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Französische Kultur- und Medienwissenschaft

1990
978-3-8233-5963-0
Gunter Narr Verlag 
Hans-Jürgen Lüsebrink
Klaus Peter Walter
Ute Fendler
Georgette Stefani-Meyer
Christoph Vatter

Ziel des Bandes ist es, eine auf den Kulturraum Frankreich spezifizierte Einführung in die Medienkunde zu geben, die die Vermittlung der wichtigsten theoretischen Grundlagen und eines Analyseinstrumentariums mit der Veranschaulichung durch konkrete Fallstudien und Demonstrationsbeispiele verbindet. Die systematische Darstellung soll Studienanfängern im Bereich der Landes- und Medienkunde und der immer mehr an Bedeutung gewinnenden interkulturellen Studien eine solide und leicht fassliche Überblicksdarstellung an die Hand geben. Aus dem Inhalt: Teil I: Theoretische und methodische Grundlagen Französische Kultur- und Medienwissenschaft: systematische und historische Dimensionen (Hans-Jürgen Lüsebrink) Die Begriffe Kultur und Medien, Französische Spezifika, Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Kultur- und Mediengeschichte, Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis, Rezeptions- und Wirkungsdimensionen: 'Öffentlichkeit', 'kulturelles Feld', 'Interkulturalität' und 'Kulturtransfer', Bibliographie Grundbegriffe der Semiotik (Georgette Stefani-Meyer) Standortbestimmung und Entwicklung des Begriffs, Fortsetzung der klassischen Ansätze, Der kommunikative Ansatz, Fazit, Bibliographie Teil II: Kulturelle Medien und Gattungen Printmedien (Georgette Stefani-Meyer) Allgemeine Lokalisierung, Kurzer geschichtlicher Abriss, Die aktuelle Presselandschaft in Frankreich, Gegenwärtige Tendenzen, Bibliographie Hörfunk (Klaus Peter Walter) Einführung, Zur Geschichte des Hörfunks in Frankreich, Rundfunktheorie: Materialeigenschaften und Funktionsbestimmung, Der Funktionswandel des Hörfunks: Eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Radiolandschaft in Frankreich, Bibliographie Kino und Spielfilm (Klaus Peter Walter) Einführung, Eine kleine Geschichte des französischen Spielfilms, Aspekte der Filmanalyse: Mise en scène und Montage, Der französische Kinomarkt gestern und heute: Zahlen, Fakten und Tendenzen, Bibliographie Fernsehen (Klaus Peter Walter) Einführung, Zur Geschichte des Fernsehens in Frankreich, Zur Theorie des Fernsehens: Elemente der Fernsehanalyse, Die französische Fernsehlandschaft der Gegenwart: Eine Bestandsaufnahme, Bibliographie Semi-Oralität (Hans-Jürgen Lüsebrink) Begrifflichkeiten und Strukturen, Semi-Orale Gattungen: Vom illustrierten Flugblatt zum Chanson, Theater und Theatralität, Die Wiederkehr von Körperlichkeit und Performanz, Bibliographie Intermedialität (Ute Fendler) Annäherungen an den Begriff, Geschichte intermedialer Verflechtungen in Frankreich, Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten, Anwendung, Tendenzen der 1980er und 1990er Jahre, Bibliographie Neue Medien: Internet und Multimedia (Christoph Vatter) Zur Entwicklung der Neuen Medien, Neue Medien in Frankreich, Begriffliche Annäherungen, Internet und andere Medien, Problemfelder und Perspektiven, Bibliographie Nachwort Herausforderungen und Perspektiven einer französischen Kultur- und Medienwissenschaft (Ute Fendler / Christoph Vatter)

narr studienbücher narr studienbücher Ziel des Bandes ist es, eine auf den Kulturraum Frankreich spezifizierte Einführung in die Kultur- und Medienwissenschaft zu geben, die die Vermittlung der wichtigsten theoretischen Grundlagen und eines Analyseinstrumentariums mit der Veranschaulichung durch konkrete Fallstudien und Demonstrationsbeispiele verbindet. Der Band gibt Studienanfängern der Romanistik (mit Schwerpunkt Frankreich) sowie anderen Interessierten für die Bereiche ,Kultur‘ und ,Medien‘ und die immer mehr an Bedeutung gewinnenden interkulturellen Studien eine solide und leicht fassliche Überblicksdarstellung an die Hand. ISBN 3-8233-4963-5 Hans-Jürgen Lüsebrink / Klaus Peter Walter / Ute Fendler / Georgette Stefani-Meyer / Christoph Vatter Französische Kultur- und Medienwissenschaft Eine Einführung Französische Kultur- und Medienwissenschaft 055004 Stud. Lüsebrink/ Walter/ 03.09.2004 16: 21 Uhr Seite 1 Fotosatz Hack, Dusslingen narr studienbücher 055104 Stud. Lüsebrink/ Walter/ 03.09.2004 16: 22 Uhr Seite 1 Fotosatz Hack, Dusslingen 055104 Stud. Lüsebrink/ Walter/ 03.09.2004 16: 22 Uhr Seite 2 Fotosatz Hack, Dusslingen Gunter Narr Verlag Tübingen Hans-Jürgen Lüsebrink / Klaus Peter Walter/ Ute Fendler/ Georgette Stefani-Meyer/ Christoph Vatter Französische Kultur- und Medienwissenschaft Eine Einführung 055104 Stud. Lüsebrink/ Walter/ 03.09.2004 16: 22 Uhr Seite 3 Fotosatz Hack, Dusslingen Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. © 2004 · Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: Gulde, Tübingen Verarbeitung: Nädele, Nehren Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 3-8233-4963-5 055104 Stud. Lüsebrink/ Walter/ 03.09.2004 16: 22 Uhr Seite 4 Fotosatz Hack, Dusslingen Inhaltsverzeichnis Einleitung (Hans-Jürgen Lüsebrink) ..................................................... 1 Teil I Theoretische und methodische Grundlagen 1. Französische Kultur- und Medienwissenschaft: systematische und historische Dimensionen (Hans-Jürgen Lüsebrink) ................................................................... 9 1.1 Die Begriffe Kultur und Medien ...................................................... 9 1.2 Französische Spezifika .................................................................... 14 1.3 Gattungstheorie und Gattungsgeschichte ........................................ 15 1.4 Kultur- und Mediengeschichte ........................................................ 18 1.5 Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis .................................. 21 1.6 Rezeptions- und Wirkungsdimensionen: ‚Öffentlichkeit‘, ‚kulturelles Feld‘, ‚Interkulturalität‘ und ‚Kulturtransfer‘ ............... 25 1.7 Bibliographie .................................................................................. . 35 2. Grundbegriffe der Semiotik (Georgette Stefani-Meyer) ......... 39 2.1 Standortbestimmung und Entwicklung des Begriffs ....................... 39 2.2 Fortsetzung der klassischen Ansätze ............................................... 44 2.3 Der kommunikative Ansatz ............................................................. 45 2.4 Fazit ................................................................................................. 48 2.5 Bibliographie .................................................................................. . 49 Teil II Kulturelle Medien und Gattungen 1. Printmedien (Georgette Stefani-Meyer) ....................................... 53 1.1 Allgemeine Lokalisierung ............................................................... 53 1.2 Kurzer geschichtlicher Abriss ........................................................ . 66 1.3 Die aktuelle Presselandschaft in Frankreich .................................... 70 1.4 Gegenwärtige Tendenzen ................................................................ 80 1.5 Bibliographie .................................................................................. . 83 2. Hörfunk (Klaus Peter Walter) ......................................................... 85 2.1 Einführung ....................................................................................... 85 2.2 Zur Geschichte des Hörfunks in Frankreich .................................... 87 2.3 Rundfunktheorie: Materialeigenschaften und Funktionsbestimmung .................................................................................... . 92 2.4 Der Funktionswandel des Hörfunks: Eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Radiolandschaft in Frankreich .......................... 100 2.5 Bibliographie ................................................................................... 110 3. Kino und Spielfilm (Klaus Peter Walter) .................................... . 111 3.1 Einführung ...................................................................................... . 111 3.2 Eine kleine Geschichte des französischen Spielfilms ...................... 113 3.3 Aspekte der Filmanalyse: Mise en scène und Montage ................... 125 3.4 Der französische Kinomarkt gestern und heute: Zahlen, Fakten und Tendenzen ..................................................................... 137 3.5 Bibliographie ................................................................................... 151 4. Fernsehen (Klaus Peter Walter) ..................................................... 155 4.1 Einführung ...................................................................................... . 155 4.2 Zur Geschichte des Fernsehens in Frankreich ................................. 157 4.3 Zur Theorie des Fernsehens: Elemente der Fernsehanalyse ............ 166 4.4 Die französische Fernsehlandschaft der Gegenwart: Eine Bestandsaufnahme ................................................................... 175 4.5 Bibliographie ................................................................................... 186 5. Semi-Oralität (Hans-Jürgen Lüsebrink) ....................................... 189 5.1 Begrifflichkeiten und Strukturen ..................................................... 189 5.2 Semi-Orale Gattungen: Vom illustrierten Flugblatt zum Chanson . 193 5.3 Theater und Theatralität .................................................................. 201 5.4 Die Wiederkehr von Körperlichkeit und Performanz ...................... 206 5.5 Bibliographie ................................................................................... 209 6. Intermedialität (Ute Fendler) ......................................................... 213 6.1 Annäherungen an den Begriff ........................................................ . 213 6.2 Geschichte intermedialer Verflechtungen in Frankreich ................. 217 6.3 Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten ........................................ 221 6.4 Anwendung .................................................................................... . 222 6.5 Tendenzen der 1980er und 1990er Jahre ......................................... 226 6.6 Bibliographie ................................................................................... 229 7. Neue Medien: Internet und Multimedia (Christoph Vatter) ............................................................................... 233 7.1 Zur Entwicklung der Neuen Medien ............................................... 233 7.2 Neue Medien in Frankreich ............................................................. 238 7.3 Begriffliche Annäherungen ............................................................. 244 7.4 Internet und andere Medien ............................................................. 248 7.5 Problemfelder und Perspektiven ...................................................... 250 7.6 Bibliographie ................................................................................... 252 Nachwort Herausforderungen und Perspektiven einer französischen Kultur- und Medienwissenschaft (Ute Fendler / Christoph Vatter) ............................................................. 255 1 Einleitung Konzepte Die Fächer Kulturwissenschaft und Medienwissenschaft und die mit ihnen verknüpften Methoden, Fragestellungen und Gegenstandsbereiche haben sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten auch in der deutschen Hochschullandschaft fest etabliert: zum einen in der Form einer allgemeinen Kulturbzw. Medienwissenschaft, wie sie für den Bereich der Kulturwissenschaft etwa an der Humboldt- Universität Berlin oder an der Universität Leipzig und im Bereich der Medienwissenschaft u.a. an den Universitäten Siegen, Bochum und Bayreuth eingerichtet wurden; und zum anderen in Gestalt einer kulturraumbezogenen Kultur- und Medienwissenschaft, die in der Germanistik sowie in den Fremdsprachenphilologien neben die traditionellen ‚Säulen‘ der Fächer, die Literatur- und Sprachwissenschaft, getreten ist und darauf abzielt, vor allem den Bereich der Medien und Kulturinstitutionen in die Curricula der Fächer einzubeziehen. Kulturraumbezogene Kultur- und Medienwissenschaften etablierten sich in den letzten Jahren an einer ganzen Reihe von Universitäten, vor allem in der Germanistik, aber auch in der Romanistik und Anglistik, sowohl in Form eigener Studiengänge (wie des Studiengangs ‚Französische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation‘ an der Universität Saarbrücken) als auch in Gestalt von Studienkomponenten, häufig in Verbindung mit literaturwissenschaftlichen, aber auch zum Teil mit landeskundlichen und sprachwissenschaftlichen Angeboten. Kulturwissenschaft und Medienwissenschaft sind, obwohl sie häufig Gegenstandsbereiche deutlich getrennter Studiengänge geworden sind, in methodischer und inhaltlicher Hinsicht eng miteinander verknüpft 1 . Die Vernetzungsformen der beiden Bereiche sind jedoch unmittelbar mit der Definition und Eingrenzung des Kulturbegriffs verbunden. In der kulturwissenschaftlichen Forschung lassen sich im Wesentlichen drei grundlegende Kulturbegriffe unterscheiden (vgl. hierzu ausführlich Kap. I.1): erstens der anthropologische Kulturbegriff, der Kultur als die Gesamtheit der kollektiven Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Einstellungsmuster einer Gesellschaft, als ihre ‚mentale Software‘ (Hofstede 1991) begreift; zweitens der materielle (oder instrumentelle) Kulturbegriff, der unter 1 Dies belegt auch der neue Begriff „Medienkulturwissenschaft“, der u.a. als Bezeichnung eines gleichnamigen, in der Germanistik an der Universität Hamburg angesiedelten Studiengangs dient, aber sich in der wiss. Diskussion bisher nicht durchgesetzt hat (vgl. Schönert 1996, Schmidt 1992, Schmidt, 2003). 2 ‚Kultur‘ alles vom Menschen Geschaffene versteht (‚Kulturgüter‘) und dieses in Gegensatz zur ‚Natur‘ rückt; und drittens der text- und medienbezogene Kulturbegriff, der unter Kultur die Gesamtheit der symbolischen Kommunikationsformen und -medien einer Gesellschaft subsumiert, in denen sie sich verständigt, selbst darstellt, repräsentiert, Vorstellungsmuster, ästhetische Geschmacksmuster, Lebensstile und Rollenbilder entwickelt. Dieser Kulturbegriff schließt den traditionellen, ästhetisch besetzten Bereich der kanonisierten Kultur ein, der in der Alltagssprache, aber auch in Teilen des politischen Diskurses weiterhin dominiert, beispielsweise in Begriffen wie ‚Kulturförderung‘ und ‚Kultursponsoring‘, und eng mit den Begriffen ‚Kunst‘, ‚Ästhetik‘ und ‚Bildung‘ verknüpft ist. Gegenstandsbereiche Dem vorliegenden Band liegt in erster Linie der dritte, text- und medienbezogene Kulturbegriff zugrunde. Texte und Bilder verschiedenster Zeichenmaterialität als „diskursive und symbolische Kommunikationsformen von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern“ (Röseberg 2001, 11) stehen - aus unserer Sicht notwendigerweise - im Zentrum des Gegenstandsbereichs und des Erkenntnisinteresses einer Kultur- und Medienwissenschaft, die in einer Philologie wie der (Franko-)Romanistik verankert ist. Trotz der engen Verknüpfung der Bereiche ‚Medien‘ und ‚Kultur‘ erscheint es sinnvoll, sie begrifflich auseinander zu halten. Medien bilden einen zentralen Bereich der Kulturwissenschaft im definierten Sinn; diese reicht jedoch zugleich über den Medienbereich hinaus, da sie den Blick auf Phänomene wie kulturelle Institutionen, Formen des kollektiven Gedächtnisses, Strukturen des öffentlichen Raumes und Wandlungsprozesse „kultureller Felder“ (Bourdieu) lenkt (vgl. hierzu Kap. I.1). Der theoretische Rahmen und das methodische Instrumentarium einer kommunikations- und medienbezogenen Kulturwissenschaft fußen dementsprechend auf einem breiten Spektrum von Ansätzen, unter denen die Semiotik eine herausragende Rolle einnimmt (vgl. nachfolgend Kap. I.2). Neben der Semiotik nehmen die literatur- und kulturwissenschaftliche Gattungs-, Text- und Diskursanalyse, die Theorie des kulturellen Gedächtnisses (Assmann, Halbwachs, Nora) sowie die auf der Grundlage literatur- und kommunikationswissenschaftlicher sowie semiotischer Ansätze entwickelten Methoden der Publizistik- und Filmanalyse (Kap. II.2-4) eine wichtige Rolle ein. Zum anderen liegt dem vorliegenden Band eine kulturraumbezogene Perspektive zugrunde. Er zielt darauf ab, kulturelle Medien, Institutionen, Öffentlichkeitsstrukturen und kollektive Gedächtnisformen am Beispiel des französischen Kulturraums, unter Einbeziehung auch der frankophonen Länder außerhalb Frankreichs (und insbesondere außerhalb Europas), zu behandeln. Theorieansätze und Methoden der Kultur- und Medienwissenschaft sollen somit sowohl systematisch entwickelt als auch anhand von Fallbeispielen eines Kultur- 3 raums veranschaulicht werden. Eine kulturraumbezogene Perspektive impliziert, im Gegensatz zu Kultur übergreifenden Ansätzen, nicht nur die Verankerung in einer Disziplin - wie der (Franko-)Romanistik -, sondern auch die Einbeziehung kulturspezifischer sowie kulturvergleichender Perspektiven (vgl. auch Nies 2001, 218f.). Medien wie Film und Fernsehen oder Institutionen wie das kulturelle Gedächtnis haben in Frankreich oder Québec in den letzten einhundert Jahren zwar eine in Grundzügen ähnliche Entwicklung durchlaufen wie in anderen okzidentalen Gesellschaften und Kulturen, so dass sie sich mit den gleichen methodischen und theoretischen Instrumenten analysieren lassen. Zugleich weisen sie jedoch markante kulturelle Spezifika auf, die sich in Phänomenen wie der ‚Nouvelle Vague‘ des französischen Films, der herausragenden Bedeutung semioraler Gattungen und Prozesse in den frankophonen Kulturen Afrikas und der Karibik sowie in der völlig anderen Entwicklung des Internet in Frankreich zeigen, die u.a. auf der ‚Exception Française‘ des Minitel beruht (vgl. nachfolgend Kap. II.3, II.5, II.7). Indem er die Vermittlung von systematischen Ansätzen der Kultur- und Medienwissenschaft in ihren verschiedenen Bereichen mit der Darstellung der Kultur- und Medienentwicklung eines Kulturraums verknüpft, möchte der vorliegende Band auch den Erkenntnis-Mehrwert einer kulturraumbezogenen Perspektivierung der Kultur- und Medienwissenschaften aufzeigen. Eine solche Perspektivierung setzt fundierte Kenntnisse eines fremden Kulturraums und seiner Sprache(n) voraus, reicht somit notwendigerweise über den in der allgemeinen Kultur- und Medienwissenschaft oft stark favorisierten - und häufig allenfalls punktuell durch den anglophonen ergänzten - deutschen Kulturraum hinaus und verbindet die Vermittlung methodischer und theoretischer Kenntnisse der Kultur- und Medienwissenschaften mit der Aneignung fremdsprachlicher und interkultureller Fähigkeiten sowie landeskundlichen Wissens, denen eine zunehmende, auch berufspraktische, Bedeutung zukommt. Absicht der Autoren des vorliegenden Sammelbandes, der aus einer über mehrere Jahre hinweg an der Universität Saarbrücken gemeinsam durchgeführten Einführungsveranstaltung hervorgegangen ist, ist es, die methodischen und theoretischen Vernetzungsformen der Kultur- und Medienwissenschaften mit der Literatur- und Sprachwissenschaft aufzuzeigen, zugleich aber auch die ‚Nabelschnur‘ zu ihnen zu zertrennen. Gelegentlich erscheint, auch in Einführungswerken wie dem von H. Böhme und K. R. Scherpe herausgegebenen Band Literatur- und Kulturwissenschaften (1996), Kulturwissenschaft gewissermaßen als ein Expansionsbereich der Literaturwissenschaft, nicht nur in methodischer Hinsicht, sondern auch mit Bezug auf ihre Gegenstandsbereiche. Die nachfolgenden Kapitel zu den Mediengattungen Film, Hörfunk, Fernsehen und Presse sowie zu den Phänomenen Intermedialität, Semi-Oralität und Neue Medien zielen darauf ab, die Verbindungslinien zur Literatur- und Sprachwissenschaft aufzuzeigen, aber zugleich auch die grundlegende Andersartigkeit und Spezifik kultur- und medienwissenschaftlicher Gegenstandsbereiche und Fragestellungen herauszuarbeiten. 4 Schwerpunktsetzungen Ein Einführungswerk muss zwangsläufig Schwerpunkte setzen. Dies impliziert die Konzentration auf eine Grundstruktur und einen - notwendigerweise recht begrenzten - Kanon von Gegenständen, d.h. Methoden und Theorieansätzen sowie Fallbeispielen. Im Zentrum des vorliegenden Bandes stehen Mediengattungen, die in Beziehung gesetzt werden zu kulturellen Prozessen (wie Semi- Oralität und Intermedialität), Institutionen und Öffentlichkeitsformen. Diese Schwerpunktsetzung, insbesondere der Fokus auf Mediengattungen, lässt Theoriekonzepte und Gegenstandsbereiche zurücktreten, die in der allgemeinen Kultur- und Medienwissenschaft häufig eine zentrale Rolle spielen, so etwa die Konzepte ‚Hybridität‘, ‚Diskurs‘ und ‚Postkolonialität‘, obwohl auch sie im vorliegenden Band in verschiedenen Kapiteln durchaus eine gewisse Berücksichtigung finden. Die Fokussierung auf Mediengattungen und ihre diskursiven und institutionellen Verflechtungen erschien - auch aufgrund der gesammelten langjährigen Unterrichtserfahrungen - didaktisch und methodisch fruchtbarer als eine weitere Auffächerung oder anders gelagerte Schwerpunktsetzungen, beispielsweise im Bereich der Theoriekonzepte (Böhme/ Scherpe 1996) oder der kulturellen Institutionen und Felder (Röseberg 2001). Es zeigte sich gleichfalls, dass die gewählte gattungsorientierte Konzeption in stärkerem Maße theoretisch und praktisch anschlussfähig zu sein vermag: in theoretischer Hinsicht bietet sie eine Fülle von Vertiefungsmöglichkeiten beispielsweise in schulischen oder universitären Lehrveranstaltungen zur Presse-, Radio-, Fernseh- oder Filmanalyse; und in praktischer Hinsicht vermag sie methodische Grundlagen zu legen für praxisorientierte Veranstaltungen - etwa im Bereich der Video- und Filmproduktion oder im Rahmen von Theaterseminaren - sowie für Berufspraktika. Auch die in diesen Bereichen in Saarbrücken seit nunmehr über 10 Jahren gemeinsam gesammelten Erfahrungen sind in die Konzeption des vorliegenden Bandes und seiner Einzelkapitel unmittelbar eingeflossen. Bibliographie Böhme, Hartmut/ Scherpe, Klaus R. (Hg.): Literatur- und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek, 1996. Glaser, Renate/ Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Opladen, 1996. Göbel, Walter: „Cultural Studies: From Intracultural to Intercultural Approaches and the Desintegration of British Cultural Studies.“ In: Anglia. Zeitschrift für Englische Philologie (1998), Bd. 116, H. 1, S. 56-77. Grünzweig, Walter: Kulturelle Narrative und Dekonstruktion: Von den American Studies zu den ‚Cultural Studies‘. Paderborn, 1996. Hansen, Klaus Peter (Hg.): Kulturbegriff und Methode. Der stille Paradigmawechsel in 5 den Geisteswissenschaften. Tübingen, 1993. Hofstede, Gert: Cultures and Organizations: Software of the Mind. London/ New York, 1991. Kramer, Jürgen: British Cultural Studies. München, 1997. Lüsebrink, Hans-Jürgen/ Röseberg, Dorothee (Hg.): Landeskunde und Kulturwissenschaft in der Romanistik. Tübingen, 1995. Lüsebrink, Hans-Jürgen: „Romanische Landeskunde zwischen Literaturwissenschaft und Mentalitätsgeschichte.“ In: Hansen, Kulturbegriff und Methode (1993), 81-94 Nies, Fritz: „Kulturwissenschaft vor Deutsch-Französischer Hochschule - ratlos? “ In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte (2001), 25. Jg., H. 1/ 2, S. 213-230. Röseberg, Dorothee: Kulturwissenschaft Frankreich. Stuttgart u.a., 2001. Schmidt, Siegfried J.: „Why literature is not enough or Literary studies as media studies.“ In: Cupchik, Gerald C./ Lázló, János (Hg.): Emerging Visions of the Aesthetic Process. Cambridge, 1992, S. 227-243. Schmidt, Siegfried J.: „Medienkulturwissenschaft“ In: Nünning, Ansgar/ Nünning, Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Stuttgart/ Weimar, 2003, S. 351-370. Schönert, Jörg: „Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft - Medienkulturwissenschaft: Probleme der Wissensentwicklung? “ In: Glaser, Renate/ Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Opladen, 1996, S. 192-208. Straw, Will: „Canadian and Cultural Studies.“ In: ACS Bulletin. Association for Canadian Studies/ Association d’Etudes Canadiennes. (1995-1996), Vol. 17, n°4, hiver, S.1, S. 20. Straw, Will: „Shifting Boundaries, Lines of Descent: Cultural Studies and Institutional Realignments in Canada.“ In: Blundell, Valda/ Taylor, Ian (Hg.): Relocating Cultural Studies: New Directions in Theory and Research. London, 1993, S. 86-102. Hans-Jürgen Lüsebrink Teil I Theoretische und methodische Grundlagen 9 1. Französische Kultur- und Medienwissenschaft: Systematische und historische Dimensionen 1.1 Die Begriffe Kultur und Medien 1.1.1 Kulturbegriffe Ein grundlegendes Problem der Kultur- und Medienwissenschaften stellt zweifellos die kaum übersehbare Vielzahl von Definitionen der grundlegenden Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Medien‘ dar, zumal diese den Gegenstandsbereich und die Methoden des Fachs bestimmen. Der Begriff culture wurde noch in Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts in erster Linie mit dem Begriff agriculture in Verbindung gebracht, während der ‚Kulturbereich‘ im heutigen Sinn als arts und belles-lettres bezeichnet wurde. Der Dictionnaire de Furetière definierte culture in der Tat als „soin qu’on prend de rendre une terre fertile par le labour, par l’amendement, d’élever un arbre, une plante. La culture de la terre est l’occupation la plus honnête et la plus innocente de toutes“ (Furetière 1694, art. ‚Culture‘). In den französischen Wörterbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts ist diese ursprüngliche Wortbedeutung (die weiterhin in Ausdrücken wie ‚la culture de la terre‘ fortbesteht) weitgehend verdrängt worden durch die Verbindung von Kultur mit Intellekt, Kunst, ästhetischer Urteilskraft und Bildung, wie zum Beispiel im Petit Robert, wo culture definiert wird als: „Développement de certaines facultés de l’esprit, par des exercices intellectuels appropriés. Par extension: Ensemble des connaissances acquises qui permettent de développer le goût, le sens critique, le jugement.“ (Petit Robert 1973, art. ‚Culture‘). In der Entwicklung des ‚Bereichs‘ Kulturwissenschaft in den unterschiedlichen Disziplinen und bei der Herausbildung der Wissenschaftsdisziplin ‚Kulturwissenschaft/ Cultural Studies‘ in den letzten Jahrzehnten haben vor allem drei sehr unterschiedliche, zum Teil komplementäre Kulturbegriffe eine zentrale Rolle gespielt: - der anthropologische Kulturbegriff; - der Begriff der ‚materiellen Kultur‘; - der text- und medienbezogene, ästhetische Kulturbegriff. Der anthropologische Kulturbegriff begreift Kultur als die Gesamtheit der handlungsleitenden Vorstellungs- und Wahrnehmungsmuster einer Gruppe oder Gesellschaft, wobei letztere unterschiedlich weit gefasst und definiert werden kann: territorial als Nationale Kultur, Regionalkultur oder transnationaler Kulturraum 10 (wie ‚westliche Kultur‘); sozial als ‚Arbeiterkultur‘, ‚Bürgerliche Kultur‘, ‚Kultur der Bohème‘, ‚Bauernkultur‘; und religiös zum Beispiel als ‚islamische Kultur‘, ‚protestantische Kultur‘, ‚katholische Kultur‘, eine Dimension des anthropologischen Kulturbegriffs, der sich für frühneuzeitliche Kulturen Europas sowie für Teile der außereuropäischen Welt der Gegenwart von größerer Bedeutung und Trennschärfe erweist als territoriale Kulturbegriffe (wie ‚Nationalkultur‘) oder sozial basierte Kulturbegriffe. Der britische Anthropologe E.B. Taylor definierte 1871 Kultur wie folgt: „Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities acquired by man as a member of society.“ (Taylor 1871, 1). Claude Lévi-Strauss, der renommierteste französische Ethnologe und Anthropologe des 20. Jahrhunderts, bezeichnete in ähnlicher Perspektive wie Taylor Kultur als ein ‚ethnographisches Ganzes‘, durch das sich eine Gemeinschaft von anderen Gemeinschaften signifikant unterscheidet: „Le terme de culture est employé pour regrouper un ensemble d’écarts significatifs“ (Lévi-Strauss 1958, 325). Die wohl interessantesten und präzisesten Definitionen des anthropologischen Kulturbegriffs der letzten Zeit haben der Ethnologe Clifford Geertz und der Psychologe Geert Hofstede vorgelegt. Clifford Geertz begreift Kultur als ein umfassendes Symbolsystem, das alle Ausdrucksformen einer Gemeinschaft prägt - von den Soziabilitätsformen über die Alltags- oder Festtagsriten bis zur Erziehung - und sich als handlungsleitender Code beschreiben lässt: Die Kultur einer Gesellschaft [...] besteht in dem, was man wissen oder glauben muss, um in einer von den Mitgliedern dieser Gesellschaft akzeptierten Weise zu funktionieren. Kultur zu beschreiben heißt: [...] ein System von Regeln aufzustellen, das es jedem, der diesem ethnographischen Algorithmus gehorcht, möglicht macht, so zu funktionieren, dass man (von der physischen Erscheinung einmal abgesehen) als Eingeborener gelten kann. (Geertz 1973, 42). Zur Veranschaulichung dieses Ansatzes greift Geertz insbesondere auf Beobachtungen aus außereuropäischen Gesellschaften, vor allem des südasiatischen Raums, zurück. Berühmt und viel zitiert ist seine Analyse des balinesischen Hahnenkampfes als eines sozialen Rituals, in dem in kodifizierter Form Verhaltensnormen und Wertvorstellungen der Gesellschaft Balis beschrieben werden. Geert Hofstedes Ansatz begreift, ähnlich wie Clifford Geertz, Kultur als einen handlungsleitenden Code, den er auch ‚software of the mind‘ nennt (Hofstede 1991). Sein Modell ist jedoch in vieler Hinsicht konzeptuell differenzierter. Er unterscheidet zum einen vier Tiefenschichten (oder Ebenen) von Kultur als anthropologisches System, die er im Allgemeinen in Form eines ‚Zwiebelmodells‘ veranschaulicht: 1. die Werte als die grundlegenden ethischen und moralischen Maßstäbe, die das Handeln der Angehörigen einer Kulturgemeinschaft bestimmen und ihren 11 Ausdruck in Verhaltens- und Verbotsregeln, Tabus sowie in ihrem Rechtssystem finden. Werte oder Kulturstandards wie Hierarchieakzeptanz, Autoritätsbewusstsein und Individualismus weisen, wie Hofstede in empirischen Untersuchungen nachgewiesen hat, zwischen den unterschiedlichen Nationalkulturen erhebliche Unterschiede auf; 2. Rituale als soziale Handlungen, die zunächst und in erster Linie um ihrer selbst Willen vollzogen werden und die wesentliche Funktion erfüllen, den Zusammenhalt einer Kulturgemeinschaft zu verkörpern, zu festigen und öffentlich zu manifestieren. Hierzu gehören Rituale wie Geburtstage, Hochzeitsfeiern, Begräbnisse, Begrüßungsrituale sowie - auf nationaler Ebene - nationale Gedenk- und Feiertage; 3. Helden als kollektive Identifikationsfiguren einer Kulturgemeinschaft, die entweder, als Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses und seiner Medien (vgl. nachfolgend) eine Beständigkeit und Langzeitwirkung aufweisen können (wie beispielsweise große Schriftsteller oder herausragende Politiker), oder aber, als Elemente des kommunikativen Gedächtnisses von Gruppen oder Gemeinschaften, eine eher ephemere Rolle spielen (wie die Mehrzahl der Sportler, Schauspieler, Politiker und Künstler); 4. Symbole, unter denen kollektive Symbolsysteme verstanden werden, durch die sich die Angehörigen einer Kultur in ihren öffentlichen Erscheinungsweisen und in ihrem Kommunikationsverhalten von Angehörigen anderer Kulturen unterscheiden. Hierzu zählen vor allem Sprache, Kleidung, nonverbale Kommunikation und Körpersymbolik. Der Begriff der materiellen Kultur wird vor allem in den Geschichtswissenschaften zur Bezeichnung menschlicher Tätigkeiten verwendet, die naturgegebene Rohstoffe in Gebrauchsgüter und Kunstprodukte umformen. Dem Begriff der materiellen Kultur liegt also kein ästhetischer Bezugsrahmen zugrunde, vor dessen Hintergrund kulturelle und nicht-kulturelle (in diesem Fall pragmatische) Objekte, Texte und Praktiken unterschieden werden, wie im Fall des text- und medienbezogenen, ästhetischen Kulturbegriffs. Er umfasst also Tätigkeitsbereiche wie Handwerkerkultur, Industriekultur, Landwirtschaft und Weinbau oder auch Praxisfelder wie Rechtskultur und Wohnkultur, die sich in erster Linie durch ihre pragmatische, auf praktische Nutzbarkeit ausgerichtete Dimension auszeichnen, was - beispielsweise in Sektoren wie Kunsthandwerk, Möbeldesign oder Innenarchitektur - eine Valorisierung (und tendenzielle Kanonisierung) der ästhetischen Dimension durchaus einzuschließen vermag. Der Bereich der Wohnkultur beispielsweise ist in strukturell ähnliche kulturelle Segmentierungen eingeteilt wie die Musikkultur (Bourdieu 1979). Diese reichen von industriellen Konsumprodukten mit reinem Nutzcharakter über Labels, die sich durch ästhetisches Design und Traditionsbezogenheit auszeichnen bis zum Bereich der Möbelantiquitäten und -imitationen mit Kunststatus. Der text- und medienbezogene, ästhetische Kulturbegriff ist im 18. Jahrhundert an die Stelle anderer Begriffe wie ‚arts‘ und ‚belles-lettres‘ getreten, die 12 noch im 17. Jahrhundert den Bereich ästhetischer und künstlerischer Produktionen bezeichneten. Er repräsentiert den heute in westlichen Gesellschaften wie Frankreich dominierenden Kulturbegriff, der sich in Bezeichnungen und Institutionen wie Ministère de la Culture, Centre culturel, biens culturels, Kultursponsoring oder Maison de la Culture findet. Mit diesem text- und medienbezogenen, ästhetischen Kulturbegriff ist zum einen die Vorstellung einer begrenzten Sphäre der kulturellen Produktion verbunden, die ästhetisch valorisiert wird; und zum anderen die Vorstellung eines Kanons von Texten, Monumenten oder Kunstwerken, die einen zeitüberdauernden Charakter aufweisen, kollektive oder universelle ästhetische und moralische Werte verkörpern und aus diesen Gründen in kulturellen Medien (wie Schulbüchern) und Institutionen (wie Kulturinstitutionen, Schulen, Akademien) präsent sind und tradiert werden. Die Definition von Kultur als einer begrenzten Sphäre oder eines eingegrenzten Kanons impliziert die Definition von Abgrenzungen und Polarisierungen: vor allem die Gegenüberstellung von ‚hoher‘ und ‚niedriger Kultur‘, von ‚Bildung‘ und ‚Populärer Kultur‘, von culture des élites und culture populaire bzw. von ‚Elitenkultur‘ und ‚Massenkultur‘ (Lüsebrink 1995; Muchembled 1978). Karl-Heinz Bohrer (1980) unterscheidet in einem weitergehenden Ansatz zwischen Old Culture (die kanonisierte klassische Kultur der Vormoderne), New Culture (die Avantgarden der Moderne und Postmoderne) und Popular Culture, der breite Bereich der nicht-kanonisierten, d.h. nicht in Medien und Institutionen des Kulturbetriebs präsentierten, kommentierten und memorisierten Formen von Kultur, die von der Pop-Kultur über Comics bis zu touristischen Souvenirs reichen. Zwischen Popular Culture und New Culture gibt es jedoch einen permanenten Austauschprozess, wenn kulturelle Texte und Produkte der Popular- oder Massenkulturen in Medien und Institutionen des Kulturbetriebs aufgenommen und somit in die Sphäre der New Culture integriert werden. Beispiele hierfür sind Schriftsteller wie Emile Zola und Boris Vian, Filmemacher wie François Truffaut und Mehdi Charef und Kulturgattungen wie Teilbereiche der Fotografie (Bourdieu/ Boltanski/ Castel/ Chamboredon 1965), der bandes dessinées (die vor allem in Frankreich über eigene Festivals verfügen), des Industriedesigns und der Musikszene (wie Rap, Hip-Hop, Raï). „Kulturell relevante Prozesse haben sich nur in der Neuen und der Popular Culture vollzogen. Die ‚Alte Kultur‘ bleibt wichtig als die permanent anwesende Folie, vor der die Korrekturen der ‚Neuen Kultur‘ und die Abweichungen der Popular Culture überhaupt erkennbar werden.“ (Bohrer 1980, 649). Der Kulturwissenschaft liegt in erster Linie ein erweiterter, extensiver text- und medienbezogener, ästhetischer Kulturbegriff zu Grunde, der nicht nur die Sphäre der Bildungskultur (Old Culture), sondern auch den Bereich der kulturellen Avantgarden und vor allem auch das breite Feld der Popularkultur(en) einbezieht. Zu den beiden erstgenannten Kulturbegriffen bestehen jedoch enge Beziehungen, auch wenn der Untersuchungsgegenstand der Kulturwissenschaft im gebräuchlichen Sinn weder auf anthropologische Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen noch auf die verschiedenen Formen der materiellen Kultur zielt. 13 Ein extensiv definierter Kulturbegriff, der auch die vielfältigen Formen der Popularkultur umfasst, vermag Aufschluss zu geben über die Ausprägung kollektiver Werte, Rituale und Identifikationsfiguren in einer Gesellschaft. Und zwischen materieller und intellektuell-künstlerischer Kultur existieren zahlreiche Interferenz- und Überlappungsbereiche, wie Design, Kunsthandwerk und Gebrauchsgraphik, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend die Aufmerksamkeit des Kulturbetriebs und ihrer Institutionen gefunden haben. Die Konzeption des Centre Georges Pompidou in Paris, das 1977 eröffnet wurde und von Beginn an dem Industriedesign, der Fotographie und der zeitgenössischen Gebrauchsgraphik (wie Kinoplakate, Agitprop-Kunst etc.) große Aufmerksamkeit gewidmet hat, und des Musée de la Civilisation in Québec-Ville (1989 eröffnet) sind Beispiele hierfür. Letzteres verbindet in origineller Weise die drei eingangs definierten Kulturbegriffe zu einer übergreifenden Konzeption: Objekte der materiellen Kultur (wie vor allem Wohnkultur und Architektur) und einer sehr extensiv definierten textbezogenen, ästhetischen Kultur (vom Québecer Chanson über Fernsehserien und den Nationalsport Hockey bis zum Western-Film und zur frankokanadischen Country-Music, denen jeweils Ausstellungen gewidmet wurden) sollen auch dazu dienen, Grundstrukturen der kollektiven Wahrnehmungs- und Handlungsweisen einer Kulturgemeinschaft - der Québecer Kultur im anthropologischen Sinn - darzustellen und visuell zu veranschaulichen. 1.1.2 Medienbegriffe Medien als Bestandteile einer extensiv definierten textbezogenen, ästhetischen Kultur weisen eine zweifache Bedeutungsdimension auf: zum einen werden hierunter Medieninstitutionen (Presseorgane, Fernsehanstalten, Radiosender, Videoproduzenten) verstanden; und zum anderen Materialitäten der Kommunikation, die sich durch spezifische Zeichenvorräte (wie Schriftzeichen, bewegte oder unbewegte Bilder, Bewegungszeichen, Töne etc.) und Zeichenkombinationen (Bild/ Ton, Bild/ Schrift, Körper/ Bewegung/ mündlicher Text etc.) auszeichnen (Gumbrecht/ Pfeiffer 1988). In der Medienwissenschaft spielen beide Medienbegriffe eine Rolle, auch wenn dem zweiten Begriff hinsichtlich der Analyse von Produktion, Struktur und Wirkung von Medienangeboten, die auch in den folgenden Kapiteln im Zentrum stehen werden, ein größerer Stellenwert eingeräumt wird. Obwohl Begriffe wie kulturelle Praktiken und Medien (im Sinn von Materialitäten der Kommunikation) teilweise synonym verwendet werden, sind sie in gewisser Hinsicht komplementär und lenken den Blick auf unterschiedliche Facetten des gleichen Gegenstands: die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚kulturelle Praktiken‘ ordnen Phänomene wie ‚Literatur‘, ‚Radio‘ oder ‚Theater‘ in einen soziokulturellen Produktions- und Rezeptionszusammenhang ein, während der Begriff ‚Medien‘ und die hiermit verknüpften Begriffe und Analyseverfahren den Blick auf die 14 medialen Zeichenstrukturen selbst richtet. In den folgenden Kapiteln sollen bei der Analyse der verschiedenen kulturellen Praktiken und Medien beide Begriffe und Untersuchungsperspektiven, jeweils mit dem Schwerpunkt auf Frankreich und den frankophonen Kulturen, berücksichtigt werden. 1.2 Französische Spezifika Frankreich (und m.E. auch die frankophonen Kulturen außerhalb Frankreichs) weisen hinsichtlich der Herausbildung und sozio-kulturellen Bedeutung des text- und medienbezogenen, ästhetischen Kulturbegriffs spezifische Charakteristika auf, die vor allem in drei Bereichen liegen: - Erstens wirkt in Frankreich das Ideal von Kultur (im Allgemeinen in diesem Zusammenhang als civilisation bezeichnet) als der Gesamtheit der intellektuellen und ästhetischen Leistungen der Nation, die von großen Schriftstellern und Künstlern hervorgebracht werden, bis in die Gegenwart hinein nach. Dies zeigt sich in der weitaus größeren Bedeutung von verbindlichen kulturellen und vor allem literarischen Kanons im französischen Bildungssystem und ihrer - im Vergleich zu anderen westlichen Ländern wie Deutschland oder den USA - weitaus stärkeren Präsenz in Medien und in der Öffentlichkeit. Die Eröffnung des Panthéons in Paris im Jahre 1790, in dem die Überreste der grands hommes de la Patrie beigesetzt werden, erscheint für dieses Kulturverständnis grundlegend und symptomatisch. Unter den ‚großen Männern der Nation‘ nahmen Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler (wie Voltaire, Rousseau, Zola, Malraux und Grégoire) von Beginn an eine wichtige Rolle ein. Begräbnisse berühmter Schriftsteller wie Victor Hugo 1884 oder Jean-Paul Sartre 1980 stellen in Frankreich massenwirksame Medienereignisse dar, die durch ihre politische und soziokulturelle Dimension ein Spezifikum der französischen Kultur verkörpern. - Zweitens nimmt der Staat im kulturellen Bereich in Frankreich traditionell einen größeren Stellenwert ein. Dieser ist historisch auf die kulturpolitische Rolle des absolutistischen Staates im 17. Jahrhundert zurückzuführen, der zum Ruhm der Monarchie und zur Festigung der kulturellen und sprachlichen Einheit Frankreichs die bis heute existierenden Institutionen der Académie Française (1635) und der Comédie Française (1674) schuf, in allen Bereichen der elitären Kulturproduktion als Mäzen auftrat und das Werk von Schriftstellern wie Molière, La Fontaine und Corneille, von Komponisten wie Lully und von Architekten wie Mansart ermöglichte und nachhaltig förderte. - Drittens ist der monarchisch-aristokratische Ursprung der modernen französischen Elitenkultur und ihrer Institutionen trotz der politischen Umbrüche seit der Französischen Revolution bis in die Gegenwart hinein spürbar (Clark 1987, 192-215). Er äußert sich in der schärferen Trennung von Eliten- und Massenkulturen; in der größeren Bedeutung von Kanonisierungsinstanzen wie Akademien, Literatur- und Kulturpreisen und Kulturzeitschriften sowie von Kultursendungen 15 in den Medien, die in einer im Grunde bis in das 17. und 18. Jahrhundert zurückreichenden Tradition Autoren und Werke ästhetisch valorisieren und ihnen einen Platz im symbolischen Panthéon der großen Schriftsteller, Intellektuellen und Künstler der Nation zuweisen. Die stärkere Abschottung von Popular- und Elitenkultur und das hiermit verknüpfte ‚aristokratische‘ Bewusstsein der Existenz einer verfeinerten Lebenskultur, die alle Existenzbereiche umgreift, zeigt sich in der Literatur ebenso wie im Kunstbetrieb oder auch in dem für Frankreich charakteristischen Bereich der Esskultur. Obwohl auch in Frankreich - wenn auch in deutlich geringerem Maße als in anderen großen Industrieländern (Watson 1997) - Fast-Food-Restaurants und Tiefkühlkost seit den 60er Jahren einen wachsenden Anteil an den Essenspraktiken der Franzosen erobert haben, nimmt verfeinerte Gastronomie in der französischen Kultur weiterhin einen zentralen lebensweltlichen und symbolischen Stellenwert ein. Dieser zeigt sich in Institutionen wie der 1985 gegründeten Ecole Nationale des Arts Culinaires, im nationalen Bekanntheitsgrad und Prestige von Drei-Sterne-Restaurants und der Valorisierung der Grands Chefs cuisiniers (Götze 1999) wie Bocuse, Ducasse und Georges Blanc. Sie zeigt sich gleichfalls in der Bedeutung des Phänomens Esskultur in französischen Medien. Hier werden der Gastronomie zahlreiche Fernsehsendungen wie die Sendung Les Oignons von Raymond Oliver und Catherine Langeais in den 1960er Jahren und La Cuisine de Maïté in den 1990er Jahren gewidmet. Es existieren populäre Zeitschriften wie Elle à table und spezialisierte Periodika mit einem trotzdem relativ breiten Leserkreis wie Cuisine et vins de France und die seit 1928 bestehende Zeitschrift Revue des vins de France. Auch mehrere regelmäßige Rubriken in Tages- und Wochenzeitungen wie Le Figaro und Figaro Madame belegen den Stellenwert der kulinarischen Kultur in Frankreich. 1.3 Gattungstheorie und Gattungsgeschichte Kultur als die Gesamtheit der ästhetischen und intellektuellen Objekte, Texte und Praktiken einer - im Allgemeinen im anthropologischen Sinn definierten - Gemeinschaft lässt sich in zweifacher Weise strukturieren: zum einen in einer systematischen Dimension, die auf Ordnungskategorien beruht; und zum anderen in einer diachronischen Dimension, die auf Strukturen, Epochen und Epochenschwellen der Kultur- und Mediengeschichte zielt. Die dominierenden Kategorien der systematischen Ordnung von literarischen Texten und im erweiterten Sinn auch von Kultur- und Medienangeboten sind die Gattungen. Diese können in sehr allgemeiner Form definiert werden als ‚kognitive Schemata der Wirklichkeitserfassung‘, die in der Literaturwissenschaft traditionell in die drei Hauptgattungen (oder Textarten) Epik (erzählende Dichtung), Dramatik (szenische bzw. theatralische Dichtung) und Lyrik (Sprachbilder) ausgegliedert werden. In der literaturwissenschaftlichen Diskus- 16 sion der letzten Jahrzehnte ist als vierte Hauptgattung die Essayistik hinzugekommen, die auf einem argumentatorischen Diskurs basiert. Die Hauptgattungen der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie lassen sich in ihren Grundstrukturen auf andere, nicht-literarische Bereiche der Kulturproduktion übertragen und in ähnlicher Weise wie für den Bereich der Literatur in Form von Untergattungen ausdifferenzieren: so stellen das Hörspiel im Radio oder die aus der USamerikanischen Medienszene adaptierten Sitcoms (Situation Comedies) Sub- Gattungen mit dramatischer Struktur innerhalb des Medienbereichs dar; der Kriminalfilm (film policier) oder der Liebesfilm (film d’amour) repräsentieren audio-visuelle Äquivalente zu den literarischen Subgattungen Kriminal- und Liebesroman, die dominant narrative Strukturen aufweisen; Talkshows und die - in Frankreich weiterhin wichtigen und publikumswirksamen - Literatur- und Kultursendungen wie Bouillon de culture repräsentieren audiovisuelle Äquivalente zu argumentativen Gattungen des Literaturbereichs; Chansons und Videoclips schließlich verwenden, zumindest in ihrer Mehrzahl, poetische Grundstrukturen, die der Gattung Lyrik zuzurechnen sind. Im Bereich der Kultur- und Mediengattungen ist ebenso wie bei den literarischen Gattungen zu unterscheiden zwischen (je historisch geprägten) Gattungsbezeichnungen und Gattungsnamen (wie ‚Roman‘, ‚Epopée‘, ‚Film d’horreur‘, ‚Feuilleton‘), den von den Benutzern mit Gattungsnamen verbundenen Erwartungen (hinsichtlich Inhalt, Stil, Ablaufschema, Sprache) und der Wirkung bzw. der Funktion der Verwendung von Gattungsbezeichnungen. So weckt beispielsweise die Verwendung der Gattungsbezeichnung Romance (2000) als Titel des erotischen Skandal-Films der französischen Regisseurin Catherine Breillat gezielt falsche Erwartungen, die vom Inhalt sowie dem Stil und der Sprache des Films systematisch gegen den Strich gebürstet werden. Gattungsbezeichnungen orientieren also den Leser, Hörer oder Zuschauer zunächst in allgemeiner Weise, informieren ihn darüber, um welchen Typ von Text oder Sendung es sich handelt und prägen somit seine Rezeptionshaltung. Der Fernsehzuschauer oder Rundfunkhörer entnimmt den Ankündigungen in Programmzeitschriften, den Programmansagen der Sender und schließlich den (Unter-)Titeln der Medienangebote, die Gattungsbezeichnungen wie ‚Krimi‘, ‚Lustspiel‘, ‚Fernsehspiel‘, ‚Quiz‘, ‚Wissenschaftsmagazin‘ oder ‚émission culturelle‘ enthalten, um welchen Typ von Sendung es sich handelt. „Solche Erwartungen stimmen offenbar bei den Medienhandelnden in den verschiedenen Rollen (vom Produzenten eines Fernsehfilms etwa bis zum Fernsehkritiker) weitgehend überein und werden in der Programmpresse durch die Verbindung von allgemeinen Kennzeichnungen und für typisch gehaltenen Bildbeispielen wiederholend eingespielt“ (Schmidt/ Weischenberg 1991, 19). Die Gattungstheorie im Bereich der Medien unterscheidet aufgrund ihrer spezifischen Struktur, d.h. ihrer auditiven oder audiovisuellen Materialität und ihres jeweiligen Wirklichkeitsbezugs bzw. Realitätseffekts, neben dem Begriff Gattung die Begriffe Darstellungsformen und Berichterstattungsmuster. Unter Berichterstattungsmustern werden in der Medienwissenschaft „Gesamtstrategien 17 des Wirklichkeitsbezugs“ (Schmidt/ Weischenberg 1991, 14) verstanden und vier Typen unterschieden: - die objektive Berichterstattung als das am meisten vertretene Muster, das den Anspruch auf eine möglichst wirklichkeitsgetreue Darstellung erhebt; - der Enthüllungsjournalismus (oder ‚investigativer Journalismus‘), der die Aufdeckung von Missständen und Korruption in Staat und Gesellschaft anvisiert; - der Neue Journalismus, der häufig auf literarische Stilmittel zurückgreift, Gattungen und vor allem Textsorten wie den Essay oder den Reisebericht verwendet, die von literarischen Traditionen geprägt wurden und zwischen Literatur und Journalismus angesiedelt sind; - der Interpretative Journalismus, der neben der Aufarbeitung der ‚Fakten‘ eine Darstellung des Kontexts und des Hintergrunds anstrebt; - eine Variation des Interpretativen Journalismus stellt der Präzisionsjournalismus (auch sozialwissenschaftlicher Journalismus genannt) dar, der bei der Kontextualisierung von Fakten in möglichst präziser Form auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückzugreifen sucht. Vor allem die Berichterstattungsmuster des Neuen Journalismus und des Interpretativen Journalismus sind für Teile der französischen Medienszene charakteristisch: Journalisten wie Jean Daniel, der Herausgeber des Nouvel Observateur, die zugleich schriftstellerisch tätig sind; oder Schriftsteller, die regelmäßig journalistische Artikel veröffentlich(t)en, wie Albert Camus, Jean- Paul Sartre und Michel Tournier, sind repräsentativ für den ersten Typus. Als charakteristische Vertreter für den interpretativen oder sozialwissenschaftlichen Journalismus, die häufig selbst aus dem Universitätsmilieu stammen und als Hochschullehrer oder Forscher tätig sind oder waren, wären der Philosoph Michel Foucault zu nennen, der in den 1960er und 1970er Jahren eine Vielzahl von Beiträgen über soziale und politische Problembereiche wie Selbstmord und Kriminalität für Zeitschriften wie den Nouvel Observateur schrieb (Foucault 1996), der Semiologe Roland Barthes, der in den 1950er und 1960er Jahren seine als Buch unter dem Titel Mythologies veröffentlichten sozial- und ideologiekritischen Essays zunächst in Zeitschriften publizierte (Barthes 1957) und der Soziologe Pierre Bourdieu, der in der Presse und in den audiovisuellen Medien zu einer Vielzahl von kulturellen und sozialen Themen Stellung bezog und hierbei häufig auf eigene Forschungen zurückgriff (vgl. u.a. Bourdieu 1996, Bourdieu 1998). Unter medialen Darstellungsformen werden „unterschiedliche Möglichkeiten der Gestaltung sowie der Darbietung einzelner Medienangebote“ (Schmidt/ Weischenberg 1991, 14) verstanden. Der journalistischen Wirklichkeitskonstruktion beispielsweise liegen sechs Darstellungsformen zugrunde: Meldung und Bericht als Nachrichtendarstellungsformen, Kommentar und Glosse als Meinungsdarstellungsformen, Reportage und Feature als Unterhaltungsdarstellungsformen. Die medialen Gattungen oder Darstellungsformen lassen sich ihrem Textcharakter nach als referierende, interpretierende oder kommentierende Formen und 18 gemäß ihres medienspezifischen Vorkommens in Presse, Hörfunk und Fernsehen klassifizieren. Eine interpretative und kommentierende Darstellungsform wie der Essay findet sich beispielsweise in der Presse und im Hörfunk, aber nicht im Fernsehen; eine interpretierende und kommentierende Gattung wie der Leitartikel findet sich nur in der Presse; während Darstellungsformen wie das (Personen-)Porträt, das einen interpretierenden Stil aufweist, sich in allen drei genannten Medien findet (vgl. nachfolgend Schema 1). Schema 1: Strukturen und Medienspezifika der Darstellungsformen (nach Roloff 1982, 10) Vorkommen in Textcharakter meist Gattung Presse Hörfunk Fernsehen refer. interpr. komment. Bericht O O O O - - Bildunterschrift O - - O O - Brief O - - - O O Dokumentation O O O O - - Essay O O - - O O Feature O O O - O - Feuilleton O O - - O - Glosse O O - - O O Interview, Diskussion O O O - O O Kolumne O - - - O O Kommentar O O O - O O Leitartikel O - - - O O Magazinbeitrag - O O O O - Nachricht O O O O - - Porträt O O O - O - Pressespiegel O O O O - - Reportage O O O O O - Rezension, Kritik O O O - O O Statement O O O O O O 1.4 Kultur- und Mediengeschichte Die historische Dimension von Kultur- und Mediengeschichte betrifft eine zweifache Perspektive: diese zielt zum einen auf die Ausdifferenzierung des globalen Konzepts der ‚Kultur- und Mediengeschichte‘; und zum anderen auf Möglich- 19 keiten ihrer Periodisierung und, hiermit verknüpft, auf die Definition von Epochenschwellen und Epochenstrukturen. In systematischer Hinsicht lässt sich ‚Kultur- und Mediengeschichte‘ in vier autonome, aber zugleich eng miteinander verknüpfte historische Entwicklungsstränge ausdifferenzieren: - die Technikgeschichte der Medien, d.h. die historische Entwicklung von Medien als „technische[n] Instrumenten zur Übertragung oder Speicherung von bestimmten Botschaften oder Inhalten“ (Elsner/ Gumbrecht/ Müller/ Spangenberg 1991, 91); - die Institutionengeschichte der Medien, die die Geschichte der Medieninstitutionen umfasst, d.h. beispielsweise die Geschichte von Verlagen, Bibliotheken, Fernseh- und Rundfunkanstalten; - die Programmgeschichte der Medien, die die Inhalte und Strukturen von Mediengattungen umfasst; - die Kulturgeschichte (oder Mentalitätsgeschichte) der Medien, die auf das „Verhältnis zwischen dem gesellschaftlich dominierenden Gebrauch bestimmter Medien und den damit verbundenen Konsequenzen für die Struktur des Wissens einer Gesellschaft“ zielt: „Die Erweiterung der Mediengeschichte auf die mentalitätsgeschichtliche Dimension eröffnet eine Perspektive zur Beantwortung der Frage, warum bestimmte Medien in bestimmten historischen Gesellschaften entstanden sind und entstehen und wie sie dann das jeweilige soziale Wissen verändern“ (Elsner/ Gumbrecht/ Müller/ Spangenberg 1991, 91). Die umrissenen vier Stränge der Mediengeschichte konstituieren einen engen Zusammenhang, sind aber zugleich autonom und ungleichzeitig: so führte die Erfindung des Buchdrucks um 1450 zunächst zur Einrichtung neuer Institutionen (Druckhäuser, Verleger). Die Entwicklung neuer, für die Buchdruckkultur spezifischer Inhalte und Gattungen, wie des Essai um 1580 in Frankreich durch Montaigne oder die Entstehung der ersten Wochenzeitung 1631 mit der Gazette de France, erfolgte sukzessive und mit einiger zeitlicher Verzögerung. Die einschneidenden kulturellen und mentalen Konsequenzen entwickelte die massenhafte Verbreitung des Buchdrucks jedoch erst in verschiedenen Schüben und Entwicklungsstufen zwischen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Protestantismus und Réforme huguenotte in Frankreich) und dem Ende des 18. Jahrhunderts (Französische Revolution und Politisierung durch Flugschriften und Presseorgane) (Eisenstein 1975). Auf der Grundlage dieser Differenzierungen lassen sich für die Kultur- und Mediengeschichte Frankreichs folgende Epochen unterscheiden: - die Medienkultur des Mittelalters (10.-15. Jahrhundert): sie ist durch die Manuskriptkultur der kulturellen Eliten und die Präsenz von Mündlichkeit und visuellen Zeichen bei der breiten Masse der Analphabeten gekennzeichnet. Die geographischen und soziokulturellen Zentren der Manuskriptkultur bildeten die Klöster mit ihren Zentren in Burgund (Cluny) und der Ile-de-France, der Königshof (Ile-de-France und Loiretal) und die großen Fürstenhöfe; 20 - die Buchkultur der Frühen Neuzeit und der Frühmoderne (1450-1900), bei der sich zwei Entwicklungsphasen unterscheiden lassen: eine erste Periode der langsamen Verbreitung von Schrift- und Lesekenntnissen (von 2% um 1500 auf 30% 1789) mit einer sukzessiven Entwicklung entsprechender Medienangebote: religiöses Schrifttum und Flugschriftenliteratur (16. Jh.), Volksliteratur der Bibliothèque Bleue seit dem 17. Jahrhundert, Periodika und Volksalmanache (wie die durch Kolportagehandel weit verbreiteten Messagers Boiteux) seit der Mitte des 17. Jahrhunderts; Enzyklopädien und massenhafte Produktion von Romanen und Erzählbänden für das neue Lesepublikum des 18. Jahrhunderts. Die zweite Periode (1789-1900) ist durch ein Erreichen der Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht (1881), die Entwicklung neuer Drucktechniken (Lithographie und Rotationspresse) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und einen sprunghaften Anstieg der Zahl der großen Verlagshäuser sowie der Buch- und Zeitungsproduktion gekennzeichnet; - die multimediale Kultur der Moderne (1900-1980): durch die Erfindung und Einführung des Radios, des Films und der Institution des Kinos in Frankreich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die Einführung des Fernsehens (seit 1945) und die Ausdifferenzierung der Presselandschaft insbesondere durch die Entwicklung einer breit gefächerten Zeitschriftenlandschaft mit zahlreichen Magazinen für spezifische Interessengebiete (wie Kultur, Geschichte, Gastronomie) und segmentierte Publikumsgruppen (Jugendliche, junge Erwachsene, Frauen, Männer etc.) traten neben eine weiter expandierende Buch- und Lesekultur andere Medien, die in Frankreich jedoch stärker als in anderen Industrieländern mit dem Medium des Buchs verknüpft waren (u.a. durch die stärkere Präsenz von Literatur- und Kultursendungen im Radio und im Fernsehen); - die audiovisuelle Dominanz der Postmoderne (ab 1980): die Kultur- und Medienentwicklung seit den 1980er Jahren ist zum einen - in Frankreich ebenso wie in anderen Industrieländern - durch Kontinuitätslinien gekennzeichnet, da Buchkultur, Hörfunk, Film und Fernsehen weiterhin die dominierenden kulturellen Medien bilden. Zugleich lassen sich Brüche und Innovationsschübe feststellen: die Verbreitung computergestützter Kommunikations- und Informationssysteme, u.a. durch die Einführung und Verbreitung des Internets (seit 1992), der in Frankreich das elektronische Bildschirmtextsystem Minitel (1981) vorausging; die Stagnation der Buchproduktion und der Rückgang des Bücher- und Zeitungslesens, vor allem unter der jüngeren Generation; die Globalisierung der Medienangebote, vor allem im Filmbereich, in dem erstmals seit Mitte der 80er Jahre auch in Frankreich (mit erheblicher Verzögerung nach anderen westlichen Industriestaaten) in den Kinos US-amerikanische Filmproduktionen vor europäischen Produktionen dominieren; der Rückgang der Tagespresse, vor allem der Auflagenzahlen populärer Tageszeitungen wie France Soir und Le Parisien libéré; und schließlich die Einführung und sprunghafte Verbreitung der Videokultur, mit unterschiedlichen Techniken und sozialen Verbreitungsformen, die 21 vom konsumtiven Betrachten von Music-Videoclips über das Ausleihen von Videokassetten (das Teile des Kinomarktes absorbiert hat) bis zur Produktion eigener Videofilme mit den seit Mitte der 90er Jahre auch für ein breiteres Publikum erschwinglich gewordenen Videokameras reicht. Auch wenn sich die Medien- und Kulturentwicklung in Frankreich parallel zu der anderer großer Industrieländer vollzieht und an einem sich beschleunigenden Prozess der kulturellen Globalisierung partizipiert, so lassen sich doch signifikante französische Spezifika erkennen. Sie rechtfertigen es, von einer exception française zu sprechen. Dies belegen in erster Linie der größere soziale, politische und mentale Widerstand gegen US-amerikanische Medienangebote, vor allem in der Musik und im Film; sodann das auch in finanzieller Hinsicht deutlich prononciertere Engagement des Staates im Kultur- und Medienbereich, das u.a. den Fortbestand einer eigenständigen, international bedeutenden Filmindustrie sichert; sowie die größere Bedeutung kultureller Traditionen und Kanons, die sich in einer - im internationalen Vergleich gesehen - weit überdurchschnittlichen sozialen Wertschätzung von Literatur, Theater, Ballett und Chanson äußert. 1.5 Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis Kultur, Medien und kollektives Gedächtnis stehen in einem engen Interdependenzverhältnis. Kultur (im textbezogenen, ästhetischen Sinn) wird in Medien und Institutionen erinnert und vermag hierdurch den Stellenwert einer kanonisierten Tradition zu erhalten. Medien und Kulturinstitutionen selektieren aus der Vielzahl kultureller Praktiken, Diskurse, Texte und Objekte jene, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen sollen, einen herausragenden ästhetischen und intellektuellen Wert besitzen und ggf. der Nachwelt überliefert werden sollen. Erinnerte Kultur, die in Formen des kollektiven Gedächtnisses Eingang findet, konstituiert zugleich einen zentralen Bestandteil von Kultur im anthropologischen Sinn, indem sie Werte, Rituale, Symbole und Identifikationsfiguren (vgl. Definition oben Kap. 1.1.) tradiert, memorisiert und den Angehörigen einer Gesellschaft in massenwirksamen Medien und Institutionen (wie Schulbüchern, Literatur, Monumenten, Straßennamen etc.) vermittelt. Das kollektive Gedächtnis, das die Gesamtheit des von einer Gesellschaft aktiv Erinnerten bezeichnet, grenzt sich in zweifacher Weise ab: zum einen „in Richtung auf das, was als das ‚kommunikative‘ oder ‚Alltagsgedächtnis‘ bezeichnet wird, weil ihm die Merkmale des - in einem engeren, noch zu entwickelnden Sinne - ‚kulturellen‘ abgehen“; und zum anderen „in Richtung auf die Wissenschaft, weil ihr die Merkmale des Gedächtnisses, nämlich die Bezogenheit auf ein kollektives Selbstbild, abgehen“ (Assmann 1988, 9-10). Das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft umfasst somit zwei Komponenten: das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis. 22 Das kommunikative Gedächtnis umfasst „jene Spielarten des kollektiven Gedächtnisses, die ausschließlich auf Alltagskommunikation beruhen.“ (Assmann 1988, 10). Wie andere Formen der Alltagskommunikation ist das kommunikative Gedächtnis gekennzeichnet durch thematische Unfestgelegtheit, Unorganisiertheit, Unspezialisiertheit, Alltagsnähe sowie die Dominanz von Mündlichkeit, zu der schriftliche Formen wie Briefkommunikation und Internet sowie in den letzten Jahrzehnten in wachsendem Maße die Fotographie, Dias und privat gedrehte Videofilme hinzugetreten sind. Im Allgemeinen in Formen der mündlichen Kommunikation, des Erzählens und Kommentierens eingebunden, repräsentieren Fotoalben, Diasammlungen und Videofilme - ebenso wie auch touristische Souvenirs - wichtige Speichermedien des zeitgenössischen kommunikativen Gedächtnisses von Familien und gesellschaftlichen Gruppen (wie von Fußballvereinen, Gesangsvereinen, politischen Klubs sowie von den in Frankreich wichtigen Scouts). Das kommunikative Gedächtnis weist aufgrund seiner Funktion und seiner Medienspezifik einen beschränkten Zeithorizont auf, der in der Regel „nicht weiter zurück reicht als 80 bis (allerhöchstens) 100 Jahre, also die biblischen 3-4 Generationen und das lateinische saeculum“ (Assmann 1988, 11). Das kulturelle Gedächtnis ist im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis durch Alltagsferne gekennzeichnet. Es hat seine „Fixpunkte, sein Zeithorizont wandert nicht mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit. Diese Fixpunkte sind schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten wird.