus: Das Persönliche geht über das Politische. Aber sogar das Poli‐ tische wird so sehr abgelehnt, dass Engels bereit ist, das Leben seiner Frau aufs Spiel zu setzen. Erstaunlicherweise unterscheidet sich sein Verhalten nicht so sehr von dem seiner Frau, auch wenn sich ihr Handeln explizit politisch gibt. Sein Desinteresse und Maras „Über-Interesse“ entpuppen sich, wie im Folgenden gezeigt wird, als zwei Seiten einer Medaille. 2. Mara Engels verkörpert eine zweite Affektposition, die deutlich komplexer ist als die ihres Mannes. Mara ist, der Beschreibung Kawanyamas zufolge, „em‐ pathiefähig“: „Ihre Frau lehnt den Rassismus ihres Urgroßvaters entscheidend ab. Das ist gut. Sie identifiziert sich mit den Opfern. Das ist verständlich“ (ebd.: 206). Mara Engels ist von zentraler Bedeutung für den Text, da sie den Versuch unternimmt, sowohl die geschichtliche Entfernung wie auch die zwischen‐ menschliche bzw. kollektive Distanz durch „Empathie“ und adoptive Mutter‐ liebe zu überwinden. Mit der Figur von Mara Engels skizziert Jaumann einen 271 9.4 Krimi-Affekt möglichen Weg aus der Sackgasse der Distanz, auch wenn diese Option erprobt wird, um letztlich wieder verworfen zu werden. Der Versuch ist bemerkenswert, da er figurativ eine potenzielle Antwort auf die tatsächlich existierenden Probleme der postkolonialen Gegenwart im süd‐ lichen Afrika bietet. Jacqueline Rose fasst die Sachlage wie folgt zusammen: [T]he stories told […] by those still living in the aftermath [of apartheid] made clear that thinking was not enough. Not that ‚feeling‘ will do it either, in a context where expressions of empathy - ‚I feel your pain‘ - are so often a pretext for doing nothing […] (Rose 2019: 11). Rose zitiert einen Apartheidtäter: „[H]ead bowed, he muttered compulsively: ‚I apologise.‘ But ‚saying sorry‘, he also insisted, was not enough: ‚There must be doing of sorry‘“ (ebd.). Hier könnte man mit einer Stelle in Jaumanns Kriminalroman anschließen, in der Kawanyama ausführt: „Sie [gemeint ist Mara] identifiziert sich mit den Opfern. Das ist verständlich. Aber vielleicht identifiziert sie sich etwas zu sehr. Und nicht nur mit den Opfern von damals, sondern auch mit denen, die die Vergangenheit vorschieben, um heute ihr Süppchen zu kochen“ ( Jaumann 2015: 206). Lange bevor der Text es dem Leser bzw. der Leserin verrät, kommt Kawa‐ nyama selbstständig und intuitiv auf die Idee der „Selbstentführung“: „Und wenn alles inszeniert ist? Wenn sie freiwillig mitgegangen ist? “ (ebd.: 207). Wo bei ihrem Mann zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. zwischen Europa und Afrika eine große Kluft besteht, bemüht sich Mara Engels die vergangene Schuld durch ihre Taten in der Gegenwart zu tilgen. Sie wird paradoxerweise zur Entführerin der eigenen Person und versucht ihren eigenen deutschen Mann durch ihre selbstauferlegte Mittäterschaft mit dem Herero Tjitjuku zu erpressen. Somit wechselt sie tatsächlich die Seiten in dem unabgeschlossenen Krieg zwi‐ schen den Deutschen und den Herero: „[I]ch habe den Mut besessen, mich vom verbrecherischen Rassismus meiner Vorfahren radikal loszusagen und auf die richtige Seite zu wechseln“ (ebd.: 295). Der Versuch scheitert und das Kind geht ihr endgültig verloren, womit der Roman zum Ausdruck bringt, dass es Mara in Wirklichkeit nie an einer genuinen Beziehung zu diesem Kind gelegen war. Vielmehr geht es bei der versuchten Adoption eigentlich um sie selbst und ihre konfliktträchtige Beziehung zum eigenen rassistische Erbe, wie die Syntax ihrer Aussage unmissverständlich zeigt: „[I]ch habe den Mut besessen, mich vom verbrecherischen Rassismus meiner Vorfahren radikal loszusagen“ (ebd.: 295; Hervorhebung RWP ). Somit wird diese Art affektive Pseudo-Bindung zwischen Afrika und Europa grundlegend diskreditiert. Mara Engels schießt sowohl mit ihrem Aktivismus wie auch durch ihre überzogene Empathie über das Ziel hi‐ 272 9. Jaumanns Der lange Schatten naus und zeigt infolgedessen die wahre Natur des hier zum Vorschein komm‐ enden Affekts. 3. In diesem Sinne wird der politische Affekt der antikolonialen Aktivisten (es handelt sich hier um einen Übergang von Affekt I zum Affekt II ) auf der Berliner Rückgabefeier ebenfalls in Frage gestellt: „,Schande, Schande‘. Skan‐ dierten die Aktivisten aus den hinteren Reihen, doch aus irgendeinem Grund kam Claus auch ihre Empörung unglaubwürdig vor. Er fragte sich, ob sie in‐ szeniert sein könnte.“ (Ebd.: 228) Natürlich ist sie inszeniert: für die Aktivisten selbst, die sich in ihrem Tun durch eben diese Weise als Aktivisten widergespiegelt sehen. Die affektive Bin‐ dung zum Anderen ist vorrangig eine Bindung zum Selbst, die dadurch die Kluft zum Anderen eher vergrößert als überwindet. Bleibt also zu sehen, welche Al‐ ternativen der Text angesichts der Gesamtlage und im Hinblick auf Mara Engels gescheiterten Versuch, eine affektive Annäherung mit Zwang herbeizuführen, bietet. 