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Das einigende Band?

2008
978-3-8233-7385-8
Gunter Narr Verlag 
Manfred W. Hellmann

Mit dieser Auswahl von 21 Beiträgen Manfred W. Hellmanns zum sprachlichen Ost-West-Problem wird der interessierten Öffentlichhkeit ein umfassender und fundierter Überblick über einen spannenden Aspekt der deutschen Nachkriegsentwicklung gegeben. Sowohl die sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland als auch der Sprachgebrauchwährend und nach der Wende bis in die jüngste Zeit sind Gegenstand dieser methodisch wie thematischmaßstabsetzenden Untersuchungen aus 35 Jahren. "Es gibt keinen Germanisten, weder im Inland noch im Ausland, der so kontinuierlich und so kenntnisreich den deutschen Sprachverhältnissen in Ost und West seine Aufmerksamkeit und uns allen so viele wichtige Einsichten geschenkt hat." (Horst Dieter Schlosser) "Hellmann is the unquestioned guru of the lexicology of the former GDR." (John Partridge)

Manfred W. Hellmann Das einigende Band? Beiträge zum sprachlichen Ost-West-Problem im geteilten und im wiedervereinigten Deutschland Herausgegeben von Dieter Herberg Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 4 3 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Ulrich Hermann Waßner und Stefan Engelberg Band 43 · 2008 Manfred W. Hellmann Das einigende Band? Beiträge zum sprachlichen Ost-West-Problem im geteilten und im wiedervereinigten Deutschland Herausgegeben von Dieter Herberg Gunter Narr Verlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Domhardt / Tröster, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6385-9 Inhalt Einleitung....................................................................................................... 7 Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland.................... 15 01. Gefahr für die sprachliche Einheit? Unsere Sprache zwischen Ost und West (1968/ 69) ................................................... 17 02. Untersuchungen an östlichen und westlichen Zeitungstexten - Zu einigen Arbeiten der Außenstelle Bonn des Instituts für deutsche Sprache (1972) ........................................ 49 03. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme - Fragen bei der Erforschung der sprachlichen Situation in Ost und West (1973) .................................................................... 55 04. Gutachten: Allgemeine Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR-Forschung (1978) .......................... 85 05. Wie unterschiedlich ist die deutsche Sprache in Ost und West? Über die Arbeit der Bonner Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch (1980) .................................................................. 117 06. Wort-Kluft Ost-West? Auf erfundene DDR-Wörter reingefallen (1986)............................................................................................. 123 07. Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? Acht Thesen zur öffentlichen Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik (1988) ............... 125 08. Die doppelte Wende - Zur Verbindung von Sprache, Sprachwissenschaft und zeitgebundener politischer Bewertung am Beispiel deutsch-deutscher Sprachdifferenzierung (1989) ............ 155 09. „Ich suche eine Wohnung“ - Zur vergleichenden Untersuchung alltagssprachlichen Handelns in den beiden deutschen Staaten (1991) ................................................................................ 185 10. Vorwort und Einleitung zu: Wörter und Wortgebrauch in Ost und West (1992) .................................................................. 203 11. Das „kommunistische Kürzel BRD“ . Zur Geschichte des öffentlichen Umgangs mit den Bezeichnungen für die beiden deutschen Staaten (1997) .............................................................. 251 Inhalt 6 Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende .......................... 269 12. DDR-Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme (1990).............................................. 271 13. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch (1993)................................................... 305 14. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt - Brücke oder Schranke der Verständigung? (1994)............................................. 355 15. „Rote Socken“ - ein alter Hut? (1994) .......................................... 393 16. Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung (1997) ........................................................ 397 17. „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ - Zu Sprache und Kommunikation in Deutschland seit der Wende 1989/ 90 (1998) ...................................................... 423 18. „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 - Ein Wörterbuch zur lexikographischen Erschließung des „Wendekorpus“ (1999)............................................................ 443 Resümee und Ausblick ............................................................................. 481 19. Divergenz und Konvergenz. Sprachlich-kommunikative Folgen der staatlichen Trennung und Vereinigung Deutschlands. Ein Überblick (2000) .............................................. 483 20. Das Bild von der ‘Sprache der DDR’ in der alten Bundesrepublik oder: Haben sie so gesprochen? Rückblicke auf 50 Jahre westdeutsche Attitüden (2001)....................................................... 517 21. Thema erledigt - oder doch noch nicht? Was bleibt zu tun bei der Erforschung des DDR-Sprachgebrauchs? (2004) ............... 545 Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen von Manfred W. Hellmann ............................................................................. 555 Einleitung Den äußeren Anstoß für diese Zusammenstellung wesentlicher Schriften von Manfred W. Hellmann zum sprachlichen Ost-West-Problem im geteilten und im wiedervereinigten Deutschland gab der 70. Geburtstag des Autors am 7. Juni 2006. Die wissenschaftliche Rechtfertigung ergibt sich aus der Validität der Arbeiten Hellmanns sowohl im Methodischen als auch in den Analysebefunden und -interpretationen, denn „es gibt keinen Germanisten, weder im Inland noch im Ausland, der so kontinuierlich und so kenntnisreich den deutschen Sprachverhältnissen in Ost und West seine Aufmerksamkeit und uns allen so viele wichtige Einsichten geschenkt hat“ (Schlosser 2001, S. 276), so dass der Brite John Partridge ihn sogar „the unquestioned guru of the lexicology of the former GDR“ nennen konnte (Partridge 2005, S. 10). Es schien also an der Zeit, anhand kürzerer Beiträge aus Zeitschriften und Sammelbänden aus 35 Jahren (1968/ 69-2004) einen zusammenfassenden Überblick über die Forschungsschwerpunkte Hellmanns zu geben und die zum Teil nur noch schwer zugänglichen Texte damit zugleich für das wissenschaftliche Arbeiten einer jüngeren Forschergeneration bereitzustellen. Dabei bot es sich an, im Titel das Bild vom „einigenden Band“ der Sprache aufzugreifen, bildete es doch einen immer wieder berufenen Bezugspunkt in dem in Politik, Wissenschaft und Medien geführten Diskurs über das sprachliche Ost-West-Problem. Das Bild vom „einigenden Band“ (z.B. gemeinsamer Sprache, Geschichte, Kultur) war als solches nicht neu, erhielt aber in den Diskussionen um das sprachliche Ost-West-Problem - wohl ausgehend von seiner Verwendung durch Victor Klemperer zu Beginn der 50er Jahre - symbolhafte Bedeutung, galt doch die Sprache vielen als die letzte, verlässliche Gemeinsamkeit der Deutschen in Zeiten der staatlichen Teilung. Andere wiederum bezweifelten die Belastbarkeit, ja die fortbestehende Gültigkeit des mit diesem Bild gefassten Sachverhalts. Manfred W. Hellmann hat sich in seinen Arbeiten teils explizit, teils implizit immer wieder in diesen Disput eingemischt und die Haltbarkeit des „Bandes der deutschen Sprache“ - unter wechselnden Aspekten - problematisiert. Vor der knappen inhaltlichen Charakterisierung der Schwerpunkte dieser Auswahl werfen wir einen kurzen Blick auf die biografischen Eckdaten, die berufliche Laufbahn und das wissenschaftliche Leistungsspektrum des Autors. Dieter Herberg 8 Am 7. Juni 1936 in Celle geboren, studierte Manfred W. Hellmann von 1957 bis 1963 Germanistik und Geschichte (ergänzend auch Politikwissenschaft, Sprachwissenschaft, Philosophie/ Pädagogik) an den Universitäten in Saarbrücken, Berlin (Freie Universität) und Bonn. Im Jahre 1969 promovierte er an der Universität Bonn mit einer Arbeit zum Thema „Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politische Elemente in mittelhochdeutschen Epen“. Nachdem er bereits 1962/ 63 als studentische, dann wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Bonn erste Berührung mit dem Thema der sprachlichen Differenzierung zwischen Ost- und Westdeutschland gehabt hatte, machte er vom 1. August 1964 an dieses Thema zu seinem dauerhaften Forschungsschwerpunkt: zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, von 1967 bis 1980 als Leiter der neu gegründeten Bonner Außenstelle des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache (IDS), nach der Auflösung der Bonner Forschungsstelle 1980/ 81 dann bis zu seinem Wechsel in den Ruhestand Mitte 2001 in Mannheim. Während der fast 39 Jahre währenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit seinem Thema hat Manfred W. Hellmann bleibende Beiträge in unterschiedlichen Ergebnisformen zu den sprachlichen und kommunikativen Folgen der deutschen Teilung und Vereinigung geleistet, wobei der Sprache, der Kommunikation und der Lebenswelt in der DDR seine besondere Aufmerksamkeit galt; eine Aufmerksamkeit, die nicht nur eine wissenschaftliche war, sondern - die Leser werden es gelegentlich spüren - eine intensive Anteilnahme am Leben der DDR-Bürger unter den Bedingungen eines autoritärsozialistischen Staates. Das Leistungsspektrum des Autors umfasst sowohl die Korpuserstellung und die korpusbezogene Lexikografie als auch bibliografische Arbeiten, eine Vielzahl von Aufsätzen und Vorträgen sowie Gutachtertätigkeit und Lehrverpflichtungen. Während die kürzeren Arbeiten in diesem Band in einer repräsentativen Auswahl vorgelegt werden, kann auf die Groß- und Buchprojekte Hellmanns hier nur hingewiesen werden. Genannt werden muss an erster Stelle das vom Autor initiierte und geleitete Bonner Projekt „Ost-West- Wortschatzvergleiche“ (1976-1980, Verlängerungs- und Überarbeitungsphase in Mannheim bis 1990). Es umfasst vor allem die Erstellung des sog. Bonner Zeitungskorpus, das den Sprachgebrauch der Zeitungen „Die Welt“ (West) und „Neues Deutschland“ (Ost) der ersten 25 Jahre der beiden deut- Einleitung 9 schen Staaten (1949-1974) für die linguistische Analyse und die lexikografische Erschließung verfügbar machte, und als deren Hauptergebnis das dreibändige Korpus-Wörterbuch „Wörter und Wortgebrauch in Ost und West“ (1992) sowie eine umfangreiche kommentierte Bibliografie zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR (1976). Von den hier gesammelten methodologischen und lexikografischen Erfahrungen konnte auch das andere große Korpusauswertungsprojekt Hellmanns profitieren, das Wörterbuch zum sog. Wendekorpus des IDS (Texte von Mai 1989 bis Ende 1990), das unter dem Titel „Wörter in Texten der Wendezeit“ dieses Korpus lexikografisch erschließt (CD-ROM mit Begleitband, 2006). Zur Auswahl der Beiträge: Nicht aufgenommen wurden die drei großen Handbuchartikel Hellmanns, da sie auch heute noch relativ gut erreichbar sein dürften: im „Lexikon der Germanistischen Linguistik“ (1980), im „DDR Handbuch“ (1984) und im HSK-Band „Lexikologie“ (2005). Ausgeschlossen wurden außerdem drei weitere Beiträge, die soeben an anderer Stelle wieder veröffentlicht worden sind: der eine - „Wörter der Emotionalität und Moralität in Texten der Wendezeit“ (1997) - im Anhang zu dem oben erwähnten CD-ROM-Wörterbuch zur Wende; die beiden anderen - „Sprache zwischen Ost und West - Überlegungen zur Wortschatzdifferenzierung und ihren Folgen“ (1978) und „Sprach- und Kommunikationsprobleme in Deutschland Ost und West“ (1997) - in einem Sammelband unter dem Titel „Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West - ein Reader zu fünfzig Jahren Forschung. Herausgegeben von Manfred W. Hellmann und Marianne Schröder unter Mitarbeit von Ulla Fix“ (= Reihe Germanistische Linguistik, Georg Olms Verlag Hildesheim). Die für den vorliegenden Band ausgewählten 21 Beiträge sollen exemplarisch einen Überblick über die Arbeitsschwerpunkte und die sehr unterschiedlichen methodischen Ansätze von Manfred W. Hellmann geben. Sie umfassen den Zeitraum von 1968/ 69 bis 2004, mithin ein ganzes Forscherleben. So unterschiedlich die Fragestellungen und Methoden bei Hellmann sind - einiges wiederholt sich. In den frühen Beiträgen sind es Berichte über die damals neuen Verfahren und Ergebnisse der rechnergestützten, korpusbasierten Lexikologie, insbesondere über das von Hellmann konzipierte Dieter Herberg 10 „Bonner Zeitungskorpus“, mehrfach auch Forschungsüberblicke sowie Grundinformationen zur Sprachsituation in der DDR. Dies liegt daran, dass die Beiträge oft mit großem zeitlichen Abstand und für ganz unterschiedliche Leserbzw. Hörerkreise verfasst worden sind, bei denen schon anderswo Gesagtes keinesfalls als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Es liegt zum anderen aber auch daran, dass - in den späteren Beiträgen - bestimmte Aspekte dem Autor besonders am Herzen lagen. So zum Beispiel die - hier titelgebende - Metapher vom „einigenden Band der Sprache“, die Hellmann immer wieder problematisiert hat; seine wiederholten Warnungen vor Kommunikationskonflikten zwischen Ost- und Westbürgern (wir wissen heute, dass diese Sorge nur allzu begründet war); sein Protest gegen die staatlichen Richtlinien zum Gebrauch von „BRD“ und „Deutschland“; seine freudige Erleichterung bei der Beschreibung der Wende-Vorgänge; seine Bewunderung für die kommunikative Leistung der Ostdeutschen nach der Vereinigung; seine Aufrufe (an die „Mit-Wessis“) zu mehr Toleranz, mehr Akzeptanz von Anderssein und Andersreden. Der Autor hat mir als Herausgeber freigestellt, solche Wiederholungen zu tilgen. Darauf habe ich jedoch aus zwei Gründen verzichtet: Zum einen gehören für mich auch diese Wiederholungen zu dem, was Hellmanns Beiträge so authentisch und eindrucksvoll macht, zum anderen dürfte ihr Erhalt im Sinne derjenigen Leser sein, die den Band nicht insgesamt in einem Zug, sondern auswählend lesen. Der besseren Überschaubarkeit wegen werden die Beiträge in drei inhaltlich bestimmten Komplexen angeordnet; innerhalb jedes dieser drei Komplexe folgt die Ordnung der Chronologie der Veröffentlichungsjahre. Die drei Komplexe sind überschrieben mit „Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland“ (11 Beiträge), „Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende“ (7 Beiträge) und „Resümee und Ausblick“ (3 Beiträge). Da die Beiträge des Autors für sich selbst sprechen, kann sich der Herausgeber auf wenige Bemerkungen zur Einführung in die drei Komplexe des Buches beschränken. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland In diesem ersten Komplex geht es um die deutsch-deutsche Sprachgeschichte seit 1945 - insbesondere von der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 an - bis zur Wende 1989/ 90 und der Wiedervereinigung der beiden Einleitung 11 deutschen Staaten am 3. Oktober 1990. Dieser Zeitraum war - als Folge der politischen Auseinanderentwicklung und Teilung Deutschlands - auch von sprachlicher Divergenz geprägt, die sich vor allem im Wortschatz und im Wortgebrauch äußerte. Einen zusammenfassenden ausführlichen und materialreichen Rückblick auf die „Differenzierungstendenzen zwischen der ehemaligen DDR und BRD“ enthält der schon erwähnte Handbuchartikel des Autors (vgl. Hellmann 2005). Überblicke über den Untersuchungsgegenstand, die Forschungsproblematik und die seinerzeit diskursbestimmenden theoretischen und politischen Positionen - vor allem zur öffentlichen Sprache in der BRD und der DDR - geben auch mehrere der hier aufgenommenen Beiträge Hellmanns, insbesondere die Beiträge 1, 3, 7 und 8 (entstanden zwischen 1968/ 69 und 1989). Sie haben den Vorzug, die jeweils aktuellen Aspekte der damaligen Diskussionen authentisch und zeitnah widerzuspiegeln. Einblicke in die Werkstatt und die Arbeitsergebnisse der Bonner Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch - als Außenstelle des Mannheimer IDS - geben die Beiträge 2, 5 und 10. Zwei Beiträge sind konkreten Bezeichnungen und ihrem Gebrauch gewidmet: In Beitrag 6 geht es um erfundene DDR-Wörter, in Beitrag 11 um die Bezeichnungen für die beiden deutschen Staaten, insbesondere um das „kommunistische Kürzel BRD“. Der Beitrag 9 bietet die - hier wieder um einige Grafiken ergänzte - Kurzfassung eines Referats, in dem alltagssprachliches Handeln in den beiden deutschen Staaten anhand der Situation „Ich suche eine Wohnung“ vergleichend behandelt wird. Von besonderem Interesse - auch weil kaum allgemein zugänglich - dürfte der als 4. Beitrag wiedergegebene, von Manfred W. Hellmann verfasste Teil „Sprache“ aus dem umfassenden „Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ für das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen aus dem Jahre 1978 sein. Er gibt eine Übersicht über den entsprechenden Forschungsstand in Ost und West und unterbreitet aufgrund der Desiderate Vorschläge für ein Forschungsprogramm. Dieter Herberg 12 Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende In einem Forschungsbericht aus dem Jahre 1997 (vgl. Beitrag 16) fasst Hellmann die Situation, die diesen zweiten Komplex prägte, treffend zusammen: „Seit dem Herbst 1989, besonders seit der Maueröffnung am 9. November 1989, hat nun eine zweite Epoche der deutsch-deutschen Sprachentwicklung und ihrer Erforschung begonnen. Diese zweite Epoche steht unter dem Zeichen sprachlicher Konvergenz - unter welchen Schwierigkeiten auch immer [...]. Sofort nach der Wende und der Öffnung der Publikationsmöglichkeiten begannen sich Sprachwissenschaftler aus Ost und West mit dem Thema »wendebedingter Sprachwandel« zu beschäftigen. Jahrzehntelang war der wissenschaftliche Dialog arg behindert - jetzt entwickelte er sich zu einem intensiven Austausch der Themen, Vorgehensweisen, der Ergebnisse und auch der Personen“ (Hellmann 1997, S. 18). Der Autor gehörte zu den ersten und kundigsten Teilnehmern an diesem Austausch, was im vorliegenden Band mit den sieben Beiträgen zu diesem Inhaltskomplex nachgewiesen werden soll, die zwischen 1990 und 1997 veröffentlicht wurden. In einer ersten Bestandsaufnahme - auch in Form eines beigefügten Glossars - analysiert Hellmann den Sprachgebrauch in der Noch-DDR (Beitrag 12). Eine ebenfalls materialreiche Darstellung bietet der Beitrag 14 mit dem Titel „Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt - Brücke oder Schranke der Verständigung? “. Denselben Aspekt - jetzt am Beispiel massenmedialen Sprachgebrauchs (Tageszeitung, Fernsehtalkshow) - verfolgt der Autor in den Beiträgen 13 und 17. Der Analyse einer Einzelbezeichnung („Rote Socken“) ist der Beitrag 15 gewidmet. Über die Konzeption und die Beschaffenheit des bereits oben erwähnten korpuserschließenden Wendewörterbuches „Wörter in Texten der Wendezeit“ gibt der Beitrag 18 ausführlich Aufschluss. Will man sich einen Gesamtüberblick über wesentliche Forschungsansätze und -resultate dieses Zeitraumes verschaffen, so verhilft dazu der aspektreiche Forschungsbericht von 1997 (Beitrag 16). Resümee und Ausblick Die drei unter dieser Überschrift zusammengestellten Beiträge stammen naturgemäß aus den späteren Jahren (2000 bis 2004). Einleitung 13 Einen guten Überblick über sprachlich-kommunikative Folgen der staatlichen Teilung und der Vereinigung auf der Grundlage des Materials des oben erwähnten Handbuchartikels von 2005 gibt bereits ein Aufsatz von 2000 (Beitrag 19). Das Bild von der DDR-Sprache in der alten Bundesrepublik vor und nach der Wende - über einen Zeitraum von 50 Jahren - nimmt der Autor anhand von 12 „westdeutschen Attitüden“ unter die kritische Lupe (Beitrag 20). Den Abschluss bildet - als Beitrag 21 - der knappe Ausblick von 2004 mit dem Appell, das Thema nun als ein historisches ernst zu nehmen: „Lassen wir nicht zu, dass die Geschichte der DDR, auch ihre Sprachgeschichte, marginalisiert wird, als habe sie - wenn überhaupt - irgendwo im Ausland stattgefunden. Auch die Sprachgeschichte der DDR ist zu dokumentieren, zu kodifizieren, zu beschreiben und zu erinnern als Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte“ (Hellmann 2004, S. 23). Diesem Aufruf des Autors schließt sich der Herausgeber an und er spricht die Hoffnung aus, dass diese Auswahl der Schriften Manfred W. Hellmanns nicht nur der interessierten Öffentlichkeit fundierte Einsichten in einen spannenden Aspekt der deutschen Nachkriegsgeschichte geben, sondern auch der jetzt aktiven Wissenschaftlergeneration Anregung und Anreiz bieten möge, sich vertiefend, neu bewertend oder Lücken schließend der sprachlichen Ost- West-Problematik zuzuwenden. Mannheim, im Herbst 2007 Dieter Herberg Dieter Herberg 14 Literatur: Hellmann, Manfred W. (1997): Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung. In: Der Deutschunterricht 1, S. 17-32. Hellmann, Manfred W. (2004): Thema erledigt - oder doch noch nicht? Was bleibt zu tun bei der Erforschung des DDR -Sprachgebrauchs? In: Reiher, Ruth/ Baumann, Antje (Hg.): Vorwärts und nichts vergessen. Sprache in der DDR : was war, was ist, was bleibt. Berlin, S. 17-26. Hellmann, Manfred W. (2005): Differenzierungstendenzen zwischen der ehemaligen DDR und BRD . In: Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Hrsg. von D. Alan Cruse, Franz Hundsnurscher, Michael Job, Peter Rolf Lutzeier. (= HSK 21, 2. Halbbd.). Berlin/ New York, S. 1201-1220. Partridge, John (2005): Introduction. In: Partridge, John (Hg.): Getting into German. Multidisciplinary linguistic approaches. (= German Linguistic and Cultural Studies 17). Frankfurt a.M., S. 9-13. Schlosser, Horst Dieter (2001): Laudatio auf Manfred Hellmann. In: Antos, Gerd/ Fix, Ulla/ Kühn, Ingrid (Hg.): Deutsche Sprach- und Kommunikationserfahrungen zehn Jahre nach der „Wende“. (= Wittenberger Beiträge zur deutschen Sprache und Kultur 2). Frankfurt a.M., S. 275-279. Anmerkungen zur vorliegenden Ausgabe: Für die vorliegende Ausgabe wurde das Layout der Originalbeiträge behutsam vereinheitlicht und den Konventionen der Reihe angepasst, soweit dies ohne textliche Veränderungen und ohne allzu große strukturelle Eingriffe möglich war. Die Position der Anmerkungen (je nach Text als Fuß- oder Endnoten) wurde beibehalten, ebenso die Art und Weise der Textgliederung. Die Rechtschreibung der Beiträge entspricht dem Original, lediglich offensichtliche Druckfehler (fehlende oder vertauschte Buchstaben, fehlende Satzzeichen, kleinere Unstimmigkeiten im Layout usw.) wurden stillschweigend verbessert. Größere Ergänzungen und Korrekturen sowie nachträgliche Kommentare des Autors sind - falls nicht anders angegeben - durch eckige Klammern gekennzeichnet. Die Paginierung der Originaltexte wird durch eine in spitze Klammern gesetzte Zahl wiedergegeben, die den Beginn der betreffenden Seite markiert. Die Wiedergabe der Beiträge erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber, wofür Herausgeber und Redaktion an dieser Stelle nochmals ihren Dank aussprechen. In einigen wenigen Fällen konnten wir trotz umfangreicher Bemühungen keine Rechteinhaber ausfindig machen. Herausgeber und Verlag sind für entsprechende Hinweise dankbar. Herausgeber und Autor danken Andrea Domhardt und Sonja Tröster (beide IDS ) für die oft mühsame Arbeit des Einscannens und anschließenden sorgfältigen Aufbereitens der überwiegend nur in Papierform vorhandenen Originaldokumente für den vorliegenden Band sowie Norbert Volz für die umsichtige Gesamtbetreuung der Druckvorlage in der Publikationsstelle des IDS . Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland Aus: Mitteldeutsche Vorträge 1968/ 69, S. 39-70. Gefahr für die sprachliche Einheit? Unsere Sprache zwischen Ost und West [*] <40> In der Öffentlichkeit, genauer: in der Presse, besteht eine merkwürdige Vorliebe dafür, wissenschaftliche Äußerungen zum Thema „Sprache in beiden Teilen Deutschlands“ vor allem daraufhin auszuwerten, ob sich in ihnen nicht ein Beweis für die Behauptung, die deutsche Sprache sei gespalten, finden lasse. Offenbar verkaufen sich solche Behauptungen besser als die gegenteiligen. Und natürlich sind in solchen Presseartikeln meist die „bösen Kommunisten“ schuld an der behaupteten Sprachspaltung. Ich hätte übrigens Verständnis für solche Haltung, wenn sich erkennen ließe, daß der betreffende Redakteur oder Kolumnist sozusagen aus heiterem westdeutschen Sprachhimmel auf eine Ausgabe des „Neuen Deutschland“ (ND) gestoßen sei und versucht hätte, diese ganz einfach zu lesen. Viele lachen bei einem solchen Erlebnis, manche schreiben dann entsetzte Artikel. Oft aber stützt man sich bei solchen Behauptungen nicht auf Zeitungslektüre, sondern z.B. auf einen Vergleich der Mannheimer und der Leipziger Ausgabe des Duden. Das ist nun zweifellos eine denkbar ungünstige Grundlage gerade für einen Beweis der Sprachspaltungsthese 1 . Bekanntlich enthält der Duden - beide Duden - bei weitem nicht den ganzen deutschen Wortschatz, sondern nur eine kleine Auswahl, und zwar eine Auswahl vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Rechtschreibung. Was orthographisch wichtig ist - darüber läßt sich manchmal streiten, und schon daraus ergeben sich zahlreiche Abweichungen in den beiden Ausgaben. Das Auswahlkriterium der orthographischen Wichtigkeit läßt aber - zweitens - Raum genug für manch andere Überlegungen. Die Leipziger Dudenredaktion verfolgt erkennbar das Ziel, den DDR-typischen Wortschatz, sofern er nicht in den Fremdwörter-Duden gehört, möglichst vollständig zu verzeichnen und zumeist auch ideologisch eindeutig, d.h. im Sinne der SED, zu erläutern; umgekehrt streicht sie z.T. ideologisch unerwünschte Wörter. [* Überarbeitete Fassung eines Vortrages im Juni 1968 auf der Jahrestagung des Mitteldeutschen Kulturrates in Ansbach. MWH .] 1 Vgl. A. Schubert und M.W. Hellmann, Duden aus Leipzig und Mannheim. In: deutsche studien 1968, H. 23, S. 248-263. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 18 Die Mannheimer Redaktion verfolgt kein so ausgesprochen sprachpolitisches Ziel in diesem Sinne; sie erläutert neutraler und nimmt zudem bei Neuauflagen nun auch solche Wörter auf, die bisher nur im Ost-Duden standen; damit verringert sie wieder die zwischen den beiden Duden eingetretenen Differenzen. Sinnlos also, sich auf Unterschiede zu berufen oder über ihre Entdeckung zu triumphieren, da nicht zu erkennen ist, was bewußte Manipulation, was Desinteresse unter orthographischem Blickwinkel, was Zufall und was tatsächlich eingetretene Abweichung ist. Inter- <41> essant allerdings ist der Vergleich für die in beiden Verlagen betriebene Sprachpolitik, d.h. in bezug auf den Ost-Duden: für die Sprachpolitik der SED; ergiebig sogar könnte er für das unverändert Gemeinsame und - für das sich gemeinsam Verändernde sein. Ist die Parole „Sprachspaltung“ also selbst nur ein Relikt des Kalten Krieges? Oder nimmt man an, daß man damit eine in der Bevölkerung weitverbreitete Besorgnis, die „Kommunisten“ würden „auch dies noch fertigbringen“, anspricht? Es gibt natürlich reale Gründe für eine solche Besorgnis. Für den nicht geübten Leser ist das ND, ist die offizielle Sprache der DDR tatsächlich oftmals unverständlich oder gar abstoßend. Zwar versteht man die Tante aus Leipzig, wenn sie zu Besuch kommt, nahezu restlos, aber keineswegs immer die öffentlichen amtlichen oder journalistischen Äußerungen in der DDR; zwar versteht man den westdeutschen Besucher in der DDR, aber die Ausdrucksweise in manchen westdeutschen Massenmedien, in vielen Debatten oder Diskussionen wirkt auf unsere Landsleute drüben oftmals fremd. Die Erfahrung lehrt unzweideutig: es gibt Verständigungsschwierigkeiten, wenn auch nur auf bestimmten Gebieten und in bestimmten Situationen. Die Frage ist nur: wird das - muß das zu einer „Sprachspaltung“ führen? Wäre eine solche Entwicklung unausweichlich? Für den Linguisten ist es eher selbstverständlich, daß die zwanzigjährige Trennung in zwei Verkehrsräume, Kommunikationsräume, Wirtschaftsräume, zwei verschiedene politische Systeme, zwei Gesellschaften auch sprachliche Folgen haben muß. Man mag sich sogar darüber wundern, daß die Folgen nicht weit größer sind. Denn auch der nichtmarxistische Linguist weiß, daß der Einfluß außersprachlicher Faktoren auf die Sprache ungeheuer groß ist, daß die Sprache und ihre Anwendung im Sprachgebrauch auch Produkt der Gesellschaft - besser: der Vielfalt gesell- Gefahr für die sprachliche Einheit? 19 schaftlicher Gegebenheiten ist; er weiß aber auch und ist sich darin mit den Marxisten einig, daß die Sprache eine große geistige und gesellschaftliche Macht ist, ihre so oder so geartete Anwendung äußerst nachhaltige Wirkungen haben kann. Gemeinsamkeiten a) Tradition und Trend Aber eben, weil die sprachlichen Differenzen nicht größer sind als sie sind, können unsere Überlegungen noch nicht ausreichen. Entweder sind die beiden deutschen Gesellschaften so verschieden doch nicht oder die Sprache paßt sich unterschiedlichen Entwicklungen nicht ohne weiteres an. Beides ist richtig. Der Grundwortschatz der <42> Sprache, z.B. der der allgemeinmenschlichen Kommunikation oder der unmittelbar erfahrbaren Ding- und Gefühlswelt, hat sich trotz ungeheurer geistiger Umwälzungen als erstaunlich konstant erwiesen 2 , ebenso die Wortbildungsweise, noch mehr die Morphologie und die Syntax. Und was sich hier ändert - etwa die Abschleifung der Flexionsendungen, der Übergang von synthetisch gebildeten Flexionsformen oder Wortbildungsformen zu analytisch gebildeten, die Änderung in der Satzbauweise - das alles sind sehr langfristige Vorgänge, die durch zeitbedingte Einflüsse wohl beschleunigt oder gehemmt, aber nicht grundsätzlich geändert werden. Zum anderen haben die gesellschaftlichen Systeme bei uns und drüben natürlich doch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten: eine lange gemeinsame Geschichte zum Beispiel, ein gemeinsames geistig-kulturelles Erbe; sie haben auch gemeinsam, daß sie beide hochdifferenzierte Industriegesellschaften mit entsprechend gemeinsamen Problemen sind. Das kann man wohl feststellen, ohne gleich in die Euphorie von Konvergenztheorien zu verfallen. Lassen Sie mich nur einige der unvermeidlichen sprachlichen Folgen dieser Gemeinsamkeiten herausgreifen: z.B. die Internationalisierung der Wissenschaftssprache, die in vielen Bereichen verbunden ist mit einer starken fremdsprachlichen Beeinflussung, ebenso die Verwissenschaftlichung vieler Bereiche des gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, 2 Amerikanische Forscher haben für den Grundwortschatz verschiedener Sprachen eine „Verlustrate“ von durchschnittlich 20 Prozent pro tausend (! ) Jahre Sprachgeschichte errechnet (M. Swadesh in: International Journal of American Linguistics, Bd. 21, 1955, S. 121ff.; R.B. Lees in: Language, Bd. 29, 1953, S. 113ff.). Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 20 geistigen Lebens, die zu einer entsprechend abstrakt-rationalen Redeweise führt; die zunehmende Rolle der Verwaltung im weitesten Sinne (staatliche und wirtschaftliche) mit ihren sprachlichen Eigentümlichkeiten; die teils bewußt ausgenutzte, teils unbewußt vorhandene Bereitschaft, vor der Unüberschaubarkeit vieler Zusammenhänge in genormte sprachliche Ausdrükke, in Denk- und Sprachklischees auszuweichen. Man spricht in diesen Zusammenhängen von Tendenzen zur sprachlichen Abstraktion, zur Ökonomisierung, zur Rationalisierung, zur Differenzierung. Zur Verwirklichung dieser Tendenzen stellt unsere Sprache entsprechende Mittel zur Verfügung. <43> b) Gemeinsame sprachliche Mittel Eines der häufig - auch kritisch - diskutierten Mittel ist die Substantivierung von Verben, Adjektiven, Partizipien, sei es durch einfache Substantivierung der Grundform oder durch Verwendung eines der zahlreichen Substantivsuffixe, vor allem des Suffix -ung. Natürlich kann dieses Mittel mißbraucht werden, und es wird mißbraucht, aber sicher ist, daß die Verwendung von Substantiven auf -ung oftmals einen Nebensatz erspart, also das Satzgefüge vereinfacht. (Ich hätte hier sagen können: „Wenn man Substantive auf -ung verwendet, erspart man sich ...“). Auch das Mittel der Wortzusammensetzung dient dem Bedürfnis nach sprachlicher Ökonomisierung, in anderen Fällen auch dem Bedürfnis nach begrifflicher Präzisierung. Durch Übertreibung kann auch hier der erstrebte Effekt in sein Gegenteil umschlagen, wie in dem Beispiel Spezial- Warmbreitbandwalzstraße. Ein harmloseres Wort wie Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft jedoch, das es übrigens in beiden Teilen Deutschlands gibt, erspart auf präzise Weise eine so umständliche Formulierung wie „Genossenschaft zum Bau von Wohnungen für Arbeiter“. Und wenn man diesen Begriff als allgemein bekannt voraussetzen kann oder will, so kürzt man ihn ab und nennt ihn, in der DDR etwa, AWG; bei uns etwa wird aus der Gemeinnützigen Wohnungsbau- Gesellschaft die Abkürzung Gewobag. In diesem Zusammenhang: in Westdeutschland hat man etwa 90 000 Abkürzungswörter gezählt, und es entstehen täglich neue 3 . 3 Erwähnt seien hier nur die erst seit kurzem allgemein geläufigen Abkürzungen „ APO “ (= Außerparlamentarische Opposition) und „ ADF “ (= Aktion Demokratischer Fortschritt). Gefahr für die sprachliche Einheit? 21 Noch dringender wird das Bedürfnis nach Vereinfachung und Entlastung des syntaktischen Gefüges, wenn komplizierte Zusammensetzungen wie die eben genannte ihrerseits Genitivattribute zu Substantiven werden; also etwa, wenn jetzt die Vorsitzenden dieser Genossenschaften mitgenannt werden sollen. Da ist es eine Erleichterung, wenn man (im Osten) AWG-Vorsitzender bzw. (bei uns) Gewobagvorsitzender sagen kann. Die außerordentlich stark zunehmende Verwendung von Bindestrich-Wörtern, die freilich nicht nur bei Abkürzungen, dort aber besonders häufig auftreten, dient ebenfalls der Ökonomisierung. Daß die sprachliche Logik gelegentlich darunter leidet (wie in dem Beispiel die LPG-Vorsitzende Typ I Ruth M.), steht auf einem anderen Blatt. <44> In der offiziellen Sprache gibt es freilich - ich nehme an: aus Gründen der Repräsentation - solche aus einer Reihe von Genitivattributen gebildeten Bezeichnungsungetüme. So unterschrieb der Ostberliner Unterhändler Staatssekretär Kohl eine Passierscheinvereinbarung folgendermaßen: „Auf Weisung des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik: Michael Kohl, Staatssekretär.“ - Die Deutschlehrer sprechen in solchen Fällen von „Genitiv-Rutschbahn“. Aber wir lassen uns solches - hüben wie drüben - nur ungern gefallen, und so wird bei uns aus dem Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder - ergänzend: ... der Bundesrepublik Deutschland, kurzerhand die Kultusministerkonferenz oder noch kürzer die KMK, - und in der DDR aus dem Vorsitzenden des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik und Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands der DDR-Staatsratsvorsitzende und der 1. ZK-Sekretär (dieses allerdings nur sehr inoffiziell; z.B. in Rundfunkinterviews) oder, in westdeutschen Zeitungen etwa, der SED-Chef Ulbricht. Einen anderen und sehr wirksamen Typ ökonomischer Wortbildung finden wir in den sogenannten „Raffwörtern“, die besonders von Journalisten geprägt und verwendet werden, wie Dolchstoßlegende, Fernsehurteil, Schubladengesetze, Spiegel-Aktion, oder seit neuestem Robenprotest 4 . Sie raffen nicht nur syntaktisch, sondern vor allem semantisch, nämlich ganze Ketten von Sachverhalten, Urteilen, Ereignissen, Geschichten, ja Geschichte in ei- Die weitaus meisten Abkürzungen bleiben auf einen bestimmten Sachbereich beschränkt; zumeist sind es Namen. 4 In Zusammenhang mit der Weigerung einiger Anwälte, vor Gericht den traditionellen Umhang anzulegen. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 22 nem Wort zusammen, wobei der umfangreiche Kontext als bekannt mitgedacht werden muß, da aus den Bestandteilen dieser Wörter selbst ihre Bedeutung kaum noch erschlossen werden kann. Auf dem Gebiet der Syntax ist als wichtigste Veränderung der Verzicht oder die Umgehung der sogenannten „prädikativen Klammerung“ zu nennen. Hier scheint sich übrigens eine neuere Entwicklung durchsetzen zu wollen. Man liest 5 : Zunächst wurden festgelegt die neuen Richtlinien für die Erprobung usw. statt: „Zunächst wurden die neuen Richtlinien für die Erprobung usw. festgelegt.“ Die Untersuchung wird sehr erleichtert <45> dadurch, daß die Gewährsleute zuverlässig sind statt „wird dadurch, daß die Gewährsleute zuverlässig sind, sehr erleichtert“. Die größten Schäden sind jedoch entstanden durch die nachfolgenden Brände statt: „... sind durch die nachfolgenden Brände entstanden“. Ich nehme jetzt auf den Gedankengang, den mein Vorredner unterbrochen hat usw. Kein Zweifel, daß auch hier das Streben nach größerer Durchsichtigkeit, nach Entlastung des syntaktischen Gefüges am Werke ist. Als aktueller Antrieb mag auch die bessere Übersetzbarkeit solcher „modernen“ Satzbildungen wirken. Die größere rhetorische Wirksamkeit solcher Figuren spielt sicher auch eine Rolle 6 . Wenn in den oben genannten Beispielen die verbale Klammerung direkt aufgehoben wird, so umgeht man sie andererseits dadurch, daß man das eigentliche Verb substantiviert und die Klammer durch ein sogenanntes Funktionsverb schließt. Wir bitten, die Abholung der Telefonbücher umgehend vorzunehmen 7 , schrieb eine westdeutsche OPD - Oberpostdirektion - ihren Kunden, statt: Wir bitten, die Telefonbücher umgehend abzuholen. Der Tatbestand, auf den es entscheidend ankommt, nämlich „Abholen - Telefonbücher“ ist an den Anfang des Satzes gerückt und damit hervorgehoben; das grammatische 5 Vgl. die Beispielsätze bei Hugo Moser, Wohin steuert das heutige Deutsch? Triebkräfte im Sprachgeschehen der Gegenwart (Vortrag). In: Satz und Wort im heutigen Deutsch - Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1965/ 66 (= Sprache der Gegenwart Bd. 1), Düsseldorf 1967, S. 15ff. 6 Besonders Adenauer hat sich, auch bei offiziellen Reden im Bundestag, mit Vorliebe dieses Mittels bedient. 7 Vgl. Moser a.a.O., S. 25. Gefahr für die sprachliche Einheit? 23 Verb bleibt nur noch Teil des syntaktischen Gerippes. Die so ungemein häufige Verwendung der blassen Funktionsverben durchführen, vornehmen, veranstalten, veranlassen oder gar: zur Durchführung bringen oder kommen oder gelangen lassen usw., die wir so oft beklagen, muß also nicht unbedingt „Schluderei“ sein; es kann sprachliche Absicht dahinterstehen. Dies alles sind durchaus gemeindeutsche Erscheinungen! c) Zur Kritik an den sprachlichen Neuerungen Diese hier nur kurz skizzierten Tendenzen in unserer heutigen Sprache waren selbstverständlich Gegenstand zahlreicher Untersuchungen 7a . Fast immer war man bestrebt, die beobachteten sprachlichen Phänomene in größeren geistigen Zusammenhängen zu sehen. <46> Die wichtigsten und bekanntesten Richtungen, in denen man sich um diese Probleme bemüht hat, sind fast schon zu Schulen geworden und lassen sich vielleicht durch einige Schlagworte kennzeichnen. Man spricht von der „Sprache des Unmenschen“ 8 . Da ist ferner Karl Korns bekanntes Buch „Sprache in der verwalteten Welt“ 9 . Peter von Polenz spricht von der „Sprache in der rationalisierten Welt“ 10 . Schließlich ist auch Walter Höllerers „Sprache im technischen Zeitalter“ (zugleich der Titel der von ihm herausgegebenen Zeitschrift) zu nennen. Und man wird zustimmen können, daß in den genannten Gesichtspunkten, in der zunehmenden Funktionalisierung mit den Mitteln der Verwaltung, in der Rationalisierung und in der Technisierung entscheidende Aspekte sowohl der realen Umwelt als auch des sprachlichen Geschehens der Gegenwart erfaßt sind. Nicht immer wahrten die Sprachbeobachter bei solchen Untersuchungen kritische Distanz. Einige haben geradezu leidenschaftliche Anklage gegen die Seelenlosigkeit, Kälte, Verworrenheit und Brutalität unserer heutigen Sprache erhoben. Korn, ähnlich Süskind, sehen überwiegend Verfall, Entgleisung, Entmenschlichung am Werk. 7a Mehrfach durch H. Moser, zuerst: Entwicklungstendenzen des heutigen Deutsch. In: Der Deutschunterricht 6, 1954, H. 2, S. 87-107; zuletzt in dem Anm. 5 genannten Aufsatz (1967). (Vgl. Verzeichnis der wiss. Schriften Hugo Mosers, zusammengestellt von A. Schubert, in Festschr. f. H. Moser, Düsseldorf 1969, S. 297-308.) 8 Sternberger-Storz-Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, München 1962. 9 Karl Korn, Sprache in der verwalteten Welt, Frankfurt 1960. 10 Peter von Polenz, Funktionsverben im heutigen Deutsch - Sprache in der rationalisierten Welt. (= Beiheft 5 zum Wirkenden Wort), Düsseldorf 1963. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 24 Demgegenüber hat sich mit dem Kölner Professor Fritz Tschirch ein nicht minder temperamentvoller Verteidiger unserer heutigen Sprache zu Wort gemeldet 11 . Der Aufschwung der Naturwissenschaften und die sich überstürzende technische Entwicklung habe unerhörte Anforderungen an den Wortschatz und die Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache gestellt. „Diese Aufgabe“, sagt Tschirch, „hat das Deutsch der jüngsten Zeit mühe- und reibungslos gemeistert, anders gesagt: es hat mit der atemberaubenden Entwicklung Schritt zu halten vermocht.“ Die neueste sprachliche Entwicklung habe zu einer „Schmeidigung der Ausdrucksweise, zu einer geistigen Vertiefung und Durchdringung der Aussage“ geführt, die modernen Formen der Wortbildung ermöglichten feinste begriffliche Abtönung und schärfere Unterscheidung zwischen dem Sachverhalt und der subjektiven Einstellung des Sprechers zu ihm; kurz gesagt: von Sprachverfall könne keine Rede sein, vielmehr „pulst kräftigstes Sprachleben“. Vor allem aber wehrt sich Tschirch dagegen, die heutige rationale Sprache der <47> Verwaltung, der Wissenschaft und Technik etwa mit der Sprache Kants oder Goethes zu vergleichen. Die Sprache Goethes dürfe man am ehesten mit der Sprache heutiger Dichter, die Sprache Kants mit der moderner Philosophen, das heutige Verwaltungsdeutsch andererseits nur mit einer Kanzleisprache, etwa der Goethezeit, vergleichen, und diese, sagt Tschirch, zweifellos zu recht, sei keineswegs schöner gewesen als die heutige. Der Streit wird unentschieden bleiben, denn Karl Korn und seinen Mitkämpfern geht es ja nicht nur um Sprachkritik, sondern erklärtermaßen hinter aller Sprachkritik um Ideologiekritik, um Gesellschaftskritik. Und daß sich auch der seelenlose Bürokrat, der ideologisierte Unmensch das heutige Deutsch gut und leicht zunutze machen kann und zunutze gemacht hat - wer wollte das bestreiten. Insofern wird auch die engagierte Sprachkritik recht behalten, wenn sie sprachliche Äußerungen als Zeichen geistiger Fehlhaltungen von Gruppen oder Individuen anprangert. d) Regionale und soziale Ausgleichstendenzen Das Deutsch der letzten Jahrzehnte ist noch durch einige weitere Gemeinsamkeiten gekennzeichnet, die ich kurz andeuten will: Was die räumliche Verbreitung betrifft, hat das Deutsche mehrfach erhebliche Einbußen erlitten. Die Gebiete deutscher Sprache außerhalb Mitteleuropas sind heute z.T. 11 Fritz Tschirch, Wachstum oder Verfall der Sprache? In: Muttersprache, 75. Jg. 1965, S. 129-139 und 161-169. Gefahr für die sprachliche Einheit? 25 verschwunden, andere in ihrer Bedeutung stark gemindert. Beim österreichischen und schweizerischen Deutsch waren und sind auch heute die Tendenzen zur stärkeren Angleichung an das Hochdeutsche und die Tendenz zur Betonung der sprachlichen Eigenständigkeit gleichzeitig vorhanden. Dem Verlust an räumlicher Verbreitung und Vielfalt steht nun ein erheblicher Gewinn an hochsprachlicher Einheitlichkeit gegenüber. Schon seit langem hat man den Rückgang der Mundarten beobachtet. Seit dem Ende des Krieges scheint die Entwicklung einem vorläufigen Endstand zuzustreben, wobei der Zustrom der Flüchtlinge in früher mundartlich geschlossene Gebiete, die höhere Fluktuation und die Wirkung von Presse, Rundfunk, Fernsehen gleichermaßen eine Rolle spielen. Statt der örtlich verankerten Mundarten spricht man heute unterhalb der hochdeutsch bestimmten Gemeinsprache (oder auch neben ihr) überregionale, landschaftlich gefärbte Umgangssprachen. Diese kräftige Tendenz zum binnendeutschen sprachlichen Ausgleich ist sicherlich ein gewichtiges Kennzeichen der neueren Sprachentwick- <48> lung. Möglicherweise ist diese Tendenz in der DDR noch stärker zu spüren als bei uns 12 . Neben der Tendenz zur Vereinheitlichung hat es in unserer Sprache immer auch gleichzeitig Differenzierungserscheinungen gegeben. Während, wie gesagt, die Mundarten verschwinden, entstehen, bedingt durch die fortschreitende Spezialisierung vieler Wissensgebiete, dauernd neue Fachsprachen, besonders im wissenschaftlichen und technischen Bereich; während alte Fach-, Sonder- und Gruppensprachen immer wieder teilweise von der allgemeinen Hochsprache aufgesogen werden, wie z.B. Teile der Juristen-, Soldaten-, Studenten-, Seemanns- und Kaufmannssprache, entstehen andere Fach- und Sondersprachen, man denke nur an die Sprache der Bundeswehr, der Betriebsorganisation, der Mode usw., die allesamt bei uns, im Bereich der Modesprache auch in der DDR, sehr stark angelsächsisch beeinflußt sind. Auch die Ausgliederung bestimmter, früher weitgehend mit der allgemeinen Hochsprache verschmolzenen Sprachbereiche ist zu verzeichnen. So ist z.B. die Sprache der Religion 13 , d.h. der religiösen Verkündigung, weithin schon zu 12 Hans Joachim Gernentz, Zum Problem der Differenzierung der deutschen Sprache in beiden deutschen Staaten. In: Weimarer Beiträge 1967, H. 3, S. 463-468. Gernentz glaubt (S. 465), darin ein Zeichen besonderer Fortschrittlichkeit der Landbevölkerung der DDR erblicken zu können. 13 Vgl. dazu H. Moser, Sprache und Religion - Zur muttersprachlichen Erschließung des religiösen Bereichs (= Beiheft 7 zum Wirkenden Wort), Düsseldorf 1964. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 26 einer Sondersprache geworden, die sich nur noch in einem bestimmten Rahmen, bei bestimmten Anlässen aktualisiert und keineswegs mehr von jedem verstanden, geschweige denn gesprochen wird - ein Umstand, der sich wahrscheinlich bei uns nicht minder stark bemerkbar macht als drüben. Verschiedenheiten a) Zur Situation Neben diesen Gemeinsamkeiten ist nun seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Situation eingetreten, die auch die deutsche Sprache mit besonderen Problemen belastet, wie es sie in der Geschichte unserer Sprache bisher nicht gegeben hat. Deutschland ist in zwei Räume geteilt, die verschiedenen ideologischen, politischen, wirtschaftlichen und auch sprachlichen Einflüssen unterliegen. Die Veränderungen vollziehen sich also in künstlich abgetrennten Teilen des deut- <49> schen Sprachraumes, d.h. ohne die bodenständigen sprachlichen Grundlagen, welche die österreichischen und schweizerdeutschen Sprachformen zweifellos haben. Sie unterscheiden sich darin auch von den vorher geschilderten großen Veränderungen, die den ganzen deutschen Sprachraum betrafen. Für den östlichen Teil der Sprachgemeinschaft gelten zudem einige besondere Bedingungen: Sie lebt in einem Herrschaftssystem, das sich die denkbar größte Mühe gibt, mit neuen Verhältnissen und auch neuen Sprachformen neue Bewußtseinsinhalte einzuführen und durchzusetzen. Dieser großangelegte Versuch unterscheidet sich von früheren sprachlichen Beeinflussungsvorgängen in mehrfacher Hinsicht: 1) Die Veränderungen erfolgen nicht nur bewußt, sondern werden auch zentral gelenkt und verbreitet und sollen a l l e in jenem Machtbereich lebenden deutschen Sprachteilnehmer erfassen. Darin unterscheiden sich die Bemühungen im anderen Teil Deutschlands grundsätzlich von allen anderen, früheren Bemühungen, die Sprache bewußt zu beeinflussen, deren es immerhin viele gegeben hat, wie z.B. die der Sprachgesellschaften des Barock, der Aufklärung, auch z.B. der Vereinigungen zur Pflege der deutschen Sprache (Allgemeiner deutscher Sprachverein), die aber alle in ihrem Wirkungskreis recht beschränkt blieben, und denen vor allem die zentrale Lenkung und die Macht des Staatsapparates fehlte. In diesem Punkt stimmt die Eigenart der Sprachbemühungen der SED-Führungsgruppe mit derjenigen der nationalsozialistischen Führer überein. Gefahr für die sprachliche Einheit? 27 2) Ähnlich wie früher die NSDAP erhebt die SED für weite Teile des offiziellen Sprachgebrauchs Alleingültigkeitsanspruch; für die vermittelten Inhalte durchweg absoluten Wahrheitsanspruch. 3) Die Sprachlenkungsbemühungen der SED unterscheiden sich von denen der NS-Propagandisten aber dadurch, daß jene eine ausgebildete ideologische Grundlage besitzen, welche der NS-Doktrin und damit auch deren Sprachpolitik weitgehend fehlte. 4) Die Sprachbeeinflussung und -lenkung 13a ist zwar politisch-ideologisch bedingt, sie ist aber nicht nur auf den unmittelbar politischen Bereich gerichtet, sondern im Prinzip - wenn auch nicht unbedingt im Ergebnis - auf a l l e Lebensbereiche, auch den privaten. <50> b) Zur Forschungslage Die der Partei verbundenen Spitzenwissenschaftler sind freilich mit dem erzielten Ergebnis nicht zufrieden. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das in Ostberlin erscheinende Buch von Georg Klaus „Die Macht des Wortes“ 14 hinweisen. Klaus, Professor für Logik und Erkenntnistheorie in Berlin und ein wichtiger Mann im Bereich der Gesellschaftswissenschaften in der DDR, unternimmt es, von einem erkenntnistheoretischen Ansatz aus die pragmatische Seite der Sprache, besonders ihre Anwendung in Agitation und Propaganda, zu definieren. Er fordert dort, den Bereich der sprachlichen Wirkung im weitesten Sinne wissenschaftlich zu erforschen und die Ergebnisse wissenschaftlich konsequent in die Praxis zu überführen. Agitation und Propaganda dürften nicht länger Handwerk oder Kunst sein, sie müßten Wissenschaft werden, um maximal effektiv zu werden. Bisher hat sich die DDR- Forschung um unser Thema nicht sehr intensiv bemüht 15 , aber das wird sich nun sicher ändern. 13a Zur terminologischen Unterscheidung vgl. H. Moser, Sprache - Freiheit oder Lenkung? Zum Verhältnis von Sprachnorm, Sprachwandel, Sprachpflege (= Duden-Beiträge 25), Mannheim 1967. Vgl. dazu auch W. Dieckmann, Sprache in der Politik (s.u. Anm. 22), S. 40-42. 14 Georg Klaus, Die Macht des Wortes - Ein erkenntnistheoretisch-pragmatisches Traktat. 4. Aufl., Berlin 1968. 15 Außer der Anm. 12 zitierten Arbeit von H. J. Gernentz sind zu erwähnen: Joachim Höppner, Über die deutsche Sprache und die beiden deutschen Staaten. In: Weimarer Beiträge 9, 1963, S. 576-585; Karl Heinz Ihlenburg, Entwicklungstendenzen des Wortschatzes in beiden deutschen Staaten. In: Weimarer Beiträge 3, 1964, S. 372-397; Margot Koliwer, Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 28 In der Bundesrepublik war dagegen die sprachliche Situation im geteilten Deutschland, speziell in der DDR, schon häufig Gegenstand sprachwissenschaftlicher Untersuchungen. Die wichtigsten, denen ich selbst auch verpflichtet bin, will ich kurz nennen: die Untersuchungen des Schweden Korlén und seiner Schüler 16 , die Arbeiten von Bartholmes 17 , Riemenschneider 18 , Erasmus Schöfer 19 , Betz 20 , dessen Schüler <51> Hans H. Reich 21 und anderen 22 , natürlich besonders von Hugo Moser, der 1962 in seiner Schrift Einige Bemerkungen zu westdeutschen Veröffentlichungen über die Entwicklung der deutschen Sprache in beiden deutschen Staaten. In: Weimarer Beiträge 13, 1967, H. 6, S. 1044-1053; Thea Schippan, Die beiden deutschen Staaten und die deutsche Sprache. In: Deutschunterricht 20, 1967, H. 1, S. 8-18. 16 Gustav Korlén, Zur Entwicklung der deutschen Sprache diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. In: Deutschunterricht für Ausländer 9, 1959, S. 138-152; ähnlich in: Sprache im technischen Zeitalter 4 (Sonderheft), 1962, S. 259-280 und im Anm. 5 zitierten Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache, S. 36-54. Björn Hammarberg, Sprachveränderungen in der DDR - Zur Entwicklung der deutschen Sprache im Osten unter dem Einfluß des Sowjet-Regimes. Tentamensarbeit an der Stockholmer Hochschule, Frühjahr 1958 (Matr.- Vervielfältigung). 17 Herbert Bartholmes, Tausend Worte Sowjetdeutsch - Beitrag zu einer sprachlichen Analyse der Wörter und Ausdrücke der Funktionärssprache in der sowjetischen Besatzungszone 1945-1956. Tentamensarbeit Göteborg 1956 (Vervielfältigung); ders., Das Wort „Volk“ im Sprachgebrauch der SED - Wortgeschichtliche Beiträge zur Verwendung des Wortes „Volk“ als Bestimmungswort und als Genitivattribut (= Die Sprache im geteilten Deutschland Bd. 2), Düsseldorf 1964. 18 Ernst G. Riemschneider, Veränderungen der deutschen Sprache in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (= Beiheft 4 zum Wirkenden Wort), Düsseldorf 1963. 19 Erasmus Schöfer, Die Sprache im Dienst des modernen Staats. In: Sprache im technischen Zeitalter 8, 1963, S. 615-633. 20 Werner Betz, Zwei Sprachen in Deutschland? In: Deutsch - Gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? Hg. von Fr. Handt, Berlin 1964, S. 155-163; ders., Nicht der Sprecher, die Sprache lügt? Ebd. S. 38-41. 21 Hans H. Reich, Sprache und Politik - Untersuchungen zu Wortschatz und Wortwahl des offiziellen Sprachgebrauchs in der DDR (= Münchener Germanistische Beiträge Bd. 1), München 1968. Rezensionen dazu von A. Schubert in ZfdPh. 88, 1969, S. 155-158; M.W. Hellmann in Muttersprache 1969, H. 7/ 8, S. 193-200; H. Bartholmes in Moderna Sprak 1969, S. 310-314, und in deutsche studien 26, 1969, S. 209-211. 22 Neben den im „Aueler Protokoll“ (Das Aueler Protokoll, Deutsche Sprache im Spannungsfeld zwischen West und Ost, hg. von Hugo Moser (= Die Sprache im geteilten Deutschland Bd. 1, Düsseldorf 1964) erschienenen Aufsätzen von R. Römer, H. Scholz, Th. Pelster, E. Sturms ist jetzt vor allem Walter Dieckmann zu nennen: Walter Dieckmann, Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem. In: ZfdSprache 23, 1967, Gefahr für die sprachliche Einheit? 29 „Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands“ 23 das Thema zum ersten Mal zusammenhängend und zusammenfassend dargestellt hat. Unter seiner Leitung bearbeitet die Bonner Außenstelle des Instituts für deutsche Sprache dieses Thema auf breiterer Basis weiter. Wesentlich ist, daß die Untersuchungen im Rahmen dieser Arbeitsstelle prinzipiell vergleichend angelegt sind, und zwar vergleichend in dem Sinne, beide Sprachformen zunächst als gleich normwidrig oder normgemäß zu betrachten. Wir sind uns bewußt, daß unser westdeutscher Sprachgebrauch ebenso wie der in der DDR seit 1945 ganz erhebliche Wandlungen erlebt hat, erst recht natürlich gegenüber dem Sprachgebrauch der <52> Nazizeit oder der Weimarer Zeit. Wenn ich hier hauptsächlich auf die Entwicklung in der DDR eingehe, so nur deshalb, weil ich überzeugt bin, daß diese Entwicklung allgemein wenig bekannt ist, wohingegen jeder von uns im eigenen sprachlichen Bereich über unmittelbare Erfahrungen und damit auch Kritikmöglichkeit verfügt. c) Zur beeinflussenden Sprache Nach diesen Ausblicken auf die allgemeinen Tendenzen des heutigen Deutsch und auf die besondere sprachliche Situation im Nachkriegsdeutschland möchte ich, bevor ich auf die Besonderheit der Sprachsituation in der DDR näher eingehe, nochmals darauf hinweisen: es droht uns immer die Gefahr, daß wir vieles für politisch bedingt und „typisch SED-Deutsch“ halten, was in Wirklichkeit eine lange Geschichte in der Entwicklung der deutschen Sprache hat und vielleicht zu den Grundtendenzen der jetzigen deutschen Sprache überhaupt gehört. Auch ist das Vorhandensein von ungewohnten Bezeichnungen für Dinge und Einrichtungen in der DDR noch kein Grund, von „Parteichinesisch“ zu sprechen, vielmehr eher ein Anlaß für uns, uns besser zu informieren; wir werden dann bemerken, daß die sprachliche Diktion, die Satzstruktur oft die gleichen sind wie bei uns. Zahllose Sätze aus dem Sprachbereich der Politik oder auch der Verwaltung im Westen lassen sich durch Vertauschen nur weniger Wörter oder Formeln mühe- S. 136-165; ders., Sprache in der Politik - Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache (= Sprachwissenschaftliche Studienbücher, 2. Abteilung, hg. von L.E. Schmitt), Heidelberg 1969; ders., Information oder Überredung - Zum Wortgebrauch der politischen Werbung in Deutschland seit der Französischen Revolution (= Marburger Beiträge zur Germanistik Bd. 8), Marburg 1964. 23 Hugo Moser, Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands (= Beiheft 3 zum Wirkenden Wort), Düsseldorf 1962. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 30 los in extremes SED-Deutsch verwandeln - und umgekehrt. Allerdings hat das seine Grenzen. Ein Satz wie der folgende dürfte im westdeutschen Sprachgebrauch nicht umkehrbar sein (es handelt sich um eine Überschrift aus dem ND): „Der Staatsrat als wichtigstes und wirksamstes Organ der Volkskammer zur Stärkung der Einheitlichkeit der staatlichen Führung und der Einheit von Staatsmacht und Bevölkerung beim umfassenden Aufbau des Sozialismus in der DDR und beim Kampf für die friedliche sozialistische Perspektive in ganz Deutschland.“ Zwar lassen sich ähnliche nominale Satzbildungen, ohne jede Hypotaxe, zusammengesetzt nur aus attributiven und präpositionalen Fügungen, durchaus auch etwa in westdeutschen Gesetzestexten oder Verordnungen finden. Auch einige Wörter (Staatsrat, Volkskammer, DDR) ließen sich austauschen, - die Färbung, die Diktion bliebe trotzdem unverwechselbar für die Sprache der SED. Und das liegt nicht nur an dem uns so nicht vertrauten Wort Perspektive. Der Grund liegt darin, daß mit diesem Satz gleich mehrere Absichten sprachlich verwirklicht werden sollen, und diese sind es, die uns vor allem ungewohnt sind. <53> Es wird versucht, 1. den Staatsrat und seine Funktion ideologisch eindeutig und verbindlich zu definieren, - daher die Umständlichkeit und Kompliziertheit des ganzen Gefüges, daher auch die Verwendung von Formeln, die ihrerseits schon ideologisch fest definiert sind 24 ; 2. soll diese ideologische Definition eine ausschließlich positive Interpretation ermöglichen, daher die vielen wertenden Adjektive wichtigst, wirksamst, umfassend, friedlich; 3. enthält der Satz einen Anspruch, eine Forderung, eine Sollensbestimmung: „zur Stärkung der Einheitlichkeit ... und der Einheit“, er setzt voraus u n d verlangt zugleich die „Einheit von Staatsmacht und Bevölkerung“; er ist also zugleich Agitation; und 24 Wie etwa „Einheitlichkeit der staatlichen Führung“, „Einheit von Staatsmacht und Bevölkerung“, „umfassender Aufbau des Sozialismus“, „Kampf für die friedliche sozialistische Perspektive“. Gefahr für die sprachliche Einheit? 31 4. steckt er ein durch Kampf zu erreichendes Ziel; „für die friedliche sozialistische Perspektive in ganz Deutschland “, wobei Perspektive hier sinngemäß etwa mit „Ausrichtung im Hinblick auf etwas“ (nämlich Sozialismus) wiedergegeben werden kann. Die weitere Interpretation dieses Satzes würde mitten in eine Erörterung stilistischer Fragen hineinführen, die ich zurückstellen möchte. Eines aber ist klar: die Sprache, wie sie sich in diesem Satze zeigt, ist in erster Linie Kampfmittel, Beeinflussungsmittel, Mittel zur sprachlichen und politischideologischen Lenkung derer, die den Satz lesen oder lesen sollen. Sie i s t g e n o r m t und s e t z t N o r m e n , sie b e s c h r e i b t n i c h t Wirklichkeit, sie f o r d e r t d i e A n p a s s u n g d e r W i r k l i c h k e i t an die Norm und setzt diese Anpassung zugleich als i m V o l l z u g b e g r i f f e n an. Aber auch hier sind sogleich zwei gewichtige Einschränkungen zu machen. Die erste: Nicht erst und nicht nur die SED folgt der Formulierung Stalins, daß „die Sprache ein Mittel des politischen Kampfes“ und „Werkzeug der Entwicklung der Gesellschaft“ sei. Schon die Sophisten des alten Griechenland haben die Sprache als Mittel zum politischen Zweck erkannt und unbedenklich benutzt, und nach ihnen die Revolutionäre und Diktatoren, die Propagandisten und Informationsämter aller Zeiten und Länder, selbstverständlich auch bei uns. Ich kann auch nicht zustimmen, wenn gelegentlich gesagt wird, ein wesentliches Kennzeichen der Sprache der SED sei der ständige Versuch zur Überredung, wogegen in der Bundesrepublik mehr sprachliche Formen der Überzeugung verwendet würden. Das kann für <54> weite Bereiche der Wirtschaftswerbung sicher nicht gelten, die sich bekanntermaßen unterschwelliger, aber eben deshalb höchst wirksamer psychologischer Mittel der Handlungsbeeinflussung bedient. Und im politischen Kampf verhält es sich nicht anders. Man verzichtet im Wahlkampf seit langem weitgehend auf Formen der Überzeugung und verwendet - wenigstens in der Plakat- und Anzeigenwerbung - fast ausschließlich sprachliche Formen der Überredung 25 . Allerdings: Die Sprache zum Zwecke der Überredung, zum Zweck und als Mittel der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Beeinflussung wirkt bei uns weder so offen 25 Dabei denke ich nicht einmal an solche Extremformen politischer „Werbung“ wie die im letzten Berliner Wahlkampf von den drei Parteien verwendeten Parolen „Gemeinsam für Berlin“ - „Vereint für Berlin“ - „Wir für Berlin“. Hier muß jede Klassifizierung schwer fallen. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 32 noch so allgegenwärtig und unausweichlich wie in Mitteldeutschland; sie bedient sich leiserer, feinerer, indirekter Methoden. Aber sie ist vorhanden und wirksam. Der wesentliche Unterschied liegt, abgesehen vom andersartigen Inhalt, darin, daß die Verbreitung neuer Denkformen, neuer geistiger Inhalte, neuer politischer Programme wie die Verbreitung neuer Industrieerzeugnisse bei uns auf dem Wege konkurrierender Werbung erfolgen muß, und so kann auch keine der damit verbundenen Sprachformen, Spracheigentümlichkeiten alleinige, absolute Geltung für sich beanspruchen. Selbst die amtlichen Sprachregelungen des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen (jetzt: für innerdeutsche Beziehungen) müssen es sich gefallen lassen, mit anderen möglichen Formulierungen verglichen und vielleicht von vielen Sprachteilnehmern abgelehnt zu werden. Ich zitiere aus den „Bezeichnungsrichtlinien“ vom August 1965 26 : „Statt der ausdrücklichen Bezeichnung ‘Bundesrepublik Deutschland’ ... sollte daher die Kurzform ‘Deutschland’ immer dann gebraucht werden, wenn die Führung des vollständigen Namens nicht erforderlich ist.“ Jedoch ist „... insbesondere bei der Gegenüberstellung des freien Teiles Deutschlands mit den anderen Teilen Deutschlands die Verwendung der vollen Bezeichnung ‘Bundesrepublik Deutschland’ erforderlich.“ <55> „Die Abkürzung ‘ BRD’ oder die Bezeichnung ‘Bundesrepublik’ ohne den Zusatz ‘Deutschland’ sollten nicht benutzt werden.“ „Adjektive wie ‘bundesdeutsch’, ‘bundesrepublikanisch’ sollten im Sprachgebrauch keinen Platz finden.“ „Das 1945 von der Sowjetunion besetzte Gebiet Deutschlands westlich der Oder-Neiße-Linie mit Ausnahme Berlins wird im politischen Sprachgebrauch als ‘Sowjetische Besatzungszone Deutschlands’, abgekürzt als ‘ SBZ’ , in Kurzform als ‘Sowjetzone’ bezeichnet. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß auch die Bezeichnung ‘Mitteldeutschland’ verwendet wird ...“ Interessant ist unter anderem das, was hier n i c h t erwähnt ist, nämlich die Bezeichnungen Westdeutschland, westdeutsch einerseits und DDR andererseits. Es ist offensichtlich, daß der Versuch des gesamtdeutschen Ministeriums, bestimmte Sprachregelungen über den internen Dienstgebrauch hinaus (wo sie legitim sind), für den allgemeinen Sprachgebrauch verbindlich zu machen, gescheitert ist und bei uns scheitern mußte. Gerade die unerwünsch- 26 Richtlinien und Mitteilungen des Instituts für Landeskunde in der Bundesanstalt für Landeskunde und Raumforschung, Nr. 7: Namengebung und Rechtschreibung geographischer Namen. Bezeichnungsrichtlinien, erlassen vom Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Bad Godesberg. 20.8.65. Gefahr für die sprachliche Einheit? 33 ten Bezeichnungen Bundesrepublik ohne Zusatz, westdeutsch, DDR sind weit verbreitet, die vom Ministerium ausdrücklich gewünschten Bezeichnungen werden immer seltener. Heute werden die zitierten Richtlinien auch offiziös de facto kaum noch angewendet. Wir sind also zwar ständiger und oft intensiver sprachlicher Beeinflussung ausgesetzt, aber die Einflüsse begrenzen sich z.T. gegenseitig (allerdings nur zum Teil, denn die Werbechefs aller Firmen z.B. sind sich darin einig, daß ein guter, ein brauchbarer Mensch nur ein verbrauchender Mensch ist; sie alle sind also daran interessiert, uns als Konsumenten denken und sprechen zu lehren). Aber bleiben wir im Bereich der politischen Terminologie: Würde ein Bewohner der DDR die Bezeichnung Bundesrepublik Deutschland verwenden, so hätte er sicherlich mit sofortiger Zurechtweisung zu rechnen, weil in dieser Formulierung das ausgedrückt wird, was in der DDR als „Alleinvertretungsanmaßung“ bezeichnet wird; sie darf daher nicht verwendet werden. Auch bei uns gibt es Versuche zur Errichtung solcher Tabus, aber nicht nur in der einen Hinsicht, daß früher derjenige mit scheelen Augen betrachtet wurde, der „DDR“ sagte, sondern auch bezeichnenderweise in der anderen, daß heute derjenige als unverbesserlicher kalter Krieger verschrieen wird, der diese Bezeichnung nicht verwendet. Soweit der erste Einwand, der die Verwendung der Sprache als Beeinflussungsmittel betrifft. <56> d) Sprache als Motor und Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen Der zweite Einwand betrifft die Beurteilung der Spracheigentümlichkeiten selbst, wie sie uns in den uns zugänglichen Verbreitungsformen der Presse, des Rundfunks, des Fernsehens in Mitteldeutschland begegnen. Auf der einen Seite besteht kein Zweifel, daß diese Massenmedien fast restlos den Zwecken der SED dienstbar gemacht sind, daß die hier auftretende Sprache in erster Linie Mittel und Werkzeug politischer Beeinflussung ist. Es wäre falsch, in ihr eine Spiegelung der wirklichen Alltagssprache der Menschen in der DDR, eine Spiegelung, - sagen wir - der allgemeinen Bewußtseinslage zu sehen. Die Zeitungen der DDR, allen voran das „Neue Deutschland“, wollen das auch gar nicht. Vielmehr haben sie die Pflicht, wie man drüben sagen würde, „als Vorhut der revolutionären Arbeiterklasse dem Bewußtsein der Massen immer einen Schritt voraus zu sein, es nicht zu spiegeln, sondern es Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 34 fortschrittlich im Sinne der unsterblichen Ideen des Marxismus-Leninismus weiterzuentwickeln“. Diese prinzipielle Aufgabenstellung kommt in einem Beschluß des Politbüros vom 29. April 1959 unverhüllt zum Ausdruck 27 : „Ausgangspunkt der Arbeit der Redaktion sind die Beschlüsse der Partei und Regierung. Auf ihrer Grundlage ist täglich zu argumentieren, und die Fragen der Volksmassen sind offen und prinzipiell zu beantworten. Schnelles Reagieren ist notwendig, damit sich falsche und feindliche Auffassungen nicht festsetzen können. Das verlangt, vor dem Leser mit treffsicheren Argumenten und exakten Formulierungen der Hauptideen des Kampfes für den Frieden und für den Sieg des Sozialismus aufzutreten. Bereits in den Überschriften, die polemisch sein, Tatsachen charakterisieren und zum Lesen anregen sollen, müssen diese Hauptideen zum Ausdruck kommen ... Als kollektiver Agitator, Propagandist und Organisator hat jedes Publikationsorgan nicht nur das Denken zu beeinflussen und zu verändern, sondern gleichermaßen auf allen Gebieten die sozialistische Umwälzung auszulösen und zu organisieren. <57> ... Die Nachrichtengebung und die Informationen über Hintergründe gesellschaftlicher Ereignisse sind von den Redaktionen mehr zu pflegen, da sie einen wesentlichen Bestandteil kämpferischer Agitation bilden. Die dilettantische Methode, jeder Nachricht einen Kommentar anzuhängen, statt mit der Nachricht zu kommentieren und zu überzeugen, ist endgültig abzuschaffen.“ Auf der anderen Seite aber wird selbst so eine zielgerichtete, gelenkte, zweckgebundene Sprache immer auch, wenigstens in Teilen, Spiegelung realer Verhältnisse sein. Das gilt um so mehr, je weiter wir uns vom Hauptstrom der Sprachbeeinflussung, den Parteizeitungen usw., entfernen. Jeder weiß, daß in der DDR tatsächlich einschneidende Veränderungen in politischer, wirtschaftlicher, sozialer Hinsicht eingetreten sind, die bis in den Alltag eines jeden einzelnen hinein wirken, und es leuchtet ein, daß die neu entstandenen Gegebenheiten benannt werden müssen, auch von dem, der die SED-Führung politisch ablehnt. Es spielt dabei keine Rolle, ob die neuen Bezeichnungen von der Partei eingeführt worden sind oder nicht. Freilich haben diese Bezeichnungen um so größere Chancen, Allgemeingut der Sprachgemeinschaft zu werden, je weniger Wertung oder politische Färbung sie enthalten, je weniger indoktrinie- 27 Aus: Die Presse - kollektiver Organisator der sozialistischen Umgestaltung. 3. Pressekonferenz des ZK der SED April 1959 in Leipzig, Berlin 1959. Zitiert nach E.M. Hermann, Zur Theorie und Praxis der Presse in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (= Abhandlungen und Materialien zur Publizistik Bd. 2), Berlin 1963, S. 95, 96 und 97 (= Anlage 4, Abschnitt IV ). Gefahr für die sprachliche Einheit? 35 rend sie sind. Man kauft eben Industriewaren oder Wirtschaftswaren (nicht mehr Haushaltswaren) im entsprechenden HO-Laden, man arbeitet als Traktorist oder Kombinefahrer in einer LPG, in der Gerätebesatzung einer MTS oder als Brigadier in einem VEB statt wie bei uns in einer Kolonne oder einem Team; man kennt seine Norm oder seine Plankennziffern und weiß auch, welche Prämien man bei Erfüllung oder Übererfüllung der Plankennziffern zu erwarten hat. Man hat sich damit auseinanderzusetzen, ob die Kinder in die FDJ eintreten und zur Jugendweihe gehen und schickt sie selbstverständlich zum polytechnischen Unterricht, und für die Streitkräfte gibt es halt nur die eine Bezeichnung (Nationale) Volksarmee oder NVA. Die staatlichen Institutionen Staatsrat, Volkskammer, ZK, Politbüro, FDGB und vor allem die SED sind ohnehin allgegenwärtig. Statt wie bis noch vor wenigen Jahren überwiegend Zone zu sagen, spricht jetzt auch der größere Teil der Generation über vierzig von der DDR, unabhängig von der persönlichen Einstellung zu diesem Staatswesen. Sie werden bemerkt haben, daß die Mehrzahl der hier genannten neuen und trotzdem landläufigen Wörter Abkürzungen sind. Das ist kein Zufall, denn Abkürzungen sind Chiffren, sie verhüllen den Anspruch oder die Wertung, den der nicht abgekürzte Begriff vielleicht <58> hat, sie ersparen dem Sprecher ein Bekenntnis 28 . Wenn jemand fragt: „Wie gefällt es Ihnen in der DDR“, so kann in der Frage durchaus Skepsis und die Bereitschaft zur Entgegennahme einer negativen Antwort liegen. Fragt er „wie gefällt es Ihnen in der Deutschen Demokratischen Republik“ oder „in unserer Republik“, so liegt der Fall entschieden anders, und die Wendung „in unserm Arbeiter- und Bauern-Staat“ wird überhaupt nur ein Agitator verwenden, der in diesem Augenblick auf die Umstehenden eine propagandistische Wirkung meint ausüben zu müssen. Bezeichnenderweise finden sich in Ulbrichts Reden und Schriften etwa dreimal weniger Abkürzungen als in anderen Texten: e r bevorzugt den vollen, bekennenden und Bekenntnis fordernden Wortlaut. e) Veränderungen im Wortschatz Eine Reihe von Wörtern, die an sich auch bei uns verwendet werden, haben drüben eine Bedeutungsverschiebung und, soweit es sich um zentrale Wörter handelt, eine Erweiterung des Verwendungsbereiches erfahren. 28 Vgl. Heinrich Scholz, Einige Beobachtungen zur deutschen Umgangssprache jenseits des Eisernen Vorhanges. In: Das Aueler Protokoll (s. Anm. 22), S. 92-101, hier S. 99. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 36 Genannt seien hier nur einige wenige: Produktion bezieht sich bei uns überwiegend auf industrielle Produktion, in Mitteldeutschland aber auf jeglichen Prozeß, an dem menschliche Arbeit beteiligt ist, gerade auch im landwirtschaftlichen Bereich, wo wir überwiegend von Erzeugung sprechen; das Wort steht oft einfach für Ernte. Es gibt Getreide-, Kartoffel-, Milch-, Eier-, Geflügel-, Milchvieh-, Schlachtvieh-, Zuchttier- und Fleischproduktion; man kann sagen: die Kartoffelproduktion findet unter freiem Himmel statt, man kann von der Milchproduktion der Melker und der Butterproduktion der Kühe reden, auch Kunstschaffen oder besser Kulturschaffen kann Produktion 29 ) sein. Dazu kommen: Produktionsberatung, -brigade, -einsatz, -genossenschaft (LPG und PGH), -kampf, -kollektiv, -plan, -soll, -wettbewerb usw. Auch das Wort Plan mit seinen Ableitungen hat eine Bedeutungsverschiebung und Anwendungsverbreiterung erfahren. Wenn ich sage, „wir haben uns einen Plan gemacht“, meine ich mit Plan etwas, das man ggf. auch ändern oder umstoßen kann, wenn es sich als zweckmäßig erweist. Gewiß wird man diese Redewendung auch drüben <59> hören können. Aber weitaus häufiger ist Plan ein Komplex von Vorschriften und Kennziffern, der auf keinen Fall geändert oder umgestoßen werden darf. Und da Pläne der verschiedensten Stufen immer noch die entscheidende Grundlage alles Wirtschaftens sind, gibt es eine Unzahl neuer Zusammensetzungen mit Plan: Volkswirtschaftsplan (statt Haushaltsplan 29a ), Einsatzplan, Ernte-, Rode-, Viehhalte- und Getreideplan, Energie-, Export-, Produktionsplan, Fünf- und Siebenjahrsplan (dazu „Fünfjahrplanrakete“), Operations- und Jugendplan, Planaufgabe, Planrückstand, -schulden, -soll, -erfüllung, Plankommission und Planungskommission, Plankennziffern. Hingewiesen sei nur noch auf die gleichlaufende Entwicklung bei den Wörtern Volk bzw. Volks-, Kultur, Jugend-, Massen-, Partei-, Arbeits- und Arbeiter- und deren Wortfamilien. Als weitere Beispiele für an sich bekannte Wörter mit neuem, für uns ungewohntem Anwendungsbereich seien genannt: Objekt mit Kleinstobjekt, FDJ-Objekt, Jugendobjekt, Objektleiter, -lohn, -lohnvertrag; Rekonstruktion (= Neugliederung eines Produktionsab- 29 Allerdings sind auch bei uns die Wendungen „künstlerische“ oder „literarische Produktion“ nicht selten. 29a „Haushaltsplan“ hat allerdings auch bei uns den Inhalt des (gesetzlich) Vorgeschriebenen, Verbindlichen. Gefahr für die sprachliche Einheit? 37 laufs, Sanierung eines Stadtteils), Brigade mit Brigadier, Komplexbrigade, Brigadekollektivvertrag, Stoß-Brigade, Brigadeleiter, u.v.a.m., ferner Wettbewerb und Perspektive, auch die Adjektive ökonomisch (= nicht „rationell“, sondern „planwirtschaftlich“ oder „wirtschaftspolitisch“) oder gesellschaftlich. Das Adjektiv gesellschaftlich wird bei uns wohl überwiegend mit Bezug auf die sogenannte „gute“ oder „bessere Gesellschaft“ gebraucht, um so mehr, wenn von einem großen gesellschaftlichen Ereignis die Rede ist. Man ist verblüfft, wenn man liest, daß Ulbricht von einem großen gesellschaftlichen Ereignis spricht und damit den Vertrag mit Polen über die „Oder- Neiße-Friedensgrenze“ meint! Selbstverständlich gibt es auch im Westen eine Reihe von Neuprägungen aus heimischem Sprachstoff, wenn auch längst nicht so viele wie im Osten. Das Ost-Berliner „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ führt etwa zehnmal mehr östliche als westliche Neuprägungen auf. Einige solcher Neuprägungen im Westen sind 30 : Alleinvertretung(sanspruch), Arbeitgeberanteil, -hand, Arbeitnehmerhand, Ballungsgebiet, Baukostenzuschuß, Bundesebene, -kanzler, -land, -liga, -präsident, -rat, -regierung, -tag, -wehr usw., Entwicklungsdienst, -land, -hilfe, Ersatzdienst(pflichtige), Europäische Wirt- <60> schaftsgemeinschaft - EWG (vgl. Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe - RGW), Gastarbeiter, Grundgesetz, -rechte, Grundordnung (freiheitliche), Hochrechnung, Kostendruck, Lastenausgleich, Lohnfortzahlung, Marktwirtschaft (soziale), Meinungsumfrage, Notstandsgesetze, -maßnahmen, -rat, Raumordnung, Verjährungsfrage, Vermögensbildung(sgesetz), Wehrbeauftragter, Wiedergutmachung, Wirtschaftsbürger und viele andere. Dazu treten Wörter aus (teilweise) fremdem Sprachstoff wie Astronaut (im Osten: Kosmonaut), Container (auch Ost! ), Countdown, Establishment, Herztransplantation, Industrieansiedlung, Investmentanteil (-fond, -gesellschaft), Neo-Gaullismus, Rentendynamik, Rendezvousmanöver, (-technik), Senkrechtstarter, Sozialpartner, Strukturpolitik, Tarifautonomie, (-partner, -politik, -verhandlungen), Privatisierung, Volksaktie, Werbefaktor, (-medien). Es war eben schon die Rede von fremdsprachlichen Wörtern. Bekanntlich unterliegen die beiden Teile Deutschlands ja durchaus verschiedenen fremdsprachlichen Einflüssen. Während im Westen - und zwar im ganzen Westen, 30 Die meisten der folgenden Wörter sind aus nur sechs Seiten der WELT vom 17.5.1969 entnommen. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 38 nicht nur in der Bundesrepublik, - englisch-amerikanischer Spracheinfluß wirkt, ist es drüben, und wiederum im ganzen Einflußbereich Moskaus, der russische, obwohl, trotz offiziellen Widerstrebens, auch der Einfluß des Englischen spürbar ist. Dabei ist nun zu beobachten, daß die Zahl der eigentlichen Fremdwörter in der Bundesrepublik unvergleichlich viel größer ist als in der DDR. Die Gebiete Mode und Unterhaltung, Wirtschaft (vor allem Wirtschaftsorganisation und Werbung), die Sprache der Bundeswehr, der Film- und Zeitungsbranche, die Fachsprachen vieler Wissenschaften wie Kybernetik, Weltraumforschung, Soziologie, auch manche technischen Zweige sind geradezu überflutet von Ausdrücken angelsächsischen Ursprungs. Demgegenüber sind russische Fremdwörter in der DDR selten. Kolchose, Sowchose, Sowjet, Komsomol (-ze), Sputnik, Traktorist, Spartakiade, Diversant, Kapitulant, Kursant, Kombinat, Kombine (= kombinierte Erntemaschine, etwa Mähdrescher) sind russische Fremdwörter, wobei das Wort Kombine von den Russen vorher aus dem Englischen entlehnt worden ist, ebenso wie Dispatcher, ein Wort, das man drüben schon vor mehr als zehn Jahren aus dem Russischen, bei uns erst vor kurzem direkt aus den USA importiert hat 31 , und Exponat, das sich übrigens auch bei uns durchzusetzen beginnt 32 .<61> Viel größer ist die Zahl der Lehnübersetzungen. Wörter wie Volkseigentum, Plansoll, Rotarmist, Fünfhundertbewegung, Henneckebewegung und andere -bewegungen, Kulturhaus, Kolchosbauer, Abweichler, Versöhnlertum, vorfristig, übererfüllen, jemanden entwickeln (personal! ), auch Hochö f n e r , Stahlwerker, Schnelldreher sind dem Russischen entlehnt, ihm entstammen auch Übertragungen wie Held der Arbeit, Verdienter Lehrer oder Arzt des Volkes 33 , Arbeiter-und-Bauern-Staat, Maschinen-Traktoren-Station, ebenso die Wendung ... mit (dem Genossen Walter Ulbricht) an der Spitze, das Weltfriedenslager mit der ruhmreichen Sowjetunion an der Spitze. Wieder andere Wörter haben unter dem Einfluß des Russischen ihre Bedeutung geändert, so die schon erwähnten Wörter Brigade und Brigad i e r (gesprochen: [-i: r]) mit allen Ableitungen, ferner Aktiv und Aktivist, Kader, Zirkel (Schieß-, 31 Es ist mir bisher nur im Zusammenhang mit der Organisation von Großrechenanlagen amerikanischer Produktion begegnet. 32 Das Wort ist mir - in der Anwendung auf westliche Ausstellungen - erstmalig in einem Werbeprospekt der Industriemesse Hannover 1967 begegnet. 33 Der Volksmund macht sich über solche Bildungen lustig, etwa durch die Bezeichnung „Verdienter Melker des Volkes“ für unbeliebte Funktionäre. Gefahr für die sprachliche Einheit? 39 Schulungszirkel, Zirkelarbeit, -lehrgang, -leiter usw.), Pionier als Bezeichnung für Angehörige der Kinder-Parteiorganisation, Akademiker mit der dem Russischen entsprechenden Bedeutung „Mitglied einer Akademie“ statt „Hochschulabsolvent“ usw., auch abenteuerlich im Sinne von „gewissenlos, gefährlich“. Der Einfluß des Russischen ist also doch erheblich größer, als die geringe Zahl der Fremdwörter zunächst vermuten läßt. Die meisten Besonderheiten der speziellen Parteisprache sowie der Fachsprache der Wirtschaft lassen sich wahrscheinlich auf russischen Einfluß zurückführen. Hier sind allerdings noch genauere Untersuchungen nötig und im Gange. f) Wortverwendung und Stil Wenden wir uns nun vom Wortschatz selbst ab und mehr der Verwendungsweise der Wörter und dem Stil zu. Das vielleicht auffallendste Merkmal für westliche Leser ist wohl die ständige Wertung, die in fast allen öffentlichen Äußerungen - schriftlich oder mündlich - zu finden ist, und zwar Wertungen negativer als auch positiver Art. Die Zahl der negativ wertenden Ausdrücke, in erster Linie auf die B u n d e s r e p u b l i k bezogen, ist riesig: hier nur eine kleine Auswahl: für äußere Feinde: Kriegshetzer, Kriegstreiber, Kriegsbrandstifter, Faschist, Neo-, Ultra-, Klerikalfaschist, Kolonialist und Neokolonialist, Frontstadtbosse, -presse, -politik, Kapitalist und Monopolkapitalist, Monopolherren, Revanchist, Ultras, Reaktionär, Börsenhyäne, -haie, Luftpirat, Aggressor(en), Arbeiterverräter, dazu die Adjektive kapitalistisch, revanchistisch, faschistisch, neokolonialistisch ver- <62> brecherisch, aggressiv, kriegslüstern usw. Dazu die Vorsilben Nato-: (Natogeneral, -politik, -politiker); Hitler-: (Hitlergeneral, -politiker) und Atom-: (Atomgeneral, -politiker, atomkriegslüstern) usw. Da sich nahezu jedes dieser Adjektive gegen jedes austauschen und mit fast jedem dieser Substantive koppeln läßt, ergibt sich eine sehr große Zahl von Variationen. Innere Feinde sind: Revisionisten, Objektivisten und Subjektivisten, Formalisten, Spalter, Diversanten, Spekulanten, Kapitulanten, Versöhnler, Nationalisten, Rechts- und Linksabweichler, (Trotzkisten) mit den dazu gehörigen Adjektiven, zu denen noch westlerisch, schönfärberisch, besserwisserisch usw. treten. Positive Wertungen enthalten von sich aus schon die immer wieder verwendeten Substantive: Aufbau, Frieden, Freiheit, Zukunft, Fortschritt, Humanismus, Sozialismus sowie die Adjektive neu, fortschrittlich, einheitlich, friedlich und friedliebend, frei (aber nicht freiheitlich), revolutionär, genossenschaftlich, schöpferisch, stürmisch, machtvoll und vor allen anderen: sozialistisch. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 40 Der Linguist forscht freilich oft vergebens, wenn er die genauen Bedeutungen der einzelnen Schimpf- oder Lobeswörter angeben will. Aber in der Regel soll mit ihnen auch gar keine Aussage über einen Sachverhalt, keine differenzierte Wertung vermittelt werden; sie haben vielmehr Signal- oder Tabucharakter: sie signalisieren die gewünschte positive oder negative Wertung des im Kontext näher Bezeichneten und wollen Haltungen, Handlungsprädispositionen schaffen. Ihre sprachliche Leistung ist nicht semantischer, sondern pragmatischer Art, nämlich Integration der Angesprochenen in Richtung auf eine eindeutige politische Stellung- und Parteinahme sowie Bestätigung der erfolgten Integration. Selbstverständlich gibt es Entsprechendes überall, auch bei uns. Nur haben die Signal- und Tabuwörter hier jeweils nur Geltung für die Angehörigen der Gruppe, die das Wertesystem, in das die Begriffe gehören, als verbindlich anerkennen, und das sind in einer Gesellschaft ohne Meinungs- und Propagandamonopol niemals alle. Der Versuch, Wertsysteme und deren sprachliche Ausformungen zu massiv anderen aufzudrängen, führt hier zumeist zu geistiger - und sprachlicher - Gegenwehr. Dieses Regulativ fällt in der DDR aus. Es kann dann zu fast schon grotesken Formen der „Überredungskunst“ kommen, wie etwa das folgende Beispiel zeigt: Ein Redner erläutert Ulbrichts neueste Vorschläge zur Deutschlandfrage. Am Ende des ersten Abschnitts fragt er die Hörer: „Sind diese r i c h t i g e n Vorschläge für den Frieden zwischen den beiden deutschen Staaten, für die friedliche Koexistenz zwischen den Völkern gut und nützlich? “ Es reicht dem Redner nicht, daß er die positive Antwort auf seine ohnehin nur <63> rhetorische Frage schon vorweggenommen hat, - er antwortet selbst: „Jawohl, sie sind es ...“ usw. Ein weiteres, nicht minder charakteristisches Merkmal sind die zahlreichen dynamisierenden, kämpferischen Ausdrücke. Bewegung ist offenbar die vorherrschende Verhaltensweise der Mass e n (nie: der Masse! ). Von der Massenbewegung ausgehend wird jede erwünschte oder geforderte Aktivität der Bevölkerung zur Bewegung: Hennecke-, Stachanow-, Aktivisten-, Neuerer- und Schrittmacherbewegung, Bauern- und Kollektivierungsbewegung, Ernte- und Erntehilfebewegung, die Bitterfelder „Greif-zur-Feder-Kumpel“-Bewegung oder Arbeiterdichterbewegung usw. - Wenn eine Aktivität dringend ist, wird sie zum Kampf, zur Kampagne, zur Schlacht: Friedenskampf, Kampf um Senkung der Kosten und Erhöhung der Qualität, Erntekampagne, Ernteschlacht, Kartoffel- und Getreideschlacht, man tritt an zum Anti-Brucellose- Gefahr für die sprachliche Einheit? 41 Feldzug. Da Massenbewegungen doch nicht immer im gewünschten Umfang von unten und von selbst entstehen, so entfaltet die Partei eine stürmische Massenbewegung zur Erreichung des Weltniveaus. Überhaupt ist die auf die Arbeit bezogene Sprache denkbar stark dynamisiert. Wir finden militärische Ausdrücke wie Vorhut, Sturmtruppen, Stoßtrupps, entschlossene Reihen, Einsatzstäbe und rollenden Einsatz in der Getreideschlacht, Gerätebesatzungen und die schon erwähnten Brigaden (wobei dieses Wort den militärischen Akzent allerdings wohl schon weitgehend verloren hat). Eines der Mittel der Sprachbeeinflussung, gegen das bei uns am häufigsten polemisiert wird, ist die Umwertung vorhandener Begriffe, manchmal, aber nicht immer, verbunden mit einer Vernebelung des wahren Sachverhalts. Frieden im kommunistischen Sinne meint unangefochtene Herrschaft des kommunistischen Systems, meint sogar Ausbreitung dieses Systems ohne heißen Krieg, daher schließt die friedliche Koexistenz durchaus subversive Tätigkeit ein, daher darf an der Friedensmauer geschossen werden, sofern man nicht sogar die Bezeichnung antifaschistischer Schutzwall wählt. Dies ist offensichtlich eine Tarnbezeichnung. Aber nicht alle Wörter mit uns fremder Bedeutung sind Tarnbezeichnungen. Daß der Kommunismus die zentralen Begriffe Freiheit, Demokratie, Fortschritt, Frieden, Humanität grundlegend anders definiert, als wir es tun, ist bekannt, ich brauche das nicht näher zu erläutern. Daß diese Definitionen einer Konfrontation mit einer anders gearteten Wirklichkeit oft nicht standhalten, ist freilich ein Problem, aber ein innerideologisches. Grundsätzlich handelt es sich jedenfalls um durchaus offizielle, unverschleierte Um- und Neudefinitionen. Da niemand angeben kann, was der einzig richtige, alleingültige Inhalt solcher <64> Begriffe sei, werden sie Streitobjekt bleiben; wer sich also in Diskussionen mit Kommunisten durch die gleichen Wortkörper verleiten läßt, dahinter auch gleichen Inhalt zu vermuten, braucht sich über unerwünschte Folgen nicht zu wundern. Das gilt aber auch für weniger markante Wörter wie Gesetz, gesetzlich, gesetzmäßig. Ein Gesetz (im juristischen Sinne) kann, im Sinne der marxistischen Geschichtslehre, durchaus nicht gesetzmäßig sein, nämlich dann, wenn es den ehernen Gesetzen der historischen Entwicklung und somit der sozialistischen Gesetzlichkeit widerspricht, - dann wird es eben außer Kraft gesetzt, es wird überwunden. Aber genau genommen stellt sich das Problem der Umdeutung schon bei so technischen Wörtern wie Preis. Der Preis hat Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 42 im sozialistischen Wirtschaftssystem eine völlig andere Funktion als im marktwirtschaftlichen, somit hat das Wort wenigstens z.T. auch eine andere Bedeutung bekommen 34 . Noch ein deutliches Beispiel für die Umwertung und zugleich Verschleierung von Begriffen: Neben der Friedensfront gibt es im SED-Sprachgebrauch auch die Kampffront, mit dem Unterschied, daß Kampffront dann gebraucht wird, wenn es sich um friedliche Arbeit, - Friedensfront und Friedenskampf dagegen, wenn es sich um zumindest potentiellen Kampf mit auch militärischen Mitteln handelt. Zum Schluß dieses Abschnitts sei noch ein Phänomen herausgestellt, das schon mehrfach gestreift wurde: die Koppelung oder Reihung bestimmter Wörter zu stehenden Redewendungen. Es gibt keine Koexistenz, sondern nur die friedliche Koexistenz (zwischen beiden deutschen Staaten), man fordert kein Gespräch zwischen Deutschen, sondern das offene deutsche Gespräch, Arbeit ist vor allem genossenschaftliche oder sozialistische Arbeit. Die Aktivität der Massen ist schöpferische Initiative. Weitere stehende Wendungen: umfassender Aufbau des Sozialismus, sozialistische Menschengemeinschaft, ökonomische Hauptaufgabe, Prinzip der materiellen Interessiertheit, das in sich geschlossene System ökonomischer Hebel, revolutionäre Arbeiterklasse, glorreiche Siege, ruhmreiche Sowjetarmee, Befreiung vom faschistischen Joch oder Hitler-Joch, westdeutsche Militaristen, Revanchisten, Störenfriede, Bonner Ultras usw. Durch die ständige, ja unermüdliche Wiederholung solcher Koppelungen werden schon bei Erwähnung eines Teils der Redewendung sprachliche Assoziationen erzeugt, die andere Denk- und Wertungsmöglichkeiten als die in der Wendung vorgegebenen gar nicht mehr zulassen. So ist z.B. das Adjektiv westdeutsch so häufig zusammen mit massiven Schimpfworten gebraucht worden, daß es inzwi- <65> schen schon bei isoliertem Gebrauch etwas Negatives ausdrückt, was dem Wort selbst ja keineswegs innewohnt. Westdeutsch gleich schlecht, gefährlich, verkommen, - wenn solche Assoziationen sich festsetzen, können die Folgen ernst sein, eben w e g e n der damit erzeugten Haltungen und Handlungsprädispositionen, die einer rationalen Kontrolle nicht mehr zugänglich sind. 34 Hinweis bei H.H. Reich, a.a.O., S. 303. Gefahr für die sprachliche Einheit? 43 „Spaltung der Sprache“ Victor Klemperer hat vor einigen Jahren die in der Tat beunruhigende Vision verkündet, eines Tages werde man an den Schaufenstern im Ausland die Worte lesen können: „Hier spricht man Ostdeutsch - Hier spricht man Westdeutsch! “ Ist das Wort von der Spaltung der Sprache berechtigt? Droht sie wirklich? Hier muß man zunächst fragen, was unter „Spaltung der Sprache“ zu verstehen ist. Wenn man damit meint, daß das sprachliche System - sagen wir: die Wortbildung, die Flexion, der Satzbau - sich in zwei Systeme spalten könnte, so ist die Frage leicht zu entscheiden: Gerade diese Bereiche haben sich im Laufe der Geschichte unserer Sprache, wie schon erwähnt, als außerordentlich stabil erwiesen, außerdem leben wir hüben und drüben ja nicht in sprachlich von einander abgeschlossenen Gebieten - kurz: eine solche Spaltung ist praktisch ausgeschlossen 35 . Andererseits ist Sprache ja auch ein Mittel - das wichtigste Mittel der Verständigung. Es scheint mir denkbar, daß die unterschiedlichen Realitäten des täglichen Lebens hier und dort so verschiedene Erfahrungs- und Vorstellungskreise hervorbringen, daß aus vereinzelten, begrenzten Verständigungsbehinderungen ernsthafte Verständigungsgrenzen werden können; wachsende Leerräume sozusagen, über die hin keine unmittelbare Verständigung mehr möglich ist. Droht ein solcher Verständigungsabbruch nun wirklich? Wird uns die Redeweise unserer Landsleute in der DDR tatsächlich gefährlich fremd und wieweit ist sie es etwa schon? Auch diese Frage läßt sich offengestanden nicht ohne weiteres beantworten. Die Schwierigkeit, vor der wir stehen, ist methodischer Art: Erreichbar für exakte sprachwissenschaftliche Untersuchungen ist zur Zeit leider nur gedrucktes Material, d.h. vor allem die offiziellen und daher politisch ausgerichteten Massenmedien wie Zeitungen, Zeitschriften; dazu Bücher. Unter den Büchern ist ein großer Teil des <66> fachlich gebundenen Schrifttums für uns zunächst uninteressant. Das inoffizielle, private Schrifttum, etwa Briefe und Tagebücher, ist dagegen - von Zufallsfunden abgesehen - wissenschaftlich nicht erfaßbar, noch weniger etwa die in der DDR privat ge- 35 Diese Auffassung wird auch durchweg von den Sprachwissenschaftlern in der DDR vertreten. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 44 sprochene Sprache. Untersuchungen an der Sprache etwa von Flüchtlingen oder Berichte von Besuchern aus der DDR oder westdeutschen Besuchern in der DDR sind allesamt für exakte Untersuchungen nur sehr bedingt verwendbar. Also bleibt kein anderer Weg, als reumütig zu den politisch geprägten Massenmedien, den Zeitungen vor allem, zurückzukehren. Freilich läßt sich das methodisch rechtfertigen: Wenn wirklich der politische Herrschaftswille der SED und das von ihr kontrollierte System Ausgangspunkt der sprachlichen Veränderungen in der DDR sind, was man wohl annehmen darf, dann werden die SED-Zeitungen vermutlich das Maximum an sprachlichen Veränderungen aufweisen, das im Sprachgebrauch der DDR zu finden ist. Die Untersuchung dieses Maximums kann uns wichtige Anhaltspunkte geben für das, was wir allgemein, sozusagen „schlimmstenfalls“ zu erwarten haben. Nun lassen sich, schon aufgrund der bisher vorliegenden, genannten Arbeiten, doch schon einige Aussagen machen, in welchen Bereichen der Sprache sich dies Maximum an sprachlichen Veränderungen am stärksten ausprägt. Das Wichtigste ist schon erwähnt worden; ich darf zusammenfassend nennen: den Wortschatz, und zwar nach vorläufigen Schätzungen 36 nicht einmal 3 Prozent des Gesamtwortschatzes, wovon der weitaus größte Teil auf den Wortschatz der Politik (einschließlich Staat, Partei, Verwaltung) und der Wirtschaft entfällt; dann die Wortverwendung und damit gewisse Bereiche des Stils, besonders auf dem Felde stehender Redewendungen verschiedener Art, sodann auch einige Bereiche der Wortbildung. Nicht betroffen sind hingegen: Natürlich zunächst weite Teile des Wortschatzes der alltäglichen menschlichen Kommunikation. Fast unbeeinflußt sind die Fach- und Sondersprachen der Naturwissenschaften, der speziellen technischen Zweige, auch der Religion. Unverändert bleiben vor allem aber das Flexionssystem und die Syntax; auch die Wortbildungsmittel und -weisen sind, mit einigen Ausnahmen, die gleichen wie bei uns, wenn auch eine Vorliebe für gewisse Wortbildungsweisen erkennbar sein <67> mag (etwa die Häufung von Bindestrichwörtern). Unverändert bleibt schließlich auch - mit ganz gerin- 36 Zählungen, die am „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (Ost-Berlin, noch nicht vollständig erschienen) vorgenommen worden sind (erwähnt in dem Anm. 12 zitierten Aufsatz von Gernentz, S. 465), kommen zu noch niedrigeren Werten, jedoch ist dabei die Zusammenstellung des untersuchten Materials von wesentlicher Bedeutung. Gefahr für die sprachliche Einheit? 45 gen und unwesentlichen Abweichungen - die Rechtschreibung und die Hochlautung 36a , und das scheint mir ein durchaus wesentlicher Punkt zu sein, auch wenn er meist wenig Beachtung findet. Aber mit solchen Feststellungen, daß gewisse Bereiche der Sprache besonders in Mitleidenschaft gezogen sind und andere weniger, kann man sich natürlich nicht zufrieden geben. Wir möchten wissen: welche Bereiche innerhalb des Wortschatzes sind in welchem Maße betroffen? Lassen sich Schwerpunkte oder Entwicklungsrichtungen erkennen? Und wie häufig werden die neuen oder in ihrer Bedeutung veränderten Wörter gebraucht? Treten sie vielleicht nur in bestimmter sprachlicher Umgebung auf und in welcher? Und schließlich: welche Wirkungen können die festgestellten Unterschiede für die wechselseitige Verständigung haben? Solchen und ähnlichen Fragestellungen nachzugehen, wird vordringliche Aufgabe der mit der Sprache im geteilten Deutschland befaßten Sprachwissenschaftler sein. Zum Glück geben uns die modernen Methoden der elektronischen Datenverarbeitung heute die Möglichkeit, umfangreiche Reihenuntersuchungen in kürzerer Zeit und mit größerer Genauigkeit anzustellen als bisher, ja sie eröffnen uns bisher schwer zugängliche Bereiche. Aber die Frage nach dem vielleicht drohenden Verständigungsabbruch zielte nicht oder nicht in erster Linie auf die von uns erfaßbare und untersuchbare spezielle Sprache der SED und ihrer Organe, sondern auf die Allgemeinsprache. Daß es sich hier um eine - wie man sagt - Gruppensprache gehandelt hat, steht außer Zweifel; das beweist schon die Entstehungsgeschichte dieser „Sprache“ als der Redeweise der nach 1945 mit der Besatzungsmacht zur Herrschaft gelangten relativ kleinen Gruppe kommunistischer Funktionäre. Daß sie es zum Teil auch heute noch ist, lassen der „Muß-Stil“ 37 dieser Sprache, ihr agitatorischer, antreibender, schwarz-weiß-wertender und <68> oft formelhafter Stil, ihre vielen aus der marxistisch-leninistischen Philosophie 36a Das in der DDR erschienene „Wörterbuch der deutschen Aussprache“, hg. von U. Stötzer u.a., 2. Aufl. Leipzig 1969, erkennt allerdings eine an der Bühnenaussprache orientierte Hochlautung, wie sie der neue westdeutsche „Siebs“ (Deutsche Aussprache - Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch, hg. von H. de Boor, H. Moser, u. Chr. Winkler, 19., umgearb. Aufl. Berlin 1969) - neben einer gemäßigten Norm - noch verlangt, nicht mehr an. Die Unterschiede zwischen den beiden gemäßigten Aussprachenormen sind jedoch so gering, daß Verständigungsschwierigkeiten von daher kaum zu erwarten sind. 37 Vgl. Moser, Sprachliche Folgen S. 42. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 46 und Nationalökonomie abgeleiteten Fremdwörter vermuten. Der allgemeine Sprachgebrauch widersetzt sich in der Regel solchen sprachlichen Gewaltsamkeiten; sie erscheinen eher als Folge und Ausdruck eines latenten Spannungsverhältnisses zwischen Führung und Bevölkerung denn als Ausdruck der vorhin zitierten „Einheit von Staatsmacht und Bevölkerung“. Andererseits muß sich jeder Bewohner der DDR, der über den engsten Familien- und Bekanntenkreis hinaus an der Sprachgemeinschaft teilhaben will, in der offiziellen Sprache - je nach Rang und Stellung mehr oder weniger sicher - bewegen können; er hat aber die Möglichkeit, sie bei Rückzug aus der Öffentlichkeit zu vermeiden. Die Gruppensprache der Partei ist, so könnte man sagen, zu einer Sondersprache geworden, zu einer Sondersprache mit allgemeiner Verbreitung und verbindlicher Gültigkeit. Natürlich ist nicht gesagt, daß die Führung in der DDR nicht wirklich eines Tages eine breitere Basis in der Bevölkerung findet. Dann bestünde in der Tat die Möglichkeit, daß die Mehrheit der Bevölkerung sich dieser Sprache nicht mehr aus taktischen Gründen anpaßt, sondern daß sie in dieser Sprache redet und mit den in ihr vorgegebenen Denkschemata und Wertungen denkt. Dann allerdings - und nur dann - wäre eine Voraussetzung für einen weitgehenden Verständigungsabbruch gegeben. Daß die Bevölkerung Bezeichnungen für Dinge und Institutionen verwendet, die in der SBZ nach 1945 neu entstanden sind und inzwischen zum Alltag gehören, daß drüben manche Dinge anders benannt werden als bei uns - d a s allerdings halte ich - für sich betrachtet - noch nicht für gefährlich. Es gibt und gab immer Bezeichnungsunterschiede für die gleichen Dinge in den verschiedenen Gegenden Deutschlands; es gibt auch Dinge und Institutionen, die samt ihren Bezeichnungen nur in bestimmten Gegenden oder unter bestimmten Menschengruppen heimisch sind und trotzdem auch in anderen Gegenden oder unter anderen Gruppen bekannt sind, wenigstens unter den Gebildeten. Der Wortschatz und der Kreis der einem Berliner oder Niedersachsen vertrauten Dinge und Institutionen ist gewiß z.T. verschieden von dem eines Bayern oder Schwaben, und zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen alten und jungen Menschen verhält es sich ähnlich. Dennoch kann man sich im allgemeinen durchaus verständigen, schon weil es halt zum guten Ton gehört, auch sprachlich nicht nur in seiner eigenen Welt beheimatet zu sein. Vielleicht wird es einmal sehr wichtig sein, ob es zum guten Ton gehört, sich auch in der Begriffswelt der Bewohner im jeweils anderen Teil Deutschlands auszukennen. Ein ganz wesentliches Hilfsmittel in Gefahr für die sprachliche Einheit? 47 dieser Beziehung, <69> wenigstens für unsere Landsleute drüben, ist der gewaltige sprachliche Einfluß westlicher Rundfunk- und Fernsehsendungen, der wahrscheinlich zu den wirksamsten Mitteln gehört, dem einzelnen drüben auch andere Sprach- und Denkmöglichkeiten bewußt zu halten als die von der SED propagierten. Sie wenigstens tun also das Ihre. Eine der größten Chancen, daß ein genereller Verständigungsabbruch nicht eintreten wird, sehe ich in der dialektischen Beziehung zwischen sprachlichem Zwang und Ablehnung einerseits, Liberalisierung und Anpassung andererseits. Deutlicher gesagt: Je intensiver und gewaltsamer eine Gruppe mittels Sprache politisch und geistig beeinflussen will, um so schwerer hat sie es, diese Gruppen- oder Sondersprache in die Allgemeinsprache zu überführen; je liberaler und undoktrinärer sie ist oder sich gibt, um so leichter geht diese Sprache in den allgemeinen Sprachgebrauch ein; um so weniger ist sie aber auch als wirksames Führungs- und Beeinflussungsmittel noch brauchbar. Der Verzicht auf sprachliche Indoktrination ist verbunden mit einer zumindest teilweisen Öffnung auch für andere sprachliche und geistige Einflüsse, mit der Öffnung zur Pluralität. Die SED selbst hat uns dafür ein Beispiel geliefert. Wie Sie sicher wissen, hat die SED bis vor wenigen Jahren die Einflüsse westlicher Mode und Musik, westlicher Unterhaltung usw. diffamiert und deren Anhänger z.T. heftig angegriffen und verfolgt. Vor etwa drei bis vier Jahren trat eine Änderung ein: die SED-Führung toleriert seitdem in gewissen Grenzen jene Erscheinungen. Plötzlich tauchten auch im „Neuen Deutschland“ Begriffe typisch westlich-angelsächsischer Prägung auf wie Teenager und Twen, Blue-Jeans und Mini, Show und Musical, Jazz, Twist und Beat usw. Begriffen wie Rock'n Roll, Beatles und Hippies haftet allerdings noch immer der Geruch des Verkommenen, Dekadenten und daher Unerwünschten an, übrigens wohl manchmal auch bei uns. Immerhin: Der Erfolg dieser teilweisen Liberalisierung ist unverkennbar ein Anwachsen westlich geprägter Redeweisen auf diesem Sektor, und zwar gerade unter der Jugend. Wenn man nun die heute geschriebenen Zeitungsartikel über die genannten Gebiete mit solchen von vor vier Jahren vergleicht, so wird deutlich, daß die heutige Terminologie sich sehr schlecht dazu eignet, jemanden politisch zu bekämpfen oder aufzuwerten; man kann mit ihr nichts anderes tun als eben über Jazz, Unterhaltung und Mode und die Gewohnheiten der jungen Leute berichten - und das ist erfreulich. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 48 Aus diesen Erfahrungen heraus brauchen wir, glaube ich, nicht zu befürchten, daß bei einer zunehmenden Liberalisierung der SED-Politik und damit wachsender Bereitschaft der Bevölkerung zu politischer Mitarbeit etwa die Gefahr einer sprachlichen „Spaltung“ wüchse: das <70> Gegenteil dürfte der Fall sein, auch wenn eine solche Liberalisierung zu keiner politischen Annäherung zwischen den Regierungen führen sollte. Die Sprache hat hier ihre eigenen Gesetze. Bei aller Anerkennung der Gefahren, die der Machtanspruch der SED und die konsequente Anwendung der Sprache als Führungs- und Beeinflussungsmittel mit sich bringt - bei Berücksichtigung auch der Gefahr der Gewöhnung und der Resignation darf man doch von der Gefahr eines Verständigungsabbruchs nicht sprechen. Sie besteht nicht und droht auch nicht unmittelbar. Zu beobachten sind hingegen Tendenzen zur partiellen Sprachs o n d e r u n g oder -differenzierung mit der Folge gewisser Verständigungsschwierigkeiten, wobei es doch nicht nur eine Frage der Zeit ist, ob und wie weit sich diese partiellen Differenzierungserscheinungen weiter ausbreiten. Es gibt durchaus auch entgegengesetzte Bewegungen sprachlicher Angleichung, wie das eine Beispiel aus dem, wenn auch eng umgrenzten, Gebiet der Mode und Unterhaltung beweist. Wir haben es hier nicht mit zwangsläufigen Entwicklungen zu tun, sondern mit sehr komplexen und vielfach beeinflußbaren Bewegungen - beeinflußbar z.B. nicht nur durch die gesamtdeutsche Politik, sondern auch durch die Bereitschaft jedes einzelnen gerade auch im Westen, die Begriffswelt und Redeweise unserer Landsleute im Osten nicht nur deshalb, weil sie fremd ist, gleich als „kommunistisch verdorben“ zu betrachten, sondern aufgrund ausreichender Information kritisch zu unterscheiden zwischen indoktrinierender Propagandasprache der SED einerseits und Spracherscheinungen als einfachem Ausdruck anderer Lebens- und Erfahrungsbereiche andererseits. Aus: Schanze (Hg.) (1972): Literatur- und Datenverarbeitung. Bericht über die Tagung im Rahmen der 100-Jahr-Feier der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Tübingen, S. 66-70. [Vortrag auf der genannten Tagung im Juli 1970. MWH ] Untersuchungen an östlichen und westlichen Zeitungstexten Zu einigen Arbeiten der Außenstelle Bonn des Instituts für deutsche Sprache 1 Die Außenstelle Bonn ist Teil des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache, - der älteste Teil im übrigen, sofern man bei fünfeinhalb Jahren von Alter überhaupt reden kann, und die z.Z. einzige Forschungsstelle des IDS, die sich mit Wortschatzfragen beschäftigt - genauer: mit vergleichenden Untersuchungen zum Sprachgebrauch in der Bundesrepublik und in der DDR, insbesondere im Hinblick auf den Wortschatz. (Dieses „insbesondere“ ist zu verstehen nicht als vorweggenommene Einschränkung, sondern als durch die Sachlage nahegelegte Schwerpunktbildung.) Zum Problem „Sprachgebrauch“: Nach Lage der Dinge ist es uns unmöglich, den mündlichen Sprachgebrauch in Ost und West miteinander zu vergleichen. Der schriftliche, d.h. gedruckte Sprachgebrauch steht allerdings in Ost und West in bestimmten Punkten unter sehr verschiedenen Bedingungen: Unter den besonderen Bedingungen der DDR und den dort allen Publikationsmitteln übertragenen Aufgaben ist erstens mit einer wesentlich größeren Nähe des veröffentlichten Sprachgebrauchs zum Sprachgebrauch des Zentrums der politischen Willensbildung und zweitens mit einer wesentlich größeren Einheitlichkeit des politischen Willens und des Sprachgebrauchs dieses Zentrums zu rechnen, als das in der BRD der Fall ist. Diese Festlegung gilt nicht in allen Bereichen gedruckter Sprache uneingeschränkt, sie gilt aber mit Sicherheit im Bereich des öffentlichen Sprachgebrauchs der Massenmedien. Untersuchungen auf der Grundlage der Massenmedien werden also, wie wir erwarten, größere Unterschiede zeigen als Untersuchungen auf der Grundlage etwa anspruchsvoller Literatur. Dieser Tatsache waren wir uns bewußt, als wir ab 1965 darangingen, Texte aus den Tageszeitungen Neues Deutschland und WELT auf Lochkarten zu schreiben. 1 Ein Teil dessen, was in diesem Bericht geschildert wird, ist im Forschungsbericht 2 des Instituts für deutsche Sprache, Mannheim 1968, ausführlich dargelegt. Da die Forschungsberichte des IDS bisher aber nicht im Buchhandel erhältlich und somit kaum erreichbar waren, scheint eine Zusammenfassung des Wichtigsten in diesem Rahmen vertretbar. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 50 Die Erwartung größerer Unterschiede bezieht sich im übrigen nicht nur auf den Bereich des Gesellschaftlich-Politisch-Ideologischen - sagen wir: des „Überbaus“, sondern ebenso auf den Bereich der materiellen Wirklichkeit, in dem auf beiden Seiten eine Fülle jeweils ost-west-spezifischer Sachbezeichnungen entstanden sind; auch sie spiegeln sich maximal in Zeitungstexten wider. Darüberhinaus bieten Zeitungstexte den für uns entscheidenden Vorteil einer sehr breiten thematischen, <67> formalen, stilistischen, intentionalen Streuung der Texte, den Vorteil einer Bereitschaft zur Anwendung auch neuester, moderner Wortbildungen und Wortbildungsweisen, gelegentlich verbunden mit dem Nachteil der Züchtung ganzer Kulturen sprachlicher Eintagsfliegen. Ein Problem ist freilich die Vergleichbarkeit. Weder gibt es eine große Tageszeitung von der strengen parteilichen Gebundenheit des ND in der Bundesrepublik, noch gibt es eine Tageszeitung wie die FAZ, die WELT usw. in der DDR. Die Wahl des ND stand trotzdem außer Frage, da sein Sprachgebrauch weitgehend den Sprachgebrauch der DDR-Presse bestimmt. Gleiches läßt sich von keiner westdeutschen Zeitung sagen. In vollem Umfang vergleichbar mit dem ND ist keine von ihnen. Wichtiger als andere denkbare Kriterien schien uns das Kriterium einer gewissen Repräsentativität für die Zeitungen des jeweiligen Staates überhaupt, sowie das Kriterium einer möglichst weiten Verbreitung und einer Anerkennung als „seriöser“ Zeitung. Daß die Wahl zwischen FAZ und WELT schließlich auf die WELT fiel, mögen Sie als Zufall betrachten, den wir aber heute nicht bedauern. Trotzdem ist die Konfrontierung dieser zwei Zeitungen nicht ohne Probleme. Im ND kommen z.B. gewisse Artikelformen oder Themen nicht oder fast nicht vor, die in der WELT vorkommen und umgekehrt. Wir wissen auch z.B. nicht, in welcher Nähe oder Ferne der Sprachgebrauch jeder der beiden Zeitungen zum allgemeinen Sprachgebrauch steht; wir müssen aber sicher mit unterschiedlichen Verhältnissen rechnen. Also ist große Vorsicht geboten bei entsprechenden Rückschlüssen. Nun zur Textaufnahme selbst: Wir haben mit einer Auswahl aus dem ND des Jahrgangs 1964 begonnen. Bei der Zusammenstellung der Auswahl war auf eine Reihe regelmäßig wiederkehrender Dominanzen in Aufbau und Thematik der Zeitungen zu achten. Wir haben daher die Auswahl über den ganzen Jahrgang in Abständen von durchschnittlich einer Woche verteilt, unter entsprechender Berücksichtigung des Turnus der Wochentage und der Seiten. Untersuchungen an östlichen und westlichen Zeitungstexten 51 Die Aufnahmequote beträgt 2,5% der Jahrgangsgesamtmenge; wir glauben, daß diese recht kleine Quote (absolut gerechnet bei ND 64: 60 Seiten Text aus 2400 Seiten Gesamtmenge) dennoch ausreicht, eine modellfähige Auswahlmenge zu erstellen. Das gleiche Verfahren wurde angewandt bei dem Jahrgang 1964 der WELT, sowie bei dem dann folgenden Jahrgangspaar 1954 aus beiden Zeitungen. In Textlänge ausgedrückt 2 (Stand: Mai 1970): ND 64 = 180 000 lfd. W. + 20 000 ND 54 = 160 000 " " + 15 000 WE 64 = 430 000 " " + 20 000 WE 54 = 380 000 " " + 10 000 ______ 1150 000 65 000 <68> Zu den Schreibkonventionen sei nur gesagt: Großschreibung wird berücksichtigt, bei Adjektiven (in Eigennamen) gesondert gekennzeichnet, am Satzanfang ausgeglichen. Syntaktische Funktion von Sonderzeichen wie Punkt und Komma ist erkennbar. Textstellen mit besonderem Charakter sind gekennzeichnet (Überschriften, Personen- und Sacheigennamen, fremdsprachige und übersetzte Textstellen, Abkürzungen usw.). Zu diesen textinternen Kennzeichnungen kommt ein System von externen Klassifikationen der einzelnen Texteinheiten, die wir „Artikel“ nennen, hinzu. Sie sind auf einer Informationskarte, die jedem Artikel vorangestellt ist, in codierter Form zusammengefaßt. Neben den unerläßlichen Angaben zur Herkunft des Artikels (Zeitung, Jahrgang, Datum, Seite, sowie Verfasser oder Agentur) enthält die Informationskarte Angaben zum Sachgebiet, zur journalistischen Form, zum publizistischen Ziel (Intention) sowie zu Aufmachung und Umfang des Artikels. 3 Diese Informationskarte ermöglicht, wie ersichtlich, die Separierung bestimmter gewünschter Textsorten durch Auswahl nach einem oder nach mehreren Klassifikationsmerkmalen gleichzeitig. Ansonsten tun wir mit den Texten das, was hundert andere Arbeitsgruppen auch können: wir suchen vorgegebene Buchstabenkombinationen („Suchwörter“) in den Texten und fertigen alphabetische Wortformen-Indices aus 2 Linke Spalte: Textlänge in den jeweiligen „Modellmengen“, rechte Spalte: Textlänge in nach anderen Gesichtspunkten aufgenommenen Ergänzungstexten. 3 Bei den Angaben „Sachgebiet“ und „Publizistisches Ziel“ ist Mehrfachkennzeichnung möglich. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 52 Gesamt- oder Teiltexten sowie Frequenzregister an. Das ist natürlich theoretisch anspruchslos, praktisch trotzdem gelegentlich kompliziert durch den relativ hohen Anteil an Sondermerkmalen in den Daten (den Texten) und interessant wegen der Vielfalt möglicher Fragestellungen infolge der Kombinierbarkeit der Verarbeitungs- und Auswertungsformen. 4 Unsere Informationskarten enthalten, wie erwähnt, Angaben über publizistische Ziele (Intention) der einzelnen Artikel. Wir richten uns dabei nach der in der Zeitungswissenschaft gängigen Klassifizierung der Intentionen in: Unterrichtung, Beeinflussung, Belehrung, Unterhaltung. Nach diesem Schema werden die Artikel von Hilfskräften klassifiziert - zugegebenermaßen nach dem subjektiven Eindruck der Hilfskraft. (Die lange Routine sorgt freilich für eine wachsende Konstanz und Einheitlichkeit der Entscheidungen.) Ausgangspunkt unserer Untersuchung war die Frage, ob sich diese subjektive Klassifizierung nicht durch statistische Befunde verifizieren oder falsifizieren ließe. Es sollten also im ersten Ansatz mehrere möglichst weit auseinanderliegende Textsorten - etwa: stark beeinflussende Leitkommentare, unterrichtende Nachrichtensammlungen, unterhaltende oder belehrende Feuilletonartikel - miteinander mittels Frequenzregister verglichen werden. Dabei sollte sowohl das Vorkommen und Verhalten bestimmter signifikanter Wörter oder Wortgruppen beobachtet werden, als auch das Häufigkeitsprofil der einzelnen Textsorten insgesamt. Durch Variation und Annäherung der Deskriptoren hoffen wir zu erreichen, daß sich bestimmten Klassifika- <69> tionskategorien bzw. Textsorten klare statistische Befunde zuordnen lassen; gelingt das, wäre es möglich, auf die immer teilweise subjektive Klassifizierung durch den Menschen in einigen Punkten zu verzichten, oder aber zumindest das manuelle Klassifizierungsverfahren zu verbessern und abzusichern. Im übrigen bietet sich mit diesem Verfahren die Möglichkeit, Aussagen z.B. über Schwerpunkte der Auseinanderentwicklung zwischen östlichem und westlichem Zeitungssprachgebrauch zu machen, nämlich dann, wenn wir entsprechende Untersuchungen an den Textsorten nach Ost und West gesondert vergleichen. Daß man unter Umständen nicht allzu weit zu suchen braucht, um auf höchst relevante Abweichungen zu stoßen, mag folgendes Beispiel zeigen: In Meiers Sprachstatistik hat den ersten Rang die Wortform „die“, den zweiten Rang „der“, es folgen „und“ und „in“. Diese Folge ist in 4 Mit solchen Programmläufen, insbesondere mit dem „Suchwort-Programm“, konnten seit 1968 etwa 20 verschiedene Arbeitsvorhaben außerhalb des IDS unterstützt werden. Untersuchungen an östlichen und westlichen Zeitungstexten 53 fast allen großen Mischkorpora der deutschen Sprache konstant. 5 Im Frequenzregister des ND 64 ist die Reihenfolge umgekehrt: „der“ rangiert mit 43,73 vor „die“ mit 36,06, „und“ mit 27,38 und „in“ mit 20,46 Promille. Die Untersuchung der Ursachen dieser Verschiebung 6 führte zu zwei Feststellungen: a) „der“ kann im Gegensatz zu „die“ Gen. Sing. Fem. und Gen. Plur. aller Genera sein, b) auch andere Wortformen, die nur oder auch Genitiv, wie „des“, „dieser“, „unseres“, „unserer“, sein können, haben im ND-Register einen höheren Rang als bei Meier oder Eggers. Wir stießen damit auf ein Stilphänomen des ND, das freilich auch ohne Anstoß durch Frequenzvergleich einem aufmerksamen Beobachter auffällt: die ungewöhnlich häufige Verwendung von ein- oder mehrstufigen attributiven Genitiven. Freilich sind nicht alle Textsorten im ND von dieser Erscheinung gleich stark geprägt; durch entsprechende Segmentierung der Texte im oben beschriebenen Sinne, etwa nach Sachgebieten oder Intentionen, läßt sich das Zentrum dieser Erscheinung wahrscheinlich recht präzise feststellen; ebenso ließen sich sicherlich auch in Westtexten Textsorten mit einer ähnlichen Charakteristik ermitteln. Um diese Reihenuntersuchung durchführen zu können, benötigen wir freilich ein funktionierendes Index- und Häufigkeitsprogramm. Dies liegt z.Z. leider nicht vor; ein vor über einem Jahr von uns in Auftrag gegebenes neues Programm konnte bis heute nicht fertiggestellt werden, so daß die Arbeiten stagnieren. 7 Gleiches Schicksal war auch einem Programm beschieden, mit dessen Hilfe zwei Textfiles miteinander automatisch auf Gleichheit oder Abweichung in Vorkommen und Häufigkeit des Wortschatzes verglichen werden können; die Brauchbarkeit eines solchen Programms für unsere Untersuchungen liegt ja auf der Hand. <70> 5 Siehe auch H. Eggers: Beobachtungen zur Häufigkeit deutscher Wortformen. - In: Wirkendes Wort 17 (1967) H. 2 S. 97. 6 Im Häufigkeitsregister des Index zu Kants Werken tritt die gleiche Verschiebung auf (vgl. Bd. 16 und 17 des Allgemeinen Kant-Index, hg. von G. Martin. Berlin 1968). 7 Seit Mitte 1971 liegt - nach zweijähriger Verzögerung - das Indexprogramm vor. Nachtrag: Die „Außenstelle Bonn“ des IDS (Anschrift: Institut für deutsche Sprache, Abt. Grammatik und Lexik - Forschungsstelle Bonn -, 53 Bonn, Adenauerallee 96 [nicht mehr gültig, MWH ]) hat im Zeitraum 1969/ 70 ihr Arbeitsfeld auf die Untersuchung des öffentlichen Sprachgebrauchs erweitert, da die Beschränkung auf das sprachliche Ost- West-Problem sich als zu eng erwiesen hatte. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 54 Ziel dieser verschiedenen Versuche ist die Anfertigung eines vergleichenden Wortregisters der Grundformen zur östlichen und westlichen Zeitungssprache unter Angabe der Häufigkeiten. In einer zweiten Stufe würde dieses Register durch Spezialisierung und Hinzufügung ausgewählter Verwendungsbeispiele einem Wörterbuch angenähert werden. Wir sind daher an allen Versuchen zur automatischen Wortartenbestimmung, Homographentrennung, Rückführung auf die Grundformen und Zusammenführung getrennter Verbformen, Lemmatisierung usw., von denen einige auf dieser Tagung ja zur Sprache gekommen sind, ebenso dringend interessiert wie an der Weiterentwicklung von Verfahren zum formalen, stilistischen und inhaltlichen Vergleich verschiedener Texte mittels statistischer oder anderer Methoden. Als einzige zentrale Arbeitsstelle auf dem Gebiet des ost-westlichen Sprachvergleichs hat die Außenstelle Bonn auch gewisse Sammel- und Nachweis- Funktionen. Wir bereiten z.Z. eine kommentierte wissenschaftliche Bibliographie zum Thema des öffentlichen Sprachgebrauchs in der BRD und der DDR vor, die voraussichtlich Ende 1972 fertig wird.[*] Sie wird über Magnetband mittels Lichtsatzverfahren gesetzt werden und könnte später zu einem ständig verfügbaren Dokumentationssystem ausgebaut werden, - in diesem Falle vermutlich in Zusammenarbeit mit anderen, ähnlichen Projekten, auch in unserer Mannheimer Zentrale. [* Bibliographie zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR . Zusammengestellt und kommentiert von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Manfred W. Hellmann. (= Sprache der Gegenwart 16), Pädag. Verlag Schwann, Düsseldorf 1976.] Aus: Hellmann (Hg.) (1973): Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR . Methoden und Probleme seiner Erforschung. (= Sprache der Gegenwart 18). Düsseldorf, S. 125-159. [Vortrag auf der gleichnamigen Tagung im IDS Mannheim, Dezember 1970. MWH ] Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme - Fragen bei der Erforschung der sprachlichen Situation in Ost und West* Die Sorge um die als bewahrenswertes Gut empfundene Einheit der deutschen Sprache hat ihre Wurzel vielleicht in zweierlei Arten sprachlicher Grunderfahrung. Die eine: wer in die DDR gefahren ist, weiß gelegentlich über Schwierigkeiten zu berichten, sich in einer sachlich und auch sprachlich zum Teil fremd gewordenen Umwelt zurechtzufinden; zu verstehen und sich verständlich zu machen. Er stößt auf Schritt und Tritt auf ihm zunächst fremde Sachbezeichnungen; er läuft Gefahr, „ins Fettnäpfchen zu treten“ auf Grund unbemerkter Mißverständnisse, die auf unvermutete Weise böse Reaktionen beim Gesprächspartner bewirken können. Das Bewußtsein dieser Möglichkeiten vermittelt ihm, dem westdeutschen Besucher, ein Gefühl der Unsicherheit, der Fremdheit, - wohl kaum im Verwandtenkreis, schon eher unter Fremden, unter Kollegen etwa, und um so mehr, je offizieller sein Gesprächspartner, je politischer das Thema. Auch nach Rückfragen bleibt man oft unsicher, ob man den Sinn der Mitteilung nur annähernd oder vollständig erfaßt hat, ob neben der trockenen Nachricht auch die Unter- und Obertöne „angekommen“ sind. Uwe Johnson hat dem Erlebnis solcher sprachlicher Unsicherheit und Fremdheit großartigen literarischen Ausdruck gegeben. Von entsprechenden Erfahrungen von DDR-Reisenden in der Bundesrepublik wissen wir sehr viel weniger. Die aus der Bundesrepublik zurückkehrenden Rentner zwar scheinen über besondere sprachliche <127> Schwierigkeiten kaum zu klagen. Andererseits wissen wir, daß viele jüngere DDR-Flüchtlinge sehr wohl erhebliche sprachliche und außersprachliche Anpassungsschwierigkeiten zu überwinden haben 1 . Im ganzen mag trotz- * Das Referat ist die überarbeitete Version eines für die Frühjahrstagung 1970 des IDS vorbereiteten Vortrags. 1 Vgl. Barbara Grunert-Bronnen, Ich bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik (12 Interviews). 2. Aufl. München 1970 (Serie Piper Nr. 3). Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 56 dem das Problem einer sprachlichen Fremdheit eher auf westdeutscher als auf ostdeutscher Seite liegen 2 . Dies ist die eine, die unmittelbare Situation, in der Fremdheit erfahren wird. Die andere ist die des westdeutschen Lesers ostdeutscher Presseerzeugnisse oder ostdeutscher offizieller Verlautbarungen, - meines Erachtens eine gegenüber der oben beschriebenen sehr unterschiedliche Situation. Hier wird die Fremdheit nicht gemildert von mancherlei Vertrautem, nicht halb bewußt oder nur gefühlsmäßig erfahren, hier springt sie unmittelbar - mit jeder Zeile - ins Bewußtsein und provoziert nicht selten kräftige negative, ablehnende oder ironische Emotionen - auf erstaunliche Weise das krasse Gegenteil dessen, was Propagandisten von ihrem Medium zu erwarten pflegen. Und die Kommunikationssituation bietet nur geringe Hilfen zur Überwindung des Dilemmas. Ich vermute, daß in sehr vielen Fällen dieses Erlebnis provozierender Fremdheit Ausgangspunkt der Bemühungen um das Thema der sprachlichen Entwicklung in den beiden Teilen Deutschlands gewesen ist; ein Erlebnis, das Joachim Nawrocki vor Jahren in einem intelligent geschriebenen Zeitungsartikel in der FAZ unter dem Untertitel zusammengefaßt hat: „Mühselig liest er das ND ... “ 3 . Es war unter diesen Umständen eigentlich nicht verwunderlich, daß es zu Kassandrarufen über den drohenden Verlust der sprachlichen Einheit kam, oft verbunden mit einem Protest gegen die, wie man meinte, <128> mißbräuchliche Manipulation der Kommunisten an unserer Sprache 4 . Erst Anfang der 60er Jahre konnten sich besonnenere Stimmen Gehör verschaffen: Betz wandte sich kategorisch gegen die These von zwei Sprachen in Deutschland und konzedierte lediglich eine besondere Form „einer politischen Sprachlenkung innerhalb der einen deutschen Sprache“ 5 . Ähnlich sieht 2 Seit dem Aufenthalt von zweimal 1000 Olympia-Besuchern aus der DDR in bayerischen Dörfern wird diese Vermutung schon wieder zweifelhaft: wenn man den Berichten in verschiedenen Massenmedien glauben darf, bestanden erhebliche Verständigungsbehinderungen, die erst gegen Ende des Aufenthalts teilweise überwunden werden konnten. Es ist zu beklagen, daß kein Versuch unternommen worden ist, den Ursachen und Erscheinungsformen dieser Verständigungsschwierigkeiten wissenschaftlich nachzugehen. 3 Joachim Nawrocki, ‘Weltniveau’ oder ‘moralischer Verschleiß’. Ein Bericht über die Sprache der mitteldeutschen Wirtschaftsfunktionäre. In: FAZ vom 20.5.1966, S. 5. 4 Die Spitze polemischer Übersteigerung solcher Vorwürfe hält zweifellos Otto B. Roegele, Die Spaltung der Sprache - Das kommunistische Deutsch als Führungsmittel. In: Die politische Meinung Jg. 4, H. 36, 1959, S. 48-60. 5 Werner Betz, Zwei Sprachen in Deutschland? In: Fr. Handt (Hg.), Deutsch - gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? Berlin 1964, S. 155-163 (Zitat S. 161); vorher in: Merkur Nr. 175, H. 9, 1962, S. 873. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 57 später auch Reich nur einen „Sonderfall der Herausbildung verschiedener Ideologiesprachen innerhalb einer einheitlichen langue“ 6 . Moser spricht von sprachlichen Sonderungserscheinungen auf bestimmten Gebieten 7 , Hans Joachim Gernentz (Greifswald) wählt den Ausdruck Sprachdifferenzierung 8 , die meisten sprechen all- <129> gemein von „Auseinanderentwicklung“ und „Unterschieden“. In einigen der neueren Arbeiten scheint sich die Bezeichnung „sprachliche Divergenzen“ durchzusetzen, so auch bei W. Hartung 9 , bei Elise Riesel 10 , bei Dieckmann 11 und Roche 12 . (Ich strebe hier keine Voll- 6 Hans H. Reich, Sprache und Politik - Untersuchungen zu Wortschatz und Wortwahl des offiziellen Sprachgebrauchs in der DDR . (= Münchener germanist. Beiträge Bd. 1), München 1968, S. 325. - Der Auffassung von Betz und Reich steht auch Gustav Korlén nahe, der von einem „verhältnismäßig leicht abgrenzbaren Sonderwortschatz“ spricht (Nachtrag zu Joachim Höppner, in: Deutsch - gefrorene Sprache ..., S. 153). 7 Hugo Moser, Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands (= Beiheft 3 zum Wirkenden Wort), Düsseldorf 1962, S. 48f.; ähnlich auch in der Einleitung zum Sammelband „Das Aueler Protokoll“ - Deutsche Sprache im Spannungsfeld zwischen West und Ost, Düsseldorf 1964, S. 10f. - In einem früheren Aufsatz (Die Sprache im geteilten Deutschland, in: Wirk. Wort 11, H. 1, 1961, S. 1-21) konstatierte Moser eine „beginnende sprachliche Auseinanderentwicklung“ (S. 19, 20 und öfter), hinter der sich aber allmählich die „Gefahr einer sprachlichen Spaltung“ abzeichne (S. 20). Die Abschwächung der bedingten Prognose „Gefahr einer sprachlichen Spaltung“ zu „Gefahr einer sprachlichen Sonderung“ ist von Betz (a.a.O., S. 161) entschieden überinterpretiert und zum Gegenstand einer massiven Polemik gemacht worden. Man vergleiche dagegen die sehr viel sachlichere Kritik von Hans H. Reich, Sprachspaltung oder Sprachsonderung, in: Zfd Sprache 20, H. 1/ 2, 1964, S. 123. Tatsächlich hat Moser eine „Sprachspaltung“ für „jetzt“ (= 1959-62) und absehbare Zeit nie behauptet. Eine schärfere begriffliche Präzisierung des Gemeinten hätte ihm freilich viele Mißverständnisse erspart. 8 Hans Joachim Gernentz, Zum Problem der Differenzierung der deutschen Sprache in beiden deutschen Staaten. In: Weimarer Beiträge 13, H. 3, 1967, S. 463-468. Stärker noch als hier betont Gernentz in seinem früheren Aufsatz: Droht dem Deutschen die Gefahr einer Spaltung in zwei Sprachen? In: Jezyky obce w szkole (Fremdsprachen in der Schule, Warschau), Jg. 2, H. 2, 1965, S. 69-70, die Kraft der gemeinsamen Nationalsprache gegenüber allen Differenzierungserscheinungen. 9 Wolfdietrich Hartung, Marxistische Sprachpragmatik als Hintergrund für die Erklärung stilistischer Phänomene. In: Wiss. Zeitschr. d. Päd. Hochschule Erfurt - Mülhausen, Gesellsch.-sprachwiss. Reihe 7, H. 2, 1970, S. 63-72. 10 Elise Riesel, Der Stil der deutschen Alltagsrede (= Reclams Universal-Bibliothek Bd. 376), Leipzig 1970. Die „Wortschatzdivergenzen“ sind jedoch nach Riesel kein Anlaß, eine Spaltung der binnendeutschen „Sprachvariante“ in zwei „Subvarianten“ anzunehmen (S. 24). 11 Walther Dieckmann, Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem. In: Zfd Sprache, Bd. 23, H.3, 1967, S.136-165; vgl. bes. S. 163; aber gelegentlich auch „Sprach- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 58 ständigkeit an.) Ob und welche der festgestellten Divergenzen noch den Sprachgebrauch oder schon das System betreffen, ist nicht immer einheitlich entschieden worden 13 ; unbestritten blieb dagegen die Feststellung, daß es sich um Divergenzen nur in bestimmten Bereichen des Wortschatzes handelt 14 ; vor allem natürlich im Bereich der Politik und Ideologie, der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, aber auch im Wortschatz einiger Sachgebiete, die von den gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit besonders stark betroffen worden sind, wie z.B. dem Sachgebiet der Wirtschaft 15 . Ganz allgemein ist deut- <130> lich die Tendenz zu beobachten, die Konsequenzen dieser sprachlichen Divergenzen als nicht besonders hoch zu veranschlagen 16 ; gleichzeitig setzt sich mehr und mehr der Ge- entfremdung“ (S. 161) oder allgemeiner „Auseinanderentwicklung innerhalb der deutschen Sprache“ (S. 165). 12 Reinhard Roche, Divergierendes Deutsch. Sprachliche Beobachtungen bei der Lektüre der „Prager Volkszeitung“ (= Studien des Gymnasiums Michelstadt 3), Michelstadt 1970. 13 Dieckmann und Reich neigen eher zu vorsichtigen Hypothesen; vor allem halten sie aber die Gegenüberstellung von ‘langue’ und ‘parole’ und das Einschwören der Linguisten auf die reine Systemlinguistik für ziemlich unfruchtbar: „Wenn die Sprachwissenschaft zu diesem Thema (= Sprache und Politik) etwas beitragen will, so ist nicht einzusehen, warum sie da aufhören soll, wo es interessant zu werden verspricht.“ (Walther Dieckmann, Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache (= Sprachwiss. Studienbücher, 2. Abt.), Heidelberg 1969, S. 8) 14 Allerdings, wie immer wieder betont wird, in zentralen, öffentlich relevanten Bereichen. Vgl. die Zusammenstellung dessen, worüber weitgehend Konsens herrscht, bei Dieckmann, Kritische Bemerkungen, S. 142f., und Manfred W. Hellmann, Gefahr für die sprachliche Einheit? Unsere Sprache zwischen Ost und West. In: Mitteldeutsche Vorträge 1968/ 69, Troisdorf 1969, S. 39-70, bes. S. 66 [= Beitrag Nr. 1 in diesem Band]. 15 Zum Wortschatz der Wirtschaft in der DDR jetzt die Bonner Dissertation von Heidi Lehmann, Russisch-deutsche Lehnbeziehungen im Wortschatz offizieller Wirtschaftstexte der DDR (bis 1968) (= Reihe Sprache der Gegenwart Bd. 21), Düsseldorf 1972. Zum Wortschatz der Landwirtschaft vgl. die Arbeit von Ernst G. Riemschneider, Veränderungen der deutschen Sprache in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands seit 1945 (= Beiheft 4 zum Wirkenden Wort), Düsseldorf 1963, die allerdings aus methodischen Gründen kaum gesicherte Ergebnisse erbracht hat, und den Aufsatz von Jan Nyvelius, Russischer Spracheinfluß im Bereich der Landwirtschaft der DDR , in: Mutterspr. 80, H. 1/ 2, 1970, S. 16-29, der sich weitgehend auf Reich stützt. 16 Vgl. die zitierten Arbeiten von Betz 1964, Reich 1968, Moser 1962, Gernentz 1965 und 1967; auch Gustav Korlén (in verschiedenen Aufsätzen, jüngste Version: ) Führt die Teilung Deutschlands zur Sprachspaltung? In: Der Deutschunterricht 21, H. 5, 1969, S. 5- 23. Die DDR -Wissenschaftler bestreiten allesamt, wie Gernentz, eine Gefährdung der nationalsprachlichen Einheit und betrachten die Wortschatzdifferenzen teils als notwen- Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 59 sichtspunkt durch, den Sprachgebrauch der DDR nicht als Abweichung oder Sonderung von einer angenommenen westdeutschen Norm zu betrachten, sondern auch den westdeutschen Sprachgebrauch auf ideologische oder propagandistische Implikationen, auf Neuerungen und Bedeutungsveränderungen hin zu befragen 17 . Arbeiten, in denen den Besonderheiten beider Sprachgebräuche in jeder Beziehung gleiches Gewicht beigemessen wird, sind freilich immer noch höchst selten 18 . <131> In zwei Punkten bleiben allerdings die genannten terminologischen Bezeichnungen und Argumentationen, wie mir scheint, unbefriedigend: einmal in der Beantwortung der Frage, wie der Zustand der Sprache zu bezeichnen oder zu beurteilen wäre, wenn nur lange genug solche Sonderungs- oder Differenzierungsvorgänge am Werk gewesen sind. Man beschränkt sich auf die terminologische Erfassung der beobachteten Auseinanderentwicklung und verzichtet auf eine Beschreibung des möglichen Endergebnisses. Zum anderen aber beziehen sich alle diese Termini und Argumentationen auf Veränderungen im dige Folge unterschiedlicher Lebensumstände (Bezeichnungsunterschiede), teils als begrüßenswerte Bereicherung des deutschen Wortschatzes durch neue, fortschrittliche, klassengebundene Interpretationen, Definitionen und Wertungen. Hier ist - bei wechselnd starkem Abgrenzungsbedürfnis - in der DDR -Forschung von Joachim Höppner („Über die deutsche Sprache und die beiden deutschen Staaten“. In: Weim. Beitr. 9, 1963, S. 576-585; Nachdruck in: Deutsch - gefrorene Sprache (Hg. v. Handt), Berlin 1964, S. 143-151) bis Wolfgang Fleischer (u.a. „Ideologische Aspekte der Sprache“, in: Deutsch als Fremdsprache 8, 1971, S. 131-136) doch eine klare Kontinuität festzustellen. 17 Eine entsprechende Forderung, wenn auch noch unspezifiziert, erhob sehr früh Walter Richter, Zur Entwicklung der deutschen Sprache in der sowjetischen Besatzungszone. In: Europa-Archiv 8, H. 21, 1953, S. 6053-6056. Wesentlich ausgeführter dann bei Erasmus Schöfer, Die Sprache im Dienst des modernen Staates. In: Sprache im techn. Zeitalter Nr. 8, 1963, S. 615-633. Seit Dieckmann, Kritische Bemerkungen (1967), hat sich eine objektivere Betrachtungsweise allgemein durchgesetzt. - Die DDR -Forscher haben begreiflicherweise von Anfang an versucht, den Spieß umzudrehen; vgl. schon Höppner (1963). 18 Mit eigener Materialbasis: Signe Nordin (-Marx), Zur ostdeutschen Zeitungssprache. (Tentamensarbeit für das Fach Deutsch, Univ. Göteborg), Göteborg 1962 (masch. hektographiert); Theodor Pelster, Die politische Rede im Westen und Osten Deutschlands. Vergleichende Stiluntersuchung mit beigefügten Texten (= Beiheft 14 zum Wirk. Wort), Düsseldorf 1966; vgl. auch die wortmonographisch-vergleichenden Aufsätze von Heinz Ischreyt in: deutsche studien H. 21 (1968), H. 25 und 26 (1969), H. 28 (1969). Auch die wortmonographisch-historischen Arbeiten von Herbert Bartholmes (vgl. seinen Sammelband „Bruder, Bürger, Freund, Genosse und andere Wörter der sozialistischen Terminologie. Wortgeschichtliche Beiträge“, Wuppertal 1970) sind hier zu nennen. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 60 Sprachgebrauch, d.h. auf die Sprache in ihrer Verwendung als Mittel der Verständigung, nicht aber auf die Akteure dieses Vorgangs, die Sprecher hüben und drüben, und auf den Vorgang, den Prozeß selbst, auf die sprachliche Kommunikation. Mir scheint, daß man mit Hilfe dieser so vorsichtig gewordenen linguistischen Terminologie aus Scheu vor mißdeutbaren Kassandrarufen an den wirklichen Schwierigkeiten vorbeidefiniert, daß man sich hinter die Konstatierung der Stabilität des Sprachsystems und der relativen Stabilität des Sprachgebrauchs zurückzieht, vielleicht in der Meinung, als Linguist ohnehin nichts anderes tun zu können, vielleicht auch in der Meinung, die sprachlichen Schwierigkeiten beschränkten sich im wesentlichen auf den für die Verständigung relativ ungefährlichen und ohnehin unvermeidlichen Wortstreit der Ideologen 19 . In diesem Zusammenhang sollte ein Satz von Walther Dieckmann zitiert werden 20 : „Der Großteil der wachsenden Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen ist nicht eine Folge ideologischer Polysemie und überhaupt kein Sprachproblem, sondern Folge ungenügender Kenntnis der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit und der verschiedenen ideologischen Perspektiven, von denen aus die Wirklichkeit interpretiert wird.“ Und er illustriert seine These durch das Beispiel: „Wenn der Mann auf der Straße tatsächlich meint, die Wieder- <132> vereinigung sei nahe, weil das ‘Neue Deutschland’ sich mit einem wiedervereinigten Deutschland ‘auf demokratischer Grundlage’ einverstanden erklärt, so ist das weder die Schuld der Sprache noch der SED. Hier hilft nur Nachhilfeunterricht in Sozialkunde.“ Diese Sätze - in ihrer erfrischenden Provokanz geeignet, mancherlei Scheuklappen zu beseitigen, - bieten doch einige Ansatzpunkte zur Kritik. Darauf soll gleich noch eingegangen werden. Auffällig ist zunächst einmal die verblüffende Behauptung von den „wachsenden Verständigungsschwierigkeiten“ zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen, die in starkem Gegensatz steht zu den sonst so harmlos klingenden Diagnosen der gegenwärtigen Sprachsituation zwischen Ost und West, freilich ebensowenig bewiesen wird wie jene. Sollte die Behauptung aber zutreffen, so wird man auch den Gedanken akzep- 19 Zur Unvermeidlichkeit politischen Wortstreits vgl. Hermann Lübbe, Der Streit um Worte. Sprache und Politik. In: H.G. Gadamer (Hg.), Das Problem der Sprache, München 1967, S. 351-371. 20 Dieckmann, Sprache in der Politik, S. 69. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 61 tieren, daß die Verständigungsschwierigkeiten bei weiterem Wachsen eines Tages zum Abbruch oder Zusammenbruch der Verständigung führen werden. Die Frage ist, ob wir dann heute etwas wesentlich anderes sagen, als die in linguistischer Terminologie nicht geschulten Journalisten und Philologen der 50er und 60er Jahre es mit den Begriffen „Sprachentfremdung“ und „drohender Sprachspaltung“ hatten sagen wollen. Die Frage, wie Dieckmann zu seiner Feststellung von den wachsenden Verständigungsschwierigkeiten gelangt, läßt sich aus Dieckmanns Buch selbst nicht beantworten. Im Gegenteil: seine Darlegungen sprechen eher gegen einen solchen Schluß. Ebensowenig freilich ließ das früher vorgelegte Material die Feststellung einer „Sprachspaltung“ zu. Und dies schon aus folgendem Grunde: Sämtliche mit Material belegten Untersuchungen zum Sprachgebrauch in der DDR oder in den beiden deutschen Staaten stützen sich ausnahmslos auf veröffentlichte Texte, zumeist auf Zeitungstexte, und das heißt für die DDR: auf weitgehend offiziösen Sprachgebrauch. Entsprechendes gilt auch für sekundäres Material, wie etwa die meisten Wörterbücher der DDR, insbesondere den Ost-Duden 21 . In welchem Verhältnis nun dieser „von oben“ kontrollierte öffentliche <133> Sprachgebrauch zu dem sogenannten allgemeinen Sprachgebrauch steht - gemeint ist hier der Sprachgebrauch, der nicht verbindlichen ideologischen Festlegungen oder den Intentionen der Propaganda zu folgen braucht - das ist, wie ich gestern schon sagte, eine Frage, die niemand außerhalb der DDR zu beantworten in der Lage ist. Man kann nur v e r m u t e n , daß der Unterschied zwischen dem offiziellen Sprachgebrauch, wie er sich in den Zeitungen der DDR spiegelt, und dem allgemeinen Sprachgebrauch in der DDR größer ist als der Unterschied zwischen den entsprechenden Sprachgebräuchen in der Bundesrepublik. Immerhin verfügen wir, was das Verhältnis des Sprachgebrauchs unserer eigenen Presse zum allgemeinen Sprachgebrauch in der BRD betrifft, über unser eigenes Sprachgefühl. Umsomehr sind wir verpflichtet, Rückschlüsse für das Beispiel der DDR nur mit äußerster Vorsicht zu ziehen, d.h. Aussagen über d e n Sprachgebrauch in der DDR möglichst zu vermeiden bzw. sie jedenfalls nicht aus der Analyse von Zeitungstexten oder DDR- Wörterbüchern abzuleiten. Wie aber sollen wir - in einer solchen methodischen Notlage - begründbare Aussagen über Verständigungsschwierigkeiten 21 Zum Problem der Benutzbarkeit des Ost- und West-Dudens als Grundlage für Aussagen über den Stand der sprachlichen Entwicklung vgl. A. Schubert und M.W. Hellmann, Duden aus Leipzig und Mannheim. In: deutsche studien H. 23, 1968, S. 248-263. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 62 treffen können? Es ist zu vermuten, daß nicht erst unsere Antworten und Ergebnisse, sondern schon unsere Fragestellungen Folgen dieser methodischen Notlage sind, und daß wir uns nicht nur materialbedingte, sondern auch perspektivische Beschränkungen haben auferlegen lassen. Ich meine, daß solche Beschränkungen in der Forschung erkennbar sind: Erstens die Beschränkung vornehmlich auf DDR-Texte. Sie ist nicht notwendig, aber historisch und psychologisch verständlich, hat jedoch eine Vernachlässigung des Standes und der Entwicklung westdeutscher Spezifika des Sprachgebrauchs zur Folge gehabt. Zweitens die Beschränkung auf öffentliche und damit im Sinne der jeweils herrschenden Gruppe kontrollierte Texte. Diese Beschränkung ist unvermeidlich und notwendig, sie macht jedoch Aussagen über den allgemeinen Sprachgebrauch äußerst schwierig. Und drittens die Beschränkung auf den Wortschatz der Ideologie, der Politik, der Institutionen, der Polit-Ökonomie - auf den Bereich also, der von Bedeutungsveränderungen besonders intensiv betroffen ist. Sie ist dafür verantwortlich, daß in so vielen Veröffentlichungen zu unserem Thema <134> das Problem der Polysemie eine so große, ja manchmal dominierende Rolle spielt 22 . Diese drei Beschränkungen bedingen sich offenbar gegenseitig. Was nun das Gebiet der ideologisch bedingten Polysemie betrifft, so ist der gegenwärtig herrschenden Meinung sowohl westlicher als auch östlicher Wissenschaftler durchaus zuzustimmen, daß in ihr keine besondere Gefahr für die sprachliche Einheit zu sehen ist. Ideologisch bedingte Polysemie hat es immer schon gegeben und gibt es nach wie vor auch innerhalb der Bundesrepublik und sicherlich auch in der DDR selbst 23 . Nicht daß die ideologischen Kernwörter in der DDR eine andere Bedeutung haben als die uns geläufige, ist neu, so äußert sich Dieckmann, sondern die Tatsache, daß eine bestimmte Bedeutung in der DDR monopolisiert ist 24 . Das Problem der ideologischen Polysemie läßt sich in der Tat weitgehend zurückführen auf das Problem einer ausreichenden Information, der Aufklärung, der Erziehung. 22 Der überwiegende Teil der Dieckmannschen Kritik richtet sich gerade gegen die Art, wie in zahlreichen westdt. Arbeiten das Problem der Polysemie behandelt wird. Zu Dieckmanns eigener Position vgl. „Sprache in der Politik“, S. 58-80, bes. S. 70-75. 23 Dies wird von DDR -Autoren freilich selten zugegeben; für sie läuft die Grenze zwischen fortschrittlicher und veralteter Wortbedeutung „mitten durch Westdeutschland“ (Margot Koliwer, Einige Bemerkungen zu westdeutschen Veröffentlichungen über die Entwicklung der deutschen Sprache in den beiden deutschen Staaten. In: Weim. Beiträge H. 6, 1967, S. 1052). 24 Vgl. Dieckmann, Kritische Bemerkungen, S. 157. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 63 Der auf diesem Gebiet bemerkbare Mangel beruht wohl nicht nur auf Gleichgültigkeit und Desinteresse, sondern - in manchen Presseorganen - auf einer bewußten Drosselung des Stroms der Informationen über die DDR und die dort herrschende Ideologie. Freilich mag auch das jahrzehntelange Fehlen der Notwendigkeit, sich mit einer starken marxistisch-leninistischen Gruppe in der Bundesrepublik selbst ideologisch auseinanderzusetzen, zu dem allgemeinen Desinteresse beigetragen haben. Ob die Verhältnisse in der DDR ähnlich liegen, läßt sich von hier aus nicht definitiv entscheiden; es wird allgemein behauptet, daß die Mehrzahl der Bürger der DDR dank einer regelmäßigen Teilnahme an westdeutschen Rundfunk- und Fernsehsendungen besser über die Bundesrepublik und damit auch über den Sprachgebrauch der Kommunikationsmittel (allerdings nicht der Presse) informiert sei als umgekehrt <135> die westdeutschen Bürger über den der DDR, - was nicht nur daran liegt, daß ein viel größerer Teil der DDR-Bevölkerung westliche Sendungen empfangen kann, als umgekehrt die westdeutsche Bevölkerung östliche Sendungen: es liegt auch an den Sendungen. Zu fragen ist nun, wie sich die ideologische Polysemie, wenn sie auftritt, in der sprachlichen Kommunikation bei einem nach Lage der Dinge mittelmäßig informierten Kommunikationspartner auswirken muß. Dabei ist sorgfältig auf die besondere Situation zu achten, in der sich der westdeutsche Leser oder Hörer befindet: er ist nicht einfach Empfänger einer „message“ oder - besser gesagt - nicht der eigentlich gemeinte Empfänger einer „message“. Man kann wohl behaupten, daß der weitaus größte Teil der uns erreichenden sprachlichen Äußerungen aus der DDR, soweit sie öffentlicher Natur sind, nicht für uns, sondern für Hörer und Leser in der DDR bestimmt sind; der westliche Leser ist quasi nur Zuschauer des Kommunikationsvorganges zwischen der die öffentliche Äußerung kontrollierenden Gruppe und der Zielgruppe, der Bevölkerung in der DDR. Für diese Zielgruppe tritt das Problem der Polysemie wohl kaum oder nie auf, denn die in Frage stehenden ideologischen Kernbegriffe sind für die gemeinten Empfänger in der Regel hinreichend eindeutig gemacht. Der westdeutsche Leser solcher Texte freilich kann in die von Dieckmann auf S. 68 folgendermaßen beschriebene Situation geraten: „er (= der westdeutsche Leser oder Hörer) projiziert die ihm gewohnte oder wünschenswerte Bedeutung in das Wort hinein, obwohl es vom Sprecher (= der Redaktion) in einer anderen Bedeutung gemeint ist. Mehrdeutigkeit liegt objektiv vor, wird aber subjektiv vom Hörer nicht erfahren. Die Situation der pathologi- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 64 schen Polysemie ist erreicht.“ Diese Situation wird freilich nur selten und nur bei sehr uninformierten Lesern eintreten. Häufiger gerät er in die von Dieckmann als Punkt 2 beschriebene andere Möglichkeit, „daß er eine Diskrepanz zwischen der Meinung des Wortes in der Rede und der ihm gewohnten bemerkt, aber trotzdem nicht weiß, in welchem Sinne das Wort gebraucht ist. Er empfindet die Mehrsinnigkeit des Wortes, versteht aber den Sprecher nicht, weil er (a) die besondere Bedeutung nicht kennt oder (b) nicht weiß, welche aktualisiert wird.“ Gemeint ist hier Situation (a). <136> Gegenüber Texten, die aus der DDR speziell für westdeutsche Leser geschrieben werden, befindet sich dieser Leser, den wir uns als mäßig informierten „Normal-Leser“ denken wollen, in einer erheblich anderen Situation: in solchem Falle werden die Autoren des Textes entweder bemüht sein, Mehrdeutigkeiten und die damit verbundenen Mißverständnisse garnicht erst aufkommen zu lassen, indem sie entweder für BRD-Leser eindeutige Wörter wählen oder die mehrdeutigen Wörter durch erläuternde Zusätze eindeutig machen, oder aber sie nutzen die Mehrdeutigkeit aus, den nicht informierten Leser im Sinne der von Dieckmann bezeichneten pathologischen Polysemie dazu zu veranlassen, dem fremden Sprachgebrauch die ihm gewohnte Bedeutung zu unterschieben. Solches Vorgehen muß nicht auf böser Betrugsabsicht, es kann auf dem legitimen Wunsch beruhen, den Partner nicht gleich mit ihm unvertrauten Ideologismen zu schockieren. Für den mit der ideologisch bedingten Polysemie vertrauten westdeutschen Hörer oder Leser stellt sich das Problem wiederum anders: bei der Lektüre offizieller Texte wird er keine Schwierigkeiten haben, denn diese sind, wie gesagt, in der Regel durchaus monosem. Im allgemeinen Sprachgebrauch - auch der DDR - sind es die fraglichen Wörter jedoch keineswegs. Neben der von der SED monopolisierten Bedeutung findet sich ein breites Spektrum von Bedeutungsvarianten, das möglicherweise etwas anders struktriert ist als in unserem Sprachgebrauch, jedoch keineswegs kleiner zu sein braucht. Als westdeutscher Besucher in der DDR ist er dann oft in der unangenehmen Lage, nicht zu wissen, welche der möglichen Bedeutungen (die offizielle oder eine der nicht offiziellen) sein Gesprächspartner jeweils aktualisiert. Hier gilt die Situation 2 b aus dem Zitat von Dieckmann, - sie entspricht im übrigen der eingangs des Referates geschilderten. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 65 Ob solche Schwierigkeiten auch für Bewohner der DDR selbst gelten, kann nicht beurteilt werden; sicher ist aber, daß sich den westdeutschen Besuchern diese Schwierigkeiten stellen und daß sie nicht mehr nur durch bessere Sachinformationen zu bewältigen sind: es handelt sich um ein Sprachproblem, und zwar um ein Sprachproblem, das entstanden ist aus der Konstituierung zweier voneinander weitgehend isolierter Kommunikationsgruppen, - zweier Kommunikationsgruppen mit <137> unterschiedlichem Erfahrungs- und Erlebnishorizont ihrer Angehörigen. Die zuletzt bezeichnete Schwierigkeit kann natürlich auch zwischen den Sprechern e i n e r (Groß)gruppe auftreten. Sie wird aber die Ausnahme und ggf. leichter auflösbar sein. Abgesehen von den stets vorhandenen Möglichkeiten der Rückfrage, der Vergewisserung bei etwa auftretenden Unklarheiten, vermittelt der Kontext der Rede, der gemeinsame Erfahrungshorizont und die gemeinsame Kenntnis geläufiger Interpretationsmuster den Angehörigen einer solchen Gruppe nicht nur zusätzliche Sachinformationen, nicht nur usuelle Bewertungen, sondern auch Konnotationen, die zur Klärung beitragen. Damit wird ein Gebiet berührt, dessen Wichtigkeit für das Verhältnis Sprache und Politik, Sprache - Gesellschaft, ja für jeden Umgang mit Sprache, der auf Meinungs- und Verhaltensbeeinflussung zielt, längst außer Frage steht. Trotz einiger Einzeluntersuchungen über bestimmte Wörter und ihre Eigenschaft, Emotionen auszudrücken und zu wecken, fehlt eine grundlegende Untersuchung für das Verständigungsproblem zwischen Ost und West völlig 25 . Untersuchbar in diesem Zusammenhang sind selbstverständlich nur die Konnotationen, die nicht individuell und nicht nur okkasionell, vielmehr sozial und usuell sind. Als Beispiel sei kurz auf das Wort westdeutsch hingewiesen. Die Bedeutung dieses Wortes bietet nichts Rätselhaftes. Es kann - wie andere derartige Adjektive auch - sowohl geographisch als auch im Sinne einer Bezeichnung für Gruppenzugehörigkeit verwandt werden. In der Bundesrepublik ist allerdings das normale Adjektiv, mit dem eine Sache als zum eigenen Bereich gehörig oder aus ihm stammend gekennzeichnet wird, 25 Dies beklagt auch Dieckmann, Sprache in der Politik, der sich in seinem Kapitel „Konnotationsforschung“ (S. 75-80) im wesentlichen auf Arbeiten stützen mußte, „deren erste Auflagen schon mehrere Jahrzehnte zurückliegen“ (S. 76). Es scheint im übrigen noch kein Konsens darüber erreicht, was Konnotationen überhaupt sind und wie sie zu ermitteln und zu beschreiben sind. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 66 nicht westdeutsch, sondern deutsch 26 - mit gutem Grund, verfügt <138> doch deutsch über ein wesentlich günstigeres Konnotationsprofil als westdeutsch. Das Adjektiv westdeutsch wird fast ausschließlich in direkter Opposition zu ostdeutsch/ mitteldeutsch oder Berliner verwendet 27 . In der DDR ist als Zugehörigkeitsadjektiv für den eigenen Bereich inzwischen das Wort sozialistisch an die erste Stelle getreten, sofern man nicht den attributiven Genitiv der DDR verwendet. Die regelmäßige Bezeichnung für alles, was zur Bundesrepublik gehört, ist nicht deutsch, sondern westdeutsch 28 . Das ursprünglich wertungs- und emotionsfreie Wort hat im Laufe der Jahre im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR eine deutlich emotionelle, negativ wertende Färbung erhalten 29 . Der propagandistische Kampf der DDR gegen die Bundesrepublik hatte zur Folge, daß es kaum je etwas Positives aus Westdeutschland und über Westdeutsches zu berichten gab. Zwangsläufig erschien das Adjektiv westdeutsch in der Regel in negativ wertenden Kontexten; oft auch in mehr oder weniger fester Nachbarschaft mit Parallel- und Gegensatzbezeichnungen aus dem Inventar der Kampfsprache. Es konnte nicht ausbleiben, daß das Wort selbst immer mehr zum Bestandteil der Pro- 26 Daß der ständige publizistische Gebrauch der Bezeichnung deutsch für westdeutsch nicht nur erwünschte Folgen hat, weist Walter Feigs nach: Zum Deutschlandbegriff im Norwegischen. Ein methodologischer Beitrag zur Bedeutungsforschung. In: Mutterspr. 31, H. 2, 1971, S. 77-97. In den Äußerungen der von ihm untersuchten Studentengruppe erschien gerade unter den Versuchspersonen, die die BRD und Berlin kannten, nur noch die BRD als „deutsch“, die DDR eher als nicht-deutsches Ausland. 27 Von der Verwendung in Eigennamen („Westdeutscher Rundfunk“) wird hier abgesehen. 28 In unserer Textauswahl aus N D 1 9 6 4 (52 Seiten, Stand von 1969) kommt deutsch (einschließlich flektierter Formen) 438 mal vor, davon ca. 90% für historische oder gesamtdeutsche Erscheinungen (die beiden deutschen Staaten, auf deutschem Boden, Deutsche Geschichte, Frage, Sprache, Volk, Arbeiterbewegung usw.); mit Bezug auf die BRD gelegentlich deutsche Bundesrepublik, mit Bezug auf die DDR fast nur in halbfesten Verbindungen wie deutsch-sowjetische, deutsch-polnische Freundschaft, Beziehungen u.ä. In Großschreibung als Namensbestandteil für Einrichtungen im eigenen Bereich kommt es 195 mal vor. Westdeutsch erscheint 287 mal. Ostdeutsch nur in 2 Zitaten aus Westtexten. In der Textauswahl aus W E L T 1 9 6 4 (135 Seiten, Stand 1969) kommt deutsch 898 mal vor, davon als Namensbestandteil 286 mal. Ostdeutsch kommt hier überhaupt nicht vor; mitteldeutsch 5 mal. Westdeutsch kommt (außer in Namen) insgesamt 61 mal vor, davon in Opposition zu ostdt./ mitteldt. 15 mal, zu Berliner 9 mal, in Ost-Zitaten 10 mal, in regionaler Bedeutung 7 mal. Es verbleiben 16 „echte“ Belege neben 4 mehrdeutigen. 29 Entsprechendes gilt, wie schon oft vermerkt, für den westdeutschen Gebrauch von kommunistisch und - jedenfalls in der Rechtspresse - auch für sozialistisch; mit dem Unterschied allerdings, daß beide Wörter nie völlig wertungsfrei waren. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 67 paganda- und Kampfsprache wurde. Zwar ist auch jetzt noch neutraler Gebrauch möglich - dafür wird heute eher die Abkürzung BRD verwendet -, <139> jedoch muß damit gerechnet werden, daß westdeutsch jedenfalls im öffentlichen Sprachgebrauch eine negative Wertung des damit Bezeichneten signalisiert und entsprechende Wertungen, Emotionen und Haltungen im Hörer oder Leser auslösen soll. Hier dürfte sich ein wesentlich eindeutigeres Bild ergeben als das für ostdeutsch ermittelte Bild im westdeutschen Sprachgebrauch, das Erdmuthe Schlottke 30 aufgezeigt hat. Nicht immer werden solche Untersuchungen auf so relativ klare Tatbestände stoßen, wie sie bei dem Wort „westdeutsch“ vorliegen. Darüberhinaus sehe ich einige grundsätzliche methodische Probleme: 1) Die Kontexte aus der DDR, die wir untersuchen, erlauben eine Erforschung der Konnotationen zunächst einmal nur auf der Senderseite - vorausgesetzt, man stimmt Dieckmann grundsätzlich zu, daß Konnotationen ü b e r m i t t e l t werden können (durch Texte). Die Reaktion auf der Empfängerseite ist ohne psycholinguistische Tests nicht zu ermitteln. Sie stellen für den Bereich der DDR ein leider unerfüllbares Desideratum dar, sind aber auch im Hinblick auf westdeutsche Empfänger ostdeutscher Texte bisher nicht vorgenommen worden. 2) Die Ermittlung der Konnotationen auf der Senderseite ist nur aus den umgebenden Wörtern eines vielleicht ausgedehnten Kontextes erschließbar. Allerdings müßten d e s s e n Konnotationen wenigstens annäherungsweise bekannt sein, d.h. ein gemeinsames Vorverständnis über die Inhalte wichtiger Umgebungswörter wird vorausgesetzt. Wir begeben uns damit in die Gefahr des Zirkelschlusses. Es scheint mir daher nicht klar, ob unter den gegebenen Verhältnissen sehr eingeschränkter Forschungsmöglichkeiten ein Weg zur Ermittlung der Konnotationen gefunden werden kann, der die mit vielen Fehlerquellen behaftete Inanspruchnahme des eigenen Sprachgefühls, die Beobachtung der eigenen Reaktionen und Assoziationen vermeidet. Solcher und anderer Fragen ungeachtet scheint mir die Anwendung verbesserter Methoden der Konnotationsforschung auf das Ost-West-Problem eine dringende Ergänzung im Rahmen unseres Arbeitsgebietes zu sein. 30 Erdmuthe Schlottke, Mitteldeutschland - Semantische und psycholinguistische Untersuchungen zur jüngsten Wortgeschichte. (= Münchener germanistische Beiträge Bd. 5), München 1970. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 68 Eine andere Erweiterung freilich scheint mir noch wichtiger zu sein. Unter <140> den drei vorher genannten Beschränkungen der bisherigen Forschungsarbeit ist die auf den Wortschatz der Politik, der Ideologie und der Institutionen sicherlich eine der fragwürdigsten. Auch außerhalb dieses Bereichs gibt es Wörter mit ost-west-unterschiedlicher Verwendungsweise sowie Wörter, die jeweils im Osten oder im Westen unbekannt bzw. ungebräuchlich sind. Ich meine den Bereich, den Reich in seiner Dissertation den Wortschatz der neuen Wirklichkeit 31 genannt hat. Ob der Wortschatz der Institutionen, dem Dieckmann einen eigenen Bereich zuerkennt 32 , noch zu ihm gehört, mag dahingestellt bleiben; an sich sind natürlich auch die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen Teil der neuen Wirklichkeit. Abgestuft folgen dann die Bezeichnungen für die Massenorganisationen und Vereinigungen, für die Behörden auf Landesbzw. Bezirks- und Ortsebene und die ihnen eigentümliche Verfahrenssprache, für die Gliederungen und Gruppen verschiedener Art in Betrieben, Produktionsgenossenschaften und Wohnbezirken usw. Es gehören vor allem dazu die Vielzahl der Namen von Betrieben, von Erzeugnissen der verschiedensten Art, besonders im industriellen Bereich, die Bezeichnungen für die Spezifika ihrer Erzeugung und Verteilung, schließlich auch die Namen bekannter Personen und geographische Namen. Es handelt sich also um einen sehr großen Anteil des täglich gebrauchten Wortschatzes sowohl in Ost wie in West, der zwar oft nicht in Wörterbüchern steht, dafür aber, anders als der Wortschatz der Ideologie und Politik, täglich in aller Munde ist und auch in den von uns aufgenommenen Zeitungstexten zu finden ist 33 . Er verändert sich in Ost wie in West schnell, aber das Neuentstehende ist gewiß nicht gemeinsamer als das Alte. Gewiß kann sich der Angehörige der jeweils anderen Kommunikationsgruppe einen großen Teil der Wörter aus ihrer Bildungsweise erklären; bei einer noch größeren Anzahl <141> hilft der Kontext zum Verständnis. Dennoch kann es für den Verlauf des sprachlichen Kommunikationsvorganges nicht gleichgültig sein, ob ein wesentli- 31 Reich, Sprache und Politik, S. 248f.; hier leider nur an wenigen Beispielen, vornehmlich aus dem Bereich des Sports, erläutert. 32 Vgl. Dieckmann, Sprache in der Politik, S. 50-52. 33 Vgl. den Aufsatz von Hugo Moser, Zum Problem der „neutralen“ Bedeutungen und Neubedeutungen im offiziellen Wortschatz der DDR . In: Sigrid Schwenk (Hg.), Et multum et multa - Festgabe für Kurt Lindner. Berlin-New York 1971, S. 249-255; dort wird an einem Teil unseres Materials erstmalig versucht, den nicht-ideologischen Teil des DDR spezifischen Wortschatzes zu erfassen und zu gliedern. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 69 cher Teil der Wörter ständig erklärungs- und interpretationsbedürftig ist. - Wir haben in der Bonner Forschungsstelle versucht herauszufinden, ob und in welcher Weise eine Scheidung der politisch-ideologischen Wörter von den Wörtern aus dem nicht-ideologischen Bereich der neuen Wirklichkeit möglich ist und zu welchen Ergebnissen man bei einer solchen Scheidung gelangt. Wir sind dabei vom Einzelwort ausgegangen, genauer gesagt, von dem Wortformenindex zum „Neuen Deutschland“ des Jahrgangs 1964, der etwa 29.000 verschiedene Wortformen (bei 182.000 lfd.Wörtern) enthält. Fünf unserer studentischen Hilfskräfte, alles Germanistikstudierende, die das „Neue Deutschland“ kennen, hatten die Aufgabe, aus dem Index alle ihrer Meinung nach bei uns ungebräuchlichen oder unbekannten Wörter anzukreuzen und diese zu klassifizieren nach folgenden vier Gesichtspunkten: 1) Wörter aus dem politisch-ideologischen Bereich, 2) Wörter aus dem nicht-ideologischen Bereich der sogenannten neuen Wirklichkeit, 3) Wörter aus beiden Bereichen zugleich (Mischung) und 4) solche Wörter, die so unbekannt sind, daß sie ohne Kontext nicht klassifizierbar sind. Obwohl jeder der fünf Studenten einen eigenen Band des Index für sich bearbeitete, waren die Relationen der Auszählungen bemerkenswert ähnlich, es genügt daher, wenn ich das Endergebnis mitteile. Insgesamt wurden 3.100 = 10,7% der Wörter als bei uns ungebräuchlich oder unbekannt angekreuzt, davon allein fast 1.700 als ganz unbekannt und daher nicht entscheidbar. Eine Stichprobe ergab, daß fast 90% dieser 1.700 Wörter Personennamen oder geographische Namen waren (z.T. ausländische), mit denen unsere Studenten begreiflicherweise ohne Kontext nichts anzufangen wußten. Die restlichen 10%, also rund 170 Wörter, gehörten in den nicht-ideologischen Bereich der neuen Wirklichkeit. Als aus dem politisch-ideologischen Bereich stammend wurden 401 Wörter angekreuzt, aus dem Bereich der neuen Wirklichkeit stammend 653 und aus beiden Bereichen zugleich stammend 350. Mit den 170 Wörtern aus der Gruppe 4 ergibt sich für die Wörter der Gruppe 2 (Bereich der neuen Wirklichkeit) eine Summe von rund 800, sie liegt damit doppelt so hoch wie die Summe der Wörter aus dem politisch-ideologischen Bereich. Was die große Zahl <142> der unbekannten Namen betrifft, so würden unsere Studenten sicherlich auch im Index der „Welt“ eine ganze Reihe von Namen finden, mit denen sie nichts anzufangen wissen. Dennoch erscheint es mir nicht gleichgültig, ob von 100 Namen 80 oder nur 30 als völlig unbekannt klassifiziert werden. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 70 Nun ist es noch die Frage, wie weit diese Zahl der bei uns ungebräuchlichen oder unbekannten Wörter psychologisch ein Fremdheitsgefühl und sprachlich eine Behinderung der Verständigung hervorrufen muß. Der Einwand, der hier erhoben werden muß, ist klar: vor ähnlichen Problemen steht schon die Hausfrau, die von Hamburg nach München zieht; sie wird von heute auf morgen mit einer Unzahl neuer und unbekannter Bezeichnungen für Dinge des täglichen Gebrauchs konfrontiert. Zieht sie noch ein wenig weiter nach Österreich, so kommt der ebenfalls spürbar andere Wortschatz der Institutionen und der Verwaltung hinzu. Niemand nimmt das besonders tragisch oder wird eine ernsthafte Gefährdung der Verständigung behaupten wollen. Einen ähnlichen Einwand kann man selbstverständlich auch gegenüber den Unterschieden in der Sprache der Ideologie und Politik geltend machen: der Angehörige der linken Außerparlamentarischen Opposition hat, was die Bedeutungen seines politisch-ideologischen Wortschatzes betrifft, nicht allzuviel Gemeinsamkeiten mit einem CSU-Vertreter; und schließlich läßt sich auch für den Bereich der Konnotationen vermuten, daß schon zwischen Alt und Jung, zwischen den verschiedenen Generationen erhebliche Unterschiede auftreten werden. Jedes der drei divergierenden Phänomene - die Unterschiede im Bereich der Ideologie und Politik, insbesondere die Polysemie, die vielen unbekannten Wörter im Bereich der nichtideologisch bedingten neuen Wirklichkeit, der unklare Einfluß unterschiedlicher Konnotationen, - sie alle können, für sich genommen, mit Recht als relativ harmlos, ihr negativer Einfluß auf die Verständigung als gering bezeichnet werden. Das Besondere ist nur, daß sie im Rahmen des deutschen Ost-West-Problems kumuliert und dazu unter erheblich erschwerten Kommunikationsbedingungen auftreten. Könnte eine solche Häufung nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ eine neue Form von Verständigungsschwierigkeiten mit sich bringen? Oder anders und allgemeiner gefragt: wie stark und womit, in welcher Weise kann man einen sprachlichen Kom- <143> munikationsvorgang belasten, bis er zusammenbricht? Wie weit ist die Akzeptabilität eines Textes - sagen wir: der Grad seiner Fremdheit oder Vertrautheit - von Wortschatzdifferenzen abhängig, und wovon sonst noch? Gibt es eine Möglichkeit, den Fremdheitsgrad von Texten zu messen und einen Grenzwert festzulegen, bei dessen Überschreitung ein Text nicht mehr verstanden wird? Und wie variieren diese Grenzwerte in Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 71 verschiedenen Kommunikationssituationen 34 ? Sinnvollerweise sollte eine solche Fragestellung ergänzt werden durch die psychologische Frage nach den Reaktionen der Kommunikationspartner bei einem bestimmten Fremdheitsgrad oder bei Zusammenbruch der Verständigung: wann und unter welchen Bedingungen wird aus dem Unsicherheitsgefühl Desinteresse, wann Resignation oder Aggression, wann Ironie und Hochmut? Daß solche auf dem Erlebnis sprachlicher Fremdheit beruhenden Emotionen von höchster politischer Relevanz sein können, daß sie im Sinne eines Rückkopplungseffektes wiederum die Verständigung und die Verständigungsbereitschaft entscheidend beeinflussen können, liegt auf der Hand, insbesondere dann, wenn Versuche des Verstehens oder der Verständigung wiederholt gescheitert sind. Es muß dabei berücksichtigt werden, daß solcher als fremd empfundener, weil in seinem Zusammenhang nicht durchschauter Sprachgebrauch besonders dann, wenn er als „östlich“ erkannt wird, hier oft auf Vor-Urteile trifft, welche die evozierten Reaktionen von vorn herein in einer bestimmten Richtung oder im Sinne einer Intensitätsveränderung beeinflussen. Und es gehört zum Handwerk der Propagandisten und Agitatoren auf beiden Seiten, diese eingefahrenen Bewertungs- und Reaktionsmuster mit Hilfe geeigneter Reizwörter auszunutzen, um bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen auszulösen - mit sehr unterschiedlichem Erfolg allerdings. Immer noch reagieren manche Leute auf das sogenannte Parteichinesisch, ja selbst auf [nur] scheinbar östliche Reizwörter wie der Stier auf das rote Tuch - undifferenziert und blindwütig, aber ganz im Sinne des geschickten Matadors. <144> Gerade auch in Anbetracht der beim ost-westlichen Kommunikationsprozeß wirksamen psychologischen Faktoren müssen wir uns meines Erachtens fragen, wie lange man bei der Arbeit an unserem Thema die rein konstatierend-deskriptive Rolle des Linguisten durchhalten kann. Mit jeder Veröffentlichung, mit jedem Vortrag, mit jeder Antwort auf Anfragen nehmen wir Einfluß auf das Bewußtsein von der sprachlichen Situation und damit auf die sprachliche Situation selbst, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Schule und Öffentlichkeit übernehmen unsere Thesen und Ansichten, die zu- 34 Die in den USA entwickelten Formeln für Verständlichkeitsmessungen, z.B. die sog. Flesch-Formel oder die von Farr, Jenkins und Paterson entwickelte scheinen mir anwendbar zunächst nur auf Angehörige solcher Großgruppen, in denen Sprachgemeinschaft gleich Kommunikationsgemeinschaft ist. - Einen Überblick über die einschlägige Literatur und die Forschungslage gibt Peter Teigeler, Verständlichkeit und Wirksamkeit von Sprache und Text. (= Schriftenreihe Effektive Werbung, 1. Folge), Stuttgart o.J. (1968). Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 72 nächst für die wissenschaftliche Diskussion bestimmt waren, häufig bereitwillig als der Weisheit letzten Schluß. Man sollte sich einmal fragen, ob man diese Art der unsystematischen, zufälligen, ungewollten Beeinflussung des öffentlichen Bewußtseins und der sprachlichen Situation selbst noch verantworten kann, ob man sie nicht durch eine vor allem in Hinblick auf die Schulen pädagogisch geprüfte und verantwortbare Art der Information, Aufklärung und Anleitung ersetzen müßte; d.h. durch eine Art der Aufklärung, deren Ziel letztlich nicht bloß die Kenntnis von Bezeichnungs- und Bedeutungsunterschieden ist, sondern die Stärkung von Verständigungsbereitschaft. Ich knüpfe damit an meine Bemerkungen im vorigen Referat an: Wie der Kommunikationsprozeß verläuft, ist eben doch nicht nur eine Frage ausreichender Sachinformationen, sondern auch eine Frage der Haltung des einen Kommunikationspartners gegenüber dem andern, z.B. seiner Bereitschaft, mit Kommunikationskonflikten fertig zu werden, sie zu verarbeiten. Wenn es richtig ist, daß jede Gruppe und auch jeder Einzelne tendenziell dazu neigt, sein System, seine Interpretations- und Reaktionsmuster zu stabilisieren und möglichst nicht infrage stellen zu lassen, dann kann es eine pädagogisch notwendige Aufgabe sein, diese Tendenz zur Selbststabilisierung zu durchbrechen, indem man den Einzelnen (und die Gruppe) bewußt Kommunikationskonflikten aussetzt - und ihm zugleich Hilfen gibt, sie zu bewältigen. Bloße Faktenübermittlung erreicht dies nicht; sie kann nicht verhindern, daß aus bloß oberflächlich bewältigten Kommunikationskonflikten neue Abkapselungen entstehen, die wiederum die Tendenz entwickeln können, mittels gesellschaftlich-politischer Konflikte die <145> verdrängten Kommunikationskonflikte zu überwinden. Ich will nicht behaupten, daß es zu einem Abbruch der Kommunikation kommen muß und daß er solche Folgen haben muß. Ich will auch nicht umgekehrt behaupten, daß gesellschaftlich-politische Konflikte vermieden werden können oder nur sollen, solange und weil man kommuniziert. Ich will damit nur darauf hinweisen, daß mit der eminenten gesellschaftlich-politischen Relevanz einer wie auch immer konfliktreichen sprachlichen Kommunikation zwischen Ost und West eine ebensolche gesellschaftlich-politische Verantwortung derer korrespondiert, die durch ihre Forschung die Möglichkeiten ost-westlicher Kommunikation (und das öffentliche Bewußtsein von diesen Möglichkeiten) wesentlich mit beeinflussen, und daß wir nach Wegen suchen sollten, wie wir dieser Verantwortung mit unseren Mitteln entsprechen können. <146> Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 73 D i s k u s s i o n (Leitung: Th. P e l s t e r ) K o r l é n : Der Vortrag war wohl in der prinzipiellen Haltung eine Bestätigung der Aussage von Herrn Betz, der einmal gesagt hat: wenn schon von verschiedenen Sprachen die Rede ist, dann müsse man nicht von zwei deutschen Sprachen, sondern von Dutzenden von Sprachen reden. Man dürfte dann allerdings auch nicht vom „westdeutschen Leser“ sprechen, denn d e n westdeutschen Leser gibt es natürlich nicht, sondern auch hier müßte man sagen, es gibt Dutzende von Lesergruppen. Insofern war ja das Experiment außerordentlich interessant, das Sie mit den fünf Studenten gemacht haben, nur müßte man natürlich viel mehr solcher Untersuchungen durchführen. Da würde ich doch meinen, daß man zur Kontrolle auch die österreichische Perspektive, die Sie angeschnitten haben, berücksichtigt; man sollte einige gut ausgewählte österreichische Texte, z.B. politische Texte, in ähnlicher Weise verschiedenen Lesergruppen zur Beurteilung unterstellen. Ich könnte mir denken, daß bei vielen Kontrollgruppen der prinzipielle Unterschied in der Bewertung im Ergebnis vielleicht nicht so sehr groß sein wird. Noch eine letzte Bemerkung: Ich habe mit großem Vergnügen Ihren Hinweis notiert, daß das Fehlen einer marxistisch-leninistischen Debatte in der Bundesrepublik in den 50er Jahren bis weit in die 60er Jahre die Problematik erschwert hat. Es zeigt sich also, daß die aus demokratischer Sicht höchst bedenklichen Entscheidungen der Adenauerära, die KPD zu verbieten, auch sprachwissenschaftlich verhängnisvoll waren. S t o l t : Nur ganz kurz: Ich habe bei Kontrolluntersuchungen an westdeutschen Zeitungen in ähnlicher Weise untersucht, ob uns ein Wort ohne Kontext unbekannt oder unerklärlich war, und auch Karl-Heinz Daniels hat an seinen Studenten festgestellt, daß ein hoher Prozentsatz von Wörtern schon in den westdeutschen Zeitungen unbekannt war, von den österreichischen und ostdeutschen ganz abgesehen. <147> Z e i t t e r : Die Diskussion bewegt sich jetzt doch wieder auf der Textebene. Was da ausgetauscht wird, sind aber weitgehend keine Texte, sondern Sendungen von Massenkommunikationsmitteln. Wenn also beispielsweise die Bürger der DDR westdeutsche Rundfunksendungen hören oder westdeutsche Fernsehsendungen sehen, dann ergeben sich doch daraus sehr spezielle Kommunikationsvorgänge, deren Wirkung auf dieses Verständigungsproblem meines Wissens nie untersucht worden ist. Ich möchte zwei oder drei Fragen Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 74 nur schlicht in den Raum stellen: Was bewirkt beispielsweise bei der Rundfunksendung die Verlesung eines Textes durch einen gewissen Sprecher? Inwiefern gehen Sprechercharakteristiken, auf die der Hörer, das wissen wir, in der Regel emotional reagiert, ein in die Adaption des Textes? Die Auswahl des Sprechers ist ja in Rundfunkanstalten ein durchaus bewußt gehandhabtes Mittel der Beeinflussung. Dann die Frage des Bild-Ton-Transportes, wo also die Person schon aufgebaut wird aus dem Bildeindruck u n d aus dem Toneindruck; man muß bedenken, was das bedeutet. Dann die Tatsache, daß sowohl bei der Fernsehsendung wie bei der Rundfunksendung die Kommunikation einkanalig erfolgt; die Möglichkeit der Antwort ist nicht gegeben, die Antwort wird verinnerlicht. Der Hörer antwortet natürlich doch, aber wie? Praktisch erfolgt Schlagabtausch oder Kommunikation über die Grenzen hinweg immer einkanalig; es antwortet also eigentlich keiner dem andern. Diese von der üblichen Gesprächssituation so sehr abgehobene Situation müßte eigentlich in solche Frageansätze eingehen. H e l l m a n n : Zunächst möchte ich Herrn Korlén danken für seine Feststellungen, insbesondere zur Frage des Fehlens einer marxistisch-leninistischen Diskussion in den 50er und 60er Jahren. Zu Frau Stolt: sicher sollten wir österreichische und auch schweizerdeutsche Kontrolltexte heranziehen, wir haben das auch geplant, nur sind wir bisher nicht dazu gekommen. Daß ich diese Untersuchungen mit Hilfe der fünf Studenten nicht auch am Index der WELT vorgenommen habe, liegt einfach daran, daß zu der damaligen Zeit kein vergleichbarer WELT-Index vorlag. Vielleicht können wir diese Untersuchungen nachholen. Dann müßte sich, sofern wir genügend Personal bekommen, eine Untersuchung österreichischer und schweizerischer Kontrolltexte anschließen. Zu Herrn Zeitter: Ich stoße <148> mich etwas an dem Begriff „Austausch von Sendungen“: in beiden Richtungen ist die Kommunikation nur einkanalig möglich. Zwar hört ein sehr großer Teil der DDR- Bevölkerung - so ist mir jedenfalls gesagt worden - westdeutsche Rundfunk- und Fernsehsendungen, aber nur ein ganz geringer Bruchteil von Westdeutschen hört und sieht ostdeutsche Sendungen. Insofern könnte man die Wirkung westlichen Sprachgebrauchs nur an östlichen Hörern kontrollieren, wobei wir an die DDR-Testpersonen eben leider nicht herankommen; immerhin könnten DDR-Wissenschaftler dies tun. Umgekehrt ist eine solche Untersuchung in größerer Breite in der BRD nicht möglich; die Beschäftigung mit östlichen Sendungen, insbesondere mit Fernsehsendungen findet de facto in der Bundesrepublik überwiegend in Form von Seminaren, Wochen- Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 75 endtagungen und dgl. statt, von denen aber nur ein sehr kleiner Teil von Schülern und Lehrern usw. erfaßt wird. Herr Syring kann uns Näheres berichten. Unter solchen Umständen vernünftige Testreihen aufzubauen, halte ich für sehr schwierig, abgesehen davon, daß wir als Linguisten dazu unbedingt die intensive Zusammenarbeit etwa mit Psychologen und Kommunikationsforschern brauchen. Bei Zeitungstexten liegt der Fall gerade umgekehrt: es gibt in der DDR keine westdeutschen Zeitungen, wohl aber gibt es marxistische Periodika in der BRD, und es wäre auch ohne weiteres möglich, einer großen Zahl von Testpersonen etwa das ND vorzulegen. D i e c k m a n n : Ich sehe eine gewisse Schwäche Ihres Referates darin, daß der Unterschied zwischen den Verständigungsschwierigkeiten, die heute, hier und jetzt, vorliegen, und den Prognosen auf eventuelle Situationen nicht ganz auseinandergehalten ist. Auf der einen Seite hat Herr Hellmann mit Recht gesagt, daß das Bedeutungsspektrum der Wörter sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik sehr groß ist, und er hat die Hamburger Hausfrau, die nach Österreich zieht, angeführt: Verständigungsschwierigkeiten ergeben sich zwar - sie werden aber nicht tragisch genommen; es gibt Verständigungsschwierigkeiten zwischen Apo und Ahlers oder zwischen Physiker und einem Laien - sie werden nicht tragisch genommen. Nun, ich wage zu behaupten, daß die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ost und West heute, zu diesem Zeitpunkt, von <149> diesen erwähnten Unterschieden nicht qualitativ verschieden sind. Und Sie haben auch nie klar behauptet, daß das so wäre. Sie haben immer darauf hingewiesen: könnte aber nicht qualitativ etwas Neues entstehen? Ich meine, diese zwei Fragen müssen wir strikt auseinanderhalten: Erstens die Frage, welche Verständigungsschwierigkeiten liegen heute vor? Und die zweite Frage: was kann sich daraus entwickeln? Sie sagen, wenn wir zu dem Eindruck kommen, daß heute Ost-West-Verständigungsschwierigkeiten nicht so tragisch zu nehmen sind, dann kann das den Effekt haben, daß wir es versäumen, uns über die Zukunft Gedanken zu machen. Diese Gefahr halte ich für gering deshalb, weil ich weder weiß, wie wir eigentlich über die Zukunft Aussagen machen können, noch weiß, welchen Sinn das haben sollte. Denn daß etwas qualitativ Neues entstehen k a n n , ist unbezweifelbar, aber wie schnell das geht und welches Ausmaß das annimmt, hängt ab von der politischen Hypothese, die Sie langfristig voraussetzen. Wenn Sie z.B. davon ausgehen, daß tatsächlich ein „Eiserner Vorhang“ herunterfällt, daß es keinerlei außersprachliche Kommunikationen gibt, und Sie warten - nehmen wir an - 200 Jahre oder 300, dann ist ganz klar, was das Ergebnis ist: die Kommunikation ist zusammengebrochen. Wenn Sie davon ausgehen, daß es eine Entspan- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 76 nung gibt und daß ein geschriebenes oder gesprochenes Wort einfacher und schneller von einer Seite zur anderen geht, dann können wir ziemlich sicher spekulieren, daß etwas qualitativ Neues nicht entstehen wird. Ich weiß nicht, wie die Sprachwissenschaft da überhaupt spekulieren kann. Und zweitens: was hätte es für einen Sinn, wenn wir nun tatsächlich feststellen an Hand der vorliegenden Tendenzen, in welcher Richtung das weitergeht? Lassen wir den Unsicherheitsfaktor der politischen Hypothese bei Seite, dann kommen wir vielleicht zu dem Ergebnis: in 50 oder in 100 Jahren wird es wirklich sehr schwierig sein; die Kommunikation wird zusammenbrechen. Was fangen wir damit an? Was kann der Sprachwissenschaftler nun tun dagegen? Denn offensichtlich ist Ihre Aufforderung doch, daß die Sprachwissenschaftler irgendetwas dagegen tun sollen. Die guten Ratschläge von Sprachwissenschaftlern ändern aber an der politischen Situation nichts. Das einzige, was der Sprachwissenschaftler tun könnte, wäre, die westdeutsche Bevölkerung aufzufordern, eifrig DDR-Zeitungen und Fernsehen zur Kenntnis zu nehmen. Ich muß noch auf die „wachsenden Verständigungsschwierigkeiten“ zurückkommen. Ich sehe keinen Widerspruch darin, wenn ich von <150> „wachsenden Verständigungsschwierigkeiten“ spreche und auf der anderen Seite sage, das sind keine Sprachprobleme. „Wachsende Verständigungsschwierigkeiten“ heißt ja nicht notwendigerweise sprachliche Verständigungsschwierigkeiten, sondern es kann auch heißen, daß ich von der Sache keine Ahnung habe. Wenn ich z.B. irgendein Landwirtschaftsblatt aus der DDR lese, verstehe ich es nicht, aber wenn ich das entsprechende westdeutsche Äquivalent nehme, dann verstehe ich es auch nicht. Jedenfalls in solchen Fachgebieten besteht kein Unterschied, ob ich westdeutsche oder ostdeutsche lese; ich verstehe sie in keinem Fall. Noch eine dritte kurze Bemerkung zur Polysemie, und zwar zu der Variante, daß der westdeutsche Hörer die ihm gewohnte Bedeutung in ein Wort hineinlegt, obwohl sie vom DDR-Sprecher anders gemeint ist, oder daß er zwar merkt, daß etwas anderes gemeint ist, aber nicht weiß, welche realisiert ist. Sie sagten darauf, daß man den westdeutschen Leser nicht für so dumm halten muß, daß er etwa keine Ahnung hätte, daß im Grunde die andere Bedeutung gemeint worden ist. Das folgende ist zwar problematisch, aber ich habe wirklich den Eindruck, daß viele Äußerungen des Inhalts: „ich verstehe das nicht“ im Grunde bedeuten: „ich will das nicht verstehen“; daß viele nicht wahrhaben wollen, daß Freiheit und Demokratie auch noch in einer anderen Bedeutung gebraucht werden kann, daß ein Wortgebrauch möglich ist, der nicht dem eigenen entspricht. Das sind psychologische Probleme. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 77 P e l s t e r : Herr Dieckmann, kann es nicht auch umgekehrt sein, daß viele meinen, sie verstehen es, und sie verstehen es doch nicht? D i e c k m a n n : Auch das ist möglich. K o r l é n : Nur eine Zwischenfrage: Wenn Sie hier den Sprachwissenschaftlern das Recht bestreiten, Hypothesen in bezug auf zukünftige Entwicklungen aufzustellen, bedeutet das, daß Sie überhaupt die Berechtigung der futurologischen Wissenschaft bestreiten ? D i e c k m a n n : Sie können so verfahren, nur in unserer speziellen Situation nicht. <151> B a r t h o l m e s : Ist es nicht auch umgekehrt möglich, daß Leute Begriffe, nach denen man sie fragt, zwar verstehen, aber nicht die Möglichkeit haben, sie zu definieren? Das war ja auch bei den Untersuchungen von Müller 1 der Fall. R ö m e r : Es wird immer noch hier und weiterhin vom Ost-West-Problem gesprochen. Die Methode begann ja erst, ihre Wahrheit zu bekommen, als diese Sache aufkam mit der „Sprache im geteilten Deutschland“. Da gingen die Wissenschaftler davon aus, daß der westdeutsche Sprachgebrauch die Normalsprache war, und da tat sich für sie plötzlich drüben etwas ganz Neues auf, wovon sie früher eben nicht Kenntnis genommen hatten. Das ging ja so weit - es wurde eben das KPD-Verbot erwähnt - daß offenbar der Marxismus in aller Welt bekannter war als in Bonn, Trier und Wuppertal. Nun hat sich das ja geändert, der Marxismus ist hier ins Gespräch gekommen, und es ist nur in spezieller Weise ein Ost-West-Problem, weil Deutschland geteilt ist. In Frankreich und in Italien bestehen große kommunistische Parteien; dort ist dieses Problem nie so aufgekommen. Ich würde zu Herrn Dieckmann sagen, es kann zu einem Kommunikationsverlust kommen, aber nicht zu einem Kommunikationszusammenbruch, denn dann müßten ja zahlreiche Kommunikationszusammenbrüche auf der Welt zu verzeichnen sein. Man weiß ja meist doch, was der andere will, und wenn schon Kommunikationszusammenbrüche, so haben wir sie, das wurde auch schon von Herrn 1 Müller, Hans: Ursprung und Geschichte des Wortes Sozialismus. Hannover 1967. Vgl. ferner: Hennig, Eberhard: Schulbildung und Fremdwortkenntnis. In: Sprachdienst, Jg. 12, H. 1, 1968, S. 3-12; Hahn, Walter: Linksruck ist für mich an sich ein Fremdwort. In: Colloquium, Jg. 13, H. 7, 1959, S. 8-11. Für den Bereich der DDR vgl. Kaden, Walter: Fremdwortgebrauch und Fremdwortkenntnis. In: Sprachpflege, Jg. 19, H. 10, 1970, S. 193-197. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 78 Dieckmann erwähnt, auch hier im Westen: die Frankfurter Schule und die sogen. Aufklärer schreiben ja in einer Sprache, die kaum die Intellektuellen verstehen. Ich meine, wir müssen uns im Blick halten, daß das kein reines Ost-West-Problem mehr ist. Ich will nicht sagen, daß das Institut jetzt zum Universalinstitut zur Erforschung von Ideologiesprache gemacht werden müsse, aber an sich müßten natürlich auch die KP-Blättchen hier in der Bundesrepublik mit in den Blick gezogen werden; wir müssen weg von der Ost- <152> West-Konfrontation, wir müssen wissen, daß es eine besondere Konstellation durch die Teilung Deutschlands gibt, aber als ein Unterphänomen eines weltweiten Phänomens. K o r l é n : Eine Randbemerkung für Frau Römer: Ich glaube, Sie überschätzen die Kenntnisse des Marxismus außerhalb von Wuppertal. In einer germanistischen Staatsexamensprüfung an einer schwedischen Universität vor einigen Wochen wurden auf die Frage: wer war Karl Marx? unter anderem folgende Antworten gegeben: „Mitarbeiter Lenins“; „der Gründer des Kapitalismus“; „lebte in Ostdeutschland und schrieb ‘Mein Kampf’“. H e l l m a n n : Herr Dieckmann, Sie meinen, es sei einigermaßen sinnlos, über die zukünftige Entwicklung zu spekulieren, Sie meinen außerdem, Sie sehen darin keinen Widerspruch, wenn Sie sagen, daß die Verständigungsschwierigkeiten wachsen. Ich meine, Sie hätten da ein bißchen abgelenkt, wenn Sie das Problem auf die Fachsprachen verschieben. Natürlich verstehen Sie die Fachsprache der Landwirtschaft zunehmend weniger, weil sie sich allmählich zu einer verwissenschaftlichen Fachsprache entwickelt - und das gilt für alle Bereiche, in denen Sie nicht zufällig Fachmann sind. Ein westdeutscher Fachmann für Landwirtschaft wird eine ostdeutsche Zeitschrift für Landwirtschaft immer noch eher verstehen als Sie die westdeutsche Zeitschrift für Landwirtschaft. Ein ostdeutscher Physiker wird die westdeutsche Zeitschrift für Physik besser verstehen als Sie die westdeutsche Zeitschrift für Physik. Also, das Problem der Fachsprachen kann man in diesem Zusammenhang wohl nicht als Beispiel heranziehen, und ich meine, Sie hätten es auch gar nicht so gemeint. In Ihrem Buch schreiben Sie ausdrücklich von den wachsenden Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ost und West, und da war in dem Zusammenhang von Fachsprachen nicht die Rede, sondern durchaus vom allgemeinen Sprachgebrauch. Sie fragen nun, erstens, wie können wir das feststellen, und zweitens, was nützt es uns, wenn wir festhalten können, wann etwa die Kommunikation zusammenbräche. Nun, die Frage nach dem Zeitraum ist vielleicht wirklich kaum zu beantwor- Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 79 ten. Zunächst frage ich nach den B e d i n g u n g e n , unter denen Kommuni- <152> kation im öffentlichen Bereich überhaupt zustandekommt bzw. behindert oder erschwert wird bis zum Zusammenbruch, und speziell die nur durch Medien vermittelte „einkanalige“ Kommunikation zwischen Großgruppen in Ost und West, und ich frage auch nach den möglichen psychischen und sozialen Folgen solcher Erschwerungen. Und dann möchte ich wissen: welche Bedingungen liegen denn gegenwärtig vor, und wie verlaufen unter den gegebenen Bedingungen jetzt schon die Trends in Ost und West. Ich meine, dies sei doch wichtig, und dies könnten wir auch mit unserem Instrumentarium, wenn wir es etwas besser entwickeln, doch wenigstens teilweise beantworten. Eine Schwierigkeit liegt natürlich auch darin, daß niemand von uns bisher systematisch diachronisch gearbeitet hat. In der Tat kann man keine Aussagen über zukünftige Entwicklungen machen, wenn man die bisherige Entwicklung nicht als Entwicklung beschrieben hat. Es wären da also etwa zeitlich geschichtete Querschnitte durch die Sprachgebräuche verschiedener Jahre in Ost und West denkbar. Ich glaube, es wäre so grundsätzlich möglich, tendenziell festzustellen, in welchen Bereichen sich Differenzierungserscheinungen bemerkbar machen, in welcher Richtung und mit welcher Geschwindigkeit sie voranschreiten; - Untersuchungen, die z.B. durch Frequenzuntersuchungen unterstützt werden können. Man wird auch das Problem verschiedener Gruppen berücksichtigen, Gruppen z.B. mit sehr verschiedenem Informationsstand und unterschiedlicher Kommunikationsbereitschaft. Natürlich wird man dann im Modell die außersprachlichen Bedingungen variieren; man wird z.B. die Gegenwirkung einer verbesserten Kommunikation über Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen oder über einen vielleicht wachsenden Austausch von Besuchern in Rechnung stellen; es muß aber auch berücksichtigt werden, was passiert, wenn die Durchlässigkeit der Grenzen nicht steigt, sondern vielleicht sogar sinkt. Alle diese Faktoren spielen eine Rolle, und wir müssen uns darüber im Klaren sein, daß wir vielleicht nicht alle Faktoren erfassen. Das braucht uns aber nicht zu hindern, Aussagen zu machen über zu erwartende Entwicklungen mit einem bestimmten, mehr oder weniger angebbaren Grad an Wahrscheinlichkeit. Wir werden sicherlich nicht sagen können, in soundsoviel Jahren wird bei den und den Gruppen ein Verständigungszusammenbruch eintreten, wenn sie <154> mit dem Partner auf der anderen Seite kommunizieren wollen. Aber man wird wohl sagen können, unter definierten Bedingungen wird mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in einem bestimmten Zeitabschnitt die Verständigungsmöglichkeit bis zu einem gewissen Grade wachsen oder sinken. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 80 Dazu gehört allerdings, daß man diese Verständigungsschwierigkeiten irgendwie skalieren kann. Dazu fehlen uns bislang die Kriterien, aber ich glaube, das ist nicht unüberwindbar. In dem Zusammenhang möchte ich auf Frau Römers Einwand eingehen: Natürlich darf man das sprachliche Ost- West-Problem nicht verabsolutieren; es gehört in den größeren Rahmen der Sprachanwendung im öffentlichen, im politisch-ideologischen Bereich. Ich sehe aber das spezifisch deutsche Problem darin - und damit komme ich auch auf meine Hypothese der qualitativen Unterschiedlichkeit dieses Problems zu sprechen -, daß nicht, wie in anderen Sprachgemeinschaften, etwa in Frankreich, die Auseinandersetzung jederzeit innerhalb einer großen Kommunikationsgruppe stattfinden kann, sondern daß zu der geographischen Trennung, die natürlich ihre Konsequenzen hat in bezug auf Informationsaustausch, Gesprächsmöglichkeiten, gemeinsamen Erfahrungshorizont usw., eben die politisch-ideologische Trennung tritt und die Differenzierung des täglichen Lebens und damit auch des dazugehörigen Wortschatzes. Ich möchte meine Frage deswegen doch nicht für so ganz irrelevant halten, was passiert, wenn diese Unterschiede, die in anderen Sprachgemeinschaften durchaus einzeln auch vorkommen, im deutschen Sprachraum unter den Bedingungen eingeschränkter Kommunikation nun kumuliert auftreten? D i e c k m a n n : Den Hinweis auf die Fachsprachen habe ich gewählt, weil es da so offensichtlich ist. Ich habe natürlich beim Stichwort Landwirtschaft an Riemschneider 2 gedacht, der sich so wundert, daß ihm vieles unbekannt ist; ich meine, zu Unrecht wundert, er hätte sich eben entsprechende westdeutsche Texte nehmen sollen, er hätte festgestellt, daß er genau so wenig versteht. Aber gehen wir mal weg von den Fachsprachen. Ich würde dasselbe behaupten für die Ideologiesprache und <155> für die Institutionsbezeichnungen. Sie konzentrieren Ihren Blick darauf, daß die Bevölkerung z.B. nicht weiß, was etwa Volkskammer usw. heißt, aber wenn Sie mal Ergebnisse von Meinungsumfragen lesen, da antworten die Leute, wenn gefragt wird: was ist der Bundestag? „das oberste Organ des Deutschen Fußballbundes“. Also unter den Leuten „auf der Straße“ sehe ich keinen qualitativen Unterschied in den Verständigungsmöglichkeiten, nicht mal in der Institutionensprache. - Das zweite war die Frage der Ermittlung von Tendenzen. Wenn Sie davon ausgehen, daß der gegenwärtige politische Zustand in den nächsten 100 Jahren ungefähr so bleiben wird, dann können Sie vielleicht 2 Riemschneider, Ernst G.: Veränderungen der deutschen Sprache in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands seit 1945. = Beiheft Nr. 4 zum Wirkenden Wort, Düsseldorf 1963. Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 81 mit einiger Wahrscheinlichkeit Aussagen machen über den Zustand, wie er in 100 Jahren etwa sein wird. Sie können vielleicht sagen: wenn die Entwicklung in den bisherigen 20 Jahren so weit gegangen ist, dann ist eine bestimmte Zunahme zu erwarten oder so. Nur meine zweite Hauptfrage war: was haben Sie dann gewonnen? Was machen Sie dann damit? H e l l m a n n : Ich glaube, ich bin am Anfang meines Referates auf diese Frage eingegangen. Die Antwort hängt in der Tat davon ab, ob man sprachliche Einheit oder Einheit der Sprachgemeinschaft als einen Wert betrachtet oder nicht. Wenn man das bejaht, dann wird man natürlich nach der Feststellung, es sind diese und jene Differenzierungen, Kommunikationsschwierigkeiten und Verständigungsschwierigkeiten zu erwarten, sagen, dagegen müssen wir etwas tun. Geht man davon nicht aus, sagt man, das ist mir egal, dann hat die Feststellung weitgehend nur akademischen Wert; dann können Sie mit recht sagen: was soll mir das. W i e g a n d : Zur Diskussion zwischen Herrn Hellmann und Herrn Dieckmann: Ich glaube, die beiden Herren reden aneinander vorbei. Zunächst zum Terminus ‘Sprachspaltung’: solange in Ostdeutschland und Westdeutschland nicht nach verschiedenen Regeln generiert wird, kann man von Sprachspaltung überhaupt nicht sprechen. - Zum ersten Beispiel Ihres Referates: Wenn sich jemand drüben fremd fühlt, dann heißt das meines Erachtens, daß er die Sprache dort lernen muß. Das können Sie allerdings nur dadurch, daß Sie die Sprache dort in der jeweiligen Situation lernen und daß Sie erleben, welche Inhalte den einzelnen Wör- <156> tern zuzuordnen sind. Das können Sie nicht durch Zeitunglesen. Da bleiben manche Zeichen für Sie nur Ausdrucksseite; die Inhaltsseite bleibt unklar. Wenn freiheitlich nicht definiert wird in der Zeitung, dann wissen Sie nach wie vor nicht, was Freiheit ist. Sie müssen spezifische Definitionen, die z.B. in Wörterbüchern gegeben werden, oder aber Zeitdefinitionen oder Situationen erleben, in denen die Wörter gebraucht werden. - Dann halte ich das Abdrängen auf die Fachsprache und auch die Heranziehung dieser falschen Erklärung für Bundestag für unsinnig wie auch den Begriff der ‘pathologischen Polysemie’. Nehmen wir mal das Wort Freiheit. Das ist hier in Westdeutschland sicher polysem. Dann gibt es noch eine andere Polysemie, die ist einer anderen Sprachgruppe zuzuordnen. Unter dem Gesichtspunkt desjenigen aber, der als Ideologe spricht, ist das Wort monosem, denn er will gerade die eine Bedeutung durchsetzen. Also vom Sprachwissenschaftler aus ist das Wort polysem, von einem bestimmten Benutzer aus ist es auch mono- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 82 sem, wenn er es ideologisch gebraucht, es kann aber auch von einem anderen Benutzer wieder polysem gesehen sein, denn er verfügt noch über mehrere Bedeutungen. ‘Pathologische Polysemie’ ist also nichts anderes als der Fall, daß zwei Monosemien gegeneinander stoßen und dann die Verständigung gestört ist. ‘Pathologisch’ würde ich das nicht nennen. Mit dem Problem der Fachsprache hat das gar nichts zu tun. Und wenn da einer der Bezeichnung Bundestag die Bedeutung ‘oberstes Organ des Fußballbundes’ zuordnet, dann ordnet er was zu, was in der Sprachgemeinschaft nicht üblich ist und begeht damit eine Dummheit; das ist ganz etwas anderes, als wenn drüben jemand Freiheit einen anderen Inhalt zuordnet als den, der hier allgemein gebraucht wird. Dann zu dem Projekt, wo Sie Studenten befragten, was die Wörter einer Wortliste bedeuten: Wörter sind nun mal nur im Kontext monosem. Ich sehe den Sinn der Sache nicht ganz ein. K o r l é n : Wir haben in Schweden schon seit längerem erkannt, daß wir unseren Schülern auch, sagen wir, das Bezugsfeld beibringen müssen. Die sprachlichen Strukturen können wir ihnen beibringen, aber was damit dann in der sprachlichen Kommunikation zum Ausdruck gebracht werden soll, können die Schweden nicht so ohne weiteres verstehen. Sie <157> müssen also vertraut werden mit dem Land; Gegenwartskunde wird daher heute bei uns stark in den Vordergrund gerückt. Es geht wohl auch nicht, das sehen wir auch in Schweden, um Fachsprachenkunde, eher besteht ja die Gefahr, daß durch einen Abbau des humanistischen Erbes die junge Generation nichts mit der älteren Literatur anfangen kann und natürlich erst recht nichts mit der deutschen Gegenwartsliteratur, wo man ja nicht die Bezugsvorstellungen hat, die für den einheimischen Sprecher völlig verständlich und vordergründig sind. Ich glaube also, daß es sich hier eigentlich um eine pädagogische Frage handelt, daß man auch im Verhältnis Ost-West in der Bundesrepublik sich pädagogisch mit dem Osten auseinandersetzen muß. Vor allem in der Schule, wo, wie Sie schon angedeutet haben, noch sehr wenig getan wird. P e 1 s t e r : Vielleicht muß man die Anregung, Nachhilfeunterricht zu geben, noch verschärfen: zunächst einmal Unterricht geben, und wenn das nicht reicht, dann Nachhilfeunterricht geben. Z e i t t e r : Wir haben jetzt, glaube ich, eine ziemlich vollständige Liste der Trends, die im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zu sprachlichen Divergenzen führen können. Ich möchte nur noch einen Trend ins Gedächtnis rufen, der meines Erachtens zum Gegenteil führt, zu Annäherung, Konver- Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme 83 genz, oder wie immer Sie es nennen mögen: die Unterrichtstechnologie. Wir sind heute in steigendem Maße gezwungen, Lehrgegenstände zu programmieren und Lehrprogramme zu optimieren. Das gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern zunehmend auch für sogenannte hermeneutische Wissenschaftsgebiete: Wenn man solche Tests programmiert, dann wird man schon als Autor gewissermaßen auf einen Universalwortschatz reduziert. Zunehmend wird auch die Forderung gestellt, daß solche Programme konvertibel sein müssen, beispielsweise zwischen der Bundesrepublik und Österreich, vielleicht eines Tages auch zwischen beiden deutschen Staaten. Es könnte sich so etwas wie eine gemeinsame Sprache der Unterrichtstechnologie bilden. Wie es auf denjenigen Gebieten vor sich gehen wird, die hochgradig hermeneutisch sind, ob dort die Mißverständnisse weiterhin bestehen bleiben, weiß ich nicht; aber ich glaube doch, je nach dem Maße, in dem die Unterrichtstechnologie Bestandteil des gemein- <158> bildenden Schulwesens wird und in dem Maße, wie die unterrichtstechnologischen Systeme konvertibel werden, wird auch die Bedeutung dieser Systeme für die Schulsysteme beider Staaten zunehmen und möglicherweise die gemeinsame sprachliche Basis. M o s e r : Ich möchte nur eine Bemerkung machen zu dem, was Frau Römer sagte, und zwar möchte ich diese ersten Versuche in den 50er Jahren von Journalisten oder von Schulgermanisten, wie z.B. Gaudig , ein bißchen in Schutz nehmen. Natürlich, sie sind vielleicht etwas naiv ausgegangen vom westdeutschen Kode, aber ich glaube, so ganz unverständlich ist es nicht, denn sie sind ja praktisch von einem gemeinsamen Kode ausgegangen, der bis 1945 oder 1947 - mit allen sozialen und sonstigen Differenzierungen - bestanden hat. Ich meine, das war wohl so etwa der Ausgangspunkt auch für Gaudig. H e l l m a n n : Nur zu einigen Punkten: Ich glaube, Herr Dieckmann, Sie sind etwas zu absolut, wenn Sie sagen, bei Befragungen der Bevölkerung hat sich herausgestellt, daß die Leute nicht mal wissen, was der Bundestag ist. Sicher kommen völlig unsinnige Antworten, vielleicht weiß wirklich nur 20% der Bevölkerung genauer Bescheid. Entsprechendes gilt auch für einen Großteil der Bevölkerung in der DDR, wenn auch wegen des wesentlich intensiveren gesellschaftspolitischen Unterrichts der Anteil der Informierten sicher höher ist. Trotzdem wird man, und das haben Sie meiner Ansicht nach übersehen, Gaudig, Richard: Zum Deutsch der DDR . In: Muttersprache, Jg. 66, H. 7/ 8, 1956, S. 297- 298; ders.: Die deutsche Sprachspaltung. In: Neue deutsche Hefte, Jg. 5, H. 55, 1958-59, S.1008-1014. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 84 feststellen können, daß auf beiden Seiten auch unter den Informierten höchstens die Hälfte einigermaßen Bescheid weiß über die Bezeichnungen der jeweils anderen Seite. Man muß also doch schon von einem sehr unterschiedlichen Informationsstand ausgehen, der seine Konsequenzen hat für die Kommunikation. Zu Herrn Wiegand: Sie fragen, wozu diese Untersuchungen am Index? Zunächst: ich meine klar gesagt zu haben, daß unsere Studenten den Wörtern im Index keine Bedeutungen zuordnen, <159> sondern sie dem politisch-ideologischen oder dem nichtpolitischen Bereich zuordnen sollten, wenn sie konnten (sie konnten eben oft nicht). Ich bin mir darüber im klaren, daß unser Verfahren methodisch angreifbar ist, es sollte weiter nichts als eine Art von Vorprobe sein. Ich meine nämlich, es gibt Abhängigkeitsrelationen zwischen dem Verständnis von Vokabular und von Texten, weil beides von gewissen gleichen Voraussetzungen abhängig ist: bei beiden spielt die Kenntnis der Sache, bei beiden die Kenntnis der Lebenswirklichkeit eine Rolle, bei beiden der Bildungsstand und das Informationsniveau der befragten Gruppe, die Assoziationsfähigkeit, die Fähigkeit, Fehlendes zu ergänzen usw. Insofern glaube ich, daß man, wenn auch in einer stark unterschiedlichen Relation, aus solchen Indexuntersuchungen gewisse Vorschlüsse ziehen kann auf das, was man zu erwarten hat, wenn man Texte vergleicht. Zum Stichwort „Sprachspaltung“: Sprachspaltung gibt es natürlich nicht; Sie rennen da weit offene Türen ein. Ich habe den Begriff „Sprachspaltung“ in Anführungsstriche gesetzt und habe ihn bezogen auf die Äußerungen in den 50er Jahren. Wir sind uns darüber einig, daß das Problem nicht in einer sogenannten Sprachspaltung liegt, sondern in Verständigungsschwierigkeiten. Damit komme ich nochmals auf Herrn Dieckmann zurück: die Leute, die das Wort Sprachspaltung benutzt haben, gingen von dem Erlebnis aus: ich verstehe das nicht, was ich hier lese, und es ärgert mich; und da kommt jetzt der Punkt, auf den Sie hingewiesen haben: „ich will es auch gar nicht verstehen“. Es geht mir ja nicht bloß um den Mangel an Wissen, den man mit Nachhilfeunterricht beheben könnte. Ich möchte anschließen an einen Satz in der Diskussion, an das Abschalten des Kommunikationspartners als Unsystem. Wenn aufgrund meiner sprachlichen Kompetenz, meines Vorverständnisses, meiner Wertvorstellungen, das, was der Kommunikationspartner mir sozusagen als input eingibt, nun einfach nicht in mein System paßt, dann schalte ich ihn ab, restlos; und darauf bezog sich meine letzte Äußerung: daß man, wenn man die Einheit der Sprachgemeinschaft als Wert ansieht, etwas gegen diese Tendenz zum Abschalten tun müßte. Aus: Gutachten: Zum Stand der DDR - und vergleichenden Deutschlandforschung. Erstattet vom Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung unter Vorsitz von Peter C. Ludz im März 1978. Fünfter Teil: Sprache und Kultur, S. 1034-1073. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bundesministeriums des Innern.] Allgemeine Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung [Einleitender Abschnitt zur Situation in der Literaturwissenschaft von Jürgen Scharfschwerdt. Der folgende Abschnitt (bis <1037>) von Scharfschwerdt und Hellmann gemeinsam. MWH] <1035> Die Sprachwissenschaft in der Bundesrepublik hat sich dem Problem der einen Sprache in zwei Kommunikationsgemeinschaften bis in die 60er Jahre hinein vom Standpunkt der „Systemlinguistik“ aus zugewandt, d.h. sie hat - darin dem herrschenden Trend der Linguistik folgend - vorwiegend die Frage gestellt, ob das historisch gewachsene sprachliche System (grammatische und pragmatische Regeln sowie Grundwortschatz) noch als ein einheitliches zu betrachten sei. Nach anfänglichen Alarmrufen („Sprachspaltung“) kam sie zu dem Ergebnis, daß die Einheit des sprachlichen Systems bisher nicht gefährdet ist. Allerdings wurde schon früh bemerkt, daß sich im Gebrauch, den man in den beiden Kommunikationsgemeinschaften von diesem System und seinen Elementen machte, deutliche Unterschiede herausgebildet haben. Die hieraus logisch folgende methodische Hinwendung zu einem konsequent empirischen, gebrauchsbezogenen Vorgehen, wie es sich in der Literaturwissenschaft allmählich durchzusetzen begann, wurde in der Sprachwissenschaft nur von sehr wenigen vollzogen und in Forschungspraxis umgesetzt. Konsequenterweise darf eine empirisch orientierte Sprachwissenschaft bei dieser Fragestellung nicht stehenbleiben: Sie hat die außersprachlichen, kommunikativ relevanten Bedingungen für die Entstehung und den Gebrauch der sprachlichen Besonderheiten in der Kommunikation zwischen Angehörigen jeweils einer Kommunikationsgemeinschaft mit einzubeziehen; sie hat ferner zu reflektieren, welche Rolle diese Besonderheiten für die Verständigung zwischen Angehörigen beider Kommunikationsgemeinschaften - neben anderen, Kommunikation beeinflussenden Faktoren - spielen. Anders als die Literaturwissenschaft hat die Sprachwissenschaft damit eines ihrer wichtigsten Arbeitsfelder also noch nicht betreten. <1036> Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 86 Auf eine integrierte Darstellung beider Teilbereiche muß wegen der völlig unterschiedlichen Forschungssituation im Bereich der Kultursoziologie und der Linguistik verzichtet werden. <1037> A Sprache I. Problemorientierte Einführung Im Zuge der Akademie- und Hochschulreform beschloß das Politbüro des ZK der SED am 22.10.1968 die Umwandlung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur an der Akademie der Wissenschaften der DDR in das „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ (ZISW). Aufgabe des ZISW sollten vor allem die Integration der verschiedenen Forschungsansätze in der Sprachwissenschaft der DDR mit dem Hauptziel der Erforschung der „Grundfragen der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Sprache“, die Koordination der verschiedenen Forschungsinstitutionen, insbesondere auch der Hochschulforschung, sowie die Konzentration und Ausrichtung der Forschungskapazitäten in der Sprachwissenschaft auf vorrangige Ziele sein. Nach Darstellung des Direktors des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft der DDR, G. Feudel, steht hinter der Neuorientierung und der damit verbundenen Umstrukturierung die Absicht, die Linguistik zu einer Wissenschaft zu entwickeln, „die in der Lage ist, bei der Planung und Lenkung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse mitzuwirken und zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen, insbesondere zur sozialistischen Veränderung des Denkens und zu einer höheren Wirksamkeit des praktischen Handelns der Menschen in der Gesellschaft...“ 1 Neben dem Versuch, eine marxistisch-leninistische Sprachtheorie zu entwikkeln, wurden für das ZISW besonders Pragmatik und Lexikologie sowie Soziolinguistik und bestimmte Zweige der Psycholinguistik als konkrete Arbeitsschwerpunkte festgelegt. Die Ergebnisse der Arbeit des ZISW werden in der Reihe „Sprache und Gesellschaft“ des Akademie-Verlags vorgelegt. Dabei wird in der DDR dem 1976 erschienenen Band 9 dieser Reihe 2 ein besonderer Rang zuerkannt. 3 Untersuchungen eher vorläufigen Charakters werden in der Reihe „Linguistische Studien“ publiziert (nicht im Buchhandel und deshalb in der Bundesrepublik kaum bekannt). <1038> Eine Gesamtwürdigung der bisher erschienen Bände und damit der wissenschaftlichen Arbeit des ZISW liegt bisher in der Bundesrepublik Deutschland nicht vor. In einer ausführlichen Würdigung speziell zu Band 1 der Reihe 4 Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 87 schlägt M. Wespel den Band zur Benutzung als unterrichtsorientierte Einführung in die Linguistik vor. M. Wespel: Für eine unterrichtsorientierte Einführung in die Linguistik, in: Linguistische Berichte 44, 1976, S. 65-75. Ebensowenig sind Funktionen, Aufgaben und Leistungen des ZISW als Lenkungs- und Kontrollinstrument der Sprachgermanistik der DDR in der Bundesrepublik untersucht worden; auch in der Arbeit von G. Lauterbach über Forschungsorganisation in der DDR 5 wird das ZISW nicht erwähnt. Aus den vorliegenden Bänden der genannten Reihe „Sprache und Gesellschaft“ kann geschlossen werden, daß ein hoher Grad thematischer Integration sowie eine erhebliche Kumulierung von Forschungskapazitäten erreicht worden ist. Die Zahl einschlägiger wissenschaftlicher Publikationen hat sich gegenüber der Zeit vor 1970 annähernd verdoppelt. Dabei sind nicht nur sprachtheoretische Untersuchungen zur Grundlagenforschung, sondern auch lexikologische, funktionale, pragmatische Einzeluntersuchungen intensiv durchgeführt worden. So sind in der Zeit von 1972 bis 1976 rd. 50 unselbständige Arbeiten auf den genannten Gebieten publiziert worden, von 1966 bis 1970 dagegen nur knapp 30 Arbeiten. Insgesamt könnnen die Maßnahmen der DDR zur Konzentration und Kumulation ihres sprachwissenschaftlichen Forschungspotentials seit 1970 als erfolgreich bezeichnet werden. Über eine vergleichbar leistungsfähige Wissenschaftsorganisation verfügt die Linguistik der Bundesrepublik bisher nicht. <1039> II. Bestandsaufnahme 1. Zu Teilbereichen der Sprachwissenschaft a) Publikationsorgane Unter dem Einfluß der Tätigkeit des ZISW entwickelte sich die sprachwissenschaftliche Forschung in der DDR ungleichmäßig, jedoch zielgerichtet. Die wichtigsten, auch in der Linguistik der Bundesrepublik und im westlichen Ausland anerkannten Publikationsorgane für linguistische Arbeiten sind: Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 88 - Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung ( ZPSK ), hrsgg. v. K. Ammer (Halle/ Saale), O. v. Essen (Hamburg), F. Hintze (Berlin), G.F. Meier (Berlin); 1947ff. Die ZPSK ist die einzige linguistische Zeitschrift mit (bis 1975) „gesamtdeutscher“ Herausgeberschaft. Sie rezensiert auch ausführlich Arbeiten aus der Bundesrepublik und bringt Beiträge westdeutscher Autoren. - Reihe „Sprache und Gesellschaft“, hrsgg. v. d. Akademie der Wissenschaften der DDR , Zentralinstitut für Sprachwissenschaft. Bd. 1 (1974), Bd. 9 (1976), (Bd. 10 angekündigt). - Reihe „Studia Grammatica“, hrsgg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik. Bd. 1 (1962); seit 1970: hrsgg. v. W. Motsch und J. Kunze im Auftrag der Akademie der Wissenschaft der DDR - Zentralinstitut für Sprachwissenschaft. Bd. 15, Akademie Verlag Berlin (Ost) 1977. - Sprachpflege. Zeitschrift für gutes Deutsch. VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1951ff. Eine Zeitschrift oder ein Referate-Organ in der Bundesrepublik Deutschland, das die linguistische Fachliteratur der DDR vollständig und systematisch erfaßt, gibt es bisher nicht. 6 Die Rezensionstätigkeit in den Fachzeitschriften der Bundesrepublik berücksichtigt Literatur aus der DDR - mit Ausnahme <1040> der Grammatikforschung - im allgemeinen weniger als vergleichbare Literatur aus dem westlichen Ausland. Das (allerdings fachübergreifliche) Referate- Organ „Gesellschaftswissenschaftliche Informationen“ verfährt recht unsystematisch, was Wichtigkeit und thematische Streuung der Literatur betrifft. Für die linguistische Forschung in der Bundesrepublik ist die Linguistik in der DDR von unterschiedlicher Bedeutung. Im folgenden werden einige wesentliche Teilbereiche exemplarisch hervorgehoben. b) Grammatikforschung Die Grammatikforschung der DDR hat sich schon in den 60er Jahren eine auch in der Bundesrepublik anerkannte Position erworben. In der Grammatiktheorie, besonders in der „strukturellen Grammatik“ des Deutschen wie auch in der Erforschung des deutschen Verb-Systems (Valenzgrammatik) war die DDR bis Ende der 60er Jahre führend. Die „generative Transforma- Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 89 tionsgrammatik“ anglo-amerikanischer Herkunft (N. Chomsky) ist im wesentlichen über die DDR in die Bundesrepublik gekommen. Die vor allem in den „Studia Grammatica“ veröffentlichten Untersuchungen der Mitarbeiter an der Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik (Agricola, Bierwisch, Heidolph, Motsch, Steinitz u.a.) gehören ebenso wie die von Helbig / Schenkel und von Mater (Verb-System) zu den Standardwerken auch der Linguistik in der Bundesrepublik; sie werden in allen Einführungen und Handbüchern der Linguistik erwähnt und meist ausführlich diskutiert. 7 Als repräsentatives Beispiel sei verwiesen auf: H.P. Althaus u.a., Hrsg., Lexikon der Germanistischen Linguistik, Bd. 1-3, Tübingen 1973. Die breite und relativ problemlose Rezeption der Grammatikforschung in der DDR wurde wesentlich dadurch erleichtert, <1041> daß der zugrunde liegende grammatische Ansatz nicht genuin marxistisch-leninistisch war und das Thema wenig Anlaß zu polemischen Auseinandersetzungen bot. Auch auf diesem Gebiet wird jedoch seit etwa 1973, zum überwiegenden Teil von den bereits erwähnten Autoren (heute Mitarbeiter des ZISW), eine marxistisch-leninistische Grundlegung der Grammatiktheorie versucht. 8 Ebenfalls als Standard-Nachschlagwerk in der Bundesrepublik weit verbreitet ist die 2-bändige „Kleine Enzyklopädie - Die Deutsche Sprache“. 9 Dieses nach Fülle der Gesichtspunkte und Abgewogenheit der Kritik herausragende Gemeinschaftswerk mehrerer bekannter Autoren in der DDR ist dort gerade wegen seiner Objektivität heftiger Kritik ausgesetzt gewesen und seit etwa 1971/ 72 nicht mehr erhältlich. Auf einem Grenzgebiet zwischen Grammatik und Lexikologie, nämlich der Wortbildungslehre, lange Zeit führend und für die Forschung in der Bundesrepublik weiterhin bedeutsam, sind die Arbeiten des Leipziger Linguisten W. Fleischer. 10 c) Lexikologie, Semantik, Wörterbücher Die Lexikologie mit dem Teilgebiet Semantik unterlag schon seit Anfang der 60er Jahre stärkerer ideologischer Beeinflussung. Nach der heftigen Kritik von Neubert am „semantischen Positivismus in den USA“ 11 und nach dem auch in der Bundesrepublik weit bekannt gewordenen Buch von W. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 90 Schmidt „Lexikalische und aktuelle Bedeutung“ 12 blieb eine umfassende Semantik auf marxistisch-leninistischer Grundlage zunächst aus. Die Arbeiten von W. Schmidt 13 und W. Fleischer 14 behandelten nur semantische Teilaspekte, z.B. der Ideologiegebundenheit bzw. Gesellschaftsspezifik des Wortschatzes. Auch die dezidiert marxistisch-leninistisch orientierte „Einführung in die Semasiologie“ von Th. Schippan 15 genügt den selbstgesetzten Ansprüchen nicht, wie die Marburger Lingui- <1042> sten H.E. Wiegand und W. Wolski in einer ausführlichen und über Schippan hinausführenden Kritik betonten. 16 H.E. Wiegand / W. Wolski, Gesellschaftsbezogene und sprachgelenkte Semasiologie. Marginalien anhand der „Einführung in die Semasiologie“ von Th. Schippan, in: Germanistische Linguistik 1-6, 1975, S. 6-91. Inzwischen haben Mitarbeiter des ZISW - zum großen Teil Mitglieder der früheren Arbeitsstelle für strukturelle Grammatik - zwei auch in der Bundesrepublik beachtete Versuche unternommen, eine Semantik „auf marxistischleninistischer Grundlage“ zu entwickeln. Zumindest das zweite Werk, „Probleme der semantischen Analyse“ 17 hat Aussichten, in der Bundesrepublik Verbreitung zu finden, da sich die parteiliche Ausrichtung im wesentlichen auf die einführenden Kapitel (Zeichentheorie, Sprache und Gesellschaft) beschränkt und den wissenschaftlichen Rang des Werkes - bei sachlicher, eingängig formulierter Darstellung - nicht beeinträchtigt. 18 Einen erheblichen Anteil an der Arbeit des ZISW nehmen drei lexikographische Großvorhaben ein: die Arbeit am „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (WDG) sowie die Arbeit am Grimmschen Wörterbuch und am Goethe-Wörterbuch; letzteres ist das einzige noch gesamtdeutsch betriebene sprachwissenschaftliche Unternehmen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem WDG zu. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, hrsgg. v. R. Klappenbach und W. Steinitz im Auftrag des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft. Band 1 erstmals erschienen 1964, Band 6 abgeschlossen 1977. Dieses Ende 1977 abgeschlossene sechsbändige Wörterbuch macht als einziges Unternehmen dieser Größenordnung im deutschen Sprachraum systematisch Angaben darüber, ob nach 1945 in den deutschen Wortschatz aufgenommene Wörter gemeinsamer Sprachbesitz oder für einen der beiden Staaten spezifisch sind. Während es bis einschließlich Band 3 als gesamtdeutsches <1043> Wörterbuch konzipiert war, tritt ab Band 4 eine stärkere Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 91 Berücksichtigung der Besonderheiten des Sprachgebrauchs in der DDR und eine wesentlich deutlichere ideologische Ausrichtung der Worterklärungen zutage (vgl. Vorwort zu Bd. IV des WDG). Dies schränkt seine Brauchbarkeit als gesamtdeutsches Wörterbuch stark ein. Das WDG wird in der Bundesrepublik - mit der soeben erwähnten Einschränkung - fast einhellig als wissenschaftliche Leistung anerkannt. 19 Die Wörterbücher in der Bundesrepublik Deutschland haben sich die Vorarbeit des WDG im Hinblick auf die Buchung der lexikalischen Ost-West- Differenzen bisher kaum nutzbar gemacht. Das neue, auf 6 Bände veranschlagte und insofern dem WDG vergleichbare Wörterbuch des Duden-Verlags 20 erhebt den Anspruch, auch alle Besonderheiten des Sprachgebrauchs in der DDR zu berücksichtigen; jedoch wird das WDG im Vorwort des Duden- Wörterbuchs nicht einmal erwähnt, so daß Art und Grad der bisher erfolgten Rezeption noch der Untersuchung bedürfen. 21 Das Institut für deutsche Sprache in Mannheim plant seit längerem ein auf 20 Bände veranschlagtes großes Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, das auch die regional sprachlichen Varianten der DDR, Österreichs und der Schweiz berücksichtigen soll. In die Vorbereitungen dieses Großvorhabens wird das WDG einbezogen. 22 Seine Realisierungschancen sind allerdings völlig ungewiß. [Das Projekt kam über das Planungsstadium nicht hinaus. MWH] d) Pragmatik, Stilistik, Rhetorik Prominente und in der Bundesrepublik vielgelesene Vertreter der Pragmatikforschung 23 sind G. Klaus und W. Schmidt. <1044> G. Klaus, Die Macht des. Wortes. Ein erkenntnistheoretisch-pragmatisches Traktat, Berlin (Ost) 1964 (4. Aufl. 1968), ders., Sprache der Politik. Berlin (Ost) 1971. W. Schmidt, Das Verhältnis von Sprache und Politik als Gegenstand der marxistisch-leninistischen Sprachwirkungsforschung, in: Sprache und Ideologie. Beiträge zu einer marxistisch-leninistischen Sprachwirkungsforschung, Halle 1972. Der Berliner Sprachwissenschaftler Dieckmann hält Klaus entgegen, seine Position unterscheide sich nicht wesentlich von der von Semantikern und Pragmatikern im Westen; zwar wichen diese der gesellschaftlichen Determi- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 92 niertheit und Ideologiehaltigkeit sowohl ihres Untersuchungsgegenstandes als auch ihrer Forschungen meist aus; wenn Klaus jedoch die semantischen Kategorien der Wahrheit und Adäquatheit von den pragmatischen Kategorien der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit trenne, führe dies letztlich dazu, daß seine Pragmatik für alle nur denkbaren Ziele - auch solche, die den Marxismus-Leninismus bekämpfen - nutzbar gemacht werden könne. Die Aussage, daß bürgerliche Pragmatik grundsätzlich den „falschen“, sozialistische Pragmatik jedoch den „richtigen“ Zielen diene, helfe da nicht weiter: W. Dieckmann, Sprachwissenschaft und Ideologiekritik. Probleme der Erforschung des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR , in: M.W. Hellmann, Hrsg., Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR . Methoden und Probleme seiner Erforschung. Düsseldorf 1973, S. 90-115. Die Rhetorik als Nachbardisziplin der Stilistik ist, wie in den Arbeiten von Kurka 24 sichtbar wird, am stärksten den aktuellen Bedürfnissen der Agitation und Propaganda in der DDR dienstbar gemacht worden. Kurkas aufwendig hergestelltes Hauptwerk setzt jedoch eine Gesellschaft voraus, in der einem Redner nur höchst selten Widerspruch begegnet, so daß seine massiv parteilich-polemischen Anweisungen in der Bundesrepublik selbst für einen kommunistischen Agitator kaum brauchbar sein dürften. <1045> Eine zusammenfassende Würdigung der intensiven Pragmatik- und Sprachwirkungsforschung in der DDR liegt bisher in der Bundesrepublik nicht vor. Teilüberblicke gibt W. Dieckmann in seinem oben zitierten Aufsatz sowie im Anhang zur 2. Auflage seines Werks „Sprache in der Politik“: W. Dieckmann, Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. 2. Aufl., Heidelberg 1975 (mit Anhang). e) Übersetzungswissenschaft x O. Kade 25 , ein Hauptvertreter der Übersetzungswissenschaft in der DDR, vertritt die Auffassung, nur der „sozialistische Übersetzer“ könne richtig, nämlich „wissenschaftlich und zugleich parteilich“, übersetzen. Trotz des „einen Deutsch“ müsse es zwei verschiedene Übersetzungen geben, da auch x Vgl. Abschnitt „Ideologie“, S. 407. [Das Problem unterschiedlicher Übersetzungen wird an keiner Stelle des Gutachtens thematisiert, trotz seiner offensichtlichen Praxisrelevanz. MWH ] Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 93 die politisch-ideologischen Implikationen und gewollten Wirkungen eines Textes bei der Übersetzung berücksichtigt und „parteilich“ wiedergegeben werden müßten. Die stark didaktische Ausrichtung seines Werks läßt darauf schließen, daß es eine wesentliche Rolle in der Ausbildung der Übersetzer und Dolmetscher in der DDR spielt. Eine kritische Aufarbeitung dieser Arbeitsrichtung ist in der Bundesrepublik bisher nicht feststellbar. Sie erscheint gleichwohl als notwendig, da entsprechend geschulte Übersetzer und Dolmetscher aus der DDR mit Übersetzern und Dol- <1046> metschern aus der Bundesrepublik in verschiedenen internationalen Institutionen, z.B. im Rahmen der UNO, zusammentreffen. Die Konkurrenz ist hart, da die DDR auf dieser Ebene hervorragend ausgebildetes Personal einsetzt. f) Sprachlehrforschung Die Sprachlehrforschung der DDR ist im Herder-Institut in Leipzig sowie an der Technischen Universität Dresden konzentriert. Die Arbeiten zur Sprachlehrforschung sowie die beim Herder-Institut erscheinenden Sprachlehrwerke werden insbesondere vom Goethe-Institut (München) laufend beobachtet; sie gelten als wissenschaftlich und didaktisch gut fundiert. Von ausländischen Beobachtern, etwa in Schweden und Finnland, wird allerdings darauf hingewiesen, daß die in diesen Sprachlehrbüchern übliche Betonung der „sozialistischen Errungenschaften“ in der DDR sowie der sprachlichen DDR-Besonderheiten den Deutschunterricht sprachlich und inhaltlich unerwünscht vereinseitige und belaste. <1047> 2. Sprachliche Ost-West-Differenzierung a) Die sprachlichen Differenzen und die „Nation“-Diskussion Über kein Teilgebiet der deutschen Gegenwartssprache ist zwischen Wissenschaftlern, Journalisten, Agitatoren und Politikern in Ost und West so kontrovers diskutiert worden, wie über die fortschreitende Differenzierung im Sprachgebrauch der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, d.h. über das von W. Dieckmann so genannte „sprachliche Ost-West-Problem“. Die Intensität der Auseinandersetzung wird begreiflich, wenn davon ausgegangen wird, daß für die meisten Menschen die gemeinsame Sprache eines der wich- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 94 tigsten Merkmale ist, „an denen sich die Nation erkennt“ 26 , und daß dieser gemeinsame Sprachbesitz entscheidende Voraussetzung ungestörter menschlicher Verständigung ist. An diese Hypothese, die für die meisten Beobachter evident ist, läßt sich eine weitere Hypothese anschließen: Sprachliche Differenzen wirken a) verständigungshemmend und damit letztlich kommunikationshemmend (generell und individuell); sie wirken b) fördernd für die Herausbildung eines großgruppenspezifischen Sonderbewußtseins. Das sprachliche Ost-West-Problem erweist sich somit als auf das engste verflochten mit dem historisch-politischen Problem der Herausbildung zweier Kommunikationsgemeinschaften (mit unterschiedlichen politischgesellschaftlichen Strukturen und Praxen und divergierenden außenpolitischen und wirtschaftlichen Verflechtungen) in einer Sprachgemeinschaft. Einen neuen Grad der Aktualität erreichte die Diskussion um das sprachliche Ost-West-Problem im Zusammenhang mit der vor allem in der DDR seit einigen Jahren mit zunehmender <1048> Intensität entfachten Diskussion um Funktion und Inhalt des Begriffs „Nation“. Als erster prominenter Sprachwissenschaftler hatte 1972 W. Schmidt in seinen „Thesen zum Thema Sprache und Nation“ - in Anlehnung an Formulierungen Ulbrichts und Honeckers - die Auffassung vertreten, die deutsche Nation und mit ihr die sprachliche Einheit befinde sich „in Auflösung“; die Herausbildung einer „sozialistischen deutschen Nation“ in der DDR, die Fortexistenz der kapitalistischen „bürgerlichen deutschen Nation“ in der Bundesrepublik äußere sich in deutlichen Differenzierungserscheinungen zwischen ost- und westdeutschem Sprachgebrauch. Der Terminus „deutsche Nationalsprache“ entspreche daher nicht mehr dem gegenwärtigen Sprachzustand. 27 Lerchner 28 untermauerte diese These mit zahlreichen Beispielen in einem wissenschaftlichen Aufsatz; jedoch nicht dieser, sondern erst eine gekürzte, stärker aktuell-propagandistisch orientierte Fassung in der Zeitschrift „Forum“ 29 fand in der Bundesrepublik eine breitere Resonanz. Dieser zweiten Fassung ging ein offiziöser Artikel im Neuen Deutschland von A. Kosing und W. Schmidt über „Nation und Nationalität“ 30 voraus. 31 Lerchner konzediert in seinem „Forum“-Beitrag, daß „zwischen den Bürgern der DDR und der Bundesrepublik Deutschland eine nahezu mühelos einsetzbare sprachliche Kommunikationsfähigkeit besteht. Von zwei verschiedenen Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 95 Sprachen sprechen zu wollen, steht mithin im Widerspruch zu jeder empirischen Erkenntnis“. Andererseits sage dies jedoch „noch garnichts aus über die Wirklichkeit des sprachlichen Gebrauchs hier wie dort, ... die vor allem von der Realität gegensätzlicher Gesellschaftsformen bestimmt wird“. Die Fülle der Differenzen im Sprachgebrauch, besonders im aktuellen Wortschatz, mache deutlich, daß das gegenwärtige Deutsch eine historisch bestimmte Sammelbezeichnung von verschiedenen nationalsprachlichen Varianten darstelle: das Deutsch in der DDR, der Bundesrepublik, in Österreich und der Schweiz. <1049> Lerchners Auffassungen werden in zahlreichen Punkten auch von westdeutschen Linguisten 32 geteilt. Daß die Grammatik des Deutschen bisher keine nennenswerten Differenzen zwischen Ost und West zeigt, ist fast einhellige Auffassung. Sie wurde auch durch amerikanische Untersuchungen an literarischen Texten erhärtet: 33 M.H. Folsom / A.C. Rencher, Zur Frage der sprachlichen Unterschiede in der BRD und der DDR . Zwei statistische Studien, in: Deutsche Sprache 1977, H. 1, S. 48-55. Dennoch betrachtet heute kein Linguist aus der Bundesrepublik mehr die Einheit der deutschen Sprache bzw. der Sprachgemeinschaft als gesichert. Problematisch ist allerdings die Inanspruchnahme der tatsächlich vorhandenen Differenzen als Beleg für die Existenz oder das Entstehen einer „sozialistischen Nation deutscher Nationalität“ in der DDR. Das vorgelegte Wortmaterial reicht dazu selbst dann noch nicht aus, wenn es wesentlich vermehrt würde. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß den Untersuchungen in der DDR eine systematisch zusammengestellte, überprüfbare Textgrundlage in der Regel fehlt. Sofern überhaupt Angaben über die Herkunft der Wortbeispiele gemacht werden, entstammen diese den Archiven des WDG oder der Leipziger Duden-Redaktion. Der Mangel an empirischer Nachprüfbarkeit des Materials wie auch der Analyseverfahren verstärkt den Verdacht, daß - ähnlich wie in der Linguistik der Bundesrepublik in den 50er und den frühen 60er Jahren - ein vorweg gewußtes Ergebnis, nämlich die Existenz einer eigenständigen DDR-Variante der deutschen Sprache als Widerspiegelung und adäquates Kommunikationsmittel einer alles „Fortschrittliche“ in sich vereinenden sozialistischen Nation deutscher Nationalität, belegt werden soll. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 96 Die stereotype Einseitigkeit immer derselben wenigen Wortbeispiele für angeblichen westdeutschen Sprachgebrauch („Armenhaus“, „Rittergut“, „Konzernherr“, „Knecht“ usw.) unterstützen den Eindruck der Empirieferne. <1050> Diesem Verfahren gegenüber hätte die Forschung in der Bundesrepublik, wenngleich kaum unter den gegenwärtigen Bedingungen ihrer zersplitterten und unzureichenden Forschungskapazitäten, die Aufgabe und auch die Möglichkeit, durch empirisch gestützte Sprachgebrauchsuntersuchungen zu einem objektiveren und wirklichkeitsnäheren Bild zu gelangen. b) Zum Forschungsstand I n d e r B u n d e s r e p u b li k D e u t s c h l a n d b i s 1 9 7 2 Die Diskussion um das sprachliche Ost-West-Problem ist in den frühen 50er Jahren von publizistischer und philologischer Seite eröffnet worden. Einige dieser Beiträge dienten in erster Linie der Abwehr der befürchteten ideologisch-politischen Unterwanderung, „Vergewaltigung“, der deutschen Sprache durch die SED. 34 Solche Beiträge waren eher Bestandteil der politischen Auseinandersetzung als adäquate Beschreibung der sprachlichen Fakten. Erst Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre wurde die Auseinandersetzung über die Entwicklung der deutschen Sprache nach 1945 vor allem durch die Beiträge von H. Bartholmes, H. Moser, G. Korlén, W. Betz, E. Schöfer verwissenschaftlicht. H. Bartholmes, Das Wort „Volk“ im Sprachgebrauch der SED , Düsseldorf 1964, H. Moser, Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands, Düsseldorf 1962, G. Korlén, Zur Entwicklung der deutschen Sprache diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs, in: Deutsch für Ausländer, 9. Jg., 1959, S. 138-153, W. Betz, Zwei Sprachen in Deutschland? , in: Merkur, 16. Jg., 1962, H. 9, S. 873-879, <1051> E. Schöfer, Die Sprache im Dienst des modernen Staates, in: Sprache im technischen Zeitalter, 1963, H. 8, S. 615-633. Aber auch die Untersuchungen der Germanisten waren nicht immer frei von gewissen methodischen Einseitigkeiten: Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 97 - Man neigte dazu, den westdeutschen Sprachgebrauch als Norm, den in der DDR als unerwünschte Abweichung zu betrachten. - Man untersuchte fast nur den offiziellen Sprachgebrauch der DDR, speziell der SED-Presse, verglich ihn aber nicht mit dem Sprachgebrauch der Presse in der Bundesrepublik: Das sprachliche Ost-West-Problem verkümmerte in der Darstellung daher meist zum sprachlichen Ost-Problem. - Man war eher an politisch bedingten Neologismen und Fragen der ideologischen Polysemie interessiert als etwa an der Entwicklung des Alltagsvokabulars. 35 - Selten beruhten die Untersuchungen auf eigenständiger, ausreichender Materialgrundlage; sie stützten sich eher auf ad-hoc-Sammlungen auffallender Einzelerscheinungen 36 als auf solide Dokumentation. Aber auch dort, wo in Erkenntnis dieser Unzulänglichkeiten zunächst mit dem systematischen Aufbau einer Textgrundlage begonnen wurde, blieben gewisse methodische Grundprobleme bestehen: 37 Erreichbar für systematische Untersuchungen war und ist ausschließlich öffentlicher, d.h. den öffentlichen Normen und Sanktionen angepaßter Sprachgebrauch, sei es schriftlicher (journalistische, politische, literarische Texte) oder mündlicher Sprachgebrauch (Rundfunk und Fernsehen). Der nicht-öffentliche private Sprachgebrauch in der DDR entzieht sich systematischer Beobachtung. Dies gilt auch für den Bereich der Schule: Untersuchbar ist selbstverständlich der Sprachgebrauch der Lehrpläne und Schulbücher, nicht aber, ob und in welcher Weise im Schulunterricht selbst die dort niedergelegten Normen beachtet und aktiv vollzogen werden, geschweige denn, wie Schüler untereinander sprechen. <1052> Aus diesen Einschränkungen ergeben sich Probleme für die Bestimmung der Reichweite und Gültigkeit der aus öffentlichen gedruckten Texten gewonnenen Ergebnisse. Probleme der Vergleichbarkeit ergeben sich dadurch, daß Texte formal gleichen Typs unter den unterschiedlichen Bedingungen der DDR und der Bundesrepublik unterschiedliche Funktionen haben können, ferner daraus, daß bestimmte Texttypen fast nur in einem der beiden Staaten vorkommen. Interpretationsprobleme ergeben sich schließlich daraus, daß semantische und pragmatische Analysen oft nicht allein aus den Texten selbst vollzogen werden können; der Beobachter bedarf der Kenntnis zusätzlicher politischgesellschaftlicher, ökonomischer und anderer Fakten zur adäquaten Interpre- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 98 tation. D.h. die Objektebene „Sprachgebrauch der DDR“ ruht auf einer anderen Objektebene: „Politisch-gesellschaftliches System und Alltag der DDR“. Die Zuverlässigkeit linguistischer Schlußfolgerungen ist - bei bestimmten Fragen - also abhängig auch von der Genauigkeit der Berücksichtigung dieser zweiten Objektebene. Eine zweite Phase in der Behandlung des sprachlichen Ost-West-Problems seit etwa 1965 war geprägt durch ein Anwachsen methodenkritischen Bewußtseins einerseits und einer zunehmenden Bereitschaft zur Aufnahme außenlinguistischer, insbesondere kommunikationswissenschaftlicher und soziologischer Fragestellungen. Kennzeichnend für diese zweite Phase ist der Aufsatz von W. Dieckmann, in dem er eine Reihe früherer Arbeiten in der Bundesrepublik kritisiert, ferner sein Buch „Sprache in der Politik“. W. Dieckmann, Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem, in: Zeitschrift für deutsche Sprache, 23. Jg. 1967, H. 3, S. 136-165, ders., Sprache in der Politik. Einführung in die Semantik und Pragmatik der politischen Sprache, Heidelberg 1969 (2. Aufl. 1974). <1053> H.H. Reich kommentiert in seiner Dissertation „Sprache und Politik“ in Form eines ausführlichen Glossars den offiziellen Sprachgebrauch der SED und erläutert dessen Formen und Funktionen; Grundlage des Glossars ist einerseits ein Auszug aus dem Leipziger Duden, andererseits eigene Materialsammlungen aus Zeitungen und anderen offiziösen Quellen: H.H. Reich, Sprache und Politik. Untersuchungen zu Wortschatz und Wortwahl des offiziellen Sprachgebrauchs in der DDR , München 1968. Einen Vergleich zwischen ost- und westdeutschem Sprachgebrauch nimmt allerdings Reich nicht vor. Die rhetorisch-stilvergleichende Arbeit von Th. Pelster bleibt hier die einzige hervorzuhebende Ausnahme. Th. Pelster, Die politische Rede im Westen und Osten Deutschlands. Vergleichende Stiluntersuchungen mit beigefügten Texten, Düsseldorf 1966. Eine gewisse Sonderstellung als fachsprachliche Untersuchung beanspruchen die Arbeit zum Wirtschaftsvokabular der DDR von H. Lehmann sowie die wortmonographischen Aufsätze von H. Bartholmes und H. Ischreyt: Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 99 H. Lehmann, Russisch-deutsche Lehnbeziehungen im Wortschatz offizieller Wirtschaftstexte der DDR (bis 1968), Düsseldorf 1972, H. Bartholmes, Bruder, Bürger, Freund, Genosse und andere Wörter der sozialistischen Terminologie. Wortgeschichtliche Beiträge, Göteborg 1970 (im wesentlichen Sammlung früherer wortmonographischer Aufsätze), H. Ischreyt, Kalter Krieg - friedliche Koexistenz. Zum Inhalt politischer Termini, in: Deutsche Studien, 6. Jg., 1968, H. 21, S. 7-36, ders., „Entspannung“ - Begriff und Schlagwort, in: Deutsche Studien, 7. Jg., 1969, H. 28, S. 350-355. Die Arbeiten aus der Bundesrepublik äußern sich in dieser Phase zur Frage der weiteren Sprachentwicklung recht vorsichtig; die Annahme einer „Sprachspaltung“ wird einhellig abgelehnt. <1054> Eine dritte Phase der Forschung in der Bundesrepublik seit etwa 1970 wird bestimmt durch Skepsis gegenüber der Möglichkeit, mit den bisherigen linguistischen Methoden die Komplexität der mit dem Etikett „sprachliches Ost-West-Problem“ bezeichneten Wirklichkeit noch weiter bewältigen zu können. Im wesentlichen ließ diese Skepsis die Forschungsaktivitäten stark zurückgehen. Soweit die Forschung aktiv blieb, vollzog sie jetzt die schon früher eingeleitete Emanzipation von den vorher oft dominierenden politisch-ideologischen Frontstellungen. Belege für diese Wandlung und gleichzeitig einen Querschnitt durch die Forschungslage gegen Ende des Jahres 1970 bietet der Sammelband: M.W. Hellmann, Hrsg., Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR . Methoden und Probleme seiner Erforschung, Düsseldorf 1973. Andererseits hat gerade die in diesem Sammelband zusammengefaßte Diskussion gezeigt, wie notwendig neben den theoretischen und methodischen Reflexionen konkrete systematische Textdokumentation und -auswertung ist, wenn weitere Fortschritte im Sinne wissenschaftlich gesicherter Aussagen möglich sein sollen. Darüber hinaus macht die seit 1970 geforderte 38 Überleitung der reinen Wortschatzproblematik in eine stärkere Berücksichtigung der Verständigungsprobleme die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher, insbesondere sozialpsychologischer und kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen unumgänglich. Klarheit besteht indessen darüber, daß der einzelne Forscher sowohl mit Textdokumentation (im Sinne von maschinel- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 100 ler Bereitstellung und Auswertung systematisch zusammengestellter Textsammlungen) als auch mit der erforderlichen multidisziplinären Verständigungsforschung 39 überfordert ist. <1055> I n d e r B u n d e s r e p u b li k D e u t s c h l a n d s e it 1 9 7 2 Die gegenwärtige Situation der Forschung zum sprachlichen Ost-West- Problem in der Bundesrepublik läßt sich schlagwortartig folgendermaßen kennzeichnen: - Rückgang der Zahl der beteiligten Forscher. Eine Reihe prominenter Forscher der 60er Jahre hat sich aus der aktiven Forschung weitgehend oder vollständig zurückgezogen, so z.B. Bartholmes, Betz, Dieckmann, Moser, Reich, Römer. Einen Lehrstuhlinhaber, der sich intensiv und kontinuierlich mit zentralen Fragen der Wortschatzdifferenzierung befaßt, gibt es in der Bundesrepublik z.Zt. nicht. Dies wirkt sich auch auf die Zahl der Dissertationen (gegenwärtig weniger als 3 pro Jahr) negativ aus, ebenso aber auch auf die Ausbildung des Lehrernachwuchses. Dies gilt, obwohl in den Lehrplänen und Richtlinien fast aller Bundesländer die Behandlung des sprachlichen Ost-West-Problems teils expressis verbis (wie in Nordrhein-Westfalen), teils im Rahmen von Globalthemen wie „Sprache und Politik“ oder „Sprache und Gesellschaft“ als Unterrichtsthema für den Deutschunterricht der Sekundarstufe II vorgeschlagen wird. - Mangel an Institutionalisierung und Kontinuität der Forschung. Die vorhandenen Forschungskapazitäten sind ungenügend institutionalisiert; ihre Arbeitsmöglichkeiten sind nicht gesichert. So kann z.B. das Institut für deutsche Sprache als zentrale linguistische Forschungsinstitution gegenwärtig nur zwei Planstellen für Wissenschaftler bereitstellen; im übrigen stellt das sprachliche Ost-West-Problem auch für dieses Institut nur ein Randgebiet dar, das übergeordneten Maßgaben unterliegt. Alle anderen Vorhaben in der Bundesrepublik sind zeitlich und thematisch befristet bzw. vom nicht immer kontinuierlichen Interesse einzelner Hochschullehrer abhängig. Die geringe Institutionalisierung macht längerfristige Planungen, ins- <1056> besondere Grundlagenforschung und Bereitstellung wichtiger Hilfsmittel kaum möglich. Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 101 - Mangel an grundlegenden und zusammenfassenden Darstellungen und Hilfsmitteln. Eine grundlegende Arbeit über das Verhältnis von Sprache und Politik unter dem Aspekt der deutschen Sprachdifferenzierung gibt es bisher nicht. Dieckmanns verdienstvolles, als „Einführung in die Semantik und Pragmatik der politischen Sprache“ gedachtes Werk „Sprache in der Politik“ (vgl. oben S. 1052), das auch heute noch mit Gewinn benutzt werden kann, bedürfte einer breiteren gesellschaftstheoretischen Fundierung sowie einer Ergänzung durch kommunikationswissenschaftliche Aspekte. Eine Gesamtdarstellung des gegenwärtigen Forschungsstandes zum sprachlichen Ost-West-Problem gibt es bisher nicht. Der knappe Wortartikel „Sprache“ im „DDR Handbuch“ 40 kann sie nicht ersetzen. H. Mosers weitverbreitete Schrift „Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands“ (vgl. oben S. 1050) ist veraltet, jedoch bis heute nicht ersetzt. Dies wird vor allem von Lehrern beklagt. Eine wörterbuchähnliche Zusammenstellung des in Ost und West unterschiedlichen Wortschatzes liegt bisher nicht vor. Allerdings hat die Bonner Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch des Instituts für deutsche Sprache im Rahmen eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft den Auftrag, „vergleichende Wörterverzeichnisse zur ost- und westdeutschen Zeitungssprache“ bis 1980 zu erstellen. Parallel dazu soll - im Rahmen eines anderen Auftrags - ein Taschenwörterbuch mit etwa 400 der wichtigsten DDR-spezifischen Wörter erstellt werden. Nur bibliographisch kann das Forschungsgebiet durch die kommentierte Bibliographie M.W. Hellmann, Hrsg., Bibliographie zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR , Düsseldorf 1976, <1057> als ausreichend erschlossen gelten; eine fortgeführte verbesserte Neuauflage erscheint allerdings wünschenswert. Eine Spezialbibliographie (nicht annotiert) für die Bereiche Propaganda - Werbung - Manipulation durch Sprache liegt als Manuskriptvervielfältigung vor: H.D. Fischer u.a., Hrsg., Bibliographie: Manipulation und Sprache. Persuasionsstrategien in der Presse, Werbung und Politik und ihre Behandlung im Unterricht, Hagen/ Dortmund 1977. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 102 In der genannten Forschungsstelle des Instituts für deutsche Sprache wird z.Zt. ferner an einem Unterrichtswerk mit Textauszügen gearbeitet, das dem dringendsten Mangel im Deutschunterricht abhelfen soll.[*] Von M. Kinne, Mitarbeiter an der Forschungsstelle, liegt ein für den Schulgebrauch konzipiertes Heft mit kontrastierenden Primär- und Sekundärtexten aus der Bundesrepublik und der DDR vor: M. Kinne, Hrsg., Texte Ost - Texte West. Arbeitsmaterialien zur Sprache der Gegenwart in beiden deutschen Staaten, Frankfurt/ M. 1977. - Allmählich wachsendes Interesse in einigen Nachbardisziplinen (Medienforschung, Kommunikationsforschung, Soziologie und empirische Sozialforschung). Weiterhin haben sich vor allem in Tübingen und Bochum Schwerpunkte der Forschungsaktivitäten entwickelt: In Tübingen werden unter Leitung von Strassner und Bausinger im Rahmen eines von der DFG finanzierten größeren Verbundprojektes „Medienanalyse“ Untersuchungen zur Nachrichtensprache im Fernsehen der DDR und der Bundesrepublik, ferner Untersuchungen zum Kinderfernsehen der DDR durchgeführt. In Bochum entsteht, angeregt durch D. Voigt, eine Reihe ver- <1058> gleichender Arbeiten zu verschiedenen Aspekten des öffentlichen Sprachgebrauchs, bzw. der Sportsprache. Weitere Einzelprojekte mit sprachlicher Relevanz sind bekannt aus Erlangen, Hamburg und Kiel. 41 I n d e r D D R Die ost-west-vergleichende Sprachforschung in der DDR weist gegenüber der in der Bundesrepublik eine gewisse Gegenläufigkeit auf. Sie war zunächst, wie die Arbeiten von Höppner 42 und Ihlenburg 43 zeigen, überwiegend apologetisch auf die Verteidigung des eigenen, vom Westen zum Teil hart attakkierten Sprachgebrauchs ausgerichtet. Gegenüber dem „Sprachspaltungs“- Vorwurf vieler westdeutscher Veröffentlichungen wehrten sich die Linguisten in der DDR durch Hinweis auf die anglo-amerikanische Überfremdung und die angeblich zahlreichen Relikte des Faschismus im Sprachgebrauch des Bundesrepublik. In der Nachfolge von Klemperer 44 und Weiskopf 45 wurde der Sprachgebrauch der DDR als Hort humanistischer Tradition und eigentlicher Bewahrer des nationalen Sprach- und Kulturerbes dargestellt. [* Das geplante Unterrichtswerk ist nicht erschienen. MWH ] Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 103 Seit etwa Mitte der 60er Jahre wurden die Arbeiten zahlreicher, aber auch polemischer (vgl. z.B. Schippan 46 und Koliwer 47 ); mit der wachsenden Forderung nach Abgrenzung wurde der Sprachgebrauch in der Bundesrepublik häufig weniger differenziert als „imperialistisch“ und „dekadent“ dargestellt. Daneben jedoch fanden und finden sich nach wie vor auch theoretisch und methodisch bemerkenswerte Einzeluntersuchungen wie die zitierten von W. Schmidt und W. Fleischer (vgl. Anm. 13, 14 und 27). <1059> Seit dem VII. Parteitag (1967) und insbesondere seit dem VIII. Parteitag der SED (1971) vertreten zahlreiche Linguisten in der DDR einen Standpunkt, der der früher bekämpften westdeutschen „Sprachspaltungs“-These erheblich näher steht, nämlich den von der notwendig zunehmenden Eigenständigkeit des DDR-Sprachgebrauchs; diese These wird erweitert bis zur Konstatierung einer eigenen „DDR-Variante“ des Deutschen. 48 Als Auswirkung der erfolgreichen Koordinierungsbemühungen des ZISW und verschiedener Fachkonferenzen (z.B. 1974 in Sellin / Rügen) folgt die Linguistik in der DDR strikt den von der SED und den von ihr gesteuerten Gremien vorgegebenen Richtlinien. Der gegenwärtige Stand (seit 1973) der einschlägigen Sprachforschung in der DDR ist ablesbar an den Bänden 1, 2 und 9 der Reihe „Sprache und Gesellschaft“: W. Hartung, Hrsg., Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft, Berlin (Ost) 1974. G. Ising, Hrsg., Aktuelle Probleme der sprachlichen Kommunikation. Soziolinguistische Studien zur sprachlichen Situation in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1974. W. Neumann, Hrsg., Theoretische Probleme der Sprachwissenschaft, 2 Bde., Berlin (Ost) 1976. Ferner sind folgende Aufsätze hervorzuheben: R. Bock u.a., Zur deutschen Gegenwartssprache in der DDR und in der BRD , in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, 26. Jg., H. 5, 1973, S. 511-532 , G. Lerchner, Zur Spezifik der Gebrauchsweise der deutschen Sprache in der DDR und ihrer gesellschaftlichen Determination, in: Deutsch als Fremdsprache, 11. Jg., H. 5, 1974, S. 259-265. Ziel der hier aufgeführten Arbeiten ist in erster Linie: - nachzuweisen, daß eine neue Gesellschaftsordnung notwendig neue kommunikative Bedürfnisse entwickelt, die zu einem neuen Gebrauch der gegebenen Sprache führen müssen; <1060> Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 104 - darzustellen (oft im Detail), worin dieses „Neue“ sich ausprägt (Wortschatz, Wendungen, Stilformen); - dieses „Neue“ gegenüber dem „überholten Sprachzustand“ in der Bundesrepublik wertend abzugrenzen; - zu beschreiben, in welcher Weise die neuen Sprach- und Kommunikationsgewohnheiten die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft im gewünschten Sinne zu beeinflussen und zu fördern vermögen; - zu verdeutlichen, daß aus der „sozialistisch geprägten Kommunikationsgemeinschaft“ notwendig eine „sozialistische Nation“ entsteht, ebenso wie sich die sprachlichen Besonderheiten der DDR zu einer eigenen „DDR- Variante“ des Deutschen entwickeln. Im ZISW sind wenigstens 20 hauptamtliche wissenschaftliche Mitarbeiter ganz oder überwiegend mit Fragen der sprachlichen Ost-West-Differenzierung und ihrer Ursachen befaßt.[*] Diese Kumulierung wissenschaftlichen Potentials und die straffe Ausrichtung der Linguistik in der DDR haben bewirkt, daß sich das Verhältnis der Arbeiten in der Bundesrepublik zu denen in der DDR zum sprachlichen Ost-West-Problem erheblich verändert hat. Während bis 1971/ 72 die Zahl der westdeutschen zu der Zahl der Arbeiten in der DDR im Verhältnis 3: 1 bis 2: 1 stand, beträgt es seit 1974/ 75 etwa 2: 3. Diese Tendenz dürfte sich noch verstärken. Nur bei den publizistischen Beiträgen in den Massenmedien gab es mehr Veröffentlichungen aus der Bundesrepublik als aus der DDR. Die Literatur zum sprachlichen Ost-West-Problem wird, sofern die Arbeitskapazität vorhanden ist, in der Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch des Instituts für deutsche Sprache (Bonn) bibliographisch erfaßt, archiviert und zum Teil auch ausgewertet. <1061> III. Verwendete Methoden und Bezug zu den Mutterwissenschaften Die wortmonographische Bearbeitung einzelner zentraler, politisch-ideologisch determinierter Termini hat häufig zu detaillierten Erkenntnissen über deren Entwicklung und Inhalte geführt (Beispiele: „Volk“, „Entspannung“, „Errungenschaften“, „Koexistenz“, „Mitteldeutschland“, „Sozialismus“). Wortmonographische Forschung hat u.a. eine wichtige Funktion als „Zubringer“ für lexi- [* Wir wissen heute, dass kein Mitarbeiter des ZISW ganz und hauptamtlich, aber fast jeder Mitarbeiter am WDG und HWDG von Fall zu Fall mit diesen Fragen befasst war. MWH ] Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 105 kographische Vorhaben. Diese Forschung hat sich jedoch in den letzten Jahren nicht weiterentwickelt; sie ist vielmehr zurückgegangen. Untersuchungen an Feldern semantisch benachbarter Begriffe wurden unter Ost-West-Aspekt bisher nur in wenigen Fällen unternommen. 49 Die Vernachlässigung dieser Untersuchungsmethode ist besonders zu bedauern, da sie besser noch als die wortmonographische Untersuchungsmethode in der Lage ist, Umstrukturierungen in bestimmten wichtigen Teilbereichen des Wortschatzes sichtbar zu machen. Ein ähnlicher Mangel besteht an vergleichenden Untersuchungen einzelner, exemplarischer oder besonders prominenter Texte im Hinblick auf Wortschatz, Stil oder andere sprachliche Merkmale. Die Arbeit von Pelster (vgl. oben S. 1053) zu Reden prominenter Politiker im Bundestag und der Volkskammer hat kaum Nachfolger gefunden. Inhaltsanalytische Ansätze sind bisher zu keiner klaren textanalytischen Methodik entwickelt worden. Die vor allem in den USA entwickelte Methode der „content analysis“ ist im wesentlichen, abgesehen von ihrer Anwendung in der Psychologie (Einstellungsforschung), Analyse des Inhalts politischer Schlagwörter geblieben; sie spielt insofern in der Terminologieforschung eine Rolle. <1062> Quantitativ-statistische Verfahren der Inhaltsanalyse, vielfach aus Dokumentationsbedürfnissen entstanden und technisch oft aufwendig, haben bei ostwest-bezogenen Textvergleichen allenfalls die Funktion von Hilfsinstrumenten erreicht. (Eine Ausnahme stellt die Arbeit von M. Folsom / A.C. Rencher, vgl. oben S. 1049 dar). Die Tatsache, daß bestimmte Sach- und Fachbereiche zwischen Bundesrepublik und DDR stärkere Differenzen aufweisen als andere, hat schon früh zu bestimmten Sachgebietsuntersuchungen geführt, z.B. zum Sachgebiet Wirtschaft 50 , zur Sprache des Erziehungswesens sowie des Sports. Weitere Untersuchungen, insbesondere zur Fachsprache des Rechtswesens, des Handels und des Finanzwesens, des Gesundheitswesens und der verschiedenen Sparten der staatlichen und kommunalen Verwaltungen sind erforderlich - auch als Voraussetzung für die immer dringlicheren vergleichenden Fachwörterbücher. Sie setzen allerdings die Zusammenarbeit von Sprachwissenschaftlern und Experten des betreffenden Fachgebietes, für das das Wörterbuch erstellt werden soll, voraus. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 106 In der Regel gestützt auf computergespeicherte Textsammlungen werden entweder einzelne Texte oder ganze Textsammlungen auf das Vorkommen und die Häufigkeit bestimmter sprachlicher Einheiten (z.B. Wörter, Sätze) untersucht. Die Berücksichtigung der Kategorie „Gebrauchshäufigkeit“ ergänzt die bisher üblichen lexikologischen Untersuchungsverfahren in einem wesentlichen Punkt, der in den vorhandenen Wörterbüchern noch vernachlässigt wird; dort steht unterschiedslos Seltenes neben sehr Häufigem. Darüber hinaus vermitteln Frequenzuntersuchungen Einblicke in Verschiebungen innerhalb ganzer Wortschatzstrukturen; sie ermöglichen z.B. auch quantitative entwicklungsbezogene Untersuchungen. Von diesen Möglichkeiten wird, vornehmlich gestützt auf die in Bonn gespeicherten, zeitlich gestuften Zeitungstexte, wenngleich noch zögernd, Gebrauch gemacht. In dem erwähnten Forschungsprojekt der Bonner Forschungsstelle <1063> des Instituts für deutsche Sprache sind differenzierte Frequenzangaben vorgesehen. 51 Angaben zum fremdsprachlichen Einfluß (für die DDR: Russisch, für die Bundesrepublik: Anglo-Amerikanisch) finden sich in vielen Arbeiten. Eine materialreiche und sorgfältig belegte Arbeit liegt von H. Lehmann für den Einfluß des Russischen auf den Wirtschaftswortschatz der DDR (oben S. 1053) vor. Eine umfangreiche, auch nichtsprachliche Faktoren einbeziehende Untersuchung der Anglo-Amerikanismen im Sprachgebiet der DDR ist jetzt in Stockholm als Dissertation (deutschsprachig) erschienen: G. Kristensson, Angloamerikanische Einflüsse in DDR -Zeitungstexten. Unter Berücksichtigung semantischer, pragmatischer, gesellschaftlich-ideologischer, entlehnungsprozessualer und quantitativer Aspekte, Stockholm 1977. Allerdings ist dort gelegentlich ein Mangel an kritischer Distanz gegenüber DDR-eigenen Darstellungen des Themenbereichs und der Gesellschaft der DDR generell bemerkbar. Allgemeine ost-west-vergleichende Vokabularuntersuchungen, wie sie etwa für lexikologische Gesamtdarstellungen erforderlich sind, setzen ein gewisses Maß an Kontinuität und Institutionalisierung voraus, da sie eine systematische Textbasis verlangen und sich schon aus Gründen der Quantität in der Regel über einen längeren Zeitraum erstrecken. Diese Voraussetzungen sind in der Bonner Forschungsstelle des Instituts für deutsche Sprache prinzipiell vorgesehen, jedoch in der Praxis nicht ausreichend realisiert. Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 107 Die ost-west-vergleichende Sprachforschung in der Bundesrepublik versteht ihr Arbeitsgebiet als Teil der Germanistik bzw. germanistischen Linguistik, und zwar in erster Linie der Lexikologie. Moderne, d.h. stärker formalisierte Analyse- und Beschreibungsverfahren etwa der strukturellen Semantik sind allerdings auf dieses spezielle Arbeitsgebiet <1064> bisher kaum angewandt worden, wohl aber gelegentlich Verfahren der (Sprach-)Statistik und der Computer-Linguistik (automatische Umfeldbzw. Inhaltsanalyse). Politische Soziologie und Massenmedienforschung werden als Lieferanten für Basis- Information über den primären Objektbereich, aber auch zur Strukturierung des Problemfeldes herangezogen. Empirische Sozialforschung und Kommunikationsforschung sind bisher im wesentlichen nur perspektivisch bei der Entwicklung weiterführender Fragestellungen und der methodischen Konzeption weiterer Forschung wirksam geworden; soziolinguistische Methoden im engeren Sinne sind dementsprechend bisher kaum angewandt worden. Allerdings ist von seiten dieser Nachbarwissenschaften ein verstärkter Einfluß zu erwarten, u.a. auch deshalb, weil einzelne Vertreter dieser Fächer ihrerseits bestimmte Themen aus dem Problemfeld aufgreifen. <1065> IV. Forschungslücken und Vorschläge zur Forschungsförderung 1. Forschungslücken Die ost-west-vergleichende Sprachforschung in der Bundesrepublik zeigt weiterhin ein Defizit in zweifacher Hinsicht: Sie arbeitet noch zu wenig empirisch, d.h. textbezogen, und zu wenig vergleichend. Konkret zeigt sich dies besonders in folgenden Lücken: Es fehlen: - Entwicklung adäquater Beschreibungsverfahren für semantische Unterschiede bei großen Textmengen (Grundlagenforschung); - vergleichende Gesamt-Wörterverzeichnisse der Ostbzw. West-Spezifika; - vergleichende Fachwörterbücher vor allem für die verschiedenen Gebiete des Rechtswesens, des Handels und der Wirtschaft, des Bildungs- und Erziehungswesens; - vergleichende semantische und pragmatische Untersuchungen zu den Bereichen Werbung und Propaganda; - vergleichende Untersuchungen zur Semantik politischer und ideologischer Internationalismen; Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 108 - vergleichende Wortfeld- und Begriffsfelduntersuchungen; - vergleichende Untersuchungen zwischen literarischem und nicht-literarischem (publizistischem) Sprachgebrauch; - vergleichende Textsortenanalysen. Ebenfalls noch zu wenig entwickelt sind diachronische (sprachentwicklungsbezogene) Untersuchungen, die - unter Einbeziehung auch statistischer Methoden - die Veränderung bei einzelnen Wörtern, Wortfeldern oder ganzen Vokabularien sichtbar machen. Ziel sollte sein, Ansätze zu einer lexikologischen Prognostik zu entwickeln. <1066> Dringend erforderlich ist die Erstellung von Einführungen, Materialzusammenstellungen und praxisorientierten Methodendemonstrationen für Unterrichts- und Studienzwecke. Nicht systematisch bearbeitbar sind bis auf weiteres alle Fragestellungen, die sich auf nicht-öffentlichen Sprachgebrauch beziehen. 2. Vorschläge zur Forschungsförderung Die linguistische Frage nach Art, Ausmaß, Schwerpunkten und Tendenzen der sprachlichen Differenzen zwischen Bundesrepublik und DDR ist für die Beurteilung des Grades an Gemeinsamkeit der deutschen Sprache bedeutsam und insofern von Interesse auch über den Kreis der Linguisten hinaus. Für eine Deutschlandpolitik, deren erklärtes Ziel es ist, für mehr Gemeinsamkeit, mehr Verständigung, mehr Kommunikation zwischen Bürgern beider deutscher Staaten zu sorgen, muß jedoch die daran anschließende Frage von noch höherer politischer Relevanz sein: Welche Folgen haben die festgestellten Wortschatzdifferenzen für die Verständigung zwischen Bürgern aus Ost und West in verschiedenen Situationen, bei verschiedenen Gruppen und unter unterschiedlichen Bedingungen mit anderen, die Verständigung hemmenden oder fördernden Faktoren zusammen? Wann werden Texte, wann wird der Partner auf der anderen Seite nicht mehr verstanden, und welche Folgen hat das für die Verständigungsbereitschaft? Es besteht ein deutliches Mißverhältnis zwischen der gestiegenen Zahl der Kontakte zwischen Bürgern der Bundesrepublik und der DDR einerseits und der Unkenntnis darüber, was sich bei diesen Kontakten tatsächlich ereignet, Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 109 z.B. auf welche Weise und mit welchen Partnern aus welchen Motiven mit welchen Ergebnissen kommuniziert wird. <1067> An einem Forschungsprogramm dieser Zielrichtung müßten konzeptionell beteiligt werden: - die vergleichende Deutschlandforschung (politische Soziologie), - die Massenmedienforschung, - die Sprachforschung, - die empirische Sozialforschung und Sozialpsychologie, - die Kommunikationsforschung. Aus der Fülle der möglichen Themen und Fragestellungen erscheinen folgende als ebenso vordringlich wie auch durchführbar: - Untersuchungen von Art, Inhalten und Tendenzen der mittels Massenmedien der Bundesrepublik vermittelten Informationen über die DDR innerhalb eines ausgewählten Zeitraums und unter Einschluß der Art der sprachlichen Kodierung dieser Informationen. - Ermittlung des Kenntnisstandes über sprachliche und außersprachliche Besonderheiten der DDR bei einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung der Bundesrepublik, differenziert u.a. auch nach politischen Einstellungen und bisherigen Erfahrungen mit der DDR. - Untersuchungen des Verständlichkeitsgrades von Texten mit unterschiedlicher DDR-Spezifik bei differenzierten Gruppen von Bürgern der Bundesrepublik zur Feststellung derjenigen sprachlichen Elemente, die für den Erfolg oder Mißerfolg der Verstehungsprozesse sowie für die Stärkung oder Schwächung der Kommunikationsbereitschaft von Bedeutung sind. - Befragung von Bürgern aus der Bundesrepublik, die die DDR besucht haben, und von DDR-Bürgern, die die Bundesrepublik besucht haben, im Hinblick auf bevorzugte Kommunikations- <1068> partner, Kommunikationsinhalte und Kommunikationsverläufe unter Berücksichtigung vor allem sprachlicher Fremdheitsbzw. Gemeinsamkeitserfahrungen. Voraussetzung für solche Arbeitsvorhaben sowie für eine Verbesserung der Forschungslage generell ist: Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 110 - Die verbesserte institutionelle Absicherung der ost-westbezogenen Sprachforschung; - die Bildung einer interdisziplinären Arbeitsgruppe zur theoretischen und methodischen Grundlegung eines zu erstellenden konkreten Forschungsprogramms; - die Bildung von multidisziplinären Arbeitsgruppen im Rahmen der vorhandenen Forschungskapazitäten zur Erfüllung zeitlich befristeter Projektaufgaben; - die Anregung der Hochschulforschung zu bestimmten Einzelvorhaben; - die Einrichtung einer Clearingstelle für Dokumentations-, Informations- und Koordinationsaufgaben. <1069> Anmerkungen 1 G. Feudel, Zwanzig Jahre DDR - Zwanzig Jahre germanistische und allgemeine Sprachwissenschaft. Rückblick und Ausblick, in: Sprachpflege, 18. Jg., H. 10, Leipzig 1969, S. 193-201, hier S. 200. 2 Theoretische Probleme der Sprachwissenschaft, Teil 1 u. 2, v. e. Autorenkollektiv u. d. Leit. v. W. Neumann, Berlin (Ost) 1976. 3 G. Feudel nannte den Band „Einen Markstein in der Entwicklung der Sprachwissenschaft der DDR “; er sei der erste kollektive Versuch, „die Sprachwissenschaft in die marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft zu integrieren“, wobei man sich „zu gemeinsamen Auffassungen ... buchstäblich zusammengerauft“ habe. (G. Feudel: Ergebnisreiche Gemeinschaftsarbeit der DDR -Linguisten, in: Spektrum, 7. Jg., 1976, H. 12, S. 14-15). 4 W. Hartung, Hrsg., Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft, Berlin (Ost) 1974. 5 G. Lauterbach, Forschungsorganisation in der DDR , in: Analysen und Berichte aus Gesellschaft und Wissenschaft, 1976, H. 2. 6 Dies gilt auch für die linguistische Fachliteratur der Bundesrepublik. 7 Einführungen und Handbücher, die stärker grammatikorientiert sind, heben die Grammatiker in der DDR noch stärker hervor als das Lexikon der Germanistischen Linguistik. M. Bierwisch u.a., Grammatiktheorie, Sprachtheorie und Weltanschauung. Bemerkungen zum Verhältnis der marxistisch-leninistischen Sprachwissenschaft zur generativen Transformationsgrammatik N. Chomskys, in: Linguistische Studien, Reihe A, H. 1, Berlin (Ost) 1973. Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 111 E. Agricola u.a., Hrsg., Die deutsche Sprache - Kleine Enzyklopädie in zwei Bänden. 2 Bde., Leipzig 1969 u. 1970. 10 W. Fleischer, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, 3., überarb. Aufl., Leipzig 1974. <1070> 11 A. Neubert, Semantischer Positivismus in den USA . Ein kritischer Beitrag zum Studium der Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft. Halle/ Saale 1962. 12 W. Schmidt, Lexikalische und aktuelle Bedeutung, Berlin (Ost) 1966. 13 W. Schmidt, Zur Ideologiegebundenheit der politischen Lexik, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, 22 Jg., 1969, H. 3, S. 255-271. 14 W. Fleischer, Ideologische Aspekte der Sprache, in: Deutsch als Fremdsprache, 8. Jg.,1971, H. 3, S. 131-136. 15 Th. Schippan, Einführung in die Semasiologie. Leipzig 1972 (2., überarb. Aufl. 1975). 16 Wiegand / Wolski beurteilen das Buch von Schippan als eine „interessante Fallstudie für den mißglückten Versuch, Fachwissenschaft und ihre Ergebnisse dem Prinzip der Parteilichkeit unterzuordnen“ (a.a.O. S. 72). 17 Probleme der semantischen Analyse. V. e. Autorenkollektiv u. d. Leit. v. D. Viehweger, Berlin (Ost) 1977. Die Autoren nehmen ausdrücklich Bezug auf den oben (Anm. 2) zitierten Band 9 der Reihe Sprache und Gesellschaft: „Theoretische Probleme...“ 18 Auffällig auch an diesem Werk ist die Vernachlässigung westlicher, vor allem westdeutscher Fachliteratur und ihrer Ansätze. 19 Das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ wird in der Bundesrepublik von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt in Kommission vertrieben. 20 Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 6 Bänden, hrsgg. u. Leit. v. G. Drosdowski. 2 Bde., Mannheim 1976. 21 Vgl. dazu: P. Wapnewski, Sprache verrät den Menschen. Die ersten beiden Bände des neuen „Duden-Wörterbuchs der deutschen Sprache“, in: Die Zeit v. 9.3.1977, S. 40f., der hier eine erste vergleichende Würdigung vornimmt. <1071> 22 W. Mentrup, Projekt eines großen interdisziplinären Wörterbuchs der deutschen Sprache, in: Deutsche Sprache, 1976, H. 1, S. 93-96; hier: S. 94. 23 Pragmatik: Lehre von der Anwendung der sprachlichen Zeichen und grammatischen Regeln je nach Sprecherintention, Situation und Partner und von den Wirkungen der Sprachanwendung. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 112 24 E. Kurka, Wirksam reden - besser überzeugen. Einführung in die sozialistische Rhetorik, Berlin 1970. 25 O. Kade, Zur Parteilichkeit des Dolmetschers und Übersetzers, in: Fremdsprachen, 1966, H. 3, S. 159-172; ders.: Übersetzung und Gesellschaft, in: Fremdsprachen, 1966, H. 4., S. 137-244; O. Kade / G. Gassing, Ein Deutsch - zwei Übersetzungen? , in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig, 17. Jg., 1968, H. 2/ 3, S. 185-188. 26 L. Zabrocki, Kommunikative Gemeinschaften und Sprachgemeinschaften, in: Folia Linguistica, Bd. IV, 1970, H. 1/ 2, S. 2-23, S. 16. 27 W. Schmidt, Thesen zum Thema Sprache und Nation, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 25 Jg., 1972, H. 4/ 5, S. 448-450. 28 G. Lerchner, Zur Spezifik der Gebrauchsweise der deutschen Sprache in der DDR und ihrer gesellschaftlichen Determination, in: Deutsch als Fremdsprache 11. Jg., 1974, H. 5, S. 259-265. 29 ders., Nationalsprachliche Varianten. Die deutsche Sprache und das „wirkliche Leben“, in: Forum, 1976, H. 3, S. 10-11. 30 A. Kosing / W. Schmidt, Nation und Nationalität in der DDR , in: Neues Deutschland vom 15./ 16.2.1975, S. 10. 31 P.C. Ludz, Die DDR zwischen Ost und West. Politische Analysen 1961-1976, München 1977; besonders Kapitel C, II (S. 221-241). 32 z.B. Hugo Moser, der in verschiedenen Vorträgen ebenfalls von der „ DDR - Variante“ sprach. 33 Die Ergebnisse müssen allerdings als ungesichert gelten, bis sie aufgrund anderer Textsorten, z.B. publizistischen, überprüft worden sind. <1072> 34 Am deutlichsten in dieser Richtung: O.B. Roegele, Die Spaltung der Sprache. Das kommunistische Deutsch als Führungsmittel, in: Die politische Meinung, 4. Jg., 1959, H. 36, S. 48-60. 35 Eine Ausnahme und erster Versuch in dieser Richtung ist der Aufsatz von H. Moser, Zum Problem der „neutralen“ Neuprägung und Neubedeutung im offiziellen Wortschatz der DDR , in: S. Schwenk u.a., Hrsg., Et multum et multa. Festgabe für K. Lindner, Berlin 1971, S. 249-255 36 In vielen Fällen ermittelt aufgrund von Vergleichen der Leipziger und der Mannheimer Duden-Ausgaben. Vgl. dazu kritisch: A. Schubert / M.W. Hellmann, Duden aus Leipzig und Mannheim, in: Deutsche Studien 6. Jg., 1968, H. 23, S. 248-263. Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 113 37 Vgl. dazu M.W. Hellmann: Bericht über die Arbeit der Forschungsstelle Bonn des Instituts für deutsche Sprache, in: ders., Hrsg., Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR . Methoden und Probleme seiner Erforschung, S. 15-34; hier: S. 20-23. 38 Vgl. dazu M.W. Hellmann: Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme - Fragen bei der Erforschung der sprachlichen Situation in Ost und West, in: Zum öffentlichen Sprachgebrauch ..., a.a.O., S. 126-145, S. 142f. 39 Vgl. dazu die Vorschläge zur Forschungsförderung, S. 1066ff. 40 DDR Handbuch, wiss. Leit. P.C. Ludz u. Mitw. von K. Kuppe, hrsgg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Köln 1975, Stichwort „Sprache“, S. 812-815. 41 Universität Erlangen: I. Friebel, BRD-DDR . Ein Systemvergleich anhand von Schlüsselbegriffen; Universität Hamburg: A. Deichsel, „Headline-Project“ - Inhaltsanalyse von Überschriften div. Tageszeitungen (incl. ND ); Universität Kiel (Institut für politische Wissenschaften): A.J. Goss, Das Deutschlandbild im Fernsehen der BRD und DDR ; E.D. Otto, Die Nachrichtenauswahl des ND . Alle Angaben in: Informationszentrum für sozialwissenschaftliche Forschung, Forschungsarbeiten in den Sozialwissenschaften 1976. Dokumentation, Berlin usw. 1977. <1073> 42 J. Höppner, Über die deutsche Sprache und die beiden deutschen Staaten, in: Weimarer Beiträge, 9. Jg., 1963, S. 576-585. 43 K.H. Ihlenburg, Entwicklungstendenzen des Wortschatzes in beiden deutschen Staaten, in: Weimarer Beiträge, 10. Jg., 1964, H. 3, S. 372-397. 44 V. Klemperer, Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland. Berlin (Ost) 1952. 45 F.C. Weiskopf, Ostdeutsch und Westdeutsch oder über die Gefahr der Sprachentfremdung, in: Neue deutsche Literatur 3. Jg., 1955, H. 7, S. 79-88. 46 Th. Schippan, Die Rolle der politischen und philosophischen Terminologie im Sprachgebrauch beider deutscher Staaten und ihre Beziehungen zum allgemeinen Wortschatz, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 17, 1968, S. 177-183. 47 M. Koliwer, Einige Bemerkungen zu westdeutschen Veröffentlichungen über die Entwicklung der deutschen Sprache in beiden deutschen Staaten, in: Weimarer Beiträge 13, 1967, S. 1044-1053. 48 Vgl. die zitierten Äußerungen von Lerchner (oben S. 1048 und Anm. 29). Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 114 49 Vgl. M.W. Hellmann, Schrittmacher. Untersuchungen zum Sinnbezirk des vorbildlichen Werktätigen in der Zeitungssprache der DDR , in: Teil 1: Muttersprache 80. Jg., 1970, H. 1/ 2, S. 5-15; Teil 2: Muttersprache 80. Jg., 1970, H. 2/ 3, S. 127-135. Vgl. auch H. Bartholmes, Bruder, Bürger, Freund, Genosse und andere Wörter der sozialistischen Terminologie. Wortgeschichtliche Beiträge, Wuppertal / Göteborg 1970. (Die einzelnen Artikel sind wortmonographisch angelegt, ergeben aber in der Zusammenschau eine wortfeldähnliche Aufarbeitung der Personenanreden in der sozialistischen Bewegung.) 50 Vgl. die Arbeit von H. Lehmann, Russisch-deutsche Lehnbeziehungen im Wortschatz offizieller Wirtschaftstexte der DDR (bis 1968), Düsseldorf 1972. 51 Vgl. M.W. Hellmann, Möglichkeiten und Probleme bei vergleichenden Wortschatzuntersuchungen zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik und der DDR , in: Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Jahrbuch 1975 des Instituts für deutsche Sprache, Düsseldorf 1976, S. 242-274. Nachbemerkung des Autors: Im Jahre 1972 schloss die Bundesregierung mit der DDR-Regierung nach zähen Verhandlungen den sogenannten „Grundlagenvertrag“ ab. Er brachte der DDR einerseits die internationale Anerkennung als UN-Mitglied ein, machte andererseits aus dem feindseligen, oft krisenhaft zugespitzten Gegeneinander der beiden deutschen Staaten ein zwar spannungsreiches, aber geregeltes Nebeneinander. Eine Folge (unter vielen) dieser grundlegenden Wende in der Deutschlandpolitik war ein erhöhter Bedarf der (Bundes-) Politik an wissenschaftlich verantworteter Politikberatung. Ein erstes Ergebnis waren die von Prof. Peter Christian Ludz, dem unbestritten führenden Kopf der bundesdeutschen DDR-Forschung, verantworteten und organisierten „Materialien zur Lage der Nation“ (1971/ 72 und 1974). Im April 1975 erteilte der damalige Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke, dem von ihm einberufenen „Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung“ unter Vorsitz von Peter Christian Ludz den Auftrag, ein umfassendes multidisziplinäres Gutachten zur Lage der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung zu erstellen, das in sechs großen Sachgebieten den Stand, die Probleme und die Ergebnisse der bundesdeutschen Forschung sammeln, analysieren und bewerten sollte und zudem Vorschläge zur weiteren Entwicklung des jeweiligen Forschungsgebietes entwickeln sollte. Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung 115 Es wurden im Jahre 1975 zunächst 12 Mitglieder berufen, 1976 wurden 5 weitere Mitglieder nachberufen, darunter ich als Referent für das Teilgebiet „Sprache“ im Fünften Teil: „Sprache und Kultur“ (für das Teilgebiet „Kultur“ wurde der Literatursoziologe Jürgen Scharfschwerdt berufen). Weitere 14 Experten steuerten externe Teilgutachten bei. Das für die schriftliche Darstellung entwickelte Schema war für alle Forschungsgebiete verbindlich. Jeder Text wurde dem Plenum vorgelegt und dort kritisch diskutiert. In den letzten Monaten wurden alle Texte von einer Redaktionskommission überarbeitet und um eine Zusammenfassung ergänzt. Das Gutachten wurde mit 1228 Seiten im März 1978 dem Bundesminister übergeben, in 4 Bänden, die später in 2 Bänden gebunden wurden. Das Gutachten war zunächst für den Dienstgebrauch des Ministeriums bestimmt. Seit den achtziger Jahren konnten die Autoren über ihre Texte wieder verfügen. Der hier gedruckte Text wurde von mir auszugsweise für andere Beiträge verwendet, als Text selbst zuvor jedoch noch nicht veröffentlicht. Dass das Gutachten und die dort enthaltenen Vorschläge zur Weiterentwicklung der sprachlichen Ost-West-Forschung die Lage der damaligen Forschungsstelle Bonn des Instituts für deutsche Sprache, die auf das Thema spezialisiert war, verbessert hätten, kann ich nicht feststellen. Sie wurde 1980 aufgelöst. MWH Aus: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 7 (1980). Mannheim, S. 27-33. Wie unterschiedlich ist die deutsche Sprache in Ost und West? Über die Arbeit der Bonner Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch [F.ö.S.] 1. Das Thema Seit 30 Jahren bestehen nunmehr zwei Staaten auf dem Boden Deutschlands. Trotz vieler weiter bestehender Gemeinsamkeiten haben sich in ihnen - teilweise in einem abgrenzenden Gegeneinander, teilweise in einem immer noch mühsamen Nebeneinander - zwei relativ selbständige Kommunikationsgemeinschaften entwickelt, die erhebliche Unterschiede in Bezug auf die grundlegende politische Struktur, Organisation der Wirtschaft, Rechtssystem und staatlichen Aufbau zeigen. Wie nicht anders zu erwarten, fanden die entstehenden und sich weiter vertiefenden Unterschiede ihren Niederschlag auch in der Sprache, genauer im Wortschatz und im Wortgebrauch. Besonderes Interesse fanden dabei vor allem die Unterschiede in den Definitionen bei politisch-ideologischen Wörtern wie Freiheit, Demokratie, fortschrittlich, wissenschaftlich, daneben auch die große und ständig wachsende Zahl neuer Sachbezeichungen im Bereich der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, der Wirtschaft und des Rechtswesens. Weniger bzw. erst später beachtet wurde das ideologiefernere Alltagsvokabular. Während sich Ost und West in der Zusammenstellung der Fakten nicht einmal so sehr unterschieden, war die Bewertung dieser Fakten von vornherein kontrovers und ist es bis heute. Dem frühen westdeutschen Vorwurf der „Sprachverhunzung“ und „Sprachspaltung“ durch Schuld der Kommunisten begegneten DDR-Wissenschaftler mit ähnlich krassen Gegenvorwürfen (kapitalistische Manipulierung, Überfremdung durch Anglo-Amerikanismen) und der Behauptung, in der DDR werde das sprachliche nationale Kulturerbe gepflegt und durch begrüßenswerte Neuerungen bereichert. In den letzten Jahren scheint die Tendenz eher umgekehrt: In der BRD wird eher die ver- <28> bindende Kraft der (noch) gemeinsamen Sprache betont, während die DDR, analog zur These von der „sozialistischen Nation deutscher Nationalität“ - die Entstehung einer eigenen nationalsprachlichen Variante des Deutschen auf dem Boden der sozialistischen DDR prophezeit. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 118 2. Die Ansätze in der F.ö.S. Als die Bonner Forschungsstelle des IdS im Jahre 1964 (gegründet auf Initiative und unter Leitung von Professor Hugo Moser) - ihre Arbeit aufnahm, fand sie eine Reihe von Arbeiten vor, auf denen sie aufbauen konnte, darunter die Arbeiten von Bartholmes, Betz, Korlén, Moser, Römer; ihnen folgten bald die wichtigen Arbeiten von Dieckmann und Reich. Allerdings war in sehr vielen Arbeiten ein Mangel an ausreichender Materialgrundlage festzustellen. Vielfach betrachtete man die sprachlichen Neuerungen in der DDR als Abweichungen von einer westdeutsch bestimmten Norm, die zudem unter politisch-ideologischem Aspekt bewertet wurde. Manche oft zitierten sprachlichen Beispiele verdankten ihre Beliebtheit nicht immer nur philologischem Interesse am Einzelwort, sie dienten in Ost und West manchmal auch zur Illustration außersprachlicher Hypothesen. In dieser Situation entschlossen sich die Mitarbeiter der Forschungsstelle, das Schwergewicht der Arbeiten zunächst auf die Schaffung einer systematisch aufgebauten, vergleichbaren Textsammlung als Grundlage aller weiteren Auswertungsarbeiten zu legen. Die Wahl fiel auf eine Textgattung, die sprachlich als vielgestaltig, variantenreich, aktuell, aber im Ost-West- Vergleich auch als hochgradig different gelten konnte: auf Zeitungstexte. Zunächst beschränkt auf repräsentative Querschnitte der Zeitungen DIE WELT und „Neues Deutschland“ entstand in jahrelanger Arbeit das „Bonner Zeitungskorpus“, das heute aus Auswahlen aus 18 Jahrgängen - gestuft in Fünf-Jahres-Schritten - der Zeitungen DIE WELT und Neues Deutschland sowie jeweils zwei weiterer West- und Ostzeitungen besteht. Mit ca. 4,3 Mill. lfd. Wörtern ist es das derzeit umfangreichste, nach einheitlichem System aufgebaute Korpus deutscher Gegenwartssprache, die den Zeitraum von 1949 <29> bis 1974 umfaßt. [*] Dieses Korpus konnte und sollte keineswegs nur für die spezielle Fragestellung der F.ö.S. als Grundlage dienen, sondern darüber hinaus für linguistische Untersuchungen vielfältiger Art. Textsammlungen dieser Art können nicht mehr allein „von Hand“ bearbeitet werden, das Material muß maschinell gespeichert und für den menschlichen [* Im Rahmen der Korpora des IDS Mannheim maschinell verfügbar sind nur die 6 Jahrgangspaare WELT und ND mit 3,3 Mill. lfd. Wörtern. MWH ] Wie unterschiedlich ist die deutsche Sprache in Ost und West? 119 Bearbeiter in variabler Form bereitgestellt werden. Darüber hinaus bietet die Datenverarbeitung aber auch die Möglichkeit, die Kategorie „Häufigkeit“ in die Wortschatzarbeit mit einzubeziehen. Neben den im Bonner Zeitungskorpus gespeicherten Texten dienten auch Wörterbücher, insbesondere das in Ostberlin erscheinende und 1978 abgeschlossene Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, das als einziges systematisch die Spezifika der BRD und DDR berücksichtigt, als wichtige Erkenntnisquelle; hinzu trat die Analyse der Sekundärliteratur. Als dritte und zweifellos unverzichtbare Erkenntnisquelle trat die laufende Beobachtung des aktuellen Sprachgebrauchs hinzu. Was die Beobachtung der gesprochenen Umgangssprache betraf, so konnten wir hier aus begreiflichen Gründen nicht in gleicher Weise systematisch vorgehen wie bei der Beobachtung des schriftlichen Sprachgebrauchs, insbesondere der Medien in Ost und West. So ausgerüstet, konnten sich die Mitarbeiter der F.ö.S. an ihr Ziel machen, Art, Ausmaß, Schwerpunkt und Tendenzen der Unterschiede im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR und der BRD, repräsentiert in Zeitungstexten, zu untersuchen und in geeigneter Form darzustellen. Für ein so umfangreiches Ziel reichten allerdings die personellen und finanziellen Mittel des Instituts in keiner Weise aus. Nach längeren Bemühungen bewilligte die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Jahre 1976 das Projekt „Ost-West-Wortschatzvergleiche“, das auf eine Laufzeit von vier Jahren konzipiert war und in mehreren Stufen, wenngleich mit Abstrichen, bis Ende April 1980 bewilligt wurde. <30> 3. Das Projekt „Ost-West-Wortschatzvergleiche“ Das Projekt hat drei Hauptziele: a) Das damals nur aus sechs Jahrgangsauswahlen bestehende Zeitungskorpus sollte erweitert und in der oben erwähnten Weise verbreitert werden. Durch Basisregister (Indices, Register, Konkordanzen) benutzerfreundlich erschlossen, sollte es sowohl für die projektinterne wie auch für projektexterne Benutzung zur Verfügung gestellt werden. Dieses Ziel ist im wesentlichen erreicht. b) Es sollten maschinelle und maschinell-statistische Verfahren entwickelt und angewandt werden, die geeignet sind, einige Schritte weiterzukommen auf dem Wege zu einer empirischen, textgestützten Lexikographie. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 120 Dabei ging es nicht nur darum, den Computer, wie sonst meist üblich, als hochleistungsfähigen Zettelkasten-Ersatz zu verwenden, sondern ihn in die lexikographische Arbeit des menschlichen Bearbeiters als dessen wichtigstes Instrument unmittelbar zu integrieren. c) Schließlich sollten die in den Texten enthaltenen Ost-West-Spezifika weitgehend maschinell ermittelt, ihre Besonderheiten beschrieben und schließlich in „Vergleichenden Wörterverzeichnissen zur ost- und westdeutschen Zeitungssprache“ präsentiert werden. Nachdem etwa 2/ 3 des Gesamtkorpus verarbeitet sind, haben die statistischen Verfahren eine Menge von weit mehr als 20.000 signifikant unterschiedlichen Wortformen an den Tag gebracht. Selbstverständlich können im gegebenen zeitlichen und personellen Rahmen nicht alle diese Wörter auch manuell bearbeitet werden; vorgesehen ist dies für eine Zahl von 1.000 der signifikantesten Stichwörter. Außer den üblichen Angaben zur Grammatik werden die Wortartikel zu diesen 1.000 Stichwörtern Angaben zur Bedeutung, zur Bezeichnung, zum Vorkommen in Kollokationen, Namen, Phraseologismen und Wendungen enthalten. Auch die zum Stichwort gehörenden Komposita und eine Reihe ausgewählter Verwendungsbeispiele werden angegeben. Bei einer nochmaligen Auswahl von 150 aus die- <31> sen 1.000 Stichwörtern wird das maschinelle Zugriffssystem, das eine Überprüfung jedes einzelnen Belegs erlaubt, auch maschinell voll realisiert. Der große Rest der Spezifika und des Basismaterials wird auf Microfichen bereitgestellt, - anders wären die gewaltigen Mengen an Wörtern und Belegen in keinem Regal mehr unterzubringen. Es wäre gewiß eine Illusion zu glauben, mit dem Abschluß dieses Projekts seien nun alle oder auch nur die meisten Fragen zum sprachlichen Ost-West- Problem beantwortbar. Auf einige wichtige Einschränkungen muß hingewiesen werden. Materialbedingte Einschränkungen: Unser Material erlaubt aufgrund seiner Zusammensetzung keine Aussagen über Differenzierungen im Bereich der Fachsprachen, auch nicht der Literatursprache, vor allem aber nicht der gesprochenen Umgangssprache. Vor zu weit gespannten Interpretationen unserer Ergebnisse, etwa im Hinblick auf eine allgemeine „Sprachentfremdung“, muß also gewarnt werden. Wie unterschiedlich ist die deutsche Sprache in Ost und West? 121 Verfahrensbedingte Einschränkungen: Erwünscht wäre eine intensivere Auswertung des Materials durch menschliche Bearbeiter, besonders unter onomasiologischem Aspekt: Welche ähnlich bedeutenden Bezeichnungen einer Sache, eines Vorgangs, eines Begriffs gibt es - gegebenenfalls unter anderen textlichen oder pragmatischen Bedingungen - in Ost- oder West-Texten? Lassen sich unterschiedliche begriffliche Zusammenhänge, möglicherweise unterschiedliche Wortfelder erkennen und beschreiben? Zeitbedingte Einschränkungen: Das über 25 Jahre hin zeitlich gestufte Material fordert zu entwicklungsbezogenen Arbeiten geradezu heraus. Es gibt kein Korpus, das in annähernd vergleichbarer Weise Untersuchungen zur Wortschatzentwicklung der Nachkriegszeit ermöglicht. Leider können solche Fragestellungen im Rahmen des Projekts nicht mehr bearbeitet werden, sie bleiben eine Aufgabe für die Zukunft. Insgesamt werden die „Vergleichenden Wörterverzeichnisse“ und <32> das ihnen zugrundeliegende Material noch kein Endergebnis sein: [ * ] Wir betrachten sie eher als eine Art „Wörterbuch für Weiterverarbeiter“, und zwar auch für Weiterverarbeiter außerhalb des Instituts für deutsche Sprache. 4. Das Projekt „Kleines Wörterbuch des DDR-Wortschatzes“ Wir wissen, daß die Frage nach den Differenzen zwischen ost- und westdeutschem Sprachgebrauch von weit mehr als nur linguistischem, nämlich von allgemeinem Interesse ist. Vor allem diejenigen, die öfter mit Texten aus der DDR zu tun haben oder sich überhaupt für diesen zweiten deutschen Staat interessieren, benötigen oftmals Hilfe beim Verständnis von DDR- Texten. Neben unserer Arbeit an den großen textgestützten „Vergleichenden Wörterverzeichnissen“ haben wir daher ein kleines Wörterbuch des DDRspezifischen Wortschatzes in Angriff genommen, das in allgemeinverständlicher Weise den Kernbestand des DDR-spezifischen Wortschatzes in ca. 800 Stichwörtern erklärt. Es ist, nach 18 Monaten Arbeit, im März 1979 fertig geworden.[ ** ] Verantwortliche Bearbeiter sind Michael Kinne und Birgit Strube-Edelmann. Dieses Wörterbuch ist zwar auch unter Berücksichtigung unserer Texte, jedoch ohne maschinelle Hilfe auf traditionelle Weise hergestellt worden. Das Wörterbuch beansprucht weder Vollständigkeit im Wort- [ * Zum Endergebnis siehe den Beitrag Nr. 10 (1992).] [ ** Erschienen in 1. Aufl. 1980, 2. Aufl. 1981 im Pädag. Verlag Schwann, Düsseldorf.] Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 122 schatz noch erschöpfende Beschreibung der einzelnen Stichwörter, vor allem will es keine politischen Zensuren erteilen. Es will in erster Linie Orientierungsmittel und Verständnishilfe beim Umgang mit DDR-Texten bieten. 5. Das Projekt „Lunder Korpus“ Parallel zur Arbeit am Bonner Zeitungskorpus und ebenfalls von der DFG finanziert wurde ein weiteres Korpus deutscher Zeitungssprache, nämlich das an der Universität Lund von Frau Professor Rosengren aufgenommene Lunder Zeitungskorpus, bestehend aus Texten der Süddeutschen Zeitung und der WELT des Jahrgangs 1967, bearbeitet. Ziel des Projekts war die Korrektur der Texte sowie ihre benutzerfreundliche Bereitstellung in Form von Magnetbändern und Basisregistern auf Microfiches. Das Projekt mußte abgebro- <33> chen werden, nachdem sich herausstellte, daß infolge einer unerwartet hohen Fehlerquote der zur Verfügung stehende finanzielle und zeitliche Rahmen schon für die Korrektur der Texte der Süddeutschen Zeitung (1/ 4 der Gesamtmenge) ausgeschöpft worden war. Zur Zeit werden die korrigierten Texte der Süddeutschen Zeitung auf der Rechenanlage des IdS in Mannheim in der vorgesehenen Weise verarbeitet und später als Microfiche der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 6. Schlußbemerkung Die Untersuchung von Art, Ausmaß, Schwerpunkten und Tendenzen der Unterschiede im Wortschatz zwischen Ost und West ist sicherlich eine Aufgabe von hohem fachwissenschaftlichen und auch allgemeinem Interesse. Allerdings kann es bei dieser lexikologischen Fragestellung nicht bleiben, vielmehr muß die Frage gestellt werden, welche Rolle denn die von uns festzustellenden Wortschatzdifferenzen für die Verständigung spielen, und zwar neben anderen, möglicherweise wichtigeren Faktoren wie sprachlichem und außersprachlichem Vorwissen, Erfahrungen, Einstellungen und Vorurteilen und anderen psychologischen oder sozialen Bedingungen. Wir wissen kaum etwas über die Bedingungen, Arten und Verläufe von Kommunikationsvorgängen zwischen Bürgern aus Ost und West, über die Schwierigkeiten, die dabei auftreten, und über die Möglichkeiten und praktisch angewandten Verfahren, solche Schwierigkeiten zu überwinden. Solches Nichtwissen und das geringe Bemühen, es zu beseitigen, ist schwer verständlich angesichts des hohen Ranges, den man solchen Begriffen wie Verstehen und Verständigung für das Bewußtsein einer weiter bestehenden Gemeinsamkeit zwischen Deutschen in Ost und West beizumessen pflegt. Aus: Sprachreport 4/ 1986, S. 7. Wort-Kluft Ost-West? Erdmöbel Der Zollstock heißt in der DDR Holzgliedermaßstab; und die Kinder und Jugendlichen, die allwöchentlich ihren obligatorischen Unterrichtstag in der Produktion abzuleisten haben, wo sie in aller Regel mit Hilfsarbeiten betraut werden, sind angehalten, nur diesen Ausdruck zu verwenden. Die Briefkästen in den Neubaublocks werden Hauspostschließfachanlagen genannt. Der schlichte Sack ist jetzt im anderen Deutschland aufgewertet zum flexiblen transportablen Schüttgutbehälter. Ein Bastelbogen mit Militärfahrzeugen, „für Kinder ab zehn Jahren“, lockt zum Abenteuer NVA (Nationale Volksarmee), und ein schnauzbärtiger Freizeitkämpfer von der „Gesellschaft für Sport und Technik“ - eine paramilitärische Organisation, die auf den Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee vorbereitet - wirbt um Mitarbeit im örtlichen Zivilschutzverteidigungskommando. Eine Ost-Berliner Sargtischlergenossenschaft, offenbar um ihr Ansehen bangend, hat sich in eine „Produktionsgenossenschaft Erdmöbel“ umgetauft. Bei der „Zentralvorstandssitzung“ der Blockpartei, so hieß das offiziell, wurde die ideologisch-schöpferische Arbeit der Ortsgruppenkomitees ausdrücklich mit Lob bedacht. Die Sprachschöpfer, die in der DDR allerorten am Werk sind und fast täglich die Kluft zwischen Ost- und West-Deutsch vertiefen, haben zumindest eine Anerkennung im Fach „unfreiwillige Komik“ verdient. mi So stand es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Sept. 1986, S. 25. Auf erfundene DDR-Wörter reingefallen Es ist ja einerseits erfreulich, wenn sich die Presse einmal wieder des Themas der sprachlichen Differenzierung zwischen den beiden deutschen Staaten annimmt. Aber doch - mit Verlaub - nicht so! Da ist die Rede von der DDR-Sargtischlerei, die sich angeblich Produktionsgenossenschaft Erdmöbel nennt. Tatsächlich handelt es sich, wie schon mehrfach in der Presse erwähnt, um eine spöttische Erfindung der (mäßig) satirischen Ost-Berliner Zeitung Eulenspiegel, und genau so ist auch der flexible transportable Schüttgutbehälter keine DDR-Bezeichnung für Sack, sondern eine spöttische Pseudodefinition (ein Sack ist ja tatsächlich ein ... siehe oben). Zivilschutzverteidigungskommando ist überhaupt kein DDR- Wort, sondern vermutlich eine Erfindung des FAZ-Glossisten „mi“, denn es handelt sich um eine Vermischung aus Westdeutsch Zivilschutz und Ost- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 124 deutsch Zivilverteidigung und Gemeindeutsch Kommando. In der DDR heißen Briefkästen auch weiterhin allgemein Briefkästen, aber es gibt in großen Neubauwohnblocks Briefkasten-Anlagen mit Dutzenden von Schließfächern - manchmal im Parterre, manchmal auch gesondert installiert, die bei der Post der DDR dann Hauspostschließfachanlagen genannt werden. Ich vermute, unsere Bundespost kommt auf ähnliche Einfälle. Statt Bundesvorstand, wie bei uns, sagen die Parteien in der DDR natürlich Zentralvorstand - was denn sonst, da die DDR nun mal kein Bund ist. Und wie definiert unser zweibändiger Brockhaus (1984) den angeblich in der DDR so verhunzten Zollstock? - Gliedermaßstab! Auch bei uns verändert sich Sprache - laufend. Kümmern sich eigentlich unsere bundesdeutschen Sprachschöpfer darum, ob sie die „Kluft zwischen Ost- und Westdeutsch vertiefen“, wenn sie täglich neue Wörter erfinden? Es ist ja wahr: In der DDR haben sich sprachliche Veränderungen ereignet, die manchmal dem westdeutschen Besucher, sicherlich aber auch vielen DDR-Bürgern, zu schaffen machen; teils Auswüchse bürokratischer Haltungen und Sprechweisen, die von der DDR-Presse meist kritiklos verbreitet werden, teils Zeugen wirklicher Veränderungen; einiges davon gehört zu den Ritualen öffentlicher Kommunikation, anderes schon zum Alltag. Es ist gar nicht nötig, Beispiele zu erfinden oder Spottausdrücke als bare Münze anzubieten. Es gibt genug echte Beispiele, es gibt sogar schon Wörterbücher für sprachliche DDR-Besonderheiten. Wie gravierend solche Unterschiede sind, entscheidet sich nicht zuletzt an unserer Informiertheit, an unserem Interesse, an unserer Offenheit gegenüber den Deutschen in der DDR und ihren Lebensumständen. Die FAZ-Glosse trug wohl kaum dazu bei. Manfred W. Hellmann Literaturhinweis: DDR Handbuch, 3. Aufl. (Verl. Wissenschaft und Politik) Köln 1985; darin Stichwort „Sprache“ (von M. W. Hellmann), Bd. 2, S. 1261-1266. Aus: Forum für interdisziplinäre Forschung 2, 2 (1989), S. 27-38. Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? [ X ] Acht Thesen zur öffentlichen Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik ✼ Z u s a m m e n f a s s u n g : Der Beitrag skizziert in acht Thesen den Umfang der sprachlichen Ausdifferenzierung zwischen der BRD und der DDR und vertritt dabei die Auffassung, daß in vielen Teilbereichen die Verständigung in vollem Umfang nur mehr durch spezielle Transferleistungen gesichert werden kann, die z.Z. überwiegend von den DDR -Bürgern erwartet und erbracht werden. Nicht bloß in der offiziellen „Verlautbarungssprache“ finden sich zahlreiche sprachliche Spezifika, sondern auch im Alltag - und letztlich sei dies wichtiger. Hellmann fordert vor diesem Hintergrund eine erhebliche Steigerung der Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft vor allem bei den Bürgern der BRD und plädiert abschließend für die Entwicklung zu einer (mehrstaatlichen) deutschen „Kommunikations-Nation“. Ich beabsichtige nicht, Sie hier mit fertigen Fakten, Meinungen, Gesichtspunkten zu bedienen, sondern ich möchte versuchen, Sie mit zu verwickeln in die Widersprüchlichkeit der Fakten, der Bewertung der Fakten und der Meinungen darüber. Nehmen Sie also die folgenden Thesen bitte nicht als meine Meinung, sondern als Versuch, Meinung bei Ihnen zu provozieren - widersprüchliche selbstverständlich. Unsere Sprache - ein einigendes Band der Nation? Eine Beschäftigung mit dem Thema der „sprachlichen Differenzierung zwischen den beiden deutschen Staaten“ (so der unter den Fachkollegen meist gebrauchte sehr umständliche Titel) oder (wie Walther Dieckmann das 1967 formuliert hat 1 ) des „sprachlichen Ost-West-Problems“ - also die Beschäfti- [ X Zuerst als Vortrag auf einem Symposium an der Universität Passau: „Wirkung und Wandlung der Sprache in der Politik“ (25./ 26. Nov. 1988). Zuerst veröffentlicht im gleichnamigen Tagungsband (Eigendruck der Universität Passau 1989), S. 89-114, dort noch sehr stark in der Diktion der mündlichen Rede (Tonbandabschrift). Für den hier vorliegenden Text 1989 wurde diese Diktion abgemildert, aber nicht beseitigt.] ✼ Nach Jahrzehnten auch sprachlicher Stagnation überholt die DDR -Wirklichkeit in atemberaubender Entwicklung - endlich - jede sprachwissenschaftliche Analyse. Die sprachlichen Folgen der soeben begonnenen demokratischen Wende in der DDR sind hier nicht berücksichtigt. MWH . Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 126 gung mit diesem Thema darf, so meine ich, durchaus mit einer Respektbezeugung beginnen vor dem Mann, der sich vor beinahe 40 Jahren zum ersten Mal zu diesem Thema geäußert hat, der sich als ein sensibler Philologe und ein wackerer Patriot Sorgen gemacht hat um die deutsche Sprache, um ihre „Einheit und Reinheit“ (wie er und einige andere das damals formulierten) und um die Gefahr ihrer Auseinanderentwicklung. Ich spreche von Victor Klemperer, dem Verfasser des Buches „LTI - Lingua Tertii Imperii“ 2 , das er in der Zeit der Verfolgung durch die Nazis in tiefer Illegalität geschrieben und nach dem Krieg veröffentlicht hat. Das trug ihm hohe Anerkennung ein: In der DDR war er Volkskammerabgeordneter und Nationalpreisträger, verehrte Stalin, der ihm im übrigen auch einige Argumente lieferte, um sich mit dem „sektiererischen Jargon“ seiner eigenen Funktionäre auseinanderzusetzen. Victor Klemperer war es, der die Ausdrücke „Funktionärjargon“ und „Kaderwelsch“ in der DDR prägte. Gleichzeitig wandte er sich auch gegen die „angloamerikanische Überfremdung“ durch die „amerikanischen Gewaltherren“ im anderen Teil des besetzten Deutschlands. Ich zitiere aus drei verschiedenen Veröffentlichungen von ihm: Die von 1953 z.B. heißt: „Unsere Sprache - ein einigendes Band der Nation“. 3 Ich erwähne diesen Titel ausdrücklich, weil die Formulierung „einigendes Band der Nation“ bis heute aktuell ist in öffentlichen Äußerungen, auch zum Beispiel unserer Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen. Nicht nur das begleitet eigentlich die Diskussion über die deutsche Sprache und ihrer Differenzierung oder Nichtdifferenzierung, ihrer Entwicklung zu verschiedenen Varianten oder Nichtvarianten über die ganze Zeit hin bis heute. Sondern ebenso die Sorge um den Verlust dieser Einheit. „Und alle wissen wir, welche ungeheuere Rolle für die Einheit einer Nation die Einheit ihrer Sprache spielt. Sie ist das innigste Band, das ein Volk in der Mannigfaltigkeit seiner Gruppen, Klassen und Parteien zusammenhält [...]. Eine Sprache ist [...] das gemeinsame Eigentum aller Teile der Nation und das gemeinsame Verkehrs- und Verständigungsmittel all ihrer Teile“. 4 „Da nun die Einheit der deutschen Nation aufs schwerste gefährdet ist, und es darauf ankommt, daß ihr geistiger Zusammenhang, ihr einander Verstehen unbedingt gewahrt bleibt, so bedeutet schon die leiseste sprachliche Dissonanz eine schwere Gefahr“. 5 Noch stärker sichtbar wird die Befürchtung in dem Bild, das Victor Klemperer an die Wand gemalt hat, man <28> werde vielleicht eines Tages in den Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 127 Schaufenstern des Auslandes Schilder sehen, wie: „Hier spricht man Westdeutsch. - Hier spricht man Ostdeutsch“. Ich komme damit gleich zu meiner ersten These: Die deutsche Sprache macht (bedingt durch die Teilung in zwei Kommunikationsgemeinschaften mit entgegengesetzten Ordnungen) eine Phase der Auseinanderentwicklung durch. Zwei „Sprachen“ in Deutschland? 6 Obwohl Klemperer seine Befürchtungen gleich wieder relativierte, war sein sehr eingängiges Bild Ausgangspunkt für zahlreiche auch massiv geäußerte Befürchtungen, die deutsche Sprache werde sich spalten. Diese Sprachspaltungsbefürchtung wurde in unseren Medien sehr schnell umgesetzt in einen Sprachspaltungsvorwurf gegen das nun in der Tat inhaltlich und sprachlich sehr konträr sich verhaltende und formulierende System, das sich in der DDR entwickelte. Die herrschende Partei in der DDR versuche, so hieß es, die hergebrachte Bedeutung von Begriffen zu „verfälschen“, zu „verhunzen“, zu „verdrehen“. 7 Bei Otto B. Roegele war von „Sprachkrieg“ die Rede, von einem „teuflisch-grandiosen Versuch, durch Umschaffung der Worte auch das Weltbild der Menschen umzuschaffen, der Versuch, die zweite Schöpfung zu pervertieren in die satanische Schöpfung einer Gegenwelt“. 8 Also, da wurde schon sehr massiv argumentiert und debattiert. Eine breitere sprachwissenschaftliche Diskussion des Themas begann in der BRD erst Anfang der 60er Jahre. DDR-Germanisten und -Linguisten dagegen griffen das Thema nur sehr zögernd auf. Sie wandten sich in einer durchaus engagierten, aber doch eher defensiven Haltung gegen diesen Sprachspaltungsvorwurf: Während die Sprache in der Bundesrepublik geistig und auch in der Formulierung auf dem früheren Stand - typisch für eine antagonistische Klassengesellschaft - stehenbleibe, entwickle sie sich in der DDR fortschrittlich und produktiv weiter. Dort werde das Neue, werde das nationale Kulturerbe gepflegt und progressiv weiterentwickelt. 9 Insofern war die Haltung der DDR-Linguistik zu dem damaligen Zeitpunkt teilweise zustimmend: Es werde eine Weiterentwicklung, aber nicht eine Auseinanderentwicklung geben. Wenn sich jemand aus der Entwicklung der deutschen Sprache und aus dem nationalen Kulturerbe auskoppele, dann sei es die „westdeutsche Bundesrepublik“. So etwa war die Situation in den 60er Jahren. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 128 „Sozialistische Nationalsprache“? Nicht gerade plötzlich, aber doch mit einer nur relativ geringen Übergangszeit von eineinhalb Jahren begann die DDR sich deutlich abzugrenzen. Abgrenzungspolitik wird zwar immer der Honecker-Ära zugeordnet, sie begann aber schon zur Zeit Ulbrichts - ab etwa 1967 ist sie nachweisbar. Im Juni 1970 hielt Ulbricht auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED eine berühmt gewordene Rede über Kultur und Sprache: „Sogar die einstige Gemeinsamkeit der Sprache ist in Auflösung begriffen. Zwischen der traditionellen deutschen Sprache Goethes, Schillers, Lessings, Marxs und Engels, die von Humanismus erfüllt ist, und der vom Imperialismus verseuchten und von den kapitalistischen Monopolverlagen manipulierten Sprache in manchen Kreisen der westdeutschen Bundesrepublik besteht eine große Differenz. Sogar gleiche Worte haben oftmals nicht mehr die gleiche Bedeutung. [...] Vor allem aber müssen wir feststellen: Die Sprache der Hitlergenerale, der Neonazis und Revanchepolitiker gehört nicht zu unserer deutschen Sprache, zur Sprache der friedliebenden Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, die wir lieben, schätzen und weiterentwickeln.“ 10 Der spezifisch linguistische Beitrag zu dieser neuen Position der DDR, die dann später nach dem VIII. Parteitag 1971 den Namen „Abgrenzungspolitik“ erhielt, oder besser gesagt, der auffallendste, stammt von Gotthard Lerchner 11 . Er greift sofort wieder auf die Metapher „einigendes Band“ von Victor Klemperer zurück, unterstellt sie jetzt aber den westdeutschen Linguisten, die davon Gebrauch gemacht haben. Er schreibt: „Das Schlagwort vom ‘einigenden Band der deutschen Sprache’ kann zumindest keine nationalsprachliche Einheit mehr reklamieren, sondern sich allenfalls auf Übereinstimmung in lediglich einer, nämlich der schrift- oder literatursprachlichen Existenzform des Deutschen berufen. [...] Die Wirklichkeit des sprachlichen Gebrauchs ist hier wie dort von der Realität gegensätzlicher Gesellschaftsordnungen bestimmt. [...] Wir haben es nunmehr mit vier nationalsprachlichen Varianten zu tun, dem Deutschen in der DDR , der BRD , in Österreich und in der Schweiz“. Ihre Ausgliederung zu einer „völlig eigenständigen Nationalsprache“ sei jedoch, so fügt er hinzu, noch „Spekulation“. 12 Siegbert Kahn allerdings schreibt dazu schon in der „Weltbühne“ von 1974: „Es handelt sich um eine hochpolitische Sache: Die sozialistische Nation kämpft um ihre unverfälschte Nationalsprache, sie grenzt sich offensiv von der mit Amerikanismen und Anglizismen durchsetzten Sprache ab, die in der imperialistischen BRD gesprochen und geschrieben wird“. 13 Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 129 Soweit also die Meinungen zu dem Thema, die deutsche Sprache entwickle sich auseinander, sie müsse sich auseinanderentwickeln; ja - es sei sogar zu begrüßen, es sei unvermeidlich, es sei geschichtsnotwendig, so wie die Herausbildung einer sozialistischen Nation geschichtsnotwendig sei. Zur gleichen Zeit änderte die DDR auch ihre Verfassung in bestimmten Punkten: In der Präambel der neuen Verfassung von 1974 steht nicht mehr „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation“, sondern „[...] ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“. Damit will ich nicht sagen, daß die DDR - und das war auch damals schon zu vermuten - sozusagen die nationale Option aus ihrer Argumentation gestrichen hätte. Daß sie das nicht hat, wissen wir inzwischen seit Anfang der 80er Jahre. <29> Aber lassen wir die mit der Abgrenzungspolitik zusammenhängende Zuspitzung der Argumentation beiseite und fragen einmal folgendes: Was spricht eigentlich für und was gegen diese These der Auseinanderentwicklung - sei sie nun erwünscht oder nicht? Unterschiede sind nicht zu bestreiten, sind auch nie bestritten worden - weder im Osten noch im Westen. Auch nicht ihre rapide Ausbreitung in den ersten Jahren nach dem Krieg - im Zusammenhang zum einen mit der Etablierung unterschiedlicher Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, zum andern mit der Etablierung der beiden Staaten und ihrer Institutionen natürlich - und deren Weiterentwicklung bis heute. Unterschiede im Wortschatz ... Ich weise als erstes hin auf die Fundamentalunterschiede im Bereich der ideologischen Terminologie. Aus diesen Unterschieden wird kein Geheimnis gemacht - abgesehen vielleicht von den Anfangsjahren, wo man der DDR vorwerfen konnte, daß sie mit dem Wort Demokratie/ demokratisch vielleicht ein falsches Spiel trieb, weil diese Wendung „antifaschistisch-demokratische Neuordnung“ sich scheinbar auch an bürgerliche Gruppierungen und Parteien richtete, tatsächlich aber nicht so gemeint war. Gemeint war, wie sich dann auch zeigen sollte, die Richtung einer kommunistischen Herrschaft, nicht etwa einer wie auch immer pluralistisch-demokratischen - unter Einschluß der bürgerlichen Parteien. Von dieser Anfangsphase abgesehen kann man sagen, ist eine Täuschungsabsicht mit der Verwendung politischer Begriffe heute in der Regel nicht verbunden. Die DDR betont, daß sie unter Demokratie, Freiheit, sozial, Hu- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 130 manismus, Frieden, Koexistenz, aber auch den Negativbegriffen, wie Aggression u.ä. durchaus etwas anderes versteht als ihre bürgerlichen Gegenspieler. Das wird in den Schulen klargemacht, das steht in den Lehrbüchern sowie in den Wörterbüchern drin. Und wenn noch irgendwo ein Zweifel bestünde, würde das ‘Neue Deutschland’ diesen Zweifel sofort ausräumen - auf dem Fuße gefolgt vom Rest der DDR-Presse. Ständig wird an der Präzisierung des ideologischen Vokabulars gearbeitet, sowohl des Grundvokabulars, das ja relativ konstant bleibt, aber in bestimmten Schattierungen kolportiert wird, wie auch an den propagandistischen Aktualisierungen. Eine solche Aktualisierung liegt zum Beispiel gerade vor beim Gebrauch des Wortes Umgestaltung. Umgestaltung ist ein Wort, mit dem die DDR von Anfang (1946) an schon die Prozesse benannte, mit denen sie Staat und Gesellschaft umformte - auf welche Weise auch immer. Das Wort steht an Stelle von Bodenreform, von Reform überhaupt, von Revolution, von Veränderung. In allen diesen Fällen sagte man in der DDR auch Umgestaltung, obwohl die anderen Bezeichnungen auch noch da waren. Mangels einer richtigen Revolution in der DDR sprach man aber oft und gern von wissenschaftlich-technischer Revolution, bezeichnete aber andererseits die von uns so genannte „Kollektivierung der Landwirtschaft“ (also die Errichtung von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und dergleichen) als sozialistische Umgestaltung auf dem Lande. Es gibt eine relative Kontinuität dieser Bezeichnung - bis Gorbatschow die „Perestroika“ propagierte. Perestroika wird bis heute in der DDR offiziell so gut wie nicht verwendet, sondern in den Übersetzungen der Texte aus dem Russischen, sofern sie vollständig übersetzt werden, ist immer von Umgestaltung die Rede - nicht von dem inzwischen international bekannten und diskutierten Schlagwort „Perestroika“. 14 In diesen übersetzten Texten bekommt Umgestaltung eine äußerst interessante, geradezu pikante Note. Es sieht nämlich so aus, als sei Gorbatschows „Umgestaltung“ nichts weiter als die Verlängerung oder eine Variante der in der DDR immer schon bekannten und geläufigen Umgestaltung. Die DDR gestaltet seit 1946 ständig und kontinuierlich um. Und Kurt Hager hat genau das auch gerade betont: die DDR habe so etwas wie Perestroika nicht nötig; Umgestaltung habe es in der DDR schon immer gegeben und immer zur rechten Zeit. - Dies ist nun kein hochgradig ideologischer Begriff, aber durchaus ein ideologisierter Begriff in einer ganz bestimmten propagandistischen Ausprägung, in einer bestimmten Verwendung zu einem ganz bestimmten Zweck. Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 131 Manchmal verschwinden Ideologiewörter aus Gründen propagandistischer Opportunität weitgehend aus dem Vokabular. So ist die DDR z.B. mit dem politischen Schimpfvokabular seit etwa 1973 sehr vorsichtig geworden. Im gleichen Maße, wie sich die Beziehungen normalisierten zwischen BRD und DDR, nahm sie diese permanenten Vorwürfe, wie Imperialismus, Revanchismus, Militarismus, Monopolherren, Bonner Ultras, aggressiv etc. zurück. Man kann das sehr schön in den Zeitungstexten verfolgen, wenn man sie historisch, etwa im Zeitraum 1964-1974 untersucht. Im gleichen Maße wie die institutionelle Abkürzung BRD im ‘Neuen Deutschland’ geläufig wurde, gingen die eben genannten massiven polemischen Invektiven zurück. 15 Hochdifferent ist auch der Wortschatz der staatlichen Institutionen, in dem sich - das darf nicht vergessen werden - in der BRD mindestens soviel geändert hat wie in der DDR, nur fällt uns das natürlich nicht mehr auf. Für jemand, der 40 Jahre nicht in Deutschland war, wäre das sicherlich sehr auffällig, was sich inzwischen in der BRD alles geändert hat und wie unterschiedlich der BRD-spezifische Wortschatz ist - nicht nur gegenüber der DDR, sondern auch gegenüber dem gemeinsamen Nullpunkt von 1945. Um das Grundwort „Bund“ herum hat sich ein ganzes Feld neuer Institutionenbezeichnungen gebildet: Bundeskanzler, -präsident, -tag, -rat, -versammlung, gesetz, -ärztekammer, Bundesverband der deutschen Industrie, aber auch die Neubedeutung für Bund ‘Bundeswehr’. Aus dem Bereich „Wahlen“ nenne ich Listenmandat, Zweitstimme, Stimmensplitting und Mandatsrotation, wie auch Parteienfinanzierung; aus den Parteinamen nur die neuen wie AL, Die Grünen, Graue Panther, Europäische Volkspartei, Republikaner und sehr farbige Koalitionsbezeichnungen: neben Rot-grün und Schwarz-gelb nun auch die „Ampelkoalition“ und die „Haselnuß-Koalition“ („Schwarzbraun ist die Haselnuß...“). Steuergesetzge- <30> bung (7-b-Abschreibung, Quellensteuer, Berlin-Förderungsgesetz, Zonenrandgebiet, Abschreibungsruine), Sozialgesetzgebung (Wohngeld, Wohnberechtigungsschein, Sozialwohnung, Babyjahr, Pflegeversicherung, „Blüm-Bauch“) und alle anderen Sachbereiche, nicht zuletzt auch die Bundespost (ARD, ZDF, Kabelanschluß, Satellitenfernsehen, BTX, Videotext, Breitbandnetz) sorgen für Nachschub an immer neuen spezifischen Wörtern. - Nicht weniger der Bereich der Wirtschaft. Ich erwähne hier das Vokabular der Wirtschaftsstruktur in der DDR: VEB, VVB und Kombinate, LPG, VEG und dergleichen mehr; die PGH (Produktionsgenossenschaft des Handwerks), zwischendurch mal die halbstaatlichen Betriebe mit ihren Komplementären; die durchaus auch alltagsrele- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 132 vanten Strukturen in den Betrieben selber, die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL), die eine ähnliche, aber doch auch wieder andere Funktion als unsere Betriebsräte etwa haben, die (Betriebs-)Kampfgruppe, die Betriebssportgemeinschaft (BSG) u.v.a. Ich erwähne ferner das in der DDR grundlegend umgestaltete Rechtswesen, zum Beispiel die Gesellschaftlichen Gerichte, die Konfliktkommission, die Schiedskommission. Bei uns haben wir in dem Bereich nur den Schiedsmann, die Schiedsgerichtsbarkeit; sie hat aber längst nicht so viele Funktionen wie in der DDR die Gesellschaftlichen Gerichte. Ich verweise nur auf die grundlegenden Änderungen, die im Zivilrecht (wir sagen Bürgerliches Recht) und im Strafrecht (im politischen Strafrecht im besonderen) stattgefunden haben. Erziehungswesen ist ebenfalls ein Bereich massiver Änderungen, wobei man allerdings hinzufügen muß, daß hier die Bundesrepublik den Vogel abgeschossen hat: Die Bundesrepublik hat mehr und häufiger reformiert als die DDR, und dann noch nicht einmal bundeseinheitlich, weil unsere Bundesländer ja nun einmal Wert darauf zu legen scheinen, niemals völlig einer Meinung zu sein. Das DDR-Schulwesen ist im Vergleich zu unserem von geradezu herrlicher Schlichtheit und Einfachheit. DDR-Eltern, die umziehen, wissen das zu schätzen. Allein der Wortschatz unserer reformierten Oberstufe oder Kollegstufe ist ein Problem, mit dem viele (auch akademisch ausgebildete) Eltern schlicht überfordert sind. Das ist in der DDR anders. In allen diesen Sachbereichen, die gesellschaftszugewandt sind, ist überhaupt nicht zu bestreiten, daß in der Tat fundamentale sprachliche Unterschiede bestehen, die den fundamentalen Unterschieden der Gesellschaft entsprechen und auch entsprechen müssen. Das ist überhaupt nicht anders zu erwarten gewesen - das ist notwendig. Notwendig sozusagen als „Sachzwang“. Wenn es aber darum ginge, wer mehr differenten oder spezifischen Wortschatz entwickelt hat, würde der Vergleich in vielen Bereichen zugunsten der Bundesrepublik ausfallen. Man schiebt der DDR hier oftmals zu Unrecht in die Schuhe, daß sie sozusagen Schuld sei an dem hohen Maß an Unterschieden. Das trifft wohl auf manche Gebiete zu, aber eben - nicht auf alle. In manchen Gebieten hat die BRD mehr Neues und Spezifischeres entwickelt als die DDR, so z.B. in den Bereichen Marketing und Produktwerbung, in Teilbereichen der Wirtschaft wie Kapital-, Spar- und Bauförderung, in Öko- Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 133 logie und Umweltschutz (die in der DDR lange Jahre öffentlich undiskutiert blieben), aber auch bei Themen wie Arbeitslosigkeit oder Drogenproblemen. Horst Dieter Schlosser hat erst kürzlich erklärt, er sei sogar „fest davon überzeugt, daß nicht die DDR sich schneller von einem gemeinsamen Ausgangspunkt entfernt hatte, sondern die Bundesrepublik“ (S. 40), denn sie „erfährt ungleich stärkere Innovationsschübe als die DDR, auch auf sprachlichem Gebiet“ (S. 41). 