“ (Assmann 1988, 12). Das kulturelle Gedächtnis weist folgende Merkmale auf: 1. Identitätskonkretheit oder Gruppenbezogenheit: „die Gegenstände des kulturellen Gedächtnisses zeichnen sich aus durch eine Art identifikatorischer Besetztheit im positiven Sinne (‚das sind wir‘) oder im negativen Sinne (‚das ist unser Gegenteil‘)“ (Assmann 1988, 14); 2. Rekonstruktivität: das kulturelle Gedächtnis ist rekonstruktiv, d.h. in seinen Medien und Institutionen werden Ereignisse und Personen der Vergangenheit mit Bezug auf eine sich ständig wandelnde Gegenwart selektiv erinnert und rekonstruiert; 3. Geformtheit: die sprachlichen, bildlichen, audiovisuellen und rituellen Formen des kulturellen Gedächtnisses unterliegen stringenten, sich historisch wandelnden Konventionen; 4. Organisiertheit: die ‚Pflege‘ des kulturellen Gedächtnisses, ob in Form von Feier- und Gedenktagen, Monumenten oder Schulbüchern, unterliegt einerseits einer ‚institutionellen Absicherung‘, z.B. durch Zeremonialisierung; und andererseits einer „Spezialisierung der Träger des kulturellen Gedächtnisses“ (Assmann 1988, 14); 5. Verbindlichkeit: das kulturelle Gedächtnis verkörpert konsensfähige Werte, Symbole, Riten und Identifikationsfiguren einer Gruppe oder Gesellschaft (d.h. einer ‚Kultur‘ im anthropologischen Sinne). „Durch den Bezug auf ein 23 normatives Selbstbild der Gruppe ergibt sich eine klare Wertperspektive und ein Relevanzgefälle, das den kulturellen Wissensvorrat und Symbolhaushalt strukturiert. Es gibt wichtige und unwichtige, zentrale und periphere, lokale und interlokale Symbole, je nach der Funktion, die ihnen in der Produktion, Repräsentation und Reproduktion dieses Selbstbildes zukommt.“ (Assmann 1988, 14); 6. Reflexivität: das kulturelle Gedächtnis einer Gruppe oder Gesellschaft deutet Alltagspraxis (Praxis-Reflexivität), „nimmt auf sich selbst Bezug im Sinne der Auslegung, Ausgrenzung, Umdeutung, Kritik, Zensur, Kontrolle“ und ‚Überbietung‘ (Selbstreflexivität) und „es reflektiert das Selbstbild der Gruppe im Sinne von ‚Selbstthematisierungen des Gesellschaftssystems‘“ (Assmann 1988, 15). Das kulturelle Gedächtnis, seine Medien und Institutionen, nehmen in Frankreich, im Vergleich zu den meisten anderen westlichen Industriestaaten, eine überragende soziale und politische Rolle ein: diese zeigt sich in der herausragenden Bedeutung der nationalen Feiertage wie des 14. Juli, aber auch des 8. Mai und des 11. November und allgemein der Nationalsymbolik (Nora 1984-95; Lüsebrink/ Reichardt 1990; Lüsebrink/ Rüstow u.a. 1991); im Stellenwert, den erinnerte nationale Geschichte in ihren positiven, identifikatorischen Seiten (Französische Revolution, vor allem Menschenrechtserklärung und Bastillesturm 1789, Résistance etc.), aber auch in ihren negativen Dimensionen (Collaboration 1940-44, Algerienkrieg, Kolonialkriege, Massaker der Contre-Révolutionnaires 1792-96 in der Vendée etc.) in den französischen Medien einnimmt (Fernsehen, Film, spezialisierte Geschichtszeitschriften wie L’Histoire und Historama); und schließlich in der Bedeutung von Geschichte auf dem französischen Buchmarkt, auf dem historische Romane und Biographien, vor allem von nationalen Figuren und Ereignissen, die zum kulturellen Gedächtnis gehören, regelmäßig die Bestsellerlisten füllen. Dies gilt außer für Frankreich in der frankophonen Welt auch für Québec, wo die Aufarbeitung der eigenen nationalen Geschichte vor allem mit der gewonnenen politischen und kulturellen Autonomie seit den 1960er Jahren (Révolution tranquille) eine zentrale identitätsstiftende Rolle einnimmt. Populäre Geschichtswerke (wie Les Anciens Canadiens von Philippe Aubert de Gaspé, 1855), nationale Monumente und Gedenktage (wie z.B. der Québecer Nationalfeiertag zur Erinnerung an den Widerstandshelden Dollard des Ormeaux), Museen (z.B. zur Erinnerung an die gescheiterte Aufstandsbewegung der Patriotes 1837 in der Vallée du Richelieu) und nationale Symbole (wie die Nationalflagge und die devise nationale ‚Je me souviens‘, die sich auf allen Autokennzeichen findet) belegen dies. Im Gegensatz zu Frankreich, aber ähnlich wie in anderen ehemaligen Kolonien, konstituierte sich das kulturelle Gedächtnis Québecs gegen das politisch und sozial dominante kulturelle Gedächtnis einer hegemonialen Mehrheit - der anglophonen Kanadier -, deren politischer Repräsentant, Lord Durham, 1837 nach der Niederlage der aufständischen Patriotes die Frankokanadier in provokativer Weise als ein „Peuple sans littérature et sans histoire“ 24 bezeichnete. Ähnliche Konstellationen, in denen wiederum die ehemalige Kolonialmacht Frankreich die negative Gegenfolie bildet, lassen sich in allen frankophonen Ländern außerhalb Europas beobachten. Hier formte sich das kulturelle Gedächtnis der unabhängigen Staaten und Gesellschaften etwa Algeriens oder des Senegal in allen seinen Komponenten als ein kulturelles Gegen-Gedächtnis zu den Werten, Riten, Identifikationsfiguren und Symbolen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich aus. Literatur nimmt im kulturellen Gedächtnis Frankreichs, in ähnlicher Weise in Québec, einen zentralen Stellenwert ein. In weit stärkerem Maße als in anderen westlichen Gesellschaften verkörpern Schriftsteller in Frankreich und Québec das Rollenbild des Intellektuellen als einem Vermittler von kritischem Orientierungswissen und einer kollektiven Identifikationsfigur. Voltaire, Rousseau, Zola, Malraux und Sartre in Frankreich, Lionel Groulx im Québec der Zwischenkriegszeit und Gaston Miron in der Québecer Gesellschaft der Gegenwart verkörpern zugleich zentrale Werte und Symbole ihrer Kulturen. Die herausragende Rolle von literarischer Kultur und von Schriftstellern in den beiden Kulturen zeigt sich auch in ihrer Präsenz im öffentlichen Raum - beispielsweise in ihrer Häufigkeit auf Straßenschildern: der Schriftsteller Victor Hugo ist der am häufigsten genannte Name auf französischen Straßenschildern (auf der Grundlage der Auswertung aller 95 Départementshauptstädte im Jahre 1978), gefolgt von den Politikern Léon Gambetta und Jean Jaurès, die beide die Werte der französischen Republik und ihrer revolutionären Tradition verkörpern. Unter den 25 am häufigsten auftretenden Namen finden sich - neben Wissenschaftlern wie Louis Pasteur (Platz 4) und dem General Leclerc (Platz 5) noch die stattliche Zahl von acht weiteren Schriftstellern, die zum kulturellen Gedächtnis Frankreichs zählen und deren runde Geburts- und Todesjahre jeweils Anlass zu nationalen Gedenksendungen und -feierlichkeiten bieten: Voltaire (13.), Anatole France (14.), Emile Zola (16.), Molière (17.), Saint-Exupéry (20.), Lamartine (21.), Jean- Jacques Rousseau (22.) und Honoré de Balzac (25.) (Nora 1984-95). Die Straßenpläne der frankokanadischen Metropolen Québec-Ville und Montréal lesen sich bei genauerem Hinsehen ebenso wie der Métroplan von Montréal als Huldigungen auch an die großen Namen unter den Schriftstellern der Nation: Crémazie, Charlevoix, Lionel Groulx, Plamondon und Edouard Montpetit, um nur die wichtigsten zu nennen. In beiden Kulturen haben Schriftsteller in entscheidenden Umbruchperioden der nationalen Geschichte eine wichtige Rolle als Intellektuelle und Wortführer der öffentlichen Meinung eingenommen und hierdurch in entscheidendem Maße zur Herausbildung des kollektiven Selbstbildes ihrer Gesellschaften beigetragen („they articulate the definition of country that is personified by the others“, Clark 1987, 5) - und nehmen aus diesem Grunde in den Medien und Institutionen des kulturellen Gedächtnisses Frankreichs und Québecs einen herausragenden Platz ein. 25 1.6 Rezeptions- und Wirkungsdimensionen: ‚Öffentlichkeit‘, ‚kulturelles Feld‘, ‚Interkulturalität‘ und ‚Kulturtransfer‘ Kultur, im text- und medienbezogenen, ästhetischen Sinn ebenso wie in ihrer anthropologischen Bedeutungsdimension, stellt ein öffentliches und kollektives Phänomen dar, das soziale Wirkung, Verbreitung und Aneignung impliziert und eine dynamische Prozesshaftigkeit aufweist. Drei Theorieansätze, in deren Zentrum die Begriffe Öffentlichkeit, Kulturelles Feld und Interkulturalität sowie Kulturtransfer stehen, dominieren in der kulturwissenschaftlichen Diskussion, um diese Wirkungs- und Rezeptionsdimension von Kultur methodisch zu erfassen. 1.6.1 ‚Öffentlichkeit‘ Die Kategorie der Öffentlichkeit oder des öffentlichen Raums (public sphere, espace public), die vor allem der Soziologe Jürgen Habermas mit seinem grundlegenden Werk „Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft“ (1962) in die Sozial- und Kulturwissenschaften eingebracht hat, definiert sich im Gegensatz zu ‚Privatheit‘ und ‚Intimsphäre‘, aber auch zu ‚Arkanpolitik‘, d.h. zu Formen der Politik und der Regierungspraxis, die sich bewusst und gezielt von der Öffentlichkeit abschirmen. Öffentlichkeit ist somit ein „eigener, von einer privaten Sphäre geschiedener Bereich“ (Habermas 1965, 16). „‚Öffentlich‘ nennen wir Veranstaltungen, wenn sie, im Gegensatz zu geschlossenen Gesellschaften, allen zugänglich sind - so wie wir von öffentlichen Plätzen sprechen oder von öffentlichen Häusern.“ (Habermas 1965, 11). Habermas unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Typen von Öffentlichkeit: - erstens die repräsentative Öffentlichkeit, die die öffentliche Repräsentation von Herrschaft, vor allem in monarchischen, aristokratischen und autokratischen Gesellschaften bezeichnet und somit nicht eine soziale Sphäre darstellt, sondern ein Statusmerkmal. Die „Entfaltung der repräsentativen Öffentlichkeit ist an Attribute der Person geknüpft“: „an Insignien (Abzeichen, Waffen), Habitus (Kleidung, Haartracht), Gestus (Grußform, Gebärde) und Rhetorik (Form der Anrede, förmliche Rede überhaupt), mit einem Wort - an einen strengen Kodex ‚edlen‘ Verhaltens.“ (Habermas 1965, 17f.); - zweitens die bürgerliche Öffentlichkeit, die sich seit dem 18. Jahrhundert im „Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft“ (Habermas 1965, 157) entwickelt hat: sie lässt sich definieren als der Wirkungsraum der ‚öffentlichen Meinung‘ (opinion publique, public opinion), ein Begriff, der sich in Frankreich und England um die Mitte des 18. Jahrhunderts ausgebildet hat und die von 26 „Tradition und bon sens getragene Meinung des Volkes“ (Habermas 1965, 108) bezeichnet. Zur Öffentlichkeit zählen neben der ‚öffentlichen Meinung‘ die Träger und Instanzen ihrer Artikulation und Verbreitung: Wortführer wie Journalisten und Intellektuelle, Institutionen wie literarische Cafés und politische Clubs sowie Foren der öffentlichen Meinung und ihrer Kritik an Staat und Gesellschaft, wie sie in erster Linie die Medien Presse, Fernsehen und Radio sowie die Literatur darstellen; - drittens die plebiszitär-akklamative Öffentlichkeit moderner Industriegesellschaften und ihrer Medienöffentlichkeiten mit der Dominanz gesteuerter Public Relations und inszenierter Medienereignisse, in denen Grundelemente der liberalen bürgerlichen Öffentlichkeit - Kritik, Infragestellung, Räsonnement und die Diskussion konträrer Standpunkte - bis auf Restbestände und soziale Randbereiche zurückgedrängt und zum Teil aufgehoben sind: die Öffentlichkeitsarbeit sei, so Habermas, hier „darauf abgestellt, das Prestige der eigenen Position zu stärken, ohne die Kompromissmaterie selbst zum Thema einer öffentlichen Diskussion zu machen: Organisatoren und Funktionäre entfalten Repräsentation [...]. Natürlich stellt sich dadurch die repräsentative Öffentlichkeit alten Typs nicht wieder her; aber sie leiht doch einer refeudalisierten bürgerlichen Öffentlichkeit gewisse Züge [...]. Die Aura persönlich repräsentierter Autorität kehrt als ein Moment der Publizität wieder. Insofern ist die moderne Publicity der feudalen Publicness durchaus verwandt. Publicrelations beziehen sich nicht eigentlich auf public opinion, sondern auf opinion in jenem Verstande der reputation. Öffentlichkeit wird zum Hof, vor dessen Publikum sich Prestige entfalten lässt - statt in ihm Kritik.“ (Habermas 1965, 219f.). Die Kategorie der Öffentlichkeit und ihre Ausdifferenzierungen sind für das Verständnis der französischen Kultur von herausragender Bedeutung: zum einen, weil die französische Kultur (wie Habermas und in seiner Nachfolge zahlreiche Untersuchungen belegt haben, s.a. u.a. Gumbrecht/ Reichardt/ Schleich 1981) für die Entstehung und Verbreitung des Begriffs opinion publique in der Mitte des 18. Jahrhunderts (bei Autoren wie Rousseau und D’Alembert) eine zentrale Rolle gespielt hat; und zum anderen, weil die französische Gesellschaft - neben der englischen - seit dem Aufklärungszeitalter und der Französischen Revolution eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung der Instanzen, Medien und kritischen Funktionen von bürgerlicher Öffentlichkeit eingenommen hat. Ihr herausragender Stellenwert zeigt sich bis in die Gegenwart hinein in der wichtigen sozialen und politischen Bedeutung von Demonstrationen und Protesten in der französischen Gesellschaft, aber auch in der Medienpräsenz kontroverser, kritischer Diskussionen und der hiermit verbundenen Rolle des Intellektuellen. Allerdings lassen sich im zeitgenössischen Frankreich auch Tendenzen zur Herausbildung einer plebiszitär-akklamativen Medienöffentlichkeit erkennen, die durch die Einführung des Privatfernsehens Mitte der 1980er Jahre, die Entstehung multimedialer Medienkonzerne (wie Hachette und Filipacchi) und die in den 90er Jahren eingetretene Dominanz privater, kommerziell ausgerichteter 27 Rundfunk- und Fernsehsender in der französischen Medienlandschaft gefördert und beschleunigt worden sind. 1.6.2 ‚Kulturelles Feld‘ Pierre Bourdieu nimmt in seinem kultursoziologischen Ansatz eine völlig andere Blickrichtung als etwa Habermas ein, um die Produktion und Zirkulation kultureller Güter zu analysieren. Im Zentrum seines Ansatzes steht der Begriff kulturelles Feld (champ culturel), unter dem er eine kulturelle Produktions- und Rezeptionssphäre begreift, die von Machtverhältnissen bestimmt wird. Das kulturelle Feld definiert sich in Anhängigkeit zum politischen Feld (champ politique) und zum sozialen Feld (champ social) und ist selbst - je nach Medienschwerpunkt - in Sektoren aufgeteilt: das journalistische Feld (champ journalistique), das literarische Feld (champ littéraire), das künstlerische Feld (champ artistique) etc. Die entscheidenden Trennlinien - und zugleich Macht- und Einflusslinien - verlaufen jedoch, so Bourdieu, innerhalb der einzelnen Felder selbst, zwischen Massenproduktion (production de masse) und elitärer Produktion (champ de production restreinte), die sich vor allem durch ein unterschiedliches Maß an symbolischem Kapital (Ansehen, Prestige, ästhetische Wertschätzung) unterscheiden (Bourdieu 1992). Während im Bereich der Massenproduktion kulturelle Güter mit Profit und potenziell hohem ökonomischen Kapital (capital économique), aber niedrigem symbolischem Kapital verbunden sind, ist es im Bereich der elitären Produktion genau umgekehrt. Träger des Kulturbetriebs wie Rezensenten, Kulturjournalisten und Kulturpolitiker sowie Institutionen wie Akademien, Kultursendungen, Literaturpreise und Hochschulen verleihen den Produktionen des ‚champ de production restreinte‘ Aura, ästhetischen Wert und Prestige und schaffen somit die Voraussetzung für ihre Integration in Formen der kulturellen Traditionsbildung (bzw. des ‚kulturellen Gedächtnisses‘). Bourdieus Ansatz erscheint nicht nur, aber doch in besonderem Masse für die Analyse der französischen Kultur geeignet: hier spielen, wie in kaum einer anderen Kultur, zentralistische Institutionen der Konsekration kultureller Güter seit dem 17, Jahrhundert eine herausragende Rolle. Dass diese auch in der zeitgenössischen Medienkultur ihren Einfluss nicht eingebüsst haben, belegen das überragende Medienecho auf Literaturpreise wie den Prix Goncourt oder den Prix Renaudot, der Publikumserfolg anspruchsvoller Literatursendungen wie Apostrophes und Bouillon de culture, der Einfluss von Festivals wie des Festival de théâtre in Avignon (das ähnlich wie das Bourdieusche Modell eine Zweiteilung in ein ‚In-Festival‘ und ein ‚Festival-Off‘, in dem neue und unbekannte Theatergruppen auftreten, aufweist) und das breite Medienecho auf die Aufnahme eines neuen Mitglieds in die Académie Française, die immer noch - auch für innovative und progressive Intellektuelle wie Pierre Nora oder Claude Lévi-Strauss - einen herausragenden kulturellen Prestigegewinn (‚capital symbolique‘ im Sinne Bourdieus) bedeutet. 28 1.6.3 ‚Interkulturalität‘ und ‚Kulturtransfer‘ Kulturen, im anthropologischen ebenso wie im text- und medienbezogenen, ästhetischen Sinn, werden in der kulturwissenschaftlichen Diskussion der Gegenwart, anders als im Zeitalter des Nationalismus im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht mehr als abgeschottete Nationalkulturen, sondern als interkulturelle, d.h. von anderen Kulturen tiefgreifend beeinflusste, durchdrungene und beständig veränderte, dynamische Phänomene begriffen. Nationalistische Diskurse, wie sie beispielsweise Ernst Moritz Arndt in Deutschland, Maurice Barrès in Frankreich oder Lionel Groulx im frankophonen Kanada der Zwischenkriegszeit verkörpern, resultierten aus der Ablehnung interkultureller Zwischenräume, denen vor allem Phänomene wie plurikulturelle Identitäten, Leben in (oder zwischen) mehreren Kulturen und Schreiben in mehreren Sprachen zuzurechnen sind. Phänomene der kulturellen Abschottung und Verweigerung interkultureller Kommunikation stellen zugleich häufig, auch in den erwähnten Fällen, Formen des politischen Protests und der kulturellen Resistenz dar, die aus interkulturell tiefgreifend asymmetrischen Beziehungen herrühren. Die Entstehung des deutschen Nationalismus im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert - im Kontext der kulturellen und politischen sowie zeitweise auch militärischen Hegemonialstellung Frankreichs in Europa - erscheint für diese Konstellation ebenso charakteristisch wie die antikolonialistischen Bewegungen der 1930er, 1940er und 1950er Jahre im frankophonen Afrika und der Karibik, die neue, kulturell abgeschottete kollektive Identitätsmodelle wie die Négritude-Ideologie Léopold Sédar Senghors und Aimé Césaires entwarfen. Die Gegendiskurse zu den nationalistischen Konzeptionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit ihren kulturellen Grenzziehungen und Abschottungen (die auch weitreichende Konsequenzen für eine eng nationalkulturelle Auffassung von Literatur und Kultur hatten) sind nach dem Zweiten Weltkrieg in ganz unterschiedlichen, zum Teil jedoch konvergierenden Konstellationen entstanden: zum einen im Europadiskurs der 1950er Jahre als transnational orientierte politische und intellektuelle Bewegung; sodann im postkolonialen Denken, in dem Schriftsteller wie Camara Laye aus Guinea oder Yambo Ouologuem aus Mali im Zusammenhang mit ihren Exil- und Migrationserfahrungen nationalkulturelle Dichotomisierungen durchbrachen, in Frage stellten und als historisch überholte Konstruktionen betrachteten; und schließlich in der postmodernen Kulturtheorie, vor allem bei Gilles Deleuze, Félix Guattari, Jacques Derrida, Edouard Glissant und Homi Bhabha oder im Werk von Patrick Chamoiseau, in der moderne Identitäten als grundlegend plural und fragmentarisiert und kulturelle Räume als grundlegend interkulturell angesehen werden. In besonders intensiver Weise sei der Prozess der interkulturellen Kreolisierung moderner Kulturen, so Chamoiseau, in geographischen Interferenz- und Kontaktzonen wie dem Mittelmeerraum, dem karibischen Raum (zu dem auch 29 die kontinentalen Randzonen Mittelamerikas, Louisianas und Nordostbrasiliens gezählt werden) und den Inseln des Indischen Ozeans zu beobachten. Chamoiseau und seine Ko-Autoren Jean Bernabé und Raphaël Confiant sehen dies in ihrem Manifest Eloge de la créolité (1989) in einer grundlegenden ‚De- Territorialisierung‘ der für den karibischen Raum konstitutiven Kulturen begründet, die aus Europa, Asien und Afrika stammenden und auf die Antillen gebrachten Bevölkerungsgruppen ganz unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Sprache zusammengesetzt seien: Nous étions l’anticipation du contact des cultures, du monde futur qui s’annonce déjà. Nous sommes tout à la fois l’Europe, l’Afrique, nourris d’apports asiatiques, levantins, indiens, et nous relevons aussi des survivances de l’Amérique précolombienne. La Créolité c’est ‚Le monde effracté mais recomposé’, un maëlstrom de signifiés dans un seul signifiant: une Totalité. (Bernabé/ Chamoiseau/ Confiant 1989, 27) Diese Sichtweise interkultureller Interferenzräume und Kontaktzonen eröffnet auch für Europa und Nordamerika interessante Neuperspektivierungen: Teile des US-Bundesstaats Louisiana, der Atlantikprovinz New Brunswick/ Acadie und der Großraum Montréal in Kanada stellen bikulturelle und bilinguale Interferenzräume zwischen den anglophonen und frankophonen Sprach- und Kulturräumen dar; Lothringen und das Elsass bilden bilinguale und bikulturelle Kontaktzonen an den Rändern des deutschen Sprach- und Kulturraums, die seit dem Zweiten Weltkrieg zwar an interkultureller Intensität verloren, aber in den letzten Jahrzehnten eine neue politische Stützung und kulturellen Auftrieb erfahren haben. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der karibische Raum - als ein interkultureller Raum von antizipatorischer Dynamik - und nicht Europa, Afrika, Asien oder Nordamerika die ersten führenden Theoretiker postmoderner Hybriditätstheorien hervorgebracht hat: den kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz, der zu Beginn der 1940er Jahre hierfür den Begriff der Transkulturalität (Transculturación) schuf (Ortiz 1940), und den gleichfalls aus Kuba stammenden Schriftsteller und Essayisten Alejo Carpentier, der 1949 mit seinem Essay „De lo real maravilloso americano“, ursprünglich ein Nachwort zu seinem Roman El Reino de este mundo, eine Art programmatisches Manifest einer neuen interkulturellen Literatur- und Kulturtheorie formulierte. Ähnlich wie 40 Jahre später Edouard Glissant sowie die Autoren der Eloge de la Créolité sieht Carpentier in allen Kulturen tiefgreifende interkulturelle Strukturen, die ihre eigentliche Dynamik bestimmen. In besonderem Maße gelte dies für den südamerikanischen Kontinent und den karibischen Raum, deren Kulturen seit ihrer Entdeckung und Eroberung durch die europäischen Kolonialmächte grundlegend synkretistisch geprägt seien. In allen lateinamerikanischen Gesellschaften stelle die europäisch geprägte Kultur nur eine vermeintlich homogene Oberfläche dar, unter der sich eine komplexe interkulturelle Vielschichtigkeit verberge. 30 Die postkoloniale Theoriebildung hat dazu beigetragen, auch den im kolonialen Kontext entstandenen Begriff der Métissage neu zu interpretieren und zu perspektivieren. Die kulturhistorische Aufarbeitung von Phänomenen und Prozessen der Métissage im kolonialen Raum der Vergangenheit eröffnet zugleich neue Sichtweisen auf Strukturen kultureller Hegemonie der Gegenwart: beispielsweise auf die Formen der Verfremdung und des produktiven Umgangs mit okzidentaler Konsum- und Musikkultur in Afrika; auf die sehr unterschiedlichen Aneignungsweisen der materiellen Kultur anglo-amerikanischer Provenienz in Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas; und auf die - gleichfalls von der List und vom Einfallsreichtum der Unterlegenen geprägte - Aneignung der französischen Sprache und Kultur in den ‚frankophonen‘ Ländern außerhalb Europas. Kulturtransfer Anders als die Begriffe Métissage und Hybridität, die beide eine biologische Dimension aufweisen und zudem durch eine Hypothek kolonialer Verwendungsweisen geprägt sind, ist der Mitte der 1980er Jahre entstandene Begriff Kulturtransfer relativ neu (vgl. Espagne/ Werner 1988; Lüsebrink 1995, 2001). Er bezeichnet Prozesse der Übertragung und Vermittlung kultureller Artefakte (Texte, Diskurse und Medien, aber auch Praktiken und Institutionen sowie die kulturelle Dimension von Wirtschaftsgütern und Tauschobjekten) zwischen kulturellen Systemen und rückt hierbei drei Komponenten in den Blick: erstens Selektionsprozesse, die die Logik der Auswahl von Texten, Praktiken und Mediendiskursen betrifft, die in andere Sprach- und Kulturräume transferiert - beispielsweise übersetzt, kommentiert, rezensiert etc. - werden; zweitens Vermittlungsprozesse, durch die unterschiedliche Typen interkultureller Vermittler in den Blick gerückt werden: Personengruppen wie Übersetzer und Auslandskorrespondenten oder Institutionen wie Kulturinstitute, Auslandsschulen und die international ausgerichteten Abteilungen der Medien; und schließlich, drittens, Prozesse der Rezeption, zu deren Spektrum Phänomene der Nachahmung und imitativen Akkulturation ebenso gehören wie Formen der kreativen Aneignung und Transformation von kulturellen Artefakten aus anderen Sprach- und Kulturräumen. Die in sehr unterschiedlichen Formen verlaufende transkulturelle Rezeption eines Werkes wie des Theaters von Shakespeare, die von werkgetreuen Übersetzungen bis zu postkolonialen Formen der Réécriture und häretischen Aneignung (etwa in Aimé Césaires Drama Une tempête. Adaptation pour un théâtre nègre, 1966) reicht, ist ein charakteristisches Beispiel hierfür. Ein anderes Beispiel, aus dem Bereich nicht der intellektuellen Kultur, sondern der materiellen Konsumkulturen, stellen die Adaptationsformen des ästhetischen und gastronomischen Modells sowie des Marketingkonzepts von McDonald’s dar, dessen kulturellen Transfer nach Ostasien die Autoren des Bandes Golden Arches East. McDonald’s in East Asia (Watson 1997), überwiegend Ethnologen und Kulturanthropologen, analysiert haben. Kulturtransferprozesse im definier- 31 ten Sinn sind genuine Bestandteile des Kulturkontakts, von der kolonialen Eroberung über die Immigration bis zum Tourismus, und bilden die kulturelle Dimension wirtschaftlicher und politischer Austauschbeziehungen, die durch die derzeitige, neue Phase der Globalisierung eine - im Verhältnis zu den früheren Expansionsphasen der Globalisierung im 16. bis 18. und in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert - völlig neue Intensität erfahren haben. Recyclage culturel Eine ähnliche, aber zugleich anders gelagerte Form von Kulturtransfer stellen die mit dem Begriff Recyclage culturel erfassten Phänomene dar (Dionne/ Mariniello/ Moser 1996; Marowitz 1991; Micone 1996). Der Begriff zielt in erster Linie auf die ökonomischen, materiellen und technologischen Aspekte des Kulturtransfers, das heißt auf Phänomene der interkulturellen, aber auch intrakulturellen (das heißt innerhalb eines kulturellen Systems, wie eines Sprach- und Kulturraums, ablaufenden) sowie intermedialen Wiederverwendung und Transformation von kulturellen Artefakten. Hierbei spielen Formen wie Collagetechniken und Intermedialität eine zentrale Rolle. Recyclage impliziert also De-Kontextualisierung und Einbindung in völlig neue kulturelle und mediale Zusammenhänge und Verwendungsformen. Als Beispiele ließen sich aus dem Bereich der literarisch-intellektuellen Kultur die Wiederverwendung von Motiven und Erzähltechniken der mündlichen Erzählliteraturen in Schriftliteraturen, etwa im Werk der frankophonen karibischen Schriftsteller Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant, nennen; aus dem Bereich der Massenkulturen die Übertragung der Rap-Musik, die in der schwarz-amerikanischen Großstadtkultur der beginnenden 90er Jahre entstanden ist, in die Sphäre der kommerzialisierten Konsumkultur der USA sowie sprachlich differenter Kulturen wie Deutschland und Frankreich; und für den Sektor der materiellen Konsumkultur die kulturelle Wiederverwendung von Konsumabfall (wie Blechdosen und Benzinkanister) zur Herstellung neuer alltäglicher Gebrauchsgüter in Ländern Afrikas und der Karibik, von wo aus sie - aufgrund ihres ästhetischen Charakters - im Kunstmarkt Europas und Nordamerikas in den letzten Jahren teilweise den Rang (bzw. das ‚symbolische Kapital‘ und die hiermit verknüpfte Aura) als populäre Kunstobjekte erlangt haben. Transitorische Identitäten Migration, als historisches, aber auch sehr aktuelles Phänomen, stellt zweifelsohne den wichtigsten sozio-kulturellen Entstehungskontext für transitorische Identitäten dar: hybride, interkulturelle Identitätsmuster, die sich in der lebensweltlichen Auseinandersetzung mit zwei oder mehreren Kulturen situieren und sich in einem kulturellen Spannungsverhältnis ausbilden, das durch Assimilationsdruck, Nostalgie für die zurückgelassene Kultur der Kindheit und ursprüngli- 32 chen Heimat und zugleich in kritischer Distanznahme zur Exilkultur ausdrückt. André Aciman schreibt hierzu in dem Vorwort zu Letters of Transit. Reflections on Exile, Identity, Language and Loss, das den Titel „Permanent Transients“ trägt: „An accent marks the lag between two cultures, two languages, the space where you go of one identity, invent another, and end up being more than one person though never quite two. “ (Aciman 1999, 11). Transitorische interkulturelle Identitäten gründen zum einen auf einem instabilen, sich wandelnden Bewusstsein des Identitätsverlusts, der Nostalgie nach verlorener Integrität, aber auch auf einem Bewusstsein der persönlichen Bereicherung durch das Leben, Sprechen, Schreiben, Denken und Fühlen in zwei oder mehr Kulturen. Die kulturellen Verarbeitungsformen transitorischer Identitätserfahrungen sind vielfältig; es dominieren jedoch zweifelsohne autobiographische Texte und Ausdrucksformen: wie zum Beispiel der autobiographische Roman L’enfant noir (1953) des guinesischen Schriftstellers Camara Laye, in dem das Exil als Verlust und die Kindheit als Symbol verlorener kultureller Identität gesehen wird; oder der autobiographische Roman Le Figuier enchanté (1992) des frankokanadischen, aus Italien stammenden Emigrantenschriftstellers Marco Micone; oder die gleichfalls autobiographisch geprägten Filme des italo-kanadischen Filmregisseurs Paul Tana (Caffè Italia (1995); La Déroute (1997)). Interkultur und Interkulturalität Versteht man unter interkultureller Kommunikation die Formen der Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen, in Interaktionssituationen ebenso wie in Medien (Literatur, Kunst, audiovisuelle Medien), so lenken die Begriffe Interkultur oder Interkulturalität den Blick auf ihre Verlaufsformen und Konsequenzen. Die Herausgeber des Trierer Sammelbandes ‚Interkulturalität als neues Paradigma‘ definieren den Begriff und seine normative und epistemologische Dimension wie folgt: Die im postmodernen Denken entwickelte Konzeption der ‚Interkulturalität‘ strebt die Verständigung zwischen den Kulturen an. Sie stellt die normative Verabschiedung der jeweils eigenen Kultur in Frage und fordert Bereitschaft zum Dialog zwischen den Kulturen. Interkulturalität bedeutet demnach aktive Befassung mit der eigenen im Verhältnis zur fremden Kultur und umgekehrt. Interkulturelle Kommunikation gilt als eine wesentliche Voraussetzung für die friedliche Koexistenz der Kulturen. Interkulturalität erscheint somit als Modell für die Entstehung einer politisch bejahten multikulturellen Weltgemeinschaft. (Hahn/ Platz 1999, 11) Jürgen Bolten sieht den - vor allem in den Kommunikationswissenschaften statt Interkulturalität verwendeten - Begriff Interkultur als das ‚Dazwischen‘, als ‚Reaktion von Lebenswelten‘ auf symbolischer und sprachlicher Ebene (Bolten 1995). Mit linguistisch definierter Interkultur ist somit der Interaktionsprozess 33 gemeint, der zwischen Ko-Sprechern/ innen aus unterschiedlichen Kulturen abläuft. Interkulturelle Kommunikationsprozesse bilden ‚kommunikative Zwischenwelten‘ mit kulturell eigenen, neuen Konventionen heraus, die vom Regelsystem der Ausgangskulturen der Beteiligten nur in sehr begrenztem Maße abgeleitet werden können. In interkulturellen Kommunikationssituationen entwickeln die Kommunikationspartner, wie zahlreiche empirische Untersuchungen gezeigt haben, signifikant andere Sprach- und Verhaltensformen als mit Kommunikationspartnern aus der gleichen nationalen Kultur: kollektive Bilder und Handlungsannahmen über das Denken und das Kommunikationsverhalten spielen hier ebenso eine Rolle wie im Interaktionsprozess aktivierte und zugleich partiell revidierte Selbst- und Fremdbilder sowie tentatives Eingehen auf die vermuteten Kulturspezifika des Kommunikationspartners. Interkulturelle Kommunikationssituationen, zu denen, auf medialer Ebene, auch Formen des Kulturtransfers und der Übersetzung für ein fremdkulturelles Publikum zählen, weisen also spezifische, inter-kulturelle Regelhaftigkeiten auf, die, so Bernd Müller- Jacquier, eine eigene, spezifische Qualität (third culture situation) aufweisen (Müller-Jacquier 1999, 33). Humor, Satire und Ironie als intime kulturspezifische Ausdrucksqualitäten, aber auch kommunikative Phänomene wie Sprecherwechsel, die Praxis des Unterbrechens sowie die Verwendungskonventionen paralinguistischer, proxemischer und gestischer Elemente werden in interkulturellen Kommunikationssituationen von den gleichen Kommunikationspartnern anders verwendet als in intrakulturellen Interaktionen mit Angehörigen der eigenen Kultur. Interkulturen stellen somit kommunikative kulturelle Zwischenräume des Aushandelns von Ausdrucks- und Verhaltenscodes und von Bedeutungszuschreibungen dar. Sie implizieren die beständige Revision von Eigen- und Fremdattribuierungen und die Neuinterpretation von Verhaltenscodes; oder sie bringen, aufgrund von Fehlinterpretationen, aufgrund kultureller und ethnischer Essentialisierungen (‚typisch deutsch‘, ‚typisch japanisch‘) und aufgrund von Missverständnissen, interkulturelle Konflikte hervor, die - in Grenzfällen - Formen der Kommunikationsverweigerung wie Schweigen, Aggression oder Gewalt provozieren können. Das umrissene Problemfeld der Interkulturalität impliziert für eine kulturwissenschaftlich orientierte Konzeption der Fremdsprachenphilologien, wie sie die Französische Kultur- und Medienwissenschaft repräsentiert, Aporien und Herausforderungen, die mit den Begriffen epistemologisch, ethisch-normativ und pragmatisch bezeichnet werden können: In epistemologischer Hinsicht sind Kultur, Interkulturelle Kommunikation und Interkulturalität und die hiermit verknüpften Begriffsfelder (wie Métissage, Hybridisierung, Kulturtransfer) zu Zentralbegriffen der neueren Theorie- und Methodendiskussion in den Geisteswissenschaften avanciert. Sie stellen, in vielfacher Hinsicht, die geisteswissenschaftliche Antwort auf die tendenzielle Ent- Nationalisierung, De-Territorialisierung und Globalisierung der zeitgenössischen Gesellschaften und Kulturen dar. Die Konjunktur des Problemfeldes Interkulturalität hat jedoch zugleich zu einer zunehmenden Konturenlosigkeit der Begriffe 34 und Kategorien geführt, die ihre Verwendung in (kultur-)wissenschaftlichen Kontexten tendenziell in Frage stellt: Interkulturalität, ebenso wie Métissage und Hybridität, erscheinen als Signum moderner, zeitgenössischer Kultur schlechthin, eine Begriffsnivellierung, zu der auch die Autoren des kulturtheoretischen Essays Eloge de la créolité beitragen, indem sie die Vision einer zukünftigen globalen Kreolisierung (Créolisation) aller Kulturen des Planeten entwerfen, für die die karibische Welt ein erstes, seit Jahrhunderten gewachsenes soziokulturelles Laboratorium darstelle. Gegenüber der wachsenden Konturenlosigkeit von Begriffen wie Interkulturalität, Métissage und Hybridität gilt es, die wissenschaftliche Trennschärfe von Begriffen und Methoden herauszuarbeiten, die auf die kommunikative Beziehung zwischen kulturell und sprachlich differenten Systemen und ihren Angehörigen zielen. Hierzu scheinen sich weniger historisch belastete Begriffe wie Métissage und Hybridität als Begriffe und Methodenansätze wie Kulturtransfer, interkulturelle Interaktionsanalyse, interkulturelle Medienanalyse und Recyclage zu eignen. In ethisch-normativer Hinsicht stellt sich das Problem, dass Begriffe wie Interkulturalität, Métissage und Hybridität nicht nur Begriffe wissenschaftlicher Diskurse, sondern zugleich auch Identifikationsbegriffe des sozialen Diskurses sind, die eindeutig - und in häufig emphatischer Weise - positiv besetzt sind und valorisiert werden. Die Autoren eines Lexikons zum Thema Métissage sehen in dem Begriff die Verkörperung eines neuen ‚Weltbildes‘ (vision du monde) sowie eines ‚neuen Denkens‘ (nouvelle pensée) und zugleich ein Widerstandspotential gegen die Gefahren neuer identitärer Partikularismen und Nationalismen der Gegenwart (Laplantine/ Nouss 2001) Wissenschaftliche Begriffe, die zugleich soziale Identifikationsbegriffe darstellen, verlieren hierdurch jedoch nicht nur an Kontur und Präzision, da Objekt- und Metasprache verschmelzen, sondern tendieren auch dazu, die Distanz zum Untersuchungsgegenstand zu reduzieren oder aufzulösen und weniger positiv besetzte Fragestellungen - wie historische Konfliktpotenziale - auszublenden. In pragmatischer Hinsicht schließlich stellt sich für eine kultur- und medienwissenschaftliche Beschäftigung mit interkulturellen Problembereichen in einer Fremdsprachenphilologie wie in der Franko-Romanistik die Frage der Relation von Praxisbezug und Wissenschaftlichkeit. Im Zuge der Globalisierung und in Verbindung mit den hierbei auftretenden Konfliktpotentialen sind interkulturelle Fragestellungen und Problemlösungen in nahezu allen angesprochenen Bereichen von unmittelbarem ökonomischem Nutzen und gesellschaftlicher Relevanz. Dies gilt für Problemfelder wie die interkulturelle Werbeanalyse ebenso wie für das interkulturelle Management, die interkulturelle Adaptation von Übersetzungen und Medienangeboten, die Migrationsforschung und die politische Konfliktforschung, die in zunehmendem Maße auf (inter-) kulturelle Methoden und Erklärungsansätze zurückgreift. Der pragmatische Anwendungsbezug interkultureller Lehre und Forschung eröffnet zweifelsohne auch für die Fremdsprachenphilologien neue Chancen und Zukunftsperspektiven, unter der Voraussetzung, dass sie sich über ihren traditionellen Gegen- 35 standsbereich ‚Sprache und Literatur‘ hinaus öffnen und interdisziplinäre Fragestellungen und Kooperationsformen integrieren. Gegenüber den häufig sehr eng gefassten Nutzen- und Effizienzerwartungen der interkulturellen Praxis erscheint es zentral, jenen Dimensionen in der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit interkulturellen Fragestellungen Zeit und Raum zu geben, die auch zur spezifischen Fachtradition der Fremdsprachenphilologien gehören und in einer pragmatischen Sicht häufig vernachlässigt und ausgeblendet werden: zum einen der historischen Dimension; und zum anderen dem philologisch genauen Arbeiten an Texten und Diskursen, wobei für interkulturelle Fragestellungen neben der Literatur auch soziale Diskurse, Public Relations, Werbung und vor allem der Medienbereich wichtige Untersuchungsgegenstände in Lehre und Forschung darstellen. 1.7 Bibliographie Aciman, André: „Permanent transcients. Foreword.“ In: Aciman, André (Hg.): Letters of Transit. Reflections on Exile, Identity, Language, and Loss. New York, 1999, S. 7- 14. Assmann, Aleida (Hg.): Kanon und Zensur. München, 1987. 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Erst um die Jahrhundertwende erhebt die Semiotik ihre ersten Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit. 2.1.1 Einige klassische Ansätze 2.1.1.1 Die Theorien von Peirce (1839-1914) Die Semiotik ist für Peirce auf alle Gebiete des Wissens (Mathematik, Moral, Metaphysik, Optik, Chemie, Anatomie....) 1 anwendbar. Er entwickelt ein triadisches Muster, in welchem ein Representamen (das Zeichen selbst) mit einem Objekt eine Beziehung unterhält, die vom einem Bewusstsein, dem Interpretanten gedeutet wird. Das Representamen kann ebenfalls zum Zeichen werden, und die Verkettung setzt sich unendlich fort. Ein Element kann erst dann als Zeichen betrachtet werden, wenn es sich selbst in andere Zeichen umsetzen lässt. Aus der großen Vielfalt von Zeichenkategorien, die Peirce unterscheidet, lassen sich einige bis in die Gegenwart verfolgen. Dazu gehören die Dichotomie type (als virtuelle Größe) / token (als ihre kontextuelle Realisierung) und die Triade Ikon, Indiz und Symbol. Ein Ikon ergibt sich aus den essentiellen Gemeinsamkeiten, die ein Zeichen mit dem Objekt teilt (schwarzer Punkt für die Farbe schwarz); die Präsenz eines Indizes beruht auf der Beziehung, die das Zeichen zum Objekt unterhält (Fieber zu Krankheit); die Zugehörigkeit zu der 1 Eine sehr ähnliche Position wird von Morris (siehe unten) vertreten. Eco spricht von einer Anwendung auf alle Bereiche der Kultur im weitesten Sinne des Wortes (Morris 1972, 33ff.). 40 Klasse der Symbole setzt die Gesetzmäßigkeit der Zuweisung eines Zeichens zu einem bestimmten Inhalt voraus (lexikalische Bedeutung der Wörter einer Sprache). Die Theorie von Peirce liefert Grundelemente zu einer Beschreibung von Bedeutung. Die Verankerung von der Semiotik als Wissenschaft des Zeichens in der sozialen Praxis der Kommunikation erfolgt bei Saussure im Cours de linguistique générale (posthum erschienen 1916). 2.1.1.2 ‚Semiologie‘ und Zeichen bei Saussure Saussure spricht nicht von Semiotik, sondern von Semiologie. Er definiert sie als ein Teil der Sozialpsychologie. 2 Seine Überlegungen zum Thema gehen von dem System der Sprache aus, dennoch sind sie prinzipiell auf alle anderen Zeichensysteme übertragbar. Wichtig ist bei Saussure das Prinzip von der Immanenz der Zeichensysteme, deren Studium sich die Semiologie widmen soll. Diese können nur ausgehend von ihren internen Relevanzprinzipien unter Ausschluss jeglicher fremder Gesichtspunkte (z. B. ihres semantischen Gehaltes) untersucht werden. Zeichen sind, insofern ihre Verwendung auf sozialem Konsens beruht, soziale Größen. Die semiotischen Systeme sind allen Individuen einer Benutzergruppe gemeinsam (nach dem Schema: 1+1+1+1...= I, kollektives Modell) (Saussure 1984, 38). Da sich Zeichen wiederum nur durch eine Tätigkeit des Individuums konkret in wahrnehmbare Gestalten umsetzen lassen, sind sie ebenfalls individuelle Größen. Ihre Eigentümlichkeit liegt dennoch weder in der einen noch in der anderen Dimension, sondern darin, dass sich beide folgendermaßen transzendieren (Saussure 1984, 32-35): Das Zeichen verbindet eine mentale Vorstellung und die psychische Spur ihrer sensorisch wahrnehmbaren Seite. 3 Die mentale Vorstellung nennt Saussure Signifikat (signifié), die darauf verweisende sensoriell wahrnehmbare Komponente Signifikant (signifiant). 4 mentale Vorstellung "Baum" Signifikat ----------------------------- ---------- ------------sensorielle Komponente [baum] Signifikant 2 Saussure braucht eine wissenschaftliche Zeichentheorie, um der Linguistik, als Teildisziplin der Semiotik, wissenschaftlichen Status zu verleihen. 3 Der mentale Charakter des Zeichens wird uns bewusst, wenn wir uns ohne Produktion von Lauten Rede vergegenwärtigen. 4 Begriffe schon bei Quintilian nachweisbar. 41 Die Verbindung beider Teile des Zeichens beruht nicht auf einer Wesensverwandtschaft, die sich etwa aus der Natur der dargestellten Dinge ergeben müsste, sondern ist unbegründet und ohne konstitutive Anbindung an die Realität. Saussure spricht in diesem Sinne von der Arbitrarität des Zeichens. Die Zugehörigkeit zu der sozialen Gemeinschaft aller Sprecher einer Sprache entzieht das Zeichen der individuellen Willkür des Subjektes und verleiht ihm seine Stabilität: diese ergibt sich zunächst aus den Tatsachen, dass das Zeichen nicht rational steuerbar ist, dass ein Zeichensystem umfangreich und komplex, infolgedessen schwer zu verändern ist und dass seine ständige Benutzung durch eine unbegrenzte Gemeinschaft von Individuen einer Weiterentwicklung entgegenwirkt. Veränderungen, die das Zeichensystem im Laufe der Zeit treffen, beruhen auf Verschiebungen der Relation zwischen Signifikant und Signifikat und sind wie diese unbegründet. Die Verbindung von zeitlicher Stabilität und zeitgebundener Veränderung ist ein grundlegendes Prinzip der Semiologie (Saussure 1984, 98- 113). Während die Stabilität des Zeichens im Bereich des allgemeinen Zeichensystems angesiedelt ist - im Falle der Sprache im Sprachsystem -, liegt das Prinzip seiner Entwicklung in der psycho-physischen Tätigkeit der individuellen Realisierung von Zeichenketten (im Falle der Sprache im Bereich der parole 5 ). Die dort produzierte Variabilität setzt sich im Laufe ihrer Übernahme langsam durch. Insofern sind System und Praxis interdependent (Saussure 1984, 37). Das Zeichen artikuliert sich in größeren Bedeutungseinheiten gleichzeitig nach den zwei Regelsystemen, die seine beiden Komponenten regieren: den Systemen, die eine Gemeinschaft zur mentalen Darstellung der Welt verwendet, und den systemimmanenten Regeln der Zeichenverknüpfung. Saussure spricht von einer doppelten Gliederung - double articulation du langage. 6 Beide Systeme können getrennt voneinander untersucht werden. 2.1.1.3 Die Zeichentheorie des Behaviorismus Ihr wichtigster Vertreter ist der amerikanische Philosoph Morris, der den logischen Theorien von Frege, Russel und Carnap folgend, das erste semiotische Modell entwirft. Für den Behaviorismus 7 beruht die Wissenschaftlichkeit der Semiotik auf ihrer Zugehörigkeit zur menschlichen Verhaltensforschung. Das Zeichen wird von Morris als eine Reaktion der Organismen (auch tierische Organismen wie in der Zoosemiotik) auf äußerliche Reize betrachtet. Seine Theorie 5 Der Begriff parole bezeichnet die individuelle Realisierung des Codes. Zur Entwicklung des Begriffpaares langue/ parole siehe Ducrot/ Schaeffer 1995, 292 ff. 6 Eco (1972, 237ff.) spricht diesem Prinzip jede Allgemeingültigkeit ab und begrenzt seine Gültigkeit hauptsächlich auf das Sprachsystem. 7 Aus dem Englischen behaviour (Verhalten). Amerikanische Richtung der Psychologie, deren Objekt das beobachtbare Verhalten von Menschen und Tieren ist. Zu ihrer Methode gehört die Beschreibung von dem Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion. 42 ist dynamischer als diejenige Saussures, insofern es sich um eine Theorie des Zeichengebrauchs und des Zeichenverhaltens handelt. Zu den wichtigsten Begriffen, die Morris einführt, gehört die Dichotomie designatum / denotatum. Das designatum ist die Gesamtheit der relevanten Eigenschaften, die vertreten sein müssen, um von einem Organismus wahrgenommen zu werden. Ein denotatum soll eine maximale Anzahl solcher Eigenschaften aufweisen. Die Relevanz, die der Bildung von designata und denotata zugrunde liegt, wird in Bezug auf ihre Wahrnehmung durch die betreffenden Organismen definiert. Zu den wichtigen Neuerungen, die die Theorien von Morris mit sich bringen, gehört neben der Entwicklung eines Begriffssystems, das er größtenteils von Peirce übernimmt und behavioristisch umsetzt, die Unterteilung der Semiotik in drei Gebiete: Syntaktik - die Regeln, die der Kombination von Signifikanten zugrunde liegen -, Semantik - die Lehre der Bezüge, die Zeichen zu den Signifikaten und Signifikatengruppen unterhalten - und Pragmatik - die „Wissenschaft von der Beziehung der Zeichen zu ihren Interpreten“ (Peirce 1983, 52). Während die beiden ersten Begriffe, obwohl noch nicht systematisiert, bei Saussure bereits vertreten waren, ist letzterer neu: Mit dem Begriff der Pragmatik wird zum ersten Mal die Instanz des Benutzers von Zeichensystemen berücksichtigt und theoretisch erfasst. 2.1.2 Anmerkungen zu dem Ertrag des klassischen Ansatzes in der Semiotik Die Systemhaftigkeit der Beschreibung und der Wunsch nach Wissenschaftlichkeit beschreibender und analytischer Ansätze lagen den erwähnten Theorien zugrunde. Sie sollten die subjektive Interpretation und die Willkür der Standpunkte im Umgang mit Bedeutung ablösen. Das Zeichen ermöglicht die Darstellung von Realität in absentia, d. h. in Abwesenheit, unabhängig davon, ob diese nicht greifbar ist oder nie existiert hat. Dieses Prinzip liegt jeder Konstruktion von medialer Wirklichkeit zugrunde. Ausgehend von der doppelten Gliederung der bemühten Zeichensysteme lässt sich dabei die Ebene des Signifikats anhand des zutreffenden Weltwissens, und die Ebene des Signifikanten als spezifische Entfaltung der Ressourcen eines Zeichensystems erfassen. Zeichen können auf äußere Wirklichkeit aber auch auf sich selbst verweisen. 8 Im ersten Falle werden sie als transparent bezeichnet und sind mehr oder weniger denotative Vehikel. Das Zeichen entspricht dem klassischen Muster einer Form, welche auf einen Inhalt verweist: Z = S ant S é . 9 Im zweiten Fall können Zeichen - bei stilistischen , rhetorischen und Inszenierungseffekten, Kameraein- 8 Bereits bei Augustinus (389, IV, III). 9 Hier steht Z für Zeichen, S ant für Signifikant (signifiant), S é für Signifikat (signifié). 43 stellungen, die nicht zur Darstellung des Inhaltes erforderlich sind, typographische Überkodierung des Status des Schreibenden in den Printmedien - Bezug auf ihre Ganzheit (Form + Inhalt) nehmen. Dabei sind zwei Varianten möglich: a) Z = S ant (S ant S é ) S é 10 . Man bezeichnet das Zeichen als autonym. Die Potenzierung des Signifikanten und die Relativierung des Signifikaten können sich weiter fortführen: Z = S ant [S ant (S ant S é )] S é ... Autonyme Zeichen sind insofern undurchsichtig (opak), als ihre eigene Substanz immer mehr in den Vordergrund tritt und einer transparenten Wiedergabe von Realität im Weg steht. Die Kursivform des Signifikaten (S é ) bezeichnet hier die Relativität seines Gehaltes. Die Opazität kann so weit gehen, dass die Wiedergabe der Form zum primären Gegenstand wird (z. B. in der abstrakten Kunst, in der hermetischen Dichtung oder im modernen Roman). b) Z = S ant S é (S é S ant ). In diesem Fall wird das Signifikat der ersten Ebene, beladen mit den Konnotationen 11 seiner Umgebung, zum Signifikat der zweiten Ebene. Der Prozess kann sich beliebig fortsetzen Zur relativen Größe wird in diesem Fall der Signifikant: Z = S ant [S é (S é (S é S ant ))….]. Man spricht in diesem Falle von konnotativer Dichte. 12 Kombinierte Formen aus a) und b) sind ebenfalls möglich. Durch die Selbstreferentialität der angewandten sekundären Zeichensysteme wird die mediale Mitteilung auf der Basis gemeinsamer Signifikante bzw. Signifikate und Homomorphie der Realisierung zum Ikon ihrer selbst. 13 Man spricht in einem solchen Falle von dem Ikonizitätsgrad der Mitteilung. In der medialen Konstruktion überlagern sich mindestens zwei verschiedene semiotische Systeme. Zu den Systemen der primären Ebene gehören sowohl einfache Codes wie die Sprache, gemischte Kodes wie im Theater oder in der Oper, nicht semiotische Entitäten, die aufgrund ihrer Anwendung einen semiotischen Gehalt erhalten (Sottong/ Müller 1998, 122), elaboriertere Codes wie die offenen semiotischen Systeme der Beschreibung von Wirklichkeit, die durch die geschlossenen Systeme des Autors und des Mediums strukturiert werden (Rey- Debove 1997). Die Eigentümlichkeit der sekundären Codes liegt darin, dass sie teilweise uneinheitlich sind. Gemeinsame Züge, die sich aus den Ressourcen, Intentionen 10 Siehe auch das Schema von Rey-Debove (1997, E (EC). (E: expression, C: contenu)). 11 „Ein Signifikat ist ... eine Zweiermenge aus Denotat und Konnotat (D,K); die beiden Elemente dieser Zweiermenge sind Mengen von semantischen Merkmalen. Das Konnotat kann die leere Menge sein, wenn alle Benutzer des Zeichens diesem genau die gleichen semantischen Merkmale zuschreiben. Ein Zeichen, bei dem man von evtl. existierenden Konnotaten absieht und ausschließlich das Denotat im Signifikat betrachtet, nennen wir Basiszeichen. Verschiedene nicht leere Konnotate K 1 ...Kn zu einem Basiszeichen ergeben die Signifikatsvarianten S 1 ...Sn“ (Sottong/ Müller 1997, 54). 12 Todorov (1965), Iser (1972), Lotman (1977), Rey-Debove (1997), Sottong/ Müller (1998). 13 Siehe Pierce (2.1.1.1). 44 und Produktionsbedingungen eines Mediums oder aus dem Kontext einer Ideenbewegung, eines Werkes oder eines Stils ergeben, sind in der Regel von ihren Nutzern (Produzenten und Rezipienten) verinnerlicht und liefern eine noch relativ stabile Kommunikationsbasis. Werden sie wiederum als Ausgangspunkt für die Konstruktion von Text- Autoren- und Werkwelten verwendet, so tritt der Fall der beschriebenen Entfaltung der Ebenen von Signifikant und Signifikat auf und ihr Verständnis hängt von der Qualität der Konstruktion eines immanenten Zeichensystems ab. 2.2 Fortsetzung der klassischen Ansätze Trabant knüpft an Saussure an und definiert die Semiotik als „einen wohl abgegrenzten Bereich im Ensemble menschlicher Fakten“ (Trabant 1976, 54). Diese menschlichen Fakten interpretiert er als Handlungen, durch welche „einer dem anderen etwas über die Dinge mitteilt“. Zeichen sind infolgedessen Zeigehandlungen. Bei Zeigehandlungen muss wie bei allen anderen menschlichen Handlungen unter ‚aktuell vorkommendem‘ (token) und potentiellem Handlungsschema (type) unterschieden werden. Das Verstehen einer Handlung besteht darin, dass man sie dem richtigen Handlungsschema unterstellt. Zu den Zeigehandlungen gehören sowohl Vorgänge (wie das Setzen des Blinkers vor dem Abbiegen) als auch Marken als erstarrte Verweise auf einen Vorgang (Verkehrsschilder, Plakate, usw.). Ebenso wie Vorgänge vermitteln Marken Funktionen der Zeigehandlung: Symbolisierungen und Aufforderungen, Partnercharakterisierungen. Diese letzten beiden Funktionen kombinieren sich z. B. bei Werbeplakaten, die einerseits die konstante Aufforderung zum Kaufen, andererseits Partnerschaftscharakterisierungen in Bezug auf ihre Zielgruppen entwickeln müssen. Die ästhetische Handlung teilt mit den anderen Zeigehandlungen eine starke Appellfunktion, unterscheidet sich dennoch von ihnen dadurch, dass nicht ihre primäre Funktion des Zeigens auf Realität, sondern die Herstellung einer eigenen Realität überwiegt: „Ihr einziger Zweck ist die Herstellung einer dem Verstehen präsentierten menschlichen Realität, die sie selbst ist“ (Trabant 1976, 99). Sottong/ Müller übernehmen die Definition des Zeichens bei Saussure und fügen zwei Kategorien hinzu. Dies erste Kategorie ist die der Anzeichen, welche auf die Präsenz eines Zeichens hinweisen; durch ihre Identifizierung aufgrund diskreter Eigenschaften und durch ihre kognitive Weiterverarbeitung auf der Basis interiorisierter semiotischer Klassifikationen wird das Zeichen erkannt (Sottong/ Müller 1998, 42ff.). 14 Zu der zweiten Kategorie gehören die Äquizeichen, die sich als kontextabhängige Zeichen in keinem stabilen Code eingliedern 14 Hier wird das peircesche Indiz auf wahrnehmungspsychologischer Ebene erweitert. 45 lassen und weiterhin bei Wechsel des Kontextes ihre Ikonizität einbüßen (Sottong/ Müller 1998, 57ff.). Ziel der Semiotik ist für sie das Untersuchen des Funktionierens von Zeichen und Code in der menschlichen Kommunikation. Von allen erwähnten Ansätzen entwickelt der von Sottong/ Müller die soziale Komponente der Semiologie am konsequentesten. Zentral ist bei ihnen der Begriff der Semiosphäre, den sie von Lotman (1990) übernehmen und erweitern. Die Semiosphäre ist die unendliche Menge der Äußerungen, die „auf der Basis der kulturellen Möglichkeiten, Äußerungen zu produzieren, gebildet worden sind“ (Sottong/ Müller 1998, 28). Diese Menge ist strukturiert durch die auf verschiedenen Ebenen wirkenden Codes und bildet ein komplexes semiotisches Netz. Die Semiosphäre sichert die zwischenmenschliche Verständigung dadurch, dass sie die Basis für eine gemeinsame Konstruktion von Realität innerhalb einer Kultur liefert. 2.3 Der kommunikative Ansatz Während die semiotischen Theorien statische Repräsentationen von der Bedeutung liefern, bemühen sich die Theorien der Kommunikation um eine dynamische Modellisierung des Phänomens. Gemeinsame Grundstrukturen kommunikativer Vorgänge Alle Kommunikationsvorgänge können durch folgendes Grundschema dargestellt werden: Ein Sender teilt einem Empfänger etwas mit. (1) Sender Empfänger Sender und Empfänger sind durch einen materiellen Träger verbunden, den man Kanal nennt. Es kann sich dabei um Funksender und Funkempfänger, um Glasfaserkabel usw. handeln. Kanal (2) Sender Empfänger Der Kanal überträgt ein Signal: Lichtwellen, Schallwellen, terrestrische Wellen... Kanal (3) Sender Signal Empfänger Die Übertragung von Information findet erst statt, wenn Sender und Empfänger im Stande sind, das Signal mit einem eindeutigen Gehalt zu koppeln. Die Verbindung zwischen Signal und Gehalt beruht auf einer sozialen Konvention: dem 46 Code, als sozial vereinbartem Zeichenvorrat. Das (zumindest partielle) Verfügen über einen gemeinsamen Code ist eine Grundvoraussetzung der Kommunikation. Informationsverluste durch materielle Faktoren nennt man Störungen. Kanal (4) Sender Signal Empfänger (Störung) Code Um eine kommunikationsfähige Mitteilung zu werden, muss das Signal interpretiert werden. Die Übertragung der Informationsinhalte aus einer Quelle in Zeichen des Codes durch den Sender nennt sich Enkodierung. Die Rückübersetzung von den Zeichen des Codes in verwertbare Inhalte durch den Empfänger nennt sich Dekodierung. In der Enkodierung sowie in der Dekodierung überlagern sich drei simultane Prozesse: die Umsetzung von Vorstellungen in mentale Inhalte (semantische Ebene); die Wahl der in Bezug auf Bedeutung geeigneten Zeichenkombinationen (syntaktische Ebene); die materielle Konkretisierung in dem jeweiligen Zeichensystem, im Falle der Sprache die Bildung von Lautketten. Die Botschaft, die sich daraus ergibt, ist gleichzeitig in einen Kommunikationsprozess und einen Prozess der Darstellung von Wirklichkeit involviert. Die Antike (Augustinus, Quintilian) kannte diese Unterscheidung nicht. Seit dem 17. Jahrhundert wird zwischen Dingen, Ideen und Symbolen unterschieden. Die variable Gewichtung der drei Pole differenziert die philosophischen Schulen: die Erkenntnisphilosophie (Frege, Carnap, Russel, Wittgenstein...) gibt der Darstellung von Realität den Vortritt, während die idealistische Philosophie den Gedanken in den Vordergrund stellt. Für andere, wie Saussure und Watzlawick, ist die Konstruktion einer Illusion von Realität, also die Ausdruckseite vorrangig (Durand 1981, 58 ff). Die Kommunikationswissenschaft übernimmt die Begriffe der Denotation und der Konnotation. Die denotative Funktion des Zeichens dürfte in der Dekodierung der Mitteilung keine unüberwindbare Schwierigkeit bieten, insofern sie auf die innerhalb einer Kulturgemeinschaft gemeinsamen Codes zurückgreift. Die Konnotation, die sich im Bereich der parole aufgrund der Überlagerung des gemeinsamen Codes durch begleitende Elemente ihres Entstehungskontextes wie Ideologien, soziale, historische, politische aber auch emotionale Hintergründe etc. einstellt, verfestigt sich zu mehr oder weniger diffusen sekundären Codes, die ebenfalls von den Kommunikationsteilnehmern zumindest teilweise beherrscht werden müssen. 47 Kanal (5) Quelle Sender Signal Empfänger Verwertung (Störung) Code Dieses Schema entspricht dem 1948 entstandenen Modell von Shannon und Weaver. Im selben Jahr erschien das Modell von Lasswell, welches den Kommunikationsprozess ausgehend von den folgenden fünf Fragen beschrieb: Wer sagt was, wem, auf welchem Kanal und mit welcher Wirkung? (Durand 1981, 30). Beiden wird ihre Linearität und ihre Eindimensionalität vorgeworfen. Interaktive Modelle wie das von Osgood verfolgen hingegen das Ziel, Kommunikation als einen Austausch darzustellen. Der Schritt, der hier vollzogen wurde, ist die Einbeziehung der Reziprozität und die Darstellung der Kommunikation als Austausch zwischen zwei spiegelbildlichen Instanzen. Dieses Idealbild findet im Falle der kulturellen Medien und der Massenmedien nur bedingt Anwendung, da diese die Reziprozität nur indirekt und zeitversetzt zulassen. Die Rückkoppelung, die im Falle von Theater, Film, Radio, Fernsehen, Zeitung usw. stattfindet, kann nur im Nachhinein im Gesamtkontext der Rezeption verortet werden: eine Zeitung verliert an Lesern, ein Buch verkauft sich nicht, ein Film bekommt eine negative Kritik oder wird zu einem kommerziellen Misserfolg. Die Kriterien der Rezeptionsforschung sind zwar zahlreich, haben aber keine Auswirkung mehr auf die Mitteilung, die sie ausgelöst hat. Ein solcher Feedback-Effekt ist höchstens im größeren Rahmen des Werkes eines Autors, eines Regisseurs oder der Kontinuität der periodischen Erscheinung eines Printmediums vorstellbar. Eine besondere Stellung nehmen hier Radio und Fernsehen ein. Aufgrund der hohen Kosten, die ihre Produktion und ihre Verbreitung verursachen, und aufgrund des Druckes, den die Werbewirtschaft Message Encoder Interpréter Décoder Décoder Interpréter Encoder Message 48 auf die Medienanstalten ausübt, sind beide an einer schnellen Erfassung ihrer Rezeption interessiert. Dies äußert sich durch eine äußerst präzise qualitative und quantitative Auswertung der Hörerbzw. Zuschauerquoten und durch eine rapide Umsetzung auf der Ebene der Programmgestaltung. Je mehr sich die Kommunikation dem interpersonellen Bereich nähert, desto mehr tendiert die zeitliche Versetzung der Rückkoppelung in den neuen Medien gegen Null. E-Mails und Chatrooms sind dafür ein gutes Beispiel. Im Fall der Onlinepresse werden Foren eingerichtet, die den direkten Austausch zwischen Autoren und Rezipienten fördern. Es liegen dennoch keine Auswertungen ihrer Effizienz in Hinsicht auf die Anpassung der Produkte vor. Dieser Mangel an Rückkoppelung der medialen im Vergleich zu der direkten, interpersonellen Kommunikation äußert sich im Bereich der Massenmedien durch die qualitative und quantitative Entwicklung der Publikumsanalysen, deren Ergebnisse bereits in der Entstehungsphase in die Gestaltung des Produktes einfließen. Ein anderer Aspekt der Problematik muss hier erwähnt werden. Es handelt sich um die Dimension Zeit im Kommunikationsprozess. Sie wird von keinem der zitierten Modelle berücksichtigt. Durand (Durand 1981, 95ff.) unterscheidet zwischen der Entstehungsdauer und der Sendedauer einer Mitteilung. Relevant für die Errechnung ihres Streupotenzials ist ebenfalls ihre Verbreitungsgeschwindigkeit innerhalb einer bestimmten Zielgruppe. Die Dekodierungsdauer ist in den Printmedien ein ausschlaggebendes Kriterium zur Bestimmung der Länge von Leseeinheiten. Das Zeitbudget eines Individuums in Bezug auf ein Medium ist eine ebenso wichtige Kategorie wie das dafür verwendete Geldbudget für die Feststellung von Tendenzen der Mediennutzung. Die Lebensdauer der Information und die Gewährung eines freien Zuganges zum gespeicherten Material zählen zu den großen Vorzügen der neuen Medien und wirken sich ausschlaggebend auf ihre Nutzung aus. 2.4 Fazit Die Anwendung der Semiotik auf die Analyse medialer Konstruktion lässt sich auf das Jahr 1952 zurückdatieren. 15 In dem 1957 erschienenen Werk von Roland Barthes, Mythologies, wird das Selbstverständnis der Medien als bloßer Spiegel der Wirklichkeit drastisch zerrüttet: vielmehr sieht der Autor in Presseartikeln, Pressefotos, Film, Theater und Ausstellungen kodifizierte Konstrukte trügerischer Natürlichkeit, Mythen (Barthes 1957, 10ff). Die saussuresche Arbeitshypothese einer eigenständigen Untersuchung von Signifiant und Signifié und ihres Zusammenspiels in der Entstehung von Bedeutung kommt hier zum Tragen: der Bezug zwischen den so genannten Medienwirklichkeit und dem Einsatz der beteiligten Zeichensysteme wird zum ersten Mal thematisiert. 15 Siehe dazu die Analyse von Len Mastermann in Mariet/ Mastermann (1994: 33-36). 49 Mit der Aufgabe der Hypothese ihrer Transparenz zu Gunsten eines wachsenden Interesses für ihre semiotische Eigendichte wird die mediale Konstruktion zum eigenständigen Untersuchungsgegenstand. Auf diesen Standpunkt ist eine Fülle von Publikationen 16 zurückzuführen, die insofern bahnbrechend waren, als sie nun auf systematischer Grundlage beruhend, nachvollziehbare Aussagen über Tendenzen, Epochen und Kommunikationsbereiche ermöglichten. 2.5 Bibliographie Barthes, Roland: Mythologies. Paris, 1957. Bentele, Günther (Hg.): Semiotik und Massenmedien. München, 1981. 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Keine der beiden Kategorisierungen genügt, um sie von Büchern, Flugblättern und Plakaten zu unterscheiden. Die Abgrenzung erfolgte bisher in der Regel intuitiv. 1989 begründen Noelle- Neumann/ Schulz/ Wilke ihre Eigenständigkeit als Mediengruppe durch den Nachweis folgender Kriterien: „1. Publizität, also Öffentlichkeit, allgemeine Zugänglichkeit; 2. Aktualität, also auf die Gegenwart bezogen, die gegenwärtige Existenz betreffend, sie beeinflussend, neu und gegenwärtig wichtig; 3. Universalität - kein Thema ist ausgenommen; 4. Periodizität, und zwar nicht begrenzte, sondern unbegrenzte Periodizität, d. h. in regelmäßigen Abständen immer wiederkehrend...