9.5 Die Zeit des Affekts Frappierend ist die Tatsache, dass ganz am Ende des Romans der deutsch-na‐ mibische Journalist Claus Tiedtke, dem Botschafter Engels nicht unähnlich, die Vergangenheit als relevante Instanz ebenfalls ablehnt. Wen interessierte schon die Vergangenheit? Und wenn, wieso sollte es nicht möglich sein, einen Schlussstrich darunter zu ziehen? Sie beide [er und Clemencia, mit der er vermutlich wieder eine Beziehung aufbauen wird] waren freie Menschen. Sie konnten sich entscheiden, wie sie ihre Zukunft gestalten wollten. Er war für eine Menge Dinge offen, solange es sich um eine gemeinsame Zukunft handelte. ( Jaumann 2015: 310) Die Aussage ist aber ambivalent. Freilich geht es hier um „einen Schlussstrich“, der die Vergangenheit abriegelt und für endgültig vergangen erklärt. Gleich‐ zeitig jedoch handelt es sich um eine Verbindung einerseits zwischen Gegenwart und Zukunft und andererseits zwischen den Vertreter*innen der schwarzen und weißen (deutschstämmigen) Namibier. Das Bindeglied ist ganz konkret ein Kind: Claus tritt an Clemencia heran und bekommt ohne Vorwarnung ein schwarzes Kind in die Arme gedrückt; Clemencia, die das Kind soeben unfreiwillig von Mara übernommen hat, macht sich auf die Suche nach der fliehenden Deutschen und verschwindet sofort. Dabei lässt sie Claus jedoch das symbolträchtige Er‐ satzkind als Spur ihrer Präsenz zurück: 273 9.5 Die Zeit des Affekts Im Nu hatte Claus den Jungen aufgehalst bekommen, und während er noch damit beschäftigt war, ihn richtig zu fassen zu kriegen, hastete Clemencia schon der blonden Frau hinterher. Weg war sie. Verflucht, sie hatte wirklich ein untrügliches Gespür für falsches Timing. Wie früher eigentlich. Ließ ihn einfach stehen! Mit einem schwarzen Kind im Arm, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Ob es der Junge war, den Clemencia vielleicht adoptieren wollte? “ (Ebd.: 311) Die Stelle ist, wenn auch leicht sentimental überlastet, von großer Bedeutung im Roman: Erstens entsteht die Zukunft hier nicht aus „natürlich“ gegebenen nationalen, ethnischen oder historischen Verhältnissen, sondern wird aus freien Stücken nach dem Muster der Alternativbzw. „Patchwork“-Familie konstruiert. Zweitens baut diese Zukunft nicht auf eine etwaige Homogenität lückenloser Präsenz auf, sondern ist mit vorübergehender Abwesenheit, Vermittlung und Kontingenz vereinbar, was sich unter dem Stichwort „falsches Timing“ fassen ließe. Nur mittels einer gewissen vermittelnden Flexibilität und mit Hilfe von großzügig dehnbaren Zwischenräumen kann die Kluft zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen Namibiern und (Namibia-)Deutschen über‐ wunden werden. Hier werden anhand der Dreierbeziehung „(Adoptiv-)Mutter-Adoptiv(Vater)-Kind“ symbolisch-konkret die Funktionen des Affekts III als prozessuales und transformatives Bindemittel des Lebens dargestellt. Was zunächst als Claus’ intellektuelle Ablehnung einer Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit anmutet, verwandelt sich unmittelbar in etwas ganz anders. Die Übernahme des Kindes impliziert einen nicht gewollten, jedoch verkörperten Umgang mit der Zukunft der Vergangenheit. Die Gestaltung der Zukunft ist auf konkrete Weise gegeben. Sie besteht in der angedeuteten Adoption des Herero-Kinds Samuel durch die schwarzen bzw. deutsch-weißen namibischen Protagonisten. Denn schließlich kann Samuel nicht wie geplant von Mara Engels adoptiert werden, nachdem ihr Projekt gescheitert ist. Diese Zukunft beinhaltet eine - angesichts von Claus’ Ablehnung der Vergangenheit überraschende - vergangenheitsbezogene Komponente, die Zeitlichkeit mit Af‐ fekt verbindet. Um dies zu verdeutlichen, ist es lohnenswert, die soeben zitierte Textstelle erneut unter die Lupe zu nehmen: „Hältst du mal Samuel? “ Im Nu hatte Claus den Jungen aufgehalst bekommen, und während er noch damit beschäftigt war, ihn richtig zu fassen zu kriegen, hastete Clemencia schon der blonden Frau hinterher. […] Verflucht, sie hatte wirklich ein untrügliches Gespür für falsches Timing. Wie früher eigentlich. Ließ ihn einfach stehen! Mit einem schwarzen Kind im 274 9. Jaumanns Der lange Schatten Arm, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Ob es der Junge war, den Clemencia vielleicht adoptieren wollte? […] „Na, kleiner Mann? “ fragte Claus. […] „Brauchst keine Angst zu haben“, sagte Claus. […] „Wenn Du willst“, sagte Claus, „gehen wir da vor und schauen uns die Schädel an.“ (Ebd.: 311; Hervorhebung RWP; die Kursivierungen beziehen sich auf zeitliche Ausdrücke, während die Unterstreichungen affektbezogene Elemente markieren) Zunächst wird angedeutet, dass hier ein „falsches Timing“ eine dadurch ver‐ fehlte Zusammenkunft des einstigen - und gleichsam eventuell auch künf‐ tigen - Liebespaars dominiert. Jedoch entsteht in diesem Schlussmoment des Romans der Affekt einer dauerhaften körperbasierten Verbindung, wie die Zeit‐ indizien „mal“, „[i]m Nu“ und „während“ andeuten. Allerdings schließt diese dauerhafte, zukunftsorientierte Verbindung eine wortwörtliche Rückschau auf die Vergangenheit nicht aus, welche sich in den Zeitindizien „früher“ und „noch nie zuvor“ sowie dem Vorschlag, „wir […] schauen uns die Schädel an“ ausdrü‐ cken, sondern macht diese zur gemeinsamen Zukunftsaufgabe: „Wenn Du willst […] gehen wir da vor.“ Die makaber anmutende „Schädelschau“ ist nicht nur die unmittelbar bevorstehende Aufgabe der noch nicht entstandenen Er‐ satzfamilie „Clemencia-Claus-Samuel“, sondern Teil der kollektiven Affektar‐ beit und „Schädelgeschichte“ (ebd.: 308), bei der es darum geht, im Anschluss an die Rückführungsfeier im Parlamentsgarten in Windhoek die Ahnen gemein‐ schaftlich zu ehren. Hier wird eine „time of affect“ (Hansen 2004) bzw. ein „ti‐ ming of affect“ (Angerer / Bösel / Ott, Hg. 2014) inszeniert, das durch kleinste Gesten und familiäre Verhältnisse Form annimmt und im Rahmen solcher be‐ scheidenen Ausgestaltungen trotzdem den Anschluss an kollektive Prozesse bietet. Claus’ mentaler Kommentar in Bezug auf Clemencias „untrügliches Gespür für falsches Timing“ ist hingegen unberechtigt. Einerseits, weil ein Populär‐ roman den Regeln der Erzählbzw. Gattungslogik nach zwangsläufig mit einer solchen Szene schließen muss und andererseits, weil just dieser Schluss die Möglichkeit auf Hoffnung lässt - und eine Andockstelle für etwaige Anschlusserzählungen bietet. Gleichzeitig liegt Claus mit seiner Einschätzung gar nicht so falsch, da Clemencias „Gespür“ ihn als Partner wieder in die Gemein‐ schaft einbindet und so die Rückbindung des Affekts an den geschichtlichen Prozess des kollektiven Gedächtnisses und der Versöhnung (bzw. deren Aus‐ bleiben) erlaubt. Vielleicht kann nur „falsches“ Timing die Überwindung der Vergangenheit als etwas herbeiführen, das historisch gesehen schon endgültig verlorenen ist; diese a-chronische Überwindung läuft zudem über das „Gespür“, d. h. über den Affekt III . 