16 ... und in der Kommunikation DDR-Linguisten weisen außerdem darauf hin, es gebe in der DDR andere Kommunikationsbeziehungen. Das ist dort positiv gemeint: ein anderes, besseres Umgehen der Menschen miteinander. Das mag sein. Ich meine etwas anderes: Es gibt in der DDR in der Tat öffentliche Kommunikationssituationen, die es bei uns so nicht gibt: die Aussprache, die Rechenschaftslegung, den Erfahrungsaustausch (auch im Plural). 17 Das sind öffentlich inszenierte Veranstaltungen. Natürlich können sich in der DDR Kollegen untereinander „aussprechen“ oder kann dort auch ein Chef mit einem Mitarbeiter eine „Aussprache“ haben. Dieser Gebrauch von Aussprache ist also weiterhin möglich, aber im öffentlichen Bereich ist damit eine Veranstaltung gemeint, die „von oben“ angesetzt wird und in dem über vorgegebene Themen in einer bestimmten Weise kommuniziert wird (z.B. als „Kritik und Selbstkritik“), und am Ende einer solchen „Aussprache“ kann eine Willenserklärung, eine Verpflichtung und (wenn es ganz hervorragend läuft) eine Initiative stehen - das wäre optimal. - Rechenschaftslegung heißt nicht nur, daß jemand, der gewählt werden will, Rechenschaft vor seinen Wählern ablegt; das gehört zwar auch dazu, und auch das ist relativ genormt. Mitgemeint ist jedoch, daß die Wähler Rechenschaft ablegen (und zwar, was sie im abgelaufenen Zeitraum geleistet haben und was sie in Zukunft hiermit versprechen zu leisten) gegenüber demjenigen, den sie wählen sollen. Somit ist Rechenschaftslegung durchaus ambivalent zu sehen. Auch Erfahrungsaustausche sind angesetzte Veranstaltungen unter dem Motto „Von den Besten lernen“. Das ist so eine Bewegung. Es werden Delegationen von einem Betrieb in den nächsten - besseren - Betrieb geschickt, um dort dann einen Erfahrungsaustausch durchzuführen. Darüber kann man in der DDR-Literatur sehr humorvolle Beschreibungen finden (natürlich nicht im ‘Neuen Deutschland’) wie so ein Erfahrungsaustausch abläuft und manchmal endet. Solchen weitgehend genormten Kommunikationssituationen können sich zumindest dele- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 134 gierte DDR-Bürger nicht einfach so entziehen. Es ist ja nicht so, als spiele sich das alles in einem total abgehobenen, lebensfernen Raum ab, der mit dem wirklichen Leben der DDR-Bürger nichts zu tun hätte. So wird das nur manchmal bei uns in der BRD dargestellt. Es ist jedoch schon so: Die Veranstaltungen, die Versammlungen und Schulungen und auch der dazugehörende öffentliche Sprachgebrauch nehmen im beruflichen Leben eines DDR- Bürgers (sofern er berufliche oder gesellschaftliche Ambitionen hat) einen beträchtlichen Anteil ein. Damit ist aber nichts darüber gesagt, mit welcher Ein- <31> stellung der DDR-Bürger solche Veranstaltungen aufnimmt, wiedergibt, verarbeitet oder einfach nur über sich ergehen läßt. Das müßte man in jedem Einzelfall prüfen. Man kann einwenden: Das, worüber ich rede, sei ja nur öffentlicher Sprachgebrauch. Welche Relevanz habe dies - habe das ‘Neue Deutschland’ und die ganze „Verlautbarungssprache“ - eigentlich für das praktische Leben oder für den DDR-Bürger? Aber dieser Einwand greift nur zum Teil. Es ist ja nicht nur das ‘Neue Deutschland’, sondern es ist die gesamte Decke des öffentlichen Sprachgebrauchs, deren einzelne „Fasern“ durchaus bis in den schulischen, familiären, beruflichen, institutionellen Alltag hineinreichen. Wir sollten uns nicht vorstellen, man könne diese „Decke“ einfach so abheben - und darunter käme dann das gute, alte, uns vertraute Umgangs(west)deutsch zum Vorschein. So einfach ist das sicher nicht. Zu den unterschiedlichen Kommunikationsbeziehungen haben sich DDR- Linguisten allerdings selten konkret geäußert. Damit wird natürlich angespielt auf das nicht mehr vorhandene Ausbeutungsverhältnis in Betrieben etwa. Richtig ist wohl: Es wird in DDR-Betrieben oftmals kollegialer als bei uns in der BRD miteinander geredet, diskutiert und auch einfach „nein“ gesagt. Es wird sehr viel geklagt über die mangelnde Disziplin in DDR-Betrieben, das ist ein negativer Aspekt. Es wird manchmal auch positiv erwähnt, mit welchem Selbstbewußtsein Werktätige in den Betrieben zu irgendwelchen Anforderungen, die auf sie zukommen, schlichtweg „nein“ sagen - und es bleibt auch beim „nein“; es passiert nichts. Eine westdeutsche Journalistin, die vorher in der DDR gelebt hat 18 , hat das mal umschrieben mit der Kapitelüberschrift „Privat geht vor Katastrophe“. Wenn es z.B. in einer Kaufhalle etwas Wichtiges zum Einkaufen gibt, dann gehen Leute zum Einkaufen in die Kaufhalle - und da kann die Stanze oder eine Presse für mehrere Millionen stillstehen - vielleicht geht sogar der Plan Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 135 für diesen Monat vor die Hunde: „Privat geht vor Katastrophe“. Ich will damit nur sagen: Es gibt Aspekte auch aus unserer Sicht, die dafür sprechen, daß es in der Tat in DDR-Betrieben zum Teil andere Kommunikationsbedingungen, vielleicht eine andere Kommunikationskultur gibt als bei uns, was auch seinen sprachlichen Niederschlag finden mag. Konkrete Untersuchungen dazu sind selten und möglicherweise auch sehr schwierig. Weiter heißt es, es gebe andere Schichtungen der „Existenzformen“ der Sprache - also der Mundarten, der Umgangssprache, der Standardsprache und ihrer Zwischenstufen. Es wurde in der DDR zeitweise angenommen, sie sei deswegen fortschrittlicher in ihrem sprachlichen Verhalten, weil sie die Mundarten schon viel weiter zurückgedrängt habe, als das bei uns der Fall sei. Inzwischen hat die DDR ihre Mundarten wiederentdeckt; die Leute reden zumindest in Sachsen sächsisch - wie immer schon - und im Norden sehr plattdeutsch. Es gibt sehr schöne plattdeutsche Sendungen und Theaterstükke. Bei uns in der Bundesrepublik spielt sich dasselbe ab. Inzwischen räumen auch DDR-Linguisten ein, daß es überholt sei, zu behaupten, die DDR entwickle sich auf diesem Gebiet fortschrittlicher weiter als die BRD. Vorher stellte man sich wohl - frei nach Lenin - vor, daß die befreite Arbeiterklasse die Höhen der Kultur auf Hochdeutsch stürme (DDR- Kabaretts haben sich darüber auch schon belustigt). Heute räumt man der Arbeiterklasse ein, daß sie das auch in der Mundart tun darf. Ein weiterer Bereich zunehmender Differenzierung ist die Einbindung beider deutscher Staaten in unterschiedliche Bündnisse. Die wirtschaftliche Einbindung im Rahmen des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) - früher sagte man bei uns oft schwer verständlich Comecon - hat für die DDR natürlich auch ihre sprachlichen Folgen, wie umgekehrt die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft für die Bundesrepublik - dasselbe gilt für Nato und Warschauer Pakt (in der DDR immer als Warschauer Vertrag bezeichnet). 19 Natürlich wurde das in der DDR parteilich bewertet: die Einbindung in den Bereich der Sowjetunion als positiv, fortschrittlich, zukunftsweisend und die Einbindung der Bundesrepublik in den Westen als negativ, rückschrittlich, imperialistisch, kapitalistisch usw. Sie sehen, es gibt - alles in allem - durchaus Anlaß zu Vermutungen über eine weitgehende Auseinanderentwicklung. Nicht nur bei Victor Klemperer. Auch der Schriftsteller Martin Gregor-Dellin (der aus der DDR stammt und insofern als Betroffener sprechen kann) sah schon die DDR-Gesellschaft auf Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 136 dem Weg zu einem schrecklichen „rudimentären Basis- und Hühnerdeutsch“ - so hat er das mal bei der Analyse einer Honecker-Rede genannt. 20 Natürlich sieht die SED und sieht insbesondere der richtungsweisende Genosse Prof. Kurt Hager die DDR auf dem Weg zu einer eigenen humanistischsozialistisch kultivierten Nationalsprache bzw. nationalsprachlichen Variante. Das galt jedenfalls bis Anfang der 80er Jahre. Soviel und noch einiges mehr spricht für die These: Es gibt eine Auseinanderentwicklung; sie ist unvermeidlich und vielleicht notwendig - und sie ist recht weitgehend. Unterschiede nur „marginal“? Auf der anderen Seite hat Werner Betz schon 1962 im Titel eines Aufsatzes gefragt: „Zwei Sprachen in Deutschland? “. 21 Wieso nur zwei? Die Unterschiede seien im wesentlichen semantisch-semasiologischer Art. Es gehe um Unterschiede des Vokabulars, wie wir sie auch in Fachsprachen finden, und darüber hinaus um unterschiedliche ideologische Begriffsdefinitionen, die man auch in anderen Nationalsprachen findet. Damit hat er übrigens recht. Für Franzosen, Italiener, Engländer ist die Diskussion um konträre ideologische Definitionen (auch solche marxistisch-leninistischer Herkunft) vermutlich vertraut. Natürlich setzt man sich mit Kommunisten auseinander - und auch an einen Tisch - kein Problem. Das Problem der ideologischen Differenzierung ist in anderen Staaten ein sprachliches Kommunikationsproblem innerhalb derselben Kommunika- <32> tionsgemeinschaft. Nur durch die ganz spezielle deutsche Konstellation ist das ein grenzüberschreitendes Problem geworden, was es aber im Prinzip nicht ist. Deswegen, glaube ich, ist dieses Argument auch nicht so gewichtig als Begründung für die These der notwendigen und schon weit fortgeschrittenen Auseinanderentwicklung. Horst Dieter Schlosser schrieb vor einigen Jahren gegen diese „Vier- Varianten-These“, die ich Ihnen vorgetragen habe, einen ziemlich verärgerten Aufsatz, „Die Verwechslung der Nationalsprache mit einer lexikalischen Teilmenge“. 22 Er warf Lerchner und anderen Linguisten der DDR vor, sie motzten bestimmte lexikalische Unterschiede zu einer eigenen Nationalsprache auf - ohne empirische Basis -, denn Wortschatzunterschiede seien keine ausreichende Basis. Und auch Wolf Oschlies hält die Unterschiede nur für marginal: die Deutschen seien sprachlich so „wiedervereinigt“ wie eh und je. 23 Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 137 Weitere wesentliche Argumente sind schon angesprochen. Ich komme damit also gleich zur zweiten These: Die deutsche Sprache widersteht den Differenzierungstendenzen: Das „einigende Band der Sprache“ hält. Das ist natürlich jetzt ein bewußter Rückgriff auf Victor Klemperer. Ich zitiere gleichzeitig die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen (Dorothea Wilms), die 1987 in einer Rede gesagt hat, sie könne nicht sehen, daß es eine Aufspaltung der gemeinsamen deutschen Sprache und der gemeinsamen deutschen Literatur gebe. „Ich sehe zum Beispiel keine grammatikalischen Besonderheiten“, so fährt sie fort, „die nur in einem von beiden Staaten gültig sind. Durch den Äther fliegen täglich ungezählte Millionen von Wörtern hin und her und halten das Sprachband gespannt. [...] Sprachschöpfungen der einen Seite brauchen nicht lange, bis sie auf der anderen Seite verstanden und gängig sind“. 24 Das kann man so sehen, da ist was dran. Und auch Lerchner mußte damals einräumen, es sei nicht zu bezweifeln: Zwischen den Bürgern beider deutschen Staaten bestehe eine spontan einsetzbare unmittelbare Kommunikationsfähigkeit. 25 Die Gesprächspartner aus Ost und West hätten meist keine gravierenden Kommunikationsschwierigkeiten. „Von zwei Sprachen sprechen zu wollen“, fährt auch Lerchner fort, „widerspricht also jeder empirischen Erfahrung“. Trotzdem erhält er seine vier Varianten aufrecht. Weitgehende gemeinsame Entwicklung, aber ... In der Tat: Wir verstehen einander - es ist ja kein Zweifel - oder jedenfalls doch meist oder annähernd oder ziemlich gut. DDR-Besucher reden eben keinen „Parteijargon“ - zumindest nicht, wenn sie mit uns reden, und ich nehme an: untereinander auch nicht. So wenig wie wir „Werbe-“ oder “Juppiedeutsch“ verwenden. Beides sind spezielle Sprachregister für spezielle Situationen oder spezielle Gruppen. Und die Sprachwissenschaftler (schon seit Moser 1962) 26 ergänzen: Es gibt erstens keine Einbrüche im grammatischen System - von wenigen, ganz kleinen Besonderheiten abgesehen. Es gibt eine gemeinsame Rechtschreibung und sogar gemeinsame Reformvorschläge. Es gibt eine (fast) gemeinsame Standardlautung. Es gibt gleiche Regeln der Wortbildung, einen unveränderten Grundwortschatz und einen traditionellen Bildungswortschatz. Es gibt zahlreiche Fachsprachen, die so gut wie Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 138 unberührt sind von Differenzierungstendenzen. Und auch unter den Neuerungen - das hat man im „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ 27 ausgezählt - gibt es mehr gemeinsam übernommene Neuerungen als spezifische. Es gibt zahlreiche Übernahmen von West nach Ost einschließlich zahlreicher Anglizismen; weniger - aber immerhin auch - Übernahmen von Ost nach West. Und schließlich was die Verbreitung dieser Spezifika betrifft: Sind es nicht im wesentlichen die öffentlichen Medien, in denen sich diese Spezifika häufen? Ist das Ost-West-Sprachproblem nicht vielleicht letzten Endes eines derjenigen, die die öffentlichen Medien kontrollieren? Vielleicht nur ein von den Medienkontrolleuren gemachtes Sprachproblem? Zur dritten These: Teilbereiche der Sprache folgen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Veränderungen; betroffen ist vor allem der öffentliche Sprachgebrauch. Es gibt oder es entwickeln sich öffentliche Sprachgebrauchsvarianten. Zu den besonders betroffenen Teilbereichen gehört - das ist schon gesagt worden - die Lexik bestimmter öffentlich relevanter Sachbereiche. Ich möchte es jetzt hierbei belassen; vielmehr möchte ich auf bestimmte Fragen des Sprachgebrauchs eingehen, die zumindest einem nicht geübten Leser bei der Lektüre gerade von DDR-Zeitungen so ungeheuer exotisch vorkommen; denn es sind ja nicht nur die unbekannten Wörter, sondern es ist ja auch der Gebrauch, den man von diesen unbekannten wie auch von den bekannten Wörtern macht. Unterschiede in den Stilnormen Im weitesten Sinne gehört das Folgende also zur Frage des „Stils“ im öffentlichen Sprachgebrauch, nämlich erstens: der grundsätzlich parteiliche Gestus bei der Nachrichtenauswahl und der Nachrichtenaufbereitung in den DDR- Zeitungen; die manchmal inexplizite, aber oft explizite bewußte Wertung vom alleinigen Standpunkt der Partei (ein anderer Standpunkt ist ja nicht zugelassen); die propagandistische Tönung insbesondere bei der Selbstdarstellung, die natürlich grundsätzlich positiv erfolgt - und die negative Tönung bei allem, was das kA (kapitalistische Ausland) betrifft. Der Ansporn der Werktätigen - eine zweite sehr wichtige Intention - zu mehr Engagement, zu mehr Aktivität, zu mehr Initiative: da brechen spontan Masseninitiativen aus, worüber dann ebenso berichtet wird wie über die Auseinandersetzung mit den Säumigen und den Rückständigen, die sich nicht voll in Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 139 diese permanente Dynamik der Siege und Erfolge einpassen und zurückbleiben (aber „die Partei läßt ja niemanden zurück“). All das spiegelt sich im ‘Neuen Deutschland’ dann sprachlich wider. <33> Einige auffällige sprachliche Phänomene: a) Häufiges Pathos durch Wahl entsprechender Adjektive: ruhmreich (Siege, Sowjetarmee), unerschütterlich (Reihen, Grundsätze, Solidarität), heldenhaft (Kampf, Kämpfer), siegreich (Voranschreiten), unauflöslich (Bruderbund mit ...), unverbrüchlich (Freundschaft) und dergleichen mehr. Obwohl dieses pathetische Vokabular in den letzten 7 oder 8 Jahren leicht zurückgegangen ist, liegt es trotzdem um Dimensionen über dem, was sich unsere Presse an Pathos leistet. b) Der Stil der Direktiven, z.B. in der Formel ... ist zu plus Infinitiv, also etwas ist zu nutzen (z.B. Reserven). (Reserven sind in der DDR ständig und umfassend zu nutzen oder zu erschließen); oder das verlangt oder das erfordert ... als Einleitung einer Aufforderung, wie die anderen zu reagieren haben, was in welcher Weise zu geschehen hat. In diesem typischen Stil der Direktiven ist übrigens gerade das Ministerium für Volksbildung unter Margot Honecker führend. c) Die stereotype Verbindung mit extrem hoher Wiederholungsrate: Zu Ulbrichts Zeiten hatten wir die sozialistische Menschengemeinschaft; bis heute gibt es als Erziehungsziel die allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit. Wir haben die ökonomische Hauptaufgabe immer schon gehabt; unter Honecker besteht sie in der Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik. Wir haben Wendungen oder Slogans wie Arbeite mit, plane mit, regiere mit. Und wir haben die breite Entfaltung der sozialistischen Demokratie - gerade jetzt eines der entscheidenden Schlagworte im ‘Neuen Deutschland’ als Antwort auf die in der sowjetischen Presse immer wiederholte Forderung nach mehr Demokratisierung. Darauf antwortend betont das ‘Neue Deutschland’, in welchem enormen Ausmaß die DDR ohnehin schon eine breite sozialistische Demokratie entfaltet habe und dies ständig und jeden Tag immer mehr tue. d) Attributketten, insbesondere bei Titeln: Erich Honecker wird nicht nur einmal, sondern auf jeder Seite immer wieder mit seinem vollen Titel erwähnt, obwohl man annehmen kann, daß die DDR-Bürger wissen, wer Erich Honecker ist. Fünfgliedrige, sechsgliedrige Attributketten sind durch- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 140 aus keine Seltenheit: Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Komitees für Alphabetisierung der Republik Guinea - eine völlig normale fünfgliedrige Kette. 28 Zum 1. Mai werden regelmäßig Losungen veröffentlicht, man sieht sie auch sonst auf roten Transparenten an den Zäunen der Großbetriebe. Eine, die nicht an den Zäunen der Großbetriebe hängt, aber trotzdem sehr bekannt ist, ist Schöner unsere Städte und Gemeinden - mach mit, oder Schutz unseres sozialistischen Vaterlandes - patriotische und internationalistische Pflicht. Die Gedankenstrich-Syntax dieser Losungen erinnert mich an liturgische Formeln; man kann sich das sehr gut und wirksam gesprochen zwischen Vorsänger und Chor vorstellen. Für einen breiten Massensport - für hohe sportliche Leistungen, International anerkannt - Handelspartner der DDR, Für Gesundheit, Erholung und Lebensfreude, für Frieden und Sozialismus - treibt Sport usw. e) Verwendung von Modifikatoren: Auf einen weiteren Punkt hat uns eigentlich unser Computer hingewiesen, der in seiner unergründlichen Sturheit Dinge findet, über die wir regelmäßig hinweglesen, nämlich, daß das Wort „ca.“ in Ost- und West-Texten extrem unterschiedlich häufig belegt ist - und zwar im ‘Neuen Deutschland’ nur dreimal und in unseren Vergleichstexten der WELT bei gleicher Auswahlquote 573mal. Das ist ein wahrhaftig auffallender Frequenzunterschied. Zunächst hatte ich angenommen, dies hätte etwas zu tun mit der Tatsache, daß es sich um eine fremdsprachliche Abkürzung handelt, weil auch die Abkürzungen etc. und incl. in Westtexten häufiger belegt sind als in Osttexten. Das sollte sich aber als Irrtum erweisen. Denn mir war außerdem aufgefallen, daß außer ca. auch die anderen synonymen Wörter wie etwa, rund, ungefähr, annähernd ebenfalls häufiger in Westtexten belegt waren, obwohl eigentlich zu erwarten war, sie in den Texten des ‘Neuen Deutschland’ häufiger zu finden, aber sie waren es nicht: sie waren alle häufiger in der WELT belegt. Dasselbe gilt für wahrscheinlich, vermutlich, sicher und zahlreiche andere Modalwörter. Schließlich habe ich über 400 Modalwörter (ich habe sie „Modifikatoren“ genannt) in die Untersuchung einbezogen. 29 Ganz eindeutig ist: Westliche Zeitungstexte bevorzugen abschwächende Modalwörter in signifikant höherer Häufigkeit als Osttexte. Sicherlich hat das etwas zu tun mit der Einstellung der Journalisten zum journalistischen Schreiben und mit ihren Aufgaben als Journalisten, allgemeiner: mit der Funktion der Presse und der Journalisten im jeweiligen Staat. Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 141 Ich habe also die These gewagt: Die Häufigkeit von Modifikatoren ist als Indikator zu betrachten für spezifischen Zeitungsstil, in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Verfaßtheit und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen journalistischen Arbeitens in beiden deutschen Staaten. Sollte also in der DDR irgendwann einmal eine „Perestroika“ ausbrechen, müßten sich im ‘Neuen Deutschland’ die Modalwörter drastisch erhöhen. Ich bin gespannt, ob das irgendwann passiert. [Es ist 1990 passiert. MWH] f) Auffällig ist auch der Stil des permanenten Optimismus mit seiner häufigen Betonung von Hochrufen und Begeisterung auf (machtvollen) Kundgebungen oder (bewegenden) Feierstunden. Wir begegnen immer wieder zukunftsfroher oder lebensfroher Jugend, initiativreichen Massenbewegungen, geistig-kulturellem Leben usw. Weitere Beispiele sind das unerschöpfliche Schöpfertum der Massen/ der Arbeiterklasse, das stürmische Voranschreiten zu immer neuen Erfolgen, der konsequente und natürlich siegreiche Kampf um die Planerfüllung und für den Frieden / den Sozialismus usw. All das durchzieht die öffentliche Kommunikation der DDR, prägt sie bis in die [offiziellen] Reden auf den Betriebsversammlungen. Soweit also zu einigen Charakteristika des öffentlichen Sprachgebrauchs der DDR, die die Träger dieses öffentlichen Sprachgebrauchs (die Medien) für uns so schwer verständlich, so ungenießbar machen. Das ‘Neue Deutschland’ ist zu allem möglichen geeignet, aber kaum dazu, irgend jemanden zu überzeugen, der nicht schon überzeugt ist. Im Gegenteil: Das ND eignet sich sehr gut zur Negativpropaganda. Daneben spiegelt das ND natürlich auch gesellschaftliche Wirklichkeit, z.B. den Umgang der Staatsmacht mit der Bevölkerung wider - vielleicht nur indirekt, aber doch erkennbar. <34> Reden DDR-Bürger in „zwei Sprachen“? Kein Zweifel also: Es gibt eine starke und deutliche Divergenz gegenüber dem öffentlichen Sprachgebrauch in unserer Republik. Redet der DDR- Bürger aber auch so? Ich behaupte, er kann so reden. Denn je nach Situation und persönlichen Ambitionen beherrscht er ja das Vokabular und die öffentlichen Kommunikationsrituale. Damit ist übrigens auch der gruppensprachliche Ansatz, der diese ganze Sprachentwicklung sozusagen der SED als Gruppe in die Schuhe schieben wollte, eigentlich überholt. Eben nicht nur die Partei ist Träger oder Anwender dieses öffentlichen Sprachgebrauchs, sondern er reicht offensichtlich bis in jede einzelne Gruppe hinein, ist abhängig Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 142 nicht von einer bestimmten Trägergruppe, sondern von bestimmten Situationen, die sich immer und überall für jeden DDR-Bürger als Aufgabe stellen. Wenn man dann schon von „Jargon“ sprechen will, so ist es jedenfalls nicht nur „Jargon der Partei“. Vielmehr handelt es sich um ein situationsgebundenes Sprachregister. Und sicher ist auch, daß der DDR-Bürger so schreiben kann, aber er schreibt nun mal nicht so. Die DDR-Literatur ist in diesem Punkt erstaunlich resistent geblieben gegenüber den spezifischen Besonderheiten dieses Stils in der DDR. Man schreibt so als Journalist oder als Volkskorrespondent, als führende Persönlichkeit der Partei, der Staatsmacht, als staatlicher Leiter in Betrieben und Institutionen; aber man redet und schreibt nicht so als Privatmann oder als Schriftsteller. DDR-Bürger schalten dann von einem Sprachregister auf das andere um. Dabei pflegen sie durchaus ihre eigene private Sprache als eine unpolitische und halten die politische für entsprechende öffentliche Situationen bereit. Damit komme ich zur vierten These: Die Divergenz besteht einerseits zwischen den öffentlichen Sprachregistern in Ost und West, aber vor allem zwischen öffentlicher und privater Sprache in der DDR: Zwei „Sprachen“ in der DDR? Sprachdifferenzierung also als ein DDR-internes Problem - so kann man das ja sehen. Das ist übrigens eine interessante Umkehrung der marxistischen These von den zwei Sprachen in einer Gesellschaft. Marx selbst meinte damit natürlich die kapitalistische, in der sich Ausbeuterklasse und Arbeiterklasse unversöhnlich gegenüberstehen und in der die Arbeiterklasse ihre eigenen Definitionen, ihren eigenen Sprachgebrauch entwickelt, und zwar konträr zum Sprachgebrauch der herrschenden Klasse. Hier hätten wir es also mit einer Umkehrung dieser These zu tun: Nicht in der kapitalistischen BRD - nein, in der sozialistischen DDR gibt es verschiedene „Sprachen“ zwischen Bevölkerung und Staatsmacht. Das wäre ein sehr schönes Argument gegen die von der SED behauptete Einheit von Staatsmacht und Bevölkerung. Zustimmend äußern sich durchaus gewichtige Zeugen, die man ernst nehmen muß - zum Beispiel Eva Windmöller, jahrelang Stern-Korrespondentin in der DDR. Sie hat im Rahmen ihrer lesenswerten DDR-Reportage „Leben in der DDR“ auch ein Kapitel „Die Kunst der doppelten Zunge“ 30 geschrieben. Sie schreibt: Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 143 „In unserem DDR -Alltag lernen wir bald zwei Sprachen voneinander zu unterscheiden, die private und die offizielle. Routinierte SED -Karrieristen, so erfahren wir, beherrschen sogar drei Sprachen, eine familiäre für zu Hause, eine aufrüttelnde fürs Volk und eine eher zynische für den internen Gebrauch unter ihresgleichen. Wenn so ein Genosse plötzlich ohne Angabe von Gründen von seinem Schreibtisch verschwindet, dann ahnt seine Umgebung, daß er wieder einmal im Suff bei ungeschickter Gelegenheit die Sprachen durcheinander gebracht hat. [...] Wenn die DDR -Leute die offizielle Sprache abgeschaltet haben und ganz privat sind, nehmen sie es mit dem Wort viel genauer, reden ehrlicher als ihre Brüder und Schwestern im Westen, das ist vielleicht ihre Art von Kompensation“. Ein anderer prominenter Zeuge: Manfred Ackermann, jahrelang Mitglied der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, sagte in einer Podiumsdiskussion (1987 in einem Sammelband erschienen): 31 „Die Menschen dort drüben empfinden die Teilung in ganz strengem Maße als politisch verfügt, das heißt, sie haben sie innerlich nicht akzeptiert, und sie wehren sich auch sprachlich dagegen. Da fast alle sprachlichen Vorgaben politischen Ursprungs sind, ist auch die Abwehrhaltung gegen solche Vorgaben ziemlich stark ausgeprägt. Das übernimmt man oberflächlich, da engagiert man sich psychisch überhaupt nicht, das wird dann einfach abgehaspelt, aber wenn das nicht mehr verlangt wird, redet man eben anders“. Dazu noch einmal Eva Windmöller: 32 „Nicht ohne intellektuelle Schadenfreude verfolgen wir, wie der Normalverbraucher in der DDR den totalen Anspruch des Staates durch eine fast schon Schwejk'sche Anpassung unterläuft. Wenn es gewünscht wird, betet er seine ideologische Litanei herunter wie der Wallfahrer das Ave Maria“. Also ziemlich ähnliche Beschreibungen dieser „Zweisprachigkeit“, dieser Fähigkeit, zwischen zwei verschiedenen Registern umzuschalten. Das paßt auch zu dem, was Günther Gaus „Nischengesellschaft“ genannt hat, nämlich die Fähigkeit, die Entschlossenheit des DDR-Bürgers, sich bei Bedarf aus dem Druck der Öffentlichkeit in die private Nische zurückzuziehen, um dort seine privaten Gepflogenheiten - und hinzufügend: seinen eigenen Sprachgebrauch - zu pflegen. Hier muß ich fragen: Soll das heißen, daß diese eher private, relativ politikfreie, (partei-)jargonresistente (Umgangs-)Sprache in der DDR, die die DDR-Bürger untereinander sprechen, auch mit der der Bundesrepublik übereinstimmt? Wir haben nun festgestellt, sie stimmt nicht mit der offiziel- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 144 len überein. Heißt das nun, daß da keine Kommunikationsprobleme, keine Unterschiede mehr vorhanden sind zwischen den Umgangssprachen in Ost und West? Und wenn doch: Wer sorgt dann für die Verständigung? Ich formuliere die fünfte These: Weder das öffentliche noch das nichtöffentliche Sprachregister ist frei von spezifischen Differenzen, <35> sie reichen bis in den Alltag. Verständigung ist ohne Transferleistung nicht mehr voll gewährleistet. DDR-Bürger als Garanten des Transfers? Begleitet man einen DDR-Bürger in seinem Alltag (und das sollte man gelegentlich tun), stößt man auf eine Fülle unbekannter Wörter oder auf Wörter in unvertrauter Verwendung: Sprache im Alltag Es ist bekannt, daß es Plast heißt - wir sagen Plastik; daß man außer Brathähnchen in der DDR auch Broiler sagen kann - und das steht auch wirklich auf den Speisekarten; daß sie Zielstellung sagen - wir sagen Zielsetzung (eine Unterscheidung im Sprachgebrauch, die so unauffällig ist, daß übergesiedelte DDR-Bürger manchmal noch nach einem Jahr bundesrepublikanischer Anpassung Zielstellung sagen). Weit über solche Bezeichnungsdifferenzen hinaus geht es vor allem um andere Lebenszusammenhänge und um andere lebenspraktische Erfahrungen, die den Alltag und die Freizeit ausmachen und prägen - oft nur Kleinigkeiten, die sich aber summieren in ein zunehmendes Gewicht. Einige Beispiele: Der Junge geht zum Pioniernachmittag, die Tochter ist von ihrem Betrieb zum Studium delegiert und ist im Studentensommer bzw. im Lager Erholung und Arbeit. Man hat in der Schule Stabü oder PA (= Produktive Arbeit). In der Küche der Reko-Wohnung (= rekonstruierte Altbauwohnung) hängt ein Gamat 2000 (= Gasheizgerät). Vom FDGB bekommt man vielleicht einen Ferienscheck, oder man verbringt seinen Urlaub im Grünen in der eigenen Datsche (eines der ganz wenigen richtigen russischen Fremdwörter, die heimisch geworden sind im DDR-Sprachgebrauch). Wer sich etwas Besonderes leisten will, holt sich das im Deli oder im Exqui (= Delikatbzw. Exquisitgeschäft). Wer blaue Kacheln (= Westgeld) oder Forum- Schecks hat, geht in den Shop (= Intershop). Man kauft, was im Angebot ist (bei uns heißt im Angebot sein ‘im Sonderangebot sein’ / ‘besonders billig’; in der DDR dagegen heißt im Angebot sein ‘es ist da’ und ‘man kann es jetzt kaufen’), oft wird gleichzeitig gefragt Wieviel geben Sie ab? Geht man z.B. in Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 145 ein Fahrradgeschäft, fragen DDR-Bürger: Haben Sie Fahrradschläuche? und Wieviel geben Sie ab? Das sind so zwei Standardfragen, die in der Bundesrepublik wohl kaum gestellt werden. In den Betrieben sind Bezeichnungen wie Brigadier oder Brigade, Jahresendprämie, Solibeitrag völlig geläufig, jeder weiß, was das ist. Auf den Packungen in der HO-Kaufhalle steht EVP (= Einzelhandels-Verkaufspreis). In den Büchern steht eine Lizenznummer (wie bei uns in den Nachkriegsjahren). Und natürlich gilt eine Neubauwohnung oder eine Reko-Wohnung als entschieden besser als eine Altbauwohnung. Die Miete zahlt man an die KWV (= VEB Kommunale Wohnungsverwaltung), wobei Nebenkosten überhaupt keine Rolle spielen. Möchte man sich aber dann von diesen Erfahrungen des Alltags erzählen lassen, stellt man erstaunt fest, daß ein großer Teil dieser Wörter in den Erzählungen von DDR-Bürgern nicht mehr auftaucht. Der DDR-Bürger transferiert uns gegenüber seinen Sprachgebrauch in den unseren, z.B. indem er DDR-spezifische Wörter ganz vermeidet und statt dessen gemeindeutsche oder bundesdeutsche Entsprechungen verwendet, oder er versieht DDR-spezifische Wörter mit erläuternden Hinweisen wie: Das heißt bei uns so, bei euch ist das ja anders, wir sagen das so. Eine DDR-Bürgerin erzählte mir, sie sei in Greifswald „aufs Gymnasium“ gegangen; erst auf Rückfrage korrigierte sie sich: natürlich auf die EOS (= die Erweiterte Oberschule). „Mein Eindruck ist“, so sagt Manfred Ackermann dazu, „wenn wir Deutsche in Ost und West, in Bundesrepublik und DDR uns trotzdem fast nahtlos verstehen können, - diese Leistung wird von den Bürgern der DDR erbracht, nicht von uns. Denn die DDR -Bürger, die in ihrem Staat schon in einer gewissen Doppelheit leben zwischen öffentlicher und privater Sprache, die leben auch in der Doppelheit von Westsprache und Ostsprache, von Westbegriffen und von Ostbegriffen, und die können das übersetzen, was wir manchmal gar nicht können“. 33 Die sechste These: Die Transferleistung funktioniert in bezug auf die Vermittlung unterschiedlicher Handlungsmuster, Erfahrungs- und Wissensstrukturen nur noch eingeschränkt. Wie unterschiedlich löst man Alltagsprobleme? Und die siebente These: Die Kommunikationsgemeinschaft der BRD ist auf dem Weg zu einem staatsnationalen, separaten Selbstverständnis unter Ausklammerung der DDR. Dies gefährdet den Transfer zusätzlich. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 146 Unterschiedliche Alltagserfahrungen Bis jetzt haben wir uns hauptsächlich mit Unterschieden im Stil, im Wortschatz beschäftigt. Ein Satz wie „Ich suche eine Wohnung“ scheint keinerlei derartige Schwierigkeiten zu enthalten. 34 Nimmt man ihn aber nicht als Satz, sondern als Einstieg in ein Problem, eine Problemlösung, werden auf beiden Seiten nicht bloß eine Fülle von unterschiedlichen Wörtern und Wendungen sichtbar, sondern auch ganz unterschiedliche Handlungsmuster und kollektive Erfahrungen - sagen wir: ganz unterschiedliche Lebenswelten. Für andere verbreitete Problemzusammenhänge wie „Ich muß ins Krankenhaus“ oder „Ich habe Schwierigkeiten im Betrieb“ oder „Wehrdienstverweigerung“ gilt dasselbe. Und keineswegs immer gelingt die Lösung des Problems bei uns leichter als in der DDR (z.B. „Stellensuche“). DDR-Bürger transferieren durchaus die unterschiedlichen Wörter - aber transferieren sie auch die unterschiedlichen Lebenserfahrungen? Verstehen wir sie wirklich, wenn sie z.B. als Gründe für ihre Übersiedlung in den Westen die „unaufhörliche Gängelei“, die „Monotonie“, die „Übermacht des Staates“, den „aussichtslosen Kampf gegen die Bürokratie“, die „Schlagworte“ und „Propagandalügen“ nennen? Verstünden wir sie wirklich, nämlich was an Alltagserfahrung dahintersteht, könnte es wohl kaum geschehen, daß sogenannte kritische Leute bei uns dann kopfnickend ent- <36> gegnen: „Das ist bei uns genau so“, „das macht Springer auch“, „unsere ‘Bullen’/ Konzerne/ Politiker/ Parteien sind auch nicht besser...“. Ebensowenig dürfte es passieren, daß manche Leute glauben, DDR-Bürger seien gleich schon Anhänger der „freien Marktwirtschaft“ und potentielle Wähler der CDU/ CSU, wenn sie ihren Staat kritisieren. Prominente Kirchenvertreter der DDR haben erst kürzlich vor solchen Mißverständnissen gewarnt. Beide Mißverständnisse sind Folge von Reden aus unterschiedlichen Erfahrungswelten. Das Problem, das ich sehe, ist folgendes: Wie lange noch kann man sich darauf verlassen, daß diese jetzt funktionierende Transferleistung der DDR- Bürger noch weiter funktioniert? Unter der doppelten Belastung von Sprachunterschieden und Lebensweltunterschieden? Daß wir West-Besucher - wenn man so will - meist keine kommunikativen Probleme haben, ist insofern ein Trugschluß, weil die DDR-Bürger uns diese im Grunde genommen ja abnehmen und anderes ohnehin unübertragbar ist. Die Frage ist: Wie lange bleibt das so, welche kommunikativen Bedingungen sind dafür ausschlaggebend, daß Transferfähigkeit und Transferbereitschaft, daß Verste- Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 147 hen und Verständigung bestehen bleiben? Oder ganz salopp gefragt: Wie lange haben DDR-Bürger wohl noch Lust, sich mit uns Bundis oder Wessis so viel Mühe zu geben? Wie „deutsch“ sind wir Bundesdeutschen? Ich füge hier eine Beobachtung ein, die Anlaß zur Sorge bieten sollte: Es gibt in der Bundesrepublik „Bezeichnungsrichtlinien“ von 1974 35 , die den Gebrauch der Abkürzung BRD (vorrangig für Beamte, z.B. Lehrer) untersagen wollen. Inzwischen habe ich gehört, daß darüber eine Gerichtsentscheidung vorliege und das Abkürzungsproblem somit abgeschwächt sei bzw. nicht mehr existiere. 36 Bisher war es aber so, daß Sanktionen zu befürchten waren, wenn die Abkürzung BRD verwendet wurde. Begründung: Die Abkürzung sei von der DDR zum Zwecke der Diffamierung erfunden worden. Das ist keineswegs zutreffend. Sie ist natürlich im Westen erfunden worden, sie ist fast so alt wie das Grundgesetz selbst und jahrzehntelang im Umkreis der Adenauer-Regierung und auch des Gesamtdeutschen Ministeriums regelmäßig bis 1969 verwendet worden. Erst im Zuge der gesamtdeutschen Verhandlungen hat die DDR die Abkürzung BRD übernommen - und zwar genau am 19.12.1969; bis dahin war sie in der DDR nicht zugelassen. Etwa zum gleichen Zeitpunkt verwendete unsere Regierung auch die Abkürzung DDR (ohne „sogenannt“ o.ä.). Es gibt mit Sicherheit noch weitere Argumente, die die staatlichen Begründungen zweifelhaft erscheinen lassen. Das ist aber nicht das Hauptproblem, sondern das Hauptproblem ist der zweite Teil der Bezeichnungsrichtlinien, wo es heißt: Wenn man schon nicht Bundesrepublik Deutschland sagen will oder kann, dann solle man nicht kurz Bundesrepublik oder bundesdeutsch oder westdeutsch sagen, sondern schlicht Deutschland und deutsch, so daß mit diesen Begriffen unmißverständlich klar würde, daß sie sich auf unseren Staat beziehen. 37 Und so hat die Kommunikationsgemeinschaft BRD dann auch gehandelt. Gut feststellen läßt sich, daß der begriffliche Inhalt von deutsch und Deutschland in mehr als 90% aller Fälle in einer Zeitung wie der WELT nur noch ‘westdeutsch’ oder ‘bundesdeutsch’ meint. 38 Deutsch ist geschrumpft auf den Inhalt ‘bundesdeutsch’, Deutschland (in mehr als 90% aller Belege) auf ‘Bundesrepublik’. Und die WELT ist kein Sonderfall. Das heißt: Der vorher bestehende Inhalt ‘ganz Deutschland’, ‘beide deutsche Staaten umfassend’, ‘sich auf beide deutsche Staaten beziehend’, den gibt es Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 148 nur noch historisch (deutsche Geschichte, Kunst, Klassik, Ostgebiete o.ä.) oder in ganz bestimmten festen Wendungen wie z.B. deutsche Frage, deutsche Wiedervereinigung, Wiedervereinigung Deutschlands, oder die beiden deutschen Staaten oder die beiden Staaten in Deutschland (eine Wendung, die Willy Brandt 1969 zum erstenmal gebraucht hat, die inzwischen aber wieder aufgegriffen worden ist). In solchen Wendungen kommt das noch vor, z.B. in den Veröffentlichungen des Innerdeutschen Ministeriums. Wie gesagt: Im allgemeinen Sprachgebrauch der Bundesrepublik ist deutsch gleich westdeutsch. Wenn DDR-Sportler irgendwelche Wettkämpfe gewinnen (unsere ja meistens nicht) und die westdeutschen Skiläufer dann vielleicht auf Platz 13 bis 20 landen, dann sagt unser Fernsehen „Ein schwarzer Tag für den deutschen Sport“. Und wenn zwei deutsche Fußball-„National“- Mannschaften aufeinandertreffen, feuern die Zuschauer mit „Deutschland- Deutschland“-Rufen an - ja: wen? Wir sprechen von deutschem Export, von deutschen Autos, von der deutschen Botschaft in Kairo (welcher? ), von der deutschen Regierung. Auch die SPD hatte in ihrer Wahlpropaganda das Modell Deutschland (ich glaube nicht, daß andere Staaten das Modell eines geteilten Deutschland als Modell akzeptieren), und unser Bundeskanzler kandidiert als „Kanzler für Deutschland“ (meines Wissens kandidiert er nicht in der DDR). Bei uns ist es aber so selbstverständlich, daß Deutschland im Sinne von ‘Bundesrepublik’ verwendet wird, daß man dies sagen und in tausenden von Beispielen tagtäglich hören und lesen kann, ohne daß das irgendjemanden zu stören scheint. Ich weiß nicht, ob die „Bezeichnungsrichtlinien“ diese Intention hatten. Wenn sie sie hatten, ist sie tatsächlich voll erfüllt worden. Das bedeutet aber auch, daß wir jetzt für den ehemals gemeinsamen Begriffsinhalt ‘beide deutschen Staaten umfassend’ neue Wörter finden müssen. Auch das ist geschehen. Wenn wir ‘deutsch’ im alten Sinne meinen, sagen wir gesamtdeutsch, innerdeutsch, und vor allem deutsch-deutsch; nur: deutsch sagen wir nicht mehr. Ich muß sagen, einige der Moderatoren und Sportreporter der letzten Olympiade haben allerdings sorgfältig aufgepaßt. Sie haben oft bundesdeutsch gesagt, wenn sie ‘bundesdeutsch’ meinten. Sie haben nicht einfach deutsch (der deutsche Sportler unterlag dem DDR-Sportler oder so etwas) gesagt, aber wir sind alle in der Gefahr das zu sagen. Ich habe es in der DDR selbst erlebt: Ich habe Leute sagen hören: Ich habe noch deutsches Geld (gemeint ist natürlich Westgeld) oder hier (= in der DDR) <37> gibt's ja Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 149 keine deutschen Zeitungen. Und ich selbst habe einmal gesagt: Ich fahre morgen wieder nach Deutschland (ich habe mich sehr geschämt). Mit kaum etwas kann man DDR-Bürger mehr kränken. DDR-Deutsche schon „ausgeklammert“? Ich stelle mir selbst und auch Ihnen die Frage nach den Konsequenzen. Beantworten kann ich die Frage nicht. Denn wenn es so ist, daß der begriffliche Inhalt von deutsch sich jetzt in der massiven Mehrzahl aller Fälle nur noch auf westdeutsch/ bundesdeutsch bezieht und Deutschland auf Bundesrepublik, dann haben wir (das muß daraus geschlossen werden) die DDR aus unserem kollektiven „Wir“-Gefühl (nämlich deutsch zu sein) schlichtweg ausgeklammert. Und damit hat sich im Grunde Honeckers Behauptung, die deutsche Frage existiere nicht mehr, letztlich erfüllt. Sie ist zwar nicht „im Feuer des Zweiten Weltkriegs untergegangen“, wie er immer sagt, sondern sie ist in unseren Köpfen und in unserer Sprache untergegangen. Und dazu jetzt noch einmal die Frage: Wie lange funktioniert dieser wunderschöne Transfer zwischen Ost und West noch unter der Voraussetzung, daß vielleicht auch die DDR-Bürger plötzlich erkennen, daß wir sie in Gedanken (ich formuliere das natürlich überspitzt) längst als Nichtdeutsche oder Nicht-mehr-ganz-Deutsche ausgegrenzt haben. Sprachlich sind wir jedenfalls längst auf dem Weg zu einer bundesdeutschen Staatsnation - staatlich sanktioniert durch jene „Bezeichnungsrichtlinien“. Auch diejenigen, die auf das penibelste darüber wachen, daß nur ja niemand BRD sagt, sollten sich überlegen, ob das so gewollt war. Und wenn nein, was man ändern muß. Ich schließe mit meiner achten (und letzten) These, die ich unkommentiert lassen muß: An die Stelle des „unizentrischen“ Modells sprachlicher Einheit, bei Dominanz der BRD, muß ein „plurizentrisches“ Modell sprachlicher Vielfalt 39 treten; dies muß einhergehen mit einer erheblichen Steigerung der Kommunikationsfähigkeit und Kommunikationsbereitschaft, insbesondere bei Bürgern der Bundesrepublik. Entwicklung zu einer (mehrstaatlichen) deutschen „Kommunikations-Nation“? Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 150 Literatur Berschin, Helmut: Deutschland - ein Name im Wandel. Die deutsche Frage im Spiegel der Sprache (= Analysen und Perspektiven, Sonderreihe 1). München, Wien 1979. Betz, Werner: Zwei Sprachen in Deutschland? In: Merkur 16, Heft 9/ 1962, S. 873- 879. Böhme, Irene: Die da drüben. Sieben Kapitel DDR . Berlin 1983. Kapitel 2. Debus / Hellmann / Schlosser (Hrsg.): Sprachliche Normen und Normierungsfolgen ... (= Germanistische Linguistik 82-83). Hildesheim, Zürich, New York 1986, S. 169-200. Dieckmann, Walther: Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem. In: Zeitschrift für deutsche Sprache 23, Heft 3/ 1967, S. 136-165. Gregor-Dellin, Martin: Honecker als Modell. In: Baroth, Hans D. (Hrsg.): Schriftsteller testen Politikertexte. München 1967, S. 70-88. Hellmann, Manfred W.: Einige Beobachtungen zu Häufigkeit, Stil und journalistischen Einstellungen in west- und ostdeutschen Zeitungstexten. In: Debus / Hellmann / Schlosser 1986, S. 169-200. - Die doppelte Wende. Zur Verbindung von Sprache, Sprachwissenschaft und zeitgebundener politischer Bewertung am Beispiel deutsch-deutscher Sprachdifferenzierung. In: Klein, J. (Hrsg.): Politische Semantik. Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen 1989[a], S. 297-326. - ‘Binnendeutsch’ und ‘Hauptvariante Bundesrepublik’. Zu Peter von Polenz' Kritik an Hugo Moser. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 17, Heft 1/ 1989[b], S. 84-93. - Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpus- Wörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten. 2 Bde. plus Anhang (erscheint 1990[a]). [Erschienen 1992; Vorwort und Einleitung als Beitrag Nr. 10 in diesem Band.] - „Ich suche eine Wohnung“. Zur vergleichenden Untersuchung alltagssprachlichen Handelns in beiden deutschen Staaten. In: Schlosser, H.D. (Hrsg.): Die Spezifik des öffentlichen Lebens und der Alltagskommunikation in der DDR (Sammelband, erscheint 1990[b]). [Erschienen 1991; Beitrag Nr. 9 in diesem Band.] Höppner, Joachim: Widerspruch aus Weimar. In: Handt, F. (Hrsg.): Deutsch - gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? Berlin 1964, S. 143-151. Kahn, Siegbert: Nation und Sprache. In: Weltbühne 53, 31. Dezember 1974. Klemperer, Victor: „ LTI “ - Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. Leipzig 3. Aufl. 1968 (l. Aufl. 1947). - Unsere Sprache - ein einigendes Band der Nation. In: Die neue Schule 8, 1952, S. 4-5. Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 151 - Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland (= Vorträge zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse 17). Berlin (Ost) 1954 (l. Aufl. 1952), S. 10. - Verantwortung für die Sprache. In: Neue Deutsche Literatur 3, Heft 3/ 1955, S. 122-126. Lerchner, Gotthard: Nationalsprachliche Varianten. In: Forum 3, 1976, S. 10-11. Moser, Hugo (Hrsg.): Das Aueler Protokoll. Deutsche Sprache im Spannungsfeld zwischen West und Ost. Düsseldorf 1964, Vorwort. Oschlies, Wolf: „Wir brauchen Glasnost wie die Atemluft ...“. Bemerkungen zur Sprache Michail Gorbacews. In: Muttersprache 98, Heft 3/ 1988, S. 193-204. - Würgende und wirkende Wörter. Deutschsprechen in der DDR . Berlin (West) 1989. Podiumsdiskussion. In: Debus / Hellmann / Schlosser 1986, S. 302-303. Polenz, Peter von: ‘Binnendeutsch’ oder plurizentrische Sprachkultur? Ein Plädoyer für Normalisierung in der Frage der ‘nationalen’ Varietäten. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 16, 1988, S. 198-218. Roegele, Otto B.: Die Spaltung der Sprache. Das kommunistische Deutsch als Führungsmittel. In: Die politische Meinung 36, Heft 4/ 1959, S. 48-60. Schlosser, Horst Dieter: Die Verwechslung der deutschen Nationalsprache mit einer lexikalischen Teilmenge: In: Muttersprache 91, Heft 3-4/ 1981, S. 145-156. - Die Sprachentwicklung in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland. In: Hättich / Pfitzner (Hrsg.): Nationalsprachen und europäische Gemeinschaft. 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Hamburg 2. Aufl. 1981, S. 168-179. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 152 Anmerkungen 01 Dieckmann 1967, S. 136-165. 02 Klemperer 1968. 03 Klemperer 1952, S. 4-5. 04 Klemperer 1955, S. 122-126. 05 Klemperer 1954, S. 10. 06 Zur Entwicklung des Forschungsgebietes und seinen Wandlungen sowie zum hier folgenden Abschnitt vgl. Hellmann 1989[a], S. 297-326. 07 So noch im Artikel „Parteijargon“ im Nachschlagewerk „ SBZ von A-Z“, hrsg. vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, Bonn. 08 Roegele 1959, S. 48-60. 09 Vgl. u.a. Höppner 1964, S. 143-151. 10 Ulbricht 1970, S. 4. 11 Lerchner 1976, S. 10-11. 12 ebd. S. 11. 13 Kahn 1974. 14 Zur Sprache Gorbatschows und seiner Perestroika vgl. Oschlies 1988, S. 193- 204. 14 Zu diesen Wörtern vgl. demnächst die entsprechenden Wortartikel in Hellmann 1990[a]. [Erschienen 1992; Vorwort und Einleitung als Beitrag Nr. 10 in diesem Band.] 15 Schlosser 1989, S. 36-52. 16 Vgl. Anm. 15. 17 Böhme 1983, S. 20-32 (= Kapitel 2: Privat geht vor Katastrophe - oder: Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des DDR -Bürgers). 18 Erich Honecker gebraucht allerdings seit 1985 den Ausdruck Warschauer Pakt gelegentlich in Interviews; es kann damit gerechnet werden, daß der Ausdruck dann auch an anderen Stellen auftaucht. 19 Gregor-Dellin 1967, S. 70-88. 20 Betz 1962, S. 873-879. 21 Schlosser 1981, S. 145-156. 22 Oschlies 1989, S. 62. 23 Wilms 1987, S. IV-VI. 24 Lerchner 1976, S. 10. 25 Moser 1964, Vorwort. 26 Vgl. z.B. Sparmann 1979. Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? 153 27 Vgl. Weber 1989, S. 17-26. Weber stellt bei der Untersuchung von Nachrichtensendungen „extrem lange Attributketten mit mehr als 5 Wörtern bis hin zu 24 Wörtern“ fest, und zwar „in ungleich größerem Umfang als in den bundesdeutschen Texten Genitivattribute“ (S. 5). 28 Hellmann 1986, S. 169-200. 29 Windmüller / Höpker 1981, S. 168-179 (= Kap. 12: Die Kunst der doppelten Zunge). 30 Podiumsdiskussion. In: Debus / Hellmann / Schlosser 1986, S. 302-303. 31 Windmöller / Höpker 1981, S. 173f. 32 Podiumsdiskussion. In: Debus / Hellmann / Schlosser 1986, S. 303. 33 Vgl. dazu demnächst Hellmann 1990[b]. [= Beitrag Nr. 9 in diesem Band.] 34 Zu den Staatsbezeichnungen und ihrer amtlichen Reglementierung vgl. Berschin 1979. Zur neuesten Entwicklung Walther 1988, S. 164-166. 35 Vom Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg in Mannheim vom 20. September 1988. Eine juristische Staatsarbeit mußte neu begutachtet und bewertet werden, da einer der Gutachter in „sachfremder“ Weise die in der Arbeit verwendete Abkürzung „ BRD “ negativ bewertet hatte. Nach Auffassung des Gerichts darf der Gebrauch dieser Abkürzung auf die Bewertung der Arbeit keinen Einfluß haben. Das Urteil ist rechtskräftig. 36 „Die Begriffe ‘Deutschland’ und ‘deutsch’ können stets dann verwendet werden, wenn aus dem Sachzusammenhang hervorgeht, daß sie auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen sind“. (Aus der Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung „Verwendung der Bezeichnung ‘Bundesrepublik Deutschland’“ vom 3. September 1974). 27 Vgl. dazu demnächst den Wortartikel „deutsch“ in Hellmann 1990[a]. [Erschienen 1992; Vorwort und Einleitung als Beitrag Nr. 10 in diesem Band.] 28 Zu „plurizentrisch“ vgl. von Polenz 1988, S. 198-218. Dazu Hellmann 1989[b], S. 84-93. Aus: Klein (Hg.) (1989): Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung . Opladen, S. 297-326. Die doppelte Wende - Zur Verbindung von Sprache, Sprachwissenschaft und zeitgebundener politischer Bewertung am Beispiel deutsch-deutscher Sprachdifferenzierung[*] 1. Vorbemerkung 2. Wechselseitige ‘Sprachspaltungs’-Polemiken (50er Jahre) 3. Westdeutsche Betonung sprachlicher Divergenz gegen ostdeutsche Betonung sprachlicher Einheit (60er Jahre) 4. Westdeutsche Betonung sprachlicher Gemeinsamkeit gegen ostdeutsche Betonung sprachlicher Differenz (späte 60er und 70er Jahre) 5. Annäherung der sprachwissenschaftlichen Standpunkte (80er Jahre) 6. Resümee und Ausblick 7. Literatur 1. Vorbemerkung Schon vor ziemlich genau 40 Jahren, nämlich im Jahre 1947, erschienen die ersten schriftlichen Hinweise darauf, daß die politische Aufteilung Deutschlands unter die Siegermächte - die Teilung in eine Ost- und drei Westzonen - sprachliche Veränderungen zur Folge hatte, genauer: Veränderungen im Wortschatz. Es waren sowjetrussische Germanisten, die dies zuerst beobachteten. Ihre Hinweise wurden hier allerdings kaum bekannt. Seitdem ist viel gearbeitet, viel geforscht und viel geschrieben worden in Ost und West, und wir wissen heute zum Teil ganz gut Bescheid über die „sprachlichen Besonderheiten“ der beiden deutschen Staaten (so sagt man zurückhaltend heute), die „Divergenzen“, die „Differenzen“, die „Ost-West-Spezifika“, den „Sonderwortschatz der SBZ“ (so hieß es früher) oder auch „Parteijargon“, [* Zuerst Vortrag auf dem von Josef Klein organisierten Kolloquium „Politische Semantik und Sprachkritik“ am Germanistischen Institut der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, 9.-11. Dezember 1987. MWH ] Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 156 denn so vor allem sah man bis in die 2. Hälfte der 60er Jahre hinein die Besonderheiten im Sprachgebrauch der DDR - die eigenen Besonderheiten ohnehin übersehend. Wir wissen also teilweise ganz gut Bescheid. Z.B. über die Unterschiede im Wortschatz der öffentlichen Kommunikation, besonders der Presse, insbesondere in den Bereichen der Politik, Ideologie, <298> Institutionen, auch wohl Wirtschaft. Dazu gibt es recht gute Einzeluntersuchungen, auch aus der DDR 1 , es gibt sogar schon Wörterbücher der sprachlichen DDR-Besonderheiten (diese allerdings nur aus der BRD) 2 . Wir kennen die unterschiedlichen Typen dieser Spezifika, die Schwerpunkte ihrer Entstehung, spezifische Gebrauchsweisen, spezifische Stilmerkmale, begründet in unterschiedlichen Kommunikationssituationen und -bedingungen. Die Landkarte der Wortschatzbesonderheiten weist zwar manche recht dünn gezeichneten Stellen und einige richtige weiße Stellen auf 3 - auch bedarf sie stetiger Aktualisierung - aber in Umrissen und in vielen Details ist sie bekannt. Anders steht es mit dem, was hinter den Wörtern und ihrer Bedeutung liegt, also mit den Erfahrungen, den erlebten Alltagswelten, auf die sich Wörter, Äußerungen, Sätze, Texte ja letzten Endes beziehen. Worauf, zum Beispiel, referiert ein so schlichter, gemeinverständlicher, deutscher Satz wie Ich suche eine Wohnung. Wer sich etwas auskennt in der DDR und seine eigenen Erfahrungen hierzulande diesbezüglich noch nicht vergessen hat, wird mir zustimmen: Gleich hinter diesem Satz - wenn man ihn denn nicht bloß als Satz, son- 1 Für die Zeit bis 1975 vgl. dazu M.W. Hellmann (1976) (Hg.): Bibliographie zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR ; für den späteren Zeitraum vgl. Burkhard Schaeder (1981): Deutsche Sprache in der BRD und in der DDR . In: Muttersprache, Jg. 91, H. 3/ 4, S. 198-205. Ein knapper Überblick auch bei M.W. Hellmann (1984) in dem Sammelband „Ost-West-Wortschatzvergleiche“, darin Bericht Nr. I, S. 22-31. Zusammenfassend zu den bisherigen Forschungsergebnissen M.W. Hellmann (1980): Deutsche Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Lexikon der Germanistischen Linguistik, S. 519-527. 2 Kinne, M. / Strube-Edelmann, B. (1981): Kleines Wörterbuch des DDR -Wortschatzes, München; Ahrends, M. (1986): Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon - Das Wörterbuch der DDR -Sprache, München. 3 Auf einige solcher Lücken wird hingewiesen bei M.W. Hellmann (1985): Bemerkungen zur Entwicklung und zur gegenwärtigen Lage des Arbeitsgebietes „Ost-West-Sprachdifferenzierung“. In: Mitteilungen 11 des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim, S. 86. Die doppelte Wende 157 dern als Aufforderung oder Entschluß zur Lösung eines Problems auffaßt - gleich hinter diesem Satz öffnen sich Welten voller Unterschiede, und selbst die entdeckten Gemeinsamkeiten erweisen sich als trügerisch, z.B. weil andere Bewertungsmaßstäbe gelten 4 . <299> Dies nur als ein Hinweis auf eine terra incognita, und es gibt deren viele. Aber ich muß hier abbrechen, denn sonst befinde ich mich mit wenigen Schritten in einem ganz anderen Thema, denn es lautet ja nicht „Die sprachlichen Besonderheiten“ oder „Die Entwicklung der deutschen Sprache in den beiden deutschen Staaten“. Ich will in meinem Beitrag also weniger auf die sprachliche Differenzierung selbst, als vielmehr auf deren öffentliche und sprachwissenschaftliche Bewertung abheben, die, wie ich hoffe darstellen zu können, manchmal bemerkenswert stark von den Wendungen der Begriffe „Nation/ Nationalität“, d.h. letztlich von den jeweils vorherrschenden deutschlandpolitischen Vorstellungen, beeinflußt worden ist und wird. 2. Wechselseitige ‘Sprachspaltungs’-Polemiken (50er Jahre) Ich erlaube mir, mit einem längeren Zitat zu beginnen, und zwar auch deshalb, weil es Jahrzehnte später mehrfach wieder aufgegriffen wurde. Und alle wissen wir, welche ungeheure Rolle für die Einheit einer Nation die Einheit ihrer Sprache spielt. Sie ist das innigste Band, das ein Volk in der Mannigfaltigkeit seiner Gruppen, Klassen und Parteien zusammenhält. 5 Genau dieser Gedanke von der Einheit der Sprache bildet den innersten Kern der ungemein reichen Sprachbetrachtungen, die Stalin veröffentlichte. Eine Sprache ist nach Herkunft und entscheidender Aufgabe das gemeinsame Eigentum aller Teile der Nation und das gemeinsame Verkehrs- und Verständigungsmittel all ihrer Teile [...] Somit muß es das ideale Ziel der amerikanischen Gewaltherren und des Klüngels ihrer westdeutschen Helfershelfer sein, diese Gemeinsamkeiten aufzuheben, indem nicht nur das neue Sprachgut, der neue Sprachstil des Ostens abgewehrt, sondern zugleich auch die eigene Sprache, der eigene Sprachstil in entgegengesetzte Richtung „fortentwickelt“ wird. 4 So verknüpfen sich mit dem Ausdruck „Neubauwohnung“ für die meisten DDR -Bürger weit positivere Bewertungen als für BRD -Bürger, was auf den vergleichsweise desolaten Zustand sehr vieler Altbauwohnungen in der DDR zurückzuführen ist. 5 Klemperer, V. (1955): Verantwortung für die Sprache. In: Neue Deutsche Literatur, Jg. 3, H. 3, S. 122-126. Vgl. vom selben Verfasser (1952): Unsere Sprache - Ein einigendes Band der Nation. In: Die neue Schule, Jg. 8, S. 4-5. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 158 Da nun die Einheit der deutschen Nation aufs schwerste gefährdet ist und da alles darauf ankommt, daß ihr geistiger Zusammenhang, ihr einander Verstehen unbedingt gewahrt bleibt, so bedeutet schon die leiseste sprachliche Dissonanz eine schwere Gefahr. 6 <300> Dieser Text mutet nach Inhalt und Wortwahl so altväterlich an, er ist so getragen von einem - ich möchte sagen: nationalen patriotischen Eifer, daß er gewiß manchem Konservativen in der Bundesrepublik zuzutrauen wäre, wohl kaum einem Nationalpreisträger und Volkskammerabgeordneten der DDR - wäre da nicht jener ausdrückliche Bezug auf Stalin und die „amerikanischen Gewaltherren“. Das Zitat stammt von Victor Klemperer, dem Verfasser jenes verdienten Buches „LTI - Lingua Tertii Imperii“, in dem sich Klemperer in Form von Tagebucheintragungen mit den erlebten und erlittenen Erscheinungen des Nazijargons auseinandersetzt 7 . Klemperer wurde prominent, und er fand Mitstreiter, vor allem F.C. Weiskopf 8 und später Henrik Becker 9 , die, wie er, sich leidenschaftlich für die Einheit und Reinheit der deutschen Sprache einsetzten, wobei sie sich ebenso gegen die (wie es hieß) „angloamerikanische Überfremdung“ und die „Nazirelikte“ im Sprachgebrauch der Bundesrepublik wandten, wie auch - und besonders Klemperer - gegen das „Kaderwelsch“, den „Funktionärsjargon“ der eigenen Funktionäre - auch dieses Stichwort stand bei Stalin: Läßt sich eine Gruppe in törichter Überheblichkeit dazu verführen, die überkommene Allgemeinsprache ihres Volkes zu mißachten und das Besondere und Neue der eigenen Ausdrucksweise götzenhaft als Sonder- oder Klassensprache zu verehren, dann verkümmert dieses Sprachwesen (oder richtiger: -unwesen) notwendigerweise zum Jargon, und ebenso notwendigerweise beraubt sich die solchem Irrtum verfallene Gruppe der Möglichkeit, an der Fortbildung der nationalen Sprache [...] mitzuwirken. 10 Seit 1955 spätestens verstummten derartige Stimmen allerdings in der DDR für lange Zeit. 6 Klemperer, V. (1954): Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland, Berlin (Ost), 1. Aufl. 1952, S. 10. 7 Klemperer, V. (1969): „ LTI “ - Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. dtv (3.Aufl.) Das Buch ist auch als Reclam-Taschenbuch in beiden deutschen Staaten wieder verfügbar. 8 Weiskopf, F.C. (1955): „Ostdeutsch“ und „Westdeutsch“ oder über die Gefahr der Sprachentfremdung. In: Neue Deutsche Literatur 3/ 7, S. 79-88. 9 Becker, H. (1956): Sieben Sprachbriefe zur Gegenwart. Eine gesellschaftliche Sprach- und Denklehre, Halle. 10 Klemperer, V. (1954): Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland, S. 7f. Die doppelte Wende 159 Auch in der Bundesrepublik konnte man sich über Mangel an Leidenschaftlichkeit in der Auseinandersetzung um das Ost-West-Sprachproblem wahrlich nicht beklagen, und der Tonfall der Auseinandersetzungen nahm nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 an Schärfe noch erheblich zu. Selbstkritik oder auch nur die <301> Bereitschaft, auch im eigenen Land die massiven sprachlichen Veränderungen der Nachkriegszeit angemessen zu berücksichtigen, war allerdings nicht Sache der meisten Autoren. Schon die Titel mancher Aufsätze sprechen für sich. - „Deutsche Sprache in östlicher Zwangsjacke“ (1954) 11 - „‘Sowjetdeutsch’ - Die Sprache als Opfer und Werkzeug der Sowjetisierung“ (1955) 12 - „Die Sprachentartung in der Sowjetzone“ (1952) 13 - „Gefährliches ‘Parteichinesisch’ - Verhängnisvolle Sprachspaltung zwischen West und Ost“ (1956) 14 - „Die Sprache als Waffe“ (1958) 15 - „‘Sowjet-Deutsch’ - Die Sprache als politisches Kampfmitttel der Kommunisten“ (1959) 16 Auch in offiziösen Veröffentlichungen wie z.B. in dem Nachschlagewerk „SBZ von A bis Z“ des Gesamtdeutschen Ministeriums in Bonn wird die Verantwortung für die eingetretenen sprachlichen Unterschiede als „offizieller Jargon des Regimes“ einseitig dem DDR-System zugeschoben: Die Sprache unseres Volkes ist hüben und drüben die gleiche geblieben. Aber über diese Einheit legt sich in der Sowjetzone die diktatorische Terminologie der alleinherrschenden Partei. Die Sprache der sowjetzonalen Öffentlichkeit ist vom Kauderwelsch des kommunistischen Regimes von heute in einem 11 Köhler, A. (1954): Deutsche Sprache in östlicher Zwangsjacke. (= Vortrag im deutschen Sprachverein Berlin am 4.12.53), Berlin (West). 12 Koepp, F. (1955): ‘Sowjetdeutsch’ - Die Sprache als Opfer und Werkzeug der Sowjetisierung. In: Akademische Blätter 57/ 3, S. 41-46. 13 Borée, K.F. (1952): Die Sprachentartung in der Sowjetzone. In: PZ -Archiv 3/ 2, S. 23-24. 14 Haefs, H. (1956): Gefährliches „Parteichinesisch“ - Verhängnisvolle Sprachspaltung zwischen West und Ost. In: Das Parlament 15.8.1956, S. 9. 15 Herrmann, E.M. (1958): Die Sprache als Waffe. In: Hessische Blätter für Volksbildung 8/ 3, S. 135-140. 16 Korntner, B. (1959): ‘Sowjet-Deutsch’ - Die Sprache als politisches Kampfmittel der Kommunisten. In: Die Orientierung (Pfaffenhofen), Beiheft Nr. 12, o. J. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 160 Maße überfremdet, daß sie dem westdeutschen Leser kaum ohne ein Wörterbuch verständlich ist. Dieses Buch soll deshalb zugleich ein Wörterbuch sein, das den offiziellen Jargon des Regimes in der Sowjetzone übersetzt. 17 < 302 > Den Vogel schoß zweifellos Otto B. Roegele ab - später Ordinarius für Publizistikwissenschaft in München -, der 1959 in der Zeitschrift „Die politische Meinung“ von einem „System des kommunistischen Sprachkrieges“ sprach, von der „Fälschung der Begriffe“ und der „Schaffung einer eigenen Sprachwelt“, von „thematischer Verführung“ usw., und dazu meinte: Das ist der teuflisch-grandiose Versuch, durch Umschaffung der Worte auch das Weltbild der Menschen umzuschaffen, der Versuch, die zweite Schöpfung [...] zu pervertieren in die satanische Schöpfung einer Gegenwelt [...] „Gegenschöpfung ist immer Mord, nämlich Aneignung durch gewaltsame Zerstörung“. Das gilt auch hier, gerade hier. [S. 48] Innerhalb dieser [= der kommunistischen, d.V.] Terminologie haftet der Bezeichnung „Deutsche Demokratische Republik“ auch nicht jener Geschmack des Widernatürlichen an, den jeder gesund Empfindende wahrnehmen muß [...] Gibt es irgendeinen Grund zu der Hoffnung, daß die Menschen dieser Vergewaltigung der Gedanken durch die Worte widerstehen können? Es spricht einiges dafür, daß die Menschen, ungeachtet der gnadenlosen Konsequenz der Propaganda-Maschine, ihr gesundes Sprachempfinden bewahrt haben. [S. 60] 18 Das ist - schon damals - „das Reich des Bösen“. 3. Westdeutsche Betonung sprachlicher Divergenz gegen ostdeutsche Betonung sprachlicher Einheit Besonnene Stimmen konnten sich in diesem Klima des kalten Krieges nur langsam Gehör verschaffen oder blieben zunächst vereinzelt: Die politische Abtrennung hat in den wenigen Jahren nach dem Kriege in Deutschland eine tiefe sprachliche Kluft entstehen lassen. Die deutsche Sprache in der sowjetischen Besatzungszone ( SBZ ) erlitt in Folge der politischen Verhältnisse starke Veränderungen [...] Bedeutsamer als alle Neubildungen sind [...] die Änderungen der Wortbedeutung, ist die Wandlung der Begriffe, die sich in der DDR vollzogen hat. 17 SBZ von A bis Z (1954). Hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, 2. Aufl. (Vorwort). Ähnlich auch noch in der 8. Auflage von 1963 unter dem Stichwort „Sprache“, jedoch mit einer Distanzierung vom Ausdruck „Sprachspaltung“ 18 Roegele, O.B. (1959): Die Spaltung der Sprache. Das kommunistische Deutsch als Führungsmittel. In: Die politische Meinung 4/ 36, S. 48-60. Die doppelte Wende 161 Die Zahl all jener sprachlichen Veränderungen ist, am Gesamtbestand der Sprache gemessen, natürlich gering [...] Aber die neue Sprache beherrscht immerhin den gesamten Bereich des gedruckten Wortes, ... sie ist die Sprache des öffentlichen Lebens im weitesten Sinne. Die Gefahr einer propagandistischen Normierung ist auch im Westen gegeben; an die Stelle einer nüchternen, immer von neuem unternommenen Prüfung der Tatsachen können leicht schablonenhafte Vorstellungen treten [...] < 303 > [...] ,daß die totalitären Möglichkeiten der Sprache auch in Westdeutschland [...] gegeben sind, daß ihre Gefahren aber durch die bloße Existenz des (echten) formalen Prinzips der Demokratie (Mehrstimmigkeit) gemildert werden. 19 Dieser relativ nüchterne Aufsatz aus dem Jahre 1953 von Walter Richter (Pseudonym für den in der Schweiz lebenden Germanisten Peter Brang) wurde erst Ende der 50er Jahre wiederentdeckt, als sich gleichzeitig drei Hochschulgermanisten in nun endlich wissenschaftlicher Weise mit dem Thema befaßten: Gustav Korlén in Schweden 20 , Werner Betz in München 21 und Hugo Moser in Bonn 22 . Werner Betz vor allem ist es zu verdanken, daß die These einer „Sprachspaltung“ jedenfalls in der Linguistik niemals mehr wiederholt wurde. Auch Hugo Moser, der anfangs die „Gefahr einer sprachlichen Spaltung“ noch sah, korrigierte sich und sprach von der Gefahr einer sprachlichen „Sonderung“: Es hat im Zusammenhang mit der politischen Teilung Deutschlands seit 1945 eine entgegengesetzte Entwicklung eingesetzt, die von manchen drüben und auch von einigen hüben als „Sprachspaltung“ bezeichnet wird [...] Ich wende mich gegen diese Bezeichnung aus Gründen, die ich schon an anderer Stelle dargelegt habe. Gemeinsam sind der Sprache in beiden deutschen Staaten weiterhin nicht bloß die Normen der Rechtschreibung und der Hochlautung, sondern vor allem auch der allergrößte Teil des Wortschatzes einschließlich 19 Richter, W. (1953): Zur Entwicklung der deutschen Sprache in der sowjetischen Besatzungszone. In: Europa-Archiv 8/ 21, S. 6053-6056. 20 Korlén, G. (1959): Zur Entwicklung der deutschen Sprache diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. In: Deutschunterricht für Ausländer, Jg. 9, S. 138-153. 21 Betz, W. (1962): Zwei Sprachen in Deutschland? In: Merkur 16/ 9, S. 873-879. Nachdruck dieses Aufsatzes in dem Sammelband von Handt (Hg.) (1964): Deutsch - Gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? 22 Moser, H. (1961): Die Sprache im geteilten Deutschland. In: Wirkendes Wort 11/ 1, S. 1- 21; ders. (1962): Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands. (= Beiheft zum ‘Wirkenden Wort’, Nr. 3), Düsseldorf. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 162 der Wortinhalte und so gut wie die ganze Struktur des Satzbaus einschließlich der Flexionsformen. Wohl aber muß man von der Gefahr einer neuen Sonderung sprechen. 23 Kann und darf man nicht von einer Sprachspaltung sprechen, so besteht aber ohne Zweifel die Gefahr, daß, besonders in gewissen zentralen Bereichen des Wortschatzes, namentlich bei den Wortinhalten, früher oder <303> später eine tiefer reichende Auseinanderentwicklung sprachimmanenter Art eintreten kann. 24 Das gleiche Schlagwort „Sprachspaltung“ diente allerdings noch für Jahre als Zündstoff für Polemiken der DDR-Linguisten gegen die der BRD. Andere Germanisten sprachen von Divergenzen, Differenzierungserscheinungen oder allgemein von der „Sonderentwicklung der DDR“ - woraus ersichtlich wird, daß auch weiterhin die Besonderheiten der DDR bei weitem im Mittelpunkt des Interesses standen, und auch hier wieder vor allem die Wörter mit politisch-ideologischen Implikationen. Daß es Wortschatzveränderungen auch im DDR-Alltag gab - ebenso wie in dem der BRD - wurde nur äußerst selten wahrgenommen. 25 Die Absperrmaßnahmen vom 13. August 1961 hatten noch einmal eine Flut heftiger Angriffe auf die Spaltungsbemühungen der SED zur Folge, die nunmehr, wie man befürchtete, endgültig auch in der Sprache durchgesetzt werden sollten. Solche Polemiken flackerten in der Presse der Bundesrepublik, allerdings zunehmend beschränkt auf die Rechtspresse, noch bis Ende der 60er Jahre immer wieder auf. Auch die Germanistik/ Linguistik in der BRD blieb davon nicht immer verschont, wie einige Beiträge aus dem sonst oft zu pauschal kritisierten „Aueler Protokoll“ belegen. 26 Im großen und ganzen machte sich jedoch die Sprachgermanistik in der Bundesrepublik - trotz oder gerade wegen der Ernüchterung nach dem Mau- 23 Moser, H. (Hg.) (1964): Das Aueler Protokoll - Deutsche Sprache im Spannungsfeld zwischen Ost und West. Düsseldorf (aus dem Vorwort). 24 Moser, H. (Hg.) (1964): Das Aueler Protokoll - ... (aus dem Umschlagtext). 25 Zu den Ausnahmen gehört der Versuch von Hugo Moser (1971): Zum Problem der „neutralen“ Neuprägungen und Neubedeutungen im offiziellen Sprachgebrauch der DDR . In: Schwenk, S. (Hg.) u.a.: Et multum et multa - Festgabe für Kurt Lindner, Berlin/ New York, S. 249-255. 26 Zu den meist kritisierten Aufsätzen gehört der von Hannes Maeder (1964): Sprache und Totalitarismus. In: Moser, H. (Hg.) (1964): Das Aueler Protokoll - ..., S. 13-23; daneben auch der Aufsatz von Ernst Riemschneider und Hansjürgen Schierbaum im gleichen Sammelband. Die doppelte Wende 163 erbau, auf den Weg zu einer mehr nüchternen, empirisch fundierten, auch die Erscheinungen in der Bundesrepublik mit berücksichtigenden Betrachtungs- und Vorgehensweise. Am deutlichsten wurde dies in dem - wie er selbstironisch sagte -, „rein destruktiven“ Aufsatz von Walther Dieckmann „Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem“ (1967), in dem er einem Großteil der bis dahin publizierten westdeutschen Literatur eine ganze <304> Reihe methodischer Mängel sowie politische Voreingenommenheit vorhielt. Statt einer sachlichen empirischen Beschreibung und einer sorgfältigen Bestandsaufnahme spielen von der Einleitung bis zum Schluß sprachtheoretische Prämissen und politisch-ideologische Standpunkte in die Argumentation hinein, wobei ungewiß nur ist, ob die letzteren die ersteren stützen sollen oder umgekehrt. Beide verbinden sich widersprüchlich zu einem gemeinsamen Ziel [...]. Das sprachwissenschaftliche Interesse ist ungleichmäßig entwickelt. Die Probleme, die die Sprache der Politik und auch die spezielle Thematik des sprachlichen Ost-West-Gegensatzes bieten, sind zum Teil noch gar nicht in Angriff genommen worden. Wo sie diskutiert werden, bleibt man bei vagen Vorläufigkeiten stehen. [...] Die wesentlichen Fragen sind noch ungelöst und manchmal noch gar nicht erkannt. Vertraut man den Einleitungen und Schlußworten, so ist das eigentliche „Anliegen“ eher ein politisches, ein menschliches, ein ethisches als ein sprachwissenschaftliches; [...] 27 Dieckmanns Kritik war im Einzelfall gewiß überzogen, im Prinzip jedoch berechtigt, in mancher Beziehung geradezu ein Durchbruch. Daß der Aufsatz so wirksam werden konnte, lag sicher auch am politischen Klima jener Jahre, in denen sich eine ganze akademische Generation aus den Fesseln des kalten Krieges zu befreien versuchte. Ich greife wieder zurück: Die DDR-Germanistik meldet sich erst 1963/ 64 wieder zu Wort. Karl-Heinz Ihlenburg 28 und auch Hans-Joachim Gernentz 29 stellten in ihren Aufsätzen 27 Dieckmann, W. (1967): Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem. In: Zeitschrift für deutsche Sprache 23/ 3, S. 136-165 (hier S. 164 und 165). 28 Ihlenburg, K.-H. (1964): Entwicklungstendenzen des Wortschatzes in beiden deutschen Staaten. In: Weimarer Beiträge 10/ 3, S. 372-397. 29 Gernentz, H.-J. (1965): Droht dem Deutschen die Gefahr einer Spaltung in zwei Sprachen? In: Jezyky obce w szkole, Fremdsprachen in der Schule (Warschau), 2/ 2, S. 69-80; ders. (1967): Zum Problem der Differenzierung der deutschen Sprache in beiden deutschen Staaten. In: Weimarer Beiträge 13/ 3, S. 463-468. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 164 zahlreiche Besonderheiten der DDR vor und verteidigten sie als fortschrittlich, zukunftsweisend und auch als in vieler Hinsicht unvermeidlich. Keineswegs, so heißt es übereinstimmend in den Arbeiten dieser Zeit, werde dadurch die Einheit der deutschen Sprache gefährdet, im Gegenteil werde sie, und zwar gerade in der DDR, progressiv und im Sinne einer geistigen Erneuerung weiterentwickelt. Nicht die „westdeutsche Bundesrepublik“, die sich vom Nationalverband abgespalten habe, sondern die DDR sei der ei- <306> gentliche Hort der deutschen Nationalsprache. Besonders klar wird dies in dem Aufsatz von Joachim Höppner: ‘Widerspruch aus Weimar’ (1964), der in dem westdeutschen Sammelband „Deutsch - Gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? “ veröffentlicht ist. Besonders aufschlußreich auch deshalb, weil Höppner dort unmittelbar auf die Äußerungen des Schweden Gustav Korlén 30 antwortet. Selbstverständlich wird in beiden Teilen Deutschlands nach wie vor deutsch gesprochen und der grundlegende Wortbestand ist derselbe. Dennoch wurden in der DDR , aber im beträchtlichen Maße auch in Westdeutschland, nicht nur neue Bezeichnungen für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens geprägt, sondern vor allem viele geläufige Wörter mit neuem begrifflichen Inhalt erfüllt, der ihre herkömmliche Bedeutung wandelte. [...] Sicher geht es nun zu weit, von einer „Spaltung der Sprache“ zu sprechen, wie das in Westdeutschland manchmal geschieht, um die uns angeblich zufallende Schuld desto schwerer zu wägen und unser Bemühen um Verständigung von vornherein abzuwehren. Die deutsche Sprache ist nach wie vor gemeinsames nationales Verständigungsmittel, und auch dort, wo es um die stärksten Bedeutungsunterschiede geht, bedienen wir uns ihrer. [...] Korlén fürchtet, wir spalteten mit unseren Neuwörtern und Neubedeutungen die deutsche Sprache. Diese Behauptung [ ... ] ruft auch bei einigen unserer Germanisten Unsicherheit hervor. Oft wird sie nur vorgebracht, um mit der Abneigung gegen diesen Wortschatz und seinen Sinngehalt auch die Ablehnung der Sache zu wecken, die er ausdrückt. Die Einheit der deutschen Sprache [...] kann [...] nicht darin bestehen, den alten, einseitigen oder falschen, unzulänglich und oft unwahr gewordenen bürgerlichen Sinngehalt zu verteidigen oder unaufrichtig hinter „Neuschöpfungen“ zu verbergen, auch nicht darin, neue und alte Bedeutung zu vereinen, einander anzugleichen und als gleichberechtigt gelten zu lassen. Gerade in diesem von Ideologie erfüllten Bereich der Sprache ist das heutige Nebeneinander und Gegeneinander historisch ein Nacheinander, in dem nur das dem 30 Korlén, G. (1964): Zur Entwicklung der deutschen Sprache diesseits und jenseits des eisernen Vorhangs. In: Handt, Fr. (Hg.) (1964): Deutsch - Gefrorene Sprache ..., S. 123-142; ders. im gleichen Sammelband: Nachtrag zu Joachim Höppner (S. 152-154). Die doppelte Wende 165 neuen Leben angemessene eine Zukunft hat. Die Einheit der Sprache beruht auf der Einheit der Denkweise, diese auf der Einheit der Lebensweise, sie alle haben in unserer Zeit ihre Heimat in der sozialistischen Nation. 31 Deutschlandpolitisch dominierte in der DDR in jener Zeit (bis 1966) weiterhin das Bemühen, durch immer erneute Vorschläge zur Wie- <307> derherstellung der deutschen Einheit auf die Bundesrepublik und die Westmächte Einfluß zu nehmen. Vorschläge für einen Friedensvertrag, Vorschläge für eine Konföderation der beiden deutschen Staaten, zur Einrichtung gemeinsamer Kommissionen lösten einander ab, flankiert gelegentlich von Aktionen wie „Deutsche an einen Tisch“ oder „Das offene deutsche Gespräch“, die alle von der Grundposition ausgingen: Die DDR will die Einheit - freilich zu ihren Bedingungen. Zu dieser politischen Linie paßt die Intention eines Mitte der 60er Jahre konzipierten, von dem Ostberliner Sprachwissenschaftler J. Scharnhorst herausgegebenen Sammelbandes („Sprache in beiden deutschen Staaten“), in dem die Einheit der deutschen Sprache betont wird. Auf diesen Band, der Ende der 60er Jahre erscheinen sollte, jedoch nie ausgeliefert wurde, werde ich im nächsten Kapitel zurückkommen. 4. Westdeutsche Betonung sprachlicher Gemeinsamkeit gegen ostdeutsche Betonung sprachlicher Differenz (späte 60er und 70er Jahre) Seit 1967 ändert sich das Bild in gleitenden Übergängen. In der BRD hat sich die Große Koalition gebildet, es beginnen die Verhandlungen mit den osteuropäischen Nachbarstaaten und der UdSSR, die von der DDR als eine abgefeimte Umgehungsstrategie empfunden und als ganz besonders gefährlicher Einmischungsversuch der „westdeutschen Imperialisten und Revanchisten“ gebrandmarkt wird. Die DDR schon unter Ulbricht - und nicht erst unter Honecker - begibt sich ab 1967/ 68 auf Abgrenzungskurs. Manipulationsvorwürfe nehmen an Schärfe zu, wie der Sammelband von Günther Heyden „Manipulation“ 32 zeigt. Dort ist von der „Fratze der Unmenschlichkeit“ (das Bonner System) die Rede, von „Mißbrauch der Sprache“ von „Täuschung“, „Diffamierung“ und anderen polemischen Beschuldigungen aus dem Arsenal 31 Höppner, J. (1964): Widerspruch aus Weimar. In: Handt, Fr. (Hg.) (1964): Deutsch - Gefrorene Sprache ..., S. 143-151. 32 Heyden, G. (Hg.) (1968): Manipulation. Die staatsmonopolistische Bewußtseinsindustrie. Berlin (Ost). Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 166 des Kalten Krieges. Die Formel „Nichts verbindet uns mit der imperialistischen Bundesrepublik - alles mit der DDR, unserem sozialistischen Vaterland! “ stammt schon aus dieser Zeit. Die Propaganda wird nachhaltig umgestellt: Nicht mehr der „Weg zur Wiederherstellung der deutschen Einheit“ (unter sozialistischen Vor- <308> zeichen) ist das Ziel, sondern die Herausbildung der „sozialistischen Menschengemeinschaft“, der „sozialistischen Nation“ in einer „sozialistischen Staatengemeinschaft“. Die völkerrechtliche Anerkennung wird das oberste außenpolitische Ziel der DDR. In gleichem Maße, wie diese Politik der Selbständigkeit, der Unabhängigkeit, der eigenen nationalen Zukunft in der DDR sich Geltung verschafft, wird in den Medien der BRD ein bezeichnender Tendenzumschwung erkennbar. Während vorher eher vereinzelt auf die verbindende Kraft und Funktionsfähigkeit der deutschen Sprache hingewiesen wird, übernehmen diese Einstellung jetzt auch Blätter, die man eher dem rechten Spektrum zuordnen möchte. Man konstatiert, daß sich die verbindende Kraft der deutschen Sprache sowie vor allem der Widerwillen der Bevölkerung in der „DDR“ gegen den Jargon des Systems gemeinsam als stärker erwiesen hätten als alle Sprachspaltungsversuche, die man doch vorher als so gefährlich erfolgreich angeprangert hatte. In der Politik der 1969 neugebildeten sozialliberalen Koalition wird nun politisches Programm, was sich in der Großen Koalition seit 1967 schon angebahnt hatte: Abbau von Spannungen gegenüber den osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion, mehr Kontakte und „menschliche Erleichterungen“, Abschluß von Verträgen auf den Gebieten gemeinsamen Interesses mit der DDR. Walter Ulbricht unterbreitete am 18./ 19. Dezember 1969 einen Vertragsentwurf zum Abschluß völkerrechtlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 33 - oder auch, wie es hier in der DDR zum erstenmal heißt, „zwischen der DDR und der BRD“ (die Abkürzung „BRD“ war bis dahin in der DDR verboten). Willy Brandt antwortete darauf im Januar in seinem Bericht zur Lage der Nation: 25 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Hitlerreiches bildet der Begriff der Nation das Band um das gespaltene Deutschland. Im Begriff der Nation sind geschichtliche Wirklichkeit und politischer Wille vereint. Nation umfaßt und bedeutet mehr als gemeinsame Sprache und Kultur, als 33 Neues Deutschland vom 18./ 19. Dezember 1969, S. 1: Entwurf eines Vertrages über die Herstellung völkerrechtlicher Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Die doppelte Wende 167 Staat- und Gesellschaftsordnung. Die Nation gründet sich auf das fortdauernde Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen eines Volkes. Niemand kann leugnen, daß es in diesem Sinne eine deutsche Nation gibt und geben wird, soweit wir voraus zu denken vermögen. Im übrigen: Auch <309> oder, wenn man so will, selbst die DDR bekennt sich in ihrer Verfassung als Teil dieser deutschen Nation. 34 Dies war für beide deutsche Staaten der Beginn eines langen Weges über Erfurt und Kassel aufeinander zu oder zumindest nebeneinander her, der noch lange nicht beendet ist. Die DDR sicherte diesen Weg innenpolitisch mit einem Kurs verschärfter Abgrenzung ab, der gerade die Bereiche besonders betraf, die in der Bundesrepublik als noch gemeinsam oder wieder zu stärken hervorgehoben worden waren: Sprache, Kultur, menschliche Kontakte, das Bewußtsein, doch ein Volk zu sein. Dazu Walter Ulbricht im Juni 1970: Sogar die einstige Gemeinsamkeit der Sprache ist in Auflösung begriffen. Zwischen der traditionellen deutschen Sprache Goethes, Schillers, Lessings, Marx und Engels, die vom Humanismus erfüllt ist, und der vom Imperialismus verseuchten und von den kapitalistischen Monopolverlagen manipulierten Sprache in manchen Kreisen der westdeutschen Bundesrepublik besteht eine große Differenz. Sogar gleiche Worte haben oftmals nicht mehr die gleiche Bedeutung [...] Wenn wir z.B. von Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung sprechen, dann meinen wir eben echte Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung. Wenn jedoch manche politische Führer in Bonn von Gleichberechtigung sprechen, dann verstehen sie darunter Unterwerfung der DDR . Und wenn sie Nicht-Diskriminierung predigen, dann meinen sie Verewigung der Diskriminierung der DDR und ihrer Bürger [...] Vor allem aber müssen wir feststellen: Die Sprache der Hitlergenerale, der Neonazis und der Revanchepolitiker gehört nicht zu unserer deutschen Sprache, zur Sprache der friedliebenden Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, die wir lieben, schätzen und weiterentwickeln. 35 Dieser zwar vorbereitete, aber in seiner Schärfe doch überraschende Kurswechsel hatte für die Linguistik in der DDR eine unmittelbare und mehrere mittelbare Folgen. Die unmittelbare: Ein lange angekündigter, schon fertig gedruckter Sammelband von J. Scharnhorst (als Herausgeber) verschwand nahezu spurlos. Der 34 Brandt, W. (1970): Zur Lage der Nation, Bonn, S. 5. 35 Ulbricht, W. (1970): Rede auf der 13. Tagung des ZK der SED . In: Neues Deutschland Jg. 25, Nr. 164, 16. Juni 1970, S. 4. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 168 Band mit dem Titel „Sprache in beiden deutschen Staaten - Beiträge zum Thema Sprache und Politik“ sollte die erste Buchveröffentlichung des 1968 neu gegründeten (besser: umgegründeten) Zentralinstituts für Sprachwissenschaft in Ost-Berlin sein, das als prominentes Akademie-Institut nicht nur personell her- <310> vorragend ausgestattet war, sondern auch den Vorstellungen der SED von gesellschaftlicher Wirksamkeit von Sprache - und der Sprachwissenschaft - besser entsprechen sollte. Durch Zufall gelangte ein einziges Exemplar dieses nie ausgelieferten Bandes in unsere Bibliothek (des Instituts für deutsche Sprache, Mannheim). Einige der dort enthaltenen Beiträge erschienen in der DDR später an anderer Stelle, andere nicht. Wir haben die Gründe für das Nichterscheinen natürlich in der Gesamtanlage des Bandes einerseits und in den nichterschienenen Beiträgen andererseits gesucht. Zusammenfassend ergab sich folgendes Bild: Der Band hat unter anderem das Ziel, - den westdeutschen Sprachspaltungsvorwurf endgültig ad absurdum zu führen, - einschlägige westdeutsche Veröffentlichungen (vor allem das sogenannte „Aueler Protokoll“) als voreingenommen und unwissenschaftlich zu entlarven, - das Vokabular der Großen Koalition, insbesondere der Ostpolitik unter Außenminister Willy Brandt, als manipulativ und revanchistisch zu entlarven, - die eigenen Neuerungen als positiv und fortschrittlich herauszustellen. Vom Punkt 4 abgesehen ging das so einfach nicht mehr. Wenn Ulbricht die Auflösung der deutschen Sprache konstatiert, kann man nicht gegen Sprachspaltungsvorwürfe die deutsche Spracheinheit verteidigen. Wenn Stoph sich auf den Weg von Erfurt nach Kassel macht, um mit einem Bundeskanzler Willy Brandt zu verhandeln, geraten Polemiken gegen die „imperialistische westdeutsche Bundesrepublik“, die inzwischen zur „BRD“ avanciert war, ins Zwielicht. Der Band - trotz schöner Einzelbeiträge - lag schief - und er verschwand. Die indirekten Folgen: Zunächst ein Blick auf die politische Entwicklung: Nachdem Ulbricht die Macht an Honecker abgegeben hatte, entschloß sich die DDR-Führung zu einer Doppelstrategie: Die doppelte Wende 169 Einerseits zur Politik der Verhandlungen, die 1973 in den Grundlagenvertrag mündeten und zu einer Fülle von weiteren Vereinbarungen führten, d.h. zu einer deutlichen Entspannung, Entkrampfung im deutsch-deutschen Verhältnis. Dies brachte der SED einen schönen Erfolg (u.a.): die internationale Anerkennung, auch in der UNO. <311> Zum anderen zur Politik der Abgrenzung: Die „Nichts-verbindet-uns“-Parole der Ulbricht-Zeit mündete in die These von der sozialistischen Nation in der DDR, die sich offensiv abgrenzt von der kapitalistischen Nation in der BRD. Da man ja nicht ganz leugnen konnte und wollte, doch irgendwie auch deutsch zu sein, wählte man folgenden Ausweg: Alle historisch gemeinsamen ethnischen Merkmale (Sprache, Kultur, Geschichte, Sitten und Gebräuche) wies man dem Begriff „Nationalität“ zu; alles jedoch, was eine Gesellschaft „wesentlich“ kennzeichnet - z.B. Produktionsverhältnisse, Gesellschaftsstruktur, Wirtschaftssystem, politisches System, Rechtswesen - dem Begriff „Nation“. Mit zunehmender Entwicklung zum Sozialismus werden, so heißt es, die ethnischen Merkmale eher unwesentlich und der Abstand zur BRD somit größer, die Gemeinsamkeit mit den sozialistischen Bruderländern umso intensiver. Während es im Bericht der Bundesregierung 1972 heißt: Die Deutschen in ihrer Gesamtheit sind in unseren Jahren keine Staatsnation, sie sind dennoch durch viel mehr als bloß die gemeinsame Sprache verbunden. Im menschlichen Bereich noch immer durch unzählige familiäre Bande, im geistigen durch eine gemeinsame Geschichte und Literatur. Daß sich dies nicht ändert, bis in der Zukunft eine politische Verbindung möglich sein wird, dazu bedarf es jener Politik, die die Bewahrung der Nation erstrebt. 36 - erklärt dazu Erich Honecker 1973: Nicht Sprache und Kultur haben die Grenze zwischen der DDR und der BRD gezogen, sondern die unterschiedliche, ja gegensätzliche Struktur der DDR und der BRD [...] Gemeinsamkeiten in der Sprache können diese Unterschiede nicht hinwegzaubern. 37 Auch in der neuen DDR-Verfassung von 1974 fand die neue Auffassung Eingang: Während es in der sogenannten Ulbricht-Verfassung von 1968 noch hieß: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer 36 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (1972): Bericht der Bundesregierung und Materialien zur Lage der Nation, Bonn, S. VIII-IX. 37 Honecker, E. (1973): Rede auf der 9. Tagung des Zentralkomitees 1973. In: Neues Deutschland vom 29.5.1973. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 170 Staat deutscher Nation“, heißt es in der Neufassung: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“. Bezogen auf die Sprache formuliert Siegbert Kahn in der „Weltbühne“ 1974 das neue Programm folgendermaßen: <312> Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Sprache eines der Merkmale der Nation und natürlich auch der sozialistischen Nation ist. Und in den vergangenen 25 Jahren ist eine bedeutende Differenzierung der Sprache in der DDR und in der BRD eingetreten [...] Es handelt sich um eine hochpolitische Sache: Die sozialistische Nation kämpft um ihre unverfälschte Nationalsprache, sie grenzt sich offensiv von der mit Amerikanismen und Anglizismen durchsetzten Sprache ab, die in der imperialistischen BRD gesprochen und geschrieben wird [...] 38 Aber die eigentliche Umsetzung für die Linguistik leistete erst Gotthard Lerchner, Linguist an der Universität Halle (ich zitiere hier aus der popularisierten Version in der Zeitschrift Forum 1976): Zunächst: Das Schlagwort vom „einigenden Band der deutschen Sprache“ hat sehr viel oberflächliche Evidenz für sich. Es gehört zur allgemeinen Alltagserfahrung, daß zwischen den Bürgern der DDR und der BRD eine nahezu mühelos einsetzbare sprachliche Kommunikationsfähigkeit besteht. Von zwei verschiedenen Sprachen sprechen zu wollen steht mithin im Widerspruch zu jeder empirischen Erkenntnis [...] Das Schlagwort vom „einigenden Band der deutschen Sprache“ kann zumindest keine nationalsprachliche Einheit mehr reklamieren, sondern sich allenfalls auf Übereinstimmungen in lediglich einer, nämlich der schrift- oder literatursprachlichen Existenzform des Deutschen berufen. Die Wirklichkeit des sprachlichen Gebrauchs ist hier wie dort von der Realität gegensätzlicher Gesellschaftsordnungen bestimmt [...] Wir haben es nunmehr mit vier nationalsprachlichen Varianten zu tun: dem Deutschen in der DDR , der BRD , in Österreich und in der Schweiz. 39 Dies ist die „Vier-Varianten-These“. Sie sollte für nahezu zehn Jahre die Stellungnahmen der DDR-Linguistik, die Vor- und Nachworte der Dissertationen und Tagungsreferate prägen. Nur wenige - darunter Wolfgang Fleischer und Wolfdietrich Hartung - vermieden allzu auffällige Beifallskundgebungen.[*] 38 Kahn, S. (1974): Nation und Sprache. In: Die Weltbühne Nr. 53 vom 31.12.74, Berlin (Ost). 39 Lerchner, G. (1976): Nationalsprachliche Varianten. In: Forum 3, S. 10-11. [* Gerade die beiden Genannten und Walther Dieckmann haben mir widersprochen: Die Thesen Lerchners seien auch in der DDR -Linguistik auf Reserve und Widerspruch gestoßen. In den Publikationen des ZISW spielen sie keine Rolle, das ist richtig. MWH ] Die doppelte Wende 171 In der Bundesrepublik verstärkte sich in den 70er Jahren der Trend, die Gemeinsamkeiten stärker zu betonen - Tenor: Das einigende Band hält. Während Friedrich Luft in der WELT 1958 beim Vergleich zweier DUDEN-Ausgaben noch entsetzt feststellte: Wir sind soweit. Wir sprechen schon das doppelte Deutsch. Wir haben die feindlichen Duden schon im Haus. 40 < 313 > sah Dittmar in der gleichen Zeitung 1979 gerade das Gegenteil: Vor allem beweist der Vergleich der beiden Wörterbücher [= des 6-bändigen DUDEN -Wörterbuchs und des Ost-Berliner WDG , d.V: ]: Es gibt nur eine deutsche Sprache. 41 42 5. Annäherung der sprachwissenschaftlichen Standpunkte (80er Jahre) Angesichts der allgemeinen Gemeinsamkeitseuphorie in der Bundesrepublik sahen sich einige Sprachwissenschaftler hier veranlaßt, ein wenig gegenzusteuern: So unproblematisch verlaufe Verständigung wahrlich nicht immer, sprachliche Unterschiede reichten bis tief in den beruflichen und familiären Alltag, und die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte seien ein ungeklärtes Problem. Reflexe dieser vorsichtigen Warnungen finden sich auch in den (damals gerade gründlich überarbeiteten) „Materialien zur Lage der Nation“: Die Gleichartigkeit der deutschen Sprache ist unbestritten. Rechtschreibung, Satzbau und Formenlehre zeigen bis heute keine ins Gewicht fallenden Unterschiede in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR . Im Wortschatz sind allerdings, besonders im ideologisch-politischen Bereich, zahlreiche Neuwörter, unterschiedliche Abkürzungswörter und Bedeutungsverschiebungen festzustellen. Inwiefern durch solche Wortschatzdifferenzierungen zwischen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland und der DDR Verständigungsprobleme auftreten, ist eine wissenschaftlich bisher kaum untersuchte Frage. In der Sprachwissenschaft wird heute häufig davon ausgegangen, daß der Einfluß der jeweiligen gesellschaftlichen Werte und Normen auf die Alltags- 40 Luft, F. (1958): Wenn das Wörterbuch zur Parteifibel wird. Der Duden links und rechts der Zonengrenze. Wir sprechen schon zweierlei Deutsch. In: DIE WELT vom 5.4.1958. 41 Dittmar, P. (1979): Die Parolen im Vorwort sind nur ein Alibi. In: DIE WELT vom 7.2.1979. Vgl. schon vorher Giselher Stark (1966): Wir sprechen noch eine Sprache. Was Institute in West und Ost herausfanden. In: Der Telegraph (Berlin-West) vom 8.4.1966. 42 WDG (1964ff.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, hg. v. R. Klappenbach und W. Steinitz. 6 Bände, 1. Aufl. Berlin (Ost). Duden-Wörterbuch (1976ff.): DUDEN - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 6 Bänden, hg. v. G. Drosdowski u.a., Mannheim, Wien, Zürich. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 172 sprache nicht zu unterschätzen sei. Zwischen den Bevölkerungen in beiden deutschen Staaten bestehe heute keine volle Gemeinsamkeit im sprachlichen Medium mehr. Damit seien allerdings grundsätzlich die breiten Möglichkeiten der Information und Kommunikation in Deutschland nicht aufgehoben [...] <314> Die Sprache bildet den vielleicht wichtigsten Träger der kulturellen Tradition, die von einer Generation auf die nächste übertragen wird. 43 Wichtiges zu einem realistischeren, nüchternen, gleichwohl farbigen und widersprüchlichen Bild der DDR trugen auch die Berichte und Bücher der in der DDR akkreditierten Korrespondenten bei; mehrere sind als Taschenbücher erschienen. 44 Einige Konstanten wies aber auch das neue, differenzierte Bild der DDR auf: Immer wieder und gewiß zu recht wurde hingewiesen auf die große Kluft zwischen angestrengtem, kontrolliertem, von allseitigem Selbstlob und lautstarkem Leistungsansporn geprägtem öffentlichen Leben und dem privaten. Günter Gaus prägte den Begriff „Nischengesellschaft“ 45 . Sprachlich entspräche dem eine bemerkenswerte Fähigkeit der DDR-Bürger zum Umschalten zwischen öffentlichem und nichtöffentlichem Sprachregister. 46 Während nun das öffentliche oder offizielle Sprachregister eine starke Sonderentwicklung nehme, weise das private - ebenso übrigens auch die anspruchsvolle Literatur - nur eine geringe Sonderentwicklung auf, sie werde überall verstanden. In den achtziger Jahren öffnete sich die Diskussion hier auch einigen Gegenargumenten. In dem Maß, in dem die DDR kein Feindbild mehr war, erschien vieles als gleich oder ähnlich, was es nicht ist. So hört man bei Hinweisen auf sprachliche (und sachliche) DDR-Besonderheiten z.B. oft die Entgegnung „Das ist doch bei uns genauso“ - (meist stimmt sie nicht). Auf der anderen Seite wird die Annahme, die Verständigung im nichtöffentlichen Bereich funktioniere problemlos, infragegestellt mit dem Hinweis, 43 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (1974): Materialien zum Bericht zur Lage der Nation, Bonn, S. 73. 44 Vgl. die Zusammenstellung bei M.W. Hellmann in: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 11, Mannheim 1985, Anm. 8 (S. 88). Zu ergänzen ist noch: Bussiek, H. (1984): Die real existierende DDR . Neue Notizen aus der unbekannten deutschen Republik. (= Fischer Tb. Nr. 4246), Frankfurt. 45 Gaus, G. (1986): Wo Deutschland liegt (= dtv Allgem. Reihe Nr. 1056). 46 Neben vielen anderen vgl. Eva Windmöller (1980): Leben in der DDR , Hamburg, darin Kapitel 12: „Die Kunst der doppelten Zunge“ (S. 168-180). Mit Bezug darauf M.W. Hellmann (1978): Sprache zwischen Ost und West - Überlegungen zur Wortschatzdifferenzierung zwischen BRD und DDR und ihre Folgen. In: Kühlwein / Radden (Hg.): Sprache und Kultur..., Tübingen, S. 15-54, hier S. 27f. Die doppelte Wende 173 daß dies nur deshalb und nur so lange gelte, als die DDR-Bevölkerung in der Lage und weiterhin willens sei, ihren Sprachgebrauch in unseren oder in gemeindeutschen zu transferieren. <315> Denn diesen Transfer erbringen nämlich die DDR-Gesprächspartner fast allein. Dazu Manfred Ackermann, damals Mitglied der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR: Die Menschen dort drüben empfinden die Teilung in ganz strengem Maße als politisch verfügt. Das heißt, sie haben sie innerlich nicht akzeptiert, und sie wehren sich auch sprachlich dagegen. Und da fast alle sprachlichen Vorgaben politischen Ursprungs sind, ist auch die Abwehrhaltung gegen solche Vorgaben ziemlich stark ausgeprägt. Das übernimmt man oberflächlich. Da engagiert man sich auch psychisch überhaupt nicht, das wird dann einfach abgehaspelt, aber wenn das nicht mehr verlangt wird, dann redet man eben anders. Mein Eindruck ist, wenn wir Deutsche in Ost und West, in Bundesrepublik und DDR uns trotzdem fast nahtlos verstehen können, diese Leistung wird von den Bürgern der DDR erbracht, nicht von uns. Denn die DDR -Bürger, die in ihrem Staat schon in einer gewissen Doppelheit leben zwischen öffentlicher und privater Sprache, die leben auch in der Doppelheit von Westsprache und Ostsprache, von Westbegriffen und Ostbegriffen, und die können das übersetzen, was wir manchmal gar nicht können. Die DDR -Bürger [...] sind in hohem Maß bereit, eine zusätzliche sprachliche Leistung oder denkerische Leistung zu bringen, indem sie für sich selbst, aber auch für uns, ihr Regime, ihren Sprachgebrauch, auch den Jargon übersetzen, wenn wir es nicht mehr verstehen. 47 Der BRD-Bürger dagegen hat, so scheint mir, in der Regel die DDR (und ihre Bürger) aus dem nationalen Wir-Bewußtsein ausgeklammert und ihnen einen Status wie vielleicht Österreich (oder weniger) zugewiesen; dies zeigt sich auch im Gebrauch des Wortes „deutsch“ und „Deutschland“. 48 In der DDR hatte sich in den achtziger Jahren eine neue Entwicklung angebahnt, die letztlich die Abgrenzungspolitik zumindest abschwächte. Erich Honecker fand mehrfach überraschende nationale Töne, einen z.B. aus Anlaß der Nachrüstungsdebatte in einem Brief an Bundeskanzler Kohl 1983: 47 Ackermann, W. (1986): Podiumsdiskussion. In: Debus / Hellmann / Schlosser (Hg.) : Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR , Hildesheim, Berlin, New York, S. 302- 303. 48 Zum Begriff „Deutschland“ vgl. u.a. H. Berschin (1974): Deutschland - ein Name im Wandel. (= Analysen und Perspektiven Sonderreihe Bd. 1), München, Wien. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 174 Ein atomwaffenfreies Europa ist letzten Endes das Ziel der europäischen Völker. Wir schließen uns im Namen des deutschen Volkes dem an. 49 <316> Seit Ulbricht hat kein führender SED-Politiker mehr „im Namen des deutschen Volkes“ gesprochen. Die DDR bemühte sich energisch, große Gestalten der deutschen bzw. preußischen Geschichte aus dem Kerker der ideologischen Verdammung in das helle Licht der nationalen Erbepflege zu heben - so Luther, den Preußenkönig Friedrich, sogar den Junker Bismarck - nach dem Grundsatz: „Alle positiven Entwicklungslinien der deutschen Geschichte finden letztlich ihre Erfüllung in der sozialistischen DDR“. 1982/ 83 greift diese neue Linie nun auch auf die Auffassung von Sprache über. Der Leipziger Sprachgermanist Wolfgang Fleischer, berühmt durch eine Reihe ausgezeichneter Hochschullehrbücher, hielt 1983 ein kurzes Referat auf einer Fachtagung, das folgendermaßen schloß: Alles in allem: Es ist ein Prozeß im Gange; eine terminologische Fixierung, die über die Benennung „die deutsche Sprache in der DDR “ hinausgeht, halte ich gegenwärtig für nicht angebracht. Im übrigen bezweifle ich, daß eine weitgehende Differenzierung oder Verselbständigung der deutschen Literatursprache in der DDR wünschenswert wäre [...] [Die sehr unterschiedlichen sprachlichen Besonderheiten in der DDR ] sind jedoch nicht DDR -isolationistisch zu sehen. Sie knüpfen an Benennungstraditionen der Arbeiterklasse an, die sich im Deutschen in der Vergangenheit innerhalb einer staatlichen Kommunikationsgemeinschaft mit antagonistischer Klassenstruktur bereits entwickelt hatten. 50 Das war sensationell,[*] bedeutete es doch nicht nur das Ende der Vier- Varianten-These, sondern auch eine Abwendung von den implizit unterstellten Bemühungen, die Differenzierung und Verselbständigung der Sprache in der DDR noch weiter zu treiben; dies sei „nicht wünschenswert“. Fleischer erhielt die Möglichkeit, sein neues Konzept in einer Arbeitsgruppe zu verwirklichen, die bald auf mehr als 12 Linguisten (fast alles Schüler 49 Erich Honecker: Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl vom 9. Oktober 1983, in: Neues Deutschland vom 10.10.83. 50 Fleischer, W. (1983): Die deutsche Sprache in der DDR . Grundsätzliche Überlegungen zur Sprachsituation. In: Linguistische Studien H. 111, S. 258-275. [* Wiederum widersprach Wolfgang Fleischer: Seine Ausführungen seien keineswegs als „sensationell“ empfunden worden. MWH ] Die doppelte Wende 175 von Fleischer) anwuchs; Ende 1987 legte Fleischer nun das Ergebnis ihrer 3 1/ 2 jährigen Arbeit vor, die „Kollektiv-Monographie“ (wie es drüben heißt) „Wortschatz der deutschen Sprache in der DDR“. Dort heißt es im Vorwort: Der propagandistische Mißbrauch, der von seiten bestimmter Kreise in der BRD mit Benennungen wie „deutsche Sprachgemeinschaft“ getrieben wird, ist noch kein Grund, solche Benennungen als unzutreffend anzusehen. [...] <317> Die Herausbildung der DDR , eines selbständigen sozialistischen Staates, ist eine historische Tatsache, die Verwendung der deutschen Sprache als Staatssprache in verschiedenen Staaten ist eine andere historische Tatsache. [...] Im Unterschied zu historischen Prozessen in der Vergangenheit, die sich unter anderen Bedingungen vollzogen haben, ist die Selbstidentifizierung der sich in der DDR entwickelnden sozialistischen deutschen Nation nicht an eine eigene, besondere Sprache gebunden. [...] Die in der DDR erarbeiteten Kodifikationen sprachlicher Normen auf den verschiedenen Ebenen lassen keine weitgehende Normdivergenzen erkennen. Sie können im Gegenteil als repräsentativ für die deutsche Literatursprache (Standardsprache) der Gegenwart angesehen werden. [...] Die Frage nach der deutschen Sprache in der DDR ist demnach nicht prinzipiell einzuengen auf die 3-4 Jahrzehnte, die seit der offiziellen Gründung unserer Republik vergangen sind. Die Entwicklung der deutschen Sprache ist ein Element des Geschichtsprozesses, der schließlich zur Gründung des ersten sozialistischen deutschen Staates geführt hat. Wenn mit der Gründung der DDR „ein neues Kapitel in der Geschichte des deutschen Volkes aufgeschlagen wurde“ - [...], so hat sich im Zusammenhang damit auch für die sprachliche Kommunikation und die Entwicklung der deutschen Sprache eine neue Situation ergeben. 51 Die Autoren beschäftigen sich fast ausschließlich mit den Besonderheiten der DDR, vergleichen nicht oder kaum und greifen den westdeutschen Gebrauch kaum an. In der Zwischenzeit hatten westdeutsche Sprachgermanisten den Faden neu aufgegriffen. Der Sammelband von Debus / Hellmann / Schlosser von 1986 beschäftigt sich überwiegend mit DDR-Sprachgebrauch, jedoch in mehreren Beiträgen auch vergleichend. Wie spannend die am Sammelband Beteiligten diese neue DDR-Entwicklung fanden, geht aus dem Schlußwort hervor: 51 Fleischer, W. (1987): Wortschatz der deutschen Sprache in der DDR , Leipzig, (aus dem Vorwort S. 14 und 15). Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 176 Wir können uns leicht darauf verständigen, daß wir diese neue Entwicklung begrüßen als ausgesprochen produktiv für die DDR -Linguisten selbst und hilfreich für uns für eine mögliche Kommunikation mit den DDR -Linguisten [...] Aber dabei sollte es nicht bleiben. In jedem zweiten Ost-West-Kommuniqué steht heute - erfreulicherweise - ein Satz wie „Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden in Europa“. Wir haben auch, das ist unstreitig und in Verträgen gesichert, eine gemeinsame Verantwortung für den Umweltschutz, den Gesundheitsschutz, einen reibungslosen Verkehrsfluß und vieles andere - manchmal sogar wird anerkannt: für <318> unser gemeinsames kulturelles Erbe. Vielleicht öffnet sich allmählich der Weg für die Erkenntnis: auch für unsere gemeinsame Sprache. 52 Gleichzeitig mit Fleischers Band erschien in Bern ein Tagungsband, der auch eine Podiumsdiskussion dokumentiert. An ihr hatten, neben Österreichern und natürlich Schweizern, Peter von Polenz für die BRD und Wolfdietrich Hartung, prominenter Linguist aus dem ZISW in Ostberlin, teilgenommen. Unter Berufung auf den australischen Germanisten Michael Clyne 53 diskutierten sie den neuen Begriff „plurizentrisch“ - „Plurizentrismus“ 54 : [Wolfdietrich Hartung: ...] Es hat sich ein besonderer Wortschatz herausgebildet, es gibt nur ein paar Textmuster wahrscheinlich. Es gibt wahrscheinlich [...] verschiedene Bewertungen von Kommunikationsstrategien und ein unterschiedliches Reflektieren über die kommunikative Wirklichkeit. Aber das alles erfolgt im Rahmen einer einheitlichen Sprache, der deutschen Sprache. Ich wäre sehr vorsichtig mit der Charakterisierung dieser Besonderheit als nationale Variante. Es ist die deutsche Sprache mit ein paar Besonderheiten im Rahmen einer einheitlichen Sprache [...] Sprache [ist] immer bezogen [...] auf einen ganz bestimmten Erfahrungshintergrund, [...] und wenn dieser Erfahrungshintergrund durch eine staatlich organisierte, umgrenzte Kommunikationsgemeinschaft geprägt ist, kann es da natürlich Prägungen geben, die zwar sehr schwer merklich und auch relativ schwer in Wörterbüchern darstellbar sind, die aber insgesamt für die Entwicklung der Sprachgemeinschaft auf längere Sicht nicht ganz unwichtig sind. [S. 58] 52 Aus dem Schlußwort. In: Debus / Hellmann / Schlosser (1986) (Hg.): Sprachliche Normen und Normierungsversuche in der DDR , S. 295. 53 Clyne, M. (1984): Language and Society in the German-speaking Countries. Cambridge University Press, Cambridge, London, Melbourne, Sidney. 54 Nach Abschluß des Manuskripts erscheint Peter von Polenz: ‘Binnendeutsch’ oder plurizentrische Sprachkultur? Ein Plädoyer für Normalisierung in der Frage der ‘nationalen’ Varietäten. In: Zeitschr. f. Germanistische Linguistik, 1988, Heft 2. Dazu die Stellungnahme von Manfred W. Hellmann (1988): ‘Binnendeutsch’ und ‘Hauptvariante Bundesrepublik’ - Zu Peter von Polenz' Kritik an Hugo Moser. In: ZGL 1988, H. 3. Die doppelte Wende 177 [Peter von Polenz: ] Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland bildet seit 1945 eine eigene Kommunikationsgemeinschaft [...], deren Sprachpraxis stark von einer eigenen Politik dieses Staates geprägt und verändert worden ist. [...] Sprachliche Besonderheiten der Bundesrepublik Deutschland lassen sich also mindestens in gleichem Umfang auflisten wie dies in der Forschung bisher fast nur für die anderen deutschsprachigen Staaten getan worden ist. [...] Dies berechtigt uns zu einem Ansatz einer westdeutschen oder bundesdeutschen Variante der deutschen Sprache, aber in dem Sinne, daß wir hier nur bestimmte Funktionalstile, bestimmte Situationsregister, bestimmte Textsortenstile meinen, die man als Staats- <319> bürger der Bundesrepublik und als Mitglied ihrer Kommunikationsgemeinschaft beherrschen muß, um als solche akzeptiert zu werden [...] [S. 58f.] [...] Nun gibt es die neuere Auffassung [...], daß die Beziehungen zwischen den deutschsprachigen Staaten plurizentrisch sind. Das heißt also, daß die deutsche Sprache als Kultureinheit mehrere Zentren hat, die gegenseitig Einfluß aufeinander ausüben [...]. [...] die Behauptung [die Sprachvariante der BRD sei die] „Hauptvariante“, stimmt nicht überein mit der tatsächlichen Auffassung der meisten Deutschen. [...] Ich glaube, es ist heute für die meisten Menschen [...] eine Selbstverständlichkeit, daß die anderen deutschsprachigen Staaten ganz gleichwertig ihren Beitrag zur deutschen Sprache und Literatur als Kultureinheit leisten, und ich glaube, es gibt sehr viele bei uns, die sich darüber freuen. [S. 64f.] [Wolfdietrich Hartung: ] Also mit der These des Plurizentrismus bin ich völlig einverstanden. Die ganze historische Entwicklung ist glaube ich gar nicht anders verständlich, als wenn man eine plurizentrische Basis der Sprachentwicklung im deutschen Sprachraum annimmt. [S. 66] 55 Hier sind wir nun am vorläufigen Ende angelangt. 6. Resümee und Ausblick Ausgehend von der zunächst gemeinsamen Sorge um die Einheit und Reinheit der deutschen Sprache in den ersten acht Jahren nach dem Krieg entwickelten sich die Einstellungen zu dem Phänomen der sprachlichen Ost-West-Differenzierung in entgegengesetzte Richtung: In der Bundesrepublik befürchtete man vielfach eine Sprachspaltung, verursacht durch die „Begriffsverdrehungen“, das „Moskauderwelsch“ der Partei, 55 VIII . Internationale Deutschlehrertagung Bern (1987): Ziele und Wege des Unterrichts in Deutsch als Fremdsprache. Tagungsbericht, hg. von R. Zellweger. Staatl. Lehrmittelverlag Bern, S. 58-66. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 178 der SED-Funktionäre. In der DDR wehrte man sich in einer gereizten Verteidigungshaltung mit Gegenvorwürfen: in Westdeutschland werde die Spracheinheit gefährdet, die DDR entwickele sie positiv weiter, sie garantiere die Einheit der Nation und die Reinheit der Sprache. Zwischen 1967 und 1969 änderte sich das Bild: Die DDR ging auf Abgrenzungskurs, bestritt bestehende Gemeinsamkeiten und konstatierte die Auflösung der Einheit von Sprache und Kultur, während die Publizistik der BRD, z.T. gestützt von Argumenten der <320> Sprachwissenschaftler, die sprachliche Einheit als verbindendes Element betonte. Ab 1970 - Verhandlungspolitik und Abgrenzungspolitik - wurden beide politischen Positionen linguistisches Programm, für die Linguistik der DDR manifestiert in der „Vier- Varianten-These“, in der BRD in der wiederaufgegriffenen Methapher vom „einigenden Band der deutschen Sprache“. Während die Sprachwissenschaft in der BRD in den achtziger Jahren begann, die Ergebnisse der Wortschatzforschung zu relativieren und das „einigende Band“ zu problematisieren, entdeckte die DDR ein erneutes Interesse an nationaler Kontinuität, sie entdeckte auch neue Gemeinsamkeiten; sie verabschiedete unauffällig die „Vier-Varianten-These“. Somit hat die doppelte Wende nun zu einem unerwarteten Resultat geführt: Beide Seiten sind sich - wie auch die Politiker - in bestimmten Punkten einig, sie verwenden die gleichen Formeln: Es gibt eine deutsche Sprache mit ihren Besonderheiten in der BRD, in der DDR usw. Diese prägen durchaus auch das sprachliche Erscheinungsbild ihrer jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft, aber in engstem Zusammenhang mit der gemeinsamen geschichtlichen Herkunft. „Plurizentrismus“ könnte das neue Denkmodell heißen. Vielleicht ist dies nur ein Moment, bevor die Drehung wieder beginnt. Ansätze zu neuer Drehung gäbe es. Die DDR könnte ihre Anstrengungen in Richtung deutsch-deutscher Gemeinsamkeiten verstärken, aus eigenem Interesse, aber auch um die BRD bei ihren Verbündeten in Schwierigkeiten zu bringen; sie könnte versuchen, hier die argumentative Führung zu übernehmen. Die Intensität der selektiven Erbe-Aneignung in der DDR spricht für diese Option. Das würde voraussichtlich in der BRD die Tendenz verstärken, die Unterschiede zu betonen. Die doppelte Wende 179 Auch dafür gibt es Ansätze: 1) Allgemein akzeptiert bei uns ist wie gesagt die Annahme, es gebe in der DDR eine beträchtliche Kluft zwischen offiziellem und privatem Sprachregister, viel größer und tiefgreifender als bei uns. Darauf könnte man leicht eine Hypothese aufbauen (ähnlich wie früher): die Deutschen verstehen sich ja untereinander. Nur die SED, das System und seine Ausdrucksweise - vom Volk nicht akzeptiert - stören furchtbar. Eine solche - zu einfache - Hypothese wäre natürlich hochgradig konfliktär. <321> 2) Unsere Medien bringen verdächtig oft Glossen der Art, daß angebliche oder wirkliche Albernheiten des DDR-Sprachgebrauchs als typisch dargestellt werden - Tenor (salopp gesagt): „So etwas von Verhunzung! Typisch DDR - kommt bei uns nicht vor! “ 56 3) Allgemeiner: Es läßt sich eine Interessenlage denken, die es für die BRD nahelegen könnte, die DDR als schon recht weit in Richtung Sozialismus abgedriftet darzustellen. Dafür gäbe es psychologische Ansatzpunkte: Das (amtlich geförderte 57 ) Selbstverständnis der meisten BRD-Deutschen, sie allein seien deutsch, seien Deutschland, könnte die DDR immer fremder oder doch gleichgültiger erscheinen lassen. Das ist Spekulation natürlich, aber eine wohl doch nicht ganz abwegige. Daraus ließe sich eine neue Runde von Polemiken, auch sprachwissenschaftlichen, entwickeln - wenn man will. Man kann aber auch anders wollen. Vielleicht ist es doch mehr als nur ein Moment der Ruhe, bevor der Kreisel sich zur nächsten Wende dreht. Vielleicht gelingt es wirklich, die deutsche Sprache in den Katalog gemeinsamer Verantwortung aufzunehmen. Das würde gemeinsame oder doch immerhin abgestimmte Forschungsvorhaben möglich machen in ganz anderem Maß, als das bisher vorstellbar schien. Zu tun gäbe es mehr als genug. 56 Als Beispiel von vielen vgl. „Wort-Kluft Ost-West? Auf erfundene DDR -Wörter reingefallen“. In: Sprachreport ( IDS ), Nr. 4, 1986 [= Beitrag Nr. 6 in diesem Band]. Gegen solche Tendenzen wendet sich z.B. auch Horst Dieter Schlosser (Univ. Frankfurt), jedoch scheint der Erfolg solcher Bemühungen leider eher gering. 57 Ich beziehe mich auf die amtlichen „Bezeichnungsrichtlinien“ von 1974, die den Gebrauch der Abkürzung „ BRD “ ablehnen und - sofern ohne Mißverständnisse möglich - die Bezeichnung „Deutschland“ (und „deutsch“) statt „Bundesrepublik (Deutschland)“ empfehlen. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 180 Ich schließe mit einem Zitat von Christa Wolf: Auch heute wachsen Kinder auf in den beiden deutschen Staaten. Fragen wir uns denn ernst genug: Wie sollen die, wenn sie groß sind, miteinander reden? Mit welchen Wörtern, in was für Sätzen, und in welchem Ton? 58 < 322 > 7. Literatur Ackermann, M. (1986): Podiumsdiskussion. In: Debus / Hellmann / Schlosser (Hg.): Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR , Hildesheim, Berlin, New York 1986, S. 302-303. Ahrends, M. (1986): Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon - Das Wörterbuch der DDR -Sprache (= Heyne Taschenbuch Nr. 6754), München 1986. Becker, H. (1956): Sieben Sprachbriefe zur Gegenwart. Eine gesellschaftliche Sprach- und Denklehre, Halle 1956. Berschin, H. (1974): Deutschland - ein Name im Wandel (= Analysen und Perspektiven, Sonderreihe Bd. 1), München, Wien 1974. Betz, W. (1962): Zwei Sprachen in Deutschland? In: Merkur 16/ 9 1962, S. 873-879. Nachdruck in: Handt (1964), S. 155-163. Borée, K.-F. (1952): Die Sprachentartung in der Sowjetzone. In: PZ -Archiv 3/ 2, 1952, S. 23-24. Brandt, W. (1970): Zur Lage der Nation. Bonn 1970. 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[Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Heinrich Buske Verlags.] „Ich suche eine Wohnung“[ x ] Zur vergleichenden Untersuchung alltagssprachlichen Handelns in den beiden deutschen Staaten* Es ist wohl nicht allzu ungewöhnlich, daß einen Lexikographen bei der täglichen Arbeit ein gewisses Unbehagen beschleicht: das Unbehagen, ob er sein ihm oder sich selbst gesetztes Vorhaben erfüllen kann, nämlich Wörter und Wortgebrauch so zu beschreiben, daß der Leser nicht nur darüber informiert wird, wie welche Wörter gebraucht werden - im Falle meines Wörterbuchs: wie und wie oft Wörter und Wortverbindungen in Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten gebraucht werden 1 - sondern daß er auch etwas erfährt über Zusammenhänge, Bedingungen, Ursachen dieses Gebrauchs. Man kann sich auf verschiedene Weise diesem Ziel nähern. Zum Beispiel indem man Gebrauch und Gebrauchsunterschiede mit zahlreichen Verwendungsbeispielen belegt und Häufungen gleichartiger Verwendungen z.B. zeitgeschichtlich zu erklären versucht. Man kann erklären, warum bestimmte Themen oder Textsorten oder Sachgebiete hier oder dort eine bestimmte Rolle spielen, oder die Funktion der bezeichneten „Sachen“ in der jeweiligen Gesellschaft genauer erläutern. In der Tat bestand meine Arbeit am Wörterbuch in den letzten Jahren zum großen Teil in Erweiterungen, Detaillierungen dieser Art. Allerdings wurde mir dabei klar, daß es mir auch durch gesteigerte Gründlichkeit oder Ausführlichkeit nicht gelingen konnte, das zu erklären, worauf es mir zumindest im Ost-West-Vergleich mehr und mehr ankam, nämlich: welche Rolle die Wörter und Sachen meines Wörterbuches im Alltag der Menschen spielen, wie sie in ihrem Leben damit umgehen, welche Erfahrungen, Bewertungen sie damit verbinden, wie diese Wörter und Sachen in ihr Handeln eingebaut sind. In Handeln, das durch allgemeine politische, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Konventionen zum Teil sehr spezifischer Art geprägt ist, oft ganz unbewußt, denke ich, und dann [ x Zuerst Vortrag auf der von H.D. Schlosser organisierten interdisziplinären Tagung an der Universität Frankfurt vom 30.9.-1.10.1988.] * Dieser Text ist eine Kurzfassung des ursprünglich auf 25 Seiten bemessenen Frankfurter Referats. [Anm. im Original auf S. 28, MWH ] Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 186 vielleicht um so nachhaltiger. Zum Teil ist dieses Defizit durch die Textsorte „alphabetisches Wörterbuch“ allgemein bedingt. Man wirft dem alphabetischen Wörterbuch bzw. seinen Wortartikeln unter anderem „onomasiologische Blindheit“ 2 und Vereinzelung vor; man hat Gegenvorschläge gemacht, sie zu mildern oder aufzuheben. Man hat die „lexikographische Erzählung“, den „lexikographischen Text“ als mögliche Alternative oder Ergänzung zur herkömmlichen Bedeutungserklärung oder Bedeutungsbeschreibung empfohlen 3 , <20> und ich glaube durchaus, daß sich Wörterbücher auf diese Weise brauchbarer, erklärender machen lassen. Allerdings stößt man an Grenzen. Auch die erhellendste lexikographische Erzählung, auch ausgedehnte onomasiologische Ausflüge in das sprachliche und sachliche Umfeld eines Stichworts heben bestimmte Schranken nicht auf, abgesehen davon, daß irgendwann der Wortartikel als Textsorte überfordert ist, also entweder zum Handbuchartikel wird oder zum Feuilleton oder selbst zur Erzählung. Das Prinzip des alphabetischen Zugriffs auf das einzelne Wort und seine Erklärung ist durch nichts zu ersetzen, aber dieses Prinzip abstrahiert notwendig nicht bloß vom Textzusammenhang - das ließe sich, wenigstens zum Teil, noch abfangen - sondern vom Handlungszusammenhang. Wenn wir aber davon ausgehen, daß auch Handlungsmuster, jedenfalls generelle, gesellschaftlich determiniert und ggf. gesellschaftsspezifisch ausgeprägt sind, sind Defizite im Verständnis auch des Sprachgebrauchs und seiner Spezifik unvermeidlich. Im Ost-West-Vergleich kommt noch ein weiteres Problem hinzu. Auch gut ausgewählte, auch sehr zahlreiche Verwendungsbeispiele schützen uns nicht zuverlässig davor, Unterschiede zu übersehen oder Gemeinsamkeiten zu vermuten, die nicht vorhanden sind. Dann nämlich, wenn die Unterschiede eben nicht in der lexikalischen Bedeutung oder nicht im textlich erfaßten Gebrauch liegen, sondern zum Beispiel darin, daß Wörter und Texte auf andere gesellschaftsspezifische Problemzusammenhänge oder Bewertungszusammenhänge Bezug nehmen. Ungeschminkte teilnehmende Darstellung beispielsweise von Alltagsproblemen oder typischen Problemlösungen betroffener Menschen gehören nicht gerade zu den Stärken unserer Zeitungen in Ost und West. DDR-Journalisten betrachten es ohnehin weniger als ihre Aufgabe, das Handeln der Menschen im Alltag ungeschminkt zu beschreiben, sondern es zu beeinflussen, es zu verändern im Sinne der Partei und des realsozialistischen Staates. Auch westdeutsche Zeitungen, um das hier einzufügen, sind nicht immer so ergiebig, wie ich mir das wünsche: Wann macht sich schon ein Journalist die Mühe, Alltagsprobleme von Menschen begleitend zu schildern? „Ich suche eine Wohnung“ 187 Bei meinen Überlegungen, wie und wo man zweckmäßigerweise Handeln von Menschen, sprachliches wie nicht-sprachliches, vergleichend untersuchen könnte, stieß ich auf jenen Satz, von dem ich heute nicht mehr sagen kann, ob Horst Dieter Schlosser oder ich ihn zuerst gebraucht hat, - den Satz „Ich suche eine Wohnung“. Hier verstanden als Etikett, als Einstieg in einen problemlösenden Handlungszusammenhang, ein Netz von typischen und üblichen Handlungsmustern. Es wurde mir erst später klar, daß dieser Einstieg einige wesentliche Bedingungen erfüllt, die an solche Vergleiche wohl generell, wie ich vermute, zu stellen sind. Sie sollen 1.) häufig vorkommen, d.h. möglichst viele Menschen betreffen, und zwar 2.) in beiden Staaten; sie sollten 3.) für Menschen beider Staaten ein Problem darstellen, das Handeln erfordert, und <21> zwar 4.) Handeln in den gesellschaftlichen Raum hinein, also nicht rein privates Handeln. Nicht also, meine ich, zum Beispiel „Autokauf“ oder etwa „Auslandsreisen“. Denn beides ist für Westbürger durchaus kein Problem, wohl aber für Ostbürger. Aber auch nicht „Arbeitsplatzsuche“, denn dies wiederum ist in der Regel für Ostbürger kein Problem, wohl aber für viele Westbürger. Auch nicht „Schwierigkeiten in der Ehe bzw. Partnerschaft“ oder „Skatabend“; bei beiden spielen, wie ich zunächst annehmen möchte, gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Problemlösung eine eher untergeordnete Rolle. Wohl aber zum Beispiel „Schwierigkeiten im Betrieb“, „Suche nach dem gewünschten Ausbildungsplatz“, „Ich muß ins Krankenhaus“ oder „Wehrdienstverweigerung“, um nur einige Beispiele zu nennen. Oder - weniger problembehaftet - „Einkaufen“ oder „Besuch einer kulturellen Veranstaltung“. Wenn es um Handeln von Menschen geht, muß man ihnen entweder beobachtend folgen oder sie befragen, wie sie problemlösend gehandelt haben oder handeln würden. Das erstere, teilnehmende Beobachtung, war mir unmöglich und wäre auch, sofern möglich, mit einem riesigen Aufwand verbunden. Das letztere waren zunächst einige eher beiläufige Gespräche, die ich mit Bürgern insbesondere aus der DDR geführt habe, dann Interviews auf Tonträgern. Selbstverständlich bezogen sich die von mir Befragten nicht bloß auf subjektiv individuell Erlebtes, sondern auch auf objektiv gesellschaftlich Gegebenes, z.B. auf Institutionen, auf gesetzliche Regelungen, auf Gepflogenheiten und Gewohnheiten, auf verbreitete Einstellungen und kollektive Erfahrungen. Wenn man über Handeln innerhalb solcher Muster berichtet, wie das meine Gesprächspartner taten, müssen zwangsläufig wenigstens die für mein Wissen notwendigen Ausschnitte dieses Wissens mitausgedrückt werden. Ich wurde schon beim er- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 188 sten Einstieg mit einem schwer zu entwirrenden, kompakten Wust von Fakten, Erfahrungen und Meinungen konfrontiert, die zahlreiche Nachfragen und Recherchen erforderlich machten. Übrigens nicht nur, was die DDR betrifft. Wie man bei uns zum Beispiel eine Sozialwohnung bekommt oder auch einen Wohngeldantrag stellt, war mir aus eigener Erfahrung ebenfalls unbekannt, ich habe es erst teilweise recherchieren können. Das geringe Material, das ich bisher durchgesehen habe, lässt mich allerdings oft in Unsicherheit, ob ich es mit zufälligen, individuellen Handlungsvarianten bzw. Äußerungen dazu zu tun habe, oder mit usuellen, mit typischen. Das geht bis in die Bewertung von Synonymen oder mir synonym erscheinenden Ausdrücken hinein. Bezeichnen sie nicht vielleicht doch Unterschiedliches, enthalten sie nicht vielleicht unterschiedliche Bewertungen, bezieht sich der Sprecher damit vielleicht auf bestimmte Gruppenansichten oder gruppenspezifische Verhaltensweisen? Haben sie insofern vielleicht Zitatcharakter, den ich nicht erkennen kann? Eine größere Materialmenge wird zwar viele solcher Fragen klären, trotzdem wird eine solche Fallstudie wohl kaum ohne enge Zusammenarbeit zwischen Sachfachmann und Sprachfachmann gelei- <22> stet werden können. Das Ergebnis meines Kopfsprunges in die Fakten sollte, so stelle ich mir vor, zunächst einmal eine kontrastive Studie zu einem Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeiten beider deutschen Staaten sein, Studien zu einem Teilsystem (Wohnungswesen ist ein solches Teilsystem), mehr noch, Studien zum Funktionieren dieses Teilsystems im Alltag, und zwar beobachtet am konkreten Handeln von Bürgern. Insofern ein Beitrag vielleicht zu dem, was in der Politikwissenschaft heute wohl unter „interkulturelle Vergleiche“ firmiert. 4 Darüber hinaus: Ich möchte versuchen, durch Einblick in sprachliches Handeln in enger Bezogenheit auf nicht-sprachliches und umgekehrt, Erkenntnisse zu gewinnen über sprachliche Gemeinsamkeiten und Divergenzen über das Maß hinaus, was Lexikographie zu leisten in der Lage ist. Kern meines Materials sollen je etwa 20 Interviews mit Bürgern aus der DDR und der BRD sein, die Erfahrungen mit Wohnungssuche gemacht haben, und zwar Interviews in der Form von mir initiierter Erzählmonologe mit geringem Anteil an steuernden Zwischenfragen. Dieses Material soll in drei Richtungen ergänzt werden: Zum einen durch gesetzliche und sonstige Rahmenregelungen samt den Bezeichnungen der zuständigen Institutionen (auch Makler oder Vermieter wären in diesem Sinne „zuständige Institutionen“) und ihrer Verfahren. Zum zweiten durch journalistische Berichte und andere, z.B. soziologische Untersuchungen über Wohnungswesen und Woh- „Ich suche eine Wohnung“ 189 nungsprobleme in Ost und West. Zum dritten durch literarische und journalistische Schilderungen von Wohnungs- und Wohnungssuchproblemen an Einzelbeispielen. Ein solcher Ansatz hebt die bisherige Schranke öffentlich-nichtöffentlicher Sprachgebrauch im übrigen auf. In dieser Art der Studien, hauptsächlich basierend auf Interviews mit ergänzendem Material, ist die Frage, ob das öffentlicher oder nicht-öffentlicher Sprachgebrauch ist, den wir bei der Analyse von Zeitungstexten natürlich immer beachten müssen, nicht mehr relevant. Wie sich im alltäglichen Handeln Gesellschaftliches und Privates mischen, so mischen sich im dazugehörigen sprachlichen Handeln Elemente des öffentlichen und nicht-öffentlichen Sprachgebrauchs (übrigens auch der Standard- und der Umgangssprache). Der deutsch-deutsche Kontrast mag dabei Einblicke in Art und Aufbau von Handlungsmustern, in den Zusammenhang von Sprache und Handeln in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit, eröffnen, die ohne diesen Kontrast vielleicht nicht so klar würden. Im folgenden beschränke ich mich aus Zeit- und Platzgründen ausschließlich auf die DDR-Seite. Wie man bei uns Wohnungen sucht und für wen welche Art von Problemen und ggf. Problemlösungen auftreten, muß ich hier offenlassen oder als mehr oder weniger bekannt unterstellen. Ich will damit keinesfalls ausdrücken, daß ich die Wohnungsprobleme z.B. einer jungen Familie mit wenig Geld und mehreren Kindern in einer Großstadt der BRD für weniger <23> schwerwiegend hielte als die in der DDR auftretenden. Ich habe begonnen mit einigen Interviews mit DDR-Bürgern. In diesen Interviews ist von insgesamt fünf Problemlösungen die Rede, in denen Menschen versucht haben, eine Wohnung zu bekommen. Außerdem habe ich Wörter, die aus dem institutionellen oder rechtlichen Bereich stammen, bis zu einem gewissen Grad anhand amtlicher Quellen 5 aus Ost und West aufgearbeitet. Ich habe drittens Zeitungsartikel zum Thema Wohnungswesen in der DDR mit berücksichtigt und schließlich auch noch einige Ausschnitte aus der belletristischen Literatur. 6 Das ist mein gegenwärtiges, zweifellos äußerst vorläufiges Material, auf das ich mich stütze. Auf der Grundlage dieses Materials habe ich nun versucht, die Fülle von Fakten in irgendeiner Weise zu gliedern. Die erste Gliederungskategorie nenne ich „Wohnungsverfügung“. Sie bezieht sich auf die Frage, wer verfügt über welche Art von Wohnungen? Der bei weitem größte Verfüger über Wohnungen ist bekanntlich in der DDR der Staat selbst, das heißt die staatli- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 190 che Kommunale Wohnungsverwaltung, abgekürzt KWV, heute in zahlreichen Städten geändert in VEB Gebäudewirtschaft. Ein zweiter großer Bereich in dieser Kategorie sind die Werkwohnungen. Sie werden in der Regel vom Betrieb selbst, also vom VEB oder vom Kombinat verwaltet, von einer entsprechenden Abteilung bzw. entsprechenden Wohnungsbeauftragten dort. Drittens AWG-Wohnungen (AWG = Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft), diese werden von der Genossenschaft selbst verwaltet. 7 Diese Genossenschaften sind rechtlich selbständige Institutionen; man muß dort Mitglied sein (was seit einigen Jahren erschwert wird) und Leistungen erbringen. Es gibt viertens weiterhin natürlich private Häuser, und zwar Mietwohnungen in Privateigentum (diese sind beim Wohnungsamt erfaßt) und private Eigenheime (hierunter auch Neubauten), jedoch keine neuen privaten Mietwohnungen. Es gibt fünftens sogenannte Kontingente, das sind Wohnungen, die für bestimmte Institutionen reserviert sind, die sie dann an ihre Mitarbeiter verteilen können. Schließlich gibt es auch noch nichterfaßte Zimmer, d.h. solche, die von Mietern freiwillig untervermietet werden, obwohl ihnen der Wohnraum gemäß Schlüssel eigentlich zusteht, oder es handelt sich um unter der Hand selbst ausgebaute Nebenräume (Keller- oder Dachräume). Solche nichterfaßten Räume erhält man nur über Beziehungen, Bekannte oder Anzeigen, sie unterliegen nicht der Wohnraumlenkung. Dies als ein allgemeiner Überblick über die Kategorie Wohnungsverfügung, soweit mir jetzt bekannt. Solche Kategorisierungen erscheinen mir zweckmäßig, insofern sie unmittelbar handlungsrelevant sind. Der Einstieg in irgendeinen Handlungsablauf ist durchaus davon abhängig, an wen man sich da wendet, bei wem man eine Wohnung zu erhalten versucht. Die Handlungsmuster sind nicht gleich, die jeweils berechtigten Personengruppen sind es auch nicht und die Art von Wohnungen, <24> um die es dabei geht, ebensowenig: in jedem Fall ist ein bestimmtes Procedere einzuhalten. Weiter mitentscheidend für den Handlungsablauf sind die Gründe für die Wohnungssuche bzw. den Wohnungswechsel. Ich nenne diese Kategorie „Ausgangssituation“. Der problematischste aller Fälle ist der, daß man bisher noch keine Wohnung hatte, weil man bisher in der elterlichen Wohnung gewohnt hat. Es gibt oder gab in der DDR die Regelung, daß jemand, der nicht in bestimmte bevorrechtigte Personenkategorien gehört, nicht vor dem 28. oder 30. Lebensjahr das Recht hat, einen Antrag auf eine eigene Wohnung zu stellen; vorher wird ein solcher Antrag nicht akzeptiert. Es sei denn beispielsweise, daß er/ sie heiratet oder daß ein Kind da ist. Eine andere Aus- „Ich suche eine Wohnung“ 191 gangssituation für einen Erstantrag ist, daß jemand bisher im Wohnheim gewohnt hat (Lehrlingswohnheim, Studentenwohnheim) oder daß er bei der NVA war. Kann er dann nachweisen, daß in der elterlichen Wohnung kein Platz für ihn/ sie ist oder heiratet er/ sie, kann er/ sie einen Erstantrag auf Zuweisung einer Wohnung stellen. Falls der Antrag überhaupt bearbeitet wird, landet er/ sie auf dem Wohnraum-Vergabeplan, einer Warteliste von unbestimmter, in der Regel mehrjähriger Dauer, es sei denn… Und hinter diesem „es sei denn“ beginnt der DDR-Alltag zum Abenteuer, zum Geschicklichkeitsrennen zu werden. So jedenfalls zeigen es die Interviews und die einschlägige Literatur. Darf er/ sie sich zu einer privilegierten Gruppe zählen, verkürzt sich die Wartezeit erheblich: Kinderreiche Familien werden bei der Zuweisung von Neubauwohnungen bevorzugt, auch wohl Angehörige der Intelligenz; ebenso, so sagen es die Bestimmungen, Bürger mit besonderen gesellschaftlichen Aktivitäten und anerkannte Kämpfer gegen den bzw. Opfer des Faschismus; bevorzugt werden, wie jeder weiß, auch Prominente aller Sparten, hochrangige Mitarbeiter aus dem Betriebsmanagement, der Partei, den staatlichen und kulturellen Institutionen, der NVA und der Staatssicherheit. Für solche Personengruppen haben die Institutionen und Betriebe ihre Kontingente. Bevorzugt werden, so nimmt offenbar jeder an, auch die Berliner gegenüber den Bürgern aus der DDR-Provinz, weil eben in Berlin viel mehr Neubauwohnungen erstellt werden als anderswo, und auch, wie es scheint, die Mitglieder der ehrenamtlichen Wohnungskommissionen, die über die Rangfolge auf den Vergabeplänen mitzuentscheiden haben.[*] Jeder schimpft, so scheint es mir, über das undurchsichtige Gestrüpp der Bevorrechtigungen, und jeder versucht, zu einer dieser bevorzugten Gruppen zu gehören oder doch Beziehungen zu den Entscheidungsträgern aufzubauen und zu nutzen. Gelingt das nicht, bleibt nur der mühsame Weg des jahrelangen Wartens und des Immerwieder-Vorsprechens: alle 14 Tage erscheint der wohnungssuchende DDR- Bürger bei „seinem“ Sachbearbeiter beim örtlichen Rat der Stadt bzw. der Gemeinde, Abt. Wohnungswesen - kurz: im Wohnungsamt oder bei dem Wohnungsbeauftragen seines Betriebes, schildert ihm seine Lage <25> möglichst als unzumutbar und bearbeitet ihn, wozu ich in meinem Material folgende synonyme Ausdrücke gefunden habe: Man muß den Antrag wiederholen / den Antrag bekräftigen; immer wieder vorsprechen / vorstellig werden; ihm auf die Nerven gehen / auf die Zehen [* Unter den Zuhörern befand sich ein ehemaliges Mitglied einer Wohnungskommission: er trug interessant und detailreich zur Präzisierung meiner Beobachtungen bei. MWH ] Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 192 steigen, bis er dich kennt / bis er es leid ist und dich loswerden will; da mußt du eben dies und jenes erzählen, man muß denen klarmachen, daß man in einer ungeheuren Notlage ist; da mußt du klagen können besser als die selber; da mußt du dir etwas einfallen lassen; da mußt du eben tricksen. Auf diese Weise versucht der Wohnungssuchende, einen möglichst hohen Rang auf dem Vergabeplan zu erreichen. Er kann aber jederzeit wieder zurückfallen, z.B. wenn plötzlich Wohnungen für Bevorrechtigte benötigt werden. So als anläßlich des 40. Jahrestages der DDR über zehntausend Strafgefangene amnestiert wurden und wohnungsmäßig versorgt werden mußten (es gab viel böses Blut bei den Benachteiligten). Punkt zwei in der Kategorie „Ausgangssituation“ setzt voraus, daß eine Wohnung schon vorhanden ist, aber eine andere gesucht wird. Handlungsrelevante Gründe für ein solches Ansinnen können sein 8 : 1. Die Wohnung ist zu schlecht, ist unzumutbar. Der Wohnungssuchende kann dann a) Antrag auf eine bessere Wohnung stellen, warten und immer wieder vorsprechen (siehe oben), b) bei der KWV eine Modernisierung der Wohnung beantragen (ebenfalls warten), c) die Wohnung zu tauschen versuchen (das mißlingt meist bei schlechteren Wohnungen), d) sie selber herrichten. Letzteres bedeutet den Übergang in ein gesondertes, spezielles Handlungsmuster. Ob dieser Übergang möglich ist und letztlich Erfolg hat, hängt von einer positiven Antwort ab auf mindestens folgende Fragen: Eigene handwerkliche Fähigkeiten und Zeit vorhanden? Und/ oder Beziehungen zum Baustoff- und Ausrüstungshandel? Evtl. Westgeld verfügbar? Mindestens zwei „Ja“-Antworten erscheinen notwendig. Kredite gibt ggf. der Staat, Werkzeuge der Reparaturstützpunkt bzw. die Mach-mit-Zentrale. 2. Die Wohnung ist zu klein, z.B. durch Familienzuwachs; oder 3. die Wohnung ist extrem ungünstig gelegen: z.B. zum Betrieb, zu Schule und Kindergarten. In diesen Fällen bleibt nur der Antrag auf Zuweisung einer anderen Wohnung und/ oder der Versuch, sie zu tauschen. Wohnungstausch kann man privat versuchen durch eine „Suche/ Biete“- Tauschanzeige in der Zeitung oder mit Hilfe einer der kommunalen Tauschzentralen. Bei überörtlichem Wohnungswechsel ist, sofern einem der neue Betrieb nicht hilft, der Wohnungstausch die aussichtsreichste Lösungsvariante, immer vorausgesetzt, <26> die bisherige Wohnung ist halbwegs passabel. Die zahlreichen Wohnungstausch-Anzeigen sind ei- „Ich suche eine Wohnung“ 193 ne Fundgrube nicht nur für DDR-spezifisches Vokabular, sondern auch für das, was die annoncierenden Bürger für wichtig und hervorhebenswert halten. In bestimmten Fällen kümmert sich das Wohnungsamt selbst um eine andere Wohnung für den Mieter, z.B. dann, wenn die Wohnung oder das Haus wegen Einsturzgefahr gesperrt wird, wenn es abgerissen oder rekonstruiert (grundüberholt) werden soll oder wenn gesellschaftliche Bedarfsträger Eigenbedarf anmelden. Einen Mieter einfach auf die Straße zu setzen und ihn dann seinem Schicksal zu überlassen, ist in der DDR unmöglich; er muß mit Wohnraum versorgt werden. Noch ein Blick auf die Kategorie „Qualitätsstufen“. An der Spitze der Bewertung steht zweifelsohne die Neubauwohnung. Nicht bloß darin, daß sich das Wort Neubauwohnung auf andere Wohnungen bezieht als bei uns, sondern schon in der absoluten Spitzenbewertung, die dieses Wort in der DDR hat, unterscheidet es sich deutlich von unserem Gebrauch. Bei uns ist die Neubauwohnung nicht von vornherein viel besser als eine Altbauwohnung. Im Gegenteil, Altbauwohnung beginnt bei uns schon etwas Schickes zu bekommen in der Bewertung. Das ist in der DDR nicht der Fall. Man kann vereinfacht sagen, alle Wohnungen, die nach dem Krieg gebaut sind und insofern einen gewissen Mindestkomfort (Innen-WC, fließend Warmwasser) aufweisen, gelten in der DDR als Neubauwohnung. Dann gibt es die Reko- Wohnung. Das ist eine rekonstruierte, d.h. grundüberholte und technisch modernisierte Altbauwohnung. Besonders in den letzten fünf Jahren hat die DDR erhebliche Investitionen getätigt, um ihren zusammenbrechenden Altbaubestand einigermaßen aufzufrischen, wieder bewohnbar zu machen. Eine Alt- Neubauwohnung - mir völlig unbekannt - bezeichnet vermutlich eine Wohnung, die in den dreißiger Jahren gebaut worden ist und zum Teil schon die Qualitätskriterien einer Neubauwohnung erfüllt. Man begegnet dieser Bezeichnung in den Anzeigen zuhauf. Altbauwohnung bezeichnet Vorkriegswohnungen, durchweg nicht technisch modernisiert und z.T. seit Jahrzehnten reparaturbedürftig, oft aber sorgfältig von den Mietern innenrenoviert. Über Altbauwohnungen, in denen so gut wie nichts mehr funktioniert, weiß wohl jeder DDR-Bürger die wildesten Geschichten zu erzählen. Weitere geläufige Bezeichnungen am unteren Ende der Bewertungsskala sind Ausbauwohnung, Abrißwohnung, schwer vermietbare Wohnung; das schon erwähnte nicht erfaßte Zimmer spielt eine Sonderrolle. Wohnungen, in denen weniger Men- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 194 schen wohnen als laut Schlüssel eigentlich vorgesehen, nennt man unterbelegt; das Wohnungsamt kann einen Untermieter zuweisen oder den Mieter zum Umzug in eine kleinere Wohnung zu bewegen versuchen oder (nach meinem jetzigen Informationsstand) auch alles auf sich beruhen lassen. <27> Leider erlaubt der Zwang zur Kürzung keinen Blick mehr in das Interview- Material, in dem einige Lösungswege auf sehr plastische Weise beschrieben werden, einschließlich dem, was eine der Interviewten tricksen nannte. Die sprachliche Analyse wird sich, so viel zeigt schon das vorliegende Material, mit einer Fülle von Unterschieden zu befassen haben. Augenfällig sind selbstverständlich die Lexem-Spezifika. Sie finden sich bei den beteiligten Institutionen (Wohnraumlenkung, Wohnungskommission, KWV, AWG usw.), den Handelnden (Wohnungsbeauftragter, Bevorrechtigter), den Verfahrensbezeichnungen (zuweisen, versorgen, zugelassen für …), den Objekten (Reko-Wohnung, Altneubau, nichterfaßtes Zimmer) und ihrer Ausstattung (Gamat 2000). Auffällig sind ferner referentielle Unterschiede bei der Komfortwohnung oder Neubauwohnung, bei letzterem zugleich verbunden mit einem deutlichen Bewertungsunterschied. Auffällig wegen ihrer unterschiedlichen Gebrauchsfrequenz sind Bezeichnungen für Ausstattungsdetails wie gefließt oder Zentralheizung (Nichterwähnung bedeutet in der DDR, anders als hier, Kohleofenheizung) oder Küche mit Fenster, aber auch das Fehlen jeglicher Hinweise auf Mietpreis und Nebenkosten (kalt/ warm). Von besonderer Wichtigkeit erscheint mir die Untersuchung unterschiedlicher Plazierung bestimmter Ausdrücke in den Handlungsplänen: während in den DDR-Handlungsplänen z.B. Antrag stellen nahezu überall (außer beim Wohnungstausch und bei der Suche nach einem nichterfaßten Zimmer) auftritt, erscheint es in BRD- Handlungsplänen nur in den relativ seltenen Seitensträngen „Bemühen um eine Sozialwohnung“ und „Wohngeld-Antrag“. Dafür finden sich in den DDR-Handlungsplänen kaum so geläufige Ausdrücke wie Wohnungen besichtigen/ vergleichen/ verhandeln u.ä. Die angefügte Wortliste enthält nur eine Auswahl der jetzt schon festgestellten Wortschatz- und Wortgebrauchsunterschiede. Keineswegs für jedes der dort aufgeführten Wörter habe ich schon eine ausreichende Erklärung oder eine Zuordnungsmöglichkeit zu einem Handlungsplan. Der Ertrag dieses ersten Einstiegs scheint mir trotzdem ermutigend, wenngleich methodisch - auch wegen des Fehlens methodischer Vorbilder - noch recht ungesichert. <28> „Ich suche eine Wohnung“ 195 Anmerkungen 1 Manfred W. Hellmann, Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. - Ein rechnergestütztes Korpus-Wörterbuch zu Zeitungstexten aus beiden deutschen Staaten. 2 Bde. plus Anhang. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1991. [Erschienen 1992 in 3 Bänden (= Forschungsberichte des IDS 69.1-69.3).] 2 H.E. Wiegand, Nachdenken über Wörterbücher, in: Drosdowski / Henne / Wiegend (Hrsg.): Nachdenken über Wörterbücher. Aktuelle Probleme, Mannheim 1977, S. 51-102, hier S. 102. 3 U.a. Burkhard Schaeder, Lexikographie als Praxis und Theorie. (= RGL Bd. 34) Tübingen 1981; dort S. 101-103 (mit Bezug auf H.E. Wiegand) und S. 194f; ähnlich ders., Zur Kodifikation der Wirtschaftssprache. In: W. Mentrup (Hrsg.), Konzepte zur Lexikographie (= RGL Bd. 38), S. 65-92, hier S. 85f. 4 Vgl. Werner Weidenfels (Hrsg.), Politische Kultur und deutsche Frage. Materialien zum Staats- und Nationalbewußtsein in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1989. Dieser Sammelband zeigt jedoch auch, wie wenig konkret auf Alltagshandeln von Menschen die bisherigen Untersuchungskonzepte bezogen sind. 5 U.a. Reinwarth / Nissel, Rund ums Wohnen. (= Reihe „Recht in unserer Zeit“ Nr. 4). Staatsverlag der DDR , Berlin (Ost) 1986. 6 Besonders eindrücklich die Erzählung „Freiheitsberaubung“ von Günter de Bruyn, in: Auskunft 2 - Neueste Prosa aus der DDR . Hg. von Stefan Heym, München 1978, S. 11-21. 7 Es gibt Vergleichbares bei den LPG , jedoch weitaus geringer an Zahl. 8 Die folgenden Gründe können auch eine Rolle spielen, wenn ein DDR -Bürger eine ihm neu zugewiesene Wohnung ablehnt, weil er den Eindruck hat, daß er sich deutlich verschlechtert. Der Handlungsplan wird dadurch umstrukturiert bzw. rekursiv. <29> Nachbemerkungen Die Situation in der DDR hat sich gegenüber dem Zeitraum der Untersuchung etwa folgendermaßen geändert: 1) Das DDR-Wohnungsbauprogramm „Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990“ gilt seit Mitte Oktober 1989 auch offiziell als gescheitert: Seit 1987 verfällt der Altbaubestand schneller, als Neubauwohnungen gebaut werden. 2) Alle Probleme der DDR-Bürger bei der Wohnungssuche bestehen weiterhin, ebenso Vokabular und Wendungen, derer man sich bei Lösungsversuchen bedient. Auch die staatlichen Institutionen bestehen noch, funktionieren jedoch noch schlechter als bisher; sie haben, wie oft beklagt wird, den Überblick verloren. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 196 3) Hinzugekommen sind Lösungswege nach westlichem Muster, also über Makler oder private Miet- und Kaufanzeigen, sowie das damit verbundene Vokabular. 4) Hinzugekommen sind aber auch Probleme nach westlichem Muster, z.B. in Form von Ankündigungen von Mieterhöhungen oder Kündigungen durch private Eigentümer bisher KWV-verwalteter Wohnungen; das Vokabular des Mieterschutzes wird dadurch relevant. Insgesamt zeigen sich - nicht nur in diesem alltagsweltlichen Ausschnitt - sehr komplizierte und sich ständig verändernde Mischungserscheinungen. Das im Referat skizzierte Forschungsvorhaben ist durch die Wende unfinanzierbar geworden und gegenüber wichtigeren Aufgaben in den Hintergrund getreten. M.W.H., im Oktober 1990 <30> Nachbemerkung des Autors: Eine Skizze des Forschungsvorhabens hatte ich 1988 beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen als Vorschlag für ein Drittmittel-Projekt eingereicht. Das Ministerium signalisierte Förderungsbereitschaft. Ende 1989 oder Anfang 1990 teilte mir das Ministerium jedoch mit, eine Finanzierung sei unmöglich geworden, weil das Ministerium sämtliche für das laufende und das kommende Haushaltsjahr verfügbaren Mittel dafür verwenden müsse, massenhaft westdeutsche Schulbücher für Deutsch, Geschichte, Gemeinschaftskunde aufzukaufen und in der DDR zu verteilen, um die überholten Schulbücher dort schnellstmöglich zu ersetzten. Im Übrigen begannen im Oktober 1990 im IDS die Vorbereitungen für die Projekte „Gesamtdeutsche Korpusinitiative“ und „Sprachwandel der Wendezeit“. „Ich suche eine Wohnung“ 197 Vorläufige Übersicht über differentes Vokabular (Parallelsetzung von Wörtern bedeutet keine inhaltliche oder sprachliche Entsprechung) DDR -Wohnungssuche BRD -Wohnungssuche Institutionelles Rat der Stadt - Abt. Wohnungswesen Wohnungsmarkt Wohnraumlenkung Makler, Maklerbüro Wohnungsamt Sozialamt Wohnungskommission Sozialer Wohnungsbau Wohnungsbeauftragter (Wohnungs-)Eigentümer VEB Kommunale Wohnungsverwaltung ( KWV ) Vermieter VEB Gebäudewirtschaft (Immobilien)Gesellschaft Arbeiterwohnungsbau-Genossenschaft ( AWG ) Hausverwaltung Kontingent Hausgemeinschaft, -sleitung ( HGL ) (Mietergemeinschaft) Eigentümer(versammlung) Rechtliches Wohnraumlenkungsverordnung Wohnberechtigungsschein ( WLVO ) ( WBS ) (Wohnraum-)vergabeplan Wohngeldantrag/ Wohngeld Altenschutz/ altersgerecht Mieterschutz Zuweisung/ zuweisen Prüfung der Einkommens- verhältnisse versorgen Mietzuschuß Bevorrechtigung Fehlbelegung(sabgabe) Dringlichkeit Sozialwohnung unterbelegt Sozialbindung (un)zumutbar freifinanzierte Wohnung gesellschaftlicher Bedarfsträger Mietpreisbindung gesellschaftliche Verdienste/ Aktivitäten „Schwarzer Kreis“ Schlüssel Nachmieter zugelassen sein (für … Personen) Änderungskündigung … steht (mir) zu Kündigung wg. Eigenbedarf Wohnungstausch/ Wohnungstauschzentrale Kündigungsfrist <31> Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 198 Finanzielles Fixe Kosten sich leisten können Geld haben Mietpreis/ Miete Vergleichsmiete orts-/ marktübliche Miete Kostenmiete kalt/ warm Nebenkosten Verwaltungskosten Mietvorauszahlung ( MVZ ) Kaution Heizkosten (-abrechnung) Mieterhöhung Maklergebühr, -courtage (zahlbar bei Vertragsabschluß) Handelnde Wohnungsamt (Sozialamt) Wohnungsbeauftragter Hausverwalter Wohnungssuchende Wohnungssuchende Antragsteller Mieter Mieter Interessent, Kunde Tauschinteressent (solvent, ruhig, seriös, kinderlos) tauschwillige Bürger Nachmieter Inserent Makler Immobilienfirma ( RDM ) Vermieter Eigentümer Verfahren Antrag stellen/ bekräftigen/ wiederholen Makler beauftragen Beziehungen haben (Angebote) vergleichen/ prüfen (Material) abzweigen verhandeln warten Vertrag aushandeln <32> immer wieder vorsprechen (u.ä.) Tauschanzeige aufgeben Suchanzeige aufgeben Wohnung tauschen, Ringtausch (Wohnung) nicht nehmen/ nicht kriegen „Ich suche eine Wohnung“ 199 (Wohnung) ablehnen (vom Vermieter) nicht (einen Mieter) umsetzen genommen werden Wohngeld, WBS beantragen kündigen die Kündigung kriegen die Miete erhöhen Nachmieter suchen rausklagen raussanieren von privat an privat maklerfrei Objekte, Ausstattung KWV -Wohnung Eigentumswohnung AWG -Wohnung Maisonettewohnung Wohnung in Privathaus Penthousewohnung Werkwohnung Werkswohnung Typ WBS 80/ WBS 70 Studio Typ Q 3A Appartement Neubauwohnung (Neub.) (modern.) Altbau Reko-Wohnung Bungalow Ausbauwohnung (Ausb.) nichterfaßtes Zimmer (nichterf. Z.) Vollkomfort (Vkf.) kompl./ erstkl. Ausstattung Komfort-(komf./ kf.) vollisoliert IWC / AWC Thermoverglasung Luxus-… großzügig Ofenheizung/ Ohzg. Öl(zentral)heizung Gamat 2000 (= Gasheizgerät) 3-R.-Vollk.Wg. 3 ZKDB m. Bad, WC, Küche gefl., m. Fenster Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 200 „Ich suche eine Wohnung“ 201 Aus: Hellmann (1992a): Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Bd. 1 (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 69.1). Tübingen, S. 9-46. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Narr/ Francke/ Attempto Verlags.] Wörter und Wortgebrauch in Ost und West [*] Vorwort Dieses Wörterbuch beruht auf dem Projekt „Ost-West-Wortschatzvergleiche“, das in den Jahren 1976 bis 1980 in der damaligen Bonner „Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch“ des Instituts für deutsche Sprache (IDS) unter der Leitung des Verfassers durchgeführt wurde. Es wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Das genannte Projekt hatte seinerzeit drei Ziele: 1. ein Textkorpus aus Tageszeitungen der BRD und der DDR in zeitlich gestuften, repräsentativen Jahrgangsauswahlen bereitzustellen (das „Bonner Zeitungskorpus“); 2. geeignete DV-Verfahren zu entwickeln und einzusetzen, um den Rechner auf möglichst allen Stufen der lexikographischen Arbeit - von der Textspeicherung und -zerlegung über die Belegbearbeitung bis zum Druck - einzusetzen; 3. auf der Basis des Textkorpus Besonderheiten im Wortschatz und Wortgebrauch in Zeitungen beider deutscher Staaten vergleichend zu beschreiben und in Wörterbuchform darzustellen. Das erste Ziel wurde mit der Veröffentlichung des größten Teils des Bonner Zeitungskorpus (DIE WELT und ND) auf Microfiches erfüllt; über die Arbeiten für das zweite Ziel wurde mehrfach berichtet; sie stellen zugleich die Voraussetzung für dieses Wörterbuch dar; das dritte Ziel wird nunmehr durch das vorliegende Wörterbuch, das als ein maschinelles Korpus-Wörterbuch konzipiert ist, erreicht. [* Nicht wieder abgedruckt werden folgende Teile des Vorspanns, die auf die Einleitung folgen: Schlüssel zur Auflösung der Kollokations-Codierungen (S. 47- 48) Kurzgefaßte Benutzerhinweise (S. 49- 52) Literaturhinweise (S. 53- 56) Stichwortlisten (S. 57- 96)] Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 204 Über das Gesamtprojekt, seine Teilaufgaben und seinen Verlauf liegt ein ausführlicher Forschungsbericht vor, auf den hier verwiesen wird (weitere Literatur in den Literaturhinweisen): Manfred W. Hellmann (Hg.): Ost-West-Wortschatzvergleiche - Maschinell gestützte Untersuchungen zum Vokabular von Zeitungstexten aus der BRD und der DDR . (= Forschungsberichte des IDS Bd.48), G. Narr Tübingen 1984. Die Textbasis des Projekts ist auf Microfiches veröffentlicht unter dem Titel: Das Bonner Zeitungskorpus Teil 1. Am Institut für deutsche Sprache erstellt nach der Konzeption und unter der Leitung von Manfred W. Hellmann. Teil 1: Die WELT und NEUES DEUTSCHLAND . Texte, Register, Konkordanzen, Gesamt- < 10> register. (= Brekle u.a. (Hg).: Regensburger Microfiche Materialien ( RMM ) Nr. 07/ 1. Regensburg 1985 ( MCS Verlag Nürnberg)). Über dieses Textkorpus in seiner revidierten Mannheimer Version liegt ein spezieller Bericht vor: Manfred W. Hellmann: Das Bonner Zeitungskorpus Teil 1 - Informationen für den Benutzer. In: Mitteilungen des IDS Band 11, Mannheim (Eigenverlag) 1985; S. 93-157. Das Wörterbuch ist in zwei größeren Bearbeitungsphasen entstanden: Die erste lag noch innerhalb der Bonner Projektphase und umfaßte den Zeitraum Herbst 1978 bis Juni 1980; an ihr waren außer dem Hauptbearbeiter mehrere Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen Anteilen beteiligt (vgl. Forschungsbericht 48, S. 9). Hier seien nur die mit den größten Anteilen hervorgehoben: Michael Kinne, Clemens Knobloch, Hildegard Pfafferott, Burkhard Schaeder, Günter Dietrich Schmidt (lexikographische Mitarbeiter); Gisela Haehnel (Statistik, Stichwort-Listen), Wolfgang Krause (Programmierung). In der Bonner Phase wurden 472 Wortartikel in einer ersten Fassung erarbeitet. Die zweite Phase der Wörterbucharbeit umfaßte - nach der Auflösung der Bonner Forschungsgruppe und der Überarbeitung des Textkorpus in Mannheim - den Zeitraum Ende 1984 bis Mitte 1989 in Mannheim. In dieser Phase wurden alle Wörterbucheinträge der ersten Phase gründlich überarbeitet und ergänzt, zum Teil auch neu erarbeitet; 136 wurden neu verfaßt, davon 25 von Michael Kinne. Eine Nachbereitungsphase bis Herbst 1990 umfaßte Schlußkorrekturen und die Herstellung des Registers. Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 205 Daneben wurde auch das gesamte System der dv-gestützten Materialbearbeitung, der Dateiverwaltung, Aufbereitung und schließlich des Drucks über Laser-Drucker im IDS Mannheim neu entwickelt und eingesetzt. Daran waren neben anderen zeitweise beteiligt: Jutta Burgey, Annette Gräber (Datenerfassung und -korrekturen), Willi Oksas†, Kuno Dünhölter (Dateibearbeitung und Hilfsprogramme), Aloys M. Hagspihl (Korrekturen), Uwe Sommer, Wolfgang Scheurer, Tobias Brückner (Programmierung). Allen genannten Kolleginnen und Kollegen in Bonn und in Mannheim - und auch den vielen nicht genannten, die dennoch zum Gelingen beigetragen haben - danke ich herzlich, besonders aber Michael Kinne und Tobias Brückner, deren Engagement mir über manche schwierige Strecke hinweggeholfen hat. Mein Dank gilt ferner H. Beyer, B. Meinhold, M. Neumann und Dr. H. Titze als externen Beratern bei schwierigen fachsprachlichen Wortartikeln, Wolfgang Mentrup für förderliche Kritik redaktioneller Art, dem Vorstand und dem Institutsrat des IDS für viel Geduld. < 11> Außer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der ersten Phase habe ich auch in der Abschlußphase finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Mitteln erhalten. Den Geldgebern gilt mein letzter, nicht mein geringster Dank. Ein Wörterbuch zu den lexikalischen Unterschieden in Ost und West ist niemals völlig „politikfrei“ zu machen; viel zu eng sind Wörter und Sachen, Bedeutungen und Bewertungen, Erläuterungen und Stellungnahmen miteinander verwoben. Auch unter den Mitarbeitern dieses Unternehmens gab es durchaus unterschiedliche politische Einstellungen und Standpunkte. Infolge des starken, von Artikel zu Artikel allerdings unterschiedlichen Grades an Überarbeitung lassen sich die Wortartikel, trotz weiterhin durchscheinender Individualität, heute nur noch schwer einzelnen Verfassern zuweisen. Zwar gibt die Stichwortliste (S. *57ff.) Hinweise auf die Autoren und Koautoren der Wortartikel, jedoch muß der Hauptbearbeiter für alle die Verantwortung übernehmen. Daß die Bearbeiter sich der politischen Implikationen ihrer Arbeit bewußt waren, heißt nicht, daß sie ihren persönlichen Meinungen beliebig Raum gegeben hätten. Oberstes Ziel war Beschreibung der sprachlichen Befunde Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 206 und ihre verständliche, möglichst objektive Erklärung. Dies mit den vorhandenen persönlichen Standpunkten in Einklang zu bringen, war nicht immer leicht, und nicht jeder Leser wird unsere Darstellung „ausgewogen“ finden. Das Wörterbuch wendet sich in erster Linie an Benutzer mit aktivem, beruflichem Interesse an der Entwicklung des (öffentlichen) Wortschatzes in den beiden deutschen Staaten, besonders dem der DDR. Es ist weniger für den schnellen Gebrauch eines „normalen“ Zeitungslesers gedacht - dafür wurde noch in der Bonner Forschungsstelle das „Kleine Wörterbuch des DDR- Wortschatzes“ von M. Kinne / B. Strube-Edelmann (KINNE / STRUBE-EDEL- MANN 81) parallel erarbeitet, das inzwischen mehrere Nachfolger gefunden hat. Aber über die Benutzbarkeit vergleichbarer Wörterbücher hinaus - Lesen, Nachschlagen, Vergleichen - ist dieses, wie schon in der Projektkonzeption vorgesehen, ein Wörterbuch auch für „Weiterbearbeiter“. Die Fülle des in den Verwendungsbeispielen und den Worttabellen präsentierten Materials ist in den Wortartikeln keineswegs erschöpfend ausgewertet, es fordert zur weiteren Bearbeitung und Interpretation heraus. Rückgriffsmöglichkeiten auf das gespeicherte Basismaterial sind gewährleistet. Notwendig für die Nutzung des Wörterbuchs sind solche Rückgriffe keineswegs. Die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Frau Dorothea Wilms, hat in einer Rede (WILMS 87) betont, es sei verfehlt, von einer „Aufspaltung einer ge- < 12> meinsamen deutschen Sprache ... zu sprechen .... Ich sehe zum Beispiel keine grammatikalischen Besonderheiten, die nur in einem von beiden Staaten gültig sind. Durch den Äther fliegen täglich ungezählte Millionen von Wörtern hin und her und halten das Sprachband gespannt. Sprachschöpfungen der einen Seite brauchen nicht lange, bis sie auf der anderen Seite verstanden und gängig sind ... “. Die Ministerin greift hier ein Bild auf, das vor mehr als dreißig Jahren der verdienstvolle Verfasser des Buches „LTI - Lingua Tertii Imperii“, Victor Klemperer, Nationalpreisträger und Volkskammerabgeordneter der DDR, geprägt hat: das Bild von der Sprache als „einigendem Band der Nation“ (KLEMPERER 53 und 54), vielfach zitiert und oft bestritten. Kein Zweifel: die Bundesministerin hat recht. Gleichwohl ist das Bild entschieden zu einfach. Das „Sprachband“, um im Bilde zu bleiben, hält, es ist gespannt, gewiß, manchmal bis an die Belastungsgrenze. Millionen von Fäden wurden und werden neu geknüpft, aber es gibt auch gerissene, es zeigen sich hin und wieder Verschleißstellen, neue Webstellen Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 207 aus fremdem Material, Löcher des Mißverstehens, der Fremdheit. Das Gewebe zeigt hüben und drüben gelegentlich merkwürdig unvertraute Muster. Daß es dennoch hält, daß Verständigung meist trotzdem, und oft scheinbar ganz problemlos, gelingt, liegt zum wesentlichen Teil an der sprachlichen und außersprachlichen Transferleistung, die viele DDR-Bürger für uns BRD- Bürger erbracht haben und ständig erbringen: Sie bemühen sich, ihren Sprachgebrauch, ihre Erfahrungen, ihre Welt für uns verständlich zu machen, bevor wir über Fremdheiten stolpern. (BRD-Bürger - das haben Untersuchungen gezeigt - verfügen über solche Doppelkompetenz weit seltener.) Die Unterschiede liegen oft hinter den Wörtern, sie liegen in den unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten, gesellschaftlichen Zusammenhängen, Lebenserfahrungen, Handlungsmustern. Wir verlassen uns oft zu vertrauensvoll auf die Unversehrtheit des Sprachbandes; so manche Enttäuschung, manches böse Mißverständnis ist darauf zurückzuführen. M.W. H., im September 1989 Es gehört zu den unerfreulichsten Erfahrungen im Umgang mit DDR-Medientexten, daß sich über Jahre, ja über Jahrzehnte hin gerade an den typischsten Erscheinungsformen in Wortschatz und Wortgebrauch kaum etwas änderte. Seit Oktober 1989 hat sich dies grundlegend gewandelt. Innerhalb eines Jahres hat das „Volk der DDR“ einen großen Teil des bisherigen Wörterbuchs der DDR umgeschrieben. Nach vierzig Jahren ist die Verlautbarungssprache der herrschenden Partei, zumindest ihr Institutionen-, Ideologie- und Propagandavokabular, das zum nicht geringen Teil auch in diesem Wörterbuch beschrieben wird, in Auflösung begriffen bzw. historisch geworden. Wohin das führt, ist noch nicht erkennbar. Wenn sich ein neuer Sprachgebrauch in der ehemaligen DDR - und vielleicht auch in den „alten“ Bundesländern - konsolidiert hat, mag sich dem < 13> Lexikographen der Blick besser als jetzt öffnen für die eigentlich wichtigen, die alltäglichen Besonderheiten der bis vor kurzem noch real existierenden Kommunikationsgemeinschaft DDR, - diese wird es auch über deren staatliches Ende hinaus wohl noch eine Weile geben. In der Einführung und in den Wortartikeln dieses Wörterbuchs sind die sprachlichen Folgen der demokratischen Wende in der DDR nicht mehr berücksichtigt; von Fehlerkorrekturen abgesehen wurde nichts mehr verändert. Das durchweg gebrauchte Präsens ist als historisches zu lesen; „DDR“ als „ehem. DDR“ usw. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 208 Wie schon früher gesagt: Wenn es mit diesem Wörterbuch gelingt, das Fundament für solide, empirisch gesicherte Arbeit zu verstärken und „etwas weniger Spekulation und etwas mehr Wissen in das auch politisch kontrovers diskutierte Thema“ der Ost-West-Wortschatzunterschiede zu bringen, wäre ein wichtiger Zweck erfüllt. Auch im Hinblick darauf, daß neue Kontroversen schon jetzt erkennbar werden. Auch dieses Wörterbuch ist von Menschen gemacht, der Rechner war nur leistungsfähiges Werkzeug. Wo Menschen arbeiten, gibt es Fehler. Jacob Grimm schrieb über sein großes Deutsches Wörterbuch 1861 an einen Freund: „ihrer natur nach können bücher dieser art erst gut werden bei zweiter auflage.“ Die Leser werden gebeten, Fehler mitzuteilen. M.W. H., im August 1991 Hinweis: Dem Leser wird empfohlen, vor der Benutzung des Wörterbuchs mindestens die Feldgliederung (S. *34 und auf dem beigelegten Lesezeichen) und die Kurzgefaßten Benutzerhinweise (S. *49ff.) zu beachten. < 14> Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 209 Einführung 1. Zur Konzeption S. *14 1.1 Korpus-fundiert S. *14 1.2 Zeitungssprache, Wortschatz, Wortgebrauch S. *16 1.3 Ost-west-vergleichend S. *18 1.4 Rechnergestützt S. *19 1.5 Alphabetisches Wörterbuch S. *21 1.6 Dokumentierend, beschreibend, erklärend S. *22 2. Zum Aufbau des Wörterbuchs S. *24 2.1 Allgemeiner Aufbau S. *24 2.2 Zu den einzelnen Einheiten des Wörterbuchs S. *25 3. Zur Stichwortauswahl S. *29 3.1 Der Ansatz S. *29 3.2 Von den Signifikanz-Listen zur Stichwortliste S. *29 3.3 Zu einigen Charakteristika der Stichwortliste S. *31 4. Zum Aufbau eines Wortartikels S. *33 4.1 Übersicht über die Feldgliederung S. *34 4.2 Allgemeine Regelungen S. *35 4.3 Die einzelnen Felder des Wortartikels S. *36 4.4 Überblicksartikel S. *43 4.5 Die Tabellen S. *44 5. Zugrundeliegende Datenmengen S. *48 6. Kurzgefaßte Benutzerhinweise S. *49 [hier nicht abgedruckt] Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 210 1. Zur Konzeption Dieses Wörterbuch ist als „Maschinelles Korpus-Wörterbuch zur ost- und westdeutschen Zeitungssprache“ („MKWB“) konzipiert und unter diesem Arbeitstitel im erwähnten Forschungsbericht 48 und in der Arbeitsplanung des IDS zitiert worden. Der Arbeitstitel enthält einige programmatische Aussagen, die hier zu erläutern sind: 1.1 Korpus-fundiert Es handelt sich um ein K o r p u s -Wörterbuch. Dies meint, daß ihm ein genau de- < 15> finiertes Textkorpus zugrunde liegt (hier das „Bonner Zeitungskorpus“, BZK), und nur dieses, und daß sich die Angaben zur Bedeutung und zum Gebrauch zunächst einmal auf dieses Textkorpus beziehen, nicht auf d i e deutsche Gegenwartssprache allgemein oder auch nur d e n öffentlichen Sprachgebrauch. Verallgemeinerungen über die Grenzen dieses Textkorpus hinaus sind genau in dem Umfang möglich, als die Texte des Korpus selbst exemplarisch sind für mehr als sich selbst, DIE WELT also z.B. für den Typus ‘rechtsorientierte bürgerliche Verlegerzeitung mit gehobenem Anspruch im bürgerlichen Staat BRD’, das NEUE DEUTSCHLAND für den Typus ‘offizielles, führendes Staatsblatt mit gehobenem Anspruch im sozialistischen Staat DDR’, dieser Typus exemplarisch für den allgemeinen Typus ‘Tageszeitung mit gehobenem Anspruch’ und dieser wiederum für den öffentlichen Sprachgebrauch eines bestimmten Ausschnitts aus dem politischen Spektrum jeweils einer bestimmten Zeit - hier: bestimmter Perioden der Nachkriegszeit. Es handelt sich dabei um repräsentative Auswahlmengen aus jeweils 6 Jahrgängen, nämlich vom Jahrgang 1949 an - dem Gründungsjahr der beiden deutschen Staaten - in Fünf-Jahres-Schritten bis 1974. Die einzelnen Jahrgangsauswahlmengen sind statistisch aufeinander beziehbar, da sie mit gleicher Auswahlquote (ca. 2,4 % der Gesamtjahrgangsmenge) und nach gleichem übersubjektivem Auswahlverfahren ermittelt und auf Datenträger aufgenommen wurden. Die Begründung für die Wahl von Tageszeitungen und gerade dieser Tageszeitungen soll hier nicht wiederholt werden. Festzuhalten ist allerdings, daß die Ausgangshypothese, dieser Typus Tageszeitungen sei hervorragend ergiebig für die Untersuchung besonders der Unterschiede im Sprachgebrauch der beiden deutschen Staaten, sich voll bestätigt hat, und nicht nur in der Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 211 Arbeit an diesem Wörterbuch. Auch im nachhinein sehe ich keine grundsätzlich bessere Korpus-Konzeption für die Untersuchung von Wortschatz- und Wortgebrauchs-Besonderheiten im öffentlichen Sprachgebrauch der beiden deutschen Staaten, außer daß man sich selbstverständlich immer eine Verbreiterung und Diversifizierung der Textbasis wünscht. Diese wurde übrigens vorgenommen: Das Bonner Zeitungskorpus wurde wenigstens für die Jahrgänge 1969 und 1974 um je eine Regionalzeitung in Ost und West und für 1974 zusätzlich um eine überregionale Zeitung (für die BRD z.B. die „Frankfurter Rundschau“) erweitert, jedoch geschah dies nicht mehr rechtzeitig genug, um noch in die Auswertungsarbeiten einbezogen zu werden. Insbesondere hätten wir uns eine Aktualisierung der Textbasis gewünscht. Der als nächstes zur Aufnahme vorgesehene Jahrgang 1979 fiel jedoch der Auflösung der Bonner Forschungsstelle (1980) zum Opfer, und im weiteren Verlauf sah das IDS aus Kostengründen keine Möglichkeit, das Bonner Zeitungskorpus überhaupt zu erweitern. Die empirischen Befunde können sich also nur auf den Sprachgebrauch bis Mitte der siebziger Jahre beziehen. Allerdings wurde in den Erläuterungen durchaus auf spätere Veränderungen - bei Wörtern wie bei Sachen - Rücksicht genommen (dazu vgl. Abschnitt 4.3, zu Feld 5). < 16> Auf die Vor- und Nachteile empirischen, strikt korpusgestützten Arbeitens soll hier nicht weiter eingegangen werden (vgl. dazu u.a. SCHAEDER 81), obwohl dies angesichts einer, wie mir scheint, gewissen Empiriemüdigkeit wohl nicht ganz unbegründet wäre, jedoch soll dies Problem hier auf einen Punkt reduziert werden: Mag ein Lexikograph auch den Sprachgebrauch einer, nämlich seiner, Kommunikationsgemeinschaft im „Schrein seiner Brust“ tragen und mag ihn umfassende Sprach- und Sachkompetenz auch in die Lage versetzen, darüber Wörterbücher zu verfassen, - für eine andere als die eigene Kommunikationsgemeinschaft kann er dies schlechterdings nicht behaupten. Und da wir es im Raum der ehemals nicht durch Staatsgrenzen gespaltenen „binnendeutschen“ Sprachgemeinschaft nun einmal mit zwei, und zwar sehr unterschiedlichen, deutschsprachigen Kommunikationsgemeinschaften zu tun haben (bzw. hatten), benötigen wir eine verläßliche - d.h. definierte, begründete, nachprüfbare - Basis an Texten, an Informationen über diese Texte und ihre Entstehungsbedingungen, an Sachwissen überhaupt. Wenn ich dies für die fremde Kommunikationsgemeinschaft tue, tue ich es zweckmäßigerweise auch für die eigene; so konstituiere ich Vergleichbarkeit. Wie anders soll Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 212 man dem Verdacht begegnen, man belege mit (natürlich passend) ausgewählten sprachlichen Beispielen doch nur wieder, „was man politisch schon weiß“ (DIECKMANN 67)? 1.2 Zeitungssprache, Wortschatz, Wortgebrauch Es handelt sich um ein Korpus-Wörterbuch zum Sprachgebrauch von Zeitungen, kurz: zur Z e i t u n g s s p r a c h e . Dies soll zunächst unzutreffende Verallgemeinerungen ausschließen: Wir können und wollen nichts über die nichtöffentliche, d.h. die privat gesprochene und geschriebene Sprache in den beiden deutschen Staaten aussagen, nichts auch über die Sprache der Literatur, über die Sprache öffentlichkeitsabgewandter Sachgebiete, nichts über Gruppensprachen (z.B. Jugendsprache) und dergleichen. Dies gilt für den Sprachgebrauch der BRD und erst recht für den der DDR. Denn wenn wir als Lexikographen auch ungefähr beurteilen können, wie weit der Sprachgebrauch unserer westdeutschen Quelle (der WELT) vom allgemeinen, vom gesprochenen, vom Jugend-Sprachgebrauch usw. unserer eigenen Kommunikationsgemeinschaft entfernt ist, können wir das für die DDR kaum oder nur mit viel geringerer Sicherheit. Hinzu kommt, daß gerade für die Kommunikationsgemeinschaft DDR eine wesentlich größere, tiefer reichende, ganze Wortschatzbereiche und Gruppen von Stilmitteln umfassende Differenz zwischen öffentlichem und nichtöffentlichem Sprachgebrauch behauptet und glaubhaft beschrieben worden ist (dazu z.B. WINDMÖLLER 81, 168-179, MENGE 86, 305 und 316, ACKERMANN 86, 302f. und ACKER- MANN 87); diese Kluft, so heißt es, sei geradezu typisch für das sprachlichkommunikative Verhalten der meisten DDR-Bürger in bestimmten Kommunikationssituationen. Dieses Phänomen kann und will dieses Wörterbuch nicht abbilden, - es ist allerdings auch sonst noch nirgends linguistisch untersucht worden. Auch in der DDR < 17> nicht: Methodische Ansätze, spezifische Kommunikationsstrukturen in der sozialistischen Gesellschaft zu untersuchen (besonders HARTUNG (HG.) 74), blieben auffallend theoretisch. Positiv gesehen bedeutet die Beschränkung auf Zeitungssprache aber auch: Wir nehmen den Sprachgebrauch dieser Zeitungen so wie er ist, mit allen Implikationen von Zweckgerichtetheit, Zeitgebundenheit, auch Kurzlebigkeit und Parteilichkeit. Die Abgeklärtheit philosophischer Standardwerke kann bei der Beschreibung journalistischen Gebrauchs politisch-ideologischer Wörter ebensowenig erwartet werden wie etwa die Systematik von Fachlexika bei der Beschreibung von Wörtern des Fachbereichs Wirtschaft, Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 213 und zwar schon deshalb nicht, weil die Quellen sie ganz und gar nicht hergeben. Fachlicher, allgemeinsprachlicher, bewußt vieldeutiger, metaphorischer und schlicht manipulativer Gebrauch finden sich manchmal in unmittelbarer Nachbarschaft. Zeitungen zeichnen sich zudem dadurch aus, daß sie sehr ausgeprägte Textsorten enthalten, die regelmäßig, manche sogar täglich, realisiert werden: in West-Zeitungen z.B. Börsennachrichten, Unternehmensberichte, Bilanzveröffentlichungen; unter den anzeigenspezifischen Textsorten u.a. Wohnungs- und Immobilienmarkt, Kfz.-Markt, Stellenangebote; in Ost-Zeitungen z.B. Erfolgsmeldungen aus Produktion und Aufbau, Wettbewerbsberichte, Aufforderungen und Anleitungen zu mehr Effektivität, bulletinartige Berichte über offizielle Partei- und Staatsangelegenheiten, vor allem aber: Verbreitung und Wiederholung der in offiziellen Dokumenten vorgeprägten Vorgaben, Feststellungen, Forderungen. Die aus den Zeitungen gewonnenen Vokabularien zeigen deutlich Einflüsse solcher zeitungsspezifischer Besonderheiten, die gleichwohl - mehr oder weniger vermittelt - auch gesellschaftliche Besonderheiten sind oder sie spiegeln. Und schließlich zeigen unsere Zeitungen wegen der zeitlichen Stufung der Auswahlmengen auch deutlich den Wandel des Vokabulars und des Wortgebrauchs ebenso wie dessen Kontinuität. Auch wenn dieses Wörterbuch kein primär diachronisches ist, war diesem Befund, wenn er vor Augen lag, Rechnung zu tragen. Eine weitere Präzisierung ist erforderlich: Nicht Zeitungs-„S p r a c h e “ schlechthin wird behandelt, sondern Vokabular und Wortgebrauch in diesen Zeitungen. Unter „Wortgebrauch“ ist hier in erster Linie der unmittelbare Ko-Text, sind die Umgebungen zu verstehen, in denen das jeweilige Stichwort auftritt (vgl. Abschnitt 4.3, zu Feld 9), einschließlich der Wortkompositionen, die in vielen Fällen als (lexikalisierte) Umgebungen aufgefaßt werden können (vgl. Abschnitt 2.2, zu (4) Tabellen). Stilphänomene, die über solche unmittelbare Umgebungen (bzw. deren Muster) hinausgehen, lassen sich in diesem Wörterbuch nicht adäquat darstellen, obwohl sie sich bei einigen Stichwörtern, vor allem vom Typ „Vagheitswörter“ wie ca., rund, vermutlich, geradezu aufdrängen (vgl. HELLMANN 86). Das alphabetische Wörterbuch ist dazu wohl die ungeeignetste aller Darstellungsformen, auch wenn man sich bemüht, die Folgen der isolierenden alphabetischen Sortierung zu mildern. < 18> Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 214 1.3 Ost-west-vergleichend Behandelt werden Vokabular und Wortgebrauch in Zeitungstexten der BRD und der DDR. Wir behandeln dabei die Sprachgebräuche der beiden Zeitungen - verstanden als Summe aller in den Belegen faßbaren Äußerungen - grundsätzlich als g l e i c h b e r e c h t i g t , als standardgemäß (auch im Sinne von gleich standardsprachlich). Dies bedeutet eine Abkehr von der sonst oft - und zwar beiderseits - geübten Praxis, den Sprachgebrauch der eigenen Seite als Norm, als besser (fortschrittlicher, demokratischer, weniger manipuliert usw.) zu betrachten, den der anderen Seite dagegen als Abweichung, als rückschrittlich, als Jargon usw. Die Warnung Peter von Polenz vor „unizentrischer“ Blickverengung (POLENZ 88) hoffen wir schon vom Ansatz her - dem Forschungskonzept der ehemaligen Bonner Forschungsstelle des IDS entsprechend - berücksichtigt zu haben. Es handelt sich also um Vergleich, und zwar Vergleich mit dem Ziel, die jeweiligen Besonderheiten sichtbar zu machen. Hieraus folgt: Es geht nicht um die Erklärung der Bedeutungen, die Beschreibung des Gebrauchs eines Wortes in der deutschen Gegenwartssprache als solcher, sondern um die Klärung, inwieweit und wo Unterschiede vorliegen; nicht primär um die Beschreibung des Allgemeingültigen, sondern um die des jeweils Ost-West-Spezifischen. Auch in dieser Hinsicht gab es kein Vorbild. Die einschlägigen Wörterbücher sind nicht vergleichend; auch die Sekundärliteratur - in der BRD wie in der DDR - vergleicht nur selten. Bedeutung und Gebrauch kontrastierend zu vergleichen war auf der Grundlage der in den vorhandenen Wörterbüchern vorformulierten Bedeutungsangaben oft nicht möglich. Nur ein Beispiel von vielen ist das Stichwort deutsch: Der entscheidende Unterschied im Ost-West-Vergleich, daß nämlich deutsch im Sprachgebrauch der BRD fast nur noch i.S.v. ‘westdeutsch, auf die Bundesrepublik bezogen’ verwendet wird, im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR jedoch, vom Gebrauch in Namen abgesehen, fast nur noch in historischen Bezügen, - dieser Unterschied ist auf der Basis der gängigen Wörterbucherklärungen nicht darzustellen. Die Bedeutungsgliederung mußte hier wie in vielen anderen Fällen neu strukturiert werden. Wie die Angaben zur Bedeutung wollen auch die oft notwendigen Sacherklärungen keineswegs umfassend sein - dazu gibt es (manchmal) ausführli- Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 215 che Nachschlagewerke -, sondern gerade so viel Information liefern, wie zum Verständnis der jeweiligen Besonderheit(en), auch der Gebrauchsbeschreibung und der Verwendungsbeispiele erforderlich ist (vgl. dazu Abschnitt 4.3, zu Feld 5). Zur vergleichenden Beschreibung der Besonderheiten gehören selbstverständlich auch Hinweise auf unterschiedliche Bezeichnungen bei gleicher Sache, auf unterschiedliche Bedeutung, Wertung und/ oder Sachbezüge bei gleicher Bezeichnung, auf unterschiedliche terminologische Einbindungen; ggf. auch einfach der Hinweis, daß Wort und Sache, vielleicht das gesamte Sachgebiet oder die Textsorte, < 19> überhaupt nur auf einer Seite vorkommen, für sie typisch oder spezifisch sind. Das Wörterbuch versteht sich insofern als ein Beitrag zur Beschreibung der „arealen“ Differenziertheit der deutschen Gegenwartssprache am Beispiel des Sprachgebrauchs in Zeitungen. 1.4 Rechnergestützt Das Wörterbuch ist ein „maschinelles“ oder genauer r e c h n e r g e s t ü t z t e s . Dies bezieht sich auf die Herstellungsweise, aber auch auf bestimmte Besonderheiten des Produkts. Ein Ziel des erwähnten Bonner Projekts wie auch der Mannheimer Fortsetzungsphase war es, ein Verfahren zu entwickeln, in dem der Rechner in allen Stufen der lexikographischen Arbeit sowohl (wie bisher) als Speicher, als Zettelkastenersatz und zur automatischen Steuerung des Druckers, als auch in der Phase der eigentlichen lexikographischen Materialbearbeitung und der Abfassung der Wortartikel eingesetzt werden konnte. In dieser Konzeption hatte es kein Vorbild. Im vorliegenden Fall wurde - in vereinfachter schematischer Darstellung - folgendes Stufen-Verfahren entwickelt und angewandt: (1) Die maschinell gespeicherten Texte des Bonner Zeitungskorpus wurden numeriert, datiert und klassifiziert und diese Angaben in einer Dokumentendatei gespeichert. Sowohl die Textdateien wie die Dokumentendatei wurden dem IDS -eigenen Zugriffs- und Referenz-System REFER (s. BRÜCKNER 89) angegliedert. (2) Zu den Texten wurden maschinell angefertigt a) Alphabetische Indices (mit Häufigkeitsangaben), b) Konkordanzen, jeweils mit genauen Belegstellen-Adressen. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 216 (3) Über die alphabetischen Indices liefen Statistikprogramme zur Ermittlung signifikant unterschiedlich verteilter oder nur einseitig belegter Wortformen; daraus wurden durch mehrere Auswahlverfahren eine Liste möglicher Stichwort-Kandidaten (ca. 2000) und schließlich eine Stichwort-Liste (ca. 1200) ermittelt; davon wurden rund 600 Stichwörter tatsächlich ins Wörterbuch aufgenommen (zur Stichwortliste vgl. Abschnitt 3.). (4) Anhand der Stichwort-Listen wurden zu jedem Stichwort „Suchketten“ eingegeben und mit Hilfe von REFER jeweils eine Datei der dazu gefundenen Text-Belege erstellt. (5) Mit entsprechenden Suchketten wurden in den alphabetischen Indices alle formal zum Stichwort gehörigen Wortformen, Komposita und Ableitungen (mit allen Häufigkeitsangaben) gesucht und jeweils eine Datei der Wortbelege erstellt. (6) Aufgrund der Durchsicht der gespeicherten Textbelege und der Wortbelege zum Stichwort und unter Berücksichtigung vorhandener Wörterbücher wurde eine erste Fassung des Wortartikels (Angaben zur Bedeutung, Angaben zum Gebrauch) erarbeitet. Textbelege sind alle Ko-Texte (von mindestens zwei Zeilen Länge), in denen das gesuchte Stichwort in den Texten vorkommt; Wortbelege sind alle Wortformen, Komposita und sonstige Wortbildungen, in denen das Stichwort in den maschinellen Wortindices vorkommt, auch wenn es nicht in Anfangsposition steht. (7) Anhand dieser Wortartikel-Fassung wurden die Textbelege in der entsprechenden Datei am Bildschirm von Hand klassifiziert, und zwar durch Zuordnung < 20> einer Ziffer für die Bedeutung (falls mehrere Bedeutungen vorhanden) einer Chiffre für den Kollokationstyp einer Angabe, ob phraseologischer Gebrauch vorliegt einer Angabe, falls der Textbeleg als Verwendungsbeispiel geeignet erscheint. Die manuell fertig bearbeitete Datei wurde zurückgespeichert. (8) Die Listen der Wortbelege wurden am Bildschirm klassifiziert nach Wortformen Komposita Sonstige (vor allem Ableitungen und Hybridbildungen) Nicht zutreffend (vgl. Abschnitt 2.2, zu (4) Tabellen). Die fertig bearbeitete Datei wurde zurückgespeichert. Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 217 (9) Mit Hilfe eines REFER -Zusatzprogrammes wurden aus den Dateien der Textbelege diejenigen Belege, die als Verwendungsbeispiele gekennzeichnet wurden, herausgefiltert, bearbeitungsfreundlich aufbereitet (erweitert) und am Bildschirm manuell bearbeitet: sinnvoll gekürzt oder ergänzt oder gestrichen; die manuell bearbeitete Datei der Verwendungsbeispiele wurde zurückgespeichert. (10) Diese Datei wurde maschinell überarbeitet, mit genauen Fundstellenangaben aus der Dokumentendatei versehen und abgespeichert. (11) Mit Hilfe von speziellen Programmen wurden die (zu jedem Stichwort vorhandenen) Wortdateien umsortiert und aufbereitet zu Tabellen der Wortformen, der Komposita und sonstiger Wortbildungen (vgl. unten Abschnitt 2.2, zu (4) Tabellen). (12) Mit Hilfe von speziellen Programmen wurden zu den Stichwörtern mit mehreren Bedeutungen und voll durchklassifizierten Textbeleg-Dateien diese Textbeleg-Dateien maschinell ausgewertet und aufbereitet zu Tabellen der Verteilung von Bedeutungen, von Kollokationstypen und von Phraseologismen. (vgl. unten a.a.O.) (13) Mit Hilfe von kleineren Hilfsprogrammen wurden die Wortartikel geprüft, formal vereinheitlicht sowie die Verweise abgestimmt. (14) Die fertigen Wortartikel wurden maschinell in alphabetische Reihenfolge gebracht, die Verwendungsbeispiele zugeordnet; die dazugehörigen Tabellengruppen wurden - unter gleichem Stichwort und gleicher Wortnummer - ebenfalls sortiert und zugeordnet. (15) Mit Hilfe neu entwickelter Druckaufbereitungs- und Steuerungsprogramme wurde das gesamte Werk auf dem hauseigenen Laser-Drucker in erster Fassung gedruckt. (16) Die erste Fassung wurde korrigiert, auf der korrigierten Version wurde mit Hilfe spezieller Programme und Bildschirmunterstützung das alphabetische Gesamtregister sowie das Sachgruppen-Register der Stichwörter erstellt. (17) Die 2. korrigierte Version samt Register wurde erneut gedruckt. Dies sieht kompliziert aus; in Wirklichkeit war es noch komplizierter. (Eine ausführliche Darstellung der Herstellung dieses Wörterbuches wird zusammen mit Tobias Brückner für die Zeitschrift „Sprache und Datenverarbeitung“ vorbereitet.) [Dies wurde nicht realisiert, da Tobias Brückner aus dem IDS ausschied. MWH] Bei genauerer Betrachtung erkennt man, daß sich die hier aufgelisteten Arbeitsschritte auch in der Arbeit der Verfasser mancher konventionell hergestellter Wörterbücher, z.B. von Autorenwörterbüchern, wiederfinden, freilich mit anderen Mitteln und in anderer Reihenfolge. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 218 Was der Einsatz des Rechners hier - außer der Entlastung von zeitraubenden < 21> Such-, Sortier- und Setzarbeiten - zusätzlich bietet, ist vor allem die Möglichkeit des ständigen Rückgriffs auf die Basismaterialien der verschiedenen Stufen sowie die systematische Berücksichtigung der Informationskategorie Häufigkeit. Wie häufig welche sprachliche Erscheinung wo vorkommt, ist in der Tat eine Erkenntnisquelle ersten Ranges für dieses Wörterbuch, die auf andere Weise nicht erschließbar wäre. 1.5 Alphabetisches Wörterbuch Es handelt sich um ein W ö r t e r b u c h , und zwar um ein durchlaufend alphabetisch sortiertes. Dies ist zwar üblich, aber nicht selbstverständlich. Erwogen wurde auch eine Sortierung nach a) gemeinsamen Wörtern, b) „West-Wörtern“, c) „Ost-Wörtern“; ferner eine Sortierung nach Sachgruppen (Politik/ Ideologie, Wirtschaft Ost, Wirtschaft West, Kultur o.ä.). Beides hätte Vorteile für eine zusammenschauende Darstellung gehabt, aber zu große Nachteile für den nachschlagenden Leser. Allerdings wurde versucht, die von Wiegand beklagte „onomasiologische Blindheit“ (WIEGAND 77, S. 102) unserer alphabetisch sortierten, wortisolierenden Wörterbücher zu mildern, und zwar auf vier verschiedenen Wegen: (1) Jedes Stichwort erhält eine Klassifikation nach Wortart, Sachgebiet(en) und ggf. Textsorte. Diese Klassifikation ist Grundlage des „Stichwort-Registers nach Sachgruppen“ in diesem Band, in dem die Stichwörter in entsprechenden Gruppen zusammengefaßt sind, z.B. das Vokabular der DDR-Institutionen, der Politik/ Ideologie, des Stellenmarktes etc. Die Klassifikation ist im alphabetischen Stichwortverzeichnis nachschlagbar. (2) Im beschreibenden Teil der Wortartikel wird mit Verweispfeil auf Wörter verwiesen, die ihrerseits Stichwort sind. [Beide Stichwortlisten sind hier nicht abgedruckt. MWH] (3) Am Schluß eines jeden Wortartikels (Feld 11) finden sich Verweise auf andere Wortartikel, deren Lektüre zum Verständnis des vorliegenden nützlich sein könnte (vgl. dazu Abschnitt 4.3, zu Feld 11). (Diese Verweise müssen mit den unter (2) genannten, mit Verweispfeil bezeichneten nicht identisch sein.) (4) In vielen Wortartikeln wird der Frage nachgegangen, wie der mit dem Stichwort bezeichnete Sachverhalt sonst noch (in Ost bzw. West) be- Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 219 zeichnet wird, insofern dies zur Klärung der Unterschiede beiträgt. Dies geschieht zum einen durch die in Feld 4.2 genannten sinnverwandten Wörter, vor allem aber durch Hinweise auf Bezeichnungsvarianten und sonstige Angaben zum Gebrauch in Feld 5.1 (vgl. dazu Abschnitt 4.3, zu Feld 5.1). (5) Schließlich wird auch in den erweiterten Sacherklärungen auf verwandte, über- oder untergeordnete Begriffe hingewiesen, auch wenn diese nicht Stichwort sind (vgl. dazu Abschnitt 4.3, zu Feld 5.2). < 22> 1.6 Dokumentierend, beschreibend, erklärend Das Wörterbuch zeigt im übrigen einige Besonderheiten, die einerseits mit der rechnergestützten Herstellungsweise, andererseits aber auch mit seiner Konzeption bzw. deren Entwicklung zu tun haben: Das Wörterbuch ist dokumentierend beschreibend und erklärend und hat in dieser Reihenfolge eine Erweiterung seiner ursprünglichen Konzeption erfahren. Es ist d o k u m e n t i e r e n d in folgender Hinsicht: Es werden alle zum Stichwort vorhandenen Wortformen, Komposita und Ableitungen samt ihren Häufigkeiten aufgelistet. Damit wird ein umfassender Überblick über die Belegung, Verteilung und Produktivität des Stichworts angeboten. Mit Hilfe der in den Microfiche-Veröffentlichungen zum Bonner Zeitungskorpus vorhandenen KWIC-Konkordanzen (KWIC = Key Word in Context) ist jede einzelne Belegstelle für die aufgelisteten Wörter im Kontext nachschlagbar. Ebenso sind alle Verwendungsbeispiele als Originalzitate mit Hilfe der genauen Fundstellenangaben in den Zeitungen selbst nachschlagbar oder einfacher mit Hilfe der ebenfalls angegebenen Artikelnummer in den Klartexten der Microfiche-Veröffentlichung. Über das im Wörterbuch präsentierte Material (Verwendungsbeispiele, Tabellen) hinaus kann mit Hilfe der internen Wortnummer auf die bearbeiteten Basisdateien der Textbelege zurückgegriffen werden, die weiterhin gespeichert bleiben (vgl. dazu Abschnitt 5.5). Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 220 Auf die ursprünglich geplante Veröffentlichung sämtlicher Belegstellen konnte verzichtet werden, da jeder Benutzer der Microfiche-Veröffentlichung[ 1 ] sie selbst zusammenstellen kann. Diese Rückgriffmöglichkeiten machen das Wörterbuch für den interessierten Benutzer zu einem Arbeitsinstrument. Das Wörterbuch ist b e s c h r e i b e n d in folgender Hinsicht: Die Angaben zur Bedeutung (Feld 4.1 bis 4.5 des Wortartikels) beziehen sich auf den Befund unserer Texte, sie sind primär aus ihnen gewonnen. Insbesondere die „Angaben zum Gebrauch“ (Feld 9 des Wortartikels) beschreiben - zum Teil sehr aufwendig - in welchen Umgebungen (Kollokationen) das Stichwort in den Texten vorkommt. Die zuerst meist noch allgemein gehaltenen Beschreibungen wurden teilweise schon in der Bonner Phase, entschieden dann in der Mannheimer Phase erheblich ausgeweitet und detailliert (weiteres vgl. Abschnitt 4.3, bes. zu Feld 9). Unterstützt wird diese Beschreibung durch die zahlreich mitgegebenen Verwendungsbeispiele. Das Wörterbuch ist schließlich e r k 1 ä r e n d vor allem in den „Weiteren Anga- < 23> ben zur Bezeichnung und zum Wortgebrauch“ (Feld 5.1) und „zur Sache“ (Feld 5.2). Die hier gelieferten Erklärungen stammen ganz überwiegend aus der letzten Bearbeitungsphase. Der Grund für diese Erweiterung ist vor allem, daß Zeitungstexte und allein darauf aufbauende Beschreibungen notwendig inexplizit sind; sie setzen trotz aller Ausführlichkeit immer noch zuviel voraus, was der Leser nicht wissen kann (z.B. die Art der Einbindung in das politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale System); gelegentlich ist ein in den Texten enthaltener Ost-West-Unterschied ohne solche Sacherklärung gar nicht erkennbar. Zudem machen die zahlreichen Fachwörter besonders aus dem Bereich Wirtschaft/ Börse der BRD, aber auch viele aus der DDR, Sacherklärungen der unterschiedlichsten Art erforderlich, ohne die der Benutzer ständig auf Nachschlagewerke hätte verwiesen werden müssen. Auch jetzt noch wird man für detailliertere Informationen auf einige, vor allem auf das DDR- Handbuch (DDR HANDBUCH 85), zurückgreifen wollen, wenngleich viel seltener. [ 1 Heute wird man dem Benutzer nicht mehr den Rückgriff auf die (noch vorhandenen) Microfiche empfehlen, sondern online-Recherchen in den Mannheimer Corpora des IDS , hier dem BZK , mit Hilfe des Recherche-Systems COSMAS 2 . MWH ] Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 221 Schließlich sind zusätzliche Erklärungen erforderlich, wenn sich in dem durch das Textkorpus nicht mehr abgedeckten Zeitraum Änderungen gegenüber dem Textbefund ergeben haben. (Vgl. auch Abschnitt 4.3, zu Feld 5). Auf eine Einordnung der Stichwörter in eine geschlossene Typologie der Ost-West-Spezifika wurde verzichtet. Gewiß ist die Forderung berechtigt, daß eine Beschäftigung mit Ost-West-Spezifika klarstellen muß, ob von Unterschieden der Bezeichnung(en) oder der Sache(n) die Rede ist, und in welcher Kommunikationsgemeinschaft das eine wie das andere verankert bzw. geläufig ist oder nicht. Solche Forderungen erhebt z.B. S.G. Andersson (ANDERSSON 84). Verschiedentlich wurden Entwürfe für Typologien dieser Art vorgelegt (SCHMIDT 84 in Forschungsbericht 48, Bericht IV; auch ZISW 77, S. 11-18 zum HWDG). Die Praxis erwies sich jedoch als wesentlich komplizierter. Zum einen war gerade das oft unklar oder strittig, was für das Funktionieren einer jeden solchen Typologie vorausgesetzt werden muß, nämlich Kenntnis darüber, ob eine Sache in Ost und West nun wirklich ein und dieselbe oder nur funktionsgleich oder nur oberflächlich ähnlich ist, im lebenspraktischen Zusammenhang aber vielleicht ganz anders funktioniert. Und selbst wenn sich dies für einen bestimmten Zeitabschnitt feststellen läßt, kann sich das Verhältnis zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem im Zeitraum 1949 bis 1974 erheblich wandeln - auf einer oder auf beiden Seiten. Eine Typologie, die dies - und einiges mehr - abzubilden geeignet ist, wäre voraussichtlich aufwendiger und unübersichtlicher als in manchen Fällen eine verbale Ausformulierung des Sachverhalts. Durch den Ausbau insbesondere der Felder 5.1 und 5.2 ergibt sich, zusammen mit den Angaben in Feld 4 und 9, hoffentlich ein angemesseneres, sicherlich aber differenzierteres Bild der jeweils vorliegenden Spezifik, als es eine der bisher bekannten Typologien leisten könnte. < 24> 2. Zum Aufbau des Wörterbuchs 2.1 Allgemeiner Aufbau Das Wörterbuch besteht aus zwei Bänden mit Wortartikeln samt Verwendungsbeispielen und einem Anhang-Band mit Worttabellen nebst Angaben zur Häufigkeit in den 12 Jahrgängen. Es enthält 602 Wörterbuch-Einträge in alphabetischer Reihenfolge, die ihrerseits aus folgenden Einheiten bestehen: (1) Kopfzeile mit Rahmeninformationen (2) Stichwort mit Wortartikel Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 222 (3) Verwendungsbeispiele (4) (im Anhang-Band: ) Tabellen mit Angaben zu Vorkommen und Belegung in den einzelnen Jahrgängen des Zeitungskorpus nämlich (Gruppe 1) - Wortformen - Komposita - Sonstige Wortbildungen ferner unter bestimmten Bedingungen (Gruppe 2) - Verteilung der Bedeutungen - Verteilung der Kollokationstypen - Vorkommen von Phraseologismen Hinzu kommen in Band 1 (5) Vorwort, Einführung und Benutzerhinweise (6) Literaturhinweise (7) Stichwortverzeichnis alphabetisch und nach Sachgruppen und in Band 2 am Schluß (8) Alphabetisches Register. Die Tabellen sind im Anhang-Band zusammengefaßt. Bei der praktischen Realisierung bildete dieser Tabellenteil ein gewisses Problem. Für diejenigen Benutzer, die an der Häufigkeitsverteilung, sei es ost-west-vergleichend oder in diachronischer Sicht, nicht interessiert sind, irritieren die Tabellen eher, als daß sie nützen. Die an solchen Informationen interessierten Benutzer hingegen müßten ständig zwischen Wortartikel und Tabellen hin- und herblättern. Es schien daher praktischer, die Tabellenteile aller Stichwörter - in derselben alphabetischen Sortierung - in einem gesonderten Band zusammenzufassen; so können Wortartikel und Tabellen bei Bedarf parallel gelesen werden. - Weiteres s. 2.2 (zu 4). < 25> 2.2 Zu den einzelnen Einheiten des Wörterbuchs Zu (1) Kopfzeile: Die Kopfzeile dient der ersten Orientierung darüber, welchen Teil des Wörterbuchs der Benutzer gerade aufgeschlagen hat, z.B. „Einführung“, „Literaturhinweise“, „Register“ oder einen Wörterbuch-Eintrag, kenntlich durch Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 223 laufende Wortnummer und Stichwort. Die Kopfzeile bezieht sich auf den jeweils auf der Seite oben noch laufenden Wörterbuch-Eintrag bzw. (in Band 3) auf die jeweils noch laufende Tabelle. Weiteres s. Abschnitt 4.3 (1). Zu (2) Stichwort mit Wortartikel: Die Wortartikel sind alle nach einem einheitlichen Schema, das man sich als ein in Felder und Unterfelder gegliedertes Formular vorstellen kann, aufgebaut („standardisiert“). Dieses Schema wird in Abschnitt 4.1 bis 4.3 erläutert. Jedes Feld und Unterfeld enthält Informationen einer bestimmten Art oder Klasse. Ein solches festes Schema ist bei einem rechnergestützt konzipierten Wörterbuch unerläßlich. Neben dem allgemeinen Vorteil der Übersichtlichkeit bietet es den speziellen der besseren maschinellen Prüfbarkeit und Handhabbarkeit, auch z.B. im Rahmen einer Datenbankstruktur. Normalerweise sind in einem Wortartikel nicht alle Felder mit Angaben gefüllt; obligatorisch sind ohnehin nur 5 Felder (vgl. Abschnitt 4.1 (1)), die übrigen werden nur dann gefüllt, wenn entsprechende Angaben vorliegen. Die Felder und Unterfelder sind durch Siglen am Anfang des Feldes gekennzeichnet. Zur schnellen Orientierung dient die Kurzfassung der Feldgliederung auf dem beigelegten Lesezeichen. „Standardisiert“ bezieht sich für dieses Wörterbuch nur auf das Formular; was die Beschreibungssprache betrifft, haben wir uns bemüht, mit einem geringen Grad an Normung, an Symbolen, Abkürzungen und linguistischer Fachterminologie auszukommen (vgl. dazu die Benutzerhinweise, Abschnitt 5.2). Auch der übliche Wörterbuch-Telegrammstil sollte in den erklärenden Feldern 5.1, 5.2 und auch 9 zumindest eingeschränkt werden. Zu (3) Verwendungsbeispiele: Die Verwendungsbeispiele bilden für ein deskriptives Wörterbuch eine zentrale Komponente. Die Unterstützung durch die Datenverarbeitung machte es leicht, viele Belege auszuwählen und als Beispiele zu präsentieren. Bei der Auswahl wurde nicht versucht, die stereotype Wiederholung immer gleicher Verbindungen, wie wir sie im ND, aber auch in bestimmten stark standardisierten Textsorten < 26> der WELT finden, durch entsprechende Häufung gleichartiger Beispiele abzubilden. Hier stehen manchmal ein bis drei Beispiele für viele dutzend Belege oder mehr. Vielmehr wurde zum einen versucht, die Vielgestaltigkeit der Textbelege sichtbar zu machen, und zwar Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 224 sowohl in bezug auf die Art der Bedeutungsrealisierung wie auch in bezug auf ihre Verbindungen mit Umgebungswörtern. Zum anderen sollen Beispiele auch die Sache in ihren jeweiligen Zusammenhängen erklären helfen. Ferner sollen sie, soweit möglich, sprachliche Veränderungen anzeigen. Und schließlich sollen sie nicht langweilig sein, - eine Absicht, die oft an allzu langweiligen Texten scheiterte. (Vgl. auch HARRAS 89) Die Beispiele sind von Hand leicht überarbeitet, meist in Form von Kürzungen, wobei längere Satzanfänge oder Einschübe (Attributketten, Nebensätze), die für den Gebrauch des Stichworts uninteressant sind, gestrichen und durch das Auslassungszeichen „...“ ersetzt worden sind; seltener durch texterläuternde Einschübe des Bearbeiters, markiert durch das Zeichen „( = “ bis zur schließenden Klammer. Die Familiennamen von Privatpersonen in Familienanzeigen sind meist gekürzt. Das gefundene Belegwort wird petit halbfett gedruckt. Am Schluß eines jeden Beispiels steht die Jahrgangssigle der Zeitung mit der genauen Fundstellenangabe (Datum und Seite), darauf folgt die Artikelnummer („A: “), die der Artikel im Bonner Zeitungskorpus (BZK) hat. Es folgt eine siglierte Angabe der Sparte, aus der der Artikel stammt (Liste der verwendeten Spartensiglen in den Benutzerhinweisen S. *49). Soweit vorhanden, folgt dann Angabe der Agentur („AG: “) oder des Verfassers („V: “). Mit Hilfe der Jahrgangssigle und der Artikelnummer kann der volle Text des Artikels in den Microfiches des BZK - Abt. Klartexte - aufgesucht werden.[ 2 ] Die Verwendungsbeispiele sind fast genau in dem Code des BZK wiedergegeben. Es gelten folgende Regelungen: Am Satzanfang wird kleingeschrieben, es sei denn, es stünde ein Substantiv oder eine Anrede dort; großgeschriebene Adjektive als Teil von Namen werden durch einen vorgesetzen Apostroph markiert; Familiennamen sind mit Sternchen markiert; bestimmte besondere Textstellen werden mit Transkriptionszeichen markiert, nämlich [ 2 Einschränkend zu Anm. 1: Der volle Text des Artikels kann allerdings online mittels COS- MAS 2 nicht abgerufen werden; dies geht nur über die Microfiches. MWH ] Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 225 Überschriften u + ... + u Übersetzte Textstellen a + ... + a Bildbeischriften c + ... + c Westzitat in Osttexten w + ... + w Ostzitat in Westtexten o + ... + o mundartl. Text m + ... + m fremdspr. Text f + ... + f Schreiberkommentar y + ... + y nicht druckb. Zeichen x + ... + x Weitere Details sind ggf. HELLMANN 85, S. 140-143 zu entnehmen. < 27> Die Verwendungsbeispiele werden, wenn mehrere Bedeutungen vorhanden sind, zunächst nach Bedeutungen sortiert, innerhalb gleicher Bedeutungen nach Jahrgängen (erst ND, dann WELT) aufsteigend, innerhalb desselben Jahrgangs nach dem Alphabet des gefundenen Belegwortes oder chronologisch. Beim Wechsel von ND-Belegen zu WE-Belegen ist eine Leerzeile eingefügt. Verwendungsbeispiele mit unklarer Bedeutung - als Bed. „0“ gekennzeichnet - stehen, sofern vorhanden, immer am Anfang der Beispiel-Listen, Verwendungsbeispiele in besonderer Verwendung (vor allem in Namen) - als Bed. „9“ gekennzeichnet - stehen am Schluß. Zu (4) Tabellen: Die Veröffentlichung der Tabellen entspringt, wie in 1.6 erläutert, der dokumentierenden Grundabsicht dieses empirisch orientierten Wörterbuchs. Sie enthalten oft Informationen, die zentral wichtig sind für Art und Ausmaß der Ost-West-Differenz - und sei es aufgrund der nicht seltenen Tatsache, daß ein Wort auf einer der beiden Seiten überhaupt nicht belegt ist - oder für die Feststellung eines zeitlichen Gebrauchs-Schwerpunktes (diachronischer Aspekt). Es ist durchaus von Interesse, daß eine ungewöhnliche Pluralform wie Erfahrungsaustausche im ND (und nur dort) auftaucht, daß bestimmte Punktabkürzungen immer wieder nur in der WELT auftreten, daß bestimmte Komposita erst ab einem bestimmten Jahrgang auftreten oder verschwinden, daß - wie bei Kurs - insgesamt 289 verschiedene Komposita-Wortformen belegt sind, davon aber nur 9 auf beiden Seiten, hingegen 254 allein in der WELT und nur 25 allein in ND. Hier läßt die unterschiedliche Kompositions-Produktivität sehr Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 226 deutliche Rückschlüsse zu auf Bedeutungs- und Gebrauchspräferenzen. Unter dem Gesichtspunkt der Produktivität bestimmter Wortbildungsmuster oder -typen sind auch nur einmal belegte Wörter von Wichtigkeit. Ferner ergänzen oder modifizieren insbesondere die Komposita-Tabellen auch die Beschreibung des Gebrauchs (Feld 9) im Wortartikel. Denn viele, aber keineswegs alle Genitiv- und Präpositionalattribuierungen treten auch als Kompositionen auf (und umgekehrt); hier läßt sich gelegentlich die Entwicklung von Begriffen beobachten. Was die Tabellen „Komposita“ und „Sonstige Wortbildungen“ betrifft, so habe ich mich unter mehreren Alternativen schließlich für eine extensive Präsentation, d.h. mit nur wenig Ausschlüssen, entschieden. Ausgefiltert werden bei „Komposita“ und „Sonstige Wortbildungen“ solche, die zweifelsfrei nicht zum Stichwort gehören, wie z.B. Kursaal zu Kurs. In Grenzfällen wurde für die Beibehaltung entschieden: Zu Park gehört selbstverständlich Parkbank; Parkuhr und Parkplatz gehören zum - allerdings etymologisch verwandten - Lemma parken, das aber nicht Stichwort ist. Wir haben solche Komposita in der Tabelle belassen. Die Entscheidung für eine extensive Präsentation gilt noch für einen weiteren Punkt: Die Tabellen z.B. zum Stichwort Arbeit enthalten natürlich auch u.a. die < 28> Komposita Arbeitgeber, Arbeitsproduktivität und die Ableitung Arbeiter, die alle selbst Stichwörter sind, und zu Arbeiter u.a. Arbeiterklasse, Arbeiter-und-Bauern-Staat, die ebenfalls Stichwörter sind. Hierdurch entstehen in den Tabellen zahlreiche Doppel- und Mehrfachbuchungen. Überall dort, wo (wie z.B. bei Arbeit) viel Platz durch gedoppelte Wortlisten verbraucht würde, wurden diese „Doppelbuchungen“ gelöscht; durch ein Sternchen am Wortende wird auf das entsprechende Stichwort verwiesen, in dessen Tabellen dann alle Komposita und Sonstigen Wortbildungen vollständig enthalten sind. (Weiteres in der Einleitung zum Tabellenband.) In weniger platzaufwendigen Fällen wurde auf solche Kürzungen verzichtet, da es wichtiger erschien, dem Leser ein vollständiges Bild der Wortbildungsproduktivität eines Stichworts zu vermitteln; dies auch deshalb, weil eine solche Nachschlagemöglichkeit in keinem anderen Wörterbuch gegeben ist. Eine Bedeutungszuordnung der gebuchten Wörter in den Tabellen der Gruppe 1 wurde nicht vorgenommen. Unter den Komposita wie unter den Sonstigen Wortbildungen finden sich daher auch solche, die einer Bedeutung zuzuordnen sind, die beim Stichwort selbst nicht belegt ist. So ist zu Umsatz Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 227 auch das Kompositum Umsatzlösung belegt, das allerdings zu einer Bedeutung ‘Umwandlung/ Umsetzung einer chemischen Verbindung in eine andere’ gehört, die beim Simplex nicht belegt ist. Die Tabellen der Gruppe 2 kommen nur bei Stichwörtern vor, die mehr als eine häufig belegte Bedeutung haben. Nur bei solchen nämlich war es (zumindest unter dem Aspekt der Bedeutungsverteilung) sinnvoll, die gesamte Datei der Textbelege voll durchzuklassifizieren. In allen anderen Fällen wurde auf diesen sehr aufwendigen Arbeitsgang verzichtet, vielmehr wurden nur diejenigen Belege klassifiziert, die als Verwendungsbeispiele geeignet erschienen. Zu unklassifizierten Belegen können naturgemäß keine Tabellen der Häufigkeitsverteilung der Bedeutungen, der Kollokationstypen usw. erstellt werden. Voll durchklassifizierte Belegdateien in diesem Sinne gibt es zu 66 Stichwörtern. Stichwörter mit mehreren Bedeutungen gibt es allerdings erheblich mehr; war die zweite (und jede weitere) Bedeutung jedoch nur vereinzelt belegt, wurden auch hier nur einzelne Belege als Verwendungsbeispiele klassifiziert; im übrigen wurden die Bedeutungen von Hand ausgezählt und im Wortartikel (Feld 9) als Teil der Gebrauchsbeschreibung angegeben. Zu (6) Literaturhinweise: Zu (7) Stichwortverzeichnis: Zu (8) Alphabetisches Register: Hierzu siehe die Erläuterungen im jeweiligen Vorspann dieser Einheiten. < 29> 3. Zur Stichwortauswahl 3.1 Der Ansatz Dem empirischen Ansatz der Konzeption entsprechend sollte ein Weg gesucht werden, eine Liste von Stichwort-Kandidaten aufzustellen, ohne das eigene Sprachgefühl oder eigenes Vorwissen als primäre Entscheidungsinstanz über das, was nun unterschiedlich ist zwischen Ost- und West- Zeitungen, in Anspruch zu nehmen. Denn wie schon gesagt: Vor allem für eine andere als die eigene Kommunikationsgemeinschaft schien das eine zu unsichere Instanz zu sein; abgesehen davon, daß man auf diese Weise natürlich nur solche Unterschiede bzw. Besonderheiten erfassen und beschreiben kann, die man schon kennt. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 228 Es kam also darauf an, ein Verfahren zu entwickeln, die Texte selbst, ihr Vokabular zu befragen. Dazu bot sich einerseits der Ost-West-Paarvergleich der Jahrgangsvokabularien an, zweitens aber der Vergleich der Sachgebiets- Vokabularien. Denn alle Zeitungsartikel sind u.a. nach ihrem Sachgebiet klassifiziert; es war daher möglich, z.B. das Vokabular des Sachgebiets Politik Ost mit dem des Sachgebiets Politik West, Wirtschaft Ost mit Wirtschaft West, Kultur oder Leichtathletik Ost mit West usw. zu vergleichen. Für beide Vergleiche wurden eine Reihe von Testverfahren angewandt, über die im Forschungsbericht 48, Bericht VI (HAEHNEL 84) berichtet wird. Gemessen und statistisch auf ihre Signifikanz geprüft wurden also Unterschiede in den Belegungen von Wortformen. 3.2 Von den Signifikanz-Listen zur Stichwortliste Das Ergebnis waren fünf Listen, in denen die Wortformen nach dem Grad ihrer Signifikanz aufgelistet waren, d.h. die Wortformen mit signifikant hoher Differenz standen am Anfang der Listen (mit niedriger lfd. Rangnummer), die mit geringer Differenz (und hoher Rangnummer) unten. Es handelt sich um folgende Listen F-Liste: Frequenzspezifik - Wortformen, die im Jahrgangsvergleich paarig belegt, aber different, d.h. ungleich verteilt sind; T-Liste: Teil-Unikate - Wortformen, die teilweise paarig, teilweise aber unpaarig belegt sind; V-Liste: Verteilungsspezifika - Wortformen, die im Vergleich der Sachgebiete different sind; U-Liste: Unikate - Wortformen, die nur unpaarig belegt sind, d.h. nur in Ost- oder nur in Westjahrgängen vorkommen, und zwar gemes- < 30> sen und sortiert nach dem Grad der Mittelwertüberschreitung; UN-Liste: Unikate - wie oben, jedoch gemessen und sortiert nach der absoluten Belegung Insgesamt enthielten die Signifikanz-Listen über 23.000 Wortformen. Hier waren Eingrenzungen erforderlich (vgl. zum Folgenden ausführlicher den Bericht VIII im Forschungsbericht 48 (HELLMANN 84, hier S. 354-360)): Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 229 (1) Für alle weiteren Überlegungen wurden nur diejenigen Wortformen berücksichtigt, die keine höhere Rangnummer als 2000 hatten (dazu s. Ausnahme 1). (2) Es wurden zahlreiche Wortgruppen als uninteressant ausgeschieden, so z.B. Monats- und Tagesnamen, Maßangaben (km, cm, dt, t u.ä.), alle Wörter mit weniger als 3 Zeichen, alle Artikel und Pronomen, Konjunktionen, Präpositionen und andere Partikeln (Ausnahme 2), ferner alle Namen von Personen, Firmen, Orten und Ländern (Ausnahme 3). (3) Nach Ausschluß aller nicht zu bearbeitenden Wortformen wurden die verbleibenden lemmatisiert, d.h., zusammengehörende Wortformen wurden unter einem Lemma zusammengefaßt. (4) Von diesen Lemmata wurden nur diejenigen zu Stichwort-Kandidaten erhoben, bei denen mindestens eine spezifische Wortform mindestens 20mal belegt war (Ausnahme 4). A u s n a h m e r e g e l u n g e n : Ausnahme 1: Während der ersten Bonner Bearbeitungsphase wurden auf der Grundlage einer vorläufigen Signifikanzliste schon etwa 150 Stichwörter ausgewählt und bearbeitet, von denen in den späteren vollständigen Signifikanzlisten viele die Rangnummer 2000 überschritten. Ein Teil dieser Stichwörter wurden in der Auswahl belassen, zumal es sich zum überwiegenden Teil um durchaus „interessante“ (im Sinne eines Ost-West-Vergleichs) Stichwörter handelt. Sie erhalten aber ggf. im Feld 3.1 einen Hinweis (in Klammern): „keine ausreichende stat. Spezifik“. Ferner wurden durch einen Programmfehler einige Initialabkürzungen nicht in den späteren Bonner Signifikanzlisten ausgewiesen, die in den älteren vorhanden waren und auch nach einer Überprüfung von Hand als zweifelsfrei hochgradig spezifisch anzusehen waren. Diese wurden ebenfalls in die Liste der Stichwortkandidaten aufgenommen; sie erhalten in Feld 3.1 die Markierung „(alter Rang)“. Ausnahme 2: Versuchsweise wurde Ihr als Stichwort bearbeitet; von den Konjunktionen sobald. Ausnahme 3: Von dieser Ausschlußgruppe wurden diejenigen Namen in der Liste der Stichwortkandidaten belassen, von denen zu vermuten war, daß sie eine Ost- West-Differenz aufweisen (z.B. Westberlin, Sowjetunion, Sowjetzone, Pathet (Lao)) oder mehrdeutig sind (z.B. Bayer). Ausnahme 4: In einigen Fällen wurden Lemmata in der Liste belassen, deren einzelne Wortformen die Mindestbelegungsgrenze jeweils knapp unterschreiten, sie zu- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 230 sammen aber deutlich überschreiten (z.B. Staatsorgan), oder bei denen einzelne Belege infolge der Überarbeitung des Textkorpus nachträglich weggefallen waren (z.B. Arbeitsorganisation). < 31> Im Ergebnis umfaßt die Liste der Stichwort-Kandidaten rund 1600 Lemmata, die die Bedingungen für die Bearbeitung als Stichwort erfüllen. Genauer gesagt: Die statistisch ermittelte Frequenzbzw. Verteilungsdifferenz zu einer Wortform erlaubte die Aufstellung einer Hypothese über eine Gebrauchsdifferenz. Dieser D i f f e r e n z h y p o t h e s e war dann in der manuellen Bearbeitung weiter nachzugehen. Allerdings konnte nur ein Teil der Stichwörter in der erforderlichen Weise bearbeitet werden, wobei vor allem die Fülle des Materials (vgl. dazu unter Abschnitt 5.6) und die begrenzte Anzahl der Mitarbeiter (in Bonn 4 bis 5 lexikographische Mitarbeiter für knapp zwei Jahre, in Mannheim ein lexikographischer Mitarbeiter für vier Jahre), aber auch die zunehmende Bearbeitungsintensität die Zahl der bearbeitbaren Stichwörter senkte; letzteres hing auch mit dem Übergang vom dokumentierenden zum beschreibenden und erklärenden Wörterbuch zusammen. Bei der Auswahl der zu bearbeitenden Stichwörter wurden zunächst diejenigen mit hohem statistischen Spezifikgrad (d.h. niedriger Rangnummer) bevorzugt, ferner diejenigen, die durch mehr als eine spezifische Wortform gedeckt sind (beides erkennt man ggf. in Feld 3.1). Darüber hinaus wurde eine möglichst breite Mischung von Stichwort-Typen angestrebt: allgemeinsprachliche neben sehr fachsprachlichen, politisch-ideologische neben Alltagswörtern, Abkürzungen neben Komposita; auch aus den ausgeschlossenen Wortgruppen wurden einige als Beispiele aufgenommen, ferner einige Stichwörter, bei denen die Bearbeitung über den Frequenzunterschied hinaus keinerlei Besonderheit in Bedeutung oder Gebrauch sichtbar machen konnte. Bei den Spezifika der DDR bzw. der BRD wurde darauf geachtet, sie entsprechend ihrem Anteil in der Ausgangsliste zu berücksichtigen, gleiches gilt für die Wortarten (soweit nicht ohnehin ausgeschlossen); wenn also die Substantive gegenüber Adjektiven und noch stärker gegenüber den Verben überwiegen, liegt das nicht an der Auswahl durch den Bearbeiter. Zusammengefaßt läßt sich sagen: Die Stichwortliste enthält ausschließlich solche Lemmata, die im statistischen Vergleich der Wortformen als signifi- Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 231 kant unterschiedlich verteilt ausgewiesen sind oder zumindest (bei der ersten Bonner Berechnung) waren und nicht unter eine der Ausschlußkategorien fallen; hieraus traf der Bearbeiter eine (gesteuerte) Auswahl. 3.3 Zu einigen Charakteristika der Stichwort-Liste Die Stichwortliste spiegelt in hohem Maße die Eigenarten der Textgrundlage, nämlich west- und ostdeutscher Tageszeitungen, wider. Auffällig ist z.B. der hohe Anteil BRD-spezifischer Wörter aus dem Bereich Wirtschaft/ Börse und aus den Textsorten Bilanzveröffentlichungen, Stellenmarkt, Kfz.-Markt. Man darf dabei allerdings nicht übersehen, daß diese Bereiche bzw. Textsorten in der Tat die Tageszeitungen der BRD oft bis zur Hälfte füllen, nur lesen wir sie selektiv und < 32> übergehen in der Regel das für uns Uninteressante. Der Leser des ND verfährt vermutlich ebenso. Gleichwohl handelt es sich bei diesem Vokabular ja durchaus um für die Medien der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft typisches und häufiges Vokabular. Bei der Auswahl bestimmter Stichwortgruppen zur Bearbeitung wurde allerdings unterschiedlich gewichtet. So ist z.B. das Vokabular der Bilanzen oder der Weltrohstoffmärkte mit relativ vielen Stichwörtern vertreten. Dagegen ist das in der WELT ebenfalls reichhaltige und z.T. ebenfalls statistisch hochsignifikante Vokabular der Hamburger Marktberichte (Großvieh-, Obst- und Gemüse-, Butter-, Eier-, Käsemarkt, Fischmarkt usw.) nur mit einem einzigen Stichwort, nämlich Ei, vertreten. Hierbei wurde berücksichtigt, daß diese Marktberichte nicht in allen WE-Jahrgängen unseres Korpus vorkommen und nur von regional begrenzter Bedeutung sind. Entsprechendes gilt für Jaguar als einzigen Vertreter der im Kfz.-Markt der WELT reichlich belegten Bezeichnungen für Automarken und -typen. So überraschend reichhaltig das Vokabular bestimmter Sachbereiche und Textsorten (weil als solche hochspezifisch) der Stichwortliste auch vertreten ist, so lückenhaft scheinen andere Bereiche vertreten zu sein, z.B. der politisch-ideologische. Demokratisch, gerecht, aggressiv sind als Stichwörter gebucht, Demokratie, Gerechtigkeit, Aggression dagegen nicht; frei zeigt nur eine schwache Differenz, Freiheit, Plan fehlen in der Liste ganz, obwohl doch allgemein bekannt ist, daß Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Aggression, Plan, sozial und viele andere Wörter durch ihre Einbettung in entgegengesetzte Ideologiesysteme äußerst different sind. Abgesehen davon, daß viele solche Wörter gebucht sind, andere auf der Liste der nächsten Stich- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 232 wortkandidaten stehen (z.B. Entspannung, Deutschland, Fortschritt, historisch, ideologisch/ Ideologie, Kommunismus, Krieg, Mitbestimmung, politisch, Preis, revanchistisch, revolutionär, Sieg, Solidarität, theoretisch, volksdemokratisch, Wettbewerb, Zukunft), sind gerade Wörter aus dem Bereich Politik/ Ideologie in Tageszeitungen nicht so häufig und vor allem nicht so unterschiedlich häufig, wie man meinen möchte: frei weist z.B. eine Belegung (WE/ ND) von nur 123: 94 auf, Demokratie eine von 100: 200, demokratischen dagegen eine von 39: 486 und Demokratischen sogar von 19: 620! Da nun, wie oben gesagt, für dieses Wörterbuch das eigene Vorwissen nicht schon erste Auswahlinstanz sein sollte, sondern vielmehr der Vergleich von Häufigkeiten, sieht die Stichwortliste zwangsläufig anders aus als beispielsweise im parallel erarbeiteten „Kleinen Wörterbuch des DDR-Wortschatzes“ (KINNE / STRUBE-EDELMANN 81). Als Ergebnis dieser Verfahren weist die Stichwortliste zahlreiche Stichwörter auf, deren hochgradige Spezifik bisher nicht bekannt war oder jedenfalls in Wörterbüchern nicht behandelt worden ist, so z.B. bei den Modalwörtern wahrscheinlich, vermutlich, ca., rund, aber auch bei scheinbaren Allerweltswörtern wie Aussprache, Erfahrungsaustausch, Rechenschaftslegung, Umsetzung oder umstritten. Nur bei einer sehr geringen Zahl von Stichwörtern erwies sich die statistisch begründete Differenzhypothese als falsch, d.h. die manuelle Bearbeitung förderte < 33> keinen weiteren Unterschied als eben den der Häufigkeit zutage. Daraus läßt sich folgern: Für ein großes, umfassendes Wörterbuch der Ost- West-Spezifika (wie arealer Spezifika überhaupt) müßten beide Ansätze, der kompetenzgestützte wie der empirisch-frequenzgestützte, sinnvoll miteinander kombiniert angewandt werden. 4. Zum Aufbau eines Wortartikels Im Prinzip wurde für jeden Wortartikel eine feste Feldstruktur eingehalten; die Felder und Unterfelder, sofern besetzt, erscheinen in gleicher Reihenfolge (siehe Abschnitt 4.2). < 34> 4.1 Übersicht über die Feldgliederung Das Schema für die Wortartikel ist in 11 Felder, teilweise mit Unterfeldern, gegliedert. Die Felder sind in den Wortartikeln mit Siglen bezeichnet; die Feldsiglen sind grau unterlegt, die Unterfelder sind halbfett gesetzt. Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 233 1. Stichwort und grammatische Angaben 2. SVAR Schreibvarianten (orthographische Varianten, Punkt- Abkürzungen und dergl.) 3.1 SPWF Statistische Spezifik (Spez. Wortformen, Spezifikrang bzw. -ränge) 3.2 FREQ Häufigkeit der Wortformen (West/ Ost) 4. BED Angaben zur Bedeutung: 4.1 DEF Erklärung durch Definition 4.2 SYN Erklärung durch sinnverwandte Wörter 4.3 ANT Erklärung durch sinnentgegengesetzte Wörter 4.4 VAR Angabe von Varianten (erweiterte/ verkürzte Form, nur jeweils zu einer bestimmten Bedeutung) 4.5 GRA Grammatische Besonderheiten (nur jeweils zu einer bestimmten Bedeutung) 5. WAN Weitere Angaben zum Wortgebrauch und zur Sache: 5.1 ZBEZ Angaben zur Bezeichnung und zum Wortgebrauch 5.2 ZSACH Angaben zur Sache 6. BIND Angaben zu Bindungen des Wortes: 6.1 SAGE Angaben zur Sachgebiets-Bindung 6.2 TESO Angaben zur Textsorten-Bindung 7. WERT Angaben zur Wertung 8. ETYM Angaben zu Wortgeschichte und fremdsprachlichem Einfluß: 8.1 HIST Angaben zur Wortgeschichte (Entstehung, Veralterung) 8.2 LEHN Angaben zu fremdsprachlichem Einfluß 9. TEXT Angaben zum Gebrauch in den Texten 10. BUCH Angaben zur Buchung des Stichworts in Wörterbüchern 11. VERW Verweise auf andere Stichwörter Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 234 Ziffer(n) neben einer Feld- oder Unterfeldsigle ordnet die folgenden Angaben der entsprechenden Bedeutung zu. Für jede Bedeutung werden die entsprechenden Felder in gleicher Reihenfolge wiederholt. In Feld 9 wird der Bezug auf die jeweils gemeinte Bedeutung durch explizite Vermerke im Text selbst ausgedrückt. < 35> 4.2 Allgemeine Regelungen (1) Obligatorische Felder Bestimmte Felder müssen in jedem Wortartikel ausgefüllt werden, andere nur dann, wenn bestimmte Informationen dazu vorliegen. Obligatorische Felder sind: 1.1 Stichwort 1.2 Grammatische Angaben 3.1 Statistische Spezifik 3.2 Häufigkeit der Wortformen 4.1 Bedeutungserklärung durch Definition 4.2 und/ oder durch Synonyme 9. Angaben zum Gebrauch in den Texten In der Regel sind allerdings weit mehr Felder ausgefüllt, so meist die Felder 5.1 und/ oder 5.2 sowie das Feld 11 (Verweise). (2) Objektsprachliches In jedem Wortartikel gibt es Beschreibungssprache und beschriebene Sprache (auch: Objektsprache) - diese hier in Gestalt von Textteilen, Text- Wortverbindungen, Textwörtern. Beschreibungssprachliches wird normal recte oder in besonderen Fällen (s. nächster Absatz) petit recte gesetzt, Elemente aus der Objektsprache kursiv. Letzteres gilt generell für die in den Feldern 2 und 3 vermerkten Wortformen, denn es handelt sich hier per definitionem um in den Texten belegte Wortformen. Es gilt nicht für die Felder 4.2 und 4.3 (Synonyme, Antonyme), denn hier handelt es sich um Teile der Bedeutungserklärung. In Feld 5.1 und 5.2 hängt die Schreibung davon ab, ob von einer Bezeichnung (dann kursiv) oder einer Sache bzw. einer Bedeutung (dann recte) die Rede ist. Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 235 (3) Kommentartext In die Felder 4-10 kann Kommentartext des Bearbeiters eingebracht werden. Kommentartext (in der Regel sehr sparsam verwendet) enthält meist Vermutungen oder Interpretationen des Bearbeiters, die über den Textbefund hinausführen, ihn gleichwohl erhellen. Kommentartext wird petit gedruckt. (4) Feldabgrenzung Jedes Feld beginnt mit einer grau unterlegten Sigle. Felder und Unterfelder gelten solange, bis sie durch ein anderes abgelöst werden. (5) Bedeutungsabgrenzung Hat ein Stichwort mehrere Bedeutungen, so werden die Bedeutungen aufsteigend durchnumeriert; die Nummer ist neben der Feldsigle angegeben. Ist keine Num- < 36> mer angegeben, gibt es nur eine Bedeutung. Eine Bedeutungsmarkierung gilt auch über Feldgrenzen hinweg, bis sie durch eine andere aufgehoben wird. Lediglich in Feld 9 wird eine entsprechende Markierung im Text selbst explizit (z.B. „Zu Bed.2: “) gegeben. Beziehen sich bestimmte Angaben auf mehr als eine Bedeutung (so z.B. mehrfach in den Feldern 5 bis 8), steht neben der Feldsigle eine entsprechende Ziffernfolge, z.B. ZSACH1-2 = Weitere Angaben zur Sache - zu Bed. 1 und 2. Bei den Feldern 1 bis 3, 10 und 11 gibt es keine Bedeutungsmarkierung. 4.3 Die einzelnen Felder des Wortartikels Zur Kopfzeile: Die Kopfzeile enthält folgende Rahmeninformationen zum Wortartikel: Angabe des Wörterbuch-Teils, in dem der Leser sich befindet laufende Nummer des Wortartikels; diese wird im Gesamtregister zitiert das Stichwort in sortierfähiger Schreibung die Seitenangabe. Die Kopfzeile wird auf jeder Seite wiederholt, die zum Wörterbuch-Eintrag gehört, auch über den Tabellen in Band 3. Endet ein Wortartikel auf einer Seite, auf der auch ein neuer beginnt, bezieht sich die Kopfzeile auf den alten. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 236 Zu Feld 1.0 (Stichwort): Zur Gewinnung der Stichwortliste aus den spezifischen Wortformen vgl. oben Abschn. 3. Die Stichwörter werden normalerweise in der grammatischen Grundform angesetzt: Substantive und Adjektive im Nominativ Singular (endungslos), Verben im Infinitiv. Ist zu einer spezifischen (und semantisch eindeutigen) Abkürzung auch die Vollform Stichwort, so wird die Abkürzung unter der Vollform mitbehandelt (z.B. Zentralbild, ZB). Ist keine Vollform als Stichwort vorhanden (z.B. AK) oder ist die Abkürzung mehrdeutig (z.B. AG), so wird sie selbst Stichwort; und zwar wird sie in der Form angesetzt, in der sie in den Texten am häufigsten belegt ist (z.B. GmbH). Punkt-Abkürzungen werden, soweit eindeutig, aufgelöst: incl. inklusive. Tritt ein Stichwort ausschließlich zusammen mit anderen Wörtern als Name auf, wird der volle Name in Klammern hinzugefügt: Popular (Unidad Popular). Wenn eine spezifische Wortform auf mehrere Grundformen, also auch Stichwörter, zurückgeführt werden müßte, wird ausnahmsweise die spezifische Wortform selbst als Stichwort angesetzt: Ltd. (1. zu ‘Limited’, 2. zu ‘Leitend(er)’) wird selbst Stichwort; ebenso geb. (1. geboren(e), 2. gebunden, 3. gebildet usw.), auch Ihr (1. Personalpronomen und Anrede, 2. Possessivpronomen). Auf eine gesonderte Berücksichtigung von Homographie wurde verzichtet, d.h. sie wird mit Polysemie gleichbehandelt. Wir setzen also z.B. bei Kurs keine zwei < 37> gleichlautenden Stichwörter an (Kurs 1, Kurs 2), sondern differenzieren entsprechend im Feld 4 (Angaben zur Bedeutung). Das Stichwort wird, wenn es im Wortartikel wieder vorkommt, mit seinem ersten Buchstaben abgekürzt, gelegentlich auch mit den ersten beiden oder ersten drei (z.B. St., Sch.). Im Zweifel wird das Stichwort ausgeschrieben. Zu Feld 1.1 (Grammatische Angaben): Die grammatischen Angaben sind, durch senkrechten Strich getrennt, dem Stichwort unmittelbar angehängt. Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 237 Die grammatischen Angaben sind auf ein Minimum beschränkt: Bei Substantiven wird zur Bezeichnung des Genus der bestimmte Artikel gesetzt (ggf. auch mehrfach, z.B. Erste, der/ die/ das), ferner Genitivendung und Plural-Endung bzw. -form; bei Adjektiven nur Angabe der Steigerungsform, bei Verben nur Angabe, ob stark oder schwach konjugiert (bei ersteren Angabe der üblichen Ablautformen). Weitere grammatische Wortklassen sind: Adverb, Partizip/ Adjektiv (z.B. geb.), Pronomen, Konjunktion, Modalwort; ferner „Kürzel“ für besondere Fälle wie cif, fob, loco. Gibt es zu einem Stichwort mehrere Bedeutungen, die ihrerseits unterschiedlichen Genera oder Wortklassen zuzuordnen sind, werden entsprechende Angaben unterbzw. nebeneinander gesetzt. Beispiel: AG für 1. ‘Aktiengesellschaft’, 2. ‘Amtsgericht’; grammatische Angaben: die, -, (-s) (Plural ungebräuchlich) | das, -, (-) (Plural ungebräuchlich) Im übrigen werden solche grammatischen Besonderheiten, die nur einer von mehreren Bedeutungen zuzuordnen sind, im Feld 4.5 der entsprechenden Bedeutungserklärung angemerkt. Zu Feld 2 (Schreibvarianten): Hier werden (in Kursivschrift) in den Texten belegte, orthographische Varianten zur im Stichwort gegebenen Schreibform verzeichnet, vor allem (bei Komposita) Schreibungen mit bzw. ohne Bindestrich, bei Abkürzungen Varianten mit bzw. ohne Punkt, bei Adjektiven großgeschriebene Varianten und in allen Wortarten Punkt-Abkürzungen, die sich vor allem in Anzeigentexten gehäuft finden. Auch Initialabkürzungen sind hier vermerkt. - Mehrere Schreibvarianten sind durch senkrechten Strich getrennt. Zu Feld 3.1 (Statistische Spezifik): Hier werden (in Kursivschrift) diejenigen Wortformen angegeben, die von den verschiedenen statistischen Testverfahren als signifikant unterschiedlich belegt bzw. verteilt ausgewiesen und in mindestens einer der fünf verschiedenen Spezifik-Listen mit einer entsprechend niedrigen lfd. Rangnummer verzeichnet sind. Dieses Feld enthält also sozusagen die statistische Begründung für die Aufnahme als Stichwort. Falls die statistische Spezifik nach der Mannheimer Textrevision - oder aus anderen, oben in Abschnitt 3.2 (Ausnahmeregelungen) behandelten Gründen - heute nicht mehr den gesetzten Bedingungen entspricht, steht als < 38> letzte Zeile in diesem Feld ein entsprechender Vermerk: „(nicht ausreichende stat. Spezifik)“ oder ähnliches. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 238 In den wenigen oben (Abschn. 3.2 (Ausnahmeregelungen)) erläuterten Fällen, in denen eine zweifelsfrei hochspezifische Wortform aufgrund eines Programmfehlers in den Listen nicht ausgegeben worden ist, wurde auf die früheren Bonner Ranglisten der ersten Bearbeitungsstufe zurückgegriffen; dann erscheint in Klammern der Vermerk „(alter Rang)“. Ist eine Wortform in mehreren Spezifik-Listen verzeichnet, werden mehrere solche Angaben - durch senkrechten Strich getrennt - hintereinander geschrieben. Zur Auflösung der chiffrierten Listen-Bezeichnungen F, T, V, U, UN vgl. oben Abschnitt 3.2. Zu Feld 3.2 (Häufigkeit der Wortformen): Hier werden die Summen der zum Stichwort belegten Wortformen vermerkt, und zwar zuerst die Summe der in der WELT belegten, dann die Summe der in ND belegten Wortformen. Die Angaben sind maschinell den Summenangaben der entsprechenden Wortformen-Tabellen entnommen und in einzelnen Fällen manuell korrigiert. In solchen Fällen können die Summen-Angaben in Feld 3.2 von denen in der Tabelle der Wortformen (nach oben) abweichen, dann nämlich, wenn Schreibvarianten mit hinzugerechnet werden, die maschinell bei der Erstellung der Wortformentabelle nicht erfaßt wurden. Zu Feld 4 (Angaben zur Bedeutung): Es wird zwischen Polysemie und Homographie nicht unterschieden; beide Typen werden als Mehrzahl von Bedeutungen (Polysemie) behandelt. Bedeutungen, die in den Texten nicht belegt sind, werden auch nicht gebucht. Mehrere Bedeutungen werden durchnumeriert. Gibt es zu einer Bedeutung weitere Bedeutungsvarianten (Neben- oder Unterbedeutungen, die in den wesentlichen semantischen Merkmalen untereinander übereinstimmen, aber in anderen, weniger wesentlichen abweichen), so werden diese in Feld 4 (nach •) mit halbfettem a bzw. b usw. gekennzeichnet. Im weiteren wird darauf mit „Zu (Bed.variante) a), b)“ usw. Bezug genommen. Weitere Differenzierungen, z.B. spezielle gebrauchsbedingte Varianten in bestimmten Zusammenhängen, Kontexttypen, Wendungen o.ä. werden in der Gebrauchsbeschreibung (Feld 9) vorgenommen, und zwar in der Regel markiert durch „i.S.v.“ - mit einer folgenden semantischen Paraphrase (in einfachen Anführungszeichen). Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 239 In der Regel wird versucht, die Bedeutung eines Stichwortes sowohl durch eine Definition als auch durch Angabe von sinnverwandten bzw. sinnentgegengesetzten Wörtern (Synonymen, Antonymen) zu erklären. In einigen Fällen erreicht die Definition jedoch nicht mehr, als die Synonymangabe auch erreicht; in anderen Fällen gibt es keine Synonyme. Obligatorisch ist also die Angabe entweder der Definition oder von Synonymen; nicht unbedingt beides. Eine Zuordnung zu den Kommunikationsgemeinschaften BRD und DDR wird, < 39> sofern es sich um Konkreta handelt, in der Regel durch „in der DDR ... / in der BRD ...“ vorgenommen, sofern die Sacherklärung die Zuordnung nicht schon selbst eindeutig leistet; bei Fachwörtern aus den Bereichen Wirtschaft, Börse, Betrieb kann auch statt dessen eine Angabe „nur im kap. Wirtschaftssystem“ / „nur im soz. Wirtschaftssystem“ stehen, nämlich dann, wenn die beschriebene Sache über die Wirtschaftsordnung der BRD bzw. der DDR hinaus in gleicher Weise gilt. Bei Ideologiewörtern erfolgt die Zuordnung durch Hinweise „nach/ in marx.-len. Auffassung“, „nach/ in bürgerl.-demokr. Auffassung“, bei anderen durch „in soz./ komm. Staaten/ Gesellschaftsordnung“ o.ä. Bei der Anordnung und Abgrenzung der Bedeutungen spielen drei Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle: 1) die Beleghäufigkeit der Bedeutung, 2) die Trennschärfe, d.h. die möglichst restfreie Anwendbarkeit auf die Belege, 3) die Transparenz im Hinblick auf Bedeutungsunterschiede. Alle drei Gesichtspunkte können eine Abweichung von der in den großen Wörterbüchern gängigen Gliederung erforderlich machen (insbesondere zum letztgenannten Punkt vgl. oben Abschnitt 1.3). Wenn das der Fall ist, folgt in der Regel ein Hinweis in Feld 10. Es kommt immer wieder vor, daß sich einzelne Belege den angegebenen Bedeutungen nicht eindeutig zuordnen lassen, sei es, daß die Bedeutungen ohnehin einige gemeinsame Merkmale aufweisen, sei es, daß die Belege nicht ausführlich genug sind, sei es, daß die Texte selbst mehrdeutig formuliert sind. Wenn solche Schwierigkeiten bei der Zuordnung mehr als nur vereinzelt auftreten, wird - in der Regel als Kommentartext, d.h. in petit-Schrift - in der Bedeutungserklärung selbst oder im Feld 9 darauf hingewiesen. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 240 Feld 4.2 und 4.3 (Sinnverwandte, sinnentgegengesetzte Wörter): In den beiden Unterfeldern werden sinnverwandte („synonyme“) bzw. sinnentgegengesetzte („antonyme“) Wörter angegeben, die nicht unbedingt auch in den Texten belegt sein müssen. Sie können sich nur auf bestimmte Bedeutungsvarianten beziehen und sind dann mit „Zu a), Zu b)“ usw. gekennzeichnet. Sie können auch nur unter bestimmten Bedingungen synonym oder teilsynonym bzw. teilantonym sein, ohne daß diese Bedingungen im einzelnen angegeben sind. Angegeben sind sie allerdings dann, wenn daran ein Ost-West-Unterschied festzumachen ist. Zu Feld 5 (Weitere Angaben zum Wortgebrauch und zur Sache): In den Unterfeldern 5.1 und 5.2 werden dem Benutzer zusätzliche, über die Angaben in Feld 4 und auch über den Befund der Texte hinausgehende Informationen angeboten; hier wird allgemeines Bearbeiterwissen sowie Wörterbuchwissen zusätzlich verfügbar gemacht. Dabei werden vor allem solche Fakten berücksichtigt, die zur Einordnung in größere Systemzusammenhänge oder zum Verständnis der Belege erforderlich sind, und zwar im Hinblick darauf, die Unterschiede verständlich zu machen. Das Feld 5.1 (Angaben zur Bezeichnung und zum Wortgebrauch) enthält Angaben zur Onomasiologie, insbesondere zur Bezeichnungsvariation in der DDR < 40> bzw. in der BRD, bei Bezeichnungsdifferenzen zwischen beiden Kommunikationsgemeinschaften Angabe der jeweiligen Äquivalente, Bezeichnungswandel über mehrere Jahrgänge hinweg, Besonderheiten bei der Wertung, beim Gebrauch von Abkürzungen, Angabe von Ober- und Unterbegriffen usw. Bei den sogenannten Überblicksartikeln (vgl. Abschnitt 4.4) werden in Feld 5.1 auch die inhaltlich zusammengehörenden Stichwörter aufgelistet; das Unterfeld ist dann entsprechend ausgebaut. In Feld 5.2 werden Angaben zur Sache angeboten, und zwar solche, die Wissen über spezielle Sachgebiete (z.B. Wirtschaft, Börse) vermitteln oder die sich auf Institutionen, gesellschaftliches Leben und bestimmte Verhältnisse in der DDR beziehen. Hier werden auch Hinweise gegeben, wenn und inwiefern sich an der „Sache“ außerhalb des Geltungsbereichs unseres Korpus (also etwa ab 1975) Gravierendes geändert hat. Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 241 Die Angaben in Feld 5.2 sollen nicht etwa das „DDR Handbuch“ oder andere Nachschlagewerke ersetzen; sie sind nur gerade so knapp gehalten, daß sie das Verständnis der Wortartikel und der Textbelege stützen. Die Nachschlagewerke werden weiterhin ergänzend zum Gebrauch empfohlen. Das schließt nicht aus, daß die Angaben in diesem Wörterbuch über die in den Nachschlagewerken hinausführen oder von ihnen abweichen (vgl. dazu Feld 10); zumindest wurde versucht, auch für den Laien verständlich zu erklären. Zu Feld 6 (Angaben zu Bindungen des Wortes): Es werden in sehr knappen Stichworten Hinweise gegeben auf das vorherrschende Vorkommen des Wortes in bestimmten inhaltlichen oder textlichen Zusammenhängen: Feld 6.1 Sachgebiets-Bindung: Das Stichwort erscheint vornehmlich in Texten eines bestimmten Sach- oder Fachgebiets, z.B. Wirtschaft, Börse, Sport. Die nähere Bestimmung, z.B., ob Wirtschaft BRD oder DDR, ist dem Feld 4 zu entnehmen. Solche Angaben finden sich vor allem zu Wörtern des Sachgebiets Wirtschaft/ Betrieb im weitesten Sinne. Feld 6.2 Textsorten-Bindung: Das Stichwort erscheint vornehmlich in Texten eines bestimmten Typs, z.B. Immobilien-Anzeigen, Unternehmensberichte, Wetterbericht. Zu Feld 7 (Angaben zur Wertung): Hier werden nur dann Angaben gemacht, wenn unsere Texte in dieser Hinsicht in irgendeiner Weise Besonderheiten (in Bezug auf Intensität, auf Ost- West-Differenz o.ä.) aufweisen. Die Angaben haben meist eine Form wie „In ND (meist/ bes.) positiv/ negativ“ o.ä. In seltenen Fällen werden diese Angaben ergänzt durch solche zur Stilschicht wie z.B. „pathetisch“ o.ä. < 41> Zu Feld 8 (Angaben zu Wortgeschichte und fremdsprachlichem Einfluß): Feld 8.1: Die Angaben zur Wortgeschichte beschränken sich auf diejenigen Fälle, in denen einigermaßen gesicherte Angaben über die Zeit der Entstehung bzw. Übernahme vorliegen; der einfache Textbefund, daß ein Wort im Textkorpus erst ab einem bestimmten Jahrgang belegt ist, reicht nicht aus. Gleiches gilt für eine Angabe, ab wann ein Wort gebraucht bzw. nicht mehr Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 242 gebraucht wird, durch welches andere es ggf. ersetzt worden ist bzw. welches andere es ggf. ersetzt. Die Angaben beziehen sich in der Regel auf die Nachkriegs-Wortgeschichte. Feld 8.2: Auch diese Angaben beziehen sich auf Entlehnungsvorgänge in jüngerer Zeit, vornehmlich der Nachkriegszeit, selten darüber hinaus (bis zur Jahrhundertwende). Zu Feld 9 (Angaben zum Gebrauch in den Texten): Dieses Feld enthält die eigentliche Gebrauchsbeschreibung. In der Regel folgen die Angaben in diesem Feld den aufgezählten Bedeutungen (Zu Bed. 1: ... / Zu Bed. 2: ... usw.), in wenigen Fällen wurde jedoch nach den Haupttextgruppen (WE und ND) geordnet und innerhalb dieser dann nach Bedeutungen. Die Angaben in Feld 9 dienen weniger einer allgemeinen Beschreibung des Gebrauchs im Deutschen, sondern vielmehr einer detaillierten Beschreibung der Unterschiede im Gebrauch in Ost- und Westtexten. Gemeinsamkeiten im Gebrauch werden, soweit überhaupt, vor allem erwähnt, um demgegenüber die Unterschiede deutlich machen zu können. Die Gebrauchsbeschreibung in Feld 9 erstreckt sich vor allem auf folgende Aspekte: Erläuterungen zu Vorkommen bzw. Nichtvorkommen von Wortformen (Flexionsformen) oder Schreibvarianten in bestimmten Jahrgängen; Erläuterungen zu den Bedeutungen und ihrem Vorkommen in den verschiedenen Jahrgängen - teils in nur globalen Angaben, teils mit genauen Häufigkeitsangaben; spezielle Bedeutungsvarianten; Besonderheiten der Wertung; Verknüpfung - soweit erkennbar - mit besonderen, in der jeweiligen Textgruppe häufiger behandelten Ereignissen oder Themen, die Ursache für einen Frequenzunterschied eines Wortes oder einer Bedeutung sein könnten; Vorkommen in Verbindungen (diverse Attribuierungen, Reihungen, Wendungen und Phraseologismen, Vorkommen in Namen etc.); Besonderheiten der Wertung; Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 243 Hinweise zu Vorkommen und Häufigkeit von Synonymen, Alternativbezeichnungen oder Unterbegriffen, soweit zur Erhellung der Gebrauchsunterschiede dienlich; Erläuterungen zu Bindungen an bestimmte Fachgebiete oder Textsorten (in dieser Hinsicht als Ergänzung zu den Angaben in Feld 6). < 42> Zu allen diesen Angaben werden Hinweise gegeben, auf welche Jahrgänge sie zutreffen. Ist kein spezieller Jahrgang genannt, gilt die Angabe für alle Jahrgänge. Bei umfangreicheren Wort- oder Kollokationslisten sind solche detaillierten Hinweise meist nicht möglich; der daran interessierte Leser kann dann auf die Microfiche-Veröffentlichung (KWIC-Konkordanzen) oder eine gesonderte Material-Abfrage zurückgreifen (vgl. Abschnitt 5.5). Angaben zur Häufigkeit werden unterschiedlich gehandhabt. Es gibt sowohl relative als auch absolute Angaben. Relative können die Form vager Angaben haben, die folgendermaßen abgestuft sind: extrem häufig/ fast ausschließlich sehr häufig häufig/ oft nicht selten selten/ gelegentlich sehr selten/ in wenigen Fällen/ vereinzelt Relative Häufigkeitsangaben können auch die Form von Anteils-Angaben haben, z.B. (nahezu) alle drei Viertel / über 70 Prozent (annähernd) die Hälfte (weniger als) ein Drittel 10 Prozent o.ä. Absolute Häufigkeitsangaben werden in Klammern hinter dem belegten Wort bzw. der belegten Kollokation gegeben, meist in der Form „(4mal)“, oft mit folgender oder vorhergehender Jahrgangsangabe, z.B. „(1mal ND49)“, „(nur WE74 24mal)“. Umfangreichere Kollokationslisten werden oft nach Häufigkeit vorsortiert, z.B. zunächst die (meist kleine) Gruppe mit sehr hohen Häufigkeiten, danach Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 244 die Gruppe mit mittleren Häufigkeiten (ab 5mal), schließlich die seltenen oder die nur 1mal belegten; diese meist nur in Auswahl. Innerhalb dieser Gruppen gilt die alphabetische Sortierung. In wenigen Fällen sind die Kollokationslisten auch nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet (z.B. vgl. Betrieb, Unternehmen, Arbeit), jedoch konnte dies nicht zur Regel gemacht werden. Zu Feld 10 (Angaben zur Buchung in Wörterbüchern): Vergleichend herangezogen wurden generell das sechsbändige „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (WDG), das ebenfalls sechsbändige „DUDEN Großes Wörterbuch der deutschen Sprache“ (GDW) und das zweibändige „Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (HWDG); andere nur in bestimmten Fällen (vgl. die Literaturhinweise S. *53 in diesem Band). Die „Brisanten Wörter“ (STRAUSS / HASS / HARRAS 89) erschienen erst nach Abschluß der Arbeit an den Wortartikeln. Auf die Notwendigkeit, Bedeutungsangaben anders zu gliedern, um Ost- West- < 43> Unterschiede beschreibbar zu machen, wurde oben in Abschnitt 1.3 schon hingewiesen. Zumindest in diesen Fällen ist eine Abweichung gegenüber den Buchungen in den genannten Wörterbüchern nicht als Kritik zu verstehen; in anderen Fällen war sie gelegentlich angebracht. Im Falle einer Abweichung wird in Feld 10 ein Hinweis gegeben. Auf eine Begründung für die Abweichung wird allerdings meist verzichtet. Zu Feld 11 (Verweise): Die in Feld 11 angegebenen Wörter verweisen auf Wortartikel, deren Lektüre in irgendeiner Weise zum Verständnis des vorliegenden nützlich sein könnte. Verweiswörter in Klammern verweisen auf Stichwörter, die zur Bearbeitung geeignet und vorgesehen waren, jedoch nicht mehr bearbeitet werden konnten. Die Verweise sind in der Regel paarig, d.h. bei jedem Stichwort, auf das verwiesen wird, steht auch ein Verweis auf dasjenige, von dem verwiesen wurde. Die Verweispfeile im Text des Wortartikels markieren solche Wörter, die auch Stichwort sind. Die so markierten Wörter müssen nicht identisch sein mit den in Feld 11 aufgeführten. Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 245 4.4 Überblicksartikel Einige der Stichwörter, die gleichzeitig als Rahmen oder Überschrift zu mehreren anderen Stichwörtern betrachtet werden können, sind zu Überblicksartikeln ausgearbeitet. So z.B. Aktiengesellschaft für Vokabular aus den Geschäftsberichten und sonstigen Veröffentlichungen über Unternehmen, Betrieb für unterschiedliche Organisationsformen von Betrieben vornehmlich in der DDR, Bewerbung für Vokabular aus Stellenanzeigen, Bilanz für Vokabular aus den vorgeschriebenen Unternehmens-Veröffentlichungen (Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen, Geschäftsberichte), Bundesliga für Fußballvereinsnamen aus der BRD, Firma für Bezeichnungen verschiedener handelsrechtlicher Unternehmensformen vornehmlich in der BRD, Immobilie für Vokabular aus Immobilienanzeigen, Mark für diverse deutsche Währungsbezeichnungen, Nachrichtendienst für Vokabular der Agenturen und der Berichterstattung, Parteiorganisation für Bezeichnungen zur Organisationsstruktur der SED, SV für Bezeichnungen zur Organisationsstruktur des Sports der DDR, Weltrohstoffmarkt für Bezeichnungen weltmarktfähiger Waren und weiteres Vokabular aus den entsprechenden Zeitungsrubri- < 44> ken der WELT, Wertpapier für diverse Bezeichnungen aus dem Börsenvokabular. In diesen Fällen wird in Feld 5 eine Übersicht über den Wortschatzausschnitt gegeben; das Feld 5 ist entsprechend stark ausgebaut. Leider war keineswegs zu allen Wortgruppen, die inhaltlich eng zusammengehören, schon ein Stichwort vorhanden, das sich als Überblicksartikel hätte ausbauen lassen, z.B. für die Modalwörter und ihre Untergruppen, für Ideolo- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 246 gie-Wörter und andere. Hier ist der Leser auf die Verweise im Text des Wortartikels selbst und in Feld 11 angewiesen, um Zusammenhänge der Wortgruppe zu erkennen. 4.5 Die Tabellen Allgemein hierzu vgl. oben Abschnitt 2.2 Zu (4) Tabellen (S. *27-*28). 4.5.1 Die Tabellen der Gruppe 1 Zu jedem Wortartikel gehören folgende drei Tabellen: (1) Verteilung der Wortformen (2) Verteilung der Komposita (3) Verteilung der sonstigen Wortbildungen Alle Tabellen sind nach folgendem Schema aufgebaut: Ziffernspalte: 1 : Gesamthäufigkeit West 2 : Gesamthäufigkeit Ost 3-8 : Häufigkeiten der Jahrgänge WE49, 54, 59, 64, 69, 74 9-14 : Häufigkeiten der Jahrgänge ND49, 54, 59, 64, 69, 74 Die Spalten 1 und 2 (Gesamthäufigkeiten) werden mit einer Summenzeile abgeschlossen. Zu Tabelle (1): Tabelle (1) Wortformen ist immer mit mindestens einer Wortform belegt. Als Wortformen gelten die Flexionsformen eines Stichworts die Schreibvarianten, insbesondere die Punkt-Abkürzungen das Femininum zu einer maskulinen Personenbezeichnung bei Adjektiven die Steigerungsformen bei Verben alle Konjugationsformen einschließlich Partizip, nicht jedoch präfigierte Formen (sofern nicht ohnehin Stichwort). Zu Tabelle (2): Die Tabellen (2) und (3) können fehlen, nämlich dann, wenn es keine Komposita bzw. keine sonstigen Wortbildungen zu dem Stichwort gibt (Beispiel: DWK, geb.). < 45> Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 247 Als Komposita gelten solche Wörter, in denen das Stichwort mit mindestens einem weiteren Element zusammengeschrieben ist, das auch als selbständiges Wort vorkommt. Nicht dazu gezählt werden also Wortgruppenlexeme. Wird das Stichwort in eine andere Wortart umgesetzt oder mit einem Ableitungssuffix versehen, gehört es in die Tabelle (3). Zu Tabelle (3): Tabelle (3) enthält alle sonstigen Wortbildungen, in denen das Stichwort vorkommt, insbesondere Umsetzungen in eine andere Wortart und Ableitungen durch Suffixe. Zur Reduzierung der Tabellen (2) und (3) bei Doppelbuchungen und zur Funktion des Sternchens als Verweiszeichen auf andere Tabellen s. oben S. *28 und die Einführung zum Tabellenband. 4.5.2 Die Tabellen der Gruppe 2 Für eine Reihe von Stichwörtern gibt es weitere 3 Tabellen, nämlich: (4) Verteilung der Bedeutungen (5) Verteilung der Kollokationstypen (6) Verteilung des Vorkommens in Phraseologismen Solche Tabellen gibt es nur bei denjenigen Stichwörtern, die a) mehrere Bedeutungen haben, b) von denen jede nicht selten belegt ist (dabei gilt „nicht selten“ in der Regel dann als erfüllt, wenn eine weitere Bedeutung mehr als 10mal belegt ist). Dies trifft auf 66 Stichwörter zu. Bei solchen Stichwörtern sind die Dateien der Textbelege voll durchklassifiziert (dazu vgl. oben Abschn. 2.2 zu (4) Tabellen). Der Aufbau der Tabellen der Gruppe 2 stimmt mit dem der Gruppe 1 überein. Zu Tabelle (4): Die Bedeutungen sind gemäß dem Aufbau des Wortartikels numeriert. Mit „0“ (Null) werden solche Belege markiert, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen oder sonst einen Sonderfall darstellen, der im Wortartikel erläutert wird. Mit „9“ werden solche Belege markiert, in denen das Stichwort in besonderer Verwendung, vor allem als Name oder Namensbestandteil, auftritt (es sei denn, auch die Verwendung als Name ermögliche eine eindeutige Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 248 Bedeutungszuordnung; darüber gibt der Wortartikel Auskunft). Mit „9“ markierte Belege werden nicht gleichzeitig als Phraseologismen (vgl. Tabelle (5)) markiert. Zwischen den Summen der Gesamthäufigkeiten in dieser Tabelle und denen in der Tabelle der Wortformen kann eine Differenz bestehen. Diese ist ggf. darauf zurückzuführen, daß die Datei der Wortformen und die Datei der Textbelege nicht mit demselben Suchverfahren erstellt worden sind (vgl. Abschnitt 1.4, Punkt (4) und (5)). Unterschiedliche Suchverfahren ergeben unterschiedliche Fundmengen; meist ist die der Wortformen etwas größer. < 46> Zu Tabelle (5): Unter Kollokationen werden in diesem Wörterbuch - für die Substantive und Adjektive - die Attribuierungen verstanden; es wurde geprüft, ob das Stichwort Attribut ist oder Attribute hat (und welcher Art). Andere, auch interessante Kollokationstypen, die in den Grammatiken z.B. als Apposition geführt werden (Bundesrepublik Deutschland, Hauptabteilung Finanzen und Steuern, VEB Stahlbau Riesa - Abt. Kader und Arbeit, Startbahn West u.ä.), sind in dieser Tabelle nicht berücksichtigt (wohl aber sind sie im Wortartikel in der Gebrauchsbeschreibung (Feld 9) behandelt). Bei Verben wurde geprüft, ob das Stichwort Ergänzungen und/ oder freie Angaben hat und welche syntaktische Funktion es hat. < 47> [Der Abschnitt „Schlüssel zur Auflösung der Kollokations-Codierungen“ (S. 47) wird hier übergangen. MWH] < 48> Zu Tabelle (6): Es sind in den Belegen als Phraseologismen markiert: Vorkommen des Stichworts in (mehrgliedrigen) stehenden Redewendungen sowie in Wortverbindungen mit eigenem begrifflichen Inhalt. Mehrgliedrige Namen sind nur dann als Phraseologismen markiert, wenn sich diese Verwendung noch relativ leicht einer der angegebenen Bedeutungen zuordnen läßt. Andernfalls wird eine solche Verwendung als eigene Bedeutung mit „9“ markiert, - Phraseologismus-Markierung unterbleibt dann. Die Tabelle gibt also nur Auskunft, wie oft in welchem Jahrgang in den Belegen eine Markierung als Phraseologismus eingetragen worden ist. Wörter und Wortgebrauch in Ost und West 249 5. Zugrundeliegende Datenmengen Umfang der Daten (in leicht gerundeten Zahlen) Textbasis: Das Bonner Zeitungskorpus mit 2 mal 6 Jahrgangsauswahlen Textlänge (Zahl der tokens): 3,03 Mill. Wortformen (Zahl der types): 470.000 Dateien zur Erstellung des Wörterbuchs (ohne Hilfs- und Duplikatdateien): 2.408 Umfänge der Dateien in Zeilen (incl. Leer- und Adress-Zeilen) Dateien der Wortartikel: 36800 Zeilen Dateien der Textbelege: 335000 Zeilen Dateien der Wortbelege: 53200 Zeilen Dateien der Verwendungsbeispiele: 81000 Zeilen Umfang des Wörterbuchs: Stichwörter: 602 darin behandelte Bedeutungen: 938 gebuchte Verwendungsbeispiele: 12.700 gebuchte Worteinträge in den Tabellen: 32.000 Aus: Barz / Schröder (Hg.) (1997): Nominationsforschung im Deutschen. Festschrift für Wolfgang Fleischer zum 75. Geburtstag. Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern/ New York/ Wien, S. 93-107. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Peter Lang Verlags.] Das „kommunistische Kürzel BRD “. Zur Geschichte des öffentlichen Umgangs mit den Bezeichnungen für die beiden deutschen Staaten. 1. Zum Bezeichnungsproblem Am 16. Februar 1978 kam es im Deutschen Bundestag zu einem der vielen Frage-Antwort-Spiele, mit denen die Opposition die Bundesregierung drängte, überall gegen den Gebrauch des „Kürzels BRD“ vorzugehen, wo immer es sich zeigte. Der Berliner MdB Wohlrabe (CDU) verdächtigte in seiner Anfrage sogar die Medien Österreichs bedenklicher sprachlicher Gepflogenheiten [1]: „Ist der Bundesregierung bekannt, daß sich das kommunistische Kürzel ‘ BRD ’ in Österreich in den Massenmedien ... zunehmend verbreitet, und welche Bemühungen hat der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Wien bisher unternommen, um das kommunistische Kürzel ‘ BRD ’ im Sprachgebrauch Österreichs abzuwenden? “ Staatsminister von Dohnanyi antwortete, die Bundesregierung halte die Vollform für die einzig richtige Bezeichnung und betone dies auch gegenüber Österreich, gleichwohl sei der Gebrauch einer Abkürzung für Staatsnamen normal, nicht nur für den Namen der Bundesrepublik. „Deswegen ... ist der Ausdruck ‘ BRD ’ nicht einfach als kommunistisches Kürzel zu qualifizieren“. Wohlrabe insistierte: „Abgesehen davon, daß es für mich trotzdem ein kommunistisches Kürzel bleibt, weil es das ‘Neue Deutschland’ erfunden hat und damit auch ein ganz konkreter Zweck verfolgt wird ...“, forderte er erneut, die Bundesregierung solle auf Österreich einwirken, „daß dieses kommunistische Kürzel nicht mehr gebraucht wird“. Zusatzfrage eines SPD -Abgeordneten: „Liegen Ihnen Erkenntnisse darüber vor, daß Hunderttausende, wenn nicht Millionen deutscher Urlauber im Ausland dieses Kürzel verwenden, ohne daß sie das jemals mit irgendeiner Ideologie behaftet haben? “ - V. Dohnanyi: „Solche Erkenntnisse liegen vor. Ich hatte ... schon darauf hingewiesen, daß der Versuch, die Bezeichnung ‘ BRD ’ als kommunistisches Kürzel zu bezeichnen, eine unzulässige Darstellung ist.“ Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 252 Dass Staaten das Recht haben, selbst festzulegen, wie sie sich nennen und von allen anderen benannt sein wollen, ist international anerkannter und von der UNO strikt beachteter Grundsatz des Völkerrechts. Der offizielle Staatsname ist in der Regel in der Verfassung in der jeweiligen Nationalsprache festgelegt. Gerade weil Staatsnamen oft politische Signale enthalten und vom jeweiligen Staat als Symbol seines Selbstverständnisses gewertet werden, hat internationale Über- <94> einkunft diese Namen grundsätzlich dem internationalen politischen Streit entzogen. Probleme können entstehen, weil außerhalb offizieller Dokumente Kurzbezeichnungen notwendig sind und oft auch eine Initial-Abkürzung; insbesondere bei mehrgliedrigen Staatsnamen ist dies die Regel. Die Namen beider deutscher Staaten, aber auch die der Sowjetunion, der USA, Frankreichs, Großbritanniens und vieler anderer gehören dazu. Auch Kurzformen und Abkürzungen unterliegen dem Namensrecht des jeweiligen Staates. Was die beiden deutschen Staaten betrifft, zeigt sich ein Dilemma: Die Bundesrepublik hat als Kurzbezeichnung - internationaler Benennungspraxis folgend - auf den Landesnamen zurückgegriffen. Unglücklicherweise traf dieser Landesname aber nicht auf sie allein zu: auch der konkurrierende andere deutsche Staat war ein Teil von Deutschland, das zwar territorial geteilt war, aber historisch und völkerrechtlich (nach bundesdeutsch vorherrschender Auffassung) weiterexistierte. Die Wahl dieses Landesnamens als Kurzbezeichnung schließt - ohne differenzierende Zusätze - diesen anderen deutschen Staat aber logischerweise aus diesem Begriff aus, was wiederum politisch keinesfalls gewollt sein konnte. Andererseits: zwei Staaten können nicht dasselbe sein - namensrechtlich gesehen. Die DDR stand im Prinzip vor dem gleichen Dilemma. Ihr blieben nur zwei Möglichkeiten: entweder zu beanspruchen, selbst das wahre Deutschland zu sein, oder zu bestreiten, dass es Deutschland überhaupt gibt. Bis Ende der sechziger Jahre vertrat sie die erstere Position, danach die zweite. In beiden Fällen musste sie der Bundesrepublik das Recht bestreiten, sich einfach Deutschland zu nennen, was auch geschah. Was die Wahl der Abkürzung für den eigenen Staat betraf, so war sie für die DDR generell unproblematisch, nämlich DDR. Für die Bundesrepublik gab es zunächst ebenfalls kein Problem: halbamtlich und öffentlich wurde, wenngleich nicht häufig, BRD gebraucht. In Bezug auf die DDR entstand für die Das „kommunistische Kürzel BRD “ 253 Bundesrepublik insofern ein Problem, als sie die DDR zunächst nicht einmal als Staat, geschweige denn als legitimen, anerkennen mochte. Da Initialabkürzungen, wenn auch abgeschwächt, auf den vollen Namen verweisen, konnte auch die Abkürzung nicht oder nur mit Vorbehalt verwendet werden. Erst die Anerkennung als Staat machte den Gebrauch auch der Abkürzung DDR in der Bundesrepublik möglich. Aus gleichem Grund war für die DDR der Gebrauch der Abkürzung BRD zunächst politisch unmöglich. Auch hier ebnete erst das Streben nach Anerkennung, dann die Anerkennung selbst den Weg zur Übernahme dieser (halboffiziellen) westdeutschen Bezeichnung. <95> Die Bundesrepublik bzw. ihre Führung hätte diese Übernahme mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen können: auch die DDR akzeptiert diesen unseren Staat nun so, wie er sich nennt, offiziell als Bundesrepublik Deutschland, abgekürzt als BRD. Erstaunlicherweise tat sie dies nicht, sondern erzeugte sich selbst ein Dilemma: Sie lehnte diese selbst erfundene Abkürzung von einem bestimmten Zeitpunkt an ab und beharrte statt dessen auf der Kurzbezeichnung Deutschland, die aus den erwähnten Gründen problematisch war, nämlich geeignet, die DDR aus dem Begriff Deutschland auszuschließen. Ersatzvorschläge für die Abkürzung wie D, GER, DEU hatten im Sprachgebrauch keine Chance: Man kann von BRD-Regierung/ -Exporten/ -Grenzen, die Mannschaft der BRD, BRD-spezifisch sprechen, aber nicht von D-Regierung, die Mannschaft des D/ von GER, DEU-spezifisch. Für das Adjektiv deutsch gilt das Dilemma in ähnlicher Weise: Wenn die eigenen Mannschaften, Zeitungen, Regierungen, Botschaften etc. deutsch genannt werden, können die „anderen“ Mannschaften, Zeitungen, Regierungen, Botschaften etc. nicht auch deutsch genannt werden; - wie aber kann ich dann behaupten, sie „seien“ es dennoch? Wolfgang Fleischer [2] hat 1984 darauf hingewiesen, dass auch die DDR ihre Schwierigkeiten mit einem staatsbezeichnenden Adjektiv hatte, da „zunächst keine Adjektive vorhanden sind, die wie die Substantive DDR und BRD einen klaren Benennungsunterschied repräsentieren; deutsch kann sich eben sowohl auf die DDR als auch auf die BRD beziehen - und schließlich auf den einstigen deutschen Staat, aus dem sie beide hervorgegangen sind“; verwendbar sei das Adjektiv nur mit Bezug auf die unbestrittene gemeinsame Geschichte und Nationalität („die beiden deutschen Staaten“, „auf deutschem Boden“ etc.). Westdeutsch und ostdeutsch bezeichnet er als „inakzep- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 254 tabel“, DDR-deutsch als „kaum zu empfehlen“ (S. 9). Tatsächlich hatten sich im offiziellen Sprachgebrauch der DDR als Ersatz für das fehlende Adjektiv vor allem Bindestrich-Komposita mit DDR- oder Genitivverbindungen mit der DDR durchgesetzt (ein Grund mit für die extreme Häufigkeit der Abkürzung), daneben sozialistisch, oft mit dem Zusatz deutsch (z.B. sozialistische deutsche Nationalkultur, der erste deutsche Arbeiter-und-Bauern-Staat o.ä.). Fleischer konstatierte, im Sprachgebrauch der BRD (aber „auch in DDR- Quellen“) hätten sich (neben deutsch, dessen Adäquatheit er natürlich bestreitet) die Adjektive bundesdeutsch, bundesrepublikanisch verbreitet, was jedenfalls für bundesdeutsch zutrifft, allerdings, wie wir sehen, nicht im amtlichen Gebrauch. Das Ergebnis seit etwa Mitte der 60er Jahre war - bezeichnungssystematisch gesehen: Die Bundesrepublik hatte amtlich eine (problematische) Kurzbezeichnung, aber keine praktikable Initialabkürzung; nichtamtlich hatte sie mehrere Kurzbe- <96> zeichnungen, darunter unerwünschte, und eine unerwünschte Abkürzung. Die DDR hatte eine praktikable Abkürzung, aber keine Kurzbezeichnung. Die BRD hatte mehrere Adjektive, darunter ein sehr problematisches offizielles (deutsch) und einige unerwünschte (westdeutsch, bundesrepublikanisch); die DDR hatte kein praktikables Adjektiv und musste zu Umschreibungen oder zusätzlichen Differenzierungen greifen. Die Bundesrepublik tabuisierte erst die Abkürzung DDR, dann die Abkürzung BRD. Die DDR tabuisierte erst die Abkürzung BRD und den vollen Namen der Bundesrepublik, dann die Bezeichnung Deutschland sowohl für die Gesamtheit (als nicht mehr existent), als auch als Namensbestandteil der BRD (als revanchistisch/ nationalistisch). 2. Zum Regelungsproblem Unter dem Aspekt der Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Staaten gewinnt der Kampf um die „richtige“ Bezeichnung eine zusätzliche Relevanz, und zwar eine zwischenstaatliche und eine innerstaatliche. Zwischenstaatlich war so ziemlich alles strittig, was zwischen zwei Nachbarstaaten gleicher Herkunft strittig sein kann (wenn auch nicht alles gleichzeitig): die demokratische Legitimation und damit die Existenzberechtigung; die Souveränität; der Anspruch, für ganz Deutschland zu sprechen oder sogar: identisch oder teilidentisch mit „Deutschland“ zu sein; die (virtuelle) „Zuständigkeit“ auch für die Bürger des anderen deutschen Staates; der An- Das „kommunistische Kürzel BRD “ 255 spruch, das eigene System sei das eigentlich vom ganzen deutschen Volk gewollte; der Standpunkt, es gebe ein deutsches Volk, ein Deutschland nicht mehr oder eben doch noch. Beide Staten bestritten einander das Recht, sich so zu benennen, wie sie sich benennen wollten. Innerstaatlich hatte der Kampf um die „richtige“ Bezeichnung in beiden Staaten auch die Funktion, Widerspruch gegen die regierungsamtliche bzw. parteioffizielle Linie, wie sie sich im Sprachgebrauch ausdrückt, möglichst gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. Der Gebrauch einer als unzulässig oder „nicht zu verwenden“ gebrandmarkten Bezeichnung stempelt den Gebraucher zunächst zum Außenseiter. Diese Funktion amtlicher Sprachregelungen - insofern sie über den amtlichen Gebrauch in die Gesellschaft hineinwirken - darf man als beabsichtigt unterstellen. Die Konsequenzen etwaiger Tabubrüche waren allerdings in West und Ost grundverschieden. Ein zweites Problem kommt hinzu: das der Abgrenzung zwischen dem seinen eigenen Zuständigkeitsbereich legititimerweise sprachregelnden Staat und der sprachregelungsfreien Gesellschaft. Wo hört der Bereich staatlicher Regelungskompetenz auf? - Der Bereich der Amts- und Gesetzessprache, der Diplomatie, der Außenvertretung generell, gehört sicherlich dazu, aber auch z.B. das Goethe-Institut, das dem Auswärtigen Amt unterstellt ist? Auch Lehrer im Unterricht? Sendeanstalten als Körperschaften des öffentlichen Rechts? Veranstal- <97> ter, Referenten, gar Teilnehmer öffentlich geförderter Tagungen? Autoren von Büchern mit staatlichem Druckkostenzuschuss? Können sie alle auf die Einhaltung der Sprachregelungen verpflichtet werden? Anders als in der DDR wurden in der BRD zum Glück nicht alle diese Fragen bejaht, und kaum ein Ja wurde konsequent und überall durchgesetzt. Um das Fazit vorwegzunehmen: Es gelang nur sehr partiell, die Sprachregelungen durchzusetzen. Gerechterweise muss auch gesagt werden: Einige der Richtlinien sollten nicht den allgemeinen, sondern nur den amtlichen Sprachgebrauch regeln. Es waren nicht immer Behörden und besonders nicht immer Bundesbehörden, sondern oft andere gesellschaftliche Kräfte - Landesministerien, bestimmte Fraktionen oder Abgeordnete im Bundestag, bestimmte Zeitungen, Fernsehmoderatoren, Arbeitskreise, Vereinigungen -, die versuchten, auch die Öffentlichkeit auf den Gebrauch oder Nichtgebrauch bestimmter Bezeichnungen zu verpflichten. Im übrigen war die Regelungspraxis z.B. des Innerdeutschen Ministeriums relativ moderat [3]. Das Problem liegt nicht darin, dass staatliche Instanzen versuchen, ihren eigenen Sprachgebrauch einheitlich zu regeln. Problematisch - jedenfalls in Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 256 einer demokratischen Gesellschaft - werden Sprachregelungen erst, wenn sie über den amtlichen Gebrauch hinaus die Öffentlichkeit auf einen einheitlichen Gebrauch festlegen wollen. Die Erfahrungen mit zwei Diktaturen in Deutschland hätten alle, auch die amtlichen Sprachregler, und zwar auch schon in den fünfziger und sechziger Jahren, auf den Konsens verpflichten sollen, dass die Freiheit des Sprachgebrauchs ein unverzichtbares gesellschaftliches Regulativ gegenüber der Dominanz einer Sicht - auch der staatlichen - ist. Nicht der Staat hat den Bürgern aufs Maul zu schauen, sondern die Bürger ihrem Staat und seinen Vertretern und Amtswaltern. Dieses Postulat wurde freilich von keinem amtlichen Sprachregler offen bestritten - es wurde „nur“ zu unterlaufen versucht. 3. Zur Eingrenzung des Themas und zum Stand der Forschung Obwohl alle Staatsbezeichnungen untereinander in einem Komplementär- oder Konkurrenzverhältnis stehen und deshalb am besten vollständig und im Zusammenhang zu untersuchen wären, muss hier aus Platzgründen das Gewicht auf nur eine Gruppe von Bezeichnungen, nämlich die Abkürzung BRD und die Kurzbezeichnungen Deutschland bzw. Bundesrepublik als die umstrittensten, gelegt werden. <98> 3.1 Zum amtlichen und halbamtlichen Gebrauch Grundlegend sind immer noch die Arbeiten von Helmut Berschin [4], der 1978 und 1979 im „Sprachdienst“, dann vor allem in seiner Broschüre „Deutschland - ein Name im Wandel“ (1979), im „Deutschland Archiv“ 1980 und nochmals 1986 (zu deutsch-deutsch) die Staatsbezeichnungen und ihre Adjektive untersucht und ihre Gebrauchsregelung in den verschiedenen staatlichen Richtlinien kritisch bewertet hat; vor ihm hatte schon Feigs (1971) am Sprachgebrauch norwegischer Studenten nachgewiesen, dass unter Deutschland überwiegend nur noch die Bundesrepublik verstanden werde [5]; Karl Römer [6] kritisierte 1975 die Negativ-Regelung für BRD und die Positiv-Regelung für Deutschland in den amtlichen Richtlinien und - ihnen folgend? - im öffentlichen Sprachgebrauch. Der „Sprachdienst“ hat in einer Reihe redaktioneller Artikel von Helmut Walther [7] und in seinen Leseraussprachen [8] die Diskussion weitergeführt und vor allem viele frühe Belege für den BRD-Gebrauch in der Bundesrepublik der 50er Jahre zusammengetragen, bis hin zur Entdeckung des Erstbelegs [9]: der Staatsrechtler Das „kommunistische Kürzel BRD “ 257 Prof. Wilhelm Grewe, Adenauers erster Botschafter in den USA, hat jene Abkürzung in einem Aufsatz in der „Deutschen Rechtszeitschrift“ schon im Juni 1949, nur vier Wochen nach Verkündung des Grundgesetzes, eingeführt und problemlos gebraucht [10]; nach ihm verschiedene Lexika und eine Anzahl halbamtlicher Nachschlagewerke auch des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen (bzw. später: für innerdeutsche Beziehungen), insbesondere die verbreiteten, vielfach wieder aufgelegten Werke „SBZ von A bis Z“ [11]. Der Gebrauch der Staatsbezeichnungen in diesen Nachschlagewerken im Vergleich zu den jeweils gültigen Bezeichnungsrichtlinien wäre eine eigene Untersuchung wert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die „Kulisse“ (Berschin 1979, S. 77) der halbamtlichen Veröffentlichungen, der Politikberatung politik-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Proveninenz die Abkürzung BRD problemlos, wenngleich keineswegs überwiegend gebraucht hat; Bundesrepublik ohne Zusatz und Westdeutschland waren häufiger. 3.2 Zum öffentlichen Gebrauch in den 60er Jahren Was den allgemeinen Sprachgebrauch insbesondere in den westdeutschen Medien der 60er Jahre betrifft, haben Helmut Berschin (vgl. Anm. 4) und zuletzt Ute Röding-Lange in ihrer Dissertation (1995) [12] Zählungen an verschiedenen Zeitungen durchgeführt. Ergänzend lassen sich die Häufigkeitstabellen bei Hellmann (1992) [13] zu einer Reihe von Staatsbezeichnungen und Adjektiven heranziehen, die auf dem „Bonner Zeitungskorpus“ und dessen Zeitungsquer- <99> schnitten der WELT und des „Neuen Deutschland“ der Jahrgänge 1949 bis 1974 beruhen. Bisher nicht untersucht wurde der Gebrauch in einer linksliberalen Zeitung wie der „Frankfurter Rundschau“, insofern ist das folgende Bild unvollständig: Mit Bezug auf die Gesamtheit beider Staaten wird stark überwiegend Deutschland verwendet; deutsch auch schon teilweise reduziert auf ‘westdeutsch’; für den gesamtdeutschen Bedeutungsgehalt wird auch schon gesamtdeutsch, etwas seltener auch innerdeutsch gebraucht. Für die Bundesrepublik dominiert bei weitem Bundesrepublik ohne Zusatz (nur bei sehr offiziellen bzw. amtlichen Anlässen Bundesrepublik Deutschland). Westdeutschland, westdeutsch folgen an zweiter Stelle; bundesdeutsch folgt mit großem Abstand; bundesrepublikanisch ist äußerst selten. BRD wird in den Medien nur selten gebraucht (in der BZK -Auswahl der WELT 1964 nur 3-mal belegt), häufig ist es dagegen, wie oben gesagt, in der halboffiziellen „Kulisse“ der Bonner Ämter und Behörden, in sozial- und politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen und in Nachschlagewerken seit den 50er Jahren. Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 258 Im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR dominieren Mitte der 60er Jahre Westdeutschland und westdeutsche Bundesrepublik oder Bundesrepublik ohne Zusatz, seltener und offizieller auch Deutsche Bundesrepublik, gelegentlich abgekürzt als DBR ; in polemischen Texten auch westdeutscher Separatstaat, Bonner Staat u. dergl. BRD kommt nicht vor, so wenig wie die Vollform. Der westdeutsche Gebrauch von Deutschland für beide Staaten wird ebenso bekämpft wie dessen Gebrauch nur für die BRD ; man sah darin - und in der Abkürzung - einen „revanchistischen Herrschaftsanspruch“ bzw. eine „Alleinvertretungsanmaßung“ gegenüber der DDR . 4. Zur „Abkürzungs-Jagd“ Die neue sozialliberale Bundesregierung hob im Jahre 1971 die Bezeichnungsrichtlinien von 1965 zunächst ersatzlos auf, formulierte aber im März 1974 einen „Gemeinsamen Beschluß der Regierungschefs des Bundes und der Länder“, der allerdings nur die Vollform Bundesrepublik Deutschland positiv regelte (ohne Erwähnung der Abkürzung). Beides war für die damalige CDU/ CSU/ FDP-Opposition Anlass zu zahlreichen Anfragen im Bundestag im Stile der eingangs zitierten. Ich zähle zwischen 1971 und 1988 15 Anfragen (mit Antworten und zahlreichen Zusatzfragen), zwei Kleine Anfragen und eine Große Anfrage im Bundestag (u.a.) zum Thema Staatsbezeichnung, dazu eine Bundespressekonferenz zur Abkürzungsfrage bei internationalen Sportveranstaltungen. Mit erstaunlichem Kontrolleifer wurde nicht nur jeder amtliche und halbamtliche Gebrauch, sondern auch medialer Gebrauch im In- und Ausland moniert und die Bundesregierung aufgefordert, solches zu unterbinden. Seit die DDR erstmals im Dezember 1969, häufiger dann seit Anfang der 70er Jahre und regelmäßig seit Abschluss des Grundlagenvertrages (1972) zum Gebrauch der Abkürzung BRD <100> übergegangen war, häuften sich in der BRD die Behauptungen, die Abkürzung sei ein „kommunistisches“, d.h. von der DDR in böser Absicht erfundenes und lanciertes Kürzel; wer es gebrauche, mache sich - bewusst oder unbewusst - zum Propagandisten der DDR [14]. Zweifellos richtig ist, dass die DDR den Ausdruck Deutschland - außer in historischen Zusammenhängen - vermied, dass sie sich in ihrer geänderten Verfassung von 1974 nicht mehr als „sozialistischer Staat deutscher Nation“, sondern als „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ bezeichnete, den Gebrauch von deutsch nur noch in Wendungen tolerierte, die auf die noch bestehenden ethnischen Gemeinsamkeiten rekurrierten („die bei- Das „kommunistische Kürzel BRD “ 259 den deutschen Staaten“, „auf/ von deutschem Boden“ o.ä.), dass sie den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch bekämpfte und sich stets für den besseren deutschen Staat „auf dem Wege zur sozialistischen Nation“ erklärte. Ob sie deshalb die Abkürzung übernommen hat, ist, wie noch zu erläutern ist, zu bezweifeln. Und dass deshalb die Bundesrepublik diese (eigene) Abkürzung vermeiden musste, ist so nicht zu begründen. Es muss eine frustrierende Arbeit gewesen sein, den Nichtgebrauch des Kürzels zu überwachen. Denn immer wieder erhoben sich in der Presse (selbst in der WELT und der FAZ), auch in Leserbriefen, Stimmen, die vor Übereifer warnten oder den Gebrauch der Abkürzung immer noch erträglicher fanden als den gleichsetzenden Gebrauch von Deutschland mit ‘Bundesrepublik’ [15]. Einen solchen Gebrauch empfahlen die Bayerischen Richtlinien von 1974 [16], die ausdrücklich nicht nur den amtlichen, sondern den Sprachgebrauch „aller Bürger Bayerns“ regeln wollten: Nach dem Grundgesetz kommt dem Namen unseres Staates im Sinne des geschichtlichen und politischen Selbstverständnisses der Deutschen eine hohe Bedeutung zu. Die Verwendung der im Grundgesetz nicht vorgesehenen Kurzform „ BRD “ wird diesem Anspruch nicht gerecht. Der Gebrauch der Abkürzung führt vielmehr dazu, daß der Name „Bundesrepublik Deutschland“ durch eine Formel ersetzt wird, die die geschichtliche Identität der Deutschen nicht mehr erkennbar werden läßt und die Worte „Deutschland“ und „deutsch“ zunehmend aus dem Bewußtsein des In- und Auslandes verdrängt. Die Kurzform „ BRD “ sollte daher nicht verwendet werden. Das entspricht auch dem Beschluß der Regierungschefs des Bundes und der Länder vom 31. März 1974. ... Die Begriffe „Deutschland“ und „deutsch“ können stets dann verwendet werden, wenn aus dem Sachzusammenhang hervorgeht, daß sie auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen sind. Das Attribut „bundesrepublikanisch“ sollte nicht gebraucht werden. ... An diesen Richtlinien vor allem orientierten sich nicht nur die Argumente der Abkürzungsgegner, sondern auch die Gegenkritik. Nicht nur das Verbot der Abkürzung [17] und seine Begründung, sondern mehr noch die explizite Beschränkung des Gebrauchs von Deutschland, deutsch auf die Bundesrepublik wurde als <101> unlogisch und letztlich politisch kontraproduktiv kritisiert [18]; diese Beschränkung müsse dazu führen, dass die DDR und ihre Bewohner im Bewußtsein der Bundesdeutschen als nicht mehr Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 260 ‘deutsch’ „ausgegrenzt“ würden [19]. In der Tat haben alle einschlägigen Untersuchungen erwiesen, dass dies eintrat: In den 70er und 80er Jahren bezogen sich bis zu 90 Prozent aller Belege für Deutschland/ deutsch auf die Bundesrepublik unter Ausschluss der DDR [20]. Als Ersatzbezeichnungen für den „aus dem Bewußtsein verdrängten“ gesamtdeutschen Inhalt hatten sich gesamtdeutsch, innerdeutsch, mehr noch aber deutsch-deutsch eingebürgert. Die „Wortkarriere“, die deutsch-deutsch inzwischen gemacht hatte (vgl. Berschin 1986), war dieser semantischen Verkürzung auf den von Bayern explizit empfohlenen separat-westdeutschen Wortinhalt zu verdanken. Damit soll nicht behauptet werden, der Verlust an gesamtdeutschem Wortinhalt sei monokausal dieser bayerischen Richtlinie geschuldet. Keine Richtlinie kann (in einer prinzipiell offenen pluralistischen Gesellschaft) einen Sprachgebrauch ins Gegenteil umkehren. Sie kann aber trendverstärkend oder -abschwächend wirken. Hierin lag die Gefahr: den Trend zur Ausklammerung der DDR-Deutschen aus dem gesamtnationalen Wir-Bewusstsein zu verstärken. Die gleichzeitigen Umfrageergebnisse, die Mehrheit der Bevölkerung sei grundsätzlich für die Wiedervereinigung, sprechen nicht dagegen [21]. 1986 nannte der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek die Bayerische Regelung (und vergleichbare andere) im Lichte der eingetretenen Bedeutungsreduzierung „verfassungswidrig“, die Abkürzung BRD und die Kurzform Bundesrepublik dagegen „verfassungsrechtlich unbedenklich“ [22]. Das Bezeichnungsproblem als solches hat sich mit der Vereinigung erledigt. Das mentale Problem allerdings nicht: Die sozialwissenschaftliche/ sozialpsychologische Fachliteratur der Nachwendezeit hat oft konstatiert, dass die Westdeutschen mentale Schwierigkeiten haben mit der Einsicht, dass Bürger der DDR Deutsche sind wie sie selbst und dass der Begriff Deutschland die ehemalige DDR mit einschließt - mit allen Rechten und Pflichten, auch der Pflicht aller, für gleiche Lebensverhältnisse zu sorgen. Die Bayerische Staatsregierung muss sich vorhalten lassen, dass sie mit ihren Richtlinien und der Rigidität ihrer Durchsetzung mehr als andere dafür mitverantwortlich ist, dass sich solche mentalen Schwierigkeiten in den 70er und 80er Jahren in der Bundesrepublik ausbreiten und verfestigen konnten. Das „kommunistische Kürzel BRD “ 261 5. Zu zwei Einzelfragen Im Rahmen dieses Beitrags soll auf zwei Fragen eingegangen werden, die in der bisherigen Literatur, wie mir scheint, noch nicht ausreichend geklärt wurden: <102> 1) Wann und warum wurde die Abkürzung BRD in staatlichen Richtlinien der Bundesrepublik erstmals negativ geregelt? 2) Wann und warum ging die DDR zum Gebrauch der Abkürzung BRD über? Zu Frage 1: Bis 1964 waren die Eigenbezeichnungen für die Bundesrepublik Deutschland weder positiv noch negativ geregelt. Die Abkürzung BRD wurde - neben anderen Bezeichnungen - problemlos gebraucht. Erstmals in den Bezeichnungsrichtlinien des Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen von 1965 wird die Abkürzung BRD negativ geregelt, zugleich auch Bundesrepublik ohne Zusatz. Eine Begründung wird nicht gegeben. Dies bedeutet einen Bruch mit den bisherigen Bezeichnungstraditionen, sowohl den amtlichen und halbamtlichen wie den allgemeinen. Wie ist dieser Bruch zu erklären? Gewiss nicht mit einem geänderten Sprachgebrauch in der DDR, denn dort war, wie gesagt, die Abkürzung BRD gar nicht zugelassen. Also können nur andere, nämlich außen- oder innenpolitische Gründe die Ursache sein. Mangels offizieller Begründungen können nur Vermutungen angestellt werden: 1. Der Alleinvertretungsanspruch und sein außenpolitisches Instrument, die „Hallstein-Doktrin“, waren Mitte der 60er Jahre nicht mehr unumstritten. Verschiedene Staaten hatten sich darüber hinweggesetzt, andere wählten Zwischenlösungen, z.B. die Zulassung von DDR -Handelsvertretungen und Konsulaten. Die Bundesregierung, defensiv gefangen in der eigenen Doktrin, musste alles vermeiden, was nach Parallelität oder gar Gleichartigkeit der beiden Staaten aussah. Die beiden Abkürzungen DDR / BRD konnten eine solche Gleichartigkeit „suggerieren“, wie es oft hieß. 2. In der Bundesrepublik gab es Mitte der 60er Jahre schon Kritik an der starren Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR ; sie erschien zunehmend als ungeeignet, den unhaltbaren Kalten Kriegszustand zwischen DDR und BRD aufzulockern. Obwohl die Gruppe der „Anerkennungsfreunde“ damals - d.h. vor 1967 - die Abkürzung BRD nicht einmal häufig gebrauchte, scheint die Bundesregierung auch gegenüber diesem vereinzelten „oppositionellen“ Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 262 Gebrauch eine Abwehrfront für zweckmäßig gehalten zu haben. Wer BRD sagt - so könnten Hardliner gefolgert haben -, sagt auch DDR, und schon dies galt als eine Form der unerwünschten Anerkennung. Ein Verbot dieser bis dahin unproblematischen bundesdeutschen Abkürzung erschien somit als zusätzliches Abwehrmittel in der innen wie außen bröckelnden Front der Nichtanerkennung. Es diente, so kann man folgern, vor allem der terminologischen Blockade bzw. der Ausgrenzung möglicher Anerkennungsfreunde. <103> Zu Frage 2: Im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR ereignete sich im Dezember 1969 eine kleine terminologische Revolution. Vorausgegangen waren Versuche der neuen sozialliberalen Regierung, die DDR zu Verhandlungen über mehr Kontakte und „menschliche Erleichterungen“ zu bewegen. Walter Ulbricht unterbreitete nun als Staatsoberhaupt („Vorsitzender des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik“) dem Staatsoberhaupt der Bundesrepublik, dem „Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Gustav Heinemann“, den „Entwurf eines Vertrages über die Herstellung völkerrechtlicher Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland“ (ND vom 18./ 19. Dezember 1969, S. 1). In diesem Vertragstext wie auch im Kommentar werden in sorgfältig ausbalancierter diplomatischer Wortwahl die beiden Vollformen wie auch die beiden Abkürzungen „zwischen der DDR und der BRD“ stets parallel gebraucht. Von Diffamierungsversuchen ist in diesem Text nichts zu spüren, um so mehr von der Intention, von der BRD als gleichrangiger Staat anerkannt zu werden. In dieser Ausgabe erschien die Abkürzung BRD zum ersten Mal in der Geschichte des „Neuen Deutschland“ hochoffiziell auf Seite 1. In einem Jahresrückblick im ND heißt es nochmals: „19. Dezember: DDR unterbreitet den Entwurf eines Vertrages über die Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen zwischen der DDR und der BRD“ (ND vom 31.12.69, S. 5). Allerdings hatte das ND die terminologische Änderung unauffällig vorbereitet: In den Monaten zuvor druckte das ND gelegentlich übersetzte Zitate aus den führenden Organen der „Bruderländer“ ab, in denen die Abkürzung BRD gebraucht wurde, so z.B. aus der ungarischen Zeitung „Magyar Nemzet“: „Dieser relative Frieden (= in Europa) kann nur dann dauerhaft werden, wenn die BRD -Regierung den Status quo anerkennt, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildete“ ( ND 2.8.69, S. 6). Das „kommunistische Kürzel BRD “ 263 Die Änderung in der Bezeichnung wurde nicht sofort konsequent vollzogen. Ulbricht selbst verwendete weiterhin auch die Bezeichnungen deutsche Bundesrepublik, häufiger noch westdeutsche Bundesrepublik; Honecker nach 1971 dann - jedenfalls in offiziellen Reden - nicht mehr. Seit 1972 wurde BRD im ND zur alleinigen Bezeichnung, neben der Vollform, die offiziellen Anlässen vorbehalten blieb. Je mehr die DDR sich auf Verhandlungen mit der BRD, die sie ja wünschte, einließ, um so mehr ging sie zur Abkürzung BRD über und um so geringer wurde zugleich der Anteil an herabsetzenden Bezeichnungen wie Westdeutschland, westdeutsche Bundesrepublik, Bonner/ westdeutscher Separatstaat, Bonner Staat der Imperialisten/ Revanchisten/ Militaristen etc. Es gibt eine klare Korrelation <104> zwischen dem Rückgang verbaler politischer Beschimpfung und der Zunahme der Abkürzung BRD seit Abschluss des Grundlagenvertrages im Jahre 1972. Leider sind mir keine offiziellen Stellungnahmen der DDR bekannt, die verbindlich Aufschluss über die Motive dieser Terminologie-Änderung geben könnten. Aber ganz auf eigene Spekulation sind wir doch nicht angewiesen: In einem DDR-Sammelband (1977) äußert Christine Keßler eine Vermutung bezüglich der Intention dieser Übernahme [23]. Ihr Beitrag hält sich selbstverständlich an die in der DDR nun geltende Sprachregelung, von der Bundesrepublik als BRD zu sprechen. Zentral für die Untersuchung von Staatsbezeichnungen ist bei ihr die Kategorie der „Adäquatheit“ („ adäquat“ bzw. „ adäquat“). Die Bezeichnung Deutschland als solche oder auch im Namen Bundesrepublik Deutschland sei „-adäquat“, weil sie „den Bedingungen in der objektiven Realität nicht entspricht“ (S. 45). Das Feld der Staatsbezeichnungen sei Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen gewesen: „ ... durch den Abschluß des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland (wurden) normale, dem Völkerrecht entsprechende zwischenstaatliche Beziehungen hergestellt. Das hat auch Einfluß auf die Wahl der entsprechenden Benennungen, auch wenn noch immer nicht alle Zeitungen der BRD die offizielle Bezeichnung für die DDR wählen.“ (S. 22) „... für eine Reihe von Staaten (sind) von den Eigennamen Kurzformen gebräuchlich ..., so USA , UdSSR , DDR , BRD ... Primär wirkt hier das Prinzip der Sprachökonomie, denn die Beziehung zur vollen Form ist überwiegend ohne weiteres herzustellen. Dem Umstand, daß die Kurzform den Verlust an mor- Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 264 phologischer Motivation zur Folge haben könnte, wird vermutlich mit der Bevorzugung der Kurzform BRD statt Bundesrepublik Deutschland in der Presse der DDR Rechnung getragen. ...“ (S. 48) „Die Bezeichnung Westdeutschland für die BRD ... (wird) in jüngster Zeit im Sprachgebrauch der DDR vermieden. Mit der Verwendung der offiziellen Benennung BRD bekundet die DDR ihr Bestreben, auch auf dieser Ebene den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD einzuhalten.“ (S. 52) Wer berücksichtigt, dass solche Äußerungen zu politisch so hoch brisanten Themen in der DDR sicher nicht in Eigenverantwortung des Autors formuliert, sondern doppelt und dreifach geprüft und „nach oben“ abgesichert wurden, wird diese Äußerung einer Linguistin ernst nehmen müssen. BRD gilt einfach als die „offizielle Benennung“, die nun (in der DDR) zu respektieren ist. Dies deckt sich mit unserer Interpretation des ND vom 18./ 19. Dez. 1969; es deckt sich überhaupt nicht mit den sonst üblichen westdeutschen Interpretationen für die angeblichen Motive einer „Diskreditierung“, „Diffamierung“ der Bundesrepublik als Teil des ideologischen Kampfes etc. - BRD als ideologisch weniger befrachtete Kompromissformel - das entspricht ziemlich genau den Motiven, <105> weshalb man in der Bundesrepublik zwar die Abkürzung DDR gebrauchte, hingegen nur ungern und nur bei sehr offiziellen Anlässen die Vollform Deutsche Demokratische Republik. Nicht ausschließen kann man allerdings, dass die DDR-Führung neben dem Streben nach politischer und terminologischer Gleichrangigkeit noch ein weiteres Motiv hatte: Da ihr natürlich bekannt war, dass die Abkürzung BRD im (amtlichen) Sprachgebrauch der Bundesrepublik tabuisiert war, sah sie in deren Übernahme vielleicht auch eine Möglichkeit, die BRD in Schwierigkeiten zu bringen - was ihr in der Tat gelungen ist. Eine solche Gelegenheit, den Gegner in dessen eigenen Fallen zu fangen, bekommt man ja nicht alle Tage. Das ist freilich spekulativ. Es ist zu hoffen, dass Recherchen in den heute zugänglichen Archiven der DDR auch diesen Punkt noch klären können. Das „kommunistische Kürzel BRD “ 265 Anmerkungen und Literatur 1 Quelle: Bundestags-Protokolle 8. Wahlperiode, 72. Sitzung, 16.2.1978 (S. 5684f.). 2 Fleischer, Wolfgang 1984: „Aspekte der sprachlichen Benennung“. (= Sitzungsberichte der Akademie d. Wissenschaften der DDR - Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1984, Nr. 7/ G) Berlin (Akademie-Verl.); (aktualis. Vortrag v. 22.1.81 und 18.2.82), hier S. 9. 3 Aus eigener Erfahrung: Bei Büchern, die vom BMIB durch einen Druckkostenzuschuss gefördert wurden, verlangte das Ministerium nur auf dem Titelblatt die volle Namensform, im Text wurde die Abkürzung nicht beanstandet. 4 Berschin, Helmut 1978: „Die Abkürzung ‘ BRD ’. Entstehung, Verbreitung, Gebrauch, Bewertung“. In: Sprachdienst H. 6, S. 105-109. Ders. 1979: „Deutschland - ein Name im Wandel. Die deutsche Frage im Spiegel der Sprache“. (= Analysen und Perspektiven, hg. von Wolfgang Bergsdorf und Warnfried Dettling, Bd. 1), München/ Wien (Olzog). Ders. 1979a: „Deutschland - wo liegt es? Deutschland = ‘Bundesrepublik’? Bestandsaufnahme, Ursachen und Bewertung eines Bedeutungswandels“. In: Sprachdienst H. 12, S. 177-181. Ders. 1980: „Wie heißt das Land der Deutschen? Zur sprachpolitischen Bewertung des Namens ‘Deutschland’ und der Namen der beiden deutschen Staaten“. In: Deutschland Archiv H. 1, S. 61-77. Ders. 1986: „Deutsch-deutsch. Eine Wortkarriere“. In: Deutschland Archiv H. 12, S. 1322-1326. 5 Feigs, Walter 1971: „Zum Deutschlandbegriff im Norwegischen. Ein methodologischer Beitrag zur Bedeutungsforschung“. In: Muttersprache Jg. 31, H. 2, S. 77-97. 6 Römer, Karl 1975: „Was ist Deutschland? “. In: Deutschland Archiv H. 8, S. 856- 866, hier S. 858f. 7 Walther, Helmut u.a. in „Sprachdienst“ 1977, S. 150-151; ders. 1988: „ BRD (1950)“. In: Sprachdienst H. 4, S. 103-104. 8 Leserdiskussion u.a. im Sprachdienst 1988, S. 188. 9 Walther, Helmut 1988: „ BRD und ‘ BRD ’ - gemeinsam 1949“. In: Sprachdienst H. 6, S. 164-166, dort mit Faksimile-Abdruck der Erstbelege. <106> 10 Grewe bekannte sich in einer Zuschrift an den „Sprachdienst“ 1989, H. 1, zu seiner Erfindung: „ ... ich kann nicht bestreiten, daß ich (das Kürzel) 1949 in den genannten Artikeln ganz unbefangen ... benutzt habe - aus ganz praktischen Gründen. ... Stutzig wurde man ja erst, als die DDR dieses Kürzel begierig aufgriff, um nicht der Bundesrepublik die Bezeichnung Deutschland zu überlassen. ... Der Ahnennachweis für das Kürzel BRD ist besonders pikant, weil ich gleichzeitig als einer der Väter des sogenannten Alleinvertretungsanspruches ... gelte.“ 11 Mir liegen folgende Ausgaben vor: „ SBZ von A-Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands“, hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Redaktion: Günter Fischbach); 2. Aufl. Bonn 1954 (mit einem Vorwort von Bundesminister Jakob Kaiser); 8. Aufl. Bonn 1963 (mit einem Vorwort von Bundesminister Rainer Barzel); mit verändertem Zu den sprachlichen Differenzen im geteilten Deutschland 266 Titel: „A bis Z - Ein Taschen- und Nachschlagebuch über den anderen Teil Deutschlands“, 11. Aufl. Bonn 1969 (mit einem Vorwort von Bundesminister Herbert Wehner). 12 Röding-Lange, Ute 1995: „Bezeichnungen für ‘Deutschland’ in der Zeit der ‘Wende’. Dargestellt an ausgewählten westdeutschen Printmedien“. Diss. phil. Univ. Würzburg. (Zur Abkürzung BRD s. dort S. 131-135; zur Kurzbezeichnung Deutschland S. 135-143.) Sehr materialreich; auch umfangreiche Literaturangaben, allerdings ab 1992 nicht ganz vollständig. 13 Hellmann, Manfred W. 1992: „Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpus-Wörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten.“ (= Forschungsberichte des IDS Bd. 69.1-69.3); Tübingen (Narr). Häufigkeitstabellen zu vielen der Staatsbezeichnungen finden sich in Bd. 3. 14 Besonders das „ ZDF -Magazin“ mit seinem Moderator Löwenthal tat sich darin immer wieder hervor, wenngleich nicht ohne ironische Repliken z.B. in der Sendereihe „Kennzeichen D“. Löwenthal unterstützte auch die Verteilung von Autoaufklebern „ BRD Nein! - Bundesrepublik Deutschland Ja! “ (1978). 15 So z.B. Renate Gräfin Lambsdorff (Bonn) an die FAZ vom 19.4.84: „Immer wieder verwendet sie (= die FAZ ) die Begriffe Bundesrepublik Deutschland und Deutschland als Synonima. ...“ [Es folgen zahlreiche Beispiele aus der FAZ .] „Auch wir sehen, daß Worte wie bundesdeutsch oder westdeutsch Kunstworte oder ungenaue Termini sind. Und das Kürzel BRD ist schauderhaft. Aber es ist immer noch besser, sie zu verwenden, als die Deutschen in der DDR durch falschen Gebrauch der Sprache aus der gemeinsamen Nation herauszudrängen, sie quasi aus ihr auszubürgern.“ 16 Quelle: Verwendung der Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland“. Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung vom 3. September 1974 Nr. B III / 3- 201-7-18. Bayerischer Staatsanzeiger Nr. 36, 29. Jg. 1974, S. 1. 17 Das bayerische Verbot wurde in den 80er Jahren mehrfach „aus gegebenem Anlass“ wiederholt (so am 24.9.1984 im „Münchner Merkur“ mit ausdrücklicher Aufforderung an die Lehrer, den Gebrauch von BRD als inhaltlichen Fehler anzustreichen). Die Bayerische Staatskanzlei beschränkte sich dabei nicht nur auf Bayern. Auch das Institut für deutsche Sprache in Mannheim (Baden-Württemberg) bzw. ich als Autor eines Leserbriefs an die WELT (22.11.79) wurden mit Brief vom 8.8.83 von der Bayerischen Staatskanzlei aufgefordert, von der verpönten Abkürzung Abstand zu nehmen. 18 Berschin 1980, S. 72f., kommentiert die „Logik“ dieser Richtlinie so: „Hier meint Deutschland ‘Bundesrepublik’, und in dieser Bedeutung kann BRD mit Deutschland konkurrieren - was zu verhindern ist, weil nach amtlicher Logik damit die Bedeu- <107> tung ‘Gesamtdeutschland’ von Deutschland verlorengeht. Der bayerische Erlaß empfiehlt also, Deutschland zu sagen, wenn man ‘Bundesrepublik’ meint, und dabei zu glauben, man meine ‘Gesamtdeutschland’“. Das „kommunistische Kürzel BRD “ 267 19 So auch bei Hellmann, Manfred W. 1988: „Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? Acht Thesen zur öffentlichen Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik“. In: Goppel, T. / G. v. Lojewski / H.-W. Eroms (Hg.): Wirkung und Wandlung der Sprache in der Politik. Symposium an der Universität Passau in Zusammenarbeit mit dem Aktionskreis Wirtschaft Politik Wissenschaft e.V. München vom 25. und 26. November 1988; Passau (Eigendruck der Universität), S. 89-115; hier S. 110-112. [= Beitrag Nr. 7 in diesem Band.] 20 Vgl. die Tabellen bei Berschin 1979, S. 80, 90, 91; Berschin 1980, S. 69 und S. 75 (dort für die Auslandspresse); vgl. auch die einschlägigen Wortartikel und ihre Häufigkeitstabellen bei Hellmann 92 (s. Anm. 13). 21 Als Beispiel vgl. Hilmer, Richard 1989: „ DDR und die deutsche Frage. Antworten der jungen Generation“. In: Deutschland Archiv, S. 1091-1100, hier bes. S. 1093f. 22 Dolzer, Rudolf (Hg.): „Bonner Kommentar Grundgesetz“. Loseblattsammlung. 52. Ergänzungslieferung November 1986; Zweitbearbeitung: Dietrich Murswiek, S. 37-40 (hier zur Überschrift des Grundgesetzes). Heidelberg (C.F. Müller Juristischer Verlag). 23 Keßler, Christine 1977: „Benennungen für Staaten und ihre Regierungen in der Presse der DDR und der BRD . Linguistische Untersuchungen zum Verhältnis von Sprache und Ideologie“. In: Linguistische Untersuchungen zur Sprache der Gesellschaftswissenschaften (= Reihe Linguistische Studien), Leipzig (Verl. Enzyklopädie), S. 16-83. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende Aus: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache 100, 2-3 (1990), S. 266-286. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Gesellschaft für deutsche Sprache.] DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme Das Neue Deutschland heute zu lesen ist, verglichen mit der Zeit vor der Wende, sprachlich ein Vergnügen. Inhaltlich mag man die im ND vertretenen Positionen ablehnen, auch sind bestimmte Einseitigkeiten unverkennbar. So spart das ND nicht mit Kritik an den desolaten Zuständen z.B. in der Wirtschaft, im Medienwesen, im Wohnungswesen der DDR, wohl aber ist es sehr sparsam mit der Benennung der dafür Verantwortlichen, nämlich der SED. Wohl beklagt das ND Erscheinungen wie Intoleranz, Manipulationen, Diffamierungen in der politischen Auseinandersetzung, thematisiert aber nicht seine eigene jahrzehntelange „Vorbildrolle“ in dieser Hinsicht. Und während früher mit der üblichen Schwarz-Weiß-Technik Ängste und Befürchtungen der Bevölkerung nur im kapitalistischen Westen vorkamen, erwähnt diese Zeitung heute Ängste, Sorgen, Befürchtungen, Furcht, Unruhe in der DDR- Bevölkerung in einer Ausgabe häufiger als früher in einem ganzen Jahrgang. Das politische Interesse hieran ist offenkundig, wenngleich nicht ohne reale Grundlage. Ebenso offenkundig ist das Interesse, die alten, völlig diskreditierten Schlüsselwörter real existierender Sozialismus und kommunistisch zu ersetzen durch demokratischer Sozialismus einerseits und stalinistisch/ Stalinismus andererseits. Andererseits befleißigt sich das ND einer neutralen, teilweise sogar positiven Berichterstattung auch über die Bundesrepublik Deutschland, zeigt Verständnis für die Schwierigkeiten der Regierung de Maizière, setzt sich argumentativ mit gegnerischen Meinungen auseinander. Nachrichtenauswahl und Differenziertheit in der Kommentierung sind heute nicht „parteilicher“ als etwa die der Welt während der sozialliberalen Koalition, eher sogar neutraler. Verschwunden 1 ist jener Gestus rechthaberischer Allmacht und hoheitsvoller Anweisung, jene ebenso unverwechselbare wie ermüdende Mischung aus 1 Der öffentliche Sprachgebrauch der DDR ist oft und unter sehr verschiedenen Aspekten beschrieben worden, von Walter Richters frühem Aufsatz von 1953 über Hugo Mosers Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 272 hochtrabendem Tribünenpathos und knöchernem Direktiven-Stil, die beflissene Titelsucht gegenüber den Machthabern und das permanente Selbstlob meist nur vorgetäuschter Erfolge. Keine Arbeiterklasse erscheint mehr als Ersatzlegitimation für die usurpierte führende Rolle der Partei; sie ist ebenso wie der Arbeiter-und-Bauern-Staat nicht nur aus der Verfassung, sondern auch aus dem ND verschwunden. Kein Bündnis ist mehr fest, unerschütterlich oder unauflöslich; keine Reihen gilt es zu festigen und zu sichern, die Einheit und Geschlossenheit der Partei oder aller fortschrittlichen/ antiimperialistischen/ antikapitalistischen Kräfte oder zwischen den sozialistischen Bruderländern und Bruderparteien ist nicht mehr zu verwirklichen; vielmehr kennt nun auch das ND den westlichen Ausdruck Schwesterpartei. Mängel werden nicht mehr kaschiert durch aktivierende, schönfärberische Wendungen wie Reserven noch besser erschließen, die wirtschaftliche Rechnungsführung immer umfassender durchsetzen, die allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit in der kommunistischen Erziehung der Jugend noch besser ausprägen und dergleichen mehr. <267> Attribute wie vertrauensvoll (in die Zukunft blicken), initiativreich (Massenbewegungen), schöpferisch (Anwendung bzw. Aneignung des Marxismus-Leninismus), ruhmreich (Sowjetarmee), siegreich/ erfolgreich (voranschreiten) sind nahezu oder ganz verschwunden, ebenso der sozialistische Wettbewerb, die Neuererbewegung, die Ehrentitel und Auszeichnungen wie Verdienter Aktivist, Verdienter Arzt des Volkes, Bester Dreher, Held der Arbeit und Orden wie die Arthur-Becker-Medaille, Banner der Arbeit, Stern der Völkerfreundschaft u.v.a. Der Staatsrat existiert nicht mehr, wie auch das verhaßte Ministerium für Staatssicherheit (MfS), statt dessen erscheint auch im ND, wenngleich eher in Leserbriefen, die (nicht: der! ) früher unschreibbare Stasi. Die Staatliche Plankommission hat sich wie der Nationale Verteidigungsrat, die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion, die Gesellschaft für Sport und Technik und die Betriebskampfgruppen wie auch viele andere Institutionen aufgelöst. Von Rechenschaftslegungen, Kandidatenaussprachen, Erfahrungsaustauschen als systemspezifischen Erscheinungen verordneter Kommunikation 2 ist nicht mehr die Rede, erst recht vermeidet das ND „Sprachliche Folgen“ 1962 bis zu den letzten Beiträgen von Hellmann, 1989c, und Oschlies, 1989b. 2 Diese und zahlreiche weitere hier vermerkte Wörter sind als Stichwörter bei Hellmann, 1990a, ausführlicher beschrieben und demnächst dort nachschlagbar. DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 273 Losungen mit der charakteristischen Gedankenstrich-Syntax wie Waffenbündnis mit der Sowjetunion - internationalistische Pflicht! , Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz für den Frieden! Vom Politbüro, dem Zentralkomitee, früher fast in jeder Ausgabe als allmächtige Instanzen erwähnt, ist keine Rede mehr (auch die PDS hat nun einen Parteivorstand), und selbst früher so hochfrequente Wörter wie Kollektiv, Brigade, Werktätige, Planerfüllung, Kennziffer findet man hier kaum noch. Statt dessen üben sich die ND-Journalisten im Gebrauch des ganzen westlichen Wirtschaftsvokabulars, wenn auch mit skeptischer Distanz, von der sozialen, ökologisch verantworteten Marktwirtschaft über Unternehmergewinne, Kapitalanlagen, Rendite bis zu Joint Ventures und Verkaufstraining; sie fordern Lohnerhöhungen und mehr betriebliche Mitbestimmung, setzen sich für eine pluralistische Medienlandschaft ein und akzeptieren die Stillegung unrentabler oder umweltgefährdender Betriebe. Vor allem aber fordern sie immer wieder die demokratische Mitwirkung der DDR-Bevölkerung am Vereinigungsprozeß ein und wehren sich gegen neue Bevormundung - in der Tat eine neue Haltung. Der ND-Journalist, früher allseitig und umfassend, konkret, komplex und breit die Parteimeinung verkündend, entdeckt heute das falls, wenn und aber, das einerseits und andererseits, das vielleicht, sicherlich und ungefähr, das etwa und die Ansicht - sogar die andersartige - wieder. 3 Von dem „frischen Wind“, den Christa Wolf im November 1989 durch die „weitgeöffneten Fenster“ spürte, hat das ND wohl am meisten profitiert. Und es soll nicht von vornherein an der Ernsthaftigkeit solchen Wandels gezweifelt werden. Selbstverständlich bezeichnet das ND die Institutionen, Organisationen, Einrichtungen der DDR mit ihren teils hergebrachten, teils schon neuen Namen; neben Bevölkerung der DDR wird weiterhin auch Staatsvolk und Volk der DDR gebraucht, ebenso wie allgemein übliche Wörter wie rekonstruieren/ Rekonstruktion und angedacht (vgl. dazu unten). Mit dem Wort sozialistisch wird im ND sehr vorsichtig umgegangen, man legt Wert auf demokratisch-pluralistische Ausdrucksweise. Sorgfältig redigiert war das <268> ND schon früher - in der Formulierung der SED-Verlautbarungssprache; sorgfältig redigiert ist es auch heute in ihrer Vermeidung. So gesehen ist das Wör- 3 Zum Gebrauch von Modalwörtern und anderen „Modifikatoren“ in ND und Welt vgl. Hellmann, 1986. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 274 terbuch der DDR-Spezifika auf Marginalien reduziert, zwar nicht über Nacht, wie manche früher prophezeiten, aber immerhin in einem Dreivierteljahr. Nimmt man also nur das ND als Quelle, ist die sprachliche Revolution in der DDR schon erfolgreich beendet - fast. Die Reste sind überschaubar. Das ist erstaunlich genug. Die Sprachforschung in beiden Staaten hat, alles in allem, mehr als 2000 DDR-spezifische Wörter, Bedeutungen, Wendungen, Gebrauchsweisen gesammelt und in Wörterbüchern nachgewiesen. Hinzu kommt mindestens die gleiche Anzahl an BRD-Spezifika. 4 An dieser Stelle ist mit Respekt auf das sechsbändige Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG) des Ost-Berliner Zentralinstituts für Sprachwissenschaft hinzuweisen, das bis Mitte der 70er Jahre als erstes und bisher einziges allgemeines deutsches Wörterbuch die Spezifika beider Staaten mit Vermerken wie (Neuwort/ Neuprägung/ Neubedeutung) „DDR“ bzw. „BRD“ und weiteren, weniger expliziten Hinweisen versah; an die 2.500 Wörter und Wendungen tragen solche Markierungen. Hinzuweisen ist auf die Glossare aus den 60er und 70er Jahren von H.H. Reich (1968) und H. Lehmann (1972) (letztere zum russischen Einfluß auf den Wirtschaftswortschatz) sowie auf die Spezialwörterbücher von Kinne / Strube-Edelmann (1981) und Martin Ahrends (1989); letztere enthalten jeweils ca. 800 bis 950 Stichwörter. Ein am ZISW in Arbeit befindliches Wörterbuch der in der DDR gebräuchlichen Neologismen 5 soll rund 8000 Stichwörter enthalten, darunter 1500-1800 DDR- Spezifika. Über die Bedeutung und Bewertung dieser quantitativ beträchtlichen DDR- Besonderheiten gab es in der Vergangenheit zum Teil heftige Auseinandersetzungen mit wechselnden Standpunkten (vgl. Hellmann, 1989 a), die von „Sprachspaltungs“-Prophezeiungen in der BRD und Erwartungen einer eigenständigen „nationalsprachlichen DDR-Variante“ in der DDR schließlich zu einem relativen Konsens führten 6 : Es gibt e i n e deutsche Sprache, bezogen auf das grammatische System, die Regeln der Wortbildung, den Grund- 4 H.D. Schlosser, 1989, ist „fest davon überzeugt, daß nicht die DDR sich schneller von einem gemeinsamen Ausgangspunkt entfernt hatte, sondern die Bundesrepublik“ (S. 40); diese „erfährt ungleich stärkere Innovationsschübe, auch auf sprachlichem Gebiet“ (S. 41). Auch wenn sich diese Vermutung empirisch nur schwer verifizieren läßt, spricht doch einiges für sie. 5 Vgl. Dieter Herberg, 1989, dort auch weitere Literaturangaben. 6 Einen konsensfähigen Ansatz in Abgrenzung zur bis dahin in der DDR öffentlich dominierenden Vier-Varianten-These formulierte zuerst Wolfgang Fleischer, 1983; vgl. auch die von ihm herausgegebene Kollektivmonographie Fleischer, 1987. DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 275 wortschatz und eine Reihe stilistischer Normen; es gibt aber auch erhebliche Besonderheiten im Wortschatz und im Gebrauch, teilweise auch in den Stilnormen, besonders im öffentlichen Sprachgebrauch. Zwar steht die DDR auch unter russischem Spracheinfluß, jedoch wächst der angloamerikanische, mit einer gewissen Verzögerung, auch in der DDR weiter an. In bezug auf den Gebrauch von Umgangssprache und Mundarten ist die Tendenz in beiden Staaten ähnlich, nämlich in bestimmten Kommunikationssituationen steigend; Gruppensprachen wie z.B. die der Jugend zeigen beiderseits beträchtliche Eigenständigkeit; die Tendenz zur fachsprachlichen Differenzierung, aber auch der Einfluß von Fachsprachen auf die Gemeinsprache steigt weiter an. Keine deutsche Kommunikationsgemeinschaft - so eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern <269> aus allen vier deutschsprachigen Staaten 1987 in Bern 7 - hat das Recht, ihre „Varietät“ der deutschen Nationalsprache als „Hauptvariante“ im Sinne eines dominierenden Normgefüges auszugeben, auch nicht die der Bundesrepublik als der bei weitem stärksten Kommunikationsgemeinschaft. 8 Auch nicht gegenüber der DDR, da von außen nicht zu entscheiden ist, was von den erkennbaren Spezifika nur als auferlegte, als quasi künstlich reproduzierte Verlautbarungssprache und was schon und unter welchen Umständen als Bestandteil der Standard- oder der Umgangssprache gelten kann. Wobei unterstellt wird, daß diese Unterscheidung von Belang ist. Nicht in dem Sinne, daß nur die zweite „eigentlich Sprache“ sei, die erstere aber nicht, sondern in dem Sinne, daß beide verschiedene Register des Sprachgebrauchs der Kommunikationsgemeinschaft DDR bilden, deren Elemente jedoch als zu einem der beiden Register gehörend - oder zu beiden! - markiert sind. Gerade diese Unterscheidung, in der Vergangenheit forschungspraktisch äußerst schwierig, wird jetzt möglich. Wer jetzt Wörter, Wendungen oder Stilmittel aus der Zeit vor der Wende gebraucht, tut es nicht mehr, weil er muß, sondern weil ihm in Jahrzehnten der Schnabel eben so gewachsen ist. 7 Auf der VIII . Tagung des Internationalen Deutschlehrerverbandes in Bern 1987 trafen sich vier Linguisten aus den vier deutschsprachigen Staaten zu einem Symposium „Nationale Varianten der deutschen Hochsprache“; es ist abgedruckt in dem von Zellweger 1987 herausgegebenen Tagungsband. 8 So vor allem Peter von Polenz in dem in Anm. 7 zitierten Podiumsgespräch, mit ausdrücklicher Zustimmung des DDR -Linguisten Wolfdietrich Hartung. - Die Diskussion über die „nationalen Varianten“ bzw. „Varietäten“ und das Konzept des „Plurizentrismus“ wurde in mehreren Beiträgen in der Zeitschrift für Germanistische Linguistik fortgeführt; dazu vgl. Polenz, 1988; Hellmann, 1989 b, und Dieckmann, 1989. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 276 Sprachliche Eigentümlichkeiten der DDR, wo immer sie auftauchen, können nicht mehr auf ein Oktroy zurückgeführt werden, sie müssen davon unabhängige, eigenständige Wurzeln im Sprachgebrauch haben, über deren Lebensfähigkeit allerdings erst die Zukunft entscheiden wird. Wie schon früher ist auch heute davor zu warnen, jemanden, der DDRspezifische Wörter und Wendungen gebraucht, für einen Anhänger des Systems, für einen Mitläufer, Funktionär oder überhaupt für etwas Besonderes zu halten. Gehen wir besser davon aus, daß der Gebrauch DDR-spezifischen Wortguts der Normalfall ist. Menschen müssen und wollen in jedem System leben, überleben und kommunizieren, und sie verwenden Wörter und Wendungen, die ihnen dafür geeignet erscheinen, gleich, woher sie stammen. Ich plädiere für das Recht der Menschen in der DDR, „DDRisch“ (Stefan Heym) zu reden, wenn sie dies kommunikativ für zweckmäßig halten, ohne daß man sie deswegen ausgrenzt. Dabei kann man sich heute darauf verlassen, daß es kommunikative Regulative gibt, die es den Kommunikationsteilnehmern ermöglichen, sozusagen „Umgangs-DDRisch“ vom Parteijargon zu unterscheiden. Es ist ein Unterschied und wird in der DDR auch so empfunden, ob jemand orientieren auf und einschätzen, daß gebraucht, Fakt ist ... und Zielstellung sagt, von unserem Kollektiv und meiner Brigade ... mit Wärme spricht und territorial statt regional gebraucht, oder ob ein anonym bleibender Beauftragter des Ministeriums für Bildung und Jugend auf den Antrag einer Elterninitiative, freie Schulen im Sinne der Waldorfschulen zuzulassen, folgende „Information“ übermittelt: <270> Das Ministerium wolle „das Konzept zur Weiterentwicklung unserer allgemeinbildenden Schulen (Thesen zur Schulreform usw.) verstärkt propagieren, um zu verdeutlichen, daß die bisherige Enge aufgehoben und Raum für breites Schöpfertum geschaffen wird“. (Volksstimme, Magdeburg, 21.3.1990.) Es würden „aus dem Westen angebotene Modelle“ mit einer (unangebrachten) „gewissen Euphorie“ übernommen, außerdem seien die erforderlichen Mittel „nicht vorhanden, weil nicht geplant“. Dazu die Volksstimme: „Welche Leistung des Verfassers, die ‘Enge’ zuzugeben“ - und: „Wem kommen bei diesem Ton nicht böse Erinnerungen an die Vergangenheit? “ In der Tat: Dies ist Geist aus dem Hause des Ministers für Volksbildung, Margot Honecker, das bis zuletzt zu den borniertesten aller SED-Institutionen gehörte, mit schlimmsten Auswirkungen für Geist und Seele der betroffenen Jugend. Und: Jeder merkt, besonders (aber nicht nur) an der Wendung Raum DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 277 für breites Schöpfertum schaffen, daß dies reinste SED-Verlautbarungssprache ist. Nicht nur die Presse, auch die Bürgerbewegungen und Runden Tische in der DDR schaffen sich Verdienste, wenn sie solche alten Handlungs-, Haltungs- und Sprachstrukturen aufdecken und anprangern. Die Kommunikationsgemeinschaft DDR befindet sich mitten in einem schwierigen, keinen Lebensbereich aussparenden umfassenden Veränderungs- und Anpassungsprozeß - auch sprachlich. Es kommt zu Verstehens- und Verständigungsschwierigkeiten auf beiden Seiten. Die Industrie- und Handelskammer Düsseldorf ließ ein in aller Eile hergestelltes Heft Wirtschaftsbegriffe in Ost und West an ihre Mitglieder verteilen, um die „Gefahr, aneinander vorbeizureden“, bei Verhandlungen mit DDR-Gesprächspartnern wenigstens zu mildern (vgl. Vorwort des Heftes 1990). Dies dürfte kein Einzelfall sein. Zweifellos geht der Informationsbedarf weit über Wirtschaftsbegriffe hinaus. Die germanistische Linguistik hat sich bisher, soweit ich weiß, dieser Informationsaufgabe noch nicht gestellt. Nun gab und gibt es in der Bundesrepublik Stimmen, die glauben machen wollen, das Problem existiere überhaupt nicht oder es habe sich von selbst erledigt. Als Beispiel (ein krasses allerdings) sei der Aufsatz von Wolf Oschlies im Deutschland-Archiv (DA) kommentiert: Sprache der Deutschen: Reißt, hält oder festigt sich das „einigende Band “? ! 9 Zuvor eine Bemerkung: Wolf Oschlies hat auf einer deutschlandpolitischen Tagung im Mai 1989 ein Referat gleichen Titels vorgelegt. Zwischen dieser Tagungsfassung und der Aufsatzfassung im DA besteht eine beträchtliche Differenz. Sie reicht vom Austausch unzutreffender Wortbeispiele über die Berichtigung offenkundig falscher Sachaussagen, Abschwächung übertriebener Wertungen und Umwandlung bestreitbarer Behauptungen in vorsichtigere Fragen bis zur Umkehrung von Behauptungen in ihr Gegenteil, zur Einfügung neuer Gesichtspunkte und neuer Literaturhinweise und zur Neuformulierung ganzer Abschnitte. Ich zähle über 30 deutliche Veränderungen - Nebensächlichkeiten nicht gerechnet -, und zwar überwiegend Verbesserungen. Dies wäre zu begrüßen als Zeichen besserer eigener Einsichten. Aber so einfach ist das nicht. Das Referat Oschlies' hatte nämlich schon auf der Tagung ein ausführliches, kritisches Korreferat ausgelöst. Dieses Korreferates, das nach eigenem Bekunden „stets griffbereit lag“, hat sich Oschlies bei der Überarbeitung seines Referates ausgiebigst bedient, verschweigt aber Vorlage und Autor. 10 Ist das nur Fahrlässigkeit? <271> 9 Der Aufsatz ist im wesentlichen ein Auszug aus dem im gleichen Jahr erschienenen Buch Oschlies', 1989b. 10 Vgl. Hellmann, 1989d. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 278 Wolf Oschlies' Leitthese findet sich am Schluß des Aufsatzes: „Sprachlich sind die Deutschen wiedervereinigt - waren sie je gespalten? “ (S. 116). Er verweist dabei nicht nur (zu Recht) auf die Unversehrtheit des grammatischen Systems, der Wortbildung und all der anderen vielen Übereinstimmungen, über die, wie oben (S. 268) dargelegt, spätestens seit 1983/ 84 sogar zwischen DDR- und BRD-Sprachwissenschaftlern weitgehend Konsens besteht, sondern überraschenderweise auch auf Wortschatz und Wortgebrauch: Er spricht von „geringen“, von „belanglosen Wortschatzdifferenzen“ (S. 108), vermutet sogar, der Westen habe der SED und Ulbricht die sprachliche Abgrenzung „förmlich eingeredet“ (ebd.). Er zitiert je einen polnischen und sowjetischen Linguisten mit Äußerungen, die sie so nicht getan oder später korrigiert haben, es gebe „außerhalb einer eng begrenzten politisch-ideologischen Terminologie keinerlei Sprachdifferenzen“ und „daß etwaige Differenzen wirklich nur im politischen Bereich zu suchen seien, daß sie an Zahl und Intensität rückläufig seien“ (S. 109). Gotthard Lerchner, den Urheber jener Formel von den „vier nationalsprachlichen Varianten des Deutschen“ (vgl. Lerchner, 1976) zitiert er beharrlich falsch: Lerchner hat nicht behauptet, die Literatursprache der DDR werde sich „zu einer völlig eigenständigen Sprache ausgliedern“ (W.O., S. 109 oben), sondern er hat gerade dies im Gegenteil „ins Reich der Spekulation“ verwiesen (Lerchner, 1976, S. 11). Zwar entdeckt Oschlies auch „jene DDR-spezifische Umgangssprache, die man im Westen ‘Code-Switching’ nennt“ (! ? ) (S. 110), aber: „Der O-Ton DDR-Alltag [...] unterscheidet sich von unsrigem so wenig, daß die geringen Differenzen wie eine Bereicherung unserer Sprache anmuten“ (S. 111). „Was gibt es in der DDR? Eine Handvoll reiner Neuwörter [...], mehr Neubedeutungen, die freilich die alte Bedeutung nicht aufgehoben haben, [...] und es gibt zahlreiche [! ] Neuprägungen, die manchmal sehr neu, dann aber wieder uralt anmuten [...]“ (S. 111). Zum russischen Spracheinfluß fallen ihm nur „ein paar kulinarische Anleihen, [...] wenige direkte Russizismen, [...] etwas mehr Übertragungen“ ein - „und das war's auch schon“ (S. 112). (Es folgt der Hinweis auf Datsche.) Nein, hier fängt's erst an, und Wolf Oschlies als Slawist muß dies wissen. 