“ (Noelle-Neumann/ Schulz/ Wilke 1989, 287, kursiv im Original). Faulstich fügt ein fünftes Kriterium hinzu: die Disponibilität im Sinne von „... der freien Verfügbarkeit des Mediums nach Ort, Zeit, Lesetempo usw.“ (Balle 1997, 364). 1.1.2 Kategorisierungsvorschläge Ausgehend von diesen Kriterien lassen sich verschiedene Publikationskategorien unterscheiden. Es sei hierbei bemerkt, dass diese Unterteilung der Gruppe Printmedien pragmatischer Art ist, und sich je nach Zielsetzung und Quelle etwas verschieben kann. 54 Das Merkmal der Disponibilität ist allen Printmedien gemeinsam, schließt aber gegenwärtig die jeweiligen Online-Ausgaben der verschiedenen Titel aus, die oft außer der Verwendung von Hypertext, nichts anderes sind als eine Abbildung der Papierausgabe. 1 Hier könnte in Zukunft ein Kategorisierungsdilemma entstehen. Das Merkmal der Publizität trifft für alle öffentlichen Medien zu. Es schließt werk-, vereins-, betriebs- und parteiinterne Mitteilungsblätter aus. Ihre Kombinierung mit der Periodizität der Publikation ergibt die umfangreiche Kategorie der periodischen Presse. Dazu zählen, je nach Erscheinungsintervallen, Tages-, Wochen-, Monatszeitungen und Zeitschriften sowie regelmäßige Halbjahres- und Jahrespublikationen. Eine weitere Unterteilung ergibt sich durch die Kombinierung von Periodizität und Universalität. Sie umfasst Tageszeitungen, Informationszeitschriften (Typ Spiegel, Focus in Deutschland) und die Gruppe der Illustrierten (Typ Bunte). Einen hohen Grad an Universalität besitzt die Generalanzeigerpresse, die sich neben der Meinungspresse in ganz Europa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (herausbildete), politisch farblos, aber mit sorgfältiger Pflege des Lokalteils, um einen möglichst großen Inserentenkreis anzuziehen und damit Inserenten [...] zu gewinnen (Noelle-Neumann/ Schulz/ Wilke 1989, 301). Im Gegensatz dazu spezialisieren sich die Zeitschriften größtenteils auf ein Interessengebiet. Durch Eingrenzung der geographischen Verbreitung ergeben sich als Untergruppen für die Tagespresse die überregionalen, regionalen und lokalen Zeitungen sowie die kleinere Gruppe der lokalen Periodika 2 . Das Merkmal der Aktualität steht im umgekehrten Verhältnis zu dem der Periodizität: je lockerer die Erscheinungsintervalle, desto mehr ist die Publikation auf einen hohen Grad an Aktualität angewiesen und desto mehr greift sie auf Hintergrundinformationen und -problematiken zurück, die ihr eine ihrer Lebensdauer angemessene thematische ‚Haltbarkeit‘ sichern. Weitere relevante Faktoren in der Kategorisierung der Printmedien sind die Distributionsart (man unterscheidet zwischen Abonnements- und Straßenzeitungen, unter ihnen zwischen Morgen- und Abendzeitungen), der Schwierigkeitsgrad (Qualitätszeitungen und Boulevardzeitungen) und die Finanzierung durch ideologische Gruppen (Partei- und Kirchenblätter). Eine besondere Gruppe stellen die Anzeigenblätter dar. Sie sind bis auf die zwei ersten Merkmale den anderen Gruppen fremd, werden dennoch von der Statistik insofern berücksichtigt, als sie einen wichtigen Marktfaktor darstellen. 1 Ein zweiter Unterschied ist die Zugänglichkeit archivierter Artikel. 2 Der französische Terminus périodique bezeichnet alle Publikationskategorien außer der Tagespresse. Zur presse périodique régionale zählen zahlreiche Publikationen mit lockerer Periodizität und geringer Auflage. 55 Diese Klassifizierung lässt sich in Frankreich nachvollziehen, obwohl ihre Kriterien in der hier vorliegenden Form noch nie thematisiert worden sind. Am nächsten kommt ihr wohl die von der Werbewirtschaft geprägte Gruppierung der Publikationstypen nach ihren Ressourcen als Werbeträger (supports). Mariet (Masterman/ Mariet 1994, 108ff) unterscheidet zwischen presse professionnelle und presse d’intérêt général. Letztere unterteilt er nochmals in Periodizität (presse quotidienne bzw. périodique), geographische Verbreitung (presse locale, régionale, nationale, européenne), Grad der Universalität (presse généraliste, thématique) und Vertriebsart (gratuits). 3 Im Allgemeinen trennen die sonstigen Nomenklaturen die zwei großen Familien der presse quotidienne und der presse magazine (auch presse périodique und presse spécialisée grand public genannt; letztere Bezeichnung schließt gleich die niedrige Universalität und die Zielgruppe mit ein). Die Periodizitätsintervalle werden in Frankreich gesetzlich auf höchstens sechs Monate festgesetzt (parution biannuelle). Im Bezug auf die Universalität trennt man die Gruppen der news magazines (Typ L´Express) und der hebdomadaires d´information générale (Typ Paris Match) von den anderen Kategorien der presse périodique. Die Kategorien der Tagespresse (wöchentliche Erscheinungsfrequenz: mindestens fünf mal; Décret n. 86-616 du 12 mars 1986) und der überregionalen Tagespresse sind gesetzlich verankert: Est considéré comme national un quotidien, toutes éditions confondues, qui réalise 20 p. cent au moins de sa diffusion en dehors de ses trois principales régions de diffusion ou qui consacre de manière régulière plus de la moitié de sa surface rédactionnelle à „l´information nationale et internationale“ (Loi n. 84 837 du 23 octobre 1984, titre II, article 10, alinea 2). Weitere Unterkategorien sind die Presse quotidienne d´information politique et générale (Typ Le monde), die presse quotidienne spécialisée (Typ L´équipe, L´expansion), die presse quotidienne nationale (PQN, aufgrund ihres zentralen Erscheinungsortes auch presse parisienne genannt) und die presse quotidienne régionale (PQR). Die presse hebdomadaire régionale bildet wie in Deutschland eine relativ kleine Gruppe. 4 Im Gegensatz zu den Kategorien presse de qualité und presse populaire ist die Unterteilung nach Distributionsart nicht bekannt. Zu der presse d´opinion gehören die von Kirchen und Parteien finanzierten Blätter, während die Gruppe der gratuits (oder presse gratuite) kostenlose Informations- und Anzeigenblätter einschließt. 3 Diffusion contrôle unterscheidet zwischen Presse technique et professionnelle, presse grand public (als Oberbegriff zu presse quotidienne nationale bzw. régionale, presse hebdomadaire régionale sowie presse magazine mit allen thematischen Ausrichtungen) und presse d’Associations-Syndicats-Groupements. 4 Knapp 2% der Gesamtauflage der presse grand public (Quelle: Diffusion contrôle) 56 Die Klassifizierung der Zeitschriften basiert auf den Kriterien der thematischen Ausrichtung (Masterman/ Mariet 1994, 110; Diffusion contrôle), der Funktion und der Adressatengruppe. Ausgehend von diesen drei Kriterien unterteilt sie Balle (Balle 1997, 88-939) in drei große Familien 5 : • Presse d´échange: Sie verfolgt den Zweck, die Solidarität innerhalb einzelner Berufsgruppen zu unterstützen. Dazu gehören Fachpublikationen aller Art: Le Paysan breton, La Pomme de terre française, Revue de l’Industrie alimentaire, L’Architecture aujourd’hui, Le Monde informatique, L’Officiel des transporteurs, Le Pharmacien de France.... • Presse d´un seul public: Sie richtet sich an ein möglichst homogenes Publikum und bezweckt die Stärkung und Erhaltung dieser Homogenität. Untergruppen sind : • Presse des élites: Sie belebt die ideologische Debatte innerhalb von Meinungsgruppen, ist dennoch nicht zu verwechseln mit der Parteipresse. • Presse des femmes: Sie hat eine lange Tradition hinter sich und entspricht einem Viertel der Gesamtauflage der Zeitschriften: Elle, Marie-Claire, Marie-France, Femmes, Biba... • Presse masculine: Vogue hommes, Newlook, Playboy • Presse des enfants et des adolescents: Sie stammt aus der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Darunter differenziert sich die reine Kinderpresse nach Alter und Entwicklungsstadium (Astrapi, Pomme d’api, Je lis déjà...), während sich die Teenagerpresse mehr nach den verschiedenartigen Erwartungen der Jugendlichen orientiert (Bravo Girl, Star Club, I love english, Sciences et vie Juniors...). • Presse d’évasion : Ihr Ursprung geht ebenfalls auf die Zeit zwischen den Weltkriegen zurück. Dazu gehört die wöchentlich erscheinende Presse du Coeur (Nous deux) sowie die ‚People‘-Zeitschriften / ‚Yellow Press‘ (Gala) • Presse d´un seul sujet: Sie stellt die umfangreichste Gruppe unter den Zeitschriften dar. Dazu gehören: • Presse des militants: Sie sichert den Zusammenhalt zwischen den Anhängern ideologischer Gruppen (L’Ancien d’Algérie, Revue des polios et handicapés, Message du secours catholique, CFDT Magazine...). • Presse Littéraire et Artistique, wobei die erste Kategorie zurückgeht (Magazine littéraire, Lire, La Quinzaine littéraire), während die zweite immer mehr Leser aufweist (Archeologia, Beaux-arts magazine / Connaissance des arts...). 5 Zur Illustrierung der Publikationskategorien wurde die Titelaufstellung von Diffusion contrôle verwendet. 57 • Presse d´informations spécialisées: Dazu gehören die • Presse Economie et Finances (Capital, Challenges, Défis, Le Revenu français) • Presse Généraliste et Mode (Avantages, Biba, Bonnes Soirées, Cosmopolitain, Prima…) • Presse de la Cuisine (Cuisine et vins de France, Cuisine actuelle) • Presse Beauté et Santé (Santé magazine, Top Santé, Vital…) • Presse Auto-Moto (Auto hebdo, L’Auto journal, Moto journal) • Presse Sports (L’Équipe magazine, Cheval star, Alpinisme et randonnée, Voiles et voiliers…) • Presse Photo, Cinéma, Vidéo, B.D. et Musique (Cahiers du cinéma, Guitarist magazine, Photo, Vidéo 7…) • Presse du Voyage, de la Gastronomie et du Tourisme (Détours en France, Geo, Gault Millau magazine, Terre sauvage…) • Presse de la Chasse, de la Pêche, de la Nature et des Animaux (Le Chasseur français, Pêche pratique, Connaissance de la chasse) • Presse de la Maison, du Jardin et du Bricolage (Ma maison mon jardin, Arts et décoration, Maisons de France... ) • Presse informatique et électronique (CD loisirs, Consoles plus, Sciences et vie micro) • Presse à Sensation (France dimanche, Ici Paris, L’Écho des savanes…) • Presse de Radio-Télévision: Sie erlebt seit den sechziger Jahren einen großen Aufschwung und erweitert ständig ihr redaktionelles Angebot neben der reinen Bekanntgabe des Fernsehprogramms (Télé 7 jours, Télé Star, Télé Poche...). • Presse du Prosélytisme: Sie unterscheidet sich von der presse des militants dadurch, dass sie für bestimmte Ideen wirbt, während die erste sich an ein konstituiertes Publikum wendet. • Presse de Vulgarisation scientifique (Sciences et vie, Historia, La Recherche, Ciel et espace…). 58 1.1.3 Die technische Entwicklung 1430 - 1440 Gutenberg entwickelt die beweglichen Holzlettern 1441 Gutenberg erfindet eine Tinte, die es erlaubt, Papier beidseitig zu bedrucken 1450 - 1460 Gutenberg ersetzt die Holzlettern durch Metalllettern 1456 Die Bibel wird als erstes Buch gedruckt 1796 Senefelder entwickelt die Technik der Lithographie 1811 Koenig baut in London die erste mechanische Presse 1822 Niepce erfindet in Paris das fotochemische Gravurverfahren 1846 Der Amerikaner Hoe baut die erste Rotationspresse 1885 Mergenthaler baut in den Vereinigten Staaten die erste Linotype 1904 Rubbel erfindet in den Vereinigten Staaten das Offsetverfahren 1986 Der computergestützte Satzspiegelaufbau wird eingeführt (Desktop-Publishing) Quelle: nach Balle 1997 Vorgänger des Papierträgers waren die Tontafeln des mittleren Orients (etwa 3000 v. C.), welche, mit einer recht rudimentären Keilschrift versehen, wohl zu den ältesten Trägern von Information gehören. Funde aus der Zeit von Herodes (also etwa tausend Jahre später) zeugen von der Verbreitung politischer Äußerungen gegen den römischen Statthalter. Inzwischen hatten sich die einfachen Inschriften zu einer stabilen Lautschrift entwickelt. Die Tontafeln wurden durch haltbareren und leichter zu beschriftenden Papyrus abgelöst. Das Papier bleibt heute noch ein kostentreibender Faktor in der Herstellung der Zeitung. Wichtige Parameter sind das Gewicht und die Ergiebigkeit der Druckfläche, die ständig weiterentwickelt werden, um dem hohen Einkaufpreis entgegenzuwirken (Masterman/ Mariet 1994, 127-128). Die Handschrift blieb in Europa bis etwa zur Mitte des XV. Jahrhunderts das am meisten verbreitete Mittel zur Reproduktion von Texten (während in China das erste bedruckte Dokument auf 868 datiert ist). Man kennt die Uneinheitlichkeit der alten Manuskripte, bedingt durch die Vielfalt der Handschriften und die zahlreichen, aber individuellen Abkürzungen, die die Kopisten einsetzten, um das kostbare Papier zu sparen. Zunächst handgeschrieben - mit einer Auflage von zweibis dreihundert Exemplaren - zirkulierten zusammengefasste Informationen (nouvelles manuscrites, avvisi, relations, zeytungen genannt) zwischen Handelszentren und großen Umschlagplätzen wie Venedig, Lyon, Leipzig, Frankfurt, Mailand und Antwerpen (Messrelationen). Die Erfindung der beweglichen Lettern durch Gutenberg zwischen 1430 und 1440 und der Einsatz der damit versehenen Druckerpresse in Europa in den 59 fünfzig darauf folgenden Jahren ermöglichten eine schnellere und preiswertere Vervielfältigung und verleihen dem ganzen Bereich der Druckerzeugnisse den Namen der Herstellungstechnik: Presse. Erst mit dem Erreichen einer gewissen Periodizität erlangt die Presse im heutigen Sinne ihre Autonomie innerhalb dieser Gruppe: 1605 erscheint in Straßburg die Relation: Aller Fürnemen vnd gedenckwürdigen Historien, in Wolfenbüttel den Aviso in wöchentlicher Periodizität (Faulstich 1994, 365) und in Antwerpen die Nieuwe Tydinhen. 1631 erscheint in Paris die wöchentliche Gazette von Théophraste Renaudot; Florenz folgt 1636, Madrid 1640, Rom 1661, Sankt Petersburg 1703. Die technische Neuerung, die die Gutenbergsche Presse mit sich bringt, ist zur Genüge kommentiert worden. Weniger beachtet, dennoch nicht weniger wichtig, sind ihre Folgen für die Vereinheitlichung der Druckschrift 6 - eine wesentliche Vorbedingung für die Zirkulation von Texten - und für die Wirtschaftlichkeit der Herstellung - wiederum eine wesentliche Motivation für ihre Betreiber (Weischenberg/ Hienzsch 1994, 455ff). Die Verbreitung von Gedankengut ergibt sich dabei als natürliche Folge. Damit sind die Weichen gestellt für eine Triade, die heute noch zur Beschreibung des Mediensektors und seiner Entwicklung eingesetzt werden kann: die Konjunktur von Technik, Wirtschaft und Information als kommerzielle Ware. Die gesetzliche Regulierung dieser subversiven, weil unkontrollierbaren Tätigkeit, die als vierte Dimension die Entwicklung der Medien begleitet, ließ nicht auf sich warten: Die ersten Spuren einer Kontrolle weisen in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts nach Köln. 1486 erließ Berthold von Hennberg, Fürstbischof von Mainz, die Verordnung, eine Zensurkommission für das ganze Bistum einzurichten. Im Jahr darauf erging die erste päpstliche Bulle mit allgemeinen Richtlinien für die Handhabung der Zensur. Die erste kaiserliche Maßnahme war die Bestellung eines Generalsuperintendanten für das Bücherwesen durch Maximilian I. 1496. (Noelle-Neumann/ Schulz/ Wilke 1987, 192) Mit dem Steigen der Auflage - bedingt durch die erhöhte Druckgeschwindigkeit, das schnellere Trocknen der Tinte und nicht zuletzt die Senkung der Herstellungskosten - behauptet sich gegenüber dem Buch als Ort des Dauerhaften, eine zweckorientierte Veröffentlichungskategorie, deren Identität in der Wiedergabe aktuellen Geschehens, in ihrer Mobilität und in ihrer Kurzlebigkeit liegen: davon zeugen Bezeichnungen wie feuilles volantes, occasionnels, libelles, ebenso wie journal, das ihre Tragweite auf den Tag begrenzt, und die Ausschmückung der Titel mit Ausdrücken wie Nouvelles d´ici et d´ailleurs, Nouvelliste, Mercure, während der Terminus gazette mit ihrem preiswerten Charakter zusammen- 6 Herstellern von handgefertigten Modellen aus Gusseisen zirkulierten durch ganz Europa und verbreiteten Lettern, deren Bezeichnung (franz. Fontes/ dt. Fonts) und Namen (Garamont 1532, Baskerville 1754, später Bodoni und Italica…) noch heute zu den Standardschriften der Drucker und Computer gehören. 60 hängt 7 . Zuständig für einen universalen Stoff verbreiten die gazettiers bereits seit der Renaissance allerlei Neuigkeiten, und müssen als berufliche Eignung vor allen Dingen Opportunismus und ein feines Gehör mitbringen (Balle 1997, 73). 1680 erreicht die Auflage des Frankfurter Journals 1500 Exemplare, während man 1700 in Deutschland 170 Zeitungen und etwa 200 000 Leser vermutet (Faulstich 1994, 365). Die Bezeichnung „Zeitung“, frühnd. Zidunge ‚Kunde, Botschaft‘, mnhdt. tidinge ‚Botschaft, Nachricht‘ (Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1997) entspricht dem französischen nouvelle. Das ‚Wertgefälle‘, das die Presse zu jener Zeit vom Buch unterscheidet, setzt sich in den folgenden Jahrhunderten fort: die publizistische Tätigkeit namhafter Schriftsteller wie Balzac, Zola oder Fontane zählt zu ihrem Broterwerb, die veröffentlichten Bücher zu ihrem Lebenswerk. Eine derartige Einschätzung im Lichte der Zielsetzungen seiner Vorgänger lässt sich immer wieder beobachten, wenn ein neues Medium den Markt erobert. Sie zeugt vor allem von der Langsamkeit seiner kulturellen Integrierung. Fünfhundert Jahre später erhebt eine französische Verordnung die schnelle Erfassung eines universalen Inhaltes und die Zeitgebundenheit des Erzeugnisses - materialisiert durch tägliche Periodizität und Verwendung von preiswertem Zeitungspapier - zum unerlässlichen Werkzeug der demokratischen Debatte, indem es die Gewährung von staatlichen Hilfen an gefährdete Tageszeitungen daran bindet (Décret n. 86-616 du 12 mars 1986). Der zweite Einschnitt in der Entwicklung der Printmedien ist die Erfindung des Rotationsdrucks, d. h. die Möglichkeit, zu einer Zeit steigender Alphabetisierung die Zeitung nicht mehr nur für die gebildeten Eliten, sondern auch für den ‚kleinen Mann‘ zugänglich zu machen. Es ist die Zeit der Massenblätter: Sie kosten einen Penny in England, einen Cent in Amerika, einen Sou in Frankreich und heißen Pfennig-Magazin, Le petit journal, Le petit parisien. Die zwei letzten überschreiten bereits 1895 die Millionenauflage. 1911, mitten im ‚Goldenen Zeitalter der Presse‘, erlaubt die Entdeckung des Offset-Verfahrens eine zusätzliche Steigerung der Produktivität, indem sie durch größere Automatisierungsmöglichkeiten und schneller trocknende Tintenqualitäten die Kosten senkt und die Qualität verbessert. 8 Aus diesen Gründen ist das Offset heute noch ein bevorzugtes Verfahren bei der Herstellung von Tageszeitungen. Der computergestützte Satzspiegelaufbau (Desktop-Publishing) stellt in den letzten Jahrzehnten nicht nur eine Rationalisierungsmaßnahme im Presseunternehmen dar, sondern auch einen entscheidenden Schritt in Richtung erhöhter Flexibilität des Mediums. Indem er einen späteren Redaktionsschluss erlaubt, 7 Gazette stammt aus dem Italienischen gazzetta, selbst eine Entlehnung aus gazza (kleines Geldstück im Venezianischen, vgl. Jeanneney 1996, 25); der Autor verweist auf die Homonymie mit gazzetta als Verkleinerungsform von gazza (Elster, also wie canard, z.B. im canard enchaîné, ein schwatzhafter Vogel). 8 Zur ausführlichen Darstellung dieser Techniken siehe Böhringer/ Büler/ Schlaich/ Ziegler 2000; zu ihrer Anwendung in Frankreich siehe Mariet 1994, 124 ff. 61 verringert er die Distanz zu den neueren Medien im Hinblick auf die Erfassung von Information. Die fortschreitende Automatisierung des Publikationsvorganges, der Informationsbeschaffung (via Internet und Datenbanken) und des Rückgriffs auf archiviertes Material haben außerdem Auswirkungen auf die redaktionelle Tätigkeit, auf die Kosten der Informationsverarbeitung sowie auf die Unternehmensstruktur, die sich unvermeidlich auf die Herstellungsmodalität und auf den Preis der Information als Ware auswirken. Die Online-Zeitung konkretisiert die endgültige Befreiung von den Grenzen des Papierträgers. Ihr Vorteil liegt einerseits in der Handhabung der Informationsübertragung, die sich dem Fluss der Ereignisse anpassen kann. Dank der Flexibilität des Hypertextes bietet sie andererseits eine potentiell größere Interaktivität. Sie verfügt über Möglichkeiten der Kopplung von Aktualität und Archiv sowie von Bild-, Ton- und Textmaterial und erlaubt eine beliebige Lenkung des Schreib- und Leseprozesses. 9 Dazu Olga Ruiz: Dans le contexte de la crise de la presse écrite, l'avènement d'Internet et des journaux électroniques ne représente pas une solution de rechange, mais offre un prolongement des moyens d'information traditionnels. Le passage de l'écrit à l'écran ne signe pas la fin de l'imprimé, mais, en revanche, permet d'explorer d'autres outils d'expression. La presse en ligne, qui bénéficie d'un mode de production et de diffusion extrêmement souple, invente de nouvelles formes d'écriture et d'interprétation du monde en proposant différents niveaux de lecture, grâce notamment au lien hypertexte. Le contenu et la façon de le valoriser, soit en offrant un choix personnalisé au lecteur, soit en ajoutant à l'analyse des faits des compléments documentaires, sont des éléments déterminants du succès de ce média. (Ruiz 1997, 30) Die Erfahrung zeigt bisher, dass die Online-Presse, trotz guter Akzeptanz, noch keinen Ersatz für die traditionelle Presse bietet. Eine Erklärung könnte in der schnelleren Ermüdung, die die Lektüre am Bildschirm bewirkt, sowie in der Abhängigkeit von einer noch umständlichen und nicht universal zugänglichen Apparatur - also in dem Verlust an Disponibilität - gefunden werden. Nicht von der Hand zu weisen ist ebenfalls die Tatsache, dass die jahrhundertelange Auseinandersetzung mit den begrenzten Ressourcen des Papierträgers die Identität des Mediendiskurses so sehr geprägt hat, dass er in seiner althergebrachten gedruckten Form immer noch den höchsten Grad an symbolischer Kraft besitzt. 1.1.4 Grenzen und Ressourcen des materiellen Trägers Diese Auseinandersetzung bedeutet nicht nur Anpassung im Sinne von Einschränkung, sondern geht unter Umständen von der Integrierung der materiellen 9 Die Linearität von Erfassung und Dekodierung des Stoffes bleibt dabei weitgehend unangetastet. 62 Befangenheit bis zu ihrer Umkehrung in positive Merkmale, sowohl was das Layout als auch was die Konstruktion von Realität angeht. Die These von der Identität von Medium und Botschaft wurde schon 1964 von McLuhan formuliert. Weischenberg/ Hienzsch verweisen ebenfalls auf den Zusammenhang zwischen Techniken und Konstruktion von medialer Wirklichkeit, bemängeln dennoch das Fehlen konkreter Untersuchungen auf dem Gebiet. Auf der Suche nach Anknüpfungspunkten zu existierenden Mediengeschichten, die eine solche Korrelation erhellen könnten, nennen Elsner/ Gumbrecht/ Müller/ Spangenberg Technik-, Institutions-, Kultur- und Programmgeschichte der Medien (Elsner/ Gumbrecht/ Müller/ Spangenberg 1994, 166-67): Die Entwicklung hat gezeigt, dass die Technik im Dienste menschlichen Handelns ihren rein instrumentellen Bereich übersteigt und dass die Einführung neuer Technologien (Linotype, Rotative, Desktop-Publishing) den Produktionsablauf und damit auch das Funktionieren der Medieneinrichtung verändern kann. Die Relevanz der Programmgeschichte (d. h. der Inhalte, die ein Medium verbreitet) lässt sich anhand von privilegierten Bereichen der verschiedenen Medien illustrieren: Um ihre Marktanteile zu sichern reagierten die Zeitungsverleger in den sechziger Jahren mit dem spektakulären Boom der illustrierten Presse. Zur selben Zeit bildete der Aufstieg der News eine vergleichbare Antwort auf die wachsende Bedeutung der politischen Debatten und Magazine auf dem Bildschirm. Diese Hypothese wird sowohl von Balle (1997) als auch von Desbarrats (1987) vertreten. Neben der erwähnten zeitlichen Übereinstimmung können folgende Aspekte ebenfalls in ihrem Sinne angeführt werden: - Durch die Involvierung in einem breiten sozialen Umfeld üben die Medien eine Integrationsfunktion aus, die auf einem Austausch zwischen ihren Teilsystemen und den Systemen von Politik, Wirtschaft, Sozialstrukturen und Kultur beruht (struktur-funktionalistische Theorie von Parsons (1951)). Die Rolle, die sie in der Entwicklung dieser Bereiche spielt, hängt mit den Ressourcen ihres Trägers und mit der Glaubwürdigkeit, die sie sich damit erringen konnte, zusammen: Hintergrundinformationen zu brisanten Themen des Soziallebens, wirtschaftliche Analyse, politischer Kommentar, Buch-, Film- und Theaterkritik gehören weiterhin zu den privilegierten Gebieten der Printmedien. - Die Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften ist aufgrund ihrer Disponibilität tief im Lebensrhythmus ihrer Leser verwurzelt: Die Handlichkeit ihres Trägers verleiht ihnen eine beträchtliche zeitliche und räumliche Flexibilität im Gegensatz zu Fernsehen und Internet. Ihre Nutzung korreliert mit den Parametern von Ort (zu Hause, bei der Arbeit, in den öffentlichen Verkehrsmitteln...), Zeit (beim Frühstück, auf dem Weg zur Arbeit, am Abend...), Häufigkeit (täglich, am Wochenende...), Stand der Information zum Zeitpunkt des Konsums (vor oder nach dem Frühstücksfernsehen und den Frühnachrichten, nach dem Abendjournal...). Diese Variablen wirken sich nicht nur auf Format und Kategorie von Zeitungen und Zeitschriften aus, sondern auch auf die Modalität der Informationsverarbeitung. 63 - Die Verwendung der Druckschrift trägt zur Spezifizität der Konstruktion und Vermittlung von Wirklichkeit bei. Die schriftliche Abfassung der Inhalte verfängt sie zwangsweise in einer Linearität, die sich auf Informationsverteilung und -wahrnehmung auswirkt. - Die räumliche und typographische Nutzung der Druckfläche hängt in Tageszeitungen mit vier Parametern zusammen: die kulturell bedingte Bewegung der Augen von oben links nach unten rechts in den abendländischen Gesellschaften; die Prägnanz der Information in der aktuellen Medienlandschaft; die spezifische Prägnanz, welche die Redaktion ihr verleiht; das Statut des Sprechaktes und des Schreibenden: Information, Kommentar, Kolumne, Leitartikel...; die Funktion des Textteils: Schlagzeile, Vorspann, Unter- oder Zwischentitel, laufender Text oder Zitat. Diese Funktionen überlagern sich auf der bedruckten Seite zu einem ökonomischen sekundären Zeichensystem. Dieses korreliert weiterhin entsprechend der Funktion des Segmentes mit kognitiven Schemata, die den Leseakt steuern. Diese Schemata verkürzen den Weg der Wahrnehmung, indem sie die Identifizierung der Sprechhandlung, ihrer Absicht und ihres Verlaufs lenken. Einmal interiorisiert werden sie intuitiv eingesetzt. Es lässt sich feststellen, dass sie, einmal im Rahmen der Printmedien entwickelt, als Elemente der Medienkommunikation schlechthin fungieren. Dazu gehören ebenfalls redaktionelle Elemente wie die Staffelung der inhaltlichen Komponenten der Nachricht nach abnehmender Wichtigkeit infolge des allmählichen Nachlassens der Lesekraft. Diese Mittel sind Konstanten, die heute von der Online-Presse fast unverändert weitergenutzt und von den audiovisuellen und oralen Medien durch Stimmwechsel und intonatorische Modulierung fortgeführt werden. Andere Aspekte der Materialität wie die Periodizität, die Lebensdauer des Trägers und die Produktionszeit stellen die Weichen für die Modalitäten der Informationsverarbeitung und tragen ausschlaggebend zur Positionierung der Presse im intermedialen Wettbewerb bei: der fortschreitende Rückzug auf Analyse und Hintergrundinformation gegenüber der Unmittelbarkeit, aber auch der Vergänglichkeit der audiovisuellen Medien, die allmähliche Vermischung von implizitem Kommentar und Information in den Ländern, in denen infolge des Austragungssystems die Tageszeitungen spät auf den Markt kommen, die Anpassung von Selektion und Verarbeitung der Information zu den Erscheinungsrhythmen und zu den Nutzungszeiten gehören zu den Charakteristika der Presse. In dem Ausbau dieser Spezifizitäten sehen viele Beobachter den Weg zu ihrer Behauptung gegenüber den in puncto Informationsübertragung, psychologischer Unmittelbarkeit und Passivität der Berieselung überlegenen audiovisuellen Medien. Die Gebundenheit an den Papierträger und die Bemühung um Erweiterung seiner Kapazität sollte als ein positives Kapitel in der Geschichte der Printmedien betrachtet werden: Sie ist verantwortlich für eine Form der Auseinandersetzung mit dem täglichen Hereinbrechen aktueller Ereignisse und ihrer Verarbei- 64 tung, indem sie der Massenausrichtung und unflexiblen Nutzung der audiovisuellen Presse die Integrierungskraft der Wiederholung in den gewohnten Kategorien einer vertrauten Zeitung entgegensetzt. Desbarrat spricht hier von Psalmodierung und meint damit die Fähigkeit der Printmedien, die mentale Integrierung des Neuen und Bedrohlichen durch Wiederholung in abweichender Form zu unterstützen (Desbarrats 1987; Dernbach 1998). 1.1.5 Funktion der Presse 1.1.5.1 Das Erbe der Aufklärung Die Presse gehört zu den ältesten Medien. Deshalb sind ältere Definitionen ihrer Funktion auf das zugeschnitten, was man unter Presse im traditionellen Sinne versteht. Dies trifft insbesondere für ihre institutionalisierte Funktion zu. In historischer Sicht ist das Zuweisen einer Funktion an das Druckwesen ein Produkt der Aufklärung: die gesamte publizistische Tätigkeit wird in Verbindung mit der freien Äußerung und Verbreitung von Gedankengut gesetzt, wie sie Artikel XI der französischen Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789 definiert: La libre communication des pensées et des opinions est un des droits les plus précieux de l'homme: tout citoyen peut donc parler, écrire, imprimer librement, sauf à répondre de l´abus de cette liberté dans les cas déterminés par la loi. Diese Forderung steht im Vordergrund in dem Kampf um die Pressefreiheit und um die Abschaffung der Zensur und findet ihre positive Anwendung in den zwei Gründungsakten der modernen Presse: im Reichspreßgesetz von 1871, dessen zwei ersten Sätze lauten: „Die Presse ist frei. Die Zensur ist abgeschafft“, sowie, noch genauer auf die Printmedien bezogen, in der Loi sur la presse von 1881: „L´imprimerie et la librairie sont libres“. Die Prinzipien der Pluralität der Stimmen und des Kampfes der Meinungen als Hoffnungsträger für den Sieg der Vernunft sowie die Herausstellung der kohäsiven Kraft der öffentlichen Meinung als Summe aufgeklärter Positionen sind ebenfalls Erben der Aufklärung (Meyn 1985, 1). Czajka spricht von der Presse als ‚Wortführerin der Öffentlichkeit‘, ‚Sprachrohr der öffentlichen Meinung‘, ‚Faktor der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung‘ (Czajka 1968, 78, 85). Diese Auffassung ist in Deutschland in der Mehrzahl der Pressegesetze der Länder sowie in wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vertreten (siehe insbesondere das Spiegel-Urteil vom 5. August 1966). Sie geht ebenfalls in Frankreich aus verschiedenen Entscheidungen des Conseil Constitutionnel hervor (Décision 84-181 DC, 10/ 11. Oktober 1984; Décision 86-210 DC vom 29. Juli 1986) und bildet die Grundlage der ordonnances von 1944, des Gesetzes von 1984 „Loi sur le pluralisme et la transparence des organes de presse“ und seiner Novellierung 1986. 65 Die Aura, die von den Prinzipien der Aufklärung ausgeht, hat die Entwicklung der Printmedien begleitet und ihnen eine symbolische Macht verliehen. Nach Charaudeau (Charaudeau 1997, 4) ist die Nutzfunktion der Presse begrenzt, während ihre symbolische Funktion allgegenwärtig ist. 1.1.5.2 Die funktionalen Theorien Verschiedene Theorien von der sozialen Verantwortlichkeit der Medien werden nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. Sie sind durch die Vereinnahmung des Pressewesens durch das Großkapital in der Vorkriegszeit und durch die Mobilmachung der europäischen Staaten gegen die Propaganda, die in den Anfängen des kalten Krieges in den Informationsmedien herrscht, geprägt. Sie sind in Frankreich bereits im Geist der Notgesetzgebung von 1944 zu erkennen, die im Zeichen der Enthebung der Presse aus dem Einflussbereich des Großkapitals, der Verpflichtung der Medien zur Transparenz ihrer Finanzierung und der Unterbindung von Pressekonzentration und damit von Meinungsmonopolen steht. Sie finden ihren ausgereiften Ausdruck in der Erklärung der Menschenrechte durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen (Déclaration Universelle des Droits de l’Homme) vom 10. Dezember 1948, die zum ersten Mal die Perspektive umkehrt und vom allgemeinen Recht des Einzelnen auf objektive und verständliche Information ausgeht und die moralische und soziale Verantwortung der Journalisten betont. Diese Position wird 1963 in der Enzyklika Pacem in Terris vom Vatikan bekräftigt (Balle 1997, 250 ff). Nach Lamizet ist der Platz der Medien die Agora, Markt und öffentlicher Platz der griechischen Städte der Antike, den er hier als den Raum der Auseinandersetzung und der Konkurrenz definiert. In der modernen Agora haben die Medien eine Mittlerrolle. Sie besteht in der Eröffnung von Kommunikationsräumen, die allen zugänglich sind. Die Medien partizipieren dadurch an der Konstruktion des öffentlichen Raumes. Die Rolle des Journalisten wird folgendermaßen definiert: Le journaliste est la figure la plus connue de la médiation. Il énonce le discours des médias, soit : des organes qui produisent et qui diffusent l´information auprès des partenaires qui font partie de la communauté. Les journalistes concourent, en ce sens, à l´instauration d´une idéologie, à l´instauration et à la diffusion de modèles de représentation du politique et de l´institutionnel au nom de quoi les sujets membres de la communauté exercent la pratique politique par laquelle ils adviennent au statut d´acteurs du champ institutionnel et politique. (Lamizet 1992, 187) Die Ideale der Aufklärung sind hier noch sichtbar. Ebenso in den Äußerungen von Wolton, der in der Konstitution des öffentlichen Raumes durch die Medien die Charakterzüge der Demokratie erkennt, nämlich die Valorisierung der Menge als Ergänzung zum Prinzip der Freiheit (Balle 1997, 381). 66 Bertrand spricht nicht von Mittlern, sondern von Kommunikationsagenten. Der Journalist ist nur ein Kommunikationsagent unter anderen. Zu der Kategorie gehören außerdem die Eigentümer von Medien, die Werbebranche, die Techniker, die Nutzer und die Politiker. Die Funktion der Presse besteht darin, Information zirkulieren zu lassen, die politische Klasse zu beaufsichtigen und ihre Fehler zu denunzieren, die Relevanz in der medialen Konstruktion von Realität festzusetzen, Kultur zu vermitteln, als Forum zu dienen, zum Kauf zu motivieren und zu unterhalten (Bertrand 1995, 30-31). 1.2 Kurzer geschichtlicher Abriss 1631 Renaudot gründet La Gazette (erste französische Wochenzeitung) 1665 Gründung des Journal des savants (erster Nachweis der Bezeichnung Journal) 1672 Gründung von Le Mercure Galant in Paris (erste literarische Zeitung der Welt) 1777 Gründung des Journal de Paris (erste französische Tageszeitung) 1789 Erste tägliche Berichterstattung aus der Assemblée Constituante: Le Patriote Français 1831 Finanzierung durch Werbeanzeigen: Le Journal des connaissances utiles 1843 Gründung von L’Illustration (erste Illustrierte) 1863 Gründung des Petit Journal zu 5 centimes (1 sou) 1883 Erste Fotoillustrierte: L’Excelsior 1891 Gründung der ersten französischen Sportzeitung Le Vélo 1986 Einsatz von Desktop-Publishing (microédition) Quelle: nach Balle 1997 10 Das 15. Jahrhundert kennt keine periodisch erscheinende Presse, sondern viele fliegende Blätter: Die Occasionnels berichten über politische Ereignisse, die Canards über Außergewöhnliches, die Libelles über politische und religiöse Themen. Die Periodizität der Presse ist eine Erscheinung des 17. Jahrhunderts. Sie erhöht sich ständig bis zum späten 18. Jahrhundert: 1611 bis 1648 erscheint jährlich der Mercure français. 1631 wird die erste periodische Zeitung, die Nouvelles ordinaires de divers endroits gegründet. Sie wird ein paar Monate später vom Arzt Théophraste Renaudot aufgekauft, der daraus eine vierblättrige Wochenzei- 10 Siehe dazu Balle 1997, Cazenave/ Ulmann Mauriat 1994, Charon 1991, Jeanneney 1996. 67 tung macht: La Gazette. Das Wort Journal wird zum ersten Mal 1665 als Bezeichnung für die Gelehrtenzeitung Journal des savants verwendet. Die erste französische Tageszeitung, Le Journal de Paris, erscheint schließlich ab 1777. 1787 gibt es in Paris 50 periodische Blätter, 30 weitere erscheinen in der Provinz. Die Presse wird von den Autoren der Encyclopédie verachtet. Diderot bezeichnet ihre Leser als sterile Geister, Montesquieu spricht von der Faulheit ihres Geistes und Rousseau bezeichnet das ‚livre périodique‘ als vergängliches Werk, ohne Verdienst und Nutzen. Diese kritische Haltung von Seiten der Intellektuellen hindert dennoch die Presse nicht daran, ihre Rolle im Dienste der Verbreitung und des Austausches von Gedankengut an ihrer Seite zu spielen. Die politischen und literarischen Cafés dienen dabei als Resonanzraum (Cazenave/ Ulman-Mauriat 1994, 9). Die Zeitung jener Zeit kann nicht ohne königliches Privileg erscheinen. Die Inhaber kennen Kautionszwang und Stempelsteuer, Impressumspflicht zur Identifizierung der Verantwortlichen sowie Zensur, Druckverbot, Pfändungen, Geld- und Kerkerstrafen. Neuerscheinende Zeitungen müssen die bereits etablierten bei ihrer Ankunft auf dem Markt entschädigen. Aus diesen Gründen wird auch viel im Ausland gedruckt. Die in Lüttich erscheinenden, aber in Paris viel gelesenen Annales politiques, civiles et littéraires gehören zu den namhaften Beispielen solcher Auslandspublikationen. Die Zeit der Revolution kennt zahlreiche Zeitungsgründungen sowie den Beginn der täglichen politischen Berichterstattung (Le Patriote Français). Die Hintergrunddebatten finden indessen in Blättern statt, die einbis zweimal in der Woche erscheinen. Die berühmteste revolutionäre Zeitung ist L’Ami du peuple von Jean-Paul Marat. Auf der Seite des Königs findet man wiederum L’Ami du roi sowie Le Journal politique national von Antoine de Rivarol, ebenfalls Mitarbeiter des bissigen Journal des apôtres. Eine wichtige Etappe in der Geschichte der französischen Presse ist die Einführung der Werbeanzeige 1831 durch Emile de Girardin. Er bezweckte damit eine Senkung des Kaufpreises und eine Erhöhung der Leserzahl. Seine Monatszeitung, Le Journal des connaissances utiles, erreicht sehr schnell eine Auflage von 130.000 Exemplaren. Dieser Erfolg ist der Anfang der preiswerten, aber qualitativ anspruchsvollen Presse. Girardin ist ebenfalls der Erfinder der systematischen Leserbindung: In seinen Zeitungen werden regelmäßig Auszüge aus den Romanen namhafter Autoren wie Balzac, George Sand, Chateaubriand, Dumas abgedruckt. Der größte Erfolg war dem Fortsetzungsroman Les Mystères de Paris von Eugène Sue beschieden. Der nächste Schritt in Richtung moderner Presse ist die Gründung der ersten Nachrichtenagentur durch Charles Havas. In seinem Büro wurden Nachrichten aus dem Ausland mit Nachrichten aus Frankreich ausgetauscht. Die Agence Havas fusioniert 1859 mit den deutschen Klienten der Agentur Reuter und Wolf. Die Erfindung des Telegraphs durch Chappe spielte bei dieser Entwicklung eine ausschlaggebende Rolle. 68 Die Erscheinung des Petit Journal von Moïse Millaud markiert 1863 die Anfänge der Massenpresse. Es kostet einen Sou, bietet täglich allerlei faits divers in einem volkstümlichen Stil und enthält keine politischen Nachrichten, aber gute Fortsetzungsromane. Auf Moïse Millaud und seine Zeitung gehen auch die Anfänge des Einzelverkaufs zurück. Die ersten Pressekioske resultieren zu dieser Zeit aus einer Zusammenarbeit zwischen dem Verlag Hachette und der Compagnie des chemins de fer du Nord. Das Gesetz vom 28. Juli 1881 (Loi sur la presse) versieht die Presse mit einem stabilen juristischen Unterbau. 11 Es liberalisiert die Gründung von Presseunternehmen, indem es Kaution, Stempelrecht sowie Genehmigungspflicht (autorisation préalable) abschafft 12 ; es unterbindet im Streitfall die Beschlagnahmung der Druckmaschinen 13 , die viele Titel in den Ruin getrieben hatte und die Investoren abschreckte. Die zweite wichtige Neuerung ist die Abschaffung der Zensur, welche durch die Ablieferungspflicht, das dépôt obligatoire, sowie durch die Meldung von Titel, Name und Anschrift des Druckers und des Verlegers ersetzt wird. Dieses Gesetz definiert die Kategorie des Pressedeliktes, welche ein Sonderstatut und eine verkürzte Verjährungspflicht genießt, und setzt damit der arbiträren Gewalt der politischen Macht ein Ende. Zu den Pressedelikten gehören einerseits die délits de presse, Pressevergehen oder Ordnungswidrigkeiten gegen die Auflagen des Pressegesetzes und die délits perpétrés par voie de presse, oder Straftaten, die durch die Verbreitung eines strafbaren Inhaltes begangen werden. Dazu zählen alle Kategorien der Anstiftung zu Verbrechen und Vergehen (Mord, Brandstiftung, Demoralisierung der Armee zu Kriegszeiten...), der Vergehen gegen die Öffentlichkeit (Unruhestiftung, Verstöße gegen Sittlichkeit und Anstand, Verbreitung falscher Nachrichten...) und der Verstöße gegen das Persönlichkeitsrecht (Diffamierung, Beleidigung, Rufmord....). Dem Bürger wird das Recht gewährt, eine Richtigstellung von Seiten der Zeitung zu verlangen (droit de rectification in der Originalfassung des Gesetzes, heute droit de réponse). Die Verantwortung trifft in erster Linie den Geschäftsführer und den Verleger, den Urheber des Tatbestandes, den Drucker, und kann sich bis zum Verkäufer erstrecken (responsabilité en cascade). Das Gesetz von 1881 ist heute noch in Kraft. Es markiert den Anfang eines bedeutenden Aufschwungs für die Presse. 1885 haben bereits 1540 Pariser Zeitungen und 1840 Provinzzeitungen den Markt erobert (Cazenave/ Ulman-Mauriat 1994, 45). Neben der Gesetzgebung sind die Technik, die Alphabetisierung und der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerjahre die Faktoren dieser Expansion. Die Zeit bis zum ersten Weltkrieg wird gerne als ‚Goldenes Zeitalter der Presse‘ bezeichnet. Vier Zeitungen teilen sich das Leserpotential mit einer Auf- 11 Siehe dazu Loi sur la presse 1881 (Imprimerie nationale); Dumas (1981); Guide du droit de la presse (1987). 12 Diese wird durch eine einfache Meldepflicht (déclaration préalable) ersetzt. 13 Es kann höchstens eine Auflage beschlagnahmt werden. 69 lage von je über einer Million: Le Petit Journal, Le Petit Parisien, La Presse und Le Matin. Andere wichtige Titel sind La Croix, Le Pèlerin, L’Echo de Paris und die erste Sportzeitung Le Vélo. 1883 erscheint zum ersten Mal L’Excelsior, die erste Photoillustrierte. Es ist die Zeit der Meinungspresse, aber auch der Industrialisierung, der Pressemagnate (man denke an Citizen Kane), der gnadenlosen Konkurrenz auf einem Pressemarkt, der sich dem Liberalismus verschrieben hat. Es ist aber auch die Zeit der uneingeschränkten Einflussnahme der Zeitung auf Finanz und Politik. Dazu Balle: Ce que ces quotidiens illustrent, tout au long de cet âge d’or, aux Etats-Unis comme en Europe, c’est la conquête d’un double monopole, auquel seule la télévision mettra un terme: monopole, d’abord, pour l’information d’un public dont l’extension suit le rythme de la démographie et des niveaux d’instruction; monopole, ensuite, des quotidiens sur la presse périodique, au sein de laquelle ils représentent une fraction toujours plus importante des tirages, tout en accaparant l’essentiel du prestige qui va aux journaux. (Balle 1997, 67) Zwischen 1930 und 1960 erobern die Illustrierten den Markt mit einem ähnlichen Elan: Vu, Le Miroir du monde, Match, Jours de France nutzen den Anreiz der Bilder. Sie sind in den sechziger Jahren durch das Fernsehen stark gefährdet. Die Kategorie der Illustrierten wird nach und nach durch die News Magazines (hebdomaires d’information politique et générale) weitgehend ersetzt: L’Express, Le Nouvel Observateur, Le Point teilen sich sehr schnell den Markt. Ihr Modell ist die amerikanische Times. Sie ergänzen in der Regel das Fernsehangebot durch einen wöchentlichen Zusatz an Hintergrundinformation und Analyse. Sie stehen ganz im Zeichen der modernen Publikumsanalyse und passen sich den Parametern unserer Zeit an: dem Rückgang der Lesekapazität und der vom Fernsehen geprägten psychoperzeptiven Erwartungen durch Rewriting (die einzelnen Texte werden der allgemeinen redaktionellen Linie angepasst) ebenso wie durch Restrukturierung der Druckfläche und Varietät der Rubriken. Die Publikumszeitschriften bilden die zweite Antwort auf die Herausforderung des Fernsehens, indem sie die dort angebotenen Interessengebiete in dauerhafter Papierfassung verfolgen. Sie haben ein sehr hohes Streupotential und erreichen über neunzig Prozent der französischen Leser. Ihre Lebensdauer von ein bis vier Wochen, die Verwendung von Hochglanzpapier und die hohe Spezifizität ihrer Zielgruppen machen außerdem aus ihnen ausgezeichnete Werbeträger. Die Tageszeitungen wetteifern mit ihnen in der Nutzung dieser Markt- und Konsumlücke. Sie entwickeln aufwändige Wochenendbeilagen, die vom erweiterten Fernsehprogramm bis zur luxuriösen Lifestyle-Zeitschrift reichen. Le Figaro bietet zusätzlich zum Figaro Magazine beide in seiner Wochenendausgabe an. Wie die Publikumszeitschriften sind diese Beilagen hochwertige und ertragreiche Werbeträger. Die Verabschiedung der Loi Sapin (1992), die Werbung in den privaten Fernsehprogrammen liberalisierte und damit die Werbeeinnahmen der 70 Printmedien erheblich minderte, brachte diese Marketingpolitik stark ins Wanken. Es sollen im Rahmen der Gesetzgebung noch einige Daten erwähnt werden (Dumas 1981; Guide du droit de la presse 1987). In der unmittelbaren Nachkriegszeit erlässt die provisorische Regierung der französischen Republik Verordnungen (Ordonnances du 22 juin, 26 Août et 30 septembre 1944), die den Zweck verfolgen, die Presse dem Einflussbereich fremder Mächte zu entziehen und als Institution nationalen Interesses unter die Obhut des Staates zu stellen. Die Ordonnances sehen eine absolute Transparenz der Finanzierung durch nominale Form der Aktionen und Veröffentlichung der Jahresbilanz sowie der Verantwortlichkeit durch Bekanntgabe der Namen von Eigentümer, Chefredakteur und Drucker vor. Ein weiterer wichtiger Termin ist die Verschärfung dieser Maßnahmen durch das Gesetz von 1984: Loi visant à limiter la concentration et à assurer la transparence financière et le pluralisme des organes de presse. Es wurde abgelöst und gelockert durch das Gesetz von 1986, das mit der Loi sur la presse von 1881 die Grundlage der französischen Pressegesetzgebung bildet. Das Gesetz von 1986 beschränkt ebenfalls die Fusionen und verlangt von jeder publizistischen Einheit, dass sie über eine eigenständige Redaktion verfügt. Dieses Gesetz wird durch die Verordnung von August 1986 über die Gewährung von staatlichen Hilfen an die Gruppe der quotidiens nationaux d’information politique et générale mit geringer Auflage und niedrigen Werbeeinnahmen ergänzt. Der Staat gewährt dieser Kategorie von Presseerzeugnissen auf Antrag weiterhin direkte und indirekte Hilfen (Rapport Cluzel). Die Intervention des Staates auf dem Pressemarkt wird vom Gesetzgeber durch die Gewährung optimaler Marktbedingungen an die überregionale Tagespresse zur Ausübung ihrer demokratischen Funktion gerechtfertigt. 1.3 Die aktuelle Presselandschaft in Frankreich Die gruppeninterne Situation der Printmedien hat sich seit der Zeit der Gazette stark verändert. Frankreich verfügt heute über eine hohe Anzahl von Publikumszeitschiften (1531): darunter ist die sogenannte presse de loisir die größte Gruppe, gefolgt von der presse sportive, der presse des jeunes und der presse féminine. Die Fachzeitschriften sind ebenfalls sehr stark vertreten (1499 Titel). Die presse spécialisée technique et profesionnelle enthält als größte Untergruppe die presse médicale. Es folgen die presses des services marchands und die presse agricole. Unter den Tageszeitungen sind die regionalen mit 390 Titeln stärker vertreten als die schwindende Kategorie der überregionalen. Unter den 23 Tageszeitungen sind nur fünf überregionale von der Gruppe information politique et générale enthalten. Diese Einteilung verweist auf eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Leser für spezifische Interessengebiete und eine Abwendung von 71 den Massenblättern (deren Funktion sich tendenziell auf das Medium Fernsehen verlagert hat). Die Anzeigenblätter sind die drittstärkste Gruppe. Anzahl der publizistischen Einheiten nach Kategorien 1531 1499 390 311 95 23 0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 1 2 3 4 5 6 1. Zeitschriften 2. Fachpresse 3. Anzeigenblätter 4. Regionale Periodika 5. Regionale Tageszeitungen 6. Überregionale Tageszeitungen Quelle: EUROPQRN 2000/ 2001 Die prekäre Lage der überregionalen Tageszeitungen wird auf den relativ hohen Kaufpreis, auf den Papierpreis, auf die Mängel des Vertriebs, auf die von der Informatisierung erforderten Investitionen und auf den Druck der Gewerkschaft zurückgeführt. (Balle 1997, 325; Cazeneuve/ Ulmann-Mauriat 1994, 146-47). Charon verbindet diese Zahlen auch mit dem Wandel der Konsumgepflogenheiten: Tageszeitungen genießen ein ‚okkasionelles Interesse‘ und werden eher in Krisenzeiten oder in Verbindung mit großen Ereignissen gelesen. Diese Haltung lässt sich bei allen Bevölkerungsschichten außer den Landwirten nachweisen (Charon 1996, 25-26). Die Beteiligung an der jährlichen Gesamtauflage ergibt drei Hauptgruppen: die regionale Tagespresse, die Zeitschriften und die Anzeigenblätter 14 . Regionale Wochenzeitungen und Fachpresse sind aufgrund ihrer begrenzten Auflage auf bescheidene Proportionen gerückt. 14 Ihre Auflage ist im ersten Semester 2002 um weitere 10 Millionen Exemplare gestiegen. 72 Publikumszeitungen und -zeitschriften Gesamtauflage 2000 Frankreich Ausland Frankreich + Ausland Verkaufte Auflage 4 276 357 442 184 043 820 4 460 401 262 Aufteilung 95,87 % 4,13 % Werbeexemplare 115 496 081 12 103 220 127 599 301 Gesamtauflage 4 391 853 523 196 147 040 4 588 000 563 Quelle: EUROPQRN 2000/ 2001 Die Publikumszeitschriften Unter dem Aspekt der Auflage bilden die Fernsehzeitungen die führende Gruppe unter den Wochenzeitschriften. Ihr Aufstieg hat 1950 begonnen. Ihre Auflage übersteigt manchmal 1 Million: Télé 7 jours (1960, Hachette) erreicht drei Millionen; Téléstar (1976, Compagnie Luxembourgeoise de télevision) erreicht eine Auflage von 2 Millionen Exemplaren; Télépoche (1966, Éditions Mondiales) erreicht 1 515 000 Exemplare und Téléloisirs (Prisma Presse) 1.419.000. Télérama (1950) ist der älteste noch existierende Titel. Zu den Programmzeitschriften zählen auch die Wochenendbeilagen der Zeitungen und Zeitschriften, die oft von einem zentralen Anbieter geliefert werden. Vier von fünf Haushalten kaufen Programmzeitschriften (Cazenave/ Ulmann-Mauriat 1994, 218-19). Quelle: EUROPQRN 200/ 2001 Wochenzeitschriften Jährliche Auflage 1072 1538 1682 1686 1826 1880 1956 2291 2371 4489 0 1000 2000 3000 4000 5000 T élé P oche Femme Act uelle T élé St ar Version Femme T V Hebdo Fémina Hebdo T élé Loisirs T élé Z T élé 7 Jours T V Magazine (T ausend) 73 Die Frauenzeitschriften sind die zweitgrößte Gruppe. Sie richten sich in ihrer traditionellen Form an alle sozialen Kategorien. Dies gelingt ihnen durch die Wahl von universalen Themen wie Gesundheit ( Top Santé , Santé Magazine ) und Dekoration und Basteln ( Elle décoration , Marie-Claire idées ...). Das starke Auflagenvolumen dieser Gruppe hängt mit ihrer Fähigkeit zusammen, Unterkategorien zu entwickeln. Die Frauenpresse gehört mittleren und großen Verlagsgruppen. Sie hat sich mit der Entwicklung der Frauen in der Gesellschaft wandeln müssen: in den achtziger Jahren war die berufstätige Frau ihre privilegierte Zielgruppe. Heute wendet sie sich mehr spezialisierten Themengebieten zu, in denen sie eine informative und beratende Funktion übernimmt. Zu den ältesten Frauenzeitschriften gehören die Titel der direkten Nachkriegszeit Marie-Franc e und Elle . Aufgrund ihrer Zielgruppe, ihrer materiellen Ausstattung und ihrer Lebensdauer eignet sich diese Kategorie sehr gut als Werbeträger (Charon 1999, 11- 12). Publikumszeitschriften Leserprofil 122 117 109 95 65 0 20 40 60 80 100 120 140 15/ 24 25/ 34 35/ 49 50/ 64 65 et + Alter Quelle: EUROPQRN 200/ 2001 Das Diagramm verdeutlicht, dass die bedeutendste Lesergruppe von Publikumszeitschriften im Alter zwischen 15 und 24 Jahren liegt. Das Interesse der französischen Leser nimmt mit steigendem Alter stetig ab. Die Tageszeitungen Die stärkste Jahresauflage erreicht in der Gruppe der Tagespresse ein regionaler Titel, Ouest-France . An zweiter Stelle kommen die überregionalen Titel, Organe der Fachpresse wie L’Équipe und Informationsblätter liegen auf den beiden folgenden Rängen. Diese Staffelung des Konsums spiegelt eine allgemeine Tendenz der französischen Leser wider. Die regionale Zeitung - oft mit Lokalteil versehen - ist als Anbindung an ein lokales Umfeld ( médias de proximité ) eine beliebte Ergänzung zu Radio und Fernsehen. Die überregionalen Sport- und 74 Informationszeitungen verlangen und fördern eine Einbindung in größere Lebensgemeinschaften. Diese orientieren sich meistens an spezifischen Themen (Sport u. a.) oder an übergreifenden nationalen oder internationalen Themengebieten wie Politik, Wirtschaft, soziale, ethische Themen... Die letzte Kategorie ist insofern anspruchsvoller als die regionale, als der Nutzer Lesestoff sucht, der das Niveau des Massenangebotes von Radio und Fernsehen übersteigt. Zwischen dem Leserkreis der regionalen und der überregionalen Tagespresse ergeben sich Überschneidungen ( lectorats croisés ). Diese Mischgruppen sind in Frankreich aufgrund der absolut unterschiedlichen medialen Identität der zwei Zeitungskategorien relativ groß. Tageszeitungen Jährliche Auflage 248 256 263 320 337 348 349 386 767 0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 La Nouvelle République Centre-Ouest Le Dauphiné Libéré Le Progrès La Voix du Nord Sud-Ouest Le Monde Le Figaro L'Equipe Ouest-France (Tausend) Quelle: EUROPQRN 200/ 2001 Die regionale Tagespresse 15 Die regionale Tagespresse erfüllt eine soziale Integrationsfunktion. Diese Integration ergibt sich zunächst aus der praktischen Orientierung, die sie vermittelt: Kinoprogramm, diensthabende Apotheken, geschäftliche Angebote.... Sie hängt weiterhin mit der Unmittelbarkeit der Interessen, die sie vertritt und mit denen sich der Leser identifizieren kann, zusammen. Durch Berichte und Bilder von Orten, Leuten und Ereignissen, die dem Leser nahe stehen, verhilft sie ihm zur medialen Existenz. Seine Bindung an die lokale Tageszeitung ist nicht frei von 15 Siehe Cazenave/ Ulmann-Mauriat 1994, Charon 1996, Gayan 1990, Masterman/ Mariet 1994, Mathien 1983 und 1989. 75 Emotionen. Entsprechend sind ihre Inhalte auf Region, Département, Stadt, Stadtviertel oder Ortschaft ausgerichtet. Ihr nationaler und internationaler Anteil ist relativ gering und wird nicht selten bei größeren Informationsanbietern gekauft. Die regionale Tagespresse ist bis auf wenige Fälle nicht politisch, sondern sozial oder ökologisch engagiert. Nutzung: 40% der befragten Bürger von 15 Jahren oder mehr haben im Jahre 2000 mindestens einmal eine regionale Tageszeitung gelesen. Es sind im selben Jahr 2030 Millionen Exemplare gelesen worden. Es wird im Durchschnitt zweimal zum Exemplar gegriffen. Es werden täglich 25 Minuten der Lektüre der regionalen Tagespresse gewidmet und diese findet in 76% der Fälle zu Hause statt. Wie das folgende Diagramm zeigt, rekrutiert sie ihre Leserschaft in allen Altersgruppen. Ihre Nutzung steigt mit dem Alter und geht für die Klasse 65 und mehr etwas zurück. Regionale Tagespresse Leserprofil Quelle: EUROPQRN 2000/ 2001 Der Durchschnittsleser der regionalen Tagespresse ist männlich, mittleren Alters, berufstätig und besitzt ein unscharfes professionelles Profil: Er ist Landwirt, einfacher, mittlerer oder höherer Angestellter ( cadre ), führt eine kleines oder mittleres Unternehmen, lebt in der französischen Provinz und besitzt ein Häuschen mit Garten. Die regionale Tagespresse zählt in Frankreich 92 Titel. Es waren noch 175 im Jahre 1946. Dieser Konzentrationsprozess führte zur Bildung lokaler Monopole. Außer in Lille ( Liberté , Nord-Matin , La Voix du Nord ) und Marseille ( La Marseillaise , Le Méridional , Le Provençal ) bietet keine größere Stadt mehr als einen regionalen Titel. Dieser weist bis zu 24 verschiedene Lokalteile auf. 91 104 103 101 92 80 85 90 95 100 105 1p 2p 3p 4p 5p et + Bildungsniveau Anzahl der Haushaltsmitglieder 76 112 103 101 100 88 0 20 40 60 80 100 120 15/ 24 25/ 34 35/ 49 50/ 64 65 et + Alter Diese Pressebranche sichert ihre finanzielle Unabhängigkeit durch Verkauf und Werbeinnahmen aus der nahen Region (aus privaten, offiziellen und kommerziellen Quellen). Durch das Verbot an die lokalen und regionalen Fernsehanstalten Werbung zu betreiben, wurden die Einnahmequellen der Lokalpresse geschützt ( Loi Sapin , 1996). Zu ihrer finanziellen Stabilität tragen hohe Abonnentenanzahl, preiswerte Informationsbeschaffung durch lokale Berichterstatter sowie preiswerte Austragung bei. Die größten Auflagenzahlen lassen sich aus dem Diagramm ablesen. Zu den traditionsreichen Titeln der Regionalpresse gehören La Montagne (Clermont-Ferrand), Le Dauphiné libéré (Grenoble), Le Progrès de Lyon , La Dépêche du midi (Toulouse). Die überregionale Tagespresse Die soziale Rolle der überregionalen Tagespresse und ihre Position im intermedialen Wettbewerb sind besprochen worden. Gegenüber der regionalen Tagespresse ist sie zunächst geographisch zu situieren: sie erscheint in Paris, richtet sich aber an eine gesamtfranzösische Leserschaft. Die Leser-Blatt-Bindung beruht nicht, wie im Falle des Lokalblattes, auf Unmittelbarkeit, sondern stützt sich eher auf objektivierte Formen der Kultur. Aus diesem Grunde überschneiden sich diese Pressekategorien nicht und stehen in keiner intramedialen Wettbewerbssituation, wenn auch manchmal doppelte Nutzung vorliegt. Nutzung: 18% Prozent der Franzosen im Alter von 15 Jahren und mehr haben im Jahre 2000 eine überregionale Tageszeitung gelesen. Sie wird im Durchschnitt 2,4 Mal in die Hand genommen. Ihre Lektüre dauert 32 Minuten und erfolgt in 69% der Fälle zu Hause. Die überregionale Tagespresse wird mehr auswärts gelesen. Ihr Leserkreis ist nur etwa halb so groß wie der der lokalen Presse. Das Diagramm zeigt, das diese Zeitungskategorie ebenfalls in allen Altersgruppen rekrutiert. Das Interesse an der überregionalen Tagespresse ist bei Personen zwischen 15 und 24 Jahren am höchsten und nimmt mit steigendem Alter ab. Der Durchschnittsleser der französischen überregionalen Tagespresse ist männlich, mittleren Alters, lebt in Paris oder Umgebung und gehört zu einem hohen Prozentsatz der Kategorie der höheren Angestellten ( cadres ) an. Überregionale Tagespresse Leserprofil Quelle: EUROPQRN 200/ 2001 77 Die Kategorie der presse nationale d’information politique et générale zählt nur noch fünf Titel: Le Figaro , Le Monde , Libération , La Croix , L’Humanité . Mit etwa 400 000 Exemplaren hat Le Figaro die größte Auflage. Le Monde erreicht etwa 370 000, Libération 165 000. Als ‚kleinere‘ Zeitungen folgen L’Humanité mit 60 000 und La Croix mit 92 000. 16 La Croix und Libération gehören aufgrund ihrer Finanzierung der presse d’opinion an: L’Humanité war bis 1999 das Organ der kommunistischen Partei Frankreichs. Sie ist heute zwar eine ideologisch engagierte, aber unabhängige Zeitung. La Croix ist eine Publikation der katholischen Kirche. Le Figaro 17 wurde im Januar 1826 als politische Wochenzeitung im Kleinformat von dem Chansonnier Maurice Alhoy und dem Schriftsteller Etienne Arago gegründet. Diese erhält 1854 ihr heutiges Zeitungsformat und erscheint erst ab 1866 mit täglicher Periodizität. Sie bietet heute eine große Vielfalt von Rubriken an - International, France, Opinions, Vivre aujourd’hui, Culture, Télévision-Radio, Sports - und ist die größte ökonomische Fachzeitung (mit eigenem Börsenindex) unter den allgemeinen Tageszeitungen geworden: Jede Ausgabe enthält das sogenannte lachsfarbene Heft ( cahier saumon ), das als selbstständige Wirtschaftszeitung abgetrennt werden kann; die Montagsausgabe erscheint in Verbindung mit einer gehaltvollen Wirtschaftsbeilage im Tabloïd- Format ( Entreprise ). Samstags wird die Zeitung als Wochenendpaket mit zwei Zeitschriften ( Le Figaro Magazine , Le Figaro Madame ) und einem Fernsehprogramm ( TV Magazine ) verkauft. Le Monde 18 ist im Dezember 1944 als Nachfolger von Le Temps unter der redaktionellen Leitung von Hubert Beuve-Méry neu gegründet worden. Diese Gründung war eine Antwort auf den Wunsch von General De Gaulle, Frankreich möge sich eine seriöse, im Ausland glaubwürdige Referenzzeitung geben. Die ursprünglich rein politische Ausrichtung von Le Monde ist allmählich einer starken Diversifizierung ( capilarisation ) der Inhalte gewichen: die Zeitung bietet täglich in der gleichen Reihenfolge die Rubriken International, France, Société, Régions, Horizon, Entreprises, Communication, Aujourd’hui, Culture, Kiosque- Radio-Télévision, Multimédia und Dernière heure. An festen Tagen der Woche werden thematische Supplemente beigelegt: Le Monde de l’économie, Le Monde des initiatives, aden ( a rts d ivertissements, e t n uits), Le Monde des livres, Le Monde des poches (Taschenbücher), La Télévision-Radio-Mulimedia ). Hinzu kommen Nebenprodukte wie Le Monde diplomatique; Dossiers et documents; Le Monde des philatélistes; Le bilan du Monde; Le Monde de l’éducation, de la 16 Es sei hier auf die Globalität und auf die Variabilität der Zahlen hingewiesen. Die hier angegebenen Richtgrößen betreffen die Gesamtauflage und stammen aus der Aufstellung von Diffusion Contrôle. 17 Online-Ausgabe: www.lefigaro.fr. 18 Online-Ausgabe: www.lemonde.fr. 78 culture et de la formation; Histoire au jour le jour, sowie Spezialausgaben zu besonderen Ereignissen (Festival de Cannes, Mai 68...). 19 Libération 20 ist die jüngste der französischen Qualitätszeitungen. Sie wurde in mehreren Etappen zwischen 1968 und 1972 von der kommunistischen intellektuellen Jugend unter der Leitung von Sartre entwickelt und 1973 der Presse vorgestellt. In der Aufmachung setzte sie auf Klarheit und Ausdruckskraft und zögerte nicht, sich die Methoden der Populärpresse (Typ Sun : Übergröße der Überschriften, eine Rubrik pro Seite, Einsatz von Bild und Karikatur) anzueignen. Die redaktionelle Komponente schließt sich durch äußerste Nutzung der Schlagkraft von Überschriften und Formeln und einer mehrschichtigen, stark appellativen Ausrichtung der Mitteilung dieser auf die TV-Generation zugeschnittenen Präsentationsstrategie an. Ihr Stil hat Schule gemacht: Man spricht vom effet Libé (Guisnel 2000). Ihr Leserkreis unterscheidet sich im Hinblick auf Bildungsniveau und sozioprofessionelle Zugehörigkeit nicht von dem der zwei anderen Qualitätszeitungen. Sie besitzt wie diese eine tägliche Online-Ausgabe. Die überregionale Tagespresse ist aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage die problematischste unter den Publikationen. Ihre Prekarität ist durch den Rückgang ihrer Auflagen bedingt. Sie hängt aber auch mit manchen Charakteristika des französischen Mediensystems zusammen. Sie finanziert sich über drei Wege. Zunächst durch Verkaufserlös. Der Kaufpreis einer Zeitung reicht in der Regel nur aus, um die Hälfte der Herstellungskosten zu decken. Sie ist aus diesem Grund auf Werbeeinnahmen angewiesen. Das folgende Diagramm zeigt, dass die Werbeeinnahmen etwa die Hälfte ihrer Finanzierung ausmachen. Sie liegt damit etwa in der Mitte der Skala, zwischen regionalem Blatt und Fachpresse. Beteiligung von Verkauf und Werbung am jährlichen Gesamtumsatz nach Printmedienkategorien 32,10% 40,80% 48,50% 53,10% 62,30% 100% 67,90% 59,20% 51,50% 46,90% 37,70% 0% 25% 50% 75% 100% Zeitschriften Regionale Tageszeitungen Überregionale Tageszeitungen Fachpresse Regionale Wochenzeitschriften Anzeigenblätter Werbung Verkauf Quelle: EUROPQRN 2000/ 2001 19 Weitere Informationen (Auswahl): Eveno 1996, Thibau 1996, Pingaud 1994, Jeanneney/ Juillard 1989. 