275 9.5 Die Zeit des Affekts Gleich zu Beginn der Geschichte bemerkt Claus, dass die Zeitlichkeit des Er‐ innerns und die damit verkoppelte Versöhnung verschieden verlaufen, je nachdem, wo man sich befindet und welche Ereignisse die dort angeknüpfte Zwischenzeit ausgefüllt haben. Diese Erkenntnis drückt sich in einer körperli‐ chen Sprache aus: Claus spürte, dass hundert Jahre nicht gleich hundert Jahre waren. In Deutschland war erheblich mehr Zeit vergangen als in Namibia. Zwei Weltkriege lagen zwischen damals und heute, eine kurze Republik, ein Tausendjähriges Reich, ein geteiltes Land und wiedervereinigtes neues […]. Wer wollte da noch an die ehemaligen Kolonien denken? Wen juckte es, wenn in irgendwelchen Universitätskellern ein paar alte Schädel herumlagen? In Namibia hatte es gejuckt, es hatte gebrannt und geschmerzt. Der Schmerz hatte die Schatten der Vergangenheit lang und länger werden lassen, er hatte die Vergangenheit zusammengestaucht, fast so, als wären die Schädel erst gestern aus ihren Gräbern geraubt worden. […] Zwanzig von ihnen, die ersten zwanzig, sollten nun in Berlin zurückgegeben werden. Den Hereros waren sie ein Beleg dafür, dass die alten Rech‐ nungen auch nach einem Jahrhundert offenstanden. Ihrer Meinung nach sollten die Deutschen endlich ihre Schuld abtragen, mit Worten, mit Taten und mit Euros. ( Jau‐ mann 2015: 13) Auffällig an dieser Textstelle ist, dass die Geschichte die Form einer körperlichen Erfahrung annimmt: „Claus spürte“; „Wen juckte es, wenn in irgendwelchen Universitätskellern ein paar alte Schädel herumlagen? “; „In Namibia hat es ge‐ juckt, es hatte gebrannt und geschmerzt“ (ebd.). Die mehr als hundert Jahre seit dem Völkermord an den Herero bzw. Nama bilden eine Affektgeschichte, d. h. eine Geschichte, die nicht durch Entfernung und Distanz gekennzeichnet und nicht vergangen ist, weil sie als körperliche Erfahrung bis in die Gegenwart hineinreicht. Dies wiederum bedeutet, dass die Indifferenz der Deutschen auch nicht von dem Schmerz der Namibier trennbar ist. Stattdessen stellt die Indif‐ ferenz die versteckte Kehrseite jener transnationalen bzw. interkulturellen Me‐ daille dar. Deshalb kehrt das Lexem „jucken“ zweimal in den beiden benach‐ barten Absätzen auf: zunächst als negierender Interrogativ („Wen juckte es […]? “) in dem Absatz, der sich auf die Deutschen bezieht und anschließend als emphatische Antwort im nachfolgenden Absatz, der sich auf die Namibier bezieht. Die identische Redewendung eint die zwei geopolitischen Bereiche in einem einzigen geschichtlichen Prozess, auch wenn dies nur von einer Seite der Verflechtungsgeschichte sichtbar bzw. wahrnehmbar ist. Die Leistung des Texts besteht darin, die Sichtweise der anderen Seite bekannt zu machen. Und obwohl der Diskurs am Schluss des Absatzes ins Lächerlich-Skurrile abrutscht („Ihrer 276 9. Jaumanns Der lange Schatten Meinung nach sollten die Deutschen endlich ihre Schuld abtragen, mit Worten, mit Taten und mit Euros“), ändert dies nichts an dem Todesernst der juckenden, schmerzvollen „Schädelgeschichte“, die die deutschen und namibischen Völker unzertrennbar miteinander verbindet. Die „Nahtstellen“ (vgl. de Kock 2001; Mostert 1992) zwischen den beiden Ge‐ schichtsverläufen sind die drei Feiern, bei denen der Toten gedacht wird: der Gedenkgottesdienst in Berlin, die Übergabezeremonie in Berlin und die Rück‐ nahmefeier in Windhoek. Trotz der geschichtlichen Distanz und geopolitischen Entfernung, die zwischen den beiden Ländern besteht, wird an diesen Orten die Kluft durch Rituale bzw. Zeremonien überwunden. Es ist daher wenig überra‐ schend, dass an solchen Stellen der Affekt im Text seine Wirksamkeit ausbreitet, denn Affekt ist das, was die Entfernung verschwinden und den Zeitverlauf zu‐ sammenschrumpfen lässt. Die linguistischen Merkmale des Affekts, deren Spuren sich im Text - oft wortwörtlich - spüren lassen, sind nicht nur referen‐ zielle Zeichen (Signifikanten), sondern vielmehr Indizien, die mit den Signifi‐ katen durch kausale, assoziative oder räumliche Beziehungen verbunden sind. Deshalb weist der Text in Bezug auf den historischen Prozess eine erkennbare Progression von der Kognition zum Affekt auf, wie in der Beschreibung des Gedenkgottesdiensts zur Rückgabe der Hererobzw. Nama-Schädel geschildert wird: Der Gedenkgottesdienst verlief ruhig und feierlich, die Predigten und Ansprachen konzentrierten sich ganz auf das Andenken an die Opfer von damals, ohne die Täter anzuklagen. Allenfalls aus Zameetas Aussage, dass die Vergangenheit einen langen Schatten werfe und dass die Toten zu echter Versöhnung in der Gegenwart mahnten, konnte man einen indirekten politischen Appell heraushören. ( Jaumann 2015: 169) Unmittelbar nach dieser Schilderung der kognitiven Aspekte der Erinnerungs‐ kultur bzw. -politik wendet sich der Text den affektbezogen Aspekten der Er‐ innerung und den damit verbundenen Rituale zu: Viel stärker zu spüren war eine leise Genugtuung darüber, dass die Schädel der Ahnen nach so langer Zeit endlich zurück in die Heimat gebracht werden würden. Sie breitete sich vom Altar her aus und schien die gesamte namibische Zuhörerschaft zu erfassen. Obwohl er weit weniger betroffen war, konnte sich auch Claus diesem Gefühl nicht entziehen. Es leuchtete plötzlich völlig ein, dass es nicht um ein paar Knochen und schon gar nicht um deren politischen oder ökonomischen Tauschwert ging. Die wie‐ derhergestellte Würde der Toten schien auf fast magische Art zu garantieren, dass