11 Sogar selbst-gefundene Angaben 11 Vor allem H. Lehmann, 1972, mit der dort erwähnten früheren Literatur; vgl. auch den einschlägigen Abschnitt (7.3.3. „Entlehnungen aus dem Russischen“) bei Fleischer, 1987, und die dort vermerkte Literatur. Richtig ist, daß Datsche das einzige auch umgangssprachlich heimisch gewordene russische Fremdwort ist. Darüber hinaus geht es mehr um indirekte Entlehnungen nach russischem Sprachmuster, auch übrigens bei einigen der im Glossar (3. Abschnitt) erwähnten Wörter bzw. Wendungen. DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 279 sind bei Oschlies vor verblüffenden Uminterpretationen nicht sicher: Er untersucht das Wörterbuch der DDR-Jugendsprache von Margot Heinemann (1989) und kommt in der Tagungsfassung zu dem Ergebnis, daß etwa ein Drittel der gebuchten Wörter oder Wendungen im Westen so nicht vorkämen. Darauf hingewiesen, daß dies doch enorm viel sei, heißt es jetzt in der DA-Fassung: „[...] und die wenigen DDR-Spezifika könnte man an einer Hand abzählen“ (S. 114). Die Liste ließe sich fortsetzen. Wie schafft es jemand, der in seinem eigenen kurzen Aufsatz über 180 spezifische Wörter und Wendungen als Beispiele bringt, die Differenzen in Wortschatz und Wortgebrauch nahezu zu leugnen? Auf dreierlei Weise: Zum ersten übergeht er die gesamte einschlägige empirisch begründete Wortforschung; insbesondere die oben (S. 268) genannten Wörterbücher und Glossare, obwohl er sie kennt. Zum zweiten definiert er für sich selbst, was Sprache und Wortschatz sei oder nicht sei: Die „Verlautbarungssprache“ der Staatsmacht jedenfalls nicht, denn „die Menschen lehnen eine politisierte <272> Sprachkonvention ab“ (S. 111); sofern ihre Besonderheiten auch in der Alltagssprache vorkommen, auch nicht, denn „gezwungenermaßen verwenden die Menschen den Wortschatz, den diese denaturierte Differenzierung hervorbringt. Was sollen sie sonst reden? “ (S. 116) - eine gute Frage! BRD-Spezifika, so sagt er, werden ohnehin früher oder später von der DDR- Bevölkerung übernommen - also auch sie nicht. Und - zum dritten - für einen etwa verbleibenden „Rest“ übernimmt er die Transfer-These, die besagt, daß DDR-Bürger in der Lage und bereit sind, im Kontakt mit Westbesuchern ihre Besonderheiten in beiderseits verständliches Deutsch zu transferieren. Damit sind dann alle Differenzen beseitigt. Für die, die es sich nicht ganz so einfach machen wollen, hat Oschlies harte Kritik bereit: Es wäre alles gar kein Problem, „gäbe es nur nicht den bundesdeutschen lexikographischen Masochismus, der jedes DDR-Neuwort als Beleg zunehmend differenter Lebensbereiche nimmt und daraus schwärzeste Zukunftsaussichten ableitet“ (S. 115). Und was die von diesen Masochisten gesammelten Spezifika betrifft: „Aber werden ganze 8 übrigbleiben, wenn man sie kräftig abklopft? Oder 80? Mehr gewiß nicht! “ (S. 111). Sicher nicht, wenn man so klopft wie Wolf Oschlies. Lohnt sich die Auseinandersetzung mit so fragwürdigen Thesen und so fragwürdiger Vorgehensweise überhaupt? Sie ist m.E. aus zwei Gründen notwendig: Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 280 1) Ich verstehe Oschlies' Aufsatz, ebenso wie sein fast gleichzeitig erschienenes Buch (W.O., 1989b), als einen massiven Versuch der Re-Ideologisierung des Themas der sprachlichen Ost-West-Differenzierung. Um der These willen, daß die SED bei ihren Bemühungen, eine eigenständige „sozialistische Nation“ zu etablieren, schon und vor allem sprachlich gescheitert sei (was zweifellos zutrifft, nur hat sie dies nur vorübergehend und nicht sehr konsequent versucht), und daß das „einigende Band der Sprache“ hält - um dieser - politisch sicher „auf Linie“ liegenden - These willen schiebt er die ganze empirische Forschung in Ost und West ins Abseits des „Masochismus“, stellt im Grunde auch seine eigenen, beispielreichen Untersuchungen zur Jugend- und Soldatensprache der DDR 12 in Frage, verändert Zitate, macht sich selbst einen passenden Sprachbegriff zurecht und selektiert die sprachlichen Fakten nach Gusto - er tut also das, was W. Dieckmann 1967 der bundesdeutschen Forschung der 60er Jahre vorhielt: Er belegt mit passend ausgewählten Beispielen nur noch, was er politisch schon „weiß“: Die Deutschen sind sprachlich vereinigt und waren es immer. An einer solchen - noch dazu methodisch leicht anfechtbaren - Ideologisierung ist Kritik geboten. 2) Die DDR-Bevölkerung hat sich in einem gewaltigen, revolutionären Kraftakt von den alten Machtstrukturen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur befreit oder ist im Begriff, sie umzubauen. Sie hat das Verschwinden jener massiven Decke aus repressiven Sprachkonventionen als Befreiung, auch als sprachliche Befreiung, empfunden und gewollt. Das war und ist eine beeindruckende Leistung. Von diesem Umbruch und seinen Folgen sind allerdings auch Strukturen, sind auch Wörter und sprachliche Gewohnheiten betroffen, die bis ins alltägliche Leben hineinreichen, die den meisten DDR-Bürgern in 40 Jahren längst vertraut und heimatlich geworden sind. Sie zu verlieren und sich andere, unvertraute zu eigen zu machen, ist eine erhebliche Belastung. Es scheint mir eine inakzeptable Verkleinerung und Banalisierung sowohl der Leistung wie der Belastung zu sein, wie Wolf Oschlies und andere Spracheinheitspropagandisten zu behaup- <273> ten: Es war überhaupt nichts, außer einigen Geringfügigkeiten und Belanglosigkeiten, die von westdeutschen Lexikographen aufgebauscht wurden; ihr wart ja sprachlich längst vereinigt! 12 Vgl. die entsprechenden Abschnitte in Oschlies' Buch, 1989b, und die dort zitierten früheren Beiträge zu diesen Sondersprachen. DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 281 Nicht weit läge dann der Gedanke, daß sich DDR-Bürger für ihre sprachlichen Besonderheiten, wenn sie sie denn weiter zu gebrauchen wagen, rechtfertigen müssen. Wenn im folgenden versucht wird, zu sichten und aufzulisten, was an sprachlichen DDR-Eigentümlichkeiten heute, neun Monate nach der Wende, (noch) in Gebrauch ist, so geschieht dies auch deshalb, weil DDR-Sprachgebrauch so, wie er ist, ernst genommen zu werden verdient und weil es sich um so mehr lohnt, ihn unvoreingenommen zu sammeln und zu untersuchen, als sich wohl kaum jemals wieder die Möglichkeit bietet, den Zusammenhang von gesellschaftlich-politischem Wandel und Sprachwandel so unmittelbar zu untersuchen wie zur Zeit. Selbstverständlich kann es sich nur um einen ersten 13 Ansatz handeln, begrenzt schon im Hinblick auf das Material und die Auswertungsaspekte (dazu vgl. unten), begrenzt auch in seiner Aussagekraft vor allem durch vielerlei Zufälligkeiten, die Unabgeschlossenheit der rapiden Entwicklung und die nicht vorhandene zeitliche Distanz. Kleines Glossar noch belegter DDR-spezifischer Ausdrücke Den folgenden Sammlungen liegt ein zeitlich und quantitativ eng begrenztes Material aus dem Zeitraum von Anfang März 1990 bis Anfang Juni 1990 zugrunde, und zwar a) 6 Ausgaben des Pressespiegels aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR, erstellt vom Gesamtdeutschen Institut Berlin, der 14tägig einen Querschnitt aus der Presse der DDR bringt; b) der RIAS-Monitor-Dienst 14 eine nahezu täglich erscheinende maschinenschriftliche Zusammenstellung von Mitschnitten aus Fernseh- und Rundfunksendungen vornehmlich der DDR, und zwar vor allem aus aktuellen Sendungen (Interviews, Kommentare). Dieses Material ist im Hinblick auf die vertretenen Textsorten (es fehlen z.B. Regierungserklärungen und Reden aus der Volkskammer) und die behandelten Themen noch zu einseitig. Es konnte außerdem aus Zeit- und Raum- 13 Nicht ganz den ersten: Ich verweise auf E. Lang, 1990; Schlosser, 1989a; Kinne, 1990; Kotte, 1990; Sommerfeldt, 1990. 14 Den Hinweis auf die sprachliche Ergiebigkeit des RIAS -Monitor-Dienstes verdanke ich Wolf Oschlies. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 282 gründen nur kursorisch ausgewertet werden. Aus beiden Gründen kann hier keineswegs Vollständigkeit beansprucht werden; d.h. es gibt bis heute weit mehr DDR-Spezifika, als im folgenden aufgeführt sind. Die Auswertung beschränkt sich auf Ausdrücke, die vor der Wende als DDR-spezifisch nachgewiesen wurden und weiterhin in Gebrauch sind. Häufigkeiten wurden nicht gezählt, ich habe jedoch darauf geachtet, daß jedes Wort mindestens zweimal belegt ist und/ oder von DDR-Bürgern als im aktuellen Gebrauch befindlich bestätigt wurde. Bedeutungswandel bzw. -konstanz wurden nicht in die Untersuchung einbezogen, insbesondere wurde der ideologische Wortschatz nicht berücksichtigt, obwohl er im Material durchaus interessant belegt ist. Ebensowenig habe ich nach den neuen Übernahmen aus dem Sprachgebrauch der BRD gefragt. Dies wäre eine ergiebige Untersuchung für sich, da das Material zum Teil auch die Konflikte erkennen läßt, die diese Übernahmen begleitete, jedoch würde dies den hier gegebenen Rahmen bei weitem überschreiten. Übergangen wurden meist auch Ausdrücke für nicht mehr Vorhandenes, die in Rückblicken natürlich nicht selten verwendet werden. <274> Alles in allem handelt es sich also um eine Teilauswertung einer Momentaufnahme. Sicherlich kann man hieraus keine Schlüsse ziehen auf das, was an DDR-Besonderheiten auch über den Tag der Neuvereinigung hinaus als „areale Spezifik“ eines Teils des binnendeutschen Sprachgebiets erhalten bleibt. Dazu wäre umfangreicheres und besser diversifiziertes Material erforderlich, wie es jetzt in der angekündigten „gesamtdeutschen Korpusinitiative“ des Instituts für deutsche Sprache zusammen mit dem Ost-Berliner Zentralinstitut für Sprachwissenschaft geplant ist. 15 Allerdings: Insofern etwas erhalten bleibt, dürften die überlebenstüchtigen Kandidaten unter den sprachlichen Erscheinungen zu suchen sein, die schon die gewaltigen Veränderungen der letzten acht Monate überstanden haben. I Staatliche und nicht-staatliche Institutionen Verschwunden sind, wie schon gesagt, der Staatsrat und zahlreiche Ministerien, darunter das Ministerium für Staatssicherheit (MfS ) bzw. das Amt für 15 Die „gesamtdeutsche Korpus-Initiative“ soll sprachliches Material aus den Medien der DDR und der BRD im Umfang bis zu 4 Mill. lfd. Wörtern rechnerverfügbar machen, und zwar zunächst aus dem Zeitraum der demokratischen Wende bis Ende 1990 (vg. Sprachreport, 3/ 1990, S. 16). DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 283 Nationale Sicherheit (AfNS ). Geblieben ist jedoch der Ausdruck gedeckte Arbeit für die Art verborgener Tätigkeit, die in der BRD „verdeckte Arbeit“ genannt wird: [*] [Zur Terrorismus-Vorbeugung]... versicherte Oberstleutnant Sch., daß ... es aber „eine gedeckte Arbeit, wie wir sie vom MfS kennen, durch die Volkspolizei nicht gibt“. (Norddeutsche Zeitung, Schwerin, 11.4.1990.) Verschwunden sind auch die Staatliche Plankommission, die Arbeiter-und- Bauern-Inspektion (ABI ) und zahlreiche andere staatliche und nicht-staatliche Institutionen. Erhalten geblieben und voraussichtlich existenzfähig bis zum Tag der Neuvereinigung sind Nationale Volksarmee (NVA), die Volkspolizei (VP) und die Volkskammer, der Ministerrat (dessen Vorsitzender sich allerdings fast ausschließlich Ministerpräsident nennen läßt); als Bezeichnungen für die Exekutivbehörden unterhalb der Republikebene auch die Räte der Bezirke, der Kreise, der Städte und Gemeinden. Erhalten geblieben sind ferner von den alten Parteien des Demokratischen Blocks (Blockparteien) die Bezeichnungen CDU und DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands), von den gesellschaftlichen Massenorganisationen der Kulturbund und die Urania (die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse), während die Nationale Front mit ihrem Nationalrat schon bald, der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB ) erst Mitte Juni aufgelöst wurden; an seine Stelle trat der Bund Freier Gewerkschaften, dessen Mitgliedsgewerkschaften den Zusammenschluß mit den DGB-Gewerkschaften vorbereiten (die Gewerkschaftsmitglieder werden in der DDR weiter konsequent nur Gewerkschafter genannt, während in der BRD auch Gewerkschaftler in Gebrauch ist). Weiterhin tätig in der Vermittlung von Urlaubsquartieren und der Organisation von Ferienreisen ist der FDGB-Feriendienst, der jetzt als Reisebüro der Gewerkschaften „Feriendienst “ firmiert: ... wonach dem FDGB -Feriendienst, und somit unserem Reisebüro [= der Gewerkschaften] als Rechtsnachfolger, alle Reisen in Interhotels ... bis 1993 zu kündigen sind. (Volksstimme, 2.4.1990.) FDJ und Junge Pioniere gibt es zwar noch, sind jedoch ihres Einflusses auf Schule und Ausbildungsstätten weitgehend beraubt. Die früher einflußreiche Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) fristet nur noch ein Schattendasein, während die Volkssolidarität nach einem westlichen Partner sucht: [* Fett markierte Ausdrücke werden in einem der folgenden Belege zitiert. MWH ] Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 284 Wir werden ... den Beschluß unterbreiten, daß die Volkssolidarität sich dem Paritätischen Wohlfahrtsverband anschließt, um ... das zu bleiben, was wir sind, nämlich eine juristisch selbständige gemeinnützige Organisation ... und nicht in irgendeiner Weise aufgekauft und geschluckt werden ... (Interview im Berliner Rundfunk, Pulsschlag der Zeit, 26.5.1990.) <275> Auch die früher in der DDR in zahlreichen Komposita belegten Aktive (Elternaktiv, Parteiaktiv u.a.m.) begegnen nur noch selten. Das gilt auch für die Verkehrssicherheitsaktive, die sich um mehr Verkehrssicherheit bemühten: Einige Verkehrssicherheitsaktive haben aufgegeben. (Ost-Thüringer Nachrichten, 22.3.1990.) Auch die BGL (Betriebsgewerkschaftsleitung), Konfliktkommission und Kammern für Arbeit bestehen noch und sind belegt, werden aber demnächst durch die bundesdeutschen Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes (Betriebsräte, Einigungsstelle, Arbeitsgericht) abgelöst. Weiterhin gibt es auch die Interhotels, die jedoch, ebenso wie die Intertankstellen und die Intershops, mit Einführung der D-Mark am 1. Juli 1990 ihre besondere Funktion, nämlich ihre Leistungen nur gegen harte Währung (vgl. Valuta) abzugeben, verloren haben. Ein Dauerthema sind zur Zeit die Probleme mit dem Erwerb privater oder auch volkseigener Grundstücke, da oft kaum festzustellen ist, wer der Eigentümer bzw. der Rechtsträger, d.h. der nach DDR-Recht Verfügungsberechtigte, ist: Verkaufen kann aber nur der Besitzer, also Privatpersonen oder der VEB Gebäudewirtschaft oder andere volkseigene Rechtsträger. (Mitteldeutsche Zeitung, 4.4.1990.) Zuständig für die Feststellung des Eigentümers bzw. Rechtsträgers ist der Liegenschaftsdienst (statt „Liegenschaftsamt“). Der Grundstückspreis, amtlich geschätzt in einer Tax-Urkunde, muß vom Amt für Preise bestätigt werden: Ein zügiges Abwickeln der Geschäfte ist kaum möglich ... Das beginnt bei der Gebäudewirtschaft, setzt sich fort über Ämter für Preise, die Tax- Urkunden bestätigen, endet bei Notariaten und Sparkassen als Kreditgeber. (Mitteldeutsche Zeitung, 4.4.1990.) Die hier kurz „Gebäudewirtschaft“ genannten VEB Gebäudewirtschaft (früher: VEB Kommunale Wohnungsverwaltung [KWV]) sind nicht nur Vertragspartner und Zahlungsempfänger ihrer Mieter, sondern sollen die Gebäude und Wohnungen auch bewirtschaften und instandhalten: DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 285 Soweit es den genannten VEB [= Gebäudewirtschaft] betrifft, verwaltet er, aber wirtschaftet nicht, wie es sein Name, den er sich erst unlängst durch Umbenennung der vormaligen Wohnungsverwaltung zulegte, verspricht. (Sächsische Neueste Nachrichten, 4.4.1990.) Zuständig für die Wohnungsvergabe ist jeweils die Abteilung Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft, kurz auch Wohnungsamt genannt, beim jeweiligen Rat der Stadt bzw. der Gemeinde: Ein ganz besonders heißes Gebiet ist die Situation bei der Wohnungsvergabe [= in bezug auf leerstehende Wohnungen]. Der andere Grund ist das bürokratische Herangehen der Abteilungen Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft. Sie „arbeiten ab“, entwickeln aber nicht das viel proklamierte bürgernahe Verhalten. Noch immer gilt hier das DDR -Mikado-Prinzip: „Wer sich bewegt, hat schon verloren“. (Sächsische Neueste Nachrichten, 4.4.1990.) Zum Ausdruck bürokratisches Herangehen s. unter Herangehen. Die Bezeichnung Wohnraumlenkerin für die entscheidungsbefugte Sachbearbeiterin im Wohnungsamt ist bei uns genauso unbekannt wie der sehr fachsprachliche Ausdruck beräumen (statt „räumen“) und Mietbereich (statt „Wohnung“): Nach Besichtigung durch die zuständige Wohnraumlenkerin, Kolln. H., und dem Leiter der Wohnungsverwaltung ... wurde festgestellt, daß ... Daß genannter Mietbereich an Bürger vergeben werden kann, welche gleichzeitig in der Lage sind, die nötigen Dachreparaturen durchzuführen. ... fordere ich Sie auf, diese Wohnung umgehend zu beräumen. (Ebenda, 4.4.1990.) Neben Mietverhältnissen sind in der DDR Nutzungsverhältnisse sowohl an volkseigenen wie auch an ehemals privaten, jetzt vom VEB Gebäudewirtschaft verwalteten Grundstücken und Gebäuden weit verbreitet. Der Geschäftsführer des Dachverbandes Mieterschutzbund in der DDR spricht des- <276> wegen parallel von Mieter und Nutzer, Mieterinteressen und Nutzerinteressen, Mietsektor und Nutzungssektor. (Deutschlandsender, aktuell, 19.5.1990.) Während für Streitigkeiten zwischen privaten Mietern und Vermietern die normalen Zivilgerichte zuständig sind, werden Streitigkeiten zwischen volkseigenen Betrieben vor dem Vertragsgericht verhandelt: Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 286 Wobei das Vertragsgericht zu entscheiden hat, wer die ganze Sache [= die Rekonstruktion der Fassaden dreier Hotels in Dresden] bezahlt. (Direktor des NEWA -Hotels Dresden, Sächsische Zeitung, 19.1.1990.) (Zum äußerst DDR -spezifischen Wortschatz und Wortgebrauch im Bereich des Wohnungswesens und der Wohnungssuche vgl. demnächst Hellmann, 1990 b.) II Wirtschaft Nur noch bis 1. Juli 1990 aktuell, gleichwohl mehrfach belegt ist das NSW, Abkürzung für Nicht-Sozialistisches Wirtschaftsgebiet, mit dem sich Handelsbeziehungen nicht nur deswegen lohnen, weil sie Valuta (statt „Devisen“) bringen: Das [= eine Preiserhöhung für Salatgurken] ist eine Einzelentscheidung für Salatgurken aus dem NSW . Sie werden kostendeckend verkauft. (W. Levold, Ministerium für Handel und Versorgung der DDR , Ostsee-Zeitung, 14.2.1990.) Da wir zur Eigenerwirtschaftung [= unserer Betriebsmittel] übergegangen sind, sind wir daran interessiert, unsere Leistungen ... gegen Valuta zu verkaufen. Außerdem werden Valuta-Einnahmen für unser Land dringend gebraucht. (Direktor des NEWA -Hotels Dresden, Sächsische Zeitung, 19.1.1990.) Die Transit-Pauschale ist generell in den Staatshaushalt eingeflossen ... Für sonstige Maßnahmen an den Straßen wurden die Mittel in Valutaform nicht zur Verfügung gestellt. (Direktor des Straßenbaubetriebes in Weimar, Deutscher Fernsehfunk 1, Prisma, 24.5.1990.) Vielfach belegt sind selbstverständlich die Ausdrücke Kombinat und volkseigener Betrieb (VEB) sowie Einrichtungen (Sammelbezeichnung für alle vom Staat finanzierten Institutionen, Organisationen und Körperschaften, insbesondere im Erziehungs- und Bildungswesen, Gesundheitswesen, in Wissenschaft und Kultur usw., darüber hinaus auch gelegentlich für alles, was nicht privat ist). Erläuterungsbedürftig sind die Ausdrücke Bilanz und Fonds. Bilanz und Bilanzierung 16 bezieht sich in der DDR nicht auf die Gegenüberstellung von Aktiva und Passiva oder Gewinn und Verlust, wie sie Unternehmen der Bundesrepublik vorzunehmen gewohnt sind, sondern vor allem auf die Gegenüberstellung und die Ausbalancierung von Soll- und Ist-Werten, also z.B. von Planauflage und erreichtem Stand, von Anforderungen und vorhan- 16 Zu Bilanz, ökonomisch, Kombinat, LPG , individuell, gesellschäftlich, einschätzen und weitere Stichwörter vgl. demnächst das in Anm. 2 genannte Wörterbuch, Hellmann, 1990a. DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 287 denen Arbeitskräften, von Produktionsziel und vorhandenen Ressourcen, von exportierten Waren und Exporterlös. Bilanzieren bezeichnet dann den Vorgang, die Differenz zwischen Soll- und Ist-Werten zum Ausgleich zu bringen. Kaum geeignet ist diese Art Bilanz zur Feststellung der tatsächlichen Kosten oder der Rentabilität eines Betriebs. Fonds bezeichnen in diesem Zusammenhang bestimmte Formen des Kapitals eines Betriebs, Grundmittelfonds bzw. Grundmittelbestand also etwa: das Anlagekapital; Prämienfonds denjenigen Teil der erwirtschafteten Mittel, aus dem die Prämien, insbesondere die Jahresendprämien, gezahlt werden: (Zum Umtausch 1: 1): Das betrifft die wirtschaftlichen Fonds und selbstverständlich auch die Sparkonten. Wenn wir DDR -Bürger mit dem Grundmittelbestand unserer Volkswirtschaft auch durchaus nicht mittellos sind, ... (Interview, Bauern-Echo, 20.2.1990.) Auffällig ist im ersten Zitat der schon vollzogene Austausch des sonst üblichen ökonomisch gegen wirtschaftlich. Anders als in der Bundesrepublik wurde ökonomisch weniger im Sinne von ‘rationell, möglichst effektiv und sparsam’ verwendet, sondern allgemeiner im Sinne von ‘wirtschaftlich, auf die Wirtschaft bezogen’. Dieser Verwendung begegnen wir auch in der Funktionsbezeichnung Ökonomischer Direktor: <277> ... Die Modalitäten künftiger Beherbergungen waren zwischen unserem Verkaufsbüro und dem Ökonomischen Direktor des (Kultur-)Palastes bereits geklärt. (Direktor des NEWA -Hotels Dresden, Sächsische Zeitung, 19.1.1990.) Auch die Bezeichnung Ökonom und Ingenieurökonom sind weiterhin geläufig: Wir gehen davon aus - und das haben mir ... auch sehr viele Ökonomen bestätigt - auch aus der Bundesrepublik, daß unsere Agrarstrukturen, so wie wir sie heute haben, eine große Chance in der Marktwirtschaft haben, weil wir Voraussetzungen haben, sehr kostengünstig zu produzieren. (Wirtschaftsminister Pohl, Berliner Rundfunk, Pulsschlag der Zeit, 11.6.1990.) Die Bezeichnung Kombinat gibt es nicht nur in der produzierenden Wirtschaft für die großen Zusammenschlüsse volkseigener Betriebe, sondern auch auf Kreisebene für Wohnungsbaubetriebe als Wohnungsbaukombinat (WBK) und im Dienstleistungssektor [erg.: als Dienstleistungskombinat (DLK). MWH]: Im Haus des Dienstleistungskombinates ... bietet Burda ... sein gesamtes Mode- Zeitschriften-Programm zum Kurs 1: 3. Burdas Partner ist der VEB Dienstleistungskombinat Berlin. (Neue Zeit, 19.2.1990.) Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 288 Eine größere Chance des Überlebens als die Strukturen in der produzierenden Wirtschaft, im Bauwesen und im Dienstleistungsbereich haben voraussichtlich die Strukturen in der Landwirtschaft der DDR mit den häufig belegten Bezeichnungen LPG für Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (oft zusätzlich gekennzeichnet mit (P) für Pflanzenproduktion oder (T ) für Tierproduktion) Nur 3,5% aller Genossenschaftsbauern erwägen, sich als „Einzelkämpfer“ dem Markt zu stellen. Der Großteil will in der Genossenschaft bleiben. (Unter der Überschrift „ LPG der Zukunft“, Junge Welt, 22.1.1990.) Der Stellvertreter des Vorsitzenden der DBD und Vorsitzende der LPG (P) Wagun, Kollege Dr. Meyer-Bohdemann, richtete ... den Blick in die Zukunft. (Bauern-Echo, 19.2.1990.) Organisatorische Zusammenschlüsse mehrerer LPG zur gemeinsamen Produktion und Verarbeitung bestimmter Nahrungsgüter heißen in der DDR Kooperationen: ... wandte sich an die aus allen Kooperationen der LPG und anderen landwirtschaftlichen Betrieben ... angereisten Teilnehmer der Kundgebung ... (Bauern-Echo, 19.2.1990.) Genossenschaftsbauern in der DDR haben die Möglichkeit, neben ihrer normalen Tätigkeit in der Genossenschaft auch in eng begrenztem Umfang individuell (statt „privat“) zu wirtschaften: Die vor allem in der individuellen Landwirtschaft gemästeten Schweine lassen sich wegen Qualitätsmängel schwer absetzen. ... daß die „Kreisschweine“ aus der individuellen Haltung die schlechteste Qualität aufweisen. Zurück gingen lediglich die Abkäufe durch individuelle Tierhalter ... (Sächsische Zeitung, 4.4.1990.) Auffällig ist hier auch die Verwendung von Abkäufe statt „Käufe“. Unruhe in der Bevölkerung ... von relativer Gelassenheit in Handelseinrichtungen bis zu panikartigen Massenabkäufen. ... Es bestehe kein Grund zu übergroßen Abkäufen subventionierter Waren. ( ND , 22.2.1990.) Ungebräuchlich wäre bei uns auch Nahrungsgüter statt „Lebensmittel“ oder „Nahrungsmittel“: [Der zweite Schritt in der Reform] ist logischerweise der Bereich Nahrungsgüter. (W. Levold, Ministerium für Handel und Versorgung, Ostsee Zeitung, 14.2.1990.) DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 289 Umfassend durch staatliche Subventionen gestützt wurden in der DDR bisher die sogenannten Waren des täglichen Bedarfs, umgangssprachlich auch Waren täglicher Bedarf, abgekürzt WtB: Schon der Einkauf wird preislich unwägbar, wenn Waren des täglichen Bedarfs unaufhaltsam Wucherpreiserzeugnissen westlicher Provenienz weichen. (Neue Zeit, 27.4.1990.) Sonderkonditionen für den Einkauf knapper Waren erhalten auch die gesellschaftlichen Bedarfsträger, d.h. Betriebe, Institutionen, Verwaltungen und sonstige gesellschaftliche Einrichtungen: ... müsse festgestellt werden, daß jetzt auch über den Export und gesellschaftliche Bedarfsträger wie Betriebe und Verwaltungen neue Absatzmöglichkeiten [= für den Trabi] erschlossen wurden. (Berliner Allgemeine, 31.3./ 1.4.1990.) Die bei weitem größten Einrichtungen des Handels in der DDR sind die Handelsorganisation (HO) mit ihren Kaufhallen, Warenhäusern, Hotels und Gaststätten, und zweitens die genossen- <278> schaftliche Ladenkette Konsum (mit Betonung auf der ersten Silbe). Beide werden in der DDR-Presse häufig erwähnt, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Beteiligung westdeutscher Handelsketten („Spar“ und „Edeka“). In zahlreichen Berichten werden schlechter Service und häufige Schließung von Kaufhallen, Verkaufsstellen und Gaststätten (auch Einzelhandelsobjekte und gastronomische Objekte genannt) beklagt, so z.B. bei einem Besuch: Dienstagabend in der [renommierten] ... Konsumgaststätte „Marzahner Krug“ ... (Bauern-Echo, 25.4.1990.) Auch aus dem Bereich des staatlichen Gesundheitswesens sind DDR-spezifische Bezeichnungen wie Poliklinik, Ambulatorien und Schnelle Medizinische Hilfe (SMH), weiterhin belegt, obwohl hier auch Änderungen angesagt sind: So wird es beispielsweise künftig die Funktion der Bezirks- und Kreisärzte und damit auch ihre Apparate nicht mehr geben ... Dafür sollen die bewährten Strukturen [= des staatlichen Gesundheitswesens] wie Polikliniken, Ambulatorien und betriebliche Einrichtungen erhalten bleiben. (Berliner Allgemeine, 3.5.1990.) DDR-spezifisch sind auch Zusammensetzungen mit -schaffende wie Bauschaffende, Kulturschaffende: Eine Chance räume ich uns ein, ... und ich meine alle Kulturschaffenden unseres Landes - wenn wir endlich damit aufhören, uns kleinzumachen. (Kulturminister H. Schirmar in Deutschlandsender, aktuell, 12.6.1990.) Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 290 Aber auch Berufsbezeichnungen wie Gesellschaftswissenschaftler, Kulturwissenschaftler klingen, obwohl auch im Westen nicht unbekannt, DDRspezifisch: St. selbst, gestandener Kulturwissenschaftler und jahrelang Mitarbeiter des Adlershofer Staatsfernsehens, ... kann sich gut vorstellen, daß ... (Thüringer Tageblatt, 6.4.1990.) Neben diesen sind in der DDR eine ganze Reihe spezifischer Berufs- und Tätigkeitsbezeichnungen entstanden und weiterhin belegt, im akademischen Bereich z.B. Diplom-Historiker, Diplom-Gesellschaftswissenschaftler, die Abkürzung Dr. sc. (statt „Dr. habil.“), im Hoch- und Fachschulbereich Ökonom, Ingenieurökonom, in den technischen Fächern u.a. BMSR-Techniker (= Betriebs-, Meß-, Steuer- und Regel-Techniker), Agronom (= Landwirtschaftlicher Betriebswirt); unter den Lehrberufen z.B. Facharbeiter für Schreibtechnik („Stenotypistin“, „Schreibkraft“), Backwarenfacharbeiter („Bäcker“, „Konditor“), Instandhaltungsmechaniker („Betriebsschlosser“, „Industriemechaniker“), Keramfacharbeiter („Keramiker“, „Industriekeramiker“), Facharbeiter für Plastverarbeitung („Kunststoff-Formgeber“, „Kunststoff-Schlosser“), Funkmechaniker („Radio- und Fernsehtechniker“), Werksteinfacharbeiter („Steinmetz“) u.v.a. 17 Während diese Bezeichnungen von der DDR neu geschaffen wurden, ist das alte gemeindeutsche Wort Lehrling nur deshalb DDR-spezifisch, weil in der Bundesrepublik statt dessen „Auszubildende“ (kurz „Azubi“) eingeführt wurde: Schülern, Lehrlingen, Studenten sowie Angehörigen der bewaffneten Organe wird nach Vorlage der entsprechenden Dokumente ... eine Ermäßigung gewährt. (Berliner Allgemeine, 7.2.1990.) Sicher nur umgangssprachlich und zudem nur von begrenzter zeitlicher Gültigkeit - nämlich von der Grenzöffnung bis zur Herstellung der Währungsunion - ist umrubeln. Es bezeichnet etwa folgenden Vorgang: - Einkauf von billigen subventionierten DDR-Waren, - Verkauf in der Bundesrepublik gegen Westgeld, - Umtausch des Westgeldes in der BRD zum Kurs 1: 3 bis 1: 7, 17 Diese Angaben wurden einer vergleichenden Aufstellung der Facharbeiterberufe des Arbeitsamtes Mannheim entnommen. Für den Hinweis danke ich Herrn Hahl, Mannheim. DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 291 - Transfer der Ostmark in die DDR, - neuer Einkauf verbilligter Ostwaren. Im folgenden Zitat wird dieser Vorgang verkürzt dargestellt: Sicher, auf diese Weise [= Import von Westwaren in die DDR ] bleibt DDR - Geld im Lande, wird nicht jenseits der Grenze für Einkäufe umgerubelt, besser umge-D-Markt. (Berliner Allgemeine, 20.2.1990.) <279> III Allgemeineres Dem überwiegenden Teil der bisher zusammengestellten Wörter räume ich nach der Vereinigung der beiden Staaten nur eine geringe oder keine Überlebenschance ein, insbesondere dann nicht, wenn DDR-spezifische Einrichtungen und Verfahrensweisen damit bezeichnet werden, die ohnehin zur Disposition stehen oder deren Geltungsbereich relativ eng begrenzt war. Anders steht es mit denjenigen DDR-spezifischen Wörtern, die in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht werden können, vor allem in alltagsnäheren, und insofern schon zumindest teilweise der Umgangssprache zugerechnet werden können. Viele davon sind inzwischen in Wörterbüchern gebucht oder, z.B. von Ernst Röhl in seinem außerordentlich ergiebigen Buch Wörtliche Betäubung (1986), in ihrem Gebrauch als DDR-spezifisch glossiert worden. Organe: Darunter wurden und werden in der DDR sämtliche Ämter, Behörden und Dienststellen verstanden, insofern sie staatliche, insbesondere hoheitliche Aufgaben erfüllen. - Komposita und Verbindungen: Staatsorgane, Rechtsorgane, örtliche Organe (i.S.v. ‘Kommunale Behörden’), wirtschaftsleitende Organe (i.S.v. ‘Planungs- und Lenkungsdienststellen’ von den Ministerien bis zu den Kombinaten und den zentralisierten Betrieben auf Bezirks- und Kreisebene), bewaffnete Organe (NVA, Volkspolizei, früher auch Staatssicherheit und Grenztruppen). [= Zur Umstellung der Konten bei der Währungsunion] ... gibt es im Staatsvertrag eine eindeutige Regelung, daß auf entsprechende Entscheidung zuständiger Organe die Rechtmäßigkeit des angemeldeten Kontos überprüft werden kann ... Diese Nachforschung steht den zuständigen Rechtsorganen zu ... (Interview im Berliner Rundfunk, Pulsschlag der Zeit, 29.5.1990.) Schülern, Lehrlingen, Studenten sowie Angehörigen der bewaffneten Organe wird nach Vorlage der entsprechenden Dokumente ... eine Ermäßigung gewährt. (Berliner Allgemeine, 7.2.1990.) Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 292 Objekt: O. kann für jegliche Art von Gebäuden verwendet werden, insbesondere aber für Gaststätten und Läden des Einzelhandels. - Komposita: Objektleiter (i.S.v. „Leiter eines gastronomischen Betriebs“), Einzelhandelsobjekt. [Mit Bezug auf eine HO -Schiffsgaststätte: ] ... daß das Ehepaar P. das Objekt zu Ostern ... eröffnen will. (Mitteldeutsche Zeitung, 2.4.1990.) Die Warenumbewertung beträfe 100000 Einzelartikel in rund 90000 Einzelhandelsobjekten und 50000 Gaststätten, Schulküchen sowie Ferienheimen. ( ND , 22.2.1990.) Die jetzt noch dort [in einem innerstädtischen Gebäude] untergebrachten Nutzer - der VEB Radio und Fernsehen und ... - erhalten andere Objekte. (Interview mit dem Oberbürgermeister von Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz, Freie Presse, 10.2.1990.) Kollektiv: K. wird, obwohl ursprünglich sicherlich vom Sprachgebrauch der Partei geprägt, heute i.S.v. ‘Gemeinschaft der jeweils zusammenarbeitenden Werktätigen/ Arbeitnehmer’ verwendet. In einigen Belegen sind konnotative Elemente wie Verbundenheit, Gemeinschaftsgefühl, Nestwärme, auch gegenüber Einflußnahmen des Staates oder der Partei, spürbar. - Komposita: Sendekollektiv, Leitungskollektiv. ... befinden sich auf dem Territorium des künftigen Landes Sachsen-Anhalt nur zwei Sendekollektive. Aus kleinen Studios haben sie sich in Magdeburg und Halle zu Sendern entwickelt ... Bei der gegenwärtigen Stärke beider Kollektive wird das täglich nur für wenige Stunden Sendezeit [reichen]. (Volksstimme, Magdeburg, 30.3.1990.) Das zeigt ..., daß wir hier mit unserem neuen Leitungskollektiv [= des Musiktheaters] und mit den jungen Leistungsträgern für Görlitz den richtigen Weg gefunden haben. (Sächsische Zeitung, Dresden, 24./ 25.3.1990.) Territorium: T. wird ohne Attribut i.S.v. ‘Gebiet, Region’ verwendet. - Adjektive: territorial, territorialspezifisch. ... ist es der DBD gelungen, viele Bürger ... davon zu überzeugen, daß sie über ... Durchsetzungskraft zur Umsetzung ihrer in den Territorien vertretenen Ziele verfügt. (Bauern-Echo, 9.5.1990.) Damit bleiben Wartezeiten auf Operationen - wenn auch territorial unterschiedlich - nicht aus. (Berliner Allgemeine, 3.5.1990.) ... da schulische Belange entsprechend „territorialspezifischen Erfordernissen“ entschieden werden, also Sache der künftigen Länder werden. (Zeitschrift für Hochschulwesen, 4.3.1990, zu den neuen Rahmenrichtlinien für Bildungs- und Unterrichtswesen.) <280> DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 293 Also ich kenne das nur territorial ... (Eine aus der DDR stammende Wirtschaftsprofessorin auf einer Tagung in Düsseldorf am 5.6.1990 zu Fragen des Verkaufs volkseigener Grundstücke an westdeutsche Interessenten.) Kader: K. wird nicht nur für Gruppen von Spezialisten mit bestimmten Funktionen verwendet, sondern grundsätzlich für (ausgebildete) Werktätige. - Komposita: Reisekader i.S.v. ‘Mitarbeiter mit dem besonderen Privileg von dienstlichen Westreisen’ (nur noch im Rückblick belegt), Kaderakte i.S.v. ‘Personalakte, die ohne Mitwirkung des Betroffenen über berufliche, persönliche, familiäre und politische Angelegenheiten eines jeden Werktätigen geführt wurde und für Partei und Staatssicherheit als Repressionsinstrument dienen konnte’, Kaderleiter, Leitungskader, Fachkader, Berufskader i.S.v. „Berufssoldaten der NVA“. ... auf alle Fälle zu sichern, daß keine Leitungskader [des ehemaligen MfS] in diesen Funktionen eingesetzt werden. (Leiter des Amtes zur Auflösung des MfS, im Deutschlandsender, aktuell, 16.5.1990.) ... wobei wir als Rat der Stadt und auch des VEB Gebäudewirtschaft die ganzen Bau-Fachkader der Kupferhütte übernehmen. (Bürgermeister der Stadt Ilsenburg, Radio DDR 1, Magazin am Morgen, 4.4.1990.) Auch über einen sinnvollen Einsatz von Berufskadern [der NVA ] wurde entschieden. (Ein Sprecher des Soldatenrates, in: Schweriner Volkszeitung, 14.2.1990.) Obwohl ich jahrzehntelang kein privilegierter NSW -Kader war, habe ich gute Bekannte, renommierte westliche Manager, die helfen. (Günther Steinbacher, Interview, in: Neue Zeit, 9.2.1990.) Perspektive: P. wird im Sprachgebrauch der DDR ohne Attribut i.S.v. ‘Aussichten, Chancen in ihrem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang’ gebraucht. Dieser Gebrauch breitet sich allmählich auch in der Bundesrepublik aus. - Adjektive: perspektivisch, perspektivlos. [Die Beratung der DBD ] ... ist in gewissem Sinne eigentlich auch eine Vorarbeit für die Perspektive, für die Gestaltung der Perspektive der Partei. (Der stellvertr. DBD -Vorsitzende, Berliner Rundfunk, Pulsschlag der Zeit, 23.5.1990.) [Zum Staatsvertrag: ] Wir haben auf beiden Seiten fair und ehrlich darum gerungen, für unser Land eine Perspektive in der deutschen Einheit zu sichern und ein Fundament zu bauen ... (Dr. Krause, Staatssekretär, Deutscher Fernsehfunk 1, Interview, 16.5.1990.) Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 294 ... Beteiligten sind sich darin einig, die ... stark auseinandergerissenen Sammlungsbestände [Berlins] perspektivisch wieder auf der Museumsinsel zusammenzuführen. (Der Generaldirektor der Staatlichen Museen Berlin, Berliner Rundfunk, Spektrum, 19.5.1990.) [Man könne] ... nicht zulassen, daß so viele gut ausgebildete ... Menschen, die mit Waffen umgehen können, völlig perspektivlos herumirren. Ich bin der Auffassung, daß man diesen Menschen eine Perspektive geben muß, daß Gerichte ... zu bewerten haben, ob individuelle Schuld vorliegt oder nicht. (Innenminister Diestel zur Beschäftigung von ehemaligen Stasi- Mitarbeitern, Deutscher Fernsehfunk 1, 30.5.1990.) Rekonstruktion: R. wird allgemein i.S.v. ‘Sanierung, Modernisierung, Grunderneuerung’ verwendet, nicht nur für Betriebe und betriebliche Anlagen, sondern insbesondere auch für Gebäude. - Verb.: rekonstruieren. Wie ist der Stand der vorgesehenen Rekonstruktion der gefährdeten Fassaden? - Bis Ende Februar wird vom Betriebsteil Projektierung und Forschung im Wohnungsbaukombinat ein Sanierungsprojekt erarbeitet ... (Interview mit dem Direktor des NEWA -Hotels Dresden, Sächsische Zeitung, 19.1.1990.) Ganz vorn stehen muß die Rekonstruktion von Krankenhäusern, Feierabend- und Pflegeheimen. (Berliner Allgemeine, 3.5.1990.) Diese [jetzt geplante] Menge an Autobahnrekonstruktionen bezieht sich auch wiederum auf die Vereinbarungen von Transit-Autobahnen ... Die Rekonstruktion Hirschberg-Triptis ... in den vergangenen Jahren, dafür standen die Mittel zur Verfügung, aber für sonstige Maßnahmen an den Straßen wurden die Mittel in Valutaform nicht zur Verfügung gestellt. (Der Direktor des Straßenbaubetriebes Weimar, Deutscher Fernsehfunk 1, Prisma, 24.5.1990.) Selbstlauf: S. wurde im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR vor der Wende insbesondere von der Partei zur Kennzeichnung ungeplanter und daher unerwünschter Entwicklungen und Vorgänge <281> verwendet. Seine Verwendung signalisierte eine einsetzende Repression oder schärfere Kontrolle durch die Partei. Allgemeiner wird S. heute für unerwünschte Entwicklungen generell verwendet: [Zum Verlust von Arbeitsplätzen in der Chemie-Industrie: ] Sind hier Umschulungsprogramme von der Chemie- AG Bitterfeld-Wolfen vorgesehen, oder überläßt man die Sache dem Selbstlauf? (Interview mit dem Ökonomischen Direktor des Kombinats Bitterfeld, Radio DDR 1, Politik am Nachmittag, 30.5.1990.) DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 295 Zielstellung: Z. wird, wie auch Ziele stellen i.S.v. ‘Zielsetzung’, ‘Ziele setzen’ verwendet. 18 Worin sieht der Mieterbund der DDR seine Funktion und worin sieht er seine Zielstellung? - Also der Mieterbund der DDR hat als inhaltliche Zielstellung etwa folgende Hauptpunkte ... (Interview mit dem Geschäftsführer des Dachverbandes Mieterschutzbund der DDR , Deutschlandsender, aktuell, 19.5.1990.) [Der Grundsatz der freien Preisbildung] kann zeitweilig für ausgewählte Waren und Leistungen eingeschränkt werden, wenn es für die Lebenshaltung der Bevölkerung, ... und wichtiger anderer wirtschaftspolitischer Zielstellungen erforderlich ist. (Regierungssprecher Gehler zum Staatsvertrag, Radio DDR 1, Politik am Nachmittag, 30.5.1990.) Herangehen: H. wird i.S.v. ‘Vorgehen, Vorgehensweise, Ansatz’ verwendet. Wir glauben, daß wir mit unserem Herangehen unseren Lesern vielfältige Informationen bereithalten können. (Interview mit dem stellvertretenden Chefredakteur der Zeitung Nordlicht; Deutscher Fernsehfunk 2, AK 2, 11.6.1990.) Der andere Grund ist das bürokratische Herangehen der Abteilungen Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft. Sie „arbeiten ab“, entwickeln aber nicht das viel proklamierte bürgernahe Verhalten. (Sächsische Neueste Nachrichten, 4.4.1990.) Die letztere Wendung bedient sich einer Formulierung, die schon vor der Wende von der Parteiführung - neben Herzlosigkeit - zur kritischen Kennzeichnung unerwünscht autoritären Verhaltens gegenüber der Bevölkerung verwendet wurde. Fakt: i.S.v. ‘Tatsache, Faktum’; in der Wendung Fakt ist/ das ist Fakt i.S.v. ‘es ist unbestreitbar/ offenkundig, daß ...’ Auch dieser Fakt [= extrem hohe Giftkonzentration im Rauchgas] wirft ein bezeichnendes Licht auf die inkompetente, verantwortungslose Umweltpolitik der früheren SED - und Staatsführung ... (Thüringer Neueste Nachrichten, 17.3.1990.) Fakt ist: Die DDR -Klubs werden wohl bis auf wenige Ausnahmen sowohl sportlich als auch finanziell in der Bundesliga nur als Zuschauer dabei sein. (Radio DDR 1, Frühzeit, 17.5.1990.) 18 Zu Zielstellung vgl. G.D. Schmidt, 1987; er verweist schon auf gelegentlichen Gebrauch in bundesdeutschen Texten (S. 41). Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 296 Müll/ Abprodukte/ Sekundärrohstoffe: Das gemeindeutsche Müll wird in der DDR allgemein differenziert zu Sekundärrohstoffe (abgekürzt: SERO ) i.S.v. ‘wiederverwertbares Altmaterial’ und Abprodukte i.S.v. ‘nicht wiederverwertbarer Abfall’. Die Abprodukte [= der Asbest-Papierproduktion] müßten entwässert werden, um sie auf einer Halde verwesen zu lassen. (Volksstimme, Magdeburg, 7.3.1990.) Feierabendheim: F. wird anstelle von und zum Teil neben Altenheim verwendet. Ganz vorn stehen muß die Rekonstruktion von Krankenhäusern, Feierabend- und Pflegeheimen. (Berliner Allgemeine, 3.5.1990.) Das vor der Wende geläufige Veteranenheim ist nicht mehr belegt (wohl aber das Simplex Veteran), statt dessen zunehmend das westliche Seniorenheim. Datsche: Von den ohnehin nur wenigen original-russischen Fremdwörtern im Sprachgebrauch der DDR ist D. das einzige, das voll und ganz Eingang in die Umgangssprache gefunden hat. Es kann für jede Form von Freizeitheimen im Grünen verwendet werden, vom komfortablen Landhaus bis zur Schrebergartenlaube. Und daß ... die Datschenvermittlung nicht gerade zum Abbau sozialer Unterschiede beiträgt, muß man auf dem Weg in eine (soziale? ) Marktwirtschaft wohl ebenfalls in Kauf nehmen. (Kommentar zu Beschaffung von Ferienquartieren, in: Tribüne, 30.1.1990.) <282> gesellschaftlich: g. wird in der DDR nicht i.S.v. ‘auf die sogenannte „bessere“ Gesellschaft bezogen’ verwendet, sondern eher i.S.v. öffentlich oder sozial, teilweise auch noch allgemeiner i.S.v. ‘nicht-privat’. Bereits nach den Kommunalwahlen will der kommunale TV -Sender „Antenne Ronneburg“ zunächst mit einer wöchentlichen Sendestunde Kommunalpolitik transparent machen und das gesamte gesellschaftliche Leben der Stadt zum Anfassen darstellen und anbieten. (Thüringer Tageblatt, 6.4.1990.) Öffentliche Kontrollen durch Bürgerinitiativen in das gesellschaftliche Leben des Bataillons sind ab sofort möglich. (Schweriner Volkszeitung, 14.2.1990.) [Die Handlungsunsicherheit der Volkspolizei] ergibt sich ... daraus, daß in der Periode der Grenzöffnung ... das Einschreiten der Schutzpolizei unter heftige gesellschaftliche Kritik gefallen ist. (Ein VP -Wachtmeister in Radio DDR 1, Hörzeit, 29.5.1990.) DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 297 allseitig, umfassend: Neben konkret, komplex, breit gehörten a. und u. zu den beliebtesten verstärkenden Adjektiven im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR. Damit [= mit kommunalem TV] soll ... eine allseitige und umfassende Information wieder fortgeführt werden. (Thüringer Tageblatt, 6.4.1990.) komplex: i.S.v. ‘kombiniert, im koordinierten Zusammenhang mit anderen’. [Ein Sprecher des Soldatenrats] konnte mitteilen, daß die komplexen Übungen bis Ende April ausgesetzt sind. (Schweriner Volkszeitung, 14.2.1990.) materiell-technisch: Neben wissenschaftlich-technisch wurde m.-t. insbesondere in den Verbindungen mit Basis, Versorgung und Bedingungen verwendet mit Bezug auf die Ausstattung mit Geräten und Material. Wir, d.h. die örtlichen Staatsorgane, haben vor allem für Verbesserung der materiell-technischen Bedingungen Sorge zu tragen. (Interview mit dem Oberbürgermeister von Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz, Freie Presse, 10.2.1990.) moralisch und physisch verschlissen: Diese Wendung ist schon seit der Ulbricht-Zeit belegt; sie bezieht sich auf Geräte und Fahrzeuge sowie ganze Anlagen, die ‘konstruktiv überholt und abgenutzt’ sind. Etwa 70% der Fahrzeuge [= im kommunalen Verkehrswesen] sind moralisch und physisch verschlissen. (Ostsee-Zeitung, 14.2.1990.) Eine Reihe von Verben weisen - und zwar durchaus standardsprachlich - Gebrauchsbesonderheiten auf, die so in der Bundesrepublik gänzlich unüblich sind. 19 orientieren auf: (mit oder ohne Akkusativobjekt) i.S.v. ‘(jmdm.) eine Richtlinie für sein Handeln geben.’ [Zu den Schwierigkeiten, Grundstücke zu erwerben: ] Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, die vielleicht juristisch ein bißchen ungewöhnlich ist, ... und darauf orientieren wir jetzt, ... daß man Vorverträge abschließt. (Justizminister Wünsche, Deutscher Fernsehfunk 1, Prisma, 24.5.1990.) Für uns ist Europa mehr als ein gemeinsamer Markt. Wir wollen auf die gemeinsamen Werte eines zukünftigen Europa orientieren. Zum Beispiel im 19 Die meisten dieser Verben bzw. Funktionsverbgefüge sind auch bei Röhl, 1986, sprachkritisch glossiert. Diesem ausgezeichneten Sprachsatiriker hat übrigens Wolf Oschlies in seinem Aufsatz Ein Mann zwischen Spreiz-, Platt- und „Wende“-Deutsch (Muttersprache, C [1990], H. 1, S. 1-13) ein charmantes Denkmal gesetzt. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 298 Geschichtsprojekt wollen wir uns besinnen auf ... Traditionen, auf das Erbe. (Interview mit dem Leiter des ehemaligen Pionierpalastes, Berliner Rundfunk, 1.6.1990.) andenken: i.S.v. ‘planen, erwägen’. [Zum Nationalparkprogramm: ] ... daß man aber in den angedachten Naturschutzparks eine wirklich intensive touristische Nutzung betreibt. (Der Staatssekretär für Handel und Touristik, Radio DDR 1, Politik spät, 6.6.1990.) Ich habe gestern abend deutlich gemacht, daß wir das Ziel der Sicherheitspolitik in einer gesamteuropäischen Sicherheitskonzeption sehen, wie sie von der KSZE angedacht und geplant ist. (Ministerpräsident de Maizière, Deutschlandsender, aktuell, 17.5.1990.) <283> [Zu den nächsten Aufgaben des neugewählten Ost-Berliner Magistrats: ] Die Geschäftsordnung des Magistrats festzulegen, wann wir regelmäßig tagen werden, Personalfragen anzudenken. (Oberbürgermeister Schwierzina, Radio DDR 1, Politik am Nachmittag, 30.5.1990.) abnicken: i.S.v. ‘absegnen, von oben bestätigen’. Unser Konzept [zur Sanierung eines Kombinats für elektronische Bauelemente] war beraten und abgenickt ... und wurde dann doch nicht realisiert. (Ein VEB -Generaldirektor auf einer Tagung in Düsseldorf, 5.6.1990.) ausnullen: i.S.v. ‘einen Wert oder Betrag durch Nullen ersetzen, streichen’. Ich habe Bestellkataloge [vom Großhandel], wo viele Ware, die wir bestellen, die dann ausgenullt ist, also gestrichen ist im Prinzip ... (Interview mit dem Leiter einer Kaufhalle, Deutschlandsender, aktuell, 22.5.1990.) Diese Wendung dürfte, wie auch die folgende, eher zum Verwaltungsjargon gehören. durchstellen: i.S.v. ‘eine Weisung nach unten durchgeben und verbindlich machen’. Am Tage der Währungsunion braucht sich kein privater Einzelhändler Sorgen zu machen. Er wird ebenso entlastet wie die volkseigenen Handelsbetriebe. Das ist also alles durchgestellt und geregelt. (Die Ministerin für Handel und Tourismus, Radio DDR 1, Hörzeit, 16.5.1990.) abrechnen: Neben der auch in der BRD üblichen Verwendungsweise wird a. gebraucht i.S.v. ‘über etwas Rechenschaft ablegen, über etwas Bericht erstatten’. Diese Projekte des Gewässerschutzes in Berlin, Sangerhausen und Schwedt sollen im nächsten Jahr auch abgerechnet werden, wenn man sich am Tag der DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 299 Umwelt zum nächsten Jugendforum trifft. (Kommentar zum europäischen Jugendforum im Berliner Reichstag, Radio DDR 1, Politik am Nachmittag, 5.6.1990.) einschätzen, daß: i.S.v. ‘eine verantwortliche Stellungnahme abgeben’. Wir müssen heute einschätzen, daß diese Maßnahmen [= zum Schutz der DDR -Landwirtschaft] bisher nicht gezogen haben, sich nicht realisieren konnten ... (Der Geschäftsführer des Genossenschaftsverbandes der DDR , Radio 1, Hörzeit, 21.5.1990.) Wir können einschätzen, daß weder an den Hochschulen noch in den Wohnheimen die entsprechenden Kapazitäten [= zur Versorgung der Studenten] vorhanden sind. (Studentenratsmitglied der Hochschule Weimar, Deutschlandsender, 25. 4.1990.) informieren, daß: (ohne Akkusativ und Präposition über) i.S.v. ‘mitteilen, daß ... ’. Er [= der Sekretär des Rates für Friedensforschung] informierte des weiteren, daß gegenwärtig mehr als 30 Betriebe der Republik Vorbereitungen zur Einstellung der Produktion von Rüstungsgütern treffen. (Berliner Allgemeine, 4.4.1990.) Regierungssprecher Gehler informierte, daß heute im Ministerrat eine Reihe von Gesetzesentwürfen verhandelt wurde. (Radio DDR 1, Politik am Nachmittag, 30.5.1990.) auf dieser Strecke: i.S.v. ‘auf diesem Gebiet, in dieser Hinsicht’. Die deutsche Sexliga hält sich nicht zurück - auf keiner Strecke. Alles was menschlich ist, ist auch ein Problem der DSL . [Zu AIDS : ] Und wir sind bemüht, auf dieser Strecke natürlich eine weit umfassende Aufklärung in der DDR zu betreiben. (Interview mit dem Hauptgeschäftsführer der deutschen Sexliga, Deutscher Fernsehfunk 2, Kontrovers, 11.6.1990.) Ich würde noch appellieren wollen an dieser Strecke, daß es sicherlich fehlspekuliert wäre, wenn sich nun jetzt jeder diese 50-Pfennig-Münzen in die Hosentasche steckt. (Ein Sprecher der Staatsbank der DDR , Deutscher Fernsehfunk 1, Donnerstagsgespräch, 31.5.1990.) in Größenordnungen: i.S.v. ‘in ganz erheblichem Umfang’. Wir haben in Größenordnungen Technik aus der Bundesrepublik importiert, um Pakete und auch Einschreiben direkt an die Haustür zu bringen. (Minister für Post und Fernmeldewesen, Deutscher Fernsehfunk, Umschau, 13.6.1990.) Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 300 Auch bei uns werden Leute entlassen, in Größenordnungen! (Hörbeleg aus einem ARD -Interview mit DDR -Werktätigen in Zwickau) [Zur Blockierung von Waren beim Großhandel: ] Es wurde auch die Kriminalpolizei in diesem Zusammenhang eingeschaltet, weil ja hier doch in Größenordnungen, dann, wenn Ware verdirbt, <284> die man an den Mann bringen könnte ... (Die Ministerin für Handel und Tourismus, Radio DDR 1, Politik am Abend, 31.5.1990.) geschuldet sein: i.S.v. ‘ist zu verdanken, hat seine Ursache in ...’. (Diese Wendung taucht [selten] auch in bundesdeutschen Texten auf, möglicherweise unter DDR-Spracheinfluß.) ... Herzlichkeit, ... wie sie aber auch einem starken Interesse an der Entwicklung in der DDR geschuldet ist. (Norddeutsche Zeitung, Schwerin, 31.3.1990.) ... Vorzugskonditionen (der Druckereien) für alte Kunden wie die LVZ [= Leipziger Volkszeitung], die alten politischen Bedingungen geschuldet sind. (Sächsisches Tageblatt, 31.3./ 1.4.1990.) ... weil, das [= die Preisstürze im Centrum-Kaufhaus] ist eindeutig dem Übergang zur Marktwirtschaft geschuldet, daß jetzt alles verkauft werden muß. (Ein Vertreter des DDR -Verbraucherschutzbundes, Deutscher Fernsehfunk 2, Klartext, 31.5.1990.) die Frage steht: i.S.v. ‘die Frage stellt sich’. Die Zeitfrage steht natürlich so, daß wir innerhalb weniger Wochen dieses ganze Gesetzeswerk fertigstellen müssen ... (Staatssekretär im Justizministerium, Deutscher Fernsehfunk, AK 2, 5.6.1990.) DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 301 Literaturverzeichnis Ahrends 1989: Martin Ahrends, Allseitig gefestigt. Stichwörter zum Sprachgebrauch der DDR ; München 1989 (dtv-Sachbuch, 11126). (1. Aufl. unter dem Titel Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon - Das Wörterbuch der DDR -Sprache, München 1986.) Debus / Hellmann / Schlosser 1986: Debus / Hellmann / Schlosser (Hgg.), Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR (= Germanistische Linguistik, 82-83); Hildesheim/ Zürich/ New York 1986. Dieckmann 1967: Walther Dieckmann, Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem; in: Zeitschrift für deutsche Sprache, XXIII (1967), S. 136- 165. Dieckmann 1989: Walther Dieckmann, Die Untersuchung der deutsch-deutschen Sprachentwicklung als linguistisches Problem; in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, XVII (1989), H. 2, S. 162-181. Fleischer 1983: Wolfgang Fleischer, Die deutsche Sprache in der DDR : Grundsätzliche Überlegungen zur Sprachsituation; in: Linguistische Studien, Reihe A, 111; 1983, S. 258-275. Fleischer 1987: Wolfgang Fleischer (Hg.), Wortschatz der deutschen Sprache in der DDR , Leipzig 1987. 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Zu Peter von Polenz' Kritik an Hugo Moser; in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, XVII , H. 1/ 1989, S. 84-93. < 285 > Hellmann 1989c: Manfred W. Hellmann, Zwei Gesellschaften - zwei Sprachkulturen? Acht Thesen zur öffentlichen Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik; in: Forum für interdisziplinäre Forschung, 11 (1989), S. 27-38. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 302 Hellmann 1989d: Manfred W. Hellmann, Sprache der Deutschen: Wer webt am einigenden Band? Gegenthesen zu Wolf Oschlies' Referat; Mannheim 1989 (unveröff. Vortragsmanuskript für die 22. Deutschlandpolitische Tagung 1989). Hellmann 1990 a: Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpus-Wörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten, 2 Bde. plus Anhang (erscheint 1990). [Erschienen in 3 Bänden 1992. Siehe Beitrag Nr. 10 in diesem Band. MWH ] Hellmann 1990b: „Ich suche eine Wohnung“. Zur vergleichenden Untersuchung alltagssprachlichen Handelns in beiden deutschen Staaten; in: H.D. Schlosser (Hg.), Die Spezifik des öffentlichen Lebens und der Alltagskommunikation in der DDR (Sammelband, erscheint 1990).[*] Herberg 1989: Dieter Herberg, Ein Wörterbuch der DDR -Neologismen. Prinzipien seiner inhaltlichen und formalen Gestaltung; in: Hyldgaard-Jensen / Zettersten (Hgg.), Symposion on Lexicography. IV (= Lexicographica. Series maior, 26); Tübingen 1989, S. 143-162. Kinne / Strube-Edelmann 1981: Michael Kinne und Birgit Strube-Edelmann, Kleines Wörterbuch des DDR -Wortschatzes. 2. Aufl.; Düsseldorf 1981 (Schwann). Kinne 1990: Michael Kinne, Deutsch 1989 in den Farben der DDR . Sprachlich Markantes aus der Zeit vor und nach der Wende; in: Der Sprachdienst, XXXIV (1990), H. 1, S. 13-18. Kotte 1990: Hans Hermann Kotte, Der Broiler hat noch eine Überlebenschance. Interview mit dem Linguisten Manfred W. Hellmann vom Institut für deutsche Sprache über die deutsch-deutsche Zweisprachigkeit; in: taz vom 12.3.1990, S. 16. Lang 1989: Ewald Lang, Neues Vorwort zu Martin Ahrends, Allseitig gefestigt; 1989, unveröff. Manuskript. Lang 1990: Wendehals und Stasi-Laus. Demo-Sprüche aus der DDR . Hg. und zusammengestellt von Ewald Lang; München 1990 (Heyne Tb. 01/ 7829). Lehmann 1972: Heidi Lehmann, Russisch-deutsche Lehnbeziehungen im Wortschatz offizieller Wirtschaftstexte der DDR , Düsseldorf 1972 (= Sprache der Gegenwart, Bd. 21). Lerchner 1976: Gotthard Lerchner, Nationalsprachliche Varianten; in: Forum, III (1976), S. 10f. Moser 1962: Hugo Moser, Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands (= Beihefte zum Wirkenden Wort, 3); Düsseldorf 1962. [* Erschienen 1991 mit dem Titel „Komminikationsbedingungen und Alltagssprache in der ehemaligen DDR “ (Buske Verlag Hamburg), S. 19-32 (= Beitrag Nr. 9 in diesem Band). MWH ] DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme 303 Oschlies 1989a: Wolf Oschlies, Sprache der Deutschen: Reißt, hält oder festigt sich das „einigende Band “? ; in: Die DDR im vierzigsten Jahr - Geschichte, Situation, Perspektiven. 22. Tagung zum Stand der DDR -Forschung in der Bundesrepublik Deutschland; Köln 1989 (Edition Deutschland-Archiv), S. 106-117. Oschlies 1989b: Wolf Oschlies, Würgende und wirkende Wörter - Deutschsprechen in der DDR ; Berlin 1989 (Verlag Gebr. Holzapfel). Polenz 1988: Peter von Polenz, „Binnendeutsch“ oder plurizentrische Sprachkultur? Ein Plädoyer für Normalisierung in der Frage der „nationalen“ Varietäten; in: Zeitschrift für Germanistische. Linguistik, XVI (1988), S. 198-218. Reich 1968: Hans H. Reich, Sprache und Politik. Untersuchungen zu Wortschatz und Wortwahl des offiziellen Sprachgebrauchs in der DDR ; München 1968 (= Münchener Germanistische Beiträge, Bd. 1). 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Sommerfeldt 1990: Karl Ernst Sommerfeldt, Die Wende und die Sprache; in: Neue Deutsche Presse, XLIV (1990), H. 6, S. 20f. WDG : Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, 6 Bände, hg. von W. Steinitz und R. Klappenbach; Berlin (O) 1964-1977, Akademie der Wissenschaften der DDR - Zentralinstitut für Sprachwissenschaft. Wirtschaftsbegriffe 1990: Wirtschaftsbegriffe in Ost und West. 200 ausgewählte betriebswirtschaftliche Begriffe - interpretiert aus marktwirtschaftlicher beziehungsweise planwirtschaftlicher Sicht als Handlungs- und Orientierungshilfe. Hg.: Deutsche Bank AG , Zentrale Presseabteilung; Verfasser: Egon Kahle, Lutz Kruschwitz, Rolf Merkel, Wilma Merkel; Frankfurt am Main 1990 (Eigendruck Deutsche Bank). Aus: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache 103 (1993), S. 185-218. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Gesellschaft für deutsche Sprache.] Vorwort Schon einmal hat die Muttersprache ein Themenheft ähnlichen Inhalts zusammengestellt (H. 3-4, Jg. 1981): „Sprache in Deutsch-Land“ könnte auch der Titel dieses Heftes sein. Im Jahre 1981 ging es um die Veränderungen in der deutschen Sprache als Folge der fortdauernden politischen Teilung und um die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung damit. 1993 geht es um sprachliche, kommunikative, mediale Veränderungen infolge der politischen „Wende“ in der DDR und der Vereinigung Deutschlands. Ohne Zweifel, das Thema boomt (auch dieser „westliche“ Ausdruck, wie hundert andere, wäre vielen DDR-Bürgern vor drei Jahren noch sehr unvertraut gewesen). Seit jenem ersten, noch unmittelbar aus der unübersichtlichen Situation des Jahreswechsels 1989/ 90 heraus geschriebenen Sammelband Wörter und Wendungen - Von der Sprache der Konfrontation zur Sprache der Kooperation (hg. vom DDR-Komitee für wissenschaftliche Fragen der Sicherung des Friedens und der Abrüstung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1990) sind mindestens fünf weitere Sammelbände oder Themenhefte sowie mehrere Monographien erschienen, und weitere sind angekündigt; hinzu kommt eine Fülle von Zeitschriftenaufsätzen und journalistischen Beiträgen. Eine für dieses Heft vorgesehene Bibliographie zum Thema überschritt, obwohl noch unvollständig, mit über 250 Titeln jeden hier vertretbaren Umfang. Das Institut für deutsche Sprache (IDS), Mannheim, wird nun voraussichtlich 1994 einen Literaturbericht mit Bibliographie zur sprachlichen Wende veröffentlichen.[*] Ein gemeinsames Merkmal fast aller Sammelbände zum Thema ist, daß Autoren aus Ost und West daran mitgewirkt haben. Dieses Heft macht darin [* Vgl. Manfred W. Hellmann (1999): Wende-Bibliografie. Literatur und Nachschlagewerke zu Sprache und Kommunikation im geteilten und vereinigten Deutschland ab Januar 1990. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 99). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. MWH ] Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 306 keine Ausnahme: Während Colin Good, Manfred W. Hellmann, Wolf Oschlies und Horst Dieter Schlosser als Westautoren schon seit Jahren mit dem Thema der sprachlichen Entwicklung in den beiden deutschen Staaten befaßt waren, sind mit Claudia Fraas, Dieter Herberg und Kathrin Steyer Kolleginnen bzw. ein Kollege aus dem früheren Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (Ost-Berlin) beteiligt, heute sind sie mit 18 anderen am IDS tätig. Die Integration schreitet wenigstens auf diesem Gebiet voran. Die erste sprachliche Wende in der Nachkriegszeit, die Zeit vom Zusammenbruch des Hitlerreiches bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, ist aus verschiedenen Gründen so gut wie ununtersucht geblieben. Dazu, daß gleiches mit der zweiten Wende nicht geschieht, will dieses Heft sein Scherflein beitragen. Manfred W. Hellmann, Mannheim, Gerhard Müller, Wiesbaden <186> Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 307 Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 1 Zum Ansatz der Untersuchung 1.1 „Gesamtdeutsche Korpus-Initiative“ und wendebedingter Sprachwandel Der Anlaß zur Beschäftigung mit einer Zeitungsausgabe aus der „heißen“ Phase der Wende - und gerade mit dieser Ausgabe dieser Zeitung - kam indirekt von außen. Er steht in Zusammenhang mit einem Arbeitsvorhaben, das schon kurz nach der Wende, nämlich im April/ Mai 1990 zwischen dem Institut für deutsche Sprache in Mannheim und dem Zentralinstitut für Sprachwissenschaft in Ostberlin verabredet und im Sommer 1990 auch als befristetes Projekt bewilligt worden war: die „Gesamtdeutsche Korpus- Initiative“ (GKI). 1 Ausgehend von der Erkenntnis, daß wir im Zusammenhang mit den aktuellen gesellschaftlich-politischen Veränderungen in der DDR Zeugen eines nahezu alle Lebensbereiche erfassenden sprachlichen Wandels sind, wie es ihn in dieser Radikalität und Schnelligkeit wohl noch nie, jedenfalls seit 1945 nicht mehr gegeben hat, hatten sich die beiden Institute das Ziel gesetzt, diesen sprachlichen Wandel in einem rechnerverfügbaren Korpus verschiedener publizistischer Genres und Textsorten zu dokumentieren. Der Erfassungszeitraum sollte, in mehreren Phasen, von etwa Mai 1989 bis Ende 1990 reichen; gut die Hälfte der Texte sollten aus dem Kommunikationsraum DDR, der Rest aus der BRD stammen; geplanter Gesamtumfang: etwa 4 Millionen Wörter. Je eine Arbeitsgruppe in Ostberlin und in Mannheim kümmerten sich um die Zusammenstellung und Erfassung der Texte. Zuerst als Referat auf der sprachwissenschaftlichen Konferenz in Zwickau (11./ 12.9.1991) unter gleichem Titel. Die seinerzeit verteilten Tagungsmaterialien sind in dem Tagungsband der Pädagogischen Hochschule Zwickau abgedruckt: Materialien zur wissenschaftlichen Konferenz „Zum Sprachgebrauch unter dem Zeichen von Hammer, Zirkel und Ährenkranz“. Zwickau im September 1991; Redaktion: F-P. Scherf, S. 73-86. Dieser Band, erschienen 1992, ist nur über die PH Zwickau erhältlich. 1 Dazu siehe Dieter Herberg / Gerhard Stickel. Gesamtdeutsche Korpusinitiative - ein Dokumentationsprojekt zur Sprachentwicklung 1989/ 90; in: Deutsche Sprache, XX (1992), H. 2, S. 185-192. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 308 Zum Zeitpunkt der Untersuchung, über die hier berichtet werden soll, war das bald so genannte „Wendekorpus“ noch nicht voll rechnerverfügbar 2 ; seit Sommer 1992 steht es jedoch zur maschinellen Auswertung zur Verfügung (Näheres enthält der Bericht von D. Herberg in diesem Heft). Noch während der Arbeiten am Wendekorpus begannen die Überlegungen zu seiner Auswertung. Zum einen war klar, daß vor allem Wortschatz und Wortgebrauch sowohl qualitativ als auch quantitativ in besonderer Weise einem intensiven Wandel unterworfen sein würden. Aber damit allein ließe sich der wendebedingte <187> Sprachwandel sicher nicht beschreiben. Betroffen und somit zu untersuchen sind auch Phraseologie und Metaphorik, Stil und Intention, Rückgang bzw. Neuauftauchen von Textsorten, Veränderung von Argumentationsmustern im Zusammenhang z.B. mit der Pluralisierung politischer Leitwerte, der Wechsel dominanter Themen und ihrer Schlagwörter im öffentlichen Diskurs und vieles andere mehr. Und so notwendig und faszinierend die Konzentration auf den einmaligen Vorgang des Umbaus einer ganzen Gesellschaft auch ist, darf nicht übersehen werden, daß wir es hier mit Phänomenen sprachlichen Wandels zu tun haben, die vielleicht typisch sind für sprachlichen Wandel überhaupt und auch nicht ohne Bezug zu längerfristigen Wandlungsvorgängen zu erklären sind. Wie dem genannten Bericht zu entnehmen ist, ergaben sich daraus drei annähernd parallele Ansätze der Korpusauswertung: ein lexikographischer, der dem Benutzer vor allem einen schnellen alphabetischen Zugriff auf das wendebeeinflußte Vokabular ermöglichen soll, ein mehr methodischer, besonders auf Fragen der Neologie gerichteter und ein der Text- und Diskursanalyse verpflichteter Ansatz. Dem ersten und zweiten Ansatz gemeinsam ist unter anderem, daß eine Typologie der wendebeeinflußten lexikalischen Vorgänge benötigt wird, nach der sich die lexikalischen Einheiten klassifizieren lassen, daß Häufigkeiten und Häufigkeitsvergleiche eine wichtige Rolle spielen und daß - methodisch-praktisch gesehen - Verfahren entwickelt werden müssen, um mit dem Reichtum an vermutlich wenderelevanten Wörtern wie auch an Belegen fertig zu werden. Ein „richtiges“ Wörterbuch wird man freilich als Ergebnis der lexikographischen Auswertung nicht erwarten dürfen, da die Laufzeit des Vorhabens auf 2 Das Wendekorpus ist mit dem Recherchesystem COSMAS seit März 1992 verfügbar, konnte jedoch wegen technischer Umstellungen (Umzug) erst ab Juli/ August 1992 voll in Benutzung genommen werden. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 309 nur zwölf Monate begrenzt ist. Aber auch ein mit Sachkenntnis zusammengestelltes Register wendebeeinflußter Wörter und Wortgruppen mit Häufigkeitsangaben kann nicht nur eine wichtige Vorstufe weiterer lexikographischer Arbeit, sondern auch eine erste Orientierung für den interessierten externen Benutzer des Wendekorpus sein. Ein sehr wichtiger Aspekt nicht nur für die Auswertung, sondern schon für die Zusammenstellung des Korpus und für die Textauswahl war die schon angedeutete Gliederung in bestimmte Phasen, die primär durch außersprachliche Entwicklungen definiert werden, denen gleichwohl bestimmte typische Wörter, Wendungen oder Losungen, aber auch bestimmte dominante Themen, zum Teil auch Textgruppen bzw. Verfassergruppen und, so ist zu vermuten, auch charakteristische Bündelungen sprachlicher Merkmale zuzuordnen sind. Eine vorläufige Übersicht 3 gliedert folgendermaßen, wobei die angegebenen Rahmendaten keinesfalls als starre Grenzen zu betrachten sind: 1. Vorphase: Sommer und Frühherbst 1989. Von der (gefälschten) Kommunalwahl bis zum 40. Jahrestag der DDR (7. Oktober). Vokabularbeispiele: Sozialismus in den Farben der DDR, staatsfeindliche Kräfte, Ausreisedruck, Dableiber, Rückkehrwillige, Botschaftsflüchtlinge, Friedensgebet, Zugeführte, chinesische Lösung. 2. Heiße Phase: Vom 40. Jahrestag bis zur Grenzöffnung (Nov./ Dez. 1989). Vokabularbeispiele: Montagsdemo, gesellschaftlicher Dialog, Bürgerbewegungen, friedliche/ sanfte Revolution, moderner/ attraktiver Sozialismus, Wendezeit, Maueröffnung, Mauerspecht. <188> 3. Wahlvorbereitungsphase: Von der Grenzöffnung bis zur Volkskammerwahl (Dez. 1989 bis 18. März 1990). Vokabularbeispiele: Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), runder Tisch, Stasi-Auflöser, Blockflöten, Allianz für Deutschland, Ost-SPD, West-Grüne, Konföderation, Vereinigung. 4. Vereinigungsphase 1: Von der Volkskammerwahl zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion (März 1990 bis Juli/ August 1990). Vokabularbeispiele: DM-Einführung, Umstellungsantrag, Alu-Chips, Einkaufstourismus, Kommandowirtschaft, Noch-DDR, Privatisierung. 3 Vgl. Sprachreport ( IDS ), Nr. 1/ 1991, S. 6; die dortige (und hier übernommene) Einteilung in 5 Phasen ist in Arbeitspapieren weiter differenziert worden. Vgl. Claudia Fraas, Beobachtungen zur deutschen Lexik vor und nach der „Wende“; in: Deutschunterricht, 12/ 1990 (Ost), S. 594-599. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 310 5. Vereinigungsphase 2: Von der WWS-Union zur staatlichen Vereinigung (August 1990 bis Oktober 1990). Vokabularbeispiele: Einheitsgalopp, Einigungsvertrag, Fest der Einheit, Beitrittsländer, Altbundesländer, Zweiplus-Vier-Gespräche, BRDigung der DDR, Treuhandanstalt, Abwicklung. Während diese Liste hauptsächlich Beispiele für Neubildungen oder neue Gebrauchsweisen schon vorhandener Wörter enthält, gibt es daneben auch wortgeschichtliche Vorgänge, wie die Wiederbelebung früher gebrauchter Wörter (Mitläufer, Persilschein, Entflechtung [von Kombinaten]) oder den Vorgang der Archaisierung bzw. Historisierung von Wörtern, sei es, daß der Ausdruck veraltet und ggf. durch einen anderen ersetzt wird (Vorsitzender des Ministerrates Ministerpräsident, Werktätige Arbeitnehmer), sei es, daß die Sache selbst innerhalb des vom Korpus abgedeckten Zeitraums verschwindet und die Bezeichnung dafür nur noch als für etwas Vergangenes (und in der Regel seltener) gebraucht wird (volkseigen, Arbeiter-und-Bauern-Inspektion, sozialistischer Wettbewerb) oder gar (außer für Spezialisten) weitgehend aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwindet (gesellschaftliche Bedarfsträger, Tag der Werktätigen im Bereich der haus- und kommunalwirtschaftlichen Dienstleistungen und ähnliches). Auch in ausgebauter Form ist ein Wörterbuch sicherlich nicht die optimale Form der Darstellung geschichtlicher Entwicklungen, selbst wenn diese Entwicklungen sich in einem relativ kurzen und daher synchron überblickbaren Zeitraum (also sagen wir: mikrodiachronisch) ereignen. Immerhin wird man sich Hinweise auf Vorkommen, abnehmende oder zunehmende Häufigkeit in bestimmten Phasen, auf Bezeichnungs-, Bedeutungs-, Wertungswandel etc. vorstellen können. Wenn solche Entwicklungen nicht nur das Einzelwort, sondern Gruppen von Wörtern betreffen, ist das Wörterbuch bzw. der einzelne Wortartikel als Darstellungsform ohnehin in der Regel überfordert. Für Beschreibungen von Wortfeldern oder von Wandlungsvorgängen in zentralen Paradigmen des öffentlichen Diskurses ist daher die Form linguistischer Studien naheliegend. Von einem Wörterbuch hingegen wird man, abgesehen von einer in der Regel höheren Zahl gebuchter lexikalischer Einheiten, eine angemessene Berücksichtigung der unterschiedlichen Bestandstypen erwarten. Dies setzt zum einen eine möglichst einfach zu handhabende Definition des Begriffs „wendebetroffenes Vokabular“ voraus, zum anderen aber auch die Findung von Merkmalen, die sich zur Bildung von Kategorien bzw. Typen eignen. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 311 Ansätze dazu gab es schon für die Beschreibung von DDRbzw. BRD- Spezifika (nicht sehr praktikable, wie ich meine 4 ); einzelne Versuche zur Typenbildung gibt es auch in der gegenwärtigen Literatur zur sprachli- <189> chen Wende. 5 Wie weit sie sich zur lexikographischen Gliederung und Beschreibung des wendebetroffenen Vokabulars eines konkreten Textkorpus eignen oder ob vielleicht ganz andere Kategorien zu entwickeln sind, wie stark die einzelnen Typen, wenn sie gefunden sind, belegt sind und wie ergiebig überhaupt das Material ist (und wie arbeitsaufwendig seine lexikologische Analyse), all das kann erst ein Test am Material selbst erweisen. Insbesondere gilt das für die (mich besonders interessierenden) zu erwartenden Mischungsvorgänge z.B. zwischen Altem und Neuem, Beharrung und Reform, Affirmation und Innovation und die Schwierigkeiten, die sie Analyse und Darstellung bereiten würden. 1.2 Testmenge und Testziel - Warum nur eine LVZ-Ausgabe? Mit diesem Test hatte es seine Schwierigkeiten, da, wie gesagt, das Wendekorpus im Herbst 1991 noch nicht zugänglich war. Daher ergab sich die Notwendigkeit, auf eigene Faust eine Testmenge auszuwählen, die natürlich nicht alle, sondern nur ganz bestimmte Eigenschaften des Gesamtkorpus 4 Bibliographische Hinweise auf diese Diskussion in dem bei G. Narr erschienenen dreibändigen Wörterbuch von M.W. Hellmann (Hg.), Wörter und Wortgebrauch in Ost und West; Tübingen 1992, S. *19 (Einführung). [= Beitrag Nr. 10 in diesem Band.] 5 So z.B. bei Doris Böhlke, Zur Wortschatzentwicklung in der DDR - Entwicklungstendenzen seit der „Wende“; in: Le Langage et l'homme, Bd. 25, Nr. 4 (Dezember 1990), S. 227- 232; Claudia Fraas, 1990 (wie Anm. 3); Maria Jaeschke, Von „Apparat“ bis „Zoni“ - Die Wende im Spiegel des Wortschatzes; in: Le Langage et l'homme, Bd. 25, Nr. 4 (Dezember 1990), S. 269-277; Helmut Liebsch, Zur Entwicklung der deutschen Sprache in der BRDDR und deren Erfassung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts; in: Deutsch-Ungarische Beiträge zur Germanistik 1991 (Goethe-Institut Budapest), 10. Jg. (1991), S. 77-92. Zur Literatur zu den sprachlichen Erscheinungen während bzw. infolge der Wende vgl. Manfred W. Hellmann: DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme; in: Muttersprache; C, H. 2-3/ 1990, S. 266-286; vgl. auch Claudia Fraas / Kathrin Steyer, Sprache der Wende - Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch; in: Deutsche Sprache, XX (1992) H. 2, S. 172-184. Zur Literatur bis zur Wende vgl. zuletzt Horst Dieter Schlosser, Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen; Köln 1990. Siehe jetzt auch den guten Überblick bei Peter v. Polenz (Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989; in: ZGL 3/ 1993); eine ausgebaute Bibliographie zur Literatur vor und nach der Wende wird z.Zt. von mir erarbeitet. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 312 abzubilden erlaubte. Um den Test nicht übermäßig zu komplizieren, habe ich auf die Korpuseigenschaft Diachronizität zunächst verzichtet, d.h., ich habe aus dem Gesamtzeitraum nur eine Stichprobe gezogen; im Rahmen eines erweiterten Tests ließe sich diese Einschränkung durch Ziehung weiterer Stichproben in zeitlicher Distanz voneinander aufheben. Ebenfalls verzichtet habe ich auf die Abbildung der Genre-Vielfalt des Korpus. Unter den zahlreichen im Korpus vertretenen Genres nehmen Zeitungen einen wichtigen Platz ein; gerade sie machen es leicht, aus dem kontinuierlichen Strom der Zeit einzelne Stichproben zu ziehen. Neben überregionalen (u.a. ND, Der Morgen, Wochenpost) enthält das Korpus auch Regionalzeitungen (u.a. Berliner Zeitung, Leipziger Volkszeitung). Letztere erschienen mir als Typ interessanter, da sie in besonderer Weise die immer stärker wachsenden Spannungen zwischen System und Alltagsrealität gerade in ihrem Regionalbzw. Lokalteil zum Ausdruck bringen mußten. Ganz besonders war dies für die Leipziger Volkszeitung 6 zu vermuten, war doch Leipzig mit seinen Montagsdemos Motor der Entwicklung in der ganzen Republik. Die Entscheidung für den Zeitraum fiel leicht: Für diesen Test lag die Wahl eines Zeitraums nahe, in dem noch möglichst wenig vorentschieden, möglichst viel offen <190> und unsicher war und die Entwicklungslinien sich überschnitten, also den Zeitraum der Phase 2. Innerhalb dieses Zeitraums läßt sich weiter einschränken: nach Honeckers Rücktritt (18. Oktober), aber noch vor Öffnung der Mauer (9. November 1989), denn danach stand die Frage der Weiterexistenz der DDR selbst zur Diskussion; es war danach nicht mehr alles offen. Besonders interessant als typische Übergangsphase mit wenig Chancen auf längeren Bestand erschien mir der Anfang der Ära Krenz mit ihrer Propaganda für den großen „gesellschaftlichen Dialog“ und der geringen Neigung zu durchgreifenden Reformen, also nach dem 24. Oktober. Ich entschied mich schließlich für die Freitagsausgabe vom 27. Oktober, die keine großen Sensationen, dafür aber viel über Leipzig enthält sowie einen ausgebauten Anzeigenteil (Privat- [u.a. Wohnungs-] und Geschäftsanzeigen) und nur wenig Sport. 6 Bis Dezember 1989 war sie „Organ der Bezirksleitung Leipzig der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ und mit ca. 485 000 Auflage eine der größten Bezirkszeitungen der SED . Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 313 Die Entscheidung für diese eine Zeitungsausgabe impliziert zum einen, daß ein Früher-Später-Vergleich im strengen Sinne nicht möglich ist; eine „Momentaufnahme“ ermöglicht keine Aussage über eine Entwicklung. In einem erweiterten, allerdings vageren Sinn sind entwicklungsbezogene Beobachtungen jedoch insoweit möglich, als umfangreiche Beobachtungen zum Sprachgebrauch der DDR-Presse vor der Wende ja durchaus vorliegen. Gleiches gilt auch für den Ost-West-Vergleich: Das Fehlen aktuellen westdeutschen Vergleichsmaterials in meiner Auswahl kann teilweise kompensiert werden durch die Kenntnis der Ost-West-Sprachdifferenzen vor der Wende. - Schwierig ohne Vergleich mit anderen Zeitungen ist auch eine Überprüfung dessen, was die LVZ nicht oder anders bringt als andere Zeitungen. Auch der Grad der Abhängigkeit der LVZ vom „Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst“ (ADN) bzw. vom Neuen Deutschland kann ohne Vergleich mit entsprechendem Material nicht ausreichend festgestellt werden. Hierin begründete Defizite muß ich vorläufig in Kauf nehmen. Auf der anderen Seite bietet die Konzentration auf nur eine Zeitungsausgabe eine Reihe von Vorteilen. Sie ermöglicht nicht nur, sie erzwingt geradezu eine intensivere Beschäftigung mit allen oder doch einer Vielzahl von Aspekten, die Erscheinungsbild, Inhalt und sprachliche Gestaltung gerade dieser Ausgabe prägen, einschließlich der äußeren Bedingungen, unter denen die Bezirkspresse der SED allgemein und die LVZ-Ausgabe vom 27. Oktober 1989 speziell entstanden ist. Fürs erstere gibt es eine umfangreiche Fachliteratur, die hier nicht im einzelnen zitiert wird; fürs letztere hatte ich Gelegenheit, den Chefredakteur der LVZ Dr. Wolfgang Tiedke, der dieses Amt seit Mitte November 1989 7 innehat, zu interviewen. Seine Auskünfte werden hier berücksichtigt, allerdings kaum zitiert (das Interview selbst wird auszugsweise an anderer Stelle publiziert). 8 Ob ein solcher Griff in den publizistischen Strom der Zeit nach einem bestimmten Exemplar einer Zeitung nicht bloß Zufälliges zutage fördert, sondern wirklich Typisches, Exemplarisches, weiß man erst hinterher. Um dies vorwegzunehmen: Zumindest von der Quantität der publizistischen und 7 Dr. Wolfgang Tiedke wurde nach zweijähriger Amtszeit im November 1991 durch einen Vertrauensmann des neuen Mehrheitsgesellschafters Madsack (Hannover) abgelöst. 8 Vgl. Gegründet 1894 - Interview mit dem Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung Dr. Wolfgang Tiedke; in: Sprachreport, Nr. 2-3/ 1992. Mit einem Kommentar von Manfred W. Hellmann („Babylon oder Die Leipziger Volkszeitung in der Wende“), ebenda. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 314 sprachlichen Phänomene in dieser einen Zeitungsausgabe, aber auch von ihrer Vielfalt, bin ich regelrecht überrollt wor- <191> den. Schon eine reine Auflistung aller Auffälligkeiten in Wortschatz und Wortgebrauch nur aus den ersten zwei Seiten dieser zwölfseitigen Ausgabe erbrachte annähernd 430 Einträge. Wortschatz- und Wortgebrauchsanalyse liefern also schon für sich mehr als genug Material für einen eigenen Beitrag; sie werden hier, von bestimmten Beispielen abgesehen, ausgeklammert. 9 Hier sollen folgende Aspekte im Vordergrund stehen: - die redaktionellen und sonstigen Rahmenbedingungen der LVZ-Ausgabe vom 27. Oktober, - Aufbau der Zeitung, - Themenschwerpunkte und Themenverweigerung, - Tendenzen: Journalistische Affirmation versus Innovation, - Argumentationslinien (am Beispiel), - Stilistisches (am Beispiel), - zentrale Paradigmen des öffentlichen Diskurses: DIALOG und WENDE. 2 Die Rahmenbedingungen der LVZ-Ausgabe vom 27. Oktober 1989 2.1 Strukturelle und redaktionelle Bedingungen Die LVZ gehört im Oktober 1989 noch zum Medienimperium der SED und nennt sich in der Unterzeile des Kopfes „Organ der Bezirksleitung Leipzig der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Nicht nur hierin folgt sie dem Vorbild des Neuen Deutschland, sondern auch in der Losung rechts oberhalb des Titelkopfes: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “. Auf Seite 2, gleich unterhalb des Impressums, versäumt die LVZ auch nicht, auf verliehene Orden hinzuweisen: „LVZ wurde mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.“ (Das Neue Deutschland [ND] druckte seine zwei Orden als Abbildung in fast natürlicher Größe links neben dem Titel.) Redaktionelle Eigenständigkeit besaßen die Bezirkszeitungen der SED allenfalls im Regionalbzw. Lokalteil, und auch dies nur relativ. Im außenpolitischen Teil waren sie vollständig von ADN abhängig; mit Ausnahme des ND verfügte nur diese staatliche Nachrichtenagentur über ein Korrespondenten- 9 Eine Materialanalyse mit gesonderter Basis bei M.W. Hellmann (wie Anm. 5). Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 315 netz; die Übernahme von Nachrichten aus anderen Agenturen oder gar eigene Recherchen waren strikt untersagt. In schwierigen Fällen warteten die Redaktionen noch die Kommentierung durch das ND oder sonst eine amtliche Formulierungshilfe ab. Für die Bereiche Innenpolitik einschließlich Wirtschaft galt das gleiche. Alle Chefredaktionen hatten direkte Verbindungen zur Abteilung Agitation des ZK und zum Presseamt des Ministerrates, zusätzlich gab es spezielle schriftliche Anweisungen sowohl strategischer (Schwerpunktthemen der Propaganda) als auch taktischer Art (Formulierungsanweisungen). Abweichungen von der Linie führten in der Regel zu Reaktionen von „oben“ - unterschiedlicher Art. Zumindest wurde dies in den Redaktionen unterstellt und mit Beispielen belegt. Sofern Abweichungen oder sonstige Selbständigkeiten nicht schon durch Selbstzensur („die Schere im Kopf“) unterbunden wurden, scheiterten sie auf der Ebene der Ressortleiter oder in der Redaktionskonferenz, oft mit Hinweis auf die erwartete Reaktion von „oben“. Ob dann wirklich etwas „passierte“, wurde allerdings äußerst selten ausprobiert; die meisten Journalisten bestreiten heute nicht, daß der tatsächlich vorhandene Spielraum wohl doch etwas größer war als der von <192> ihnen genutzte. Für die gesamte Presse galt mehr oder weniger - und für die Parteipresse eben mehr - die Leninsche Definition als „kollektiver Agitator, Propagandist und Organisator“; die jungen Journalisten wurden in ihrer Ausbildung stärker als alle anderen Studenten agitiert, sich als Kämpfer der Partei zu verstehen. Das gleichzeitig geltende und öfter wiederholte Gebot, „wirklichkeitsnah“ und leserorientiert zu schreiben, abgenutzte Formeln zu vermeiden und „überzeugend“ zu sein, unterlag in aller Regel sehr rasch dem Druck oder Wunsch, „auf Linie“ zu bleiben, und der Erfahrung, daß Wirklichkeits- und Lesernähe, persönlicher Einsatz und individueller Stil hohe Risikofaktoren waren und sich oft als unerwünscht erwiesen. Besonders unangenehm für die Verfasser selbst ganz linientreu gemeinter „positiver Kritik“ war es, wenn sie von westlichen Medien aufgegriffen wurde: Sie kam dann, wie W. Tiedke aus eigener Erfahrung berichtet, „über die Westkurve als Bumerang auf den Autor zurück“ 10 und löste gelegentlich mittlere Staatsaktionen aus. Sicherlich Erfahrungen, die man möglichst nicht wiederholte. Trotzdem bleibt Erstaunen zurück bei der Vorstellung, daß so viele intelligente Menschen damit beschäftigt waren (und zum Teil über viele Jahre 10 Siehe Anm. 8. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 316 blieben), ihren Lesern wissentlich eine Scheinwelt aus Formeln vorzusetzen, die den Bezug zur tristen, ja erkennbar krisenhaften Realität immer mehr verlor, und sich statt dessen durch Selbstlob und Schönfärberei, Diskreditierung vermeintlicher Gegner („negativer Kräfte“), durch Aufrufe oder Ankündigungen von neuen Aktivitäten oder durch Bekräftigung betulicher Harmonie unter dem Dach der „führenden Rolle der Partei“ letztlich um jeden journalistischen Einfluß brachten. Es fällt mir schwer anzunehmen, daß die Mehrzahl der Journalisten noch glauben konnte, ihre Leser mit solchem „staatlich-bürokratischen Verlautbarungs-, Desinformations- und Anpassungsjournalismus“ - so W. Tiedke (selbst)kritisch über die frühere Arbeit seiner Kollegen 11 - wirklich zu erreichen und zu überzeugen. Im politischen Teil der Zeitung zumindest war die SED-Bezirkspresse seit Jahren zum Echo der Formeln von „oben“ degeneriert, zur Projektionswand der Wunsch- und Scheinwelt des real eben nicht existierenden Sozialismus, zum Lautsprecher sprachlicher Staatsrituale: Die obersten Hundert hörten schließlich nur noch das Echo der eigenen entfremdeten Propaganda und werteten dies als Bestätigung: Es gibt die Welt, die wir meinen - audiamus nos, ergo sumus. Ungewollt - so läßt sich vielleicht folgern - wirkten die parteitreuen Journalisten an der Aushöhlung des Systems und an seinem Sturz maßgeblich mit. Daß es auch andere gab, soll nicht bestritten werden. Es gab Leute, die sich verweigerten; sie blieben meist nicht lange. Es gab Refugien im Lokalteil, in der Sport- und der Kulturredaktion, in denen der Druck weniger stark war. Den Kulturjournalisten in der DDR, so sagte Irene Böhme 1985 in einer Frankfurter Podiumsdiskussion aus eigener Kenntnis 12 , ging es „meist ein bißchen besser als den andern, weil wir ja doch die Kasper und die Clowns sind, auch innerhalb des Pressewesens der DDR ... Wir mußten nicht irgendwo antreten bei unserm Chefredakteur und kriegten dann gesagt, wie die neuen Synonyme für Völkerfreundschaft heißen.“ Sehr weit können diese Refugien freilich nicht gewesen sein: Monika Maron, früher Journalistin bei der <193> Wochenpost, läßt in ihrem Roman Flugasche 13 ihre Heldin, eine Journalistin, zerbrechen bei dem Versuch, eine halbwegs wirklichkeitsnahe 11 W. Tiedke in dem Editorial „Leipzigs große Zeitung“, LVZ vom 17. September 1990, S. 1. An diesem Tag erschien die LVZ zum erstenmal in neuem, modernem Layout. 12 Podiumsdiskussion, in: Debus / Hellmann / Schlosser (Hgg.). Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR ; 1986, S. 297-318, hier S. 307. 13 Monika Maron, Flugasche (Roman); Frankfurt/ Main: Fischer 1981. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 317 Reportage über ein Großkraftwerk zu schreiben. Auch die Presse der Blockparteien scheint etwas mehr Freiräume gehabt zu haben, wenngleich sie gerade hier nur selten genutzt wurden. Immerhin: Der Morgen, die überregionale Zeitung der LDPD, bewies seit Oktober 1989, was trotz herrschender Zensur zu sagen alles möglich war. 14 Auch dies gehört zu dem Hintergrund, vor dem eine SED-Zeitung wie die LVZ zu sehen ist. 2.2 Die Redaktion An der Zusammensetzung der LVZ-Redaktion hatte sich bis zum 27. Oktober noch nichts geändert: Das Impressum nennt als zum „Redaktionskollegium“ gehörig als Chefredakteur unverändert Rudi Röhrer und als stellvertretende Chefredakteure Jürgen Kramp und Dr. Hans Werner Stadie; mit Funktionsangabe werden Eberhard Heinrich (Redaktionssekretär) und Bernd Rodestock (Verlagsdirektor) genannt (auf der letzten Seite zusätzlich Birger Zentner als Stadtredakteur); ferner weitere acht Mitglieder ohne Funktions- oder Ressortangabe. Eine Ressortgliederung ist aus dem Impressum also nicht zu entnehmen. - Folgende weitere Artikel-Autoren dieser Ausgabe konnten (nahezu) sicher als Redaktionsmitglieder identifiziert werden: G.H. (= Gunter Hofmann), Andrea (A.) Richter, Toni Prochaska (Sigle: top), S. Kreuz, Andreas Rentzsch, Willi Tank, U.N. (= Uwe Niemann); um Redakteure handelt es sich wahrscheinlich bei den Siglen G.G. (Sport), kip und U.M. (Außenpolitik). Einige weitere Autorennamen (z.B. Wolfgang Wagner) bzw. -siglen (z.B. A.M., K.F., vermutlich externe Mitarbeiter, beide Sport) konnten nicht zugeordnet werden. - Ein personelles Revirement erfolgte erst nach der Bestellung Dr. Wolfgang Tiedkes (bis dahin Dozent an der Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig) zum Chefredakteur Mitte November 1989, jedoch scheint dieses Revirement noch relativ glimpflich abgelaufen zu sein 15 : Mitte Dezember 1989 tauchen zwar einige der Namen nicht mehr auf, andere aber durchaus in anderer, wenngleich weniger prominenter Funktion (z.B. als Leiter der LVZ-Regionalausgaben). Auch unter den nicht mehr Impressumswürdigen erscheinen einige, so z.B. Dr. Rolf Möbius, im redaktionellen Teil weiter als Verfasser von Kommentaren. 14 Als Beispiel: Am 22. Oktober 1989 schrieb der Morgen, die LDPD sei bereit, Kandidaten des (noch immer als staatsfeindlich verbotenen) Neuen Forums auf den eigenen Listen kandidieren zu lassen. 15 Tiedke nennt in seinem Anm. 8 genannten Interview die Zahl von etwa 30 (von annähernd 200) ausgewechselten Mitarbeitern, darunter die meisten leitenden. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 318 3 Zum Aufbau der Zeitung 3.1 Allgemeine Übersicht Seite Sparte Artikel ADN LVZ / Korr. Sonstige Inhalt 01 Titelblatt 14 11 2 1 Politik: versch. Themen 02 Aktuelle Politik 15 9 1 5 ” : Innen- ( DDR ) 03 Innenpolitik 6 - (4) 2 ” : Stadt Leipzig 04 Sport, Kultur 14 3 3 8 2/ 3 Sport, 1/ 3 Kultur 05 Aktuelle Politik 18 14 1 3 1/ 3 Innen-, 2/ 3 Außenpol. 06 Internat. Zeitgeschehen 10 - 3 7 3mal BRD , Rest Außenpol. 07 Nichtredaktionell 4 1/ 3 Theater, 2/ 3 Kleinanzeigen 08 ” 4 Kleinanzeigen 09 ” 22 Geschäftsanzeigen 10 ” 27 Todesanzeigen 11 ” 23 Geschäfts-, Familienanz. 12 Messestadt Leipzig 14 - 4 10 Leipziger Stadtberichte, Bekanntmachungen 171 37 18 36 Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 319 Die LVZ-Ausgabe vom 27.10.1989 umfaßt 12 Seiten sechsspaltig, davon die Seiten 1 bis 6 und die letzte Seite als redaktionellen Teil, und 5 nichtredaktionelle Seiten (7 bis 11), darunter eineinhalb Seiten mit Immobilien- und Wohnungsanzeigen. 16 <194> Der Aufbau der Zeitung entspricht nicht dem von westlichen Zeitungen gewohnten, auch scheint die Reihenfolge inkonsequent (z.B. erscheint zweimal „Aktuelle Politik“). Daß Wirtschaft als Sparte fehlt, ist allerdings für DDR- Zeitungen normal; Ökonomie galt als integraler Bestandteil der Innen- oder Außenpolitik. Reine Wirtschaftsartikel sucht man in der Tat in dieser Ausgabe vergebens; sofern auf wirtschaftliche Fragen eingegangen wird (das ist ohnehin nur in 3 bis 4 Artikeln der Fall), ist die Argumentationsrichtung eher politisch. Angesichts des damals durchaus schon vorhandenen Krisenbewußtseins kommt dies einer Problemvermeidung nahe. In einigen Fällen wird aus offiziellen wirtschaftspolitischen Memoranden bzw. Statements zitiert (vgl. S. 2 oben/ Mitte „Ministerrat traf Entscheidungen ...“), in denen von Problemen und Fehlentwicklungen die Rede ist. 3.2 Thematische Gliederung der redaktionellen Seiten Um die Artikel besser lokalisieren zu können, teile ich die Seiten in Felder: Eingeordnet durch senkrecht 4 Abschnitte A bis D, waagerecht 6 Spalten 1 bis 6; davor setze ich (vor Doppelpunkt) die Seitennummer. Beispiele: Der Artikel „Außenministerkomitee tagt in Warschau“ auf Seite 1 Mitte hat die Position 1: B4-5, C4-5. Ein von oben nach unten rechts außen durchlaufender Artikel hat die Position 3: A5-6 bis D5-6. Der Leipziger Kulturkalender S. 12 unten quer hat die Position 12: D1-6. Die Titelseite enthält 4 (2spaltige) Artikel zur DDR-Innenpolitik, davon 1 zur Kultur, 4 Artikel über deutsch-deutsche Politik, 2 (2spaltige) außenpolitische Artikel (Warschauer Pakt), 4 Artikel über die BRD und 4 kleine Nachrichten als aller Welt. Sie sind, wie bei Titelseiten nicht nur, aber besonders in der Parteipresse üblich, in einer besonderen Weise arrangiert, die insgesamt eine bestimmte Aussage vermittelt. Es ist naheliegend, eine Zeitung wie die LVZ- 16 Zum Vokabular der Wohnungssuche in der DDR vgl. Manfred W. Hellmann, „Ich suche eine Wohnung“ - Zur vergleichenden Untersuchung alltagssprachlichen Handelns in den beiden deutschen Staaten; in: H.D. Schlosser (Hg.), Kommunikationsbedingungen und Alltagssprache in der ehemaligen DDR (= Beiträge zur Sprachwissenschaft, 5); Hamburg: Buske 1991, S. 19-32 [= Beitrag Nr. 9 in diesem Band]. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 320 Ausgabe vom 27. Oktober 1989 insbesondere daraufhin zu prüfen, wie und in welcher Weise sie zu der aktuellen Krise des Systems und der Kritik an ihm Stellung nimmt. Ich versuche also, die Artikel auf den Seiten daraufhin zu interpretieren, in welcher Weise und in welcher Stärke sie sy- <195> stemstabilisierend (affirmativ) bzw. auf Veränderungen drängend (kritischinnovativ) bzw. neutral gegenüber den aktuellen Problemen der DDR sind, um dann eine Aussage über die Tendenz der Seite treffen zu können. Groß aufgemachte (mehrspaltige) Artikel werden dabei stärker berücksichtigt als kleine. Es versteht sich, daß es sich dabei nicht um exakte Messungen, sondern nur um intuitive Gewichtungen handeln kann. 17 Das linke Drittel der Titelseite ist mit drei 2spaltigen Artikeln belegt. Den Aufmacher links oben bildet der Artikel „Dialogangebot an die DDR-Jugend - Egon Krenz lädt Büro des Zentralrates zur Aussprache ein“ (1: A1-2), in dem sich der 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, Eberhard Aurich, und der neugewählte Generalsekretär der SED, Egon Krenz, gegenseitig bestätigen, daß nunmehr („mehr denn je“) die FDJ und die Jugend der DDR überhaupt zum Dialog darüber eingeladen sind, „wie die Erneuerung des Sozialismus in der DDR voranzubringen ist“. Unmittelbar darunter berichtet LVZ über ein Ereignis von offenbar stadtgeschichtlicher Bedeutung, nämlich: „Ehrenpreise an beste junge Neuerer verliehen“ - ein Bericht über eine „MMM-Auszeichnungsfeier im ‘Klub der Intelligenz’“ 18 in Leipzig (1: B1-2, Cl-2), der vor allem klarmacht, wie sehr manche Journalisten noch Ende Oktober 1989 am hergebrachten Klischee „positiver“ Berichterstattung hingen. In anscheinend ungebrochener Tradition der zahllosen Aktivisten-, Schrittmacher-, Rationalisatoren-, Neuerer- und Besten-Jubelfeiern werden von „Repräsentanten der Trägerorganisationen der MMM-Bewegung“ 19 diverse Ehrenpreise und Me- 17 Ich berücksichtige Größe und Plazierung der Artikel, die Zahl und die Intensität der sprachlichen Markierungen für Affirmation bzw. kritische Innovation bzw. Neutralität. Es können auch mehrere Intentionen gleichzeitig vorhanden sein und bewertet werden. Maximal gebe ich 20 Punkte. 18 MMM : „Messe der Meister von morgen“ - Teil der staatlichen „Neuererbewegung“. Junge Neuerer stellen ihre Exponate (technisch-organisatorische Verbesserungsvorschläge oder Neuentwicklungen) auf regionalen (hier: die „32. Bezirks- MMM “) und auf einer „Zentralen MMM “ aus und werden dort ausgezeichnet (und prämiert). Die MMM -Bewegung ist Teil des „sozialistischen Wettbewerbs“ und wird dort „abgerechnet“. Häufigste Kritik daran: geringe Qualität der Neuerervorschläge und Exponate, dazu ihre Folgenlosigkeit. 19 Erwähnt werden hier als Trägerorganisationen: der Rat des Bezirks Leipzig, die FDJ - Bezirksleitung, der FDGB , die KDT (= Kammer der Technik) Leipzig. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 321 daillen verliehen, und zwar an Jugendforscherkollektive, junge Neuerer, Lehrlingskollektive, aber auch an deren Förderer; sie werden geehrt, als Bestes Lehrlingskollektiv anerkannt, ausgezeichnet, so z.B. das Jugendkollektiv des VEB Wäscherei Leipzig für die Umrüstung des Großraumtrockners „Passat“ mit dem Ehrenpreis der FDJ-Bezirksleitung. Ein solcher Ehrenpreis wird verliehen, übergeben, überreicht, oder sie erhalten ihn einfach, so das „Kollektiv des CAD/ CAM-Zentrums im Druckmaschinenwerk für seine Exponate ‘NC-Schnittstellen’ und ‘Joy-Stick’“ den „Ehrenpreis des Bezirksvorstandes der KDT“. Nicht zufällig wirkt der Sprachgebrauch ebenso systemspezifisch-exotisch wie ermüdend-stereotyp; solche Rituale der Selbstbestätigung hatten ihre eigene Darstellungsform entwickelt. Verblüffend nur deren Unversehrtheit, während der Boden unter den Füßen schon wankte. Zumindest hätte man ein solches Lokalereignis auf den Lokalseiten erwartet, wenn man davon ausgeht, daß die Titelseite zentralen Themen von allgemeiner Bedeutung vorbehalten sein sollte. Aber wir werden sehen, daß es sich in dieser Ausgabe eher andersherum verhält. Allerdings ist dieser Artikel, anders als früher üblich, der einzige seiner Art in dieser Ausgabe. Viel Neigung zu Feier- <196> und Erfolgsberichten dürfte es nicht mehr gegeben haben, Leserinteresse an solchen Artikeln noch weniger. Der genannte Artikel ist einer von nur zweien auf dieser Seite, die nicht von ADN sind. Die zweite Ausnahme folgt unmittelbar darunter: In „Lebhaftes Gespräch über gesellschaftliche Wende“ (1: C1-2, LVZ/ G.H.) wird über eine Diskussion zwischen Theaterleuten und Funktionären im Landestheater Altenburg berichtet. Der Ausdruck gesellschaftliche Wende knüpft an die offizielle Sprachregelung an, nach der die SED selbst eine - besser: die Wende eingeleitet habe. Und lebhaftes Gespräch scheint eher zu verharmlosen, wenn es heißt: „Wie konnte es dazu kommen, daß sich derart viele Probleme in der Gesellschaft angestaut haben, unausgesprochen und also ungelöst blieben? Was verstehen wir heute, nachdem das, was wir versucht haben, nur partiell funktioniert, unter Sozialismus? Offiziell gab es keine Zensur, wohl aber unterschwellig - können wir heute spielen, was wir wollen? “ Zensur - ein Tabuwort ersten Ranges! Noch eine Woche vorher in der Parteipresse zumindest auf der Titelseite wohl undenkbar, steht es hier auf Seite 1 sogar halbfett - man zuckt zusammen. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 322 Spalte 3 bringt zwei 1spaltige Artikel „Egon Krenz und Helmut Kohl telefonierten“ (1: AB3), in dem wichtig vor allem ist, er, Krenz, habe „von einer Wende gesprochen, was aber in keiner Weise eine Umkehr bedeutete. Die DDR bleibe ein sozialistisches Land. Das diene auch der Stabilität in Europa.“ - Darunter: „DKP begrüßt Wende in der DDR“ (1: C3) - genauer: „... die von der SED eingeleitete Wende“, sie diene dem Frieden und der „Festigung der Positionen der Arbeiterbewegung“. - Die Spalten 4 und 5 sind wieder, wie die ersten beiden, fast ganz mit 3 größeren Artikeln belegt, hier zu außenpolitischen Themen: „Michael Gorbatschow für kernwaffenfreie Ostsee“ (1: A4-5, B4-5) berichtet (zustimmend) über Abrüstungsvorschläge und diverse Abkommen mit Finnland; darunter „Außenministerkomitee tagt in Warschau“ (1: B4-5, C4-5) enthält ein mageres Kommuniqué über die auszubauende politische Seite des Warschauer Vertrages. Der folgende Artikel „Momper: Stadt muß sich vom kalten Krieg trennen“ zitiert ausgewählte Auszüge aus einer Rede des Berliner Regierenden Bürgermeisters, die hier so klingt, als sehe Momper die Schuld am kalten Krieg vor allem im Westen. Dieser Kern der Titelseite wird quasi umrahmt von kleineren Artikeln, von denen einer nochmals das Thema Sowjetunion unter innenpolitisch-kulturellem Aspekt aufgreift: „Festival des sowjetischen Films in Berlin eröffnet“ (1: D2-3): Auch Festivalbeiträge des Vorjahres seien wieder im Programm - eine positive Nachricht, die das Wissen voraussetzt, daß im Vorjahr nicht nur der Sputnik, sondern auch mehrere sowjetische Filme verboten wurden. Dazu wird auf einen Kommentar (S. 4) verwiesen. - Der Rest der Artikel gibt sozusagen die Negativ-Folie, vor der die positiven Artikel zu sehen sind: „BRD: 100000 Studenten noch ohne Unterkunft“ (1: D1) und „Für die Neuankömmlinge keine Bevorzugungen“ (1: D4-5) berichten über Wohnungsnot bzw. exorbitante Mieten in der BRD; die äußerste rechte Spalte bringt (von oben nach unten) „Neonazis haben in der DDR keine Chance“ (1: A6), „ IG Metall fordert Reformen in der BRD“, darunter wird „Kurz berichtet“ über „Landesweiten Streik in Uruguay“, „Hungersnot in Äthiopien“, „Gefängnismeuterei in USA“ und „Schweres Busunglück in Mexiko“. Faßt man die Aussage der Titelseite zusammen, ergibt sich etwa folgender Gesamteindruck: In der DDR bemüht sich die neue Partei- und Staatsführung erfolgreich um Wende und Dialog; die FDJ und junge Neuerer unterstützen sie dabei. Außenpoli- <197> tisch befindet sich die DDR im Einklang mit Gorbatschow und seinen Abrüstungsbemühungen und mit dem Warschauer Vertrag; auch sowjetische Filme werden gezeigt. Die BRD muß sich vom Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 323 kalten Krieg trennen, Reformen sind dort dringend erforderlich; gegen deren Neonazis muß die DDR ihre Grenze sichern; es herrscht dort schlimme Wohnungsnot. Ansonsten gibt es aus der westlichen Welt nichts Gutes zu berichten. Im Prinzip entspricht diese Aussage dem üblichen, seit Jahrzehnten gewohnten Weltbild der Parteipresse und ihrer oft als Schwarz-Weiß-Malerei gerügten Technik, mit der Nachricht selbst und ihrer Kombination zu kommentieren und zu agitieren. Auffällig ist vielleicht das Fehlen von Erfolgsberichten aus Produktion und sozialistischem Wettbewerb. Dafür „entschädigt“ allerdings jener Ehrenpreis-Bericht. Heile (Schein-)Welt des „real existierenden Sozialismus“ - kaputte Welt des Kapitalismus also? Fast - wäre da nicht jener Artikel mit dem Reizwort Zensur. Versucht man nun, diese Seite nach ihren Anteilen an 1. affirmativen, 2. kritisch-innovativen, 3. neutralen Artikeln zu gewichten, ergibt sich ein Verhältnis von etwa 13: 1: 0. Seite 2, „Aktuelle Politik“, enthält nur innenpolitische Artikel; als größten und wichtigsten den schon erwähnten über neueste Beschlüsse des Ministerrats bzw. Statements von W. Stoph „Ministerrat traf Entscheidungen für bessere Angebote und Dienstleistung - Willi Stoph gab Interview für ‘Aktuelle Kamera’ und den Rundfunk der DDR“ (2: A2-4, B2-4; ADN), der im wesentlichen Anstrengungen zur Verbesserung der Versorgung ankündigt, ansonsten aber gerade in seinen Bemühungen, sich verbal auf der Höhe der Dialog- und Wende-Rhetorik zu zeigen, eher unbeholfen wirkt. (Weiteres siehe unter 4.5.) Rechts außen steht eine umfangreiche indirekte Wiedergabe (ein Drittel der Seite) eines Reform-Memorandums zur Entwicklung der Rechtsordnung und der Rechtspflege in der DDR („Erklärung des Rates der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR“, 2: A5-6 bis D5-6, ADN), das bei allen Reformvorschlägen zum Ziel hat, „... daß die Begriffe DDR, Rechtsstaatlichkeit und Sozialismus zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen“, also in etwa die Position der Reformkräfte innerhalb der SED wiedergibt. (Siehe dazu ebenfalls 4.5.) - In der Seitenmitte folgt ein 2spaltiger Bericht über eine Aussprache mit OB Berghofer in Dresden („OBM von Dresden mit zahlreichen Vorschlägen - W. Berghofer vor Plenartagung der Stadtverordnetenversammlung“, 2: B2-3, C2-3, ADN); der Bericht beschränkt sich im wesentlichen auf Vorschläge zur Verbesserung der kommunalen Arbeit und Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 324 Einbeziehung der Bürger in Form von Arbeitsgruppen und Foren (vgl. dazu 4.3). - Rechts daneben folgt ein kurzer Bericht über ein „Informatives Gespräch - Günter Schabowski im Disput mit Vertretern des Neuen Forums“ (2: BC4, ADN). (Weiteres siehe unten zu Seite 5.) - Links außen sind als Rahmen eine Reihe innenpolitischer, teilweise lokaler Kurzmeldungen angeordnet: von „Egon Krenz dankt für Glückwünsche“ (2: A1) über „Schwimmhalle geschlossen“, „Demonstrationszug durch Altenburg“ (2: B1), „Schokoladenspur auf der Autobahn“ bis zu Programmhinweisen des Stadtsenders Leipzig (2: C1) und Fahrplanhinweisen; dann Wetter (2: D1 und 2: D5-6), Lotto/ Toto (2: D1), „Tips fürs Wochenende“ (2: D2-4) und Impressum (2: D1-4). Insbesondere die 3 mehrspaltigen Hauptartikel, aber auch die „Gesprächs“- Meldung über Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, stehen, wie mir scheint, in der Tradition der Selbstrechtfertigungen und formelgestützten Problemverharmlosungen <198> „von oben“. Das gilt, trotz kritisch-innovativer Elemente, auch für das Reform-Memorandum der Rechtsanwaltskollegien. Hinzu kommen einige kleinere, neutrale Artikel mit reiner Nachrichtenvermittlung ohne Problematisierung. Unauffällig in diese Gruppe gepackt, aber eben deshalb mit überraschender Brisanz, findet sich hier die Kurzmeldung über die kleine Demonstration in Altenburg; sie scheint mir hier eher als „dummy“, als Ersatzmeldung für verschwiegene größere Demos zu dienen (vgl. unten zu Seite 5 und Abschnitt 4.3), trotz der zitierten Demonstrantenforderungen nach „freien Wahlen“ und „Zulassung des Neuen Forums“. - Die kleine, als Programmhinweis getarnte Meldung der LVZ, „Sondersendung von Sender Leipzig“ (2: C1), verstößt dagegen um so klarer gegen die Konvention: „... heute zwischen 9 und 10 Uhr: Gespräch zwischen Gewandhauskapellmeister Prof. Dr.h.c. Kurt Masur mit Rolf Henrich, Autor des Buches ‘Der vormundschaftliche Staat’.“ Rolf Henrich, den verfolgten, verhafteten, exilierten Schriftsteller zu einem Gespräch über sein (natürlich im Westen erschienenes) „staatsfeindliches“ Buch einzuladen und dieses Gespräch öffentlich zu senden, wäre, so vermute ich, noch eine Woche früher als Provokation gewertet und schlicht verboten worden. (Natürlich stammt diese Meldung nicht von ADN.) Das Verhältnis von affirmativen, kritisch-innovativen und neutralen Artikeln könnte man für diese Seite mit 12: 2: 6 ansetzen. Seite 3, „Innenpolitik“, ist fast ausschließlich Lokal- und Regionalthemen gewidmet: In dem zentralen 4spaltig aufgemachten Artikel „Der Zustand Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 325 unserer Stadt und städtebauliche Erneuerung“ (3: A1-4, B1-4) setzen sich der Leipziger Chefarchitekt Dr. Dietmar Fischer und der Direktor der Leipziger Bauakademie Prof. Bernd Grönwald sehr kritisch-konstruktiv mit dem Verfall Leipzigs und der staatlichen Baupolitik auseinander. Die Probleme, so heißt es, haben sich „... weiter verschärft: Die Wohnungsanträge steigen trotz Wohnungsbauprogramms, der Verfall der Bausubstanz in den ... Vorstädten Leipzigs hat den Neubauzuwachs überholt. ... Kurz gesagt, die Alltagskultur in unserer Stadt läßt mehr als zu wünschen übrig. ... (Wir fordern,) ... daß die Stadt über den Einsatz der Baukapazitäten selbst entscheidet und nicht übergeordnete staatliche Leitungsebenen oder der Produktionsplan der Baukombinate und der Betriebe. ... Wir sind für eine umfassende Initiative ‘Stadterneuerung Leipzig’, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unserer Stadt erfaßt und auch durch die Republik, den Staat insgesamt, mitgetragen werden muß.... Auch für eine Beteiligung von Interessenten aus dem Ausland sollten wir unsere Planungen öffnen! “ Darunter, ebenfalls 4spaltig („Fazit einer Nagelprobe“, 3: C1-4), berichtet LVZ- Chefredakteur Rudi Röhrer über eine lebhafte, kontroverse Sitzung der SED- Bezirksleitung Leipzig, in der er sich allerdings eher in Problemverschleierung als in Problembenennung übt (Fazit: „So muß es weitergehen“). Im letzten Viertel setzt sich ein anscheinend externer Verfasser (Armin Riecker) mit der Ungeduld seines Freundes Siegmar und vieler anderer Teilnehmer der großen Leipziger Montagsdemos auseinander („Siegmar, Egon und die sieben Geißlein“, 3: D2-4; der einzige Artikel übrigens, in dem überhaupt von diesen weltweit medienpräsenten Großereignissen Notiz genommen wird), er fordert einen Vertrauensvorschuß für den neuen Generalsekretär Egon Krenz. - Der stellvertretende Chefredakteur H.W. Stadie („Sta.“) kommentiert in einer kurzen Glosse („Der halbe Weg“, 3: D1) einen Veranstaltungsplan des Leipziger Kulturbundes milde als zu unflexibel. - Rechts außen wird (jeweils 2spaltig) in zwei namentlich gezeichneten Artikeln über einen heftigen <199> Disput im Leipziger Jugendklub „Das Thema“ berichtet („‘Das Thema’ ohne Thema? ! “, 3: A5-6); darunter („Gesunde Umwelt, eine große Herausforderung für alle Tag für Tag“, 3: B5-6 bis D5-6) über ein Umweltforum in Torgau mit Umweltminister Reichelt, wobei schon das Thema selbst - starke Wasser-, Luft- und Bodenbelastungen durch Schadstoffemissionen - für DDR- Verhältnisse eine Errungenschaft ist, obwohl auch Selbstlob („... haben unsere Bemühungen enorm verstärkt“) und Beschönigung („... manches besser tun können“) nicht zu übersehen sind. Kein einziger Artikel ist von ADN. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 326 Auf dieser Seite überwiegen nach meinem Urteil zum erstenmal die Artikel mit kritisch-innovativer Tendenz gegenüber den affirmativen mit etwa 6: 8: 0. Seite 4 enthält 4 Spalten (1 bis 4) Sport - stark überwiegend DDR-internen - und nur 2 Spalten (5 und 6) Kultur, was für eine Freitagsausgabe etwas dürftig anmutet. Die Sportberichte nehmen keinerlei Bezug auf aktuelle Probleme und werden deshalb als neutral bewertet. - Die beiden Artikel zur Kultur sind allerdings interessant: ADN bringt (mit 3tägiger Verspätung! ) im Wortlaut das Kommuniqué des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden („Veränderungen in der Medienpolitik erörtert“, 4: A5-6, B5-6, ADN), das in 10 Punkten eine gründliche Revision der Medienpraxis, die Öffnung der Medien für alle Gruppen und Meinungen und sogar die Veröffentlichung der Einschaltquoten fordert. Ganz anders als das Memorandum der Rechtsanwaltskollegien von Seite 2 werden hier Forderungen gestellt, die mit Beschwichtigung nicht zu lösen sind, sondern in der Tat das System in Frage stellen. - Im letzten Artikel („Und wieder: Festivaltage“, 4: C5-6) kommentiert das Redaktionsmitglied Hans-Dieter Tok die Wiederaufführung dreier im Vorjahr verbotener sowjetischer Filme mit kritischer Offenheit. (Von Seite 1 wurde auf diesen Kommentar verwiesen.) Mit dem Eintreten für Glasnost und Perestroika wird erneut ein Sprachtabu verletzt, wenngleich dieses Festival als „Übergang zu bereits gehabter und auszuformender Normalität ... gewertet“ und damit doch wieder in den Rahmen sanfter Reformbemühungen eingeordnet wird. Die Sportberichte sorgen auf dieser Seite für ein starkes Übergewicht neutraler Artikel, ich möchte daher ein Verhältnis von etwa 1: 4: 8 ansetzen. Seite 5, „Aktuelle Politik“, ist klar geteilt: links 2spaltig zwei Artikel über innenpolitische Themen, Mitte und rechts Artikel bzw. Nachrichten zu außenpolitischen Themen. Darunter findet sich auch die 13-Zeilen-Nachricht „Reisedokumente für DDR-Bürger in Prag“ (5: C6, ADN), eine (nicht genannte) Zahl von „Personen“, die sich in der dortigen BRD-Botschaft aufgehalten hatten, seien „aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen“ worden und müßten die SSR innerhalb von 24 Stunden verlassen. - Hinzu kommen rechts unten einige internationale Kurznachrichten (ähnlich wie auf Seite 1), ganz unten (5: D1-6) steht das Fernseh- und Rundfunkprogramm. Von den beiden innenpolitischen Artikeln geht der obere detailliert auf ein Interview ein, das der schon erwähnte Günter Schabowski in den „Tagesthemen“ der ARD zwei Tage vorher (! ) gegeben hatte („Live-Interview der Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 327 ARD mit Günter Schabowski zur DDR-Entwicklung“, 5: A1-2, B1-2, ADN). Der Bericht faßt das Frage-Antwort-Spiel etwa folgendermaßen zusammen: Zur Reaktion der SED auf die zahlreichen Demonstrationen: Viele Bürger hätten sich über die Ruhestörungen beschwert, es gebe „zahlreiche Möglichkeiten für die Bürger, sich zu artikulieren“, überhaupt halte man „die Straße nicht für den geeigneten Ort des Dialogs“. Zur Ankündigung verbesserter Reisemöglichkeiten: Alle DDR -Bürger würden Pässe erhalten und <200> „unter den für solche Reisen erforderlichen Umständen - Visaerteilung usw. - in jedes Land der Erde reisen können“; schon aus dieser Ankündigung sei zu ersehen, „mit welcher Konsequenz die Kräfte bei uns, die die Erneuerung betreiben, diese Erneuerung auch in reale Taten umsetzen“. 20 Zur Politik der Reformen: „... die Wende, die wir jetzt vollzogen haben im Prozeß der Erneuerung“ sei ebenso im Gange wie die Entwicklung zum „sozialistischen Rechtsstaat“; die DDR weise „bereits alle entscheidenden Elemente in dieser Hinsicht auf“. 21 Zum angekündigten Dialog mit allen Bevölkerungsgruppen und der Zulassung des Neuen Forums: In der Antwort fällt ihm die hübsche Wendung ein, auch dieser Prozeß sei „längst und seit Tagen im Gange“, ebenso das Gespräch mit „Oppositionsgruppen, wie Sie das nennen, - das Gespräch ist längst im Gange“: Er werde am Donnerstag ein Gespräch mit Prof. Reich haben, „dessen Name des öfteren im Zusammenhang mit dem Neuen Forum genannt“ worden sei; er erhoffe „Aufschluß über die Beweggründe [solcher Bürger], ... wenn sie sich in solchen Organisationen meinen zusammenfinden zu müssen.“ - Der Leser blättert schnell auf Seite 2 zurück, wo, wie erwähnt, zum einen die Zulassung des Neuen Forums als Demonstrantenforderung zitiert wird und wo, zum zweiten, über das hier erst angekündigte Gespräch als schon geschehen berichtet wird („Informatives Gespräch - Günter Schabowski im Disput mit Vertretern des ‘Neuen Forums’, 2: BC4 , ADN ). Das Neue Forum hatte am 19. September offiziell seine Zulassung als Vereinigung beantragt; wenig später klassifizierte das Innenministerium es als „staatsfeindlich“. In dieser ADN -Nachricht scheint man zum erstenmal von dieser Gruppe zu hören; die Wortwahl betont herablassend die asymmetrische Gesprächssituation: „Die beiden Gesprächspartner [= Prof. Jens Reich und Sebastian Pflugbeil] der Mitglieder des Sekretariats der Bezirksleitung (= Schabowski und zwei 20 Gerade an dieser Einschränkung Visaerteilung entzündete sich der Zorn der Massen, die darin einen erneuten Versuch der Gängelung ihrer Reisewünsche sah: sie war Hauptursache dafür, daß die nächste Montagsdemo nach der Veröffentlichung des Reisegesetz-Entwurfs in Leipzig über 300 000 Menschen auf die Straßen brachte. Auch die Ausreisewelle nahm nochmals zu. 21 Vgl. dazu die Reformforderungen im Memorandum der Rechtsanwaltskollegien von Seite 2, das zahlreiche Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit aufzählt und (allerdings systemkonforme) Änderungen verlangt. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 328 weitere Sekretäre) stellten sich als Angehörige einer Initiativgruppe vor, die sich ‘Neues Forum’ nennt. Sie erklärten, daß sie an dieser Unterredung ohne öffentliches Mandat teilnehmen.“ Zurück zu Seite 5: In einem Kommentar („Telefonat und Perestroika“, 5: C1- 2, D1-2) berichtet Redaktionsmitglied Toni Prochaska über Erfahrungen mit praktischer Perestroika in Moskau und Anzeichen gleicher Richtung in der DDR; er wertet ein Telefongespräch Krenz - Gorbatschow als eine hoffnungsvolle Verständigung „zweier Reformer“. (Weiteres siehe unter 4.2.) Unter den 14 außenpolitischen Beiträgen dieser Seite sind - außer dem über die Ausreise von Prager Botschaftsflüchtlingen - vor allem ein kurzer ADN- Bericht über ein Kommuniqué des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens („Entwurf des BdKJ veröffentlicht“; 5: D3, ADN) hervorhebenswert, in dem in knappster Form zentrale Reformgrundsätze des BdKJ genannt werden. Ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit der Spaltung der ungarischen kommunistischen Partei (USAP) und der Frage ihrer Rechtsnachfolge (auch nur als Wiedergabe einer ungarischen Stellungnahme); da die neue USP-Führung „einen sozialdemokratischen, sogar bürgerlich-demokratischen Kurs verfolge“, sei eine marxistisch-leninistische erneuerte USAP erforderlich, diese müsse „... in der Lage sein, sich einem weiteren Rechtsruck und der Gefahr wachsenden Chauvinismus in Ungarn entgegenzustellen“. - Beide die Bruderparteien betreffenden Nachrichten können der SED-Führung nicht angenehm gewesen sein; die LVZ bringt sie hier in einer denkbar abgemagerten Version, die etwa die Mitte <201> hält zwischen Affirmation und kritischer Innovation. - Den Rahmen rechts außen bilden wieder einige kleinere Meldungen (alle ADN), darunter „RGW-Exekutive tagt in Moskau“ (5: A6) und „Ungarn bleibt im Warschauer Vertrag“ (5: A6), ein Dementi der Behauptung, Ungarn wolle aus der militärischen Organisation austreten. Fazit beider Artikel: Es bleibt alles beim alten. In zwei weiteren kleinen Artikeln (5: C4 und 5: C5) wird über antisowjetische Aktionen in Ungarn berichtet - genauer: Es wird berichtet, daß die ungarische Regierung und eine sowjetische Zeitung solche Aktionen bedauert haben. - Acht weitere außenpolitische Artikel sind ohne direkten Bezug auf die innenpolitische Situation der DDR. Indirekt sind Bezüge allerdings vorhanden: In „UdSSR will mit NATO über Kernwaffen sprechen“ (5: A4-5) berichtet ADN zustimmend über Gorbatschows Vorschläge für eine atomwaffenfreie Ostsee und dessen Besuch in Finnland; auch „IAEA-Bericht vor der UNO gehalten“ (5: AB3) greift das Thema Kernwaffen-Abrüstung wieder auf. Weitere Artikel, alle 1spaltig, beschäftigen sich mit Südafrika („Sisulu: Der ANC kann nicht geteilt wer- Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 329 den“, 5: BC3), mit Afghanistan („Volkskomitee um Freilassung bemüht“, 5: D4), mit der SSR („Ausfuhrbestimmungen in der SSR neu“, 5: D5), Nikaragua (5: B6) und nochmals der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA (5: C6). Unter „Kurz notiert“ (5: C6) folgen Kurznachrichten aus dem Ausland. Unten quer über alle 6 Spalten schließt das Fernseh- und Rundfunkprogramm die Seite ab. Artikel mit kritisch-innovativer Tendenz bilden auf dieser Seite die Minderheit; ich schätze die Verteilung auf 9: 3: 6. Seite 6 subsumiert unter dem Seitentitel „Internationales Zeitgeschehen“ 3 Artikel über die BRD, darunter unter der Überschrift „Die Worte von Golo Mann“ (6: A1 bis C1) einen Kommentar zu den „großdeutschen Ambitionen“ bestimmter bundesdeutscher Politiker, ihre „revisionistischen Vorstellungen“ in bezug auf Ostgrenze und Ostverträge. Das gleiche Thema behandelt ein Artikel (6: D1-2), in dem ein Spiegel-Artikel Rudolf Augsteins zitiert wird. Hinzu kommt eine kleine Bildunterschrift zu westdeutschen Büchern mit „revisionistischem“ bzw. „faschistischem“ Inhalt. Diese drei Artikel schließen sich thematisch an den Artikel von Seite 1 über Neonazis in der BRD an; sie rechtfertigen indirekt die weiterbestehenden Grenzkontrollen der DDR. Im übrigen stehen sie in einer bewährten Traditionslinie: Die BRD wird kritisiert, indem man ausgewählte kritische Stimmen aus der BRD zitiert. - Ein großer 3spaltiger Artikel in der Seitenmitte beschäftigt sich mit dem skandalösen deutsch-südafrikanischen U-Boot-Geschäft und seinen Hintergründen („Laßt uns doch endlich die Schieberei legalisieren! “, 6: B2-4, C2-4). Auch dieser Autor (Stefan Schroeter) hat fleißig in westdeutschen Quellen recherchiert. - Die übrigen 4 Artikel (6: A5-6 bis C5-6), alle mit Autorensiglen bzw. -namen versehen, beschäftigen sich mit Großbritannien („Konservative machen Optimismus vor“), Ägypten/ Libyen („Gleichschritt, aber noch keine Harmonie“) und Israel/ Kolumbien („Söldnerdienste für die Drogenmafia“), der böse Vorwürfe gegen den israelischen Geheimdienst enthält; ein 3spaltiger Artikel über Brasilien vor der Präsidentenwahl („Viele Probleme harren einer Lösung“, 6: D3-5) bemüht sich dagegen um zurückhaltende Bewertung der Probleme Inflation, Analphabetismus, extreme Auslandsverschuldung, fehlende Investitionen. - In allen Fällen kann sich der Leser dieser Seite sagen: Wie gut, daß wir in der DDR leben! Von dieser allgemeinen Tendenz abgesehen, sind Bezüge zur Situation in der DDR nur schwach ausgeprägt. Ich schätze die tendenzielle Verteilung auf 4: 0: 6. <202> Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 330 Seite 12, (letzte Seite) „Messestadt Leipzig“, unterscheidet sich thematisch nicht wesentlich von Seite 3, ist aber noch stärker auf Leipzig konzentriert. In 4 großen Artikeln (davon 2 in der Seitenmitte mit der 3spaltigen Überschrift „Nach der kritischen Analyse nun praktische Veränderung - Schluß mit Schönfärberei - Woher rührt Resignation? “ (12: B2-4, C2-4) wird über „heiße Dispute“ und kritische Diskussionen berichtet, z.B. in zwei Stadtbezirksversammlungen Leipzigs, in einer Parteiversammlung eines Leipziger Großbetriebs („Ein zeitiger Brief und ein sehr offenes Gespräch“, 12: A5-6) und in einem Pressegespräch des Leipziger Kreisarztes („Viel Konkretes im Gespräch“, 12: B5-6, C5-6) - mit überraschend offenen kritischen Passagen und drängenden Reformforderungen (siehe auch unter 4.5). Ein Artikel („Flugzeugwerk Heiterblick“, 12: D2-3) beschäftigt sich mit Stadtgeschichte. Die restlichen Artikel vermitteln spezielle Informationen: „Wohin am Wochenende? “, Verlegung von Verkaufsstellen, Archiv für Homosexuelle in Leipzig, Stellungnahme eines angegriffenen Bürgermeisters, Geburtstagsglückwünsche an betagte Bürger (alle 12: A1 bis D 1 ); Einladung zu einem Bürgergespräch (12: D4), ärztliche Bereitschaftsdienste (12: C5-6, D5-6), Leipziger Kulturkalender (12: D1-6). Die auf dieser Seite vorherrschende Mischung von stadtspezifischer Information und Teilkritik wird an einer ganz kurzen Bildunterschrift deutlich: Text unter dem Foto einer Großbaustelle: „Am Rossplatz wird eine zusätzliche Spur für die abbiegenden Straßenbahnen verlegt. Stück für Stück kommen die Gleisbauer voran. Fehlende Transportmittel behindern allerdings einen zügigeren Bauablauf.“ Unausgesprochen ergänzt sich die Meldung selbst: Jeder LVZ-Leser weiß, warum Transportmittel fehlen: Sie werden immer wieder den Leipziger Baubetrieben entzogen und nach Berlin umgesetzt. Die Forderung, daß Leipzig über den Einsatz seiner Baukapazitäten „selbst entscheidet“, daß seine Bedürfnisse „Priorität“ haben müssen, findet sich schon im zitierten Artikel über Leipzigs Stadterneuerung auf Seite 3 oben; sie wird sicher von jedem Leipziger Leser geteilt. Kritischer Stadtkonsens unter den eingeübten Bedingungen des Zwischen-den-Zeilen-Lesens wird ansatzweise geprobt. Ganz im Gegensatz zu den Seiten 1 und 2 sind affirmative Tendenzen hier bis auf Marginalien verschwunden; ich setze das Verhältnis mit 1: 8: 8 an. ADN-Artikel sind wie zu erwarten nicht vorhanden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Artikel mit affirmativer Tendenz überwiegend, aber keineswegs ausschließlich, an ADN gebunden sind (die wichtigste Ausnahme ist der Ehrenpreis-Artikel auf Seite 1), die Artikel mit Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 331 kritisch-innovativer Tendenz an die Stadtredaktion der LVZ und einige namentlich gezeichnete Artikel. Anders gesagt: Die mit der stürmischen Reformbewegung der „Basis“, der Leipziger Bevölkerung, notwendigerweise sehr viel unmittelbarer konfrontierte Stadtredaktion und ihre Sehweise verdrängt langsam - auf den Seiten 3 und 12 durchaus erfolgreich - die nach den alten Mustern des SED-Journalismus gestalteten Artikel- und Seitenstrukturen. Gleichwohl gibt es zu viele Ausnahmen, um hier schon von einem gültigen Prinzip oder gar einer steuernden Hand sprechen zu können. Man nimmt immer noch sehr viel Rücksicht, fühlt sich dem herrschenden System noch immer stark verpflichtet, löst sich auch sprachlich nur selten - dann allerdings um so auffälliger - von den gewohnten Vorgaben. Berücksichtigt man, daß die LVZ sich immer noch als Parteizeitung verstehen mußte, spiegelt die Themenverteilung, bezogen auf die jeweils vorherrschende Intention, in der Tat das nahezu führungslose Nebeneinander von hergebrachter Rechtfertigungs- und Beschönigungsrhetorik, parteiimmanentem Re- <203> formstreben und unabweisbarem radikalem Veränderungsdruck von außen, wie er sich auf den Demos und Bürgerversammlungen immer deutlicher Bahn brach. 4 Themenauswahl und Themenverweigerung Nach dem Überblick über Struktur und Inhalt dieser LVZ-Ausgabe soll den oben genannten einzelnen Aspekten etwas näher nachgegangen werden. Zunächst müssen wir versuchen, die in der LVZ behandelten bzw. nicht behandelten Themen in Beziehung zu setzen zu denjenigen Themen, die den Menschen damals auf den Nägeln brannten und auf den großen Demos, auf Flugblättern und in zahlreichen Diskussionsveranstaltungen immer wieder artikuliert wurden. Ohne mich auf eine Reihenfolge festlegen zu können, waren dies zumindest folgende: - Forderung nach umfassender Demokratisierung: Abbau des Herrschaftsmonopols der Partei, Vertrauensverlust; - Mitspracherecht auch für oppositionelle Gruppen (Zulassung des Neuen Forums und anderer); - Reisefreiheit: massenweise Ausreisewünsche (Pässe ohne Visum für jeden und in jedes Land), Flüchtlingsmassen in BRD-Botschaften in Prag und Budapest; Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 332 - wirtschaftliche Lage: grundlegende Wirtschaftsreform; Liberalisierung, Dezentralisierung, Vorrang für Konsum- und Dienstleistungsbereich, Stadterneuerung gegen Wohnungsmisere; Effektivität statt Bürokratie; - Wechsel in der Führungsspitze: Rücktritt des Politbüros und anderer verschlissener Führungskräfte; - Vertrauen statt Bespitzelung: Rechtssicherheit statt Staatssicherheit; - Protest gegen die brutalen Übergriffe der Staatsmacht am 5.-8. Oktober; - Freiheit statt Zensur in allen geistigen Bereichen: in Presse, Literatur und Kunst, in Wissenschaft und Schule; - Freigabe der Tabuthemen Umwelt und Frieden: Ökologie, Friedensdienst, Abrüstung als Ziele; - Kooperation statt Konfrontation mit dem Westen, besonders der BRD; - Außenpolitische Situation: Verhältnis zur Sowjetunion Gorbatschows, Demokratisierungs- und Emanzipationsbewegungen in den Nachbarstaaten Polen, Ungarn, SSR, mit ihren Auswirkungen auf RGW und Warschauer Pakt; - die von Tag zu Tag an Umfang und Durchschlagskraft wachsenden Demonstrationen selbst: Wir sind das Volk! . Noch nicht zur öffentlichen Diskussion standen die späteren Hauptthemen Einführung der D-Mark und der Marktwirtschaft, die Wiedervereinigung, die Übernahme des politischen Systems der Bundesrepublik, die Beseitigung des Volkseigentums usw. Von den oben genannten Themen tauchen in der LVZ eine ganze Reihe überhaupt nicht oder in bezeichnender Verkürzung auf. Ich beschränke mich hier auf eine Auswahl. 4.1 Thema außenpolitische Situation Seit Gorbatschows Besuch in Berlin anläßlich des 40. Jahrestages der DDR am 6./ 7.10.1989 war klar, daß die DDR-Führung insbesondere gegenüber diesem wichtigsten Bündnispartner in eine schlimme Isolierung geraten war. Aber auch Ungarn und Po- <204> len suchten engeren Anschluß an den Westen und dachten laut über eine Lockerung ihrer Verpflichtungen im RGW und Warschauer Pakt nach. Die Haltung Ungarns, aber auch Polens und der SSR zu den Botschaftsflüchtlingen mußte der SED-Führung klargemacht haben, daß sie weitgehend allein stand. In der LVZ-Ausgabe erscheinen all Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 333 diese Probleme allenfalls schattenhaft bzw. in einer halb dementierenden Umkehr-Nachrichtengebung. Auf Seite 1 (1: A4-5) wird zustimmend über Gorbatschows Vorschlag einer kernwaffenfreien Ostsee berichtet; das Thema Kernwaffenreduzierung wird später noch einmal (5: A4-5) positiv aufgenommen (hier war sich die DDR-Führung mit Gorbatschow einig). Ebenfalls auf der Titelseite (1: B4-5) wird über eine Tagung der Außenminister des Warschauer Vertrages berichtet, über deren Ziele DDR-Außenminister Fischer eine Erklärung von geradezu provozierender Inhaltslosigkeit abgibt: „... gehe es bei der Tagung darum, internationale Fragen gemeinsam zu bewerten, entsprechende Schlüsse zu ziehen sowie abgestimmt und koordiniert zu agieren oder zu reagieren. Darin komme die politische Seite des Warschauer Vertrages zum Ausdruck. Außerdem seien sich alle Mitglieder des Bündnisses ... einig, daß diese politische Seite gegenüber der militärischen ausgebaut werden muß.“ So kann man es auch ausdrücken, wenn einige Mitglieder aus der militärischen Organisation austreten wollen. Auf Seite 5 (5: A6) dementiert der ungarische Verteidigungsminister eine westliche Meldung, wonach der ungarische Parlamentspräsident erklärt habe, Ungarn strebe „die Neutralität an“; dies sei eine Entstellung, Ungarn wolle Mitglied bleiben. Ob diese Mitgliedschaft militärisch gemeint ist, bleibt im Dementi offen. Auch die übrigen Artikel zum Thema Ungarn beschränken sich aufs Abwiegeln (5: C4 und C5); daß Gorbatschow den „stürmischen Verlauf der ungarischen Reformen“ (5: C5) eben nicht bremste, sondern nur milde zur Mäßigung mahnen ließ, mußte die DDR-Führung tief beunruhigen. - Eine Kurzmeldung auf derselben Seite (5: A6) über eine Tagung des RGW-Exekutivkomitees nennt als Hauptpunkt „Kooperation auf dem Gebiet des Umweltschutzes“. Business as usual ... Außenpolitische Probleme scheint es nicht zu geben. 4.2 Thema Glasnost und Perestroika Die innenpolitische Seite des Verhältnisses der Sowjetunion wird allerdings im Zusammenhang mit dem „Festival des sowjetischen Films“ in Berlin angesprochen. In einer ADN-Meldung auf Seite 1 (1: D2-3) werden die zur Aufführung kommenden sowjetischen Filme genannt; in einem späteren Kommentar wird dann entschieden Schulterschluß mit Glasnost und Perestroika gesucht. Unter der Überschrift Und wieder: Festivaltage (4: C5-6) erinnert der Autor (Hans-Dieter Tok) an fünf Filme des Vorjahres-Festivals, die „regen Zuspruch“ gefunden hätten: Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 334 „Doch genau drei Wochen nach Festivalbeginn wurden in einem Akt von Bilderstürmerei alle fünf Filme für die Aufführung in Kinos unseres Landes verboten. ... als tatsächlich festivalwürdige Filme das Programm bestimmten, nahm der Zuspruch immens zu, sicher ... folgerichtig wohl durch unsere Anteilnahme an Glasnost und Perestroika in Freundesland. Doch solch ersprießliche Entwicklung und Kontinuität wurde brüsk gestört und zerstört durch das vorjährige Verdikt ... Doch es bleibt ... das Verlangen nach jenen Werken aus sowjetischen Studios, um die - aus aufgezwungener Voreingenommenheit und anempfohlenen Berührungsängsten - die Einkäufer einen weiten Bogen schlugen ... Zum mündigen Bürger gehört unbedingt die Möglichkeit, sich ... mit bemerkenswerten ... international erfolgreichen Fil- <205> men aus uns vertrauten Ländern bekannt zu machen ... Verlangen wir ... mehr Offenheit - und die hinsichtlich sozialistischer Filme.“ Die Kritik knüpft, bei aller Offenheit, deutlich an offizielle Formulierungen an: Freundesland war seit Jahrzehnten gepflegtes Hochwertwort für die Sowjetunion, ersprießliche Entwicklung und Kontinuität klingen sicher nicht zufällig ähnlich wie Kontinuität und Erneuerung - die offizielle Formel für die Politik des letzten Honecker-Jahres. Auch die Formel mündige Bürger war offiziell schon gebraucht worden. Solche Anknüpfungen verminderten das Risiko, heben die Kritik aber nicht auf. In dem schon zitierten Kommentar von T. Prochaska erscheint das Tabuwort Perestroika sogar in der Überschrift: Telefonat und Perestroika (5: C1-2, D1-2). Das Telefonat zwischen Krenz und Gorbatschow wird als der Versuch zwischen „zwei Reformern“ gedeutet, „... daß wir daran gehen, in unserem Verhältnis zum Bruderland UdSSR manches wieder gerade zu rücken“. Auch hier mit Bruderland wieder die Anknüpfung an die seit Jahren vertraute, durch die Perestroikafeindlichkeit der DDR-Führung verschüttete Freundschaft-Terminologie. Daran schließt sich scharfe Kritik an: Die Wörter Glasnost und Perestroika hätten doch bei „maßgeblichen Leuten ... eine Art Brechreiz“ hervorgerufen, die deutsch-sowjetische Freundschaft sei zuletzt „von staatswegen doch nur Heuchelei“ gewesen; Gorbi am Rockaufschlag habe in Schule und FDJ manchem „wütende Blicke“ eingetragen. Der Kommentator sei „bei weitem kein bedingungsloser Anbeter von Perestroika und Glasnost“; er habe vor Ort „ziemlich oft die Schattenseiten und Pannen der Erneuerung in der Sowjetunion kennengelernt“. Aber auch dies gehöre „zur Offenheit, die wir brauchen“. - Gerade wegen des Eintretens für diese lange tabuisierten Begriffe und ihre deutschen Entsprechungen Offenheit und Erneuerung fallen zwei Wendungen als geradezu verräterisch auf: Als Zeichen Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 335 der Perestroika auch in der DDR wird gewertet, wenn Politiker in Berlin „mutig auf Demonstranten zugehen, um den Dialog zu führen“. Den Dialog führen - wir erinnern uns an das offene deutsche Gespräch (nicht: Gespräche zwischen Deutschen), an die (offensive) Aussprache, die Erfahrungsaustausche, die (große) Volksaussprache (über Gesetze, den Fünfjahrplan etc.) - sie alle wurden geführt, durchgeführt, gestaltet. Bestimmter Artikel plus Verb des Durchführens markieren hier Veranstaltungen „von oben“, Kampagnen der Partei. Noch deutlicher wird der paternalistische Blickwinkel wenige Zeilen später: „... wenn der DDR-Kulturminister Zeit findet, sich dem ganzen Kummer der Künstler zuzuwenden“. Er findet Zeit, er wendet sich zu, und zwar dem ganzen Kummer - man glaubt, gleich ziehe der gütige Vater sein Taschentuch ... Am 4. November machen die Künstler auf der Berliner Massendemonstration allen klar, wie wenig sie von solcher Rollenverteilung halten. In diesem Artikel kann sich der Verfasser von der alten Rollenstruktur gedanklich noch nicht lösen. 4.3 Thema Großdemonstrationen Die Großdemonstrationen, mit denen das erwachte Volk die Staatsmacht vor aller Augen ins Wanken brachte, finden journalistisch kaum statt bzw. werden zu Marginalien heruntergespielt. Auf Seite 2 wird ausführlich über den lebhaften Verlauf der Stadtverordnetenversammlung in Dresden unter Leitung von W. Berghofer berichtet: OBM von Dresden mit zahlreichen Vorschlägen (2: B2-3, C2-3; ADN). Wie bei ADN üblich, wird unter Verwendung der parteioffiziellen Formeln zwischen Erneuerungs- <206> ankündigungen, Ad-hoc-Reformvorschlägen und Abwehr rabiater Töne vor allem der Dialog beschworen: „Auf den in Gang gesetzten Dialog eingehend, forderte der Oberbürgermeister die schöpferische Aussprache mit allen Bürgern, auch mit Andersdenkenden, deren Widerspruch nicht mit Widerstand verwechselt werden dürfe. Die oberste Volksvertretung Dresdens könne auf keine Idee verzichten, und es sei alles zu tun, damit kein Vorschlag kluger, mündiger Bürger verlorengeht oder im Bürokratismus erstickt. Im Gegensatz zum freimütigen Dialog stünden allerdings solche Töne wie ‘rote Lumpen’, ‘Kommunistenschweine’ oder ‘hängt sie auf’, die bei Demonstrationen zu hören waren und betroffen machten.“ Der Ausdruck betroffen machen fällt auf, er gehört durchaus nicht zum Repertoire von ADN und SED. Es handelt sich um eine Anleihe aus dem Sprachgebrauch der Bürgerbewegungen, insbesondere ihrer kirchlichen Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 336 oder kirchennahen Kreise, in deren Sprachgebrauch sich Wendungen wie Betroffenheit, betroffen sein/ machen ebenso wie (sich) einbringen häufig finden. Ausdrücke wie schöpferische Aussprache, Andersdenkende, kein Vorschlag kluger, mündiger Bürger darf verlorengehen, freimütiger Dialog und dergl. schließen sich um so deutlicher an Vorformulierungen des Politbüros bzw. der 9. Tagung des ZK an; es muß offen bleiben, ob Berghofer selbst diese Wendungen gebraucht hat oder ob sie der Wiedergabe durch ADN entstammen. Zweifellos war die Rede Berghofers - sie wurde teilweise auch in West-Medien übertragen - interessant auch noch in der Wiedergabe durch ADN; auffällig ist aber, daß kein Wort darüber berichtet wird, daß draußen vor dem Rathaus hunderttausend Dresdner standen, die ungeduldig auf ihren OBM warteten; Berghofer (später auch Modrow) stellte sich ihnen und ihren Forderungen nach dem Ende der Stadtverordnetensitzung. Das Thema Demonstrationen reduziert sich hier auf Kritik an „solchen Tönen“. Die Großdemo vor der Tür wird glatt verschwiegen. Statt dessen (als gezähmter Ausgleich? ) berichtet ADN gleich daneben (2: B1) kurz über einen „Demonstrationszug durch Altenburg“: „[Die etwa 2000 Demonstranten] forderten ... freie Wahlen und andere wichtige Reformen wie Pressefreiheit, ein neues Bildungssystem und die Zulassung des Neuen Forums. Danach löste sich die Demonstration, die ohne Zwischenfälle verlaufen war, friedlich auf.“ Man darf annehmen, daß es hier wohl vor allem auf die Wendungen ohne Zwischenfälle und sich friedlich auflösen ankommt. Kein Wort davon, daß am Mittwoch bzw. Donnerstag in vielen großen Städten der DDR, u.a. in Rostock, Berlin und Gera, große Demos mit über zehntausend Teilnehmern und ganz ähnlichen, meist sehr präzisen Forderungen, stattgefunden haben. In ähnlich lapidarer Form wird über die allerdings umfassenderen Reformforderungen des BdKJ (5: D3) berichtet. Erwähnt werden föderative Staatsstruktur, moderner und demokratischer Rechtsstaat, Abbau des Zentralismus, politischer Pluralismus, der „alle Werte der ‘bürgerlichen Demokratie’ respektiert“, Reform des Wahlsystems, soziale Reformen unter Beteiligung aller demokratischer Kräfte, die „für ein neues Sozialismus-Projekt eintreten“. Diese Art, sich mit Forderungen nach mehr Demokratie und durchgreifenden Reformen auseinanderzusetzen (oder vielmehr, diese Auseinandersetzung durch reines Zitieren ausländischer Quellen zu umgehen), findet sich noch öfter in dieser und anderen Ausgaben. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 337 Ganz ist dieses Thema damit allerdings noch nicht erschöpft: Günter Schabowski sieht in dem zitierten ARD-Interview (5: A1-2, B1-2) in den Demonstrationen vor allem „Ruhestörungen“, „Belästigungen“ und „randalierende Gruppen ... bis in die Nachtstunden“: „Wir halten überhaupt die Straße nicht für den geeigneten Ort des <207> Dialogs.“ Mit diesen Formulierungen bleibt er dicht an der wenige Tage vorher ausgegebenen offiziellen Devise: „Dialog ja, aber nicht auf der Straße! “ - Eine differenzierte Wertung vermittelt der als eine Leserzuschrift aufgemachte Artikel Siegmar, Egon und die sieben Geißlein (3: D2-4). Der Verfasser sah, schreibt er, auf der letzten Leipziger Demo ein Transparent mit dem Text: Vergiß die sieben Geißlein nicht, wenn Egon von Reformen spricht! Er plädiert für eine Schonfrist für Egon Krenz und fairen Streit und fährt fort: „Die Träger der Transparente mögen genügend Gründe für Verbitterung haben, auch mir war in den letzten Jahren und vor allem Monaten immer stärker der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, zwischen Wort und Tat bewußt geworden. In meinem Parteikollektiv habe ich aus meinem Herzen keine Mördergrube gemacht, an Mut zu einem lauteren Wort hat es gefehlt. - Doch heute bin ich voller Hoffnung. Die Wende ist zu packen. ... Ich bin bereit, bei der Wende mitzutun, solange, wie der angekündigte Kurs [= von Egon Krenz] gehalten wird ... Mich treibt die Sorge um, ein in Haß und Gewalt ausufernder Leipziger Montag könnte uns weit zurückwerfen.“ Daß dieser Artikel nicht von ADN ist, versteht sich; er steht auf Seite 3, also einer De-facto-Lokalseite. 4.4 Thema Ausreise Die erschütternden Szenen der Flüchtlinge in der Prager und Budapester Botschaft reduzieren sich auf die oben schon zitierte ADN-Meldung „Reisedokumente für DDR-Bürger in Prag“ (5: C6): Es wurden „Personen ... aus der Staatsbürgerschaft der DDR ... entlassen, die sich in der dortigen Botschaft der BRD aufgehalten hatten“; man habe ihnen „Dokumente für die Ausreise in ein Drittland“ ausgehändigt. - Andere Hinweise auf die Ausreiseproblematik sind an verschiedenen Stellen versteckt: In 3 ADN-Artikeln wird eine Änderung der Reisebestimmungen gefordert bzw. angekündigt: In der Erklärung der Rechtsanwaltskollegien Seite 2 reduziert auf einen Nebensatz: „Abgesehen von einem neuen Reisegesetz ...“ (2: D6); im Schabowski- Interview (ein Absatz, 5: B2) und im Stoph-Ministerrat-Kommuniqué (2: A2-4, B2-4), letzter Satz. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 338 Eine spezielle Variante der Themenabwehr praktiziert die Zeitung bzw. ADN auf der ersten Seite: Die massenhaften Forderungen nach Grenzöffnung und Reisefreiheit werden via Westmedien als bekannt vorausgesetzt. Indirekt antwortet ADN darauf zweimal: In „Neonazis haben in der DDR keine Chance“ (1: A6) wird Schönhubers Ankündigung, er beabsichtige in die DDR zu fahren, als „provokatorische Anmaßung“ zurückgewiesen; die „Kontrollen an den Staatsgrenzen“, heißt es weiter, „bildeten auch in Zukunft die Gewähr dafür, die Bürger des Landes vor Aktivitäten neonazistischer Organisationen der BRD sicher zu schützen“. Hier wird einfach das Modell des „antifaschistischen Schutzwalls“ verbal reaktiviert. 22 Ergänzend wird unten links auf die Wohnungsnot bundesdeutscher Studenten hingewiesen: „BRD: 100000 Studenten noch ohne Unterkunft“ (1: DI) - eine Verelendungswarnung für Ausreiser - und ähnlich unten rechts: „Für Neuankömmlinge keine Bevorzugungen“ (1: D5-6) mit der Nachricht: „Ehemalige DDR-Bürger werden bei der Versorgung mit Sozialwohnungen nicht mehr bevorzugt.“ Zwar widerspricht diese Meldung indirekt der vorgenannten, jedoch wird der Ausreisewillige trotzdem abgeschreckt: „In <208> Bayern fehlen derzeit 200000 Wohnungen“ - zusammen mit der Preisangabe: „... Quadratmeterpreise bis zu 28 DM ...“. Diese Technik der Themenverweigerung bei gleichzeitiger indirekter Stellungnahme durch Hinweis auf schlimme Zustände beim Klassenfeind gehört zum Standardrepertoire der Parteipresse, insbesondere des ND. 23 Wieder bleibt es den Lokalseiten vorbehalten, das Thema Ausreise konkreter anzusprechen. Rudi Röhrer zäumt das Problem in seinem Bericht über eine Sitzung der SED-Bezirksleitung Leipzig (3: C1-4) allerdings von hinten, von den Rückkehrwilligen, auf. Wie soll man mit diesen Abgehauenen umgehen, „die wußten, was sie tun und was sie ... drüben erwartet“? Antwort: Man solle denjenigen „eine Chance geben, die ehrlich bereuen und von vorn anfangen wollen. Im Gegensatz zu Karl Eduard von Schnitzler tat es mir nämlich um viele Menschen leid, die uns verlassen haben.“ Es werde aber „Leute geben, die wir bei uns nicht wieder aufnehmen werden“. Der Autor bezieht sich hier auf die schon vorher öffentlich kritisierte Äußerung Schnitzlers, er weine den Davongelaufenen „keine Träne nach“. Das Nebenproblem der Rückkehrwilligen wird zum Thema gemacht, das Hauptproblem, warum so 22 Vgl. dazu die zitierten Artikel von Seite 6 über revanchistische bzw. neonazistische Tendenzen in der BRD . 23 Auch die Sendereihe „Der schwarze Kanal“ Karl Eduard von Schnitzlers bediente sich bevorzugt solcher Techniken. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 339 viele weggegangen sind und noch weggehen wollen, wird im Bericht nicht angesprochen. Die SED-Bezirksleitung zeigt sich, wenn der Bericht zutrifft, noch weitgehend unbelehrt. - Anders auf Seite 12: In einem Bericht über eine Diskussion zur Lage des Gesundheitswesens („Viel Konkretes im Gespräch“, 12: B5-6, C5-6) heißt es: „Schwer wiegt die Zahl von 85 Ärzten und Krankenschwestern, die allein aus unserer Stadt die DDR verlassen haben. Viele Bürger sind nun in Sorge, wie die medizinische Betreuung ... gewährleistet werden soll.“ Noch deutlicher wird die Redakteurin Andrea Richter in einem Bericht über eine Stadtbezirksversammlung „Woher rührt Resignation? “ (12: C3, BC4). Ein Redner nannte u.a. „... die geringen Chancen für die Reiselust junger Leute unseres Landes als einen wichtigen Grund dafür, daß Tausende ihrem Staat den Rücken gekehrt haben“. So sehr man sich als Leser über einen solchen Beleg freut - neu war die Wendung nicht, denn schon am 12. Oktober hatte das Präsidium des Kulturbundes seine Betroffenheit darüber geäußert, daß „viele Tausende ihre Heimat, unser Land, verlassen“, und daß es nicht gelungen sei, „vor allem junge Menschen unter den Auswanderern für das schwierige, aber perspektivreiche Leben bei uns zu gewinnen“. Der Beleg ist zudem der einzige seiner Art in dieser LVZ-Ausgabe; andere Zeitungen waren da weitaus offener. 4.5 Thema Herrschaftsanspruch - „ führende Rolle der Partei “ - Vertrauensverlust Schon in den Gründungsmanifesten der Bürgerbewegungen und der neuen Parteien war das Herrschafts- und Wahrheitsmonopol der SED kritisiert und angegriffen worden. Aus dem Gründungsaufruf der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) (7.10.1989): „Die notwendige Demokratisierung der DDR hat die grundsätzliche Bestreitung des Wahrheits- und Machtanspruchs der herrschenden Partei zur Voraussetzung. ... Das erfordert ... Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung ... Parlamentarische Demokratie und Parteipluralität...“ < 209> Aus dem Gründungsaufruf von Demokratie jetzt: „Wir brauchen neue Hoffnung: den Demokratischen Staat.... Wir wollen die Gleichberechtigung aller politischen Parteien und Gruppen, ausschließlich der Faschisten. Wir lehnen den Führungsanspruch der SED ab ...“ Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 340 Auf den Demonstrationen im ganzen Land war dies eine der wichtigsten, auf zahlreichen Transparenten und Losungen variierten Forderungen. Die offiziellen Verlautbarungen ließen in dieser Hinsicht noch kein Umdenken erkennen, vielmehr erschienen den (noch) führenden Repräsentanten der SED nur solche Reformforderungen diskutabel, die „auf dem Boden der Verfassung“ standen - und diese enthielt das Sozialismus-Monopol und den Führungsanspruch der Partei der Arbeiterklasse (er wurde erst am 1. Dezember 1989 aus der Verfassung gestrichen). Die Partei versuchte die Diskussion unter dem Schlagwort Vertrauensverlust zu entschärfen; ihn zu beheben, habe die Partei nun eine Wende eingeleitet und sei bereit zum breiten Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften bzw. Gruppen (gutmeinenden hatte Kurt Hager 24 vorsichtshalber eingeschränkt), die „auf dem Boden der Verfassung“ stünden - so Egon Krenz in den ersten Reden nach seinem Amtsantritt. In der LVZ finden sich nur dünne Spuren dieser heftigen Diskussion. Im schon zitierten Kommuniqué des Ministerrates (2: A2-4, B2-4, ADN) heißt es: „... jeder Fortschritt in der Volkswirtschaft basiere auf einer planmäßigen proportionalen Entwicklung, die den ökonomischen Gesetzen des Sozialismus entspricht. Hier seien in der Vergangenheit Abweichungen und Fehlentwicklungen zugelassen worden ... Das Kollektiv des Ministerrates wisse, daß überall harte Arbeit und wohldurchdachte Entscheidungen im Interesse der Menschen erforderlich sind, um das Vertrauen der Bürger zur Regierung zu festigen oder wiederherzustellen ... Die Regierung sei für offenen und ehrlichen Dialog mit den Bürgern. Sie sei bereit, Gedanken und Fragen aufzugreifen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die den Interessen des Volkes entsprechen und auf die weitere sozialistische Entwicklung gerichtet sind. - Die Regierung werde ihren Beitrag zur notwendigen Wende in der Entwicklung von Staat und Gesellschaft leisten ... Das hieße, die einheitliche Durchführung der Staatspolitik zu leiten und die Erfüllung der politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen ... Aufgaben zu organisieren.“ Insbesondere der letzte Satz gibt logische Rätsel auf. Wieso „Das hieße ...“? Mit dieser Formel oder mit „Das erfordert ... / Das verlangt ...“ wird im offiziellen Parteistil von einem allgemeinen Grundsatz zu einer konkreten Folgerung (Forderung, Direktive) übergeleitet. Aber folgt der nächste Satz aus dem vorhergehenden? Und was meint „die Durchführung der Staatspolitik ... leiten und die Erfüllung der ... Aufgaben organisieren“? Was mir als reine Leerformel erscheint, interpretieren kundige DDR-Leser anders: Entschei- 24 In einem ZDF -Interview am 12.10.1989 in Moskau. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 341 dend sei das Adjektiv einheitlich, der Ministerrat reklamiere hiermit weiterhin seine zentralistische, auf das sozialistische Herrschaftsmonopol gegründete Leitungsauffassung. 25 Eingebettet in diese Diskussion um erschüttertes bzw. verlorenes Vertrauen in Partei und Regierung findet sich eine bezeichnende, durch Rechtfertigung relativierte Fehlerdiskussion. Seit dem 17. Juni 1953 verabscheute die Partei nichts mehr als eine öffentliche Fehlerdiskussion; sie liefere, so hieß es stets, dem Klassenfeind oder den feindlich negativen Kräften nur Munition. Nur so ist es verständlich, daß sich die obersten Repräsentanten - und mit ihnen ADN und die Parteipresse - selbst Ende Oktober noch so schwer tun mit der verbal ausgerufenen „klaren Bestandsaufnahme und <210> ungeschminkten Analyse“ (so der Ministerrat im zitierten Artikel). Das Argumentationsmuster in der im folgenden diskutierten Textpassage lautet etwa so: 0. (Voraussetzung: ) Eine planmäßige proportionale Entwicklung gewährleistet im Sozialismus ökonomischen Fortschritt. 1. Aber: Es wurde zuwenig, das Falsche und schlecht produziert; 2. deshalb wurde der Bedarf der Bevölkerung nicht gedeckt, auch für die Zukunft sieht es nicht rosig aus. 3. Das war möglich, weil die Analysen schöngefärbt und die Bestandsaufnahmen unklar oder falsch waren. 4. Das werden wir jetzt ändern, die entsprechenden Beschlüsse sind gefaßt. 5. Wir sind zweifellos verantwortlich für die Misere, aber 6. trotzdem können Sie uns vertrauen: Wir werden die Kritik beherzigen. 7. Zwar müssen wir alle nun hart arbeiten, aber 8. in Zukunft geht es aufwärts; 9. allerdings nur schrittweise. - In der Diktion des Ministerrates verflüchtigt sich zunächst der Verantwortliche - er selbst - ins anonyme Passiv. Die Argumentationsstruktur eines selbstkritischen Zwar-Aber verwandelt sich in ein optimistischeres Nur wenn - Dann, und zwar in Verbindung mit der (zweifachen) Stilfigur des schönfärberischen Komparativs 26 und einem klassisch systemspezifischen Funktionsverbgefüge (die Produktion ... gestalten). Sie lautet so: 25 Ich verdanke diesen Hinweis der Diskussion im Anschluß an mein Zwickauer Referat. 26 Diese Stilfigur, die in der Literatur des öfteren als typisch erwähnt worden ist, läßt sich in ihrer voll ausgebauten Form etwa folgendermaßen beschreiben: Akkusativobjekt plus (1) steigerndes Modalwort plus (2) positiv wertendes Adverb im Komparativ plus (3) aktivierendes Verb. Typische Realisationen zu (1): immer/ noch/ ständig/ (stets); zu (2): höher/ breiter/ weiter/ besser/ allseitiger/ umfassender/ konkreter/ konsequenter/ komplexer/ planmäßiger/ vollkommener; zu (3): entwickeln/ gestalten/ entfalten/ leiten/ vertiefen/ ausprägen/ vervollkommnen/ durchführen/ verwirklichen/ organisieren/ sichern/ gewährleisten/ durchsetzen/ mit Leben erfüllen/ realisieren. In verkürzter Form kann (1) wegfallen. Restriktionen wegen stilistischer Unverträglichkeit (z.B. *immer vollkommener vervollkommnen) sind hier nicht berück- Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 342 Nur bei klarer Bestandsaufnahme und ungeschminkter Analyse könne die Produktion so gestaltet werden, daß der gegenwärtige Bedarf besser gedeckt und die wachsenden Bedürfnisse künftig immer besser befriedigt werden. Das werde nur schrittweise möglich sein. Diese hier noch verwaschene Zwar-aber-Struktur taucht noch öfter auf: Zwar: Der Ministerrat werde alles tun, um „Produktion und Angebot ... spürbar zu verbessern“. Aber „... nicht alle anstehenden Probleme [= könnten] zur gleichen Zeit gelöst werden“. Zwar: Jeder „Fortschritt basiere auf einer planmäßigen proportionalen Entwicklung ...“. Aber: „Hier seien in der Vergangenheit [! ] Abweichungen und Fehlentwicklungen zugelassen worden“ [von wem? ], „die zu den bekannten Schwierigkeiten führten ...“ Zwar: „Viel Positives sei in der Vergangenheit für die DDR und ihre Bürger erreicht worden.“ Aber: „Es hätten sich jedoch ... besonders in den letzten Jahren viele Probleme angestaut, die in diesen Tagen und Wochen offen und zum Teil mit großer Leidenschaft diskutiert werden.“ Von angestauten Problemen war auch schon auf Seite 1 im Artikel über das Theatergespräch in Altenburg die Rede. Mit dem „Problemstau“ verhält es sich offenbar wie mit einem Verkehrsstau: Auch die Partei weiß nicht, wer dafür verantwortlich ist, man gerät irgendwie hinein. Enge Analogien zu diesem Argumentationsmuster finden sich in der daneben stehenden Erklärung der Rechtsanwaltskollegien (2: A5-6 bis D5-6), deren Überschrift übrigens einen schönen Beleg für die uns aus dem ND so vertraute „Genitiv-Rutsch- <211> bahn“ liefert: Erklärung des Rates der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR (2: A5-6 bis D5-6). 27 Auch hier werden wieder anonyme Fehlentwicklungen (3mal! ) geduldet bzw. zugelassen. Auf weitere parteisprachliche Elemente im folgenden Zitat sei nur hingewiesen: Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus, nicht zur sichtigt. Das Muster ist ausbaufähig: die Bevölkerung noch besser versorgen die Versorgung der Bevölkerung noch konsequenter sichern die konsequente Sicherung der Versorgung der Bevölkerung noch besser organisieren ... usw. 27 Vorzüglich fanden sich solche Attributreihungen in Titeln (Der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik, Genosse Erich Honecker; der Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Alphabetisierung der Republik Guinea u.ä.). Solche Titulaturen finden sich in dieser LVZ -Ausgabe nur einmal, nämlich in der Kurznachricht auf Seite 2 ( 2: A1 ), wo sich Egon Krenz für die Glückwünsche zu seiner Wahl bedankt. Ein bemerkenswerter Verzicht auf eine jahrzehntealte, in allen sozialistischen Staaten übliche Sprachtradition. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 343 Disposition stehen, mit Leben erfüllen, selbstzufrieden umgehen, Errungenschaften, selbstkritisch feststellen, aufbauen auf, untrennbare Einheit. Vor allem findet sich eine ausgefeilte Zwar-aber-Struktur: Zwar: „Wir sind davon überzeugt, ... daß Fehlentwicklungen zu lange geduldet wurden“, daß aber „der Sozialismus als einzige Alternative zum Kapitalismus für die DDR nicht zur Disposition stehen kann“. Zwar gebe es „Errungenschaften“, aber auch „Fehlentwicklungen auf politischem, ökonomischem, wissenschaftlichem, juristischem, kulturellem und ethischem Gebiet“. Zwar sei es „unstrittig, daß es beim Ausbau der Rechtsordnung in der DDR beachtliche Erfolge gegeben habe, auf die aufgebaut werden könne“. Aber: „Es sei jedoch zugelassen worden, daß mit Begriffen wie ‘Sozialistische Demokratie’ und ‘Sozialistische Rechtsstaatlichkeit’ vielfach selbstzufrieden umgegangen sei, ohne sie ausreichend mit Leben zu erfüllen.“ Zwar spüre „die Rechtsanwaltschaft ... gegenwärtig das Vertrauen der Bürger“, aber: „selbstkritisch müsse jedoch festgestellt werden, daß bestimmte Fehlentwicklungen seit Jahren bekannt gewesen seien, ohne daß man öffentlich gegen sie vorgegangen sei“. - Insgesamt begrüßt die Rechtsanwaltschaft „den begonnenen breiten gesellschaftlichen Dialog und [= hält] ihn für den richtigen Weg zur Lösung der vor uns stehenden Probleme“; sie wolle ihren „Beitrag dazu leisten, daß die Begriffe DDR , Sozialismus und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen“. 28 Ganz ohne eine solche Zwar-aber-Schaukel zwischen Selbstrechtfertigung und Selbstkritik kommt das Kommuniqué des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden aus, das die LVZ unter der verharmlosenden Überschrift Veränderungen in der Medienpolitik erörtert (4: A5-6, B5-6, ADN) bringt (mit dreitägiger Verspätung); tatsächlich handelt es sich um eine scharf formulierte Fundamentalkritik an der staatlichen Medienpolitik. Parteimonopol und Vertrauenskrise werden hier in einen klaren ursächlichen Zusammenhang gebracht: „Die Gleichsetzung der Interessen von Staat und Gesellschaft und von Partei und Gesellschaft in der Informations- und Medienpolitik hat entscheidend zur gegenwärtigen Vertrauenskrise geführt. Deshalb sind rechtliche Grundlagen, die von einer Trennung der Interessen ausgehen, zu erarbeiten. Sie sollen die Freiheit der Medien und die politische Unantastbarkeit der in ihnen Arbeitenden sichern ... sowie Instrumente einer demokratischen Kontrolle über die Medien schaffen.“ 28 Auch in der indirekten Wiedergabe durch ADN spürt man noch die rhetorisch geschulte Feder des Autors Dr. Gregor Gysi. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 344 Insgesamt zeichnet sich das Kommuniqué ebenso durch lapidare Sprache wie durch lapidare Forderungen aus: <212> „5. Das Fernsehen der DDR wird aufgefordert, ab sofort seine Einschaltquoten zu veröffentlichen. - 8. ... fordert der Vorstand die dafür zuständigen Organe auf, unseren Kollegen, den Genossen Walter Janka, zu rehabilitieren.