20 Online-Ausgabe: www.liberation.fr 79 Quelle: EUROPQRN 2000/ 2001 Es handelt sich zu 74,60 % um kommerzielle Werbung und zu 25,30 % um private Anzeigen. Der übergroße Anteil der kommerziellen Werbung erfordert von Seiten der gesamten Zeitung und damit auch von der Redaktion eine möglichst klare Linie und eine starke Kohäsion zwischen Werbungsprofil und redaktionellem Profil. Libération hat in den Anfängen versucht, Werbung zu vermeiden, musste dennoch darauf zurückgreifen. Diese Zeitung bevorzugte die Privatanzeigen, deren ausgefallener Stil dem redaktionellen Teil angepasst war und selbst zur Werbefläche für die Zeitung wurde. Le Monde hat sich auf die Produkte spezialisiert, die zu seinem intellektuellem Profil passen, insbesondere auf Bücher, denen die Zeitung einmal in der Woche eine Beilage widmet. Le Figaro setzte ganz auf Werbung und entwickelte dafür drei umfangreiche und luxuriöse Wochenend-Beilagen. Den dritten Teil der Finanzierung von überregionalen Tageszeitungen sichern die staatlichen Hilfen. Es handelt sich um direkte Hilfen, die teilweise auf diese Gruppe beschränkt sind, und um indirekte Hilfen in Form von Sondertarifen und Rückerstattung bei Post, Transport, Taxen und Krediten. 21 Dieses System wird unter drei Gesichtspunkten kritisiert: zunächst aufgrund der Diskriminierung zwischen den Medienkategorien, die es impliziert; dann aufgrund der Abhängigkeiten, die es erzeugt und die mit dem Geist der demokratischen Presse schwer vereinbar sind; und schließlich, weil es sich als uneffizient erwiesen hat. 21 Siehe dazu Rapport Cluzel und Rapport Pelchat, Imprimerie nationale. Eine gute Aufstellung findet sich bei Balle 1997, 312. Werbeeinnahmen Werbe- und Privatanzeigen 45,00% 72,80% 74,60% 78,60% 78,80% 79,70% 88,50% 55,00% 27,20% 25,40% 21,40% 21,20% 20,30% 11,50% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Regionale Wochenzeitschriften Regionale Tageszeitungen Überregionale Tageszeitungen Anzeigenblätter Presse gesamt Fachpresse Publikumszeitschriften Werbeanzeigen Privatanzeigen 80 Das französische Vertriebssystem bietet einige Besonderheiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen die Nouvelles Messageries de la Presse Parisienne (NMPP) als staatliche Institution das Monopol für die Zustellung von Presseerzeugnissen. Nur die regionale Tagespresse blieb hier ausgenommen. Die Langsamkeit der Zustellung sowie die späte und unregelmäßige Lieferung, die bei Zeitschriften wenig ins Gewicht fallen, machten aus der überregionalen Tagespresse eine wettbewerbsunfähige Ware. Dies hatte ökonomische Folgen und blieb nicht ohne Auswirkung auf die Entwicklung der Medienlandschaften. Radio und Fernsehen sind die Hauptnachrichtenmedien in den frühen Morgenstunden. Der intramediale Wettbewerb verschiebt sich. Der Zeitungsverkauf am Kiosk verlängert den intramedialen Wettbewerb bis zum äußersten Moment der Kaufentscheidung. Die erste Seite der Zeitung fungiert mit ihren Schlagzeilen als direkte Marketingfläche. Da bei Erhalt der Zeitung die Nachrichten ohnehin schon bekannt sind, tendiert die Informationsverarbeitung zwangsweise in Richtung Kommentar. Die Konturen der journalistischen Gattungen verschieben sich. Einzig den drei großen Überregionalen ist es gelungen, sich von diesem System zu befreien. Das folgende Diagramm zeigt, welch kleiner Anteil heute noch der Austragung beschieden wird. Vertriebsart Presse gesamt Andere 0,3% Postzustellung 22,9% Austragung 17,3% Einzelverkauf 59,6% Quelle: EUROPQRN 2000/ 2001 Unter den Printmedien erweist sich die überregionale Tagespresse als eine äußerst sensible Ware. Dies entspricht ihrer Position als symbolische, materielle und kommerzielle Größe. 1.4 Gegenwärtige Tendenzen Die Entwicklung der französischen Presse der Nachkriegszeit ist gekennzeichnet durch den starken Rückgang der Titel und der Auflage der regionalen und vor 81 allem der überregionalen Tagespresse sowie durch den Boom der Publikumszeitschriften und der Fachpresse. Letzterer geht mit einer steigenden Segmentierung der Interessengebiete und der Zielgruppen einher. Die thematische Spezifizierung der Zeitschriften reflektiert - im Gegensatz zum intrakulturellen Trend der Informationsverarbeitung in der Tagespresse - die Tendenzen einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Eine beträchtliche Anzahl der Mediengruppen, denen diese Publikationen angehören, sind ausländische Gruppen (Murdoch, Gruner und Jahr - unter dem Namen Prisma Presse - , Bertelsmann ...), andere expandieren ins Ausland ( Elle , Marie-Claire ). Es lässt sich dabei eine gewisse Intermedialität feststellen, insofern Interessengebiete, die durch das Fernsehen erschlossen worden sind (Sport, Reisen, Kochen, Wirtschaft etc.), durch spezialisierte Illustrierte wieder aufgenommen und vertieft werden. Die Tageszeitung bemüht sich ebenfalls um die Entwicklung entsprechender Rubriken und ersetzt den Anreiz der Bilder durch eine gedrängte Periodizität. Startup Avenue 22 verzeichnet folgende Tendenzen für die Jahre 1999 bis 2001: - Der unaufhaltsame Aufstieg der Neugründungen mit nahezu 600 Titeln für 1999 und 580 für 2001. 90% dieser Titel sind Publikums- und Fachzeitschriften. Sie erscheinen jede Woche oder jede zweite Woche (9%), einmal im Monat (32%), jeden zweiten Monat (29%), einmal im Trimester oder weniger (27%). - Die Übersegmentierung der thematischen Sparten, gekoppelt mit einer lokalen Ansiedlung des Interessengebietes: Die Neugründungen der Sportsparte (und darin des Fußballbereichs) dominieren. Sie spezialisieren sich zusätzlich auf die Region der betreffenden Sportart (z. B. Pelote basque im Baskenland) oder auf die Heimat der Mannschaften (Saint Etienne, Bastia, Marseille...). Thematisch verteilen sich die Neugründungen folgendermaßen: 22 Pressemitteilung Startup Avenue Conseil 2001. 82 Les thèmes les plus représentés dans les nouveaux titres de presse en 2001 ( en nombre de titres concernés ) 0 10 20 30 40 50 60 Sport Musique Internet People Informatique Automobile Jeux video Enfants Consumer magazine 2001 2000 1999 Quelle: Startup Avenue Conseil 2001 Auffallend ist für 2001 die herausragende Stellung von Sport, gefolgt von Musik, Internet und Frauenpresse als thematische Schwerpunkte. Während sich das Interesse für Internet zu normalisieren scheint, weisen die drei anderen Gruppen eine steigende Tendenz auf. - Die Übersegmentierung und das Überwiegen vom Verkauf am Kiosk zeugen einerseits von der Nutzung des dauerhaften Interesses der Adressatengruppe für ein thematisches Gebiet, andererseits von der Fortsetzung der Wettbewerbssituation bis zum letzten Augenblick der Kaufentscheidung. Zu bemerken ist dabei die hohe Gewichtung der Werbung; - Das Erscheinen der Einwanderungskulturen in der Medienlandschaft sowohl thematisch als auch als Zielgruppen ( Dynamik Sud , Miss Ebène , BB de Paris - Black & Beur - , Forum Méditerranée ...) sowie eine starke Nachfrage für historische Themen; - Eine steigende Intermedialität, die sich sowohl durch Publikationen zum Film oder zur Serie als auch durch die Inflation der TV-Presse und den Verkauf von Video, DVD, CD und Musik am Zeitungskiosk äußert. Dazu François Mariet in der zitierten Ausgabe von Startup Avenue : „L’opposition Gutenberg - McLuhan était un beau cliché… mais faux.“ 83 Diese Daten bestätigen den Trend der letzten fünfzig Jahre. Der Aufstieg der Zeitschriften fördert die kulturelle Globalisierung der Presse dadurch, dass sie in ihrer Eigenschaft als Werbeträger die Einbindung in die weltweite Welle der Konsumgepflogenheiten unterstützen. Die Gemeinschaft der Zeitschriftenleser ist interkulturell, weil in der Alltagszivilisation des Abendlandes beheimatet, sowie die Leserschaft der überregionalen Tageszeitung in der übergreifenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kultur angesiedelt ist. Diese Feststellung bedeutet bei Weitem nicht die Negierung nationaler Identitäten. Gerade die steigende Publikumsbindung, die die Absatzpolitik des Presseunternehmens und der Werbewirtschaft in einem übersättigten multimedialen Umfeld pflegen muss, erzeugt die Gegenbewegung der wachsenden Integrierung in spezifischere lokale, soziale, konsum- oder interessenbedingte Adressatenkreise. 1.5 Bibliographie Balle, Francis: Médias et sociétés. De Gutenberg à Internet. Paris, 8 1997. Bertrand, Claude-Jean: Médias. Paris, 1995. Böhringer, Joachim/ Bühler, Peter/ Schlaich, Patrick/ Ziegler, Hans-Jürgen: Kompendium der Mediengestaltung für Digital- und Printmedien. Berlin/ Heidelberg, 2000. Bourdieu, Pierre: Choses dites. Paris, 1987. Cazenave, Elisabeth/ Ulmann-Mauriat, Caroline: Presse, radio et télévision en France de 1631 à nos jours. Paris, 1994. Charaudeau, Patrick: Le discours d’informations médiatique. Paris, 1997. Charon, Jean-Marie: La presse quotidienne. Paris, 1996. Charon, Jean-Marie: La presse magazine. Paris, 1999. Charon, Jean-Marie: La presse en France. Paris, 1991. Communiqué de presse Startup Avenue Conseil 2001. Nicolas Bel (nbel@startupavenue.com) / François Mariet (fmariet@startupavenue.com) Czjaka, D.: Pressefreiheit und öffentliche Aufgabe der Presse. Stuttgart, 1968. Décision 84-181 DC, 10/ 11. Oktober 1984; décision 86-210 DC vom 29. Juli 1986; Conseil constitutionnel: Recueil des décisions (1984 : 83ff. und 1986 : 114). Dernbach, Béatrice: Haben die Printmedien noch eine Zukunft? Vortrag an der Universität Bremen, 30. Juni 1998. Desbarrats, Bruno S.: Les chances de l´écrit face à l´audiovisuel. Paris, 1987. Dumas, Roger: Le droit de l’information. Paris, 1981. Elsner, Monika/ Gumbrecht, Hans Ulrich/ Müller, Thomas/ Spangenberg, Peter M.: „Zur Kulturgeschichte der Medien.“ In: Merten, Klaus/ Schmidt, Siegfried J./ Weischenberg, Siegfried (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Bonn, 1994, S. 163-187. Eveno, Patrick: Histoire d’une entreprise de presse. Paris, 1996. Faulstich, Werner: Grundwissen Medien. München, 1994. 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Der Hörfunk 2.1 Einführung Was weltweit für die Zugangsmöglichkeiten zu massenmedialer Kommunikation gilt, trifft genauso auf das französische Erscheinungsbild zu: Auch am Beginn des dritten Jahrtausends ist der Rundfunk noch das meistverbreitete Medium schlechthin. 98,8 % der französischen Haushalte besitzen im Frühjahr 2001 zumindest einen Radioempfänger, die durchschnittliche Ausstattung beläuft sich statistisch sogar auf 6,3 Geräte pro Haushalt - der Begriff ‚Rundum‘- Versorgung scheint in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht angebracht (diese wie die folgenden Zahlen, sofern nicht anders vermerkt, nach www.mediametrie.fr/ radio, hier „L’année Radio 2000-2001“). 1 Im Zeitraum 2000-2001 (September-Juni) haben 83,6 % der französischen Bevölkerung ab 15 Jahren, also 39,85 Millionen Personen, mindestens einmal werktags ihren Radioapparat eingeschaltet; die durchschnittliche Hördauer von Montag bis Freitag beträgt 190 Minuten. 2 Die Reichhaltigkeit des Médiamétrie-Materials erlaubt es, einen noch plastischeren Eindruck von den Modalitäten der Radiorezeption in Frankreich zu vermitteln und dabei gleichzeitig einige Vorurteile auszuräumen. Erwartbar ist die räumliche Verteilung des Hörfunkkonsums: Sie spielt sich zu 56 % zu Hause und zu 22 % während der PKW-Fahrten ab (letzterer Anteil ist im Steigen begriffen); darüber hinaus scheinen für viele Franzosen berufliche Tätigkeit und Radiohören nicht unvereinbar miteinander zu sein, weshalb der Arbeitsplatz mit 1 Die Vergleichswerte für Fernsehgeräte: Im Jahr 2000 sind 93.6% der Haushalte mit mindestens einem Fernsehgerät ausgestattet, statistisch beträgt die Anzahl der Empfänger pro Haushalt 1,4 (www.mediametrie.fr/ tv, hier „L’année TV 2000“). Um das Erscheinungsbild weiter zu präzisieren: Für dieselbe Bezugsgröße, die Haushalte, gilt im selben Zeitraum, dass 81 % über einen Radiowecker, 79 % über einen Tuner in einer Hi-Fi-Anlage und wiederum 81 % über ein Autoradio verfügen, was im Übrigen einer Ausstattungsquote des gesamten französischen Automobil-Fuhrparks von über 90% entspricht (letzterer Wert nach Cheval 1997, 200). 2 Während des Wochenendes gehen Anzahl der Radiohörer und Einschaltdauer um rund 10 % zurück. Wiederum zum Vergleich: Im April 2002 betätigten 86,6 % der französischen Bevölkerung ab 15 Jahren den Einschaltknopf des Fernsehens mindestens einmal in der Woche. 86 einem Anteil von immerhin 18 % zu Buche schlägt. 3 Die Einschaltzeiten können das Bestehen eines Konkurrenzverhältnisses zum Fernsehen nicht leugnen: Die absolute Radio-Primetime liegt (werktags) zwischen 7h und 8h30 (26 % Einschaltquote), ein zweiter hoher Ausschlag ist zwischen 17h und 18h (17 %) zu verzeichnen, wohingegen der Feierabend dem petit écran gehört und der Hörkonsum bis 20h30 auf 5 % zurückgeht. Die Vorstellung vom Radiohören als Frauensache - Stichwort ‚Hausfrauenfunk‘ - ist offensichtlich nichts anderes als eine böswillige Unterstellung: Nicht nur stehen 38 Millionen Hörerinnen im werktäglichen Durchschnitt (79,7 %) knapp 42 Millionen männlichen Rundfunkteilnehmern (87,8 %) gegenüber, die französische Frau hört im Schnitt auch 10 Minuten weniger (185 min) als der Mann (195 min). Ein anderes Vorurteil tut dem jugendlichen Einschaltverhalten - Stichwort: ‚musikalische Dauerbeschallung‘ - Unrecht. Zwar ist richtig, dass die Altersgruppe der 15 bis 34-jährigen mit 89,4 % mehr Mitglieder zum Einschalten bewegt als die mittlere Generation (35-59 Jahre) mit 85,6 % und die Gruppe der ab 60 Jährigen (72,6 %), jedoch sind es die älteren Menschen, die mit 213 Minuten die längste Hördauer vorweisen (die 15 bis 34-jährigen bringen es lediglich auf 168 min). Diese Zahlen entwerfen in ihrer Gesamtheit das Erscheinungsbild des Rundfunks als ein Medium, das aus der Alltagspraxis schlechterdings nicht mehr wegzudenken und uns allen, Jugendlichem oder troisième âge, Single oder Familienvorstand, Rentner oder Erwerbstätigem, zu einem so selbstverständlichen Gebrauchsgegenstand wie beispielsweise eine Armbanduhr geworden ist. Und dennoch ist es gerade die numerische Evidenz dieses Basisbefundes, die in der medienkundlichen Perspektive, um die es uns hier geht, zur Beantwortung einiger Grundsatzfragen drängt. So geben die präsentierten Daten noch keinen differenzierten Aufschluss über das konkrete Hörverhalten der RundfunkteilnehmerInnen in Entsprechung zu den Sende(r)-seitig angebotenen Programmprofilen und damit zu dem, was Radiokommunikation gemäß ihrer ‚Materialbedingungen‘ (Arnheim) grundsätzlich leisten sollte bzw. im Laufe ihrer Geschichte als mediumspezifischen Sendeauftrag entwickelt hat. Unter der Prämisse, dass die Institution ‚Hörfunk‘ in ihrer Praxis die Befindlichkeiten und Tendenzen einer Gesellschaft gleichermaßen widerspiegelt und prägt (vgl. Cheval 1997, 236), ist im Folgenden zu demonstrieren, wie die exemplarische Analyse dieser Praxis, verknüpft mit der Rückbesinnung auf das kommunikative Potenzial des Mediums, zentrale Aufschlüsse über das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft, wie in unserem Fall der französischen, zu Tage fördern kann. Wenn es sich denn überhaupt lohnt, ist man fast geneigt einzuwerfen angesichts der Tatsache, dass dem Hörfunk seitens der Forschung im Vergleich zu anderen Medien verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht 3 15 % einer repräsentativen Untersuchungsgruppe gaben zwischen Oktober 2001 und Februar 2002 an, am Arbeitsplatz Radio zu hören. (www.mediametrie.fr/ radio/ resultats/ panel) 87 wird. 4 Dass als Grund für dieses Defizit der Umstand in Frage käme, das Radio sei ein mediales ‚Auslaufmodell‘, kann mit Blick auf die einführenden Basisdaten ausgeschlossen werden. Gibt dann eine Beschäftigung mit den Parametern der heutigen Radiokommunikation einfach ‚zu wenig her‘, wo doch selbst Generalistensender nach dem Motto ‚écouter au lieu d’entendre‘ 5 den Anteil des gesprochenen Wortes innerhalb ihrer Programmsegmente bereits standardmäßig reduzieren, vom Höhenflug der Musikkanäle einmal ganz abgesehen? Die Überprüfung dieser pessimistischen Hypothese in den nachfolgenden Kapiteln stellt sich als Angelegenheit von grundsätzlicher medienkundlicher Bedeutung dar. 2.2 Zur Geschichte des Hörfunks in Frankreich 6 T.S.F., bis in die sechziger Jahre in Frankreich die geläufige Bezeichnung für ‚Radio‘/ ‚Rundfunk‘, verweist uns in der Doppeldeutigkeit des Kürzels ‚T.‘ (eindeutig entschlüsselbar dagegen ist ‚s.f.‘ als sans fil, ‚drahtlos‘) auf die beiden Stoßrichtungen des technisch-physikalischen Erfindungsgeistes, denen das Medium ‚Radio‘ zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg seine Entstehung verdankt. Offiziell verbirgt sich hinter dem ‚T.‘ die ‚Télégraphie‘, wobei ‚Fern- Schreiben‘ das Prinzip der Übermittlung von codierten akustischen Signalen vermittels elektromagnetischer Wellen und der Rückübertragung in den Schriftcode meint. So verstanden, ist der Italiener Guglielmo Marconi der Vater des Radios, denn ihm gelingt 1899 die drahtlose Überbrückung des Ärmelkanals und bereits 1901 die Sendung einer Funkbotschaft über den Atlantik. Um den qualitativen Sprung zur ‚Téléphonie‘, der Übertragung wirklichkeitsechter Tonereignisse in Gestalt von Sprache, Geräuschen und Musik zu bewerkstelligen, müssen akustische Artikulationen in Hochfrequenz-Schwingungen ‚aufmoduliert‘, in Form von elektromagnetischen Wellen dann ausgestrahlt und von einem Empfangsgerät ‚demoduliert‘, also in die akustischen Originalschwingungen zurückverwandelt werden. Die Verwirklichung dieser Prozedur ist im Wesentlichen das Verdienst der Nordamerikaner Reginald Fessenden und 4 Besonders stiefmütterlich wird der Rundfunk in der umfangreichen Einführung in die Kommunikationswissenschaft von Merten/ Schmidt/ Weischenberg 1994, behandelt. Sehr viele, vor allem auch historische Darstellungen behandeln den Hörfunk nur zusammen mit dem Fernsehen (vgl. Albert/ Tudesq 1994 oder Brochand 1995). 5 So in Abwandlung des Titels von Nr. 32 der Dossiers de l’audiovisuel - „La radio, l’entendre ou l’écouter? “ - formuliert. 6 An radiogeschichtlichen Referenzwerken seien empfohlen: das trotz seiner Gerafftheit informative Que sais-je-Bändchen zur Radio- und Fernsehgeschichte (Albert/ Tudesq 1995), ebenso die reich illustrierte Überblicksdarstellung von Sabbagh (1995) und der bemerkenswert prägnante Beitrag von Albert (1996). Die zweibändige Radio- und Fernsehgeschichte von Brochand 1994 ist minutiös recherchiert und an Detailgenauigkeit nicht zu überbieten, für eine rasche und prägnante Orientierung allerdings denkbar ungeeignet. 88 Lee de Forest. Fessenden kann Weihnachten 1906 zum ersten Mal die menschliche Stimme sowie Händels Largo 18 km weit übertragen, Lee de Forest demonstriert 1908 vom Eiffelturm aus mit seiner Dreielektronenröhre erfolgreich Demodulation und Verstärkung der Impulse zum tönenden Empfang; er erfindet zudem den Schwingkreis zur gezielten Frequenz-Abstimmung des Empfängers. Nach dem Ersten Weltkrieg, der die zivile Weiterentwicklung der T.S.F. suspendiert, geht in Frankreich die Kontrolle über die Radiokommunikation von den Militärs, deren Armeesender auf dem Eiffelturm dem Kanal ‚FL‘ (Tour Eiffel) Sendezeiten zur Verfügung stellt, direkt in staatliche Hände über: 1919 wird dem Postministerium (P.T.T.) die Ordnung des Funkwesens und die Lizenzvergabe zur Ausstrahlung von Hörfunkprogrammen übertragen; Paris-PTT strahlt von der École Supérieure des P.T.T. zunächst experimentelle, ab 1923 dann richtige Programme aus. In der Praxis toleriert man jedoch auch den Sendebetrieb privater Anbieter, um die boomende Rundfunkindustrie zu fördern. So ist denn dem Konzern C.S.F. (Compagnie Générale de Télégraphie sans fil) der offizielle Start des Radios in Frankreich zu verdanken: Der Sender Radiola (1924 in das ‚seriöser‘ klingende Radio-Paris umbenannt), der über den Verkauf der gleichnamigen Empfangsapparate und eine Lizenzgebühr finanziert wird, nimmt am 1. oder am 6. November 1922 - der genaue Termin ist nicht ganz geklärt, in jedem Fall aber vor der BBC, die erst am 14.11.1922 startet! - den ersten regulären und öffentlichen Sendebetrieb mit einer Ausstrahlungsleistung von 1,5 KW auf. Bald schon sind Radiola mit ‚Radiolo‘, dem ersten Star- Entertainer der französischen Hörfunkgeschichte, wie auch die zahlreichen staatlichen und privaten Konkurrenten in Paris und der Provinz in der Lage, ein regelrechtes Vollprogramm anzubieten. Die Verkaufszahlen für Radioempfänger stellen unter Beweis, dass der Hörfunk schon während der zwanziger Jahre auf dem besten Weg ist, zum neuen Massenmedium aufzusteigen. Werden bis Ende 1922 knapp 13 000 Radiola- Apparate verkauft, so beläuft sich die Anzahl aller Empfänger 1929 bereits auf ca. 600 000, 1931 sind es knapp 1 Million Geräte (Zahlen nach Brochand 1994, t. I, 11). Die Popularität des Radios ruft den Staat auf den Plan, der keinesfalls gewillt ist, die Kontrolle über die neue Freizeitaktivität der Bevölkerung aufzugeben. Deshalb organisiert die P.T.T. ein Regionalnetz mit 11 Stationen auf Mittelwelle und einen ‚service national‘ auf Langwelle; die Anzahl der privaten Betreiber wird zugleich auf 14 eingefroren. 1933 kauft der Staat zudem Radio- Paris auf und stattet den Kanal mit einer besonders leistungsfähigen Sendeanlage aus. Eine weitere Maßnahme im Konkurrenzkampf mit dem kommerziellen Rundfunk ist der Verzicht auf Werbung in den Programmen der P.T.T.-Kanäle. Kompensiert werden die sich ergebenden Einnahmeverluste durch die Einführung der Rundfunkgebühren im Jahr 1933. Mit den Gebühren lässt sich erstmals eine recht präzise numerische Bestimmung der Hörerschaft vornehmen und so dokumentieren, dass bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der Radioapparat in Frankreich zu einer festen Einrichtung im häuslichen Alltag der ‚Kleinen Leute‘ geworden ist. Die Anzahl der 89 offiziell angemeldeten Geräte schwingt sich von 1,3 Millionen im Jahr 1933 auf 5,2 Millionen Geräte (bei 41 Millionen Einwohnern) im Jahr 1939 auf. In einem ‚dualen System‘ versorgen 32 Sendestationen, 20 staatliche und 12 private, die französische Bevölkerung mit Programmen, die einerseits auf Populärmusik, Sport und Unterhaltung setzen, andererseits aber auch der ‚Hochkultur‘ mit literarischen Lesungen, Konzert- und Theaterübertragungen einen beträchtlichen Platz einräumen. Der Zweite Weltkrieg verhilft dem Rundfunk zu einer weiteren Steigerung seiner Bedeutung als psychologisches Kampfmittel im ‚Krieg der Wellen‘. Gerade im Hinblick auf die Situation Frankreichs - Besatzung und Kollaboration - bieten die von der BBC-London ausgestrahlten Sendungen in französischer Sprache der Bevölkerung im Mutterland die einzige freie Informationsalternative. Sie widerlegen die von Okkupanten und Regime propagierten Erfolgslügen und Durchhalteparolen und bereiten so der Widerstandshaltung in zunehmendem Maß wertvollen Boden. De Gaulles Radioansprache vom 18. Juni 1940, in der er nach Pétains Kapitulation in der BBC zur Fortsetzung des bewaffneten Widerstands gegen die Nazi-Besatzung aufruft, ist ebenso legendär geworden wie die allabendliche 15 Minuten-Sendung Les Français parlent aux Français auf Radio-Londres, deren heimliches Abhören zum Alltag vieler Franzosen gehört. Im besiegten Frankreich wird die kollaborationistische Indienstnahme des Rundfunks betrieben. Radio-Paris, jetzt der bestens geschulten SS-Propaganda- Staffel unterstellt, ist neben der Verbreitung antienglischer und antisemitischer Hetze darum bemüht, ähnlich wie das Radio in Deutschland, mit Musik- und bunten Unterhaltungsprogrammen die Zuhörer vom belastenden Besatzungsalltag abzulenken. Radio Nationale, der Sender des Vichy-Regimes, will Pétains ‚nationale Revolution‘ ins kollektive Bewusstsein eintrichtern. Welches Hörverhalten für die französische Bevölkerung während der ‚années noires‘ tatsächlich repräsentativ gewesen sein mag, das nazifreundliche von Radio Nationale und Radio-Paris oder das heimliche von Radio-Londres, wird mangels objektiver Daten nicht mehr zu rekonstruieren sein. Fest steht, dass dem Abhören von Radio-Londres aufgrund der klandestinen Empfangsbedingungen eine Aura riskanter Widerstandsbereitschaft anhaftet, deren Vorhandensein schlechterdings nicht zu widerlegen ist. Der Wiederaufbau des französischen Hörfunks nach der Libération vollzieht sich im Zeichen medienpolitischer Rigorosität. Der Staat ist jetzt entschlossen, den Privatrundfunk auszuschalten - zu schlecht sind die Erfahrungen mit der passiven Haltung, ja sogar der Komplizenschaft etlicher privater Stationen gegenüber dem Vichy-Regime, und als zu groß wird die Gefahr der Manipulierbarkeit eines rapide anwachsenden Hörerpublikums durch partikulare Interessen eingestuft. So kommt es zur Beschlagnahmung des Materials der privaten Sendeanstalten und zur Ausrufung des staatlichen Monopols für das Betreiben von Rundfunksendern auf französischem Boden. In den Zeitabschnitt zwischen 1945 und 1965 fallen die ‚goldenen Jahre‘ des Rundfunks in Frankreich. Noch stellt das Fernsehen technisch und kommerziell 90 keine gleichwertige Konkurrenz dar, die dem Radio seinen Status als wichtigstes Massen- und Feierabend-/ Freizeit-Medium streitig machen könnte. Vom boom des Radiohörens in den Fünfzigern legt die numerische Entwicklung der angemeldeten Rundfunkempfänger ein beredtes Zeugnis ab (Zahlen nach Brochand 1994, t. II, 499 ff.): 12/ 1945: 5,35 Millionen angemeldete Geräte 01/ 1953: 8,00 Millionen 08/ 1957: 10,05 Millionen 01/ 1961: 11,00 Millionen 7 Gestützt wird der Aufschwung des Rundfunks durch Neuerungen wie Stereophonie (ab 1950), das Autoradio (ab 1951) und Ende der fünfziger Jahre die Transistor-Technik, die dank der Miniaturisierung der Geräte für eine wichtige Verbesserung in der Mobilität und damit der Nutzungsfrequenz des Radios sorgt (für die immer wichtiger werdende jugendliche Klientel auch wegen der Unabhängigkeit von familiärer Häuslichkeit). Einen Quantensprung in der Klangqualität bedeutet ab 1954 der Zugang zum Ultrakurzwellenbereich, französisch modulation de fréquence oder FM in der englischen Abkürzung genannt. Trotz des staatlichen Sendemonopols stellt sich die damalige Radiolandschaft vielfältig dar. RTF, das Staatsradio, bietet drei Programme an, die eine Gesamteinschaltquote von etwas mehr als 50 % vorweisen: den ‚nationalen‘ Kanal mit den anspruchsvolleren Sendungen, das programme parisien, eher unterhaltsam und populär, sowie Paris Inter mit einem musikalischen Profil. Daneben existieren drei kommerzielle Privatstationen, die, der gesetzlichen Regelung entsprechend, zwar nur von ausländischem Territorium aus senden dürfen (deshalb stations périphériques genannt), bei den französischen Hörern nichtsdestoweniger großen Anklang finden. Radio Luxembourg, gegründet 1933, avanciert rasch zum Hauptkonkurrenten der RTF-Kanäle, da der Sender das beliebteste Unterhaltungsprogramm (Wunschkonzert, Familiensoap und Gewinn-/ Ratespiele) anbieten kann. 8 Radio Monte Carlo (RMC) macht sich ab 1946 auch über sein Etikett als ‚radio du soleil‘, das die Franzosen vor allem während der Urlaubszeit im Süden kennen- und schätzen lernen, hinaus einen Namen. 1955 geht ein weiterer Mitbewerber um die Gunst der französischen Rundfunkhörer auf Sendung, als der mit 400 KW damals leistungsstärkste Langwellensender in Europa vom Saarland aus in Betrieb genommen wird. Europe N o 1 verfolgt die ‚moderne‘, am amerikanischen Modell orientierte Strategie des talk radio, die Lebendigkeit, 7 Zum Vergleich: 1954 sind etwas mehr als 100.000 Fernsehgeräte angemeldet. 8 Ausgesprochen verdienstvoll, was die Kenntnis eines Mediums anbelangt, dessen Programminhalte als Tondokumente in der Regel nur äußerst schwer zugänglich sind, ist das Werk von Remonté/ Depoux (1989): Hier werden detaillierte und anschauliche Charakteristiken aller wichtigen Sendungen und Sendereihen der französischen Radiogeschichte an die Hand gegeben. 91 Spontaneität und eingängige Reportagen an die Stelle abgelesener Manuskripte setzt. Ab den 1960er Jahren bereitet der unaufhaltsame Siegeszug des Fernsehens der Rolle des Radios als öffentlichem Leitmedium ein Ende. Für Frankreich lässt sich diese Wachablösung aufgrund der Gebührenregelung exakt datieren: Da beim Erwerb eines Fernsehempfängers und den damit anfallenden Gebühren keine Abgaben für das Radio mehr gezahlt zu werden brauchen, steht fest, dass im Januar 1961 mit 11 Millionen récepteurs déclarés der Höhepunkt in der dominanten Verbreitung des Rundfunks erreicht ist; danach ist diese Zahl wegen der Anschaffung eines Fernsehers rückläufig, auch wenn die Ausstattung der Haushalte mit Radiogeräten aller Art immer dichter wird. Auf die spezifisch französischen Verhältnisse zurückzuführen ist die Legitimationskrise des staatlichen Radiosystems ab den frühen Sechzigern. Das Prinzip des ‚Regierungsfunks‘ (‚Le gouvernement dans chaque ménage‘) wird immer weniger akzeptiert. Deshalb gelingt der Reform des audiovisuellen Mediensystems von 1964, insbesondere aber der Neugliederung von Radio France in die Kanäle France Inter, France Culture und France Musique ein Modernisierungsschub, der dem Rückgang Einhalt gebietet. In der Konsequenz muss vor allem Radio Luxembourg mit seiner ‚altmodischen‘ Programmstruktur reagieren. Eine radikale Verjüngungskur im Jahr 1966 lässt den Sender unter dem griffigeren Kürzel RTL auch längerfristig zum Marktführer aufsteigen. Europe N o 1, durch die diversen Strukturreformen der Konkurrenz ins Schwanken geraten, erkennt ebenfalls die Notwendigkeit zur Modernisierung: Dank der Übernahme durch die Hachette-Gruppe (1986) und mit dem verkürzten Label Europe 1 kann sich auch dieser Sender weiterhin in der Führungsgruppe behaupten. Die Politik ist es, die dem Rundfunk in Frankreich noch einmal eine mediale Sternstunde während der Mai-Unruhen des Jahres 1968 verschafft. Da sich die Fernseh- und Zeitungsjournalisten im Streik befinden bzw. zensiert werden, kommt dem Radio eine besondere Bedeutung als maßgeblichem Informationsmedium zu. Dank der Mobilität ihrer Apparate können sich die Rundfunkreporter spontan ‚vor Ort‘ begeben, um live von den Ereignissen auf und um die Barrikaden zu berichten. Und um die besondere Wirkung des gesprochenen Wortes in der Rundfunkkommunikation auszunutzen, wendet sich Charles de Gaulle in seiner Rede vom 30. Mai 1968, in der er die Rückkehr zur ‚Ordnung‘ verkündet, ausschließlich über das Radio an die Bevölkerung. Im Zusammenhang mit jugendlichem Verlangen nach Unabhängigkeit und Artikulation von Protest steht auch der Kampf um die ‚radios libres‘ (‚Piratensender‘), der die Radiogeschichte der siebziger Jahre prägt. Hinter Initiativen wie Radio Lorraine Cœur d’acier oder Radio Active, die von der Obrigkeit im Namen des staatlichen Sendemonopols hartnäckig verfolgt werden, steckt einesteils das Aufbegehren gegen konkrete Maßnahmen wie Industriestilllegungen oder den Bau von Atomreaktoren. Darüber hinaus offenbart die Flut der Untergrund-Sender aber auch das generelle Bedürfnis nach einem authentischen Lo- 92 kalrundfunk (radios de proximité) in der zentralistischen Medienlandschaft Frankreichs. Nach dem Wahlsieg der Linken 1981 und der Loi Fillioud, der Einrichtung des dualen Systems 1982, stellt sich rasch Ernüchterung ein: Die Freigabe für private Lokalsender ist an empfindliche Auflagen gebunden (vor allem striktes Werbe-Verbot), die das Überleben der meisten Stationen nur als ‚radios associatives‘, erlauben, bei denen dann doch wieder ein Einheitsprogramm den lokalen Anteil auf 20 % herunterschraubt. Als noch desillusionierender erweist sich die Tatsache, dass das politisierte Sendekonzept der radios libres-Pioniere eindeutig am Publikumsgeschmack vorbeigeht. Das Sagen bekommen so die ‚Macher‘, die vielen Lokalstationen ein Standard-Programmschema mit stromlinienförmiger Musikunterhaltung und Kurzinformation verpassen. Zur gleichen Zeit sind die etablierten Kanäle, staatliche wie private, bestrebt, die neuen medialen Verhältnisse auszunutzen, die Kommerziellen durch Beteiligung an den erfolgversprechenden Neugründungen oder durch Lancierung von Ablegern wie Europe 2 oder RTL 2; Radio France mit der Einrichtung von Lokalstationen und von Spartenkanälen wie France Info (1987) oder Le Mouv’ (1997). Am Beginn des 21. Jahrhunderts steht der Rundfunk in Frankreich im Zeichen wichtiger technologischer Neuerungen, die seine Praxis in zunehmendem Maße bestimmen. DAB (Digital Audio Broadcasting), das digitale Radio, und RDS (Radio Data System), das in Verbindung mit einem zusätzlichen Informationsservice den störungsfreien UKW-Empfang eines Senders im Auto auch über längere Entfernungen hinweg ermöglicht, bieten wesentliche Empfangsverbesserungen; über Satellit und vor allem auch mit dem Internet-Radio eröffnen sich ganz neue radiophone Kommunikationsmöglichkeiten, deren gestalterische, ökonomische und gesetzliche Konsequenzen noch nicht abzuschätzen sind. 2.3 Rundfunktheorie: Materialeigenschaften und Funktionsbestimmung Spätestens seit Marshall McLuhan bedarf es keiner weiteren Herleitung mehr um festzustellen, dass jedes halbwegs elaborierte Medium mehr ist als ein bloßes ‚Mittel‘ oder ein ‚Träger‘, weil seine Materialeigenschaften und Kommunikationsbedingungen die Inhalte und damit auch das Verwendungspotenzial in entscheidender Weise determinieren. Insofern soll im Folgenden die Verständigung darüber, welche Grundeigenschaften dem Hörfunk innewohnen, Aufschluss über mögliche Funktionsbestimmungen des Mediums in Abhängigkeit von den jeweils als dominant angesehenen Wesensmerkmalen und damit über die Spielarten radiophoner Kommunikation geben. Drei ‚Sondereigenschaften‘, um auf Rudolf Arnheims Begriff zu rekurrieren (Arnheim 1979, 8), treten als zentrale Konstituenten der Produktion, Diffusion 93 und Rezeption von Hörfunk-Veranstaltungen in den Vordergrund: (1) der strikt auditive Charakter der Radiokommunikation; (2) die Fähigkeit des Mediums, die Wirklichkeit in ihrer akustischen Dimension live zu reproduzieren und zu übertragen; (3) die im Vergleich zu anderen technisch erzeugten Medien verhältnismäßig einfachen Sende- und vor allem Rezeptionsbedingungen. (1) Die Kennzeichnung des Radio-Dispositivs als eines monosensorischen, das sich auf die Übermittlung der akustischen Artikulationen Sprache, Klang (Musik) und Geräusche ‚beschränkt‘, ist nicht so banal, wie es scheinen mag, hat sie doch bereits in der Frühzeit eine Diskussion über die Konsequenzen dieser Einkanaligkeit ausgelöst und eine normative Bestimmung der Ontologie des Hörfunks und damit seines Einsatzes hervorgebracht, die die Implikationen der Auditivität mit letzter Konsequenz hervorkehrt. Die Radikalposition, wie sie der Film- und Radiotheoretiker Rudolf Arnheim in seinem erstmals 1936 publizierten Werk, das den programmatischen Titel Rundfunk als Hörkunst trägt (Arnheim 1979), vertritt, ist sowohl in ihrem Eigenwert als auch in ihrer Qualität als Kontrastfolie zur tatsächlichen Entwicklung, die die Hörfunkkommunikation dann im Laufe der Jahrzehnte eingeschlagen hat, außerordentlich erhellend. Arnheim lehnt es grundsätzlich ab, im Sendeauftrag des Radios, „die Welt für das Ohr darzustellen“ (Arnheim 1979, 22), eine Beschränkung, also ein Defizit des Mediums zu sehen. Trotz oder gerade wegen ihres monosensorischen Charakters kann eine ‚Funksendung‘ vielmehr Vollständiges bieten, indem sie durch alle Gestaltungsmittel des Hörbaren dem Wesen ihres jeweiligen Sendeinhalts „seinen prägnantesten, eindeutigsten Ausdruck“ verleiht (Arnheim 1979, 14). Aus dieser Grundannahme resultieren zwei Konsequenzen, die in einer engen gedanklichen Verbindung miteinander stehen. Zum einen wird im Namen der postulierten auditiven Autonomie vehement der Vorstellung widersprochen werden, der Rundfunk habe akustische Ersatz- und Ergänzungsbildungen zu produzieren, die in der Lage seien, das optische Vorstellungsvermögen zu stimulieren und so räumlich-visuelle Wahrnehmungen im Kopf der Zuhörer entstehen zu lassen. Eine solche Auffassung vom Radio als Medium, das sein wesensmäßiges Defizit, das Fehlen des optischen Kanals, nach allen Kräften zu kompensieren hätte, verkennt nach Arnheim seine wahre Bestimmung. „Lob der Blindheit: Befreiung vom Körper“ lautet die programmatische Überschrift des zentralen Kapitels dieser Hörfunktheorie, und in makabrer Anwendung der ‚Blindheits‘- Metapher, die im Übrigen häufig zur Kennzeichnung der Rezeptionssituation des Radiohörens herangezogen wird, 9 ließe sich Arnheims Verständnis des Mediums folgendermaßen erläutern: Der Hörfunk setzt keine ‚Blinden‘ voraus, die irgendwann durch Krieg, Unfall oder Krankheit ihr Augenlicht verloren haben und denen durch die Höreindrücke des Funks zur mentalen Mobilisierung ihrer 9 Vgl. etwa den Titel der im deutschsprachigen Raum bekannten Hörspielsammlung von Heinz Schwitzke: Sprich, damit ich dich sehe. Sechs Hörspiele und ein Bericht über eine junge Kunstform (München, 1960). 94 gespeicherten optischen Erfahrung verholfen werden müsse, sondern eine Rezeptionssituation des ‚genuinen Blindseins‘, der jeglicher Bezug zur visuellen Wahrnehmung abgeht. Denn ‚Hör-Funk‘ ist eben kein bloßer Übermittlungsapparat von Welt, sondern kommuniziert „eine von der Wirklichkeit durch eigene Formgesetze unterschiedene Hörwelt“ (Arnheim 1979, 85), die dem „Klang ohne Bild“ (Arnheim 1979, 7) zur Verwirklichung verhilft. Mit Hilfe von Registern wie Dynamik, Tonhöhe, Intervalle, Überlagerungen, Rhythmus oder Tempi entfaltet Radio die „Grundkraft des Klangs“ (Arnheim 1979, 20) und wirkt so wesentlich intensiver als jeder (nur) auf Referentialität bedachte Wortsinn. 10 Zum zweiten, und darauf verweist bereits die Titelformulierung von Arnheims Werk, wohnt dieser radikalen Entgegenständlichung eine schöpferische Herausforderung inne. Hörfunk ist demnach ein Kunstmedium. 11 Eine solche ontologische Standortbestimmung muss zwangsläufig alle auf die Realität bezogenen und reproduktiven Sendeprogramme, selbst die Klangübertragungen aus Konzertsaal und Opernhaus, abwerten, weil diese immer nur „bloße Teiläußerung eines größeren Ganzen [bleiben], dessen Wahrnehmung dem Hörer versagt ist“ (Arnheim 1979, 83). Einzig und allein das Hörspiel stellt die idealtypische Verwirklichungsform von ‚Hör-Funk‘ dar, weil sich in ihm das Akustische in der Schaffung autonomer Hörwelten selbst vollendet. Friedrich Knilli greift in seiner Hörspiel-Ästhetik aus den sechziger Jahren (Knilli 1961) Arnheims Radiotheorie auf und demonstriert, wie die Verabsolutierung der auditiven Grundeigenschaft in der ästhetischen Vollendung des Rundfunks im Hörspiel mündet. Das mediumgerechte Hörspiel im Sinne Knillis hat nichts mit den mimetisch verfahrenden Gattungsbeispielen zu tun, die in ihren noch so kunstvollen Übertragungen gedruckter oder audiovisueller Stoffe aus Theater und Film um jeden Preis die Affinität zu anderen literarischen Vorgaben suchen. Es stellt sich vielmehr im Idealfall als völlig „bildfreies Schallspiel“ (Arnheim 1979, 29) dar, das der „Eigenwelt der Schallvorgänge“ (Arnheim 1979, 90) zu ihrer Verwirklichung verhilft und eine Rezeptionshaltung zu erzielen trachtet, bei der „kaum oder überhaupt keine visuellen Vorstellungen aufsteigen: das Nur-Hören“ (Arnheim 1979, 88; Hervorhebung original): Nur-Hören fördert Maßnahmen, die den Hörer daran hindern, das Gehörte in der Außenwelt des Hörspiels unterzubringen oder mit Außenweltlichem gleichzusetzen.“ (90; Hervorhebungen original) 10 Eine derart kategorische Abkoppelung der Wirkungsweise des Hörfunks von der optisch konditionierten Vorstellungskraft im Namen des losgelöst von jeder Körperlichkeit existierenden „rein Klanglichen“ (Arnheim 1979, 86) hat in keinem Geringeren als Michel Butor einen späteren Verfechter gefunden (Butor 1968, 397): „La radio nous permet une expérience particulièrement pure de l’audition [...], celle des aveugles; et, tels des aveugles, nous devenons de plus en plus sensibles aux aspects proprement musicaux du langage, sur lesquels nos appareils nous permettent d’ailleurs de travailler directement.“ 11 „Es ist der „Rundfunkkünstler, [der] in der Beschränkung auf das Hörbare seine Meisterschaft zu entfalten [hat]“ (Arnheim 1979, 82). 95 Die Hauptmerkmale des Totalhörspiels sind: totale Bespielung der Schallwelt und Realisation von Gestalten, nicht Abbildung von Gestalten. (110; Hervorhebung original) (2) Der produktions-ästhetische Ansatz Arnheims und seiner Nachfolger ist ohne Zweifel in sich stimmig, darüber hinaus hat er der Kunstform des Hörspiels zu einer unabweisbaren Legitimation und damit auch in Zeiten einer vorrangig auf Massenwirksamkeit ausgerichteten Medienpolitik zu festen Sendeplätzen verholfen, auch wenn es ohne große Anteilnahme der Öffentlichkeit „vor sich hin sendet, sich versendet, wie es im Jargon so schön heißt“ (Esser 1996). In der tatsächlichen Entfaltung seiner Programmstrukturen hat das Medium ‚Rundfunk‘ eindeutig einen ganz anderen Weg eingeschlagen, als es die Arnheimschen Reflexionen über die Implikationen der auditiven Grundeigenschaft erwarten ließen. Der Grund hierfür liegt darin, dass Arnheim ein offenkundiger kommunikationstheoretischer Denkfehler vorgeworfen werden muss. Er verkennt in seiner normativen Fixierung auf den Akt der radiophonen Hervorbringung schlechterdings die Bedeutung der pragmatischen Dimension von ‚Rundfunk‘. So bleibt unberücksichtigt, dass wie jeder Kommunikationsform auch dem Radio ein Handlungscharakter eigen ist, wobei der Handlungszweck und die ihm entsprechenden Durchführungsmodalitäten nicht ausschließlich Sache des Senders sind, sondern sich auch und in besonderer Weise von den Erwartungen und Bedürfnissen der Empfänger her definieren - dies in unserem Fall umso eindringlicher, als die kommerzielle Konditionierung der Institution ‚Radio‘ nicht hoch genug veranschlagt werden kann. In der Kommunikationspraxis dementieren die Nutzer des Mediums seine ästhetische Dominantsetzung, sie schalten sich vielmehr ein, weil sie in den Genuss einer anderen Grundeigenschaft, die von Arnheim für mediumspezifisch defizitär angesehen wird, kommen wollen, der Fähigkeit des Radios nämlich, „die Wirklichkeit durch Übermittlung der realen Geräusche abzubilden“ (Arnheim 1979, 12). Die akustische Reproduktion von Realitätsausschnitten, ‚Ereignissen‘ im weitesten Sinn, und deren - gegebenenfalls zeitgleiche - ‚Übertragung‘ an eine beliebig große Gruppe eingeschalteter HörerInnen, stellt ein weiteres Materialdispositiv des Hörfunks, wie es aus seiner Technik, den Aufnahme- und Sendebedingungen hervorgeht, dar. Sieht man von der Intelligibilität des monologisch gesprochenen Wortes (Reden, Proklamationen) und der Evidenz der Musik (Konzert, Oper, Open-Air) ab, die zu ihrer Identifizierung lediglich der einführenden oder auch nachträglichen mündlichen Präsentation im Programmablauf bedürfen, benötigt die Radiokommunikation aufgrund der akustischen Uneindeutigkeit von Ton- und Geräuschkulissen (man denke etwa an Sportübertragungen oder Diskussionsrunden) eine zusätzliche Vermittlungsinstanz, die, je nach den Gegebenheiten durch kurze verbale Verweisungen eines Moderators oder den ausführlichen Augenzeugenbericht, empfangsseitig für die adäquate Entschlüsselung der Realitätsübertragung sorgt. Ob in Gestalt unmittelbaren Hörens von Tonereignissen oder, um nochmals die ‚Blinden‘-Metapher in einer 96 freilich polemischen Formulierung Arnheims zu strapazieren, dank des „dem hilflosen Hörer beigesellten Blindenhundes, des Reporters“ (Arnheim 1979, 84), das Radio ist ein Informationsmedium par excellence, das in der Lage ist, seinen Hörern schneller und in wesentlich kürzeren Abständen als die Zeitung Aufschlüsse über den aktuellen oder vergangenen Weltzustand zu liefern. Dieser Einsatzmöglichkeit verdankt das Medium - vom 1924 mit großem Erfolg in Frankreich eingeführten ‚journal parlé‘ bis zu den Info-Kanälen unserer Tage - einen wesentlichen Teil seiner buchstäblichen ‚Ausstrahlungskraft‘. Auch diese Kennzeichnung ist in ihrer Evidenz nicht so unproblematisch, wie es den Anschein hat, haftet der Informationsfunktion doch eine wahrnehmungspsychologische Begleiterscheinung an, die uns auch bei den beiden zu behandelnden audiovisuellen Medien ‚Kino‘ und ‚Fernsehen‘ begegnen wird, der sog. ‚effet de réalité‘. Mit diesem Begriff wird die Tatsache gekennzeichnet, dass aufgrund der Faszination, die die Exaktheit der technischen Reproduktion von Wirklichkeit hervorruft, die übermittelten Realitätseindrücke, seien sie akustisch, visuell oder audiovisuell, für authentisch gehalten werden. Die Suggestivkraft der mit modernen Aufzeichnungsapparaturen ‚live‘ erzeugten Hörbilder bzw. visuellen Bewegungsabläufe ist so unwiderstehlich, dass der mit ihrer Übertragung verknüpfte Wirklichkeitsanspruch einfach gültig sein ‚muss‘. Die Wirkungsweise dieses ‚Realitätseffekts‘ hat gerade im Bereich des Hörfunks eine mediumimmanente Demonstration spektakulärer Art gefunden - Orson Welles’ Hörspiel The War of the Worlds aus dem Jahr 1938, das bekanntlich während seiner Ausstrahlung eine regelrechte Massenpanik in New York hervorrief (vgl. dazu die ausführliche Analyse in Faulstich 1981). Die Radiofiktion einer kriegerischen Invasion der Marsmenschen auf der Erde bezieht ihre Bedeutung weniger aus den inhaltlichen Implikationen dieser Science-Fiction- Produktion als durch ihren Status als Reflexion darüber, welches Wirklichkeitspotenzial ein Medium wie der Hörfunk grundsätzlich in sich birgt und entfalten kann, wenn nur die elementaren Parameter der Radiokommunikation - konventionalisierte Sendekomponenten wie live aufgezeichnete Tonereignisse (Geräusche, Stimmen), Reporterberichte ‚vor Ort‘ und die Bezugnahme auf den ‚normalen‘ Programmablauf - gewahrt bleiben. Faulstich ist zuzustimmen, wenn er aus der Produktion und Rezeptionsweise von The War of the Worlds den allgemeinen Schluss zieht, dass sich in der medialen Wirklichkeitsreproduktion Wahrheit überhaupt erst durch ‚Überredung zur Wahrheit‘ (Faulstich 1981, 36) - kraft des ‚effet de réalité‘, wäre hinzuzufügen - konstituiert. Damit eröffnet sich zugleich dem Spektrum der Instrumentalisierungsmöglichkeiten des Hörfunks eine Erweiterung, die in Verbindung mit der dritten Spezifität des Mediums Bedeutung gewinnt. Wenn von der Informationsqualität des Radios die Rede ist, muss zuvor jedoch auf die Bedeutung einer Determinante hingewiesen werden, die spätestens ab 1960 jede radiotheoretische Reflexion über die Funktionspotenziale des Rundfunks in Betracht zu ziehen hat - das Vorhandensein eines Medien-Verbunds, der die zwangsläufige Abgleichung des Einsatzes mit demjenigen des Konkurrenz-Mediums ‚Fernsehen‘ mit sich bringt. 97 So gilt im konkreten Zusammenhang, dass die Nutzung des Radios als Reproduktionsapparat von Welt in dem Augenblick an Relevanz einbüßen muss, wo die Fernsehübertragung imstande ist, die sichtbare Wirklichkeit ‚total‘, in Bild und Ton, aus sich selbst heraus ‚sprechen zu lassen‘ und damit einen gesteigerten Grad von Objektivität für sich beansprucht. Ohne dass man sich zeitgleich oder später durch die Fernsehaufnahmen eines akkreditierten TV-Kanals vergewissern könnte, würde sich heute ebenso wenig ein Realitätseffekt zur Invasion von Marsmenschen erzeugen lassen, wie die verheerenden Ereignisse vom 11. September 2001 einer nur akustischen Vermeldung oder Reportage auf Anhieb geglaubt worden wären. (3) Eine technische Konsequenz aus der monosensorischen Natur des Hörfunks ist die relative Einfachheit seiner kommunikativen Rahmenbedingungen, sowohl was die Erzeugung der Sendeinhalte und ihre Übertragung im Vergleich zu dem immer noch wesentlich aufwändigeren Einsatz der TV-Apparaturen, als auch was den Empfang des Gesendeten anbelangt. Die Miniaturisierung der Geräte wie auch ihr mobiler Einsatz erlauben eine praktisch permanente Rezeption ohne besonderen Aufwand, zudem erfordert ‚Hören‘ in dispositiver und wahrnehmungspsychologischer Hinsicht einen wesentlich geringeren Grad an körperlicher Zielgerichtetheit und sensorischer Konzentration als die optische Rezeption von Bildschirmsignalen. Die moderne Konsequenz aus dieser Grundeigenschaft ist das Phänomen der radiophonen Dauerberieselung, dank derer das Medium als Betäubungsmechanismus gegen Isolation oder als Lückenbüßer für fehlende zwischenmenschliche Kommunikation eingesetzt wird, eine Praxis, die aus dem Katalog der Einsatzmöglichkeiten von ‚Hörfunk‘ nicht mehr wegzudenken ist. In der Kombination mit den beiden anderen Potenzialen des Mediums, des kreativen und des informativen, hat die Anspruchslosigkeit des Kommunikationsvorgangs in pragmatischer Hinsicht zunächst jedoch Anlass zu Überlegungen gegeben, wie diese mediale Eignung des Rundfunks ausgenutzt werden kann, um einstellungs- und verhaltensrelevante Wirkungen bei der Hörerschaft hervorzurufen. Je nachdem, ob diese Überlegungen die Unilateralität des Kommunikationsvorgangs oder die Möglichkeit bilateraler Interaktionsweisen ins Auge fassen, resultieren manipulative oder emanzipatorische Funktionsbestimmungen aus einer derartigen Akzentuierung der pragmatischen Dimension. Als manipulativ sind solche Strategien einzustufen, die die gefühlsmäßige Wirkung von Hörer-Ansprachen zu instrumentalisieren trachten. Nach Arnheim bringt die Wahrnehmung einer ausdrucksvollen, von allem Körperlichen losgelösten Stimme (die „Ursituation des Rundfunks“ (Arnheim 1979, 105)) ein „vollkommen geschlossenes Persönlichkeitserlebnis“ (Arnheim 1979, 86) zustande. Dank der Gleichzeitigkeit von Sende- und Empfangszeitpunkt erzeugt der Höreindruck ein potenziertes Zugehörigkeits- und damit Gemeinschaftsgefühl, das die Hemmschwelle der Affirmation herabsetzt und die Hörer zu ‚Ge- 98 führten‘ macht. 12 Die Mobilisierung solcher emotiver ‚Gleichschaltungs‘- Potenziale und die Erzeugung kollektiver Euphorie ist nicht einmal ausschließliches Privileg faschistischer Radiopraktiken wie etwa in Gestalt der Übertragungen von Hitler- und Goebbels-Reden, sondern kann, dosiert und gelegentlich, innerhalb demokratischer Mediengesellschaften Anwendung finden. Man denke im französischsprachigen Bereich etwa an die bereits erwähnte Rede de Gaulles vom 30. Mai 1968: Zu einem Zeitpunkt, wo der Rundfunk seine Rolle als öffentliches Leitmedium noch nicht an das Fernsehen abgegeben hat, setzt der französische Staatspräsident, indem er sich ausschließlich über Funk an die verunsicherte Nation richtet, noch einmal auf die Magie der entkörperlichten Radio-Stimme, um die Angesprochenen von seiner Sache zu überzeugen. Im Verlauf der Rundfunkgeschichte sind aber auch Ansätze zu einer aufklärerischen Pragmatik vermittels der radiophonen Grundeigenschaften entwickelt worden. So hat sich bereits an der Schwelle der dreißiger Jahre Bertolt Brecht zu den emanzipatorischen Möglichkeiten des Mediums ‚Radio‘ geäußert, von dem er freilich im Grundsatz überzeugt war, dass seine Erfindung ein technisches fait accompli darstelle, das niemand so richtig gebraucht habe. Angesichts seiner Existenz fordert Brecht, „aus dem Radio eine wirklich demokratische Sache zu machen“, indem „den Mächten der Ausschaltung durch eine Organisation der Ausgeschalteten“ entgegenzutreten sei (Brecht 1967, 121 u. 131). Die Zuhörer sollen ihrer passiven Rezeptionshaltung enthoben und in den Prozess der Generierung von Sendungen einbezogen werden: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstände, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren. (Brecht 1967, 129) Für die praktische Umsetzung bestimmt auch Brecht, freilich unter ästhetischen Prämissen, die denen des ‚Nur-Hörens‘ von Arnheim und Knilli diametral entgegengesetzt sind, das Hörspiel zur idealen Sendeform und entwirft mit dem Radiostück Der Lindbergh-Flug (Ozeanflug) ein Anwendungsbeispiel, das im Wesentlichen den Ausdrucksmitteln seines epischen Theaters verpflichtet ist. Mittel- oder gar langfristig stellt jedoch auch dieses Konzept keine Alternative dar, die den tatsächlichen Hörbedürfnissen der Massen gerecht werden könnte. Ähnlich verhält es sich mit Hans Magnus Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien, einem Appell aus der Nach-68er-Zeit, mit Brechts Forderung, mit der Umfunktionierung des Rundfunks von einer medialen Veranstal- 12 Vgl. dazu vor allem Gerd Eckert: Der Rundfunk als Führungsmittel. Heidelberg/ Berlin/ Magdeburg, 1941, referiert in Faulstich 1991, 41-45. 99 tung zur Verhinderung von Kommunikation zu einem authentischen ‚Kommunikationsapparat‘ Ernst zu machen. (Enzensberger 1970, 160). Die auf urbürgerliche Ängste vor dem ‚Massenmenschen‘ zurückgehende Medienfeindschaft der Linken wird eine ebenso entschiedene Absage erteilt (Enzensberger 1970, 164), wie den modernen Medien schlechthin eine ‚mobilisierende Kraft‘ zugetraut wird: Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär. Durch einen einfachen Schaltvorgang kann jeder an ihnen teilnehmen; die Programme selbst sind immateriell und beliebig reproduzierbar. Damit stehen die elektronischen im Gegensatz zu älteren Medien wie dem Buch oder der Tafelmalerei, deren exklusiver Klassencharakter offensichtlich ist. [... ] Tendenziell heben die neuen Medien alle Bildungsprivilegien, damit auch das kulturelle Monopol der bürgerlichen Intelligenz auf. (Enzensberger 1970, 167) Enzensberger gründet seinen Optimismus von 1970 in die interessante und heute immer noch diskutable Überzeugung, dass die Veranstaltung einer freiheitlichen massenmedialen Kommunikation jenseits der Mechanismen der ‚Bewusstseinsindustrie‘ (Horkheimer/ Adorno) deshalb nicht unterdrückbar sei, weil wegen der Einfachheit und damit potenziellen Massenhaftigkeit des Kommunikationsprozesses die lückenlose Überprüfung einen Kontrollapparat erfordere, der aufwändiger sei als das System selber und deshalb scheitern müsse (Enzensberger 1970, 161 f.). Den bis dato letzten Ansatz zur Verwirklichung einer alternativen Rundfunk- Kommunikation stellt der Durchsetzungsversuch der ‚freien Radios‘ (radios libres) Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre in den meisten westeuropäischen Industrienationen dar, der auch von einer theoretischen Reflexion flankiert wird. 13 Auch die ‚freien Radios‘ wollen das Hör-Medium zu einem solchen der authentischen Kommunikation mit dialogischer Struktur und egalitären Produktionsbedingungen umgestalten und so ein Radio der neuen, bürgernahen Inhalte (Vermittlung ungefilterter Erfahrungen ‚vor Ort‘), der neuen Sprecher (die ‚von unten‘, nicht die gleichgeschalteten, die das kommerzielle System hervorbringt), der neuen Sprache (Umgangssprache, Dialekt statt nivellierendem Medienjargon) und der neuen Formen (die die herkömmlichen Sendeschemata und Programm-Rasterungen außer Kraft setzen) ins Leben rufen. Geblieben ist von diesen emanzipatorischen Ansätzen der Rundfunk- Kommunikation, pessimistisch formuliert, lediglich die Schwundstufe radiophoner Partizipation, die unter dem Modewort ‚Interaktivität‘ firmiert: Es gehört mittlerweile zum Erfolgskonzept praktisch aller Sender, Zuhörer und Zuhörerin- 13 Der markanteste Beitrag stammt ebenfalls aus dem deutschsprachigen Raum: Christoph Busch: Was Sie schon immer über Freie Radios wissen wollten, aber nie zu fragen wagten. München, 1981; vgl. die Auseinandersetzung mit diesem Konzept in Faulstich 1991, 79-84. 100 nen zur telefonischen ‚Mitgestaltung‘ der Sendungen zu animieren, 14 und zwar in Form von Musikwünschen, Grußadressen, bestenfalls noch von Abstimmungsvoten, Meinungs-Statements oder kurzen Erfahrungsbeiträgen zu einem vorgegebenen Rahmenthema, ohne dass sich die Radiomacher durch das Prinzip der ‚libre antenne‘ deshalb schon grundsätzlich Duktus und Tendenz ihrer Sendungen aus der Hand nehmen ließen. Die festzustellende Ineffizienz der hehren Motivationen des Radiomachens, seien sie ästhetischer und/ oder pragmatischer Natur, markieren den Punkt, an dem die theoretische Besinnung auf die Möglichkeiten des Mediums an ihre Grenzen stößt und die medienkundliche Erklärung den Weg der Empirie einzuschlagen hat, um die ausschlaggebenden Konstituenten der heutigen Radiokommunikation zu bestimmen. 2.4 Der Funktionswandel des Hörfunks: Eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Radiolandschaft in Frankreich Im Anschluss an die theoriegeleiteten Ansätze zur Bestimmung der Funktionspotenziale des Mediums ‚Radio‘ wird die folgende Beschreibung und Auswertung der numerischen Gegebenheiten und der inhaltlichen Profile, wie sie den derzeitigen Rundfunkmarkt in Frankreich kennzeichnen, betrieben, um mit dieser praktischen ‚radioscopie‘ konkrete Aufschlüsse über die Faktoren und Tendenzen zu gewinnen, die aktuell und in der absehbaren Zukunft die Modalitäten der Rundfunkkommunikation beherrschen werden. Dabei erweist sich, wie bereits in Kap. 1, das reichhaltige Material, das das Medienforschungsinstitut Médiamétrie unter der Internet-Adresse www.mediametrie.fr/ radio/ resultats an die Hand gibt (insbesondere das aufbereitete Material der Sondierung „75.000+ Radio“), als unverzichtbar. Beginnen wir die Sichtung mit der Rangliste der 15 wichtigsten Einzelsender hinsichtlich Marktanteil, Hördauer und Anzahl der eingeschalteten Hörer (‚audience cumulée‘); 15 die Werte geben das werktägliche Hörverhalten im 2. Quartal 2002 an: 16 14 Bei Europe 1 macht die ‚expression directe‘ einen Sendeanteil von 38 % aus (Cheval 1997, 181). 15 Anlass zu Missverständnissen gibt die nicht in allen Publikationen hinreichend beachtete Unterscheidung zwischen ‚Marktanteil‘ und ‚audience cumulée‘ (so etwa auch in dem insgesamt wenig überzeugenden Beitrag von Veith 2001), die beide trotz völlig verschiedener Bezugsgrößen sehr oft in Prozentwerten angegeben werden: Während „Marktanteil“ den prozentualen Anteil am Gesamt-Hörvolumen eines Werktags (100 %) angibt, ist ‚audience cumulée‘ definiert als die Gesamtheit der Personen (ab 15 Jahren), die - unabhängig von der tatsächlichen Hördauer - mindestens ein Mal im Sondierungszeitraum den betreffenden Sender eingeschaltet haben (hier beziehen sich die Prozent- 101 Sender Marktanteil [in %] Einschaltdauer [in Minuten] Audience cumulée [Hörer in Mio.] RTL 13,0 163 6,12 France Inter 10,1 141 5,45 Europe 1 7,7 127 4,64 NRJ 7,2 98 5,59 Les Indépendants 7,0 111 4,78 Nostalgie 5,8 116 3,82 France BLEU 5,4 133 3,11 France Info 4,6 68 5,11 Fun Radio 4,5 97 3,59 SkyRock 4,5 102 3,35 Chérie FM 4,3 115 2,87 Europe 2 4,2 110 2,92 RFM 2,8 114 1,91 RTL2 2,6 97 2,01 RMC Info 2,3 117 1,53 Auf den ersten Blick scheint das Ranking dem ‚herkömmlichen‘ Erscheinungsbild, wie es seit über 40 Jahren die französische Rundfunklandschaft prägt, zu entsprechen: Die in der historischen Herleitung bereits genannten drei großen Generalistenstationen führen immer noch das Feld an, der kommerzielle Sender RTL ist nach wie vor Marktführer. Dennoch wird der Betrachter bei näherem Hinsehen Tendenzen gewahr, die Ausdruck des generellen Strukturwandels der Radiophonie in Frankreich seit der Ausrufung der audiovisuellen Kommunikationsfreiheit durch die Loi Fillioud und der damit verbundenen Explosion des Programmangebots sind. So macht der Marktanteil von RTL, France Inter und Europe 1 zusammen gerade noch ein knappes Drittel aus, während die Sender, die sich auf die Ausstrahlung von Unterhaltungsmusik spezialisiert haben (vorrangig NRJ, ein Kanal, der bezüglich der Zahl der eingeschalteten Hörer sogar vor France Inter an zweiter Stelle liegt), aber auch die Nachrichten- und Lokal- werte auf den Anteil an der Bevölkerung ≥ 15 Jahre), weshalb nachfolgend die Angabe der Hörerschaft in absoluten Zahlen präferiert wird. 16 Das Hörverhalten am Wochenende, das hinsichtlich der Anzahl der RadioteilnehmerInnen und Einschaltdauer rund 10 % unter den Werktagswerten liegt, weist zwei signifikante Unterschiede in der Rangordnung auf: (a) Deutliche Rückgänge in der audience cumulée müssen die drei ‚Großen‘ verzeichnen (RTL -3,2%; France Inter -2,4 %; Europe 1 -1,8 %). Sie eignen sich mit ihren Mischprogrammen offenbar in erster Linie als ausgesprochene Werktagsbegleiter. (b) Von den ‚Freizeit‘-Rezeptionsbedingungen profitieren sowohl die noch öfter zu nennenden Musikkanäle, deren Rückgänge in der Hörerzahl geringer ausfallen und deren Marktanteil dank ihres Beschallungsangebots ansteigt, als auch die Lokalstationen, für die dasselbe gilt. 102 stationen mit ihrer hohen Einschaltfrequenz in erheblichem Maße nach vorne drängen. Um Klarheit über die veränderte Qualität des Hörverhaltens der französischen Bevölkerung zu gewinnen, ist deshalb eine genauere Sortierung des Senderangebots vonnöten. Eine erste Rasterung betrifft den Status der einzelnen Kanäle (wiederum nach mediametrie.fr, Stand: 2. Quartal 2002, Montag-Freitag): 17 Status Marktanteil [in %] Einschaltdauer [in Minuten] Audience cumulée [Hörer in Mio.] Radios de service public 22,6 130 13,3 Radios privées commerciales 71,2 170 32,0 Radios privées associatives 2,7 107 1,9 Autres programmes 18 3,5 99 2,7 Der nach der Terminologie des deutschen Mediensystems ‚öffentlich-rechtliche‘ Sektor (service public) wird von den einzelnen Kanälen der Sendeanstalt Radio France gebildet 19 und kann sich derzeit (noch) mit einem Marktanteil von knapp einem Viertel des Gesamt-Hörvolumens behaupten. Allerdings ist festzuhalten, dass diese Zahl seit einiger Zeit in empfindlichem Maße rückläufig ist (1996 beherrschte Radio France den Markt noch zu 45 %; vgl. Cheval 1997, 160). Werktags schalten 27,8 % der französischen Bevölkerung ab 15 Jahren für durchschnittlich 130 Minuten die diversen Programme von Radio France ein, wobei nach einem Médiamétrie-Längsschnitt-Panel die Zahl aller Individuen, die im Zeitraum von drei Wochen mindestens einmal einen Kanal von Radio France frequentieren, sogar auf 54,4 % (26 Millionen Hörer) ansteigt (Zeitraum Oktober 2001/ Februar 2002). Als bis dato letzte Vertreterin in der Kette der staatlichen Rundfunkanstalten, die sich auf Paris-PTT zurückführen lassen, ist Radio France in dieser Benen- 17 Die entsprechende Wochenendstatistik verzeichnet bezüglich der Marktanteile Zugewinne im service public (+ 1,5 %) und bei den radios associatives (+ 0,6 %) auf erhebliche Kosten der Kommerziellen (- 2,5 %); entsprechend fallen die Größenordnungen des Hörer-Rückgangs am Samstag und Sonntag aus: service public: -1,8 Millionen, Kommerzielle: - 4,9 Millionen, Assoziative: - 0,96 Millionen. 18 Unter anderem ausländische Stationen, nicht-identifizierbare Radios oder Radios ohne Status. 19 Genau genommen, von Radio France und Radio France Internationale (RFI), dem Auslandsradio, das dem Außenministerium unterstellt ist und über Kurzwelle und heutzutage vornehmlich über Satelliten sein Programm in alle Kontinente ausstrahlt. RFO (Réseau France outre-mer), gegründet 1982, ist mit 9 Stationen das öffentlich-rechtliche Radio für die überseeischen Gebiete Frankreichs. 103 nung und als (verhältnismäßig) eigenständige Institution innerhalb des öffentlich-rechtlichen Medienverbunds aus der ORTF-Reform von 1975 hervorgegangen. Die Sendergruppe verfügt über ein Budget von rund 450 Millionen €, beschäftigt über 3.000 Angestellte (davon etwa 500 Rundfunkjournalisten) und strahlt jährlich insgesamt 500.000 Sendestunden aus (Werte nach Quid 2002, 1300). Die Selbstdarstellung von Radio France spiegelt mit ihren Schlüsselbegriffen das öffentlich-pluralistische Interesse wider, wie es für den Sendeauftrag eines staatlichen Mediums in Frankreich grundlegend ist (Informationsbroschüre von Radio France): [...] la société Radio France est assujettie, en application de son cahier des charges, à des obligations de caractère général : créations radiophoniques apportant aux auditeurs enrichissement culturel et divertissement, indépendance et pluralisme de l’information, mise en valeur du patrimoine, promotion et illustration de la langue française, contribution à l’expression des langues régionales, expression des courants de pensée. 