auch die Nachgeborenen als gleichberechtigte Menschen respektiert würden. (Ebd.: 169-70; Hervorhebung RWP) 277 9.5 Die Zeit des Affekts Einerseits ist erneut von „Gespür“ bzw. „spüren“ die Rede - es handelt sich demnach um körperliche „Gefühle“ -, andererseits geht es um ein Phänomen religiöser, geradezu magischer Art. Diese Gefühle bzw. Emotionen der „Genug‐ tuung“ stehen zunächst auf der Kippe zwischen Affekt I und II : Kein Einzelträger des Gefühls wird benannt, sondern die Verwendung des Passivs verallgemeinert jene Gefühle und verankert sie in einem kollektiven Raum. Ferner wird die Lo‐ kalisierung des Gefühls aus dem Bereich des Humanen herausgehoben: Es ent‐ strömt aus der Nähe des Altars und zirkuliert im Reich des transindividuellen Körpergespürs. Darüber hinaus reichen diese Gefühle aber auch in den Bereich des Affekts III hinein. Die quasi-religiöse bzw. magische Qualität dieser „Ge‐ fühle“ wirkt keineswegs diskreditierend auf ihre Schilderung, sondern erlaubt einen Einblick in ihre Funktionsweise: Und zwar in der Art, wie die magische Qualität der „Gefühle“ die verschiedenen Menschen miteinander verbindet und im Zuge einer Neubewertung und Näherbringung der Vergangenheit - verkör‐ pert durch „die Schädel der Ahnen“ - sogar die Gegenwart - vertreten durch „die Nachgeborenen“ - anders erleben lässt. Die Reise „zurück in die Heimat“ bezieht sich nicht nur auf die Rückkehr der menschlichen Überreste an einen Ort, wo sie endlich ruhen können, sondern symbolisiert auf einer allgemeinen Ebene die Verbundenheit des Lebens mit den Orten, von denen sie stammt und entspringt. Somit bezieht sich die Reise „zurück in die Heimat“ auf den „Affekt“ als soziales, gar kosmisches Bindemittel (d. h. Affekt III ). In dieser Hinsicht schlägt Jaumanns Kriminalroman im Rahmen des verfah‐ renen Versöhnungsprozesses verschiedene politische Lösungsansätze vor, re‐ duziert diese angesichts der allgemeinen Lage und der allgegenwärtigen Gleich‐ gültigkeit innerhalb der deutschen Öffentlichkeit alsbald jedoch wieder auf null. Gleichwohl bietet der Text, wie soeben geschildert, sehr diskrete Indizien für eine Überwindung just dieser Kluft der „bürgerlichen Kälte“ an; nämlich durch einen „Affekt“, dessen Wirkung in „magischen“ Ritualen andeuten soll, wie die - freilich utopische - Perspektive einer kultur- und grenzübergreifenden Ge‐ meinschaft im Rahmen einer allzu oft verleugneten Verflechtungsgeschichte entstehen könnte. Solche positiven Perspektiven werden allerdings nur schat‐ tenhaft und kurz skizziert und nehmen konkrete Form höchstens im Bereich der am Ende des Romans eventuell wieder aufflammenden Liebe zwischen Cle‐ mentia und Claus an. Eine künftige Versöhnung wird auf diese Weise nach Na‐ mibia ausgelagert, wo sie sich auf den Wirkungskreis von Individuen beschränkt und somit der deutschen Öffentlichkeit entzogen wird. 278 9. Jaumanns Der lange Schatten 1 Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei Roberto Castro Uribe und Sonja Linke für die Möglichkeit bedanken, sowohl das Kunstwerk als auch das Foto davon zu verwenden. 10. Schlusswort Auf dem Umschlag der vorliegenden Studie ist eine Wandmalerei des in Berlin lebenden kolumbianischen Künstlers und urbanen Architekten Roberto Castro Uribe abgebildet. Das Werk „Ornament and Crime“ zeigt zwei identische Versi‐ onen eines nach der Methode des Fotorealismus reproduzierten Fotos vom Nama-Anführer Hendrik Witbooi (Uribe 2019a, 2019b). 1 Die Fotografie wurde um 1900 in Rehoboth zu einem Zeitpunkt gemacht, als Witbooi noch in der Gunst der deutschen Kolonisatoren stand, und ist sehr bekannt. Eine fast iden‐ tische Fotografie wurde zum Beispiel in einem in Windhoek veröffentlichten und in Dresden gedruckten Bildband des Fotografen Friedrich Lange (2012 [1907]: 66) abgedruckt (vgl. auch Konrad 2019: 256; Witbooi 1900). Timm (2000 [1978]: 283 / 2020 [1978]: 295) beschreibt einen „solchen Band, der Land und Leute zeigte“ und „eine Förderung des kolonialen Gedankens in breiten Bevöl‐ kerungskreisen“ erzielen sollte. Auch Seyfrieds (2003: 486) Protagonistin Cecilie macht ein „Photobuch“, in dem die im Roman Herero enthaltenen Fotos - unter anderem ein Foto von der Figur Petrus (2000: 359-60, 468) - veröffentlicht werden sollen, fragt sich jedoch, ob ein solches Buch nicht helfen wird, „mehr Siedler ins Land zu holen, [was] wiederum […] für die Eingeborenen [bedeuten würde], daß sie noch mehr Land verlieren“. Der Kartograf Ettmann beschwich‐ tigt sie daraufhin mit den Worten: Nun ist es wahrscheinlich ohnehin zu spät. Letztendlich werden sie der Übermacht weichen müssen, und ich fürchte, man wird ihnen dann all ihr Land wegnehmen, als Bestrafung. Ich glaube nicht, daß das Buch einen großen Unterschied machen würde. (Ebd.) Das Gespräch findet im Juli 1904 statt, noch vor der Schlacht am Waterberg am 11. August 1904 und dem Reichstagsbeschluss zur Enteignung der Herero. Ett‐ manns Beschwichtigungen greifen der Enteignung vor und stellen sie als bereits stattgefundenes Ereignis da, so dass die Kolonialfotografie tatsächlich als eine Art Propaganda erscheint. Uribe nahm diese Kolonialfotografie als Grundlage und übermalte sie nach dem Muster der vor allem von Gerhard Richter berühmt gemachten Fotomalerei, auch „Fotorealismus“ genannt (Crow 1992; Gronert, Hg. 2019; Iversen 2017: 89-96; Osborne 1992). In der folgenden kurzen Ausführung zu diesem Kunst‐ werk, womit die vorliegende Studie abschließt, steht wie zu Beginn der Arbeit Witbooi, stellvertretend für die kolonisierten Völker Deutsch-Südwestafrikas, die Krieg und Genozid erlitten und danach - zumindest in Deutschland - weit‐ gehend in Vergessenheit geraten waren. Wie anfangs geschildert, fungieren die zurückgegebene Bibel bzw. Peitsche Witboois, und nun auch die