“ Beide Forderungen waren gleich provokant: Die Einschaltquoten gehörten zu den gehüteten Peinlichkeiten der DDR und hätten eigentlich zum sofortigen Rücktritt der Verantwortlichen führen müssen. Der Kollege und Genosse Walter Janka war unter Ulbricht in einem üblen Schauprozeß unter Mitwirkung von Verbandsvertretern aus dem Verband und aus der Partei ausgeschlossen und zu langjähriger Zuchthausstrafe verurteilt worden; sein Buch Schwierigkeiten mit der Wahrheit galt als staatsfeindlich - auch dessen Veröffentlichung fordert der Verband gleich mit. Das zweite Mal übrigens, daß in dieser Ausgabe ein als staatsfeindlich verbotenes Buch zitiert wird (vgl. oben 3.2 zu Seite 2). Einen direkten Appell, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, richtet ein Stadtbezirksbürgermeister an die Abgeordneten (12: B2): „Die Lage sei instabil, zum Teil krisenhaft ... Die Volksvertreter müßten durch kritische und selbstkritische Haltung das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen. ... [= Der Bürgermeister] gestand ein, die bisherige Einschätzung, auch in Südost die Wohnungsfrage als soziales Problem zu lösen, sei von Zweckoptimismus und Schönfärberei geprägt gewesen.“ Die über viele Jahre hin offiziell verkündete Losung von der „Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990“ wird hier mit einem Satz als gescheiterte Propaganda entlarvt. - Die Volksvertreter fühlen sich jedoch offenbar nicht in gleicher Weise mitverantwortlich. Es werden Wortmeldungen stichwortartig zitiert: „‘lch habe schon oft auf Mißstände aufmerksam gemacht. Unverständlich, daß jene Leute, an denen früher die Kritiken abprallten, heute laut von Bürgernähe reden.’ - Bisher haben die Volksvertreter empfohlen, Bitten geäußert - entschieden haben andere. Das muß sich ändern. - Um die Meinung unserer Bürger zu vertreten, müssen wir sie kennen. Wie aber unter den Leuten wirklich bekannt werden? “ Offenbar scheint einigen Volksvertretern der Appell falsch adressiert: Sie haben sich unter den gegebenen Verhältnissen als machtlos und daher nicht verantwortlich erfahren. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 345 Nur an einer einzigen Stelle in der ganzen Zeitung werden die Teilprobleme Fehlentwicklungen - Vertrauensverlust - führende Rolle der Partei in einen argumentativen Zusammenhang gebracht, vorsorglich abgesichert durch den Verweis auf eine Autorität: die 9. Tagung des ZK der SED (am 18. Oktober, Rücktritt Honeckers, Wahl Krenz'). Auf einer öffentlichen Parteiversammlung 29 (Ein zeitiger Brief und ein sehr offenes Gespräch, 12: A5-6, U.N . ) wird unverblümt kritisiert: sozialistischer Wettbewerb als Farce, Formalismus bei Entscheidungen, soziale Wohlfahrt, Mißtrauen gegen schnelle Wendungen, Privilegien für besondere Schichten notiert der Reporter. Ein SED-Funktionär, 1. Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig, hatte sich zu bekennen: „Auch ich fühle mich für die gegenwärtige Situation verantwortlich, muß meine Arbeit überdenken und verändern, wie jeder Genosse, der die 9. Tagung des ZK verstanden hat. Vertrauen - auch innerhalb unserer Partei - muß mit Wahrheit, Offenheit und sichtbaren <213> Veränderungen gewonnen werden. Die führende Rolle der Partei muß stets neu erworben werden.“ Neu war das nicht, nicht einmal die Wendung von der stets neu zu erwerbenden Führungsrolle. Aber mir scheint: Es ist dem Reporter U.N. (= Uwe Niemann) gelungen, in diesem gerafften Zitat die Denkweise vieler SED- Mitglieder in jenen Tagen auf den Punkt zu bringen, auch jener, die eine Reform der Partei und der Gesellschaft wollten, aber doch „im Rahmen“, nicht um den Preis eines Umsturzes. 4.6 „Dialog“ und „Wende“ - ein Ausblick Ein ganz wesentliches Thema in dieser Ausgabe, vielleicht das Hauptthema, läßt sich in diesem Überblick über die journalistische Behandlung bestimmter Sachthemen nicht angemessen darstellen: Zu einem wesentlichen Teil ist die Zeitung bestimmt durch den Versuch der Parteiführung Mitte Oktober, mit den Schlagwörtern vom breiten gesellschaftlichen Dialog und von der Wende, die man nun selbst eingeleitet habe, gleichsam in letzter Minute die thematische Führung im öffentlichen, immer gereizter werdenden Diskurs zurückzugewinnen. In Dutzenden von Varianten werden von der ersten bis zur letzten Seite Ausdrücke wie Dialog/ Gespräch/ Disput/ beraten und Wende/ Erneuerung/ Reform/ Veränderungen/ voranbringen in die Diskussion gebracht, teilweise im Sinne der Parteiführung, teilweise schon mit kritischen 29 Genauer: eine öffentliche (! ) Mitgliederversammlung der Abteilungsparteiorganisation ( APO ) der SED im VEB Starkstromanlagenbau unter Beteiligung der SED -Stadtleitung Leipzig. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 346 Forderungen konkretisiert, von „unten“, auf Bürgerversammlungen und -foren aufgegriffen und in Frage gestellt: Man müsse „aufpassen, daß der Dialog nicht zum Dialog über den Dialog wird“ (3: A6) - so greift ein Diskussionsteilnehmer Äußerungen auf, die kurz vorher, am 24. Oktober, in einem Fernseh-Podiumsgespräch gemacht wurden. (Im Anhang sind die Belege für beide Wortfelder in der Reihenfolge ihres Auftretens zusammengestellt.) Der Umschlag kam wenige Tage später: Seit der Berliner Großdemonstration vom 4. November kann dieser letzte sprachlich-thematische „Selbstrettungsversuch“ 30 der SED als gescheitert gelten. Über die Themen des öffentlichen Diskurses und über die an ihm Beteiligten bestimmten die Bürgerbewegungen und die demonstrierenden Massen nun allein; nicht mehr darum ging es jetzt, sondern um grundlegende Veränderungen des Systems selbst, um die Herrschaft der SED, um Sozialismus als Staatsform und um deren Alternativen. Beides, Dialog/ Gespräch wie auch Veränderung/ Wende/ Erneuerung/ Umgestaltung usw., haben ihre Geschichte im Sprachgebrauch der DDR und auch der BRD, sie erreichen ihren Höhepunkt als Schlagwörter im öffentlichen Diskurs in dieser Phase der friedlichen Revolution (wie es bald hieß). Sie bedürfen einer gesonderten Untersuchung als Wortfeld, auch in ihrer historischen Entwicklung in beiden deutschen Staaten, die hier allerdings nicht mehr geleistet werden kann. 31 <214> 30 Vgl. Colin H. Good, Der Kampf geht weiter oder Die sprachlichen Selbstrettungsversuche des SED -Staates; in: Sprache und Literatur, 67, 1991/ 1. Halbjahr, S. 48-55. Good bringt dort eine Reihe treffender Belege für den Kampf um (u.a.) die Begriffe Dialog und Wende und ihre inhaltliche Auffüllung bzw. Ablehnung. 31 Es wird erwogen, diese und andere Wortfelder im Rahmen der linguistischen Auswertung des Wendekorpus zu untersuchen. Zum „lexikalischen Etikett“ DIALOG siehe auch den Aufsatz von Fraas / Steyer (wie Anm. 5); vgl. Christine Teichmann, Von der „langue de bois“ zur „Sprache der Wende“; in: Muttersprache, CI (1991), S. 252-265. Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 347 Anhang: Belege für die Wortfelder DIALOG und VERÄNDERUNG Die folgende Liste enthält die Überschriften und Textstellen mit Belegen für die Wortfelder DIALOG und VERÄNDERUNG in der LVZ-Ausgabe vom 27.10.1989. Die Überschriften sind nach Seiten aufsteigend geordnet. Die Belegwörter werden kursiv wiedergegeben. Seite 1: Dialogangebot an die DDR -Jugend - Egon Krenz lädt Büro des Zentralrates zur Aussprache ein Ein Diskussionsangebot an die DDR -Jugend, wie die Erneuerung des Sozialismus voranzubringen ist, machte ... der 1. Sekretär des FDJ -Zentralrates Eberhard Aurich ... Mehr denn je müsse und wolle die FDJ sich mit allen Jugendlichen beraten, ihre Ideen und Vorschläge anhören ... Zur weiteren Erörterung von Gedanken und Vorschlägen des Jugendverbandes hat Egon Krenz das Büro des höchsten FDJ - Gremiums zu einer Aussprache eingeladen. ... schloß sich ... eine Diskussion an, die am Freitag fortgesetzt wird. Lebhaftes Gespräch über gesellschaftliche Wende - Am Donnerstagnachmittag im Landestheater Altenburg [Um angestaute, ungelöste Probleme, um das heutige Verständnis von Sozialismus, um unterschwellige „Zensur“] ... drehte sich ein Gespräch, ... [ein] interessanter Gedankenaustausch. ... Die SED ist zutiefst überzeugt, daß all die Probleme nur lösbar sind, wenn es gelingt, in ernsthaften, sachlichen Gesprächen ... Ursachen aufzudecken, Lösungen anzubieten und zu Ergebnissen, zu wirklichen Aktionen zu kommen. Egon Krenz und Helmut Kohl telefonierten - Interesse an Fortentwicklung der Beziehungen unterstrichen Er [= Krenz] habe von einer Wende gesprochen, was aber in keiner Weise eine Umkehr bedeutete. Die DDR bleibe ein sozialistisches Land. DKP begrüßt Wende in der DDR Die Kommunisten der BRD begrüßen die von der SED eingeleitete Wende in der festen Überzeugung, daß diese Politik positive Auswirkungen auf die Kampfbedingungen der DKP haben werde.... Egon Krenz betonte, der ... Kurs zur Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR eröffne auch neue Möglichkeiten für die weitere Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten zum Wohle der Menschen. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 348 IG Metall fordert Reformen in der BRD - Vorsitzender Steinkühler übte heftige Kritik an Politik Bonns ... hat ... heftige Kritik an der konservativen Regierungspolitik Bonns geübt und gesellschaftliche Reformen gefordert. [Jeder] ... müsse sich für Reformen einsetzen ... Seite 2: Demonstrationszug durch Altenburg Die Demonstranten ... forderten ... freie Wahlen und andere wichtige Reformen wie Pressefreiheit, ein neues Bildungssystem und die Zulassung des Neuen Forums. Ministerrat traf Entscheidungen für bessere Angebote und Dienstleistung - Willi Stoph gab Interview für die „Aktuelle Kamera“ und den Rundfunk der DDR Überall und von jedem müßten Vorschläge, Hinweise, Kritiken und Eingaben ernst genommen und in der täglichen Arbeit genutzt werden. Die Mitglieder der Regierung würden mit Kollektiven in Betrieben, Einrichtungen und Territorien beraten. Die Regierung sei für offenen und ehrlichen Dialog mit den Bürgern. Sie sei bereit, Gedanken und Fragen aufzugreifen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die den Interessen des Volkes entsprechen und auf die <215> weitere sozialistische Entwicklung gerichtet sind. Es hätten sich ... viele Probleme angestaut, die ... offen und zum Teil mit großer Leidenschaft diskutiert werden. [Dazu] ... habe es auch im Ministerrat eine offene und kritische Aussprache gegeben ... [Er wird] den Entwurf eines Reisegesetzes beraten und anschließend zur öffentlichen Diskussion stellen. Informatives Gespräch - Günter Schabowski im Disput mit Vertretern des „Neuen Forums“ Ein informatives Gespräch führen am Donnerstag ... Im Verlaufe der Unterredung wurden auch Fragen berührt wie ... Erklärung des Rates der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR Es könne ... bei Reformen nicht um weniger, sondern nur um mehr Sozialismus gehen. Voraussetzung für Reformen sei eine ehrliche Analyse der Lage in allen Bereichen ... Wir begrüßen den begonnenen breiten gesellschaftlichen Dialog und halten ihn für den richtigen Weg zur Lösung der vor uns stehenden Probleme. ... Wir erwarten, daß die Rechtsanwälte aktiv am gesellschaftlichen Dialog teilnehmen, in der Diskussion neuer Gesetze ihre Erfahrungen und ihr Wissen einbringen ... Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 349 OBM von Dresden mit zahlreichen Vorschlägen - W. Berghofer vor Plenartagung der Stadtverordnetenversammlung ... schlug er [= Berghofer] vor, zum ergebnisorientierten Dialog mit allen Einwohnern der Stadt zeitweilige Arbeitsgruppen ... zu beschließen. ... Damit werde zugleich Tausenden von Gesprächen mit Werktätigen ..., schriftlich eingebrachten Vorschlägen und Hinweisen, Forderungen der Dialoggruppe des Oberbürgermeisters, entsprochen. - Auf den in Gang gesetzten Dialog eingehend, forderte der Oberbürgermeister die schöpferische Aussprache mit allen Bürgern, auch mit Andersdenkenden, deren Widerspruch nicht mit Widerstand verwechselt werden dürfe. ... es sei alles zu tun, damit kein Vorschlag kluger, mündiger Bürger verlorengeht. Im Gegensatz zum freimütigen Disput stünden allerdings solche Töne wie „rote Lumpen“ ... Der frische Wind der Aussprache tat gut. Nicht förderlich hingegen waren diskriminierende Zwischenrufe und Unterbrechungen. Sondersendung von Sender Leipzig ... heute zwischen 9 und 10 Uhr: Gespräch Gewandhauskapellmeister Prof. Dr. h.c. Kurt Masur mit Rolf Henrich, Autor des Buches „Der vormundschaftliche Staat“. Seite 3: Der Zustand unserer Stadt und städtebauliche Erneuerung Wir möchten uns ... in den Tagen der Diskussion um das „Wie“ der gesellschaftlichen Erneuerung in unserem Land ... zu Wort melden. Mehr und mehr werden die Probleme und Ursachen des Verfalls großer Teile unserer Stadt offen angesprochen und heiß diskutiert. ... es konnte in den vergangenen beiden Jahren auch viel erreicht werden, auf das aufzubauen ist, aber eine grundsätzliche Wende ist noch nicht gelungen.... Wir rechnen ... mit der Mitwirkung der Technischen Hochschule ..., um in gemeinsamer Arbeit mit den Bürgern unserer Stadt und den Betrieben ... eine wirkliche Wende im Bauen durchsetzen zu helfen. ... Dafür sucht das Büro des Chefarchitekten dienstags ab 16.30 Uhr ... das Gespräch mit allen ... Fazit einer Nagelprobe - Nachtrag zur Sitzung der SED -Bezirksleitung ... Unzufriedenheit mit Inhalt und Verlauf der meisten Tagungen dieses gewählten Parteigremiums ...: „Vorbereitete Monologe über unsere Erfolge statt streitbarer Beratung ums Bessermachen“. ... Frage: Was geschieht mit den Vorschlägen, die jetzt im breiten Dialog speziell zu territorialen Erfordernissen und Veränderungen eingebracht werden? Antworten ...: Achim Prag verwies auf die beim Rat der Stadt gebildeten Gruppen zu den vorrangigen Themenkreisen des Dialogs, in denen alle Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 350 interessierten Bürger ... mitarbeiten können. ... schlug vor, eine Gruppe sachkundiger Mitglieder und Kandidaten der Bezirksleitung zu schaffen, die, aufbauend auf Gedanken und Vorschlägen im Dialog - Denkansätze für bezirksspezifische Schwerpunkte und Ak- <216> zente des neuen Fünfjahrplans gibt. ... Fazit nach drei Stunden Meinungsaustausch und Meinungsstreit: So muß es weitergehen. Der halbe Weg ... hatten wir in einem Kommentar zum Forum im Gewandhaus auch die Frage gestellt, wo in dieser gegenwärtigen Dialog-Zeit einige gesellschaftliche Organisationen mit ihren Aktivitäten bleiben. ... Und geht es nicht auch um zusätzliche Dialogformen, über die man jede Woche neu nachdenken muß? Siegmar, Egon und die sieben Geißlein Letzten Montag habe ich im Demonstrationszug Siegmar mit dem vielbeklatschten Transparent „Vergiß die sieben Geißlein nicht, wenn Egon von Reformen spricht“ gesehen. ... Doch heute bin ich voller Hoffnung. Die Wende ist zu packen. ... Ich jedenfalls gebe dem neuen Generalsekretär einen Bonus als Vorschuß und bin bereit, bei der Wende mitzutun ... Streiten wir doch lieber über Sachfragen und Lösungen.... Darüber möchte ich bei nächster Gelegenheit mit Siegmar reden ... Kommentiert - „Das Thema“ ohne Thema? ! Erleichtert, enttäuscht, hoffnungsvoll - so in etwa möchte der Journalist die Gemütslage von 25 Leuten nach einem gut zweieinhalbstündigen Gespräch beschreiben. Der Jugendklub „Das Thema“ ... hatte ... zum Disput über „Montags auf der Straße - der richtige Weg? “ gebeten. ... Gut aber, daß sie vermochten, miteinander zu reden. Sehr aufmerksam wurde der Meinung des Gegenüber, des Nachbarn gefolgt.... Nach eineinhalb Stunden mahnte einer aus der Runde: „Wir müssen aufpassen, daß der Dialog nicht zum Dialog über den Dialog wird.“ Doch genau das war's ... Was Enttäuschungen bei jenen hervorrief, die sich konkrete Forderungen ... erhofften, die zur Diskussion gegeben werden müßten, oder Vorschläge erwarteten. ... woraus deutliche Vorschläge, Vorstellungen, Veränderungen wachsen. Gesunde Umwelt, eine große Herausforderung für alle Tag für Tag - Forum mit Minister Dr. Reichelt: Bürgerfragen zu Lebensqualität und Umweltschutz, Kernenergie und Atommüll Der Minister hatte Aufschlußreiches an den Anfang des Forums gestellt. „... Überlassen wir die Entscheidung (= über Trinkwasser-Subventionen) doch der öffentli- Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 351 chen Diskussion in den nächsten Monaten“. ... Das Forum kann der Auftakt dazu sein, mehr Bürger als bisher einzubeziehen. Seite 4: Verbandswahlen der Film- und Fernsehschaffenden: Veränderungen in der Medienpolitik erörtert In einer neunstündigen leidenschaftlichen und kontroversen Debatte beschäftigte sich der Vorstand mit der aktuellen ... medienpolitischen Situation ... Die Dynamik der gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozesse und die unumgänglichen Veränderungen in der Medienpolitik unserer Gesellschaft machen es notwendig, einen außerordentlichen Kongreß einzuberufen. ... der Vorschläge an den XII . Parteitag der SED ... ausarbeitet, in denen die Funktion und Stellung der Künstlerverbände den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen entsprechend neu definiert werden. - Bei der ... Schaffung demokratischer Kontrollorgane über die Medien nimmt der Verband ein entscheidendes Mitspracherecht in Anspruch. - Das Fernsehen und alle Medien werden aufgefordert, einen direkten und offenen Dialog mit allen gesprächsbereiten, auch informellen Gruppen, die auf dem Boden der Verfassung der DDR stehen, zu führen. Kommentiert - Und wieder: Festivaltage [Drei sowjetische Filme des Vorjahres] ... fanden regen Zuspruch, wurden eifrig diskutiert. LVZ war ... dabei, als es ... Gesprächsrunden in Borna und Torgau gab... nahm der Zuspruch immens zu, sicher auch ... durch unsere Anteilnahme an Glasnost und Perestroika im Freundesland.... Festivaltage, die auch Gewinn bringen dürften, zumal Diskussionsangebote ... unerhört heutig und hiesig wirken. <217> Seite 5: Live-Interview der ARD mit Günter Schabowski zur DDR -Entwicklung [Die Entwicklung zu einem sozialistischen Rechtsstaat] ... wird sich vervollkommnen im Laufe der Wende, die wir jetzt vollzogen haben im Prozeß der Erneuerung und im Prozeß des Dialogs mit allen Bevölkerungsschichten. Auf eine Frage nach Dialogbereitschaft ... auch mit den „neuen Oppositionsgruppen in der DDR “ entgegnete Günter Schabowski: „Das Gespräch mit Menschen, die sich solchen Oppositionsgruppen ... nahefühlen - das Gespräch ist längst im Gange“. Er selbst werde ... ein Gespräch mit Prof. Reich haben ... Es gebe für das Gespräch mit ihnen [= Oppositionellen] keinerlei Begrenzung, wie es überhaupt keine Begrenzung gebe für den Dialog, der sich auf der Grundlage der Verfassung abspielt. - „Wir halten überhaupt die Straße nicht für den geeigneten Ort des Dialogs. Es gebe zahlreiche Möglichkei- Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 352 ten für die Bürger, sich zu artikulieren, ihre Ansichten, ihre Vorschläge vorzutragen. - [Aus den angekündigten Maßnahmen] ... sei zu ersehen, mit welcher Konsequenz die Kräfte bei uns, die die Erneuerung betreiben, diese Erneuerung auch in reale Taten umsetzen. [Zum neuen Reisegesetz werde] „... die Bevölkerung Gelegenheit haben, sich ... zu äußern“. Kommentiert - Telefonat und Perestroika [Vor einem öffentlichen Gebäude in Moskau: ] ... drei Herren ... fangen an, mit den Versammelten zu diskutieren.... Daran ... muß ich denken, wenn [z.B.] Schabowski und Krack in Berlin mutig auf Demonstranten zugehen, um den Dialog zu führen, wenn in Leipzig Politiker auf Foren Rede und Antwort stehen, wenn der DDR - Kulturminister Zeit findet, sich dem ganzen Kummer der Künstler zuzuwenden. - Hatten sich [= bei dem Telefonat] da nicht zwei Reformer verständigt? ... Die russischen Worte für Umgestaltung und Offenheit riefen doch bei einer ganzen Reihe von maßgeblichen Leuten in unserem Lande eine Art Brechreiz hervor.... Der Kommentator ist bei weitem kein bedingungsloser Anbeter von Glasnost und Perestroika. Dazu hat er vor Ort ... die Schattenseiten und Pannen der Erneuerung in der Sowjetunion kennengelernt. ... Aber ... auch dieser Standpunkt gehört zu der Offenheit, die wir brauchen. Entwurf des BdKJ veröffentlicht Der ... Entwurf einer politisch-ideologischen Plattform für Veränderungen des politischen Systems im Lande ist ... veröffentlicht worden. ... Die Partei tritt ... für eine Reform des Wahlsystems ein. - Soziale Reformen in Jugoslawien sollten nicht von einem politischen Zentrum aus geleitet werden ... Seite 6: Keine Belege Seite 12: Heiße Dispute unter den Abgeordneten von Südost und Nord: Nach der kritischen Analyse nun praktische Veränderung - Schluß mit Schönfärberei - Woher rührt Resignation? Ein heißer, trotzdem erfrischender Disput: 35 Wortmeldungen habe ich ... gezählt.... Wie es in der Wohnungspolitik weitergehen soll, dazu wird eine Arbeitsgruppe Vorschläge unterbreiten, der neben Fachleuten auch interessierte Bürger ... angehören sollen. Weitere solche Gruppen werden sich ... mit Möglichkeiten für reale Mitbestimmung befassen. - Einigkeit aber darin: Jetzt schnell vom Reden zur Tat. - ... müssen wir uns, trotz des dringend notwendigen Gesprächs über die gegenwärtige Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch 353 Lage, auch unserem für heute geplanten Thema, der Jugendpolitik, stellen. - Noch zu wenig gelänge es auch, mit Jugendlichen zu sprechen. Themenvorschläge für Diskussionen könnten beispielsweise „ Schlagwort Reform“ oder „Professionalismus im DDR -Sport? “ lauten. - In der Diskussion äußerte Jürgen Menzel, 1. Sekretär der Stadtbezirksleitung, seinen Eindruck, daß bisher noch zu sehr der „Dialog über den Dialog“ geführt werde - zu wenig käme es zu praktischen Veränderungen. - [Es hätten] viele junge Leute resigniert, da u.a. das Echo auf Kritiken in der Plandiskussion unakzeptabel sei. - Im ... Verlauf der Tagung, die ... durch zahlreiche spontane Meinungsäußerungen interessant und lebhaft verlief, unterbreitete der Bürger- <218> meister mehrere Gesprächsangebote für Abgeordnete und Bürger: so lädt er am ... zum Disput über alle interessierenden Fragen ein. Rathaustüren stehen den Bürgern offen Oberbürgermeister Dr. Bernd Seidel und ... laden ... interessierte Bürger zu einem Disput über aktuell-politische Fragen und die Entwicklung der Stadt Leipzig für ... ein. Im Rathaus Stötteritz erwarten der Bürgermeister von Südost und weitere Ratsmitglieder die Bürger am Montag ... zum Gespräch. Ein zeitiger Brief und ein sehr offenes Gespräch - Öffentliche Mitgliederversammlung mit Achim Prag Ein Brief war der Ausgangspunkt für eine offene Aussprache am gestrigen Nachmittag im VEB Starkstromanlagenbau. ... weitergehende Gespräche bringen für alle Beteiligten eben mehr. ... „Auch ich ... muß meine Arbeit überdenken und verändern, ... Vertrauen ... muß mit Wahrheit, Offenheit und sichtbaren Veränderungen erworben werden. - Gert Kalisch meinte, im Interesse Leipzigs solle man nicht an Ehrfurcht ersticken, wenn man Forderungen stelle. ... Dazu werden Genossen und Kollegen im streitbaren Meinungsaustausch überdenken, was im eigenen Bereich zuerst zu verändern ist. Viel Konkretes im Gespräch - Kreisarzt Prof. Metzig zur Lage im Gesundheitswesen Über konkrete Maßnahmen [= im Gesundheitswesen] informierte gestern Leipzigs Kreisarzt während eines Pressegesprächs. - Eine Vielzahl weiterer Maßnahmen sind im Gespräch, so auch... Aus: Terminologie et Traduction 1/ 1994, S. 105-138. [© Europäische Gemeinschaften 1994. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.] Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt Brücke oder Schranke der Verständigung? 1 Übersicht 1. Zum Thema 2. Zur Entwicklung der Forschung 3. Zu den sprachlichen Folgen der Wende in der DDR 3.1. Von der Parteisprache zur Wendesprache 3.2. Zeithistorische Aspekte 3.3. Systematische Aspekte 4. Kommunikative Belastungen 4.1. Quantitative Aspekte 4.2. Qualitative Aspekte 5. Einige praktische Folgerungen Anhang 1. Zum Thema Als Einstieg in mein Thema möchte ich Gerold Ungeheuer, den längst verstorbenen Bonner Kommunikationswissenschaftler, zitieren. Er äußert sich in einem Aufsatz 1972 2 zu der Frage, wovon das Gelingen von Verständigung wohl im wesentlichen abhängt. „Je weniger situative Hilfen aus pragmatischer Erfahrung der Gegenwart oder der Vergangenheit zur Verfügung stehen, je mehr das Verständnis einer sprachlichen Formulierung allein abhängt von lexikalischen und grammatika- 1 Referat auf der Tagung des Belgischen Germanisten- und Deutschlehrerverbandes, Universität Louvain-la-Neuve (Belgien) Mai 1992. [Zuerst veröffentlicht mit gleichem Titel in: Germanistische Mitteilungen 38/ 1993, S. 3-35 (stark fehlerhafter Druck). MWH ] 2 Gerold Ungeheuer: Sprache als Informationsträger. In: Süddeutscher Rundfunk (Hg.): Sprache - Brücke und Hindernis. 23 Beiträge nach einer Sendereihe des ‘Studio Heidelberg’ des Süddeutschen Rundfunks. München 1972, S. 35-46, hier S. 41. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 356 lischen Mitteln der <106> verwendeten Sprache, um so unsicherer und umso länger ist der Prozeß des Herstellens eines Verständnisses.“ Daran schließe ich zwei Fragen an. Erstens: Wie gemeinsam ist denn die „pragmatische Erfahrung der Gegenwart oder der Vergangenheit“, und wieviel „situative Hilfen“ stellt sie denn zur Verfügung in der ost-westdeutschen Kommunikation, jetzt, nach vierzig Jahren der Trennung und einer Gegenwart, in der von gleichen Lebensverhältnissen, wie sie unser Grundgesetz fordert, noch keine Rede sein kann? Und die zweite Frage: Wie gemeinsam sind denn die „lexikalischen und grammatikalischen Mittel der verwendeten (deutschen) Sprache“, von denen doch, wie er schreibt, die Verständigung in erster Linie abhängt, die also, wenn die Antwort auf die erste Frage eher negativ lauten sollte, doch umso wichtiger werden? - Zwar gibt es keine nennenswerten grammatikalischen Differenzen, wohl aber lexikalische: Selbst kleine Taschenbücher wie die von Kinne / Strube-Edelmann 3 oder Ahrends 4 , die sich selbst als nicht vollständig verstehen, enthalten 800 bis 900 spezifische Stichwörter nur aus dem Sprachgebrauch der DDR; ein Wörterbuch der bundesdeutschen Spezifika müßte vermutlich umfangreicher sein 5 . Zumindest der öffentlich relevante Teil des Wortschatzes ist - und wie könnte es auch anders sein? - von den „sprachlichen Folgen der politischen Teilung Deutschlands“ 6 stark betroffen. Wie stark die Alltagssprache der DDR von dieser lexikalischen Differenzierung beeinflußt war, ist noch nicht klar, weil erst seit der Wende untersuchbar; zumindest gibt es Zweifel, ob die Dichotomie „Verlautbarungssprache“ (systemgeprägt, sehr spezifisch) versus „Alltagssprache“ (systemresistent, sehr gemeinsam) die Realität eini- 3 Michael Kinne / Birgit Strube-Edelmann: Kleines Wörterbuch des DDR -Wortschatzes. 2. Aufl. Düsseldorf 1981. 4 Martin Ahrends: Allseitig gefestigt. Stichwörter zum Sprachgebrauch der DDR. ( dtv Nr. 11126) München 1989. (vorher unter dem Titel „Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon“, (Heyne) München 1986). 5 Vgl. dazu Horst Dieter Schlosser: Die Sprachentwicklung in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland. In: Hättich / Pfitzner (Hg.): Nationalsprachen und europäische Gemeinschaft. Probleme am Beispiel der deutschen, französischen und englischen Sprache; München 1989, S. 36-52. 6 So der Titel von Hugo Mosers wichtigster Schrift zum sprachlichen Ost-West-Thema: „Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands“ (= Beiheft zum Wirkenden Wort Nr. 3), Düsseldorf 1962. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 357 germaßen zutreffend beschreibt 7 . Nein, wir können <107> beide eben gestellte Fragen leider nicht mit einem freudigen „gemeinsam! “ beantworten. Im Gegenteil: Als kollektive Erfahrung, wie sie in hunderten von Kommentaren, Erfahrungsberichten, Podiumsdiskussionen und wissenschaftlichen Beiträgen tagtäglich formuliert wird, kann man wohl eher sagen: Verstehen und Verständigung zwischen Ost und West, zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen, Wessis und Ossis 8 , - Kommunikation also ist schwieriger, fehlerbehafteter, gefährdeter als erwartet. Unsere gemeinsame Sprache ist durchaus kein so zuverlässiges Mitteilungs- und Verständigungsmittel, wie viele geglaubt haben. Die „Mauer in den Köpfen“, auch die sprachliche, ist nicht weg, sie scheint vielen eher zu wachsen. Und wenn diese Auffassung eines Beleges bedarf, so sei in der Diktion des gelernten Philologen, nämlich Professor Bernd Switalla, folgendes zitiert 9 : „Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten macht uns bewußt, daß sich im Osten und im Westen der Bundesrepublik die lebensweltlichen, sprachlichen Umgangsformen und die wissenschaftlichen Wissenskulturen unterscheiden. Ein ganzes Stück weit sind wir uns fremd geworden, sprechen eben doch nicht mit einer Zunge. Wir müssen jetzt also lernen, die anderen Verständigungsweisen nicht gedankenlos mit unseren eigenen zu verwechseln, müssen uns in jene Kultur des Fremdverstehens einüben, die gerade die Philologie zu lehren vermag.“ Nun, die deutsche Philologie oder die Sprachwissenschaft oder die Linguistik - sie haben in den letzten zwanzig oder auch vierzig Jahren gewiß nicht immer diese Kultur des Fremdverstehens gelehrt, die Professor Switalla hier erwartet. Ich möchte, um dies zu verdeutlichen, einen kurzen und notwendigerweise grob skizzierten Überblick über die Entwicklung der Forschung 7 So in etwa Wolf Oschlies: Sprache der Deutschen: Reißt, hält oder festigt sich das ‘einigende Band’? In: Edition Deutschland-Archiv (Hg.): Die DDR im vierzigsten Jahr - Geschichte, Situation, Perspektiven. 22. Tagung zum Stand der DDR -Forschung in der Bundesrepublik Deutschland; Köln 1989. 8 Ich gebrauche die Ausdrücke „Wessi“ und „Ossi“ nicht herabsetzend, sondern aufgrund jahrelanger Vertrautheit mit den Lebensumständen der Menschen auf der anderen Seite eher freundschaftlich-salopp. 9 Anlässlich des Augsburger Germanistentages 1991. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 358 zum „sprachlichen Ost-West-Problem“ geben 10 . Denn eine Tradition hat das Thema natürlich schon. 2. Zur Entwicklung der Forschung Schon in den ersten Jahren nach dem Krieg haben sich einige später berühmt gewordene Philologen mit den ersten Tendenzen der beginnenden Auseinanderentwicklung befaßt - unter ihnen Victor Klemperer, der das berühmt gewordene Notizbuch eines Philologen zum Sprachgebrauch des NS-Staates <108> herausgegeben hat 11 . Schon Anfang der 50er Jahre sah er wie auch F.C. Weiskopf 12 mit Sorge die sich abzeichnenden sprachlichen Differenzen, und zwar, sicherlich zu recht, unter massivem Einfluß der beiden Besatzungsmächte, der Sowjetunion einerseits, der Amerikaner, Engländer und Franzosen auf der anderen Seite, die nicht nur ihren politischen Wortschatz, sondern - jedenfalls im Westen - auch sehr viel Alltagswortschatz mit in diese neu entstehenden Staaten einbrachten. Klemperer hat sich vehement für die „Einheit und Reinheit der deutschen Sprache“ eingesetzt. Das war zunächst ein gemeinsamer Ansatz. Er fiel allerdings bald auseinander, weil der immer heftigere Kalte Krieg auch die Sprache als Feld der ideologischen Auseinandersetzung nicht aussparte. Im Westen wurden die Besonderheiten des sich konstituierenden DDR-Staates als „Parteijargon“, als „Kaderwelsch“ oder „Moskauderwelsch“ denunziert und somit der SED die Alleinschuld an der beginnenden sprachlichen Differenzierung („Sprachspaltung“) zugewiesen. Die andere Seite revanchierte sich mit dem Hinweis darauf, daß der Sprachgebrauch im Westen anglo-amerikanisch überfremdet und von den „imperialistischen Monopolverlagen verseucht“ sei und derartiges; hingegen werde in der DDR die deutsche Nationalsprache kulturvoll gepflegt und gefördert, allerdings in Richtung Sozialismus. 10 Der Ausdruck „sprachliches Ost-West-Problem“ stammt von Walther Dieckmann: Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem. In: Zeitschrift für Germanistik 23, 1967, S. 136-165. Dieser Aufsatz hat die weitere Forschung damals entscheidend beeinflußt. 11 Victor Klemperer: Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen - LTI . Darmstadt (o.J.) (Erstauflage 1946 bei Reclam, Leipzig). Derselbe: Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland. Vortrag gehalten im Klub der Kulturschaffenden, Berlin 1952 (= Vorträge zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse Bd. 17) Berlin (Ost) 1954 (1. Aufl. 1952). 12 Franz Carl Weiskopf: Verteidigung der deutschen Sprache, Berlin (Ost) 1955. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 359 Auf dieser Basis gegenseitiger Beschuldigungen konnte man allerdings nicht wissenschaftlich forschen. Es war Hugo Moser, der mit uns, den damals meist ganz jungen Absolventen seiner Seminare, sich dafür entschied, zunächst eine vergleichbare Textgrundlage zu konstituieren, als Grundlage für alle weitere lexikographische oder lexikologische Forschung zu unserem Thema. Und zwar eine Textgrundlage, die nicht davon ausgeht, daß der Sprachgebrauch der Bundesrepublik die Norm sei, der gegenüber alle anderen Sprachgebräuche notwendigerweise nur Abweichung sein können, also Normverletzungen, auch und insbesondere der in der DDR. Vielmehr konstituieren wir zwei vergleichbare Korpora aus Ost und West, beide mit typischen Texten deutscher Sprache, aber in ihren jeweils speziellen Ausprägungen, und diese Ausprägungen betrachten wir bis auf Widerruf als beiderseits standardsprachlich. Diese Textdokumentation, die dann begonnen wurde, hat uns lange beschäftigt und sehr viel Zeit und Mühe gekostet. Über drei Millionen Wörter laufender Text mußten von Hand auf Lochkarten übertragen, mehrfach korrigiert und schließlich noch umcodiert werden. Dieses so <109> genannte Bonner Zeitungskorpus (BZK) 13 ist in einer ersten Fassung Mitte der 70er Jahre fertig geworden 14 ; erst dann haben wir ein größeres lexikographisches Projekt beginnen können. Die Ergebnisse sind niedergelegt in einem Forschungsbericht 15 ; im Herbst 1992 erschien ein dreibändiges Wörterbuch Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. 16 Es bezieht sich sozusagen rückwirkend auf den Sprachgebrauch von Zeitungen aus den beiden deutschen Staaten und den Zeitraum von 1949 bis etwa Mitte oder Ende der 70er Jahre; dank des hohen Maßes an Stabilität, ja Gleichförmigkeit im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR gelten die meisten Gebrauchsbeschrei- 13 Das Bonner Zeitungskorpus ( BZK ). Am Institut für deutsche Sprache erstellt nach der Konzeption und unter der Leitung von Manfred W. Hellmann. Teil 1: DIE WELT und NEUES DEUTSCHLAND . Texte, Register, Konkordanzen, Gesamtregister. (= Brekle u.a. (Hg.): Regensburger Microfiche-Materialien ( RMM ) Nr. 07/ 1), Regensburg 1985 ( MCS Verlag Nürnberg, Microfiche-Veröffentlichung). 14 Ab 1981 war noch eine Überarbeitung und Anpassung an die Mannheimer Textkonventionen des IDS erforderlich. 15 Manfred W. Hellmann (Hg.): Ost-West-Wortschatzvergleiche. Maschinell gestützte Untersuchungen zum Vokabular von Zeitungstexten aus der BRD und der DDR . (= Forschungsberichte des IDS Bd. 48); Tübingen 1984. 16 Manfred W. Hellmann: Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpuswörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten. (= Forschungsberichte des IDS Bd. 69.1-69.3); Tübingen 1992 (2 Bände plus Tabellenband). Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 360 bungen für DDR-spezifische Wörter auch über diesen Zeitraum hinaus, viele bis zur Wende im Oktober 89. Ich übergehe jetzt den wechselvollen Prozeß der Auseinandersetzung um das Problem der sprachlichen Ost-West-Differenzierung, den ich an anderer Stelle behandelt habe 17 . Ich erinnere nur an die Bemühungen der DDR in den 70er Jahren, sich als einen „sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern“ (so die neue Verfassung von 1973) darzustellen, in der sich eine „sozialistische Nation“ mit einer „sozialistischen Nationalkultur“ und schließlich auch eine „sozialistische Nationalsprache“ entwickeln werde 18 , und wenn nicht dies, so doch wenigstens <110> „vier nationalsprachliche Varianten“: diese gebe es bereits in der DDR, der BRD, Österreich und der Schweiz - so G. Lerchner (Halle) 1976 19 . Diese These noch im Ohr, erstaunte uns der Leipziger Linguist Wolfgang Fleischer, der in einem Vortrag 1983 sagte, es gebe keinen Grund, so etwas anzunehmen; es handele sich vielmehr um Besonderheiten in der einen deutschen Sprache, allerdings um staatsspezifische, gesellschaftsspezifische Besonderheiten in durchaus nennenswerter Zahl, aber nicht um eine eigenständige nationalsprachliche Variante 20 . 1987 etwa kam der nächste Schritt der Annäherung. Peter von Polenz, der prominente Trierer Sprachwissenschaftler, äußerte auf einem Symposium in Bern 21 in Gegenwart von Linguisten aus Österreich, der Schweiz und aus der DDR, man müsse darauf verzichten, das Deutsch der Bundesrepublik sozusagen als standardsprachliche Norm oder als „Hauptvariante“ zu betrachten und alles andere mehr oder weniger als Normabweichung, insbesondere den Sprachgebrauch der DDR. Das heu- 17 Manfred W. Hellmann: Die doppelte Wende. Zur Verbindung von Sprache, Sprachwissenschaft und zeitgebundener politischer Bewertung am Beispiel deutsch-deutscher Sprachdifferenzierung. In: J. Klein (Hg.): Politische Semantik. Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen 1989, S. 297-326. 18 So z.B. Siegbert Kahn: Nation und Sprache. In: Weltbühne Nr. 53 vom 31.12.74. 19 Gotthard Lerchner: Nationalsprachliche Varianten. In: Forum H. 3, 1976, S. 10-11. Nachdruck in: M. Kinne (Hg.): Texte Ost - Texte West. (= Diesterweg Nr. 6250, Kommunikation/ Sprache) Frankfurt/ Berlin/ München 1977, S. 30-34. 20 Wolfgang Fleischer: Die deutsche Sprache in der DDR . Grundsätzliche Überlegungen zur Sprachsituation. In: Linguistische Studien (Leipzig) H. 111, S. 258-275. 21 VIII . Internationale Deutschlehrertagung Bern (1987): Ziele und Wege des Unterrichts in Deutsch als Fremdsprache. Tagungsbericht, hg. von R. Zellweger. Staatlicher Lehrmittelverlag Bern 1987. Darin: Podiumsdiskussion S. 58-66. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 361 tige Deutsch sei vielmehr eine „plurizentrische“ Sprache 22 ; es sei davon auszugehen, daß jeder der vier deutschsprachigen Staaten seinen eigenständigen Beitrag zu dem leistet, was für uns alle, insbesondere aber für das Ausland, gemeinsam als deutsche Sprache, deutsche Kultur, deutsche Literatur erscheint. Dem stimmte Wolfdietrich Hartung aus der DDR sofort zu: „Also mit dem Begriff plurizentrisch bin ich völlig einverstanden“, sagte er, es handle sich in der Tat nur um „ein paar Besonderheiten“. Nachdem wir also bis Ende der 70er Jahre fast schon eine „sozialistische Nationalsprache“ hatten, waren es 1987 nur noch „ein paar Besonderheiten“. Dem gegenüber hat sich 1991 in der Muttersprache der russische Sprachwissenschaftler Anatoli Domaschnew geäußert 23 : Lediglich „ein paar <111> Besonderheiten“ seien es denn doch nicht gewesen. Natürlich gebe es keine nationalen Varianten, es gebe bisher und weiterhin nur ein „Binnendeutsch“ gegenüber dem österreichischen Deutsch und dem schweizerischen Deutsch, die in der Tat eigenständige Varianten darstellten. Die vierzig Jahre der Trennung hätten nicht ausgereicht, um Differenzierungstendenzen auch über den Wortschatz hinaus in weiteren Bereichen der Sprache, beispielsweise im grammatischen System, zu verankern. So weit etwa waren wir mit der Diskussion gediehen, als dann sozusagen „über Nacht“, jedenfalls völlig gegen jede Erwartung, die Wende über uns „hereinbrach“. Ich erlaube mir diese Formulierung, obwohl vielen natürlich klar war, daß, nachdem Gorbatschow den imperialistischen Herrschaftsanspruch über die „Randgebiete“ der Sowjetunion aufgegeben hatte, das System in der DDR auf längere Sicht (in der Perspektive würde man in der DDR sagen) nicht mehr zu halten war. Aber wie es sich verändern würde - ob vielleicht zu einem Staat eines demokratischen Sozialismus, oder ob es die DDR gar ihre staatliche Existenz kosten würde -, das war für niemanden von uns auch nur annähernd voraussehbar. Wir hatten also das zweifelhafte Vergnügen, die Richtigkeit unserer Thesen anhand einer unerwarteten und sehr 22 Dazu Peter von Polenz: ‘Binnendeutsch’ oder plurizentrische Sprachkultur? Ein Plädoyer für Normalisierung in der Frage der ‘nationalen Varietäten’. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 16, 1988, S. 198-218. Der Ausdruck „Plurizentrismus/ plurizentrisch“ stützt sich vor allem auf den australischen Linguisten Michael Clyne: Language and Society in the German-speaking countries. Cambridge University Press Cambridge/ London/ Melbourne/ Sidney 1984. 23 Anatoli I. Domaschnew: Ade, DDR -Deutsch. Zum Abschluß einer sprachlichen Entwicklung. In: Muttersprache 101, H. 1, 1991, S. 1-12. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 362 schnell sich vollziehenden Entwicklung zu überprüfen. Am frühesten in Schwierigkeiten gerieten diejenigen, die der Meinung gewesen waren, die deutsche Sprache sei im Grunde so einheitlich wie eh und je, sie sei immer schon (wieder-)vereinigt gewesen, die Differenzierungstendenzen beträfen nur den staats- und parteioffiziellen Wortschatz. Man brauche sich also nur das staatliche System wegzudenken, dann sei das gute alte gemeinsame Umgangsdeutsch wieder da 24 . Es zeigte sich bald, daß das nicht zutraf; so einfach war es nicht. Andere, die in Bezug auf die Einheitlichkeit und einheitsstiftende Kraft der deutschen Sprache größere Bedenken geäußert hatten, konnten sich eher bestätigt fühlen. Was nicht heißt, daß sie sich nicht in anderer Hinsicht korrigieren mußten, wie ich zum Beispiel auch 25 . Noch ein kurzer Blick auf die Literatur und die Thesen, die seit der Wende entwickelt worden sind: <112> Innerhalb von zweieinhalb Jahren gab es nach meiner Kenntnis acht Tagungen auf deutschem Boden - fünf im Westen, drei im Osten - zu Themen der sprachlichen Folgen der Wende in der DDR. Selbst auf der Jahrestagung unseres Instituts in Mannheim im März 92, die eigentlich ein ganz anderes Thema hatte, hielt ein prominenter Politiker, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, Wolfgang Thierse, einen Vortrag über die sprachlichen Folgen der Wende 26 . Bis zum Mai 1992 sind mir fünfzig bis fünfundfünfzig einschlägige Veröffentlichungen bekannt geworden, darunter sind einige Sammelbände; zwei bis drei weitere Tagungsbände stehen noch aus 27 . Kein Zweifel: das 24 Vgl. Wolf Oschlies: Würgende und wirkende Wörter - Deutschsprechen in der DDR . Berlin 1989. 25 Zum Beispiel: Ich habe die Hypothese von der „inneren Zweisprachigkeit“ (Verlautbarungssprache versus Alltagssprache) zu wörtlich genommen und zuwenig den Zwischenbereich beachtet; jenen Bereich von Wörtern und Wendungen, die sowohl offiziell wie auch alltäglich (z.B. beruflich-funktional) verwendet werden konnten. Vor allem dieser Bereich ist es aber, der in der heutigen deutsch-deutschen Kommunikation Schwierigkeiten auf Wortebene bereitet. 26 Wolfgang Thierse: Sprich, damit ich dich sehe. Beobachtungen zum Verhältnis von Sprache und Politik in der DDR -Vergangenheit. Vortrag auf der Jahrestagung des IDS am 25.03.92. In: Deutsch als Verkehrssprache in Europa. Jahrbücher des IDS 1992 (de Gruyter) Berlin 1993, S. 114-126. 27 Inzwischen sind folgende Sammelbände erschienen: 1. Pädagogische Hochschule Zwickau (Hg.): Materialien zur wissenschaftlichen Konferenz ‘Zum Sprachgebrauch unter dem Zeichen von Hammer, Zirkel und Ährenkranz’ - Zwickau im September 1991. Zwickau 1992 (Tagungsband mit 9 Beiträgen). Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 363 Thema boomt (auch so ein Wort, das für die meisten DDR-Bürger vor kurzem noch neu war). Vor allem aus der ehemaligen DDR melden sich nun inzwischen viele zu Wort, die sich bis zur Wende zu dem Thema der deutschdeutschen Sprachentwicklung noch nicht hatten äußern können oder wollen oder dürfen. In der überwiegenden Mehrzahl entstanden diese Arbeiten unter dem Eindruck eigenen unmittelbaren Erlebens des rapiden Verfalls dieses offiziellen Staatsvokabulars und seiner Propagandaphrasen und der sprunghaften, überschäumenden sprachlichen Kreativität des Volkes, das sich seiner selbst bewußt geworden war, zum Beispiel auf den großen Massendemonstrationen, auch sprachlich: „Wir sind das Volk! “ Ein zweiter Ansatz war die für manche schon eher bedrückende Fülle an sprachlichen Übernahmen aus der bis dahin sogenannten BRD, insbesondere nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ab Juli 90. Aber auch im Westen meldeten sich viele zu Wort, denen vorher das Thema offenbar nicht so ganz linguistisch genug war oder vielleicht politisch zu kompromittierend. Materialgestützte Untersuchungen <113> waren eher selten. Hervorzuheben ist hier das Buch von Horst Dieter Schlosser 28 von 1990, das zwar in wesentlichen Teilen vor der Wende geschrieben ist, aber nach der Wende noch überarbeitet werden konnte. Bei anderen Veröffentlichungen zeigt sich leider auch jetzt wieder, wie schon früher, eine eher oberflächliche Kenntnis der Verhältnisse im jeweils anderen deutschen Staat. Hinzuweisen wäre noch auf eine Wort- und Belegsammlung aus dem Zentralinstitut für Sprachwissenschaft in Ostberlin, das inzwischen aufgelöst wurde. Noch während der Wende hatte dort eine kleine Arbeitsgruppe ein Wörterbuch begonnen, das schließlich immerhin 450 Einträge hatte, und zwar Wendewörter mit aktuellen Belegen, die unter 2. K. Welke / W. Sauer / H. Glück (Hg.): Die deutsche Sprache nach der Wende (= Germanistische Linguistik Bd. 110-111). Hildesheim/ Zürich/ New York 1992 (10 Beiträge einer Tagung in Bad Homburg im Nov. 1990). 3. A. Burkhardt / K.P. Fritzsche (Hg.): Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“ (Beiträge einer Tagung in Braunschweig im Dez. 1990). 4. G. Lerchner (Hg.): Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende (= Leipziger Arbeiten zur Kommunikationsgeschichte). Frankfurt a.M./ Berlin u.a. 1992. 5. R. Reiher / R. Läzer (Hg.): Wer spricht das wahre Deutsch? Erkundungen zur Sprache im vereinigten Deutschland. Aufbau Tb. Verlag Berlin 1993. 28 Horst Dieter Schlosser: Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen. Köln 1990. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 364 dem Eindruck der Geschehnisse notiert wurden. Offenbar gelang es in der Kürze der Zeit nicht, für dieses Wörterbuch einen Verlag zu finden, was ich sehr bedaure. Unser eigenes Institut hat im Sommer 1990 ein eigenes Projekt gestartet, das sich „Gesamtdeutsche Korpusinitiative“ 29 nennt. Ziel war, um diesen rapiden Sprachwandel der Wendezeit auch für spätere Forschungen nachvollziehbar und untersuchbar zu machen, ein entsprechendes Korpus aufzunehmen. Es umfaßt in rund 3.400 Texten etwa 3,3 Mio. Textwörter, davon etwa 1,5 Mio. aus (nur schriftlichen) Quellen der DDR und 1,8 Mio. aus Quellen der Bundesrepublik. Das Projekt ist inzwischen abgeschlossen; ab August 1992 steht das Korpus nun auch maschinell zur Verfügung. Noch während der Arbeiten an diesem Wendekorpus begannen die Überlegungen zu seiner Auswertung. Zum einen war klar, daß Wortschatz und Wortgebrauch sowohl qualitativ wie auch quantitativ in besonderer Weise einem intensiven Wandel unterworfen sein würden. Aber mit Wortschatzuntersuchungen allein ließe sich der wendebedingte Sprachwandel sicher nicht beschreiben. Betroffen und damit auch zu untersuchen sind auch Phraseologie und Metaphorik, Stil und Sprecherintentionen, Rückgang oder Neuauftauchen von Textsorten, Veränderungen von Argumentationsmustern im Zusammenhang (zum Beispiel) mit der Pluralisierung politischer Leitwerte, der Wechsel dominanter Themen und ihrer Schlagwörter im öffentlichen Diskurs und vieles andere mehr. Praktisch ergab sich daraus eine Zweiteilung der Auswertungsrichtung. Zum ersten soll also ein korpuserschließendes, dokumentierendes Wörterverzeichnis gemacht werden, das das wendebetroffene Vokabular alphabetisch in seinen unterschiedlichen Typen nachschlagbar macht und knappe Hinweise auf Gebrauchshäufigkeiten gibt. Zum zweiten sollen linguistische Beiträge verfaßt werden, in denen größere wort- und <114> textübergreifende Fragestellungen, zum Beispiel Formen der Neologie, Wortfeldveränderungen oder thematische Textvernetzungen 30 29 Vgl. Dieter Herberg / Gerhard Stickel: Gesamtdeutsche Korpusinitiative - ein Dokumentationsprojekt zur Sprachentwicklung 1989/ 90. In: Deutsche Sprache H. 3, 1992, S. 185-192. 30 Vgl. Claudia Fraas / Kathrin Steyer: Sprache der Wende - Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Deutsche Sprache H. 3, 1992, S. 172-184. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 365 behandelt werden können. Soweit also ein Überblick über den gegenwärtigen Stand unserer Planungen (Sommer 92). 3. Zu den sprachlichen Folgen der Wende in der DDR Horst Dieter Schlosser hat in einem Vortrag kurz nach der Wende in einem Bild zu verdeutlichen versucht, wie sich offizielle Sprache und Wirklichkeit zueinander verhielten: „Die SED fuhr mit ihrer Sprache wie mit ihren gepanzerten Staatslimousinen mit heruntergezogenen Vorhängen durch die Landschaft, auf geschönten Protokollstrecken“ (so hießen die bevorzugten Straßen, die die Staatskonvois zu passieren pflegten, wo die Fassaden bis zum ersten Stock renoviert waren, damit die Staatsmacht, falls sie doch mal aus dem Fenster schaute, wenigstens Erfreuliches sah). Also isoliert und sich selbst isolierend, täuschend und selbst getäuscht mittels „Sprache gegen die Wirklichkeit“ 31 : Oder auch in einem anderen Bild: Die Staatsmacht hielt das gleichgeschaltete Echo der eigenen lauttönenden Phrasen für eine Bestätigung derselben, also für die Wirklichkeit. Rückblickend ist man immer noch fasziniert von der Erfahrung, daß diese perfektionierte, mit ungeheurem Aufwand täglich reproduzierte Scheinwelt des sogenannten „real existierenden Sozialismus“, diese ganze Scheinwelt aus Sprache innerhalb von nur sechs Wochen, höchstens neun Wochen, zusammenbrach, sich auflöste, im Zorn und im Gelächter der Massen einfach unterging. 3.1 Von der Parteisprache zur Wendesprache Als langjähriger abgehärteter Leser der Parteipresse und anderer Quellen aus der DDR, aber ebenso als langjähriger Besucher der DDR, war ich natürlich besonders interessiert daran zu verfolgen, was sich in den Medien der DDR nun ereignete. Ich habe deshalb einmal Ende Oktober 89, dann Mitte Dezember 89 und dann noch im 1. Halbjahr 1990, im Zeitraum März bis Juli, größere Stichproben untersucht. Ende Oktober, zwei Wochen vor der ersten Öffnung der Berliner Mauer, gab es in der Parteipresse schon keine funktionierende Sprachregelung, keine funktionierende Zensur mehr. Die letzte Sitzung der sogenannten Argus (das sind verbindliche Argumentationsanweisungen, die von der zuständigen Abteilung Agitation des Zentralkomitees 31 Unter dem Titel „Worte gegen Wirklichkeit“ hat der Schriftsteller Günter Kunert einen kurzen Essay in GEO SPECIAL „ DDR “ Nr. 1, 1985, S. 84-85, veröffentlicht. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 366 regelmäßig donnerstags im Haus des ZK in Ost- <115> Berlin an alle Medienchefs der DDR ausgegeben wurden) - die letzte Sitzung dieser Argus in der Geschichte der DDR hat am 26. Oktober 1989 stattgefunden 32 . Ohne dies zu wissen, habe ich die Leipziger Volkszeitung (LVZ) vom 27. Oktober 89 33 gründlich untersucht. Die Zeitung zeigt es: Eine funktionierende Zensur gab es nicht mehr 34 . Aber es gab weiterhin Scheu vor dem Risiko, Unsicherheit und natürlich Gewohnheiten: eingeschliffene Schreibhaltungen gegenüber den Lesern, Argumentationsgewohnheiten, Formulierungsgewohnheiten, und die finden sich in dieser Zeitung zuhauf. Auf den Lokalseiten gab es auch schon viel massive Kritik. Und auch dies fiel auf: Viele der gewohnten Propagandaformeln waren schon verschwunden oder wurden schon mit Distanz gebraucht. Im Dezember, bei meiner zweiten Untersuchung, war der Durchbruch weitgehend, im März dann ganz erreicht 35 . Verschwunden schon bis Dezember war jener Gestus rechthaberischer Allmacht und hoheitsvoller Anweisung und diese ebenso unverwechselbare wie ermüdende Mischung aus hochtrabendem Tribünenpathos und bürokratischem Direktivenstil, die beflissene Titelsucht gegenüber den Machthabern und das permanente Selbstlob meist nur vorgetäuschter Erfolge. Keine Arbeiterklasse erscheint in den Zeitungen mehr als Ersatzlegitimation für die usurpierte führende Rolle der Partei: Diese Formel ist ebenso wie die vom Arbeiter- und Bauernstaat nicht nur aus der Verfassung 36 , sondern auch aus den Zeitungen verschwunden. Kein Bündnis ist mehr fest oder unerschütterlich oder unauflöslich. 32 Vgl. dazu Ulrich Bürger: Das sagen wir natürlich so nicht! Donnerstag-Argus bei Herrn Geggel. (Dietz) Berlin 1990. 33 Vgl. Manfred W. Hellmann: Die Leipziger Volkszeitung vom 27. Oktober 89 - eine Zeitung im Umbruch. In: Muttersprache H. 3, 1993, S. 186-218 [= Beitrag Nr. 13 in diesem Band]. Das Tagungsmaterial zu diesem Vortrag ist vorveröffentlicht in dem Anm. 27 unter Nr. 1 zitierten Sammelband der Pädagogischen Hochschule Zwickau (S. 73-86). Eine Kurzfassung dazu von Manfred W. Hellmann: Babylon oder: Die Leipziger Volkszeitung in der Wende. In: SPRACHREPORT des IDS , H. 2-3/ 1992, S. 12-13. 34 Zur damaligen Situation in der Redaktion einer SED -Zeitung vgl. „Gegründet 1894“ - Interview mit dem Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, Dr. Wolfgang Tiedke. In: SPRACHREPORT des IDS, H. 2-3/ 1992, S. 14-16. 35 Zum folgenden vgl. Manfred W. Hellmann: DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme. In: Muttersprache Jg. 100, H. 2-3/ 1990, S. 266-286 [= Beitrag Nr. 12 in diesem Band]. 36 Die Volkskammer strich die „führende Rolle der Partei“ am 1. Dezember 1989 aus der Verfassung. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 367 Keine Reihen gilt es nun mehr zu festigen und zu sichern. Die Einheit und Geschlossenheit der Partei oder aller fortschrittlichen, antiimperialistischen, antikapitalistischen Kräfte oder auch zwischen den sozialistischen Bruderländern oder Bruderparteien ist nun nicht mehr zu verwirklichen. (Verwirklichen ist neben entwickeln und gestalten wohl mit das beliebteste Verb der offiziellen Sprache in der DDR gewesen.) <116> Vielmehr kennt nun auch das „Neue Deutschland“ statt Bruderpartei den westlichen Ausdruck Schwesterpartei. Die konterrevolutionären oder staatsfeindlichen Kräfte, die Unruhestifter und die Rowdies vom Oktober 89 sind längst umbenannt worden zu Demonstranten, demokratischen Bürgerbewegungen oder Reformkräften, Bürgerrechtlern; auch Dissidenten kommt vor im Rückblick auf bestimmte Personengruppen in der Sowjetunion. Ehrentitel und Auszeichnungen wie verdienter Aktivist, Verdienter Arzt des Volkes, bester Dreher (des Betriebs), Meister des Sports, Held der Arbeit, Vaterländischer Verdienstorden, Nationalpreisträger (beide oft abgekürzt als VVO bzw. NPT) - alle diese wird man im Dezember vergeblich suchen. Schon damals wurden die materiellen Äquivalente, also die Orden und Ehrenzeichen aus Metall, am Ostberliner Bahnhof Friedrichstraße von Straßenhändlern zu hunderten verhökert. Mängel wurden schon Ende Oktober meist, im Dezember ohne Umschweife Mängel genannt, nicht mehr wie vorher kaschiert durch die bekannten aktivierenden, schönfärberischen Wendungen 37 vom Typ immer oder noch oder ständig plus Adverb im Komparativ plus dynamisierendes Verb. Also zum Beispiel sich ständig fester um die Partei der Arbeiterklasse scharen, Reserven noch besser erschließen, die wirtschaftliche Rechnungsführung immer umfassender durchsetzen, die allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit in der kommunistischen Erziehung der Jugend noch besser ausprägen (frei nach Margot Honecker auf dem letzten Pädagogenkongreß der DDR 1989) und dergleichen mehr. Jeder halbwegs erfahrene Leser des Neuen Deutschland entschlüsselte solche Wendungen ohnehin automatisch in dem Sinne: Es hat auf dem bezeichneten Gebiet wieder überhaupt nicht geklappt. Wenn im Neuen Deutschland ein Bericht zu lesen war über einen Betrieb, daß dort die Rentabilität noch komplexer gesteigert werden würde oder ähnliches, 37 Zu diesen und anderen typischen Stilmerkmalen der Verlautbarungssprache vgl. u.a.: Manfred W. Hellmann: Zwei Gesellschaften - zwei Sprachkulturen? Acht Thesen zur öffentlichen Sprache in der BRD und der DDR . In: Forum für interdisziplinäre Forschung 2. Jg., H. 2, 1989, S. 27-38 [= Beitrag Nr. 7 in diesem Band]; W. Oschlies 89 (s. Anm. 24); H.D. Schlosser 90 (s. Anm. 28). Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 368 dann gab es Leute, die mit der Absetzung des staatlichen Leiters rechneten. Die langen Ketten von Genitiv-Attributen insbesondere in Titeln sind schon im November auf eine normale Länge geschrumpft. Erich Honecker wurde immer mit seinem vollen Titel benannt: „Wie der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzende des Staatsrats der DDR, Erich Honecker, erklärte, ...“ Oder: „in Anwesenheit des Stellvertreters des Vorsitzenden des Komitees für Alphabetisierung der Republik Guinea“. Egon Krenz, der Nachfolger von Erich Honecker, wurde dagegen nur noch bei seiner Wahl mit vollem Titel benannt und als er sich im Neuen Deutschland für die Glückwünsche bedankte; sonst hieß er nur der Staatsratsvorsitzende oder einfach Egon Krenz oder gar nur Krenz - vor der Wende eine undenkbare Respektlosigkeit. Eine Überschrift wie die folgende findet sich noch am 27. Oktober in der LVZ, aber nicht mehr im Dezember: „Erklärung des Rates der Vorsitzenden der <117> Kollegien der Rechtsanwälte der DDR“ 38 . Statt dessen üben sich nun die Journalisten auch der früheren Parteipresse im Gebrauch des ganzen westlichen Wirtschaftsvokabulars, wenn auch mit skeptischer Distanz. Wir lesen zum Beispiel von der sozial oder ökologisch verantworteten Marktwirtschaft (so hieß es schon im Wahlkampf, vor der Märzwahl der Volkskammer), von Unternehmergewinnen, Kapitalanlagen, Rendite, konkursreif, Joint Ventures, Verkaufstraining, Marketing, - alles das kommt schon in der ersten Jahreshälfte 1990 vor. Die Journalisten fordern schon Lohnerhöhungen (das haben sie vorher nie getan) und mehr betriebliche Mitbestimmung, setzen sich für eine pluralistische Medienlandschaft ein und akzeptieren die Stillegung unrentabler oder umweltgefährdender Betriebe. Vor allem fordern sie in der Zeit der Runden Tische (etwa Dezember bis März 1990) immer wieder die demokratische Mitwirkung der DDR-Bevölkerung am Vereinigungsprozeß und wehren sich gegen eine neue Bevormundung - in der Tat eine für ND- Journalisten neue Haltung. Der Parteijournalist, früher abschwächende, vermittelnde Modalwörter wie wahrscheinlich, ungefähr, annähernd, vielleicht, circa, etwa eher vermeidend und statt dessen allseitig und umfassend, konkret, komplex oder breit die Parteimeinung verkündend, entdeckt bis zum Frühjahr 90 das falls, das wenn und aber, das einerseits und andererseits, das vielleicht, sicherlich und möglicherweise, das ungefähr, das etwa und die Ansicht wieder, sogar die andersartige 39 . Dafür verzichtet man gern auf die festlichen Selbst- 38 In LVZ vom 27.10.89, S. 2 39 Vgl. zum Gebrauch dieser und anderer Modifikatoren Manfred W. Hellmann: Einige Beobachtungen zu Häufigkeit, Stil und journalistischen Einstellungen in west- und ostdeutschen Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 369 verpflichtungen anläßlich irgendwelcher Jahrestage und in Auswertung eines ZK-Beschlusses und zu Ehren irgendwelcher Größen und ihrer Gedenktage: Rituale, über die sich DDR-Kabaretts erfolgreich lustig gemacht hatten 40 . Aber interessant war nicht nur, was alles innerhalb weniger Wochen und Monate verschwand oder nur noch als Bezeichnung für historisch Gewordenes verwendet wurde, sondern ebenso das, was die Wende zunächst überdauerte. Aus dem Untersuchungszeitraum März bis Juni 90 stammt das Vokabular im Anhang 41 . Es ist eine Mischung von teils halboffiziellen, teils eher technischen, teils aber auch <118> ganz umgangssprachlichen Wörtern. Hier kommentiere ich nur einige der auch mündlich geläufigen. abnicken: etwa i.S.v. ‘absegnen’, ‘kopfnickend bestätigen’, ‘ja sagen zu etwas, das woanders schon entschieden wurde’. Kommt also bevorzugt in organisatorisch-funktionalen Zusammenhängen vor. Insofern ähnlich wie andenken (meist als Partizip angedacht): i.S.v. ‘erwägen’, ‘planen’, aber nicht in dem weit verbindlicheren Sinne, den planen in der DDR sonst hatte, sondern eher i.S.v. ‘sich schon einmal Gedanken über etwas machen’. Beide Wörter sind so durchsichtig gebildet und so handlich im Gebrauch, daß man sich wundert, wieso sie nicht schon längst überall geläufig sind. Und tatsächlich befinden sich beide auf „Westwanderung“: „FDP, Vorstand und Fraktion sollten nur noch abnicken, was oben ausgekungelt wurde“, schreibt der „Stern“ (Nr. 20/ 92) über die später geplatzte Berufung der Frau Irmgard Schwaetzer zur Außenministerin, als Nachfolger von Hans Dietrich Genscher. Wenig früher bringt der Kölner Stadtanzeiger einen Kommentar zum Wort andenken 42 : „Das neue andenken ... ist nicht rückwärts ausgerichtet (= wie das Souvenir), sondern schaut mit wilder Zuversicht nach vorn. Ein Wort der Tat wie seine nicht immer salonfähigen Vettern, wie anpacken, anpöbeln ..., nachgeboren dem modischen Bruder andiskutieren ... Heute Zeitungstexten. In: Debus / Hellmann / Schlosser (Hg.): Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR . (= Germanistische Linguistik 82-83), 1985, S. 169-200. 40 So z.B. das Betriebskabarett der Deutschen Post der DDR „Die Klapperschlangen“. Text: Inge Ristock / Hans Rascher: Die Hauptsache ist der Effekt. In: Betrieblichkeiten. Texte für Amateurkabaretts, hg. von Jürgen Hart (= Reihe ‘dialog’), Berlin (Ost) 1980, S. 86-89. 41 Die Liste im Anhang aus: SPIEGEL SPEZIAL „Das Profil der Deutschen“ Nr. 1/ 1991, S. 85; Sie beruht auf dem Glossar des in Anm. 35 zitierten Aufsatzes. 42 Michael Bengel: Neues „Andenken“ - Feile fehlt. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 28./ 29.03.1992. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 370 tönt es schon aus allen Planungsstäben oder Briefingkommissionen: Das denken wir mal an, das haben wir schon angedacht... Am Ende reicht der Anfang immerhin für einen ersten Vorschlag“. Hier wird unterstellt, daß dieses Wort sogar schon häufig sei; das mag übertrieben sein: ich vermute, es hat seine West-Karriere noch vor sich. Datsche kennt inzwischen auch jeder Wessi; oft schreiben sie - russischer noch als viele Ossis - Datscha. Auch hier deutet sich eine Karriere als Modewort in bestimmten Kreisen an: Es wird schicker, eine Datsche zu haben als ein Ferienhaus oder eine Laube im Grünen. Einschätzen, daß ..., wir müssen einschätzen, daß ... hat drüben einen offizielleren Klang als bei uns bisher, es folgt in der Regel eine verbindliche Stellungnahme, keine unverbindliche Meinungsäußerung. Beim Substantiv Einschätzung verschwimmt die spezifische Differenz. Auf längere Sicht vermute ich Ost-West-Ausgleich. Facharbeiter für Schreibtechnik: Als Berufsbezeichnung für Frauen wäre dies bei uns ungewöhnlich. Bei uns legen berufstätige Frauen sehr großen Wert darauf, daß sie auch sprachlich als Frauen erkennbar bleiben. Generell war es in der DDR üblich, maskuline Berufs- und Amtsbezeichnungen auf Männer und Frauen anzuwenden. „Wir Lehrer“, „ich als Wissenschaftler“ sagten in der DDR auch <119> Frauen von sich selbst; Margot Honecker war immer „Minister für Volksbildung“. Darauf, daß die Feminin-Endung -in die (berufliche) Emanzipation fördern könnte, sind Frauen in der DDR kaum gekommen 43 ; ganz alltagssprachlich bewarb sich deshalb eine Stenotypistin als Facharbeiter für Schreibtechnik. Fakt war schon seit langem auch standardsprachlich gebräuchlich, nachweisbar schon seit Ulbrichts Zeiten. Aber schon zweimal seit 1991 hat der Direktor unseres Instituts auf internen Sitzungen gesagt: „Fakt ist doch, daß“, und dann kam etwas, was er für offenkundig hielt. Also auch das scheint allmählich im Westen heimisch zu werden. 43 Vgl. Elke Diehl: „Ich bin Student“. Zur Feminisierung weiblicher Personen- und Berufbezeichnungen in der früheren DDR . In: Deutschland-Archiv Jg. 25, H. 4, 1992, S. 384-392. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 371 in Größenordnungen: („Auch bei uns werden Leute entlassen - in Größenordnungen“) - gemeint ist einfach ‘in erheblichem Umfang’. Meine Freunde in Leipzig gebrauchen diese Wendung umgangssprachlich häufig, ebenso wie auf dieser Strecke: i.S.v. ‘auf diesem Gebiet, in dieser Hinsicht’. Hier habe ich noch keine „West-Wanderung“ beobachtet; vielleicht weil hierzulande statt der Strecke die Schiene vorherrscht, auf der etwas läuft oder auf die etwas gesetzt wird. Orientieren auf hat dagegen, wie mir scheint, eine gewisse Chance auf Dauer und West-Akzeptanz: Die ersten West-Belege wenigstens für Orientierung auf habe ich schon gefunden. Rekonstruktion/ rekonstruieren wurde und wird von Bürgern der ehemaligen DDR (und nicht nur von Leuten, die schlechtem russischen Spracheinfluß unterliegen) in der spezifischen Neubedeutung ‘grunderneuern, modernisieren’ gebraucht. Und in dieser Neubedeutung hat auch die Treuhandanstalt, die bekanntlich von West-Beamten geleitet wird, Rekonstruktion an die Stelle des anrüchig gewordenen Abwicklung setzen wollen. Dieser Versuch, einen spezifisch ostdeutschen Wortgebrauch gesamtdeutsch zu etablieren, wurde allerdings ein Flop, denn zum einen war Rekonstruktion in dieser Bedeutung im Westen noch zu unbekannt, und da, wo es bekannt war, nämlich im Osten, widersprach es den offenkundigen Tatsachen, denn die Treuhandanstalt gab und gibt ihren Betrieben nur sehr selten die Chance zur ‘Grunderneuerung/ Modernisierung’, sie privatisiert oder legt still oder wickelt ab (dazu unten mehr). Ein klarer Fall von Euphemismus also, genauer der Versuch dazu. Aber auch ohne solche halbamtlichen Stützungsversuche hat Rekonstruktion gewisse Chancen, als regionale ostdeutsche Variante noch eine ganze Weile im Gebrauch zu bleiben. <120> Wenn aus dem DDR-Wortschatz bestimmte Wörter überleben werden, dann sind sie vermutlich in dieser Gruppe zu suchen, sei es als regionale Ausdrucksvarianten im Osten, sei es durch allmähliche Verbreitung auch im Westen. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 372 3.2 Zeithistorische Aspekte Verfolgen wir nun die Phasen des sprachlichen Wandels an bestimmten phasentypischen Beispielen 44 . In ähnliche Zeitsegmente ist auch das erwähnte Wendekorpus gegliedert. Wir unterscheiden dabei folgende fünf Phasen: 1) Vorphase: Sommer bis Anfang Oktober 89 2) Heiße Phase: Vom 40. Jahrestag (7. Oktober) bis zur Bildung der Regierung Modrow (Anfang Dezember), unterteilt in a) bis zur Maueröffnung (9. November) b) nach der Maueröffnung 3) Vorbereitung auf die März-Wahlen/ Regierung Modrow (Anfang Dezember 89 bis März 90) 4) März-Wahlen bis Wirtschafts-, Währungs-, Sozialunion (März 90 bis Juli 90, Regierung de Maizière 1) 5) Vorbereitung zum Beitritt (Juli 90 bis Dezember 90, Regierung de Maizière 2) Phase 1): Sie wird bestimmt a) durch die Versuche der SED, weiterhin so zu tun, als müsse und werde sich nichts verändern, und b) durch den immer deutlicher werdenden Widerstands- und Reformwillen der oppositionellen Gruppen und durch den ständig wachsenden Ausreisedruck. Typische Wörter: oppositionelle/ staatsfeindliche Gruppen, Rowdies/ Störenfriede, Antragsteller, Ausreiser, Dableiber/ Hierbleiber, Botschaftsflüchtling, Botschaftsbesetzer, Friedensgebet, Mahnwache, Kerzenträger, Neues Forum, Zugeführte 45 . Phase 2): Zugeführte/ Zuführung spielt auch zu Anfang der Heißen Phase eine wesentliche Rolle, vor allem aber Montagsdemo (in Leipzig), Donnerstags- 44 Der meines Wissens erste Versuch einer Gliederung nach Phasen unter lexikologischem Aspekt stammt von Claudia Fraas: Beobachtungen zu deutschen Lexik vor und nach der Wende. In: Deutschunterricht Jg. 43, H. 12, 1990, S. 595-599. 45 Mit Zuführung wurde in der DDR die polizeiliche Festnahme, Verhör und erkennungsdienstliche Behandlung bezeichnet, in der Zeit vor und während der Wende fast ausnahmslos von Demonstranten und anderen sogenannten „staatsfeindlichen Kräften“. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 373 gespräche (in Berlin), Bürgerforum; von der SED wurde jetzt der breite gesellschaftliche Dialog propagiert, neben der Wende, (die laut Krenz „von der Partei eingeleitet worden ist“); daneben werden (tiefgreifende/ radikale) <121> Veränderung, Umbruch und friedliche/ sanfte Revolution verbreitet gebraucht. Auch Glasnost und Perestroika werden nun öffentlich (vorher bestenfalls Umgestaltung), wie auch kritische Ausdrücke wie Wahlbetrug/ Wahlfälscher, Schönfärberei, Selbstherrlichkeit, Monopolanspruch (der Partei), Zensur oder sogar Stalinismus, ein jahrzehntelang streng verpönter Ausdruck, mit dem sich jetzt Reformkräfte auch innerhalb der SED/ PDS vom Sozialismus alter Prägung abgrenzen; positiv verwenden sie Fahnenwörter wie (wirklich) demokratischer/ moderner/ attraktiver Sozialismus. Die Maueröffnung (9. November) hat einen neuen Schub diesbezüglicher Ausdrücke zur Folge wie Mauerspecht, Trabiklatschen, 46 Trabikarawane, aber auch Bananenrepublik 47 , Konsumrausch, umrubeln; Botschaftsflüchtling und Ungarnflüchtling werden inaktuell, dafür Übersiedler, seit langem schon geläufig, um so aktueller; um Begrüßungsgeld, Eingliederungshilfe und Notaufnahme wird nun (im Westen) gestritten. Phase 3): Die Regierung Modrow strukturiert das verhaßte Ministerium für Staatssicherheit (MfS), umgangssprachlich die Stasi, um zum Amt für Nationale Sicherheit und gründet die Treuhandanstalt; Bürgerbewegungen, Kirchen und andere Reformgruppen setzen sich mit Regierungsvertretern zu Runden Tischen zusammen, die somit zu Mitregierungsgremien werden - ein auch für westdeutsche Beobachter ganz ungewohnt basisdemokratischer Ansatz. Bürgerkomitees kümmern sich u.a. um die Stasiauflösung; es beginnt die Auseinandersetzung mit den Wendehälsen, alten und neuen Seilschaften, Blockflöten (den Angehörigen der von der SED gleichgeschalteten sogenannten Blockparteien Ost-CDU, LDPD, NDPD, DBD), - später zusammenfassend personelle Altlasten genannt. Zahlreiche staatliche Institutionen werden aufgelöst. In Vorbereitung des Wahlkampfes bilden sich neue Namen für Parteien und Gruppierungen. Außer der PDS und der SPD (für kurze Zeit vorher SDP) und 46 Trabiklatschen: Zur Begrüßung vorbeifahrender Trabis mit der flachen Hand aufs Autodach schlagen. 47 Ironisch-kritische Bezeichnung für ein Land (die DDR ), dessen Bewohner vornehmlich hinter den heiß begehrten Bananen aus dem Westen her sind; übertragen für ein Land, das vom Willen anderer Mächte abhängig ist. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 374 allen aus dem Westen bekannten Parteien kandidieren u.a. Bündnis 90, die Grünen/ Alternative Liste, Linke Liste, die DSU, die Allianz für Deutschland und zahlreiche Kleingruppen bis hin zur Deutschen Sex-Liga und zur Biertrinker-Union. In diese Phase der Modrow-Zeit fällt aber auch die Diskussion um das Zehn-Punkte-Programm des Bundeskanzlers, um Konföderation oder Anschluß bzw. (sofortigen) Beitritt, um die BRDigung der DDR. Neu und beängstigend für viele ist das Bekanntwerden mit Interna der Stasi, auch ihrem internen Jargon wie IM (Inoffizieller Mitarbeiter), GMS (Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit), OibE (Offizier im besonderen Einsatz), OV (Operativer Vorgang), KoKo <122> (Kommerzielle Koordinierung), die Leitstelle für das dunkle Wirtschafts- und Handelsimperium des Schalck- Golodkowski). Stasi-Akten werden zu Liebhaberpreisen in Ostberliner Hotels von Aktenhändlern angeboten - bis heute. [= 1993. MWH] Phase 4): Die März-Wahlen bringen dann die Regierung de Maizières mit ihrer Großen Koalition und ein klares Votum für eine schnelle Vereinigung, außenpolitisch abgesichert durch die Zwei-plus-vier-Gespräche. Die Runden Tische verlieren an Bedeutung. Die Vorbereitung und Durchführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion (WWS-Union) bringt neues Vokabular in die öffentliche Diskussion: den Abschied vom ungeliebten Ostgeld (auch: Lappen, Alu-Chips), von den Intershops und der Zweitwährung der Blauen Kacheln (100,- DM-Scheine), die nun bald jeder in Händen hat; statt dessen reüssieren Währungsumstellung und Umstellungsantrag, aber auch Alteigentümer, Privatisierung und Ausverkauf der DDR; der Ausdruck Abwicklung/ abwickeln für die Haupttätigkeit der kurz so genannten Treuhand bekommt schon damals erste negative Konnotationen. Soziale Marktwirtschaft wird zum positiven Fahnenwort, während die sozialistische Planwirtschaft als Kommandowirtschaft abgewertet wird. Der Einigungsvertrag öffnete den Weg zum Beitritt der DDR mit der dann folgenden Neugliederung - die fünf neuen Länder mit ihren gar nicht neuen Namen. Aus der Noch-DDR wird die Ex-DDR, dazwischen das Fest der Einheit. Mit ihm strömt der ganze Wortschatz der Verwaltung, der politischen Institutionen, der Sozial- und Wirtschaftsordnung in die ehemalige DDR oder das Beitrittsgebiet. Manchen war dieser Einheitsgalopp denn doch zu rasch; oft wird auf bestimmte Errungenschaften - ein altes Wort der DDR - hingewiesen, die es zu sichern gelte. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 375 Schon außerhalb des durch das Wendekorpus bestimmten Untersuchungsbereichs liegt das Vokabular des eigentlichen Vereinigungsprozesses. Dem Westen bringt er mit Steuerlüge eine Neuauflage früherer Schimpfwörter; gesamtdeutsche Neologismen wie Hauptstadtdebatte, Fonds Deutsche Einheit, Aufbauwerk Ost, Gauck-Behörde, Warteschleife und Kurzarbeit Null, Hochschulerneuerungsprogramm (HEP) und Evaluierung oder Parolen wie Rückgabe vor Entschädigung markieren immer neue Felder des schwierigen, oft äußerst kontroversen öffentlichen Diskurses zwischen Ost und West, aber auch zwischen Gruppen innerhalb des alten bzw. des neuen Bundesgebietes. Bedingt gerade durch den Vereinigungsprozeß, durch den Zusammenprall kollektiver Alltage und Alltagserfahrungen, steigt der Bedarf an unterscheidenden Zusätzen: Ost-SPD und West-Grüne, Westimport (für Beamte oder Politiker, die in der ehemaligen DDR tätig sind) und Ost-Pendler, Westknow-how und Ost-Löhne usw. Auch deutsch-deutsch bleibt gebräuchlich, wenn auch entschieden seltener, während innerdeutsch, neben gesamtdeutsch ein typisches Wort der Zweistaatlichkeit, nun <123> zunehmend Komplementärwort zu europäisch wird: Es gibt neben Regelungen mit europäischem bzw. EG-Geltungsbereich andere Regelungen mit nur innerdeutschem Geltungsbereich. 3.3 Systematische Aspekte In der Literatur ist noch keine Einigung darüber erzielt worden, wie man eine systematische Gliederung vernünftigerweise anlegen solle, was u.a. an der Unterschiedlichkeit der Blickwinkel liegt. Zunächst ist zu klären, von welchem Standpunkt aus man die Veränderungen betrachten will. Wählt man einen bundesdeutschen Standpunkt, so ändert beispielsweise die Übernahme zahlreicher bundesdeutscher Wörter durch die Kommunikationsgemeinschaft DDR an der deutschen Lexik der Gegenwart nichts; wählt man einen gesamtdeutschen, so ändert auch die eben an Beispielen gezeigte Übernahme von bisher DDR-spezifischen Wörtern und Wendungen im Westen nichts, - außer an ihrer Verbreitung. Nehme ich nur die Wörter selbst, die Ausdrucksseite, in den Blick und verzichte auf die Berücksichtigung eines Aspektes wie „Aktualität der Sache, des Denotats“, sind Wörter wie Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (ABI), Zentrale Plankommission, Plansilvester, gesellschaftliche Bedarfsträger, Vaterländischer Verdienstorden ebenso Wörter der deutschen Sprache wie Hellebarde, Kemenate, Geheimrat und Guillotine: die bezeichneten Sachen sind vielleicht von Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 376 historischem Interesse, also benötigt man auch die Bezeichnungen gelegentlich; und daß eine Anrede wie „Hochverehrter Herr Staatsratsvorsitzender, lieber (werter) Genosse Erich Honecker“ heute nicht mehr gebraucht wird, hat sie im Prinzip mit der Anrede „Euer Durchlaucht“ gemeinsam: Sie alle bleiben Bestandteile eines historischen Wörterbuchs der deutschen Sprache. Sieht man das allerdings unter dem Aspekt des Sprachgebrauchs und seiner Veränderungen in einer bestimmten Kommunikationsgemeinschaft, nämlich der DDR, innerhalb einer bestimmten Zeit, nämlich eben der Wende-Zeit, so stoßen wir dort auf eine Fülle qualitativ unterschiedlicher Arten oder Typen von Veränderungen. Die folgende Übersicht orientiert sich an der vorhandenen Literatur und ist in jeder Hinsicht vorläufig. Verluste und Historisierungen Ganz verschwunden innerhalb weniger Wochen und Monate (oder nur noch in (ironischen) Rückblicken belegt) sind propagandistische Wendungen des alten Systems wie eine (schöpferische) Masseninitiative entfalten, von den Besten lernen, die Reihen schließen, die Einheit und Geschlossenheit der ... festigen und sichern, unser sozialistischer Friedensstaat/ Staat der Arbeiter und Bauern, <124> ökonomische Hauptaufgabe, Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, Sozialismus in den Farben der DDR, unsere Menschen, allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit; nur noch in Randgruppen wird die Anrede werter Genosse, die Schlußformel mit sozialistischem Gruß gar nicht mehr verwendet. Historismen sind heute Bezeichnungen für Einrichtungen der früheren DDR wie Gesellschaftliche Gerichte, EOS (Erweiterte Oberschule), HO (Handelsorganisation), PGH (Produktionsgenossenschaft des Handwerks), Junge Pioniere, Rote Ecke, Kombinat, VEB, Nationale Volksarmee (NVA), Ministerium für Staatssicherheit: Es gibt die Denotate nicht mehr, jedoch spielen einige in der heutigen Diskussion um die Vergangenheit und ihre Folgen immer noch eine große Rolle. Historismen geworden sind aber auch jene Wörter, die Ausdruck der Zweistaatlichkeit waren, wie Interzonenzug, Zonengrenze/ Staatsgrenze West, Ausreiseantrag, Reisekader, Grenztruppen; Valutamark, Gestattungsproduktion, Checkpoint Charly, Grenzkommission und Transitautobahn, ferner Rechtswörter wie staatsfeindliche Hetze, öffentliche Herabwürdigung, Grenzverletzer, humanitäre Maßnahmen (letzteres als Pendant zur Westbezeichnung besondere Bemühungen: beides zusammen Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 377 umschreibt den Freikauf politischer Gefangener aus der DDR.) - Viele davon waren durchaus gemeindeutsch geläufige Wörter. In weniger häufigen Fällen wird (1991/ 92) um die Abschaffung bzw. Beibehaltung der betreffenden Einrichtung noch gestritten, sodaß auch die Bezeichnungen noch aktuell bleiben, z.B. Poliklinik, SERO (Sekundärrohstoff (-Erfassung)), Deutschlandsender (DS), nicht zu vergessen auch der grüne Rechtsabbiegerpfeil. Damit wären wir bei den eher unpolitischen Wörtern angelangt, deren Historisierung dennoch in der Regel mit dem Verzicht auf vielerlei staatliche Reglementierungen zu tun hat, wie nichterfaßtes Zimmer und Hausbuch im Wohnungswesen, Ferienscheck (vom FDGB), Zählkarte (bei der Ein- und Ausreise), abkindern (‘ein Eheschließungsdarlehen durch Geburt von Kindern vermindern’), Intershop, Intertank, Forum-Scheck, Deli(kat)- und Exqui(sit)-Geschäft, die Jahresendprämie, der Konsum und viele andere. Schließlich gehören auch die Namen zahlreicher Produkte zur früheren Alltagswelt der Menschen. Solche Namen, noch vor kurzem in aller Munde, geraten, besonders wenn sie durch West-Produkte verdrängt wurden, schnell in Vergessenheit, darum hier eine kleine Auswahl: Sana (Margarine), Rondo, Mona (Kaffee), Elfe, Schlager Süßtafel (Schokolade), Rotring (Pudding), Bino, Erwa (Speisewürze), Club Cola, Ambassador (Erfrischungsgetränke), Kati (Fertigklöße), Kripa (Papiertaschentücher), Perlodont (Zahnpasta), Florena (Handcreme), Tip-Fix (Insektenspray), Pulay, Quasi (Putzmittel), Robotron PC 1715 (Kleincomputer, gesprochen „Siebzehnfünfzehn“), Esda (Damenstrümpfe), Für Dich (Familien-Illustrierte), Gamat (Gasheizgerät). Das bekannteste aller DDR-Produkte, Lust und Frust seiner Besitzer und Träger <125> dutzender liebevoller oder spöttischer Spitznamen, der Trabi, wird wohl ebenso im Gedächtnis aller Autofahrer bleiben wie der Käfer und die Ente. Noch dauerhafter, aber weitaus weniger beliebt dürfte jenes Großplatten-Wohnungsbausystem sein, das unter der Bezeichnung WBS 70 ganze Stadtregionen der ehemaligen DDR einheitlich prägt. Bezeichnungswandel ist eingetreten aus ganz unterschiedlichen Ursachen - z.B. durch amtliche Umbenennung von Institutionen (Ministerium für Staatssicherheit Amt für nationale Sicherheit; erst umgangssprachlich, dann allgemein auch die Stasi (in der BRD oft der Stasi in Anlehnung an den Staatssicherheitsdienst (SSD) des Nazi-Reiches)), von Amtsbezeich- Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 378 nungen (Vorsitzender des Rates des Kreises Landrat), von Ortschaften (Karl-Marx-Stadt Chemnitz) und Bauwerken (Dimitroff-Brücke in Dresden Augustus-Brücke) und von zahlreichen Betrieben, z.B. Zeiss-Werke Jena Jenoptik; durch Übernahme von westlichen Bezeichnungen (z.B. Getränkestützpunkt Getränkeshop/ -markt; Kaufhalle Supermarkt, Abschnittsbevollmächtigter (ABVer) (der Volkspolizei) Streifenpolizist, Revierpolizist; Aspirant Assistent (an der Uni), Dr. sc. Dr. habil., Schallplattenunterhalter Discjockey, Grilletta Hamburger/ Bulette (wobei Grilletta nie recht im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert war); Broiler ist stark zurückgegangen zugunsten des vorher auch in der DDR geläufigen Brathähnchens. Und sollte das ostdeutsche Popgymnastik dem westdeutschen Aerobic weichen, würde ich das bedauern; ersteres ist einleuchtender und plastischer. Bezeichnungswandel liegt auch vor für die Regierung der DDR: hieß sie bis Egon Krenz generell Ministerrat (der DDR), so wurde unter de Maizière meist der allgemeine Ausdruck Regierung verwendet; für den Regierungschef nicht mehr Vorsitzender des Ministerrates, sondern meist Ministerpräsident oder Regierungschef, gelegentlich auch Premier. Semantische Veränderungen: Fragt man allerdings unter semasiologischem Blickwinkel, wofür der Ausdruck Ministerrat gebraucht werden kann, haben wir es mit einem speziellen Fall semantischer Veränderung zu tun. Ministerrat bezog sich einerseits auf das oberste Exekutivorgan (= die Regierung) der DDR, zweitens auch auf das Kollegium der von den Staaten der Europäischen Gemeinschaft entsandten Minister in Brüssel. Beides war in beiden deutschen Staaten bekannt: das Wort hatte zwei Bedeutungen, es referierte auf zwei verschiedene Denotate. In der DDR wurde natürlich ganz überwiegend die erste Bedeutung aktualisiert, oft ohne attributiven Zusatz; war der EG-Ministerrat gemeint, mußte dies durch Zusätze kenntlich gemacht werden. In der BRD war meist der EG-Ministerrat in Brüssel gemeint, auf entsprechende Zusätze konnte in den West-Medien oft verzichtet werden; notwendig waren Zusätze in der Regel dann, wenn der DDR-Ministerrat gemeint war. Dies hat sich für die Kommunikationsgemeinschaft der ehemaligen DDR geändert: Bedeutung 1 ist historisiert, da das Denotat nicht mehr existiert; Bedeutung 2 ist die vorherrschende geworden; die Notwendigkeit, durch <126> Zusätze erkennbar zu machen, auf welche der beiden Denotate die Bezeichnung referiert, nimmt ab. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 379 Von manchen zu den Formen von Bedeutungswandel gezählt, von anderen als gesonderter Typ betrachtet, gehört Wertungswandel zweifellos zu den häufigeren Erscheinungen. Einem massiven Wertungswandel unterworfen waren zweifellos die Kernwörter der kommunistischen Ideologie wie sozialistisch/ Sozialismus selbst oder das mit ihm ja meist fest verbundene Attribut real existierend: letzteres wurde schon kurz nach der Wende in Kollokation zu Schönfärberei, Bevormundung, Chaos, Stalinismus, Diktatur etc. gebraucht; Planin Planwirtschaft und zahlreichen anderen Komposita wurde zum „Unwort“ und oft durch Kommando (Kommandowirtschaft) ersetzt, dagegen erfahren Wörter wie Marktwirtschaft, Unternehmer, Börse, Aktionär, vorher ideologisch massiv negativ bewertet, eine Neutralisierung, im Falle von soziale Marktwirtschaft sogar eine Höherbewertung bis zum Fahnenwort einer neuen Ideologie, als löse sie allein schon alle Probleme. Aber nicht nur zentrale Wörter der Ideologie wie kommunistisch, sozialistisch, Arbeiterklasse, Genosse, links 48 gerieten in den Abwertungssog, sondern auch solche, die nicht nur, aber auch von der SED als Positiv-Wörter in Anspruch genommen waren, wie fortschrittlich, friedliebend, progressiv, staatsbewußt, schöpferisch. Eine umgekehrte Neubewertung erfuhr auch Deutschland. Kam es in DDR-Texten bis zur Wende selten und vornehmlich in der Wendung vor, es sei „im Feuer des Zweiten Weltkriegs untergegangen“, wurde es seit Dezember 89 zum Schlachtruf der Massen „Deutschland - einig Vaterland! “ - und heute tönt es aus den rechtsradikalen Zusammenrottungen „Deutschland den Deutschen! “. Umbewertungen im öffentlichen Diskurs, verbunden in der Regel mit erheblichen Frequenzänderungen, erfuhren auch Schlagwörter wie Glasnost/ Perestroika, Dialog: Letzteres stand lange Zeit außenpolitisch als Schlagwort für eine Politik der „friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“, wie es hieß, und innenpolitisch für eine Politik des „offenen Gesprächs über gemeinsam interessierende Fragen“, z.B. zwischen Staat und Kirche 49 . In der 48 Links wird allerdings auch in Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit negativ konnotiert, jedoch gibt es wirksame politische und sprachliche Gegenkonzepte. Diese fehlen in den neuen Ländern zur Zeit weitgehend. 49 Insbesondere seit der Vereinbarung zwischen Staat und Evangelischem Kirchenbund in der DDR im März 1978. „Gespräch“ und „Dialog“ wurden von der Kirche in der Folgezeit oft - und nicht selten vergeblich - zu strittigen Fragen angemahnt. Vgl. u.a. Eberhard Kuhrt: Wider die Militarisierung der Gesellschaft: Friedensbewegung und Kirche in der Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 380 kurzen Ära Krenz wurde es in der Wendung den (breiten) <127> gesellschaftlichen Dialog ... führen Teil des letzten „sprachlichen Selbstrettungsversuches der SED“ 50 ; auf der großen Berliner Demo am 4. November erklärten gleich drei der prominenten Redner, man könne es nicht mehr hören, es werde ja nur noch der „Dialog über den Dialog“ geführt; man brauche jetzt vor allem grundlegende Veränderungen. Hierzu entwickelte sich im Verlauf der Wende ein reichhaltiges Wortfeld, vom Umbruch, Umgestaltung, Wende usw. bis hin zu friedliche bzw. sanfte Revolution. Vereinigung dagegen oder gar Wiedervereinigung, in der Ära Krenz und auch noch Modrow in den Äußerungen vieler Gruppen sehr negativ kommentiert, erscheint ab Dezember 89, vor allem aber nach den März-Wahlen 1990 in zunehmend positiver, mindestens aber distanziert neutraler Umgebung. In manchen Fällen ist in unseren Texten lediglich eine starke Frequenzveränderung festzustellen, ohne daß sich an Bedeutung oder Gebrauchsweise etwas geändert zu haben scheint. So ist z.B. privat heute deutlich häufiger geworden als vor der Wende. Der Grund liegt nicht nur darin, daß Privatinitiative jetzt überall als etwas Begrüßenswertes gilt, sondern auch in der früheren Konkurrenz zu individuell. Die frühere offizielle, ideologisch begründete Abneigung gegen alles Private (insbesondere in der Wirtschaft) hatte ein Ausweichen auf das Adjektiv individuell zur Folge: es gab individuelle Viehhaltung/ Gemüseablieferung/ Fleischabkäufe, ja sogar individuelle Kühe/ Schweine etc. (Eine individuelle Initiative war dennoch nie so willkommen wie die Initiative eines Kollektivs.) Diese Wortkonkurrenz ist heute zugunsten von privat (auch in zahlreichen Kompositionen) entschieden. Eine solche Gebrauchsänderung wird, wie man sieht, erst im Zusammenhang beschreibbar. Ähnliches gilt für öffentlich (früher bevorzugt gesellschaftlich) und sozial (früher verteilt auf sozialistisch und gesellschaftlich bzw. vermieden als Kennzeichnung bestimmter Problemfelder, die es nicht geben durfte). DDR . (= Forschungsbericht 35 der Konrad-Adenauer-Stiftung), Melle 1984, besonders S. 50-54. Ferner: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Kirche und Staat in der DDR und in der Bundesrepublik (= die DDR - Realitäten, Argumente), Bonn-Bad Godesberg 1981, bes. S. 28-29. 50 Colin H. Good: Der Kampf geht weiter oder Die sprachlichen Selbstrettungsversuche des SED -Staates. In: Sprache und Literatur 67 („Die deutsche Frage - Sprachwissenschaftliche Skizzen“) 22. Jg., 1991, S. 48-55. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 381 Neologismen: Den bei weitem größten Teil der Neuerungen stellen die Neologismen, genauer: die Neulexeme: Hier muß man mehrere Untergruppen unterscheiden. Neu für Ost und West waren die schnellen, z.T. witzigironischen Neuprägungen der Wende-Zeit wie die schon erwähnten Mauerspecht und Wendehals 51 , Stasiauflöser und Neues Forum, Montagsdemo und umrubeln; manches ist heute schon wieder veraltet. Weit häufiger noch sind Übernahmen aus dem Westen, nicht nur von Bezeichnungen, sondern vor allem komplett - „Sachen“ zusammen mit ihren Bezeichnungen. Praktisch alle Sach- und Lebensbereiche <128> waren und sind von diesen Übernahmevorgängen betroffen, angefangen von den staatlichen Institutionen (fünf neue Länder, Regierungsbezirk, Landrat) und dem Wahlrecht (Listenmandat, Zweitstimme) über öffentliche Einrichtungen (Bund-Länder-Kommission, Körperschaft des öffentlichen Rechts, öffentliche Hände), das Wirtschafts- und Steuerrecht (GmbH & Co KG, Cash flow, Leasingrate, Splittingtabelle, 7-b- Abschreibung, steuerlich absetzbar), Sozial- und Rentenwesen (Sozialhilfeempfänger, Kassenpatient, BfA-Rente, Kindergeld), Schulwesen (Gymnasium, Realschule, Gesamtschule, Gemeinschaftskunde, Schülermitverwaltung) bis hin zu unendlich vielen Alltagsbegriffen, z.B. im Wohnungswesen, die uns gelernten Wessis meist gar nicht als westspezifisch bewußt waren, wie Makler, Kündigungsfrist, Sozialwohnung, Mietkaution, oder warm/ kalt als Kurzform für ‘Miete einschließlich/ ausschließlich Heizungs- (und Neben)kosten’ oder Zimmer statt Raum (4-Raum-Wohnung). Nicht wenige Wörter sind für beide Seiten neu: Fonds Deutsche Einheit, Aufbauwerk, Aufschwung Ost, Vorruhestandsregelung, Treuhandanstalt, Gauck-Behörde, oder die neuen Bedeutungen von Blockflöte, Warteschleife und Abwicklung/ abwickeln. Letzteres hat nicht während oder infolge der Wende, sondern erst im Zuge der Tätigkeit der Treuhandanstalt etwa 1991 eine erschreckende Abwertung erfahren. Abwickeln hat neben der allgemeinen Bedeutung ‘einen Vorgang ordnungsgemäß zu Ende bringen’ eine fachliche Bedeutung im Handelsrecht: ‘einen Betrieb, eine Firma ordnungsgemäß auflösen’ durch Abschluß seiner/ ihrer Tätigkeit, Flüssigmachen von Betriebsvermögen und Ansprüchen an Dritte, Begleichung von Verbindlichkeiten usw. Ein solcher Betrieb führt während der Abwicklung handelsrechtlich den Zusatz „i.A.“ (in Abwicklung). 51 Wendehals wird im Grimmschen Wörterbuch allerdings schon seit dem Jahre 1605 nachgewiesen. Vgl. Klaus-Dieter Ludwig: Zur Sprache der Wende. In: Germanistische Linguistik Bd. 110-111, 1992, S. 59-70, hier S. 62. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 382 In der Tat gehörte es zu den Aufgaben der Treuhand, staatliche Betriebe abzuwickeln, nämlich sie zu verkaufen (privatisieren) und sie dazu ggf. in kleinere Einheiten umzustrukturieren, oder sie stillzulegen bzw. aufzulösen. Und für viele Institutionen, die nach der Vereinigung unter die Aufsicht der Länder oder Gemeinden kamen, galt das gleiche. Von den Betroffenen wurde aber diese Art von Abwicklung empfunden und verstanden als Plattmachen (so ein umgangssprachlicher Ausdruck dafür), als Vernichtung von Arbeitsmöglichkeiten und Infrastruktur (Betriebsküchen, Betriebskindergärten, -ambulatorien, -sportgemeinschaften, -verkaufsstellen, -kulturgruppen usw.), mit der Folge von Verlusten an Lebensqualität und Sozialkontakten, von Arbeitslosigkeit (Freistellung/ Freisetzung von Arbeitskräften) und ihren Kaschierungen und Verschleierungen wie Vorruhestand, Warteschleife, (Null-) Kurzarbeit, ABM-Maßnahme, Beschäftigungsgesellschaft - alles Wörter, die die Ost-Bürger erst lernen mußten. Es konnte nicht ausbleiben, daß Abwicklung/ abwickeln bei manchen den Nebensinn ‘menschenzerstörend’ bekam - bis zu jener zynischen Inschrift, die ich kurz nach der Ermordung des Treuhand-Chefs Carsten Detlev Rohwedder an einem Kiosk im Ostberliner Bahnhof Friedrichstraße las und fotografierte: „Treuhandchef abgewickelt“. Hier ist der erschreckende Endpunkt einer Entwicklung markiert, wie sie vorher ganz analog schon das Wort liquidieren durchgemacht hatte: vom Fachwort des Handelsrechts <129> (‘Werte und Forderungen flüssig machen, in Geld umwandeln’) zum kaum noch verhüllenden Schreckenswort totalitärer Menschenvernichtung. Bisher handelt es sich um einen Einzelbeleg... Zwei weitere Gruppen von Neologismen sind schon keine ganz „echten“ mehr: Der vorher nur intern gebrauchte Wortschatz der Staatssicherheit wurde plötzlich öffentlich und mußte neu gelernt werden (Beispiele siehe oben); auch das Vokabular der Ökologie, des Umweltschutzes, früher als staatliche Geheimsache behandelt, wurde während und nach der Wende von den Ökologie- und Umweltgruppen öffentlich gemacht; Beispiele: Waldsterben, saurer Regen, Bodenverseuchung, Ölverschmutzung, Salzfracht, Giftmülldeponien usw. Ähnliches gilt für andere vorher unerwünschte Themen wie Städteverfall, Ausplünderung von Museen und privaten Kunst- oder Antiquitätensammlungen (Stichwort: KoKo), Privilegien der Führung, Kriegsvorbereitung der NVA und immer wieder Verwicklungen mit der Stasi. Wir können solche Vorgänge Quasi-Neologie durch Ent-Internisierung nennen. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 383 Ebenfalls nur Quasi-Neologismen sind Wiederbelebungen, also Wörter, die früher schon einmal aktuell waren, aber vielen heutigen Sprechern doch neu sind. Die meisten stammen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch damals gab es Persilscheine zum „Reinwaschen“ von Mitschuldigen, es gab Belastete und Unbelastete, Mitläufer und Aktivisten, es gab die Entflechtung von Großkonzernen der Rüstungsindustrie (heute von Kombinaten) und Rückgabebzw. Restitutionsansprüche - damals von Juden und anderen von den Nazis Verfolgten, heute von Übersiedlern und anderen Alteigentümern. Und wieder wird von einem gesetzlich geregelten Lastenausgleich gesprochen. 4. Kommunikative Belastungen 4.1 Quantitative Aspekte Fragen wir, wie groß die Zahl der von Veränderung betroffenen Wörter insgesamt ist, so erhalten wir allenfalls vage Schätzungen. Am ehesten läßt sich die Gruppe der „Verluste“ bzw. Historisierungen quantifizieren. Die vorliegenden Taschenwörterbücher von Kinne / Strube-Edelmann (s. Anm. 3) und von Ahrends (s. Anm. 4) enthalten jeweils 800-900 DDR-spezifische Stichwörter und nennen sich selbst „nicht vollständig“. Von anderen wird das DDR-spezifische Vokabular <130> auf 2-3000 lexikalische Einheiten geschätzt. 52 Geht man davon aus, daß 90% dieses Vokabulars historisiert sind oder bald sein werden, ergeben sich schon einige Anhaltspunkte. Das BRDspezifische Vokabular umfaßt mindestens die gleiche Menge, nach Meinung Schlossers und einiger anderer aber eine deutlich größere Anzahl: davon seien etwa 3000 lexikalische Einheiten oder spezifische Bedeutungen nach der Wende in den Sprachgebrauch der Ostdeutschen übernommen worden - mehr oder weniger zwangsläufig. Einen weiteren Hinweis gibt eine Frankfurter Untersuchung des neuen gesamtdeutschen DUDEN im Vergleich mit 52 Diese Schätzung kann sich auf das sechsbändige Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Berlin Ost. 1964 bis 1976) berufen, in dem - bei sehr vorsichtiger Arbeitsweise - 1.330 der 85.000 Stichwörter als ost- und 1.271 als westspezifisch markiert sind (vgl. A. Lange / H. Pfafferoth / G.D. Schmidt: DDR - und BRD -Spezifika in Sekundärliteratur und Wörterbüchern. In: M.W. Hellmann (Hg.): Ost-West-Wortschatzvergleiche (= Forschungsberichte des IDS Bd. 48), Düsseldorf 1984, S. 124-168, hier S. 134-142. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 384 den früheren ost- und westdeutschen. 53 Danach soll der neue DUDEN etwa 3000 Wörter enthalten, die vorher nur im Ost-DUDEN zu finden waren, aber 15.000 Wörter, die vorher nur im West-DUDEN standen. Natürlich beruht der größte Teil dieser Unterschiede nicht auf lexikalischer Ost-West-Spezifik, sondern auf unterschiedlichen Buchungsgepflogenheiten der Redaktion, außerdem mögen viele dieser Wörter kommunikativ ohne Belang sein. Das Verhältnis zwischen beiden Mengen, nämlich 1: 5, kann trotzdem vielleicht einen Hinweis darauf geben, wie viel mehr die Ostdeutschen an altem Vokabular abzulegen und an neuem Vokabular oder Vokabular in neuer Verwendung zu lernen hatten als die Westdeutschen. Man unterschätze nicht die kommunikative Leistung, die hinter solchen Mengen, solchen kollektiven Lernprozessen steht. Gewiß - die ehemaligen DDR-Bürger waren möglicherweise besser auf solche Umstellungen vorbereitet als wir Westdeutschen. Sie bewegten sich schon früher, so wurde jedenfalls immer gesagt, in einer Art „Zweisprachigkeit“ zwischen öffentlichem und privatem Deutsch 54 - Sprachregistern, die wesentlich weiter voneinander entfernt waren als bei uns. Sie beherrschten auch den „Transfer“, das Übertragen ihrer ostdeutschen Ausdrucksweise in westdeutsche, z.B. wenn wir „Wessis“ zu Besuch kamen, weit besser als wir Wessis den umgekehrten Transfer. Vielleicht ist dieses Training eine <131> Ursache für die erstaunliche Geduld, die sprachliche Lernbereitschaft und Anpassungsfähigkeit der ehemaligen DDR-Bürger. Festzuhalten ist jedenfalls, die Leistung und die Last der sprachlichen Vereinigung liegt, wie auch die der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Vereinigung, wieder einmal ganz überwiegend bei den ostdeutschen Bürgern. 53 Zitiert nach Horst Dieter Schlosser: Deutsche Sprache - mißbrauchte Sprache. (Unveröff. Manuskript eines Vortrags in Heidelberg 23./ 24.4.92), Frankfurt 1992. 54 Schon früh beschrieben von Eva Windmüller / Thomas Höpker: Leben in der DDR . Ein Stern-Buch (1977), 2. Auflage (Goldmann-Taschenbuch Nr. 11 502), Hamburg 1980: bes. das Kapitel „Die Kunst der doppelten Zunge“. Dazu vgl. Manfred W. Hellmann: Sprache zwischen Ost und West - Überlegungen zur Wortschatzdifferenzierung zwischen BRD und DDR und ihren Folgen. In: Kühlwein / Radden (Hg.): Sprache und Kultur. Studien zur Diglossie, Gastarbeiterproblematik und kulturellen Integration. Tübingen 1978, S. 15-54, hier S. 27f. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 385 4.2 Qualitative Aspekte Aber es liegt nun nicht nur an den erheblichen Quantitäten der neu zu erlernenden Wörter, Wendungen samt der damit bezeichneten Sachen, Verfahren und Regelungen. Es geht auch um die Qualität der Veränderung und um ihre Folgen. Die Übernahme fast des gesamten politisch-institutionellen Systems, des Wahlsystems, des Wirtschafts-, Sozial- und Rechtssystems, des Gesundheits-, Bildungs- und Wissenschaftswesens usw. und - nicht zu vergessen! - die fortgeschrittene Europäisierung der Bundesrepublik - all dies erzwang Umstellungs- und Anpassungsprozesse in jeglicher Hinsicht, auch in kommunikativer, sprachlicher, mentaler Hinsicht, von deren Umfang und Tiefe sich auch die betroffenen Ostbürger selbst wohl keine Vorstellungen gemacht hatten, erst recht nicht die ja kaum betroffenen Wessis; deren routinierter Umgang mit den ihnen ja längst selbstverständlichen West-Gepflogenheiten brachte ihnen, zusammen mit ihrer oft ebenso überheblichen wie ahnungslosen Neigung, den „Ossis“ zu „zeigen wo's langgeht“, den Schimpfnamen „BesserWessi“ 55 ein - in dieser Verallgemeinerung natürlich ebenso ungerecht, wenn man z.B. an die sogenannten „Wossis“ denkt, an die West-Bürger, die sich, gelegentlich bis an den Rand der Erschöpfung 56 , in den Dienst des Aufbaus in den fünf neuen Ländern gestellt und die Probleme dort zu ihren eigenen gemacht haben. Die Folgen dieser massiven Einbrüche in den gewohnten gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Verhaltungsregeln und Maßstäben sind, wie inzwischen hundertfach diskutiert wurde, Unsicherheit im kommunikativen Verhalten, Angst etwas falsch zu machen, Gefühle der Ziel- und Perspektivlosigkeit und, nach dem Verlust vieler sozialer Sicherungen und Kontaktebenen, des Alleingelassenseins. Angst, Unterlegenheitsgefühl und das Gefühl, schuldlos für irgend etwas „bestraft“ oder haftbar gemacht zu werden, gehen mit latenter Aggressivität und dem geringen Training, mit Konflikten umzugehen, eine explosive, gefährliche Mischung ein. Eine Entwicklung, die von bestimmten Medien noch geschürt wird. 57 <132> 55 Dazu die Sammlung meist bösartiger Anti-Wessi-Witze in „Der BesserWessi“ von Ingolf Serwuschok und Christine Dölle (Forum Verlag) Leipzig 2. Aufl. 1991. 56 Carol Hammett: Hilfeschrei eines Wossis. In: Berliner Zeitung Nr. 179 vom 3. August 1992, S. 5. 57 So vor allem von dem inzwischen eingestellten Boulevardblatt „Super! “, von BILD -Ost, gelegentlich auch vom SPIEGEL , um nur diese drei zu nennen. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 386 Im folgenden Beispiel aus der „Zeit“ 58 geht es um Angst vor (vermeintlich) falschem Wortgebrauch: Ein ostberliner Kunststoffingenieur namens Kramer ist von Arbeitslosigkeit bedroht. Plaste statt Kunststoff gesagt ... Kramer machte immerhin schon einen zaghaften Versuch, sich auf die neue Lage einzustellen, und sprach bei einer Westberliner Firma vor. Aber dort wurde ihm erklärt, daß zu jeder Bewerbung ein Bewerbungsschreiben gehöre. Kramer hatte sich bis dahin noch nie irgendwo bewerben müssen. Nun glaubte er, es sei unangenehm aufgefallen, daß er bei der Westberliner Firma immer „Plaste“ statt „Kunststoff“ gesagt habe. Mit Bangen wartet Kramer auf die erste Überweisung vom Arbeitsamt und wagt gar nicht zu denken, was passiert, wenn er nur die Mindest-Unterstützung von 495 Mark bekommt. Während der zitierte Kramer also falschen Wortgebrauch als Ursache möglichen Mißerfolgs annimmt, attestiert ihm der Schreiber Unkenntnis von Verhaltensnormen (fehlendes Bewerbungsschreiben). Ein zweites Beispiel (aus eigener Erfahrung): Ein Maklerehepaar berichtet von einem Besuch eines soeben aus der DDR übergesiedelten jungen Ehepaars. Relativ schüchtern, „fast als Bittsteller“, nehmen sie die Angebote des Maklers zur Kenntnis, erschrecken über die Mietpreise. Dann bietet ihnen der Makler eine deutlich preisgünstigere Altbauwohnung an, „ziemlich interessantes Angebot“, wie der Makler betont. Darauf pikierte, schließlich verärgerte Abwehr: Keine Altbauwohnung, nicht mit ihnen, das ließen sie „nicht mehr mit sich machen! “ Das Maklerehepaar ist ratlos, schließlich verärgert: es hält dies Ehepaar für „anspruchsvoll“, „unbegreiflich“, „undankbar“, „es sind halt doch andere Menschen“. Beide Partner unterstellen sich gegenseitig Fehlverhalten: das Ostehepaar unterstellt, man wolle wieder einmal ihnen, den Ossis, die schlechtesten aller Wohnungen, eben Altbau (wie man ihn in der DDR kennt), zumuten; der Makler hält die überzogene Abwehr für einen Verhaltens- oder gar kollektiven Charakterfehler. Dabei sind beide primär Opfer eines Wortmißverständnisses: Altbau ohne Zusatz bezeichnet in der DDR eine nicht renovierte, daher oft teilweise verrottete Wohnung ohne Komfort, 58 Dirk Kurbjuweit: Wenn Brücken brechen ... Die erlernte Hilflosigkeit vieler DDR -Bürger erschwert den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. In: Die ZEIT Nr. 32. vom 3.8.90, S. 15. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 387 z.B. mit Außentoilette und meist ohne Bad. Was der Makler anzubieten hatte, war natürlich eine modernisierte - im Sprachgebrauch der DDR eine rekonstruierte Altbauwohnung, kurz eine Reko-Wohnung, vielleicht sogar mit Vollkomfort (Vkmft). <133> In meinem nächsten Beispiel geht es um eine besonders fragwürdige Art sprachlicher Anpassung. Die Geschäftsführung eines Dresdner Großbetriebes schreibt im Januar 1991 in einem Rundbrief 59 an alle Zentralstellen und Abteilungen des Betriebs, in dem sie diese „aus gegebenem Anlaß“ auffordert, folgende Formulierungen nicht mehr zu verwenden: „Kader, Brigade, Kollektiv, Ökonomie, Werktätiger, Territorium und andere ähnliche spezifische Begriffe, die aus der Vergangenheit stammen“. Begründung: „Diese Begriffe sind für ein westliches Ohr stark vorbelastet und führen zu negativen Assoziationen. Wir machen uns im Umgang mit den westlichen Firmen das Leben unnötig schwer.“ Was hier mit „negativen Assoziationen“ gemeint ist, liegt auf der Hand: Die oben genannten Begriffe gehören, so klingt es jedenfalls in „westlichen Ohren“, der SED-Sprache an. Wer Wörter aus der SED-Sprache benutzt, steht ihr geistig nahe und ist vielleicht noch ihr Anhänger - und mit solchen Leuten will man doch besser keine Geschäfte abschließen. So etwa könnte man den Gedankengang rekonstruieren, der Anlaß zu diesem Brief war. Folgerung: Wenn wir diese Wörter vermeiden, vermeiden wir negative Reaktionen, wir machen uns „das Leben“ - den geschäftlichen Erfolg - weniger schwer. Das scheint soweit plausibel - und weist doch mindestens zwei schwerwiegende Denkfehler auf. Zum einen wird verkannt, daß Wörter wie die genannten nicht so ohne weiteres nur einem sprachlichen Gebrauchsbereich oder „Register“ zuzuordnen sind. Gerade die genannten Wörter und einige weitere wurden zwar durchaus in parteinahen, systemnahen Zusammenhängen gebraucht, aber ebenso auch in systemfernen, höchst alltäglichen, z.B. in praktisch-beruflichen Zusammenhängen. Dafür gibt es beliebig viele Belege. Manche dieser Wörter wur- 59 Der Brief liegt mir als Kopie vor. Ich habe ihn zum erstenmal zitiert und kommentiert in meinem Leipziger Vortrag (Nov. 91): „Negative Assoziationen“ - Entwicklungen und Belastungen in der deutsch-deutschen Kommunikation. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 388 den sogar „gegen den Strich“ gebraucht: Ein Wissenschaftler, von dem ich schon vor der Wende wußte, daß er nie der Partei angehört und ihr mit Distanz begegnete, erklärte mir auf meine Frage, ob die Partei auf seine Arbeitsgruppe irgendwelchen Einfluß genommen hätte: „In unserem Kollektiv zum Glück nicht.“ Kollektiv erscheint (nicht nur) hier als Bezeichnung für eine Gruppenstruktur, die den Einzelnen gegen unerwünschte Einflußnahmen von außen abschirmt, ihm ggf. auch Lebenshilfe und „Nestwärme“ bietet, - unabhängig davon, daß Kollektiv auch einen hohen ideologischen Stellenwert hatte. <134> Der zweite Irrtum: Vom Sprachgebrauch wird direkt auf die politische Einstellung geschlossen. Dieses Mißverständnis - Sprachgebrauch als Symptom für Einstellungen (als könne man sich mit Sprache nicht auch vorzüglich tarnen) - ist leider sehr verbreitet. In der Bundesrepublik wurde mancher als DDR-Sympathisant oder „Systemveränderer“ verdächtigt, der die Abkürzung BRD verwendete 60 . Was den Gebrauch von Kader betrifft, hat sich sogar der damalige Staatsminister (später Innenminister) des Landes Sachsen, Arnold Vaatz, täuschen lassen. Nach seiner Meinung, so sagte er dem „SPIEGEL“ 61 , dürfe man niemanden einstellen, der z.B. sagt: „Wir haben noch drei oder vier Kader, die können wir für diese Aufgabe einsetzen.“ 62 Ein Mann wie der (damalige) sächsische Innenminister Krause z.B., so meinte er weiter, hätte so etwas nie gesagt, deshalb sei jener sicherlich kein „Apparatschik“. Also: Wer Kader (in DDR-spezifischer Weise) gebraucht, ist ein „Apparatschik“; wer es nicht tut, ist ein Demokrat. Ein solch rabiater Sprachpurismus, den man unter den Angehörigen der Bürgerbewegungen übrigens öfter antrifft, erscheint mir fast schon als Umkehr vergleichbarer Intoleranz des alten SED- Systems. Tatsächlich erwies sich dieser sprachliche Sauberkeitstest als höchst irreführend. Denn besagter Innenminister Krause mußte wenig später wegen des dringenden Verdachts, Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen zu sein, zurücktreten. Hatte er sich sprachlich nur gut getarnt? - Sprachlich ist die Lage eindeutig: Die in dem Dresdner Brief inkriminierten Wörter 60 Vgl. meinen in Anm. 37 zitierten Aufsatz, hier S. 36f. und die dortigen Anmerkungen Nr. 35 bis 38. 61 „Wie ein Nagel im Kuhmagen“. SPIEGEL -Interview mit dem sächsischen Staatsminister Arnold Vaatz. In SPIEGEL Nr. 36, 1991, S. 30. 62 Kader hier in der DDR -spezifischen Verwendung, etwa im Sinn von „qualifizierter Mitarbeiter“. Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 389 einschließlich Kader konnten in der DDR sowohl ideologie- und systemnah wie auch systemfern-alltagsnah gebraucht werden, sie taugen nicht als Indikatoren, außer für diese allgemeinste Eigenschaft: DDR-Spezifik. Aber über diesen Irrtum hinaus wird hier eine Haltung erkennbar, die ich bedenklich finde: Eine hier ins Sprachliche gewendete Anpassungsbereitschaft aus Rücksicht auf negative Reaktionen westlicher Gesprächspartner. Oder auf den Betrieb bezogen: eine neue Form von Zensur und Selbstzensur. Natürlich liegt der Fehler auch auf der westlichen Seite: Wieso bewerten Wessis den Sprachgebrauch von Partnern negativ, deren Kommunikationsgemeinschaft sie nicht angehört haben und deren Gebrauchsregeln sie nicht kennen? Es werden Interpretationsmuster auf beiden Seiten erkennbar, die wirkliche Verständigung gefährlich erschweren: Auf der einen Seite das Bedürfnis, sich nicht durch „falschen“ Sprachgebrauch selbst zu denunzieren und sich „das Leben schwer zu machen“, ein Gefühl, das nur allzuleicht umschlägt in ausgesprochenen und unausgesprochenen Protest gegen die „Anmaßung“ dieser „Besser-Wessis“; auf der anderen Seite der Verdacht, es <135> mit „alten Seilschaften“ zu tun zu haben, oder die Erfahrung, mit der Welt dieser „Ossis“ und ihrem Verhalten nicht klar zu kommen, insbesondere nicht mit ihrem Verhalten in Konfliktsituationen: Unerfahrenen „Wessis“ erscheinen ihre ostdeutschen Gesprächspartner in solchen Situationen merkwürdig „verstockt“, sie scheinen „beleidigt“ oder verweigern sich der weiteren Auseinandersetzung durch Schweigen, während Wessis dann dazu neigen, ihren argumentativen Aufwand zu steigern - mit noch mehr negativem Erfolg. Vor dem Hintergrund verbreiteter Unkenntnis und Voreingenommenheit einerseits, Unsicherheit und Anpassungswille andererseits, geprägt vielleicht durch negative kommunikative Erfahrungen, ist der Dresdner Brief - und viele ähnliche Briefe und Anweisungen - vielleicht verständlich; er bleibt dennoch ein Beispiel vorauseilender Sprachreglementierung - ein eigentlich für beide Seiten beschämender Vorgang. 5. Einige praktische Erfahrungen Welche praktischen Folgerungen lassen sich nun aus dieser - zweifellos höchst widersprüchlichen - Analyse ziehen? Verschiedene Ansätze zur Entschärfung der Kommunikationsprobleme sind denkbar: Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 390 1. Der eine Ansatz wäre der einer forcierten Anpassung, und zwar nach Lage der Dinge vor allem des ostdeutschen an den westdeutschen Sprachgebrauch, (wobei mit einer gewissen modisch-nostalgischen Renaissance des alten DDR-Sprachgebrauchs in bestimmten Kreisen zu rechnen ist.) Diesem Ansatz folgt u.a. der Dresdner Brief. 2. Der zweite Ansatz ist der der Aufklärung, des Bewußtmachens von Unterschieden, Besonderheiten, Vorurteilen und internalisierten Lebenserfahrungen. Diesem Ansatz sollten sich Journalisten, Lehrer, Politiker, aber natürlich auch Wissenschaftler verpflichtet fühlen; Verharmlosung wie auch undifferenzierte Alarmrufe sind hier gleichermaßen von Übel; statt Schuldzuweisungen sind Analysen und Verstehenwollen gefragt. 3. Der dritte Ansatz wäre der einer Einstellungsveränderung gegenüber der Vereinigung mit den Ostdeutschen insgesamt, also ein gesamtgesellschaftlicher Perspektivwechsel, markiert etwa durch die Frage: Wie einheitlich bzw. gleich müssen wir eigentlich sein, um miteinander leben zu können? Nicht also die Anpassung, die Einheitlichkeit oder gar „Gleichschaltung“ als Ziel, sondern die Fähigkeit, Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Nicht System und Sprachgebrauch der BRD als Norm, sondern „plurizentrische“ Anerkenntnis des Andersseins (und Andersredens) als ebenfalls möglich, ebenfalls standardgemäß. Es darf in Erinnerung gerufen werden, daß es die DDR-Bürger selbst waren, die <136> ihr altes System beseitigt und ihre friedliche Revolution durchgesetzt haben - nicht die Westdeutschen. Für westdeutschen Hochmut sehe ich daher keinen Anlaß. Niemand kann erwarten, daß 40jährige Gepflogenheiten, Lebenserfahrungen, Verhaltensweisen und Ausdrucksweisen in kurzer Zeit über Bord geworfen werden. Warum auch? ! Deutschland war noch nie ein einheitliches Land - schon gar nicht sprachlich. Erst wenn wir das Andersreden, Anderssein und Andershandeln akzeptieren können, sind wir fähig zu einer offenen, positiven Prüfung der Frage, was aus der DDR - auch aus ihren Sprachgewohnheiten - für uns alle vielleicht übernehmbar wäre. Widersprechen wir daher gleich dem ebenso arroganten wie sachlich falschen Satz: Die DDR sei praktisch „mit leeren Händen“ in die Ver- Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt 391 einigung gegangen; übernehmen könne man nur zwei Dinge: Berlin als Hauptstadt und den grünen Rechtsabbiegerpfeil 63 . Es darf wohl schon ein bißchen mehr sein 64 . Anhang Aus: SPIEGEL SPEZIAL „Das Profil der Deutschen“ Nr. 1 1991, S. 85 (gekürzt) Nestwärme im Kollektiv DDR-Wörter, die Wende und Vereinigung überlebten Abkäufe: Statt ‘Käufe’. „Es besteht kein Grund zu übergroßen Abkäufen subventionierter Waren.“ „Panikartige Massenabkäufe.“ abnicken: Im Sinne von ‘absegnen’, ‘von oben bestätigen’. „Unser Konzept zur Sanierung des Kombinats war beraten und abgenickt worden und wurde dann doch nicht realisiert.“<137> andenken: Im Sinne von ‘planen, erwägen’. „... eine gesamteuropäische Sicherheitskonzeption, wie sie von der KSZE angedacht und geplant ist.“ (de Maizière) Datsche: Generell gebräuchliches russisches Fremdwort für jede Form von Freizeitheim im Grünen, vom komfortablen Landhaus bis zur Schrebergartenlaube. Facharbeiter für Schreibtechnik (auch in dieser grammatisch-maskulinen Form): Eine Stenotypistin/ Phonotypistin. Neben der Wendung Facharbeiter für ... gibt es auch die einfache Komposition wie Backwarenfacharbeiter, Werksteinfacharbeiter. 63 So der Berliner Politikwissenschaftler Prof. Eberhard Jäckel am Schluß seines Vortrags auf dem Belgischen Germanisten- und Deutschlehrerkongress in Louvain-la-Neuve (Mai 1992). 64 Ich habe diese Behauptung auf mehreren Veranstaltungen zur Diskussion gestellt. Die Diskussionsteilnehmer kamen leicht auf 14-15 Regelungen bzw. Einrichtungen der ehem. DDR , deren Übernahme wahrscheinlich für alle von Nutzen gewesen wäre, zumal auch westdeutsche Fachleute dies anmahnten. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 392 Feierabendheim (vor der Wende auch Veteranenheim): Statt und neben Altenheim; das bundesdeutsche Seniorenheim ist noch seltener. in Größenordnungen: Im Sinne von ‘in ganz erheblichem Umfang’: „Auch bei uns werden Leute entlassen, in Größenordnungen.“ Kollektiv: Obwohl ursprünglich sicherlich vom Sprachgebrauch der SED geprägt, heute im Sinne von ‘Gemeinschaft der jeweils zusammenarbeitenden Werktätigen/ Arbeitnehmer’ verwendet. In einigen Beispielen sind Elemente wie ‘Verbundenheit, Gemeinschaftsgefühl, Nestwärme’ zu spüren. Lehrling: In der ehemaligen DDR erhalten geblieben; es scheint naheliegend zu sein, den bundesdeutschen Auszubildenden (Azubi) zugunsten des Lehrlings wieder aufzugeben. Objekt: Wird vor allem für Gebäude der verschiedensten Art verwendet, insbesondere aber für Gaststätten und für Läden des Einzelhandels (Einzelhandelsobjekt). In den Zeitungen wird gelegentlich ein Objektehepaar gesucht - ein Ehepaar, das zusammen eine Gaststätte leitet. Organ: Darunter werden (besonders im Plural) sämtliche Ämter, Behörden und Dienststellen verstanden, insofern sie staatliche, hoheitliche Aufgaben erfüllen. Meist in Fügungen wie Staatsorgane, Rechtsorgane, örtliche Organe, wirtschaftsleitende Organe. Popgymnastik: für westdeutsch Aerobic <138> Rekonstruktion, rekonstruieren: Wird allgemein im Sinne von ‘Sanierung, Modernisierung, Grunderneuerung’ verwendet, nicht nur für Betriebe und betriebliche Anlagen, sondern insbesondere auch für Gebäude. Eine Reko- Wohnung, die man in Wohnungstausch-Anzeigen auch heute noch findet, ist eine rekonstruierte (also modernisierte) Altbauwohnung. auf dieser Strecke: Im Sinne von ‘auf diesem Gebiet, in dieser Hinsicht’: „Die deutsche Sex-Liga hält sich nicht zurück, auf keiner Strecke.“ „Wir sind bemüht, auf dieser Strecke eine umfassende Aufklärung zu betreiben.“ Aus: Der Sprachdienst 5/ 1994, S. 170-172. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Gesellschaft für deutsche Sprache.] „Rote Socken“ - ein alter Hut? Erst hingen sie groß auf einer Leine, mit einer grünen Klammer befestigt, schließlich steckten sie - klein, niedlich und aus Wolle - an Jacken und Kleidern vieler PDS-SympathisantInnen: die roten Socken, handgestrickt von fleißigen Frauenhänden zum Preis von drei Mark für PDS-Mitglieder; sie schufen damit ein Emblem, das der PDS für ihren Wahlkampf noch gefehlt hatte. So gut war die Idee der CDU vielleicht doch nicht, die PDS und die SPD auf einem Wahlplakat als rote Verbündete darzustellen: „Auf in die Zukunft … aber nicht auf roten Socken! “ Der PDS scheint es, wie die Wahlergebnisse in Brandenburg und in Sachsen zeigen, nicht geschadet zu haben. Die CDU-Landesverbände in den neuen Bundesländern hatten, die zweifelhafte Wirkung wohl richtig einschätzend, die Plakataktion ihrer Bundeszentrale zwar abfangen können, aber doch nicht rechtzeitig genug, um der PDS diesen schönen PR-Gag aus den Händen zu nehmen. Deren Vorsitzender bedankte sich bei dem Urheber der Kampagne, CDU-Generalsekretär Peter Hintze, auf das herzlichste, denn ohnehin hatte die PDS (nach einer Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 31.7.1994) erwogen, sich dieses Fußbekleidungsstücks selbstironisch als Wahlkampflogo zu bedienen. Gregor Gysi rief prompt das Jahr 1994 zum „Jahr der roten Socken“ aus. - Hatten sich die Wahlkampfstrategen der CDU nicht die Mühe gemacht, das Positiv-negativ- Potential des Ausdrucks rote Socken bei den Wählern in den neuen Bundesländern vorher zu testen? Wie negativ wird rot als Symbolfarbe der „Linken“ (wer immer damit auch gemeint ist) heute eigentlich bewertet? Die politische Urheberschaft für den Einsatz der roten Socken als Wahlkampfwaffe oder -gag ist also klar, die sprachliche Herkunft dieses Ausdrucks aber keineswegs. Die Wochenpost hat mit dem Untertitel ihres ganzseitigen Artikels „Einem Phänomen auf der Spur“ (11.8.1994, S. 12) wohl recht: „Doch wo der Begriff herkommt, weiß eigentlich niemand so genau.“ Oder sagen wir es etwas hoffnungsvoller: Wir wissen es noch nicht. Verfolgen wir den Gebrauch einmal rückwärts: Populär und nennenswert häufig geworden ist der Ausdruck zweifellos in der Zeit unmittelbar nach der Wende, also von Oktober bis Dezember 1989. Er erscheint gelegentlich auf Transparenten oder in Sprechchören während Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 394 der großen Demonstrationen: „Lieber rote Socken als braune Hemden! “, daneben zum Beispiel „Lila gegen braun - Rechtsruck ohne Frau'n! “, „Gegen braune Wiedervereinigung! “ (Leipziger Demontagebuch, 1990, S. 141). Nur wenig später finden wir die Metapher in (West-)Texten, die im „Wendekorpus“ des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache (IDS) gespeichert sind. Im Spiegel vom 23.4.1990 (S. 265) berichtet eine „Dame“ aus der Vergnügungsbranche der ehemaligen DDR über die Überwachungspraktiken der Stasi: Das Ostberliner Berolina-Hotel „war eine ziemlich stasifreie Bude, alles andere war tiefrote Socke und völlig eingespitzelt“. Noch einmal der <171> Spiegel (25.6.1990, S. 73): die „Langohren aus der Hasenburg, wie die Mitarbeiter der Stasi-Zentrale an der Leninstraße im Volksmund hießen, haben die Entstasifierung ganz gut überstanden. Ebenso wie die Bonzen aus der SED-Kreisleitung, die sogenannten Rotsocken. Sie sind jetzt alle das Volk.“ Der Rheinische Merkur vom 26.10.1990 (S. 2): „Indizien sprechen dafür, daß Gysi nicht der große Manipulator, sondern der von den ‘Roten Socken’, den traditionellen Kräften in der Partei Manipulierte ist.“ Der Ostberliner Sprachsatiriker und Kabarettist Ernst Röhl bucht in seinem Miniwörterbuch Deutsch-Deutsch (1991) den Ausdruck mit der Erklärung ‘übereifriger Parteifunktionär’, was nicht ganz stimmt: rote Socken fanden sich nicht nur unter den Parteifunktionären, jeder „Hundertfuffzigprozentige“ konnte so genannt werden. Aber auch schon für die Zeit vor der Wende ist die rote Socke belegt. Theodor Constantin bietet sie in seinem kleinen, leider oft fehlerhaften Wörterbuch Plaste und Elaste (1988) wieder mit einer zu engen Erklärung („spöttisch für Funktionär“). Martin Ahrends (Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon - Das Wörterbuch der DDR -Sprache, 1986) verzeichnet den Ausdruck jedoch nicht. Dafür hat ihn Wolf Oschlies schon vor einem Jahrzehnt festgehalten („Mumpenkönig in # C “ - Bemerkungen zur Sprache der politischen Gefangenen in Cottbus; in: Muttersprache 1984/ 85, S. 83): Häftlinge, die sich für die Entlassung in die DDR entschieden, wurden von denen, die in den Westen abgeschoben werden wollten, verächtlich als rote Socken tituliert. Ich habe den Ausdruck 1987 am Rande eines Kongresses in Ostberlin gehört: Ein DDR- Kollege sagte über eine Germanistin, die Ende der fünfziger Jahre aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen war: „Die kenne ich, vor der hatten wir Angst. Das war damals 'ne ganz rote Socke.“ Er setzte den Ausdruck offenbar als bekannt und deshalb nicht erläuterungsbedürftig voraus. - Ein Ge- „Rote Socken“ - ein alter Hut? 395 brauch in der DDR mindestens seit Mitte der achtziger Jahre kann also als gesichert gelten. Im westdeutschen Spachgebrauch sind mir die roten Socken vor der Wende nicht begegnet. Frühere Belege sind auch den großen mehrbändigen Wörterbüchern der deutschen Sprache nicht bekannt, obwohl wir annehmen dürfen, daß es solche Belege gibt. Dafür spricht zweierlei: Das Wort rot war als politisches Zugehörigkeitsadjektiv für Menschen sozialistisch-kommunistischer Anschauung oder Parteizugehörigkeit schon im 19. Jahrhundert gebräuchlich, sehr häufig vor allem in den Kämpfen der Weimarer Zeit und der Nazizeit („die Roten“), und zwar als positive Eigenbezeichnung ebenso wie als negative Fremdbezeichnung. (Die) Socke bzw. (der) Socken als umgangssprachlich-abfällige Bezeichnung für Menschen ist ebenfalls seit mindestens dem 19. Jahrhundert belegt. Heinz Küppers Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache (Bd. 7, 1984) bucht Socke(n) als Bezeichnung eines schmutzig-liederlichen Menschen (seit dem 19. Jahrhundert), und zwar durchweg mit Adjektivattributen: alter/ blöder/ mieser Socken für einen unangenehmen, unsympathischen Mann, geile(r)/ scharfe(r) Socke(n) für ein ‘sinnlich veranlag- <172> tes Mädchen’, lahmer/ schlapper Socken für den ‘müden/ energielosen Mann/ Soldaten’. Auch hier ist die/ der rote Socken(n) nicht gebucht. Das heißt natürlich nicht, daß diese Verbindung nicht vorgekommen ist. Eines der vielen belegten Adjektive durch das ebenfalls eingeführte Adjektiv rot zu ersetzen liegt ja nicht allzufern. Unklar ist aber vor allem die Herkunft von Socke(n) als spöttisch-abfällige Bezeichnung eines Menschen. Gelegentlich wird vermutet, es liege gar nicht das Fußbekleidungsstück Socke zugrunde (das übrigens auf lat. soccus ‘flacher Schuh’ fußt), sondern ein jiddisches Wort, in dessen Umkreis wohl auch das Gesocks ‘Gesindel’ gehört. Sigmund A. Wolf bietet in seinem Wörterbuch des Rotwelschen (1956) das Stichwort der Soken mit den Bedeutungen ‘Bejahrter, Greis, Bart’, stellt es zu jiddisch der soken (ebenfalls ‘Greis’) und bemerkt: „Die Schimpfworte so'n Socken, alter Sockentrolli“ - von ihm 1956 in Berlin gehört - „gehen hierauf zurück und nicht auf dt. Socke f. Strumpf.“ Das ist ein klares Wort, aber ob es auch so stimmt? Im Bewußtsein der Sprecher war und ist diese worthistorische Ableitung sicher nicht gegenwärtig, ist es doch in unserer Umgangssprache durchaus geläufig, Menschen spöttisch mit Bezeichnungen anderer Kleidungsstücke zu belegen: Wir sprechen von „Blaustrumpf“, „Geizkragen“, „Schlafmütze“, „Stinkstiefel“ - warum nicht auch von einem „(alten usw.) Socken“? Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 396 Inzwischen hat das Bildungsmuster rote(r) Socke(n) Schule gemacht. Schon unterscheidet man zwischen tief-/ dunkelroten (altkommunistischen), roten (PDS-) und hellbzw. blaßroten (sozialdemokratischen) Socken. Ein Leser der Schweriner Volkszeitung (16.8.1994) empfiehlt, in den Parteien außer nach roten Socken auch mal nach braunen Socken zu fahnden. Das Regionalprogramm N 3 brachte am 8.9.1994 eine Sendung über den Umgang der Sowjetbehörden mit politischen Gegnern in der SBZ: „Wen sie für eine braune Socke hielten, den steckten sie ins Gefängnis.“ Alle von mir befragten Personen, die die Naziherrschaft (als deren Gegner) miterlebt haben, sind sich darin einig, daß der Ausdruck braune Socke vor und während der Nazizeit nicht geläufig gewesen ist (was wiederum nicht heißt, daß er nicht vorgekommen sein kann); hier muß man wohl eine aktuelle Analogiebildung annehmen. Und es wird nicht lange dauern, bis wir auch auf grüne oder schwarze Socken/ Schwarzsocken stoßen. Der Sprachkreativität eröffnen sich neue Möglichkeiten. Also: Vorwärts auf farbigen Socken! Benetton („United Colours…“) wird's freuen. Den meisten Menschen sind Socken, welcher Couleur auch immer, ohnehin lieber als Kampfstiefel. Manfred. W. Hellmann Ich danke Doris Steffens ( IDS ), Helmut Walther (GfdS) und anderen für die freundliche Überlassung nützlichen Materials. Aus: Der Deutschunterricht 1/ 1997 (= Themenheft „Sprachwandel nach 1989“), S. 17-32. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Erhard Friedrich Verlags.] Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 1 1. Zur deutsch-deutschen Sprachdivergenz bis 1989 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit unserem Gegenstand hat eine Geschichte lange vor der Wende, in der manches schon vorformuliert wurde, was heute als Problem diskutiert wird. So ist u.a. die Auseinandersetzung mit dem offiziellen/ öffentlichen Sprachgebrauch der DDR natürlich keine „Errungenschaft“ (auch ein Lieblingswort des alten Systems) der Wende- oder Nachwendezeit; vielmehr ist gerade er in den letzten 40 Jahren in zahlreichen Arbeiten - insgesamt über 800 - aus Ost und West behandelt worden. Dieser Teil der deutsch-deutschen Sprachgeschichte, vom Zusammenbruch des Hitler-Reiches und der Gründung der beiden deutschen Staaten (auch dies war eine Zeit der „Wende“ mit gravierenden Folgen) bis zur Wende 1989/ 90 lässt sich unter das Vorzeichen gesellschaftlich-politisch bedingter sprachlicher Divergenz stellen, als „sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands“ - so der Titel der damals maßgeblichen Schrift von H. Moser 1962. Betroffen waren, und zwar in beiden deutschen Staaten, vor allem Wortschatz und Wortgebrauch; sie folgen notwendig und unmittelbar dem kommunikativen Bedürfnis nach Um- und Neubenennung, nach semantischer Veränderung und unterschiedlicher politisch-ideologischer Wirklichkeitsdeutung. Allerdings entwickelte unter den Bedingungen des Wahrheits- und Formulierungsmonopols der SED der öffentliche Sprachgebrauch in der DDR ein besonderes „Eigenleben“. Für diesen Komplex hat sich der Ausdruck „Verlautbarungssprache“ eingebürgert. Seine wichtigsten Merkmale waren: hoher Anteil an marxistisch-leninistischer Terminologie, propagandistischen Wendungen und Formeln, spezifischem institutionellem Vokabular (besonders des Staatsaufbaus und der Planwirtschaft); markante Stilfiguren (u.a. häufige vorgeprägte Formeln, stereotype Attribuierungen, dynamisierende 1 Dieser Text beruht teilweise auf einem Referat, das auf dem 22. New Hampshire Symposium in Conway N.H. ( USA ) im Juni 1996 gehalten wurde. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 398 Komparative [noch breiter enfalten, immer konkretere Durchsetzung]*, nominale Syntax), verbunden mit Elementen bürokratischen Direktivenstils, aber auch solchen pathetischer „Tribünensprache“; inhaltliche Eigenheiten waren u.a. Vorliebe für lange, feierliche Titulaturen, Freund-Feind-Schemata, dogmatische Selbstgewissheit und realitätsferne Schönfärberei bis hin zum Selbstbetrug, Aktivierung und zugleich Gängelung der Bevölkerung. Selten ein abwägendes Sowohl-als-auch, Einerseits-andererseits, Möglicherweise - Vielleicht-aber-auch-nicht. Andererseits aber auch: wenig reißerisch, weniger modisch aufgepeppt, weniger oft individualistisch-eitel. Natürlich war diese Verlautbarungssprache nicht identisch mit der Alltagssprache der Bevölkerung. Die Differenz zwischen beiden war zweifellos wesentlich größer als in allen <18> anderen deutschsprachigen Staaten. Die Auffassung aber, es gebe nur die offizielle, das „Parteiidiom“, neben oder über der Alltagssprache, und diese stimme weitgehend mit dem Sprachgebrauch der Bundesrepublik überein (vgl. Oschlies 1990), war gleichwohl zu einfach. Es gab Übergangsbereiche, z.B. dort, wo sich staatlicher „Überbau“ und Alltag der Menschen begegneten: z.B. in betrieblicher Arbeit, im Umgang mit Schule, Ämtern, sonstigen Institutionen. Zudem entwickelten sich in den 40 Jahren der Zweistaatlichkeit spezifische Ausdrücke in der DDR, die mit Partei und Staat nichts oder nur wenig zu tun hatten. DDR- Spezifik ist nicht identisch mit Parteispezifik und nicht ohne weiteres als „Systemnähe“ zu interpretieren. Und schließlich: Es gab auch sprachlich sehr differenzierte Formen sowohl des Mitmachens, der Anpassung, als auch der Verweigerung oder zumindest vorsichtiger Distanzierung; dazu gehörten auch die vielen Formen ironisch-kritischen Anti-Sprachgebrauchs. Das allerdings wurde erst während und nach der Wende genauer erkennbar. 2. Zur Sprachkonvergenz seit 1990 Seit dem Herbst 1989, besonders seit der Maueröffnung am 9. November 1989, hat nun eine zweite Epoche der deutsch-deutschen Sprachentwicklung und ihrer Erforschung begonnen. Diese zweite Epoche steht unter dem Zeichen sprachlicher Konvergenz - unter welchen Schwierigkeiten auch immer. * Anm. d. Red.: In diesem Beitrag sind die eckigen Klammern Bestandteil des Originaltextes. Nachträgliche Ergänzungen des Autors sind durch die Autorensigle MWH gekennzeichnet. Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 399 2.1 Schwerpunkte und Themen sprachlicher Untersuchungen Sofort nach der Wende und der Öffnung der Publikationsmöglichkeiten begannen sich Sprachwissenschaftler aus Ost und West mit dem Thema „wendebedingter Sprachwandel“ zu beschäftigen. Jahrzehntelang war der wissenschaftliche Dialog arg behindert - jetzt entwickelte er sich zu einem intensiven Austausch der Themen, Vorgehensweisen, der Ergebnisse und auch der Personen. Schon wenige Monate nach der Wende erschien das Buch von H.D. Schlosser (1990); es ist notwendigerweise mehr rückblickende (und unentbehrliche) Gesamtdarstellung als aktuelle Wende-Analyse. lm Vordergrund der Untersuchungen in den ersten zwei Jahren stand dann - wie könnte es anders sein - vor allem Wortschatz und Wortgebrauch. Ausgangspunkt waren der unerwartet schnelle Zusammenbruch, die Auflösung jener oben skizzierten „Verlautbarungssprache“. Ihr weinte freilich kaum jemand eine Träne nach, ebenso wenig dem Vokabular der Planwirtschaft, des sozialistischen Wettbewerbs, der Massenorganisationen. Übergangsphänomene zwischen Altem und Neuem zeigten sich während der Wende sogar in derselben Zeitungsausgabe (Hellmann in Themenheft 1993). Rückblickende Vergleiche zwischen altem und neuem (wendebeeinflusstem) Sprachgebrauch sind in den ersten zwei Jahren häufig (u.a. Oschlies 1990, Frass 1990, Hellmann 1990, Teichmann 1991). Als Thema der Forschung ist der Sprachgebrauch des alten Systems, besonders unter dem Aspekt der Formelhaftigkeit, der Ritualität und ihrer kommunikativen Funktionen (Fix 1994), weiterhin aktuell (u.a. Fleischer und Schlosser in Welke / Sauer / Glück [Hrsg.] 1992, Bergmann und Lerchner in Lerchner [Hrsg.] 1992, Reiher in Reiher [Hrsg.] 1995). Strategien der Machtausübung mittels Sprache (Gärtner in Lerchner [Hrsg.] 1992), die Rolle der gelenkten Presse bzw. der Journalisten (Läzer in Reiher / Läzer [Hrsg.] 1993, Marten-Finnis 1994) sowie das unüberwind- <19> liche Spannungsverhältnis zur DDR-Realität einerseits (Realitätsverlust) und zu den Erfordernissen einer modernen Kommunikationsgesellschaft andererseits (Immunisierung, Modernitätsdefizit) - bis hin zu den letzten „sprachlichen Selbstrettungsversuchen“ der SED-Führung während der Wende (Good in Themenheft 1991) werden dabei ebenso thematisiert wie - wenngleich weit seltener - die Verbindungslinien zur Zeit vor 1945 bzw. 1933 (Arbeiterbewegung, Nationalsozialismus) (Schlosser Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 400 1991). Nicht nur Politiker wie Eppler (Eppler 1992) sehen allerdings auch den politischen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik und seine kommunikative Leistung in einer Krise. Beobachtet wurde sehr bald auch die Enttabuisierung bisher unerwünschter Wörter, z.B. aus dem westlichen Wirtschaftssystem (Manager, Profit), aus der rechtsradikalen Szene der DDR (Skins, Skinheads, Faschos, Neonazis), aus der vorher behinderten Umweltdiskussion (Waldsterben, Giftmüll), aber auch neue Tabuisierungen: Wörter wie bewusst oder schöpferisch, Friede, Sicherheit, Solidarität konnten, verschlissen durch stereotypen Gebrauch der Partei, einfach nicht mehr so gebraucht werden wie bisher. Auch westdeutsche Gewerkschafter mussten dies erst lernen (Good in Themenheft 1993, hier S. 256). Andererseits erwiesen sich eine Reihe DDR-spezifischer Wörter und Wendungen wie angedacht (zunehmend auch im Westen verbreitet), Broiler, Lehrling, orientieren auf, Zielstellung als relativ „Wende-resistent“ (Hellmann 1990); neuere Untersuchungen bestätigen dies und führen diese Entwicklung auf wieder wachsendes Selbstbewusstsein der Ostdeutschen oder auf „Nostalgie“ zurück (SPIEGEL [Hrsg.] 1995; s. auch Reiher in diesem Heft [= Der Deutschunterricht 1/ 97]). Vom „Abschluß einer sprachlichen Entwicklung“ zu sprechen (Domaschnew 1991) war wohl z.T. voreilig. Noch nicht befriedigend geklärt ist die Frage nach der Binnensegmentierung des DDR-spezifischen Sprachgebrauchs. Lassen sich situationsbasierte Gebrauchs-„Register“ skizzieren, denen bestimmte Wörter oder Stilmuster zuzuordnen sind? Ansätze sind vorhanden. Aber reicht eine Segmentierung des DDR-Diskurses in „öffentlich/ halböffentlich/ privat-zwischenmenschlich“ (Fraas / Steyer 1992, S. 175) aus? Wie sind funktionaler Sprachgebrauch in der Arbeitswelt, im Umgang mit Ämtern und Behörden oder ironisch-kritischer Sprachgebrauch einzuordnen; was heißt „Alltagssprache in der DDR“? Erst wenn mehr Klarheit darüber besteht, welche Wörter wann (Situationen, Textsorten) von wem (Gruppen) gebraucht oder eher vermieden wurden, lassen sich z.B. voreilige (meist westdeutsche) Zuweisungen widerlegen, dass, wer z.B. Kader, Werktätige, Brigade, Kollektiv, orientieren auf, Zielstellung, Fakt gebraucht, dem alten System und seiner Ideologie nahestehen müsse (kritisch dazu u.a. Hellmann 1994). In bemerkenswerter Schnelligkeit dokumentiert (Neues Forum Leipzig 1989/ 1990, Schüddekopf 1990, Wimmer / Proske u.a. 1990 und weitere) und auch mehrfach kommentiert (u.a. Schlosser in Themenheft 1993) wurde Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 401 der neue, d.h. jetzt öffentlich werdende Sprachgebrauch der Bürgerbewegungen (Bresgen in Reiher [Hrsg.] 1995), der Oppositionsgruppen (auch der kirchlichen), der so ungemein kreativen, witzigen, boshaften, ironischen oder glaubwürdig-ernsthaften Demo-Losungen (Lang [Hrsg.] 1990, Reiher in Burkhardt / Fritzsche 1992), des Volksmunds in der DDR (Röhl 1991, Lange / Forchner 1994). Ebenso starkes Interesse und schnelle Aufnahme in zahlreiche Veröffentlichungen der ersten Jahre fanden die eigentlichen Spezifika der Wende- und Nachwendezeit (Mauerspecht, Wendehals, Trabikarawane, Botschaftsflüchtling, Warteschleife, Beschäftigungsgesellschaft, Treuhand, Regierungskriminalität, Vereinigungskriminalität usw.) (Kinne 1990, 1991; Müller in GfdS 1993 und 1994; Heringer 1991, 1992). Die Beschäftigung mit <20> dem erschreckenden Vokabular der Staatssicherheit folgte wenig später („Wörterbuch der Staatssicherheit“ 1993; Heringer in Heringer / Samson u.a. [Hrsg.] 1994; Henne 1995; Kühn 1995b zu Tarnnamen der Stasi). Schon mit besorgten Untertönen wurde auch das „Eindringen“, die Übernahme Tausender von „altbundesdeutschen“ Wörtern und Wendungen (Blei in Bungarten [Hrsg.] 1994) verfolgt und beschrieben, teils als Ausdrücke für „neue“, oft erklärungsbedürftige westliche Einrichtungen und Regelungen 2 , teils an Stelle vorhandener DDR-spezifischer Ausdrücke („Desynonymisierung“). Da dieser Prozess noch keineswegs abgeschlossen ist, sind hier auch noch weitere Veröffentlichungen zu erwarten (z.B. aus Halle bei der Auswertung telefonischer Sprachberatung (s. auch Kühn / Almstätt in diesem Heft [= Der Deutschunterricht 1/ 97], demnächst Antos / Schubert 1997), als Beschreibungen spezifischer Mischungs- und Übergangserscheinungen (Blei in Bungarten [Hrsg.] 1994). Die Reaktion der „Betroffenen“ reicht über die ganze Skala von großer (auch übertriebener) Anpassungs- und Übernahmebereitschaft bis zu schroffer Ablehnung und Rückwendung zu „alten” Mustern und Symbolen (Fix 1990 und 1995, s. auch Fix in diesem Heft [= Der Deutschunterricht 1/ 97]). Unterschiedlich ist auch die Bereitschaft, westdeutsche Gebrauchsmuster bei femininen Personenbezeichnungen zu übernehmen (Blei in Bungarten [Hrsg.] 1994, s. auch Gansel / Gansel in diesem Heft [= Der Deutschunterricht 1/ 97]). 2 Besonders 1990-91 erschienen in Zeitungen der neuen Bundesländer regelmäßig Rubriken mit Erklärungen zu (für Ost-Bürger) neuen Wörtern und Sachen. Diese Art „Lebenshilfen“ könnten eine interessante Quelle für Untersuchungen zur Übernahme bundesdeutscher Lexik und ihrer Umsetzung in vertraute Lexik sein. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 402 Während die ersten Veröffentlichungen noch unter dem Eindruck unmittelbaren Erlebens, oft auch persönlichen Betroffenseins, standen, erschienen seit 1993 auch Arbeiten, die sich distanzierter mit der Sprachentwicklung - auch hier meist Wortschatzentwicklung - befassten, sowohl im Früher- Später-Vergleich, als auch im Ost-West-Vergleich (u.a. Eroms in Heringer / Samson u.a. [Hrsg.] 1994), darunter auch einige umfangreiche quantitative Untersuchungen (u.a. de Groot 1992). Wortschatzforschung differenziert sich zudem in die Untersuchung bestimmter Wort- oder Begriffsfelder oder sie verfolgt einzelne Wörter oder Wortgruppen über längere Zeiträume oder bei verschiedenen Sprechergruppen oder Textsorten. „Schlüsselwörter“ als Leit-Begriffe in bestimmten begrifflichen Feldern oder Diskurszusammenhängen erfreuen sich hier besonderer Aufmerksamkeit (Herberg 1995, Herberg / Steffens / Tellenbach 1996, Samson und Kauffmann in Heringer / Samson u.a. [Hrsg.] 1994, Busse in Reiher [Hrsg.] 1995). In Fortsetzung einer langen Diskussion beschäftigen sich mehrere Arbeiten mit deutsch-deutschen Staats- oder Volksbezeichnungen (Glück in Welke / Sauer / Glück [Hrsg.] 1992, Busse in Reiher [Hrsg.] 1995, Hermanns 1995, Fraas 1996). Singuläre Ereignisse der deutschen Sprachgeschichte wie die „sprachliche Revolution“ in der DDR müssen sprachlich dokumentiert werden. Im Institut für deutsche Sprache Mannheim (IDS) begannen 1991 die Arbeiten zur Erfassung des „Wendekorpus“, einer gemischten, nach zentralen Themen ausgewählten Textsammlung aus Ost und West von Mai 1989 bis Ende 1990 (Hellmann 1996, hier S. 198-200); es steht inzwischen auch externen Benutzern rechnergestützt zur Verfügung. Seine Auswertung im IDS ist teils schon abgeschlossen: ein Band mit Wortfeldstudien zu ausgewählten „Schlüsselwörtern der Wendezeit“ (Herberg 1996, demnächst Herberg / Steffens / Tellenbach 1996), zwei monographische Bände mit diskursanalytischen Untersuchungen komplexer wendespezifischer Diskurse z.B. zum Konzept IDENTITÄT und DEUTSCHE (Frass 1996) bzw. zu „Reformulierungen“ verbreiteter wendetypischer Wendungen (z.B. „ Wer zu spät kommt, den <21> bestraft das Leben“) (Steyer 1997). Ein diskurs- und themenerschließendes Wörterbuch zum Wendekorpus (dazu Hellmann 1996) mit rund 1600 Stichwörtern soll 1997 (2 Bände plus Bibliographie) erscheinen (s. Bemerkung zur Literatur).* * Die Bibliografie erschien 1999 als: Hellmann, Manfred W.: Wende-Bibliografie. Literatur und Nachschlagewerke zu Sprache und Kommunikation im geteilten und vereinigten Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 403 In diesen Arbeiten geht es nicht nur um die „Neologismen“ der Wendezeit im engeren Sinne, sondern generell um wendetypischen Gebrauch auch geläufiger deutscher Wörter. Erstaunlich häufig belegt und von hoher diskursiver Relevanz in Texten jener Zeit sind gerade Wörter aus dem ethischmoralischen und dem emotionalen Bereich wie Verantwortung und Würde, Hoffnung und Enttäuschung, Stagnation und Aufbruch/ Erneuerung, Sprachlosigkeit und Dialog, Trauer und Jubel, Traum/ Utopie und real existierend, glaubwürdig und Vertrauensverlust, Hass und Versöhnung, Täter und Opfer. Es macht nicht zuletzt den Reiz jener Texte aus, in welchem Ausmaß sich die Bürgerbewegungen und Medien dieses Vokabular zurückerobert und - wenngleich nur vorübergehend - zum prägenden Vokabular der friedlichen Revolution gemacht haben. Stilfragen sind weit weniger oft eigenständiger Gegenstand von Publikationen; meist werden sie zusammen mit Wortschatzfragen im größeren Zusammenhang von Untersuchungen zu Sprachgebrauch oder Sprachstrategien mitbehandelt (Fix 1992, Hellmann 1994, Kühn 1995a). Stilwandel in den Medien und alltagsnäheren Textsorten gehören dazu (Teichmann 1991, Gläser in Hess-Lüttich [Hrsg.] 1992), wie auch Untersuchungen zu den Losungen des Herbstes 1989 (Fix 1990, Reiher in Burkhardt / Fritzsche [Hrsg.] 1992); auch bei den Untersuchungen zum Sprachgebrauch der Bürgerbewegungen (Bresgen in Reiher [Hrsg.] 1995) oder wichtiger Reden auf den Großdemonstrationen (bes. zur Rede Christa Wolfs vom 4. November 1989) (Hopfer, Schäffner und Volmert in Burkhardt / Fritzsche [Hrsg.] 1992) oder zum Sprachgebrauch der Jugend (Böhm 1990, s. auch Neuland / Heinemann in diesem Heft [= Der Deutschunterricht 1/ 97]) sind Wortgebrauch, Stil und Inhaltliches kaum isoliert zu behandeln. Für eine zusammenfassende Darstellung des Stilwandels ist es wohl noch zu früh. Eine Lücke schließen diejenigen Arbeiten, die sich nicht auf öffentliche Texte z.B. der Medien, sondern auf alltagsnähere Textgattungen richten (vgl. Sommerfeldt [Hrsg.] 1994). Endlich wird jetzt aufgearbeitet, was so viele Jahre in Deutschland ab Januar 1990. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 99). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. Das Wörterbuch erschien 2006 als: Hellmann, Manfred W.: Wörter in Texten der Wendezeit. Ein Wörterbuch zum „Wendekorpus“ des IDS . Mai 1989 bis Ende 1990. Unter Mitwirkung von Pantelis Nikitopoulos und Christoph Melk. CD-ROM und Begleitband (Vorwort des Autors mit Anmerkungen und zusätzlichen Registern der amades-Redaktion). (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 04). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. MWH Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 404 der DDR entweder unzugänglich oder tabuisiert war. So z.B. Gattungen wie „Zwischeneinschätzungen“ und Beurteilungen in Schule/ Hochschule und Betrieb und andere „rituell“ genormte Texte (Fix 1995), Wohnungsanzeigen (Teidge 1990), Leserbriefe (Fix 1993); Bewerbungen (Birkner / Kern 1996) und Arbeitszeugnisse (Kühn 1995, S. 414ff. und 1995a), Namengebung und Namenveränderung bei landwirtschaftlichen Flurnamen (Scherf in Lerchner [Hrsg.] 1992), bei Straßennamen (Kühn in GfdS 1993), Werbung in Ost und West (Schmider 1990, Hoffmann 1995); besonders interessant sind auch (noch nicht veröffentlichte) Untersuchungen zu Brigadetagebüchern, bei denen sicher viele Schätze noch nicht gehoben sind. Inzwischen liegt auch eine Publikation von Alltagstexten aus der DDR, „einer untergegangenen Republik“, vor (Reiher [Hrsg.] 1995). Es liegt nahe, hierzu zeit- und textsorten-synchrone westdeutsche Texte hinzuzuziehen, um vergleichen zu können. 2.2 Zum kommunikativen Aspekt Den größten Zuwachs in den letzten drei Jahren, auch der Zahl der Arbeiten nach, hat das Thema deutsch-deutsche Kommunikation zu verzeichnen. Der Zusammenprall verschiedener Alltage, der Zwang zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kommunikationsstilen, sicher auch Enttäuschung und Verärgerung über ungewohntes kommunikatives Verhalten von Ossis und Wessis, zusammen mit der extrem gestiegenen Häufigkeit ost- <22> west-deutscher Kommunikationsereignisse seit der Grenzöffnung, machten wohl jedem bewusst, dass es weit mehr Probleme gab als erwartet. Dabei spielten Sprach- und insbesondere Wortschatzdifferenzen einschließlich Bedeutungsdifferenzen in den ersten zwei bis drei Jahren sicher eine gewichtige Rolle: „‘Vokabellernen’ ist offensichtlich für Ostdeutsche zu einer alltäglichen, unumgänglichen, aktuellen Aufgabe geworden. Hinzu kommt das bewusste Vergessen bzw. Ersetzen gegenwärtig ‘inadäquater’ Lexik“ (Blei in Bungarten [Hrsg.] 1994, S. 41). Inzwischen haben die Ost-Bürger einen intensiven Lern- und Anpassungsprozess hinter sich gebracht - wieder einmal lag die Last bei den Ost-, viel weniger bei den West-Bürgern; Ost-Bürger kennen sich jetzt mit den neuen Wörtern und dem Sprachgebrauch der Wessis meist ganz gut aus (bei sehr differenzierter, oft kritischer Einstellung dazu (Reséndiz in Welke / Sauer / Glück [Hrsg.] 1992), s. auch Fix und Reiher in diesem Heft [= Der Deutschunterricht 1/ 97, MWH]), auch wenn es an den Schnittstellen zwischen Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 405 (beruflichem) Alltag und westlich geprägten Fachsprachen (z.B. der Verwaltung, des Wirtschafts-, Sozial- und Steuerrechts, der Betriebsorganisation usw.) noch Schwierigkeiten gibt (Satzger in Bungarten [Hrsg.] 1994, S. 64f.). Beunruhigend allerdings (und noch nicht ausreichend geklärt) scheinen Beobachtungen weiterhin unterschiedlicher (meist unbewusster) Konnotationen (Bewertungen, gefühlsmäßiger Einbettungen) nicht nur bei systembedingt unterschiedlichen Wörtern wie Kollektiv, sondern auch bei scheinbar gemeinsamen Wörtern wie planen/ Plan, Leistung, Eigentum, Makler, dynamisch, Markt, privat, sozial, sicher/ Sicherheit (z.B. Polenz 1993, Schlosser in Welke / Sauer / Glück [Hrsg.] 1992, Fraas und Good in Themenheft 1993; im Vergleich mit der Zeit vor der Wende de Groot 1992) als Störfaktoren für die Verständigung. Zur Klärung solcher Unterschiede in Sprachgebrauch und kommunikativem Verhalten werden - neben Textanalysen - zunehmend auch Befragungen und Interviews eingesetzt (s. u.a. Fix, Reiher, Neuland / Heinemann in diesem Heft [= Der Deutschunterricht 1/ 97, MWH]) - Instrumente, die vor der Wende in der DDR kaum einsetzbar waren. Aber auch bei angenommenem gemeinsamem Sprachwissen: Unter dieser Decke tun sich unerwartet große Möglichkeiten und praktische Erfahrungen des Miss- und Nichtverstehens, der Fremdheit, der Empfindlichkeiten und wechselseitigen Vorbehalte auf. Sie werden heute nicht mehr primär auf Sprachprobleme, sondern auf unterschiedliche kommunikative Normen, unterschiedliche Selbst- und Fremdbilder, Stereotype und Vorurteile, auf unterschiedliche „Erfahrungswelten“ (Fraas 1994) und gesellschaftlich bedingte mentale Prägungen, letztlich auf unterschiedliche Kulturen in Ost und West zurückgeführt. „Deutschland Ost und Deutschland West müssen in diesem Sinne noch, trotz gemeinsamer Sprache, zumindest als unterschiedliche Teilkulturen mit unterschiedlichen Kulturstandards verstanden werden“ (Bungarten 1994, S. 27; vgl. auch Fiehler in Czy ewski / Gülich u.a. [Hrsg.] 1995). Die „unsichtbare Mauer“, die „Mauer in den Köpfen“ ist zu einem Topos fast der gesamten deutsch-deutschen Diskussion geworden. Beispiele, die die Literatur inzwischen in Fülle anbietet, stammen aus ganz verschiedenen Kommunikationssituationen: zu nicht-öffentlichen Kommunikationssituationen etwa Maklergespräche bei der Wohnungssuche, Anweisungen von Betriebsleitungen an ihre leitenden Mitarbeiter zum Umgang mit westdeutschen Geschäftspartnern (Hellmann <23> 1994), Messegespräche zwischen Geschäftsleuten (Ylönen 1994), Kommunikation zwischen Wirt- Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 406 schaftsunternehmen bzw. Managern (Bungarten 1994, Thomas in Bungarten [Hrsg.] 1994), Bewerbungsgespräche (Birkner / Kern 1996), Begegnungen von Schulklassen (Gegen neue Mauern 1995/ 96; in journalistischer Zusammenfassung Gaserow 1996) usw.; zu öffentlichen Kommunikationssituationen etwa moderierte Fernsehdiskussionen (Schütte 1990, mehrere Beiträge in Czy ewski / Gülich u.a. [Hrsg.] 1995); Redebeiträge auf Kongressen (Fraas in Themenheft 1993, hier S. 262f.); zunehmend auch Gespräche in informellen oder institutionalisierten Gruppen (vgl. Czy ewski / Gülich u.a. [Hrsg.] 1995, dort bes. R. Wolf); dazu hat die Gesprächs- und Konversationsanalyse ausgefeilte, allerdings aufwendige Analysemethoden bereitgestellt. 2.3 Außersprachliche Aspekte der Kommunikation Kommunikationsforschung hat es nicht nur mit Sprache allein zu tun, sondern auch und gerade mit außersprachlichen Bedingungen und Faktoren. Wichtig in diesem Zusammenhang sind Forschungen verschiedener Nachbarwissenschaften (vgl. zum Folgenden die einschlägigen Beiträge in den APUZ-Heften der Gruppe 4): Untersuchungen zu Meinungen, Wertsystemen, Einstellungen und Zukunftserwartungen, Fremd- und Selbstbildern der Deutschen in Ost und West, wozu inzwischen eine Fülle von (auch journalistisch aufbereiteten) Umfrage- und Untersuchungsergebnissen vorliegt (u.a. SPIEGEL Spezial 1991, SPIEGEL [Hrsg.] 1995). Ost-west-gemischte Seminargruppen stellen ihre Selbst- und Fremdbilder in kleinen Spielszenen dar und verhelfen sich selbst, aber auch den verunsicherten (westdeutschen) Seminarleitern zu neuen Erkenntnissen über kommunikative Schwierigkeiten und ihre Auflösung (Ensel 1995). Psychologen wie Maaz (Maaz 1991, sehr knapp auch Maaz 1991a) haben eine ganze Kommunikationsgemeinschaft auf die psychoanalytische Couch gelegt und fragen nach kollektiven psychischen Beschädigungen, die uns einen angemessenen Umgang mit dem Vereinigungsstress so schwer machen. Von „Vereinigungskrise“ (Kocka 1995), ja von „Kulturschock“ (Wagner 1996) ist die Rede. Meinungs- und Verhaltensforscher stellen ostbzw. ost-westdeutsche Gruppen auf den „Prüfstand psychologischer Tests“ (Becker 1992, Meulemann 1995). Die Literatur über ost- und westdeutsche „Mentalitäten“ und „Befindlichkeiten“ aus wissenschaftlicher, literarischer, journalistischer und auch politischer Feder ist inzwischen unübersehbar (s. auch Eroms in diesem Heft [= Der Deutschunterricht 1/ 97]). Die Diskussion um „Identität“ und Geschichtsbewusstsein in Ost und West (Teubert in Burkhardt / Fritzsche [Hrsg.] 1992, Uffelmann Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 407 1994, Klose 1994) hat wichtige Unterschiede sichtbar gemacht, auch wenn diese Diskussion manchmal etwas ausufernd und in den Medien sogar politisch modisch erscheint. Eher kontraproduktiv, nämlich Gräben aufreißend und Kommunikationsbereitschaft zerstörend, wirkte der „Literaturstreit“ um Christa Wolf, Monika Maron und andere Schriftsteller/ innen der DDR (für die Anfangsphase und noch sehr zurückhaltend dazu Grunenberg 1990); er ist ein Lehrbeispiel dafür, zu welchen „unkonventionellen“ Methoden der Persönlichkeitsdemontage einige westdeutsche Literaturkritiker und Kommentatoren zu greifen imstande sind, wenn es darum geht, ihre Diskursherrschaft zu sichern. 3 <24> 3. Ausblick Die Chancen für interdisziplinären Austausch und Zusammenarbeit auf dem Feld der ost-west-deutschen Kommunikationsprobleme stehen also - insgesamt gesehen - besser als je zuvor. Offenbar ist die germanistische Linguistik, soweit es unser Thema betrifft, auf dem Weg, ihr enges Blickfeld zu erweitern - möglicherweise um den Preis interdisziplinärer Unüberschaubarkeit. Die Annahme ist ja nicht abwegig: Wenn wir das Problem in seinen verschiedensten Erscheinungsformen beschreiben, helfen wir, es zu lösen, indem wir es uns und anderen bewusst machen. Man kann sich auch mit Els Oksaar trösten, die Unterschiede zwar nicht bestreitet, jedoch meint, deutsch-deutsche Kommunikation gelinge weit öfter, als wir vermuten und als die Forschung es widerspiegele (Oksaar 1994). In der Tat besteht die Gefahr einer Selbsttäuschung, da wir ja vor allem Störungen und Brüche in der Kommunikation beobachten und untersuchen - ihr Gelingen ist ja eher langweilig. Oder wir halten uns an die schon lange ausgesprochene Empfehlung, uns gegenseitig „unsere Biographien zu erzählen“, uns einander zu „begegnen“ und uns einander zu erklären. Die erwähnten Begegnungsprojekte zwischen Berliner Schulklassen oder Gespräche in Frauengrup- 3 Am gehässigsten wohl Ulrich Greiner in der ZEIT , 1. Juni 1990 (dort später auch Gegenmeinungen), ferner Frank Schirrmacher (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juni 1990), Reich-Ranicki, der Rheinische Merkur, DIE WELT , der SPIEGEL (zu Monika Maron) und weitere. Vgl. Anz, Thomas (Hrsg.) (1991): „Es geht nicht um Christa Wolf.“ Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München: ed. Spangenberg; Deiritz, Karl / Krauss, Hannes (Hrsg.) (1991): Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gespaltener Zunge“. Analysen und Materialien. Hamburg: Sammlung Luchterhand. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 408 pen aus Ost und West (R. Wolf in Czy ewski / Gülich u.a. [Hrsg.] 1995) sind ein begrüßenswerter Weg dazu. Auch ohne Theorie lässt sich ja vermuten, dass unmittelbare Begegnung zu besserem gegenseitigem Verständnis führt, dieses zum Abbau von Vorurteilen, und dieses zu größerer Erfolgswahrscheinlichkeit bei künftiger Kommunikation. Oder doch nicht? Oder nicht immer? Beobachtungen in inszenierten Fernsehdiskussionen lassen Paul (Paul in Czy ewski / Gülich [Hrsg.] 1995, S. 297) eher von einer „problematischen Verhärtung in der wechselseitigen Wahrnehmung“ sprechen: der Mediendiskurs kann, wie seine Beispiele zeigen, „für die Verständigung zwischen Ost und West gerade dort kontraproduktiv sein [...], wo er vorgibt, produktiv zu sein“ (ebd., S. 306). Man kann aber auch das ganze Problem ein wenig tiefer hängen, nämlich im Bewusstsein, dass wir zu wenig voneinander wissen und zu viel voneinander erwarten nach 40 Jahren getrennten Lebens. Mäßigung unserer kommunikativen Erwartungen könnte helfen, die Toleranzschwelle gegenüber abweichendem Sprach- und Kommunikationsverhalten anzuheben, Probleme und Missverständnisse weniger wichtig zu nehmen, uns mit approximativem Verständnis pragmatisch zu begnügen. Schon 1972 schrieb der Bonner Kommunikationswissenschaftler Gerold Ungeheuer, menschliche Kommunikation sei zwangsläufig fehlerhaft, erreichtes Verständnis unsicher, und zwar umso unsicherer, je weniger die Wissens- und Erfahrungsbestände der Kommunikationspartner gemeinsam seien, je mehr gegenseitiges Verständnis allein auf die Vermittlerfunktion der Sprache angewiesen sei; die fehlende Entscheidung über kommunikatives Verständnis werde aber oft „aufgewogen [...] durch eine von Sympathie getragene Hoffnung auf Konsens“ (Ungeheuer 1972, hier S. 41 und 43). Es ist heute nicht mehr die Sprache, die uns an erfolgreicher Kommunikation hindert - wir sind es selbst. Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 409 Literatur Das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag ist in vier Gruppen geordnet: - Gruppe 1 enthält einführende Literatur und Nachschlagewerke zur Sprachentwicklung vor der Wende; - Gruppe 2 enthält einführende Literatur, Nachschlagewerke, Chroniken und Dokumentationen zur Sprachentwicklung seit der Wende; <25> - Gruppe 3 umfasst die Sekundärliteratur zu Sprache und Kommunikation; - Gruppe 4 umfasst ausgewählte Literatur aus Nachbargebieten. Einige Bücher und Beiträge, die sich zum Einstieg in das Thema eignen oder zum Nachschlagen unentbehrlich scheinen, sind im Literaturverzeichnis mit Sternchen markiert. Die hier referierte Literatur wurde außer nach ihrer Relevanz auch nach ihrer Erreichbarkeit ausgewählt. Beiträge in Themenheften verbreiteter Zeitschriften und in Sammelbänden wurden bevorzugt; sie werden im Literaturverzeichnis unter dem Themenheft bzw. Sammelband aufgeführt. Für die Auswahl der Beiträge aus Nachbarwissenschaften (Gruppe 4) wurden die Hefte der Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ ( APUZ ) - Beilage der Zeitschrift „Das Parlament“ bevorzugt; sie sind kostenlos beziehbar. 4 Eine vollständige Bibliographie zu Sprache und Kommunikation seit der Wende mit über 600 Titeln erscheint 1997 in: Manfred W. Hellmann: Wörter in Texten der Wendezeit. Alphabetisches Wörterverzeichnis zum „Wendekorpus des IDS - Mai 1989 bis Ende 1990 (2 Bände). Anhang: Wende-Bibliographie. (= Studien zur deutschen Sprache Bd. ? ), Tübingen: G. Narr.* Erklärung der Siglen (in eckigen Klammern): Bibliographie [ BIB ] Chronik [ CHR ] Forschungsbericht [ FOB ] (Text-)Dokumentation [ DOK ] Handbuch, sonstiges Nachschlagewerk [ HDB ] Lexikographische Sammlung (Wörterbuch, Glossar u.Ä.) [ LEX ] 4 Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung, Berliner Freiheit 7, 53111 Bonn; Vertrieb: DAS PARLAMENT , Fleischstr. 62-65, 54290 Trier, Fax: 0651/ 460 4153. * Anm. d. Red.: Mittlerweile unter anderem Titel erschienen (siehe Anm. auf S. 402f.). Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 410 Sammelband [ SMB ] Überblicksdarstellung [ ÜBL ] Abkürzungen für Zeitschriften und Reihen: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ APUZ Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht SuL Zeitschrift für Germanistische Linguistik ZGL 1 Literatur Gruppe 1: Bibliographien, Handbücher, lexik. Sammlungen, Überblicke, Forschungsberichte für die Zeit bis Ende 1989 1.1 * Ahrends, Martin (1989): Allseitig gefestigt. Stichwörter zum Sprachgebrauch der DDR . München: dtv Nr. 11126. (vorher unter dem Titel „Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon“, München: Heyne Tb. 1986.) [ LEX ] (Auch teilw. zur Umgangssprache in der DDR .) 1.2 Bibliographie (1976): Bibliographie zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR . Zusammengestellt und kommentiert von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Manfred W. Hellmann. Düsseldorf: Schwann (= Sprache d. Gegenwart Bd. 16). [ BIB ] 1.3 * DDR Handbuch (1985): Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): DDR Handbuch. Wiss. Leitung: Hartmut Zimmermann. 2 Bände. 3. überarb. u. erw. Aufl. Köln: Verl. Wissenschaft und Politik [ HDB ] [Bestes, noch immer unentbehrliches Handbuch zur DDR] 1.4 Dieckmann, Walther (1967): Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost- West-Problem. In: Germanistik 23, S. 136-165. [ FOB ] [Maßgebliche, methodenkritische Auseinandersetzung mit der westdt. Literatur bis etwa 1966.] <26> 1.5 * Friedrich-Ebert Stiftung (Hrsg.) (1989): Politik und Sprachentwicklung in der DDR . Zu neuen Ufern. (= Die DDR - Realitäten - Argumente Nr. 95). Bonn - Bad Godesberg: (Eigenverlag). (Mit einer Schlussbetrachtung zur Wende) [ÜBL] 1.6 * Hellmann, Manfred W. (1985): Artikel „Parteijargon“ und „Sprache“. In: DDR Handbuch, S. 967 und S. 1261-1266. [ ÜBL ] Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 411 1.7 Hellmann, Manfred W. (1989): Die doppelte Wende. Zur Verbindung von Sprache, Sprachwissenschaft und zeitgebundener politischer Bewertung am Beispiel deutsch-deutscher Sprachdifferenzierung. In: Josef Klein (Hrsg.): Politische Semantik. Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen: Westdt. Verlag, S. 297-326. [ FOB ] 1.8 Hellmann, Manfred W. (1992): Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpuswörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten. DIE WELT und Neues Deutschland 1949-1974. (= Forschungsberichte des IDS Bd. 69.1-69.3). Tübingen: G. Narr. (2 Bände plus Tabellenband) [ LEX ] 1.9 * Kinne, Michael (Hrsg.) (1977): Texte Ost - Texte West. Arbeitsmaterialien zur Sprache der Gegenwart in beiden deutschen Staaten. (= Kommunikation/ Sprache. Materialien für den Kurs- und Projektunterricht). Frankfurt - Berlin - München: Diesterweg. [ DOK ] [Sammlung von Primärtexten und Auszügen aus sprachwiss. Aufsätzen aus Ost und West] 1.10 * Kinne, Michael / Strube-Edelmann, Birgit (1981): Kleines Wörterbuch des DDR -Wortschatzes. 2. Aufl. Düsseldorf: Schwann. (1. Aufl. 1980) [ LEX ] [Nur zum öffentlichen Sprachgebrauch] 1.11 Röhl, Ernst (1989): Wörtliche Betäubung. Neudeutscher Mindest-Wortschatz. 3. Aufl. Berlin: Eulenspiegel Verlag. (1. Aufl. Berlin 1986). [ LEX ] [Satirisch-ironisches Glossar zum DDR -Sprachgebrauch] 1.12 Schaeder, Burkhard (1981): Deutsche Sprache in der BRD und in der DDR . Neuere Arbeiten und Ansichten über das sprachliche Ost-West-Problem. In: Muttersprache Jg. 1991, H. 3-4/ 81, S. 198-205. [ FOB ] 2 Literatur Gruppe 2: Bibliographien, Handbücher, lexik. Sammlungen, Dokumentationen, Chroniken, Forschungsberichte, Überblicke für die Zeit ab Anfang 1990 2.1 * Bahrmann, Hannes / Links, Christoph (Hrsg.) (1994): Chronik der Wende. Die DDR zwischen 7. Oktober und 18. Dezember 1989 (= Teil 1). Chronik der Wende 2. Stationen der Einheit. Die letzten Monate der DDR . (= Teil 2). Berlin: Ch. Links Verlag. [ DOK ] [ CHR ] [Teil 2 mit Register für Teil 1 und Teil 2] [Tageschronik in Berichtsform mit eingestreuten Originaltexten, parallel zur einer Sendereihe des ORB ] Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 412 2.2 * Braun, Peter (1993): Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Sprachvarietäten. 3. erw. Aufl. Stuttgart - Berlin - Köln: Kohlhammer (= Urban Taschenbücher Bd. 279). [1. Aufl. 1979] [Bes. Kap. 1.10: Sprache West/ Sprache Ost? , S. 68-73.] [Umfangreiche Literaturangaben] [ ÜBL ] 2.3 * Clyne, Michael G. (1995): The German language in a changing Europe. Cambridge usw.: Cambridge University Press. [Bes. Kap. 3: German in divided and unified Germany, S. 66-88.] [ ÜBL ] 2.4 * Hellmann, Manfred W. (1994): Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt - Brücke oder Schranke der Verständigung? In: Terminologie et Traduction (Kommission der Europäischen Gemeinschaft - Übersetzungsdienst - Luxemburg) No. 1/ 94, S. 105-138. [ ÜBL ] 2.5 * Lang, Ewald (Hrsg.) (1990): Wendehals und Stasi-Laus. Demo-Sprüche aus der DDR . Hrsg. und zusammengestellt von Ewald Lang. München: Heyne (Heyne Tb. Nr. 01/ 7829). [ DOK ] 2.6 Lange, Bernd-Lutz / Forchner, Ulrich (1994): Bonzenschleuder und Rennpappe. Der Volksmund in der DDR . Leipzig: Forum Verlag. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Eichborn, 1996. [ DOK ] [Mit einigen Ausnahmen Vorwende- Ausdrücke] 2.7 Maier, Gerhart (1991): Die Wende in der DDR . Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2. akt. Aufl. (Reihe Kontrovers). [ DOK ] [Primär- und Sekundärtexte zur und über die Wende] <27> 2.8 * Neues Forum Leipzig (1989/ 90): Jetzt oder nie - Demokratie. Leipziger Herbst '89. Mit einem Vorwort von Rolf Henrich. 1. Aufl. Leipzig (1989): Forum Verlag; Lizenzausgabe München: Bertelsmann. [ DOK ] 2.9 * Polenz, Peter von (1993): Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL Bd. 22/ 93, S. 127-149. [ FOB ] 2.10 * Reiher, Ruth (Hrsg.) (1995): Mit sozialistischen und anderen Grüßen. Porträt einer untergegangenen Republik in Alltagstexten. Berlin: Aufbau-Verlag. [Sammlung alltagssprachlicher Texte] [DOK] 2.11 Röhl, Ernst (1991): Deutsch-Deutsch. Ein satirisches Wörterbuch von Ernst Röhl. (1. Aufl.; 5. erw. Aufl. 1994) Berlin: Eulenspiegel Verlag. [ LEX ] 2.12 * Schüddekopf, Charles (Hrsg.) (1990): „Wir sind das Volk! “ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Reinbeck: Rowohlt. [ DOK ] 2.13 Weidenfeld, Werner / Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.) (1992): Handwörterbuch zur deutschen Einheit. Frankfurt a.M.: Campus Verlag. [Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 1991] [ HDB ] Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 413 2.14 Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit. Hrsg.: Fröhling, Jörg / Meinel, Reinhild / Riha, Karl. Frankfurt a.M. usw.: Lang 1996. (= Bibliographie zur Literatur- und Mediengeschichte Bd. 6). [ BIB ] 2.15 * Wimmer, Micha / Proske, Christine / Braun, Sabine / Michalowski, Micha (Redaktion) (1990): „Wir sind das Volk! “ Die DDR im Aufbruch. Eine Chronik in Dokumenten und Bildern. München: Heyne (= Heyne Sachbuch Nr. 19/ 113). [ DOK ] 2.16 Wörterbuch der Staatssicherheit (1993): Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur „politisch-operativen Arbeit“; Reihe A Dokumente, Nr.1/ 93. Berlin 1993. [ DOK ] [ LEX ] 3 Literatur Gruppe 3: Sekundärliteratur zu Sprache und Kommunikation 3.1 Antos, Gerd / Schubert, Thomas (1997): Zum kommunikativen Verhalten von West- und Ostdeutschen. Eine Untersuchung am Beispiel von telefonischen Beratungsgesprächen. In: ZGL , Jg. 97 (i.V.) [Anm. d. Red.: Mittlerweile ersch. als: Antos, Gerd/ Schubert, Thomas (1997): Unterschiede in kommunikativen Mustern zwischen Ost und West. In: ZGL 25, S. 308-330.]. 3.2 Birkner, Karin / Kern, Friederike (1996): Deutsch-deutsche Reparaturversuche. Alltagsrhetorische Gestaltungsverfahren ostdeutscher Sprecherinnen und Sprecher im westdeutschen Aktivitätstyp „Bewerbungsgespräch“. In: GAL Bulletin - Zeitschrift für angewandte Linguistik H. 25/ 96, S. 53-76. 3.3 Böhm, Carl (1990): Der Broiler lebt. Die deutsche Sprache im Wandel zwischen DDR und BRD . Ergebnisse einer interdisziplinären Untersuchung im Bereich Jugendsprache in der mecklenburgischen Landeshauptstadt Schwerin im Sommer 1991. In: ZGL , H. 2/ 90, S. 320-340. 3.4 Bungarten, Theo (Hrsg.) (1994): Deutsch-deutsche Kommunikation in der Wirtschaftskooperation. Tostedt: Attikon Verl. (= Beiträge zur Wirtschaftskommunikation (Germanisches Seminar der Universität Hamburg) Bd. 6) [ SMB ] Darin u.a.: - Blei, Dagmar. „Altbundesdeutscher“ Spracherwerb in Ostdeutschland? Gemischtes und Vermischtes im Wortschatz der Ostdeutschen; S. 38-60; - Satzger, Axel: Deutsch-deutsch: Kommunikation miteinander oder übereinander? ; S. 61-68 (u.a. zur Rolle der Fachsprachen (bes. Wirtschaft); DU- DEN -Zählung; Positiv-Negativ-Konnotationen in Zeitungsüberschriften); Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 414 - Thomas, Alexander: Kulturelle Divergenzen in der deutsch-deutschen Wirtschaftskooperation; S. 69-89. 3.5 Bungarten, Theo (1994): Kommunikationspsychologische Barrieren in interkulturellen Managementkontakten. In: Bungarten, Theo (Hrsg.) (1994): Sprache und Kultur in der inter <28> kulturellen Marketingkommunikation; Tostedt: Attikon Verl. (= Beiträge zur Wirtschaftskommunikation (Germanisches Seminar der Universität Hamburg) Bd. 11 ); S. 24-33. 3.6 Burkhardt, Armin / Fritzsche, K. Peter (Hrsg.) (1992): Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“; Berlin - New York: de Gruyter (= Sprache, Politik und Öffentlichkeit Bd. 1.). [ SMB ] Darin u.a.: - Hopfer, Reinhard: Christa Wolfs Streit mit dem „großen Bruder“. Politische Diskurse der DDR im Herbst 1989; S. 111-133; - Reiher, Ruth: „Wir sind das Volk“. Sprachwissenschaftliche Überlegungen zu den Losungen des Herbstes 1989; S. 43-57; - Schäffner, Christina: Sprache des Umbruchs und ihre Übersetzung. Textanhang: Die Ansprache von Christa Wolf und ihre englische Übersetzung; S. 135-153; - Teubert, Wolfgang: Die Deutschen und ihre Identität; S. 233-252; - Volmert, Johannes: Auf der Suche nach einer neuen Rhetorik. Ansprachen auf den Massendemonstrationen Anfang November '89. Textanhang: Leipziger und Berliner Reden; S. 59-110. 3.7 Czy ewski, Marek / Gülich, Elisabeth / Hausendorf, Heiko / Kastner, Maria (Hrsg.) (1995): Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Kommunikative Prozesse nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Systemwandel in Ostmitteleuropa. Opladen: Westdt. Verlag. [ SMB ] Darin u.a.: - Fiehler, Reinhard: Die Wiedervereinigung als Kulturberührung. Ausarbeitung von wechselseitigen Kategorisierungen und von Beziehungsmodellen im massenmedialen deutsch-deutschen Diskurs; S. 328-347; - Paul, Ingwer: Schismogene Tendenzen des Mediendiskurses nach der deutschen Einheit; S. 297-327; - Wolf, Ricarda: Interaktive Fallen auf dem Weg zum vorurteilsfreien Dialog. Ein deutsch-deutscher Versuch; S. 203-231. 3.8 de Groot, Michaela (1992): Wortsemantische Divergenz und Konvergenz im Sprachgebrauch. Vergleichende Untersuchung zur DDR / BRD -Inhaltsspezifik vor und während des Umschwungs in der DDR ; Frankfurt a.M. u.a.: P. Lang. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe Deutsche Sprache und Literatur Bd. 1309). Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 415 3.9 Domaschnew, Anatoli I. (1991): Ade, DDR -Deutsch! Zum Abschluß einer sprachlichen Entwicklung. In: Muttersprache Bd. 101, S. 1-12. 3.10 Ensel, Leo (1995): „Warum wir uns nicht leiden mögen ...“ Was Ossis und Wessis voneinander halten. (= agenda Zeitlupe Bd. 1). 2. Aufl. Münster: agenda Verlag. 3.11 Eppler, Erhard (1992): Kavalleriepferde beim Hornsignal. Die Krise der Politik im Spiegel der Sprache; Frankfurt [a.M.] 1992. [Zur Sprache der SED bes. S. 37-62] 3.12 Fix, Ulla (1990): Der Wandel der Muster - Der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen. In: Deutsche Sprache 18, H. 4/ 90, S. 332-347. 3.13 Fix, Ulla (1992): ‘Noch breiter entfalten und noch wirksamer untermauern’. Die Beschreibung von Wörtern aus dem offiziellen Sprachverkehr der DDR nach den Bedingungen ihres Gebrauchs. In: Große, R. / Lerchner, G. / Schröder, M. (Hrsg.): Phraseologie, Wortbildung, Lexikologie. Festschrift für Wolfgang Fleischer zum 70. Geburtstag. Frankfurt a.M. u.a.: P. Lang, S. 13- 28. 3.14 Fix, Ulla (1993): Medientexte diesseits und jenseits der „Wende“. Das Beispiel ‘Leserbrief’. In: Biere, Bernd Ulrich / Henne, Helmut (Hrsg.): Sprache in den Medien nach 1945. (= Germanistische Linguistik Bd. 135), Tübingen: Niemeyer, S. 30-55. 3.15 Fix, Ulla (1994): Die Beherrschung der Kommunikation durch die Formel. Politisch gebrauchte rituelle Formeln im offiziellen Sprachgebrauch der „Vorwende“-Zeit in der DDR - Strukturen und Funktionen. In: Sandig, Barbara (Hrsg.): Studien zur Phraseologie und Parömiologie ( EUROPHRAS 1992: Tendenzen der Phraseologieforschung), Bochum: Brockmeyer, S. 139-153. 3.16 Fix, Ulla (1995): Texte mit doppeltem Boden? Diskursanalytische Untersuchung inklusiver und exklusiver personenbeurteilender Texte im Kommunikationskontext der DDR . In: Wo- <29> dak, Ruth / Kirsch, Fritz Peter (Hrsg.): Totalitäre Sprache - Langue de bois - Language of Dictatorship. Wien: Passagen Verlag, S. 71-92. 3.17 Fraas, Claudia (1990): Beobachtungen zur deutschen Lexik vor und nach der Wende. In: Deutschunterricht Jg. 43, H. 12/ 90, S. 595-599. 3.18 Fraas, Claudia / Steyer, Kathrin (1992): Sprache der Wende - Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Deutsche Sprache H. 3/ 1992, S. 172-184. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 416 3.19 Fraas, Claudia (1994): Kommunikationskonflikte vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungswelten. Eine Anmerkung zu Peter von Polenz, Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989, in ZGL 21, S. 127-149. In: ZGL 22/ 94, S. 87-90. 3.20 Fraas, Claudia (1996): Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE , im Diskurs zur deutschen Einheit. (= Studien zur deutschen Sprache Bd. 3), Tübingen: G. Narr. 3.21 Gaserow, Vera (1996): Die Vorurteile verhärteten sich. Schulklassen aus Ost und West sind sich in einem Punkt einig: Sie finden sich blöd. In: ZEIT Nr. 23, 31.5.96, S. 21. 3.22 GfdS (1993): Gesellschaft für deutsche Sprache (Hrsg.): Wörter und Unwörter. Sinniges und Unsinniges der deutschen Gegenwartssprache. Niederhauser/ Tns.: Falken-Verlag. [SMB] Darin u.a.: - Kühn, Ingrid: Straßennamen nach der Wende; S. 152-161; - Müller, Gerhard: Deutsch 1992. Bemerkungen zur Gegenwartssprache; S. 24-42. 3.23 GfdS (1994): Gesellschaft für deutsche Sprache (Hrsg.): Wörter und Unwörter. Sinniges und Unsinniges der deutschen Gegenwartssprache. Niederhauser/ Tns.: Falken-Verlag. [ SMB ] Darin u.a.: - Müller, Gerhard: "Besserwessi“ und „Jammerossi“, „Buschzulage“ und „Kohlonie“ - Reizwörter im vereinigten Deutschland; S. 34-52. 3.24 Hellmann, Manfred W. (1990): DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme. In: Muttersprache Jg. 100, H. 2-3/ 90, S. 266-286. 3.25 Hellmann, Manfred W. (1996): Lexikographische Erschließung des Wendekorpus (Werkstattbericht). In: Weber, Nico (Hrsg.): Semantik, Lexikographie und Computeranwendungen. (= Reihe Sprache und Information Bd. 23) Tübingen: Niemeyer, S. 195-216. 3.26 Henne, Helmut (1995): (Kommentar) Hassen. Legendieren. Abschöpfen. Das Wörterbuch der Staatssicherheit. In: ZGL 23.2, S. 210-214. 3.27 Herberg, Dieter (1995): Lexikalischer Wandel 1989/ 90. Zur Analyse von Schlüsselwörtern der Wendezeit. In: Sprachnormen und Sprachnormwandel in gegenwärtigen europäischen Sprachen. Beiträge zur gleichnamigen Fachkonferenz November 1994 am Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Rostock, hg. von Oskar Müller, Dieter Nerius u.a. (= Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft H. 1); Rostock: Universität Rostock, S. 109-114. Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 417 3.28 Herberg, Dieter / Steffens, Doris / Tellenbach, Elke (1996): Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache Bd. ? ), Berlin - New York: de Gruyter (i. Dr.). [Anm. d. Red.: Erschienen als Bd. 6/ 1997]. 3.29 Heringer, Hans Jürgen (1991): Wörter des Jahres 1991. In: SuL 22. Jg., Nr. 68 (2. Hj.), S. 107-115. [Zu Besserwessi, Abwicklung, Warteschleife und weiteren Beispielen aus der Wende- und Nachwendezeit.] 3.30 Heringer, Hans Jürgen (1992): Wörter des Jahres 1992. In: SuL 23. Jg., Nr. 70, (2. Hj.), S. 116-120. 3.31 Heringer, Hans Jürgen / Samson, Gunhild / Kauffmann, Michel / Bader, Wolfgang (Hrsg.) (1994): Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer. [ SMB ] Darin u.a.: - Eroms, Hans-Werner: Die deutsche Sprache hüben und drüben - drei Jahre nach der Wiedervereinigung; S. 23-40; - Heringer, Hans Jürgen: Das Stasi-Syndrom; S. 163-176; - Kauffmann, Michel: ‘Wende’ und ‘Wiedervereinigung’: Zwei Wörter machen Geschichte; S. 177-190. <30> 3.32 Hermanns, Fritz (1995): Deutsch und Deutschland. Zur Semantik deutscher nationaler Selbstbezeichnungswörter heute. In: Jäger, Ludwig (Hrsg.): Germanistik: Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung Weinheim: Beltz Athenäum, S. 374-389. 3.33 Hess-Lüttich, Ernest W.B. (Hrsg.) (1992): Medienkultur - Kulturkonflikt. Massenmedien in der interkulturellen und internationalen Kommunikation. Opladen: Westdt. Verlag. [ SMB ] Darin u.a.: - Gläser, Rosemarie: Gestalt- und Stilwandel in der kommerziellen Werbung der neuen Bundesländer; S. 189-211. 3.34 Hoffmann, Michael (1995): Filmwerbung zwischen Konventionalität und Originalität. Fortgesetzte Untersuchungen zum Kommunikationswandel in der DDR . In: Muttersprache H. 2/ 95, S. 97-118. 3.35 Kinne, Michael (1990): Deutsch 1989 in den Farben der DDR . Sprachlich Markantes aus der Zeit vor und nach der Wende. In: Der Sprachdienst Jg. 34, H. 1/ 90 S. 13-18. 3.36 Kinne, Michael (1991): DDR -Deutsch und Wendesprache. In: Der Sprachdienst Jg. 35, H. 2/ 91 S. 49-54. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 418 3.37 Kühn, Ingrid (1995): Lexik in alltagssprachlichen Textsorten. In: Deutschunterricht Jg. 48, H. 9, 1995, S. 411-417. [„Zur Sprache nach der Wende“ S. 411, „Belebung von DDR -Archaisimen“ S. 412, „Neue Lexik mit DDR - Äquivalent“ S. 413, zum Sprachgebrauch in Arbeitszeugnissen Ost + West S. 414ff.] 3.38 Kühn, Ingrid (1995a): Alltagssprachliche Textsortenstile. In: Stilfragen - Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1994, hg. von Gerhard Stickel. Berlin - New York: de Gruyter, S. 329-354. 3.39 Kühn, Ingrid (1995b): Decknamen. Zur Pragmatik von inoffiziellen Personenbenennungen. In: Namenforschung - Name Studies - Les noms propres - Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Hrsg. von Ernst Eichler / Georg Hilty u.a., 1. Teilband. Berlin - New York: de Gruyter, S. 515-520. 3.40 Lerchner, Gotthard (Hrsg.) (1992): Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende. Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang. (= Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte, Bd.1 [ SMB ] Darin u.a.: - Bergmann, Christian: Parteisprache und Parteidenken - Zum Sprachgebrauch des ZK der SED , S. 101-142; - Gärtner, Detlev: Vom Sekretärsdeutsch zur Kommerzsprache - Sprachmanipulation gestern und heute, S. 203-261; - Lerchner, Gotthard: Broiler, Plast(e) und Datsche machen nicht den Unterschied. Fremdheit und Toleranz in einer plurizentrischen deutschen Kommunikationskultur, S. 297-332; - Scherf, Fritz-Peter: Von der Technik bis zur Taiga; S. 167-188. 3.41 Marten-Finnis, Susanne (1994): Pressesprache zwischen Stalinismus und Demokratie. Parteijournalismus im „Neuen Deutschland“ 1946-1993. (= Medien in Forschung und Unterricht Serie A, Bd. 38); Tübingen: Niemeyer. 3.42 Moser, Hugo (1962): Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands. Düsseldorf: Schwann. (= Beiheft Nr. 3 zu Wirkendes Wort). 3.43 Müller, Gerhard (1992): Deutsch 1991. Bemerkungen zur Gegenwartssprache. In: Der Sprachdienst. H. 1/ 92, S. 1-26. 3.44 Oksaar, Els (1994): Zu den Verständigungsschwierigkeiten im gegenwärtigen Deutsch. Anmerkungen zur Diskussion über die gemeinsame Sprache nach der Einigung Deutschlands. In: ZGL 22 . Jg., H. 2/ 1994, S. 220-226. 3.45 Oschlies, Wolf (1990): „Vierzig zu Null im Klassenkampf? “ Sprachliche Bilanz von vier Jahrzehnten DDR . (= Deutschland-Report 199), Melle. Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 419 3.46 Reiher, Ruth / Läzer, Rüdiger (Hrsg.) (1993): Wer spricht das wahre Deutsch? Erkundungen zur Sprache im vereinigten Deutschland. Berlin: Aufbau Tb. Verl. [ SMB ] Darin u.a.: - Läzer, Rüdiger: Der gewendete Journalismus im Untergang der DDR . Zum Wandel von Strategien der Kommentierung innenpolitischer Konflikte; S. 87-106. <31> 3.47 Reiher, Ruth (Hrsg.) (1995): Sprache im Konflikt. Zur Rolle der Sprache in sozialen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen. Berlin - New York: de Gruyter. (= Sprache Politik Öffentlichkeit Bd. 5). [ SMB ] Darin u.a.: - Bresgen, Bert: Als das Wünschen noch geholfen hat. Semantische und symbolische Strategien im Gründungsaufruf des Neuen Forums; S. 277- 298; - Busse, Dietrich: Deutsche Nation. Zur Geschichte eines Leitbegriffs im Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung; S. 203-231; - Reiher, Ruth: Deutsch-deutscher Sprachwandel; S. 232-243. 3.48 * Schlosser, Horst Dieter (1990): Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen. Köln: Verl. Wissenschaft und Politik. 3.49 Schlosser, Horst Dieter (1991): Deutsche Teilung, deutsche Einheit und die Sprache der Deutschen. In: APUZ B 17/ 91, S. 13-21. 3.50 Schmider, Ekkehard (1990): Werbedeutsch in Ost und West. Die Sprache der Konsumwerbung in beiden Teilen Deutschlands - Ein Vergleich. Berlin: Berlin Verl. Arno Spitz. 3.51 Schütte, Wilfried (1990): ‘Live aus Leipzig’. Talkshows und die DDR -Revolution. In: Sprachreport ( IDS ) 1/ 90, S. 1-3. 3.52 Sommerfeldt, Karl-Ernst (Hrsg.) (1994): Sprache im Alltag - Beobachtungen zur Sprachkultur. (= Sprache - System und Tätigkeit Bd. 13). Frankfurt [a.M.], Berlin u.a.: P. Lang. [ SMB ] 3.53 Steyer, Kathrin (1997): Reformulierungen. Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs. (= Studien zur deutschen Sprache Bd. 6), Tübingen: G. Narr. 3.54 Teichmann, Christine (1991): Von der „langue de bois“ zur „Sprache der Wende“. In: Muttersprache H. 3/ 91, S. 252-265. 3.55 Teidge, Helga (1990): Sprachliche Veränderungen bei Wohnungsanzeigen. In: Sprachpflege und Sprachkultur; Jg. 39, H. 3/ 90, S. 77-80. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 420 3.56 Themenheft (1991): „Die deutsche Frage - Sprachwissenschaftliche Skizzen“: Zeitschrift „Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht“ (Hg.: G. Stötzel u.a., Düsseldorf), Bd. 67, Jg. 22/ 91. [ SMB ] Darin u.a.: - Good, Colin H.: Der Kampf geht weiter oder Die sprachlichen Selbstrettungsversuche des SED -Staates; S. 48-55. 3.57 * Themenheft (1993): „Sprache nach der Wende“: Zeitschrift „Muttersprache“ (Hrsg.: Gesellschaft für deutsche Sprache, Wiesbaden), Bd. 103, H. 3/ 93. [ SMB ] Darin u.a.: - Fraas, Claudia: Verständigungsschwierigkeiten der Deutschen (Diskussion); S. 260-263; - Good, Colin H.: Über die „Kultur des Mißverständnisses“ im vereinten Deutschland; S. 249-259; - Hellmann, Manfred W.: Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch; S. 186-218; - Schlosser, Horst Dieter: Die ins Leere befreite Sprache. Wende-Texte zwischen Euphorie und bundesdeutscher Wirklichkeit; S. 219-230. 3.58 Ungeheuer, Gerold (1972): Sprache als Informationsträger. In: Sprache - Brücke und Hindernis. 23 Beiträge nach einer Sendereihe des „Studio Heidelberg“ Süddeutscher Rundfunk; München: R. Piper Verl., S. 35-46. 3.59 * Welke, Klaus / Sauer, Wolfgang W. / Glück, Helmut (Hrsg.) (1992): Die deutsche Sprache nach der Wende. Hildesheim, Zürich, New York: Olms. (= Germanistische Linguistik Bd. 110-111) [ SMB ] Darin u.a.: - Fleischer, Wolfgang: DDR -typische Benennungen und ihre Perspektive; S. 15-34; - Glück, Helmut: Aktuelle Beobachtungen zum Namen „Deutsch“; S. 141- 171; - Reséndiz, Julia Liebe: Woran erkennen sich Ost- und Westdeutsche? Eine Spracheinstellungsstudie am Beispiel von Rundfunksendungen; S. 127- 140; <32> - Schlosser, Horst Dieter: Mentale und sprachliche Interferenzen beim Übergang der DDR von der Zentralplanwirtschaft zur Marktwirtschaft; S. 43-58. 3.60 Ylönen, Sabine (1992): Probleme deutsch-deutscher Kommunikation. Unterschiede im kommunikativen Verhalten zwischen Alt- und Neu-Bundesbürgern. In: Sprachreport H. 2-3/ 1992, S.17-20. Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung 421 4 Literatur aus Nachbargebieten 4.1 Becker, Peter (1992): Ostdeutsche und Westdeutsche auf dem Prüfstand psychologischer Tests. In: APUZ B 24/ 92, S. 27-36. 4.2 Brähler, Elmar / Richter, Horst-Eberhard (1995): Deutsche Befindlichkeiten im Ost-West-Vergleich. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. In: APUZ B 40-41/ 95, S. 13-20. 4.3 Brinkmann, Christian / Wiedemann, Eberhard (1994): Zu den psychosozialen Folgen der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. In: APUZ B 16/ 94, S. 16-28. 4.4 Eppelmann, Rainer (1995): Zur inneren Einheit Deutschlands im fünften Jahr nach der Vereinigung. In: APUZ B 40-41/ 95, S. 8-12. 4.5 Gebhardt, Winfried / Kamphausen, Georg (1994): Mentalitätsunterschiede im wiedervereinigten Deutschland? Das Beispiel zweier ländlicher Gemeinden. In: APUZ B 16/ 94, S. 29-39. 4.6 Gegen neue Mauern (1995/ 96): „Gegen neue Mauern“ - Ein soziales Experiment. Jugendliche aus dem Osten und Westen Deutschlands im Gespräch. Aufsätze und Studien. Teil 1: 1995, Teil 2: 1996. Hrsg.: GFAJ (Gesellschaft für angewandte Jugendforschung) e.V. (Eigendruck) Berlin; verantwortlich: Dr. Ursula Schirmer. 4.7 Grunenberg, Antonia (1990): Das Ende der Macht ist der Anfang der Literatur. Zum Streit um die SchriftstellerInnen in der DDR . In: APUZ B 44/ 90, S. 17-26. 4.8 Klose, Dagmar (1994): Prägungen und Wandlungen ostdeutscher Identitäten. In: APUZ B 41/ 94, S. 3-11. 4.9 Kocka, Jürgen (1995): Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht (Kleine Vandenhoek-Reihe 1576). [Reichhaltige Literaturangaben] 4.10 Ludes, Peter (1991): „Von mir hätten Sie immer nur die halbe Wahrheit bekommen“. Interviews mit Journalisten des Deutschen Fernsehfunks der DDR . In: APUZ B 17/ 91, S. 22-31. 4.11 Maaz, Hans-Joachim (1991): Das gestürzte Volk oder die unglückliche Einheit. Berlin: Argon Verlag. 4.12 Maaz, Hans-Joachim (1991a): Psychosoziale Aspekte im deutschen Einigungsprozeß. In: APUZ B 19/ 91, S. 3-10. 4.13 Meulemann, Heiner (1995): Aufholtendenzen und Systemeffekte. Eine Übersicht über Wertunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. In: APUZ B 40-41/ 95, S. 21-33. [Mit reichen Literaturangaben] Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 422 4.14 Pollack, Detlef (1995): Was ist aus den Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen der DDR geworden? In: APUZ B 40-41/ 95, S. 34-45. 4.15 SPIEGEL SPEZIAL (1991): Das Profil der Deutschen. Was sie vereint, was sie trennt. „ SPIEGEL“ -Sonderheft Nr. 1/ 1991, Hamburg. [Umfrageergebnisse, Porträts, Berichte, Analysen zu Deutschland und den Deutschen in Ost und West; auch zur Sprache (S. 34; S. 84) „Adieu ‘Genosse’“] Darin u.a.: - Hellmann, Manfred W.: Einigendes Band zerfasert? ; S. 82-85. 4.16 SPIEGEL (Hrsg.) (1995): Das Ost-Gefühl. Heimweh nach der alten Ordnung. Nr. 27/ 95. Darin u.a.: Stolz aufs eigene Leben; S. 40-64. [Zu Befindlichkeit, Verhalten, Orientierungen, Einstellungen von Ost-Deutschen in Umfragen und Interviews] 4.17 Thierse, Wolfgang (1995): Fünf Jahre deutsche Vereinigung: Wirtschaft - Gesellschaft - Mentalität. In: APUZ B 40-41/ 95, S. 3-7. 4.18 Uffelmann, Uwe (1994): Identitätsbildung und Geschichtsdidaktik. In: APUZ B 41/ 94, S. 12-20. 4.19 Wagner, Wolf (1996): Kulturschock Deutschland. Berlin: Rotbuch Verlag. 4.20 Zwahr, Hartmut (1993): Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR . 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Aus: Bäcker (Hg.): Das Wort - Germanistisches Jahrbuch 1998. (= DAAD Germanistisches Jahrbuch '89 GUS , Reihe Germanistik). Moskau, S. 51-69. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.] „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ - Zu Sprache und Kommunikation in Deutschland seit der Wende 1989/ 90 Es gibt zwischen Ost- und Westdeutschen sehr viele Dinge, über die man sich nicht einig ist. Es gibt einige, über die man sich weitgehend einig ist: u.a. darüber, daß Verstehen und Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschen schwieriger ist als erwartet, trotz der gemeinsamen Sprache. Diese ziemlich einhellige Meinung verwundert ein wenig, wenn man sich daran erinnert, dass vor der Wende gerade die Sprache als das wichtigste ‘einigende Band der Nation’ hervorgehoben wurde, auch von einigen Linguisten. Von einigen - die Mehrzahl war sich dessen bewusst, dass auch die Sprache selbst Unterschiede aufwies, nicht nur im Wortschatz, und auch nicht nur im offiziellen, systemnahen Wortschatz (dort besonders) und in bestimmten Fachsprachen, sondern auch schon in der Alltagssprache, in den Stilnormen, in den Registern („öffentliches/ halböffentliches/ privates“ Register 1 ) und deren Relationen zu einander. Und dass Verstehen und Verständigung zwischen Ost und West nicht so ganz problemlos gesichert sei, ist auch schon vor der Wende geäußert worden, obwohl es systematische Forschung zur Kommunikation zwischen West- und Ostdeutschen vor der Wende leider nicht gab. Seit der Vereinigung - besser gesagt: seit sich Menschen aus Ost und West immer häufiger auch im Alltag begegnen, setzt sich immer mehr die Auffassung durch, die ein ostdeutscher Schriftsteller auf die paradoxe Formel brachte: „Wir sind durch eine gemeinsame Sprache getrennt“. In nicht mehr zählbaren Varianten wird diese Auffassung landauf-landab wiederholt. Unter etwas anderem Aspekt spricht man auch von der ‘Mauer in den Köpfen’, die weiterbestehe oder sogar wachse, nachdem die wirkliche Mauer längst gefallen sei. Die empirische Sozialforschung und die Sozialpsychologie haben z.T. in wiederholten Untersuchungen Wichtiges (z.T. auch Widersprüchliches) herausgefunden zu den Einstellungen der Bürger in Ost und West, zu den <52> wechselseitigen Selbst- und Fremdbildern, den „Mentalitäten“ und Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 424 „Befindlichkeiten“ 2 , zur wechselseitigen Zuordnung von „Eigenschaften“, zur Bewertung des Verhaltens des jeweils anderen Partners 3 . Sehr viele - nicht alle - Untersuchungen stimmen im Ergebnis überein: Ost- und Westdeutsche empfinden einander als sehr unterschiedlich, als fremd; sie sind voller Vorbehalte gegen einander. Die Medien verbreiteten dieses Bild bis vor kurzem gern. Damit will ich nicht behaupten, sprachlich-kommunikative Fremdheit zwischen Ost- und Westbürgern sei eine Erfindung der Medien oder bloß ein Lieblingsthema von Linguisten und Sozialwissenschaftlern. Auch ganz normale Menschen sehen und empfinden das so, und zwar schon kurz nach der Maueröffnung. Das folgende Beispiel 4 stammt aus einer Talk-show des Senders Freies Berlin vom 9. März 1990 (also kurz vor der Volkskammerwahl); Titel der Sendung: „Countdown - Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft. Noch neun Tage bis zur DDR-Wahl“. Aufnahmeort ist das West-Berliner Studio des Senders, Moderatorin ist die Westdeutsche Amelie Fried (AF), der engere Diskutantenkreis besteht aus jungen Ostdeutschen und vier geladenen Gästen der am Wahlkampf beteiligten Parteien (meist Westdeutschen), das Publikum wahrscheinlich überwiegend aus Ostberlinern. Sprecher ist hier ein junger Ost-Berliner namens Gert Tacke (GT). Thema unmittelbar vor dem folgenden Gesprächsbeitrag waren materielle und immaterielle Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen junger DDR- Bürger (auch an die Parteien), darunter auch der Wunsch nach mehr Kontakten. GT weicht aber vom Thema ab und führt ein neues ein: das der Andersartigkeit des jeweiligen Landes und die Schwierigkeit, sich verständlich zu machen. Ich zitiere im Folgenden verkürzt und mit nur wenig Transkriptionsmarkierungen. GT : [...] und ich glaube daß da (>0.5) allein ein unwahrscheinliches Nachhole(0.5)bedürfnis besteht. Wir wissen eigentlich überhaupt nicht wie ihr hier lebt; ich glaube daß dieses Land ein völlig anderes ist als unseres. AF : ja was haste da bisher für Erfahrungen gemacht? - Da sind wir jetzt wieder an dem Punkt (eh) der ehemalige Klassenfeind [...] <53> GT : meine Erfahrungen sind einfach die, daß wenn wir über bestimmte Dinge reden [.] wir immer erklären müssen [.] wie wir das meinen; also wir sagen: (0.5) einen Satz und der wird (>0.5) rein inhaltlich verstanden, aber [.] was damit gemeint ist, ist immer sehr kompliziert. „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 425 AF : woran liegt das, daß ihr euch mit der gleichen Sprache nicht so ausdrücken könnt daß wir euch verstehen? GT : <lange gesprächseinleitende Pause (>2.0)> tja (0.5) woran liegt das - das wäre sicher ein abendfüllendes Gespräch - das weiß ich sicher [.] auch nicht ganz genau <Gesichtsausdruck, Handbewegungen der Ratlosigkeit> im einzelnen. AF : weiß es sonst jemand? warum gibt es Sprachschwierigkeiten zwischen euch und uns? Es gelingt der Moderatorin nicht, weitere Wortmeldungen zu diesem sie offenbar sehr interessierenden Unterthema zu erhalten. Das Unterthema wird abgebrochen. Der nächste Sprecher kehrt zum Hauptthema zurück und wendet sich an einen der anwesenden Partei-Vertreter (hier der PDS). Natürlich hat der junge Mann Recht, wenn er sagt, das wäre ein abendfüllendes Gesprächsthema, nicht geeignet für einen kurzen Redebeitrag in einer Talk-show. Sprache und/ oder Kommunikation zwischen Ost und West war Hauptthema auf mindestens 10 mehrtägigen Tagungen und Nebenthema auf zahlreichen weiteren; es gibt seit 1990 mehr als 500 einschlägige Veröffentlichungen, ohne dass man sagen könnte, das Thema sei ausgeschöpft. Es wird auch hier nicht ausgeschöpft. Ich möchte jetzt ein Beispiel für eine kommunikative Störung zeigen, deren Auslöser ein Wort ist, nämlich Reisekader. Der Video-Ausschnitt stammt aus einer Talk-show des westdeutschen Senders ZDF (Mainz) aus der Reihe „Doppelpunkt“ zum Thema „Wir hatten die Schnauze voll“ vom 13. September 1989, also noch vor der Wende und auf dem Höhepunkt der Massenausreisen. Junge DDR-Bürger wurden nach ihren Gründen gefragt, warum sie die DDR verlassen hatten. Moderator ist der Westdeutsche Michael Steinbrecher (MS), der innere Diskutantenkreis besteht aus jungen DDR- Übersiedlern, darunter die Sprecherin ANT (= Antonia), der erweiterte Kreis ebenfalls überwiegend aus solchen, darunter ein junger Mann (A2). Auf- <54> nahme- und Sendeort ist Mainz, die Zuschauer an den Bildschirmen sind folglich stark überwiegend Westdeutsche. Der Moderator hatte die Teilnehmer gebeten, auch ganz alltägliche Schwierigkeiten zu benennen, die als Fluchtmotiv in Frage kommen, und diverse Antworten erhalten. Danach wendet er sich an das Publikum im äußeren Kreis: Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 426 MS : ist noch was aus dem Publikum? <einem jungen Mann im äußeren Kreis wird das Mikrophon gereicht> A2 : <sehr zögernd> ich wollte eigentlich auch noch dazu sagen (0.5) zum Beispiel [.] bei mir war der Grund daß ich abgehauen bin [.] auf Grund dessen (>1.5) weil (>1.5) also man ist kein Reisekader gewesen <blickt herum> verstehen Sie? (1.0) als <unklare Bemerkungen im Hintergrund> A2 : junger Mensch (ist man) MS : <zu einem anderen Teilnehmer: > sag mal dazu <weitere Bemerkungen, Unruhe> MS : sag mal dazu ANT : ick war doch ooch keen Reisekader A2 : blockiert gewesen; man hat zum Beispiel Leute ausgetauscht (0.5) ja in dem Moment wo es in die Schweiz ging oder nach Frankreich [.] und denn wurde man einfach ausgetauscht; da wurde n älterer Mann (eh) hin- <55> bestellt und der ist denn für den anderen gefahren und das (.) war absolut unmöglich MS : ja - ist noch ne Stimme? Dieser Ausschnitt ist von Kreutz 5 mit den Mitteln der Gesprächsanalyse untersucht worden, und zwar im Hinblick darauf, welche sprachlich-kommunikativen Merkmale als auffällig gelten können und ob sie als typisch für (junge) ostdeutsche Sprecher gelten können. Dazu untersucht er Formen „kommunikativer Unsicherheit“ wie mehrfache Neuansätze, Reparaturen, Pausen, Formen des „hedging“ (also unpersönliche/ indirekte Ausdrucksweisen, Modalisierungen, Einschränkungen), wobei in der Tat auffällig das unerwartete „man“ statt „ich“ ist: „man ist ja kein Reisekader gewesen“ - eine Ausdrucksweise, die man bei Westdeutschen an dieser Stelle wohl kaum finden wird. Singulär ist die fast flehentlich klingende verständnissichernde Rückfrage „verstehen Sie? “ und sein Herumschauen, ob ihn vielleicht wirklich jemand versteht. Offenbar sieht sich der Sprecher A2 unter einem Erklärungsbzw. Rechtfertigungsdruck im Hinblick auf seine Fluchtgründe, hat aber gleichzeitig erhebliche Zweifel, ob seine Erklärung auch verstanden wird. In der Tat hat er Grund genug für seinen Zweifel. „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 427 Schlüsselwort dieser Passage ist zweifellos das Wort Reisekader. Meine Frage ist: Welche Chance hat der junge Mann, in dieser Situation mit diesem Redebeitrag verstanden zu werden? 1. Zum Wort Reisekader ist im westdeutschen Sprachgebrauch nicht geläufig und den bei weitem meisten Westdeutschen nicht bekannt. Es ist ein DDR-spezifisches Lexem, d.h. Ausdruck und Inhalt sind nur in der Kommunikationsgemeinschaft DDR bekannt und vertraut. Es ist auch als Wortbildung nicht durchsichtig: Zwar kann der Westdeutsche vermuten, dass das Wort etwas mit ‘Reisen’ zu tun hat, aber schon Kader ist in dieser Verwendung fremd: für Westdeutsche bezeichnet Kader eine Mehrzahl von Personen, eine Kernmannschaft z.B. im Sport, beim Militär, was hier aber nicht gemeint sein kann. Dass der Sprecher mit „man“ sich selbst meint, erschließt sich dem westdeutschen Hörer, der diese Form von Indirektheit nicht kennt, auch erst im zweiten Teil des turns, nach der Unterbrechung, was das Verständnis nicht gerade erleichtert. <56> 2. Bedeutung Als Bedeutung könnte man dem westdeutschen Hörer vielleicht anbieten: ‘DDR-Bürger - insbesondere qualifizierte Mitarbeiter in Betrieben und Institutionen, denen die Genehmigung erteilt wurde, dienstlich/ beruflich ins Ausland zu reisen’. Damit wäre aber noch nicht viel an Verständnis gewonnen, denn eine wesentliche Bedeutungspräzisierung fehlt noch: der Zusatz ‘Reisen ins westliche Ausland’ oder, wie es im Jargon hieß, ins NSW (= Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet) bzw. ins KA (= Kapitalistische Ausland). Das war das Entscheidende: Reisekader meint ‘West-Reisekader’. Hier kann der westdeutsche Hörer an vorhandenes Wissen anknüpfen: Allgemein bekannt war, dass DDR-Bürger normalerweise nicht in den Westen reisen durften, außer a) sie wären über 60 Jahre alt, b) in dringenden Familienangelegenheiten (z.B. Todesfälle von Verwandten), oder c) sie wären sehr prominent. Jetzt lernt der Westdeutsche hinzu: d) auch wenn sie von ihrem Betrieb/ ihrer Institution dazu ausersehen und beauftragt werden. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 428 Aber immer noch fehlt eine wichtige Bedeutungskomponente: Ein solches Privileg wurde - jedenfalls bis etwa 1986 - sehr selten und nur unter sehr strengen Voraussetzungen verliehen. Das ist deshalb wichtig, weil Reisen, auch dienstliche, für die Mehrzahl der Westdeutschen eine bare Selbstverständlichkeit sind. 3. Registerzuordnung Westdeutsche Hörer ostdeutscher Wörter sind, wie die Erfahrung lehrt, oft misstrauisch im Hinblick darauf, welchem Gebrauchsbereich ein ihnen nicht oder nur ungefähr bekanntes DDR-Wort zuzuordnen ist. Handelt es sich um ein ‘offizielles’ Wort, das man dem Sprachgebrauch der führenden Partei und des Staates zuordnen muss? Oder ist es eher ein technisch-funktionales Wort? Ein alltagssprachliches? Oder eher eines wie Bückware, mit dem sich DDR-Bürger über ihre real existierende Welt kritisch-ironisch lustig machten, wenn sie ‘unter sich’ waren? Je nach der Antwort bilden sich manche Westdeutsche eine Hypothese über den Sprecher als möglicherweise ‘systemnah’ oder nicht. Ich habe dazu die 22 Kolleginnen und Kollegen, die das Institut für deutsche Sprache (Mannheim) im Jahre 1991 aus Ostberlin und anderen Städten <57> der DDR übernommen hat, als ‘gelernte’ (und linguistisch geschulte) Ostdeutsche befragt, mit der Bitte, dieses Wort (und 120 weitere) einem oder mehreren der genannten ‘Register’ zuzuordnen (Mehrfachzuordnungen waren möglich und sehr häufig). Folgende Register standen zur Auswahl: - Register 1: offiziell, ‘Verlautbarungssprache’ - Register 2: eher betrieblich-funktional (z.B. in Betrieben und Institutionen, im Umgang mit Ämtern und Behörden) - Register 3: alltagssprachlich - Register 4: eher ironisch-kritisch bis subversiv Hier das vorläufige Ergebnis der Fragebogen-Auszählung (20 von 22 möglichen Fragebögen wurden ausgefüllt), wobei ich zum Vergleich einige weitere Wörter (Lexemspezifika bzw. Bedeutungsspezifika) hinzugefügt habe: „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 429 i Wort Register 1 Register 2 Register 3 Register 4 Gesamt Reisekader 18 15 13 (2) 28 Zielstellung 14 10 12 36 Werktätige 18 11 16 35 Kader 16 13 15 (2) 36 Brigade 17 12 14 33 Kollektiv 14 16 12 42 Territorium, territorial 14 18 17 29 Ökonomie 13 14 12 39 zur Kontrolle: <58> Wort Register 1 Register 2 Register 3 Register 4 Gesamt Apparatschik 1 4 20 24 Broiler 11 12 20 23 Dienstleistungskombinat 15 19 114 28 Friedensstaat 20 11 1 21 Bei allen Vorbehalten, die man bezüglich der Fragestellung selbst, der Trennschärfe der Kategorien (‘Register’) und der Repräsentativität der Befragtengruppe anmelden muss, zeigt das Ergebnis doch einige Tendenzen: Wie die jeweiligen Summen erkennen lassen, sind Mehrfachzuordnungen die Regel, allerdings nicht bei allen Wörtern gleich stark. Reisekader und Territorium haben relativ wenig Mehrfachzuordnungen, Ökonomie und Kollektiv besonders viele. Aber auch dort, wo Einfachzuordnungen überwiegen, Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 430 erfolgen diese nicht einheitlich. Reisekader z.B. wurde von zwei Befragten eindeutig nur dem Register 1 zugeordnet, drei andere ordneten dasselbe Wort eindeutig und nur dem Register 2 bzw. 3 zu. Die Regel sind solche Meinungsverschiedenheiten allerdings nicht; es überwiegen Mehrfachzuordnungen zu jeweils benachbarten Registern. Zur Kontrolle habe ich vier Wörter mit ausgezählt, bei denen ich eine sehr eindeutige Zuordnung zu einem der vier Register erwartet habe. Drei davon wurden in der Tat einhellig und fast ohne Mehrfachkreuzchen zugeordnet, nämlich Apparatschik dem Register 4, Broiler dem Register 3 und Friedensstaat dem Register 1. Bei Dienstleistungskombinat überraschen mich die Mehrfachkreuzchen auch bei Register 1, immerhin überwiegt erwartungsgemäß die Zuordnung zu Register 3. Reisekader zeigt wie auch Brigade eine nur schwache Tendenz zum offiziellen Register und eine stärkere zu Register 2 und 3; im Gegensatz dazu <59> zeigen Werktätige und Kader eine deutliche, nämlich ungefähr doppelt so starke Tendenz zum offiziellen Register und eine nur halb so starke zum alltagssprachlichen. Reisekader zeigt andererseits, nach Kollektiv, die zweitstärkste Tendenz zum Register 2, dem betrieblich-funktionalen. Zielstellung und Ökonomie nehmen eine Mittelstellung ein. Für unsere konkrete Frage bedeutet dies: Reisekader ist kaum ein Wort der ‘Verlautbarungssprache’, eher ein Wort der betrieblich-funktionalen und der alltäglichen Kommunikation. Dies bestätigt auch eine Vergleichsuntersuchung an den gespeicherten Textkorpora des Instituts für deutsche Sprache: Im „Bonner Zeitungskorpus“ 6 , das u.a. etwa 1,5 Mio laufende Textwörter aus dem SED-Zentralorgan Neues Deutschland (ND) enthält, ist Reisekader nicht belegt (das Simplex Kader dagegen sehr häufig); im „Wendekorpus“ des Instituts für deutsche Sprache 7 , das ungefähr gleich viel Ost-Texte aus dem Zeitraum Sommer 1989 bis Ende 1990 enthält, ist Reisekader mehrfach in Westtexten und späteren Texten der Volkskammer belegt, aber nur einmal im Neuen Deutschland, und zwar im November 1989 (also während der Wende): in dem Beleg wird gefordert, besonders für junge Wissenschaftler den Status des Reisekaders abzuschaffen, um Kommunikationshemmnisse mit dem Ausland zu beseitigen. „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 431 Ein ‘offizielles’ Wort war Reisekader bis zur Wende also nicht; offenbar wurden die betreffenden Personen amtlich (intern) anders bezeichnet. Wenn Sprecher A2 dieses Wort gebraucht, ist daraus jedenfalls nicht auf besondere Systemnähe des Sprechers zu schließen. 4. Konnotationen Dennoch fehlt dem Westdeutschen immer noch Wichtiges zum Verständnis: Gerade weil Westreisen eine so seltene Ausnahme waren, verknüpften sich für viele DDR-Bürger mit dem Begriff ‘Reisekader’ intensive Gefühlskomponenten, Konnotationen: Gerade die generelle Verweigerung von Westreisemöglichkeiten machte den Westen zum Ziel der Sehnsucht für Millionen und dessen Verweigerung zur Quelle von Frust und des Gefühls der Zurücksetzung. Reisekader zu werden war bis etwa 1986/ 87 für alle jüngeren Bürger, die nicht über eine Oma im Westen verfügten, die einzige Möglichkeit, das Traumland ‘Westen’ vor dem Rentenalter legal erleben zu dürfen. Und die Erfahrung, dass andere dieses Privileg erhielten, man selbst aber <60> nicht, war oft genug Anlass zu Neid und der stillen Frage „Wie hat der das nur geschafft? “ 5. Lebenspraktischer Hintergrund Aber selbst wenn ein Westdeutscher alle diese Informationen hat - aber woher soll er sie haben? - bleibt immer noch vieles ungeklärt. Z.B. die Bedingungen, zu denen jemand Reisekader werden konnte. Er musste zum einen beruflich sehr gut qualifiziert sein und von seiner Institution auch so eingeschätzt werden. Er musste aber vor allen Dingen ‘vertrauenswürdig’, ‘bewährt’ und ‘zuverlässig’ sein, und zwar zuverlässig in den Augen nicht nur der Institution, sondern vor allem der Staatsmacht, genauer: der Staatssicherheit. Konnte die Institution davon ausgehen, wurde der Mitarbeiter (d.h. sein Antrag) ‘eingereicht’. Dann begann die eigentliche Prüfung. Eine Chance hatten nur Bewerber, die sich über lange Jahre als staatsloyal und ideologisch zuverlässig erwiesen hatten (also schon deshalb keine jungen Leute), möglichst Familie hatten, aber keine Westverwandtschaft und auch nicht die falschen Freunde, nicht der Kirche oder sonst einer unbequemen Gruppierung angehörten und generell nicht unangenehm aufgefallen waren - kurz: die Gewähr boten, ihren Staat im Ausland loyal zu vertreten und auf jeden Fall in die DDR zurückzukehren. Hinzu kam, dass Reisekader über Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 432 jede Begegnung im Ausland Bericht zu erstatten hatten, auf Verlangen auch über das Verhalten der mitreisenden Kollegen, denn ein Reisekader reiste fast nie allein. Damit stand der mögliche Reisekader schon vor der Antragstellung vor dem Dilemma: stellt er den Antrag, muss er sich der Staatsmacht gegenüber als 100-prozentig loyal darstellen, seinen gesamten Bekanntenkreis offenlegen und darauf gefasst sein, auch über seine Kollegen Berichte schreiben zu müssen. Und er weiß: das wissen auch alle anderen. Stellt er den Antrag und wird er sogar genehmigt, gilt er als Privilegierter des Staates - und dies hat zur Folge, dass sich wahrscheinlich mancher seiner Kollegen und Bekannten von ihm distanzieren wird. Ist er zu all dem bereit? Ist er nicht dazu bereit, verzichtet er für Jahrzehnte auf das ersehnte Gut ‘Westreisen’; er wird erleben, dass andere, vielleicht weniger qualifizierte, aber eben ‘zuverlässige’ Kollegen ihm vorgezogen werden. Welcher Westdeutsche weiß oder kann nachvollziehen, welches schlimme lebenspraktische Dilemma sich also mit dem Wunsch verbinden kann, Reisekader zu werden? <61> Alles dies ist DDR-Bürgern natürlich bekannt; es steht als Sprachwissen, als Sachwissen und als Teil des gesellschaftsspezifischen Hintergrundwissens jedem zur Verfügung. Alles dies ist Westdeutschen in aller Regel nicht bekannt - woher auch! Welche Chance hat also der junge Mann, hier verstanden zu werden? Er wird zunächst sogar von der Sprecherin ANT, auch eine junge DDR- Bürgerin, missverstanden. Ursache ist die Tatsache, dass alle Äußerungen in dieser Runde mehrfach adressiert sind: an die anwesenden DDR-Bürger, an die westdeutsche Moderatorin und die übrigen Westdeutschen im inneren Kreis, ferner an die unsichtbaren, aber dennoch virtuell präsenten Zuschauer dieses West-Senders. Die Sprecherin ANT versteht die Äußerung als an sich gerichtet und reagiert distanzierend: „Ick war doch ooch keen Reisekader! “. Sie unterstellt also, der Sprecher A2 habe sein Schicksal, nicht Reisekader gewesen zu sein, als außergewöhnlichen Nachteil darstellen wollen, der ihn zum Verlassen der DDR veranlasst habe. Aber tatsächlich waren ja die meisten - auch sie - nicht Reisekader, also was soll's? Das scheint ihr ‘normal’, also kein ausreichender Fluchtgrund. Auch andere Teilnehmer werden an dieser Stelle unruhig. Sprecher A2 muss befürchten, vielleicht als jemand „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 433 missverstanden zu werden, der sich nur aufspielen will. Er setzt deshalb noch einmal an und schiebt eine Erklärung nach: er sei „als junger Mensch“ „blockiert“ gewesen, gegen Ältere „ausgetauscht“ worden; d.h. er hatte sich bemüht, Reisekader zu werden, war aber nicht berücksichtigt worden. Diese Erfahrung der Zurücksetzung und das Wissen, dass sich dies nie ändern würde, dass er als junger Mensch also bis zum Rentenalter auf Westreisen und das Ende seiner „Blockierung“ würde warten müssen - dies empfindet er als „absolut unmöglich“, als inakzeptabel. Hiermit mag er sich den anderen DDR-Bürgern vielleicht verständlich gemacht haben - den Westdeutschen gegenüber wohl kaum: Das Defizit an Sprach-, Sach- und gesellschaftlichem Hintergrundwissen ist mit diesen kurzen Ergänzungen nicht aufzufüllen. Wie durchaus anders eine ganz ähnliche Äußerung unter anderen Bedingungen rezipiert wird, zeigt der dritte Ausschnitt. Er stammt aus der DDR- Sendereihe „elf 99“ vom 10. Februar 1990; Teilnehmer sind DDR-Bürger verschiedenen Alters, Moderator (M) ist ein Ostdeutscher; Gesprächspartner in dieser Sequenz ist ein Herr Peter (P), Sprecher der Homosexuellen Aktion Erfurt. Thema: „Benachteiligte kommen zu Wort“. <62> P: und wir wollen auch die Rehabilitierung der Bürger, die praktisch durch die antidiskrimi(0.1)nierende Gesetzgebung im (0.1) Sozialismus bis vor der Wende zu Schaden gekommen sind. Beispielsweise ich selbst hab - bin also selbst noch an einer Klinik ader Akademie <Räuspern> gewesen - insofern benachteiligt worden, daß es mir verwehrt wurde Reisekader zu werden. Ja ich bin eingereicht worden, aber ich [...] M: ja nun haben wir inzwischen ja bald zwölf Millionen Reisekader, nun ist es ja kein Problem mehr <Heiterkeit im Publikum> P: <lächelnd> mhm ja das Problem hat sich von selbst jetzt erledigt ja Auch dieser junge Mann hatte sich bemüht, Reisekader zu werden, war sogar von seinem Betrieb „eingereicht“ worden, aber auf Grund seiner dem Staat bekannten Homosexualität „diskriminiert“, d.h. nicht berücksichtigt worden. In dieser Umgebung - Ostsender, Ost-Moderator und Ost-Zuhörer - braucht er nichts weiter zu erklären: Jedem der Anwesenden ist die Bedeutung und der lebensweltliche Hintergrund seiner Äußerung vertraut; jedem ist klar, dass er als Angehöriger einer unerwünschten Minderheit in der DDR keine Chance hatte, das begehrte Privileg der Westreisen zu erhalten. Er kann vol- Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 434 les Verständnis erwarten, fühlt sich daher nicht unter Erklärungsdruck und bleibt locker und gelassen. Die ebenfalls gelassene Reaktion des Publikums bestätigt ihm dies, mehr noch die versöhnend-humorvolle Bemerkung des Moderators „Nun haben wir inzwischen ja bald 12 Millionen Reisekader - nun ist es ja kein Problem mehr“ - was das Publikum mit sanfter Heiterkeit und der Sprecher P mit einer bestätigenden Wiederholung quittiert. Ich habe diese Talk-show-Auszüge deshalb so ausführlich behandelt, weil ich damit auf einen Aspekt hinweisen möchte, der in der bisherigen Diskussion - auch in meinen eigenen Beiträgen - bisher wohl zu kurz gekommen ist: den Aspekt der Wissensdefizite auf allen kommunikativ relevanten Ebenen bei den Westdeutschen, wenn sie mit Ostdeutschen reden. Beobachtet und oft - auch kritisch - kommentiert wurde andersartiges kommunikatives Verhalten von Westdeutschen, nämlich als Dominanzverhalten, als verletzende Direktheit bis <63> zur verbalen Aggressivität, als Tendenz zur monologisierenden Belehrung bis hin zur Besserwisserei, als ein oft sehr geringes Bemühen, sich in die Gedankenwelt des Partners hineinzuversetzen. Dazu finden sich in der wissenschaftlichen Literatur, aber auch in den Medien Beispiele genug. Das alles sei vorläufig unbestritten. Ungeklärt scheint mir die Frage, in wie weit all dies auf Wissensdefizite zurückzuführen ist und welcher Art sie sind. Dem könnte sich die Frage anschließen - wenn man denn unbedingt auf Schuldzuweisungen beharren möchte -, ob solche Defizite unvermeidlich, das heißt vom guten Willen zunächst unbeeinflussbar sind, oder ob sie auf Desinteresse, auf Ignoranz oder Arroganz beruhen, die es natürlich auch gibt. Zwei weitere Beispiele mögen dies verdeutlichen, die ich aber nur zur Diskussion stellen, nicht analysieren kann: Fraas (1993) berichtet, einen Artikel der Zeit zitierend, Folgendes: Am Rande eines Soziologenkongresses in Düsseldorf hätten Ost- und Westdeutsche u.a. über Intellektuelle und ihre Rolle in der jeweiligen Gesellschaft, besonders der DDR, diskutiert, und zwar zunächst freundlich und konsensorientiert. Dann aber sei es zu einem Eklat gekommen: Ein westdeutscher Teilnehmer habe in der Diskussion erklärt, man dürfe den Begriff des Intellektuellen nicht derartig ausdehnen, „daß sich jeder dazuzählen könnte, der einige Erfahrungen mit dem Lesen und Schreiben von Texten besitze“; er fuhr fort: „Intellektuelle - die gab es doch bei Ihnen gar nicht! “ (Fraas 1993: 262) - Die Entrüstung bei den Ost-Teilnehmern war allgemein. „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 435 Natürlich kann man jetzt darauf hinweisen, dass Intellektuelle eher ein West- Wort ist, während man in der DDR eher Intelligenz gebrauchte; ferner darauf, dass die denotative, konnotative und die referentielle Bedeutung beider Wörter nicht voll deckungsgleich sind, weil die gesellschaftlichen Funktionen der so bezeichneten Gruppen in Ost und West und ihr Selbstverständnis sehr verschieden sind. Man könnte die Richtigkeit der Behauptung bestreiten und auf DDR-Intellektuelle wie Havemann oder Bahro verweisen. Das wäre Teil einer Diskussion über Wissens-Defizite vielleicht auf beiden Seiten. Aber in dieser Situation kam es darauf nicht mehr an: So gesagt und hier gesagt musste eine solche Äußerung als Provokation, als arrogant und besserwisserisch wirken. Die Diskussion war beendet, bevor sie richtig begonnen hatte. Ein zweites Beispiel: Im Deutschen Bundestag gebrauchte ein ostdeutscher Abgeordneter in einer Rede den Ausdruck Zielstellung. Darauf wurde er von einem westdeutschen Abgeordenten mit dem Zwischenruf unterbrochen <64> „Das heißt hier Zielsetzung! “. Wieder kann man sich die empörte Reaktion des Betroffenen denken. Was ist hier passiert? Tut sich hier eine große Wissenslücke beim westdeutschen Abgeordneten auf, vielleicht eine falsche Registerzuordnung? Hält er Zielstellung für ein ‘Partei-Wort’ - was es nicht oder nicht in erster Linie ist? Oder beharrt er darauf, dass nur die westdeutsche Sprachnorm bzw. Bezeichnungsnorm gilt und alle anderen sich ihr anzupassen haben? Ist der Zwischenruf einfach nur Ausdruck von Arroganz eines Hinterbänklers? Defizite wurden bisher ganz überwiegend bei den Ostdeutschen gesehen und erforscht: Defizite im Wortschatz und Wortgebrauch, in der Kenntnis des westdeutschen politischen, wirtschaftlichen, sozialen Systems und deren Bezeichnungen, in der Kenntnis westdeutscher Textmuster (z.B. Bewerbungsschreiben, Geschäftsbriefe, Arbeitnehmer-Zeugnisse) oder kommunikativer Normen in Gesprächssituationstypen wie Verkaufs- oder Beratungsgespräch, Gerichtsverhandlung, Bewerbungsgespräch, von den zahlreichen neuen Formularen ganz zu schweigen. Die Fachliteratur beschäftigt sich zu einem wesentlichen Teil mit der Beschreibung des Prozesses sprachlicher und kommunikativer Anpassung an die neuen, von der BRD geprägten Gegebenheiten, d.h. mit dem Prozess des Auffüllens von ‘Defiziten’. Allein im Bereich des Wortschatzes, so sagen verschiedene Schätzungen, haben die Ostdeutschen in den ersten drei bis vier Jahren seit der Wende etwa 2000 bis 3000 lexikalische Einheiten neu oder in anderer Bedeutung ‘gelernt’, d.h. vom Westen übernommen 8 . Die Fachwortschätze im engeren Sinne sind da- Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 436 rin noch nicht enthalten. Eine bewundernswerte Leistung, wie ich meine, und zugleich ein Zeichen für eine - trotz vieler Enttäuschungen im Osten - bemerkenswerte Lern- und Anpassungsbereitschaft. Die lexikalischen Übernahmen der Westdeutschen aus dem ostdeutschen Sprachgebrauch dagegen lassen sich noch ungefähr an den Fingern einer Hand abzählen; eine etwas größere Anzahl ist passiv bekannt. Ich übernehme die folgende Auswahl (leicht modifiziert) aus früheren Veröffentlichungen 9 : abnicken: westdt.: ‘(einen Plan, einen Vorschlag, ein Konzept) absegnen’; der Ausdruck macht den Vorgang sehr plastisch nachvollziehbar; inzwischen auch westdt. verbreitet. andenken/ angedacht: ‘sich erste Gedanken machen über etwas’; (meist im Partizip Perfekt: ) „das haben wir schon mal angedacht; ... ist erst ange- <65> dacht worden“ o.Ä. Auch im Westen inzwischen sehr weit verbreitet; eine der erfolgreichsten Übernahmen aus dem Osten. Broiler: ‘Brathähnchen’; beide Bezeichnungen waren in der DDR geläufig. Nach vorübergehendem Rückgang jetzt wieder verstärkt in Gebrauch. An Ostberliner Restaurants finden sich Schilder: „Hier können Sie Broiler sagen“. In Bautzen sah ich 1997 an einem Restaurant das Schild: „1/ 2 Broilerkeule DM 3,80“. Im Westen als DDR-Wort bekannt, aber wenig geläufig. Datsche: ‘Wochenendhaus’ (eine der wenigen erfolgreichen Übernahmen aus dem Russischen in die Alltagssprache der DDR); in der DDR auch (selbstironisch) für jede Art von Freizeithaus verwendet; westdt. ebenfalls (als DDR-Wort) weit bekannt (oft als Datscha). Fakt: in der Wendung Fakt ist: ..., das ist (doch) Fakt; schon seit Ulbricht im Sprachgebrauch der DDR nachweisbar, später auch alltagssprachlich; im Westen vor der Wende nachweisbar, aber selten; seit der Wende häufiger. geschuldet sein: ‘etwas ist dem ... zu verdanken’ (mit Dativ); z.B. „Der schnelle Zusammenbruch der DDR ist nicht zuletzt ihrer desolaten Wirtschaftslage geschuldet“. Der Ausdruck ist zwar schon im Grimmschen Wörterbuch belegt, war aber im Westen äußerst selten; in den neuen Bundesländern bis heute sehr geläufig. „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 437 (in) Größenordnungen: im Sinne von ‘in großem/ in erheblichem Umfang’; z.B. „Auch bei uns wurden Leute in Größenordnungen entlassen“. In den neuen Bundesländern bis heute (umgangssprachlich) weit verbreitet. Kollektiv: westdt. ‘Team’, ‘(Arbeits)Gruppe’, ‘Belegschaft’. Besonders in Zusammensetzungen in den neuen Bundesländern weiterhin gebräuchlich (Autorenkollektiv, Lehrerkollektiv, Arbeitskollektiv, Klassenkollektiv, Schülerkollektiv u.Ä.). Im Westen wird Kollektiv meist negativ konnotiert. Lehrling: westdt. ‘Auszubildender/ Azubi’. In der Sprache der Behörden und Tarifverträge der neuen Bundesländer wird der westdeutsche Ausdruck verwendet, umgangssprachlich dominiert bei weitem der ostdeutsche (früher gesamtdeutsche). Es scheint, als werde unter diesem Einfluss auch in Westdeutschland der Lehrling wieder häufiger. orientieren: (jemanden) orientieren auf etwas: im Sinne von ‘jemandem eine Richtlinie geben für/ in Bezug auf etwas’. In westdeutschem Sprachgebrauch konnte man bisher nur sich oder jemanden über etwas orientieren oder (sich) an etwas orientieren. Inzwischen auch westdt. (selten) belegt; der Vorgang des Richtlinien-Gebens kommt hierin unscharf, aber unüberhörbar zum Ausdruck. In den neuen Bundesländern weiterhin weit verbreitet. <66> Raum: 3-Raum-Wohnung statt „3-Zimmer-Wohnung“ oder „2-1/ 2-Zimmer- Wohnung“. In Wohnungsanzeigen der neuen Bundesländer weiterhin weit verbreitet, wenngleich „-Zimmer-“ zunimmt. rekonstruieren/ Rekonstruktion: auch für Betriebe, Anlagen, Gebäude, Straßen etc. im Sinne von ‘(grundlegend) modernisieren/ sanieren’: nach vorübergehendem Rückgang jetzt gelegentlich wieder in Gebrauch; deutlich als DDR-typisch markiert, im Westen in dieser Bedeutung ungebräuchlich. Strecke: auf dieser Strecke: im Sinne von ‘in dieser Hinsicht/ auf diesem Gebiet’. Umgangssprachlich im Osten geläufig; neuerdings auch (selten) im Westen, z.B. „Schlagzeug ist nicht meine Hauptstrecke“; „auf der PC-Strecke war die DDR besonders weit zurück“; „Ost-West- Sprachvergleich - das ist doch deine Strecke! “ (ein Kollege zu mir). Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 438 Zielstellung: westdt. ‘Zielsetzung’. In den neuen Bundesländern ganz alltagssprachlich; im Westen als DDR-Wort markiert, aber weitgehend ungebräuchlich. Das Hauptproblem heute, sieben Jahre nach der Vereinigung, sind sicher nicht mehr die Wortschatz- und Wortgebrauchsdifferenzen. Zumindest die Ostdeutschen haben ihren Teil der erforderlichen Anpassung geleistet. Zu einem geringen Teil beharren sie auf den ihnen vertrauten Wörtern, statt die westdeutschen Bezeichnungen zu übernehmen, wie z.B. Kaufhalle (neben Supermarkt), Broiler (neben Brathähnchen), 3-Raum-Wohnung (neben 3-Zimmer-Wohnung), Zielstellung (neben Zielsetzung) und andere. Reiher (1997) hat kürzlich festgestellt, dass solche Prozesse der Anpassung bzw. des Beharrens unterschiedlich schnell und nicht ohne Widersprüche verlaufen. Für solches Verhalten des Beharrens auf Vertrautem, Altgewohntem wird vielfach der (halbironische) Begriff ‘Ostalgie’ verwendet. Wenn damit suggeriert werden soll, die sich so Verhaltenden wünschten sich die alte DDR zurück, geht das m.E. in die Irre: es handelt sich wohl eher um eine Form der Abwehr allzu forcierten Anpassungsdrucks, eher um Selbstbehauptung als um Rückwendung. Mit solchen Bezeichnungsdoubletten und anderen Spezifika aus dem Alltagssprachgebrauch der DDR werden wir uns als Regionalismen zu arrangieren haben. Das (meist) unausgesprochene Verlangen vieler Westdeutscher - bis tief in die politische Führungsschicht hinein -, die Ostdeutschen sollten sich sprachlich-kommunikativ (und auch sonst) bruchlos den westdeutschen Gewohnheiten anpassen, ist ohnehin ahistorisch. Wann je war der Sprach- <67> gebrauch in Deutschland oder auch nur in Westdeutschland einheitlich? Wann je hätten sich süddeutsche Katholiken darüber aufgeregt, dass norddeutsche Protestanten Sonnabend statt Samstag, Schlachter statt Metzger oder Klempner statt Spengler sagen? Die Liste der Regionalismen zwischen Nordsee und Alpen ist sicherlich größer als die der noch verbleibenden ost/ westdeutschen Spezifika. In der Regel wird dies als Reichtum der deutschen Sprache begriffen, nicht als Abweichung, die bekämpft werden müsste. Es ist ohnehin unsinnig zu erwarten, dass mehr als vierzigjährige Unterschiedlichkeit in Mentalitäten, Einstellungen, Kommunikationsverhalten, Wortschatz und Wortgebrauch sich in wenigen Jahren ausgleichen würden. Noch unsinniger ist die Erwar- „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 439 tung, dass dieser Ausgleich allein von den Ostdeutschen zu erbringen sei. Sie haben in der Tat ihren Teil dazu getan - mit Bravour, wie ich meine. Es liegt an uns allen, den Rest zu tun, nämlich Unterschiedlichkeit als normal zu akzeptieren. Literatur Blei, Dagmar (1994): „‘Altbundesdeutscher’ Spracherwerb in Ostdeutschland? Gemischtes und Vermischtes im Wortschatz der Ostdeutschen.“ In: Baumgarten, Theo (ed.) (1994): Deutsch-deutsche Kommunikation in der Wirtschaftskooperation. (Beiträge zur Wirtschaftskommunikation Bd. 6). Tostedt. (38-60). Eroms, Hans Werner (1997): „Sprachliche ‘Befindlichkeiten’ der Deutschen in Ost und West“, in: Der Deutschunterricht, 1, 1997; 6-16. (= Themenheft „Sprachwandel nach 1989“, hg. von Eva Neuland). Fraas, Claudia (1993): „Verständigungsschwierigkeiten der Deutschen“, in: Muttersprache, 3, 1993; 260-263. Fraas, Claudia / Steyer, Kathrin (1992): „Sprache der Wende - Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch“, in: Deutsche Sprache, 2, 1992; 172-184. Hellmann, Manfred W. (1990): „DDR-Sprachgebrauch nach der Wende - Eine erste Bestandsaufnahme“, in: Muttersprache, 2-3, 1990; 266-286 [= Beitrag Nr. 11 in diesem Band]. <68> Hellmann, Manfred W. (1996): „Lexikographische Erschließung des Wendekorpus [Werkstattbericht].“ In: Weber, Nico (ed.) (1996): Semantik, Lexikographie und Computeranwendungen. (Reihe Sprache und Information Bd. 23). Tübingen. (195-216). Hellmann, Manfred W. (1997a): „Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung“, in: Der Deutschunterricht, 1, 1997; 17-32; hier bes. S. 23 und S. 32 [= Beitrag Nr. 16 in diesem Band]. Hellmann, Manfred W. (1997b): „Sprach- und Kommunikationsprobleme in Deutschland Ost und West.“ In: Akademie für Politik und Zeitgeschichte der Hanns- Seidel-Stiftung (ed.) (1997b): Sprache im Gespräch. Zu Normen, Gebrauch und Wandel der deutschen Sprache. (Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung München Bd. 72, Reihe Kulturpolitik). München. [Wieder abgedruckt in: Hellmann, Manfred W. / Schröder, Marianne (Hg.) unt. Mitarb. von Ulla Fix (2008): Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West - ein Reader zu fünfzig Jahren Forschung. (= Germanistische Linguistik 194/ 195). Hildesheim/ Zürich/ New York [in Vorbereitung], MWH ]. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 440 Herberg, Dieter / Stickel, Gerhard (1992): „Gesamtdeutsche Korpusinitiative. Ein Dokumentationsprojekt zur Sprachentwicklung 1989/ 90“, in: Deutsche Sprache, 2, 1992; 185-192. Reiher, Ruth (1997): „Dreiraum versus Dreizimmerwohnung. Zum Sprachgebrauch der Ostdeutschen“, in: Der Deutschunterricht, 1, 1997: 42-49. 1 Vgl. Fraas / Steyer (1992): Die Autorinnen unterscheiden für die DDR den „öffentlichen/ halböffentlichen/ privat-zwischenmenschlichen Diskurs“ und ordnen jedem der drei Bereiche eine „spezifische Art des Informationstransfers und der Konstituierung spezifischer Bewertungsmuster“ zu. Der „öffentliche Diskurs“ stelle eine „fast autarke Kommunikationswelt dar, die zu keiner Zeit [...] repräsentativ für das Deutsche in der DDR war“. Der „halböffentliche“ Bereich sei vor allem durch „alltagssprachliche Elemente“ geprägt, daneben spielten aber auch „Elemente der öfffentlichen Rede“ eine Rolle. - Ich versuche in diesem Aufsatz ein viergliedriges Modell kommunikativer Bereiche, denen ich sprachliche (hier lexikalische und stilistische) Register zuordne. 2 Zu „Befindlichkeiten“ vgl. auch Eroms (1997). 3 Eine Literaturübersicht dazu bei Hellmann (1997a). 4 Dieses und die übrigen Transkripte stammen nicht von mir, sondern aus zwei Referaten, die im Juni 1996 auf einem Symposium zu deutsch-deutschen Kommunikationsbarrieren in Conway / New Hampshire ( USA ) vorgetragen wurden. Transkript Nr. 1 und 2: Heinz Kreutz (Monash University, Melbourne / Australien): „Ost-West-Kommunikation in deutschen Talk-shows 1: Aspects of communicative <69> uncertainty in the language of young East Germans during the Wende“; Transkript Nr. 3: Grit Liebscher (Univ. of Austin / Texas): „Ost-West- Kommunikation in deutschen Talk-shows 2: Reparatur, Mehraufwand und Bedeutungsunterschiede in der Interaktion“. - Die Transkripte sind nicht ganz fehlerfrei, jedoch sind die Abweichungen hier unerheblich. Die drei Video-Mitschnitte entstammen dem im Institut für deutsche Sprache verfügbaren Video-Korpus „Inszenierte direkte Kommunikation in den Medien“. Ich danke Wilfried Schütte herzlich für schnelle und kompetente kollegiale Hilfe bei der Bereitstellung der Video-Bänder. 5 Vgl. Anm. 4. 6 Das „Bonner Zeitungskorpus“ enthält in repräsentativer Auswahl Texte der Tageszeitungen Die Welt und Neues Deutschland in sechs Jahrgangsquerschnitten von 1949 bis 1974 mit einem Umfang von insgesamt 3.3 Mio lfd. Wörtern. Es ist im Institut für deutsche Sprache maschinell verfügbar. 7 Das „Wendekorpus“ enthält eine thematisch gesteuerte Auswahl von Texten verschiedener Gattungen aus der BRD und der DDR im Umfang von 3.03 Mio lfd. Wörtern aus der Zeit der Wende (Mai 89 bis Dezember 1990); es ist „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ 441 Grundlage dreier Auswertungsprojekte im Institut für deutsche Sprache und ebenfalls maschinell verfügbar. Vgl. u.a. Herberg / Stickel (1992), vgl. auch Hellmann (1996). 8 Dazu u.a. die Dresdner Linguistin Dagmar Blei (1994: 41): „‘Vokabellernen’ ist offensichtlich für Ostdeutsche zu einer alltäglichen, unumgänglichen, aktuellen Aufgabe geworden“. - Vgl. die Sammlung von ca. 200 Beispielwörtern aus verschiedenen Sachbereichen der BRD bei Hellmann (1997b). 9 Zuerst in Hellmann (1990), (hier bes. 279-284), zuletzt in Hellmann (1997b). Aus: Jordanova (Hg.) (1999): 10 godini promjana v Iztotschna Evropa (10 Jahre Wende in Osteuropa). (= Sociolinguistika 4). Sofia, S. 11-39. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Reihenherausgeberin.] „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 - Ein Wörterbuch zur lexikographischen Erschließung des „Wendekorpus“ 1. Vorbemerkung: Sprachwissenschaft in Umbruchzeiten Dreimal in diesem Jahrhundert haben die Deutschen den Zusammenbruch eines deutschen Staates erlebt: 1918 den des Deutschen Kaiserreiches, 1945 den des nationalsozialistischen „Dritten Reiches“ und 1989/ 90 den der Deutschen Demokratischen Republik. Jedesmal folgte diesem Zusammenbruch eine grundlegende Veränderung des gesellschaftlichen Systems, ein Auswechseln eines großen Teils der Führungseliten, eine Veränderung der vorherrschenden politischen und geistigen Leitbilder und - jedenfalls im Fall des Zusammenbruchs der DDR - eine grundlegende Veränderung auch des Wirtschaftssystems. In allen Fällen reichten die Veränderungen über den gesellschaftlich-politischen und wirtschaftlichen Bereich hinaus bis weit in den Alltag der Menschen hinein. Sprachwissenschaft hat es - dies ist wohl unbestritten - nicht nur mit dem Sprachsystem, sondern auch mit den Beziehungen zwischen den jeweiligen gesellschaftlichen Zuständen und dem Sprachgebrauch der Menschen zu tun; unbestritten ist auch, daß zwischen beiden Wechselwirkungen bestehen, die es im einzelnen zu klären und zu beschreiben gilt. Handeln von Menschen in jeweils gegebenen, aber sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen ist immer auch - und vor allem - sprachliches Handeln, und im Zeitalter wachsenden Einflusses von Massenmedien mehr denn je. Umbruchzeiten wie die eben erwähnten sind für die Sprachwissenschaft von besonderem Interesse: die sprachliche Entwicklung verläuft in der Regel schneller als in ruhigeren Zeiten; Vergehendes, Gegenwärtiges und Zukünftiges mischen sich; geistige Paradigmen und ihre sprachlichen Korrelate kämpfen in z.T. heftigen Kontroversen um die Vorherrschaft; was eben noch unbestritten schien, wird plötzlich angegriffen oder tabuisiert - und umgekehrt. Gruppen, deren Stimme vorher kaum wahrnehmbar war, erreichen die Dominanz in den Medien, andere verlieren an öffentlicher Resonanz oder Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 444 verstummen. Der Alltag der Menschen verändert sich rapide und mit ihm das Vokabular und die Ausdrucksweisen der betroffenen Menschen. Sprachwissenschaft hat ein legitimes Interesse - man könnte auch sagen: den Auftrag - dies zu beobachten und zu beschreiben. Beschreibung des Sprachgebrauchs in diesem Sinne heißt auch, aber nicht nur, Beschreibung des jeweils zeitgenössischen Vokabulars, vom Alltagsvokabular bis hin zu den großen „Leitwörtern“ der Zeit; sie leistet aber auch Beiträge zur Themen- und Diskursgeschichte, letztlich zur Geistes- und Kulturgeschichte der jeweiligen Zeit und für die jeweilige Kommunikationsgemeinschaft, hier also der deutschen. <12> Vor der Beschreibung des Sprachgebrauch steht für den Sprachwissenschaftler die Aufgabe, ihn beschreibbar zu machen, d.h. eine begründete, den erwarteten Forschungsinteressen dienliche Auswahl zeitgenössischer Texte zu treffen und diese Auswahl als Textkorpus für die Untersuchungen bereitzustellen. Art und Qualität möglicher wissenschaftlicher Ergebnisse hängen nicht zuletzt von der Art und Qualität solcher Textkorpora ab. Man mag es bedauern, daß für die Zeit 1918/ 19 und für die frühe Nachkriegszeit 1945-49 solche Textkorpora nicht zur Verfügung stehen. Daß sie damals nicht geschaffen wurden, hat verständliche Gründe; daß sie bis heute nicht nachträglich geschaffen wurden, ist ein empfindlicher Mangel. Heute wäre ein Verzicht auf eine aktuelle Dokumentation solcher Umbrüche unverzeihlich. Im Herbst 1989 gingen die Bürger in der DDR mit bewundernswertem Mut daran, ihr eigenes Herrschaftssystem, das von der SED dominierte totalitäre System des „real existierenden Sozialismus“, erst zu demokratisieren, dann zu beseitigen, bis sich ihr Staat nach dem Willen der Mehrheit mit der „alten“ Bundesrepublik vereinigte, unter heftigen Kontroversen und großen Schwierigkeiten nicht nur ökonomischer und politischer Art, die bis heute nicht voll bewältigt sind. Revolutionäre Umbruchzeiten haben ihre eigene Dynamik. Sie setzen nicht nur die Beteiligten und Betroffenen unter Handlungsdruck, sondern sehr bald auch diejenigen, die sich als Wissenschaftler für die Ereignisse interessieren. Schon während der revolutionären Veränderungen in der DDR, die wir - mit Egon Krenz und dem Politbüro der SED - „Wende“ zu nennen gelernt haben (obwohl dieser Ausdruck im öffentlichen Sprachgebrauch der BRD schon anders belegt war), gab es erste Überlegungen, diese Verände- „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 445 rungen, die nicht zuletzt auch eine Revolution der öffentlichen Diskurse in der DDR waren, textlich zu dokumentieren und zu beschreiben. Dem Institut für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim als der für die Erforschung der deutschen Gegenwartssprache „zuständigen“ Institution in der BRD stellte sich die dringende Aufgabe, möglichst schnell eine Auswahl relevanter Texte zu treffen, in einem Korpus angemessen zu dokumentieren und - heute selbstverständlich - rechnergestützt für eigene und externe Forschungen bereitzustellen. 2. Zum „Wendekorpus“ Schon 1991 startete das IDS, zunächst gemeinsam mit dem damals noch existierenden Zentralinstitut für Sprachwissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der DDR, nach dessen Auflösung [1]* dann allein, ein Korpus-Projekt namens „Gesamtdeutsche Korpusinitiative“ (vgl. dazu Herberg / Stickel 1992). Als dessen Ergebnis liegt seit Ende 1992 das sogenannte „Wendekorpus“ (WK) vor. Es ist in zwei Teilkorpora gegliedert: dem Wendekorpus DDR (WKD) und Wendekorpus BRD (WKB) mit zusammen 3,34 Mill. laufenden Wörtern Text, wobei etwa 55 Prozent auf das WKB entfallen, 45 Prozent auf das WKD. Die folgende Übersicht zeigt die Quantitäten: WKB WKD WK Gesamt Anzahl Texte 1.755 1.632 3.387 Anzahl Sätze 105.779 99.647 205.426 Anzahl Types (= Vokab) 106.621 79.374 141.233 Anzahl lfd. Wörter 1.794 1.546 3.340 (= Textlänge in Mio) <13> Über die Gesamtkonzeption und die sie tragenden Überlegungen informiert Herberg / Stickel 1992; Genaueres zu seiner Zusammensetzung, aber auch zu seinen Grenzen findet sich bei Hellmann 1996, S. 198-200. Hier genügen daher einige allgemeine Angaben: * Anm. d. Red.: In diesem Beitrag sind die eckigen Klammern Bestandteil des Originaltextes. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 446 Das Wendekorpus ist kein repräsentativ-statistisches Querschnitts-Korpus, sondern ein thematisch orientiertes Korpus, dessen Texte einzeln im Hinblick auf zwei zentrale Themen ausgewählt wurden: 1. Von der Protestbewegung zur Demokratisierung der DDR; 2. Der schwierige Weg zur deutschen Vereinigung. Die Texte stammen aus dem Zeitraum Mai 1989 bis Ende 1990; dabei wurde die „heiße“ Phase der Wende von Oktober '89 bis März '90 deutlich stärker als die übrigen Phasen berücksichtigt. Schwerpunkte sind bestimmte Ereignisse wie die um die Feiern zum 40. Jahrestag der DDR (7. Oktober '89), die Demonstrationen und die Reaktionen der Staatsmacht, Rücktritte der Prominenz, die Stasi-Auflösung, die Mauer-Öffnung (9. Nov. '89), die Volkskammer-Wahl im März '90; später die Wirtschafts- und Währungsunion (Juli '90), die Beitrittsverhandlungen bis zum Beitritt am 3. Oktober 1990. Alle Texte gliedern sich - bei aller thematischen Vielfalt - den eben genannten zwei zentralen Themen ein - und im wesentlichen nur diesen. Da der Korpuszeitraum im November/ Dezember 1990 endet, sind Entwicklungen, die sich vornehmlich im Jahre 1991 oder später ereignet haben, nur schwach oder gar nicht belegt. [2] Die Textsorten sind breit gestreut: Neben Berichten und Kommentaren aus Zeitungen und Protokollen aus Volkskammer und Bundestag finden sich staatliche Verlautbarungen und Reaktionen aus der Bevölkerung (z.B. Leserbriefe), Flugblätter und Wahlkampfbroschüren, Reden und Interviews, Handzettel und Demo-Losungen, Aufrufe und Manifeste und einiges mehr. Andererseits fehlen Texte gesprochener Sprache; es fehlen auch Sachgebiete wie Sport oder Welt-Außenpolitik, ebenso fehlt völlig der nicht-redaktionelle Teil von Zeitungen (z.B. Stellenanzeigen, Wohnungs- und Familienanzeigen, Werbung etc.). Offensichtlich ging es den Korpus-Urhebern in Ost-Berlin und Mannheim nicht darum, ein Korpus zu konstituieren, das in irgend einer definierbaren Weise „repräsentativ“ zu einer Grundgesamtheit ist, auch nicht um „Ausgewogenheit“ der einzelnen Teile oder um „gleichmäßige“ Berücksichtigung relevanter Textsorten. Vielmehr dominiert das Interesse, wenderelevante Themen und Diskurse über eine Vielzahl aufeinander bezogener Texte in all ihrer Emotionalität, Widersprüchlichkeit, Rekursivität und Ver- „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 447 netztheit zu dokumentieren - wenn man so will: eine diskursorientierte Konzeption zu verwirklichen. Dies ist den Korpus-Urhebern zweifellos gelungen. Man mag das Korpus bzw. die Kriterien seiner Zusammensetzung in einigen Punkten kritisieren, weil manches fehlt, was man sich als Korpus-Benutzer wünschte. Man kann auch fragen, ob es forschungsmethodisch unbedenklich ist, eine Korpuskonzeption einem ganz bestimmten Forschungsinteresse zu unterwerfen. Akzeptiert man einmal die zu Grunde liegende Intention, muß man sagen: Das Korpus ist von überragender Ergiebigkeit in Bezug auf wenderelevante Themen und Diskurse, sowohl was die Dichte des <14> Vokabulars, als auch was die Quantität und Qualität der dem Vokabular zuzuordnenden Belege betrifft. 3. Zur formalen Präsentation der Korpustexte Die Korpustexte sind in der maschinell verfügbaren Version nach der sogenannten Mannheimer Textkonvention dv-orientiert aufbereitet, was sich auch bei der Belegausgabe durch COSMAS bemerkbar macht: - Alle syntaktischen Zeichen sind vom Wort durch blanc getrennt, jeder Satz endet immer mit Punkt (zwischen blancs); - Überschriften und andere hervorgehobene Textelemente sind transkribiert; - getrennte Bindestrichwörter sind ergänzt zu sogen. „Unterstrich-Komposita“: Partei- und Staatsführung erscheint in den Belegen als Partei_führung und Staatsführung. Diese Besonderheiten der Textkonvention stören den Leser bei der späteren Präsentation der Belege; sie müssen daher von Hand oder durch kleine Hilfsprogramme beseitigt werden. 4. Zum Recherchesystem COSMAS Parallel zur Erfassung und Bereitstellung des Wendekorpus wurde das Recherchesystem COSMAS (= COrpus Storage and MAintenance System) entwickelt. Dieses System ermöglicht im Wendekorpus (und in allen anderen gespeicherten Korpora des IDS) die gezielte Suche nach Wörtern und Wortkombinationen auf der Ebene von Wortformen, aber auch von Grundformen (Lemmata), und die Ausgabe der zutreffenden Belege in verschiedenen Varianten und mit Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 448 wählbarem Kontext, einschließlich einer Worttabelle mit den Häufigkeitsergebnissen der Recherche. [3] Zur Leistungsfähigkeit dieses sehr nützlichen Systems, aber auch zu seinen Schwächen, liegen inzwischen reichliche Erfahrungen aus der lexikographischen Praxis vor, über die u.a. bei Hellmann 1996, S. 202-204 berichtet wird. Hervorgehoben sei hier nur Folgendes: Zu jedem bei der Recherche gefundenen Beleg gibt COSMAS die Angabe der Quelle mit aus, aus der der Beleg stammt, einschließlich des Datums (soweit bekannt) und des Titels des Textes. Somit sind (fast) alle Belege datierbar und ihrer Quelle (und damit meist auch der verantwortlichen Sprechergruppe) zuzuordnen. Außerdem wurden die Texte, wie eben erwähnt, sechs zeitlichen Phasen zugeordnet, die sich an zentralen Ereignissen des Korpus-Zeitraums orientieren (vgl. die Übersicht bei Herberg / Steffens / Tellenbach 1997, S. 2). Diese Phasenmarkierung ist von COSMAS ansprechbar. Auf Grund der Phasenmarkierung aller Texte können die Belege nicht nur alphabetisch oder nach Quellen sortiert, sondern auch nach diesen Phasen geordnet ausgegeben werden; dies kann wichtig sein für Untersuchungen, die auf zeitbedingte Veränderungen in den Themen und deren Vokabular gerichtet sind. Phasenregister und Worttabellen: Auf der Grundlage dieser Phasenmarkierung aller Texte des Wendekorpus wurde ein „Phasenregister“ erstellt, in dem jeder im Wendekorpus enthaltenen Wortform die <15> jeweiligen Häufigkeiten pro Phase zugeordnet sind, dazu die Sammelhäufigkeit WKD, Sammelhäufigkeit WKB und die Gesamthäufigkeit WK. 5. Drei Auswertungsprojekte Unter dem Dach des Rahmen-Projekts „Sprachwandel der Wendezeit“ wurden im IDS drei Teilprojekte zur Auswertung des Wendekorpus gestartet: 1. „Lexikologisch-lexikographische Analyse wendespezifischer Wortschatzveränderungen“: Intensive Untersuchung von „Schlüsselwörtern“ ausgewählter Wortschatzbereiche (u.a. Wortfelder) in etwa 25 Rahmenartikeln (und weiteren Einzellexemen) in ihren paradigmatischen, syntagmatischen und zeitlichen Zusammenhängen (D. Herberg 1993 und 1995, in bulgarischer Sprache auch in Jordanova / Mattheier (Hg.) 1995, S. 188-197). „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 449 Ergebnis: Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit - Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 1990. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache Bd. 6), Berlin - New York (de Gruyter) 1997. 2. „Bedeutungsvarianz in Texten zur deutschen Einheit“: Untersuchung der Bedeutungskonstitution und -veränderung am Beispiel weniger zentraler „semantischer Konzepte“ in ihrem diskursiven Zusammenhang, in Abhängigkeit von Textvernetzung und Diskursbeteiligten (Fraas / Steyer 1992). Ergebnisse: Claudia Fraas: Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE im Diskurs zur deutschen Einheit (= Studien zur deutschen Sprache Bd. 3), Tübingen (G. Narr) 1996; Kathrin Steyer: Reformulierungen. Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs. (= Studien zur deutschen Sprache Bd. 7), Tübingen (G. Narr) 1996 (Diss. Uni Mannheim 1994). 3. „Dokumentarisch-lexikographische Erschließung des Wendekorpus“: Erschließung der Themen und Diskurse des Wendekorpus durch eine relativ große Zahl von Stichwörtern in der Form eines alphabetischen Wörterbuchs. Ergebnis (in Vorbereitung: ) Manfred W. Hellmann (unter Mitwirkung von Christoph Melk und Pantelis Nikitopoulos): Wörter in Texten der Wendezeit - Alphabetisches Wörterverzeichnis zum „Wendekorpus“ des IDS 1989/ 90. (= Studien zur deutschen Sprache) Tübingen (G. Narr) 1998. Die drei Teilprojekte unterscheiden sich deutlich in Zielsetzung, methodischem Vorgehen und Ergebnisdarstellung. Dies ist beabsichtigt. Gerade die Anm. d. Red.: Die Bibliografie erschien 1999 als: Hellmann, Manfred W.: Wende-Bibliografie. Literatur und Nachschlagewerke zu Sprache und Kommunikation im geteilten und vereinigten Deutschland ab Januar 1990. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 99). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. Das Wörterbuch erschien 2006 als: Hellmann, Manfred W.: Wörter in Texten der Wendezeit. Ein Wörterbuch zum „Wendekorpus“ des IDS . Mai 1989 bis Ende 1990. Unter Mitwirkung von Pantelis Nikitopoulos und Christoph Melk. CD-ROM und Begleitband (Vorwort des Autors mit Anmerkungen und zusätzlichen Registern der amades-Redaktion). (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 04). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 450 Verschiedenartigkeit des Herangehens soll gewährleisten, das, was sich während der Wende sprachlich ereignet hat, in seinem Umfang und seiner Komplexität einigermaßen sichtbar zu machen. Einigkeit jedenfalls besteht darin, daß die „Wende“ (und das Wendekorpus) allein mit Einzelwort-Lexikographie sprachlich nicht zureichend beschreibbar ist. Verzichtbar ist sie nicht. Der alphabetische Zugriff über die Wort-Ebene ist immer noch die praktikabelste Möglichkeit, sich die Wort-Schätze dieses Korpus und damit der Wendezeit zu erschließen. Insofern will das unter Nr. 3 erwähnte, in Arbeit befindliche „Korpuserschließende Wörterbuch“ (KWB) die Ergebnisse der beiden anderen Teilprojekte ergänzen; es sieht sich nicht in Konkurrenz zu ihnen. <16> Keines der drei Teilprojekte will für sich in Anspruch nehmen, das Wendekorpus erschöpfend auszuwerten. In jeder Hinsicht enthält das Korpus weit mehr, als im IDS bearbeitet und hier präsentiert werden kann. Für weitere Forschungen bleibt also viel Raum. 6. Zum Projekt „Korpuserschließendes Wörterbuch“ In den folgenden Abschnitten sollen Einblicke in die Arbeit am Korpuserschließenden Wörterbuch gegeben werden.* 6.1 Zu Auftrag und Ziel Auftrag des Projekts laut Arbeitsplanung des IDS ist die Erstellung eines alphabetischen korpuserschließenden Wörterverzeichnisses mit ca. 1500 Haupt- und Unterstichwörtern nebst kommentierenden Angaben darüber, in welchen wendespezifischen Themen und Diskursen des Korpus sie in welcher Weise vorkommen. Zu jedem Stichwort werden Belegdateien erstellt, typische Gebrauchsweisen aus den verschiedenen Quellengruppen und Phasen knapp referiert und ggf. mit ausgewählten Belegen gestützt. Zugeordnet sind tabellarische Angaben zur Häufigkeit (Ost/ West) zu allen Flexionsformen, Komposita und Ableitungen des Stichworts. Knappe bedeutungserläuternde An- * Anm. d. Red.: Der folgende Text in Abschnitt 6 entspricht dem Stand von Ende 1999. In der Phase bis zur Fertigstellung der CD - ROM -Fassung haben sich noch Änderungen ergeben, die teils vom Autor veranlasst wurden, teils Folge der redaktionellen Bearbeitung am IDS waren. Die redaktionellen Änderungen entsprechen in einigen Punkten nicht der ursprünglichen Intention des Autors. „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 451 gaben werden auf Fälle beschränkt, in denen die jeweilige Bedeutung aus den referierten Belegen nicht zureichend erschlossen werden kann. Verweise stellen Bezüge zu thematisch nahestehenden Stichwörtern her und erschließen die Texte und Diskurse des Korpus zusätzlich. Das Wörterbuch richtet sich primär an Benutzer und Benutzerinnen mit Interesse an Wortschatz und Wortgebrauch der Wendezeit, insbesondere an solche, die keinen direkten Zugang zum computergespeicherten Wendekorpus haben, darüber hinaus aber an jeden, der einen schnellen, wortorientierten Zugang zu den Themen und Diskursen jener Zeit wünscht. Die Arbeiten begannen nach einer Testphase im Jahre 1993. Zu Beginn der Projektlaufzeit war noch offen, ob sich die Arbeit nicht eher auf die semantische Beschreibung von Bedeutungen und Bedeutungsveränderungen, auf neue Wörter, Neubedeutungen, neue Gebrauchsvarianten richten sollte; Ergebnis wäre ein bedeutungserklärendes Wörterbuch nach vertrautem Muster gewesen. Der Einstieg in die Arbeit mit den Textbelegen brachte uns auf einen anderen Weg: Lexikalische Neologie und semantische Veränderungen, die sich mit der Technik des alphabetischen Wörterbuchs auf Wortebene zureichend beschreiben ließen, hat es während der Wende weit weniger zahlreich gegeben, als man vermuten könnte. Echte Neologismen wie Mauerspecht, Trabiklatschen, Botschaftsflüchtling, Vereinigungskriminalität, Treuhandanstalt, Beschäftigungsgesellschaft oder auch Neubedeutungen („Neosemanteme“) wie Runder Tisch (i.S.v. ‘basisdemokratisch bestimmtes Mitregierungsgremium auch oppositioneller Gruppen’), Abwicklung (i.S.v. ‘Auflösung auch wissenschaftlicher, kultureller, sozialer Einrichtungen der DDR’, aber auch mit Bezug auf Menschen i.S.v. ‘aus dem Arbeitsverhältnis entfernen’), Wendehals (i.S.v. ‘Mensch, der seine politische Meinung opportunistisch (während der Wende) blitzschnell ändert’), Warteschleife (i.S.v. ‘(bezahlter) Wartezustand zwischen Entlassung aus dem Staatsdienst der DDR und der Wiedereinstellung bzw. der <17> Arbeitslosigkeit’), Blockflöte (ironisch-spöttisch für ‘Angehöriger der von der SED beherrschten (ehemaligen) Blockparteien der DDR’) usw. - solche wendegeprägten Neologismen gibt es alles in allem vielleicht einige hundert. Ohne Zweifel sind sie hochinteressant. Aber damit wäre das Wendekorpus bei weitem nicht erschlossen. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 452 Schon rein quantitativ dominieren im Vokabular des Wendekorpus nicht solche Wörter, sondern Wörter wie Verantwortung und Würde, Nation und Einheit, Souveränität und Vereinigung, Dialog und Wende, Erneuerung und Umgestaltung, Partei und Sozialismus, Demokratie und stalinistisch, bankrott und real existierend, Täter und Opfer, Stasi und Akte, Aufbruch und Zusammenbruch, Menschen und Volk. Was, zum Beispiel, hat sich bei Volk geändert? Bis zur Wende reklamierte die SED die „Einheit von Partei und Volk (der DDR)“ unter ihrer Führung, unter der „Führung der Partei der Arbeiterklasse“. Mit dem Ruf „Wir sind das Volk! “ (mit dem Ton auf „Wir“) konstituieren die Demonstranten keine andere oder neue Bedeutung, sondern sie bestreiten der Partei die behauptete Einheit bzw. Übereinstimmung des Willens und der Interessen zwischen ihr und den Staatsbürgern: nicht ihr seid - wir sind das Volk! Wenn ab Anfang Dezember 89 an die Stelle dieser Losung jene andere tritt: „Wir sind ein Volk! “ (mit dem Ton auf „ein“), aktualisieren die Demonstranten damit zwar eine andere Bedeutung von Volk als die obige (nämlich etwa: ‘staatsübergreifende Gemeinschaft von Bürgern auf der Grundlage gemeinsamer Nationalität’), aber wahrlich keine neue, sondern eine, die im öffentlichen Sprachgebrauch der BRD stets präsent war - und indirekt wohl auch in dem der DDR durch ihre Negation. Der Unterschied besteht vor allem in der Rolle, die dieses Wort mit seinen Bedeutungen im sich verändernden Diskurs im Herbst '89 spielt. Für die SED ist die erstgenannte Losung ein alarmierender „konterrevolutionärer“ Akt „von unten“, der ihr die Legitimation als führende Kraft der Gesellschaft entzieht; die zweite Losung bestreitet der DDR als Staat die Existenzberechtigung, indem sie das Konzept der „sozialistischen Nation (deutscher Nationalität)“ und damit den Anspruch auf Souveränität aus den Angeln hebt. - Mit Wortsemantik haben diese Veränderungen wenig zu tun, um so mehr aber mit der revolutionären Durchsetzung und Entfaltung neuer, weil bis dahin unterdrückter oder strikt reglementierter Diskursthemen - und als solche sind sie sinnvoll beschreibbar und spannend. Ähnliches gilt für die meisten anderen oben genannten Wörter. Wenn vor allem die Kirche und die ihr nahestehenden Bürgergruppen im September und Anfang Oktober '89 von der SED und gegen deren Intransigenz und „Sprachlosigkeit“ den offenen Dialog auch mit Andersdenkenden fordern, wenn die SED dann unter dem Druck immer größerer Demos am 18. Oktober den breiten gesellschaftlichen Dialog mit allen (positiven) Kräften aus- „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 453 ruft als vielleicht „letzten sprachlichen Selbstrettungsversuch“ (C. Good 1991), wenn Bürgergruppen sich schon Ende Oktober dagegen wehren, daß der Dialog zum Selbstzweck werde und daß revolutionäre Erneuerung, durchgreifende/ grundlegende Veränderungen, der Aufbruch/ der wirkliche Durchbruch zur Demokratie noch ausstehe oder sogar verschleppt werde - dann geht es auch hier nicht um Wortbedeutung: vielmehr geht es um Herrschaft über Diskursthemen, genauer: darum, wer inzwischen die dominanten Themen der Diskurse und ihre Leitwörter bestimmt, nämlich die Bürgerbewegungen und Demonstranten. Ein Wörterbuch, das ein Korpus erschließen will, muß sich in erster Linie auf die speziellen Eigenheiten dieses Korpus und seiner Texte einstellen und eine <18> Erklärungstechnik entwickeln, die dem Benutzer von den Stichwörtern her einen Zugang zu speziell diesen Eigenheiten ermöglicht. Allerdings kann ein solches Wörterbuch, wenn es sich ausschließlich auf ein Korpus stützt, nur das erschließen, was dieses Korpus enthält. 6.2 Zur Stichwortliste Die Projektarbeiten begannen, was die Auswahl möglicher Stichwörter betrifft, Anfang 1993 natürlich nicht bei Null. Die aus Ost-Berlin übernommenen Mitarbeiter brachten aufgrund eigener Beobachtungen eine Stichwortliste von annähernd 600 Einträgen mit; auch in Mannheim lagen Listen wenderelevanter Wörter aufgrund eigener Untersuchungen (vgl. Hellmann 1990, Hellmann 1993) vor. Die Literatur zur sprachlichen Wende in der DDR wurde archiviert und laufend ausgewertet. Daraus entstand eine Liste von Stichwortkandidaten von etwa 800 Einträgen, mit denen die ersten 200 COSMAS- Suchläufe gestartet wurden. Die Ergebnisse dieser Suchwortläufe führten zu zahlreichen neuen Stichwortkandidaten, teils aufgrund paradigmatischer Zusammenhänge (Kompositionen, Ableitungen, Synonymie- und Antonymierelationen), teils aufgrund syntagmatischer Zusammenhänge (Wortverbindungen, Kollokationen), teils aufgrund kontextueller Bezüge: neue Belege brachten immer wieder neue Hinweise auf verwandte Themen mit jeweils neuem Vokabular oder - bei gleichem Thema - auf gruppenperspektivisches Vokabular bzw. Gebrauchsweisen. Oft vermischen sich die genannten Aspekte, wie auch das Beispiel „Wende“ zeigt. Als Teilsynonyme aus z.T. unterschiedlicher Perspektive Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 454 werden neben Wende auch Umgestaltung, Perestroika, Umbau, Umbruch, Umschwung, Umsturz, (revolutionäre) Erneuerung, (grundlegender/ durchgreifender) Wandel/ Veränderung(en), Aufbruch, (friedliche/ sanfte) Revolution, Zusammenbruch (des alten Systems/ der SED-Herrschaft) und weitere verwendet; zu bankrott finden sich weitere Adjektiv-Adverbien zur Negativ- Kennzeichnung des alten Systems der DDR und deren Wirtschaft: verrottet, verschlissen, verkrustet, desolat, heruntergewirtschaftet, abgewirtschaftet, konkursreif, marode, diskreditiert, miserabel, kaputt. Zu Dialog hat eine Auswertung einer einzigen Zeitung von Ende Oktober '89, auf dem Höhepunkt der „Dialog“-Offensive der SED, 32 verschiedene teilsynonyme Ausdrücke, sowohl substantivische als auch verbale (oft mit sehr zeittypischen Attribuierungen), ergeben (vgl. Hellmann 1993, Anhang). Nach einem Jahr hatte die Liste der Stichwortkandidaten knapp 2000 Einträge erreicht, nach zwei Jahren rund 4000 - eine Menge, die völlig außerhalb der gegebenen Arbeitskapazität lag. Spätestens hier mußten Grenzen gezogen werden. Zunächst wurde als quantitative Untergrenze eingeführt: Wörter, die weniger als 5-mal belegt sind, wurden bis auf wenige Ausnahmen ausgeschlossen; für Hauptstichwörter liegt die Grenze in der Regel bei 10 Belegen. Berücksichtigt wurden vor allem solche Wörter, die geeignet erschienen, zu den im Korpus gespeicherten wenderelevanten Themen und Diskursen hinzuführen, sie zu „erschließen“. Nicht also semantische Eigenschaften des Wortes, nicht ihre Ost-West-Spezifik, nicht einmal ihre mögliche Eigenschaft als wendespezifische Neologismen geben den Ausschlag, sondern ihre themen- und diskurserschließende „Leistung“. <19> Folge dieser Festlegung ist, daß auch Wörter aufgenommen wurden, die als solche zunächst als wenig wenderelevant erscheinen. Dazu als Beispiel das Stichwort „Pogrom“: Einige der insgesamt 10 Belege beziehen sich auf Terror- und Vernichtungsaktionen der Nazis oder der Stalinzeit in der Sowjetunion. Ein früher (West-) Beleg (Juni 89) artikuliert Besorgnis vor einer gewaltsamen Aktion der SED - Führung gegen Kultur-Oppositionelle im Stil einer „chinesischen Lösung“. Andere Belege stehen in einer Diskussion über den 9. November und seine Eignung als möglicher Nationalfeiertrag: Können wir, so heißt es, den 9. November '89 als Datum der Maueröffnung feiern, wenn das Datum durch die Judenpogrome des 9. November 1938 („Reichskristallnacht“) so schwer belastet ist? - Eine dritte (kleine) Beleggruppe thematisiert „pogromartige“ „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 455 Übergriffe gegen Ausländer (Vietnamesen) in der DDR ; vereinzelt wird vor „Pogromstimmung“ gegen „Rote“ (Vertreter des bisherigen Systems) gewarnt. Abgesehen davon, daß das Wort Pogrom von einigen der Sprecher gezielt übertreibend eingesetzt wird (von Pogromen gegenüber Vietnamesen oder gar SED -Funktionären konnte keine Rede sein, wohl aber teilweise von Feindseligkeit), erschließt es doch vier Diskurse: 1. den Vor-Wende-Diskurs über mögliche Gewaltaktionen der SED -Führung, 2. den Diskurs über einen neuen gemeinsamen Nationalfeiertag und seine Problematik, 3. den über Ausländerfeindlichkeit und 4. den über (mögliche) Vergeltungs- oder Racheaktionen gegenüber Trägern des alten Systems (bzw. über Gegenkonzepte wie Besonnenheit, Gewaltlosigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Amnestie u.ä.). Keinen dieser Diskurse erschließt das Wort allein oder auch nur ausreichend, weitere Wörter sind zur Erschließung erforderlich und in der Tat vorhanden: zum erstgenannten Diskurs z.B. chinesische Lösung, zum zweiten 9. November oder Maueröffnung, zum dritten z.B. Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhaß; zum vierten z.B. SED -Funktionär, Spitzenfunktionär, Besonnenheit, gewaltlos, (zur) Rechenschaft (ziehen). Alle diese Wörter sind auch Stichwörter im KWV . Als Stichwörter aufgenommen wurden auch Wortgruppenlexeme wie chinesische Lösung, sozial abfedern, Grundordnung (freiheitlich-demokratische) und ganze Syntagmen wie Wir sind das Volk, zu spät kommen - bestrafen sowie Lexemteile wie Ex-, -schaffend, Zentral-, die als Überblicks-Stichwörter vor allem die wendetypische Produktivität sichtbar machen sollen (weiteres s. Abschn. 6.7). Weitere Eingrenzungen waren erforderlich: Nachdem in der zweiten Hälfte der Projektlaufzeit klarer wurde, welche „Schlüsselwörter“ im benachbarten Teilprojekt in Rahmenartikeln bearbeitet würden, wurden diese Wortschatzbereiche etwas „dünner“ aufgenommen. [4] Statt dessen wurden andere Wortschatzbereiche, z.B. der „Gefühlswortschatz“, der im Wendekorpus erstaunlich reichhaltig vorhanden und belegt ist, etwas stärker berücksichtigt. [5] Nach diesen Eingrenzungen blieb immer noch eine Liste von etwa 1900 Stichwörtern, die nach den gegebenen Kriterien eine Aufnahme ins Wörterbuch verdient hätten. Davon sind ca. 1750 [in der Endfassung von 2001: 1948 Stichwörter. MWH] mehr oder weniger intensiv lexikographisch bearbeitet. Der „Rest“ muß der Notwendigkeit, endlich fertig zu werden, zum Opfer fallen. <20> Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 456 6.3 Probleme der Vokabulardichte und der Belegmengen Nicht nur die Dichte des (im Sinne der Definition) wenderelevanten Korpusvokabulars machte Probleme, sondern mindestens ebenso die zu den ausgewählten Stichwörtern mit COSMAS bereitgestellten Belegmengen: sie übertrafen zu leider viel zu vielen Stichwörtern alle Erwartungen. Hier eine Auswahl von Großdateien (in Klammern: types/ tokens) in aufsteigender Ordnung: Verantwortung (ohne verantwortungslos) (47/ 1467), Einheit (ohne einheitlich) (191/ 2529), Nation/ national (252/ 3165), Mensch (ohne menschlich) (205/ 4844), Bürger (ohne bürgerlich) (290/ 6353), sozial (ohne sozialistisch) (499/ 6884), Volk (ohne völkisch, bevölkern), (501/ 7124), Partei (ohne parteilich) (839/ 7477), Staat (ohne staatlich) (954/ 8895), deutsch/ Deutschland (412/ 17499), DDR (mit allen Bindestrichkomposita) (1941/ 23889). Die letzte Datei ist im gegebenen Rahmen unbearbeitbar (u.a. auch Speicherprobleme); statt ihrer werden nur bestimmte Ausschnitte des Wort- Paradigmas wie -DDR (z.B. Ex-DDR, Noch-DDR, BRDDR) oder DDR-Bürger als Stichwörter gesucht und bearbeitet. Bei ‘Staat’ werden diejenigen Wörter, die selbst Stichwörter sind, ausgegliedert (z.B. Staatsbürger, Staatssicherheit, Staatsvertrag), andere als irrelevant eliminiert (z.B. Staatsanwalt, Staatssekretär), der „Rest“ in Auswahl durchgesehen: z.B. in Blöcken à 100 bis 200 Belegen mit Sprüngen um 800 bis 900 Belege. Auch dies ist schon sehr aufwendig, wie eine simple Hochrechnung zeigt: Ein Stichwort sei zutreffend als „COSMAS-Suchkette“ definiert, ein Suchlauf sei erfolgreich durchgeführt, das Ergebnis sei als Arbeitsdatei etabliert und eine darin enthaltene Belegmenge von 1000 Belegen leserfreundlich aufbereitet. Setzt man nur 8 Sekunden (! ) an, um einen auf dem Bildschirm erscheinenden Beleg - er besteht in der Regel aus 10 bis 15 Zeilen Text - zur Kenntnis zu nehmen, und nochmals 8 Sekunden, um ihn ggf. als interessant oder sonstwie zu markieren, so ergibt sich bei „nur“ 1000 Belegen eine reine Durchsicht-Zeit von ca. 4 1/ 2 Stunden. Bei mehr als 200 Belegen sind aber meist zwei, bei 1000 Belegen drei oder mehr Durchläufe nötig, um die Belege in sinnvolle Gruppen ordnen und einige davon als zitier-geeignet markieren zu können. Und dieser Arbeitsgang bildet ja nur die Vorstufe für das Schreiben des Wortartikels, dem alle anderen [lexikografischen (MWH),] redaktionellen und technischen Arbeitsgänge dann noch folgen. „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 457 6.4 Verfahren: Vom Stichwort zum Wortartikel Im Rahmen dieser Bedingungen und der sehr begrenzten Personalkapazität mußte ein Verfahren entwickelt werden, mit dem die hohe Anzahl an Stichwörtern ebenso zu bewältigen war wie die z.T. erdrückende Fülle von Belegen pro Stichwort. Das im folgenden beschriebene Verfahren sieht vor: - Einfachste Struktur der Wortartikel; - Zusammenfassung von mehreren (abgeleiteten) Stichwörtern unter einem Lemma; - Angliederung von Komposita als Unterstichwörter zum Hauptstichwort; <21> - grundsätzlicher Verzicht auf Bedeutungserklärungen und andere in Wörterbüchern übliche Angaben; statt dessen knappe, zusammenfassende Kommentierung (ggf. Zitierung) des Gebrauchs: auf welche Themen und Diskurse bezieht sich das Wort in welcher Weise; welche Gruppen gebrauchen es in welcher Weise bevorzugt (soweit erkennbar)? - zusätzlich vereinfachter Nachweis des Wortgebrauchs durch Präsentation auch von Komposita und Ableitungen (mit ihren Häufigkeiten) in Form zugeordneter Worttabellen. Auf allen Stufen der Bearbeitung werden selbstgefertigte Makros eingesetzt, um häufig vorkommende gleichbleibende Arbeitsgänge zu beschleunigen. 6.5 Zur Struktur eines Wörterbucheintrags Ein Wörterbuch-Eintrag hat eine im Prinzip sehr einfache Struktur. Er besteht aus 5 Teilen oder Feldern: 1) Stichwort (hier halbfett und unterstrichen); ggf. mit Zusatzangabe wie „Abk. für ...“; 2) Ggf. Angabe der im Wörterbuch-Eintrag nicht mitbehandelten Wortformen oder bestimmter Teilbedeutungen; Beispiel: Unter dem Lemma des Wortartikels „Angst“ steht in Klammern: „(ohne ängstigen, ängstlich)“. Diese Wörter sind im COSMAS-Suchlauf nicht mit gesucht und im Wortartikel auch nicht mit behandelt worden. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 458 3) Bearbeiter-Kommentar (Feldname hier: Komm.: ). Der Kommentar enthält die eigentliche Beschreibung des Gebrauchs des Stichworts bzw. der Stichwörter in den Texten des Wendekorpus. Kommentare gibt es in 4 verschiedenen Typen: - stichwortartige Kurzkommentierung; - referierende Kommentierung, bei der ganze Aussagenkomplexe aus den Belegen zusammenfassend referiert werden; - referierende Kommentierung mit einzelnen Belegzitaten zur Verdeutlichung; - überwiegend zitierende Kommentierung mit zahlreichen Belegzitaten. 4) Zusätzliche Verweise (Feldname hier: Verw.: ) Diese vier Felder bilden zusammen den „Wortartikel“. Hinzu kommt: 5) Worttabelle: Auflistung aller zum Hauptstichwort von COSMAS gefundenen Wortformen (Flexionsformen, Komposita, Ableitungen, Schreibvarianten und Sonderformen) mit zugeordneten Häufigkeiten in WK-gesamt, WKB und WKD. Die Worttabellen werden später von den Wortartikeln abgetrennt und als Anhang (zweispaltig) gedruckt [in der CD-ROM-Fassung als gesonderte Datei. MWH] 6.6 Zur Erarbeitung des Wortartikels Die Erarbeitung eines Wortartikels ist ein mehrstufiger, z.T. rekursiver Prozess, der hier vereinfacht skizziert wird. Er setzt voraus, daß <22> - die von COSMAS bereitgestellte Belegdatei in einwandfreiem Zustand und technisch aufbereitet ist, - die Belege vom Bearbeiter (ggf. mehrfach) durchgesehen sind und darauf aufbauend eine erste Hypothese über die wichtigsten Aspekte des Gebrauchs des Stichworts vorhanden ist, - interessante, als Zitate geeignete Belege entsprechend markiert sind. „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 459 1. Schritt: Entwurf der Gliederung Ist das der Fall, entwirft der Bearbeiter die Gliederung des Kommentars. Für die Gliederung eines Kommentars besonders bei Stichwörtern mit großen Belegmengen stehen dem Bearbeiter verschiedene Aspekte zur Verfügung, von denen einige auf textexternen, andere auf textinternen, andere auf wortsemantischen Kategorien beruhen. Die wichtigsten sind: Semantische Struktur des Stichworts: Hat es nur eine oder mehrere klar von einander abgrenzbare Hauptbedeutungen? Ist diese semantische Struktur relevant für die Korpustexte und die dort behandelten Themen und Diskurse? Textexterne Aspekte: a) zeitliche Bindung: Läßt sich in den Belegen ein von den Phasen und Ereignissen der Wendezeit abhängiger Gebrauch oder Gebrauchswandel erkennen? Sind bestimmte Ereignisse prägend für den Gebrauch? b) sprechergruppenbezogene Bindung: Ist der Gebrauch vorrangig abhängig von den jeweiligen Sprechergruppen in Ost und West? (z.B. SED / Bürgergruppen DDR / Volkskammer / Westpolitiker im Bundestag / Bundeskanzler Kohl o.ä.); c) textsortenbezogene Bindung: Ist der Gebrauch geprägt von bestimmten Textsorten? (z.B. Demo-Losungen / Volkskammer-Protokolle / Wahlkampfbroschüre). Textinterne Aspekte: Dies sind vor allem solche des Themas: In welchen Themen und diskursiven Zusammenhängen wird das Stichwort vorzugsweise gebraucht? Ist dabei ein Wandel bemerkbar? Inwiefern sind die Themen wiederum beeinflußt von der zeitlichen Situation, den Sprechergruppen oder Textsorten? In aller Regel wirken mehrere dieser Aspekte gleichzeitig mit an der wendespezifischen Ausprägung der Texte bzw. der Belege des Stichworts. Das Problem ist, daß sich der Bearbeiter entscheiden muß, welches Kriterium er zum primären, sekundären oder tertiären Gliederungskriterium machen will. Hat ein Stichwort z.B. mehrere klar von einander abgrenzbare Hauptbedeutungen, so kann er diese Bedeutungen zum Hauptgliederungskriterium ma- Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 460 chen. Dabei können aber andere, z.T. zentral wichtige thematische Aspekte unzulässig in den Hintergrund treten. Die Entscheidung muß daher von Fall zu Fall getroffen werden - eine Ideallösung gibt es oft nicht. Auch Überschneidungen sind nicht zu vermeiden. <23> Die am häufigsten angewandte Gliederung ist die einer Kombination von zeitlicher Grobgliederung und Sprechergruppengliederung: Sie werden durch knappe metakommentierende Angaben in eckigen Klammern, meist am Beginn eines Gliederungsabschnitts, kenntlich gemacht: z.B. [vor der Wende, SED: ], [während der Wende, Bürgergruppen: ], [nach der Maueröffnung: ], [vor der März-Wahl: ], [nach der Währungsunion, West-Texte: ] oder ähnliches; innerhalb dieser Gliederung kann dann nach Themen weiter untergliedert werden. Häufig ist aber auch eine Gliederung nach Themen; dann sind die anderen Aspekte nachrangig zugeordnet. Angaben zum Thema stehen am Beginn eines Gliederungsabschnitts vor Doppelpunkt, ohne weitere Markierung. Der zeitliche Aspekt ist insofern stets präsent, als zu allen zitierten Belegen Monat und Jahr, in besonderen Fällen auch der Tag, angegeben werden. Zusätzlich gibt es kontextsituierende Hinweise, die dem besseren Verständnis der Belege, d.h. ihrem Rückbezug auf ihr (notwendigerweise gekürztes) textsituatives Umfeld dienen. 2. Schritt: Auffüllen der Gliederungsabschnitte Ist die Gliederung in ihren Hauptaspekten festgelegt, werden die einzelnen Abschnitte mit erläuternden Angaben aufgefüllt. Dies kann, wie oben gesagt, referierend, belegzitierend oder in Mischformen geschehen. Die ausführlichste und für den Benutzer wahrscheinlich informativste, aber auch arbeits- und platzaufwendigste ist die belegzitierende. Dazu werden die in der Belegdatei entsprechend markierten Belege aufgesucht, ein geeigneter Ausschnitt festgelegt und der Beleg-Ausschnitt samt Angabe der Quelle und des Datums in den Wortartikel transportiert und eingeordnet. In aller Regel ist dabei eine Überarbeitung erforderlich, d.h. eine Kürzung, oft auch syntaktische Umstellung oder eine Ergänzung. „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 461 Beispiel für Belegumarbeitung im Wortartikel „Lohn“: Ungekürzte Version (3 Sätze Kontext): ####. W2B/ BT1.50014, Bundestagsprotokolle (2. Hj. 1989), Sitzung Nr. 173, Bd. 151, S. 13010-13059, 89.11.08, S. 13012 sie wollen nicht länger von politischer Mitbestimmung und Mitverantwortung ausgeschlossen sein. sie wollen nicht unter persönlichen und wirtschaftlichen Bedingungen leben müssen, die ein von ihnen nicht gewolltes politisches System ihnen auferlegt, ein System, das ihnen sowohl persönliche Freiheit als auch einen gerechten Lohn ihrer täglichen Arbeit vorenthält. Unsere Landsleute in der DDR wollen endlich selbst frei entscheiden können. Gekürzte und syntaktisch umgestellte Version: [West-Texte, vor der Wende: ] die Bürger in der DDR «wollen nicht ... unter einem von ihnen nicht gewollten politischen System ... leben müssen, das ihnen sowohl persönliche Freiheit als auch einen gerechten L. ihrer täglichen Arbeit vorenthält» [Bu-Prot. 11/ 89]; Auch stärkere Kürzung wäre möglich: <24> DDR -Bürger «wollen nicht unter einem ... politischen System leben müssen, das ihnen ... einen gerechten L. ihrer täglichen Arbeit vorenthält» [Bu- Prot. 11/ 89]; In referierender Kommentierung: [Vorwurf aus West-Sicht: ] DDR -System enthält seinen Bürgern gerechten L. ihrer täglichen Arbeit vor; In Stichwort-Kommentierung: [kritisch zum DDR -System: ] kein gerechter L. für geleistete Arbeit; oder: Kritik an ungerechtem L. im DDR -System; Wie man sieht, werden den zitierten Belegen knappe Metakommentare vorangestellt; die zitierten Belege selbst werden mit den Spitzklammern « ... » eingeleitet und abgeschlossen; größere Auslassungen werden mit „...“ kenntlich gemacht; etwa zur Verständnissicherung erforderliche Ergänzungen des Bearbeiters stehen in Klammern (= ...). Die Quellensigle (hier: „Bu-Prot.“ für „Bundestags-Protokolle“) mit Monat und Jahr steht in eckigen Klammern am Schluß des Belegs. Keine Quellenangabe steht bei referierend-zusammenfassender Kommentierung. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 462 3. Schritt: Markierung bzw. Eintragung von Verweiswörtern: Kommen in den zitierten Belegen bzw. in den referierenden Angaben Wörter vor, die selbst Stichwörter sind, wird darauf mit Pfeil verwiesen. Im obigen Beispiel ist dies bei Freiheit, gerecht, Arbeit der Fall; alle drei (und zahlreiche weitere im Wortartikel Lohn) sind Stichwörter. Verweiswörter werden nur bei ihrem ersten Auftreten im Wortartikel mit Pfeil markiert. Besteht Bedarf, auf weitere Stichwörter zu verweisen, die zufällig nicht im Wortartikel vorkommen, aber gleichwohl für Vergleiche interessant sein können, so werden sie in dem Feld „Verweise“ (Feldbezeichnung hier: Verw.: ) eingetragen. Beide Verweisarten zusammen machen die starke Vernetzung großer Stichwortgruppen sichtbar; zugleich zeigen sie, welche Diskursthemen besonders gut durch Stichwörter abgedeckt sind. 6.7 Typen von Wortartikeln Die Zahl der Wortartikeltypen wurde möglichst klein gehalten. Es gibt folgende Typen: 1. Überblicks-Stichwörter Hier wird bei minimaler Kommentierung nur ein Überblick gegeben über die in der Worttabelle nachgewiesene Produktivität eines Lemmas, belegt durch Flexionsformen, Komposita, Ableitungen und Schreibvarianten. Dieser Typ findet sich besonders bei Lexemteilen wie den oben erwähnten Ex-, -schaffend, Zentral- und zusammen-, aber auch bei Stichwörtern wie Partei-en-; in der Regel folgen dann mehrere Unterstichwörter mit normaler Kommentierung. - Überblicks-Stichwörter haben den Status von Hauptstichwörtern. 2. Hauptstichwörter Bei Hauptstichwörtern ist (im derzeitigen Layout) das Lemma formal markiert durch Halbfettschreibung und Unterstreichung. Sie haben sehr unterschiedlichen Umfang <25> und sind unterschiedlich stark untergliedert. Bei starker Untergliederung können Gliederungseinheiten durch Absatznumerierung oder Absatzmarkierung „•“ gekennzeichnet sein. Hauptstichwörter haben immer eine Worttabelle. „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 463 Im Lemma eines Hauptstichworts können mehrere Stichwörter zusammengefaßt sein. In der Schreibweise des Lemmas ist erkennbar, in welcher Beziehung die dort vermerkten Lemma-Bestandteile zueinander stehen: Ableitungen werden untereinander durch Schrägstrich getrennt; das für die Sortierung maßgebende „Stammwort“ wird meist nicht wiederholt, sondern durch Bindestrich ersetzt; falls ein Wechsel der Wortart (z.B. Verb - Substantiv, Substantiv - Adjektiv) erfolgt, wird dies durch Punkt vor dem Bindestrich markiert. Beispiel: Hegemonie/ .-monial, aber auch dableiben/ Dableiber/ dageblieben. Auch in dem im Anhang präsentierten Beispiel eines Wörterbuch-Eintrags sind mehrere Stichwörter zusammengefaßt, nämlich Bürokrat, Bürokratie, bürokratisch. Schreibweise des Lemmas: Bürokrat/ -kratie/ .-kratisch. Die Wörter Bürokratismus, Entbürokratisierung und unbürokratisch sind hier als Unterstichwörter angehängt. Additive Zusammenfassungen werden durch Semikolon getrennt. Beispiel: Elend; Verelendung, Zehn-Punkte-Plan; -Programm. Attributive Fügungen werden entweder in ihrer originalen Reihenfolge geschrieben (Beispiel: himmlischer Frieden (Platz des -), oder, bei anderer alphabetischer Einordnung, mit Komma getrennt (Beispiel: Frage, deutsche). Wendungen werden in der Regel in ihrem originalen Wortlaut lemmatisiert (Beispiel: Wir sind das Volk, Einheit der Nation, hüben und drüben), selten gekürzt (Beispiel: zu spät kommen - bestrafen aus „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“). 3. Unterstichwörter Unterstichwörter sind meist Komposita oder Ableitungen zum Hauptstichwort. Sie sind (im derzeitigen Layout) formal durch Halbfettschreibung ohne Unterstreichnung markiert. Sie sind dem Kommentar des Hauptstichworts - nach Leerzeile - angegliedert. Ihre Binnengliederung ist reduziert. Sie haben keine eigene Worttabelle, da alle dazu gehörenden Wortformen in der Worttabelle des Hauptstichworts enthalten sind. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 464 4. Querverweise zwischen Stichwörtern: Querverweise gibt es in folgenden Fällen: 1) zwischen Hauptstichwörtern, besonders bei Mehrwort-Stichwörtern: zum Stichwort Kontinuität und Erneuerung wird in der Alphabetstrecke E unter Erneuerung ein Querverweis Erneuerung, Kontinuität und - Kontinuität und Erneuerung eingetragen; unter Volk ein Querverweis auf das Hauptstichwort Wir sind das Volk; 2) bei Unterstichwörtern außerhalb der alphabetischen Reihenfolge: das Stichwort Freudentaumel ist als Unterstichwort zu Taumel gebucht; in der Alphabetstrecke F wird ein Querverweis Freudentaumel Taumel eingetragen; Keine Gewalt ist als Unterstichwort zu Gewalt gebucht, entsprechend wird im Buchstaben K verwiesen: Keine Gewalt Gewalt. Umgekehrt wird auf die richtige alphabetische Einordnung mit „Pfeil unten“ bzw. „Pfeil oben“ verwiesen: <26> Im Hauptartikel Leistung sind zahlreiche Unterstichwörter, auch außerhalb der alphabetischen Reihenfolge, mitbearbeitet. Spitzenleistung ist aber unter dem Hauptstichwort Spitze als Unterstichwort bearbeitet, im Wortartikel Leistung steht daher nur ein Verweis (auf eigener Zeile): Spitzenleistung Der Wörterbuch-Eintrag im Anhang enthält, wie gesagt, das Unterstichwort unbürokratisch. In der Buchstabenstrecke U wird an der entsprechenden Stelle verwiesen: unbürokratisch Bürokrat/ -kratie/ .-kratisch. 6.8 Zur Worttabelle (Feldname und zugleich Tabellenkopf: Belegte Wortformen: ) Da zum Wendekorpus voraussichtlich kein Verzeichnis sämtlicher Wortformen (Wortformen-Gesamtregister) nebst Häufigkeiten allgemein verfügbar sein wird, sind die Worttabellen dieses Wörterbuchs die einzige Möglichkeit, sich über Häufigkeiten zu informieren, sofern ein Stichwort dazu einen Zugang bietet. Die Worttabelle gibt vollständige Auskunft über morphologische Vielgestaltigkeit, die Produktivität in Bezug auf Ableitungen und Komposita und vor „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 465 allem über die Häufigkeiten aller Wortformen und damit des Lemmas; jeweils differenziert nach Gesamthäufigkeit, Häufigkeit West-Texte/ Häufigkeit Ost-Texte. Bei Mehrwort-Stichwörtern wie aufrecht gehen oder Keine Gewalt ist die Ergebnissumme der Mehrwort-Suche (hinter „Summe: “) vermerkt. Eine Aufgliederung nach Ost/ West-Häufigkeiten entfällt hier, da COSMAS sie nicht liefert. Wörter in einer Worttabelle, die nach Häufigkeit (mindestens 5) und geprüfter Kontexteinbettung selbst als wenderelevant einzustufen sind, sind mit Sternchen markiert. Sie können, müssen aber nicht als Stichwörter bzw. Unterstichwörter bearbeitet sein. Markiert ist jeweils die Grundform bzw. diejenige Flexionsform, die der Grundform morphologisch am nächsten steht. 6.9 Bearbeitung der Worttabellen Auch die Bearbeitung der Worttabellen ist ein mehrstufiger Vorgang: 1) Die von COSMAS als „Zwischenergebnisse“ bereitgestellten Worttabellen werden von COSMAS-spezifischen Besonderheiten gereinigt; 2) aus der Suche auf COSMAS-Ebene vorher ausgeschlossene Wortformen werden notiert (hinter dem Stichwort); 3) Wortformen, die nach Häufigkeit und (geprüfter) Texteinbettung als wenderelevant gelten können, werden in der Tabelle mit einem Sternchen „*“ markiert; 4) die Worttabelle wird formatiert (dem Format des Wortartikels angepaßt) und tabelliert (für die Einfügung der West-Ost-Häufigkeiten und den Zwei-Spalten-Satz vorbereitet); die Anzahl der verschiedenen Wortformen („Wformen: “) und die Summe der Belege („Belege: “) wird errechnet und in eine Summenzeile am Fuß der Tabelle eingetragen; <27> 5) mit einem speziellen Programm werden die Häufigkeitswerte für die Spalten „Gesamt: “ und „W/ O: “ (= WKB/ WKD) aus dem Phasenregister (siehe Abschnitt 2.1) herausgezogen und (fast) jeder Wortform in der Worttabelle zugeordnet; 6) um die langen Worttabellen etwas zu straffen, werden die Flexionsformen (sofern vorhanden) zur Grundform lemmatisiert; dabei werden zugleich die Häufigkeiten zur Grundform aufsummiert. Dies geschieht Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 466 so, daß die Flexionsformen erkennbar bleiben. Da ein Programm fehlt, das die Flexionsformen automatisch auf die jeweilige grammatische Grundform zurückführt und zugleich die Einzelhäufigkeiten der Flexionsformen zur der der Grundform aufsummiert, muß dieser Arbeitsgang manuell vorgenommen werden. Die Worttabelle wird später zweispaltig formatiert. 7. Zum Ergebnis Das kommende Wörterbuch ist ein wohl etwas ungewöhnlicher Versuch, nicht primär Wortbedeutungen und Bedeutungswandel, sondern im direkten Zugriff Themen und Diskurse einer in der Tat faszinierenden Zeit zu erschließen, soweit sie im Wendekorpus enthalten sind. Ob und wie weit dabei doch auch Wortgebrauch erschlossen und erklärt wird, mag der Benutzer entscheiden. Für die Zeit der staatlichen Teilung und deutsch-deutschen sprachlichen Differenzierung liegen sacherklärende Nachschlagewerke und bedeutungsbzw. gebrauchserklärende Wörterbücher vor, auf die hier verwiesen wird (siehe Anhang Literaturhinweise). Mit solchen Nachschlagewerken und Wörterbüchern kann und will das Wörterbuch nicht konkurrieren, noch weniger mit Intensivstudien zu ausgewählten Wortschatzbereichen der Wendezeit. Es hat seine eigene Funktion. Über seinen praktischen Nutzen hinaus kann, wenn man so will, jedes Stichwort des Wörterbuchs ein „Schlüssel“ sein auch zur Vergegenwärtigung einer Zeit, die, wäre sie nicht im Wendekorpus textlich aufbewahrt, zu schnell im Vergessen versänke. Für uns war die Arbeit an den Texten der Wendezeit, obwohl sie doch erst sechs - sieben Jahre zurückliegt, auch eine Arbeit des Wiederentdeckens, des Wiedererinnerns. Wenn für die Benutzer des Wörterbuchs in ähnlicher Weise diese Zeit dramatischer Umbrüche, ersehnter Befreiung, heftigen Streits, großer Hoffnungen und mancher Enttäuschungen nachvollziehbar würde, wäre ein wichtiger, wenngleich inoffizieller, Zweck erfüllt. <28> „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 467 Liste der in den Quellenangaben benutzten Siglen Sigle: Auflösung: Bild Bild-Zeitung Bürgerbeweg.Brosch. „Wir sind das Volk“ (Broschüre) 11/ 89 Bürgerbeweg.Dem.Komm. Bürgerbewegungen für Demokratie in den Kommunen (Broschüre) 4/ 90 Bu-Prot., Bu.Prot. Bundestags-Protokolle BZ Berliner Zeitung (Berlin-Ost) FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FR, F.R . Frankfurter Rundschau Gedächtnisprot. Gedächtnisprotokolle (Broschüre der ev. Kirche) Hndz. Handzettel (möglichst mit Angabe der Gruppe) IFM, I.F.M . Initiative Frieden und Menschenrechte Info Staatsvertr. Informationen zum Staatsvertrag (Broschüre) Interv.Brosch. „die Karre durch den Dreck bringen“ - Erste deutsche Gemeinschaftsinterviews (Broschüre) 12/ 90 JW, J.W. Junge Welt (Zeitung der FDJ ) LAZ, L.A.Z Leipziger Andere Zeitung LVZ Leipziger Volkszeitung MM Mannheimer Morgen Montagsdemo Montagsdemonstration - Leipziger Demontagebuch (Broschüre) 11/ 89 NBI, N.B.I Neue Berliner Illustrierte <29> ND Neues Deutschland N.F., NF -Brosch. Neues Forum: Die ersten Texte des Neuen Forums (Broschüre) 12/ 89 NZ, N.Z. Neue Zeit (Ost- CDU ) Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 468 Opp.-Brosch. Die Opposition in der DDR (Broschüre) 11/ 89 Pol.Part. Politische Parteien und Bewegungen in der DDR über sich selbst (Broschüre) 3/ 90 Rh.M. Rheinischer Merkur Spiegel DER SPIEGEL Stern der Stern taz Sonderh. tageszeitung Sonderheft 1 und 2 (Berlin-West) telegr. telegraph - Aktuelle Blätter der Umweltbibliothek Berlin (Ost) Temp. Temperamente, Blätter für junge Literatur (Ost) UNION UNION (Wochenzeitung der Ost- CDU ) Vk-Prot. Volkskammer-Protokolle VL, V.L. Vereinigte Linke Wahl akt. Vereinigte Linke: Wahl aktuell 3/ 90 Wahl-Brosch. Parteien zur Wahl (Broschüre) WoPo Wochenpost Zeit DIE ZEIT Weitere Quellen werden in unsiglierter Form zitiert. „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 469 Anmerkungen [1] Infolge der Auflösung des Ost-Berliner Zentralinstituts für Sprachwissenschaft übernahm das Mannheimer IDS im Jahre 1991 22 qualifizierte Linguist/ innen, die <30> heute voll integriert sind, darunter auch einige derjenigen Mitarbeiter/ innen, die seinerzeit an der Konzeption des Wendekorpus mitgearbeitet hatten. [2] So finden sich zu den später so wichtigen, negativ konnotierten Wörtern evaluieren/ Evaluierung/ Evaluation ebenso wie zu abwickeln/ Abwicklung nur relativ wenig typische Belege im Wendekorpus. [3] COSMAS und mit ihm alle Textkorpora des IDS sind auch für externe Benutzer via Internet nutzbar. Für alle Einzelheiten vgl. das im IDS entwickelte Benutzerhandbuch al-Wadi, Doris, 1994. [4] Das war allerdings nicht allein dem Zwang zur Begrenzung der Stichwortanzahl geschuldet, sondern mehr noch der Tatsache, daß eine wortfeld-orientierte Bearbeitung (zumal bei mehr als doppelter Personalkapazität) Zusammenhänge wesentlich besser darstellen kann als das notwendig vereinzelnde alphabetische Wörterbuch. [5] Dies beruhte auf einer gesonderten Untersuchung von nahezu 900 Wörtern der Emotionalität und Moralität im Wendekorpus (vgl. dazu jetzt Hellmann 1997/ 2). Dieser Wortschatzbereich ist, obwohl er bei der Textauswahl für das Korpus sicher keinerlei Rolle gespielt hat, überaus reich vertreten. Im Wörterbuch sind ca. 30 Prozent davon lexikographisch bearbeitet. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 470 Literaturhinweise (in Auswahl) al-Wadi, Doris 1994: COSMAS Benutzerhandbuch; Institut für deutsche Sprache Mannheim (Eigenverlag). Das Benutzerhandbuch bezieht sich auf die Version R.1.3-1. Barz, Irmhild / Fix, Ulla unter Mitarbeit von Marianne Schröder (Hgg.) 1997: Deutsch-deutsche Kommunikationserfahrungen im arbeitsweltlichen Alltag. (= Sprache - Literatur und Geschichte. Studien zur Linguistik/ Germanistik Bd. 16), Heidelberg (Universitätsverl. C. Winter) [Sammelband] Fraas, Claudia / Steyer, Kathrin 1992: Sprache der Wende - Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Deutsche Sprache Jg. 20, H. 2, S. 172-184. Fraas, Claudia 1996: Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen - Die Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE im Diskurs zur deutschen Einheit. (= Studien zur deutschen Sprache Bd. 3), Tübingen (Narr). Good, Colin 1991: Der Kampf geht weiter oder Die sprachlichen Selbstrettungsversuche des SED -Staates. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 67, S. 48-55. Hellmann, Manfred W. 1990: DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme. In: Muttersprache Jg. 100, H. 2/ 3, S. 266-286. [= Beitrag Nr. 12 in diesem Band] <31> Hellmann, Manfred W. 1993: Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch. In: Muttersprache Bd. 103, H. 3, [Themenheft Sprache nach der Wende] S. 186-218 (Anhang S. 214-218). [= Beitrag Nr. 13 in diesem Band] Hellmann, Manfred W. 1994: Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt - Brücke oder Schranke der Verständigung? . In: Terminologie et Traduction (Kommission der Europäischen Gemeinschaft - Übersetzungsdienst - Luxemburg) No. 1, S. 105- 138. Nachdruck in bulgarischer Sprache (übersetzt von Ljubima Jordanova) in: Jordanova, Ljubima / Mattheier, Klaus J. (Isd.): Gorešti to ki na sociolinguistikata. Germanija. Sofia: Bullex 1995, S. 206-237. [= Beitrag Nr. 14 in diesem Band] Hellmann, Manfred W. 1996: Lexikographische Erschließung des Wendekorpus - Ein Werkstattbericht. In: Weber, Nico (Hg.): Semantik, Lexikographie und Computeranwendungen (= Sprache und Information), Tübingen (Niemeyer), S. 195- 216. Hellmann, Manfred W. 1997/ 1: Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung. In: Der Deutschunterricht H. 1 [Themenheft Sprachwandel nach 1989], S. 17-32. [= Beitrag Nr. 16 in diesem Band] „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 471 Hellmann, Manfred W. 1997/ 2: Wörter der Emotionalität und Moralität in Texten der Wendezeit - Sprachliche Revolution oder Kommunikationsbarriere? In: I. Barz / Fix, Ulla (Hgg.): Deutsch-deutsche Kommunikationserfahrungen im arbeitsweltlichen Alltag; S. 113-152. Hellmann, Manfred W. 1997/ 3: Sprach- und Kommunikationsprobleme in Deutschland Ost und West. In: Schmirber, Gisela (Hg.): Sprache im Gespräch - Zu Normen, Gebrauch und Wandel der deutschen Sprache. München (Hanns-Seidel- Stiftung), S. 53-87. Henne, Helmut: (Kommentar) Hassen. Legendieren. Abschöpfen. Das Wörterbuch der Staatssicherheit. In: ZGL ; 23.2, 1995, S. 210-214. Herberg, Dieter 1993: Die Sprache der Wendezeit als Forschungsgegenstand. Untersuchungen zur Sprachentwicklung 1989/ 90 am IDS [Bericht]. In: Muttersprache Bd. 103, H.3 [Themenheft Sprache nach der Wende], S. 264-266. Herberg, Dieter 1994: Schlüsselwörter der Wendezeit. Ein Projekt zur Auswertung des IDS -‘Wendekorpus’. In: SPRACHREPORT ( IDS ), Nr. 1, S. 4. Nachdruck in bulgarischer Sprache in: Jordanova / Mattheier (Isd.): Gorešti to ki na sociolinguistikata 1995, S. 188-197. Herberg, Dieter / Stickel, Gerhard 1992: Gesamtdeutsche Korpusinitiative. Ein Dokumentationsprojekt zur Sprachentwicklung 1989/ 90. In: Deutsche Sprache, H. 2, S. 185-192. Herberg, Dieter / Steffens, Doris / Tellenbach, Elke 1997: Schlüsselwörter der Wendezeit - Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 1990. 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[Erstausgabe unter dem Titel: Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon; München (Heyne Verl.) 1986.] Bibliographie 1997: Wende-Bibliographie. Literatur und Nachschlagewerke zu Sprache und Kommunikation im geteilten und vereinigten Deutschland nach der Wende. Im Institut für deutsche Sprache erarbeitet von Manfred W. Hellmann. Unveröffentl. Manuskript, IDS Mannheim. [Erschienen in: amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 99. Mannheim (Institut für Deutsche Sprache)]. Cerný, Jochen u.a. (Hgg.) 1992: Wer war wer - DDR . Ein biographisches Lexikon. Berlin (Links-Verl.). DDR Handbuch 1985: DDR Handbuch. Hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, wiss. Leitung Hartmut Zimmermann, 2 Bde., 3. überarb. und erw. Aufl. Köln (Verl. 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[Mit Literaturhinweisen] „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 473 Reiher, Ruth (Hg.) 1995: Mit sozialistischen und anderen Grüßen. Porträt einer untergegangenen Republik in Alltagstexten. Berlin (Aufbau Verl.). Weidenfeld, Werner / Korte, Rudolf (Hgg.) 1996: Handbuch zur deutschen Einheit. Neuausgabe 1996. Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) Wimmer, Micha / Proske Christine u.a. (Redaktion) 1990: „Wir sind das Volk! “ Die DDR im Aufbruch. Eine Chronik in Dokumenten und Bildern. (= Heyne Sachb. Nr. 19/ 113) München (Heyne). Wörterbuch der Staatssicherheit 1993: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur „politisch-operativen Arbeit“; Reihe A Dokumente, Nr. 1/ 93. Berlin. Anhang Der Wörterbuch-Eintrag Bürokrat/ -kratie/ .-kratisch [Der Gebrauch der Zeichen, insbesondere der Verweispfeile, entspricht nicht dem in meiner Endfassung von 2001. MWH ] Der Wörterbuch-Eintrag ist formal eine Mischung aus (vor allem am Anfang) referierender und beleg-zitierender Kommentierung. Haupt-Gliederungsabschnitte sind mit dem Zeichen „•“ gekennzeichnet. Dem Wortartikel sind als Unterstichwörter angegliedert: Bürokratismus, Entbürokratisierung und unbürokratisch. Bürokrat/ -kratie/ .-kratisch Komm.: Ausnahmslos negativ wertend; stark überwiegend (außer in Texten der SED vor der Wende) für System und Herrschaftspraxis in der DDR ; Kritik: Unterordnung des Staates und der Wirtschaft unter die B.tie ( Politb.tie) der Partei; das System in der DDR als hochb.tisch, politb.tisch, administrativ-b.tisch, staatsb.tisch, <34> totalitärb.tisch, zentralistisch-b.tisch u.a. und deswegen zum Scheitern verurteilt; häufig in der Nähe bzw. synonym zu stalinistisch/ Stalinismus. • [Vor der Wende: ] Im Sprachgebrauch der SED oft in der Verbindung herzlos und b.isch: [SED-Texte: ] «Wählerauftrag an die Volksvertreter: der Kritik an Herzlosigkeit und b.tischem Verhalten, wie sie den Bürgern in manchen staatlichen Organen immer noch begegnet, konsequent nachzugehen» [ BZ 7/ 89]; Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 474 [West-Texte: ] Kritik am B.tismus der SED , des DDR -Systems: «wer (= in der DDR ) unbequeme Vorschläge unterbreitet, begegnet oft einem B.ten, der vor allem Richtlinien durchsetzen muß, und selten einem, der bereit und in der Lage ist, sachgerechte Entscheidungen für seinen Verantwortungsbereich zu treffen» [ FAZ 5/ 89]; Lob für Abbbau b.tischer Hemmnisse: «begrüßenswert ist ..., daß im Reise- und Besucherverkehr (= mit der DDR ) b.tische Hemmnisse abgebaut und weitere Gebiete für Tagesbesuche zugelassen werden» [Bu-Prot. 6/ 89]; • [Während der Wende: ] [ SED -Texte: ] Ankündigung: «feinfühlige Leitungstätigkeit auf allen Ebenen, die herzloses Verhalten und b.tisches Verhalten ausschließt» [ BZ 23.10/ 89]; «wir nehmen die Unzufriedenheit der Bürger mit zahlreichen Mängeln in der Versorgung, mit der ungenügenden Kontinuität der Produktion und ausufernder b.tischer Gängelei sehr ernst» [Rundfunkansprache von Krenz, ND 4.11/ 89]; [ SED -Reformer: ] «was an Sozialismus steht also zur Disposition? im letzten Quartal dieses Jahrhunderts offenbart sich das endgültigte Scheitern des b.tisch-administrativen, im Stalinismus wurzelnden politischen Systems des Sozialismus auch in unserem Land» [ BZ 25.11/ 89]; zur Abwehr der Krise: «Abkehr vom hochb.tischen Zentralismus, d.h. drastische Einschränkung der zentralen Planwirtschaft und Übergang zu einer sozialistischen Marktwirtschaft» [Vk.Prot. vom 13.11.89, 12/ 89]; Kirche: Die evang. Kirchen in der DDR verlangen nach Reformen zwecks Beendigung der politb.tischen Herrschaft der marxistisch-leninistischen Einheitspartei; [Oppositionsgruppen: ] Losung: «Deckung statt Verantwortung ist die Devise aller B.ten! » [Montagsdemo 11/ 89]; «Hunderttausende Bürger sind für einen gesellschaftlichen Wandel auf die Straße gegangen, weil sie nicht mehr bereit sind, die Folgen von Mißwirtschaft und b.tischer Willkür zu tragen» [Verein. Linke Extraausg. 5.10/ 89]; «die allgegenwärtige Entmündigung jedes einzelnen in unserer Gesellschaft ist eine permanente Enteignung des Volkes durch die b.tischen Apparate und eine Perversion der in der Verfassung niedergelegten Prinzipien des Volkseigentums und der sozialistischen Demokratie» ... «trotz wichtiger sozialer Errungenschaften warf der Absolutismus einer stalinistischen B.tie unser Land auf dem Gebiet wichtiger Menschenrechte hinter die von den Werktätigen im Kapitalismus erkämpften Freiheiten zurück» ... «die B.ten haben allerdings etwas zu verteidigen, nämlich ihre Macht und einen mit westlichen Konsumgütern ausstaffierten Privilegien-„Kommunismus“, in dem allerdings nur sie „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 475 schon leben, während sie ihn dem Volk erst versprechen, falls es nach ihrem Kommando ordentlich arbeitet» [Bürgerbwg.Brosch. (Verein. Linke) 11/ 89]; «ich habe den Eindruck, es ist nicht so schrecklich viel von dem Sozialismus übrig geblieben; zumindest ist er ein sehr stark stalinistisch und b.tisch geprägter Sozialismus gewesen» [Eppelmann, Opp.Brosch. 11/ 89]; «Freunde, Mitbürger! es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen, nach all den Jahren der Stagnation, ... den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und b.tischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit <35> - welche Wandlung! » [Stefan Heym, Reden am 4. Nov. 89, Bürgerbwg.Brosch. 11/ 89]; « Utopieverlust führt zu Verb.tisierung der Idee. die scholastische Weltanschauung Marxismus-Leninismus erweist sich als falsches Bewußtsein, also Ideologie, solange sie mit Hilfe der Macht bewiesen wird» ... aber: es gibt in der SED ein «Potential von Sachkompetenz, Einsatzbereitschaft und Wertebewußtsein, das in der Öffentlichkeit oft verdeckt wird durch kleingeistige B.ten und engstirnige Administratoren der Macht und der Ideologie» ... «auch die innerparteiliche Demokratie könnte durch ein Abrücken vom demokratischen Zentralismus, den manche b.tischen Zentralismus nennen, erreicht werden, also wenn der Entscheidungsprozeß von oben nach unten durch den Entscheidungsprozeß von unten nach oben bereichert wird» [Opp.Brosch. (Fr. Schorlemmer) 11/ 89]; «b.tische Reformkonzepte reflektieren nur die Scheinalternativen „Zentralismus“ (bis zum Exzess des Dirigismus) oder „ Dezentralisierung“ (mit ohnmächtiger Inkaufnahme strukturpolitischer Deformationen), gepaart mit formalistischen Wechselbädern in der Anwendung von mehr oder weniger „sozialistischer Marktwirtschaft“» [Opp.Brosch. (Thomas Klein) 11/ 89]; «man kann der b.tischen Hydra noch so viele Köpfe abhauen: wenn es am Ort, im Betrieb, in der Schule, im Kindergarten nicht demokratisch wird, dann ist alles vergebens, alle Änderung nur Kosmetik! » [Neues Forum, nach BZ 12/ 89]. [West-Texte: ] Zum neuen Reisegesetz der DDR : «b.tisch geregelte Reisefreiheit - in der DDR wurde der Entwurf eines Gesetzes über Reise und Ausreise veröffentlicht» [taz Sonderh. 7.11/ 89]; «es war absehbar, daß bei Wegfall des äußeren Zwanges, der das Regime des b.tischen Sozialismus stabilisierte, sehr bald auch die Machtstrukturen ins Wanken geraten mußten» ... «ohne eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems, ohne den Abbau b.tischer Planwirtschaft und den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung wird wirtschaftliche Hilfe letztlich vergeblich sein» [Bu-Prot. 8.11/ 89]; durch Ausreisewelle und Demonstrationen haben manche Intellektuellen (= in der DDR ) ihre Loyalität gegenüber der Parteib. aufgekündigt. Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 476 • [Vor der März-Wahl: ] Programmatische Aussagen von Parteien und Vereinigungen: aus dem neuen Programm der PDS : «ihr innerparteiliches Leben wird charakterisiert durch eine strikte Ablehnung des repressiven b.tischen Zentralismus und Dogmatismus stalinistischer Prägung» [Pol.Part. ( PDS ) 3/ 90]; Gysi: durch die Aufhebung des administrativ-b.en Sozialismus ist der Weg frei für einen demokratischen Sozialismus; «das administrativ-b.tische Gesellschaftssystem des real existierenden Sozialismus in der DDR wurde durch die Bewegung der Straße, durch Frauen und Männer, zerstört» [Programm Unabh. Frauenverband 3/ 90]; «in der DDR ist nicht die Planwirtschaft gescheitert, sondern ein als „Planung“ getarntes System b.tischer Kommandowirtschaft» ... «unser Land ist über lange Zeit dem Diktat selbstherrlicher B.ten ausgeliefert gewesen, die ihre Mißwirtschaft mit unerträglicher Sozialismusdemagogie verbrämten» [Stern Extra zur Wahl (Verein. Linke) 2/ 90]; «Kohl & Co. bombardieren Deutschland Ost und West mit einer monströsen Panikmache. die stalinistische B.tenherrschaft ist zerfallen, doch nun soll auch der Zusammenbruch der DDR -Wirtschaft selbst herbeigeredet werden» [Spartakist Manifest 3/ 90]. • [Nach der Wende: ] Die b.tisch-agrarische Ordnung der alten orientalischen Despotien wurde von der Lenin-Stalinschen Gesellschaftserfindung übernommen [WoPo 3/ 90]; • B.ten/ B.tie in verschiedenen Teilbereichen: Honecker als b.tischer Sündenbock? : «zugegeben, Honni und seine Kumpels waren unerträgliche autokratische B.ten, die ihr leider zu spät in Rente geschickt habt. aber, meine Damen und Herren <36> Weltverbesserer aus Leipzig und anderswo, ... ward ihr nicht Teil der gesellschaftlichen Misere? » [taz Sonderh. 1/ 90]; B.ten in der Wirtschaft/ Wirtschaftslenkung: « Marktwirtschaft ist demokratisch: ... sie zwingt weder Konsumenten noch Produzenten dazu, sich den obrigkeitsstaatlichen Planvorgaben von B.ten zu unterwerfen» [Bu-Prot. 2/ 90]; «die Betriebe bekommen von oben ihre ... Investitionen und Material zugeteilt. wie kann ein b.tischer Apparat genau wissen, wann was wo gebraucht wird? » [WoPo 12/ 89]; hinter der kollektiven Abstinenz der Industriearbeiterschaft (= in der DDR ) stand «eine betriebliche Herrschafts- und Konsensstruktur, die sich als „b.tischer Paternalismus“ charakterisieren läßt» [F.R. 4/ 90]; B.ten im Bildungswesen: «unsere Würde (= als Lehrer) ist nicht von Christa Wolf, sondern von Schreibtischpädagogen, B.ten und Ideologen verletzt worden» [zwei Lehrer, nach WoPo 12/ 89]; „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 477 B.ten im Gesundheitswesen: «in der DDR gibt es mehr als genug Ärzte. aber von fünfen sind drei B.ten, die nicht mal mehr einen Blinddarm finden würden» [ein ehem. DDR -Arzt über die Kollegen, nach RhM 3/ 90]; B.ten im Bauwesen: «es kam in den sechziger Jahren die hohe Zeit der Abrißstrategen und anonymer Baub.ten» [taz Sonderh. 1/ 90]; B.ten in der Wohnungswirtschaft: «die staatlich betriebene Wopo (= Wohnungspolitik) und Wowi (= Wohnungswirtschaft) habe sich zu einem b.tischen Verwalter entwickelt, dem die Bürger als Bittsteller ausgeliefert sind» [ LVZ 2/ 90]; B.ten bei der Treuhand: «West-Manager und ehemalige SED -B.ten bei der „Treuhand“» wollen Kali-Bergwerke schließen [Stern 8/ 90]; neue B.tie im Handel: «der Handel (= in der DDR ) soll gezwungen werden, die einheimischen Produkte wieder ins Regal zu stellen. das schafft zumindest Arbeitsplätze für B.ten» [Spiegel 6/ 90]. • B.tisches Verhalten auch im Westen/ im vereinigten Deutschland? : in den Aufnahmelagern dauert «die Wiedervereinigung der ostdeutschen Bürger mit der westdeutschen B.tie ... drei bis sieben Tage» [Spiegel, 14.8.89]; «liebe Beamten, seien Sie nicht b.tisch, haben Sie Geduld, helfen Sie. diese Menschen wurden jahrelang von Staat und Diktat bevormundet» [Bild 9/ 89]; zum System der ostdeutschen Gesundheitsb.tie; Abbau der beiderseitigen Staatsb.tien als Bedingung der deutschen Einheit; das Innerdeutsche Ministerium ist (für die Grünen) «ein aufgeblähter Apparat, die b.tische Installierung eines bundesdeutschen Anspruchs» [Bu-Prot., 28.11.89]; westdeutsche Firmen beklagen, daß die „Genehmigungsb.tie“ in der DDR immer noch unverändert bleibt; Jusos fordern Volksabstimmung über die deutsche Einheit: «als „bloßer b.tischer Verwaltungsakt“ nach dem Grundgesetz sei eine grundlegende Neuordnung der deutschen Verhältnisse undenkbar« [F.R. 3/ 90]; Forderung im Verfassungsentwurf des „ Runden Tisches“: «plebiszitäre Elemente und besondere Verfassungsbestimmungen zur Abwehr anonymer b.tischer Mächte» [taz Sonderh. 3/ 90]; neue Berufsverbote? : «rüsten sich die B.ten aller Bundesländer, „Dossiers“ anzulegen und die Verbindungen zu den Verfassungsschutzämtern neu zu knüpfen? » [F.R. 9/ 90]; zur Situation an den Universitäten: Kampf der Immatrikulationsb. in Ost und West mit dem (Studenten-) Ansturm; «die Organisationsprinzipien von Lehre und Forschung der Universität im heutigen Deutschland werden immer mehr von der Logik der staatlichen B.tisierung bestimmt» [Zeit 11/ 90]; «Unentschiedenheit und b.tische Hemmnisse (= der neuen Landesregierungen im Osten) erschweren das Leben auch derjenigen, die guten Willens gekommen sind, um aufzubauen und Arbeitsplätze zu schaffen» [Sachsenspiegel 12/ 90]. <37> Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 478 • Die europäischen Behörden als b.tisch: COCOM als «b.es Monstrum» kritisiert, das den Ost-West-Warenaustausch behindert [W.Roth]; «das b.tische und recht dirigistische, vorerst ziemlich undemokratische Prinzip, das Brüssel verkörpert, ist vielen Deutschen unheimlich» [Zeit 3/ 90]. Bürokratismus: B.tismus als Ursache der Krise: «die ungenügende demokratische Einbeziehung der Bürger in Entscheidungen, ihre ständige Bevormundung und Gängelei, das laufende Hineinreden (= der Partei) in die Leitung von Staat und Wirtschaft und der immer mehr wachsende B.tismus» [Vk-Prot. 12/ 89, Sitzung vom 13.11.89]; PDS: «nicht der Sozialismus hat versagt, versagt haben die historisch überlebten Strukturen, die dem B.tismus und der Willkür Tür und Tor öffneten und schöpferisches Denken unterdrückten» [ ND 1/ 90]; Gegenwehr war möglich: «„ich verwahre mich dagegen, als unmündig hingestellt zu werden ... in den 40 Jahren unserer Republik habe ich mich nie unmündig und als Sklave gefühlt. vielleicht lag es daran, daß ich Kraft, Nerven und Rückgrat hatte, um unsere Probleme selbst zu lösen, mich gegen B.tismus und Herzlosigkeit zu wehren“» [WoPo 17.11/ 89]; [nach der Wende: ] B.tismus besteht weiter: «durch die Umstrukturierung der Wohnraumvergabe muß jeder B.tismus verschwinden» [ LVZ 2/ 90]. Entbürokratisierung: Vorbild Sowjetunion? : «die Reformen in der Sowjetunion bestehen nicht nur aus Perestrojka, also im Umbau des Wirtschaftssystems und in der Entb.tisierung, sondern auch aus Glasnost, der Offenheit, der freien Diskussion und der Respektierung der Andersdenkenden» [Zeit 9/ 89]; «eine Verwaltungsreform hat die Dezentralisierung von Entscheidungen zu fördern und eine radikale Entb.tisierung durchzusetzen» [Opp.Brosch. 11/ 89]. unbürokratisch: Oft in der Verbindung schnell und unb.tisch: [vor der Maueröffnung: ] unb.tische Reiseformalitäten für (West-) Berliner beim Transit duch die DDR , bei Besuchen in Ostberlin gefordert/ angekündigt: [ SED -Texte: ] «Anträge auf ständige Ausreise aus der DDR werden unb.tisch und schnell entschieden» [ ND 6.11/ 89]; [drei Tage später: ] «ab sofort sind die Dienststellen der Deutschen Volkspolizei angewiesen, die Einreise in das Grenzgebiet und den Aufenthalt unb.tisch, schnell und großzügig zu gestalten» [ BZ 11.11/ 89]; „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 479 [West-Texte: ] unb.tische Hilfen (für ausreisewillige DDR -Bürger) in den Botschaften in Budapest, Prag und Wien gefordert/ zugesichert; unb.tische Haltung von BGS , Polizei, Bundesregierung, Landesregierung und Arbeitsverwaltung (u.a. im Durchgangslager Trostberg/ Bayern) gegenüber dem Zustrom an Übersiedlern/ Flüchtlingen aus der DDR gefordert/ bewiesen; Dank an «die Angehörigen des auswärtigen Dienstes: sie arbeiten dort (= in den Botschaften) zum Teil seit Monaten ohne Rücksicht auf Dienstzeiten, um (= den Flüchtlingen) unb.tisch und engagiert Hilfe zu leisten» [Bu-Prot. 9/ 89]; Respekt und Dank ... «an alle Beamte, die eine völlig neue Aufgabe (= bei der Aufnahme der vielen Flüchtlinge) in einer sehr unb.tischen Weise erfüllen» [Bu-Prot. 9.11/ 89]; [nach der Wende: ] im Bundestag unb.tisch finanzielle Hilfen zur Unterstützung des Reformprozesses / zur Vermeidung von Härtefällen / von Zusammenbrüchen, zur Anschubfinanzierung wichtiger Einrichtungen gefordert/ beraten/ beschlossen; <38> Kritik an der «Bundesregierung, die sich bis heute weigert, den Menschen in der DDR mit wirksamen Sofortmaßnahmen konkret, rasch und unb.tisch unter die Arme zu greifen» [Bu-Prot. 2/ 90]. Verw.: administrativ, Demokratisierung, Dogmatismus, Polit-, zentralistisch Die Worttabelle Die Worttabelle wird hier in der noch unlemmatisierten Form gezeigt. Die maximale Wortlänge in der linken Spalte beträgt 26 Zeichen. Längere Wortformen werden mit dem Zeichen „\“ um jeweils 3 bis 4 Zeichen gekürzt. Sternchen markiert Wörter, die nach Häufigkeit und Gebrauch als Stichwörter in Frage kommen, aber nicht unbedingt auch als Stichwörter bearbeitet sind. Belegte Wortformen: gesamt: W/ O: gesamt: W/ O: administrativ-b\atische * 2 1 1 monopolbürokratischer 1 0 1 administrativ-b\atischen 2 1 1 Parteibürokratie 4 2 2 administrativ-b\atischer 2 1 1 Planbürokraten 1 0 1 ARD -Hyperbürokratie 1 1 0 Planbürokratie 2 2 0 Baubürokraten 2 2 0 Planungsbürokrat 1 1 0 Baubürokratie 1 1 0 Planungsbürokratie 2 1 1 Bürokrat * 1 0 1 Plan_bürokratien 1 1 0 Bürokraten 18 10 8 Polit-Bürokratie 1 0 1 Bürokraten-Scherz 1 1 0 Politbürokrat * 2 2 0 Bürokratenhaufen 1 1 0 Politbürokraten 7 2 5 Bürokratenherrschaft 3 0 3 Politbürokratie * 12 0 12 Zum Sprachgebrauch während und nach der Wende 480 Bürokratenrache 1 1 0 politbürokratische * 2 0 2 Bürokratie * 76 33 43 politbürokratischen 6 1 5 Bürokratieerfahrung 1 1 0 politbürokratischer 1 0 1 Bürokratien 4 3 1 RGW -Bürokratie 1 1 0 bürokratisch * 10 3 7 Schulbürokratie 1 1 0 bürokratisch-adm\trative 1 0 1 SED -Bürokraten 1 1 0 bürokratisch-adm\trativen 1 0 1 SED -Bürokratie 1 1 0 bürokratisch-agrarische 1 0 1 SED -Politbürokraten 1 0 1 bürokratisch-zentr\tische 1 0 1 Sportbürokraten 1 1 0 bürokratische 27 19 8 Staatsbürokratie 1 1 0 bürokratischem 2 0 2 Staatsbürokratien 1 1 0 bürokratischen 36 13 23 staatsbürokratisch 1 0 1 bürokratischer 16 8 8 Staats_bürokratie 2 0 2 bürokratisches 4 1 3 stalinistisch-b\ratische 1 0 1 Bürokratisierung 3 1 2 Überbürokratie 1 0 1 Bürokratismus * 6 2 4 Überbürokratisierung 1 0 1 Entbürokratisierung * 4 2 2 unbürokratisch * 23 14 9 Genehmigungsbürokratie 1 1 0 unbürokratische 3 2 Gesundheitsbürokratie 1 1 0 unbürokratischen 5 3 2 hochbürokratische 2 1 1 unbürokratischeren 1 1 0 hochbürokratischen 2 1 1 Verbands-Bürokraten 1 1 0 Hyperbürokratie 1 1 0 Verbürokratisierung 1 0 1 Immatrikulationsb\kratie 1 0 1 Verwaltungsbürokratie 1 0 1 <39> Kaderbürokratie 1 0 1 Wirtschaftsbürokraten 1 0 1 konservativ-b\ratischer 1 0 1 Wirtschaftsbürokratie 2 0 2 Kulturbürokraten 1 1 0 Wirtschaftsbürokratien 1 1 0 Medienbürokraten 1 1 0 Wohnungsbürokraten 1 0 1 Ministerialbürokratie 2 2 0 zentralisch-b\ratischer 1 1 0 Ministerialbürokratien 1 1 0 zentralistisch-b\ratisch 2 0 2 monolithisch-b\ratischen 1 1 0 Wformen: 82| Belege: 357| Resümee und Ausblick Aus: Eichhoff-Cyrus / Hoberg (Hg.) (2000): Die deutsche Sprache zur Jahrtausendwende. Sprachkultur oder Sprachverfall? (= Thema Deutsch 1). Mannheim u.a., S. 247-275. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG und der Gesellschaft für deutsche Sprache.] Divergenz und Konvergenz Sprachlich-kommunikative Folgen der staatlichen Trennung und Vereinigung Deutschlands. Ein Überblick* 1 Zur Reichweite der Begriffe Divergenz und Konvergenz Die Geschichte der deutschen Sprache in Ost- und Westdeutschland lässt sich durchaus unter den Stichworten Divergenz und Konvergenz subsumieren: Divergenz als Prozesse sprachlicher Auseinanderentwicklung unter den Bedingungen staatlicher Trennung der beiden deutschen Staaten und ihren Folgen zunehmender gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und auch sprachlicher Differenzierung von etwa 1946 bis 1989; Konvergenz als die Prozesse der Annäherung, des sprachlich-kommunikativen Ausgleichs unter den Bedingungen der Demokratisierung der DDR seit der Wende 1989/ 90 und der Vereinigung mit der BRD am 3. Oktober 1990 bis heute. Diejenigen, die sich in den letzten vierzig Jahren mit diesem Thema befasst haben, sind sich einig: Diese sprachlichen Differenzierungen waren vornehmlich lexikalischer Art. Was nicht verwundert, ist doch der Wortschatz einer Sprache derjenige Teil des sprachlichen Systems, der am schnellsten und umfassendsten auf Veränderungen jeglicher Art im Leben der Menschen reagiert und reagieren muss. Die Geschichte nur so zu sehen wäre jedoch zu einfach. Es sind Vorbehalte zu machen, die das Bild modifizieren, aber auch komplizieren. (1) Die sprachlichen Differenzierungen zwischen den beiden Kommunikationsgemeinschaften BRD und DDR sind zwar überwiegend, aber nicht ausschließlich lexikalischer Art. Sie betreffen nicht nur den * Dieser Text beruht - stark gekürzt und überarbeitet - auf meinem Handbuchartikel im Band Lexikologie (2. Halbbd., Art. 184) der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ( HSK ): Differenzierungstendenzen zwischen ehemaliger DDR und BRD ; Berlin - New York: de Gruyter [2005]. Resümee und Ausblick 484 Wortschatz, sondern auch und gerade den Wortgebrauch; sie betreffen u.a. auch Stil und Phraseologie, in sehr geringem Umfang auch die Syntax, und sie können auch nichtsprachlicher Art sein. <248> (2) Neben Differenzierungstendenzen gab es immer auch Ausgleichstendenzen; es gab ferner Mittel, trotz sprachlicher Differenzierungen die Verständigung weiterhin intakt zu halten. (3) Differenzierungen im hier gemeinten Zusammenhang haben zwar ihre Ursache in der Teilung Deutschlands in zwei Staaten und in deren getrennter politischer und gesellschaftlicher Entwicklung, aber sie enden nicht mit der staatlichen Vereinigung, sondern wirken weiter. Manche Aspekte der Differenzen sind erst infolge der Wende, der Vereinigung und des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Alltage ins Bewusstsein der Sprachteilhaber getreten. (4) Gut erforscht und dokumentiert war bis 1989 allein der öffentliche Sprachgebrauch und sein Wortschatz in der DDR. Den Sprachgebrauch im Alltag der DDR zu erforschen war vor der Wende in vieler Hinsicht schwierig oder unmöglich (nicht nur für westdeutsche Linguisten), insofern waren Aussagen über sprachliche Ost-West-Differenzen notwendigerweise einseitig. Untersuchungen etwa zum nichtöffentlichen Sprachgebrauch in der DDR können erst seit der Beseitigung früherer Forschungsrestriktionen und der Öffnung aller Quellen in Angriff genommen werden. Aus diesen Gründen ist die Forschung zu den sprachlichen Ost-West-Differenzierungen noch nicht an ihre Ende gekommen. Andererseits erschwert der zunehmende zeitliche Abstand schon wieder bestimmte Forschungen, insbesondere solche, die sich auf die aktive sprachliche Kompetenz der Sprachteilhaber beziehen. (5) Aber selbst für den öffentlichen Sprachgebrauch der beiden deutschen Staaten gilt: Er ist als Geschichte noch nicht systematisch vergleichend untersucht worden. Sprachgebrauch der frühen Nachkriegszeit, als die sowjetische und die westlichen Besatzungszonen noch unter Besatzungsrecht standen, Sprachgebrauch der Ulbricht-Zeit bis zu Stalins Tod und danach, Sprachgebrauch der Honecker-Zeit bis zum Abschluss des Grundlagenvertrags mit der BRD und danach, Sprachgebrauch der achtziger Jahre, Sprachgebrauch der Wendezeit - all diese Perioden in der Sprachgeschichte der DDR zeigen neben Gemeinsamkeiten auch Divergenz und Konvergenz 485 Unterschiede. Setzte man sie in Bezug zu den Perioden in der Sprachgeschichte der BRD (vgl. dazu u.a. Schlosser 1990, Braun 1993, von Polenz 1999, Schmidt 2000), könnte neben Komplementärem sehr viel Nicht-Komplementäres sichtbar werden. In diesem Überblick müssen solche historischen Aspekte unberücksichtigt bleiben. <249> 2 Sprachspaltung - Spracheinheit - Varietäten Nach anfänglichen Alarmrufen, dem Deutschen drohe eine „Sprachspaltung“ (dagegen schon Betz 1962/ 64), vertraten Sprachwissenschaftler in beiden Staaten seit Anfang der 60er Jahre überwiegend die Auffassung, eine „Spaltung“ drohe nicht, das Sprachsystem und der bei weitem größte Teil des Wortschatzes seien weiterhin gemeinsam (vgl. Korlén 1962/ 64; Moser 1962). Allerdings gebe es erhebliche, zunehmende Sonderungen, Divergenzen, Differenzen im Wortschatz und im Wortgebrauch. Die Verantwortung dafür schob man jeweils meist der anderen Seite zu („Parteijargon“, „Funktionärsdeutsch“, „Kaderwelsch“ versus „angloamerikanische Überfremdung“, „imperialistische Sprachmanipulation“); zudem wurden die Besonderheiten der einen Seite von der jeweils anderen als „Verhunzung“, „Missbrauch“, als Abweichung von der eigenen Sprachgebrauchsnorm gesehen (vgl. Hellmann 1989). Seit Mitte der 60er Jahre wurde, um die Untersuchung der ostwestdeutschen Sprachentwicklung auf bessere empirische Grundlagen zu stellen, mit der Erfassung eines größeren Korpus ost- und westdeutscher Zeitungstexte begonnen (s. BZK 1984 und 1992); dies und die vehemente Kritik von Dieckmann (1967) führte in der Folge zu einem methodenbewussteren, empirisch besser gesicherten Herangehen. In der BRD standen für die Untersuchung des DDR-Sprachgebrauchs freilich nur öffentlich zugängliche, d.h. von Partei und Staat kontrollierte und geprägte Texte zur Verfügung. Der Vorwurf, die westdeutschen Sprachwissenschaftler hätten sich dadurch verleiten lassen, die „Verlautbarungssprache“ der DDR-Medien für den Sprachgebrauch der DDR-Bürger zu halten, trifft allerdings auf die meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht zu: Man war sich bewusst, dass zwischen Verlautbarungssprache und Alltagssprache eine große Kluft bestand - weit größer als in der BRD -, ohne diese Kluft und die Alltagssprache näher beschreiben zu können. Resümee und Ausblick 486 Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler der DDR standen vor einem größeren Dilemma: Westdeutsche Texte waren nur den wenigsten zugänglich, parteiliche Vorgaben prägten auch die Ergebnisse vor, eine kritische Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Sprachgebrauch und seiner Abgehobenheit von der Alltagssprache war - von vorsichtigen Ausnahmen (z.B. in der Zeitschrift Sprachpflege) abgesehen - unmöglich. Ostdeutsche Linguistinnen und Linguisten haben dies nach der Wende umfassend nachgeholt. Nachdem das Modell „intakte Sprache West versus parteilich verhunzte Sprache Ost“ ad acta gelegt war, dominierte für längere Zeit ein anderes: Der alltägliche Sprachgebrauch der DDR-Bürger stimme wei- <250> testgehend mit dem in der BRD überein, das „einigende Band der Sprache“ halte; die Verlautbarungssprache sei eine Art Fremdkörper; wenn sie verschwinde, sei die Spracheinheit wieder hergestellt (so z.B. Oschlies 1989a; 1989b). Eine ähnliche „Zweisprachigkeitstheorie“ gab es auch in der DDR: Der westdeutsche Sprachgebrauch sei durch Klassenauseinandersetzungen geprägt, die Sprache der Herrschenden sei nicht die der Arbeiterklasse, die ihren eigenen, fortschrittlichen Sprachgebrauch auch in der BRD immer konkreter ausbilde. So einleuchtend das „Zweisprachigkeitsmodell“ scheint - es erwies sich als zu einfach. Auch in der DDR gab es sprachlich-kommunikative Übergangs- und Mischungsbereiche, außerdem Wörter und Wortverbindungen, die als namensähnliche Bezeichnungen von jedem gebraucht werden mussten, unabhängig davon, ob sie einmal von der Partei eingeführt worden waren oder nicht. Ostdeutsche wussten gut einzuschätzen, welche Wörter und Wendungen in welchen Situationen zu gebrauchen waren. Westdeutsche haben damit Schwierigkeiten, wie sich vor allem nach der Wende zeigte, als ost-westdeutsche Kommunikationssituationen sich im beruflichen und privaten Alltag häuften; viele hielten (und halten wohl noch immer) Wörter für SEDspezifisch und ideologiegebunden, die nur DDR-spezifisch sind, und ordnen den Sprecher dann falsch ein. Mit Bezug auf die Situation in der DDR trat an die Stelle des „Zweisprachigkeitsmodells“ ein Modell innerer „Dreisprachigkeit“, das sich an einem soziolinguistischen „Register“-Modell orientierte: (a) die offizielle Verlautbarungssprache, (b) die Alltagssprache der Bevölkerung, (c) die „private“, teilweise auch subversiv-kritische oder ironische Sprache, wenn man „unter sich“ war (vgl. Fraas / Steyer 1992, 175). Dieses Modell entsprach eher der Divergenz und Konvergenz 487 Wirklichkeit, berücksichtigte aber noch nicht den Zwischenbereich der Kommunikation in und mit Betrieben oder den Verkehr zwischen Ämtern und Bürgern. Der Umbruch in der DDR machte die Untersuchung auch dieses Bereichs grundsätzlich möglich (vgl. Hellmann 1998, hier 56-58), aber zugleich auch schwierig, da Befragte einige Jahre nach der Wende schon mit nachlassender Erinnerungsleistung zu kämpfen hatten. Hinzu kam die Fähigkeit der DDR-Bürger zum ost-westdeutschen „Transfer“, zum Verständlichmachen und „Übersetzen“ ihrer sprachlichen Eigentümlichkeiten für westdeutsche Besucher. Hierbei kam den DDR-Bürgern zugute, dass sie durchweg besser informiert waren über westdeutsche Verhältnisse und westdeutschen Sprachgebrauch als umgekehrt die westdeutschen Besucher über die DDR und deren Sprachgebrauch (s. dazu 10.1 [3]). <251> Über die Frage, ob die Summe aller ostbzw. westdeutschen Besonderheiten nun jeweils als „Varianten“ (später: „Varietäten“) der binnendeutschen Standardsprache zu betrachten seien und wie ihr Status gegenüber der österreichischen und schweizerdeutschen Varietät einzuschätzen sei, kam es zu einer 15-jährigen Debatte, die beeinflusst war von der Propaganda der SED, die DDR befinde sich auf dem Weg zur „sozialistischen Nation“, „in der Perspektive“ womöglich mit einer eigenen „Nationalsprache“ - was in der BRD heftig bestritten wurde. In der Tat reichten die sprachlichen Indizien dafür keineswegs aus (vgl. Schlosser 1981). In Anlehnung an den australischen Soziolinguisten Michael Clyne (1984) sprach Peter von Polenz (1988) von der „plurizentrischen“ Struktur der deutschen Sprachgemeinschaft und ihrer Standardsprache; „kulturnational“ gebe es weiterhin ein hohes Maß an Gemeinsamkeit, „staatsnational“ hätten die Sprachgebräuche der beiden Staaten zueinander den Status von Varietäten. Dieser Ansatz erwies sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre als geeignet, die festgefahrene Diskussion ost- und westdeutscher Linguisten aufzulockern, die Annahme einer ostdeutschen „Staatsnation“ wurde allerdings durch die Bürger der DDR selbst bald widerlegt. 3 Quantitatives Über das quantitative Ausmaß der lexikalischen Ost-West-Differenzen sind nur Schätzungen möglich, weil es keine vergleichbaren Textkorpora gibt, die den ganzen Zeitraum in beiden Staaten abdecken. Die Schätzungen divergie- Resümee und Ausblick 488 ren notwendigerweise, da es keine einheitliche Definition dessen gibt, was „Spezifika“ oder „Typika“ sind, und wie weit z.B. auch Fachvokabularien einzubeziehen sind. 3.1 Lexik der Wörterbücher Anhaltspunkte dazu geben Wörterbücher. Das WDG (1964-1977) markiert etwas über 2000 Stichwörter mit einem ost-west-spezifizierenden Hinweis (es verfährt dabei eher vorsichtig); bei etwas über 90.000 Stichwörtern entspricht das etwas über 2 Prozent. Schröder / Fix (1998) markieren 560 von knapp 10.000 „Alltagswörtern der DDR“ als „DDR-gebunden“, also knapp 6 Prozent. Die beiden Taschenbücher Kinne / Strube-Edelmann (1981) und Ahrends (1989) buchen zwischen 800 und 900 DDR-spezifische Stichwörter, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen. Das Wörterbuch Hellmann (1992) enthält 602 Stichwörter, es beschränkt sich auf im Ost-West-Vergleich statistisch hochdifferente Wörter (vgl. aber das Register in Band 2 mit mehreren tausend Einträgen). Insge- <252> samt kann man eine Gesamtzahl zwischen 1200 und 2000 lexikalischer DDR-Besonderheiten unterschiedlicher Typen annehmen, die aber z.T. nur innerhalb bestimmter Phasen in Gebrauch waren (vgl. 4.1 [2]). Westdeutsche Wörterbücher markieren BRD-spezifische Lexik leider nicht. Einiges spricht dafür, dass sie eher umfangreicher ist als die DDR-spezifische Lexik. So betont Schlosser (1990, 196), dass die Lexik der BRD von mehr Neologismen, von höheren Innovations- (und Verlust)raten gekennzeichnet sei; ihr Sprachgebrauch sei offener, ihre pluralistische Gesellschaftsstruktur erfordere einen höheren lexikalischen Aufwand. 3.2 Lexik öffentlichkeitsrelevanter Sachgebiete Aufschlussreich sind die Wörter und Wortbedeutungen aus öffentlichkeitsrelevanten Sachgebieten, die nach der Wende aus dem Sprachgebrauch der BRD in den der DDR bzw. der neuen Bundesländer übernommen wurden. Einen quantitativen Überblick zu gewinnen ist nicht einfach, zumal die Gliederung der Sachgebiete - der öffentlichkeitsrelevanten wie auch der mehr alltagssprachlichen - in Ost und West nicht übereinstimmen. Vorläufige Überblicke finden sich in zahlreichen Beiträgen (u.a. bei Hellmann 1997, 68- 70); sie können hier nicht wiederholt werden. Sicher ist, dass die folgenden Sachgebiete einen besonders hohen Anteil differenter Lexeme enthalten: Divergenz und Konvergenz 489 Ideologie/ Weltanschauung, staatliche/ öffentliche Institutionen, Wahlrecht, Wirtschaft, Steuer- und Finanzwesen, Rechtswesen, Soziales, Betrieb und Arbeit, Handel, Versorgung, Konsum, Bildung, Erziehung, Mode, Freizeit, Unterhaltung. Die Kenntnis westdeutscher Sachgebietslexik und ihr sachgerechter Gebrauch bekam für die Ost-Bürger nach der Wende eine lebenspraktische Bedeutung. Nimmt man die Lexik aller öffentlichkeitsrelevanten Sachgebiete sowie alltagssprachliche Besonderheiten zusammen, so liegt die Zahl der Übernahmen aus dem westin den ostdeutschen Gebrauch seit 1990 zwischen 2000 und 3000 (ohne interne Fachvokabularien). Was nicht heißt, dass alle DDR-Bürger so viele Wörter „neu“ zu lernen hatten: Die Mehrzahl kam vermutlich mit einigen hundert aus, manche West-Wörter ließen sich aus ihren Wortteilen verstehen, außerdem waren viele schon vorher passiv bekannt. Sie aktiv zu gebrauchen setzt allerdings einen Lernprozess voraus (dazu s. 10.2). 4 Typisierung lexikalischer Spezifika 4.1 Probleme der Typisierung Eine trennscharfe Typisierung der ostbzw. westdeutschen Spezifika auf der Grundlage überschneidungsfreier Kategorien ist bislang nicht <253> entwickelt worden. Die in 4.2 angewandte onomasiologisch/ semasiologische Typisierung hat sich als einigermaßen praktikabel erwiesen. Sie berücksichtigt allerdings mehrere wichtige Aspekte nicht: (1) Historisches: Spezifika können entstehen, wenn eine Seite ein älteres (gemeindeutsches) Lexem oder eine Bezeichnung beibehält, die andere Seite aber ändert: Reichsbahn, Lehrling oder die Rangbezeichnung Generaloberst wurden in der DDR beibehalten, in der BRD aber zu (Deutsche) Bundesbahn, Auszubildender (Azubi), Brigadegeneral geändert; Standesamt wurde in der BRD beibehalten, in der DDR vorübergehend in Amt für Personenstandsfragen geändert. (2) Zeitbezug: Zahlreiche Wörter waren nur in bestimmten Phasen im Gebrauch: MAS (= Maschinen-Ausleih-Station), MTS (= Maschinen-Traktoren-Station), RTS (= Reparatur-Technische Station) wurden in der DDR nacheinander verwendet; Schrittmacher, überholen ohne einzuholen, das offene deutsche Gespräch, breiter gesellschaftlicher Dialog nur Resümee und Ausblick 490 in bestimmten Phasen. Volksschule - Grundschule/ Hauptschule sowie Honnefer Modell - Bafög waren in der BRD nacheinander, Notopfer Berlin, Lastenausgleich, Twen waren nur in oder seit einer bestimmten Zeit im Gebrauch. Während bzw. kurz nach der Wende entstanden eine Reihe neuer Wörter oder wurden in neuer Bedeutung gebraucht, so z.B. die Bezeichnung Wende selbst für die friedliche Revolution im Herbst 89, die im Sprachgebrauch der BRD vorher den Wechsel von der sozialliberalen zur konservativ-liberalen Koalition bezeichnete, ferner Montagsdemo, Mauerspecht, Wendehals, Blockflöte, Bürgerkomitee, Gruppe der 20, Warteschleife, Treuhandanstalt, Beschäftigungsgesellschaft, die heute zum Teil schon wieder historisiert sind. Auch Abwicklung/ abwickeln - als Wörter seit langem geläufig - haben nach der Wende ihre negativen Konnotationen (etwa ‘die Lebensgrundlage von Menschen zerstören’) erhalten. Andere Wörter dieser Zeit sind nur scheinbar neu, der älteren Generation aber aus der Nachkriegszeit bekannt, wie Persilschein, Bonzen, Lastenausgleich, Mitläufer, Belastete, Hauptschuldige. Grenzüberschreitende Verbreitung: Viele Spezifika einer Seite waren auch auf der jeweils anderen Seite bekannt und als „Zitatwörter“ gebräuchlich, wurden gleichwohl eindeutig einer Seite zugeordnet; dies gilt vor allem für die Bezeichnungen von Institutionen (DDR: Volkskammer, Volksarmee, Volkseigener Betrieb, Staatsrat; BRD: Bundestag, -kanzler, -wehr etc., Aktiengesellschaft, Konzern), seltener auch für alltagssprachliche Wörter (DDR: Broiler, Datsche; BRD: Schlussverkauf). (3) Interne Verbreitung: Nicht alle Spezifika sind den Angehörigen einer Kommunikationsgemeinschaft gleichermaßen bekannt. Allgemein <254> bekannt und gebräuchlich in der DDR waren sicherlich Kombinat, EOS (Erweiterte Oberschule), Brigade, Prämie; die ebenso spezifischen gesellschaftliche(r) Bedarfsträger (eine „gesellschaftliche Einrichtung“ oder ein VEB als Träger eines bestimmten Bedarfs an Versorgungsgütern) oder die Abkürzung KAP (= Kooperative Abteilung Pflanzenproduktion, ein Zusammenschluss mehrerer LPG) waren es weniger. In der BRD war 7b-Abschreibung vornehmlich den „Häuslebauern“ bekannt, Ortszuschlag vornehmlich den Angehörigen des öffentlichen Dienstes; die Abkürzung Kita (Kindertagesstätte) war bis 1989 vornehmlich in West-Berlin gebräuchlich, im Westen der BRD regional weniger gebräuchlich oder ungebräuchlich. Divergenz und Konvergenz 491 (4) Generell ist ein zweifacher Vorbehalt zu machen: (a) In der DDR haben Teile der Bevölkerung stets versucht, den offiziellen Sprachgebrauch und seine ideologiebzw. systemgebundene Lexik zu vermeiden (was nicht heißt, dass sie BRD-spezifische Wörter verwendeten). Wie groß dieser Anteil war und wie erfolgreich diese Versuche unter den gegebenen Bedingungen überhaupt sein konnten, wird unterschiedlich beurteilt. (b) In der BRD ist der öffentliche Sprachgebrauch immer stark differenziert gewesen, u.a. nach politischen Richtungen. Texte der von der SED stark abhängigen bundesdeutschen DKP haben in der BRD ideologie- und systemgebundenen Wortschatz der DDR gebraucht, andere marxistische Gruppen in charakteristischen Abwandlungen. Aber das politische Spektrum war so breit, dass das Vokabular öffentlich relevanter Sachbereiche in zahlreichen richtungsgebundenen Gebrauchsvarianten nachzuweisen ist. Kritisch zu sein und zu schreiben war in der BRD ein intellektueller Breitensport, in der DDR ein existenzgefährdendes Risiko. Eine Typisierung der hier vorgeschlagenen Art kann all dies nicht sichtbar machen, wenn sie einigermaßen übersichtlich und nachvollziehbar bleiben will. 4.2 Typen lexikalischer Spezifika (1) Lexemspezifika: Wörter und Wortverbindungen, bei denen Bezeichnung und Bezeichnetes jeweils einer Kommunikationsgemeinschaft zuzuordnen, für sie typisch sind. BRD : Beamter, Zweitstimme, Makler, Bundesverfassungsgericht (und zahlreiche weitere Komposita mit Bundes-), Sozialgericht, Lebenshaltungskostenindex, Urabstimmung, Betriebsrat, Zivildienstleistender (umgangssprachlich Zivi); <255> DDR : Volkssolidarität (und zahlreiche weitere Komposita mit Volks-), Konfliktkommission, Kommunale Wohnungsverwaltung ( KWV ), Kombinat, Planauflage, Brigadetagebuch, Polytechnischer Unterricht, Bausoldat. Scheinspezifika: Vornehmlich in der Presse der BRD wurden immer wieder angebliche DDR-Wörter als typisch dargestellt und ironisch kommentiert: Resümee und Ausblick 492 Sollschwein (50er Jahre, ein Schwein, das im Rahmen des Abgabesolls gemästet und abgeliefert wird), (Frühjahrs-)Schokoladenhohlkörper (Schokoladen-Osterhase), PGH Erdmöbel (eine Sargtischlerei), Jahresendflügelfigur/ -puppe (Weihnachtsengel). Diese Bezeichnungen hat es wahrscheinlich irgendwo vereinzelt gegeben, sie besaßen aber nie usuelle Geltung. Wiederholte Versuche der Richtigstellung blieben weitgehend vergeblich. (2) Bezeichnungsspezifika: Unterschiedliche Bezeichnungen in Ost und West bei gleicher Bedeutung und gleichem Sachbezug: BRD DDR Aerobic Popgymnastik Zielsetzung Zielstellung Tiefkühlgemüse Feinfrostgemüse Brathähnchen Broiler Plastik Plaste Heimatvertriebener/ Flüchtling Umsiedler Staatsangehörigkeit Staatsbürgerschaft regional territorial Revierpolizist Abschnittsbevollmächtigter (ABV) Zonengrenze/ DDR-Grenze Staatsgrenze West Hier ist der unter (a) genannte Vorbehalt zu beachten: Auch DDR- Bürger verwendeten neben den DDR-spezifischen auch einige der westlichen Bezeichnungen, wenngleich nicht in offiziellen Situationen. Bei einigen oft dieser Gruppe zugerechneten Wörtern ist Übereinstimmung der Bedeutung und des Sachbezugs nicht voll gegeben oder fraglich: Werktätige schließt auch kleine Selbständige (Händler, Handwerker) ein, die dem westdeutschen Arbeitnehmer nicht zugerechnet werden; westdeutsch Intellektuelle entspricht nicht voll dem ostdeutschen Intelligenz (gesellschaftlich-funktional nur teilidentisch); ebenso westdeutsch Personalakte. Die so bezeichneten Akten hatten andere (eingeschränktere) Funktionen und Inhalte als das ostdeutsche Pendant Kaderakte. Divergenz und Konvergenz 493 (3) Bedeutungsspezifika: Hier handelt es sich um Wörter, die bei gleicher Bezeichnung unterschiedliche Bedeutung und/ oder unterschiedlichen Sachbezug haben. <256> Bedeutungsdifferent war der gesamte tradierte ideologische Wortschatz: demokratisch, Freiheit, sozialistisch, bürgerlich, Klasse waren von der Partei strikt marxistisch-leninistisch definiert, in der BRD wurden sie in vielen Schattierungen, aber zumeist nicht marxistisch-leninistisch gebraucht. Als Elemente übernationaler Ideologiesprachen sind sie aber eigentlich kein spezifisch deutsch-deutsches Differenzproblem. Bedeutsamer sind nicht primär ideologische Bedeutungsunterschiede. Antragsteller: ostdt. besonders in der zweiten Hälfte der 80er Jahre: (auch ohne spezifizierenden Kontext) „jemand, der einen Antrag auf ständige Ausreise in die BRD gestellt hat“; westdt. spezifizierungsbedürftig. Brigade/ Brigadier: westdt.: Truppeneinheit oberhalb der Regimentsebene/ ihr Befehlshaber; ostdt.: (zusätzlich und vor allem) kleinste Arbeitseinheit in einem Betrieb/ ihr Leiter. Bürgerinitiative: westdt.: Vereinigung von Bürgern zur Durchsetzung von Bürgerinteressen gegen den Staat oder mächtige Interessengruppen; ostdt.: staatlich organisierte Tätigkeit von Bürgern zur Erledigung gesellschaftlicher Aufgaben. Einrichtung: ostdt.: allgemein für alle staatlichen Institutionen, die der Bevölkerung offen standen, oft mit dem Zusatz gesellschaftliche E., ohne solchen Zusatz speziell für kombinierte Kindergärten/ Kinderkrippen („die Kinder zur Einrichtung bringen“); westdt. so ungebräuchlich und kaum verständlich. Kader: westdt. nur für organisierte Gruppen ausgewählter Personen (Sport, Militär); ostdt. auch für qualifizierte Mitarbeiter, auch den einzelnen. Ministerrat: westdt.: internationales Gremium von Ministern der EG -Staaten; ostdt.: Regierung der DDR . Objekt: westdt. eher fachsprachlich (Makler, Investoren) für Immobilien (Renditeobjekt, Mietobjekt); ostdt. erweitert: gastronomisches Objekt (eine Gaststätte), Stasi-Objekt (z.B. eine Schießanlage, eine von der Staatssicherheit konspirative angemietete Wohnung), Ferienobjekt (ein Urlaubsheim eines Betriebs, einer „Einrichtung“). Rekonstruktion: westdt.: Wiederherstellung von etwas Zerstörtem oder Beschädigtem oder eines Tathergangs; ostdt.: vor allem Grunderneuerung/ Modernisierung von Betriebsabläufen, Betrieben, auch Gebäuden, Straßen o.Ä. Resümee und Ausblick 494 (4) Spezifische Wertungen und Konnotationen: Wörter, die eine unterschiedliche Wertung haben. Die spezifische Wertung kann kraft Definition festgelegt oder durch wertende Attribuierung im unmittelbaren Kontext mitgeliefert sein, sie kann als Konnotation aber auch nur „mitschwingen“ und ist dann erst durch detaillierte Kontextanalysen und unter Berücksichtigung des spezifischen Erfahrungshorizonts zu ermitteln. Wertungsdifferenzen bestanden nicht nur zwischen ost- und westdeutschem Sprachgebrauch, sondern auch innerhalb des ostdeutschen, je nach Einstellung der Sprecher bzw. Hörer. bürgerlich: westdt. neutral bis positiv, ostdt. (parteisprachlich) meist negativ; Einschätzung/ einschätzen war stärker als im westdeutschen Gebrauch als „verbindlich, verantwortlich“ konnotiert, weniger als subjektive Meinungsäußerung; revolutionär hat eine weitgehend gemeinsame Grundbedeutung, jedoch ostdt. eine (ideologiegebunde) durchweg positive Wertung, westdt. eine unterschiedliche, in po- <257> litischen Zusammenhängen meist negative Wertung (mit Ausnahme der Wendezeit); negative Wertung war ostdt. oft impliziert bei Selbstlauf, Manager, Makler, Kapital; westdt. bei Funktionär, kommunistisch, Polit-, ideologisch. Die (parteisprachlich) unterschiedliche Wertung von Objektivismus (negativ) und objektiv (positiv bis neutral) findet im westdeutschen Sprachgebrauch keine Entsprechung. Synonymische Unterscheidungen als Sonderfall: Bedeutungsähnliche, aber wertungsunterschiedliche Teilsynonyme wurden im öffentlichen Sprachgebrauch beider Staaten zu polarisierenden Benennungen benutzt: DDR : Dem Gewinn in sozialistischen Betrieben wurde der Profit in kapitalistischen Unternehmen entgegengestellt; dem (staatlichen) Leiter der kapitalistische Manager, Boss; dem Kundschafter der imperialistische Agent, Spion. Systemkritische Gruppen in der BRD wurden fortschrittliche Kreise/ Kräfte genannt, solche in der DDR staatsfeindliche/ konterrevolutionäre Kräfte. BRD : Der Zusammenschluss der Staaten im sowjetischen Machtbereich hieß Ostblock; der westliche (atlantische) Gemeinschaft, Bündnis; systemkritische Personen(gruppen) in der BRD nannte man Extremisten, Radikale, Systemveränderer, solche in der DDR Oppositionelle, Dissidenten, Reformer, Andersdenkende. Die Bezeichnungen schließen sich zu differenten Wortfeldern (s. 4.2 [8]) zusammen. Divergenz und Konvergenz 495 (5) Ossi/ Wessi - Konnotationen, Selbst- und Fremdbilder: Die Bezeichnungen Ossi und Wessi sind erst nach der Vereinigung gebräuchlich geworden, als deren Folge die Bezeichnungen DDR-Bürger, BRD-Bürger obsolet geworden waren. Für Wolfgang Thierse als „einen der Miterfinder dieser Redeweise“ ist „uns wechselseitig als ‘Wessis’ und ‘Ossis’ zu bezeichnen [...] eine liebenswürdig-ironische Art, unsere Unterschiede zur Kenntnis zu nehmen“ (Reiher / Läzer 1996, Umschlagtext). In den ersten Jahren nach der Wende, als der Anpassungsdruck besonders groß war und sich Enttäuschungen und Überforderungserlebnisse auf beiden Seiten häuften, erhielten die beiden Bezeichnungen jedoch stark negative Konnotationen, was sich in z.T. bösartigen Witzen, aber auch schon in den Komposita Besserwessi/ Jammerossi (letzteres seltener) äußerte. Befragungen zu den Konnotationen dieser Wörter stimmen in vielen Punkten mit den Selbst- und Fremdbildern überein, die sich - nach Ergebnissen der empirischen Sozialforschung - die Ostbzw. Westdeutschen von den jeweils anderen und von sich selbst machen. Danach halten viele Ostdeutsche die Westdeutschen für selbstbewusst und selbstsicher, rhetorisch geschult, durchsetzungsfähig, tüchtig, gepflegt, egoistisch, arrogant, aggressiv, sie wissen alles besser, sind nur <258> auf Geld aus, sie reden um sich darzustellen; sich selbst halten Ostdeutsche für hilfsbereit, tüchtig, zurückhaltender, offener und ehrlicher, sachlicher, warmherziger, sie halten mehr zusammen, sind nicht so aufs Geld aus. Westdeutsche halten Ostdeutsche für bescheidener, zurückhaltend-verschlossen, weniger leistungsfähig und leistungsbereit, unberechenbar, undankbar, zum Klagen neigend, stärker gemeinschaftsorientiert; sich selbst für leistungsfähig, anspruchsvoll, weltgewandt etc. Unabhängig von der Fragwürdigkeit solcher Zuordnungen: Nachweisbar ist, dass das Kommunikationsverhalten der Menschen in Ost und West durch das sie jeweils umgebende Gesamtsystem, vor allem durch Bildungswesen und Beruf, unterschiedlich geprägt worden ist. Insofern waren Kommunikationsstörungen nach der Wende im Prinzip nicht überraschend, wohl aber ihr Ausmaß. Die polarisierende Zuordnung von positiven/ negativen Verhaltensmerkmalen hat inzwischen nachgelassen, wohl auch auf Grund wach- Resümee und Ausblick 496 senden Selbstbewusstseins der Ostdeutschen und wachsender Selbstzweifel im Westen. Die Stimmungslage nähert sich einander an, mit ihr offenbar die Konnotationen zu den beiden Bezeichnungen. (6) Spezifische Wendungen: Wendungen, deren einzelne Glieder nicht oder nicht alle spezifisch sein müssen, die aber in ihrer Verbindung typisch sind für den Sprachgebrauch einer Seite. DDR: öffentlicher Sprachgebrauch: unsere Menschen, Arbeiter und Bauern, friedliche Koexistenz, Waren des täglichen Bedarfs (WtB); Ulbricht-Zeit: Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung ( NÖ- SPL ), wissenschaftlich-technische Revolution ( WTR ), sozialistische Menschengemeinschaft, überholen ohne einzuholen; Honecker-Krenz-Zeit: Sozialismus in den Farben der DDR , Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, den (breiten) gesellschaftlichen Dialog führen; Wendezeit: Demokratie - jetzt oder nie, mündiger Bürger, aufrechter Gang. BRD: öffentlicher Sprachgebrauch: freiheitlich-demokratische Grundordnung, auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, Brüder und Schwestern (im Osten/ in der DDR ), (hinter/ jenseits von) Mauer und Stacheldraht, Menschen/ Bürger draußen im Lande, ausländische Mitbürger, sich der Herausforderung stellen, vor Ort, außen vor lassen/ bleiben; umgangssprachlich: schaun mer mal; eine eigene Äußerung als vorläufig/ änderbar markierend: ich sag mal. (7) Spezifische Häufigkeiten: Angaben zur Häufigkeit von Wörtern setzen auszählbare vergleichbare Texte, in der Regel also computergespeicherte Korpora voraus. Solche liegen nur für den öffentlichen publizistischen Sprachgebrauch vor (für die Zeit vor der Wende das BZK <259> [1992], für die Zeit der Wende das Wende-Korpus [1992]); die Angaben sind entsprechend zu relativieren. Spezifische Häufigkeiten weisen in der Regel entweder auf unterschiedliche Stilnormen oder systemabhängige Wichtigkeit der bezeichneten Sache oder das Fehlen von Synonymen (z.B. infolge parteilicher Festlegungen) hin. Häufigkeitsspezifisch sind selbstverständlich die Lexemspezifika und ein Teil der Bedeutungsspezifika der jeweiligen Seite. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Reisekader. Obwohl ein DDR-Lexem- Divergenz und Konvergenz 497 spezifikum, ist es in den West-Zeitungen häufiger, da es in der DDR fast nur inoffiziell gebraucht wurde. Deutlich häufiger sind jeweils bestimmte abschwächende bzw. relativierende Modifikatoren in West- Texten, bestimmte verstärkende Modifikatoren in Ost-Texten (s. 7 [4]). Vergleichende Frequenzregister zeigen in DDR-Zeitungstexten Genitivformen wie des, der, unseres, unserer durchweg auf signifikant höheren Rangplätzen als in BRD-Zeitungstexten; begründet ist dies in den häufigen vielgliedrigen Titulaturen mit ihren Ketten von Genitivattributen (s. 7 [2]). Kampf-Metaphern sind im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR weit häufiger als in dem der BRD und - besonders während der Ulbricht-Zeit - stilistisch auffällig; sie sind daher oft beschrieben (und karikiert - vgl. u.a. Mainz 1985, 89ff.) worden. (8) Wortfeldspezifika: Sie sind nach Schlosser (1990, 15) Ausdruck der „besonderen Relationen zwischen verschiedenen Einzellexemen [...], die erst jeweils durch ihre Stellung in einem bestimmten Wort- oder Begriffsfeld ihre spezifische Bedeutung erhalten, weil im Gebrauch des Einzellexems die einem solchen Feld benachbarten Lexeme semantisch mitschwingen“. Anleitung gehört nach Schlosser (ebd.) im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR zum Wortfeld (obrigkeitlicher) Weisungen, neben Weisung, Direktive, Beschluss, Maßnahme, durchstellen, verfügen, durchsetzen u.a., im westdeutschen Sprachgebrauch eher zu Gebrauchsanweisung, (verbale) Hilfestellung, Hinweis u.Ä.; Spontaneität ostdt. (parteisprachlich) zusammen mit individualistisch, subjektivistisch, Selbstlauf, von der Linie abweichen; westdt. eher zusammen mit Lebensfreude, Individualität, kreativ, originell u.a. Weitere differente Wortfelder sind: Widerspruchsmöglichkeiten gegen eine amtliche Maßnahme/ Verfügung; Übersiedlung (legal oder illegal) und Übersiedler aus der DDR (vgl. Herberg / Steffens / Tellenbach 1997, Kap. 2); Bezeichnungen für verdiente Werktätige (DDR: Aktivist, Bestarbeiter, Schrittmacher, Held der Arbeit, Verdienter Arzt [oder andere Berufsbezeichnung] des Volkes u.a.); Bezeichnungen für systemkritische Personengruppen; Bezeichnungen für die territoriale/ politische Glie- <260> derung des Staates (BRD: Bund - Land - Regierungsbezirk - Kreis - Gemeinde) und viele andere mehr. Resümee und Ausblick 498 Different ist auch das Wortfeld der Staatsbezeichnungen und der Zugehörigkeitsadjektive für die beiden deutschen Staaten und ihre Bürger. Hier eine (nicht vollständige) Übersicht über den lexikalischen Bestand: Staatsbezeichnungen in der BRD: Für den eigenen Staat: Bundesrepublik Deutschland (vorwiegend offiziell), Deutschland, Bundesrepublik; Adjektive: deutsch, bundesdeutsch; seltener, vorwiegend 50er und und 60er Jahre: Westdeutschland, westdeutsch; für die DDR : „ DDR “, sogenannte DDR , DDR ; vorwiegend 50er und 60er Jahre: Mitteldeutschland, (Ost-)Zone, SBZ ; Adjektive: mitteldeutsch, ostdeutsch, ostzonal. Staatsbezeichnungen in der DDR: Für den eigenen Staat: Deutsche Demokratische Republik (vorwiegend offiziell), DDR , Arbeiter-und-Bauern-Staat; Adjektive: DDR -, sozialistisch (ein die Nationalität betonendes Adjektiv fehlte); für die BRD : BRD ; vorwiegend 50er und 60er Jahre: Westdeutschland; Adjektive: BRD -, westdeutsch, Bonner. Die Diskussion (vgl. u.a. Berschin 1979, Hermanns 1996, Hellmann 1997a, Röding-Lange 1997) kreiste vor allem um drei Themen: a) um den Gebrauch der Abkürzung DDR, die in der Bundesrepublik - zumindest ohne distanzierende Anführungsstriche - lange Zeit als Zeichen der unerwünschten Anerkennung des ungeliebten zweiten deutschen Staates galt; b) um den Gebrauch der Abkürzung BRD, die von offiziellen Kreisen der Bundesrepublik als „von der DDR zur Schwächung gesamtdeutschen Bewusstseins lanciert“ galt und durch staatliche „Bezeichnungsrichtlinien“ mehrfach tabuisiert wurde, obwohl sie schon seit 1949 unbeanstandet in westdeutschen halböffentlichen und wissenschaftlichen Texten gebraucht worden war; in der DDR dagegen erst seit Dezember 1969; c) um den Gebrauch von Deutschland/ deutsch nicht mehr mit dem bisherigen gesamtdeutschen, beide Staaten einschließenden Bezug, sondern allein mit Bezug auf die Bundesrepublik (deutsche Sportler/ Autos/ Exporte/ Interessen/ Regierung/ Botschaft etc. = ‘westdeutsche’), obwohl alle Bundesregierungen an der offiziellen Auffassungen festhielten, dass Deutschland als Ganzes weiterexistiere. Der frühere gesamtdeutsche Inhalt von deutsch musste durch Ersatzwörter abgedeckt werden: innerdeutsch, gesamtdeutsch und vor allem deutsch-deutsch (s. Berschin 1986). In den Medien und im Divergenz und Konvergenz 499 Sprachgebrauch der bundesdeutschen Bevölkerung (insbesondere der jüngeren) reduzierte sich das kollektive Wir-Bewusstsein - unter Ausklammerung der DDR und ihrer Bürger - auf die Bundesrepublik. DDR-Bürger reagierten oft betroffen oder empört, wenn sie im Gespräch mit westdeutschen <261> Besuchern solchem separatnationalen Sprachgebrauch begegneten („bei uns in Deutschland“ = in der BRD, „deutsches Geld“ = D-Mark u.ä.). Hier wurde erstmals eine sprachliche Differenz zum ernsthaften Verständigungshindernis, gerade auch im Kontakt mit DDR-Bürgern, die ihrem System distanziert bis kritisch gegenüberstanden. In breitem Maße konfliktär wurde diese Differenz erst mit der Vereinigung. (9) Spezifische Handlungsfelder: Die Untersuchung sprachlicher Differenzierungserscheinungen unter den bisher genannten Aspekten hat jeweils spezielle Vorteile, aber auch einen gemeinsamen Nachteil: Der Gebrauch von Wörtern wird aus dem praktischen Handlungszusammenhang herausgelöst. Diese isolierende Betrachtungsweise kann überwunden werden, wenn man komplexe Handlungszusammenhänge zur Lösung von Alltagsproblemen in den Blick nimmt, für die in der BRD und der DDR jeweils unterschiedliche, in sich differenzierte Lösungswege zur Verfügung standen. Beispiele für solche Handlungsfelder: Ich suche eine Wohnung (vgl. hierzu Hellmann 1991); Ich suche eine neue Stelle; Wir wollen an der Ostsee Urlaub machen; Ich bin mit der Verfügung einer Behörde nicht einverstanden. Untersucht man, wie Bürger in der DDR bzw. der BRD solche alltagspraktischen Probleme angehen und zu lösen versuchten, stößt man auf Texte verschiedener Sorten und Herkunft, auf genormte Formulare und spontane Dialoge, auf offizielles, verwaltungstechnisches und umgangssprachliches Vokabular, auf differenzierte sprachliche und nichtsprachliche Handlungen im Rahmen konventionalisierter Problemlösungspläne. Es kann deutlich werden, dass und warum Lösungsstrategien, die für die ostdeutsche Kommunikationsgemeinschaft durchaus adäquat waren, im Westen kontraproduktiv wurden - und umgekehrt. Solche Untersuchungen hatten und haben allerdings mit praktischen und methodischen Schwierigkeiten z.B. der Materialbeschaffung zu kämpfen. Resümee und Ausblick 500 5 Gruppen-, fach- und sondersprachliche Differenzen; Dialekte 5.1 Gruppensprachliche Differenzen Ansätze, den Sprachgebrauch der SED bzw. ihrer anfangs führenden Gruppe („Gruppe Ulbricht“) als Gruppensprache zu beschreiben, wurden früh aufgegeben, da erkennbar war, dass dieser Sprachgebrauch darauf angelegt war, möglichst alle Bereiche der Gesellschaft zu durchdringen, was im öffentlichen Gebrauch weitgehend gelang. Als einzige Gruppensprache wurde - wenngleich erst seit den 80er Jahren - die der Jugend auch vergleichend untersucht (z.B. Neuland / <262> Heinemann 1997, vorher Heinemann 1989). Strukturell wurden dabei keine wesentlichen Unterschiede festgestellt; viele zunächst ostbzw. westspezifisch scheinende Wörter wurden mit zeitlicher Verzögerung auch in der Jugendsprache der anderen Seite beobachtet, mit einigen Ausnahmen wie fetzig/ das fetzt, urst, die überwiegend ostspezifisch blieben. Zur Gruppensprache der Bundeswehrsoldaten vgl. Moser (1964), zu den NVA-Soldaten vgl. Oschlies (1989b, Kap. 9) (beide nicht vergleichend); ebd. zum Jargon der (politischen) Gefangenen in Gefängnissen der DDR. 5.2 Fachsprachliche Differenzen Die oben in 3.2 zusammengestellten Sachgebiete haben neben ihrer öffentlichkeits-zugewandten Lexik, wie wir sie in den Medien finden, auch eine eher fachlich-interne Lexik. Für die Fachleute in Ost und West wurde diese Fachlexik im Zuge der Vereinigung zentral wichtig. Verständigungsstörend wirkten sich dabei nicht nur die Lexemspezifika aus (z.B. cash flow, lean production, Budgetierung, management buy out, shareholder value), sondern vor allem die Bedeutungsspezifika. Schon bei den ersten Kontakten zwischen Unternehmensleitern aus der BRD und der DDR wurde erkennbar, dass zwischen den fachlichen Bedeutungen von Bilanz, Gewinn, Planung, Rentabilität, Produktivität, (Eigen)kapital, Preis, Kosten kaum Gemeinsamkeiten bestanden. Juristen und Verwaltungsfachleute machten bei Eigentum, Nutzung, Bürgerrechte, Rechtsschutz u.a. ähnliche Erfahrungen. Für andere Fachsprachen wie die des Finanzwesens, des Bildungs- und Erziehungswesens usw. gilt das Gleiche. Divergenz und Konvergenz 501 Naturwissenschaftlich-technische Fachsprachen oder [die] der Medizin usw. waren von Differenzierungen kaum betroffen. Eine Ausnahme ist die der Datenverarbeitung. Trotz des auch in der DDR wirksamen Einflusses des Angloamerikanischen wurde versucht, eine teilweise eigene Fachsprache zu entwickeln; Datenverarbeiter mussten sogar Programmbefehle wie go to nach geh zu umsetzen. Lehrbücher, Handbücher und dergleichen unterschieden sich beträchtlich. Der Import westlicher Hard- und Software besonders in den 80er Jahren verringerte die Differenz jedoch immer wieder. Die interne Sprache der Staatssicherheit zeigt gruppen- und fachsprachliche Merkmale. Ihre ausgebaute Lexik (IM [inoffizieller Mitarbeiter], OibE [Offizier im besonderen Einsatz], OV [operativer Vorgang], HVA [Hauptverwaltung Aufklärung], operativ bearbeiten, jemanden abschöpfen/ zersetzen, feindlich-negative Kräfte u.a.) wurde jedoch erst nach der Wende bekannt, <263> auch für DDR-Bürger (vgl. Wörterbuch der Staatssicherheit 1993, Henne 1995). 5.3 Lexik oppositioneller Gruppen Die Lexik oppositioneller Gruppen (Umweltgruppen, Friedensbewegung, Bürgerrechtsbewegung) war inoffiziell, d.h., sie war in den Medien kaum präsent. Nur die Kirche verfügte über begrenzte externe und vor allem interne Publikationsmöglichkeiten, letztere wurden auch von kirchenfernen Oppositionsgruppen genutzt. Ihr Sprachgebrauch orientierte sich oft an ostwest-übergreifenden Dokumenten (z.B. dem Prager „Manifest der 40“, dem „Korb 3“ der Schlussakte von Helsinki, dem SPD-SED-Dialogpapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“) und trug eher zum Ausgleich als zur Differenzierung bei (s. 10.1 [5]). Im Übrigen zeigt der Sprachgebrauch der Bürgerbewegungen, seit er überhaupt öffentlich werden konnte, wenig Anlehnung an das politische Vokabular der DDR oder der BRD, sondern er reaktivierte vielmehr allgemeinmenschliches Vokabular der Ethik, der Moral, der Verantwortlichkeit, der Gefühle (vgl. Hellmann 1997c): mündiger Bürger, aufrechter Gang, Würde des Menschen, Selbstbefreiung; Unmündigkeit, Angst/ Sorge haben um ..., Hoffnung, Glaubwürdigkeit, sich einbringen, Verantwortung, Krise unserer Gesellschaft, Wir sind das Volk - mit diesem Vokabular, mit solcher Sprache Resümee und Ausblick 502 führten die opponierenden Bürger den verschlissenen, längst unglaubwürdig gewordenen Politjargon der SED ad absurdum, verblüfften damit aber auch so manchen hartgesottenen Politprofi des Westens. 5.4 Dialekte Als Folge einer bestimmten offiziellen Auffassung von „Sprachkultur“ waren Schulunterricht und öffentlicher Sprachgebrauch in der DDR lange Zeit eher konservativ-hochsprachlich („literatursprachlich“) orientiert. Das Sächsische galt außerhalb Sachsens wenig oder wurde abgelehnt (die Sachsen als „fünfte Besatzungsmacht“, das Sächsische als „Sprache Ulbrichts“); das Berlinische hingegen galt eher als Orientierung. Die dialektnähere Ausprägung des Berlinischen war in Ost-Berlin weiter verbreitet und besaß eine höhere soziale Geltung als in West-Berlin, wie Vergleiche nach der Wende ergaben (u. a. Schönfeld 1996). Das Norddeutsche (Plattdeutsche) war ohnehin auf beiden Seiten der Grenze verbreitet und bewahrte Gemeinsamkeiten. <264> Das sächsische nu wird im Westen oft verallgemeinernd für DDR-typisch gehalten, so wie die süd-/ westdeutschen Füllwörter gell, halt, eh in den neuen Bundesländern für BRD-typisch gelten. 6 Einflüsse aus Fremdsprachen (1) Zum Russischen: Trotz allgemeinen Russischunterrichts und trotz der ständigen Propaganda eines positiven Bildes der Sowjetunion blieben Russischkenntnisse in der DDR bei den meisten DDR-Bürgern begrenzt. Deshalb, aber auch wegen der relativ fremden Sprachstruktur war die Übernahme russischer Wörter in die Lexik der DDR eher die Ausnahme (z.B. Komsomol, Sputnik, Soljanka, Datscha/ Datsche; gegen Ende der DDR auch Perestroika, Glasnost). Weit häufiger waren Lehnbildungen verschiedener Typen (Brigade, Kombinat, (Partei-/ Eltern)Aktiv, Aktivist, Neuerer); zahlreiche Wendungen oder Komposita mit brüderlich/ Bruder- und Volks- (zu russisch narodny, Ehrentitel (s. auch 7 [2]) sowie Lehnbedeutungen wie rekonstruieren/ Rekonstruktion i.S.v. ‘Grunderneuerung, Modernisierung’ auch von Betrieben, Produktionsprozessen, Gebäuden, gelegentlich sogar von Personengruppen (Sportmannschaften) (vgl. schon die Glossare von Reich 1968, Lehmann 1972). Divergenz und Konvergenz 503 (2) Zum Englisch-Amerikanischen: Der äußerst intensive Einfluss des Englisch-Amerikanischen auf den öffentlichen und auch den alltäglichen Sprachgebrauch in der BRD steht außer Frage. Er erreicht praktisch alle Wissenschaften, Sach- und Lebensbereiche, häuft sich im Vokabular des Marketing und moderner Medien, der Mode und Unterhaltung, extrem stark in der Datenverarbeitung und Informationstechnologie, prägt Grußformeln (Hallo statt Guten Tag), Bestätigungsfloskeln (okay, genau) und umgangssprachliche verstärkende Modifikatoren (cool, super, mega-). In der DDR wurde angloamerikanischer Spracheinfluss, obwohl weitaus schwächer als in der BRD, lange Zeit hindurch kritisiert. Der Erfolg war begrenzt: Viele englische Wörter wurden, wenngleich mit Verzögerung, auch in den Sprachgebrauch besonders jüngerer DDR-Bürger übernommen (Hit, Jeans, Pop, Song, Band [-leader], Disco/ Disko, swingen, fighten, Rowdy, Juice), andere freilich vorwiegend zur Bezeichnung westlicher Dinge (z.B. Gangster, Manager, Boss, Coach, space shuttle) (vgl. Kristensson 1977, Festschrift Lehnert 1986). Der offizielle Widerstand dagegen wurde in den 80er Jahren deutlich geringer. (3) Andere Sprachen: In der BRD machte sich schon seit Jahren in gewissem Grade auch sprachlicher Einfluss der von den Westdeutschen bevorzugten (südlichen) Urlaubsländer bemerkbar, öfter des Italie- <265> nischen (Espresso, Pizza, Paparazzi, Papagallo, Past´asciutta, dolce vita), seltener des Spanischen (Playa, Sangria, Paella) und Serbokroatischen (Cevapcici) und seit den 80er Jahren des Türkischen (Döner Kebab) - beschränkt zumeist auf gastronomisches Touristenvokabular. 7 Syntax, Stil, Phraseologie (1) Grammatisches System: Im grammatischen System wurden mit sehr geringen Ausnahmen keine Differenzen festgestellt. Ausnahme ist die Valenz einiger Verben wie informieren ohne über (Wie der Minister informierte ...), orientieren nicht nur mit (sich) an oder (sich oder jemanden) über etwas, sondern (mit oder ohne Akkusativobjekt) orientieren auf etwas (zugleich mit DDR-spezifischer Bedeutung). Resümee und Ausblick 504 (2) Formulierungsmuster: Unterschiede gab es in der Realisierung bestimmter Formulierungsmuster und vor allem in ihrer Häufigkeit: Öffentliche Texte (nicht jedoch literarische) zeigen eine größere Satzlänge und geringere syntaktische Binnengliederung, dafür um so längere und vor allem häufigere Ketten langer Genitiv- und Präpositionalattribute. Dies verweist auf oft beschriebene Stileigenheiten des öffentlichen Sprachgebrauchs: auf die häufigen langen Titulaturen besonders hochgestellter Persönlichkeiten, auch bei mehrfacher Erwähnung im selben Text (der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik Erich Honecker), die häufig mehrgliedrige Namensbildung von Institutionen, Betrieben (Rat des Kreises/ des Bezirks, Nationale Front des Demokratischen Deutschlands, Tag der Werktätigen im Bereich der haus- und kommunalwirtschaftlichen Dienstleistungen, Kombinat Industrielle Mast), von Orden und Auszeichnungen (Abzeichen für gutes Wissen, Banner der Arbeit, Held der Arbeit) und die häufige stereotype Wiederholung attributiver Formeln: die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem, Neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Kurs der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, führende Rolle der Partei (der Arbeiterklasse), Staat der Arbeiter und Bauern, Sozialismus in den Farben der DDR (zu den Auswirkungen auf die Wortfrequenzen vgl. 4.2 [7]). (3) Feminin-Markierung: Die in der BRD unter dem Einfluss feministischer Sprachkritik häufige Feminin-Movierung von Personen- (insbesondere Berufs-)Bezeichnungen war in der DDR seltener, erst recht die Schreibung mit großem Binnen-I (TeilnehmerInnen). (4) Modifikatoren: Statistisch hochdifferent und in unterschiedlichen (journalistischen) Stilnormen begründet sind auch der bevorzugte Gebrauch abschwächender bzw. relativierender Modifikatoren wie circa, <266> etwa, ungefähr, annähernd, rund, vielleicht, möglicherweise, nach Ansicht u.Ä. in West-Texten sowie der Gebrauch weniger, aber bevorzugter verstärkender Modifikatoren in Ost-Texten wie umfassend, allseitig, breit, komplex (vgl. Hellmann 1986). Stilprägend ist auch der „sozialistische Komparativ“: immer oder noch plus ‘verstärkender Modifikator im Komparativ’ plus ‘dynamisierendes Verb’: immer umfassender entwickeln, noch breiter entfalten, immer/ noch konsequenter/ konkreter/ zuverlässiger durchsetzen/ leiten/ organisieren/ Divergenz und Konvergenz 505 realisieren etc.; solche Wendungen wurden von DDR-Bürgern zu Recht als Euphemismus, als Eingeständnis von Mängeln oder nicht erreichten Zielen gelesen. 8 Textsorten, Textmuster, Kommunikationssituationen (1) Zeitungen: Neben belletristischer Literatur gehörten Zeitungen zu den auch im Westen zugänglichen und daher mehrfach untersuchten Gattungen. Auffallend war ihr unterschiedlicher Aufbau: In West-Zeitungen fehlten die in den SED-Zeitungen üblichen Berichte über Produktionserfolge, Dank- und Verpflichtungsresolutionen von Werktätigen und die langen Kommuniquées zu Staatsbesuchen; in Ost-Zeitungen fehlte „Wirtschaft“ als eigenständige Sparte, erst recht fehlten Bank- und Börsenberichte und Kurstabellen. Kultur, Lokales, Sport unterschieden sich inhaltlich und sprachlich weniger; auch Leserbriefe kamen beiderseits vor, unterschieden sich jedoch nach Form, Inhalt und Intention. Werbung gab es auch in Ost-Zeitungen, jedoch mit wenig kaufanreizendem Vokabular; westdeutsche Lifestyle-Werbung, die Produkte mit positiven Lebensbildern und -gefühlen verknüpfen will, wurde, wie sich nach der Wende zeigte, als überzogen abgelehnt. Privatanzeigen (Wohnungstausch, selten Stellengesuche, Familienanzeigen) zeigten andere Formulierungsnormen. (2) Halböffentliche Textsorten: Erst nach der Wende untersuchbar wurden eher interne oder halböffentliche Textsorten der DDR wie Zeugnisse und Beurteilungen, Festreden, Texte zu Veranstaltungen zu besonderen Ereignissen (z.B. Jugendweihe). In den meisten Untersuchungen wurde ein vergleichsweise hoher Grad an „Ritualisierung“ (lexikalischer und textstruktureller Normiertheit) beobachtet (vgl. die Beiträge in Fix 1998). Zwar auf einer Ausstellung bekannt gemacht, aber sprachlich bisher nicht untersucht wurde die sehr DDR-typische Gattung der Brigadetagebücher. In ihrer Mischung von alltagssprachlichen, betriebsspezifischen und offiziellen Sprachelementen bergen sie noch ungehobene Schätze. <267> (3) Kommunikationssituationen: Ost-westliche Kommunikationssituationen nach der Wende ergaben deutliche sprachlich-kommunikative Unterschiede z.B. bei Bewerbungsgesprächen und Beratungsgesprächen (ost- und westdeutsche Berater verwenden unterschiedliche Kommunikations- Resümee und Ausblick 506 stile und Beratungsstrategien). In Verkaufsgesprächen versuchten westdeutsche Gesprächspartner zu dominieren und zu belehren; Ostdeutschen gelang es kaum, sich aus der Unterlegenen-Rolle zu befreien (vgl. Ylönen 1992). In ost-westdeutschen Frauen-Gruppengesprächen kurz nach der Wende sehen sich ostdeutsche Frauen unter doppeltem Erklärungsdruck, vermitteln den Eindruck „nicht auf den Punkt“ zu kommen, beide Seiten betonen trotz großen Verständigungswillens eher das Unterscheidende (Selbstvergewisserung) als das Gemeinsame (vgl. Wolf 1995). (4) Talkshows: In Talkshows mit ost- und westdeutschen Teilnehmern (vgl. Jachmann 1994) verwenden ostdeutsche Teilnehmer häufiger Sprachelemente des „hedging“, des Unpersönlichen (man, unpersönliche Passivkonstruktionen, statt ich), auch des Offenen, sie korrigieren sich öfter, lassen dem Partner mehr Raum; westdeutsche sind direkter, weniger schonend, dominanter, rhetorisch geschickter und durchsetzungsfähiger, lassen ihren Partnern weniger Raum zur „Gesichtswahrung“. 9 Die Sprachdifferenzierung in Umfragen Nach einer repräsentativen Meinungsumfrage (1997) in den alten und neuen Bundesländern (vgl. Stickel 1999, 34-37) wird die praktische Relevanz des Problems von der Mehrheit der Bevölkerung, gerade auch der ostdeutschen, sieben Jahre nach der Vereinigung offenbar nur als gering bis mittel eingeschätzt. Nur eine kleine Minderheit (10-16%) sieht „sehr viele“ Sprachunterschiede, noch weniger (ca. 4%) glauben, die Verständigung sei dadurch „sehr stark“ behindert. Wenn sozialwissenschaftliche Umfragen andererseits erkennen lassen, dass die Mehrzahl der Befragten Ost- und Westdeutsche für unterschiedlich hält, zeigt dies, dass die Befragten sehr wohl zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen (mentalen, kommunikativen) Besonderheiten zu unterscheiden wissen. Besonders in - teilweise umfragegestützten - Untersuchungen ostdeutscher Linguisten (u.a. Reiher / Läzer 1996) wird ein sehr differenziertes Verhalten der Ostdeutschen gegenüber ihren eigenen sprachlichen Besonderheiten und ihren westdeutschen Ausdrucks-„Konkurrenten“ nachgewiesen, das einige Analogien zum Verhalten gegenüber ostbzw. westdeutschen Produkten zeigt: Nach anfänglich starker Bereitschaft, westdeutsche Bezeichnungen zu übernehmen, zeigt der Gebrauch <268> ostdeutscher Bezeichnungen eine Divergenz und Konvergenz 507 gewisse Gegenbewegung, eine allerdings uneinheitliche Tendenz zur Stabilisierung. Häufig wird dies im Westen als „Ostalgie“ ironisiert. Wenn damit eine Rückwendung zu den alten Verhältnissen unterstellt wird, geht dies zumeist in die Irre: Es handelt sich eher um Abwehr allzu abrupter massiver Veränderungen als Teil von Strategien, die eigene unsicher gewordene Identität zu bewahren, die sich eben auch am eigenen spezifischen Sprachgebrauch festmacht. Im Vergleich zu den tradierten, historisch unterschiedlich begründeten Nord- Süd-Unterschieden im Deutschen (Sonnabend - Samstag, Klempner - Spengler, Schornstein - Kamin/ Esse u.a.) oder gar im Vergleich zu den Spezifika Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz sind die heute noch bestehenden Ost-West-Differenzen als gering einzuschätzen; sie bilden einen besonderen Typ großregionaler Varianten, die sich den vorhandenen eingliedern werden. Es wäre ohnehin ahistorisch, im Namen einer (nie vorhandenen) Einheitlichkeit oder einer westdeutsch bestimmten Normvorstellung eine völlige Angleichung des ostdeutschen an den westdeutschen Sprachgebrauch zu fordern, die süddeutschen und österreichischen Varianten hingegen als Bereicherung sprachlicher Vielfalt zu begrüßen. Die vorhandene Normentoleranz sollte auch von den Ostdeutschen sprachlich in Anspruch genommen werden dürfen. 10 Ausgleichstendenzen 10.1 Bis zur Wende Eine so strikte Abriegelung wie zwischen Nord- und Südkorea oder der Volksrepublik China und Taiwan hat es im deutsch-deutschen Verhältnis zum Glück nie gegeben. Den Abriegelungstendenzen, deren Beton gewordenes Symbol die Mauer war, und ihren sprachstrategischen Äquivalenten, deren linguistischer Ausdruck die These von den „vier nationalsprachlichen Varianten“ des Deutschen (Lerchner 1974) war, standen immer auch nichtsprachliche und sprachliche Ausgleichstendenzen gegenüber. (1) West-Medien: Das wichtigste Medium, die DDR-offizielle Tendenz zur Herausbildung eines möglichst DDR-spezifischen Sprachgebrauchs zu konterkarieren, waren die bundesdeutschen Rundfunk- und besonders Fernsehsender, die flächendeckend (außer im Raum Dresden) regelmäßig gesehen wurden. Sie hielten, wenngleich in medienspezifischer Verzerrung, bundesdeutsche Themen, Sichtweisen, Bewertungs-, Resümee und Ausblick 508 Bedeutungs- und Benennungsalternativen auch in der DDR präsent. Hinge- <269> gen blieben DDR-Medien in der BRD weitestgehend unbeachtet. DDR-Bürger waren, wie oft festgestellt wurde, über die Verhältnisse und den Sprachgebrauch in der BRD weit besser informiert als BRD-Bürger über Verhältnisse und Sprachgebrauch in der DDR. (2) Berichterstattung: Ausgleichend wirkte seit Mitte der 70er Jahre auch die verbesserte Berichterstattung über die DDR in westdeutschen Medien, seit westdeutsche Korrespondenten in der DDR akkreditiert waren. Gleichwohl blieben Interesse an und Kenntnisse über die DDR und ihren Sprachgebrauch auf eine Minderheit der westdeutschen Bevölkerung begrenzt. (3) Besuche: Der seit den 70er Jahren allmählich, in den 80er Jahren deutlich zunehmende Besucherstrom von West nach Ost (und - z.B. bei Rentnern - auch von Ost nach West) trug ebenfalls zum Ausgleich bei, obwohl System und offizieller Sprachgebrauch der DDR auf viele West- Besucher eher exotisch oder abstoßend wirkte; andererseits bemühten sich DDR-Bürger in der Regel erfolgreich, die Spezifika ihres Sprachgebrauchs für Westler verständlich zu transferieren. Grundlage für diesen meist „einbahnigen“ Transfer war - neben der besseren Kenntnis - die starke Orientierung der DDR-Bürger auf die BRD und deren Lebensverhältnisse. (4) Die linke Protestbewegung in der BRD in den späten 60er und 70er Jahren enttabuisierte die Diskussion um marxistische Positionen auch im Westen und machte deren Vokabular im Vergleich zur Adenauerzeit weniger exotisch. (5) Friedensbewegung: Ähnliches wiederholte sich, in der Auseinandersetzung um die Raketennachrüstung und die atomare Bedrohung, im Sprachgebrauch der Friedensbewegung, die sich in Ost und West gleichermaßen gegen die staatlichen Sicherheitsdoktrinen wandte („Schwerter zu Pflugscharen“, „Frieden schaffen ohne Waffen/ mit immer weniger Waffen“, „Hallo Nachbar - Frieden ist machbar“) - in der DDR begleitet von Repressalien der Staatsmacht. Bisher einseitig definierte Konzepte wie Frieden, Sicherheit, Verantwortung wurden mehrseitigpartnerschaftlich umdefiniert und fanden als solche Eingang in die politische Sprache: Sicherheitspartnerschaft, Verantwortungsgemeinschaft, Friedensfähigkeit. Spezifische Beiträge der Friedens- und Menschen- Divergenz und Konvergenz 509 rechtsbewegung in der DDR in Auseinandersetzung mit der Staatsmacht waren u.a. mündiger Bürger, Würde des (einzelnen) Menschen, die Forderung nach einem sozialen Friedensdienst und Friedenserziehung statt der ideologisch vorgegebenen Erziehung zum Hass. Gorbatschows Reformpolitik machte Perestroika und Glasnost zu - offiziell tabuisierten - Hoffnungswörtern <270> besonders in der DDR, die allerdings erst durch die Wende eingelöst wurden. (6) Übersiedler: Die millionenfache Zuwanderung von Übersiedlern aus der DDR als „Abstimmung mit den Füßen“ fachte das (mediale) Interesse an den Verhältnissen in der DDR mehrfach an, jedoch scheinen die Übersiedler selbst die DDR-spezifischen Elemente ihres Sprachgebrauchs meist schnell und restlos abgelegt zu haben, jedenfalls blieb ihre sprachliche DDR-Kompetenz für den Sprachgebrauch in der BRD ohne erkennbare Folgen. Welche sprachlich-kommunikativen Probleme die Übersiedler bei ihrer Integration in den Alltag der BRD hatten, war Gegenstand vereinzelter subjektiver Berichte, aber leider nicht Gegenstand systematischer linguistischer oder kommunikationswissenschaftlicher Untersuchungen. 10.2 Nach der Wende Der bei weitem wirksamste und umfassendste Ausgleichsprozess ereignete sich in den ersten Jahren nach der Wende. Ein großer Teil der Forschung seit 1990 beschäftigt sich mit diesen Vorgängen. War vorher kaum ein Sach- und Handlungsbereich von Differenzierungen unberührt geblieben, so nach der Wende auch kein Bereich von den Folgen der Übernahme des westdeutschen Systems und der Konfrontation mit dem westdeutsch geprägten Alltag. Wenn Schlosser (1990, 199) voraussieht: „Alles deutet darauf hin, daß die Deutschen in der DDR auf allen Gebieten, so auch der Sprache, die größeren Anpassungsleistungen erbringen müssen“, so kann man heute konstatieren: Sie haben sie mit Bravour erbracht, in einem für Westdeutsche nur schwer nachzuvollziehenden Ausmaß. Heute können nicht nur westdeutsche Lexik, sondern auch westdeutsche Textmuster und Kommunikationsnormen in Ostdeutschland als weitgehend bekannt, z.T. auch schon als geläufig gelten. Dass es dabei auch zu Gegenreaktionen kam, sollte nicht überraschen. - Außer Betracht bleiben hier die Westdeutschen, die nach der Wende in die Resümee und Ausblick 510 neuen Länder gegangen sind, um dort zu arbeiten und zu leben („Wossis“); ihre z.T. sehr belastenden Erfahrungen mit Sprach- und Kommunikationsdifferenzen sind wissenschaftlich bisher nicht ausgewertet worden. Die heute weitgehend erreichte Übereinstimmung im lexikalischen Inventar sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Biographien verknüpften semantisch-konnotativen Tiefenschichten der gemeinsamen Sprache Differenzen bewahrt geblieben sind, die die Verständigung stören können; <271> sie aufzulösen kann nur in Respekt voreinander mit gemeinsamer Anstrengung auch der Westdeutschen gelingen. 11 Literatur 11.1 Textsammlungen, Textkorpora, Zugriffssysteme: al-Wadi, Doris (1994): COSMAS Benutzerhandbuch. Ein Computersystem für den Zugriff auf Textkorpora; IDS Mannheim. BZK (1984): Das Bonner Zeitungskorpus. Erstellt nach der Konzeption und unter der Leitung von Manfred W. Hellmann. Teil 1: DIE WELT und NEUES DEUTSCH- LAND ; in: Herbert Ernst Brekle u.a. (Hgg.), Regensburger Microfiche-Materialien Nr. 07/ 1. BZK (1992): Das Bonner Zeitungskorpus. Textdatenbank des Instituts für deutsche Sprache; IDS Mannheim. Kinne, Michael (Hg.) 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Lehmann, Heidi (1972): Russisch-deutsche Lehnbeziehungen im Wortschatz offizieller Wirtschaftstexte der DDR ; Düsseldorf. Reich, Hans H. (1968): Sprache und Politik. Untersuchungen zu Wortschatz und Wortwahl des offiziellen Sprachgebrauchs in der DDR ; München. Röhl, Ernst (1989): Wörtliche Betäubung. Neudeutscher Mindest-Wortschatz; Berlin. Schröder, Marianne / Fix, Ulla (1997): Allgemeinwortschatz der DDR -Bürger - nach Sachgruppen geordnet und linguistisch kommentiert; Heidelberg. WDG (1964-1977): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 1-6; hg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz, Akademie der Wissenschaften der DDR - Zentralinstitut für Sprachwissenschaft; Berlin. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Hg.) 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Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern u.a., S. 57-79. [Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Peter Lang Verlags.] Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik oder: Haben sie so gesprochen? [*] Rückblicke auf 50 Jahre westdeutsche Attitüden Vorbemerkungen: Wenn ich hier den Ausdruck „westdeutsche Attitüden“ gebrauche, meine ich damit Komplexe von Einstellungen, Stereotypen, Redeweisen und kommunikativen Verhaltens-Dispositionen in der westdeutschen Öffentlichkeit gegenüber Personengruppen oder der Gesamtbevölkerung in der DDR und deren Verhalten, hier besonders ihrem sprachlich-kommunikativem Verhalten. Attitüden verstehe ich als zeitbedingt, geprägt von bestimmten historischen politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und insofern als wandelbar. Sie treten allerdings selten in „reiner“ Form auf, sondern in einer diffusen „Gemengelage“. Wenn ich sie hier zu isolieren und in Strängen zu bündeln versuche, muss ich notwendigerweise vereinfachen und zuspitzen. Natürlich kann ich mich dabei nicht allein auf das Sprachliche beschränken. Denn ebenso wie der Sprachgebrauch der Menschen in der DDR mit geprägt ist durch die Bedingungen, unter denen sie gelebt und geredet haben, ebenso sind auch die Bilder, die man sich im Westen von Sprachgebrauch und Leben in der DDR gemacht hat, mit geprägt von den jeweils dominierenden Rahmenbedingungen - sagen wir: vom politischen „Klima“. Ich beschäftige mich hier ausschließlich mit westdeutschen Attitüden. Die Untersuchung ihrer „Gegenstücke“ auf ostdeutscher Seite, die es natürlich auch gab und gibt, sollte einer/ einem Ostdeutschen überlassen bleiben, schon um der Glaubwürdigkeit willen. Die folgende Reihung von Attitüden, die ich für die Druckfassung um vier Attitüden nach der Wende erweitert habe, bitte ich nicht als chronologisch [* Zuerst als Vortrag auf dem internationalen Kolloquium „Deutsche Sprach- und Kommunikationserfahrungen zehn Jahre nach der ‘Wende’“, Wittenberg, 3.-4. Juni 2000. MWH ] Resümee und Ausblick 518 zu verstehen, auch wenn eine gewisse zeitliche Schichtung zu erkennen sein mag. Attitüden können zeitweise zurücktreten, um später in ganz anderen Zusammenhängen wieder relevant zu werden. <58> 1. Die Attitüde des „Sprachkriegs“ oder: „Die Kommunisten wollen unsere Sprache zerstören“ Beide deutsche Staaten waren 1949 gegründet worden als Frontstaaten mitten im Kalten Krieg. Die BRD hatte die Erfahrung der Blockade West- Berlins durch Stalin hinter sich und die erfolgreiche Luftbrücke zur Rettung dieser Stadt, die Bevölkerung hörte die Berichte der vielen Flüchtlinge über die Stalinisierung der DDR, über die KZs und Zwangsarbeitslager; zusätzlich aktualisiert wurde der innere Antikommunismus durch die Erfahrung des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953. All dies erzeugte ein Klima, in welchem alles, was den Kommunismus als zerstörerisch und gefährlich erscheinen ließ, offenes Gehör fand und alles vielleicht Entgegenstehende kaum noch zur Sprache kam. Hinzu kam in den 50er Jahren der unbestreitbare Erfolg des marktwirtschaftlichen Systems im Westen, während in der DDR trotz aller Erfolgspropaganda der Erfolg auf sich warten ließ. Kommunisten, so schien es, waren nicht nur im Innern erfolglos und diktatorisch, sie waren angetreten, um alles, was dem Westen heilig war, zu zerstören, darunter auch seine Werte, seine Kultur, seine Sprache. Es war die Rede von „Verhunzung“, „Zerstörung“, „Entartung“ der Sprache, von bewusster „Verfälschung der Begriffe“ mit dem Ziel, durch Zerstörung der bisher gültigen Begriffsinhalte das Denken der Menschen und damit diese selbst hilflos zu machen, gefügig dem „Bolschewismus“ Stalins und seinen „Pankower Marionetten“ oder „Vasallen“. In Westdeutschland demgegenüber, so glaubte man zu wissen, galt das unverfälschte Deutsch, galten noch alle Werte des „christlichen Abendlandes“. Schon die Titel einiger Beiträge aus den 50er Jahren sprechen für sich: - „Die Sprachentartung in der Sowjetzone“ (Borée, 1952); - „Deutsche Sprache in östlicher Zwangsjacke“ (Köhler, 1954); - „‘Sowjetdeutsch’ - Die Sprache als Opfer und Werkzeug der Sowjetisierung“ (Koepp, 1955); Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 519 - „Gefährliches ‘Parteichinesisch’ - Verhängnisvolle Sprachspaltung zwischen West und Ost“ (Haefs, 1956); Die Empörung und der Abwehrreflex entzündete sich immer wieder an marxistisch-leninistischen Definitionen von Begriffen wie Freiheit, die nichts anderes meine als kommunistische Sklaverei, demokratischer Zentralismus als Diktatur der Parteiführung, Fortschritt als Weg ins Elend der Planwirtschaft, Kollektiv als die Praxis, den Menschen seiner Individualität zu berauben, Einheit als Politik der Spaltung, Friede als Vorbereitung zur Weltherrschaft des Kommunismus usw. <59> Ein weiterer Grund für Erschrecken, Empörung und Abwehrreflexe waren die zahlreichen Übernahmen aus sowjetrussischem Sprachgebrauch (Subbotnik, Neuerer, Held der Arbeit, Kominform) und die aggressive Kampfrhetorik gegen äußere Feinde (westdeutsche Imperialisten/ Kriegsbrandstifter, Aggressoren), und gegen innere Feinde (Diversanten, Saboteure, Agenten, Konterrevolutionäre, Volksverräter, Junker), im Kampf (der Aktivisten) um die Planerfüllung und für den Frieden - bei gleichzeitiger Aufforderung zum Hass gegen den Klassenfeind. Kein Wunder, so schloss man, dass die Menschen scharenweise diesem Sprachdruck zu entkommen versuchen. Bei K.P. Werder („Tausend Worte Sowjetdeutsch“) erscheint eine 70-jährige alte Dame an der Grenze. Gefragt, warum sie denn auf ihre alten Tage noch flüchte, antwortet sie: „Ja denken Sie, ich sollte für den Frieden kämpfen. Aber ich kann doch nicht für den Frieden kämpfen“ [zit. nach Schierbaum (1964), Das Wort als politisches Instrument, S. 25]. Besonders rabiat äußerte sich Otto B. Roegele, Professor für Publizistikwissenschaft in München und jahrzehntelang Mitherausgeber des „Rheinischen Merkur“, der 1959 von einem „System des kommunistischen Sprachkrieges“ sprach, von „Fälschung der Begriffe“ und „Schaffung einer eigenen Sprachwelt“, von „thematischer Verführung“ usw., und den ideologisch bedingten Sprach-Konflikt zum Krieg zwischen Gott und Teufel mythisierte: Das ist der teuflisch-grandiose Versuch, durch Umschaffung der Worte auch das Weltbild der Menschen umzuschaffen, der Versuch, die zweite Schöpfung [...] zu pervertieren in die satanische Schöpfung einer Gegenwelt [...]. [S. 48]. Resümee und Ausblick 520 - Gibt es irgendeinen Grund zu der Hoffnung, dass die Menschen dieser Vergewaltigung der Gedanken durch die Worte widerstehen können? Es spricht einiges dafür, dass die Menschen, ungeachtet der gnadenlosen Konsequenz der Propaganda-Maschine, ihr gesundes Sprachempfinden bewahrt haben. [S.60]. Solche Attitüde fand sich abgeschwächt auch in halboffiziellen Nachschlagewerken wie dem vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen in vielen Auflagen verbreiteten Werk „SBZ von A bis Z“: Die Sprache der sowjetzonalen Öffentlichkeit ist vom Kauderwelsch des kommunistischen Regimes [...] in einem Maße überfremdet, dass sie dem westdeutschen Leser kaum ohne ein Wörterbuch verständlich ist. Dieses Buch soll deshalb zugleich ein Wörterbuch sein, das den offiziellen Jargon des Regimes in der Sowjetzone übersetzt. [2. Aufl. 1954 Vorwort]. Zwar wurden die westdeutschen Leser durch solche Veröffentlichungen immerhin darüber informiert, dass es auch andere Definitionen ideologischer Begriffe gab als die in Westdeutschland geläufigen - und zudem einen anderen sy- <60> stemspezifischen institutionellen Wortschatz. Andererseits leuchtet ein: Eine solche Attitüde lässt wenig Raum für nüchterne Beobachtung des alltäglichen Sprachgebrauchs in der „Sowjetzone“. Allerdings auch nicht für eine kritische Untersuchung, wie denn und wofür in der BRD der politisch-ideologische Wortschatz gebraucht werde; oder wie groß und wie geartet zum Beispiel der Einfluss des Angloamerikanischen sei; oder wie groß die Gefahr einer „Sprachspaltung“ denn wirklich sei. Zu den ganz seltenen Arbeiten, die hierauf hinwiesen, gehört der Beitrag von Walter Richter (Pseudonym für den Schweizer Germanisten Peter Brang) von 1953, auf den hier wenigstens hingewiesen sei. Die Vertreter der „Sprachspaltungsthese“ konnten sich zudem auf Victor Klemperer berufen, der neben der „angloamerikanischen Überfremdung“ im Westen auch den „Funktionärjargon“ im Osten kritisierte und befürchtete, man werde in den Schaufenstern des Auslands wohl einmal Schilder sehen „Hier spricht man Ostdeutsch“ - „Hier spricht man Westdeutsch“, analog zu den Schildern „American spoken“ - „English spoken“, wie er sie in Paris gesehen hatte. Es verwundert nun auch nicht, dass Flüchtlinge aus der DDR nach ihrer Übersiedlung so schnell wie möglich alles ablegten, was DDR-typisch klingen konnte. Schließlich wollte man ja nicht in den Verdacht geraten, „Funktionärjargon“ zu sprechen, die „Spaltung zu vertiefen“ oder gar an der „Zerstörung abendländischer Werte“ mitzuwirken. Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 521 2. Die Attitüde der philologischen Interessiertheit oder: „Wie merkwürdig ist doch die DDR-Sprache! “ Neben der kämpferischen Auseinandersetzung mit dem politischideologischen Vokabular der herrschenden SED gab es durchaus - und zwar schon in den 50er Jahren - westdeutsches Interesse auch an nicht primär ideologischen Wörtern. Hiermit wurde der Blick geöffnet für die Tatsache, dass auch der Sprachgebrauch in Alltag und Beruf von sprachlichen Veränderungen mit betroffen war. Allerdings konzentrierte sich dieses Interesse überwiegend auf das Auffällige, für westliche Ohren abstrus oder komisch Klingende, ohne zu prüfen, ob das, was man da mokant glossierte, wirklich gebräuchlich war. Ich nenne als Beispiel hier als erstes das Sollschwein. Ernst Otto Maetzke, später prominenter Mitherausgeber der FAZ, hatte dieses Wort 1952 in einer Wochenzeitung der DDR entdeckt (es bezeichnet ein Schwein, das im Rahmen des landwirtschaftlichen Abgabesolls gemästet und abgeliefert wird, im Gegensatz zu individuellen Schweinen, die der Bauer privat mästete und teurer verkaufen konnte), und er hatte seinen Fund in einem Aufsatz 1953 in einer Anmerkung 8 Punkt zitiert [Maetzke 1953, S. 34 Anm. 2]. Im „Aueler Protokoll“ (1964) <61> taucht das Tier ohne Zitat in 12 Punkt Normalschrift im Text auf [bei H.J. Schierbaum: Das Wort als politisches Instrument, S. 35], in einer Zeitung vom November 1965 schon halbfett in einer Zwischenüberschrift und schließlich in einer anderen Zeitung in 24 Punkt Größe dreispaltig in der Hauptüberschrift: „Scheiden sich am Sollschwein die Geister? - Politische Sprachentwicklung im geteilten Deutschland“ [Die Rheinpfalz (Ludwigshafen) vom 26.11.65]. Dieser „Züchtungserfolg“ westdeutscher Philologen und Journalisten blieb kein Einzelfall. Allerdings waren später Journalisten allein als Züchter tätig, sogar bei der FAZ. Sie brachte im September 1986 folgenden Artikel: Der Zollstock heißt in der DDR Holzgliedermaßstab; und die Kinder und Jugendlichen, die allwöchentlich ihren Unterrichtstag in der Produktion abzuleisten haben, [...] sind angehalten, nur diesen Ausdruck zu verwenden. Die Briefkästen in den Neubaublocks werden Hauspostschließfachanlagen genannt. Der schlichte Sack ist jetzt im anderen Deutschland aufgewertet zum flexiblen transportablen Schüttgutbehälter. [...] Eine Ost-Berliner Sargtischlerei, offenbar um ihr Ansehen bangend, hat sich in eine „Produktionsgenossenschaft Erdmöbel“ umgetauft. [...] [Verf.: mi, FAZ 9. Sept. 1986, S. 25]. Resümee und Ausblick 522 Diese Beispielreihe rauschte mehrfach durch den bundesdeutschen Blätterwald, ergänzt um weitere Beispiele wie rauhfutterverzehrende Großvieheinheit (angeblich für ‘Rind’), Frühjahrsschokoladenhohlkörper (für Schokoladen-Osterhasen) und - Sie ahnen es sicher schon - Jahresendflügelpuppe oder geflügelte Jahresendfigur (für Weihnachtsengel). Nicht Urheber, aber Sammler dieser schönen Stilblüten ist Ernst Röhl, begabter Sprachsatiriker in der DDR, der im übrigen für seine Bosheiten fast ein Jahr unter Ulbricht im Zuchthaus einsaß. Er versichert, alle diese Blüten habe er tatsächlich gefunden, selbstverständlich als Einzelfälle, aber das sei schließlich das Metier des Satirikers. Was er nicht ahnen konnte war, dass seine Stilblütensammlung im Westen als typisch für den Sprachgebrauch der DDR-Bürger gewertet wurde. Versuche, diesen Unsinn abzustellen, blieben vergeblich; sie sind bis heute nicht auszurotten. In welchem Licht erscheinen DDR-Bürger, wenn Westdeutsche glauben, sie sprächen wirklich so? Als Opfer von sprachdebilen Funktionären? Oder selbst als leicht debile Sprecher solchen Unsinns? Abgesehen davon, dass die Sprachproduktion westdeutscher Bürokraten oft auch nicht ansprechender war und ist, abgesehen davon, dass mit der Verbreitung solcher Kabarett-Blüten von den wirklichen Unterschieden, die es ja wirklich in Fülle gab, abgelenkt wird - abgesehen von all dem erscheint dieser angebliche Sprachgebrauch und mit ihm seine Sprecher als komisch, putzig, zum Kopfschütteln Anlass gebend, - wohl kaum eine Haltung, die sich angeblich um gesamtdeutsches Verständnis bemühte Journalisten eigentlich wünschen sollten. <62> 3. Die Attitüde der empirischen (wissenschaftlichen) Beobachtung oder: „Wir brauchen erst einmal Belege“ Philologisches Interesse am auffälligen Einzelbeispiel und empirischwissenschaftliches Interesse hier einander gegenüber zu stellen ist ein bisschen unfair. Philologisches Interesse war ja oft ein Motiv dafür, die Untersuchungen auf eine empirisch besser gesicherte Grundlage zu stellen. In der Tat verwenden die ersten Arbeiten seriöser Sprachwissenschaftler neben Methoden der aus der Literaturwissenschaft geläufigen interpretierenden Philologie auch solche der semantischen oder wortgeschichtlichen Analyse. Ich nenne hier vor allem Gustav Korlén, Werner Betz, Hugo Moser, Herbert Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 523 Bartholmes, Hans H. Reich, sowie den Sammelband „Das Aueler Protokoll“; alle diese Arbeiten und viele weitere sind zwischen 1959 und 1968 erschienen. Ein Beispiel für eine gelungene Kombination von philologischem Ansatz und klassifizierend-frequenzorientierter Auswertung ist ein Aufsatz des Schriftstellers Martin Gregor-Dellin 1967. Dort hat Gregor-Dellin eine Rede Erich Honeckers auf dem VII. Parteitag komplett quantitativ und qualitativ-wertend analysiert. Anders als zählend-klassifizierend, sagt er, habe er diesem Text nicht beikommen können; es komme hier zu einem Umschlag extremer Vokabular-Quantitäten in die Qualität fürchterlicher Formelhaftigkeit des Gesamtstils. Sein Fazit: „Es ist ihm (= Honecker) gelungen, es heute auf ein rudimentäres Basis- oder Hühner-Deutsch zu bringen, das eigentlich nur noch dazu dienen kann, streng kontrollierte und von vorn herein genormte Denkschemata auszutauschen. [...] Es ist keine bloße Vermutung, daß Honecker so denkt, wie er spricht“ [S. 87]. Kaum eine der Arbeiten der 60er Jahre ist ost-west-vergleichend, und die wenigen, die vergleichend vorgingen (wie Theodor Pelster im „Aueler Protokoll“, der Reden zum 17. Juni 1953 vergleichend untersuchte), weckten eher Zweifel an der Methode. Gerade das „Aueler Protokoll“ bzw. einige methodisch besonders angreifbare Beiträge darin waren Anlass für Hugo Moser, einem Vorschlag zuzustimmen, die damals neu gegründete Bonner Forschungsstelle des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache möge sich vorrangig um die Erstellung einer auch statistisch vergleichbaren Textgrundlage aus Ost- und Westtexten kümmern, und zwar aus Texten, die wahrscheinlich ein hohes Maß an Unterschieden aufwiesen; also nicht etwa literarische Texte, sondern Zeitungstexte. Denn die Leitfrage war: Wie unterschiedlich oder wie gemeinsam ist der Sprachgebrauch denn nun wirklich? Wo liegt das Maximum an Differenzen im deutsch-deutschen Sprachgebrauch? Und zwar - da an spontan gesprochene Sprache in der DDR nicht heran- <63> zukommen war - der öffentliche (und das heißt für die DDR auch: der öffentlich kontrollierte) Sprachgebrauch in beiden deutschen Staaten. Dies impliziert: Der Sprachgebrauch der DDR wurde nicht mehr wie bisher von vornherein als Abweichung, als Entartung des westdeutschen betrachtet, sondern zunächst einmal als auch standardsprachlich-gleichberechtigt und Resümee und Ausblick 524 als solcher untersuchbar. Nicht das Sprachsystem oder der Wortschatz als Teilsystem ist Gegenstand der Untersuchung, sondern der Gebrauch, wie er in den Korpustexten repräsentiert ist. Zur Gebrauchsanalyse gehört auch die Kategorie Häufigkeit als neuer aussichtsreicher Ansatz. Folgerungen, Interpretationen, Wertungen schließen sich erst danach an. Und dieses Textkorpus sollte gleich mit den damals soeben in die Germanistik eingeführten Methoden der Sprach-Datenverarbeitung erfasst und ausgewertet werden. Keiner der damals Beteiligten hatte eine Ahnung, worauf er sich da einließ. Methodisch betraten wir Neuland, die technischen Voraussetzungen waren - aus heutiger Sicht - eigentlich eine Zumutung. Die Bonner Forschungsstelle hat jedenfalls 12 Jahre gebraucht, bis das Bonner Zeitungskorpus [BZK 1992] in einer repräsentativen, zeitlich gestuften Auswahl exemplarischer Jahrgänge wirklich auswertungsreif war. Dafür diente es dann allerdings nicht nur den eigenen Arbeiten des IDS als Grundlage, sondern auch zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten im In- und Ausland. - Das zweite große Korpus mit Texten aus Ost und West, das sogenannte Wende-Korpus mit Texten von 1989/ 90 [Wende-Korpus 1992], benötigte dann nur noch 2 Jahre bis zu seiner Verfügbarkeit. Gestützt wurde die methodische Neuorientierung durch die vehemente Kritik Walther Dieckmanns (1967), der der bisherigen Forschung vorwarf, sie vermische ständig Analyse mit politischer Wertung und belege mit passend ausgewählten Einzelbeispielen nur, „was man politisch schon weiß“. Dieckmann forderte Reflexion der eigenen ideologischen Prämissen, Methodenpluralismus durch Einbeziehung von Nachbarwissenschaften; die Kritik der sich etablierenden Systemlinguistik, dies sei dann ja wohl nicht mehr Linguistik, wies er zurück: er sähe nicht ein, warum der Linguist da aufhören solle, wo es anfange interessant zu werden: bei den Beziehungen zwischen Sprache, Sprachgebrauch und jeweiliger Gesellschaft. Diese Kritik nahm in gewisser Weise vorweg, was in den 70er Jahren dominant wurde: die Rebellion der akademischen Jugend gegen die Frontstellungen des Kalten Krieges, gegen das Kritikverbot an den eigenen, keineswegs als demokratisch empfundenen Verhältnissen der Adenauer-Ära, die Forderung nach Reflexion der eigenen Methoden und der eigenen ideologischen Prämissen. Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 525 In Umrissen erkennbar wird auch das, was man später die „pragmatische Wende in der Linguistik“ nannte, sowie die besonders in der Sozialwissenschaft <64> und Politikwissenschaft erhobene Forderung, jede Gesellschaft, gerade auch die der DDR, sei zunächst einmal aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus zu verstehen und an ihren eigenen Maßstäben zu messen („systemimmanente Analyse“). Diese hier nur ganz grob skizzierten methodischen Neuansätze waren zweifellos ein Fortschritt und zeitigten ihre Erfolge. Sie hatten aber zugleich wieder Verkürzungen zur Folge: 1) Der erreichte Standard an empirischer Vergleichbarkeit verhinderte nicht, dass ein gewisser BRD-Zentrismus bestehen blieb, zumindest in den großen westdeutschen Wörterbuch-Verlagen. Die großen Wörterbücher in der BRD markierten zwar DDR-spezifische Wörter (sofern sie sie verzeichneten), sie markierten aber nicht BRD-spezifische Wörter als solche. Dies blieb allein dem Ost-Berliner „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ vorbehalten, das auch insofern einsames Vorbild blieb. 2) Wenn Voraussetzung jeder ernst zu nehmenden sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Sprachgebrauch der DDR nur noch eine eingrenzbare, definierte Textgrundlage sein durfte, wenn zugleich diese Textgrundlage aus nicht zu beseitigenden Gründen nur öffentliche, kontrollierte Texte enthalten konnte, dann konnten alle Ergebnisse wieder nur Geltung haben für diesen Ausschnitt aus dem allgemeinen Sprachgebrauch. Diese Einschränkung wurde nun nicht immer beachtet, manche machten sich auch nicht die Mühe darauf hinzuweisen. Insofern das öffentliche Interesse in der BRD nun mehr darauf aus war, die sprachliche Einheit als gefährdet darzustellen, konnten Horrormeldungen Verbreitung finden wie die, Sprachvergleiche hätten 24.000 Wortschatzdifferenzen ergeben. Tatsache war, dass statistische Auswertungen von Wortformenlisten unter 180.000 Wortformen 24.000 Wortformen ermittelt hatten, die signifikant unterschiedlich häufig belegt sind - nicht mehr; von Sprachvergleich und von Wortschatz war keine Rede. Als Ergebnis der vielen textgestützten Arbeiten kann man sagen: Wie Erich Honecker redete, wie das Politbüro, wie die Funktionäre redeten, das wussten wir recht gut; wie und was die Zeitungen in Ost und West Resümee und Ausblick 526 schrieben und wie Angelika Unterlauf in der Aktuellen Kamera sprach, war uns bekannt und in Wörterbüchern nachschlagbar; [vgl. Kinne / Strube- Edelmann 1981, Ahrends 1986/ 89, später Hellmann 1992], darunter auch in dem köstlichen „Neudeutschen Mindestwortschatz“ von Ernst Röhl (1986/ 89); wir konnten die Formeln und Losungen zitieren und die wichtigsten Stilmerkmale der Parteitagsreden auswendig. Andere hatten Filme oder Hörspiele oder Landfunksendungen oder bestimmte Literaturgattungen aus der DDR analysiert. <65> Aber die Frage blieb: Wie weit ist das nun die Sprache der DDR? Wie redet der Mann/ die Frau auf der Straße, am Arbeitsplatz oder im Familienkreis? DDR-Bürger versicherten uns - und versichern uns bis heute: So haben wir nie gesprochen! In der Tat: Dass sie nicht so redeten wie das Neue Deutschland, nahmen wir an oder wussten es aus persönlicher Kenntnis - aber Genaueres blieb uns verschlossen. Es sei denn, man fuhr, ganz privat, häufig in die DDR und sammelte dabei eigene Erfahrungen. Aber das entsprach natürlich nicht den Bedingungen der Repräsentativität und der Überprüfbarkeit. 4. Die Attitüde der teilnehmenden Beobachtung oder: „Wie reden die Leute in der DDR im Alltag wirklich? “ Der Schock des 13. August 1961, des Mauerbaus, machte die Gefahr einer dauerhaften Spaltung der deutschen Nation offenkundig. Diese Erfahrung - auch die der westlichen Hilflosigkeit - weckte einerseits neue antikommunistische Emotionen, andererseits führte sie mittelfristig verstärkt zu dem Wunsch, die Mauer durchlässiger zu machen und zu erfahren, was hinter ihr vorgeht. Man war - mangels Flüchtlingen aus der DDR - nun auf Besuche in der DDR angewiesen; auch diese selten und schwierig, aber immerhin möglich. Einer der ersten Beiträge, der solche Erfahrungen auswertete, war der von Heinrich Scholz (Pseudonym für Ulrich Engel) im sonst viel geschmähten „Aueler Protokoll“ (1964). Einen Durchbruch gab es nach Abschluss des Grundlagenvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten, als westdeutsche Korrespondenten in der DDR akkreditiert wurden (ab 1974). Es erschien eine Welle von Berichten aus unmittelbarer Anschauung. Als Beispiel für viele nenne ich Marlies Menge für die „Zeit“ und Eva Windmöller für den „Stern“ und ihr Buch „Leben in der DDR“ (1977). Ich zitiere aus ihrem Kapitel „Die Kunst der doppelten Zunge“: Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 527 In unserem DDR -Alltag lernen wir bald, zwei Sprachen von einander zu unterscheiden - die private und die offizielle. Routinierte SED -Karrieristen, so erfahren wir, beherrschen sogar drei Sprachen: eine familiäre für zu Hause, eine aufrüttelnde fürs Volk und eine eher zynische für den internen Gebrauch unter ihresgleichen. Wenn so ein Genosse ohne Angabe von Gründen von seinem Schreibtisch verschwindet, dann ahnt seine Umgebung, daß hier wieder mal einer im Suff bei ungeschickter Gelegenheit die Sprachen durcheinander gebracht hat. [...] Schon auf der Schule lernen die Kinder, sich der offiziellen DDR -Sprache zu bedienen, jener konventionellen Mischung aus preußischer Verlautbarung und gelegentlichem russischem Pathos. „Die wissen genau, wat se sülzen müssen“, sagt eine Bäuerin in Mecklenburg, „da werden alles kleine Heuchler draus“. [...] Es wäre nur natürlich, wenn der DDR -Bürger durch die Flut von Leerformeln, die täglich auf ihn hernieder gehen, in seinem Sprachempfinden abstumpfen würde. Das ist <66> aber nicht der Fall. Er hat, im Gegenteil, ein feines Ohr für Nuancen, die wir Westler erst mit der Zeit wahrnehmen [...] Wenn die DDR -Leute die offizielle Sprache abgeschaltet haben und ganz privat sind, nehmen sie es mit dem Wort viel genauer, reden ehrlicher als ihre Brüder und Schwestern im Westen, das ist vielleicht ihre Art von Kompensation. [S. 173-179] Ich habe mir 1978 - übrigens in Anlehnung an Scholz / Engel - folgende Ergänzung erlaubt: Der DDR -Bürger beherrscht nicht nur zwei oder drei Sprachen, sondern eine weitere, nämlich für „Westler“. Da werden plötzlich ostdeutsche gegen westdeutsche Bezeichnungen ausgetauscht, da wird erläutert und kommentiert („wie wir sagen“, „wie ihr sagt“, „so heißt das bei uns“), da wird auch anders argumentiert, da wird Jargon ins Gemeindeutsche transponiert oder als Jargon oder als Ironie für uns hörbar gekennzeichnet. [Hellmann 1978, S. 28]. Erst nach längerer Bekanntschaft, bei großer Vertrautheit haben meine Freunde in und bei Leipzig diesen „Transfer“ nicht mehr für erforderlich gehalten, sondern mich unmittelbar teilnehmen lassen. Sie haben mir so eine Innensicht der DDR vermittelt, die durch kein externes Wissen erreichbar war. Das Bild vom Sprach- und Kommunikationsverhalten der DDR-Bürger, wie es in den Berichten Windmöllers und anderen vermittelt wird, lässt sich etwa so umreißen: Resümee und Ausblick 528 DDR-Bürger leben in einer permanenten Spannung zwischen dem offiziellen System mit seinem sprachlichen Druck, dem anstrengenden beruflichen Alltag und dem privaten Glück im vertrauten Kreis („Nischen“ nannte das Günter Gaus später), aber sie sind Meister im Umgang mit den verschiedenen „Sprachen“, sie differenzieren sorgfältig und sind im privaten Umgang genauer, ehrlicher als Westler; diesem gegenüber sind sie bereit und in der Lage, ihre sprachlichen Besonderheiten verständlich zu machen. So verdienstvoll diese Hinwendung der Korrespondenten und anderer West- Besucher zum Alltag der DDR-Bürger und ihrem Sprachverhalten ist - auch sie ist nicht frei von der Gefahr von Fehlschlüssen oder der Überzeichnung - auch der positiven. Nur selten oder gar nicht taucht in diesen Schilderungen der Typ des verknöcherten Bürokraten auf, oder des Opportunisten, oder des machtbewussten Funktionärs oder des berüchtigten „Hundertfünzigprozentigen“, des überzeugt-agitierenden Ideologen. Sie alle gab es ja auch. Im Gegenteil wird mehrfach berichtet, dass gerade Funktionäre im Kontakt mit Westlern sich besonders konziliant und weltoffen gaben. Offenbar zeigten sich all diese Typen den westdeutschen Besuchern gegenüber von einer anderen Seite als gegenüber den eigenen Bürgern. <67> Der „teilnehmende Beobachter“ aus dem Westen machte sich oft nicht klar, dass er eben nie nur beobachtete: seine Teilnahme veränderte die Kommunikationssituation grundlegend. Ein zweiter Einwand: Auch die akkreditierten Journalisten kamen an bestimmte Kommunikationssituationen nicht heran. Kein Westbesucher wurde in Betriebe, in Behörden, in Universitätsseminare, in Sprechzimmer hereingelassen. Wie DDR-Bürger dort redeten, welche Wörter und Wendungen sie dort benutzten oder nicht benutzten, ob und inwieweit sich der Stil veränderte, blieb nicht nur unerforscht, sondern auch weitgehend unbefragt. Auch die erwähnte Fähigkeit und Bereitschaft der DDR-Bürger zum „Transfer“ ihres Sprachgebrauchs gegenüber westdeutschen Besuchern blieb nicht ohne Missverständnisse. Bei den so kostbaren Gelegenheiten wie Besuchen bei Freunden oder Verwandten in der DDR wurden Konfliktthemen möglichst ausgespart; für genauere Schilderungen des schwierigen Alltags war die Zeit oft zu kurz und zu kostbar. Und für den „Rest“ benutzten DDR- Bürger möglichst wenig DDR-spezifische Wörter. Deutsch-deutsche Kommunikation diente bei solchen Besuchen oft nicht vorrangig dem Ziel der Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 529 Informationsgewinnung, sondern der Vergewisserung der Zusammengehörigkeit, war Kommunikation um der Kommunikation willen. All dies zusammen - die Bereitschaft der DDR-Bürger zum sprachlichen Transfer, das Vermeiden von Konfliktthemen und die veränderte Haltung so mancher Träger des Systems beim Kontakt mit Westlern - mag Ursache dafür sein, dass manche Westbesucher aus der DDR zurückkamen mit dem Eindruck: Es gibt ja kaum Unterschiede; störend ist nur der offizielle Jargon, und den umgehen die Bürger kunstvoll. Wir werden gleich sehen, dass solche Teilerfahrungen in anderen Argumentationslinien wieder auftauchen. 5. Die Attitüde des „gemeinsamen Bandes“ oder: „Nur die SED stört die Gemeinsamkeit der Brüder und Schwestern“ Schon Willy Brandt hatte darauf bestanden, dass die deutsche Nation weiter existiere; sie existiere in den gemeinsamen Grundlagen der Geschichte, der Kultur und der Sprache, in gemeinsamen Sitten und Gebräuchen und in dem weiterhin vorhandenen Willen zur nationalen Gemeinsamkeit. Diesen Willen zur Nation galt es zu stärken durch möglichst zahlreiche Kontakte auf möglichst vielen Ebenen. Die Regierung Kohl übernahm später weitgehend diese Politik. Die deutsch-deutschen Beziehungen wurden weiter ausgebaut, u.a. durch Regelungen für <68> West-Besuche in der DDR und Besuche von DDR-Bürgern (aus Familiengründen oder Altersgründen) in der BRD. Unter diesen politischen Rahmenbedingungen war es politisch naheliegend, das „gemeinsame Band der Sprache“ als intakt, als funktionsfähig darzustellen. Von Regierungserklärungen über Ministeriumsveröffentlichungen bis hin zu Sprachbetrachtungen war dies vorherrschende Tendenz in den 70er und 80er Jahren. In diesem Zusammenhang bekamen auch die Berichte der akkreditierten Journalisten, auch wenn anders gemeint, eine überwiegend affirmative Funktion: Die SED sei mit ihren Bemühungen um eine eigene Nationalsprache oder doch mindestens um eine eigene „nationalsprachliche Variante“ gescheitert; ihr Sprachgebrauch liege als volksfremde „Verlautbarungssprache“ wie eine erstickende Decke über dem Volk und seiner Sprache; zöge man Resümee und Ausblick 530 diese Decke weg, käme das alte, unverfälschte Umgangsdeutsch wieder zur Geltung, das nicht nur in der BRD, sondern auch in der DDR gesprochen werde. So etwa kann man die Haltung, wie sie sich z.B. bei Wolf Oschlies [1989a und 1989b] und anderen findet, charakterisieren. Oschlies fügt allerdings noch einen Hieb hinzu gegen den „bundesdeutschen lexikographischen Masochismus“ und seine Suche nach DDR-Neuwörtern, die er als „Fliegenbeinzählerei“ kritisiert; tatsächlich gebe es kaum welche: „werden ganze 8 übrigbleiben, wenn man sie kräftig abklopft? Oder 80? Mehr gewiss nicht“ [Oschlies 1989a, S. 111f.]. Abgesehen davon, dass einiges schlicht den Fakten widerspricht - abgesehen auch davon, dass eine volle Übereinstimmung der Alltagssprache nach 40 Jahren Trennung jeder Wahrscheinlichkeit widerspricht - in solcher Argumentation gewinnt eine Perspektive Geltung, die nicht unbedenklich ist. Wenn ein DDR-Bürger thesenwidrig dann doch nicht das „reine“ gesamtdeutsche Deutsch wie in der BRD verwendet - was ist er dann? Ein Funktionär? Eine rote Socke? Muss man ihn nicht sogleich korrigieren, zurechtweisen? Wir werden sehen, dass so etwas durchaus vorkommt. 6. Die Attitüde des Anti-Antikommunismus: oder: „Was wollt ihr eigentlich? Bei uns ist es doch genau so“. Der Antikommunismus als militante Abwehrhaltung gegenüber der DDR hatte im öffentlichen Bewusstsein der BRD seit den 70er Jahren kaum noch eine Basis; die Politik der Verständigung, der „kleinen Schritte“, des „Wandels durch Annäherung“ hatte eine vergleichsweise breite Zustimmung gefunden. Einige linke Kreise gingen aber noch einige Schritte weiter: <69> Die bestehende Zweistaatlichkeit wurde als Konsequenz, als Sühne für die deutschen Verbrechen der Vergangenheit akzeptiert, ja verteidigt. Kritik am DDR-System geriet unter Ideologieverdacht: Man wolle damit wohl nur die reformbedürftigen gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD verteidigen und stabilisieren. Während konservative Kreise Kritik an der BRD mit der Aufforderung konterten: „geh doch nach drüben, wenn's dir hier nicht passt“, konterten linke Kreise Kritik an der DDR - auch sprachliche Kritik - mit dem Spruch „Was willst du eigentlich, das gibt's hier doch auch, das ist hier doch genau so! “. Gewiss: Zu allen auffälligen Phänomenen der offiziellen Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 531 DDR-Sprache - Propaganda, Sprachmanipulation und -reglementierung, parteiliche Begriffsdefinitionen, Bürokratenstil, Euphemismen, Verschleierung usw. - ließen sich im Westen irgendwo und irgendwie Parallelen finden. Trotzdem waren solche Sprüche fast immer falsch, denn „genau so“ war es nie, allenfalls ähnlich, aber trotzdem anders. Ein Beispiel: Rolf Mainz, Schriftsteller aus der DDR mit längerem Zuchthausaufenthalt, ist freigekauft worden und versucht nach seiner Ankunft in der BRD, Schuhe zu kaufen, Formulare auszufüllen und nach Australien zu reisen. Er scheitert, wie früher in der DDR, nur aus ganz anderen Gründen. Und das erzählt er seinen neuen „Freunden“ im Westen: „‘Siehst du’, rufen hier meine fortschrittlichen Busenfreunde wie aus einem Munde, ‘wir haben dir doch gesagt, daß es hüben wie drüben der gleiche Mist ist. Aus dem Regen in die Traufe bist du abkommandiert worden, Träumer. Bloß daß die Traufe zusätzlich noch sauer ist und stinkt’ [...]“ [S. 13f.]. Einige Sprachwissenschaftler zogen die Konsequenz, sich mit dem Sprachgebrauch in der DDR überhaupt nicht mehr zu befassen, darunter solche, die in den 70er Jahren noch sehr aktiv gewesen waren. Das Thema verlor an öffentlicher Akzeptanz. Es gab Vorschläge, mögliche Kommunikationsbarrieren zwischen Bundesdeutschen und DDR-Deutschen zu untersuchen, weil Übereinstimmung im Medium der Sprache eben nicht mehr garantiert sei und damit problemlose Verständigung nicht mehr vorausgesetzt werden könne, von allem anderen wie 40-jährigen unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Sozialisierungen ganz abgesehen - aber solche Vorschläge stießen auf den Vorbehalt: Was soll das, denken Sie etwa an eine Wiedervereinigung? Wozu? [Vgl. den Beitrag Hellmann und die Diskussion in Hellmann (Hg.) 1973] - Nun, ich dachte nicht gerade daran, aber immerhin zunächst an die Schlussakte von Helsinki und ihren sogenannten „Korb 3“ [vgl. Hellmann 1978], später an Glasnost und Perestroika auch in der DDR mit durchlässigen Grenzen und mit der Möglichkeit, dass sich Ost- und Westdeutsche dann auch massenhaft im Alltag begegnen könnten - vielleicht <70> im Rahmen einer Konföderation. Da hätte ich schon gern rechtzeitig gewusst, wie das ausgeht. Resümee und Ausblick 532 7. Die Attitüde der bundesdeutschen Selbstgewissheit oder: „Wir sind wir - und was seid ihr? “ Aus Umfragen ist bekannt, dass ostdeutsche Bürger sehr viel besser informiert waren über die Verhältnisse in der BRD und über westdeutschen Sprachgebrauch als umgekehrt Bundesbürger über Leben und Sprachgebrauch der DDR-Bürger. [Zur Kenntnis von Wörtern vgl. SPIEGEL Spezial 1991, S. 84]. Ursache für die bessere Informiertheit ist vor allem die nahezu flächendeckende Teilnahme der DDR-Bevölkerung an westlichen Rundfunk- und Fernsehsendungen und ihr nach Westen gerichtetes Interesse. Die Bundesbürger dagegen waren nicht nur schlechter über die DDR informiert, sie waren auch an der DDR eher desinteressiert; sie kannten sich in Mallorca, Paris oder Amsterdam besser aus als in Leipzig, Dresden oder Frankfurt/ Oder. Und sie empfanden dies nicht als Mangel, sondern als normal; die Welt öffnete sich - insbesondere für die Jüngeren - weit nach Süden und Westen, der ihnen vertraut war und als dessen Teil sie sich verstanden. Der Osten war den meisten eine fremde Welt, voller Schwierigkeiten und Abstrusitäten und einer bösen, militärisch scharf bewachten Grenze. Hinzu trat ein solide gewachsenes Selbstbewusstsein, eine Selbstgewissheit, dass sie, die Deutschen in der BRD, die eigentlichen, die richtigen Deutschen seien - oder anders gesagt: Dass wir Deutsche sind, das wissen wir und jeder bestätigt es uns. Und was seid ihr? Vielleicht noch irgendwie auch deutsch, aber doch irgendwie anders. Gell? Sehr gut ablesen lässt sich diese Selbstgewissheit am Gebrauch der Wörter Deutschland und deutsch. Dazu ist schon viel geschrieben worden [u.a. vgl. Berschin 1979, zuletzt Hellmann 1997], hier also nur einige knappe Bemerkungen: Schon seit den 70er Jahren wurde erkennbar, dass Deutschland und deutsch nicht mehr mit dem bisherigen gesamtdeutschen, beide Staaten einschließenden Bezug gebraucht wurden, sondern allein mit Bezug auf die Bundesrepublik. Man sprach im Westen von deutschen Sportlern/ Autos/ Exporten/ Regierung/ Botschaft und meinte ‘westdeutsche’. In den Medien und im Sprachgebrauch der bundesdeutschen Bevölkerung (insbesondere der jüngeren) reduzierte sich das kollektive Wir-Bewusstsein - unter Ausklammerung Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 533 der DDR und ihrer Bürger - auf die Bundesrepublik. Und dies, obwohl alle Bundesregierungen an der offiziellen Auffassung festhielten, dass Deutschland als Ganzes weiter existiere. <71> Gefördert wurde dieser Trend durch staatliche Bezeichnungsrichtlinien aus den 60er und erneut den 70 Jahren, die - jedenfalls für den amtlichen Sprachgebrauch und dem in den Schulen - einerseits die Abkürzung BRD und andere als unerwünscht deklarierten, andererseits den Gebrauch von Deutschland, deutsch als Kurzbezeichnung für den vollen Namen Bundesrepublik Deutschland empfahlen. Bedenken, dies grenze doch die DDR und ihre Bürger semantisch aus dem Deutschland-Begriff aus, wurden übergangen. Wie musste es auf DDR-Bürger wohl wirken, in dieser Weise als irgendwie nicht mehr ganz deutsch aus dem bundesdeutschen kollektiven Wir-Bewusstsein ausgegrenzt zu werden? [vgl. Hellmann 1988/ 89, S. 36f.]. Nach meinen Erfahrungen reagierten viele DDR-Bürger betroffen oder empört, wenn sie im Gespräch mit westdeutschen Besuchern solchem separat-nationalem Sprachgebrauch begegneten („bei uns in Deutschland“ = in der BRD; „ich habe noch deutsches Geld“ = D-Mark; an einem Leipziger Kiosk: „gibts denn hier keine deutschen Zeitungen? “ = westdeutsche u.Ä.). Mit kaum etwas konnte man DDR-Bürger mehr verletzen, gerade auch solche, die dem System fern oder kritisch gegenüber standen. Die besagte Sprachregelung ist zwar nie voll durchgesetzt worden, aber sie hat zweifellos trendverstärkend gewirkt. Sie ist bis nach der Vereinigung gültig geblieben. Vor solchem Hintergrund muss es dann nicht mehr verwundern, dass sich in der BRD eine Art sprachlicher Alleinvertretungsanspruch entwickelte. Etwa nach dem Prinzip: „Wer Deutscher sein will wie wir, soll reden wie wir; Ostdeutsch gibt's nicht - oder sind Sie etwa gegen die Vereinigung? Oder eine rote Socke? “ Das ist natürlich überzeichnet. Immerhin: Als ein in den Bundestag gewählter Abgeordneter aus den neuen Ländern in einer Rede den Ausdruck Zielstellung gebrauchte, wurde er von einem westdeutschen Abgeordneten rüde unterbrochen: „Das heißt hier Zielsetzung! “ Ein Geschäftsführer eines 1991 vom VEB zur GmbH umfirmierten Betriebes in Dresden nahm solche Einwände vorweg, indem er seinen leitenden Angestellten schriftlich empfahl, im Umgang mit westdeutschen Geschäftspartnern Resümee und Ausblick 534 Wörter wie „Kader, Brigade, Kollektiv, Werktätige, Territorium, Ökonomie und ähnliche spezifische Begriffe, die aus der Vergangenheit stammen“, nicht zu gebrauchen, sie führten zu „negativen Assoziationen“, „Wir machen uns im Umgang mit westlichen Firmen das Leben unnötig schwer“ [nach einem mir von Ernst Röhl überlassenen Originalbrief]. Der Mann hatte wahrscheinlich recht. In dem Augenblick, in dem Westdeutsche entdeckten, wie Ostdeutsche im beruflichen Kontext denn nun wirklich redeten, entlarvte sich das Bild vom „einigenden Band der Sprache“ als trügerisch; prompt rasteten auf westdeutscher Seite lang geübte, nur phasenweise überdeckte Attitüden wieder ein. <72> 8. Die Attitüde des wohlwollenden Desinteresses oder: „Ach Sie sind aus der DDR? - Wissen Sie, wir haben auch unsere Probleme“ Niemand hat die Attitüde des mehr oder weniger wohlwollenden bundesdeutschen Desinteresses an der DDR, ihren Bürgern, ihrem Sprachgebrauch so auf den Punkt gebracht und zugleich so erfahrungsgesättigt differenziert wie der schon zitierte Rolf Mainz. In seinem Buch „BRDDR - Leiden an Deutschland. Satiren über die geteilten Deutschen“ (1985) schreibt er (fingierte) Briefe an seinen in der DDR verbliebenen Freund Wünselmann: Lieber Wünselmann, [...] Die DDR ist hierzulande so etwas wie ein Fußpilz. Der ist lästig und gehört irgendwie mit dazu, aber man spricht nicht sehr gern darüber. [...] Ich zeige Dir mal [...] so eine Art Momentaufnahme mit vertikaler Schichtung. Da wäre zunächst der bundesdeutsche Trivialmonolog, der geht etwa so: „Aus der DDR kommen Sie? Ach, ja? Ja kann man denn das? Meine Schwiegermutter stammt aus Schlesien. Vor sieben Jahren war ich besuchsweise ...“ Der gehobene bundesdeutsche oder Beamtenmonolog: „Daß Sie aus der DDR kommen, höre ich, aber was meinen Sie, was wir hier für Asylantenprobleme haben, das sind unsere Steuergelder, Herr, das kostet uns jährlich pro Kopf ...“ Der interessierte bundesdeutsche oder Journalistenmonolog: „Unglaublich, ist ja interessant, da haben Sie also in Brandenburg ... Agnes, den Cointreau doch nicht dorthin, das macht immer so Flecke. Ja, Mensch, da erzählen Sie doch mal, wie ist das denn so ... Schatz, jetzt nicht, sei so lieb, laß uns noch auf Herrn Papcarton warten. Ja. Also, da haben Sie ein Buch über Bautzen, unglaublich, und bei wem ist das erschienen? “ Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 535 Der freigekaufte bundesdeutsche oder Spitzenmonolog: „Gewiß, dies ist dem Hause seit langem bekannt. Dessenungeachtet seien Sie aber versichert, daß jede öffentliche Behandlung einzelner Fälle die Aussicht auf positive Regelung praktisch zerstört.“ - So ist das, Wünselmann. Aber so ist es auch wieder nicht. Nämlich, du hast auch Beispiele echten Interesses, wirklicher Anteilnahme, die wohltuend von der normativen Introvertiertheit abweichen. Im allgemeinen aber hörst du ziemlich oft, daß die DDR -Verhältnisse doch wohl Sache der DDR- Bürger sind, und mitgedacht ist da immer, daß jeder das politische Regime hat, das er verdient. Zudem versteht man nicht, wie es möglich ist, daß die SED - Kandidaten jedesmal mit 99-prozentiger Mehrheit gewählt werden, wo doch angeblich alles unter ihrem Joch stöhnt. Wir wissen, Wünselmann, wie das möglich ist, aber erklär das mal einem gestandenen Wohlstandsmenschen. [S. 117f.] So weit die Herren Wünselmann, Rolf Mainz und ihre (gar nicht so fiktiven) bundesdeutschen Gesprächspartner. Und so weit auch die bundesdeutschen Attitüden bis zur Wende. <73> In den nächsten 4 Punkten will ich versuchen, noch einige bundesdeutsche Attitüden der Wendezeit und Nach-Wendezeit zu umreißen. Da wäre also 9. Die Attitüde des Erstaunens oder: „Die sind ja gar nicht so! “ Mit fast ungläubigem Erstaunen nahmen die westdeutschen Medien zur Kenntnis, mit welchem kreativem Sprachwitz, welcher spontanen, frischen Sprache die demonstrierenden Bürger in Leipzig und anderen Städten der DDR im Herbst 89 daran gingen, sich von ihrem Regime selbst zu befreien. Jeden Abend, besonders jeden Montagabend flimmerten in bundesdeutschen Wohnzimmern die Demosprüche, die Forderungen der Bürgerbewegungen auf den Bildschirmen; die Reden am 4. November auf dem Alexanderplatz wurden viel zitierte deutsche politische Prosa, der, wie auch hart gesottene westdeutsche Medienprofis gestanden, nur wenige westdeutsche Politiker vergleichbar Gültiges an die Seite zu stellen hatten. Aber auch ganz normale Bürger redeten so unmittelbar und aufrüttelnd in Kameras und Mikrofone, als seien sie das seit Jahrzehnten gewohnt. Das Fernsehen der DDR wurde zeitweise lebendiger, sehenswerter als das westdeutsche. Resümee und Ausblick 536 Die bundesdeutsche Öffentlichkeit war verblüfft. Und gerade diese Verblüffung zeigt, wie stark sich das Bild schon verfestigt hatte, die DDR-Bürger seien doch irgendwie schon von ihrem System vereinnahmt, hätten sich ihm angepasst. Sie hatten nicht, jedenfalls nicht in dem im Westen vermuteten Sinne. Die große deutsch-deutsche Umarmung des Herbstes 89 und des Frühjahrs 90 galt auch dieser Erkenntnis: „Die sind ja gar nicht so ‘DDRtypisch’, die sind ja geradezu beispielhaft - ja eigentlich richtig demokratisch, vielleicht demokratischer, mit mehr Zivilcourage als wir? “ Für eine kurze Zeit, so scheint mir, gerieten die meisten der bisher geschilderten westdeutschen Attitüden außer Kraft, weil die Stereotype nicht mehr passten. Aber leider nur für etwa ein Jahr oder weniger. Der großen Umarmung folgte bald eine neue Attitüde, teilweise in Abwandlung früherer: 10. Die Attitüde der Ernüchterung und des Hochmuts oder: „Die müssen noch viel lernen“ Der Zusammenprall unterschiedlicher Alltage nach der Maueröffnung, die Übertragung des westdeutschen Systems auf Ostdeutschland nach der Vereinigung führte auf beiden Seiten zu Enttäuschung und Ernüchterung. Hinzu kam auf <74> westdeutscher Seite die Erkenntnis, dass die Kosten der Vereinigung unvergleichlich viel höher sein würden als zunächst versprochen; viel mehr Schwierigkeiten und Widerstände als angenommen mussten überwunden werden. Als Urheber dieser Widerstände erschienen nicht nur die für die Wirtschaftsmisere verantwortlichen „alten Kader“ der SED oder der Zusammenbruch der früheren Ost-Märkte der DDR oder der aus politischen Gründen hoch angesetzte Wechselkurs der Währungen, sondern die Menschen in Ostdeutschland generell: Sie seien, so hieß es oft, effektives Arbeiten nicht gewohnt, seien überhaupt „anders“, gerade im kommunikativen Verhalten. Erst jetzt entdeckten manche Kommentatoren, dass es in der DDR auch einen Alltagswortschatz gegeben hat, der sich vom westlichen unterschied. Kommentiert wurde weniger, wie viel tausend „West-Wörter“ nach der Wende in Ostdeutschland übernommen wurden, kommentiert - und gelegentlich als „Ostalgie“ ironisiert - wurde, dass manche Ostdeutsche an ihren hergebrachten Wörtern und Ausdrucksweisen festhielten. Erstaunlich war dabei nicht, dass West- und Ostdeutsche einander als „anders“ entdeckten, sondern dass man, trotz 40-jähriger Trennung, Gleich-Sein offenbar erwartet hatte. Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 537 Viele Westdeutsche entdeckten in sich missionarischen Eifer und verfielen (nicht immer, aber leider immer öfter) in Arroganz, wenn es darum ging, „den Ostdeutschen“ nun zu zeigen „wo es lang geht“: „Die müssen noch viel lernen! “. Westdeutsche erzählten sich Witze über Ossis, Ostdeutsche schlugen mit nicht minder bösen Witzen zurück [vgl. Derwuschok / Dölle: „Der BesserWessi“]. Umfragen schienen die weit differierenden Selbst- und Fremdbilder zu bestätigen. „JammerOssi“ und „BesserWessi“ wurden zu unhinterfragten Etiketten, wenngleich nicht für alle: Für Wolfgang Thierse, der für sich in Anspruch nimmt, einer der Miterfinder der Bezeichnungen „Ossi/ Wessi“ zu sein, ist dies „eine liebenswürdig-ironische Art, unsere Unterschiede zur Kenntnis zu nehmen, sie nicht verheimlichen zu wollen“ [Reiher / Läzer (Hgg.) 1996, Covertext]. 11. Die Attitüde des Gekränktseins oder: „Wir tun unser Bestes - und die lehnen uns ab! “ Die Wahlerfolge der PDS, aber auch Umfrageergebnisse vermittelten der westdeutschen Öffentlichkeit den Eindruck, viele DDR-Bürger lehnten die Wessis ab. Es gab Berichte von „Wossis“, also Westbürgern, die im Osten arbeiten und leben, über schweigende Ablehnung, Diskriminierungen, über Erfahrungen, wie Aussätzige behandelt zu werden. Einen noch sehr mildselbstironisch formulierten Bericht eines jungen Paares fand ich im sozialdemokratischen „Vorwärts“ [Kumpfmüller 1997]: <75> Das war im Herbst 1995, dass wir in den [Ost-]Berliner Bezirk Friedrichshain zogen, schließlich ist meine halbe Familie aus dem Osten, also bin ich ja wie geschaffen für ein Leben dort, und dass es eine interessante und aufregende Zeit wird, das hoffte ich. [...] Dann machten wir unsere ersten Erfahrungen, das heißt, wir waren irritiert, daß die Leute im Haus uns nicht grüßten bis auf eine Ausnahme (das waren Studenten), und daß die Verkäuferinnen in den Geschäften den Gruß nicht erwiderten ... dafür wechselte unsere Nachbarin sogar die Straße, daß sie uns nicht grüßen mußte [...]. Wir wunderten uns [...], daß unser Name auf dem Briefkasten und auf dem Klingelknopf immer wieder durchgestrichen wird; von der Nachbarin, die nicht einmal ein Wort herausbringt, wenn man mit einem Neugeborenen vor ihr steht, ganz zu schweigen. In solchen Momenten waren wir ziemlich wütend, ehrlich gesagt [...]. Ja, sagte eines Tages ein kluger Kopf, ... hier bekommt ihr in zwanzig Jahren keinen Fuß auf den Boden, denn ihr seid zu freundlich alles in allem [...]. Resümee und Ausblick 538 Also wegziehen, zurück in den Westen, nach nicht einmal zwei Jahren. [...] Wie schade [sagte das Studentenpärchen, das uns grüßte], aber daß es nun leider eine Tatsache ist: zu Leuten aus dem Westen ist man hier im Osten im Zweifelsfall eben noch ein bißchen unfreundlicher als zu Leuten aus dem Ausland. [Kommentar einer „Alt-Linken“ nach der Rückkehr in den Westen: ] „Wer als Angehöriger einer Besatzungsarmee im besetzten Land lebt, darf sich nicht wundern, daß er auch als Besatzer behandelt wird“. Das ist die Lage, und man muß kein Sozialdemokrat sein, um sie bedenklich zu finden, einmal ganz vorsichtig formuliert. Es ist offenbar das „Geschnitten-Werden“, die Kommunikationsverweigerung, die als besonders verletzend erlebt wird und sogleich als typisch zugeordnet wird. Solche und schlimmere Berichte gibt es viele. Friedrich Schorlemmer sagte soeben [am 3. Juni 2000 in Wittenberg. MWH] in seinem Vortrag, gerade diejenigen Wessis, die sich im Osten wirklich engagierten, würden „geprügelt“ für das Verhalten der unerfreulichen West-Typen - oder auch nur aus Rache für die allgemeine Misere. Neben solchen Berichten enttäuschter oder gekränkter Wessis gibt es womöglich noch mehr Berichte von Ostdeutschen, die sich von Westdeutschen arrogant behandelt fühlen, oder übers Ohr gehauen, oder denen sie die Erhöhung der Mieten oder den Verlust des Arbeitsplatzes anlasten. Das Schlimme ist, dass es das alles gibt, aber auch das Gegenteil, aber über das Gegenteil wird weit weniger berichtet. In Erinnerung bleiben auf beiden Seiten vor allem die (seltenen) erfahrenen Kränkungen, weniger die vielfach erfahrene Normalität der Beziehungen. So schaukelt sich das Negativ-Bild auf beiden Seiten ständig auf. Im Westen verfestigt sich eine Haltung, die sich etwa so umschreiben lässt: „Wir zahlen und zahlen jährlich 160 Milliarden Nettotransfer, man sieht es sogar überall; aber trotzdem kommt der Osten nicht voran und ist ständig unzufrieden. Manche von uns engagieren sich im Osten persönlich, aber wir werden dafür beschimpft und wie Besatzer behandelt. Das ist kränkend. Die Ostdeut- <76> schen sind undankbar, ressentimentbeladen und versteckt aggressiv, dazu westfeindlich, fremdenfeindlich, ja vielleicht doch demokratieunfähig, weil diskursunfähig? “ Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik 539 Noch ist diese Attitüde im Westen politisch nicht mehrheitsfähig. Zum Glück berichten die seriösen Medien, mit Ausnahme vielleicht des SPIEGEL, überwiegend positiv über den Aufbau im Osten. Zum Glück handeln die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern zur Zeit im Wesentlichen verantwortlich. Unterhalb der Ebene der politisch Verantwortlichen macht sich jedoch - nach meiner Einschätzung - eine Stimmung breit, die aus Gekränktsein und Frustration in die derzeit letzte Attitüde wechselt: 12. Die Attitüde der Abwendung oder: „Lasst uns zur Tagesordnung übergehen! “ Das könnte bedeuten: Erneute Auskopplung der ostdeutschen Länder aus dem westdeutschen Bewusstsein, jetzt aber nicht mehr im Sinne des „wohlwollenden Desinteresses“, wie Rolf Mainz es beschrieb, sondern als grollendes, gekränktes Desinteresse, etwa in dem Sinne: „Wir können es euch ja doch nicht recht machen, egal, was wir tun, also macht was ihr wollt, aber macht es allein. Jeder ist seines eigenen Unglücks Schmied. Wenn ihr mit uns nicht reden wollt - oder so, dass wir euch nicht verstehen -, dann lasst es eben. Fast alle eure Probleme gibt es bei uns und anderswo im Prinzip auch, nur vielleicht quantitativ weniger heftig. Also lasst uns zur Tagesordnung übergehen“. Um nicht missverstanden zu werden: Weder diese letzte noch irgendeine der früheren Haltungen ist die meine. Aber ich entdecke auch in mir selbst Elemente jeder dieser 12 Attitüden. Ich habe versucht, das jeweils Produktive neben dem jeweils Destruktiven zu sehen, das beides in jeder dieser Attitüden steckt. Freude über die erreichten Annäherungen halten sich bei mir in etwa die Waage mit der Sorge um weitere Verletzungen und ihren Folgen für die Kommunikation. Denn so viel scheint mir klar: Es sind vor allem Probleme des Selbst- und Fremdbildes, Probleme der mangelnden mentalen Offenheit, Probleme des Verstehen-Wollens als Voraussetzung für gelingende Kommunikation, die uns plagen. Wie immer ist dies zugleich Chance und Gefahr. Jetzt wissen wir zwar immer noch nicht, wie Sie als DDR-Bürger vor (und nach) der Wende denn nun wirklich gesprochen haben - vielleicht wissen Sie es? - aber wir wissen wenigstens, wie man im Westen über Sie als DDR- Bürger gesprochen hätte. Nicht immer und nicht überall. Und zum Glück immer seltener. Resümee und Ausblick 540 Literatur Ahrends, Martin (1986): Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon. Das Wörterbuch der DDR -Sprache. Heyne-Taschenbuch Nr. 6754, München. Neuauflage 1989 unter dem Titel: Allseitig gefestigt. Stichwörter zum Sprachgebrauch der DDR . dtv-Taschenbuch Nr. 11126, München. Aueler Protokoll, Das: siehe Moser, Hugo (Hg.) 1964. Bartholmes, Herbert (1956/ 61): Tausend Worte Sowjetdeutsch. Beitrag zu einer sprachlichen Analyse der Wörter und Ausdrücke der Funktionärssprache in der sowjetischen Besatzungszone. Tentamensarbeit für das Fach Deutsch an der Universität Göteborg 1956; hekt. Nachdruck Göteborg 1961. 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Ich möchte mich auf zwei ein wenig zugespitzte Thesen beschränken. 1 Hier meine erste These: Ich halte die sprachliche Vereinigung zwischen Ost und West für im Wesentlichen abgeschlossen. Es gibt kaum noch Lexeme in den Medien in Ost und West, die dem Leser deswegen unbekannt oder fremd erscheinen, weil sie aus dem jeweils anderen Landesteil stammen. Die Spezifika der jeweils anderen Seite sind als solche bekannt. Kommunikation zwischen Ost- und West-Bürgern muss heute nicht mehr an unbekannten Wörtern oder Wörtern in unbekannter Bedeutung scheitern. Auch nicht mehr an unvertrauten Stilnormen oder ungewohnten Textmustern. Unterschiede gibt es vereinzelt noch, aber sie können richtig decodiert werden, wenn die Kommunikanten dies wollen - freilich will dies nicht jeder und nicht immer. Im Übrigen werden - so vermute nicht nur ich - Spezifika jeweils einer Kommunikationsgemeinschaft gelegentlich bewusst eingesetzt: zur Vergewisserung der Gruppenzugehörigkeit, zur Erzeugung nostalgischer Stilfärbung, zur Abgrenzung von den Angehörigen der jeweils anderen Kommunikationsgemeinschaft oder aber - so die Journalistin Ute Albersmann 2 - zur Distanzierung von der Vergangenheit. Missverstehen, Kommunikationsabbrüche zwischen Ost- und Westdeutschen haben also ihre Ursache woanders: in unterschiedlichen Mentalitäten, Einstellungen, Erfahrungshorizonten, kommunikativen Regeln 3 , in gegenseitigen Vorbehalten, unterschiedlichen Fremd- und Selbstbildern, Schuldzuweisungen u.Ä.; sie sind also eher <18> Gegenstand der Sozialpsychologie als [* Zuerst als Referat auf dem von Ruth Reiher organisierten Symposium an der Humboldt- Universität zu Berlin 2003: „Rechenschaftsbericht oder Verpflichtungserklärung? “.] Resümee und Ausblick 546 der Linguistik. Versuche, durch Analyse von Pressetexten, Interviews, Gesprächsmitschnitten oder Medienveranstaltungen 4 sprachliche Unterschiede festzumachen, waren nicht sehr erfolgreich: Es gibt keine „Sprachmauer“ mehr, 5 und auch der Ausdruck „Mauer im Kopf“ erscheint einigen schon als unpassend, insofern er gelegentlich dazu missbraucht wird, ärgerliche Kleinigkeiten oder schlicht den eigenen kommunikativen Unwillen zu nationalen Mentalitätsunterschieden aufzubauschen. 6 Dass der sprachliche Ausgleich heute im Wesentlichen geschafft ist, ist vor allem eine Leistung der Ostdeutschen: Sie vor allem hatten die Last der Anpassung zu tragen, auch die der sprachlich-kommunikativen. Sie haben diese Leistung mit einer Bravour erbracht, die den Westdeutschen Respekt abnötigen sollte. Einigen wir uns vielleicht darauf: Es gibt unterschiedliche Lebenserfahrungen in Ost und West, es gibt unterschiedliche Sozialisationen. Und dazu gehört selbstverständlich und nicht zuletzt der jeweils vertraute Sprachgebrauch. DDR-Texte werden zwangsläufig von Ostbürgern anders gelesen und verstanden als von Westbürgern - und umgekehrt. Der Gebrauch von DDR-spezifischen oder DDR-typischen Wörtern heute hat gegenüber Ostbürgern eine andere kommunikative Funktion und Wirkung als gegenüber Westbürgern. Aber auch hier gleich die Einschränkung: Das wird mehr und mehr ein Generationenproblem. Junge Leute von heute aus Ost und West reagieren auf ostbzw. westtypische Wörter und Wendungen aus der Zeit vor 1989 ganz ähnlich, unabhängig von ihrer Herkunft, ältere Leute aus Ost und West aber unterschiedlich, abhängig von ihrer Herkunft. Das Thema, das uns so lange und so intensiv beschäftigt hat - Sprache und Kommunikation in (oder zwischen) Ost und West - hat also, so meine ich, heute nur noch eine sehr geringe aktuelle kommunikative Relevanz, es reduziert sich zudem zu einem Generationenproblem. Und was die gegenseitigen Vorbehalte und Vorurteile betrifft, halte ich es mit der New Yorker Psychoanalytikerin Charlotte Kahn: Sie meinte, die Deutschen könnten ihre wechselseitigen Verkrampfungen auf zweierlei Weise lösen: 1. man lege sie gruppenweise <19> auf die psychoanalytische Couch, oder 2. die Deutschen einigten sich auf „supraordinate Ziele“. Dann sei das Problem gelöst. 7 Thema erledigt - oder doch noch nicht? 547 Meine zweite These: Unser Thema ist also kein aktuelles mehr, sondern ein historisches. Heißt das, wir könnten oder sollten allmählich davon „die Finger lassen“ (wie Horst Dieter Schlosser 8 kürzlich rhetorisch fragte)? Beileibe nicht! Im Gegenteil. Wir können nämlich - und wir sollten - jetzt damit beginnen, unser Thema als ein historisches ernst zu nehmen. Mit „ernst nehmen“ meine ich: Die DDR-Geschichte sollte von uns allen angenommen werden als Teil unserer gemeinsamen deutsch-deutschen Geschichte und DDR-Sprachgeschichte als Teil der gemeinsamen Sprachgeschichte - also auch der Sprachgeschichtsschreibung. Das gilt selbstverständlich vice versa auch für die westdeutsche Sprachgeschichte. Peter von Polenz hat in Band 3 seiner bewundernswerten Deutschen Sprachgeschichte 9 bewiesen, dass dies möglich ist. Ich akzeptiere also nicht die vornehmlich westdeutsche Haltung, die sagt: „Was geht uns das eigentlich an“. Und ich akzeptiere ebenso wenig die vornehmlich ostdeutsche Haltung, die gelegentlich sagt: „Was geht dich, den Wessi, eigentlich unsere ostdeutsche Geschichte, unser Sprachgebrauch an.“ 10 Beide Haltungen enthalten Zurückweisungen, Ausgrenzungen, die uns den Weg zu einander erschweren - abgesehen davon, dass sie Forschungshindernisse errichten. Was heißt das konkret? Das heißt hier: Linguistische Forschungsvorhaben, die sich auf den Sprachgebrauch eines der beiden deutschen Staaten bis 1989 richten, sollten 1) ost-west-kooperativ organisiert sein; 2) überprüfbar korpusgestützt sein; 3) historisch orientiert sein; 4) quantitativ abgesichert sein; 5) den gesellschaftlich-politischen Kontext der jeweiligen Phase/ Periode berücksichtigen; <20> 6) mehr nach Sprachregistern differenzieren; 7) mehr als bisher ost-west-vergleichend sein. Resümee und Ausblick 548 Hierzu einige Kommentare: Zu 1. (ost-west-kooperativ): Es geschieht leider bis heute immer wieder, dass bestimmte sprachliche Erscheinungen der DDR als DDR-spezifisch, DDRtypisch, DDR-geprägt bezeichnet werden, die es nicht sind. Umgekehrt werden bis heute sprachliche Erscheinungen für gemeindeutsch gehalten, die westspezifisch sind. Solche und ähnliche Fehler ließen sich vermeiden, wenn ost- und westdeutsche Kompetenz sich gegenseitig kontrollierten und ergänzten. Das gilt besonders für lexikologisch-lexikografische Vorhaben. Zu 2. (korpusgestützt): Die Situation ist unterschiedlich a) für schriftlichen öffentlichen Sprachgebrauch, b) für schriftlichen alltagssprachlichen und c) für mündlichen Sprachgebrauch. Zu a): Es gibt zu wenig computerverfügbare Korpora mit Texten aus der DDR. Im Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS), der dafür wohl am ehesten zuständigen Institution, gibt es im so genannten „Bonner Zeitungskorpus“ DDR-Zeitungstexte („Neues Deutschland“) in kleiner, aber repräsentativer Zufalls-Auswahl aus sechs Jahrgängen von 1949 bis 1974. Dann folgt eine große Lücke bis zum so genannten „Wende-Korpus“ 1989/ 90: Dieses enthält eine thematisch gebündelte Auswahl aus sehr unterschiedlichen Textsorten. 11 Zunächst sollte die zeitliche Lücke von 15 Jahren geschlossen werden, z.B. durch Bereitstellung des (im IDS schon vorbereiteten) Jahrgangs 1979. Insgesamt sollte aber die Textauswahl diversifiziert und verdichtet werden. Zu b): Es sollten weit mehr alltagssprachliche Texte gespeichert und computerverfügbar gemacht werden (ggf. auch auf DVD), wie sie Ruth Reiher in ihrem Dokumentationsband 12 gesammelt hat. Zudem fehlt ein Pendant mit alltagssprachlichen westdeutschen Texten. Zu alltagssprachlichen Textsorten oder besser -gattungen zähle ich auch die Brigadetagebücher, die aus meiner Sicht eine geradezu ideale Grundlage nicht nur für linguistische, sondern für kulturanalytische Untersuchungen zur DDR darstellen. <21> Zu c): Schließlich sollten auch Videomitschnitte aus dem DDR-Fernsehen vor und während der Wende professionell gesammelt, aufbereitet und für gesprächslinguistische Untersuchungen bereitgestellt werden. Ansätze dazu gibt es im IDS. 13 Thema erledigt - oder doch noch nicht? 549 Wichtig wäre eine breite Unterstützung dieser drei (ja nicht gerade billigen) Forderungen und natürlich das aktive Interesse der Institution selbst, welcher auch immer. Was rückblickende Aufarbeitung mündlichen Sprachgebrauchs betrifft, stoßen wir wohl inzwischen an die Grenzen des Erinnerungsvermögens. Befragungen nach früherem Sprachgebrauch, Gedächtnisprotokolle, Sprachbiografien 14 werden, fürchte ich, zwangsläufig allmählich ungenau. Auf eine Frage wie: „Haben Sie früher so gesprochen ...? “ (folgt Beispiel) kann man vielleicht noch eine halbwegs richtige Antwort erwarten; auf eine Frage wie „W i e haben Sie früher in dieser Situation gesprochen? “ wohl kaum noch. Leider verpasst haben wir systematische Befragungen von DDR-Übersiedlern nach ihren sprachlich-kommunikativen Erfahrungen im Westen - und umgekehrt Befragungen von Westlern nach ihren Erfahrungen in ostdeutscher Umgebung. Diese Lücken lassen sich wohl nicht mehr schließen. Zu 3. (historisch orientiert): Wir sollten sorgfältiger als bisher auf die jeweilige zeitliche Begrenztheit unserer Aussagen achten. Wir brauchen eine linguistisch brauchbare Periodisierung der deutsch-deutschen Sprachgeschichte. Es gibt erhebliche Unterschiede im Vokabular (nur dies als Beispiele) zwischen der frühen (stalinistischen) und der späteren Ulbricht-Zeit, zwischen der Honecker-Ära der Abgrenzung und der Glasnost- und Perestroika- Zeit. Ähnliches gilt für die BRD. Bei der Untersuchung politischer Schlagwörter versteht sich die Berücksichtigung des zeithistorischen Horizontes eigentlich von selbst; eine zeitliche Zuordnung sollte aber generell, z.B. auch bei der Buchung und Erläuterung alltagssprachlicher Wörter in Wörterbüchern, strikt berücksichtigt werden. Zu 4. (quantitativ abgesichert): Es geht nicht an, dass in Wörterbüchern, aber auch in monografischen Arbeiten unmarkiert Seltenes neben Häufigstem steht. Auch Bedeutungsangaben lassen sich <22> übrigens quantifizieren. 15 Voraussetzung für Quantifizierung ist allerdings de facto Computerverfügbarkeit. Zu 5. (gesellschaftlich-politischer pragmatischer Kontext): Hiermit meine ich nicht nur den jeweils zeithistorischen Kontext, sondern auch den Zusammenhang von Sprechergruppe, Adressaten, Intention sowie Art und Thema Resümee und Ausblick 550 des Diskurses. Wer spricht was zu wem mit welcher Intention im Rahmen welchen Diskurses und in welchem zeithistorischen Zusammenhang - so könnte man etwa den gewünschten Erkenntnisweg pragmatisch skizzieren. Zu 6. (sprachregister-differenzierend): Es stört mich, dass Texte oder sprachliche Erscheinungen in Texten oft nicht markiert werden nach dem Grad ihrer Offizialität und damit Kontrolliertheit. Noch immer gibt es keine halbwegs akzeptierte Gliederung nach Sprachregistern. Wir finden Angaben wie „offiziell“, „halb-offiziell“, aber auch „öffentlich/ halb-öffentlich“, daneben „alltagssprachlich“, „umgangssprachlich“, „betrieblich“, „im Umgang mit Ämtern und Behörden“, „privat/ halbprivat“, „nur im engen Freundeskreis“, „ironisch/ subversiv“, „oppositionell“ und andere mehr. 16 Dabei hängt, meine ich, die Präzision von Aussagen über die Geltung sprachlicher Phänomene wesentlich von der Präzision solcher Kategorisierungen ab. Hinzu kommt, dass sich die Sprachregister und ihre Abgrenzung untereinander sowie zwischen Ost und West wohl erheblich unterscheiden. Unbestritten ist nur, dass öffentliches und nicht-öffentliches Sprachregister in der DDR wesentlich schärfer von einander abgegrenzt waren als in der BRD. Zu 7. (mehr ost-west-vergleichend): Natürlich kann man dies nicht immer und überall fordern. Wahlkampftexte der BRD lassen sich nicht wirklich mit Wahlpropaganda der DDR vergleichen. Brigadetagebücher sind ebenfalls mit nichts im Westen vergleichbar. Neujahrsansprachen, Friedenspropaganda, Texte der Kirchen und kirchlichen Gruppen, Texte zu den großen Staatsjubiläen der beiden deutschen Staaten aber wären es - um nur einige Beispiele zu nennen. Übrigens differieren auch die Sachgebietsgliederungen des Wortschatzes in Ost und West teilweise erheblich, wenn man ost- und westdeutsche Arbeiten dazu miteinander vergleicht. 17 Differierte nun <23> die Sachwelt in Ost und West so erheblich oder die linguistische Wahrnehmung? Es gibt eine Reihe von Untersuchungen und Nachschlagewerken, wo sorgfältiger Ost-West-Vergleich bessere Ergebnisse gebracht hätte. Das aber setzt Kooperation voraus - siehe Punkt 1. Burkhard Schaeder hat vor einigen Jahren auf einem Symposium in Leipzig einen Vorschlag für ein umfassendes Wörterbuch zum DDR-Sprachgebrauch 18 vorgelegt, der Einiges von dem berücksichtigt, was ich hier an methodischen Desiderata genannt habe. Sein Vorschlag mag verwundern, weil es gerade Wörterbücher zum DDR-Sprachgebrauch bis zur Wende genügend zu geben scheint. 19 Keines davon erfüllt allerdings die von Schaeder oder die Thema erledigt - oder doch noch nicht? 551 von mir oben genannten Kriterien. Schaeders Vorschlag ist nicht realisiert worden; weniger wohl deshalb, weil er noch ergänzungs- und präzisierungsbedürftig war, sondern vermutlich aus Mangel an aktivem Interesse sowohl im Osten als auch im Westen. Man erkennt nicht den nationalen kulturhistorischen Rang eines solchen ost-west-kooperativen Vorhabens. 20 Lassen Sie mich das Folgende bitte als Appell an uns selbst formulieren: Lassen wir nicht zu, dass die Geschichte der DDR, auch ihre Sprachgeschichte, marginalisiert wird, als habe sie - wenn überhaupt - irgendwo im Ausland stattgefunden. Auch die Sprachgeschichte der DDR ist zu dokumentieren, zu kodifizieren, zu beschreiben und zu erinnern als Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. Anmerkungen und Literatur: 1 Vgl. Hellmann, M.W. (2003): Forschung zu Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West - Was bleibt noch zu tun? Ein Überblick. In: Wengeler, M. (Hg.): Deutsche Sprachgeschichte nach 1945. Diskurs- und kulturgeschichtliche Perspektiven. Beiträge zu einer Tagung anlässlich der Emeritierung Georg Stötzels, Hildesheim - Zürich - New York, S. 364-392. <24> 2 Albersmann, U. (2001): Mit Broiler gegen Wessi-Hochmut. In: Kühn, I. (Hg.): Ost-West- Sprachgebrauch - zehn Jahre nach der Wende. Eine Disputation. Opladen, S. 85-94: „Die Worte, die Ost- und West-Journalisten heute benutzen, sind die gleichen“ (86); sie sieht „vielleicht noch ein gutes Dutzend ‘Ost-Wörter’ ...“ (88), ansonsten seien die Ost-Journalisten sprachlich längst voll im Westen angekommen. 3 In populärer Form hierzu Klein, O.G. (2001): Ihr könnt uns einfach nicht verstehen! Warum Ost- und Westdeutsche aneinander vorbeireden. Frankfurt/ M. 4 Skeptisch auch H.D. Schlosser aufgrund der Untersuchung der „Wochenpost“ und einiger Talkshows. Vgl. seinen Beitrag „Deutsche Teilung, deutsche Einheit und die Sprache der Deutschen“ (2001) in Kühn, I. (Hg.): Ost-West-Sprachgebrauch - zehn Jahre nach der Wende ..., S. 67-75, hier S. 70. 5 Dittmar, N. / Bredel, U. (1999): Die Sprachmauer. Die Verarbeitung der Wende und ihrer Folgen in Gesprächen mit Ost- und WestberlinerInnen. Berlin. Der Titel ist in der Tat irreführend. Die Autoren belegen eine Reihe interessanter Beobachtungen zu Sprachgebrauch, Einstellungen und (indirekt) Mentalitäten von Ost- und WestberlinerInnen - die Existenz einer Sprachmauer belegen sie nicht, im Gegenteil. 6 So Kühn, I. (2001): Stigmatisierung durch kleine sprachliche Differenzen. In: Kühn, I. (Hg.): Ost-West-Sprachgebrauch ..., S. 121. 7 Kahn, C. (2000): Ja wir sind das Volk. Aber sind wir auch ein Volk? Drei Generationen erzählen. Unveröffentlichter Vortrag auf dem 26. Symposium zur DDR -Forschung in Conway/ New Hampshire ( USA ) im Juni 2000. Eine Zusammenfassung der Vorträge jener Resümee und Ausblick 552 Tagung bei Rink, D. und Hellmann, M.W.: Eine Legende geht zu Ende. Sechsundzwanzig Jahre Conway-Symposien zur DDR -Forschung. In: Deutschland Archiv 33. Jg., H. 5, S. 807-813, hier S. 811. 8 Schlosser, H.D.: a.a.O. (Anm. 3), S. 69. 9 Polenz, P. von (1999): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band III : 19. und 20. Jahrhundert. de Gruyter Studienbuch. Berlin - New York. 10 So z.B. Creutziger, W. (1997): Heutiges Deutsch und neuer Separatismus. In: Schmirber, G. (Hg.): Sprache im Gespräch. Zu Normen, Gebrauch und Wandel der deutschen Sprache. Hanns-Seidel-Stiftung: München, S. 88-93. Creutziger wirft den westdeutschen Sprachwissenschaftlern [auch mir ( MWH )] vor, die Ostdeutschen als „Exoten“ zu betrachten: „und ostdeutsche sprachliche Besonderheiten als studierenswerte Zeugnisse aus Vor- und Frühzeiten der Demokratie“ (89); es sei <25> „achtenswert, macht es aber kaum besser, wenn das freundlich und mit höchstens unbewußter Anmaßung geschieht“ (92). 11 Vgl. die Homepage des IDS : www.ids-mannheim.de unter dem Stichwort „Textkorpora des IDS “. Sowohl das „Bonner Zeitungskorpus“ als auch das „Wende-Korpus“ waren Grundlage korpusgestützter Wörterbücher: Zu Ersterem siehe Anm. 15, zu Letzterem siehe Hellmann, M.W. unter Mitwirkung von P. Nikitopoulos und C. Melk: Wende-Wörterbuch. Stichwörter zu Themen und Diskursen der Wendezeit. Erscheint voraussichtlich 2004 als CD-ROM mit Begleitheft in der Reihe „amades“ des IDS . [Mittlerweile erschienen als Hellmann, Manfred W., unt. Mitw. von Pantelis Nikitopoulos und Christoph Melk (2006): Wörter in Texten der Wendezeit. Ein Wörterbuch zum ‘Wendekorpus’ des IDS - Mai 1989 bis Ende 1990. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 04). CD-ROM mit Begleitband. Mannheim.] 12 Reiher, R. (1995): Mit sozialistischen und anderen Grüßen. Porträt einer untergegangenen Republik in Alltagstexten. Berlin. Der Band ist leider vergriffen. Er sollte möglichst schnell wieder aufgelegt werden, am besten mit CD-ROM . 13 Vgl. Schütte, W. (1990): „Live aus Leipzig“. Talkshows und die DDR -Revolution. In: Sprachreport ( IDS ) 1, S. 1-3. 14 Fix, U. / Barth, D., unter Mitarbeit von F. Beyer (2000): Sprachbiographien. Sprache und Sprachgebrauch vor und nach der Wende von 1989 im Erinnern und Erleben von Zeitzeugen aus der DDR . Inhalte und Analysen narrativ-diskursiver Interviews. (= Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte Bd. 7). Frankfurt - Berlin - Bern usw. Dass diese umfassende Dokumentation und Analyse vorliegt, ist ein großer Gewinn, gerade weil Erinnern immer schwieriger wird. 15 Vgl. Hellmann, M.W. (1992): Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpus-Wörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten. DIE WELT und NEUES DEUTSCHLAND 1949-1974. Bd. 1-3 (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache Bd. 69.1-69.3). Tübingen. Bei den Stichwörtern mit mehreren Bedeutungen wurden u.a. auch die Häufigkeitsbelegungen der verschiedenen Bedeutungen in Tabellen nachgewiesen. 16 Eine Dreigliederung bei Fraas, C. / Steyer, K. (1992): Sprache der Wende - Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Deutsche Sprache 20, H. 2, S. 172-184; hier S. 175. Ein Vorschlag für eine Viergliederung bei Hellmann, M.W. (1998): „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ - Thema erledigt - oder doch noch nicht? 553 Zu Sprache und Kommunikation in Deutschland seit der Wende 1989/ 90. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch 1998, hrsg. von I. Bäcker. Deutscher Akademischer Austauschdienst: Bonn, S. 51-68, dort S. 56-59 [= Beitrag Nr. 17 in diesem Band]. 17 Schröder, M. / Fix, U. (1997): Allgemeinwortschatz der DDR -Bürger - nach Sachgruppen geordnet und linguistisch kommentiert. (= Sprache - Literatur und Geschichte Bd. 14). Heidelberg. Vgl. dazu die Rezension von Hellmann, M.W.: Allgemeinwortschatz der DDR -Bürger. In: Sprachreport ( IDS ), H. 2/ 1998, S. 14-16. <26> 18 Schaeder, B. (1997): Die deutsche Vereinigung im Spiegel der Wörterbücher. In: Barz, I. / Fix, U. (Hg.): Deutsch-deutsche Kommunikationserfahrungen im arbeitsweltlichen Alltag. Heidelberg, S. 45-73; hier S. 69-71. 19 Eine Übersicht über die vorliegenden Wörterbücher und Glossare bei Hellmann. M.W. (2000): Divergenz und Konvergenz: Sprachlich-kommunikative Folgen der staatlichen Trennung und Vereinigung Deutschlands. In: Eichhoff-Cyrus, K. / Hoberg, R. (Hg.): Die deutsche Sprache zur Jahrtausendwende - Sprachkultur oder Sprachverfall? Bibliographisches Institut Mannheim / Gesellschaft für deutsche Sprache Wiesbaden, S. 247-275; hier S. 271 [= Beitrag Nr. 19 in diesem Band]. Den dort genannten elf Titeln sind noch folgende anzufügen: Wolf, B. (2000): Sprache in der DDR . Ein Wörterbuch. Berlin - New York; Herberg, D. / Steffens, D. / Tellenbach, E. (1997): Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache Bd. 6). Berlin - New York; Hellmann, M.W.: Wende-Wörterbuch ... (vgl. Anm. 11). 20 Schaeder beabsichtigt, seinen Vorschlag erneut vorzulegen, aber als Internet-Projekt, an dem Experten aus Ost und West mitarbeiten sollen. Ich danke B. Schaeder für die mündliche Information. Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen von Manfred W. Hellmann Stand: Oktober 2007 (Die in diesem Band wiedergegebenen Aufsätze sind mit gekennzeichnet.) 1. Monografien und Aufsätze (1967) Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft: Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politische Elemente in mittelhochdeutschen Epen. Annolied, Kaiserchronik, Rolandslied, Herzog Ernst, Wolframs ‘Willehalm’. Univ. Diss. Bonn. (1968a) Zur Dokumentation und maschinellen Bearbeitung von Zeitungstexten in der Außenstelle Bonn. In: Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 2. Mannheim, S. 39-125. (1968b) [Rezension, zus. mit Arne Schubert: ] Duden aus Leipzig und Mannheim. In: deutsche studien 6, 23, S. 248-263. (1968c) Rezension der Zeitschrift ‘Beiträge zur Sprachkunde und Informationsverarbeitung’. In: Zeitschrift für deutsche. Philologie 88, 1, S. 138f. (1968/ 69) Gefahr für die sprachliche Einheit? Unsere Sprache zwischen Ost und West. In: Mitteldeutsche Vorträge 1968/ 69, S. 39-70. (1969a) Über Corpusgewinnung und Dokumentation im Institut für deutsche Sprache. In: Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 3, Mannheim, S. 25-54. (1969b) [Rezension: ] Sprache und Politik. Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Hans H. Reich. In: Muttersprache 79, 7/ 8, S. 193-200. (1970a) Schrittmacher. Untersuchungen zum Sinnbezirk des vorbildlichen Werktätigen in der Zeitungssprache der DDR . Teil 1 in: Muttersprache 80, 1/ 2, S. 1-15; Teil 2 in: Muttersprache 80, 3/ 4, S. 125-135. (1970b) [Rezension, zus. mit Arne Schubert: ] Zur Sprache der Anzeigenwerbung. Rezension zu Ruth Römer: Zur Sprache der Anzeigenwerbung, 1968. In: Muttersprache 80, 9/ 10, S. 338-343. Manfred W. Hellmann 556 (1972) Untersuchungen an östlichen und westlichen Zeitungstexten. Zu einigen Arbeiten der Außenstelle Bonn des Instituts für deutsche Sprache. In: Helmut Schanze (Hg.): Literatur- und Datenverarbeitung. Bericht über die Tagung im Rahmen der 100-Jahr-Feier der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Tübingen, S. 66-70. (1973a) Bericht über die Arbeit der Forschungsstelle Bonn des IDS . In: Hellmann (Hg.): Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR [...], S. 35-40. (1973b) Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme - Fragen bei der Erforschung der sprachlichen Situation in Ost und West. In: Hellmann (Hg.): Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR [...], S. 126-145. (1976) Möglichkeiten und Probleme bei vergleichenden Wortschatzuntersuchungen zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik und der DDR. In: Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Jahrbuch 1975 des Instituts für deutsche Sprache. (= Sprache der Gegenwart 39). Düsseldorf, S. 242-274. (1978a) Sprache zwischen Ost und West. Überlegungen zur Wortschatzdifferenzierung und ihren Folgen. In: Kühlwein, Wolfgang / Radden, Günter (Hg.): Sprache und Kultur - Studien zur Diglossie, Gastarbeiterproblematik und kulturellen Integration. (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 107). Tübingen, S. 15-54. (1978b) [Zus. mit Jürgen Scharfschwerdt: ] Allgemeine Probleme in der literatur- und sprachwissenschaftlichen DDR -Forschung. In: Gutachten: Zum Stand der DDR - und vergleichenden Deutschlandforschung. Erstattet vom Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung unter Vorsitz von Peter C. Ludz im März 1978. Fünfter Teil: Sprache und Kultur. München, S. 1034-1073. (1980a) [Handbuch-Artikel: ] „Deutsche Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik“. In: Althaus, Hans P. / Henne, Helmut / Wiegand, Herbert E. (Hg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik. 2. Aufl. Tübingen, S. 519-527. (1980b) Wie unterschiedlich ist die deutsche Sprache in Ost und West? Über die Arbeit der Bonner Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 7. Mannheim, S. 27-33. (1981) SED -Wörter und DDR -Wortschatz. Eine Entgegnung zu Peter M. Hilberts Rezension [des „Kleinen Wörterbuchs des DDR -Wortschatzes“ von Michael Kinne / Birgit Strube-Edelmann]. In: Muttersprache 92, 3-4, S. 261- 262. Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen 557 (1984a) Das Projekt „Ost-West-Wortschatzvergleiche“ - Neue Wege zur Untersuchung der sprachlichen Ost-West-Differenzen. In: Hellmann (Hg.): Ost-West-Wortschatzvergleiche [...], S. 11-73. (1984b) Die Projekte „Kleines Wörterbuch des DDR -spezifischen Wortschatzes“ und „Lunder Korpus“. In: Hellmann (Hg.): Ost-West-Wortschatzvergleiche [...], S. 436-459. (1984c) [Handbuch-Artikel: ] „Parteijargon“ und „Sprache“. In: DDR Handbuch. Hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. 3. rev. und erw. Aufl. (Leitung: Hartmut Zimmermann). 2 Bde. Köln, S. 967; 1261-1266. (1985a) Deutsche Sprache Ost und West. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 11. Mannheim, S. 63-68. (1985b) Bemerkungen zur Entwicklung und gegenwärtigen Lage des Arbeitsgebietes „Ost-West-Sprachdifferenzierung“. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 11. Mannheim, S. 76-92. (1985c) Das Bonner Zeitungskorpus Teil 1 - Informationen für den Benutzer. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 11. Mannheim, S. 93-157. (1986a) Aus dem „Schlußwort“. In: Debus, Friedhelm / Hellmann, Manfred W. / Schlosser, Horst Dieter (Hg.): Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR , S. 295f. (1986b) Einige Beobachtungen zu Häufigkeit, Stil und journalistischen Einstellungen in west- und ostdeutschen Zeitungstexten. In: Debus, Friedhelm / Hellmann, Manfred W. / Schlosser, Horst Dieter (Hg.): Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR , S. 169-199. (1986c) [Bearb.: ] Sprachliche Normen in der DDR und in der Bundesrepublik: Brücke oder Schranke der Verständigung? Öffentliche Podiumsdiskussion in der Universität Frankfurt a.M. am 22. 2. 1985. In: Debus, Friedhelm / Hellmann, Manfred W. / Schlosser, Horst Dieter (Hg.): Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR , S. 297-320. (1986d) Auf erfundene DDR -Wörter reingefallen. In: Sprachreport 4/ 1986, S. 7. (1987) Deutsch-Deutsche Schilder - Unvermutete Konvergenz. In: Sprachreport 2/ 1987, S. 14. (1988a) Deutsche Sprache - Singular oder Plural? . In: Sprachreport 3/ 1988, S. 5-6. (1988b) „Moderat“ = „ignorant“? Zu Ruth Römers Kritik an „den“ westdeutschen Ost-West-Experten. In: Muttersprache 98, S. 353ff. (1988c) Alltagskommunikation in der DDR - Ein Thema für Linguisten. In: Muttersprache 99, 1, S. 79-82. [Tagungsbericht] Manfred W. Hellmann 558 (1988d) Alltagskommunikation in der DDR . Ein Kolloquium in Frankfurt a.M. In: Sprachreport 4/ 1988, S. 11f. [Tagungsbericht] (1988e) Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? Acht Thesen zur öffentlichen Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Goppel, Thomas / Lojewski, Günter v. / Eroms, Hans-Werner (Hg.): Wirkung und Wandlung der Sprache in der Politik. Symposium an der Universität Passau in Zusammenarbeit mit dem Aktionskreis Wirtschaft Politik Wissenschaft e.V. München vom 25. und 26. November 1988. Passau, S. 89-115. (1989a) Das ‘sprachliche Ost-West-Problem’ und seine Bearbeitung im IDS . In: IDS (Hg.): Institut für deutsche Sprache 25 Jahre. Mannheim, S. 41-46. [1. Aufl. 1989, 2. Aufl. 1991] (1989b) „Binnendeutsch“ und „Hauptvariante Bundesrepublik“. Zu Peter von Polenz' Kritik an Hugo Moser. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 17, 1, S. 84-93. (1989c) Zwei Gesellschaften - Zwei Sprachkulturen? Acht Thesen zur öffentlichen Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Forum für interdisziplinäre Forschung 2, 2 (1989), S. 27-38. [Korr. Wiederabdruck von 1988e] (1989d) Die doppelte Wende - Zur Verbindung von Sprache, Sprachwissenschaft und zeitgebundener politischer Bewertung am Beispiel deutsch-deutscher Sprachdiffenzierung. In: Klein, Josef (Hg.): Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen, S.297-328. (1989e) Linguistics, politics, and the German language. Changes in the linguistic debate on the German-German language problem. In: Gerber, Margy / Cosentino, Christine / Gransow, Volker et al. (Hg.): Selected papers from the fourteenth New Hampshire symposium on the German Democratic Republic. (= Studies in GDR Culture and Society 9). London, S. 189-209. [Englische Fassung von 1989c.] (1990) DDR -Sprachgebrauch nach der Wende - eine erste Bestandsaufnahme. In: Muttersprache 100, 2-3, S. 266-286. (1991a) Die deutsche Sprache nach der Wende. Ein Symposium in Bad Homburg. In: Sprachreport 1/ 1991, S. 4. [Tagungsbericht] (1991b) Einigendes Band zerfasert? Über den Sprachgebrauch der Ost- und Westdeutschen. In: SPIEGEL -Spezial Nr. 1: „Das Profil der Deutschen“, S. 82- 85. (1991c) Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch. In: Pädagogische Hochschule Zwickau (Hg.): Materialien zur wissenschaftlichen Konferenz „Zum Sprachgebrauch unter dem Zeichen von Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen 559 Hammer, Zirkel und Ährenkranz“, Zwickau im September 1991, S. 73- 86. [Präsentation des Vortrags-Handouts] (1991d) „Ich suche eine Wohnung“. Zur vergleichenden Untersuchung alltagssprachlichen Handelns in den beiden deutschen Staaten. In: Schlosser, Horst-Dieter (Hg.): Kommunikationsbedingungen und Alltagssprache in der ehemaligen DDR - Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung Frankfurt/ M. 30.9.-1.10. 1988. (= Beiträge zur Sprachwissenschaft 5). Hamburg, S. 19-32. (1992a) Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpus-Wörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten. DIE WELT und Neues Deutschland 1949-1974. 3 Bde. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 69.1-69.3). Tübingen. (1992b) Babylon oder: Die Leipziger Volkszeitung in der Wende. In: Sprachreport 2/ 3, S. 12f. (1992c) [Zus. mit Antje Hellmann: ] „Gegründet 1884“. Interview mit dem Chefredakteur der ‘Leipziger Volkszeitung’, Dr. Wolfgang Tiedke. In: Sprachreport 2-3/ 1992, S. 14ff. (1993a) Die Leipziger Volkszeitung vom 27.10.1989 - eine Zeitung im Umbruch. In: Muttersprache 103, 3, S. 186-218. (= Themenheft „Sprache nach der Wende“). (1993b) Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt - Brücke oder Schranke der Verständigung? In: Germanistische Mitteilungen 38/ 1993, S. 3-35 [stark fehlerhafter Druck]. [In bulgarischer Übersetzung in: Jordanova, Ljubima / Mattheier, Klaus J. (Hg.) (1995): Gore ti tocki na sociolinguisticata - Germanija (Brennpunkte der Soziolinguistik - Deutschland). (= Sociolinguistics 2). Sofia, S. 206-238.] (1994a) „Rote Socken“ - ein alter Hut? In: Sprachdienst 5/ 1994, S. 170ff. (1994b) Die Reihe „Studienbibliographien Sprachwissenschaft“ - Hilfe für die Hochschulpraxis. In: Sprachreport 4/ 1994, S. 17f. (1994c) Ostdeutsch - Westdeutsch im Kontakt - Brücke oder Schranke der Verständigung? In: Terminologie et Traduction (Kommission der Europäischen Gemeinschaft - Übersetzungsdienst - Luxemburg) 1/ 1994, S. 105- 138. [Korr. Wiederabdruck von 1993b] (1995) Wörter der Wendezeit - Dokumentarisch-lexikographische Erschließung des Wendekorpus. In: Sprachreport 3/ 1995, S. 14ff. (1996a) Lexikographische Erschließung des Wendekorpus [Werkstattbericht]. In: Weber, Nico (Hg.): Semantik, Lexikographie und Computeranwendungen. (= Sprache und Information 33). Tübingen, S. 195-216. Manfred W. Hellmann 560 (1996b) Deutsch-deutsche Kommunikation im Urwald. Zum 22. New Hampshire Symposium, Conway N.H. ( USA ) im Juni 1996. In: Sprachreport 4/ 1996, S. 18f. [Tagungsbericht]. (1997a) Tendenzen der sprachlichen Entwicklung seit 1989 im Spiegel der Forschung. In: Der Deutschunterricht 1/ 1997, S. 17-32. (= Themenheft „Sprachwandel nach 1989“). (1997b) Das „kommunistische Kürzel BRD “ - Zur Geschichte des öffentlichen Umgangs mit den Bezeichnungen für die beiden deutschen Staaten. In: Barz, Irmhild / Schröder, Marianne (Hg.): Nominationsforschung im Deutschen. Festschrift für Wolfgang Fleischer zum 75. Geburtstag. Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern/ New York/ Wien, S. 93-107. (1997c) Wörter der Emotionalität und Moralität in Texten der Wendezeit - Sprachliche Revolution oder Kommunikationsbarriere? In: Barz, Irmhild / Fix, Ulla unt. Mitarb. von Marianne Schröder (Hg.): Deutsch-deutsche Kommunikationserfahrungen im arbeitsweltlichen Alltag. (= Sprache - Literatur und Geschichte. Studien zur Linguistik/ Germanistik 16). Heidelberg, S. 113-152. (1997d) Sprach- und Kommunikationsprobleme in Deutschland Ost und West. In: Schmirber, Gisela (Hg.): Sprache im Gespräch - Zu Normen, Gebrauch und Wandel der deutschen Sprache. (= Berichte und Studien der Hanns- Seidel-Stiftung München. Reihe Kulturpolitik 72). München, S. 53-87. (1998a) Allgemeinwortschatz der DDR-Bürger. In: Sprachreport 2/ 1998, S. 14ff. [Rezension zu: Schröder, Marianne / Fix, Ulla (Hg.) (1997): Allgemeinwortschatz der DDR -Bürger - nach Sachgruppen geordnet und linguistisch kommentiert]. (1998b) „Durch die gemeinsame Sprache getrennt“ - Zu Sprache und Kommunikation in Deutschland seit der Wende 1989/ 90. In: Bäcker, Iris (Hg.): Das Wort - Germanistisches Jahrbuch 1998. (= DAAD Germanistisches Jahrbuch '89 GUS , Reihe Germanistik). Moskau, S. 51-69. [Vortrag auf dem deutsch-russischen Germanistentreffen in Wologda/ Russland, Sept. 1997]. (1999a) „Wörter in Texten der Wendezeit“ 1989/ 90 - Ein Wörterbuch zur lexikographischen Erschließung des „Wendekorpus“. In: Jordanova, Ljubima (Hg.): 10 godini promjana v Iztotschna Evropa (10 Jahre Wende in Osteuropa). (= Sociolinguistika 4). Sofia, S. 11-39. [In Anlehnung an Vorwort und Einführung des 2005 erschienenen gleichnamigen Wörterbuchs] (1999b) Wende-Bibliografie. Literatur und Nachschlagewerke zu Sprache und Kommunikation im geteilten und vereinigten Deutschland ab Januar 1990. (= amades: Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 99). Mannheim. Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen 561 (2000a) [Zus. mit Dieter Rink: ] Eine Legende geht zu Ende. Sechsundzwanzig Jahre Conway-Symposien zur DDR -Forschung. In: Deutschland Archiv 33, 5, S. 807-813. [Tagungsbericht]. (2000b) Divergenz und Konvergenz. Sprachlich-kommunikative Folgen der staatlichen Trennung und Vereinigung Deutschlands: Ein Überblick. In: Eichhoff-Cyrus, Karin M. / Hoberg, Rudolf (Hg.) in Verbindung mit der Gesellschaft für deutsche Sprache Wiesbaden und der Duden-Redaktion Mannheim: Die deutsche Sprache zur Jahrtausendwende - Sprachkultur oder Sprachverfall? (= „Thema Deutsch“ 1). Wiesbaden/ Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich, S. 247-275. (2001a) Nachrufe - Herbert Bartholmes (1923-1999). In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte. Hrsg. für die Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat von Christof Römer. Bd. 8. Köln/ Weimar/ Wien, S. 235-238. (2001b) Das Bild von der ‘Sprache der DDR ’ in der alten Bundesrepublik oder: Haben sie so gesprochen? Rückblicke auf 50 Jahre westdeutsche Attitüden. In: Antos, Gerd / Fix, Ulla / Kühn, Ingrid (Hg.): Deutsche Sprach- und Kommunikationserfahrungen zehn Jahre nach der ‘Wende’. (= Wittenberger Beiträge zur deutschen Sprache und Kultur 2). Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern u.a. , S. 57-79. (2002) Ein gesamtdeutscher Westdeutscher. Laudatio auf Horst Dieter Schlosser. In: Sprachdienst 4/ 2002, S. 147-151. (2003a) Forschung zu Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West - Was bleibt noch zu tun? Ein Überblick. In: Wengeler, Martin (Hg.): Deutsche Sprachgeschichte nach 1945. Diskurs- und kulturgeschichtliche Perspektiven. Beiträge zu einer Tagung anlässlich der Emeritierung Georg Stötzels. (= Germanistische Linguistik 169/ 170). Hildesheim/ Zürich/ New York, S. 354-392. (2003b) Ein bulgarisches Wörterbuch zur Europäischen Integration - Memorandum und Kommentar. In: Germancite i bulgarite v dialog. Deutsche und Bulgaren im Gespräch. Bd. 2. Sofia, S. 17-24. [Bulgarische Übersetzung: ebd., S. 25-33]. (2004): Thema erledigt - oder doch noch nicht? Was bleibt zu tun bei der Erforschung des DDR -Sprachgebrauchs? In: Reiher, Ruth / Baumann, Antje (Hg.): Vorwärts und nichts vergessen. Sprache in der DDR : was war, was ist, was bleibt. Berlin, S. 17-26. (2005a) [unt. Mitw. von Pantelis Nikitopoulos und Christoph Melk: ] Wörter in Texten der Wendezeit. Ein Wörterbuch zum ‘Wendekorpus’ des IDS - Mai 1989 bis Ende 1990. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 05). CD-ROM mit Begleitband. Mannheim. Manfred W. Hellmann 562 (2005b) Differenzierungstendenzen zwischen der ehemaligen DDR und BRD . In: Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Hrsg. von D. Alan Cruse, Franz Hundsnurscher, Michael Job, Peter Rolf Lutzeier. (= HSK 21, 2. Halbbd.). Berlin/ New York, S. 1201-1220. 2. Herausgebertätigkeit (Einzelbände) (1973) Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR - Methoden und Probleme seiner Erforschung. (= Sprache der Gegenwart 18). Düsseldorf. (1976) [Hg. und Hauptautor: ] Bibliographie zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR . Zusammengestellt und kommentiert von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Manfred W. Hellmann. (= Sprache der Gegenwart 16). Düsseldorf. (1978/ 79) Arbeitsberichte aus dem DFG -Projekt „Ost-West-Wortschatzvergleiche“. H. 2-7. Bonn. [masch. vervielf.] (1984a) [Hg. und Mitautor: ] Ost-West-Wortschatzvergleiche. Maschinelle Untersuchungen zum Vokabular von Zeitungstexten aus der BRD und der DDR . (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 48). Tübingen. (1984b) Das Bonner Zeitungskorpus Teil I - Im Institut für deutsche Sprache erarbeitet nach dem Konzept und unter der Leitung von Manfred W. Hellmann. (= RMM 007/ 1). Nürnberg. [Microfiche-Veröffentlichung von Texten und Registern] (1986) [Zus. mit Friedhelm Debus und Horst Dieter Schlosser: ] Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR . (= Germanistische Linguistik 82-83). Hildesheim/ Zürich/ New York. (2008) [Zus. mit Marianne Schröder, unt. Mitarb. von Ulla Fix: ] Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West - ein Reader zu fünfzig Jahren Forschung. (= Germanistische Linguistik 194/ 195). Hildesheim/ Zürich/ New York. [in Vorb.] Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen 563 3. Reihenherausgeberschaft (1994-2000): Studienbibliographien Sprachwissenschaft. Im Auftrag des Instituts für deutsche Sprache [ab Bd. 10] herausgegeben von Manfred W. Hellmann. Heidelberg: Julius Groos Verlag. Erschienen: Bd. 10: Eichinger, Ludwig M. (1994): Deutsche Wortbildung (mit einem Vorwort des Herausgebers). Bd. 11: Hinnenkamp, Volker (1994): Interkulturelle Kommunikation (Sonderband). Bd. 12: Nussbaumer, Markus (1995): Argumentation und Argumentationstheorie. Bd. 13: Sanders, Willy (1995): Stil und Stilistik. Bd. 14: Antos, Gerd / Pogner, Karl-Heinz (1995): Schreiben. Bd. 15: Peyer, Ann / Groth, Ruth Groth (1996): Sprache und Geschlecht. Bd. 16: Dittmar, Norbert (1996): Soziolinguistik. Bd. 17: Holly, Werner / Püschel, Ulrich (1996): Sprache im Fernsehen. Bd. 18: Földes, Csaba (1997): Idiomatik / Phraseologie. Bd. 19: Ammon, Ulrich (1997): Nationale Varietäten des Deutschen. Bd. 20: Nussbaumer, Markus (1997): Sprache und Recht. Bd. 21: Greule, Albrecht / Janich, Nina (1997): Sprache in der Werbung. Bd. 22: Lutzeier, Peter Rolf (1997): Lexikologie. Bd. 23: Herberg, Dieter / Kinne, Michael (1998): Neologismen (mit einer Vorbemerkung des Herausgebers). Bd. 24: Honnef-Becker, Irmgard / Kühn, Peter (1998): Deutsch als Fremdsprache (Sonderband). Bd. 25: Hoffmann, Ludger (1998): Grammatik der gesprochenen Sprache. Bd. 26: Fluck, Hans R. (1998): Fachsprachen und Fachkommunikation. Bd. 27: Mieder, Wolfgang (1999): Sprichwörter / Redensarten - Parömiologie. Bd. 28: Thomé, Günther / Thomé, Dorothea (1999): Schriftspracherwerb. Bd. 29: Neuland, Eva (1999): Jugendsprache. Bd. 30: Ammon, Ulrich (1999): Deutsche Sprache International. Bd. 31: Haftka, Brigitta (1999): Deutsche Wortstellung. Bd. 32: Lenz, Susanne (2000): Korpuslinguistik (mit einer Vorbemerkung des Herausgebers). Bd. 33: Biere, Bernd Ulrich / Diekmannshenke, Hajo (2000): Sprachdidaktik Deutsch.