20 Was Zusammensetzung und Funktion der von Radio France beherbergten Kanäle angelangt, ist die Struktur der Anstalt, offensichtlich bedingt durch die Herausforderung der privaten Spartensender und der neueren Hörgewohnheiten, seit zwei Jahren einem markanten Umstrukturierungsprozess unterworfen, der infolge von Neugründungen bzw. Umbenennungen und Profiländerungen die Orientierung erschwert. Wichtigster Einzelkanal - die Zweitplatzierung im Marktanteil innerhalb der eingangs vorgestellten Rangfolge beweist es - ist nach wie vor France Inter mit seinen 6,1 Millionen Hörern (im repräsentativen Drei Wochen-Profil sind es 11 Millionen, die irgendwann einmal den Sender einschalten), das Generalisten-Programm mit einer für öffentlich-rechtliche Ansprüche geradezu idealtypischen Mischung von Information (Nachrichten, Debatten, Interviews, aber auch Polit-Satire), Unterhaltung (Musik, Ratesendungen wie dem legendären, seit 1959 bestehenden Jeu des mille francs), aber auch Bildung (Kulturmagazine), zumal Werbung auf den Sendern von Radio France nur in Gestalt genereller Produktgruppen-Werbung, nicht aber für einzelne Marken zugelassen ist. Auch hier ist das offizielle Selbstverständnis Programm (Informationsbroschüre von Radio France): France Inter est la chaîne généraliste au sein de Radio France: une radio tous publics par l’originalité du ton et la diversité de ses programmes (distraction, culture, info). Elle tend vers un partage égal entre la musique (dont 60 % de chansons francophones) et la parole, prouvant que l’on peut divertir tout en étant différent et créatif. 20 Nicht unerwähnt soll der musikalische Auftrag von Radio France bleiben: Die Sendeanstalt beherbergt das renommierte Orchestre national de France, das Orchestre philharmonique und den Chœur de Radio-France, die sich über die Rundfunk-Aufnahmen hinaus mit öffentlichen Konzerten und CD-Produktionen der Musikwelt präsentieren. 104 Ebenfalls aus der Rundfunk-Reform von 1963 hervorgegangen und bisher gegenüber allen Umbaumaßnahmen erstaunlich resistent geblieben sind die beiden auf ‚hochkulturelle‘ Sendeinhalte spezialisierten Kanäle France Musiques und France Culture, auch wenn sie aufgrund ihres Niveaus quotenmäßig nur noch den Status von Nischenprogrammen besitzen. France Musiques - mit dem seit einigen Jahren affichierten Plural-Morphem von ‚Musik‘ soll die Vielfalt der hier ausgestrahlten Musikstile und -richtungen signalisiert werden, die alle Sparten der sog. ‚E-Musik‘ ein- und ostentativ die Flut der landläufigen Pop- und Rock-Klänge ausschließt - bringt es auf einen (derzeit allerdings rückläufigen) Marktanteil von 1,1 %. 21 France Culture (Devise: „faire vivre la culture dans tous ses états“; Informationsbroschüre von Radio France) bietet ein intellektuell entsprechend qualitatives Programm, das entgegen den modernen Radiotrends dem gesprochenen Wort in kulturbetrachtenden, aber auch literarischen Beiträgen Sendedominanz einräumt und ungefähr die Hälfte der France Musiques- Quoten (also ca. 300.000-350.000 Zuhörer) ‚anspricht‘. Mit wesentlich populäreren Einschaltquoten, die hinsichtlich der audience cumulée sogar im zweistelligen Bereich liegen (10,7 % der Bevölkerung ≥ 15 Jahren) fungiert France Info, der 1987 gegründete Nachrichtenkanal von Radio France, als zweitwichtigster Leistungsträger der staatlichen Anstalt. Das Konzept der im 15- oder 30-Minuten-Takt gesendeten Nachrichten, deren Verabreichung durch Magazinbeiträge zur Aktualität und Verkehrsmeldungen in den Intervallen aufgelockert wird, liegt aufgrund des offenkundigen Bedarfs nach permanenter Abrufbarkeit von politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sportlichen Informationen nicht nur in Frankreich voll im Aufwärtstrend. Ebenfalls als Spartenprogramm, genauer gesagt, als Konkurrenzunternehmung zu den vielfältig aufgeblühten Kommerzsendern mit Unterhaltungsmusik für eine ‚jugendliche‘ Zielgruppe, präsentiert sich seit 1997 Le Mouv’, ein digitaler Kanal mit 70 % Musik- und 30 % redaktionellem Teil (Moderation, Information, Serviceleistungen). Derzeit erhält Le Mouv’ einen stärker lokal ausgerichteten Zuschnitt. In einer groß angelegten Umstrukturierungsmaßnahme sind ab dem Jahr 2000 zwei separat bestehende Radio France-Kanäle und ihre inhaltlichen Designs in France BLEU miteinander verschmolzen worden. Die Zielgruppe des neuen Kanals erschließt sich dem Rundfunk-Kundigen aus dem Farbetikett ‚blau‘: Das seit 1980 bestehende Radio Bleue wendete sich in deutlicher Abgrenzung von den modischen ‚Fun‘-Radios für jugendliche HörerInnen und solche, die sich dafür halten, an eine ‚reifere‘ Klientel und deren Vorlieben in Sachen ‚Populärmusik‘. So gilt auch für den Fortführungskanal France BLEU (www.radiofrance.fr/ sites/ france-bleu): 21 Ebenfalls für ein melomanes Publikum bestimmt ist das über Satellit ausgestrahlte Programm Hector (in Anspielung auf Hector Berlioz); hier wird ‚E-Musik‘ in digitaler Qualität ohne Sprechanteile (außer der Titelmoderierung) präsentiert. 105 Les 40-60 forment l’essentiel du cœur de cible de France BLEU. Ce sont des auditeurs fortement impliquées dans la vie active. Ils vivent majoritairement en famille et se recrutent dans toutes les classes sociales. Inhaltlich will der Sender vor allem dem Bedürfnis nach lokaler Hörfunkkommunikation Rechnung tragen und hat deshalb die Funktion der ab 1982 sukzessive ins Leben gerufenen Lokalradios von Radio France, von denen es zuletzt 38 gab, übernommen. France BLEU bringt es nunmehr landesweit sogar auf 43 Einzelstationen, die unter den Schlagworten ‚radio de proximité‘ und ‚citoyenneté‘ (‚Bürgernähe‘) die regionale bzw. lokale Berichterstattung auch unter Einbeziehung interaktiver Sendeeinheiten betreiben und dazu ein Musikprogramm präsentieren, das gemäß der angesprochenen Altersgruppe aus dem Populärsortiment der 80er und 90er Jahre, aber auch aus dem ‚patrimoine de la chanson française‘ (www.radiofrance.fr/ sites/ france-bleu) und einem täglichen Anteil von 10-20 % von Titeln mit regionalen Klängen schöpft. Damit nicht genug: Unter der Zauberformel ‚une radio généraliste de flux fondée sur la proximité‘ (www.radiofrance.fr/ sites/ france-bleu) soll France BLEU über seinen lokalen und altersspezifischen Auftrag hinaus auch noch als beliebig ein- und ausschaltbares ‚Begleitmedium‘ fungieren (‚de flux‘) und dabei generalistisches Programmschema verwirklichen. Erst die Zukunft wird erweisen, ob der Kanal tatsächlich ein derartiges Bündel von teilweise inkompatiblen Kommunikationsleistungen umsetzen und sich zudem gegen die umtriebige private Konkurrenz (vgl. Les Indépendants weiter unten) behaupten können wird. 22 Es war vorhersehbar, dass nach der Freigabe des dualen Mediensystems im Jahr 1982 Rundfunksender privater Betreiber wie Pilze aus dem Boden schießen und rasch eine marktbeherrschende Stellung erringen würden, die sie bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit einem Marktanteil von über 70 % (einschließlich der ‚assoziativen‘ Radios sogar knapp 75 %) behaupten. 23 Zur übersichtlichen Aufschlüsselung aller privaten Rundfunkanbieter kann auf die offizielle Kategorisierung der staatlichen Kontrollbehörde CSA zurückgegriffen werden. Kategorie A ist identisch mit den von Médiamétrie separat aufgeführten ‚radios privées associatives‘, die angesichts eines Umsatzanteils der Werbung von weniger als 20 % als nicht-kommerzielle Stationen definiert sind. Ein solcher nichtlukrativer Status kommt Bürger- und Stadtteilradios, Sendern ethnischer und sprachlicher Randgruppen ebenso zu wie politischen, konfessionellen, landwirt- 22 Ein ähnliches Konzept, nur stärker auf die Zielgruppe jugendlichen Hörer ausgerichtet, verfolgen die staatlichen FIP-Stationen (so benannt nach France Inter Paris), Großstadtsender mit einem urbanen Informationsservice und einem musikalischen Programmangebot aller Genres. 23 1996 betrug der Marktanteil der Privaten 69,6 %, die audience cumulée 61,6 % (heute: 67,0 % bzw. mit ‚radios privées associatives‘ 71,0 %) (Werte für 1996 nach Cheval 1997, 209). 106 schaftlichen oder universitären Stationen. 1997 beläuft sich die Zahl der ‚radios associatives‘ auf 535 (hier wie nachfolgend nach Quid 2002, 1304). Die Kategorien B und C schließen alle lokalen kommerziellen Radios ein, die entweder als Unabhängige (Kategorie B, 305 Stationen in 1997) oder in einem überregionalen Verbund (Kategorie C, 413 Stationen) existieren. Innerhalb der C-Gruppe verdienen vor allem die seit 1992 in dem Dachverband Les Indépendants zusammengeschlossenen 85 privaten Lokalradios Beachtung, können sie doch insgesamt werktags 4,6 Millionen Zuhörer vorweisen, womit sie deutlich vor den France BLEU-Stationen von Radio France liegen. Unter dem Sammelbegriff der immer erfolgreicheren ‚radios de proximité‘ beherbergt Les Indépendants ‚bürgernahe‘ Sender sowohl regionaler Natur 24 als auch lokale Kanäle, sog. ‚radios de l’agglomération‘, 25 und schreibt sich auf die Fahnen, seinen Mitgliedern eine wesentliche logistische Unterstützung (Ausbildung, Bereitstellung sendetechnischer Instrumentarien, Interessenvertretung in den Medien-Gremien) sowie eine entscheidende Finanzhilfe durch die Vermittlung von Werbe- Einheiten nationaler Auftraggeber zu bieten. Ein authentisches regionales bzw. lokales Funk-Angebot versteht sich nicht bloß als reproduktive Praxis in Form einer aufmerksamen und ausführlichen Berichterstattung und Kommentierung, sondern schließt erklärtermaßen und ausgeprägter als bei France BLEU auch die Anstrengungen der Mitglieder-Radios ein, als ‚Animateure‘ das politische, soziale, kulturelle und Vereins-Leben ‚vor Ort‘ zu ‚dynamisieren‘ (www.lesindependants.com/ radioscopie). Die Sender handhaben in der Regel ein Format, das musikalische Bestandteile und Information miteinander kombiniert. Neun Sender, die ein Programm thematischen Zuschnitts über das nationale Territorium ausstrahlen, umfasst gegenwärtig die Kategorie D. In allererster Linie fallen hierunter die Musikkanäle, die sich mit einem Rock- und Pop- Programm in je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung an die Altersgruppe(n) der 15-40-Jährigen wenden. Ihr Marktanteil bewegt sich zwischen 2,5 % und 7 %, die Zahl der Hörereinschaltungen ist mit Werten zwischen 6 % und 12 % der Bevölkerung im Verhältnis überdurchschnittlich hoch. Unangefochtener Marktführer ist NRJ (‚Énergie‘; ‚Nouvelle Radio Jeunesse‘), 1981 in der Anfangs- Euphorie der Mitterrand-Versprechungen für eine Öffnung des Mediensystems gegründet und mittlerweile zum Konzern (Umsatz von ca. 270 Millionen €) aufgestiegen, der auch internationale Beteiligungen, unter anderem in mehreren deutschen Großstädten (z.B. mit Radio Xanadu in München) mit Erfolg realisiert hat. Zur NRJ-Gruppe gehören außerdem Chérie FM, zusätzlich auf die Lieferung von Musik-Programmbänken für Regionalsender und Assoziative speziali- 24 Definiert als „réseau de fréquence couvrant un territoire sur lequel les habitants se reconnaissent une identité commune“ (www.lesindependants.com/ radioscopie). Regionale Beispiele sind u.a. Champagne FM, Normandie FM, Radio Dreyeckland (Haut-Rhin). 25 Agglomerationsradios sind beispielsweise Fréquence Ille (Rennes), Radio Fugue (Compiègne) oder Radio Maritima (Martigues). 107 siert, und das recht quotenstarke Radio Nostalgie, das sich an ein etwas älteres Publikum (bis 50 Jahre) wendet. Der Mediengigant CLT-Bertelsmann ist nicht nur mit dem Marktführer RTL, sondern auch mit den Musiksendern RTL 2 und Fun Radio, das sich an ein prononciert jugendliches Publikum wendet, in der französischen Radiolandschaft vertreten. Sowohl als selbstständiger Sender als auch als Lieferant von Musikprogrammen fungiert Europe 2, Ableger von Europe 1 in der Hachette-Lagardère-Gruppe, die darüber hinaus den bereits 1981 gegründeten Sender RFM hält. Schließlich bilden die drei überregionalen generalistischen Sender RTL, Europe 1 und RMC die Kategorie E der französischen Privatradios (service généraliste à vocation nationale). Im Verlauf der Erläuterungen zu den Einzelsendern von Radio France und den Kategorien des privaten Systems haben wir uns nicht nur mit dem Status dieser Radios, sondern auch bereits mit ihrem Format beschäftigt. Eine Systematisierung dieser Perspektive nach den übergeordneten Sendekonzepten gestattet es, die aussagekräftigsten Erkenntnisse über die signifikanten Tendenzen des heutigen Radiohörens in Frankreich zu gewinnen (die folgende Tabelle erneut nach www.mediametrie.fr/ radio/ resultats für Werktage im Zeitraum April-Juni 2002): Format Marktanteil [in %] Einschaltdauer [in Minuten] Audience cumulée [Hörer in Mio.] Generalistenprogramme 26 39,1 167 17,9 Musikprogramme 27 39,0 141 21,1 Andere Spartenprogr. 28 7,1 84 6,4 Lokale Programme 11,3 118 7,3 Andere Programme 3,5 97 2,8 Unter Berücksichtigung der Entwicklung dieser Werte seit dem Vergleichszeitraum April-Juni 2001 ergeben sich aus der Tabelle drei wesentliche Befunde: 26 Die Zuweisung in diese Rubrik folgt der Médiamétrie-Tabelle und nimmt deshalb neben den herkömmlichen Vertretern auch France BLEU auf, obwohl dieses Sender- Netz aufgrund seiner Struktur und inhaltlichen Schwerpunktsetzung zumindest mit derselben Plausibilität auch unter den Lokalformaten hätte aufgeführt werden können. 27 Unter ‚Musikprogramme‘ sind ausschließlich die Kanäle rubriziert, die Unterhaltungsmusik für eine mehr oder weniger jugendliche Klientel ausstrahlen; ‚E-Musik‘- Programme (France Musiques, Radio Classique) sind in ‚Andere Spartenprogramme‘ vertreten. 28 ‚Andere Spartenprogramme‘ enthält außer der genannten ‚E-Musik‘ und France Culture die Info-Kanäle France Info und BFM. 108 (a) Einen deutlichen Aufwärtstrend können die Stationen der Lokalradios, ob staatlicher oder privater Provenienz, gegenüber dem Vorjahr verzeichnen (Marktanteil + 0,9 %, audience cumulée + 591.000 Hörer). Würde man, wie in Fußnote 26 vermerkt, France BLEU mit seinen 3,1 Millionen Hörern dem Lokal-Format zuordnen, ergäbe sich für dieses Radioprofil - mit guten Gründen - eine Erhöhung seines Anteils am französischen Hörvolumen auf 16,7 %. Damit wird ersichtlich, wie gerade das Alltagsmedium ‚Rundfunk‘ die aktuellen Dezentralisierungsbestrebungen innerhalb der französischen Bevölkerung zugleich widerspiegelt und durch seinen Sendeeinfluss auch fördert. (b) Der leichte Zugewinn der ‚anderen Spartenprogramme‘ (Marktanteil + 0,3 %, audience cumulée + 160.000 Hörer gegenüber dem 2. Quartal 2001) geht dank ihres spezifischen Einschaltangebots (vgl. weiter unten) ohne Zweifel auf das Konto der hier rubrizierten Nachrichtenkanäle. (c) Ins Auge springt die Marktparität zwischen den Generalistensendern (deren Marktanteil durch eine eventuelle Umgruppierung von France BLEU auf 33,7 % absinken würde! ) und den jugendlichen Musikprogrammen. Auch wenn die Einschaltdauer bei Sendern wie France Inter, RTL und Europe 1 klar höher liegt als bei den Musiklieferanten (167 Minuten: 141 Minuten), dokumentiert ein weiter ausholender Vergleich der Marktanteile beider Formate sehr deutlich, dass es die Vertreter des althergebrachten Selbstverständnisses von ‚Radio‘ immer schwerer haben, ihre ‚Ausstrahlung‘ gegen das musikalische Berieselungs- Design von Sendern wie NRJ, Fun Radio, SkyRock o.ä. zu verteidigen (die Zahlen für 1990 und 1996 nach Cheval 1997, 207): Generalisten Musiksender 1. Quartal 1990: 46,5 % 26,7 % 4. Quartal 1996: 39,9 % 29,3 % 2. Quartal 2002: 39,1 % 39,0 % Diese Befunde lassen sich abschließend mit einem anderen Unterscheidungskriterium für die Radiorezeption korrelieren, um auf diese Weise die prioritäre Funktionsbestimmung des Alltagsmediums ‚Radio‘ von heutzutage auf den Punkt zu bringen. Die sog. ‚stations de rendez-vous‘ (Cheval 1997, 175 f.) verfügen über differenzierte Programmschemata mit autonomen Sendeeinheiten, die in ihrer Eigenständigkeit in eine präzise Sende-Ordnung eingepasst sind; aufgrund dessen setzen diese Kanäle, zu denen die Generalisten, aber auch Sender wie France Musiques oder France Culture gehören, bei ihren Hörern ein halbwegs reflektiertes, d.h. gezieltes Einschaltverhalten voraus, ein Umstand, der ihnen, wie wir gesehen haben, weniger denn je zum Vorteil gereicht: Überall dort, wo es die Rezeptionssituation erlaubt, spielt sich das generalistische Fernsehprogramm mit seiner mittlerweile zur Selbstverständlichkeit gewordenen Ganztagsausstrahlung vom Frühstücksfernsehen bis zu den Spätnachrichten als Konkurrenz in den 109 Vordergrund, vor allem aber erhält, wie aus der Kennzeichnung der einzelnen Kanäle und Sparten hervorgeht, den Zuschlag des Publikums immer öfter eine alternative Hörpraxis, die sich mit dem Konzept der ‚radios de flux‘ verbindet. Deren Programmstunden-Segmente gleichen sich inhaltlich so sehr und sind auch bezüglich ihrer Abfolge auf dem Zeitkontinuum so austauschbar, dass sich der Hörerschaft die Möglichkeit eröffnet, die betreffenden Sender ohne Verluste in den Kommunikationserwartungen beliebig aufzusuchen und wieder zu verlassen. Unter die ‚radios de flux‘ fallen in erster Linie die Musiksender mit Pop- und Rock-Profil, aber auch die Nachrichtenkanäle mit ihrem Angebot des permanent abrufbaren Weltzustandes. Die signifikant geringe durchschnittliche Hördauer sowohl der Musikprogramme (141 Minuten bei 21 Millionen Zuhörern) als auch der Nachrichtenkanäle (z.B. France Info: 68 Minuten bei 5,11 Millionen Hörern) im Vergleich zu den Generalisten (167 Minuten bei knapp 18 Millionen Hörern) verweist unmissverständlich auf eine reduzierte Konzentration beim Hören bzw. auf ein dosiertes Minimum an Informationsbedürfnis und ein Maximum an spontan zu-/ abschaltbarer Musikberieselung. Programmprofile und numerische Fakten dokumentieren unmissverständlich, dass der Hörfunk seit einiger Zeit sein Selbstverständnis unterhalb aller ästhetischen Grundsatzableitungen und Überlegungen zu den medienspezifischen Potenzialen der Radiokommunikation positioniert. Unter dem Vorwand der vielbeschworenen Rücksichtnahme auf das Publikum droht ‚Rundfunk‘ seine Selbstbeschneidung - bestenfalls noch zum ‚Gelegenheitsmedium‘ im Hinblick auf einen Informationsbedarf, der situativ nicht anders zu stillen ist (PKW, Badezimmer, Arbeitsplatz), schlechtestenfalls zum ‚Begleitmedium‘ im Hinblick auf die musikalische oder verbale Verhinderung bzw. Verdrängung von Isolation als ‚Geräuschmöbel‘ (Esser 1996). Es stellt eine schwierige Herausforderung an den verantwortungsvollen Hörfunkjournalismus dar, mit gehaltlich ambitionierten und zugleich publikumswirksamen Programmkonzepten dem Radio sein im weitesten Sinn aufklärerisches Potenzial zurückzugewinnen oder zumindest durch das Angebot von Qualität einiges an verlorenem Terrain gegenüber den quotenorientierten Vertretern der „werbeverseuchten Musikdusche“ (Don R. Pember: Mass Media in America. Chicago, 1974, zitiert nach Faulstich 1981, 37) zurückzugewinnen. Vielleicht liegt der Schlüssel zur Lösung dieser Quadratur des Kreises von Unterhaltung und Information gerade in Frankreich tatsächlich in der Entfaltung des noch verhältnismäßig neuen Konzepts eines generalistischen Lokalradios. 110 2.5 Bibliographie Albert, Pierre: „L’évolution du paysage radiophonique français.“ In: Koch (1996), S. 35-48. Albert, Pierre/ Tudesq, André-Jean: Histoire de la radio-télévision. Paris, 4 1995. Arnheim, Rudolf: Rundfunk als Hörkunst. 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Ganz abgesehen von der Tatsache, dass das neue Medium sowohl in seiner kommerziellen als auch seiner ästhetischen Bestimmung die Eroberung der Welt von Lyon und Paris aus in Angriff nahm und auch späterhin das französische Kino solch epochale Höhepunkte wie den Poetischen Realismus der Dreißiger Jahre und die Nouvelle Vague am Ende der fünfziger Jahre hervorgebracht hat, belegt auch die repräsentative Publikumsbefragung von Jean-Michel Guy, dass gerade in der französischen Bevölkerung eine allgemeine Kinokultur „solide verankert“ ist (Guy 2000, 35). Als besonders erfreulichen Befund ihrer detaillierten Auswertungen betont die Studie, dass die Rezeptionspraxis nicht wie bei den anderen Künsten auf eine Kluft zwischen elitärem Geschmack und bloßem Massenkonsum hinausläuft: Die populären Filme werden von den gebildeten Kennern ebenso geschätzt, wie das ‚breite Publikum ‘ über hinreichende Kenntnisse anspruchsvoller Filme, die als integraler Bestandteil des patrimoine verstanden werden, verfügt (Guy 2000, 198f). Kein Wunder also, dass es die Vertreter Frankreichs waren, die sich anlässlich der 1986 eröffneten GATT-Verhandlungen über die weltweite Öffnung aller Handelsmärkte (die sog. ‚Uruguay-Runde ‘ ) vehement gegen das Ansinnen der Vereinigten Staaten wandten, auch kulturelle Handelsprodukte, und hier in erster Linie das Kino, für eine freizügige und globalisierte Vermarktung freizugeben, was zur unkontrollierten Überflutung der europäischen Kinosäle mit USamerikanischen Massenprodukten geführt hätte. Der damalige französische Kommissionspräsident der EU, Jacques Delors, nimmt den Spielfilm zum Anlass, um zu betonen: „La culture n’est pas une marchandise comme les autres“ (zit. nach Burin des Roziers 1998, 71), und Staatspräsident François Mitterrand spricht von einer „Frage der Zivilisation“ (Burin des Roziers 1998, 15), wenn es darum geht, das Kulturschaffen eines Volkes als essentiellen Ausdruck seines nationalen Erbes (patrimoine) zu verstehen und nach Kräften zu pflegen. So entsteht in diesem kommerziellen Zusammenhang in Frankreich der Begriff der 112 ‚exception culturelle ‘ , der die Einsicht in die besondere Schutzwürdigkeit von Kulturgütern gegenüber der Liberalisierung der Warenströme schlagwortartig auf den Punkt bringt. 1 Einige Vergleichszahlen aus dem Jahr 2001 sind in besonderer Weise dazu angetan, anhand einer Gegenüberstellung der Kinopraxis in Frankreich und Deutschland die auch heute noch bestehende Exzeptionalität der französischen Kinokultur eindrucksvoll unter Beweis zu stellen: So werden in Frankreich mehr als doppelt so viele Filme wie in der Bundesrepublik produziert (172 gegenüber 83 inklusive der Koproduktionen). 2 Obwohl Frankreichs Bevölkerung 23 Millionen weniger Menschen aufweist als Deutschland, verfügt das Land über wesentlich mehr Kinosäle (5242 gegenüber 4792) und -sitzplätze (1,07 Mio. gegenüber 0,88 Mio.). Noch deutlicher trägt der Verweis auf die niedrigere Einwohnerzahl im Hinblick auf den Kinobesuch dazu bei, die ausgeprägte Cinephilie der Franzosen zu demonstrieren: 187,1 Millionen entrées in französische Kinos stehen 177,9 Mio. in der Bundesrepublik gegenüber, was einer statistischen pro Kopf-Frequenz von 3,15 Kinobesuchen im Jahr gegenüber 2,16 in Deutschland entspricht. Am krassesten manifestiert sich das Bedeutungsgefälle in der Kinopraxis beider Länder jedoch in der Einstellung zum jeweiligen nationalen Filmschaffen: Schätzen die Deutschen ihr einheimisches Filmschaffen als so wenig attraktiv ein, dass sie 2001 gerade einmal 18,4 % aller Eintrittskarten für die Projektion deutscher Spielfilme erstanden haben, 3 gilt das Interesse des französischen Kinopublikums, gemessen an sämtlichen Besuchen, zu 40 % den Leinwandwerken einheimischer Provenienz. Um das Medium Spielfilm im Allgemeinen und unter besonderer Berücksichtigung seiner herausragenden kulturellen Bedeutung in Frankreich zu erhellen, sollen nachfolgend in drei Untersuchungsabschnitten die Geschichte des französischen Films, zentrale Ansätze der Spielfilmanalyse sowie die Spezifität des französischen Kinomarkts in seiner jüngeren Entwicklung bis hin zur Gegenwart aufgearbeitet werden. 1 Tatsächlich hat Frankreich von allen wichtigen europäischen Nationen am längsten der Dominanz von Produkten der amerikanischen Filmbranche auf seinem Kinomarkt widerstanden: Erst ab 1987 überflügelt der Besuch amerikanischer Filme zahlenmäßig die Frequentierung der nationalen Produktionen. 2 Quelle für das französische Kino hier wie bei den folgenden Zahlen: CNC (Centre National de la Cinématographie) (vgl. Kap. 4), für die Bundesrepublik Filmförderungsanstalt (www.ffa.de). 3 Wobei für Deutschland 2001 in der Attraktivität einheimischer Produktionen dank Der Schuh des Manitu (10,5 Mio. Besucher) noch als Ausnahmejahr gilt (und Die fabelhafte Welt der Amelie (Le fabuleux destin d’Amélie Poulain), die als französisch-deutsche Koproduktion in die Bilanz hineingerechnet wird, mit weiteren 2,5 Mio. zu Buche schlägt! ). 2000 bzw. 2002 belief sich der Besucheranteil der nationalen Filme sogar nur auf 12,5 resp. 11,9%. 113 3.2 Eine kleine Geschichte des französischen Spielfilms 4 Sieht man von den vielfältigen kinematographischen Vorläufer-Apparaturen, die sich in technischer Hinsicht letztlich als nicht marktfähig erwiesen, einmal ab, so kann Frankreich für sich beanspruchen, das Mutterland des Kinos zu sein: Am 28. Dezember 1895 veranstalten die Gebrüder Auguste und Louis Lumière, im Hauptberuf Besitzer einer Fabrik für fotografisches Material in Lyon, im Pariser Grand Café vor 35 zahlenden Zuschauern und geladenen Gästen die erste öffentliche Filmvorführung des von ihnen entwickelten ‚cinématographe ‘ . 5 Die Apparatur des cinématographe Lumière, die mit wenigen Handgriffen vom Aufnahmezum Projektionsgerät umgebaut werden konnte, erlaubte anfänglich die Belichtung von 20m Filmmaterial, was einer Dauer von 51 Sekunden je ‚Film ‘ entspricht. Alle Sequenzen, die die Gebrüder Lumière in den Jahren nach ihrem Debüt filmten bzw. von sog. opérateurs filmen ließen, wurden in einem Angebots-Katalog von über 2.000 Streifen zum Verleih oder Verkauf gesammelt. Die Sortierung dieser Produktion aus der Zeit, als die Bilder laufen lernten, stellt die Antizipationsfähigkeit der Lumière, was die zukünftige Entwicklung der visuellen Medien anbelangt, nachhaltig unter Beweis. Eine in der Angebotspalette besonders stark vertretene Gruppe, die z.B. einen so bekannten Filmstreifen wie Arrivée d’un train à la gare de la Ciotat, aber auch Titel wie Sortie des ouvriers de l’usine Lumière, Repas de bébé, Bataille de neige oder Ouvriers réparant un trottoir en bitume beinhaltet, zeichnet sich durch ihren recht eigentlich banalen Alltagsrealismus aus. Was die Lumière jedoch hier demonstrierten und was die Zuschauer nachgewiesenermaßen faszinierte, war die Leistungsfähigkeit des neuen Mediums, Bewegung und damit Leben zu reproduzieren. Die dergestalt erzeugten ‚Realitätseffekte ‘ , die aus dem Umstand resultieren, dass die Wiedergabe bewegter Bilder aufgrund der sichtbaren Lebendigkeit die Authentizität des Wahrgenommenen zu verbürgen scheinen, konnten 4 Vgl. zur Filmgeschichte die im Literaturverzeichnis aufgeführten Beiträge. Eine überzeugende Gesamtdarstellung der Geschichte des französischen Kinos von den Anfängen bis zur Gegenwart liegt bislang nicht vor. 5 Die beiden Attribute ‚zahlend‘ und ‚öffentlich‘ verdienen deshalb besondere Beachtung, weil sie auf wichtige Grundeigenschaften der Filmkunst verweisen. Der kollektive Charakter der Filmrezeption im verdunkelten Projektionssaal signalisiert nicht nur die phänomenologische Affinität zur Traumwahrnehmung, sondern grenzt den Kinofilm auch von der in der Regel privaten Rezeptionssituation des Fernsehens ab. Und die Tatsache, dass vom Anfang der Kinogeschichte an Geld für den Zugang zur Vorführung verlangt wird, verweist schon auf den im Verhältnis zu den traditionellen Künsten notwendigerweise wesentlich kommerzielleren Charakter des ‚septième art‘. Dass Filmemachen einen aufwändigen, arbeitsteiligen Produktionsprozess mit hohen Herstellungskosten und dementsprechend beträchtlichem Kapitaleinsatz bedeutet, sich in jedem Fall also im Vertrieb rechnen muss, ist ein industrieller Sachverhalt, der auch nicht vor Produkten halt macht, die sich entschieden dem Mainstream verweigern. 114 sich natürlich gerade dort besonders eindringlich manifestieren, wo der Wiedererkennungseffekt durch Aufnahmen aus dem kollektiven Wahrnehmungs- und Erfahrungsbereich besonders groß war. Eine weitere Spielart dieser realistischen Tendenz des Cinématographe Lumière fasst die filmische Wiedergabe von Ansichten zusammen, deren mediale Vermittlung zukünftig dem Fernsehen vorbehalten sein wird. An der Wende zum 20. Jahrhundert ist es aber noch das Kino, das Bildfolgen aus mehr oder weniger fernen Ländern in den unmittelbaren Wahrnehmungsbereich des zahlenden Publikums hereinholt; pittoreske Beispiele wie Coolies à Saïgon, Une rue à Tokio, New York: Descente des voyageurs du Pont de Brooklyn oder Départ de Jérusalem en chemin de fer verdeutlichen dies. Dasselbe gilt für die Berichterstattung über zeitgeschichtliche Ereignisse wie etwa für die Aufnahmen vom Leichenzug der Queen Victoria, von der Krönung des letzten Zaren Nikolaus II. oder vom Stapellauf des preußischen Kriegsschiffes Fürst Bismarck in Kiel. Man würde freilich die Pionierleistung der Gebrüder Lumière um eine entscheidende Dimension verkürzen, wollte man sie ausschließlich auf die filmische Ermöglichung von Widerspiegelung, also auf einen dokumentarischen Realismus, einschränken. Vielmehr war das Brüderpaar aus Lyon ebenso bestrebt, die Spiel-Räume eines kreativen Umgangs mit bewegten Wirklichkeitsablichtungen auszuloten und das Zelluloid zum Erzählen erfundener Geschichten einzusetzen. Die Geburtsstunde des Spiel-Films ist ohne Zweifel die Aufnahme von L’arroseur arrosé (im Original Le jardinier betitelt), die auch schon anlässlich der ersten Vorführung des cinématographe am 28.12.1895 im Programm vertreten war: Ein Lausbub tritt unbemerkt auf den Wasserschlauch eines Gärtners; er gibt die Leitung in dem Augenblick wieder frei, als sich der erstaunte Gärtner die Mündung der Spritze zur Überprüfung ins Gesicht hält; das durchnässte Opfer ergreift den Übeltäter und versohlt ihm das Hinterteil. Filme dieser trivial-burlesken Machart, spektakuläre Tricksequenzen 6 und die sich jedoch alsbald abnutzenden Demonstrationen von ‚Realitätseffekten‘ aus dem Alltag verleihen der Erfindung der Gebrüder Lumière anfangs ihre Bestimmung als ausgesprochenes Unterhaltungsmedium, das bis zum Ersten Weltkrieg auch seine technischen Möglichkeiten (Montage und damit ‚abendfüllende‘ Filmlängen, Kamerabewegungen) weiter verbessert. Vorgeführt werden die Filme zunächst in Schaubuden auf dem Jahrmarkt und in ambulanten Filmtheatern, bis 1906 Charles Pathé und Léon Gaumont die ersten gemauerten Kinosäle errichten, eine Maßnahme, die in Verbindung mit dem Aufbau von Produktionsgesellschaften und Verleihsystemen durch die beiden Konkurrenten die Ausrichtung des Kinos als kommerzielle Großunternehmung begründet. Die erfolgreichste Hervorbringung dieser neuen Unterhaltungsindustrie bis zum Ersten 6 Zu würdigen wäre hier Georges Méliès, der mit seinen Trickfilmen und fantastischen Filmhandlungen - am bekanntesten ist Le voyage dans la lune von 1902 - das fiktionale Potenzial in extremer Weise ausschöpft und so einen wesentlichen Beitrag zur konsequenten Weiterentwicklung des Kinos hin zu einer Erzählkunst leistet. 115 Weltkrieg ist die mehrteilige Verfilmung des publikumswirksamen Fortsetzungsromans Fantômas durch Louis Feuillade zwischen Mai 1913 und Frühjahr 1914 für Gaumont. Natürlich war der Weg, den das Kino über die Jahrmarktsbelustigung zur populären Unterhaltungsveranstaltung eingeschlagen hatte, der Herausbildung einer anerkannten Film-Kunst höchst abträglich. Um zu demonstrieren, dass das neue Medium der bewegten Bilder auch das Material zu ästhetisch wertvollen Produkten in sich birgt, begründeten Charles Le Bargy und André Calmettes ein Kollektiv, das unter der programmatischen Autorenbezeichnung ‚Les Films d’Art‘ 1908 mit dem Werk L’assassinat du duc de Guise ostentativ die Affinität zur Literatur, genauer zum Theater, suchte und so den Grundstein zur Entwicklung des Spielfilms als ‚septième art‘ in Frankreich legte - nicht zuletzt dank des massiven Einsatzes von künstlerischen Spitzenkräften, waren doch die Académie Française durch den Drehbuchautor, die Comédie Française durch die Hauptdarsteller und Camille Saint-Saëns als Komponist der Begleitmusik an der Realisierung des 15minütigen Werks beteiligt. Auch wenn die große Ära des Stummfilms (1918-1930) von der Filmgeschichtsschreibung vorrangig mit dem deutschen Kino des Expressionismus (Wiene, Lang, Murnau) und dem sowjetischen Montagekino (Eisenstein, Pudovkin) in Verbindung gebracht wird, braucht sich das französische Filmschaffen dieser Periode nicht zu verstecken: Eine theoretische Reflexion auf hohem Niveau, insbesondere zum ‚photogénie ‘ , der Ausstrahlungskraft gerade der visuellen Wirklichkeitseindrücke (Louis Delluc, Jean Epstein) kann sich ebenso sehen lassen wie die Bedeutung technischer Experimente 7 und die Aussagekraft stilistischer Synthesen, wie sie Marcel L’Herbier durch die Verbindung des gestischen und mimischen Expressionismus mit Montage- und Zeitraffer- / Zeitlupentechniken etwa in L’inhumaine (1924) praktiziert hat. Darüber hinaus ist gerade in Frankreich die Übertragung des literarischen Surrealismus auf die Leinwand vollzogen worden. René Clair (Entr’acte, 1924) und Germaine Dulac (La coquille et le clergyman, 1927) sind hier als wichtige Vertreter zu nennen, wie auch Frankreich mit Spanien um die Ehre streitet, Luis Buñuels Un chien andalou, 1928 in Paris uraufgeführt, für die jeweilige surrealistische Avant- Garde zu vereinnahmen. Ab dem Jahr 1928 tritt der zuvor in den USA neu eingeführte Tonfilm auch in Europa seinen Siegeszug an, allerdings nicht ohne eine heftige Kontroverse um die neuartige Tonspur auszulösen. Für die einen Verrat an und Ablenkung von der visuellen Grundeigenschaft des Mediums, stellt er für die anderen die notwendige Komplettierung der filmischen Wirklichkeitsreproduktion im Sinne der 7 Hier wäre Abel Gance mit dem Einsatz von Überblendungen (surimpressions) oder der Breitwand-Simultanprojektion auf drei Leinwänden in seinem monumentalen Napoléon- Film von 1927 zu nennen. 116 Ermöglichung eines ganzheitlichen audio-visuellen Realismus dar. So finden wir in der französischen Kinoproduktion der frühen Dreißiger Jahre experimentellverfremdende, ja sogar kontrapunktische Anwendungsweisen des Tons 8 neben Manifestationen der begeisterten Aufnahme der neuartigen Wiedergabemöglichkeit im Zeichen des Werbeslogans „un film cent pour cent sonore“. 9 Die Verfechter des Tonfilms bauen dann auch schwelgerisch in die Diegese sog. ‚Tonereignisse ‘ - Chanson-Einlagen, Ansprachen, heftige Streitereien und Raufereien, schallendes Lachen oder sonstige ostentativ bemühte Geräuschquellen wie Lokomotivpfeifen oder Sirenen - ein, um die Leistungsfähigkeit der gerade erschlossenen akustischen Wiedergabedimension lautstark zu demonstrieren. Erst in der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre wird sich die Einstellung der Filmemacher gegenüber der Tonspur so weit normalisieren, dass man von einem halbwegs ‚realistischen ‘ Einsatz der Akustik sprechen kann. Auch eine kurze Geschichte des französischen Films sollte auf die Nennung des im Alter von nur 29 Jahren 1934 verstorbenen Regisseurs Jean Vigo nicht verzichten. Der Cineast konnte seine Genialität, die sich in der Verknüpfung einer poetisch-wirklichkeitsüberhöhenden Filmsprache mit dem Protest gegen die Scheinhaftigkeit der bürgerlichen ‚Ordnung ‘ zeigte, wie er sie vor allem in dem Schüler-Film Zéro de conduite aus dem Jahr 1933 artikuliert, nur in einem Spielfilm (L’Atalante, 1934), einem moyen-métrage (Zéro de conduite) und zwei Kurzfilmen unter Beweis stellen. Immerhin zeichnet Vigos schmales Œuvre den Weg vor, der etwa ab der Mitte der Dreißiger Jahre zur Herausbildung des sog. ‚Poetischen Realismus ‘ führt und dem französischen Kino erneut Weltgeltung verschafft. Der Begriff verweist zum einen auf die Tatsache, dass die Vertreter dieses ästhetischen Konzepts - vor allem Jean Renoir, Julien Duvivier, Marcel Carné und Jean Grémillon wären zu nennen - ihre Filmhandlungen in einem als solchem auch breit ausgemalten Milieu, vorzugsweise in der gesellschaftlichen Realität der Unterschicht, ansiedeln, um auf diese Weise soziale Problemsituationen zur Sprache zu bringen. So finden sich vor allem im Umkreis der Volksfront-Euphorie und deren Frustration (1936-1938) eine Reihe von Spielfilmen, die in allegorisierender Art und Weise eine von Krisen gezeichnete Realitätserfahrung, die politische Aufbruchstimmung von 1936 (Renoir: Le crime de M. Lange, 1936), aber auch letztendlich 8 Vor allem René Clair zeichnet sich durch die kontrapunktische Anwendung des Tons in Sous les toits de Paris (1930) und durch Verfremdung des Akustischen in A nous la liberté (1932), wo der dekonstruktive Umgang mit dem realistischen Ton der gesellschaftlichen Subversivität der Handlung entspricht, aus. 9 Dass von Seiten des Publikums das neue Medium euphorisch aufgenommen wurde, zeigt die Entwicklung der Kinosäle: Im Zuge der Umrüstung auf Projektionsmöglichkeiten mit Ton schnellt die Anzahl der Kinosäle in dem kurzen Zeitraum zwischen 1930 und 1933 von 3.058 auf 4.105 hoch (Zahlen nach Sadoul 1962, 139). 117 die ‚illusions perdues ‘ ausmodellieren. 10 Die ‚poetische ‘ Komponente des so bezeichneten Realismus ist in dem Umstand auszumachen, dass die filmische Widerspiegelung und Verarbeitung der gesellschaftlichen Realität bei allem kritischen Engagement der Gefahr eines audiovisuellen Dokumentarismus oder eines ‚Thesenkinos ‘ entgeht: Sowohl durch die filmsprachlichen Mittel, die insbesondere den stilisierenden Umgang mit den Möglichkeiten der Tonspur betreffen, als auch durch die Einbringung des sentimentalen Elements in Gestalt einer ergreifenden Liebesgeschichte schafft sich der poetische Realismus einen schöpferischen Raum, in dem er die ästhetischen und narrativen Errungenschaften des septième art ausspielen kann. Beherrscht wird das Filmschaffen in Frankreich über die gesamte Zeitdauer von der Einführung des Tonfilms bis zum Kriegsausbruch von einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Kinogeschichte überhaupt - Jean Renoir (1894- 1979), Sohn des berühmten impressionistischen Malers Pierre-Auguste Renoir, dem der Regisseur in der Verfilmung der Maupassant-Novelle Partie de campagne (1936) mit der kinematographischen Nachbildung impressionistischer Licht- und Schatteneffekte eine beeindruckende Hommage hat zuteil werden lassen. Nach einer bereits reichhaltigen Stummfilmproduktion in den Zwanziger Jahren 11 schlägt sich Renoir mit Werken wie On purge bébé (1931) und Boudu sauvé des eaux (1932), Filmkomödien, die ausgiebig dem ‚Tonereignis‘ huldigen, auf die Seite der Tonfilm-Verfechter, bevor er sich mit Filmen wie Toni (1934), Le crime de M. Lange (1936), Les bas-fonds (1936) und La Marseillaise (1938) dem sozialkritischen und emanzipatorischen Engagement verschreibt, ohne mit einer (allerdings schwächeren) Version von Madame Bovary (1934), der erwähnten Partie de campagne und einer weiteren Zola-Adaptation, La bête humaine (1938), sein Interesse für Literaturverfilmungen zu vernachlässigen. Die beiden berühmten Filme Renoirs am Vorabend des Zweiten Weltkriegs verarbeiten noch einmal besonders eindringlich die zeitgeschichtliche Krisenerfahrung innerhalb der französischen Gesellschaft zwischen Zukunftshoffnung und Dekadenzbewusstsein. Kann das Ende von La grande illusion (1938), ein Film über die Gefangenschaft und Flucht eines französischen Offiziers (Jean Gabin) im Ersten Weltkrieg, als optimistischer Aufbruch in eine Zukunft gedeutet werden, in der die überkommenen Herrschaftsstrukturen abgedankt haben und die Zukunft den Vertretern eines Weltbürgertums und der Arbeiterklasse gehört, so antizipiert derselbe Regisseur wenig später in dem unmittelbar vor Kriegsausbruch uraufgeführten Werk La règle du jeu in gespenstisch hellsichtiger Weise die Morbidität einer Gesellschaft, die jegliche moralische Orientierung verloren hat und ihr frivoles Spiel am Abgrund weitertreibt, solange nur die Konventionen gewahrt bleiben. 10 Vgl. dazu meine Analyse von Duviviers La belle équipe (1936) (Walter 1999, 184- 187) 11 Hervorzuheben wäre hier insbesondere sein zweiter Film, die Nana-Adaptation nach Émile Zolas naturalistischem Roman aus dem Jahr 1926. 118 Für die Betrachtung des Filmschaffens nach dem Zweiten Weltkrieg orientieren wir uns chronologisch direkt am Ende der fünfziger Jahre. Der Zeitraum zwischen 1958 und 1961 ist deshalb von besonderem Interesse, weil hier dem französischen Spielfilm ein weiteres Mal eine buchstäblich epochale Bedeutung zukommt: Die sich in diesen Jahren durchsetzende Nouvelle Vague gilt als die Europawenn nicht gar weltweit maßgebliche Erneuerungsbewegung des Spielfilms, deren Errungenschaften, insbesondere ihr Konzept des Autorenfilms, modellbildend für die Weiterentwicklung des Kinos bis zum heutigen Tag geblieben sind. Tatsächlich fällt dem Betrachter ein quantitativer Sachverhalt ins Auge, der es erlaubt, die Jahre 1958-61 als deutlich markierten Einschnitt in der französischen Filmgeschichte auszuweisen: In diesem Zeitraum stellen sich nicht weniger als 97 neue Regisseure mit Erstlingsfilmen dem Publikum vor, eine Größenordnung, die auf eine regelrechte ‚Wachablösung‘, zugleich aber auch auf das Ungenügen am etablierten Kinobetrieb schließen lässt. 12 In erster Linie verstanden sich die Jungfilmer als Vertreter einer cineastischen Bewegung, die die radikale Abkehr vom etablierten Produktionssystem der Nachkriegszeit vollzieht, das unter der Bezeichnung ‚qualité française ‘ oder ‚tradition de la qualité ‘ mit Regisseuren wie Claude Autant-Lara, André Cayatte, René Clément oder Jean Delannoy monopolartig den Spielfilm-Markt beherrschte und die äußerliche Perfektion der Leinwandproduktionen zur Norm des Filmschaffens gemacht hatte. So ist es kein Zufall, dass die Nouvelle Vague- Cineasten den von der ‚qualité française‘ gleichsam vorgeschriebenen Ausbildungsweg über die Filmhochschule und die anschließende Lehrzeit als Regieassistenten ausschlagen, um stattdessen über die eigene ‚Anschauung‘ von möglichst vielen Kinofilmen und die Betätigung als Filmkritiker in der von André Bazin herausgegebenen Zeitschrift Les Cahiers du Cinéma die erstbeste Gelegenheit zu ergreifen, Regieverantwortung zu übernehmen. Für diese autodidaktische Auffassung von kinematographischer Selbstverwirklichung gilt die forsche Devise Claude Chabrols: „Tout ce qu’il faut savoir de la mise en scène s’apprend en quatre heures.“ 13 12 Dass die Nouvelle Vague von ihren Anfängen her tatsächlich als Ausdruck eines tiefgreifenden cineastischen Generationenwechsels zu verstehen ist, verdeutlicht besonders sinnfällig die Herkunft der Bezeichnung: Sie geht auf eine Fragebogenaktion zurück, mit der die Wochenzeitschrift L’Express 1958 die Mentalität der modernen französischen Jugend zu ergründen suchte. Erst als ab 1959 die Erstlingsspielfilme von Claude Chabrol und François Truffaut dem jungen französischen Film zum Durchbruch verhelfen, wird der Begriff auf die Bezeichnung für die Gruppe der ‚jugendlichen‘ Regisseure spezifiziert. In der Tat bringen die Debütanten der ‚Neuen Welle‘ auf der Leinwand das Lebensgefühl junger Leute zwischen desillusionierter Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Zwänge, hektischer Rauschhaftigkeit und antibürgerlichem Protest zur Darstellung. 13 Zitiert nach Claire Clouzot: Le cinéma français depuis la Nouvelle Vague. Paris, 1972, 25. 119 Eine materielle Form der Absage an die Dreh- und Arbeitsnormen der ‚qualité française‘ betrifft die Handhabung des Produktionsbudgets. Während sich das etablierte französische Kino das Namensprädikat der ‚Qualität‘ ganz nach den Standards der ‚Traum-Fabrik‘ Hollywood durch den perfektionierten Einsatz aller verfügbaren technischen Mittel und die Verpflichtung der teuersten Filmstars erworben hatte, setzt das neue Kino der Dilettanten auf strikte Ausgabenminimierung, wobei sich, wie so oft unter derartigen Umständen, der Zwang zur Selbstbeschränkung als ein entschiedenes Plus an Kreativität herausstellt. Bevorzugt werden Freilichtaufnahmen, mit denen die hohen Kosten für Studiomiete und Scheinwerfer reduziert werden können. Kleine Drehteams ersetzen die hochgradig arbeitsteilige Logistik der konventionellen Produktion und räumen der Improvisation sowohl im technischen Bereich als auch beim Umgang mit Drehbuchvorlagen eine Schlüsselstellung ein. An die Stelle von Filmstars wie Michèle Morgan, Jean Gabin oder Fernandel treten zweitrangige Interpreten oder Leinwandanfänger; spätere Größen wie Jeanne Moreau, Stéphane Audran, Jean-Paul Belmondo oder Jean-Pierre Léaud verdanken ihren Aufstieg dem Engagement in den frühen Filmen der Nouvelle Vague. In inhaltlicher Hinsicht richtet sich die Kritik der Nouvelle Vague am etablierten Filmschaffen in Frankreich gegen die erdrückende Dominanz von Literaturverfilmungen, die nach Ansicht ihres Wortführers François Truffaut 14 den Drehbuchautoren im Schaffensprozess zu einer völlig ungerechtfertigten Schlüsselstellung verhelfen. 15 So werde das Kino zu einer Art ‚Hilfskunst‘ degradiert, die lediglich eine bewegte Illustration des gedruckten Textes darzustellen habe. Aus seinem Vorwurf der Sklerotisierung des Verhältnisses von Stoff und metteur en scène leiten Truffaut und seine Mitstreiter die eigene Gegenposition ab: Den Regisseuren als den eigentlichen Filmemachern muss die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über ihr Drehprojekt gewährt werden. Im Idealfall nimmt der Regisseur sein Recht wahr, allein über den Inhalt seines Films und die Modalitäten der Ausführung in Dreharbeiten und Schnitt zu bestimmen. Um die Wirklichkeitsrepräsentation des Spielfilms in ästhetischer wie thematischer Hinsicht zum authentischen Ausdruck der Persönlichkeit des Regisseurs als Autor werden zu lassen, muss dieser die Kameraapparatur genau so handhaben, wie der Schriftsteller sein Schreibgerät (la caméra-stylo). 16 Das Konzept des Autorenkinos, heutzutage eine Selbstverständlichkeit kinematographischen Selbstverständnisses, ist damit geboren. In prägnanter Weise hat François Truffaut dieses Programm in einem Artikel anlässlich der Filmfestspiele von Cannes 1957 auf den Punkt gebracht: 14 Vgl. vor allem seinen ebenso respektlosen wie programmatischen Cahiers du Cinéma- Artikel „Une certaine tendance du cinéma français“ aus dem Jahr 1954. 15 Tatsächlich galt bis in die fünfziger Jahre im französischen Urheberrecht der Verfasser des Drehbuchs zu einem Film als dessen ‚Autor‘. 16 Der Begriff selbst wurde bereits 1948 von Alexandre Astruc in seinem Aufsatz „Naissance d’une nouvelle avantgarde: la caméra-stylo“ geprägt. 120 Le film de demain m’apparaît donc plus personnel encore qu’un roman, individuel et autobiographique comme une confession ou comme un journal intime. Les jeunes cinéastes s’exprimeront à la première personne et nous raconteront ce qui leur est arrivé : cela pourra être l’histoire de leur premier amour ou du plus récent, leur prise de conscience devant la politique, un récit de voyage, une maladie, leur service militaire, leur mariage, leurs dernières vacances et cela plaira presque forcément parce que ce sera vrai et neuf. [...] Le film de demain ressemblera à celui qui l’a tourné. 17 1959 wird derselbe Truffaut dank seines Erstlingserfolgs Les 400 coups anlässlich des Filmfestivals von Cannes das Konzept des Autorenfilms in die Praxis umsetzen und es auch über die Grenzen Frankreichs hinaus als Modell filmkünstlerischer Selbstverwirklichung institutionalisieren. Zur gleichen Zeit (1958 und 1959) kann auch Claude Chabrol einen Doppelerfolg für seine beiden ersten Filme Le beau Serge und Les cousins verbuchen, im Jahr 1960 folgt Jean-Luc Godard, dessen A bout de souffle auf der Berlinale prämiert wird. Schwerer haben es die beiden anderen Mitstreiter aus den Zeiten der Cahiers du Cinéma- Kritik: Die Erstlingswerke von Jacques Rivette und Éric Rohmer, Paris nous appartient bzw. Le signe de lion, obwohl früher gedreht, kommen aufgrund ihres eher sperrigen Inhalts erst 1961 bzw. 1962 in die Kinos, was aber ihrer dauerhaften Durchsetzungsfähigkeit als Vertreter des engsten Nouvelle Vague-Kreises bis auf den heutigen Tag keinen Abbruch getan hat. Die Prämissen des Autorenkinos, wie sie Truffaut und seine Weggefährten entwickelt haben, bringen für die Filmpraxis eine Konsequenz mit sich, der auch die wissenschaftliche Betrachtung der Nouvelle Vague Rechnung zu tragen hat. Wenn im Sinne einer Revitalisierung des Verhältnisses der Regisseure zu ihrem Stoff gefordert wird, dass jeder Autor sein persönliches Kino ohne Rücksicht auf Markt-, Gattungs- oder Stilzwänge zu verwirklichen hat, kann es in thematischinhaltlicher Hinsicht kein einheitliches Erscheinungsbild geben, würde dies doch der Aufforderung zu radikaler schöpferischer Authentizität von Grund auf zuwiderlaufen. 18 Eine Reihe von übergreifenden gemeinsamen Merkmalen ästhetischthematischer Art erlaubt es uns, bei aller Heterogenität, die die Hervorbringungen einer komplexen Kinokultur wie der Frankreichs über 40 Jahre hinweg naturgemäß aufweisen, doch, das französische Kinoschaffen von der Aufbruch- 17 François Truffaut: „Vous êtes tous témoins dans ce procès : le cinéma français crève sous les fuasses légendes“. In: Ders.: Le plaisir des yeux. Paris : Cahiers du Cinéma 1987 (Textes réunis et présentés par Jean Narboni et Serge Toubiana), 223 f. 18 Deshalb würde eine genauere inhaltliche Kennzeichnung des Werks von François Truffaut, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und Éric Rohmer den Rahmen dieser Skizze sprengen. Für einen Überblick über die wichtigsten Spielarten der Nouvelle Vague vgl. Walter (2001), 1233 ff. 121 stimmung, die die Nouvelle Vague ab 1960 initiiert hat, bis zur Gegenwart als einen Betrachtungsabschnitt summarisch zu kennzeichnen. Den wesentlichen Garanten für eine derartige Verklammerung stellt dabei die nahezu ungebrochene Präsenz und Produktivität der Nouvelle Vague-Protagonisten über mehr als 40 Jahre hinweg dar (mit Ausnahme von François Truffaut, der 1984 allzu früh einem Gehirntumor erlag, ein Œuvre von 21 zeitlos bedeutsamen Spielfilmen hinterlassend): Claude Chabrol, der 2003 mit La fleur du mal seinen 49. Kinofilm auf den Markt gebracht hat, wird nicht müde, in seinen Werken die Scheinhaftigkeit bürgerlicher Wohlanständigkeit zu entlarven, Jean-Luc Godard vertritt nach wie vor unter Anwendung disnarrativer Repräsentationsstrategien das Prinzip der Dekonstruktion des kinematographischen Wirklichkeitseffekts in ‚Spielfilmen‘, die allerdings im Vergleich zu seinen Produktionen aus den Sechzigern immer hermetischer geworden sind (Hélas pour moi, 1993; Forever Mozart, 1996; Éloge de l’amour, 2001). Selbst Éric Rohmer (*1920) hat nach Abschluss seines dritten Filmzyklus‘, Contes des quatre saisons (1989-98), 19 noch in hohem Alter erzählerisches Neuland beschritten. 20 Die ‚Virulenz‘ der Bewegung ist so groß, dass man gelegentlich die Vertreter einer neuen Cineastengeneration der späten achtziger und der neunziger Jahre (Léos Carax, Olivier Assayas, Éric Rochant, Christian Vincent u.a.) unter der Gruppenbezeichnung der ‚Nouvelle Nouvelle Vague‘ zusammenzufassen versucht hat. Ebenfalls im Umkreis der Nouvelle Vague sind die seit den siebziger Jahren etablierten Schüler und Sympathisanten der Altmeister (Claude Berri, Bertrand Blier, Jacques Doillon, Claude Miller, André Techiné) mit einer ganzen Reihe wichtiger Spielfilme anzusiedeln. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass auch die von der Nouvelle Vague und ihren Adepten so heftig geschmähte ‚qualité française‘ in einem der bedeutendsten Filmemacher des Gegenwartskinos einen Repräsentanten gefunden hat - Bertrand Tavernier. Tavernier hat sich mit seinem bemerkenswert vielseitigen Schaffen, das zwischen engagiert gesellschaftskritischen Filmen 21 und aufs Private zielenden Psychologisierungen 22 oszilliert, stets expressis verbis in die ‚tradition de la qualité‘ gestellt und unlängst das Schicksal von Jean Aurenche, einem der wichtigsten und von Truffaut persönlich angefeindeten ‚qualité‘-Drehbuchautor, während der Besatzungszeit verfilmt (Laissez passer, 2002). Wird auf die schöpferisch-biographische Kontinuität seit dem Aufbruch von 1958-60 hingewiesen, so darf auf keinen Fall ein prononciert intellektuelles 19 Voraus gingen, neben Einzelfilmen, die Zyklen der Contes moraux (1962-1972 in 6 Werken) und der Comédies et proverbes (1981-1987 in ebenfalls 6 Filmen). 20 So mit einem Historienfilm zur Französischen Revolution (L’anglaise et le duc, 2001) und einem Policier (Triple agent, 2004). 21 Z.B. Le juge et l’assassin (1976), Le coup de torchon (1981), La vie et rien d’autre (1989), L 627 (1992), Ça commence aujourd’hui (1999). 22 Une semaine de vacances, 1981; Un dimanche à la campagne, 1984; Daddy Nostalgie, 1990. 122 Filmschaffen unerwähnt bleiben, das etwa zeitgleich mit der Nouvelle Vague die Arbeit aufnimmt (deshalb des öfteren ihr fälschlicherweise auch zugeordnet wird) und zur Abgrenzung vom neuen Kino der Autodidakten auch als ‚cinéma de la rive gauche‘ bezeichnet wird. Die Filme seines heute noch aktiven Hauptvertreters, Alain Resnais (*1922) 23 , sind wegen ihrer ästhetischen Sorgfalt und ihres erkenntnistheoretischen Tiefgangs aus der französischen Filmgeschichte der letzten 50 Jahre nicht wegzudenken. Angefangen mit so bekannten Werken wie Hiroshima mon amour (1959) und L’année dernière à Marienbad (1960) über Mon oncle d’Amérique (1978) oder La vie est un roman (1983) bis zu seiner bis dato letzten Produktion (Pas sur la bouche, 2003) betreibt Resnais immer wieder die simultane Verschränkung ganz unterschiedlicher Realitätsebenen, um mit Hilfe der filmischen Wirklichkeitsbildung die Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen von ‚Wahrnehmung‘ auszuloten, aber auch virtuelle Realitäten sichtbar zu machen. Im Rahmen einer autorenzentrierten Betrachtung ist als wichtiges Markenzeichen des neueren und neuesten französischen Filmschaffens ein bemerkenswert hoher Anteil von Regisseurinnen zu signalisieren. In der Kontinuität von Agnès Varda und Marguerite Duras haben Filmemacherinnen wie Catherine Breillat, Claire Denis, Danièle Dubroux, Laurence Ferreira Barbosa, Tonie Marshall, Lætitia Masson, Patricia Mazuy, Marion Vernoux - und die Liste ließe sich noch mühelos erweitern - maßgeblich zu dem hohen Ansehen beigetragen, das der französische Spielfilm derzeit genießt. Eine Sortierung der zeitgenössischen Kinolandschaft Frankreichs unter thematischen Akzentsetzungen stößt, auch wenn René Prédal eine zentrale Schaffensfacette gerade der jungen Generation in einem ‚cinéma de l’intime‘ (Cédric Kahn, Xavier Beauvois, Éric Zonca, Claire Denis) konstatiert (Prédal 2002, 73 ff), auf die gesellschaftskritische Ausrichtung zahlreicher Spielfilme. Dabei bleibt die cineastische Reaktion auf die beiden gravierendsten politischen Krisen, die die V. Republik bislang erschütterten - den Algerienkrieg und die Studentenrevolte von 1968 - im Sinne eines politischen Kinos mehr als verhalten. 24 Einen wesentlichen Beitrag zum „öffentlichen Räsonnement“ (Habermas) hat der französische Film hingegen in der Folge von Marcel Ophuls’ heftig disku- 23 Neben Resnais sind Marguerite Duras, Agnès Varda und Alain Robbe-Grillet zu nennen. 24 Außer in einer Nebenhandlung von Resnais’ Muriel (1963) stammen Filme über den Algerienkrieg von Regisseuren, die zumindest dem nicht-spezialisierten Publikum kaum oder gar nicht bekannt sind: Avoir vingt ans dans les Aurès (René Vautier, 1972), La question (Laurent Heynemann, 1977), L’honneur d’un capitaine (Pierre Schoendoerffer, 1982); allenfalls Taverniers vierstündiger Dokumentarfilm La guerre sans nom aus dem Jahr 1992 hat stärkere Beachtung gefunden. Es ist bezeichnend, dass der einzig bekannte Spielfilm zum Thema der Mai-Unruhen von 1968, die Komödie Milou en mai (1989) von Louis Malle, die Reaktionsweisen der Mitglieder einer bürgerlichen Familie weitab von den Ereignissen, in der Provinz, wo man sich zur Beerdigung der Großmutter zusammengefunden hat, in Szene setzt. 123 tiertem Dokumentarwerk Le chagrin et la pitié (1969) 25 anlässlich der unvoreingenommen-desillusionierten Aufarbeitung der Okkupationszeit geleistet. 26 Darüber hinaus findet die Auseinandersetzung mit den zentralen Problemen der französischen Gesellschaft der Gegenwart ihren ausgiebigen Niederschlag auf der Kinoleinwand, ob es sich um die von Ausbeutung und Arbeitslosigkeit geprägte Arbeitswelt, um die ‚neue Armut‘ und die desolaten Lebensverhältnisse in den banlieues, um Drogen und Beschaffungskriminalität oder um Immigration und Fremdenfeindlichkeit handelt - wobei fast keine der einschlägigen filmischen Darstellungen an dem ebenso ‚realistischen‘ wie deprimierenden Umstand vorbeikommt, die einzelnen Problemlagen und ihre Ballung gerade am Schicksal jugendlicher Handlungs- und Leidensträger zu dokumentieren. Regisseure wie Xavier Beauvois, Laurent Cantet, Bruno Dumont, Jean-François Richet oder Christian Vincent legen mit ihren Darstellungen ein beklemmend authentisches Zeugnis von den Existenzbedingungen solch Unterprivilegierter ab. In zunehmendem Maß verschaffen sich aber auch Filmemacher maghrebinischer Herkunft und aus der beurs-/ beurettes-Generation wie Karim Dridi (Bye-bye, 1995), Malik Chibane (Douce France, 1995) oder Yamina Benguigui (Inch’ Allah dimanche, 2001) mit ihren Innenansichten der Immigration Geltung. Als wichtigster gesellschaftskritischer Film des letzten Jahrzehnts muss La haine von Mathieu Kassovitz, 1995 in Cannes mit dem Preis für die beste Regie prämiert, angesehen werden. Das aufwühlende Werk erschöpft sich nicht in der unter die Haut gehenden Darstellung des Teufelskreises von gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit, daraus resultierender Aggressivität und obrigkeitlicher Repression am Beispiel dreier jugendlicher underdogs unterschiedlicher Hautfarbe, sondern gestaltet den Filmschluss gerade angesichts der mörderischen Eskalation der Feindseligkeit als Appell zum Durchbrechen dieser Spirale von Gewaltbereitschaft und Unterdrückung bei allen Beteiligten. 27 Zu einem auch nur summarischen Überblick über das zeitgenössische Kinoschaffen gehört zweifellos auch die Erwähnung der sog. ‚Kultregisseure‘ und ‚Kultfilme‘ mit ihrer massen- und damit auch kassenwirksamen Ausstrahlungskraft. Als Hauptvertreter in der Kategorie der Autoren ist an erster Stelle zweifellos Luc Besson, der Meister des aufwendigen Actionfilms, zu nennen (Le grand bleu, 1988; Nikita, 1990; Léon, 1994; Le cinquième élément, 1997; Jeanne 25 Die als Fernsehfilm konzipierte Studie durfte wegen der unliebsamen Erkenntnisse, die sie zu Tage förderte, erst nach dem Regierungsantritt François Mitterrands 1981 im französischen Fernsehen gezeigt werden. 26 Vgl. (u.a.) Louis Malles Werke Lacombe Lucien (1973) und Au revoir, les enfants (1986) oder die beiden Satiren Un héros très discret (Jacques Audiard, 1996) und Papy fait de la Résistance (Jean-Marie Poiré, 1983) 27 Zwei hervorhebenswerte Beispiele für die besonders gelungene Verknüpfung eines sozialkritischen Realismus mit individualpsychologischen Darstellungsinteresse im Sinne des erwähnten ‚cinéma de l’intime‘ wären La vie rêvée des anges von Éric Zonca (1998) und Les gens normaux n’ont rien d’exceptionnel von Laurence Ferreira-Barbosa (1993). 124 d’Arc, 1999). In den letzten Jahren ist Besson eher als Produzent und Drehbuchautor in Erscheinung getreten und hat, wie einige andere europäische Kollegen von Rang und Namen (Wenders, Verhoeven, Amenábar), seinen Arbeitsmittelpunkt nach Hollywood verlagert, so dass seine letzten Werke nur noch bedingt als Produkte einer genuin französischen Kinokultur zu betrachten sind. Den Status von ‚Kultfilmen‘ haben sich mehrere Komödien erworben, deren Hauptdarsteller aus dem Théâtre du Splendid kommen (Anémone, Josiane Balasko, Michel Blanc, Christian Clavier, Gérard Jugnot, Thierry Lhermitte), so Les bronzés und Les bronzés font du ski (1978 und 1979; Regisseur ist jeweils Patrice Leconte) sowie vor allem die gezielt die Grenze zur Geschmacklosigkeit überschreitende Satire auf die verlogene Gemütsbewegtheit anlässlich des Weihnachtsfestes Le père Noël est une ordure (1982) von Jean-Marie Poiré. Neben einer genauso ätzenden Persiflage auf Résistance-Kult und ‚Vergangenheitsbewältigung‘, Papy fait de la Résistance von 1983, hat dieser Regisseur 1993 mit Les visiteurs, der ulkigen Zeitreise eines Ritters aus dem 12. Jahrhundert und seines Knappen in die Gegenwart, einen Kassenschlager platzieren können, der es inzwischen mit 13,8 Millionen entrées sogar auf Rang 3 der meistgesehenen französischen Kinofilme gebracht hat. 28 Unbestritten nimmt jedoch Le fabuleux destin d’Amélie Poulain, ein Werk des zuvor für seine in Zusammenarbeit mit Marc Caro gedrehten schrillonirischen Wirklichkeitsverzerrungen (Delicatessen, 1990; La cité des enfants perdus, 1995) bekannten Regisseurs Jean-Pierre Jeunet, den Rang als der Kultfilm des französischen Gegenwartskinos ein. Vom Mainstream-Publikum gleichermaßen geschätzt wie auch von den meisten Cinephilen, hat die Leinwanderzählung vom wundersamen Geschick der Titelfigur in der kurzen Zeit seit ihrem Start im Frühjahr 2001 bis Ende 2002 bereits über 9 Millionen Zuschauer allein in die französischen Kinosäle gelockt. Das Erfolgsgeheimnis des Films basiert auf der Verknüpfung von filmsprachlicher und inhaltlicher Kreativität. Eine Fülle von visuellen und akustischen Einfällen, die völlig neue Wahrnehmungen der Alltagsrealität ermöglichen, trägt die gleichermaßen märchenhafte wie spannende Handlung um Amélies Beglückungsaktionen, ihre große Liebe und den geheimnisvollen ‚homme des photomatons‘. Der nuancierte Einsatz von Witz, Ironie und Parodie überzeugt ebenso wie die recht eigentlich tiefsinnige Selbstreflexion des Films über die Entstehung filmischen Erzählens (ausgehend von Renoirs Gemälde Le repas des canotiers) sowie die Wirkmächtigkeit medialer Veranstaltungen und der Notwendigkeit ihrer Hinterfragung. Gerade Le fabuleux destin d’Amélie Poulain legt in der überzeugenden Synthese von publikumswirksamen Darstellungsstrategien und filmkünstlerischer Substanz Zeugnis ab von der Lebendigkeit des französischen Gegenwartskinos. 28 In der Gegenwartsproduktion nur noch übertroffen von der zweiten, höchst aufwändig vermarkteten Astérix-Verfilmung mit Christian Clavier und Gérard Dépardieu, Astérix et Obélix: mission Cléopâtre (2002; Regisseur: Alain Chabat), mit 14,2 Millionen Besuchern (vgl. auch die Bestsellerliste des französischen Kinofilms Kap. 4.4). 125 3.3 Aspekte der Filmanalyse: Mise en scène und Montage Als Modell für eine umfassende Analyse des Zeichensystems ‚Film‘ sollen in heuristischer Absicht die Kategorien dienen, die die Linguistik unter Bezugnahme auf die allgemeine Semiotik für die Betrachtung der sprachlichen Kommunikation bereitgestellt hat. Der Film wird in diesem Sinne als eine komplexe bedeutungstragende Äußerung verstanden und untersucht - ‚komplex‘ deshalb, weil im Unterschied zur Sprache, deren Zeichensystem eine einfache Kodierung (durch Laute oder Schriftzeichen) aufweist, der Film fünffach kodiert ist: Im Hinblick auf die visuelle Referentialität, die genuine Grundbestimmung dieses Mediums, ist der Film kodiert durch (a) die unmittelbare Erzeugung bewegter Bildfolgen, die auf eine tatsächliche oder fingiert vorfindliche Wirklichkeit verweisen, (b) durch Schrift, sei es in Gestalt von extradiegetischen Zwischentiteln wie in der Stummfilm-Ära oder von vorausbzw. nachgestellten Einführungen bzw. Ausblicken, 29 sei es intradiegetisch durch die Einbringung von handlungsrelevanten Schriftzügen in Form von Buch- oder Zeitungsausschnitten, Straßen- und Gebäudeschildern etc. 30 Im Bereich der Akustik, der zweiten Wahrnehmungsweise, die der Film (re-)produziert, kann eine Codierung in Gestalt von (c) gesprochener Sprache, (d) Geräuschen und (e) Musik - wiederum intradiegetisch erzeugt und/ oder extradiegetisch als ‚Begleitmusik‘ unterlegt - stattfinden (vgl. Metz 1977, 33 ff). 31 (1) Der Phonologie in der linguistischen Betrachtung entsprechend, beginnt unsere Übersicht der filmanalytischen Analyseebenen mit der Untersuchung der ‚Artikulation‘ einer filmischen Äußerung, also der Erzeugung bedeutungsunterscheidender Einheiten. Eine solche Betrachtungsweise scheint auf den ersten 29 So endet Lacombe Lucien, Louis Malles Film von 1973 über den Werdegang eines jungen Kollaborateurs, vom Bildangebot mit der ländlichen Idylle zwischen Lucien und der Jüdin France, die er vor den Nazi-Schergen und damit der drohenden Deportation gerettet hat. Der schriftliche Nachspann desillusioniert jedoch diesen vermeintlich glücklichen Ausgang auf schockierende Weise: „Lucien Lacombe fut arrêté le 12 octobre 1944. Jugé par un tribunal militaire de la Résistance, il fut condamné à mort et exécuté.