fotorealisti‐ schen Abbildungen von ihm, als Synekdochen für die Rückkehr jener afrikani‐ schen Subjekte in das öffentliche Bewusstsein sowie in das historische Erinne‐ rungsvermögen des heutigen Deutschlands. Mit diesen kurzen Kommentaren soll, komplementär zu den anfänglichen Schilderungen über die Rückgabe der geraubten Kulturgüter 2019, der gegenwärtige Rahmen der vorliegenden Studie einklammernd und zusammenfassend abgesteckt werden. Zwei fotorealistische Bilder von Witbooi im großen Plakatwand-Format sind an der Werbetafelwand bei Woolworth an der Ecke Potsdamer Straße / Kur‐ fürstenstraße in Berlin, der Grenze zwischen dem Stadtteil Tiergarten und der nördlichen Kante des Bezirks Schöneberg nebeneinandergestellt. Zwei Ele‐ mente des Werks fallen zunächst auf: Einerseits die bereits erwähnte Technik des Fotorealismus, die die angeblich realitätstreue Abbildung bzw. Ablichtung der materiellen Welt mittels Fotografie fast perfekt wiedergibt, aber gleichzeitig durch die Verwendung des Pinsels subtil dekonstruiert; andererseits die Ver‐ dopplung des Bildes in einer Art Stereoskopie. Beide Elemente sind binär auf‐ gebaut und deuten einerseits auf die verwandte Verdopplung der kolonialen Vergangenheit in der Gegenwart auf der diachronen Achse und andererseits auf die Verdopplung der betrachteten Realität zunächst durch die koloniale Foto‐ grafie, die als Malerei sowohl reproduziert wie auch verfremdet wird, und an‐ schließend durch die Beobachtung zweiten Grades mittels des hier abgebildeten Umschlagfotos, das mit einer iPhone-Kamera gemacht wurde. Doch sämtliche Binaritäten werden destabilisiert durch die Verwendung von gemischten, hybriden Mitteln bzw. Kontexten: unter anderem Malerei und Fo‐ tografie, Kunst und Werbung, Galerie bzw. Museum und Öffentlichkeit, ehe‐ malige Kolonie und imperiale Metropole bzw. heutige Hauptstadt. Ferner werden dadurch, Uribe zufolge, der den Titel für sein Werk von Adolf Loos’ (2012) Manifest aus dem Jahr 1908 „Ornament und Verbrechen“ ableitet, eng miteinander verwobene Diskurse der modernen Zivilisation und der vermeint‐ lichen Barbarei der Eingeborenen nebeneinander gestellt. Loos verwendete die Gegenüberstellung von Kannibalen in der deutschen Kolonie Papua-Neuguinea mit dem modernen Menschen, um einen ikonoklastischen, d. h. einen ent-orna‐ mentalisierten Minimalismus zu rechtfertigen. Um die Heuchelei solcher Ge‐ 280 10. Schlusswort genüberstellungen zu entlarven, sei erneut angemerkt, dass zum gleichen Zeit‐ punkt gefangene Herero-Frauen gezwungen wurden, die ausgekochten Schädel von gefallenen Herero-Kämpfern mit Glasscherben zu reinigen, so dass sie in Berlin als wissenschaftliche Exponate ausgestellt werden konnten. Ein Zeit‐ zeuge (Anonym 1907) berichtet, wie bereits zitiert, in einem Bildband: Eine Kiste mit Hereroschädeln wurde kürzlich von den Truppen in Deutsch-Süd-West-Afrika verpackt und an das Pathologische Institut zu Berlin ge‐ sandt, wo sie zu wissenschaftlichen Messungen verwandt werden sollen. Die Schädel, die von Hererofrauen mittels Glasscherben vom Fleisch befreit und versandfähig ge‐ macht wurden, stammen von gehängten oder gefallenen Hereros. (Ebd.: 114) Interessanterweise wurden sowohl das Bild wie auch die Bildunterschrift aus der in Windhoek veröffentlichten Neuauflage des Buchs (Kroemer 2013) diskret entfernt. Uribe lässt derartige rassistische Gegenüberstellungen verschwinden, indem er die Fotografie von Hendrik Witbooi zweimal ausstellt. Somit wird die Unter‐ scheidung zwischen primitiv und modern, die implizit durch das fotografische Medium und entlang der Achse des fotografischen Blicks vorgeführt wird, als‐ bald aufgelöst, da die Figur Witbooi auf der Achse der Ausstellungsoberfläche beide Pole der Binarität besetzt. Uribe greift auf diese Weise das koloniale Medium der Fotografie auf und transformiert es in höchst subversiver Weise. Die Fotografie als Medium bedeutet Modernität, da sie behauptet, die Realität genau abzubilden, so wie sie ist. Jegliche subjektive Einflussnahme wird durch die Fotografie ausgeräumt, da allein die Technik die Arbeit der Darstellung durchführt, so die implizite Grundannahme des Mediums. Das, was der Histo‐ rismus des 19. Jahrhunderts für die Vergangenheit leistete, d. h. die Geschichte zu erzählen, wie sie war, wird von der Fotografie für die Gegenwart geleistet: Die Gegenwart soll mit mechanischer Präzision genauso abgelichtet werden, wie sie tatsächlich vor den Augen der Zeitzeugen erscheint. So beschreibt Timm (2000 [1978]: 282 / 2020 [1978]: 294-5) in Morenga die Kamera im kolonialen Kontext mit unverkennbarer Ironie als „eine[] nützliche[] Maschine, die jedem zeigte, wie er war“. Den Augenblick so festzuhalten, wie er im Jetzt wirklich ist, darin liegt die Modernität der Fotografie als Wesen des Mediums selbst. Dies alles wird umso deutlicher im fotografischen Aufeinandertreffen des Kolonisators und des Kolonisierten (vgl. Hartmann / Silvester / Hayes, Hg. 1998; Maxwell 1999; Scheulen 1998). Die Kolonialfotografie verkörpert in tech‐ nischer Gestalt den kolonialen Blick, der im berühmten Satz Fanons (1971: 90) zusammengefasst wird: „Mamam, regarde le nègre, j’ai peur“ - wobei der Fo‐ 281 10. Schlusswort toapparat dank des technologischen Fortschritts und des somit geschaffenen Abstands die Angst des Kolonisators gänzlich verbannt. Die Kolonialfotografie konstituiert den Kolonisierten als Gegenpol zur Modernität schlicht und einfach durch die Positionierung des Kolonisierten als Objekt des fotografischen Vor‐ gangs. Die Andersartigkeit des Kolonisierten wird objektiv, d. h. quasi-wissen‐ schaftlich festgehalten, indem er nicht als Subjekt, sondern als Objekt im Ob‐ jektiv der Kamera erscheint. Diese technische Hierarchie ist zwangsläufig auch eine zeitliche. Die Kolonialfotografie fängt das Vergangen-Sein der Koloni‐ sierten, mit anderen Worten das Primitive als ein „Stück erstarrter Zeit“ (Timm 2000 [1978]: 282 / 2020 [1978]: 294) in der Gegenwart der Moderne, und hält sie für die Zukunft fest als zum Aussterben verdammtes Relikt der Vorgeschichte (Brantlinger 1995). Genau dieses fotografische Medium wird von Uribe übernommen und ge‐ wissermaßen verfremdet. Die Technologie der Fotografie wird sozusagen „rück‐ gängig“ gemacht, so dass das Körperliche bzw. Subjektive des Pinselstrichs wieder zum Vorschein kommt, gar wiederbelebt wird (angesichts der ersten Daguerreotypien soll der Maler Delaroche gesagt haben „À partir d’aujourd’hui la peinture est morte“). Somit kommt das Gesicht des Anderen, das Lévinas zufolge (1990a: 143-8; 1990b: 203-44) die Grundlage der Ethik bildet, wieder zum Tragen. Das Gesicht, so Lévinas, entzieht sich dem Blick und bietet keine Vereinnahmung durch das Selbst, es bleibt immer anders. Gleichzeitig aber lässt es die Verletzbarkeit des Gegenübers sichten, so dass es von vorneherein einen Appell an die ethische Verantwortung des Selbst lanciert. Der Fotorealismus stellt die technische Vereinnahmung des Gesichts zurück und rückt das Gesicht als Körperlichkeit und daher Affekt, als Verletzbarkeit und Mysterium, wieder in den Vordergrund. Im Sinne der Philosophie Lévinas’ erzeugt die „Rückstän‐ digkeit“ der Malerei gegenüber der Fotografie eine Rückkehr zu einer archai‐ schen, d. h. primären bzw. grundlegenden ethischen Verbindung, worin das Ich aus der wortwörtlichen Radikalität der Beziehung zum Anderen geradezu ent‐ steht. Im Falle der Witbooi-Bilder kommt die dort spürbare archaische, ethische Beziehung dem „punctum“ der Barthes’schen Theorie der Fotografie gleich, das im Zusammenhang mit dem ersten Abschnitt des Romans Morenga weiter oben diskutiert wurde (siehe Abschnitt 4.3). Das „Punctum“ bedeutet „Stich, kleines Loch, kleiner Fleck oder kleiner Schnitt“ (Barthes 1989: 36), also eine Öffnung des Bildes hin zum Betrachter, die einen affektiven Zugang ermöglicht. Wenn diese archaische ethische Beziehung des Gesichts auf die koloniale Di‐ alektik überlagert wird, gewinnt die vermeintlich „archaische“ Kultur der Ko‐ lonisierten wieder an Bedeutung, da sie plötzlich als Akteur anerkannt wird: Es wird wieder zugelassen, dass jene Kultur in der Lage ist, grundlegende ethische 282 10. Schlusswort Normen zu bilden und ethische Ansprüche zu stellen. (Ganz konkret denke man an die jüngste Wiederentdeckung der „Manden-Charta“ von 1222, welche als die älteste Menschenrechtserklärung der Weltgeschichte gilt [Amselle 2013; Nesbitt 2013, 45, 215n9; UNESCO 2009]). Man könnte sagen, um den Titel eines der Gründungstexte der postkolonialen Studien (Ashcroft / Griffiths / Tiffin 1989) zu kapern: Das Imperium schaut zurück. Gerade diese Rehabilitierung des Gesichts der Kolonisierten als Ausgangspunkt einer ethischen Beziehung wird durch die Umbildung der Fotografie im Fotorealismus Uribes vorgeführt. Anzumerken bleibt jedoch, dass diese Umwertung nicht nur im Rahmen des (Zwischen-)Menschlichen abläuft, wie man aus der vorangegangenen Diskus‐ sion der Umkehrung des kolonialen Blicks annehmen könnte. Wichtig sind vor allem die technischen Geräte, die vermeintlich einen transparenten Zugang zur Realität vermitteln, und im Gegensatz zu den Technologien des Blicks, die Tech‐ nologien der Malerei, insbesondere der körpernahen Pinsel und der stets mit Erde assoziierten Farben (vgl. Merleau-Ponty 1985 [1964]), aufwerten. Letztge‐ nannte Werkzeuge spielen eine wesentliche Rolle in der Transformation des hier angedeuteten kolonialen visuellen Feldes in ein postkoloniales. Es handelt sich um „affordances“ (Hodder 2012: 48-52), ohne die das menschliche Handeln gar nicht möglich wäre, so dass solche Objekte zu Mit-Handelnden werden. Mit Pinselstrich und Farbe entsteht insofern auch eine dynamische, transformative Beziehung, die, trotz der vermeintlichen „Kälte“ des grauen Anstrichs, Uribes Werk auch mit Leben füllt und ihm wieder eine „Aura“ verleiht (vgl. Benjamin 1991, I.2: 475-8). Objekte nehmen Teil an Affektnetzwerken als Mit-Akteure (Shaw / Sender 2016). Sie gestalten die Beziehungen der Welt nach Gutdünken mit und bringen Neues hervor. Dies gilt beispielsweise auch für die Beziehungen zwischen den menschlichen Akteuren und den Smartphones im und „hinter“ dem Bild: Hier herrschen komplexe ethische Verhältnisse zwischen Selbstbezo‐ genheit und Multi-Relationalität. Aufgrund dieser Rehabilitierung des Blicks der Kolonisierten kann man schließlich eine letzte Binarität im Bild ermitteln, und zwar diejenige zwischen zwei entgegengesetzten Blickrichtungen. Einerseits zeigt das Bild den abge‐ wendeten Blick eines wartenden Mannes links unten, der mit seinem Smart‐ phone beschäftigt ist. Er lehnt sich lässig gegen die Wand und strahlt eine dumpfe Gleichgültigkeit aus. Vermutlich macht er in diesem Augenblick kein Selfie, seine Körperhaltung bring jedoch genau die soeben formulierte Selbst‐ bezogenheit der digitalen Kommunikationsmittel zum Ausdruck. Zumindest scheint er die gerade neben ihm ausgestellten Gesichter überhaupt nicht wahr‐ zunehmen. Im Rahmen des dargestellten Inhalts des Fotos wird auf diese Weise der Affekt der Indifferenz abgebildet. Anders ist es beim Blick des auf dem Bild 283 10. Schlusswort dargestellten Nama-Anführers Hendrik Witbooi, in dem die Andersbezogenheit des Blicks sehr vielfältig ausfällt. Witbooi schaut fast herausfordernd geradeaus zum Beobachter bzw. zur Beobachterin des Bildes. Damit eingeschlossen ist die unsichtbare Fotografin, die mitten auf der Kurfürstenstraße steht und ebenfalls mit einem iPhone das hier gezeigte Bild macht; sowie der bzw. die genauso unsichtbare Beobachter*in, der