“ 30 In seinem Erstlingswerk A bout de souffle lässt Jean-Luc Godard den Erzählfortschritt in der Geschichte um den Gangster Michel Poiccard (Jean-Paul Belmondo) etwa mit Hilfe einer durchlaufenden Presse-Schlagzeile in Leuchtschrift auf einer Häuserfassade antizipieren: „Paris: Michel Poiccard: Arrestation imminente“. 31 Unabhängig von dieser Einteilung bringt der französische Filmwissenschaftler Christian Metz auf einer anderen Analyseachse die Unterscheidung von ‚filmischen‘ und ‚kinematographischen‘ Codes ins Spiel: Er bezeichnet als ‚kinematographische‘ Codierungen solche, die ausschließlich im Zeichensystem ‚Film‘ vorzufinden sind (z.B. Typen von Kamerabewegungen, visuelle Montagetechniken etc.), wohingegen der Einsatzbereich von ‚filmischen‘ Codes auch, aber nicht ausschließlich im Film auszumachen ist (schauspielerische Gestik und Mimik oder bestimmte codierte Klangfarben zum Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen z.B.). 126 Blick im Rahmen der übergeordneten Erkenntnisinteressen weniger belangvoll zu sein, geht es doch etwa um die Beschaffenheit von Belichtungsmaterial (Zelluloid, Emulsionen) oder um die Funktionsweisen technischer Apparaturen. 32 Andererseits gewinnt eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise der Hervorbringung einer filmischen Aussage in dem Augenblick eine grundsätzliche Bedeutung, wenn die Kriterien für die künstlerische Leistung des Filmens bestimmt werden. Nach der ‚Rohstoff‘-Theorie kommt eine ästhetische Leistung, egal in welcher Kunstform, durch die Verwandlung (‚Verzehrung‘) eines Rohstoffs (Marmor, Farben, Klänge, Buchstaben/ Laute) zu einem neuen Ganzen (Plastik, Gemälde, Symphonie, Roman/ Bühnenstück) zustande. Analog zu dieser Sichtweise würde die Manifestation des Künstlerischen beim Film in dem wie auch immer definierten kunstvollen Akt der Belichtung von Filmmaterial innerhalb eines bestimmten Zeitkontinuums bestehen und wäre mit ihm auch abgeschlossen - eine Prämisse, die im Zusammenhang mit der filmästhetischen Bedeutung der mise en scène, auf die wir weiter unten zu sprechen kommen werden, ihre zumindest diskussionswürdige Berechtigung gewinnt. (2) Im wahrsten Sinn grundlegend für das Verständnis eines Films ist die Kenntnis des Arsenals an bedeutungstragenden Elementen und ihres besonderen Beitrags zur Konstituierung von Bedeutung(en) innerhalb der filmischen Kommunikation. Eine solche morphologische Betrachtungsweise hat mit der Frage nach den filmischen ‚Morphemen‘, den kleinsten bedeutungstragenden Einheiten, zu beginnen. Auch wenn sich als technisch exakte Antwort das in Godards mittlerweile abgedroschener Definition des Films als „Wahrheit, 24 Mal in der Sekunde“ gemeinte Einzelbild der Filmspule aufdrängt, wird allgemein aus Gründen der exakteren Bestimm- und Segmentierbarkeit (wie und wo genau soll sich etwa in einer homogenen und womöglich auch schnellen Bewegung ein ‚Einzelbild‘ differenzialisieren lassen? ) die Einstellung (frz.: plan) vorgezogen. Sie ist definiert als das Stück Filmmaterial, das - eindeutig nachvollziehbar - im Zeitintervall zwischen der Betätigung des Kameraauslösers und dem Abstoppen belichtet wird. Die Dauer einer Einstellung bewegt sich zwischen den Extremen von Zehntelsekunden beim Zusammenschneiden von hektischen Bewegungen einerseits und etlichen Minuten anlässlich von ruhigen Ansichten oder ununter- 32 Auf dieser Ebene handelt es sich wohlgemerkt um die technische Funktionsweise - beispielsweise des Einsatzes beispielsweise eines Camcorders. Die ästhetische Wirkungsweise, die von einer solchen Apparatur etwa in dem Horrorfilm Blair Witch Project (Daniel Myrick/ Eduardo Sánchez, 1999) hervorgerufen wird, wäre Gegenstand einer Untersuchung auf der zweiten Betrachtungsebene. Für alle technisch-chemischen Details wie als Referenzwerk für alle filmanalytischen Aspekte der Ebenen (1)-(3) der vorliegenden Darstellung vgl. im Übrigen die empfehlenswerte Einführung von Monaco (1995). 127 brochenen Kamerafahrten andererseits. 33 Je nach Rhythmus, Stimmung und auch Filmgattung (Actionfilm vs. Liebesidylle) besteht ein normal langer Spielfilm aus ca. 400 bis 700 Einstellungen. 34 Um der weiteren Betrachtung vorzugreifen: Die Einzeleinstellungen gruppieren sich innerhalb der Linearität eines Films zur nächstgrößeren Einheit der Sequenz, die als solche in der Regel durch einen örtlichen Zusammenhalt definiert ist; Sequenzen wiederum sind in Syntagmen organisiert, die sich nicht unbedingt an die lineare Abfolge halten und bestimmte Handlungszusammenhänge konstituieren (vgl. (3)). Wenn wir vereinfachend Einzelbild und Einstellung zunächst einmal gleichsetzen, so lassen sich bei der Betrachtung des statischen Bildangebots die Parameter der in der Bildenden Kunst eingeführten Bildanalyse mit Gewinn heranziehen, also die Untersuchung etwa des kompositorischen Aufbaus, der Perspektivierung und des Räumlichkeitseindrucks, der Kadrierung und des Bildausschnitts, zwei Aspekte, zu denen im Übrigen auch der sog. ‚hors champ‘, also die räumliche Umgebung außerhalb des direkten Bildfeldes, gehört; der ‚hors champ‘ wird vom Zuschauer immer mit erfasst und steuert nicht nur im klassischen Fall des Gruselfilms die Intensität des Wahrnehmungseindrucks maßgeblich. 35 Ebenso lässt sich auch der Komplex der Bildrhetorik auf die Einzelfilmbild-Analyse anwenden (Joly 1993). Ein weiterer wichtiger Analysevorgang innerhalb dieses Untersuchungskomplexes betrifft die Einstellungsgrößen. Die gängige Nomenklatur unterscheidet (von nah nach fern): ‚Detail‘ (très gros plan - ein Element wird isoliert betrachtet, z.B. eine bildfüllende Augenpartie); ‚Groß‘ (gros plan - Augenpartie samt Gesichtsoberhälfte z.B.); ‚Nah‘ (plan rapproché - Oberkörper); ‚Amerikanisch‘ 33 Das immer wieder kolportierte Beispiel eines Films, der aus einer einzigen Einstellung bestünde, Alfred Hitchcocks The Rope von 1948, eine Kriminalhandlung in einer bühnenähnlichen Szenerie über 80 Minuten, erweist sich schon für den Laien bei genauerem Hinschauen als bloßer Trick: Kleine Ab- und Aufblendungen sollen den Wechsel der Filmspulen und damit die doch vorhandenen Schnitte kaschieren. 34 Zwei Beispiele: Hiroshima mon amour (Alain Resnais, 1958): 423 Einstellungen bei 90 Minuten; The Big Sleep (Howard Hawks, 1946): 609 Einstellungen bei 114 Minuten; und zwei Extreme: Oktober (Sergej Eisenstein, 1927): 3.225 Einstellungen bei 100 Minuten; India Song (Marguerite Duras, 1975): 73 Einstellungen bei 120 Minuten (Angaben zur Einstellungsanzahl nach Aumont/ Marie 1988, 36). 35 Ein Beispiel aus dem bereits im filmgeschichtlichen Teil erwähnten Werk Zéro de conduite von Jean Vigo (1933): Eine Schulklasse stellt sich in Erwartung des Direktors auf dem Schulhof auf; ein Lehrer ist geradezu hektisch bemüht, dem Vorgesetzten die Schüler in tadelloser Ordnung zu präsentieren. Nach der ehrfürchtigen Äußerung des Lehrers „Voilà M. le principal qui arrive“ tritt ein Liliputaner mit quäkender Stimme ins Bild. Das mikrostrukturelle Spiel mit dem hors champ, die gespannte Erwartung des sich nähernden Direktors, dient, wie der gesamte Film, der Demontage der Respektabilität des Erziehungswesens und seiner Vertreter. 128 (plan américain - Körper vom Kopf bis Mitte Oberschenkel); 36 ‚Halbnah‘ (plan moyen - Personen mit Raumanteilen); ‚Halbtotale‘ (plan de demi-ensemble - Personen mit Großteil eines Raums oder einer sonstigen Umgebung); ‚Totale‘ (plan d’ensemble - vollständige Erfassung einer Räumlichkeit mit identifizierbaren Personen); ‚Panorama‘ (plan de grand ensemble - Weitwinkel- oder Schwenk-Erfassung einer Landschaft mit darin winzig erscheinenden Personen). Für alle Einstellungsgrößen gilt, dass ihre Bestimmung wichtig ist zum Verständnis der „Wertigkeit, die in dem Bildfeld das Objekt des primären Interesses einnimmt“ (Rother 1997, 73). Auch die Gestaltung der Beziehung zwischen Kamera und Objekt, also die Wahl des Blickwinkels, kann eine bedeutungsstiftende Funktion erfüllen. Der Normalfall der gleichen Höhe von Kamera und Objekt wird etwa in Dialogsequenzen oft im ‚Schuss-Gegenschuss‘-Verfahren (champ/ contre-champ) - die Personen erscheinen alternierend im Bild, wobei die Kamera entweder den jeweiligen Sprecher oder aber die Reaktion des Angesprochenen einfängt - verwendet und ist in dieser Komplementarität sichtbarer Ausdruck eines auktorialen Erzählers. Bei der Vogelperspektive (die Kamera befindet sich an einem höher gelegenen Standort als das Objekt) ist die Wirkung des Blickwinkels in der Regel infolge der Verkleinerung eine im wahrsten Wortsinn ‚herabsetzende‘. 37 Umgekehrt ruft die Anwendung der Frosch-Perspektive (die Kamera fängt das Objekt von unten ein) beim ‚unterlegenen‘ Zuschauer ein Gefühl der Bedrohung durch das Objekt hervor. 38 Wird die Kameraapparatur selbst in Bewegung gesetzt, ergeben sich als Möglichkeiten der Bildgestaltung der Schwenk (panoramique) um die Vertikalachse der Vorrichtung (also seitlich) oder nach unten bzw. oben (plongée bzw. contre-plongée); 39 wird die Schwenkbewegung abrupt ausgeführt, redet man von einem ‚Reißschwenk‘; die Kamerafahrt (travelling avant/ arrière), bei der der Aufwand an Voreinrichtungen (Verwendung eines wagenähnlichen Gefährts, Verlegung von Schienen) vom Zuschauer, der nur das Resultat der Bemühungen 36 Die Bezeichnung spielt an auf die Verwendung dieser Bildgröße in Einstellungen, wie sie für den Western typisch sind, da sie den Colt im Halfter mit ins Bild bringen. 37 Als Beispiel sei das Ende des Films Le scandale von Claude Chabrol (1967) (der im Übrigen sehr häufig diese Perspektive im Dienst seiner eben diskreditierenden Bürgertumskritik praktiziert) erwähnt: Während sich die drei Protagonisten in einem Raum um einen Revolver balgen, fährt die Kamera, ‚unrealistischerweise‘ die Zimmerdecke abhebend, immer höher, so dass die Personen mehr und mehr als Tiere in einem Terrarium erscheinen, bis sie mikroskopisch klein werden und im Nichts verschwinden - nur der gleichbleibende Ton gibt ihr sinnloses Gezänk wieder. 38 So besonders drastisch ausmodelliert in Carl Theodor Dreyers berühmtem Stummfilm La passion de Jeanne d’Arc (1927) in der Ausgestaltung der Verhörszenen, die Jeanne durch die böswilligen Kleriker über sich ergehen lassen muss. 39 Die französischen Begriffe plongée und contre-plongée werden bisweilen auch für den statischen Blickwinkel von unten bzw. von oben verwendet. 129 sieht, häufig unterschätzt wird; 40 der Zoom (zoom), wobei der Einsatz der Gummilinse, mit der die entferntesten Objekte ohne den Aufwand einer Fahrt herangeholt werden können, von vielen Filmemachern geächtet wird, da der Zoom die räumlichen Verhältnisse der natürlichen Perspektivierung verzerrt. Auch die Lichtverhältnisse (high key als Fachbegriff für die Verwendung eines kontrastreichen, die dunklen und hellen Lichtwerte betonenden Scheinwerfereinsatzes; low key für eine abgestufte, verschwimmende Farbgebung bzw. eine Skala von Grautönen im Schwarz-Weiß-Film) gehören ebenso in die Zuständigkeit einer morphologischen Untersuchung wie die Farbgebung (man denke an Godards ostentativ intermedialen Einsatz der Mondrian-Farben Rot, Weiß, Blau, Gelb oder an Pedro Almodóvars gezielte Verwendung der Kitschfarben von Modejournalen aus den späten Fünfzigern). Dasselbe gilt für die Gestaltung der Tonebene. Bei der Wiedergabe von Sprache, Geräuschen und Musik im Film wird unterschieden zwischen on- und off- Ton (die Tonquelle befindet sich im Bild/ im hors-champ); wird der Übergang von einer Einstellung zur nächsten dadurch gewährleistet, dass bereits innerhalb der ersten Einstellung der zur nachfolgenden gehörende Ton off zu hören ist, redet man vom ‚überlappenden‘ Ton. Eine Analyse der Filmmusik hat zu trennen zwischen Funktionen und Techniken des musikalischen Einsatzes. Die Kategorisierung der Funktionen nach Claudia Bullerjahn (Bullerjahn 2001, 69-74) unterscheidet zwischen dramaturgischen Funktionen, mit denen die dramatische Handlung und die seelische Beschaffenheit der Figuren verdeutlicht und verstärkt werden; epischen oder narrativen Funktionen, die Musik zur Kommentierung und Informationsgebung durch den Erzähler einsetzen; 41 strukturellen Funktionen, die Musik in den Dienst der filmischen Komposition (Betonung von Schnitten, Akzentuierung von Einzeleinstellungen oder Bewegungen, Titel- und Abspannmelodien) stellen; und persuasiven Funktionen, also der affektiven Aufladung der visuellen Wahrnehmung zur Verringerung der Distanz zwischen Zuschauer und Leinwandgeschehen. Konkret haben sich für den Einsatz im Dienst dieser Funktionen vier Filmmusiktechniken entwickelt (Bullerjahn 2001, 77-99), und zwar die deskriptive oder illustrative Technik, die mood-Technik (Erzeugung musikalischer Stimmungsbilder), die auf die Tradition Richard Wagners zurückzuführende Leitmotivtechnik, die auf Personen, aber auch thematische Konfigurationen verweisen kann, und die Baukasten- oder Montagetechnik, bei der vier- oder achttaktige Motivzellen die Schnitttechnik des Films imitieren, ohne eine illustrative oder kontrapunktische Beziehung zur Bildspur aufzubauen. 40 Als Beispiel siehe die Ausführungen zur mise en scène (Godard: A bout de souffle). 41 Wobei diese Beziehung nicht zwingend affirmativ sein muss, sondern oft durch eine ironische Brechung gekennzeichnet ist, so wenn im Vorspann zu François Truffauts Film Baisers volés (1968) Charles Trénet „un petit village, un vieux clocher“ besingt und zeitgleich hierzu auf der Bildebene ein Panoramaschwenk Paris und den Eiffelturm präsentiert. 130 (3) Auf der nächsten Analyseebene werden die Verkettungsprozesse der einzelnen ‚Morpheme‘ zu strukturierten Sinn-Äußerungen untersucht. Eine solche Syntax des Films beschäftigt sich vorrangig unter formaler Perspektive mit der Montage als spezifischem Verfahren der Verknüpfung von Bildmaterial. Dass der Montage über ihre syntaktische Aufgabe hinaus eine gewichtige Aufgabe im Bereich der semantischen Realisationen zufällt, wird weiter unten ausgeführt werden. Als wichtigste Spielarten zur Bewerkstelligung des Übergangs von einer Sequenz zur nächsten können aufgezählt werden: der ‚harte Schnitt‘ (eine Sequenz hört ebenso abrupt auf, wie die nächste übergangslos - womöglich an einem ganz anderen Ort - gestartet wird); 42 Ab- und Wiederaufblendungen (fondu au noir/ ouverture en fondu); Überblendungen (fondu enchaîné), die, wie bereits gesagt, auch akustisch durch den überlappenden Ton geleistet werden können), Schiebeblenden (ein Bildausschnitt wird vom nächsten nach links oder rechts hinausgeschoben) oder das kreisförmige Schließen und Wieder-Öffnen der Irisblende (zeittypisch für den Stummfilm, aber auch angewandt in historischen Filmen, die so den Geist früherer Epochen zum bildhaften Ausdruck bringen wollen 43 ). Darüber hinaus verweist die Definition des Films als lineare Verkettung von Einstellungen zu einem sich fortschreitend organisierenden sinnhaften Wirklichkeitsganzen auf ein weiteres Einsatzgebiet der Filmanalyse im Bereich der Syntax. Die Sequenzialität des Spielfilms weist ihn als ein Erzähl-Universum aus, auf das durchaus die von der Literaturwissenschaft entwickelten narratologischen Kategorien wie „Bausteine des Erzählens“ (Lämmert) und Erzählperspektiven (Fokalisationen) anwendbar sind. So hat etwa Christian Metz zur Darstellung der filmischen Erzählstrukturen eine überzeugende Taxonomie der Syntagmen (vgl. Absatz 3.2) nach acht Typen vorgelegt. In seinem dichotomisierenden Modell grenzt Metz zunächst die ‚Autonome Einstellung‘ (a) von den Syntagmen ab; Syntagmen selbst werden in ‚achronologische‘ (‚Paralleles Syntagma‘ (b) und ‚Syntagma der zusammenfassenden Klammerung‘(c)) und chronologische Syntagmen unterschieden; letztere wiederum lassen sich einteilen in das ‚Deskriptive Syntagma‘ (d) und narrative Syntagmen, die den Erzählfortschritt entweder alternierend (‚Alternierendes Syntagma‘ (e)) oder linear gewährleisten; unter die linear narrativen Syntagmen fällt die ‚Szene‘ (f) in Abgrenzung von der Sequenz, 44 die sich schließlich in Gestalt einer ‚Sequenz durch Episoden‘ (g) 42 Von Godard etwa auch innerhalb von Sequenzen auch in Gestalt von jump cuts, also des Herausschneidens von Einzeleinstellungen, praktiziert, wodurch sich ein ruckartiger, ‚unrealistischer‘ Wahrnehmungseindruck ergibt. 43 Vgl. beispielsweise den Einsatz der Irisblende in Truffauts Spielfilm L’enfant sauvage (1969), der Geschichte des ‚Wolfsjungen‘ Victor zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 44 In einer ‚Szene‘ ist, analog der Begrifflichkeit des Theaters, die Abfolge der Handlungselemente linear, chronologisch und kontinuierlich, während eine ‚Sequenz‘ in der Metz’schen Terminologie nicht kontinuierlich ist, d.h. aus dem Arrangement von mehreren Ansichten aus einem inhaltlichen Zusammenhang besteht, wobei diese Ansichten 131 oder einer ‚gewöhnlichen Sequenz‘ (h) manifestieren kann (Metz 1975, 111ff, insbesondere 146). Den Status eines Syntagmas kann, muss aber nicht zwingend ein weiterer wichtiger ‚Baustein‘ des filmischen Erzählens besitzen, der Vorspann (générique), für den eine verbindliche Typologisierung nach verschiedenen Parametern (Autor, Gattung, Epoche usf.) ebenso lohnen würde wie die Untersuchung seiner rhetorischen Funktion als exordium für die nachfolgende narrative Entfaltung eines Sachverhalts, der die Aufmerksamkeit der Zuschauer benötigt. Fundamental ist des Weiteren die Einsicht, dass die Überprüfung der narrativen Gestaltung eines Films im Hinblick auf seine Erzählperspektiven mit Hilfe der literaturwissenschaftlich entwickelten Kategorien von Franz K. Stanzel (‚Ich-Erzähler‘, ‚personaler Erzähler‘, ‚auktorialer Erzähler‘) 45 oder Gérard Genette (‚focalisation zéro‘, ‚focalisation externe‘, ‚focalisation interne‘) (Genette 1972) nicht nur möglich, sondern auch ertragreich ist. Nicht von ungefähr hat man zur Veranschaulichung der genannten Erzählperspektiven in der gedruckten Literatur immer schon auf filmspezifische Demonstrationsbeispiele zurückgegriffen (so wird die ‚personale Erzählhaltung‘ mit dem Bild der auf den Kopf geschraubten Kamera illustriert, für den ‚unsichtbaren Zeugen‘ als Sonderform der personalen Erzählinstanz wird die Vorstellung einer am Schauplatz installierten Kameraapparatur bemüht, die alle optischen und akustischen Wahrnehmungen ihres ‚Aktionsradius‘ einfängt, ohne sie zu kommentieren oder zu bewerten). Tatsächlich fungiert die Kameraapparatur 46 als Erzählinstanz, 47 die ihre Geschichte entweder mit Hilfe einer ‚Zuschauer-Fokalisation‘ 48 (der Erzähler ist allwissend und gibt mehr wieder, als die einzelnen Protagonisten wissen können - vgl. etwa den Arroseur arrosé der Gebrüder Lumière), einer ‚externen Fokalisation‘ (der Zuschauer wird nur der äußeren Wahrnehmungen einer Person oder, abgelöst von einer solchen, der Kamerawahrnehmung teilhaftig) oder einer ‚internen Fokalisation‘ (die Ereignisse werden aus der Perspektive und dem Bewusstsein eines oder alternierend mehrerer Protagonisten erzählt) 49 wiedergibt. zwar linear und chronologisch angeordnet sind, zwischen ihnen aber durchaus Intervalle bestehen, die nicht mit erzählt werden. 45 Vgl. Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans. Göttingen, 12 1993. 46 Auf dem Begriff der Kameraapparatur wird insistiert, um gerade hier das Missverständnis zu vermeiden, bei der narrativen Informationsvermittlung handele es sich jeweils nur um die Leistung der Bildwiedergabe. 47 Gaudreault/ Jost (1990, 54-56), sprechen vom ‚Méga-Narrateur‘ oder ‚grand Imagier‘. 48 Mit guten Gründen haben Gaudreault/ Jost (1990, 137ff), diesen filmspezifischen Terminus statt der Genette’schen ‚focalisation zéro‘ vorgeschlagen. 49 Als extreme Anwendungsform dieser Fokalisation gilt die ‚subjektive Kamera‘, die, strikt die audiovisuelle Wahrnehmungstätigkeit eines Helden simulierend, den Handlungsablauf vermittelt. Paradebeispiel hierfür ist der Kriminalfilm The Lady in the Lake (Robert Montgomery, 1946), der konsequent aus der Perspektive der Hauptperson, des Detektivs Philip Marlowe, erzählt wird, was zu teilweise originellen Wahrnehmungserlebnissen führt, so wenn die Kamera (also der Kopf des Detektivs) während eines Ge- 132 (4) Durch den Akt des filmischen Erzählens konstituiert sich eine zusammenhängende Wirklichkeit, die bedeutungshaltig ist. Aufgrund dieses seines fiktionalen Charakters kann der Film gleichsam als vierte Gattung der Literatur dementsprechend mit den eingeführten hermeneutischen Methoden der Literaturwissenschaft erforscht werden (Lohmeier 1996; Boillat 2001). So widmet sich auf der semantischen Analyseebene die biographische, historische, soziologische und/ oder psychologische Auseinandersetzung mit den fiktionalen Sinnmodellierungen sowohl der werkimmanenten Erhellung eines Einzelfilms als auch den Bedeutungskomplexen im Schaffen eines Filmemachers und noch übergreifender der Rekonstruktion bestimmter Schulen und epochenspezifischer Ausprägungen des Filmschaffens wie beispielsweise dem ‚Poetischen Realismus‘ oder der Nouvelle Vague. Es ist evident, dass die einzelnen Untersuchungsansätze, wie sie aus den genannten Erkenntnisinteressen resultieren, nur im Rückgriff auf signifikante filmsprachliche Befunde, deren Ermittlung unter (2) und (3) skizziert sind, zu validen Erklärungszusammenhängen gelangen können. Ebenso stellt die Erhellung von Erscheinungsformen und Funktionen bestimmter Filmgenres (Komödie, Melodram, film noir, Horrorfilm, Science Fiction) sowohl unter gattungssystematischen Prämissen als auch im Hinblick auf ihre diachronische Entwicklung ein zentrales Betätigungsfeld der semantischen Filmanalyse dar. In derselben Weise gilt dies für die Relevanz thematisch orientierter Fragestellungen, wie sie sich aus der Rekurrenz bestimmter Sachverhalte und Sinnkonfigurationen ergeben, die zum Gegenstand der Filmnarration erhoben worden sind. Um zur Veranschaulichung ein bereits im filmgeschichtlichen Teil angesprochenes Beispiel auszuführen: Angesichts der signifikanten Häufung von französischen Spielfilmen, die die Okkupationsjahre 1940-1944/ 45 zum Hauptgegenstand ihrer Fiktionsbildung erheben, stellt sich die Frage, in welcher ideologischen bzw. ideologiekritischen Weise diese cineastischen Verarbeitungsformen ihren Beitrag zur kollektiven Bewältigung von Collaboration und Résistance geleistet haben und ob ein historischer Wandlungsprozess in der Behandlung des Themas stattgefunden hat. In der Tat kommt eine genauere Untersuchung zu dem Schluss, dass bis zum Erscheinen von Marcel Ophuls’ Dokumentarfilm Le chagrin et la pitié von 1969 das französische Kino mit Filmen, die einer weitgehenden Glorifizierung der Résistance bei gleichzeitiger Verharmlosung bzw. Nicht-Thematisierung des Ausmaßes der Kollaboration dienen, als wichtige Instanz eines Mythos der schäftsgesprächs mit einer Verlegerin von Kriminal- und Schauerromanen plötzlich von dem Gegenüber abschweift und mit einem hartnäckigen Schwenk dem ansehnlichen Körper der Sekretärin, die gerade den Raum verlässt, nachschaut (gleichzeitig geht die Lautstärke des uninteressant gewordenen Gesprächs zurück), bis Marlowe von der Verlegerin zur Ordnung gerufen wird, was zu einem Reißschwenk zurück auf die Dame gegenüber führt. Da beim Einsatz der subjektiven Kamera logischerweise der Wahrnehmende selber nie ins Bildfeld geraten kann, operiert The Lady in the Lake häufiger mit Spiegeln, um den Filmhelden wenigstens auf diese Weise ‚ansehnlich‘ zu machen. 133 nationalen Versöhnung fungiert, 50 während es dann ab den siebziger Jahren mit einer Reihe von ‚Problemfilmen‘, aber auch zynischen Komödien und Satiren die aufgestellten Tabus bricht und einer kritischen Aufarbeitung Vorschub leistet, die auch den Prozess der Vergangenheitsbewältigung selbst nicht ausspart (Ecker 2003, 209-227; Dürr 2001). (5) Für kinematographische Hervorbringungen gilt dasselbe wie für Äußerungen im Rahmen der sprachlichen Kommunikation: Die Produktion von Sinn stellt keinen Selbstzweck dar, sondern dient dem Vollzug von Handlungen. Die Erforschung dieser pragmatischen Dimension des Films bewegt sich auf drei Ebenen: In technischer Hinsicht geht es darum, die faktischen Modalitäten der Filmproduktion (z.B. Drehbucherstellung, Dreharbeiten, Postproduktion im Schneidestudio) sowie des Distributions- und Rezeptionsvorgangs vor allem auch im historischen Wandel zu beschreiben. Darüber hinaus zielt das ‚Handeln mit Filmen‘ auf die Einlösung des den filmischen Produkten innewohnenden Tausch- und Gebrauchswertes ab. Rückt das Tauschwertpotenzial des Kinos, womit seine eminent kommerzielle Fundierung gemeint ist, in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, beschäftigen sich die entsprechenden Untersuchungen - in der historischen Entwicklung ebenso wie unter den gegenwärtigen Bedingungen - mit den quantitativen und damit den geschäftlichen Aspekten der Produktion (wie viel und unter welchen Bedingungen wird produziert? ), der Diffusion bzw. Distribution (wie ist es mit der Quantität und Beschaffenheit der Kinosäle bestellt? Welche Vermarktungsstrategien werden angewandt? ) und der Rezeption (wie stellt sich der Kinobesuch zahlenmäßig und im Hinblick auf bestimmte Zuschauerprofile und Genrepräferenzen dar? ). Die diesen Analysekomplex betreffenden Fragestellungen werden im nächsten Kapitel auf die französische Kinolandschaft angewandt. Für die Rezipienten der filmischen Kommunikation ist der Kinobesuch durch ein Gebrauchswertversprechen motiviert, dessen Bedeutung sich zum einen in Besucherzahlen widerspiegelt und zum anderen im Wechselspiel mit den Befunden des inhaltsanalytischen Zugangs ermittelt werden kann. Ob der Beweggrund, eine Kinokarte zu erstehen‚ getreu dem Motto einer früheren deutschen Kinowerbung („Mach’ dir ein paar schöne Stunden, geh’ ins Kino“) in der Unterhaltung, in der politisch-sozialen Bewusstseinsbildung, in der ästhetischen Entdeckungsfreude oder in fiktionalen Kompensations- und Gratifikationsangeboten angesichts einer schlechten Wirklichkeitserfahrung (so etwa in den deutschen UFA-Filmen während des Zweiten Weltkriegs oder in den spanischen ‚Kinder-Filmen‘ und Flamenco-Schnulzen unter der franquistischen Diktatur) auszumachen ist, immer setzen diese Spielarten einer publikumsbezogenen Pragmatik des Kinos voraus, dass sich die Zuschauer für die Dauer der Auffüh- 50 Als wichtiges Beispiel wäre die unter genrespezifischen Aspekten herausragende Filmkomödie La grande vadrouille von Gérard Oury (1966) zu nennen, auf deren kommerzielle Bedeutung im 3. Kapitel noch hingewiesen werden wird. 134 rung auf die Gültigkeit der Leinwandwelt einlassen, um dem Genuss der wie auch immer gearteten Erlebnishaftigkeit, das dem Medium ‚Film‘ innewohnt, teilhaftig zu werden. Anstelle eines Abrisses der wichtigsten filmtheoretischen Ansätze, der im Rahmen dieser Einführung nicht geleistet werden kann, 51 sollen die beiden Grundkonzepte der Filmgestaltung, auf die sich die Spielarten der Reflexion über das Filmschaffen seit den Anfängen des Kinos beziehen - Mise en scène und Montage - erläutert werden. Wird die allgemeine und damit auch die ästhetische Leistung des Mediums ‚Film‘ in seiner Fähigkeit gesehen, Wirklichkeitsausschnitte in derselben audiovisuellen Authentizität erfahrbar zu machen, wie sie sie unsere menschlichen Sinne gewährleisten, also im ‚Realismus‘ sowohl des Wahrnehmungsprozesses als auch der Abbildung von Welt, dann ergibt sich als Konsequenz aus dieser ‚Materialeigenschaft‘ des Films eine doppelte Verpflichtung des Cineasten, den tieferen Sinn der Welterkundung, die er mit der Kameraapparatur betreibt, auf der Leinwand zur Darstellung zu bringen. Einmal muss die innere Wahrheit der Welt aus den eingefangenen Ansichten der äußeren (nicht der äußerlichen! ) Wirklichkeit heraus sprechen, darf demzufolge also nicht den nachträglichen ‚Manipulationen‘ eines noch so schöpferischen Subjekts überantwortet werden. Hier kommen wir auf die unter (1) erwähnte filmästhetische Grundposition zurück, die im Zeichen eines unbedingten Realismus die künstlerische Leistung des Filmens nach der möglichst ‚sinnfälligen‘ Belichtung des Materials und dem Wiederverschluss der Blende für vollendet erklärt. Bedeutungsgebung, d.h. die Ermöglichung der Wahrnehmung der dem Kunstwerk inhärenten Wahrheit, als die spezifische Leistung des Filmkünstlers kann demnach nur vor dem Belichtungsakt organisiert werden, und zwar durch die Mise en scène, die Summe aller gestalterischen Voreinrichtungen, angefangen bei der Wahl des Bildausschnitts (und damit des hors champ), der Einstellungsgröße, der Bildkomposition im Einzelnen, der geplanten Kameraperspektive(n) und -bewegung(en) über die Lichtverhältnisse und den Dekor bis zu den Bewegungen der Schauspieler im Raum. Um zu demonstrieren, wie durch das gezielte Arbeiten mit der Verweisungskraft realistischer Einstellungen Bedeutungen generiert werden, sei auf eine Konfiguration aus dem Erzähluniversum von François Truffaut zurückgegriffen: Eine zentrale zwischenmenschliche Erfahrung, die Truffauts Filmwelten hartnäckig vermitteln, ist die Unfähigkeit der (vornehmlich männlichen) ‚Helden‘, funktionsfähige Partnerbeziehungen aufzubauen. Um diesen Sachverhalt zu ‚veranschaulichen‘, baut Truffaut in die Mann-Frau-Begegnungen ständig Objekte oder Ansichten ein, die das Getrenntsein der Geschlechter auf realistische 51 Stattdessen kann auf die vorbildliche Auswahl von zentralen Texten zur Filmtheorie, die Franz-Josef Albersmeier zusammengestellt hat, verwiesen werden (Albersmeier 2001). 135 Weise symbolisieren. So grenzt er in L’homme qui aimait les femmes (1977) beim Wiedersehen eines geschiedenen Paares durch eine wuchtige Garderobentheke, auf der außerdem eine Lampe platziert ist, die beiden Personen horizontal und vertikal optisch gegen alle Annäherungsversuche strikt ab; in Les deux Anglaises et le continent (1971) ist es anlässlich des Abschieds zweier Liebender, die mit ihren Booten in entgegengesetzte Richtung wegrudern, ein schräg ins Wasser ragender Ast, der die Barriere versinnbildlicht, die von nun an in ihrer Beziehung aufgebaut ist; in Truffauts letztem Film, Vivement dimanche! (1983), geht Fanny Ardant eine Zeit lang neben einem ‚dragueur‘ her, allerdings deutlich von ihm durch eine metallene Absperrung getrennt; als sie dann abbiegt und das bedauernde „dommage! “ des Mannes mit der ironischen Bemerkung „Eh, c’est la vie! “ kommentiert, bringt sie die tiefere Wahrheit der Mann-Frau- Beziehung in der Logik der Truffaut’schen Erzählwelt von 21 Spielfilmen auf den Punkt. Damit zum Zweiten auch in wahrnehmungspsychologischer Hinsicht dieses Erleben einer Realität, die aus sich selbst heraus spricht, bewerkstelligt wird, muss eine möglichst homogene, störungsfreie Darbietung die Illusion authentischer Wirklichkeitserfahrung vermitteln. Ein auf die Wirkung der Mise en scène setzender Filmemacher wird deshalb auf allzu häufige Schnitte und abrupte Positionswechsel der Kamera, die ja dem menschlichen Apperzeptionsmechanismen zuwiderlaufen würden, verzichten. Als ‚realistische‘ Alternativen zur ‚unnatürlichen‘ Montage bieten sich die Anwendung der Plansequenz (planséquence) an, also die Belichtung einer längeren Sequenz in einer Einstellung, oft unter Einsatz komplexer Kamerabewegungen, 52 oder die Leistungsfähigkeit der Tiefenschärfe (profondeur de champ), das von der Fotografie her bekannte Verfahren, durch den Einsatz der Beleuchtung, des Objektivs und des Belichtungsmaterials die verschiedenen Bildebenen in gleicher Schärfe zu reproduzieren. 53 Diametral entgegengesetzt zum Realismus, wie er durch die Akzentuierung der Mise en scène bewerkstelligt wird, ist eine filmästhetische Grundsatzhaltung angesiedelt, die im belichteten Filmmaterial erst den Rohstoff für die künstlerisch-kreative Leistung des Regisseurs sieht, der dank der ästhetischen Autonomie seiner Wahrnehmungsweisen in die Lage versetzt wird, ebensolche eigenge- 52 So etwa in Godards A bout de souffle, als Belmondo in einer Plansequenz von 3: 30 min die Räumlichkeiten eines Reisebüros betritt, um von einem Komplizen einen Scheck zu erhalten, dabei verschiedene Gänge und Hallen durchschreitet, mit mehreren Personen redet und dabei aus verschiedenen Perspektiven von der Kamera betrachtet wird und schließlich beim Hinausgehen noch beinahe der ihn verfolgenden Polizei über den Weg läuft. 53 Vgl. vor allem in Jean Renoirs epochalem Spielfilm La règle du jeu (1939) die Inszenierung des Festes auf Schloss La Colinière. In verschiedenen Einstellungen, auch in Kombination mit Plansequenzen, entlarvt Renoir die moralische Dekadenz der einzelnen Akteure, wenn sie sich während ihres heimlichen Fremdgehens dank der Tiefenschärfe dem entlarvenden Blick der Kamera nicht entziehen können. 136 setzlichen Wirklichkeiten zu erschaffen. Einer solchen Vorstellung von Filmkunst steht die Montage als zentrales Gestaltungsprinzip zur Verfügung. Dass der Montage über ihre handwerklich-narrative Verwendung, durch Aneinanderkleben von belichtetem Filmmaterial komplexe Geschichten zu erzählen, hinaus eine semantische Funktion innewohnt, haben als erste die Vertreter des sowjetischen Revolutionskinos in den zwanziger Jahren erkannt. Ausgangspunkt ist das Experiment des Regisseurs Lev Kuleschov, der identische (! ) Gesichtsaufnahmen des berühmten russischen Schauspielers Mosjukin mit Aufnahmen von einem Teller Suppe, einer im Sarg liegenden Frau und einem kleinen Mädchen zusammenschnitt und einem Testpublikum vorlegte; die Zuschauer äußerten sich tief beeindruckt von Mosjukins differenzierter Fähigkeit, so unterschiedliche Emotionen wie Hunger, Trauer und Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Bedeutung resultiert im Medium der aneinander gereihten Bilder also aus dem jeweiligen Kontext. Aufgabe des Filmkünstlers muss es demnach sein, solche Kontextualisierungen durch die kreative Verwendung der Montage hervorzubringen, statt sie der bloßen Bildmächtigkeit vorgegebener Wirklichkeitseindrücke zu überlassen. 54 An Versuchen zur Kategorisierung und Funktionsbestimmung der einzelnen Strategien der semantischen Montage hat es in der Folge nicht gefehlt. Vsevold Pudovkin, ein weiterer Praktiker des frühen sowjetischen Kinos, unterscheidet Kontrast, Parallelität, Symbolismus, Gleichzeitigkeit und Leitmotiv als Einsatzbereiche der Montage. Der berühmteste Vertreter dieser Bewegung, Sergej M. Eisenstein, wandte nicht nur das Konzept der Montage auf die Einstellung selbst an, in der sich die einzelnen Bildelemente zur Kreation neuer Bedeutungen dialektisch aufeinander beziehen sollen, sondern wollte dank der sog. ‚Montage der Attraktionen‘ dieselbe dialektische Wirkung durch die ‚freie‘ Kombination ausgewählter Bildwahrnehmungen, die in ihrer Beziehung realistischerweise nichts mehr miteinander zu tun haben müssen, erzielen. Vincent Amiel hingegen rekurriert auf die eingeführte Begrifflichkeit der Rhetorik, um die Wirkungsweisen der Montage zu kennzeichnen, und nennt Metapher, Synekdoche (pars pro toto), Gradation, Repetition, Antithese, Ellipse, Anakoluth (falscher Anschluss) als hauptsächliche Verfahren der Montage (Amiel 1997, 54-57). Sucht man nach Anwendungsbeispielen für die semantische Montage, so bietet sich als Fundus das sowjetische Pionierkino der zwanziger Jahre an, da hier 54 Ein belustigendes Veranschaulichungsbeispiel für diesen Mechanismus der Bedeutungsgebung durch Kontextualisierung findet sich in F. Truffauts Kriminalfilm Tirez sur le pianiste (1961): Zwei Gangster haben einen Jungen entführt und müssen den Halbwüchsigen im Auto bei Laune halten; dazu geben sie mit ihren angeblichen dernier cri- Utensilien (vollklimatisierte Schuhe, ein sich automatisch nachfüllendes Schreibgerät, ein Schal aus einer japanischen Metalllegierung) an. Der ungläubigen Reaktion des Jungen begegnet einer der Gangster mit der Beteuerung, seine Mutter solle auf der Stelle tot umfallen, wenn er lüge - Schnitt - man sieht eine alte Frau, die buchstäblich aus den Pantoffeln kippt. 137 in klassenkämpferischer Absicht eine bedeutungsgebende und darüber hinaus persuasive Wirkung im Sinne der Emotionalisierung und Agitation des Kinopublikums erzielt werden soll (man denke vor allem an Eisensteins berühmtestes Werk, Panzerkreuzer Potemkin (1925) mit der Treppenszene von Odessa). Im französischen Filmschaffen hat sich Alain Resnais als Meister der Montagekunst hervorgetan. In seinem Werk Mon oncle d’Amérique (1978) montiert er in die Geschichte des Werdegangs und der Begegnungen dreier Menschen (einer Schauspielerin und Modedesignerin, eines Medienjournalisten und Politikers, eines beruflich scheiternden Managers) dokumentarische Passagen, in denen der real existierende Evolutions- und Verhaltensbiologe Henri Laborit (1914-1995) höchstpersönlich zentrale Erkenntnisse seiner Forschungen darlegt; auf einer weiteren Montageebene verdeutlichen Ansichten von Laborratten in Experimentalsituationen diese Ausführungen. Die z.T. kuriose Verschränkung aller drei Ebenen durch den Einsatz der Schnitttechnik führt dazu, dass das Verhalten der Personen auf der fiktionalen Ebene zunächst als Ansammlung von Demonstrationsbeispielen für Laborits Theorie fungiert - bis der Schluss aufgrund bestimmter, nicht vorhersagbarer Reaktionsweisen der Beteiligten verdeutlicht, dass der verhaltensbiologische Determinismus doch seine Grenzen hat; dank dieser Demonstration kann der Film deshalb in seinen Schlussbildern vorsichtig die Bedeutung menschlicher Entscheidungsfreiheit auf der Grundlage eines moralischen Bewusstseins sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben anmahnen. Abschließend soll betont werden, dass die beiden filmästhetischen Grundsatzpositionen, die den Konzepten von Mise en scène und Montage zugeordnet wurden, natürlich nicht in einer Polarität mit Ausschließlichkeitscharakter einander gegenüberstehen. Vielmehr gibt die Praxis des Filmschaffens zwischen den beiden Extrempositionen auf der Skala der möglichen Gewichtungen von ‚realistischen‘ und ‚kreativen‘ Anteilen bei der Ausgestaltung filmischer Wirklichkeit ein äußerst nuanciertes Erscheinungsbild der Aktualisierungsweisen zu erkennen. 3.4 Der französische Kinomarkt gestern und heute: Zahlen, Fakten und Tendenzen Die Situation des französischen Kinos am Beginn des 21. Jahrhunderts ist nur vor dem Hintergrund der fundamentalen Evolutions- und Umwälzungsprozesse zu verstehen, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten seit dem Neuanfang von 1945 abgespielt haben. Aus diesem Grunde sind der Analyse des Jetzt- Zustands zwei historische Betrachtungsabschnitte zur Entwicklung der Kinokultur in Frankreich unter kommerziell-pragmatischen Aspekten vorgeschaltet. 138 Von der Libération bis zum Ende der fünfziger Jahre erlebt der französische Kinomarkt, den wir im geschichtlichen Teil nicht umsonst der ‚tradition de la qualité‘ zugeordnet haben, noch einmal eine ausgesprochene Phase der Hochkonjunktur, bevor das Fernsehen in einem auch für den Lichtspielbetrieb existenzbedrohenden Ausmaß die Marktanteile innerhalb der gesamten Medienlandschaft an sich reißt. So überschreitet die jährliche Produktion von Spielfilmen bereits ab 1949 wieder dauerhaft die 100er-Marke und erreicht 1957 mit 142 neuen Erzeugnissen sogar einen Rekordwert, der erst im Jahr 1993 übertroffen wird. 55 Vor allem die Zuschauerentwicklung im Zeitraum 1945-1960 veranschaulicht sehr deutlich, dass wir mit Fug und Recht von einer blühenden Kinolandschaft sprechen können. Nach dem zwar handwerklich hervorragend gemachten, jedoch in inhaltlicher Hinsicht zensurbedingt unbefriedigenden Spielfilmangebot der ‚années noires‘ ist der ‚Hunger‘ der Bevölkerung, der es auch ökonomisch zunehmend besser geht, nach ansprechenden Leinwanderlebnissen so groß, dass bereits 1947 mit 424 Millionen Kinobesuchen (entrées) ein seitdem nicht mehr erreichter Höchstwert erzielt wird. Auch wenn dann die Frequentierung der Kinosäle über 371 Millionen (1950) bis 1960 auf 355 Millionen zurückgeht (mit einer nochmaligen Spitze von 412 Millionen im Jahr 1957), so handelt es sich nach wie vor um eine Größenordnung, von der die heutigen Kinobetreiber nur träumen können, bewegen sich die entrées in Frankreich, um auf die Jetztzeit vorzugreifen, gegenwärtig auf einem exakt halb so hohen Level. Der Zuwachs an Kinosälen stellt ebenfalls die Popularität des Mediums unter Beweis: Ausgehend von den 4.100 funktionstüchtig gebliebenen Lichtspieltheatern des Jahres 1945 vergrößert sich das Projektionsangebot während der fünfziger Jahre kontinuierlich auf 5.800 Säle im Jahr 1960. Und auch die nationale Filmindustrie erholt sich rasch von dem Vertrauensverlust, den ihr die Kollaborationsjahre eingebracht hatten: Betrug 1948 der Anteil der französischen Produktionen nur 32% gegenüber 51% an US-amerikanischen Importen, bezogen auf die Einnahmen aus der Spielfilmvermarktung, so verkehrt sich dieses Verhältnis bis 1960 zu einer Relation von 53%: 28% zugunsten des heimischen Angebots. 56 55 Zurück bleibt allerdings der Mittelwert von 115 Spielfilmprodukten für das Jahrzehnt 1950-59 hinter dem entsprechenden Wert für die dreißiger Jahre (123 Filme), während derer auch zweimal die 150er-Marke übertroffen wird (1932 und 1933) (Angaben nach Beylie 2000, 257). In der Folge beziehen sich alle statistische Angaben, sofern nicht anders vermerkt, auf die umfänglichen Veröffentlichungen des Centre National de la Cinématographie, die für die neuere Zeit unter www.cnc.fr abrufbar sind, insbesondere CNC (2004). 56 Angaben des CNC, nach Sadoul (1962, 140-145). 139 Grafik 1: Zuschauerentwicklung 1960-2003 0 50 100 150 200 250 300 350 400 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 [ in Mio.] Zeitgleich zur Initialwirkung, die der Durchbruch der Nouvelle Vague für eine ästhetische Erneuerung des Filmschaffens am Ende der fünfziger Jahre bewirkt, nimmt in kommerzieller Hinsicht fatalerweise eine gegenläufige Entwicklung ihren Anfang, die nichts weniger als den Niedergang des Kinos als marktbestimmender Praxis der audiovisuellen Massenkommunikation bedeutet: Wie Grafik 1 veranschaulicht, büßt das französische Kino zwischen 1960 und 1992 mit einem Minus von 239 Millionen Besuchern fast auf den Prozentpunkt genau zwei Drittel seines Publikums ein! Bei genauerer Betrachtung ist zu erkennen, dass sich der Rückgang in zwei Schüben vollzieht: Allein in dem Jahrzehnt 1960-69 halbiert sich nahezu die Frequenz des Kinobesuchs. Nachdem sich dann in den siebziger Jahren die entrées um die Marke von 180 Millionen eingependelt und am Beginn der Achtziger sogar wieder die Schwelle von 200 Millionen erreicht und überschritten haben, tritt ab 1985 eine zweite ausgeprägte Abwärtsbewegung ein, die erst mit dem historischen Tiefstand von 116 Millionen Kinobesuchern im Jahr 1992 ihr Ende findet. Die ab 1993 zunächst zögernde, dann nachhaltige Trendwende in den Bereich von deutlich über 150 Millionen Zuschauern leitet anschließend in die Gegenwartssituation über. In den Rahmen des Rückgangs während der zweiten Phase (1985-92) fällt ein Sachverhalt, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Generell ist die Regression nämlich dem sukzessiven Bedeutungsverlust der französischen Produktionen zuzuschreiben (1982: 107,8 Mio. entrées; 1994: 35,3 Mio.), wohingegen der amerikanische Film, von wenigen Jahrgängen abgesehen, seine Kundschaft in Frankreich hat halten und vergrößern können (1982: 60,7 Mio.; 1994: 75,8 Mio.). Diesbezüglich stellt 1986 ein wichtiges Schwellenjahr dar: Zum letzten 140 Mal kann das nationale Filmschaffen noch einen knapp höheren Anteil an Kinobesuchern (43,7 %) als die US-Importe (43,3 %) verbuchen; ab 1987 ist Hollywood mit einem Anteil von über 50 % der gelösten Eintrittskarten endgültig Marktführer in Frankreich (es hat die Verteidiger des französischen Spielfilms als wichtigem Bestandteil des patrimoine wenig getröstet, dass sich Frankreich im europäischen Vergleich am spätesten der Übermacht der amerikanischen Massenproduktion beugen musste). Der Ruf nach der ‚exception culturelle‘ für die kinematographischen Handelswaren von französischer Seite ist angesichts der zeitlichen Koinzidenz mit dieser Entwicklung auf dem nationalen Kinomarkt sicherlich alles andere als ein Zufall. Bevor nach den Gründen für den Absturz der Kinofrequentierung gefragt wird, soll festgehalten werden, dass die Kinopraxis in Frankreich im Vergleich mit der Entwicklung in anderen wichtigen Industrienationen der westlichen Welt noch glimpflich davongekommen ist, wie die folgende Übersicht für den Zeitraum 1955-1985 beweist (Angaben in Millionen entrées) (Thiollière/ Ralite 2003, 13): 1955 1985 Rückgang Frankreich 395 175 - 56 % USA 2.382 1.056 - 56 % Spanien 400 101 - 75 % Italien 800 123 - 85 % Japan 1.100 155 - 86 % Bundesrepublik Deutschland 770 104 - 87 % Großbritannien 1.200 71 - 94 % Die Ursache für den Niedergang des Kinobesuchs ist in Frankreich nicht anders als in den anderen aufgeführten Nationen eindeutig der übermächtigen Konkurrenz des anderen audiovisuellen Mediums - des Fernsehens - zuzuschreiben. Genau in dem Maße und zu dem Zeitpunkt, wie bzw. als die TV-Geräte ihren unaufhaltsamen Siegeszug in die Haushalte auch der ‚Kleinen Leute‘ antreten, schrumpft der Kinomarkt in der skizzierten Weise. 57 Deshalb fällt die erste Phase des Rückgangs an Zuschauern der großen Leinwand (1960-69), die mit der Komplettversorgung der Haushalte mit zunehmend preisgünstigeren Fernsehern identisch ist, so drastisch aus. Besonders fatal für die Bilanzen der Lichtspielhäuser wirkt sich dabei der Umstand aus, dass nicht nur die generelle Programmvielfalt, die das Fernsehen bietet, sondern seine besondere Konkurrenz als ‚Heimkino‘ im engeren Wortsinn dem Kinobesuch schadet: Beträgt aufgrund des begreiflichen Widerstands der Kinoindustrie die Anzahl der im Fernsehen ausgestrahlten Filme im Jahr 1957 um 100 Werke, so schnellt der Wert 1977 auf eine Jahresdiffusion von 526 und 1992 auf 1336 an (Thiollière/ Ralite 2003, 17). 57 Vgl. dazu auch den empirisch-exakten Nachweis von Bonnell (1978, 90). 141 Auch für den erneut sich verstärkenden Rückgang des Kinobesuchs ab der Mitte der achtziger Jahre zeichnet in erster Linie das Fernsehen verantwortlich. Zum einen ist es die Einführung des dualen Systems und der Satellitentechnik, die nach und nach immer mehr Privatsender mit einer Fülle publikumswirksamer Spielfilme in die Reichweite der häuslichen Zuschauer gelangen lassen, zum anderen die Marktfähigkeit des Videorekorders, der mit selbst getätigten Aufnahmen, aber auch mit Kaufkassetten die Projektion in den Kinosälen beeinträchtigt. 58 Bei aller Eindeutigkeit der Schuldzuweisung für den Bedeutungsverlust des Kinos an das Fernsehen darf, zumindest was den Zeitraum ab 1985 anbelangt, nicht noch ein weiterer Faktor übersehen werden - die Umstrukturierung des ‚Parks‘ (so der französische Fachterminus) an Lichtspieltheatern. Allzu undifferenziert ist sehr häufig der Niedergang des Kinobesuchs mit dem Begriff des ‚Kinosterbens‘ belegt worden. Die folgende Übersicht zur Entwicklung der Lichtspielsäle und -sitzplätze gibt der Etikettierung nur bedingt Recht: Säle Sitzplätze Plätze/ Saal 1960 5.821 2, 80 Mio. 481 1965 5.230 1970 4.570 2,12 Mio. 464 1975 4.230 1980 4.500 1,41 Mio. 313 1985 5.153 1,28 Mio. 248 1990 4.518 1,01 Mio. 223 1993 4.397 0,96 Mio. 218 1995 4.614 0,99 Mio. 215 Die Aufstellung macht deutlich, dass sich der Rückgang an Sälen nicht nur in Grenzen hält (1960-95: - 21 %) 59 , sondern vom Ende der siebziger bis zur Mitte der achtziger Jahre sogar von einem Wiederanstieg unterbrochen war. Kontinuierlich verläuft hingegen die Abnahme des Sitzplatzangebots (1960-95: - 66 %). Ursache für diese Gegebenheiten ist die Umwandlung des Angebots an Lichtspieltheatern weg von den großen Kinopalästen mit einem überdimensionierten Projektionssaal hin zu sog. ‚complexes multisalles‘, die mit kleineren Sälen ein breiteres Programmspektrum bedienen können. Einher geht diese Entwicklung 58 Vgl. zum kommerziellen Bedeutungsverlust des Kinos auch den folgenden Zahlenvergleich: Entfielen 1960 noch 66,5 % aller Ausgaben der französischen Haushalte für den audiovisuellen Konsum auf den Kinobesuch, so beträgt dieser Anteil 1990 gerade noch 19,3 %, wohingegen jetzt der TV-Anteil 66,8 % beträgt (nach Thiollière/ Ralite 2003, 18). Neuere Angaben zum Videomarkt gibt Weber 2001, 128). 59 Im gleichen Zeitraum vollzieht sich in der Bundesrepublik das Kinosterben in wesentlich drastischerer Art und Weise: Ein Rückgang von 6.950 auf 3.222 Säle bedeutet einen Verlust von 54 % (nach Frodon 1995, 138). 142 mit der deutlichen Konzentration des Vorführbetriebs in den Zentren und Unterhaltungsmeilen der größeren Städte und Ballungsräume, so dass, um ein Wortspiel zu gebrauchen, die ‚quartiers de salles‘ die traditionsbehafteten ‚salles de quartier‘ abgelöst haben. 60 Wenn die dergestalt betriebene Umwandlung und Konzentration des Lichtspielbetriebs nicht zu Umsatzeinbußen führen soll, kann sie sich aber nur mit einer deutlichen Erhöhung der Eintrittspreise für den Kinobesuch rechnen, und in der Tat haben sich die Kinopreise zwischen 1960 und 1990 um 17 vervielfacht, während der allgemeine Konsumgüterindex nur um einen Multiplikator von 7 nach oben geklettert ist. So leistet gerade angesichts der Konkurrenz mit der sonstigen Angebotsvielfalt der ‚Freizeitindustrie‘ die Verteuerung des Zutritts zur großen Leinwand ihren Beitrag zum Niedergang des Kinobesuchs. Das Erscheinungsbild des französischen Gegenwartskinos unter markttechnischen Prämissen soll im Folgenden nach den Aspekten Produktion, Diffusion/ Distribution und Rezeption ausdifferenziert werden. Herangezogen wird hierfür insbesondere das Datenmaterial für die Jahre 2000-2002 und, soweit bereits verfügbar, auch für 2003. Grafik 2 in diesem Kapitel verdeutlicht, dass die französische Filmproduktion seit 1996 im Aufschwung begriffen ist und gerade ab 2001 mit Jahreserträgen von deutlich über 150 Werken wieder eine Größenordnung erreicht hat, wie sie 60 Vgl. Thiollière/ Ralite (2003, 22). 1982 beherbergen die französischen Städte ab 50.000 Einwohner 42,5 % der Säle und verzeichnen 65,7 % der Kinobesuche (1968: 20,9 % der Säle; 52 % der entrées) (ebd., 22). Grafik 2: Spielfilmproduktion 1960-2003 0 50 100 150 200 250 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 143 seit der Mitte der Siebziger nicht mehr üblich war (von den beiden Rekordjahren 1977 und 1981, als sogar die 200er Marke überschritten wurde, einmal abgesehen). Es ist zu beachten, dass die vorgelegten Werte die Jahresproduktion an sog. ‚films d’initiative française‘ beziffern, worunter sowohl die hundertprozentig französischen Filme als auch Werke mit französischer Mehrheitsbeteiligung verstanden werden. Erzeugnisse mit einer französischen Minderheitsbeteiligung werden hier wie in den folgenden Betrachtungen nicht unter die französische Produktion gerechnet. Das Verhältnis von rein französischen Filmen zu Koproduktionen mit französischen Mehrheitsbeteiligungen hat sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts zugunsten der letztgenannten Kategorie verschoben: Belief sich der Anteil der hundertprozentig nationalen Titel in den neunziger Jahren eindeutig auf über 70 %, so nahm dieser Wert zum Ende des Betrachtungszeitraums zugunsten der Koproduktionen stetig ab: 2001: 73 %; 2002: 65 %; 2003: 57 %). Die wichtigsten Länder, mit denen französische Produktionsgesellschaften als Mehrheitsbeteiligte zusammenarbeiten, sind Belgien (2003: 24 Filme), Großbritannien (2003: 23 Filme) und Italien (2003: 10 Filme). 61 In welchen Größenordnungen und in welcher Zusammensetzung hat man sich die Herstellungskosten für den französischen Film der Gegenwart vorzustellen? Im Jahr 2003 betrugen die Gesamtaufwendungen für die 183 produzierten Werke 847,04 Millionen € (im Folgenden M€ abgekürzt). 62 Diese Summe ergibt ein durchschnittliches Budget von 4,63 M€, womit unsere Eingangsbemerkung anlässlich der Erfindung der Gebrüder Lumière von der hochgradigen Kommerzialität der Filmkunst 63 eindrucksvoll bestätigt wird. Allerdings bleiben knapp zwei Drittel aller Filme unter einem Aufwand von 4 M€, während umgekehrt für 18 Filme ein Produktionsaufwand von je über 10 M€ getrieben worden ist. 64 Das allgemeine Finanzierungsprofil der Jahresproduktion von 2003 kann als repräsentativ für die Gegebenheiten der letzten Jahre gelten. Die Verteilung sieht in absoluten Zahlen und Prozenten wie folgt aus (die französischen Fachbegriffe der einschlägigen Übersicht des CNC sind beibehalten worden): 61 Die Bundesrepublik Deutschland war 2003 an 7 Produktionen mit französischem Mehrheitsanteil beteiligt, so 2001 auch an Le fabuleux destin d’Amélie Poulain, ein Film, der als französisch-deutsche Koproduktion in die Kinos kam. 62 Die Werte für die letzten Jahre: 2000: 678,29 M€; 2001: 749,12 M€; 2002: 724,17 M€. 63 Vgl. Anm. 15 im filmgeschichtlichen Abriss. 64 Die beiden teuersten Produktionen des Jahres 2003 waren Deux frères (J.-J. Annaud) mit 59,66 M€ und Un long dimanche de fiançailles (P. Jeunet) mit 45, 89 M€. Zum Vergleich zwei spektakuläre Publikumserfolge der beiden Vorjahre: Le fabuleux destin d’Amélie Poulain: 11 M€, Astérix et Obélix: mission Cléopâtre: 50 M€. 144 Apports des producteurs français 264,0 M€ 31,3 % SOFICA 37,7 M€ 4,5 % Soutien automatique investi 56,0 M€ 6,6 % Aides sélectives 29,5 M€ 3,5 % Aides régionales 7,2 M€ 1,1 % Pré-achats des chaînes de TV 223,2 M€ 26,3 % Apports en coproduction des chaînes de TV 32,1 M€ 3,8 % A valoir des distributeurs français 51,2 M€ 6,0 % A valoir des éditeurs français 17,2 M€ 2,0 % Apports étrangers 126,4 M€ 14,9 % Die nach wie vor wichtigste Institution zur Finanzierung eines Filmprojekts ist der Produzent bzw. eine Produktionsgesellschaft. Hier ist der französische Markt sehr disparat: 153 Gesellschaften sind an der Fertigstellung der 183 Filme des Jahres 2003 beteiligt, die meisten (123) mit dem Kapitaleinsatz für einen einzigen Film. Eine Gesellschaft (Gémini) ist mit fünf Werken vertreten, deren durchschnittliches Budget sich jedoch nur auf 1,6 M€ beläuft. Vier Gesellschaften sind an vier Werken aus der Jahresproduktion beteiligt, darunter die beiden größten Investoren, Fidélité mit insgesamt 28,7 M€ und Gaumont mit 43,9 €. Seit die Fernsehanstalten mit Wirkung vom 1. Januar 1991 von Staats wegen verpflichtet sind, sich mit einem bestimmten Anteil ihres Umsatzes an der Produktion von Spielfilmen zu beteiligen, kommt dem Fernsehen und den Satellitenprogramm-Anbietern als Geschäftspartnern der Filmemacher eine herausragende Bedeutung zu, wobei die Investitionsleistungen in den Vorankauf von Ausstrahlungsrechten (pré-achats) und Koproduktionsbeteiligungen zu unterscheiden sind: Investitionen für pré-achats Investionen als Koproduzent Anzahl der Filme Canal Plus 123,43 M€ - 65 99 Ciné Cinéma 6,43 M€ - 36 TPS Cinéma 21,92 M€ - 16 Unverschlüsselte Sender 75,59 M€ 66 34,19 M€ 90 davon: TF1 31,34 M€ 8,95 20 France 2 19,91 M€ 10,85 30 France 3 11,35 M€ 8,84 24 M6 10,53 M€ 2,37 7 Arte 2,45 M€ 3,19 13 65 Canal Plus verfügt über eine eigene Produktionsgesellschaft, StudioCanal France. 66 Dieser Betrag wie auch die Koproduktionsleistung in der nächsten Spalte beinhaltet sämtliche Beteiligungen, auch an Produktionen mit minoritäter französischer Beteiligung. 145 Mit einem Volumen von 123,43 M€, das sind nicht weniger als ein Siebtel des Gesamtaufkommens für die französische Jahresproduktion, und einer Beteiligung an über der Hälfte dieser Produktion ist der Pay TV-Sender Canal Plus der wichtigste Geschäftspartner für die Filmemacher. Als Privatsender, der von Anfang an die Ausstrahlung von Kinofilmen als sein zentrales Programmangebot vermarktet hat, ist Canal Plus von Gesetz wegen verpflichtet, 20 % seines Umsatzes in den Vorab-Erwerb von Erstausstrahlungsrechten von Kinofilmen zu reinvestieren, 67 und besitzt darüber hinaus für die direkte Beteiligung an der Herstellung über eine eigene (Ko-)Produktionsgesellschaft, StudioCanal France. Der verschlüsselte Kino-Kanal Ciné Cinéma und der Satellitenprogramm- Anbieter TPS kommen ihrer gesetzlichen Verpflichtung zum Vorankauf von Ausstrahlungsrechten in Abhängigkeit von ihrer Abonnentenzahl nach, wobei sich TPS auf die Beteiligung an aufwändigen Produktionen mit Budgets von über 5 M€ spezialisiert hat. Auch von den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und den unverschlüsselt ausstrahlenden Sendern verlangt der Gesetzgeber gewissermaßen zur Kompensation der Beeinträchtigungen, die das ‚Heimkino‘ der großen Leinwand zufügt, in die Förderung der Filmproduktion 3,2 % ihres Umsatzes entweder durch den Ankauf von Film-Ausstrahlungsrechten 68 (2,5 % müssen der Diffusion von œuvres d’expression originale française gewidmet sein) oder in Form von Produktionsbeteiligungen zu investieren. Für die Koproduktionspraxis der unverschlüsselten Kanäle hat sich eingebürgert, dass sie nur in Verbindung mit den jeweiligen pré-achats ausgeübt wird. Die seit 1985 existierenden SOFICA (Sociétés de financement de l’industrie cinématographique et de l’audiovisuel) sind Investmentgesellschaften, an deren Beteiligung die Einzahler durch die Abzugsfähigkeit der Beträge von ihrer Einkommensteuer profitieren und die an der zukünftigen Verwertung der geförderten Filmproduktionen beteiligt sind. 69 Die SOFICA setzen sich in einem nicht unbeträchtlichen Umfang für die Förderung von Erstlingswerken ein. Mit den Sparten ‚soutien automatique‘ und ‚aides sélectives‘ tritt das Centre National de la Cinématographie (CNC) als ausführendes Organ der staatlichen Filmförderung auf den Plan. Im Rahmen der ‚automatischen Unterstützung‘ kassiert das CNC die sog. TSA (taxe spéciale additionelle), eine Sonderabgabe 67 Freiwillig garantiert Canal Plus einen Mindestbetrag von 2,45 € pro Monat und Abonnent für den Ankauf von französischsprachigen Originalpublikationen. 68 Die gesetzliche Festlegung genauer Fristen für den frühestmöglichen Zeitpunkt der Fernsehausstrahlung (unverschlüsselte Sender: 2 Jahre nach der Projektionsfreigabe; Canal Plus: 1 Jahr) wurde mittlerweile flexibilisiert und der Zuständigkeit von Einzelvereinbarungen zwischen Produzenten und beteiligten Fernsehkanälen überstellt. 69 Die fünf wichtigsten sind: Banque Populaire Images, Cofimage, Sogécinéma, Valor, Studio Images. 146 auf den Eintrittspreis 70 (derzeit 0,73 € pro Ticket), und verteilt sie zum Zwecke der Neuinvestition nach einem ausgeklügelten Schlüssel an diejenigen Produzenten weiter, die bereits zuvor an der Finanzierung eines Films beteiligt waren, der für die Höhe der Zuwendung als ‚Referenzfilm‘ fungiert (Weber 2001, 137). Der Posten ‚aides sélectives‘ umfasst im Wesentlichen das System von Vorschusszahlungen, die die Filmemacher nach der Entscheidung zweier Auswahlkommissionen vor oder nach den Dreharbeiten erhalten und dann aus den Einnahmen anlässlich der Vermarktung erfolgsabhängig zurückzuzahlen haben. Diese legendäre ‚avance sur recettes‘, zu Zeiten der Nouvelle Vague noch eine der wichtigsten Errungenschaften als Starthilfe gerade für die Debütanten des Métiers, macht im globalen Finanzierungsmix der heutigen Filmproduktionen gerade noch etwas mehr als 3 % aus, innerhalb des Budgets derjenigen Filme, die auf die avance sur recettes zurückgreifen (2003 immerhin knapp ein Drittel der französischen Realisationen), schlägt sie jedoch mit einem Sechstel der aufgebrachten Mittel zu Buche. 71 Innerhalb der französischen Filmproduktion verdienen die bereits mehrfach erwähnten Erstlingswerke deshalb eine besondere Erwähnung, weil ihre Förderung und damit ihr hoher Anteil am Gesamtschaffen schon seit der Nouvelle Vague-Epoche zu den Ausnahmeleistungen der französischen Kinokultur, verglichen mit anderen europäischen Ländern, gehört hat. In der Tat machen gegenwärtig die ‚premiers films‘ mehr als ein Drittel der Jahresproduktionen aus (2001: 31 %; 2002: 41 %; 2003: 37 %); nimmt man die Zweitwerke hinzu, beläuft sich der Anteil der Werke von ‚Anfängern‘ sogar auf über die Hälfte. Mit einem durchschnittlichen Budget von 4,6 M€ sind die Drehbedingungen der betreffenden Filme offensichtlich weit von den amateurhaften Pionieransätzen eines Chabrol, Truffaut oder Godard entfernt, zumal auch nur noch weniger als die Hälfte dieser ersten Realisationen die früher so notwendige Anschubfinanzierung durch die avance sur recettes in Anspruch nehmen. Wichtigster Förderer des neuen Kinos ist mittlerweile das Fernsehen geworden: So hat Canal Plus im Jahr 2003 36 der 68 Erstfilme mit einer durchschnittlichen Summe von 833.000 € in Form von pré-achats unterstützt, Ciné Cinéma förderte 10 und die unverschlüsselten Sendeanstalten 29 Debütproduktionen. 70 An dieser Stelle sei der derzeitige Schlüssel zur Verteilung der Einnahmen aus dem Verkauf jeder einzelnen Kinokarte in Frankreich aufgeführt: Produktion/ Distribution: 42 % Kinobetrieb: 41 % TSA 11 % TVA 5 % SACEM* 1 % *Société des auteurs, compositeurs et éditeurs de musique; es handelt sich also um eine Art ‚GEMA‘-Abgabe. 71 Zwei Regionen haben in der Vergangenheit aus den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Beträge zur Förderung von Filmproduktionen aufgewendet: Die Region Ile-de- France in Form von Vorschüssen, Rhône-Alpes sogar als Koproduzentin. 147 Ein kurzer Blick auf die Gegebenheiten im Bereich der Diffusion am Beispiel von 2002 vermittelt eine Vorstellung von den heutigen Größenordnungen: Insgesamt 488 unveröffentlichte Filme kamen im Verlauf von 2002 auf die französischen Leinwände, wobei sich die Werke nach ihrer Nationalität wie folgt verteilten (Auswahl): Anzahl Anteil Frankreich 72 170 34,9 % USA 151 30,9 % Großbritannien 21 4,3 % Italien 15 3,1 % Spanien 14 2,9 % Bundesrepublik Deutschland 10 2,1 % Immerhin gibt die Aufstellung zu erkennen, dass zumindest numerisch von einer ‚Überflutung‘ des französischen Markts mit Produkten aus Amerika nicht die Rede sein kann. Dennoch besteht bei genauerem Hinsehen kein Anlass zur Entwarnung: Zieht man die Marktanteile in Gestalt des Beitrags zu den Kasseneinnahmen ins Kalkül, ergibt sich, dass die Vorführungen der neuen Filme USamerikanischer Provenienz 50,2 % der Gesamteinnahmen (1.027,87 M€ im Jahr 2002) ausmachen, während es das einheimische Angebot nur auf 34,8 % bringt. 73 Im Bereich des Vertriebs von Kinofilmen herrschen auf dem französischen Markt kartellartige Zustände: 10 Distributionsgesellschaften, darunter als wichtigste UFD, Warner Brothers, Pathé Distribution, Columbia Tristar, GBVI und Metropolitan, teilen sich über 90 % der Einnahmen. In der Entwicklung der Lichtspieltheater ist zu vermerken, dass sich der bereits für die zweite Hälfte der neunziger Jahre verzeichnete Wiederanstieg des Parks an Kinosälen und Sitzplätzen bis in die Gegenwart fortgesetzt hat: Bereits 1999 wird die 5.000er Schwelle überschritten und bis 2002 auf 5.280 ausgebaut. Parallel dazu schwingt sich die Ausstattung mit Sitzplätzen ebenfalls 1999 auf über 1 Million auf und erreicht 2002 die Anzahl von 1.076.592 Sitzen. Damit steht das französische Kino auch in dieser Hinsicht innerhalb der EU an der Spitze der Entwicklung, wie die folgende Auflistung für 2001 verdeutlicht (le- 72 Noch einmal sei betont, dass es sich bei den französischen Produktionen um hundertprozentig französische Filme oder um Koproduktionen mit französischer Mehrheitsbeteiligung handelt. Nicht in die Übersicht aufgenommen wurden 29 Filme mit französischer Minderheitsbeteiligung. 73 Tatsächlich gründet sich die Besorgnis über die Marktstellung des amerikanischen Kinos in Frankreich nicht nur auf die nationale Zurücksetzung, sondern kann tatsächlich ein qualitatives Argument ins Feld führen: Während 69 % der neu vorgeführten französischen Filme das Gütesiegel ‚Art et Essai‘ zuerteilt bekam, traf die Qualitätskennzeichnung nur auf 17 % der amerikanischen Filme zu. 148 diglich beim Sitzplatzangebot überflügeln Spaniens Kinos mit ihrem Großraumangebot deutlich die französische Ausstattung): Kinogebäude Säle Sitzplätze Frankreich 2.184 5.241 1.072.000 Bundesrepublik Deutschland 1.805 4.792 884.033 Spanien 1.254 3.747 1.307.800 Italien 2.243 3.198 k.A. Großbritannien 766 3.248 745.893 Natürlich ist diese Aufwärtsentwicklung vorrangig auf den Ausbau des ‚Parks‘ an Multiplex-Kinos zurückzuführen. Seitdem der erste französische Multiplex 1993 in der Nähe von Toulon eingeweiht wurde, hat sich die Anzahl dieser Kinopaläste 74 bis Ende 2002 auf 106 erweitert. Die Multiplexe beherbergen mittlerweile ein Viertel aller Leinwände und Sitzplätze in Frankreich und gewährleisten vor allem bereits 42,4 % der entrées und 44,6 % der Einnahmen. 