bzw. die dieses Buch in der Hand hält und sich das Umschlagmotiv ansieht. Ein Affekt wird durch diese Form des Darstellens nicht nur gezeigt, sondern vorgeführt und folglich auch erzeugt. Das Bild als Prozess des Darstellens, als Prozess des gegenseitigen Anschauens, wird zum Ort eines immer noch im Prozess entstehenden Affekts. Welcher Affekt in diesem Zwischenraum zum Tragen kommt, kann man nicht genau sagen, nicht zuletzt, weil die Beobachter*innen keine stabilen bzw. konstanten Größen sind. So lässt sich lediglich feststellen, dass der Affekt, der im Beobachten erzeugt wird, ein offener und prozesshafter ist, dessen Ende unabgeschlossen bleibt. Neben einem kurzen erklärenden Schriftzug in den beiden unteren Ecken des Witbooi-Porträts sieht man außerdem am Bildrand eine rätselhafte Graffiti‐ schrift, die - verstärkt dank des spiegelverkehrten Drucks durch den Verlag - auch als eine Art schwer lesbare Ekphrasis verstanden werden kann. Die Ap‐ position zwischen den Porträts und dem Graffitizug spiegelt das Verhältnis zwi‐ schen den diese Studie abschließenden Bildkommentaren und den vorangegan‐ genen Textlektüren wider. Insofern bildet das Umschlagmotiv eine visuelle Metapher der Funktionsweisen der diversen zuvor untersuchten belletristischen Texte. Die Romane stellen verschiedene Affekte dar. Allen voran wird das kol‐ lektive Blockieren der Affekte gegenüber Afrika, sowohl in seiner Geschichte wie auch in seiner Gegenwärtigkeit, auf drastische Weise sichtbar. Im Gegensatz zum dargestellten Affekt bildet das Darstellen der Affekte jedoch einen Prozess, der bei jedem bzw. jeder Leser*in aufs Neue angestoßen wird und somit immer einen offenen Ausgang hat. Der Affekt als Prozess fließt, sowohl als Substanz der Beziehungen wie auch als diachronischer Verlauf des Beziehens. In diesem Sinne kann sogar der wartende Mann unten im Bild auch eventuell als ein Leser, wenn auch hauptsächlich des Smartphonebildschirms, verstanden werden, denn auch seine Wartehaltung lässt einen ergebnisoffenen „Erwartungsaffekt“ (Bloch 1985, V: 77-84) durchschimmern. Die oben diskutierten belletristischen Texte liefern insgesamt eine ernüch‐ ternde Bilanz des kollektiven affektiven Bezugs sowohl zu den Ereignissen im damaligen Deutsch-Südwestafrika wie zum heutigen Namibia und seinen Ak‐ tanten im Globalen Kontext. Das Fazit dieser Studie würde fast gänzlich negativ ausfallen, ginge es ausschließlich um das Dargestellte. Da es sich bei den Texten allerdings um literarische Werke handelt, deren Ressourcen für die Leserschaft 284 10. Schlusswort schlicht unerschöpflich sind und die daher unendlich viele neue Ausgangs‐ punkte für einen radikal veränderten affektiven Umgang mit der afrikanischen Vergangenheit bzw. Gegenwart entfalten können, ist dem nicht so. Maßgeblich für eine derartige affektive Arbeit im breitesten Sinne des Wortes, d. h. die ständige Erneuerung von dynamischen, transformativen Beziehungen zwischen den Akteuren der Welt, ist im Rahmen der vorliegenden Studie der Roman Morenga von Uwe Timm (2000 [1978] / 2020 [1978]). Zweifelsohne übt dieses Werk nach wie vor eine stark appellierende („interpellative“), aber anti‐ konformistische, subjektändernde Kraft auf die Lesenden aus (vgl. Althusser 1976: 122-9), gerade weil es die volle Palette an Affektfunktionen mobilisiert, die zu einem transformierten Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegen‐ wart und zwischen den Kulturen Afrikas und Europas beitragen können. Im Gegensatz zu Timms Morenga zeigen die Untersuchungen von sieben weiteren deutschsprachigen Romanen aus den Jahren 1989 bis 2015 verschie‐ dene affektive Zugänge zur deutsch-namibischen Vergangenheit, wie auch zum gegenwärtigen bzw. zukünftigen Umgang mit Afrika auf. Beetz’ Flucht vom Wa‐ terberg (1989) und Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994) versuchen, über das Konstrukt des hybriden Protagonisten bzw. einer hybriden Erzählinstanz die Kluft zwischen den Epochen und den Kulturen zu überwinden, dies jedoch mit mäßigem Erfolg. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003) und Paluchs / Ha‐ becks Der Schrei der Hyänen (2004) verwenden die Gattung des Familienromans, um einen höchst personalisierten Zugang zur Vergangenheit, auch zu der des Kriegs und des Völkermords, zumindest indirekt, herbeizuführen. Sie zeigen jedoch, wie verstrickt das fiktive Geschichtsbewusstsein in ausschließlich deut‐ schen Perspektiven bleiben kann. Die einleitende bzw. abschließende Behand‐ lung von Seyfrieds Herero (2003) einerseits und Jaumanns Der lange Schatten (2015) andererseits weisen zwei einander entgegengestellte Einstellungen zum Genozid auf: Im ersten Fall eine beinahe explizite Verleugnung des Völkermords, im zweiten eine Akzeptanz, dass Deutschland der viel beschworenen „beson‐ dere[n] Verantwortung“ gegenüber Namibia nicht ewig ausweichen kann, wobei das Werk nicht festschreibt, wie mit dieser umzugehen ist. In allen der o. g. Texte werden affektive Verbindungsmodi aufgezeigt; oftmals geschieht dies jedoch gerade, um sie zu umgehen. Nichtsdestotrotz erwächst daraus ein dicht verwobenes Netzwerk latent vorhandener affektiver Verbindungen zum heu‐ tigen Afrika - auch die der Ablehnung und des Abstands -, welches als Ge‐ samtgefüge allmählich zum Vorschein kommt. Ein solches Gefüge muss als Pro‐ zess und als Potenzial im „Akt des Lesens“ (Iser 1994) verstanden werden, wo getreu der unendlichen Kreativität des Affekts eine transformative Dynamik immer wieder aufs Neue entsteht. Innerhalb der Erzählungen fällt der darge‐ 285 10. Schlusswort stellte Affekt überwiegend ernüchternd und distanziert aus; jedoch ist die af‐ fektive Wirkung des Darstellens angesichts des allgemein allmählich wach‐ senden Bewusstseins für die Vergangenheit bzw. die