75 Das Multiplex-Konzept verfolgt eine andere Vermarktungsstrategie als die ‚multisalles‘ der achtziger Jahre. In geographischer Hinsicht sind es ganz im Trend des ‚outdoor‘-Charakters im heutigen Konsumverhalten verstärkt die urbanen Peripherien und die Zentren inmitten ländlicher Gebiete, die mit Multiplexen ausgestattet werden. 76 In Verbindung mit einer deutlich verbesserten Qualität der Saal- Ausstattung und der Projektion sowie weiteren gastronomischen und sonstigen Konsumangeboten ‚vor Ort‘ soll der Kinobesuch zum umfassenden Freizeit- ‚Erlebnis‘ aufgewertet und auf diese Weise verstärkt die in den zurückliegenden Jahren verlorengegangene Kundschaft zurückerobert werden. 77 Dass diese neue Marketing-Strategie der Filmvorführungen sich offensichtlich bewährt, beweist die Entwicklung des Kinobesuchs in den letzten Jahren 74 Innerhalb der EU hat man sich darauf verständigt, als Definitionskriterium für Multiplexe die Mindestanzahl von 8 Sälen anzusetzen (vgl. Thiollière/ Ralite 2003, 37). 75 Wie rapide sich das Multiplex-Konzept durchgesetzt hat, beweist der Vergleich mit den Werten für 1998: Zu diesem Zeitpunkt beanspruchen die Multiplexe erst 12 % der Säle und Sitze und verzeichnen 22,6 % der Kinobesuche. Aber auch die sog. ‚salles d’art et essai‘ spielen durchaus eine Rolle im französischen Kinobetrieb: 2001 lockten sie ein Viertel der Kinobesucher an (vgl. Thiollière/ Ralite 2003, 40). 76 Die Metropole Paris kann als Veranschaulichungsbeispiel für diese räumliche Entwicklung des Kino-Angebots herangezogen werden: Verzeichnete die Kernstadt (Dép. 75) 1981 noch 25 % der Kinobesuche, so sank diese Zahl zugunsten der Großraum- Peripherie bis 2001 auf 16,8 % ab (vgl. ebd., 36). 77 Deshalb haben sich auch die Einnahmen aus Werbung und Genussmittelverkauf in den Kinos zwischen 1996 und 2000 mehr als verdoppelt (2000: 102 M€, das sind 16 % der Gesamteinnahmen), während der Ertrag des Kartenverkaufs nur um 20 % anstieg (vgl. ebd., 25). 149 (vgl. Grafik 1, S. 139). Auch wenn der Wert für 2003 im Verhältnis zu den Vorjahren leicht rückläufig ist, bewegen sich die entrées in der Fortsetzung und Konsolidierung des Aufwärtstrends nach dem historischen Tiefstand von 1994 mit 165-185 Millionen in einer Größenordnung, die seit 20 Jahren nicht mehr erreicht wurde. Wie auch bereits anlässlich der Behandlung der Diffusionsgegebenheiten festgestellt wurde, trübt sich freilich der positive Eindruck von der Gesamtentwicklung, wenn die Frequentation der nationalen Hervorbringungen von Kulturgütern präzisiert wird: Die bezüglich der Publikumswirkung seit 1987 bestehende Dominanz der US-amerikanischen Spielfilmimporte auf dem französischen Kinomarkt ist auch am Beginn des 21. Jahrhunderts weit davon entfernt, vom nationalen Filmschaffen gebrochen zu werden, wie die folgende Auflistung der entrées nach der nationalen Herkunft der Filme veranschaulicht (entrées in Mio. und in Klammern prozentualer Anteil; es handelt sich um eine Auswahl der Nationalitäten): 2000 2001 2002 Frankreich 78 45,02 (27,2) 74,81 (40,0) 61,57 (33,4) USA 103,09 (62,3) 87,05 (46,5) 92,00 (49,9) Großbritannien 7,81 (4,7) 10,67 (5,7) 9,10 (4,9) Deutschland 1,04 (0,6) 1,60 (0,9) 1,55 (0,8) Italien 0,68 (0,4) 0,52 (0,3) 0,45 (0,2) Weitere Angaben unterstreichen die besondere Publikumswirksamkeit der amerikanischen (Massen-)Produkte: Wurde im Jahr 2001 ein französischer Film in der ersten Woche seiner Projektion durchschnittlich in 121 Sälen gezeigt, standen seinem amerikanischen Pendant im Mittel doppelt so viele Leinwände (220) zur Verfügung. 79 39 besonders erfolgversprechende Filme des Jahres 2002 starteten in mehr als 500 französischen Kinos gleichzeitig, indes wurde nur 9 französischen Erzeugnissen - wohl aber 27 amerikanischen - diese promotion zuteil. 80 78 Wiederum konnten die Koproduktionen mit französischer Minderheitsbeteiligung in ihrem Anteil an den Kinobesuchen mangels präziser nationaler Zuordnungsangaben nicht berücksichtigt werden. Als Gruppe betrachtet, beliefen sich die sie betreffenden Eintritte im Jahr 2002 auf 3,05 Mio. (1,7 %). 79 Es spricht für die Konsumhaltung gegenüber den US-Spielfilmwaren, dass dann in der zweiten Woche ein amerikanisches Werk durchschnittlich nur noch über 207 Säle verfügte, wohingegen ein französischer Film in der zweiten Woche sogar in einem zusätzlichen Saal (122) angeboten wurde. 80 Angaben nach Thiollière/ Ralite (2003, 82). Hinzu kommt, dass sich gerade die Multiplexkinos in besonderer Weise für die Vermarktung der amerikanischen Monumentalproduktionen eignen (vgl. Weber (2001, 132)). 150 Unbeschadet dieser Zurücksetzung haben sich mehrere Initiativen, sei es aus kommerziellem oder kulturellem Antrieb, darum bemüht, das Interesse für das Kino zu wecken und seine Attraktivität zu steigern. So bieten in dieser Hinsicht seit 2000 die großen nationalen Betreiber äußerst preisgünstige Jahreskarten an (‚UGC illimité‘ (UGC) und ‚Le Pass‘ (Gaumont mit MK2 und Pathé)), wodurch die Zuschauer Filme entdecken, die sie ohne den verbilligten Zugang außer Acht gelassen hätten. Auch die Schulen haben seit einigen Jahren die Bedeutung des Spielfilms als wichtigen Bestandteil des patrimoine und damit als Bildungsgut erkannt. An über 120 lycées kann im Rahmen des bac général, section L, eine filmphilologische Spezialisierung gewählt werden; im Schuljahr 2003/ 03 kamen im Zuge der Aktion ‚Collège au cinéma‘ 450.000 SchülerInnen der Sekundarstufe I in den Genuss von gesondert für sie veranstalteten Filmvorführungen. Tatsächlich übt das Kino seine Anziehungskraft vorrangig auf die jüngere Generation aus, wie die einschlägigen Untersuchungen ermittelt haben. Die Altersgruppe der Fünfbis Fünfundzwanzigjährigen gewährleistet 39 % der entrées (ist also mit einem Anteil an der Bevölkerung von 26 % deutlich überrepräsentiert) und sieht sich durchschnittlich 8 Filme an, das sind mehr als das Doppelte des nationalen Mittelwerts; andererseits ist nicht zu verkennen, dass auch diejenigen, die die Altersgrenze von 40 Jahren überschritten haben, allmählich wieder in verstärktem Maße die große Leinwand als Freizeitangebot wahrnehmen (Thiollière/ Ralite 2003, 29). Die Spielfilmrezeption im Kino ist tendenziell eine Praxis des gebildeteren Publikums: Während drei Viertel aller Mitglieder der gehobenen und höheren Gesellschaftsschichten und Berufskategorien (CSP+) während des Jahres 2002 mindestens einmal die Eintrittskarte für einen Kinobesuch gelöst haben, gehen umgekehrt 60 % der Bevölkerungsgruppe, die nur über einen schulischen Mindest-Abschluss verfügt, nach eigener Aussage nie ins Kino. 81 Typisch für den Charakter des Kinobesuchs als gleichsam institutionalisierter Form der Freizeitgestaltung ist der Umstand, dass der überwiegende Teil der entrées (77 %) von notorischen Kinogängern (‚habitués‘) bestritten wird; die durchschnittliche Frequenz des Kinobesuchs derjenigen Französinnen und Franzosen, die tatsächlich ins Kino gehen, beläuft sich 2002 auf statistische 5,6 Eintritte im Jahr. Gegenwärtig wird häufiger darüber spekuliert, ob der Handel mit Spielfilmen in Form von DVDs (die 2002 mit einer verkauften Stückzahl von 49,2 Mio. erstmals die Videokassette überflügelten) dem regenerierten Lichtspielbetrieb nicht einen nachhaltigen Schaden zufügen wird. 82 Gegen ein solches Szenario 81 Vgl. ebd., 29f.; gemäß der Jahresstatistik des CNC für 2002 werden nicht weniger als 47 % aller Kinotickets von Zuschauern gekauft, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen. 82 Zumal auch für den Bereich der Video-/ DVD-Vermarktung, ähnlich wie bei den Fristen der Fernsehausstrahlung, die bisherige Festlegung (ein Jahr nach der Vorführfreigabe) angesichts der Flut an Ausnahmeanträgen für eine verkürzte Wartezeit zugunsten von Einzelregelungen aufgegeben wurde. 151 spricht nicht nur das nach wie vor abschreckend hohe Preisniveau auf dem französischen DVD-Markt, sondern auch eine statistische Erhebung, die gerade die Käufer von DVDs als ausgesprochen eifrige Kinoliebhaber (8,8 Kinobesuche pro Jahr) ausweist. Ob sich für die Betreiber von Home Cinema-Anlagen, deren Anschaffungskosten sich derzeit noch in geradezu astronomischen Höhen bewegen, bei zukünftig marktfähigeren Preisen dieselbe konstruktive Korrelation zwischen Kino- und Heim-Konsum von Filmen aufstellen lassen wird, muss allerdings angezweifelt werden. Abgeschlossen werden soll der Betrachtungsabschnitt zur französischen Kinorezeption mit der Wiedergabe der ‚Bestseller‘-Liste der meistgesehen französischen Spielfilme des Zeitraums 1945-2002 mit ihren Besucherzahlen: 1. Oury: La grande vadrouille (1966) 17,27 Mio. 2. Chabat: Astérix et Obélix: mission Cléopâtre (2002) 14,22 Mio. 3. Poiré: Les visiteurs (1993) 13,78 Mio. 4. Oury: Le corniaud (1965) 11,74 Mio. 5. Serreau: Trois hommes et un couffin (1985) 10,25 Mio. 6. Krawczyk: Taxi 2 (2000) 10,24 Mio. 7. Le Chanois: Les misérables (1958) 9,94 Mio. 8. Robert: La guerre des boutons (1962) 9,92 Mio. 9. Veber: Le dîner des cons (1998) 9,22 Mio. 10. Besson: Le grand bleu (1988) 9,19 Mio. Jeunet: Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (2001) 9,19 Mio. Es spricht für die Solidität der französischen Kinokultur, von deren Bedeutung wir ausgegangen waren, dass selbst innerhalb einer Beliebtheitsskala, die auch die internationalen Titel mit einbezieht, Ourys Komödie um die Flucht des Komikerpaars Bourvil und Louis de Funès aus dem von den Deutschen besetzten Teil Frankreichs lediglich von Camerons Hollywood-typischem Untergang der Titanic (20,58 Mio. Besucher) übertroffen und auf Rang 2 verwiesen wird. Ebenso erfreulich ist die Präsenz einiger Titel, die beweisen, dass auch die Mega-Budgets, Materialschlachten und Werbekampagnen, mit denen der Filmsektor heute vermarktet wird (werden muss), noch nicht die Popularität vergessen machen können, die das französische Kino in einer Zeit genossen hat, als es noch unangefochten das audiovisuelle Unterhaltungsmedium Nummer 1 war. 3.5 Bibliographie Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart, 4 2001. Amiel, Vincent: Esthétique du montage. Paris, 1997. Aumont, Jacques/ Bergala, Alain/ Marie, Michel/ Vernet, Marc: Esthétique du film. Paris, 1983. Aumont, Jacques/ Marie, Michel: L’analyse des films. Paris, 2 1988. 152 Bellour, Raymond: L’analyse du film. Paris, 1979. Betton, Gérard: Esthétique du cinéma. Paris, 3 1990. Betton, Gérard: Histoire du cinéma (Des origines à 1990). Paris, 3 1991. Beylie, Claude (Hg.): Une histoire du cinéma français. Paris, 2000. Boillat, Alain: La fiction au cinéma. Paris, 2001. 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Bereits 1995 belief sich die Gesamtzahl der in Frankreich vorhandenen Fernsehgeräte auf rund 35 Millionen, was, statistisch gesehen, einer Versorgung mit 1,5 Bildschirmen pro Haushalt entsprach (Quid 2002, 1388). 1 Die mit diesen Zahlen fasslich werdende Durchdringung der Lebenswelt durch den Fernsehempfang zieht Konsequenzen nach sich, die ihrerseits die Bedeutung des massenmedialen Phänomens noch mehr unterstreichen: Um zielgerichtet fernzusehen, bedarf es der Vorabinformationen über die auszuwählenden Sendungen, will man nicht der Wahrnehmungshaltung eines bedingungslosen zapping anheimfallen. Tatsächlich beläuft sich die Auflage der fünf größten französischen TV-Zeitschriften, die diesem Bedürfnis Rechnung tragen, 2 wöchentlich auf 10,2 Millionen Exemplare - das ist ein knapp sechsmal so großer Absatz, als ihn die fünf wichtigsten politischen hebdomadaires vorweisen können (vgl. Quid 2002, 1373; Stand: 2001). Aber das Fernsehen ist offensichtlich nicht nur zum selbstverständlichen, sondern sogar zum lebensnotwendigen Alltagsutensil geworden, bedenkt man, dass in der Bundesrepublik ein Fernsehgerät grundsätzlich nicht gepfändet werden darf, weil es als notwendiger Bestandteil einer ‚bescheidenen Lebensführung‘ anerkannt wird! Auch wenn der französische Gesetzgeber diese telephile Vorstellung vom Existenzminimum in der heutigen Zeit interessanterweise nicht teilt (Quid 2002, 805), manifestiert sich auch in Frankreich die persönliche Ab- 1 Eine Übersicht der UNESCO aus dem Jahr 1997 beziffert zudem die Pro-Kopf-Rate von Fernseh-Empfangsgeräten in Frankreich auf 595 Promille, womit die Franzosen noch vor Deutschland (567‰) oder Großbritannien (521‰), freilich hinter den USA (806‰), Kanada (710‰) und Japan (686‰) rangieren (vgl. Quid 2002, 1388). 2 Es handelt sich um Télé 7 jours, Télé Z, Télé Star, Télé Loisirs, Télé Poche. 156 hängigkeit vom Fernsehempfang, und zwar in der zeitlichen Nutzung des Bildschirmangebots. Hier hat sich eine Entwicklung vollzogen, von der sich schwerlich sagen lässt, ob sie als eindrucksvoll oder als katastrophal zu bezeichnen ist. Belief sich 1964 die durchschnittliche Einschaltdauer pro Teilnehmer auf 69 Minuten am Tag, so verdoppelt sich dieser Wert bis 1980, und 1988 wird mit der Ausweitung des Programmangebots die Drei-Stunden-Marke des täglichen Fernsehkonsums überschritten (Brochand 1996, 109). Mittlerweile, d.h. im Kalenderjahr 2003, verbringt ein Franzose/ eine Französin in seinem Tagesablauf durchschnittlich 202 Minuten vor dem Fernsehbildschirm. 3 Weitere Ausdifferenzierungen dieses Faktums nach Geschlecht, Beruf oder Altersgruppen ließen sich vornehmen (vgl. dazu die detaillierten Angaben von Médiamétrie), ein Wert jedoch sei herausgegriffen, der in besonderer Weise nachdenklich stimmt: Im heutigen Frankreich wird bereits die Gruppe der Kinder zwischen 4 und 10 Jahren in Frankreich von einem Lebensrhythmus bestimmt, der sie im Schnitt 131 Minuten täglich vor dem Bildschirm verbringen lässt. Was macht die hinter diesen nüchternen statistischen Werten aufscheinende Faszination des Mediums ‚Fernsehen‘ aus? Die Antwort liefert zum einen die zu technischer Perfektion gesteigerte Erfahrung von ungewöhnlichen, weil weitab liegenden Realitätseffekten, die schon ein wesentliches Erfolgsmoment des Lumièreschen Kinematographen darstellte. ‚Tele-Vision‘, das Hereinholen des Entfernten ins eigene Heim, ist eine Errungenschaft, die beim Zuschauer ein Ubiquitätsgefühl auslöst, das durch die Direktübertragungen von Kontinent zu Kontinent und durch die sekundenschnellen Schaltungen der häuslichen Satellitenanlagen im Vergleich zur Fernsehrezeption der fünfziger Jahre noch eine Potenzierung erfahren hat. Das Erlebnis televisionärer Omnipräsenz macht zum Zweiten aber auch deutlich, dass dank der Fernsehtechnik audiovisuelle Direktwahrnehmung abgekoppelt von körperlicher Anwesenheit funktioniert. So vermittelt das Medium dank des ausgeprägten Livecharakters der elektronisch erzeugten und übertragenen Bilder das Gefühl der unmittelbaren Teilhabe am Gezeigten und damit eine Wirklichkeitserfahrung besonders intensiver Natur (vgl. dazu auch Merten/ Schmidt/ Weischenberg 1994, 182f.). Als kognitive Konsequenz aus der Erfahrung von Ubiquität und Live- Partizipation fördert das Fernsehen neue, die reale Alltagserfahrung transzendierende Wahrnehmungsformen, die letztlich unsere Vorstellungen von Wirklichkeit im wahrsten Wortsinn ‚programmiert‘ - womit die oft bemühte These des kanadischen Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan: „Das Medium ist die Botschaft“ ihre Stichhaltigkeit nachgewiesen hätte: Die Modalitäten der Fernsehkommunikation sind keine beliebigen ‚Begleiterscheinungen‘, sondern sie prägen die Weltsicht der Rezipienten auf unwiderrufliche Art und Weise. 3 Der Wert für den bundesdeutschen Fernsehkonsum ist im selben Zeitraum mit 203 Minuten am Tag nahezu identisch (Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), www.gfk.de). 157 So wird in diesem Beitrag, analog zur Betrachtung des Mediums ‚Hörfunk‘, nach einem Abriss zur Entwicklung des Fernsehens in Frankreich beiden hier angedeuteten Erkenntnisinteressen Rechnung getragen, der Frage nach den theoretisch-grundsätzlichen Prämissen der Fernsehkommunikation und den Schwerpunkten der sie erhellenden Analyse ebenso wie der empirischen Aufarbeitung der gegenwärtigen Fernsehlandschaft Frankreichs. 4.2 Zur Geschichte des Fernsehens in Frankreich Auch wenn sich die technische Grundidee der ‚Television‘ 4 weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt - bereits 1843 geht der Schotte Alexander Blain bei seinem Patent zur elektrischen Übertragung von Bildern vom Prinzip einer zeilenmäßigen Abtastung des Objekts aus -, bedurfte es einer ganzen Reihe von Einzelerfindungen wie des mechanischen Bildzerlegers (die Nipkowscheibe 1884, ab den 20er Jahren ersetzt durch die Ikonoskop-Röhre von Zworykin) und vor allem der Braun'schen Röhre (1897 von Karl Ferdinand Braun entwickelt), bis sich die audiovisuelle Bildschirmkommunikation durchsetzen konnte. Sehr vereinfachend gesagt, besteht die neuartige Bild-Übertragungstechnik darin, bewegte Ansichten gemäß den Helligkeitswerten der einzelnen Bildpunkte zu zerlegen und zeilenweise abzutasten, in zeitlich aufeinanderfolgende Bildsignale zu verwandeln, auf eine Trägerfrequenz aufzumodulieren, zu senden und in einem Empfangsgerät zu demodulieren, d.h. dank des Elektronenstrahls der Bildröhre in die ursprüngliche räumliche Anordnung und Helligkeitswerte zurückzuverwandeln und auf einem Bildschirm erscheinen zu lassen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg ist man dank der Erfindung des Röhrenverstärkers in der Lage, Fern-Seh-Bilder von so passabler Qualität zu übertragen, dass an die Entwicklung eines neuen audiovisuellen Mediums gedacht werden kann. Als gleichsam ‚offizielle‘ Geburtsstunde des Fernsehens gilt die Bildübertragung, die der Schotte John Logie Baird am 27. Januar 1926 vor der Royal Institution in London vorführte; Baird operierte mit einer Zerlegung in 28 Zeilen, die auf einem Bildschirm von der Größe 5 x 5 cm eine eher schemenhafte Wiedergabe ermöglichte. In Frankreich erfasst nach der Kenntnisnahme von Bairds Londoner Experimenten die Compagnie des compteurs (also der Gesellschaft, die ursprünglich für die Installation und die Wartung der häuslichen Stromzähler zuständig war) die zukünftige kommerzielle Bedeutung des neuen Bildmediums und gibt dem Radiospezialisten René Barthélémy die Möglichkeiten an die Hand, eine marktfähige TV-Technologie zu entwickeln. Barthélémy, der als Vater des französischen Fernsehens angesehen werden kann, macht sich an die Arbeit und kann 4 Die Wortschöpfung geht auf den Russen Constantin Pesskyi zurück, der sie erstmals anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1900 verwendete. 158 nach mehreren internen bzw. für die Presse bestimmten Demonstrationen am 14. April 1931 in der École supérieure d'électricité im Pariser Vorort Malakoff die erste öffentliche Vorführung seiner Technologie bewerkstelligen: Sein Fernsehen arbeitet mit einem Bildschirmformat von 30 x 40 cm und 30 Zeilen. Es folgen in den kommenden Jahren regelmäßige Versuchssendungen von 30-45 Minuten, die Dank der Radiotechnik bald mit dem Ton die Wirklichkeitsübertragung vervollständigen, bevor dann in seiner berühmt gewordenen Erklärung vom April 1935 der damalige PTT-Minister Georges Mandel das Interesse des Staates an der Weiterentwicklung der Fernsehtechnik bekundet und entsprechende logistische Hilfestellungen verspricht. Tatsächlich findet schon wenige Tage nach Mandels Pressekonferenz, am 26. April 1935 um 20.15 Uhr im Studio der Rue de Grenelle die erste offizielle Fernsehsendung statt: Zwanzig Minuten lang erzählt Béatrice Bretty, Schauspielerin der Comédie Française, assistiert von René Barthélémy höchstpersönlich, von ihrer triumphalen Italientournee. Im Fortgang der Versuche wird am Eiffelturm ein gesonderter Fernsehsender installiert, der mit 25 KW die damals leistungsfähigste Ausstrahlungskapazität in Europa aufweist, und die Bildauflösung auf nunmehr 180 Zeilen weiter verbessert. Die neuen Errungenschaften werden der Presse im November 1935 in einer Sendung vorgeführt, deren Programmpunkte die erste ‚speakerine‘ des französischen Fernsehens, Suzy Vinker, moderiert. Im Anschluss an die Präsentation des neuen Mediums auf der Pariser Weltausstellung von 1937 und einem damit verbundenen weiteren Technologieschub tritt das französische Fernsehen ab 1938 endgültig aus der Laborphase heraus: Verbindliche Frequenzen für Bild- und Tonübertragung werden zugewiesen und als neuer Zeilenstandard 440-455 Zeilen festgelegt. Gleichwohl ist das Fernsehen sowohl hinsichtlich seiner Verbreitung als auch seines Programms noch weit davon entfernt, als ‚Massen‘- Kommunikationsmittel eingesetzt zu werden: Bei einer Reichweite von 60 bis maximal 100 Kilometern, ausgehend vom Eiffelturm (von wenigen lokalen Versuchen in Lyon, Lille, Toulouse und Marseille abgesehen), geht man für 1939 von 1.600 Empfangsgeräten in der Pariser Region aus. 5 Das Programm beschränkte sich auf die Wochentage Mittwoch bis Sonntag mit einer täglichen Sendedauer von 1,5 bis 2 Stunden. 6 5 Anders als beim Radio gibt es auch keine normierten Geräte, sondern es sind eine Fülle von Einzelangeboten mit divergierenden Zeilensystemen und Bildschirmdiagonalen auf dem Markt. Um eine Vorstellung zu vermitteln: Für ein ‚Emy-Radio‘ des Barthélémy- Systems mit grün-sepia fluoreszierendem Bildschirm von 9,5 cm musste der Käufer im Jahr 1935 5.900 damalige francs entrichten (Brochand 1994, I, 546). 6 Um das Beispiel eines Sonntagsprogramms vom Dezember 1937 wiederzugeben: 16 à 18: Grande séance théâtrale et musicale: La mime caricaturiste Valeska Gert, dans ses imitations burlesques; Paillasse (Léoncavallo), sél. joué et chanté par Marcelle Branca et ses partenaires (décors et costumes nouveaux); Chez l'impresario, prés. et audition d'artistes, par R. Gerly; La cantatrice Nelly Frévat; Images de France, chr. vivantes de R. Davenay (suite); Bernard Palissy, par G. Colin et sa C ie ; Le chanteur fantaisiste Gesky; Le Châlet (Adam), opéra-comique, joué et chanté par M me Phaliréa, MM. Max Mario et 159 Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird der Sendebetrieb des Fernsehens eingestellt, mehr noch, die Sendeanlage des Eiffelturms wird angesichts des deutschen Vormarschs 1940 zerstört, damit sie nicht in die Hände des Feindes fällt. Dennoch kommt es unter der deutschen Besatzung zur ‚Kooperation‘ zwischen der Compagnie des compteurs und der deutschen Gesellschaft Telefunken, die anlässlich der Olympischen Spiele von 1936 in Berlin die Fernsehtechnik in besonderer Weise vorangetrieben hatte. Im Mai 1943 nimmt Paris Télévision den Sendebetrieb auf, wobei nicht nur die technische Leitung und vor allem die Programmgestaltung in den Händen der deutschen Propagandaabteilung stand, sondern auch die Zuschauer vorrangig in den Besatzungstruppen ausfindig zu machen waren (Fernsehempfänger werden in den Lazaretten und Unterkünften der deutschen Soldaten aufgestellt) und erst in zweiter Linie eine einheimische Klientel bedient wird. Das Programm ist dementsprechend mit der Akzentuierung des Unterhaltungsangebots (Variété, Chansonniers) und des Theaters neben den obligatorischen Erfolgsmeldungen der Wochenschauen an den Bedürfnissen der Truppenbetreuung orientiert. Nur der Befehlsverweigerung des deutschen Direktors der Fernsehstation, Kurt Hinzmann, ist es zu verdanken, dass im Augenblick der Libération und des Rückzugs der deutschen Besatzer die Sendeanlage des Eiffelturms nicht zerstört wurde. Wie gering die Bedeutung des Fernsehens im Vergleich mit dem Rundfunk in der Nachkriegszeit war, lässt sich an dem Faktum ermessen, dass im Zuge der Einführung des Staatsmonopols für den Sendebetrieb von Radio und Fernsehen auf dem französischen Territorium im März 1945 zunächst die alleinige Bezeichnung RDF (Radiodiffusion française) gewählt wird (vgl. dazu auch das Kapitel II.2). Dann aber spricht es für den Aufschwung, den das Bildmedium allmählich nimmt, dass bereits 4 Jahre später mit der Ernennung eines neuen Generaldirektors im Februar 1949 der Staatssender in RTF (Radiodiffusion et télévision française) umbenannt wird. Generell gilt für das Fernsehen in der Zeit ab 1945 dasselbe, was bereits für den Hörfunk betont wurde: Der Staatsapparat hält die Medien fest unter seiner Kontrolle, so dass die Entstehung und Artikulation eines Meinungspluralismus gerade im Bereich politischer Sendeinhalte konsequent unterdrückt werden. 7 Neben das ‚Staatsradio‘ tritt für die nächsten Jahrzehnte also in derselben obrigkeitshörigen Ausprägung ein ‚Staatsfernsehen‘. Auswirkungen dieser strikten Kontrolle von oben finden sich auch im sende- Richaud, de l’Opéra-Comique, Quatuor d'accompagnement (nach Brochand 1994, I, 561). 7 So untersagt etwa im Oktober 1948 ein Rundschreiben des Informations- Staatssekretärs (François Mitterrand) allen Produzenten von Rundfunk- und Fernsehsendungen, künstlerische oder literarische Sendungen zu politischen Meinungsäußerungen zu instrumentalisieren, und verbannt auf diese Weise eine Reihe von kritischen Intellektuellen aus der Funk- und Fernsehkommunikation. 160 technischen Bereich. So legt der damalige Staatssekretär für die Information, François Mitterrand, 1948 als Zeilenstand die Norm von 819 Zeilen fest, womit sich Frankreich vom restlichen Kontinentaleuropa (625 Zeilen) und von England (405 Zeilen) abgrenzt und ein Programmaustausch technisch verhindert wird. Produktiver wirkt sich die Einbeziehung des Mediensystems in die indikative ‚planification‘ der Regierungsverantwortlichen aus: Durch den Fünf-Jahres-Plan für das Fernsehen aus dem Jahr 1955 wird gewährleistet, dass durch die Einrichtung eines Sender- und Umsetzer-Netzes endlich auf dem gesamten Territorium des Hexagons, und nicht nur in der Pariser Region, bis 1959 flächendeckend, d.h. für 95 % der Bevölkerung die technischen Voraussetzungen zum Empfang des Fernsehprogramms gegeben sind. So entfaltet unter diesen logistischen und politischen Rahmenbedingungen das Fernsehen, nachdem es ab Oktober 1945 wieder zaghaft, aber regelmäßig auf Sendung geht, allmählich eine differenzierte Programmstruktur. Noch in den vierziger Jahren werden Nachrichten (das zwanzigminütige ‚le journal télévisé‘) und Wetter (‚météo‘) ebenso feste Bestandteile des ausgestrahlten Programms wie Kriminalserien und Direktübertragungen, zu deren Höhepunkten die Mitternachtsmette aus Notre Dame, die Krönung der englischen Königin Elizabeth 1953 und natürlich die Tour de France zählen. Überhaupt wird schon in dieser ‚Vorfrühlings‘-Zeit des französischen Fernsehens 8 die mediale Bedeutung des Sports ersichtlich, wenn, um zwei Beispiele zum Fußball zu geben, im Jahr 1952 die bevorstehende Übertragung des Länderspiels Frankreich-Deutschland den Verkauf von 1.500 Fernsehgeräten und die WM 1958 in Schweden eine Absatzsteigerung von 20 % bewirken (Brochand 1994, II, 426). Allerdings gibt schon in den fünfziger Jahren der Handel mit Übertragungsrechten Anlass zu Differenzen über die Höhe der Zuwendungen zwischen Sportverbänden und Fernsehen, was zu einem vorübergehenden Boykott des Fußballs auf dem kleinen Bildschirm führte und dafür dem Catchen zu einer unerwarteten Präsenz beim häuslichen Fernsehempfang verhilft. Ebenfalls in den Fünfzigern halten dann auch die großen Samstagabend-Galashows sowie die Quiz- und Spielesendungen ihren dauerhaften Einzug ins Fernsehprogramm. Die nachstehende Jahresstatistik zu den angemeldeten Fernsehgeräten vermittelt einen plastischen Eindruck vom Aufschwung des Fernsehens in den fünfziger Jahren (Brochand 1994, II, 499 ff.) 9 : 8 Vgl. Brochand 1994, II, 403, der die 60er Jahre als ‚printemps‘ bezeichnet. 9 Die Quote der ‚Schwarz-Seher‘ wird allgemein mit ca. 6-7% angesetzt. 161 Jahr angemeldete Fernsehgeräte Zuwachs angemeldete Radiogeräte 1949 395 6.421.156 1950 3.794 + 3.497 6.889.522 1951 10.558 + 6.764 7.407.702 1952 24.209 + 13.651 7.950.361 1953 59.971 + 35.762 8.405.432 1954 125.088 + 65.117 8.853.200 1955 260.508 + 135.420 9.266.464 1956 442.433 + 181.925 9.715.588 1957 683.229 + 240.796 10.198.056 1958 988.594 + 305.365 10.645.655 1959 1.368.145 + 379.551 10.792.590 1960 1.901.946 + 533.801 10.980.880 Zwar sind die Wachstumsraten imposant, und insbesondere die ab 1955 zu verzeichnenden sechsstelligen Verkaufszuwächse an Fernsehgeräten pro Jahr deuten darauf hin, dass hier tatsächlich ein neues Massenmedium im Entstehen begriffen ist, andererseits zeigt die Gegenüberstellung mit der zum Vergleich aufgeführten Radioausstattung, dass das Fernsehen fürs Erste noch erheblich davon entfernt ist, dem Rundfunk den Rang abzulaufen. Ebenso ist eine weitere Relativierung angebracht: Wenn im Januar 1959 die Anzahl der angemeldeten Fernsehgeräte die Millionengrenze überschreitet, bedeutet dies, statistisch gesehen, dass gerade erst jeder 10. französische Haushalt über das Fernsehen verfügt. Werfen wir an dieser Stelle einen bis in die Gegenwart vorausgreifenden Blick auf die weitere Entwicklung des Fernsehens, so wird deutlich, dass sich die durchschlagende Erfolgsgeschichte des ‚petit écran‘ in den sechziger und siebziger Jahren abgespielt hat und ab der Mitte der achtziger Jahre der Fernseher definitiv zur selbstverständlichen Normalausstattung eines jeden französischen Haushalts gehört (Brochand 1994, II, 502; Brochand 1996, 99; Quid 2002, 1405): 162 Jahr angemeldete Fernsehgeräte Anteil der mit TV ausgerüsteten Haushalte 1961 2.554.800 17 % 1962 3.426.800 23 % 1964 5.414.300 36 % 1966 7.471.200 52 % 1968 9.251.600 10 62 % 1970 10.967.900 70 % 1972 12.332.200 77 % 1974 13.558.500 82 % 1976 14.693.100 86 % 1978 15.523.600 88 % 1980 16.192.300 90 % 1984 18.349.100 92 % 1994 19.903.400 95 % 2001 22.515.200 2003 20.830.000 95% Im Zusammenhang mit der bedeutsamen quantitativen Entwicklung des Fernsehens in Frankreich, die mit der Konsolidierung der V. Republik einhergeht, sind die gesetzlichen Maßnahmen zu sehen, mit denen der Staat das für den Hausgebrauch bestimmte Medium hartnäckig unter seiner Kontrolle zu halten trachtet. Immerhin wird 1959 ein über 30 Jahre währendes Provisorium beendet, indem der RTF - endlich - ein richtiges Statut eingeräumt wird. Das entsprechende Gesetz definiert das Fernsehen (wie auch den Rundfunk) als ‚établissement public de l’État à caractère industriel et commercial‘, was im Wesentlichen bedeutet, dass der RTF ein eigenes Budget zuerteilt wird. Diese Errungenschaft wird freilich durch die Tatsache relativiert, dass die Medienanstalt nach wie vor direkt dem Informationsminister unterstellt ist, statt über ein selbstständiges beschlussfassendes Gremium wie einen Verwaltungsrat zu verfügen. In der Praxis äußert sich der Zugriff der Obrigkeit auf die Programmgestaltung durch den berüchtigten ‚Verbindungsdienst‘ (service de liaison interministérielle), der unter dem Vorwand eines besseren ‚Informationsflusses‘ die ungenierte Kontrolle über die Informationssendungen ausübt, wenn nicht gar gezielte Zensurmaßnahmen einfordert. 11 10 Mit der Einführung des Farbfernsehens im Jahr 1967 verstehen sich die angegebenen Werte als Summe von angemeldeten Schwarz-Weiß- und Farbfernsehgeräten. Macht 1974 der Anteil der Farbempfänger 15 % aus, vergrößert sich dieser Wert kontinuierlich über 70 % im Jahr 1985 und 94 % in 1995 auf 98,7 % in 2001. 11 So wird 1960 das ‚Manifest der 121‘, in dem Intellektuelle und Künstler das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Algerienkrieg einfordern, totgeschwiegen, und die Unterzeichner bleiben bis auf weiteres von jeglicher Bildschirmpräsenz ausgeschlossen. 163 Nur eine bedingte Lockerung der Rahmenbedingungen eines derartigen Staatsfernsehens bringt die Schaffung der ORTF (Office de la Radiodiffusion et Télévision Française) im Juni 1964 mit sich. Nun stehen die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten von Radio und Fernsehen nicht mehr unter der ‚Autorität‘, sondern nur noch unter der ‚tutelle‘ des Informationsministeriums. Außerdem erhält die ORTF einen Verwaltungsrat, der zur einen Hälfte aus Vertretern des Staatsapparats und zur anderen Hälfte aus Zuschauer-/ Zuhörer- und Pressevertretern sowie Personen des öffentlichen Lebens besteht. Die Ernennung des Präsidenten der Anstalt, der Generaldirektoren und ihrer Stellvertreter bleibt indes der Regierung vorbehalten. Mit der Schaffung der ORTF geht im Übrigen die Neuregelung der Gebührenerhebung für Rundfunk und Fernsehen einher: Im Rahmen der jährlichen Haushaltsberatungen legt das Parlament die betreffenden Summen jeweils neu fest. Wie offensichtlich auch die ORTF bei allen Liberalisierungstendenzen auch weiterhin als ausgesprochenes Staatsorgan operiert, beweist die deplorable Rolle gerade des Fernsehens bzw. seiner Verantwortlichen während der Mai-Unruhen von 1968. Die Maßgabe des ‚service interministeriel‘, auf dem Bildschirm die Ereignisse gefälligst gar nicht stattfinden zu lassen und vor allem die politische Argumentation von Vertretern der Protestbewegung vor laufender Kamera strikt zu unterbinden (die privaten Radiosender RTL und Europe 1 sind es dann, die ihre Reporter vor Ort schicken und eine nach allen Seiten unabhängige Berichterstattung betreiben), ist so skandalös, dass die Journalisten des staatlichen Rundfunks und des Fernsehens förmlich dazu getrieben werden, sich nicht länger für eine derart flagrante Manipulation der öffentlichen Meinung instrumentalisieren zu lassen und sich der allgemeinen Streikbewegung anzuschließen - mit dem Resultat, dass nach der Beendigung der Krise und dem Wiedererstarken der Staatsmacht 57 ORTF-Journalisten entlassen und weitere 30 Beschäftigte strafversetzt werden. Auch das am Beginn der liberaleren Präsidentschaft Valéry Giscard d’Estaings verabschiedete Gesetz zur Umstrukturierung der ORTF im Jahre 1974 bringt weder eine echte Demokratisierung der Medienanstalt (die Präsidenten der neuen Einzelinstitutionen werden nach wie vor von der Regierung ernannt) noch die erhoffte Abschaffung des staatlichen Sendemonopols, sondern in erster Linie eine durchgreifende organisatorische Neuordnung des staatlichen Medienbetriebs mit sich. Die vorgenommene Aufteilung der bisherigen ORTF in 7 autonome Organismen besitzt zum überwiegenden Teil bis heute Gültigkeit. Die bestehenden Fernsehsender sowie Radio France werden in selbstverwaltete Programmgesellschaften umgewandelt, TDF (Télédiffusion de France) ist die für den Ausstrahlungsbetrieb und die Senderwartung zuständige Anstalt, SFP (Société française de production) operiert mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung als die maßgebliche Produktionsgesellschaft für Fernseh- und Rundfunksendungen, und das Institut national de l’audiovisuel (INA) hat den Auftrag, sich um die Archivierung der medialen Hervorbringungen, ihre wissenschaftliche Erforschung und 164 um die Aus- und Weiterbildung in den einschlägigen Medienberufen zu kümmern. Die Praxis der französischen Fernsehkommunikation wird in den sechziger und siebziger Jahren durch eine Reihe wichtiger Neuerungen und Erweiterungen bestimmt. 12 Im Dezember 1963 nimmt (übrigens in der europäischen Norm von 625 Zeilen) das zweite französische Fernsehprogramm Antenne 2 den offiziellen Sendebetrieb auf. Zehn Jahre später, zum Jahresende 1973, startet dann das 3. Fernsehprogramm FR 3 (France Régions 3), das die regionale Berichterstattung und die audiovisuelle Pflege des patrimoine als Schwerpunkte seines Sendeauftrags zuerteilt bekommt. Die Anstrengungen der Franzosen im Wettstreit um die Ersteinführung des Farbfernsehens auf europäischem Boden sind nicht von Erfolg gekrönt. Um zwei Monate hat die französische SECAM-Technologie (Système séquentiel couleur à mémoire) gegenüber dem deutschen PAL (Phase Alternative Line), das anlässlich der Berliner Funkausstellung im August 1967 seine feierliche Premiere erlebt, das Nachsehen. Antenne 2 wird am 1. Oktober 1967 ‚farbig‘ (FR 3 startet 1973 direkt in Farbe, während das 1. französische Programm erst ab 1976 im Zuge der Umstellung auf die 625-Zeilen-Norm in Farbe zu empfangen ist). SE- CAM erobert neben Frankreich den osteuropäischen Fernsehmarkt und Teile des frankophonen Afrika, während PAL in den meisten Ländern West- und Südeuropas sowie in Skandinavien eingeführt wird. Neu ist ab 1970 auch die nach heftigen Debatten erteilte Autorisation der Ausstrahlung kommerzieller Werbung im Fernsehen. Die zaghaft eingeführte Werbung erfährt erst Ende der achtziger Jahre deutlich liberalere Sendemöglichkeiten. „Les citoyens ont droit à une communication audiovisuelle libre et pluraliste“ - dieser Wortlaut des Artikels 1 des Mediengesetzes vom Juli 1982, nach dem Hauptinitiator auch Loi Fillioud genannt, begründet die wahrscheinlich zukunftsträchtigste Reform unter der Präsidentschaft des Sozialisten François Mitterrand, nämlich die Einrichtung des ‚dualen Systems‘, also die Aufhebung des staatlichen Monopols von Rundfunk und Fernsehen auf dem französischen Territorium. 13 Nach der Erteilung der Sendegenehmigung für das Privatfernsehen lässt die Einrichtung entsprechender Kanäle, die größtenteils auch noch die heutige Fernsehlandschaft Frankreichs mitprägen, nicht lange auf sich warten. 1984 nimmt der Pay-TV-Sender Canal Plus den Betrieb auf, 1986 beginnen die Privatsender La Cinq (ein von den Medientycoonen Hersant und Berlusconi gemeinsam finanzierter Kanal, der allerdings 1992 Konkurs anmelden muss) und M6 vom 12 Nur am Rande kann die in ihrer Bedeutung für das Wahrnehmungsverhalten gegenüber audiovisuellen Wirklichkeitsabbildungen so fundamentale Erfindung der Fernbedienung (1962) und die Einführung des Videorecorders (1976) erwähnt werden. 13 Lediglich der staatlichen Institution TDF bleibt das Diffusionsmonopol vorbehalten. 165 Luxemburger CLT-Konzern mit der Ausstrahlung ihrer Programme, 1987 wird die Privatisierung des 1. französischen Fernsehprogramms TF1 durchgeführt (hier wie im Folgenden nähere Informationen zu den Kanälen in Kap. 4.3). Das öffentlich-rechtliche Fernsehen muss sich dem Diversifizierungstrend anpassen. 1990, im Jahr der Umbenennung des zweiten und dritten Programms in France 2 und France 3 wird der deutsch-französische Kulturkanal ARTE gegründet, der 1992 den Sendebetrieb aufnimmt, 14 1994 folgt das Bildungsprogramm La Cinquième, das 2002 in France 5 aufgeht und sich mit ARTE den Sendeplatz bis 19 Uhr teilt. Bereits 1984 war darüber hinaus der für die Frankophonie und ihre weltweite Förderung konzipierte Sender TV 5 gegründet worden. Insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, ist es die Freigabe von Senderechten an private Anbieter, die auch in Frankreich die Forderung nach verstärkter Kontrolle des freien Spiels innerhalb der Medienlandschaft aufkommen lässt. So kommt den Aufgaben und Befugnissen der staatlichen Kontrollbehörde, die nach den Benennungen HACA (Haute Autorité de la communciation audiovisuelle) und CNCL (Commission nationale de la communication et des libertés) seit 1989 die Bezeichnung CSA, Conseil supérieur de l’audiovisuel, trägt, eine besondere Bedeutung zu. Vorrangige Aufgabe des CSA, dessen 9 Mitglieder zu je einem Drittel vom Staatspräsidenten, vom Präsidenten des Senats und demjenigen der Assemblée Nationale designiert werden, ist es, die Einhaltung bestimmter Sendevorgaben zu überwachen: Konkret handelt es sich um die Verwirklichung eines Programmpluralismus, die Freiheit, Unabhängigkeit und Ausgewogenheit politischer Meinungsäußerungen auf dem Bildschirm, die Respektierung der Quotenregelungen zur Berücksichtigung nationaler bzw. europäischer Produktionen und Sendeinhalte, die Befolgung der gesetzlichen Bestimmungen zu Dauer und Platzierung von Fernsehwerbung sowie zum Kinder- und Jugendschutz im audiovisuellen Bereich (insbesondere im Hinblick auf das Verbot von exzessiven Gewaltdarstellungen). Im Falle von Zuwiderhandlungen ist der CSA befugt, Verwarnungen auszusprechen, Geldbußen aufzuerlegen oder in extremis sogar den Betrieb des inkriminierten Senders zu suspendieren oder gänzlich die Lizenz zu entziehen. Außerdem ist der CSA für die Zuteilung von Sendefrequenzen an die privaten Anbieter von Rundfunk und Fernsehen zuständig. In technischer Hinsicht zeichnet sich die französische Fernsehkommunikation der letzten 15 Jahre durch zwei Entwicklungen aus. Nachdem, wie gezeigt, in den achtziger Jahren die Vollversorgung der französischen Haushalte mit mindestens einem (Farb-)Fernsehgerät verwirklicht ist, hat sich der Markt darauf verlegt, technisch immer perfektioniertere Apparaturen wie das sog. hochauflösende Fernsehen (télévision haute définition, TVHD), insbesondere mit Geräten 14 Auf französischer Seite existierte als Vorform bereits seit 1986 das Kulturprogramm La Sept. 166 im 16: 9-Kinoformat, 15 Flach- und Plasmabildschirme (grands écrans plats, écrans à plasma) anzubieten, Vorstöße, die derzeit immer noch angesichts der astronomischen Preise für derartige Geräte mit dem Durchbruch im Vertrieb auf sich warten lassen. Auf dem Sektor der Ausstrahlung sind mittlerweile neben dem herkömmlichen terrestrischen Antennenempfang (la voie hertzienne) seit den späten achtziger Jahren die Initiativen zur Implantierung eines Kabelnetzes und zur Ausstrahlung der Programme über Satellit, zunächst auf analogem Weg, ab 1996 dann verstärkt mit Hilfe der leistungsfähigeren Digitaltechnik in Form von Programmbouquets getreten. Die allerneueste Technologie, DVB-T (Digital Video Broadcasting-Terrestrial) bzw. mit dem französischen Terminus TNT (télévision numérique terrestre), ermöglicht den terrestrischen Empfang von Fernsehkanälen in digitaler Qualität; da die Markteinführung gerade begonnen hat, kann auch in Frankreich noch nicht abgeschätzt werden, in welchem Maß TNT in der Lage sein wird, als echte Alternative der Angebotspalette der Satellitenbouquets Paroli zu bieten. Immerhin wurde den TNT-Betreibern per Dekret auferlegt, die herkömmlicherweise nicht codierten Sender auch ohne Aufpreis auszustrahlen. 4.3 Zur Theorie des Fernsehens: Elemente der Fernsehanalyse Für die Behandlung der theoretischen Reflexionen, die dem Fernsehen entgegengebracht werden, gilt dieselbe Feststellung, wie sie anlässlich der Beschäftigung mit dem Spielfilm in diesem Band vorgebracht wird: Die Komplexität des audiovisuellen Mediums ‚Fernsehen‘ und die ihr entsprechende Vielzahl theorieorientierter Erkenntnisinteressen aus den unterschiedlichen Denkschulen und Wissenschaftsdisziplinen machen es unmöglich, eine auch nur halbwegs erschöpfende Synthese des Forschungsertrags zu präsentieren. 16 Im Folgenden sollen deshalb summarisch vier theoretische Ansätze der Fernsehforschung herausgegriffen werden, die auch und gerade unter den fortgeschrittenen Produktions-, Diffusions- und Rezeptionsbedingungen des Digitalzeitalters nichts von ihrer Relevanz verloren haben. Den meisten theoretischen Annäherungen an das Phänomen ‚Fernsehen‘ ist gemeinsam, dass sie, implizit oder explizit, von einem normativen Verständnis des Mediums ausgehen. Gemäß dem in den meisten Gesetzespräambeln festgeschriebenen dreifachen Sendeauftrag von Information, Unterhaltung und Bildung (die allerdings immer mehr in den Hintergrund tritt, indem sie auf entsprechend einschaltschwache Spezialkanäle wie France 5, Bayern Alpha oder allenfalls noch ARTE ausgelagert wird) versuchen die einschlägigen Theorien klar- 15 Im Jahr 2003 waren bereits 13,4% aller Fernsehhaushalte in Frankreich mit 16: 9- Geräten ausgestattet (www.mediametrie.fr). 16 Hingewiesen sei auf den Sammelband von Knut Hickethier und Irmela Schneider (1992) sowie auf Hickethier (1993). 167 zustellen, ob bzw. wie das Fernsehen diesem Auftrag, insbesondere der Pflicht zur Informationsvermittlung, grundsätzlich überhaupt nachkommen kann und in der Praxis tatsächlich nachkommt. Der Beitrag des Konstruktivismus zur Klärung dieser Fragen verzichtet gemäß seiner theoretischen Prämissen konsequentermaßen auf die Überprüfung einer Normerfüllung bezüglich der Wirklichkeitswiedergabe im Fernsehen. Ausgehend von Erkenntnissen der Humanbiologie zur Verarbeitung von Sinnesreizen in unserem Gehirn (Humberto Maturana) gelangt der Konstruktivismus, sehr vereinfachend zusammengefasst, zu der Einsicht, dass es außerhalb unseres Wahrnehmungssystems keine objektive vorfindliche Wirklichkeit gibt, die in Kommunikationsvorgängen gleichsam dokumentarisch abgebildet werden könnte. 17 Vielmehr schafft sich das Individuum gemäß den Voraussetzungen seines Kognitionsapparates und seines Bewusstseins eine autonome Wirklichkeit. ‚Objektivität‘ stellt sich dann als Resultat einer Konsensbildung durch Kommunikation ein, womit der Kommunikation für den Prozess einer überindividuell gültigen Sinnkonstruktion eine konstitutive Bedeutung zukommt. Damit ist die Funktion des Mediums ‚Fernsehen‘ unter den Bedingungen heutiger Massenkommunikation definiert: Fernsehen stellt einen Weltbildungsapparat par excellence dar und dient deshalb auch dem Konstruktivismus als geeignetes Demonstrationsbeispiel, um die Problematik ‚objektiver‘ Wirklichkeitsvermittlung und den virtuellen Status von ‚Welt‘ zu veranschaulichen. Greifen wir als Demonstrationsbeispiel für diesen Sachverhalt die Nachrichtenvermittlung heraus, wie Niklas Luhmann sie erklärt hat (vgl. Luhmann 1996). Nach den Einsichten des Konstruktivismus wäre es naiv anzunehmen, dass gerade Fernsehnachrichten eine 1: 1-Abbildung der Wirklichkeit leisten könnten. Vielmehr verläuft die Produktion von Nachrichten nach Mechanismen der Reiz- Auswertung, die nicht in der Realität selbst begründet sind, sondern allein durch die Erfordernisse des Mediensystems gesteuert werden. Luhmann hat solche Selektionskriterien, die bei der Erzeugung von Nachrichtenhaltigkeit eine entscheidende Rolle spielen, benannt (vgl. ebd., 58 ff.). So müssen, damit eine Information überhaupt als Nachricht verarbeitet wird, die Faktoren ‚Neuheit‘ und ‚Konfliktualität‘ gegeben sein; hinzu kommen die Berücksichtigung bestimmter Quantitäten („das Informationsgewicht der großen Zahl“) (ebd., 60), Normenverstöße und eine auf sie ausgerichtete moralische Sensibilität, die dank der durch sie festgestellten Devianz ein Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit und Entrüstung und einen Diskurs zur Erhaltung der Moral provoziert (vgl. ebd., 62 und 64); fernerhin gehört zum Nachrichtenwert der Tatbestand relevanter Einzelfälle und eines angemessenen lokalen Bezugs. Die Aufzählung derartiger Filter macht deutlich, dass in einem Massenmedium wie dem Fernsehen die Welt nicht aus sich heraus spricht, sondern systemimmanente Regelmechanismen darüber entscheiden, was überhaupt nachrichtenfähig ist. 17 Vgl. zum Konstruktivismus Foerster (1985) sowie Watzlawick (1981). 168 Da seit den sechziger Jahren das Fernsehen als Leitmedium für die Masse der Bevölkerung in Erscheinung tritt, kann es nicht verwundern, dass eine ganze Reihe kritischer Theorien, ausgehend vom normierten Idealbild einer aufgeklärten und damit mündigen Kommunikation, den Informationsauftrag des Fernsehens in Frage stellen und den manipulativen Charakter der Sendeveranstaltungen, in denen bestehende gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse bestätigt statt aufgehoben werden, in den Mittelpunkt rücken. Insbesondere die Unilateralität des audiovisuellen Kommunikationsvorgangs (der Zuschauer wird zum bloßen Empfänger degradiert, der lediglich über die Auswahl aus vorgegebenen Programmalternativen und Verweigerungshaltungen über eine begrenzte Reaktionsspanne verfügt) leisten der Notwendigkeit einer solchen kritischen Hinterfragung Vorschub. Bereits 1956 hat Günther Anders in seinem zivilisationskritischen Werk Die Antiquiertheit des Menschen das Beispiel des (damals noch fast ausschließlich amerikanisch geprägten) Fernsehens herangezogen, um seine Zentralthese von der ‚Apokalypseblindheit‘ der Menschheit im Zeitalter der Atombombe zu verdeutlichen (Anders 1956, I, 233f.). Der Verfasser macht seine Kritik der Fernsehkommunikation am Sachverhalt des häuslichen Empfangs fest und leitet aus den Rezeptionsmodalitäten drei Vorwürfe ab: Das Fernsehen veranlasse den Zuschauer, als „Heimarbeiter ohne Bezahlung“ (ebd., I, 103) selbst an der Herstellung des Massenmenschen mitzuarbeiten, indem er zu modernen „Massen- Eremiten“ (ebd., I, 102) mutiere und sich seine rezeptive Unfreiheit auch noch selbst durch die Anschaffungskosten des Geräts und die Fernsehgebühren erkaufen müsse. Vor allem trage der häusliche Empfang zur Auflösung der Familie bei, weil alle Familienmitglieder sprachlos in einer fantomhaften Innenwelt als ‚Hörige‘ vor dem Bildschirm säßen; der Fernseher stelle so einen ‚negativen Familientisch‘ dar (ebd., I, 106). Dadurch, dass die Information über die Wirklichkeit in paradoxaler Weise abläuft (um zu erfahren, was draußen vorgeht, muss der Mensch sich erst einmal im eigenen Heim fensterlos isolieren), werde das Individuum zu einer passiven ‚Welt-Anschauung‘, mit anderen Worten zur Unmündigkeit, degradiert: „Wenn die Welt zu uns kommt, statt wir zu ihr, so sind wir nicht mehr „in der Welt“, sondern ausschließlich deren schlaraffenartige Konsumenten“ (ebd., I, 111). Schließlich greift Anders einen Vorwurf auf, den Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bereits 1944 in ihrer Dialektik der Aufklärung unter Zuhilfenahme des Begriffs ‚Kulturindustrie‘ in ähnlicher Weise bereits artikuliert hatten: Die kommerziell motivierte Konstruktion einer Medienwirklichkeit ersetze die authentische Erfahrung durch Bildwelten und entfremde so die Kommunikationsteilnehmer vom tatsächlichen Leben, was sie manipulierbar mache. Bei Anders ist zu lesen: Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muss das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden. […] Wenn die 169 dominierende Welterfahrung sich von solchen Serienprodukten nährt, dann ist [...] der Begriff „Welt“ abgeschafft, die Welt verspielt, und die durch die Sendungen hergestellte Haltung des Menschen „idealistisch“ gemacht. (Ebd., I, 111 f.) Ebenfalls von einem wahrnehmungspsychologischen Ansatz aus, der sich im Unterschied zu Günther Anders jedoch auf die Spezifität der Bildschirmkommunikation beruft, hat Marshall McLuhan in verschiedenen Beiträgen (insbesondere in McLuhan 1964) seine Fernsehkritik artikuliert. Dadurch, dass die Rezeption des Fernsehprogramms als Verarbeitung von elektronischen Bildpunkten den ganzheitlichen Einsatz mehrerer Sinne erfordert, wird die cartesianische Linearität der Welterfahrung, wie sie sich dem Intellekt bisher durch die Buchlektüre erschlossen hat, aufgegeben. Insbesondere Kinder versuchen, ihr am Fernsehkonsum geschultes Rezeptionsverhalten des Starrens und visuellen Abtastens auf die gedruckte Information zu übertragen, was zu Desorientiertheit und schlimmstenfalls zum Rückfall in voralphabetische Zustände führt. Zur Kompensation entwickeln die Opfer der neuen Wahrnehmungspraxis Leitkonzepte, die beispielsweise im politischen Bereich rationale Einstellungen wie Weltanschauungen und Debattenargumente durch nicht hinterfragbare Leitgestalten und prinzipiengesteuertes Verhalten durch den Lebensstil einer unkonturierten ‚Erlebnisgesellschaft‘ (Schulze) ersetzen. In dem schmalen Band Sur la télévision leitet Pierre Bourdieu seine Kritik an der Fernsehpraxis aus den Produktionsbedingungen ab. Ausgehend von der Verortung des Fernsehens als ‚kulturellem Feld‘, auf dem bestimmte Kraftlinien und Spannungen ebenso vorausgesetzt werden müssen wie die Bemühungen der Akteure, Dominanzpositionen entweder aufzubauen oder überhaupt erst zu verwirklichen, stellt Bourdieu fest, dass die Fernsehkommunikation an die Stelle vernunftgeleiteter Informationsvermittlung eine ‚mentalité audimat‘ (Bourdieu 1996, 28), also die Logik des Konsums in Abhängigkeit von der optimalen Einschaltquote (audimat) gesetzt hat. Hinzu kommt die Korrumpierung des fernsehjournalistischen Selbstverständnisses durch die Anstrengungen der professionellen Akteure, mediale Machtpositionen aufrechtzuerhalten bzw. zu erobern. Insbesondere die bislang zu kurz gekommenen Journalisten verschreiben sich der ‚mentalité audimat‘ und damit allen möglichen Banalisierungsbestrebungen, um nach der Devise ‚passe bien à la télévision‘ (ebd., 54) nur solche Inhalte mit entsprechend spektakulären Inszenierungsweisen zu vermitteln, die Öffentlichkeitserfolge versprechen. Noch ein weiterer Kritiker des Fernsehens darf aufgrund seines Breitenerfolgs nicht unerwähnt bleiben. In Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (Erstauflage 1985) konzentriert sich Neil Postman auf die zweite Komponente des allgemeinen Sendeauftrags, die Unterhaltungsfunktion des Fernsehens. Postman stellt nun nicht einfach das quantitative Übergewicht von Sendeinhalten unterhaltender Natur fest, sondern will anhand der Sendepraxis des amerikanischen Fernsehens nachweisen, dass eine groß angelegte Entertainment-Strategie fatalerweise auch die Sendetypen be- 170 stimmt, denen genuin die Bereiche ‚Informationsvermittlung‘ (Nachrichten, Wetterbericht, Sport, Werbung) und ‚Bildung‘ zugeordnet sind. Dies hat unwiderruflich die Überführung dieser Inhalte in die globale Unterhaltungsstruktur des Fernsehens zur Folge. Getreu dem Diktum McLuhans, dass die Spezifität eines Mediums die Wahrnehmung seiner Rezipienten und damit deren Denken prägt, kommt nach Postman die widerstandslose Internalisierung einer solchen flächendeckenden Unterhaltungsstruktur des Fernsehens einer kulturellen Katastrophe gleich, die auf die Verwirklichung des Schreckensszenarios von Aldous Huxleys negativer Utopie Brave New World (1932) hinausläuft: Dank des unterhaltsamen Fernsehkonsums berauschen wir uns bereitwillig an unserer eigenen Unterdrückung. In dieser Durchsicht soll wenigstens anhand eines Fernsehtheoretikers der fundamentale theoretische Skeptizismus, der in offensichtlich dominierender Weise dem Fernsehen entgegengebracht wird, ansatzweise zurechtgerückt werden. Obwohl auch er nicht mit kritischen Einsichten zum Wesen der Fernsehkommunikation spart, stellt Dominique Wolton in seiner Éloge du grand public. Une théorie critique de la télévision (1990) auch Argumente vor, die dem Informationsauftrag optimistische Perspektiven abgewinnen können. Wolton verortet das ‚génie de la télévision‘ 18 in der Kombination mehrerer emanzipatorischer Potenziale des Mediums. Der egalitäre Charakter ergibt sich aus der Freiheit des Zutritts, den jeder Teilnehmer ohne äußere und innere Zwänge genießt (so ist die freie Wahl des Abschaltzeitpunkts gegeben, wie auch Hemmungen oder gar Komplexe wie beim Betreten einer Buchhandlung oder eines Theaters wegfallen). Ganz im Unterschied zu Anders sieht Wolton in den Modalitäten des häuslichen Empfangs einen entscheidenden Vorzug: Gerade am privatesten Ort können die Angelegenheiten der Öffentlichkeit verhandelt werden. So leistet die Erfahrung einer von allen Fernsehzuschauern geteilten Erlebnishaftigkeit der ausgeprägten sozialen Kohäsionsbildung Vorschub. Komplementär zum egalitären Charakter der Fernseh-Teilhabe verhindert jedoch nach Wolton die Polysemie der angebotenen Bilder und der damit verbundene Überschuss an Bedeutungspotenzialen die Normiertheit ‚orthodoxer‘ Entschlüsselungen. Da der Individualität der Rezeption keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen, kommt ein sog. ‚disperses Publikum‘ zustande, das keiner herrschenden Soziographie entspricht und das dementsprechend aufgrund der Unkontrollierbarkeit seiner Reaktionen auch der vorausplanenden Manipulation widersteht. Auf diese Weise spiegelt Fernsehen die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens wider, wie es gleichzeitig auch zur Hinterfragung dieser Wirklichkeit animiert. Vor dem Hintergrund einer solchen Argumentationslinie - Gleichheit und Selbstverständigung aller; Freiheit der Rezeption; soziale Kohäsion durch den Fernsehempfang - ist Woltons auf den ersten Blick befremdlich anmutende 18 Der Begriff ist offensichtlich in Analogie zu ‚photogénie‘, der bekannten Wesensdefinition des Kinos nach Louis Delluc und Jean Epstein, geprägt worden. 171 Ablehnung des zum Publikationszeitpunkt des Buchs gerade gegründeten ‚europäischen Kulturkanals‘ ARTE zu verstehen, dessen grenzüberschreitendes Konzept den gesellschaftlichen Ausgleichsinteressen der Fernsehkommunikation Frankreichs zuwiderläuft. Darüber hinaus hält Wolton ein engagiertes Plädoyer für den Erhalt der Generalistenprogramme mit ihrem multiplen Interpretationsangebot, weil nur so den inhaltlich eindimensionalen und deshalb die Rezeption standardisierenden Spartenkanälen Einhalt geboten werden kann. Jenseits solcher an bestimmten inhaltlichen und rezeptiven Normen orientierter Theorien lässt sich von einem im weitesten Sinn phänomenologischsemiotischen Standpunkt aus schließlich Fernsehen, genau wie der Spielfilm, als zeichenhafte ‚Äußerung‘ komplexer Natur, die der Verwirklichung einer audiovisuellen Kommunikationsleistung dient, begreifen. Zur Analyse der einzelnen Faktoren dieser televisionären Kommunikation kann grundsätzlich auf das fünfstufige Analysemodell verwiesen werden, das im Rahmen des Spielfilm-Kapitels ausführlicher vorgestellt wird. Was die Abweichungen von und die Ergänzungen zu diesem Untersuchungsraster anbelangt, sollen im Folgenden drei übergeordnete Besonderheiten des Fernsehens hervorgehoben und erläutert werden; die hier vorgestellten Sachverhalte sind zugleich als Objekte der vertiefenden Analyse zu verstehen. Erstens stellt sich das Wahrnehmungsdispositiv des Fernsehens, also die Art und Weise seiner Rezeption durch den Zuschauer, verglichen mit dem Spielfilm, in einer völlig anderen Weise dar. Im Kinokapitel wird hervorgehoben, dass bei der Lichtspielveranstaltung die Richtung der Filmprojektion der Wahrnehmungshaltung des Zuschauers hin zur Leinwand entspricht. Demgegenüber generiert der häusliche Fernseher vom Innern des Geräts aus seine Bilder und wirft sie auf den Bildschirm, er konfrontiert also buchstäblich den Betrachter mit seinen Botschaften. Statt durch die Verlängerung des Projektionsblicks die sinnliche Identifizierung mit dem Wahrgenommen zu stimulieren wie im Falle des Spielfilms, akzentuiert das Medium ‚Fernsehen‘ die Distanz, die zwischen ihm und dem Zuschauer besteht, ein Umstand, der durch den Antennenanschluss, also die Bindung der Apparatur an die Außenwelt, noch verstärkt wird. Zur Vervollständigung dieses distanzierenden und distanzierten Wahrnehmungsdispositivs kommt außerdem hinzu, dass sich Fernsehzuschauer, anders als Kinobesucher, normalerweise in einem privaten Wahrnehmungsraum bewegen, was sie in die Lage versetzt, jederzeit die Bindung an die Bildschirmkommunikation durch anderweitige Aktivitäten zu lockern oder gar ganz aufzulösen. Die zweite fundamentale Besonderheit des Fernsehens stellt die Organisation seiner audiovisuellen Inhalte in einem abhängig vom Senderkonzept (Generalistenvs. Spartenkanäle) mehr oder weniger abwechslungsreichen Programm dar. Die Existenzweise des Fernsehens als Programm, womit der „Zusammenhang vieler, fast immer unterschiedlicher Produkte, die in einer zeitlichen Abfolge und an einem einheitlichen medialen Ort (Kanal) Zuschauern als Angebot präsentiert werden“ (Hickethier 1993, 204), gemeint ist, bringt in der Umsetzung zu 172 Sendungen wichtige Konsequenzen mit sich. So muss, um das übergeordnete Ziel der Fernsehkommunikation, die Mobilisierung der jeweils größtmöglichen Anzahl von Zuschauern, zu erreichen, bei der Ausgestaltung des konkreten Programmangebots und seiner Terminierung der vom Tageszeitpunkt abhängigen alters- und geschlechtsspezifischen Zusammensetzung der Zielgruppe(n), ihrem für den TV-Konsum verfügbaren Zeitbudget und ihren inhaltlichen Erwartungen (Beratung, Information, Meinungsbildung, Feierabendentspannung) Rechnung getragen werden. Diese Kundenorientierung und die mit ihr verbundene Einpassung in eine ausgeklügelte Abfolge von Sendungen hat gerade im Bereich der speziell für das Fernsehen produzierten Fiktionen, aber auch für Serienangebote fiktionaler und dokumentarischer Natur zur Vereinheitlichung der Länge bestimmter Sendungstypen geführt, was wiederum Konsequenzen für die inhaltliche Konfektionierung im Sinne einer weitgehend überraschungsfreien Standardisierung mit sich bringt. Ebenso kommt der Verkettung der Einzelsendungen innerhalb der Programmabfolge eine Bedeutung zu, die weit über die rein kompositorische Gestaltung hinausgeht, gilt es doch, die Zuschauer durch geschickte Überleitungen vom Umschalten auf ein anderes Programm abzuhalten und - nicht nur auf den kommerziell orientierten Privatsendern, wie etwa das Beispiel von France 2 zeigt - der Werbung eine optimierte Aufmerksamkeit zu verschaffen. Diese Erfordernisse führen heutzutage zu regelrechten ‚Verwucherungen‘ von Sendeinhalten, wenn im Abspann einer Sendung unten oder seitlich bereits Ausschnitte des nächsten Programmangebots oder der nächsten Folge der gerade ausgestrahlten Serie samt Tonkommentaren durchlaufen oder Werbeblöcke nicht nach, sondern kurz vor der Auflösung einer Sendung platziert werden. Bezüglich des Programmcharakters der Fernsehkommunikation lassen sich fünf Sendungs-Typen ausdifferenzieren: Der Bereich der Fiktion macht gegenwärtig knapp ein Viertel des Gesamtangebots der großen französischen Fernsehkanäle aus (vgl. www.mediametrie.fr; „L’année TV 2003“). Auch wenn sich in der Ästhetik von Spiel- und Fernsehfilmen aufgrund der identischen Produktionsbedingungen keine grundsätzlichen Unterschiede mehr ausmachen lassen (Hickethier 1993, 184), haben die materiellen und sendetechnischen Rahmenbedingungen des Fernsehens einen besonderen Typus von TV-Fiktion hervorgebracht: die Fortsetzungsgeschichte, die im Alltag spielt und in einem örtlichen (Marienhof, Lindenstraße) und/ oder gruppenspezifischen Ambiente (Schüler, Familie, Polizisten) angesiedelt ist. Man unterscheidet zwischen Serien mit täglicher Fortsetzung (soaps, so genannt nach den ursprünglichen Auftraggebern, Seifenwarenkonzernen, (Un garçon, une fille oder Les feux de l’amour z.B.) und Folgen mit jeweils abgeschlossener Handlung (etwa die gerade in Frankreich so 173 beliebten deutschen Kriminalserien wie Inspecteur Derrick oder Un cas pour deux). 19 Unter Plateausendungen werden die Programmbestandteile zusammengefasst, die aus einer Studioszenerie übertragen werden und diese Szenerie ins Bild setzen. Zu den wichtigsten Plateaurealisationen gehören die Nachrichten, Debattenrunden und Interviews, im erweiterten Raum die Spiel- und Showsendungen. Einen dritten Typus stellen die Dokumentarsendungen dar, worunter in erster Linie Reportagen und Magazine fallen, die natürlich auch mit Plateau- Bestandteilen kombiniert werden können. Von den Aufnahmebedingungen her gewissermaßen in entgegengesetzter Richtung haben die Live-Übertragungen ihren Platz, vornehmlich in Gestalt von sportlichen Großereignissen, aber auch von offiziellen Feierlichkeiten und politischen Veranstaltungen (so überträgt France 3 die Debatten der Assemblée Nationale). Live-Sendungen vermitteln beim Fernsehteilnehmer per definitionem das Gefühl der unmittelbaren Teilnahme an dem betreffenden Ereignis, sie sollten jedoch in dieser Wirkungsweise nicht vergessen lassen, dass das vermeintlich spontan-persönliche Erlebnis in aller Regel erst durch einen beträchtlichen Aufwand an aufnahmetechnischen Voreinrichtungen und den ausgeklügelten Einsatz einer Vielzahl von Kameras aus den unterschiedlichen Blickwinkeln bewerkstelligt wird (vgl. dazu die instruktiven Grafiken in Duccini 1998, 116 f.). Schließlich muss auch die Ausstrahlung von Produktwerbung als eigenständige Programmgattung und damit als Analysegegenstand berücksichtigt werden, zumal die am Ende des nachstehenden Kapitels vorgestellte Relation zwischen Sendeanteil und audiovisueller Nutzung des Werbeangebots deutlich macht, dass die Werbung für viele Zuschauer mehr darstellt als eine nur lästige kommerzielle Unterbrechung der ‚eigentlichen‘ Programminhalte. Eine ästhetisch orientierte Betrachtung der Fernsehwerbung könnte auf das im Kinokapitel vorgestellte Analysemodell filmsprachlicher Natur (insbesondere im Hinblick auf die morphologischen und syntaktischen Untersuchungsaspekte, also Bild- und Tongestaltung, Montage und mise en scène) ebenso rekurrieren wie auf die Strategien der klassischen Rhetorik (inventio, dispositio, elocutio) und hat sich besonders im Kulturvergleich (wie werden bestimmte Produkte in bestimmten Ländern beworben? Wenden international agierende Unternehmen dieselben oder kultur- 19 Für die im Fernsehen ausgestrahlten Kinofilme erweist sich eine Untersuchung der Anteile nach Herstellungsländern als aufschlussreich. Der Verfasser hat für das Kalenderjahr 1999 eine solche Auszählung für die drei Fernsehkanäle mit den größten Marktanteilen (TF1, France 2, France 3) durchgeführt: Im Kalenderjahr belief sich die Anzahl der gesendeten Spielfilme auf 588 (TF1: 188, France 2: 189, France 3: 211). Der Anteil der nationalen Kinokultur betrug 45% gegenüber 38% für die US-amerikanischen Produktionen. Weitere Ausstrahlungen waren italienischer (4%) und britischer (6%) Provenienz, während der deutsche Film mit Ausnahme von einigen Stummfilmen des deutschen Expressionismus anlässlich von Zyklen im Cinéma de minuit-Programm von France 3, der Sissi-Trilogie und der seltenen Projektion eines Fassbinder- oder Wenders- Films auf den französischen Fernsehbildschirmen so gut wie inexistent war (und ist). 