Gegenwart Namibias unter den Leser*innen der Romane nicht zu unterschätzen. In welch hohem Maße der affektgeladene Dialog zwischen Deutschen und Namibiern noch ergebnisoffen bleibt, lässt sich anhand des aktuellen Stands der Verhandlung mit der namibischen Regierung zeigen. Aus diplomatischen Kreisen heißt es, eine Einigung sei bezüglich „der Bewertung des Krieges als Genozid“ erzielt worden - „wobei der Begriff nur im ‚moralischen und politi‐ schen Sinne, aber nicht im rechtlichen Sinne‘ benutzt werden dürfe“ (Zimmerer 2019: 23). Ähnliches gelte für eine Entschuldigung, wozu die deutsche Regie‐ rung, im Gegensatz zu Fischers Stellungnahme 2003, es werde „eine entschädi‐ gungsrelevante Entschuldigung nicht geben“ (Robel 2013: 318), seit einigen Jahren im Prinzip bereit sei, insofern es sich lediglich um eine moralische Aus‐ sage handele (Köhler / Melbers 2017: 93). Dennoch ist eine solche Entschuldi‐ gung bislang nicht ausgesprochen worden. „Reparationen seien allerdings ein ‚No-Go‘, da beim Gebrauch dieses Begriffs der Eindruck einer rechtlichen Ver‐ pflichtung entstehe“ (Zimmerer 2019: 23). Stattdessen müssten die Bestimmung und Höhe etwaiger Zahlungen von deutscher Seite aus frei entschieden werden dürfen. Konkret im Gespräch seien jedoch ein „Versöhnungsfonds“ sowie ein Treuhandkonto für „besonders betroffene Gemeinschaften“ ( PACT , Particularly Affected Communities Trust) (ebd.: 23). In diesem Kontext war die Stellung‐ nahme des deutschen Botschafters in Namibia bei einer Rede in Swakopmund bezüglich geforderter Wiedergutmachungszahlungen besonders aussage‐ kräftig: In Tansania erfahren wir das Gegenteil wie in Namibia. Dort wird keine Entschädi‐ gung gefordert. Das Land möchte die Kolonialgeschichte vergessen und ein gesundes Verhältnis aufbauen. Sie möchten sehen, dass Deutschland sie weiter unterstützt. (Zi‐ tiert nach Leuschner 2019) Die Aussage war kontrovers genug, um eine Anfrage seitens der Opposition im Bundestag zu veranlassen (Deutscher Bundestag 2019c: 13 088). Zimmerer (2019: 24) kommentierte zu dieser bemerkenswerten Aussage des deutschen Botschaf‐ ters: Ungeachtet der Tatsache, dass auch in Tansania ein kritischerer Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte gefordert und eine Restitution von während der Kolo‐ nialzeit außer Landes gebrachten Objekten diskutiert wird und einzelne Regierungs‐ mitglieder Reparationen gefordert haben, suggerierte der höchste Repräsentant Deutschlands in Namibia zweierlei: einen Widerspruch zwischen einem kritischen 286 10. Schlusswort Umgang mit der (Kolonial-)Geschichte und einem „gesunden Verhältnis“ zwischen beiden Staaten einerseits, die Abhängigkeit der weiteren Zahlung von Entwicklungs‐ geldern von einem ebensolchen „gesunden Verhältnis“ andererseits. Die Andeutung auf einen biologisch-hygienisch-moralischen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit lässt unheilvolle Assoziationen mit verschiedenen Biopolitiken des 20. bzw. 21. Jahrhunderts aufkommen, bei denen der Begriff von Gesundheit letztlich auf Säuberung, Ausmerzung bzw. Ausscheidung hi‐ nausläuft (vgl. Agamben 2002; Mbembe 2014). Jedoch lässt die Andeutung auf die Biopolitik auch eine Anknüpfung an andere, alternative Auffassungen einer Politik des Lebens (z. B. Esposito 2006; Morton 2017, 2019; Weheliye 2014) zu, die der in dieser Aussage vertretenen Denkrichtung dezidiert widersprechen würden. Dergestalte alternative Politiken des Lebens würden die Gesamtheit der Verbindungsmodi zur Vergangenheit und Gegenwart zulassen, um jene Kontaktzonen als Orte der kreativen Effektivität des Affekts zu betrachten und an ihnen partizipativ und produktiv teilzunehmen. In diesem Sinne werden die in der vorliegenden Studie untersuchten literarischen Texte als eine Art Labor des „AfrikAffekts“ im heutigen deutschsprachigen Raum verstanden, in wel‐ chem nicht nur die Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die Zukunft der Versöhnung ausgehandelt und erlebt werden können. 287 10. Schlusswort 11. Literaturverzeichnis 11.1 Primärquellen Beetz, Dietmar (1989) Flucht vom Waterberg. Berlin: Das neue Berlin. Deutscher Bundestag (2016b) Stenographischer Bericht: 161. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 17. März 2016. Berlin: Deutscher Bundestag. Frenssen, Gustav (1906) Peter Moors Fahrt nach Südwest: Ein Feldzugbericht. Berlin: Grote. Günther, Egon / Uwe Timm (2013 [1983]) Morenga: der komplette Dreiteiler auf 2 DVDs. Birmingham (u. a.): Pidax Film. Hoffmann, Giselher W. (1994) Die schweigenden Feuer. Wuppertal: Peter Hammer. Jaumann, Bernhard (2016) Der lange Schatten: Kriminalroman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Lemmer, Hellmut (2014) Der Sand der Namib. 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Der Versöhnungsprozess ‰ndet langsam und vor allem durch symbolische Gesten statt, während formelle Verhandlungen nur schleppend vorankommen. AfrikAŒekt untersucht die Aufarbeitung des Völkermords an Herero und Nama in der jüngsten deutschsprachigen Belletristik. Die Studie betrachtet eine Reihe deutschsprachiger Romane von Timms Morenga (1978) bis Jaumanns Der lange Schatten (2015) nicht nur im Rahmen diskursgeschichtlicher bzw. ideologiekritischer Debatten, sondern analysiert sie außerdem mithilfe der AŒekttheorie. Dieser Ansatz erlaubt es zu beschreiben, wie literarische Texte mannigfaltige Rituale und Symboliken mit aŒektiver Reichweite über zeitliche und kulturelle Grenzen hinweg in die Gegenwart tragen und so zum dringend notwendigen interkulturellen Dialog und zur längst überfälligen Versöhnung beitragen können. Russell West-Pavlov lehrt Literaturwissenschaften und Global South Studies an der Universität Tübingen und ist Research Associate an der Universität Pretoria. www.narr.de