174 raumspezifische Werbestrategien für ihre Produkte an? ) bereits als ertragreich erwiesen. Die Aufzählung der unterschiedlichen Typen von Sendungen hat deutlich gemacht, dass über die bloße Wiedergabe von Inhalten hinaus - und nun kommt das dritte distinktive Merkmal der Fernsehkommunikation ins Spiel - eine pragmatisch orientierte Fernsehanalyse auch die in den einzelnen Sendungen angewandten Interaktionsweisen (Rollen und Inszenierungsstrategien) zu ihrem Gegenstand zu machen hat. Zweifellos die wichtigste Rolle nimmt der Präsentator ein. Ob in Nachrichtensendungen, Magazinen oder selbst beim Wetterbericht (météo), die Präsentatoren stellen „Instanzen der Weltvermittlung des Fernsehens“ (Hickethier 1993, 176) dar, die die Zuschauer in die betreffende Thematik hineinführen, die Relevanz des Gezeigten vor Augen führen (nicht von ungefähr wird der Nachrichtenmoderator etwa als ‚anchorman‘ bezeichnet) und durch ihre persönliche Ausstrahlung die Glaubwürdigkeit der Inhalte gewährleisten. Dort, wo es um das Unterhaltungsangebot der Fernsehanstalten geht, stellt der animateur in Bezug auf die intendierte Publikumswirkung das Persönlichkeitspendant zum Präsentator dar. Weitere wichtige Aktanten der Programmvermittlung sind die ‚Spezialisten‘ (etwa für historische oder naturwissenschaftliche Dokumentarsendungen, gerade in Frankreich aber auch mit Vorliebe in Gestalt von Ko-Kommentatoren bei Sportübertragungen) und - in dieser medialen Funktionsbestimmung nicht zu unterschätzen - die Politiker als species der im Fernsehen auftretenden Politiker (Hickethier 1993, 177) spricht zutreffend von ‚Politdarstellern‘), womit bei den Beteiligten auf die Entfaltung spezifisch ‚telegener‘ Charakteristika in allen Belangen der Inszenierung vor der Kamera (äußerliche Erscheinung, Sprache, Verhalten) angespielt wird. Auch die Instrumentalisierung von nicht-professionellen Fernseh-Rollen innerhalb der einzelnen Sendetypen verdient Beachtung. Anlässlich von Nachrichtenereignissen bzw. Dokumentarsendungen handelt es sich zumeist um Betroffene und Zeugen, die als Inkarnationen des sprichwörtlichen ‚Manns von der Straße‘ die Glaubwürdigkeit des Außergewöhnlichen vor der Kamera zu verbürgen haben. In Plateausendungen wird das Publikum, sei es passiv als bloßer Dekor, halb-aktiv in Gestalt von Anhängern bei Spielsendungen oder Polit- Debatten oder aktiv als Mitmacher auf dem Plateau in Szene gesetzt, wobei in der Regel die Spontaneität solcher Auftritte im Sinne eines störungsfreien Sendeablaufs in Zweifel gezogen werden muss. Interaktionsweisen vor der Kamera sind grundsätzlich in der Kombination mit räumlichen Dispositiven (Dekor, Sitzanordnungen bzw. Bewegungs- ‚Choreographie‘) zu betrachten. Die unilaterale Informationsvermittlung durch Präsentatoren und Sprecher wird vor allem in den Nachrichtensendungen, darüber hinaus aber auch überall dort, wo ein unmittelbarer Kontakt mit dem Zuschauer zur Verstärkung der Bedeutsamkeit des Vermittelten relevant ist, gesucht. Diese Interaktionsform weist als zentrales Inszenierungsmerkmal den 175 direkten Blick in die Kamera auf, 20 eine Maßnahme, die im Kino, wo es um die Illusion der vom Publikum unabhängigen Wirklichkeitswiedergabe geht, eher als Verstoß gegen die etablierte Ästhetik der Bildproduktion gilt. Bei bilateralen Kommunikationssituationen, die sich zwischen mehreren vor den Kameras agierenden Personen (Interviews, Gespräche) abspielen, fungieren die Kameras, zwischen denen die Regie je nach perspektivischem und Größen- Bedarf hin- und herschaltet, als ‚klassische‘ beobachtende Instanz, die die face to face-Kommunikation vermeidet. Leider schreckt die heutige Fernsehästhetik in der Zielsetzung, die privatesten und intimsten Persönlichkeitsbelange als besonders attraktive Programmangebote auszuleuchten, nicht vor Übertreibungen zurück, wenn es darum geht, in Inszenierungen, die nicht umsonst als ‚Tribunal‘- oder ‚confessional‘-Dispositive benannt werden (Duccini 1998, 88), mit der Kamera schonungslos körperliche Details und versteckte Gesten wehrloser Wahrnehmungsobjekte porentief einzufangen. Das sog. ‚agora‘-Prinzip (agora: gr. öffentlicher Platz, Versammlungsort), das die explizite Einbeziehung des Publikums in die Sendeinszenierung meint, zielt schließlich darauf ab, dem Fernsehzuschauer das Gefühl der Teilhabe an den für relevant angesagten medialen Debatten oder Aktionen zu vermitteln. Man kann unterscheiden zwischen der direkten, ostentativ in Bild und Ton gesetzten Publikumspräsenz im Sendestudio, wo sich die Öffentlichkeitsgeltung durch die Reaktionen der Anwesen manifestiert (in der Regel natürlich nur durch - inszenierten - Applaus), und der Stimulation von externer televisionärer Partizipation in Gestalt von Anrufaktionen, wo es sich um die Teilnahme an Gewinnspielen oder um Meinungsbzw. Programmwahl-Voten handelt. Auch zu diesem handlungsorientierten Bestandteil der Fernsehinszenierung müssten sich kulturraumvergleichende Studien als besonders aufschlussreich erweisen. 4.4 Die französische Fernsehlandschaft der Gegenwart: Eine Bestandsaufnahme Vergegenwärtigt man sich die Entwicklung, die die Ausstrahlungsmodalitäten und damit auch der Empfang von Fernsehprogrammen in technischer Hinsicht während des letzten Vierteljahrhunderts Europa- und weltweit genommen haben, so ist man versucht, die Fernsehrezeption in Frankreich fast schon als ‚rückständig‘ zu bezeichnen, so sehr wird hier immer noch der TV-Empfang vom althergebrachten Einsatz der terrestrischen Antenne geprägt, während die modernen 20 Bei der Nachrichtenvermittlung wird diese Glaubwürdigkeits- und Eindringlichkeitsinszenierung unterstützt durch den teleprompter, einer Apparatur, die (für den Zuschauer natürlich unsichtbar) den vorzulesenden Text vor der Kamera so durchlaufen lässt, dass der Sprecher/ Moderator ihn nur abzulesen braucht, was bei ungeübten Sprechern zu einem sichtlich starren Blick führt. 176 Diffusionswege Kabel und Satellit ein eher bescheidenes Dasein fristen. Der Vergleich der prozentualen Verteilung der einzelnen Empfangstechniken zwischen Frankreich und der Bundesrepublik für das Jahr 2002 lässt die grundverschiedene Situation in beiden Ländern deutlich hervortreten (nach Limmer 2003, 304): 21 terrestrisch Kabel Satellit Frankreich 66,1 % 11,1 % 22,8 % Deutschland 5,3 % 56,7 % 38,0 % Allerdings muss zur Ehrenrettung der französischen Einstellung zu modernen Entwicklungen gesagt werden, dass hier wie auch in anderen Hightech-Branchen die Franzosen bestrebt sind, ihre ‚Rückständigkeit‘ durch eine besondere Offenheit für die neuesten technologische Errungenschaften zu kompensieren: Ebenfalls 2002 beläuft sich die Anzahl der mit digitalem Satellitenempfang ausgerüsteten Haushalte in Frankreich mit 3,09 Millionen höher als in der wesentlich bevölkerungsreicheren Bundesrepublik (2,10 Millionen) (nach Limmer 2003, 306). Das Kabel verfügt in Frankreich gegenwärtig über 3 Millionen Abonnenten, was, bezogen auf die Gesamtanzahl der Haushalte, einer Nutzung von 14 % entspricht (in Deutschland sind es 55 % der Haushalte) (nach Quid 2002, 1397). Gleichzeitig ist der Kabel-Markt insgesamt auch in Frankreich gesättigt, wie die seit 1996 praktisch stagnierende Nutzungsrate von 40 % der verlegten Anschlüsse verdeutlicht. Wesentlich expansionsfreudiger und, wie betont, besonders aufgeschlossen gegenüber der Digitaltechnik stellt sich die Nutzung des Satellitenempfangs dar. Mehr als fünf Millionen Haushalte kommen, ob mit einer Individualantenne oder durch einen Gemeinschaftsanschluss, in den Genuss der rund 100 Satellitenprogramme, die je nach Betreiber in unterschiedlicher Komposition die Satelliten Astra, Hotbird, TDF1/ TDF2 und Télécom 2A/ 2B über das französische Territorium hinweg ausstrahlen. Bezüglich dieses Angebots lassen sich Kabel und Satellit wiederum als ein einheitlicher Empfangsmodus betrachten, denn bei der überwiegenden Anzahl der Programme handelt es sich um zahlungspflichtige Spartenkanäle (Pay-TV), die in Kombination mit den unverschlüsselten Vollprogrammen, von denen weiter unten die Rede sein wird, in sog. ‚bouquets‘ sowohl über Kabel als auch über die Parabolantenne zu den Kunden gebracht werden. Die beiden größten Anbie- 21 In Europa ist der Fernsehempfang per Kabel vor allem in den Benelux-Ländern verbreitet (Niederlande 98,5%, Belgien 91,1%, Luxemburg 79,7%), während die Bodenantenne außer in Frankreich auch in den Mittelmeerländern (Spanien 76,9%, Italien 82,6%, Portugal 61,4%), aber auch in Großbritannien (60,2%) noch vorherrscht. Das europäische Land mit dem höchsten Anteil am Fernsehempfang per Satellit ist Österreich (47,9%) (Angaben nach Limmer 2003, 304). 177 ter von Programm-Bouquets sind CanalSatellite (Haupteigner ist Canal Plus) mit 5,9 Millionen Abonnenten und TPS (Télévision par satellite) mit 3,5 Millionen Kabel- und Satellitenkunden (www.mediametrie.fr; Stand: Februar 2004). Auch wenn sich die Einschaltquoten dieser Programme, bedingt durch die Fülle des Angebots sowie durch die technischen und pekuniären Zugangsrestriktionen, verschwindend gering im Vergleich mit den terrestrisch sendenden Marktführern ausnehmen, so ist doch festzustellen, dass sich ihr Gesamtanteil an der Einschaltgunst der Fernsehzuschauer in den vergangenen Jahren stetig von 8,5% (2001) über 9,5% und 10,9% (2002 und 2003) auf 11,3% (Mai 2004) erhöht hat. 22 Damit kommen wir, unabhängig von den technischen Ausstrahlungs- und Empfangsmöglichkeiten, zur Übersicht und Kennzeichnung der wichtigsten Fernsehsender Frankreichs. Die nachstehende Tabelle gibt die Einschaltquoten der sieben marktführenden Fernsehkanäle im Kalenderjahr 2003 wieder, wobei anzumerken ist, dass dieses Jahres-Ranking, das die Fernseh-Präferenzen der Franzosen verdeutlicht, die Stabilität der Wettbewerbslage über die letzten Jahre hinweg bekräftigt (www.mediametrie.fr): Kanal Einschaltquote im Jahresdurchschnitt TF1 31,5 % France 2 20,5 % France 3 16,1 % M6 12,6 % France 5 6,4 % ARTE 3,4 % Canal Plus 3,7 % Im Folgenden werden die in der Übersicht aufgeführten Sender, die mit ihrem Programmangebot zu fast 90 Prozent die Fernsehlandschaft Frankreichs repräsentieren, näher gekennzeichnet werden. Der seit Jahren unbehelligt als Marktführer agierende Kanal TF1 hat einen in Europa bislang einmaligen Werdegang zurückgelegt: Das sich aus den Gründer- 22 Um eine Vorstellung zu vermitteln, wie das Abonnementangebot von Kabel und Satellit inhaltlich genutzt wird, sei hier eine Aufstellung der wichtigsten Kanäle mit ihrem Anteil an der Gesamtnutzung der bouquets vermittelt (Stand: Februar 2004). Die großen Vollprogramme (TF1, France 2, France 3, M6) machen auch innerhalb des Abonnements, wo sie vor allem wegen der digitalen Empfangsqualität gesehen werden, allein 60% aus. Es folgen Canal Plus (10% mit allen Einzelprogrammen), die Kinokanäle von TPS (9,3%), TF6 (ein Vollprogramm mit wiederaufbereiteten Bestandteilen von TF1 und M6) (2,8%), 13eme rue (action-, Kriminal und Horrorfilme) (2,2%), Boomerang (Kinderprogramm) (2,0%), Disney Channel und TiJi (Kinderprogramme) (jeweils 1,8%), Jimmy (Serien) (1,7%), Série Club (1,5%), Eurosport (1,4%), TMC (Télévision Monte Carlo) (1,4%). 178 zeiten herleitende offizielle ‚1. Programm‘ wurde im Zuge der Einrichtung des dualen Systems in Frankreich 1987 privatisiert und gelangte unter die Kontrolle des Mehrheitseigners Francis Bouygues, Inhaber des größten Baukonzerns des Landes. Die Organisation des Senders nach marktwirtschaftlichen Prinzipien, bei denen natürlich die Einnahmen aus der Fernsehwerbung, der nach den gesetzlichen Vorgaben ein größtmöglicher Platz eingeräumt wird, 23 neben der Lancierung von Vermarktungsgesellschaften (u.a. Datenträgerverkauf, téléshopping, Spielfilmproduktion, Beteiligung bei TPS) eine zentrale Rolle spielen, hat dazu geführt, dass TF1 etwa im Jahr 2001 einen Geschäftsumsatz von 2.282 Millionen € und einen Nettogewinn von 206 Millionen € erwirtschaft hat (vgl. Quid 2002, 1400). Die Tatsache, dass die TF1-Aktien ab 2000 zur Berechnung des Börsenindex CAC40 herangezogen werden, zeigt, dass sich das kommerzielle Fernsehunternehmen auf dem Markt gut behauptet. Was macht die ungebrochene Attraktivität des führenden französischen Fernsehkanals aus? Sicherlich war es ein Gewohnheitseffekt, der die Zuschauer auch nach der Privatisierung mit ihrem Hauptaugenmerk auf dem angestammten 1. Programm beharren ließ. Darüber hinaus liefert jedoch die inhaltliche Akzentuierung einer ausgesprochenen Unterhaltungsstruktur im Sendeangebot die wesentliche Erklärung für den Erfolg von TF1: Publikumswirksame Mainstream- Kinofilme neueren Datums, bei denen der Sender sehr oft als Koproduzent agiert hat und die sonntags und dienstags im Doppelpack angeboten werden, populäre französische Fernsehfiktionen (Navarro), überwiegend amerikanische soaps im Nachmittags- und Vorabendsegment, Spielsendungen (TF1 besitzt die französischen Ausstrahlungsrechte des globalisierten Publikumsrenners Who wants to become a millionaire? (Qui veut gagner des millions? ) mit Jean-Pierre Foucault) (Lüsebrink/ Walter 2003, 107-134), die Übertragung von sportlichen Großereignissen (Fußball und Formel 1) sowie Magazinsendungen (Confessions intimes, Vis ma vie, Combien ça coûte? ), die sich weniger als öffentlichkeitsrelevante Beiträge zu gesellschaftlich oder politisch virulenten Debatten verstehen, sondern eher durch den spektakulären Charakter der Themenwahl und -präsentation, oft aus der Welt der Schönen und Reichen, ‚Quote machen‘. Umgekehrt bzw. komplementär hierzu ist es der Bereich der ganz seriösen Informationsvermittlung, der zur besten Sendezeit die Zuschauer vor die Bildschirme mit dem TF1- Programm lockt: Im Konkurrenzkampf der beiden ca. 40minütigen Nachrichtensendungen, die auf den beiden größten Kanälen TF1 und France 2 täglich um 20 Uhr beginnen und im Jargon nicht von ungefähr als ‚grande messe‘ bezeichnet 23 Um aus der verwirrenden Vielzahl von Einzelregelungen die wichtigsten Auflagen, die vom CSA kontrolliert werden, herauszugreifen: Werbeblöcke dürfen im Mittelwert, je nach Platzierung des Sendesegments (zwischen prime time und ‚abgelegenen‘ Zeiten) zwischen 6 und maximal 12 Minuten pro Sendestunde umfassen; Spiel- und Fernsehfilme in Normallänge dürfen nur einmal durch einen Werbeblock von maximal 4 Minuten unterbrochen werden (was nicht für die Ausstrahlung in den öffentlich-rechtlichen Anstalten gilt), ansonsten ist ein Einschub frühestens alle 20 Minuten erlaubt. 179 werden, hat der Privatsender schon längst einen deutlichen Sieg davongetragen. 24 Nachrichtenmoderator Patrick Poivre d’Arvor, eine der herausragendsten Koryphäen der gegenwärtigen französischen TV-Szene, und in etwas abgeschwächter Form Claire Chazal (donnerstags bis sonntags auf Sendung) bringen es selbst in Zeiten des politischen Alltagsgeschäfts auf Einschaltquoten von 40% (France 2: 26%), was einer Zuschauerzahl von über 7 Millionen entspricht und über die buchstäbliche ‚Ausstrahlung ‘ der Nachrichtensendung hinaus die Werbetarife im Umfeld der Primetime-Sendung für TF1 in die Höhe treibt. Mit den nächstplatzierten Fernsehsendern kommen die öffentlich-rechtlichen Kanäle ins Spiel, die seit 2000 per Gesetz in der Holding Société France Télévision zusammengeschlossen sind. France 2 versteht sich hinsichtlich seiner generalistischen Programmstruktur in ihrer Gesamtheit, nicht nur im Bereich der Informationsvermittlung, als direkter Gegenpart zu TF1, ohne jedoch mit den Erfolgsinvestitionen des Privatsenders mithalten zu können, wie die Kluft in den Einschaltquoten beweist. Auch die Geschäftszahlen nehmen sich gegenüber dem größeren Rivalen bescheiden aus: Im Jahr 2001 bedeutete ein Umsatz von umgerechnet 915 Millionen € einen Gewinn von rund 15 Millionen € für France 2 (Quid 2002, 1394). Das Budget des Kanals (2001: rund 900 Millionen €) setzt sich zu knapp zwei Dritteln aus der Zuteilung der Fernsehgebühren und zu einem Drittel aus den Werbeeinnahmen zusammen (Quid 2002, 1394). Das Programmangebot von France 2 ähnelt naturgemäß dem Profil von TF1. Das Spielfilmangebot (sonntags und dienstags) und die Fernsehproduktionen (Serien wie Inspecteur Maigret, Nestor Burma, um nur zwei populäre Freitagsabend-Beispiele zu nennen) machen zusammen mit den großen Unterhaltungssendungen (etwa den althergebrachten Samstagsabend-Galas) nach offiziellen Angaben mehr als ein Drittel der Gesamtprogrammierung aus, während gemäß dem öffentlich-rechtlichen Sendeauftrag der Information, den Magazinen und Publikumsdebatten (hier vor allem dem sehr beliebten Ça se discute mit Jean- Luc Delarue) eine verstärkte Bedeutung zukommt (etwa ein Drittel der Sendezeit). Bringt man den Qualitätsanspruch von France 2 ins Spiel, sollte der mittlerweile zur Kultur-Legende gewordene Bernard Pivot nicht unerwähnt bleiben, der bis 2002 mit seinen wöchentlichen Literatursendungen Apostrophe, später Bouillon de culture generell die herausragende Bedeutung unterstrich, die die Buchkultur in Frankreich besitzt (besaß? ), und dank seines Stils der Befragung der Studiogäste und der Diskussionsleitung einen Publikumszuspruch erzielte, von dem die einschlägigen deutschen Pendants nur träumen können. Das 3. französische Fernsehprogramm, France 3, wurde 1973 gegründet, um, wie es die ursprüngliche Senderbezeichnung France Regions 3 signalisiert, dem Bedarf nach regionaler Berichterstattung im Fernsehen Rechnung zu tragen. Demzufolge verfügt die Anstalt, die ihr Budget zu 61 % aus den Gebühren- und 24 Nach wie vor maßgeblich zur inhaltlichen Analyse der französischen Fernsehnachrichten in kulturraumvergleichender Absicht ist die Untersuchung von Hanne Landbeck 1991. 180 zu 30 % aus Werbeeinnahmen finanziert, über 13 Regionalstationen, die für die Berichterstattung vor Ort im jeweiligen Sendegebiet zuständig sind. 25 Die flächendeckende Versorgung hat auch zur Folge, dass France 3 mit insgesamt 4.400 Mitarbeitern als Arbeitgeber für mehr als doppelt so viele Beschäftigte fungiert wie France 2 (1590) (TF1: 2.900). Hinsichtlich der Programmstruktur und insbesondere der konkreten Ausgestaltung der regional orientierten Sendeinhalte muss ein Missverständnis ausgeräumt werden, das gerade in Deutschland immer wieder anzutreffen ist, weil man hierzulande versucht ist, aufgrund seiner Bezeichnung als ‚3. Programm‘ und der regionalen Verankerung der 13 Filialen France 3 mit den dritten Programmen der ARD (Bayern 3, Hessen 3, MDR, Nord 3, RBB, Südwest 3, West 3) gleichzusetzen. Festzuhalten ist, dass die tägliche regionale Berichterstattung auf zwei Sendestunden begrenzt ist, die sich in zwei Zeitfenstern, nämlich zwischen 12 und 13 Uhr bzw. zwischen 19 und 20 Uhr, lokalisieren. Bedenkt man, dass innerhalb dieser beiden einstündigen Fenster jeweils noch Werbeblöcke, Programmankündigungen, aber auch nationale Kurznachrichten ausgestrahlt werden, so wird deutlich, dass die regionale Informationsversorgung auf die allerwichtigsten Meldungen beschränkt bleiben muss (zumal jede Lokalstation gleich mehrere Départements zu bedienen hat) und mitnichten der regionalen Intensität der deutschen dritten Programme vergleichbar ist, die alle jeweils noch über eine Reihe von Regionalstudios mit noch ortsnäherer Berichterstattung verfügen. Die tatsächliche mediale Bürgernähe bleibt in Frankreich im Wesentlichen den ‚radios de proximité‘ vorbehalten. 26 Abgesehen von den beiden regionalen ‚Inseln‘ bietet auch France 3 ein nationales Vollprogramm, das in erster Linie auf niveauhaltige Informationssendungen und Magazine, auf kulturelle Beiträge jedweder Art setzt und bei der Spielfilmdiffusion, die eine gewichtige Rolle spielt (sonntags die zyklisch und kinogeschichtlich orientierte Reihe cinéma de minuit sowie weitere Kinofilme montags und donnerstags) den Ansprüchen eines anspruchsvollen cinephilen Publikums Rechnung tragen will. Ebenfalls zur öffentlich-rechtlichen Gruppe France Télévisions gehört der Bildungskanal France 5, der mit den Schlagworten connaissance, découverte, éducation, santé und science für seine Programminhalte wirbt (in Deutschland also etwa Bayern αlphα vergleichbar). France 5 hat in diesem Sendeauftrag seit 2002 den ebenfalls öffentlich-rechtlichen Kanal La cinquième abgelöst und teilt 25 Im Einzelnen: (jeweils France 3) Alsace, Aquitaine, Bourgogne/ Franche-Comté, Corse, Limousin/ Poitou/ Charentes, Lorraine/ Champagne/ Ardennes, Méditerranée, Nord/ Pas-de-Calais/ Picardie, Normandie, Ouest, Paris/ Ile-de-France/ Centre, Rhône/ Alpes/ Auvergne, Sud. 26 Es gab und gibt zwar auch in Frankreich Lokalfernseh-Initiativen wie TV8 Mont-Blanc (Savoie), Aqui TV Périgord (Dordogne), TV7 Bordeaux (Gironde), TV Rennes (Ille-et- Vilaine), TLM (TéléLyonMétropole), um nur einige zu nennen, deren gemeinsames Merkmal in aller Regel die schwache Finanzierungsbasis und in der Folge häufige Einstellungen des Sendebetriebs sind. 181 sich wie sein Vorgänger bei der terrestrischen Ausstrahlung den Sendeplatz mit ARTE (France 5: 3 - 19 Uhr; ARTE: 19-3 Uhr). Von seiner Genese und den Betreiberanteilen ist der europäische Kulturkanal ARTE (Association Relative à la Télévision Européenne) sowohl in Frankreich als auch in Deutschland dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen zuzuordnen. 27 Konzipiert wurde der deutsch-französische Sender mit europäischer Zielsetzung (ein Widerspruch? ) als ‚Chefsache‘ der beiden Staatsmänner Helmut Kohl und François Mitterrand 1988 und nahm 1992 den Sendebetrieb auf. Die Rechtsform und Organisation des Senders stellt sich relativ kompliziert dar, was jedoch lediglich auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass eine strikte Parität zwischen französischem und deutschem Partner gewährleistet sein soll. Als eine Art Dachverband fungiert die ‚europäische Wirtschaftsinteressengemeinschaft‘ G.E.I.E. (Groupe Européen d’Intérêt Économique) mit Sitz in Straßburg. Für den deutschen Teil von ARTE ist ARTE Deutschland TV GmbH (Baden-Baden), für den französischen La Sept (Société d’édition et de programmation de télévision) (Paris) zuständig. Am Budget des Senders sind die beiden Partner zu jeweils 50% beteiligt, wobei von deutscher Seite ARD und ZDF jeweils 25% einbringen, während die französische Hälfte von mehreren Institutionen finanziert wird (France 3 : 27,5%, der französische Staat: 12,5%; Radio France und INA: jeweils 7,5%). Je 40% des Programmangebots wird mit Erzeugnissen der beteiligten Sendeanstalten von beiden Seiten des Rheins bestritten, der Rest resultiert aus der Eigenproduktion von ARTE, für die im Budget ebenfalls Mittel bereitgestellt werden; darüber hinaus hat der Kanal mit einer Reihe von europäischen und überseeischen Sendern Assoziierungs- und Kooperationsverträge abgeschlossen. Bereits im Gründungsvertrag von 1991 wird die inhaltliche Zielsetzung des neuen Kanals anhand mehrerer Adjektive gekennzeichnet: „Der Europäische Fernsehkulturkanal soll nach dem Willen seiner Gründer ein europäisches Fernsehprogramm mit kultureller Perspektive und alternativen Formen der Programmgestaltung werden.“ Tatsächlich erheben die Beiträge der einzelnen Programmsparten den Anspruch, Information und Hintergrundanalysen zu allen wichtigen politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, geographischen und geistesgeschichtlichen Themen unserer Zeit auf höchstem Niveau darzubieten und insbesondere der Kultur in allen ihren Manifestationen, insbesondere in Gestalt von Theater, Musik, Ballett, Literatur und Kino, einen zentralen Platz im Angebot des Senders einzuräumen. 28 Über diese allgemeine Orientierung hinaus hat ARTE zwei Programminhalte zum Markenzeichen seiner Qualität gemacht: 27 Vgl. zu ARTE auch die nützlichen Ausführungen in dem ansonsten enttäuschenden, weil wenig informativen und kaum ‚wegweisenden‘ (so der Titelanspruch des Sammelbandes zur französischen Medienlandschaft) Beitrag von Jean-Michel Utard zum Fernsehen in Frankreich (Utard 2001, 108 ff.). 28 Immerhin bedeutet ‚arte‘ im Lateinischen als ablativus instrumentalis ‚durch die Kunst‘ / ‚mit Hilfe der Kunst‘. 182 Die Ausstrahlung von Kinofilmen (4-5 Filme pro Woche), die in Gestalt von Einzelwerken, Regisseur- oder SchauspielerInnen-Zyklen, Retrospektiven zu Epochen und ästhetischen Schulen, selten zu sehenden Stummfilmen den höchsten Ansprüchen eines jeden Cinephilen gerecht wird; und die ‚Themenabende‘ (2-3 pro Woche), bei denen ein bestimmtes Thema durch mehrere analytische Beiträge (Dokumentation/ Reportage, Gesprächsrunde/ Expertenbefragung) und meistens auch durch eine thematisch passende Spielfilm-Veranschaulichung intensiv beleuchtet wird. 29 Ohne Zweifel ist der deutsch-französische Kulturkanal unverzichtbar für jeden Teilnehmer der Fernsehkommunikation, der das umfassende inhaltliche Potenzial dieses Mediums auf hohem Niveau, jenseits des z.T. unsäglichen Regelangebots an soaps, Spielsendungen, Quasselrunden und Gerichts-‚Shows‘, genutzt sehen will. Auf der anderen Seite bietet ARTE gerade wegen des so offensiv affichierten Gütesiegels der ‚Kultur‘ Anlass zur Kritik. 30 Ist der Sender dann doch zu elitär? Die niedrigen Einschaltquoten für dieses Vollprogramm scheinen darauf hinzudeuten, wobei aus der obigen Aufstellung, die für ARTE in Frankreich einen Sehanteil von 3,4 Prozent registriert, nicht hervorgeht, dass der Kulturkanal in der Bundesrepublik im selben Betrachtungszeitraum, also über das Jahr 2003, eine Einschaltquote von gerade einmal 0,3 % verzeichnet hat! Ob der deutliche Unterschied in der ARTE-Rezeption tatsächlich, wie Utard meint, darauf zurückzuführen ist, dass „ARTE als Gegenstück zum schwächelnden öffentlichen Fernsehen und dessen verringertem Angebot nach dem Verkauf von TF1 sowie zum allgemeinen Qualitätsverlust auf Grund der Konkurrenz unter den Privaten“ (Utard 2001, 111) gesehen werde, bleibt mehr als fraglich. Plausibler scheint es, kulturpessimistisch für die Quotendifferenz die unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen verantwortlich zu machen: Während in Frankreich AR- TE terrestrisch zu empfangen ist und damit in einer begrenzten Auswahl von 5-6 Programmen eher zur Kenntnis genommen wird, gerät in Deutschland, wo sich ARTE im Kabelnetz und im Satellitenangebot mit einer Vielzahl von vor allem 29 Vgl. etwa die Auflistung der Themenabende im ARTE-Programm vom Juni 2004: Kinder im Krieg, Ein Chromosom mehr - Leben mit dem Down-Syndrom, Aus den Augen, in den Sinn, Friedensstifter Fußball? , Schlesien - eine polnische Provinz auf dem Weg nach Europa, Vernunft oder Liebe - Vom Eheglück und arrangierten Hochzeiten, Die Babyfalle, Wer hat Angst vor James Joyce? , Rennpferde - vollblütig und pfeilschnell, Für eine Handvoll Euros - Arbeitsmigranten in der EU, Anton Pawlowitsch Tschechow, Capri - Insel der Träume, Ausgeforscht? - Der Alltag der Wissenschaftler. Kritisch wäre anzumerken, dass die Reihung eine gewisse Beliebigkeit und die Vermischung von Wesentlichem und Marginalem in der Wahrnehmung des Fernsehzuschauers verrät. Zum Teil wird aufgrund des generellen Qualitätsanspruchs des Senders einfach als ‚kulturell‘ hochstehend verkauft, was ARTE dafür hält bzw. vermarktet wissen will. 30 Vgl. zur früh einsetzenden Kritik an ARTE vor allem Wolton 1990, der sich statt der elitären Konzeption des Sendeauftrags für eine ‚culture grand public‘ (127 ff.) und gegen ein europäisches Fernsehen, das systematisch den Verzicht auf nationales Kulturgut betreibt, ausspricht. 183 privaten Mainstream-Sendern in Konkurrenz befindet, zu einer beinahe vernachlässigbaren Größe auf dem TV-Markt. Im Januar 1984 nimmt ein weiterer Fernsehsender den Betrieb auf, der im weitesten Sinn ebenfalls dem öffentlich-rechtlichen System zugeordnet werden kann, da die Initiative zu seiner Gründung vom französischen Außenministerium ausging und er auch heute noch von den Regierungen der an der Unternehmung beteiligten Einzelsender finanziert wird - TV5 (Neubauer 2004). 31 TV5 macht es sich zur Aufgabe, weltweit französischsprachige Programme, oft gestützt durch Untertitel in französischer (! ) oder je nach Empfangsraum einer der anderen Weltsprachen für frankophone und nicht-frankophone Zuschauer anzubieten. Heute können 130 Millionen Haushalte in 165 Ländern über 40 Satelliten die auf die einzelnen Regionen angepassten Programme der zuständigen TV5- Gesellschaften empfangen. Diese Gesellschaften wurden gegründet, um den kulturraumspezifischen Belangen der Ausstrahlungen Rechnung zu tragen, so dass neben TV5 Europe (mittlerweile gegliedert in TV5 Europe und TV5 FBS (France, Belgique, Suisse)) seit 1988 TV5 Québec Canada, ab 1992 TV5 Afrique et Orient sowie TV5 Amérique latine et Caraïbes und schließlich ab 1996 TV5 Asie und TV5 États-Unis getreten sind. Beherrschender Programmschwerpunkt des Senders ist nach wie vor die Nachrichtenvermittlung, die in Eigenproduktionen, vor allem aber in Zuschaltungen rund um die Uhr gewährleistet wird. Daneben treten Programminhalte informativer und unterhaltender Natur sowie die Ausstrahlung von französischen bzw. frankophonen Spielfilmen mit der originalsprachlichen Untertitelung. Seit 1989 besitzt TV5 den offiziellen Status eines ‚opérateur direct‘ der ACCT (Agence de coopération culturelle et technique) und seit 1997 der Organisation internationale de la Francophonie (OIF), was zwar fraglos eine sinnvolle Funktionszuweisung zur Förderung der Frankophonie bedeutet, andererseits jedoch Probleme gerade für die französische Beteiligung mit sich bringt. Denn Frankreich, das wichtigste Partnerland innerhalb der TV5-Struktur, hat bei der Unternehmung stets seine nationalen Interessen über die supranationalen Ideale der institutionalisierten Frankophonie gestellt und denkt augenblicklich an die Lancierung eines französischsprachigen Nachrichtensenders nach dem Muster von CNN. Der mit diesem Projekt zwangsläufig verbundene Rückzug der Nachrichtensendungen von TV5 würde beim derzeitigen Profil des Kanals dessen Attraktivität schweren Schaden zufügen. Mit dem Fernsehsender M6 kehren wir in unserer Übersicht in den Bereich der privaten Anbieter zurück. Haupteigner des 1986 lancierten Kanals ist der Luxemburger CLT-Konzern, der unter anderem auch RTL, den deutschen Markt- 31 Die Zahl ‚5‘ im Sendernamen verweist auf die an der Gründung beteiligten Sender: TF1 (damals noch staatlich), Antenne 2, FR3, RTBF (Belgien) und SSR (Schweiz); 1986 kam das Fernsehen Québecs hinzu. Mittlerweile wird TV5 von der Aktiengesellschaft Satellimages betrieben, deren Aktionäre u.a. die Partnersender sind (vgl. Neubauer 2004, 41). 184 führer der letzten Jahre, betreibt, und tatsächlich ähneln sich die Programmstrukturen der beiden Kanäle mit ihrer Betonung der eher anspruchslosen Unterhaltung, der Ausstrahlung von amerikanischen Serien und Mainstream-Filmen bei einem erheblich reduzierten Anteil der Informationsvermittlung, deutlich. Vorübergehend konnte M6 in den zurückliegenden Jahren deutliche Zugewinne mit Marktanteilen von zeitweise über 17% dank der Ausstrahlung von Loft Story - in Deutschland unter dem Titel Big Brother zu entsprechender Anziehungskraft gelangt und von RTL gesendet - vermarktet. Angesichts einer solchen Ausrichtung an Zuschauerzielgruppen, die sich durch ein eher schlichtes Unterhaltungsbedürfnis auszeichnen, überrascht es auch nicht, dass die Werbung im und für den Sender eine besondere Rolle spielt. M6 verfügt über einen überdurchschnittlichen Anteil von 23% am gesamten TV-Werbemarkt und besitzt eine eigene Vermarktungsgesellschaft, M6 Publicité. Abschließend ist von einem weiteren kommerziellen Betreiber die Rede: Von dem verschlüsselten Pay-TV-Sender (chaîne payante cryptée) Canal Plus, nach der Liberalisierung des französischen Fernsehmarkts erste Privatstation (1984), war bereits im Kapitel zum französischen Kino im Rahmen der Ausführungen zur Finanzierung von Spielfilmen und der gesetzlich verankerten Beteiligung der Fernsehanstalten, ausführlich die Rede. Tatsächlich stellt die Ausstrahlung von neueren Kinofilmen (35 Filme pro Monat) neben live-Sportübertragungen (etwa die Spiele der 1. französischen Fußballliga) die Hauptattraktion eines Canal Plus-Abonnements dar, das aber auch Fernsehserien, Nachrichten und Dokumentarsendungen beinhaltet. 32 Eine regelrechte ‚Kult‘-Sendung, die nicht von ungefähr unverschlüsselt (en clair) zu empfangen ist, stellt die kurz vor 20 Uhr (Konkurrenz zu den Nachrichtensendungen auf TF1 und France 2! ) programmierte Gummipuppen-Polit-Satire Les Guignols dar. Hauptaktionär der Canal Plus-Gruppe, die neben zahlreichen internationalen Fernsehbeteiligungen in ganz Europa (in Deutschland etwa Premiere) über eine eigene Kinoproduktionsgesellschaft und den Satellitenprogramm-Anbieter CanalSatellite verfügt, ist der Multikonzern VivendiUniversal. Im Zusammenhang mit den Besitzverhältnissen geriet der Sender im Frühjahr 2002 wegen eines in der Praxis des französischen Fernsehens bislang einmaligen Vorfalls in die Schlagzeilen: Die Ankündigung des Vivendi-Konzernchefs Messier, den Fernsehpionier und langjährigen Präsidenten von Canal Plus, Pierre Lescure, im Zuge einer Programmumstrukturierung zu entlassen, führte dazu, dass die Angestellten spontan den laufenden Sendebetrieb unterbrachen, die Studioplattform besetzten und vor laufenden Kameras ihre Solidarität mit dem anwesenden Les- 32 Je nach persönlicher Präferenz kann der Kunde bei Canal Plus mittlerweile seine Auswahl aus einem diversifizierten Angebot treffen: Canal Plus, Canal Plus Cinéma, Canal Plus Confort, Canal Plus Sport. Der Monatstarif für ein normales Canal Plus- Abonnement liegt derzeit (Juni 2004) bei 28,80 €. 185 cure bekundeten. Auch wenn die Aktion vergeblich war, 33 dokumentierte sie doch in grundsätzlicher Hinsicht, welche Macht die technische Verfügung über die Fernsehkommunikation in sich birgt. Nach der Kennzeichnung der einzelnen Sender und ihrer jeweiligen Programmstruktur gilt der abschließende Blick der Frage, wie die Bildschirmangebote vom Zuschauer konkret genutzt werden. Hierfür liefert der Médiamétrie-Jahresbericht für 2003 (www.mediametrie.fr) eine höchst aufschlussreiche Gegenüberstellung der von den sechs wichtigsten französischen Fernsehanstalten gesendeten Programmtypen gemäß ihres Anteils an der Gesamtausstrahlung und des tatsächlichen Konsums dieser nach Gattungen sortierten Einheiten. Das durchschnittliche Einschaltverhalten der französischen Fernsehzuschauer gegenüber dem Programmangebot sieht danach folgendermaßen aus: Programmangebote 34 Programminhalt Programmnutzung 35 4,8 % Filme 6,3 % 17,9 % Fernsehfiktionen 23,2 % 7,1 % Spiele 10,5 % 7,0 % Unterhaltung 4,3 % 6,0 % Nachrichten 15,6 % 33,2 % Magazine/ Dokumentationen 19,8 % 2,9 % Sport 4,6 % 7,9 % Kinderu. Jugendsendungen 3,2 % 7,2 % Werbung 8,6 % 5,9 % Verschiedenes 4,0 % Auf den ersten Blick scheinen diese Relationen zwischen Angebot und Nachfrage noch einmal auf die theoretischen Betrachtungen zum Medium ‚Fernsehen‘ zurückzuverweisen, wo von der Gefahr einer allgemeinen ‚Degenerierung‘ der Fernsehkommunikation zu einer Veranstaltung der flächendeckenden Berieselung mit passiv rezipierten Unterhaltungsinhalten die Rede war. Deutlich erkennbar ist in der Tat das Zuschauervotum für ein Mehr an zweckfreiem entertainment (Fiktionen: + 6,8%, Spiele: + 3,4%, Sport: + 1,7% 36 ), während in entgegengesetzter Richtung der tatsächliche Bedarf an Wissensvermittlung und Hintergrundberichterstattung ein krasses Missverhältnis zwischen der ‚Überpro- 33 Aber auch Jean-Marie Messier wurde nicht zuletzt aufgrund dieses Vorfalls vom Vorstand des angeschlagenen Vivendi-Konzerns das Vertrauen entzogen, so dass er demissionieren musste. 34 Jahresangebot 2003 der Sender TF1, France 2, France 3, ARTE, France 5, M6; 43.679 Std. 34 Min. = 100% 35 Zuschauer ab 4 Jahren; 1.041 Std. 13 Min. = 100% 36 Wahrscheinlich ließe sich auch in derselben Weise die Anziehungskraft der Werbung (+ 1,4%) erklären. 186 duktion‘ von Magazin- und Dokumentarsendungen und tatsächlichem Einschaltverhalten aufzeigt (-13,4%). Dennoch wäre es kurzschlüssig, angesichts dieser Zahlenverhältnisse kulturpessimistisch (auch) den französischen Fernsehzuschauern den Verlust der Mündigkeit zu bescheinigen. Dem widerspricht allein schon die Tatsache, dass das aus Rezipientensicht drittwichtigste Programmsegment, die Nachrichtenvermittlung, im Verhältnis zum bereitgestellten Angebot besonders eindringlich nachgefragt wird (+ 9,6%). Vergessen wir also nicht, dass sich die intensive Nutzung des Fernsehens also auch auf den in allen gesetzgeberischen Grundsatzerklärungen artikulierten Auftrag des Mediums erstreckt, audiovisuelle Informationen zum aktuellen politisch-gesellschaftlichen Geschehen auf nationaler und internationaler Ebene für die individuelle Meinungsbildung über den Bildschirm zur Verfügung zu stellen. Die Bedeutung von Nachrichtensendern innerhalb der Spartenkanäle legt im übrigen ein beredtes Zeugnis von diesem Sachverhalt ab. ‚Fernsehen‘, und dies wäre das Fazit aus den theoretischen Überlegungen und den Ergebnissen der empirischen Analyse zur TV-Situation in Frankreich, zeichnet sich heutzutage durch eine strukturelle Ambivalenz aus, die die grundlegende Beschaffenheit unserer postmodernen Gesellschaften genau widerzuspiegeln scheint: Auf der einen Seite besteht die Funktion des Mediums darin, als Hauptlieferant die Erwartungen der Nutzer einer ausgeprägten ‚Freizeit‘- oder ‚Spaßkultur‘ zu bedienen; auf der anderen Seite scheint derselbe ‚petit écran‘ nach wie vor unverzichtbar zu sein als ein eben solcher Hauptlieferant von Informationen zur Herausbildung eines wie auch immer gearteten politischen Bewusstseins. Es wird nicht zuletzt von den Zuschauern selbst abhängen, ob sich dieser mediale Balanceakt von unterhaltsamer Gleich-Schaltung und ernstgemeinter Aufklärung durchhalten lässt oder ob durch das Diktat des audimat der Zuschlag ganz der ‚Kulturindustrie‘ anheim fallen wird. 4.5 Bibliographie Albert, Pierre/ Tudesq, André-Jean: Histoire de la radio-télévision. Paris, 4 1995. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. München, 1956 (2 Bde.). Bourdieu, Pierre: Sur la télévision. Paris, 1996. Brochand, Christian: Histoire générale de la radio et de la télévision en France. Paris, 1994 (tome I: 1921-1944; tome II: 1945-1974). Brochand, Christian: Économie de la télévision française. Paris, 1996. Duccini, Hélène: La télévision et ses mises en scène. Paris, 1998. Faulstich, Werner: Medientheorien. Einführung und Überblick. Göttingen, 1991. Foerster, Heinz von (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. München, 1985. Frémy, Dominique u. Michèle (Hg.): Quid 2002. Paris, 2002. 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Diese stellen Ergebnisse von Prozessen der Oralisierung bzw. der Verschriftlichung dar, die literarische und mediale Ausdrucksformen in verschiedenen Epochen und Kulturen unterschiedlich stark geprägt haben. In systematischer Hinsicht lassen sich folgende Typen von Semi-Oralität unterscheiden: - erstens semi-orale Gattungen, die sowohl durch die Materialität gedruckter schriftlicher Zeichen als auch durch mündliche Darbietung bzw. Performanz gekennzeichnet sind. Hierzu gehören in erster Linie die Gattungen Theater und Chanson. Von Werner Faulstich ist das Chanson treffend auch als Textmusik definiert worden (Faulstich 1978). Dieser Begriff soll „daran erinnern, dass das Medium nicht nur als Summe von Text, Musik und Interpretation, sondern als ein Produkt aus der intensiven Interaktion zwischen diesen drei Faktoren zu verstehen ist.“ (Keilhauer 1998, 19). Von besonderer Bedeutung für die öffentliche Breitenwirkung des Chansons sind Subgattungen wie die der Complainte, der Hymne, des militärischen Marschliedes und des Catéchisme, deren soziokulturelle Verbreitung und Wirkung im allgemeinen ungleich größer waren als die Auflagenzahlen der gedruckten Texte vermuten ließen. Hierfür waren die musikalische Struktur, der Refrain und die kollektive Performanz- und Rezeptionssituation von besonderer Bedeutung. Das Vaudeville des 18. und 19. Jahrhunderts, eine populäre Theatergattung, zeichnete sich durch Gesangseinlagen aus, die hier wirkungsvoller als in den meisten andere Theatergenera eingesetzt wurden: Sie sind zu sehen im Zusammenhang mit der besonderen Rolle, die in einer noch wenig alphabetisierten Gesellschaft dem Lied und dem öffentlichen, meist gemeinsamen Singen zukam - in der Armee, bei Nationalfesten und nicht zuletzt im Theater. Schon 1789 sangen die Zuschauer bei Erfolgsstücken Melodien der Schauspieler begeistert mit; nach Thermidor pflegten Muscadins während der Vorstellungen (auch und gerade in Theatern mit Vaudeville-Repertoire) ihre politischen Gegner durch Absingen des Réveil du Peuple zu provozieren und Schauspieler zum Einstimmen zu zwingen; das Directoire wiederum verordnete das Absingen patriotischer Hymnen vor Beginn und in den Pausen der Vorstellung. (Nies 1980, 269); 190 - zweitens Phänomene der mündlichen Darbietung schriftlicher Diskurs- und Gattungsformen, die für bestimmte Situationen und Epochen charakteristisch erscheinen. Hierzu zählen Praktiken wie die des Vorlesens, des Rezitierens und des gemeinsamen Singens, die in Epochen gesellschaftlich geringer Verbreitung von Schriftlichkeit und Lesekenntnissen, wie der Französischen Revolution, einen weitaus größeren Stellenwert einnahmen als in der Gegenwart, wo sie jedoch weiterhin in Formen wie der Dichterlesung und dem Vorlesen etwa von Kindermärchen präsent sind. Die meisten populären Erzählstoffe, wie sie sich etwa in Volksalmanachen wie dem Messager Boiteux de Bâle, dem Almanach de Liège oder in der Bibliothèque Bleue, der wichtigsten Sammlung volkstümlicher Druckwerke im Frankreich der Frühen Neuzeit (Bollème 1975), finden, waren aufgrund ihrer Textstruktur auch und in erster Linie zum Vorlesen bestimmt. Das Vorlesen, das „zeitaufwendiger als die stumme Lektüre“ ist, verweist somit nicht nur auf grundlegend andere mentale Einstellungen zu Zeit und Geselligkeit, die vormoderne, aber auch außereuropäische Gesellschaften kennzeichnen, sondern auch auf bestimmte Strukturmerkmale der Vorlesestoffe selbst, die im allgemeinen aus „relativ kurzen oder leicht segmentierbaren Stoffen bestehen“ (Nies 1991, 114). Auch im Bereich der Elitekulturen spielen Formen der Oralisierung jedoch bis in die Gegenwart hinein eine wichtige Rolle: hierzu zählen rhetorische Formen und Gattungen wie die Disputation, die ‚Leçon d’agrégation‘ als Selektionsform im modernen französischen Unterrichtswesen, die akademische Vorlesung (Cours magistral, Lecture académique) und die akademische Lobrede (Eloge académique), die sämtlichst auf elaborierten Schrifttexten basieren, aber in möglichst freier Weise präsentiert werden sollten (Goody 1987; Waquet 2003). Sie haben in den letzten Jahrzehnten durch neue Medien und Präsentationsformen eine erhebliche Ausdehnung erfahren. (Poster Session, Internet, Powerpoint). „L’oralité“, so die französische Kulturhistorikerin F. Waquet, „n’a donc pas disparu avec ‚l‘apparition du livre‘; de surcroît, dans les milieux les plus familiarisés avec les livres, pour les hommes qui faisaient métier d’en lire et d’en écrire, elle a joui d’une faveur immense à la mesure du rêve d’une grande conversation face à face que le progrès économique et des inventions technologiques ont rendu de moins en moins utopique. “ (Waquet 2003, 399); - drittens Phänomene der Oralisierung von Schrifttexten, die vor allem in den frankophonen Literaturen außerhalb Europas, im frankophonen Kanada, in Afrika und der Karibik, einen wichtigen Stellenwert einnehmen und die Literatur- und Kulturproduktion kennzeichnen. Die Werke etwa von Schriftstellern wie Ahmadou Kourouma (Les Soleils des Indépendances, 1968) von der Elfenbeinküste, Yambo Ouologuem (Le devoir de violence, 1968) aus Mali, Patrick Chamoiseau (Texaco, 1992) aus Martinique und Antonine Maillet (Pélagie-la- Charrette, 1979) aus der kanadischen Atlantikprovinz Nouveau Brunswick (die zugleich auch eine bekannte Theaterautorin ist) sind durch die Integration von Motiven, Erzählstrukturen sowie Duktus und Ausdrucksstil mündlicher Kommunikation gekennzeichnet. Aber auch im französischen Roman insbesondere 191 der Zwischenkriegszeit, vor allem in den Werken von San-Antonio (alias Frédéric Dard) und Louis-Ferdinand Céline (Voyage au bout de la nuit, 1932) sowie bei Louis Aragon (Traité du style, 1928), Henry Poulaille (Le train fou, 1928) und Blaise Cendrars (Les Confessions de Dan Yack, 1929), finden sich neue und zum Teil innovativ-experimentelle Formen der Osmose zwischen schriftlichen und mündlichen Sprach- und Kommunikationsformen - unter anderem des Argot und des Français populaire -, die J. Meizoz mit dem Begriff ‚Roman parlant‘ charakterisiert (Meizoz 2001). Im Falle vieler französischsprachiger Schriftsteller der Schweiz, wie bei C.F. Ramuz, lässt sich die Zielsetzung erkennen, durch den Rückgriff auf mündliche Sprach- und Kommunikationsformen der romanischen Schweiz eine dezidierte Distanz zur hochsprachlichen ‚Pariser‘ Norm zu beziehen und die eigene regionale bzw. nationale Identität zu betonen. 1 Der ivorische Schriftsteller Ahmadou Kourouma hat in einem ebenso kurzen wie programmatischen Aufsatz mit dem Titel „Écrire en langue étrangère, penser dans sa langue maternelle“ die kreative Verbindung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der zeitgenössischen frankophonen afrikanischen Romanliteratur, ebenso wie in anderen kulturellen Medien (wie Theater und Chanson), als einen Prozess der produktiven Interaktion zwischen schriftlichen und mündlichen Ausdrucks- und Kommunikationsformen beschrieben: Je suis malinké, de nationalité ivoirienne, donc négro-africain. La littérature de ma langue maternelle est orale. Ma culture de base est l‘animisme. J’écris en français. La langue française est la seconde langue de mon pays, elle est officiellement ma langue nationale. Le français est une langue disciplinée, policée par l’écriture, la logique, dont le substrat est la chrétienté. Ma langue maternelle, la langue dans laquelle je conçois, n’a connu que la grande liberté de l’oralité; elle est assise sur une culture de base animiste. Voilà en quels termes se pose pour moi la question de la langue. (Kourouma 1997, 115) Der Roman Le Devoir de violence (1968) des malischen Schriftstellers Yambo Ouologuem stellt, neben Kouroumas Werk, vor allem seinen Romanen Les Soleils des Indépendances (1968) und Monnè, outrages et défis (1990), das wohl beeindruckendste Beispiel literarischer Semi-Oralität in den frankophonen Literaturen der postkolonialen Ära dar. Ouologuems Roman, der anhand des fiktiven Königreichs Nakem-Ziuku die Geschichte des Königreichs Mali vom 13. Jahrhundert bis zum Ende der Kolonialzeit erzählt und hierbei die Kontinuität oppressiver Machtstrukturen von der Eroberung Westafrikas durch den Islam bis zur Gegenwart aufzuzeigen beabsichtigt, knüpft in dreifacher Hinsicht an orale Gattungs- und Erzählstrukturen an: zum einem, indem er neben zahlreichen eu- 1 Vgl. Meizoz 1998, 78: „Ces modes d’esthétisation littéraire de parlers régionaux peuvent donc être interprétés sans être séparés, comme ils le sont si souvent dans les études farouchement littéraires, de la conjoncture politique: ils constituent une trace éloquente des modalités de l’affirmation nationale du XXe siècle, ainsi que des fantasmes patriotiques qu’elles charrient.“ 192 ropäischen Quellen auch mündlich tradierte westafrikanische Epen zur Grundlage der Narration macht; zum anderen übernimmt der Erzähler des Romans Rolle und Erzählmodus der traditionellen Griots , der Sänger und Erzähler in den vorkolonialen mündlichen Kulturen Afrikas. Die Griot-Figur (und seine Stimme) ist von Beginn des Romans an präsent und kommentiert das Geschehen so, als wolle er es einer an seinen Lippen hängenden Zuhörerschaft vermitteln. Immer wieder wird der Erzählfluss auch durch Ausrufe des Erzählers wie bismillah (Im Namen Gottes), Béni soit l‘éternel, Que Dieu ait son âme und Que Dieu rafraîchisse sa couche unterbrochen, die seine Religiosität, aber auch sein Mitgefühl zum Ausdruck bringen sollen. Zugleich verweist Ouologuems Umgang mit oralen Traditionen schließlich auf Formen der satirischen Distanznahme und der Ironisierung. Er distanziert sich nachhaltig von der Idealisierung der großen Herrschergestalten des vorkolonialen Afrikas, die den Duktus der mündlich vorgetragenen Epen kennzeichnet. Er präsentiert die Mächtigen als skrupellose Kaste, die sich aller ihnen zur Verfügung stehenden Register der Machterhaltung bedienen: von der Religion über Formen des politischen Konsenses mit den französischen Kolonialherren bis zu offener Gewalt und rückhaltloser Grausamkeit und Brutalität. Le Devoir de violence, das als „semi-orales Patchwork“ (Lüsebrink 1994, 157) bezeichnet werden kann, verwendet somit Stoffe, Strukturen und Erzählweisen der mündlichen Literaturen und Kulturen Afrikas, indem sie gleichermaßen zitiert und gegen den Strich gebürstet werden: die Figur des Griot erscheint hier als Troubadour der Mächtigen; und die Erzählgattung des Epos, in den mündlichen Kulturen des afrikanischen Kontinents vor allem ein Medium, um die glorreichen Taten der Mächtigen zu besingen, verwandelt sich in der Feder Ouologuems zu einer beißenden Kritik an der traditionellen Struktur von Macht und Herrschaft in Afrika. Phänomene und Prozesse der Semi-Oralität haben in Gesellschaften einen herausragenden Stellenwert, in denen eine rapide fortschreitende Alphabetisierung sowie das Vordringen von Schrift- und Buchkultur sich in einer kulturellen Umgebung vollziehen, in der mündliche Kommunikations- und Ausdrucksformen noch von zentraler soziokultureller Bedeutung sind. An mündliche Kommunikationsformen angelehnte Textstrukturen, die Praxis des Vorlesens sowie die Vermittlung von Inhalten über Bildillustrationen greifen eng zusammen, sowohl bezüglich der Einbindung des Schrifttextes in mündliche Kommunikationssituationen (Textpragmatik) als auch hinsichtlich seiner Publikumswirkung (Rezeption). Im Europa der Frühen Neuzeit sei, so der Schweizer Volkskundler und Buchhistoriker Alfred Messerli, die Kommunikation gedruckter Lesestoffe (Flugschriften und illustrierte Flugblätter) „in den größeren Kontext von mündlicher Kommunikation, visueller Kommunikation und Aktion als Kommunikation zu stellen. Es ist unter anderem an Predigten, Liedvorträge, Vorleseakte, Theateraufführungen, an Diskussionen, Gespräche und Gerüchte zu denken“ (Messerli 2002, 31; vgl. auch Scribner 1981). 193 Soziokulturelle Konstellationen, in denen semi-orale Medien und Kommunikationsformen eine herausragende Bedeutung zukam, kennzeichnen, was Frankreich angeht, vor allem die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und insbesondere die Epoche der Französischen Revolution, die sich durch einen sprunghaften Anstieg sowohl der Produktion von Druckwerken (Bücher, Zeitungen, Flugschriften) und ihrer öffentlichen Verbreitung als auch durch verstärkte Bemühungen um den Ausbau des Schulsystems und den Anstieg der Alphabetisierungsquote auszeichnen (Schlieben-Lange 1983). Eine strukturell durchaus vergleichbare Situation findet sich in zahlreichen Gesellschaften und Kulturen der außereuropäischen Frankophonie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, vor allem im subsaharischen Afrika und der Karibik, wo die fortschreitende Alphabetisierung und die sukzessive Verbreitung von Schrift- und Buchkultur sich in erster Linie als Folge der Kolonisierung in einem beschleunigten Entwicklungsrhythmus vollzogen hat (Lüsebrink 1990; Chamoiseau 1991). 5.2 Semi-Orale Gattungen: Vom illustrierten Flugblatt zum Chanson Gattungen wie das illustrierte Flugblatt, das Chanson und das Theater sind, aufgrund ihrer Textstruktur und ihrer Rezeptionsformen, in zwei grundlegend verschiedenen Materialitäten der Kommunikation (Gumbrecht/ Pfeiffer 1988) verankert: zum einen im Medium der Schriftlichkeit, das mit der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts einen völlig neuen öffentlichen Verbreitungsgrad und eine radikal andere soziokulturelle Bedeutung erhielt (Eisenstein 1979); und zum anderen in mündlichen Rezeptionsformen, die vor allem in kulturellen Übergangsepochen (wie der Französischen Revolution) und -gesellschaften (wie den kolonialen und postkolonialen Gesellschaften Afrikas und der Karibik) mit der Integration mündlicher Textstrukturen einhergeht. Die enge Verknüpfung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in semioralen Gattungen ist somit, vor allem in kulturellen Übergangspochen, durch zwei durchaus gegenläufige Tendenzen gekennzeichnet: einerseits durch die Verwendung und zum Teil auch Idealisierung des Dialogs und anderer Formen mündlicher Kommunikation in literarischen und medialen Ausdrucksformen sowohl der Elitenwie auch der Volkskulturen, durch die ostentativ an Kommunikationsgewohnheiten und -stile des breiten (Lese-)Publikums angeknüpft werden soll; und andererseits durch die Ausbreitung der Schriftkultur auf alle Lebensbereiche und tendenziell auch auf alle sozialen Schichten. „Die Verbreitung der Schriftkultur“, so ein Fazit der Sprachwissenschaftlerin Schlieben- Lange, „kann nur unter Zuhilfenahme oraler Traditionen erfolgen und marginalisiert diese im gleichen Moment“ (Schlieben-Lange 1983, 63f.). Illustrierte Flugblätter stellten, neben religiösem Schrifttum und der Gattung der Volksalmanache, das erste Massenmedium der frühneuzeitlichen Gesell- 194 schaften dar. Flugblätter dienten im Europa der Frühen Neuzeit als ein kaum zu überschätzendes Medium der Information über wichtige Ereignisse, vor allem vor der Entstehung der ersten französischen Wochenzeitung im Jahre 1631, der Gazette (ab 1762 Gazette de France) von Théophraste Renaudot. Sie spielten vor allem in politischen Umbruch- und Krisensituationen eine herausragende Rolle und fanden massenhafte Verbreitung: zunächst im Kontext der Religionskriege (1556-89); dann im Zuge der ‚Fronde‘, der aristokratischen Aufstandsbewegung der Jahre 1648/ 49, in deren Kontext massenhaft ‚Mazarinades‘ genannte Flugblätter, die gegen den damaligen Regenten, den Kardinal Mazarin, gerichtet waren, publiziert wurden; während der Französischen Revolution (1789-99), in der in Frankreich insgesamt ca. 40.000 Flugschriften in der Öffentlichkeit erschienen; und schließlich im Kontext der politischen Revolten und Aufstandsbewegungen von 1848/ 49, 1894-1905 (Dreyfus-Affäre), 1940-44 (Résistance und Libération) und Mai 68, in denen politische Pamphlete zusammen mit Plakaten (Affiches) ein entscheidendes Medium der Mobilisierung darstellten. Slogans von Mai 68, die auf Demonstrationen wiederholt wurden und zu geflügelten Worten der alternativen Szene avancierten, wie „Sous les pavés la plage“, fanden in Flugblättern und auf politischen Plakaten weite öffentliche Verbreitung. Zugleich finden sich auf zahlreichen Flugblättern und Plakaten Formen der Visualisierung, in denen schriftliche und mündliche Kommunikationsformen durch veranschaulichende Bildillustrationen ergänzt wurden. Im Kontext der Französischen Revolution etwa dienten die Bildillustrationen auf Flugblättern - beispielsweise des Sturms auf die Bastille - dazu, auch dem nichtalphabetisierten Teil der Öffentlichkeit historische Ereignisse und ihre politische Bedeutung in eindringlicher Weise zu vermitteln, ein Vermittlungsprozess, der mit dem Vorlesen des Schrifttextes durch schriftkundige Betrachter und dem (Vor)Singen eines häufig gleichfalls auf dem Flugblatt abgedruckten Chansons einherging. Die Gattung des Chansons repräsentiert zweifelsohne seit dem Beginn der Frühen Neuzeit die in soziokultureller Hinsicht wichtigste semi-orale Gattung. Statt von einer Gattung ließe sich vielleicht zutreffender von einem Gattungsspektrum sprechen, dessen Einzelgattungen von unterschiedlichen Formen mündlicher Rezeption und Zirkulation geprägt sind. Narrativ strukturierte Liedgattungen wie die Ballade und die Complainte waren in erster Linie zum Vorsingen bestimmt. Die Complaintes stellten Bänkellieder dar, die im 17. und 18. Jahrhundert häufig im Kontext öffentlicher Hinrichtungen veröffentlicht, an die neugierig gaffende Menge verkauft und zugleich von Kolporteuren und Bänkelsängern mit Instrumentalbegleitung vorgetragen wurden. Die Bänkellieder beispielsweise, die während und im Anschluss an die Hinrichtung des berühmten Schmuggler- und Brigantenführers Louis Mandrin auf dem Marktplatz der südfranzösischen Stadt Valence am 24. Mai 1755 und in den nachfolgenden Wochen und Monaten verkauft wurden, erzählten in gereimter Form seinen Lebensweg. Sie bezogen durch die wiederholte Anrede des Publikums („Écoutez, jeunes et vieux“) sowie die Angabe der zu singenden Melodie (im allgemei- 195 nen „L’Air des pendus“) die mündliche Darbietung des Kolporteurs oder Liedsängers unmittelbar ein und verknüpften somit in direkter Weise den gedruckten und massenhaft verbreiteten (Schrift)Text mit seiner mündlichen Performanz. Dies trug entscheidend dazu bei, Mandrins Schicksal und seinen Ruf als volkstümlicher ‚Sozialbandit‘, der die reichen königlichen Steuerpächter beraubte und einen Teil seiner Beute an die Armen weiterverteilte, auch weit über die alphabetisierten Schichten der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts hinaus zu verbreiten. Der gesungene Liedtext, der ideologisch die herrschenden Rechts- und Moralvorstellungen wiedergab und mit biblischen Verweisen durchsetzt ist, belegt zugleich unterschwellig die Faszination des einfachen Volkes für den populären Schmuggler- und Brigantenführer: Or écoutez, jeunes et vieux, L’Histoire d’un homme fameux, Qui fait tant parler de sa vie, Et qui par sa grande industrie De Paysan devint un Monsieur. C’est ce qui lui porta malheur. Il naquit donc en Dauphiné, Mandrin qu’on a déjà roué, Pays si fertile en grands hommes. Avouons-le tant que nous sommes; Que tous les gens qui y sont nés Y voient bien plus loin que leur nez. [...] Or prions tous dévotement Dieu et ses Saints semblablement, Qu’ils nous préservent de mal faire, Tant que nous serons sur la terre. De peur de tomber en Enfer Avec Judas et Lucifer. Peuple Chrétien, qui m’écoutez; De cet exemple profitez, Ne faites plus la Contrebande, Pleurez vos fautes qui sont grandes, Et vous pourrez comme Mandrin Faire une glorieuse fin. 2 Das französische Chanson der Frühen Neuzeit und der Moderne, das aus der Tradition sowohl der populären Markt- und Gassenlieder als auch der Trouba- 2 Chanson sur la vie de Louis Mandrin; augmentée de sa Mort. Sur l’Air des pendus. Lyon, 5 juin 1755. Auch abgedruckt in: Histoires curieuses et véritables de Cartouche et de Mandrin. Textes présentés par Hans-Jürgen Lüsebrink. Paris, 1984, 263-268, hier 263, 268. 196 dourlieder des Mittelalters hervorgegangen ist, weist sehr unterschiedliche Formen der Verschriftlichung und des Bezugs von Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf. So finden sich gedruckte Chansons nicht nur als Separatdrucke - wie im Fall der zitierten Complainte über das Leben Louis Mandrins -, sondern auch in Liedsammlungen, Volksalmanachen, Zeitungen, Musenalmanachen (L’Almanach des Muses, 1764) und schließlich auf illustrierten Flugblättern, wo sie in Verbindung mit kurzen Erzähltexten und einer häufig die Hälfte des gedruckten Blatts einnehmenden Bildillustration abgedruckt wurden. Das Gros der Lieder, die in der populären, vor allem in Troyes und Rouen gedruckten und im Kolportagehandel verbreiteten Bibliothèque Bleue des 17., 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, waren religiöse Lieder, in erster Linie Cantiques, Weihnachtslieder (Noëls) und Pilgerlieder (Chansons des pèlerins de S. Jacques de Compostèle, 1718, vgl. Bollème 1975, 415). Daneben finden sich, wenn auch weniger zahlreich, gedruckte Trink- und Liebeslieder (Les petites gaudrioles ou nouveau chansonnier de la table et du lit, Paris o.J.) sowie Lieder aus Anlass großer politischer Ereignisse wie der französischen Siege im Spanischen Erbfolgekrieg (Chanson nouvelle sur les conquêtes par l’armée combinée de France et d’Espagne, o.J.). Das politische Lied erlebte durch die Revolutionen von 1789 und 1848, die Résistance und dann Mai 68 Phasen der Konjunktur und der intensiven soziokulturellen Verbreitung, die sich auch in einer Vielzahl schriftlicher und gedruckter Lieder und Liedsammlungen niederschlug. Zeittypische Beispiele für die politische Liedproduktion der Französischen Revolution sind etwa der Chansonnier de la Montagne (1793) und die Révolutions lyriques ou le triomphe de la Liberté Française, composée de diverses Ariettes et Vaudevilles (1790) (Keilhauer 1998, 409). Die Gesamtzahl der während der Französischen Revolution gedruckten oder in Manuskriptform vorliegenden Chansons beläuft sich auf etwa 3.000 (Pierre 1904). Die Marseillaise, 1792 im Kontext der Revolutionskriege entstanden und ursprünglich Chant du départ de l’armée du Rhin genannt, bereits während der Revolutionszeit in hunderttausenden von Exemplaren als Separatdruck, in patriotischen Liedsammlungen und in der Presse, sowohl der Tages- und Wochenpresse wie den Volksalmanachen, verbreitet, stellt zweifelsohne mit Abstand das bekannteste und massenwirksamste Chanson der modernen französischen Geschichte dar. Für seinen Erfolg, seine Wirkung und seine in mündlichen Kommunikationskanälen, aber vor allem auch durch das Medium der (gedruckten) Schriftlichkeit erfolgte Verbreitung waren neben der von Rouget de Lisle komponierten Melodie und dem eingängigen Refrain der militant-patriotische Inhalt der Marseillaise ausschlaggebend. Die erste, am häufigste gesungene Strophe der Marseillaise verweist geradezu programmatisch auf die Opposition von Identifikations- und Feindbildern, die dem gesamten, insgesamt siebenstrophigen Chanson zugrunde liegt: 197 Allons, enfants de la patrie, Le jour de gloire est arrivé: Contre nous la tyrannie L’étendard sanglant est levé! (bis) Entendez-vous dans les campagnes Mugir ces féroces soldats? Ils viennent jusque dans nos bras Égorger nos fils, nos compagnes. Refrain Aux armes citoyens, formez vos bataillons! Marchons! Marchons! Qu’un sang impur abreuve nos sillons! Die Marseillaise ist zunächst gekennzeichnet durch die Grundkomponenten der Gattung Chanson, nämlich die Form der gebundenen Sprache, d.h. die „Gliederung in Strophen mit mehr oder weniger regelmäßigem Wechsel von Couplet und Refrain“, eine starke Reimbindung und die „dienende Rolle der Melodie“. Ein weiteres Merkmal, die Vortragsweise „als Einzelvortrag mit Instrumentalbegleitung“ (Weinrich 1986, 163), kommt bei der Marseillaise nur in Ausnahmefällen zum Tragen, da es sich hier ursprünglich um ein militärisches Marschlied handelte, das eine kollektive Performanz- und Rezeptionssituation implizierte. Auf der Ebene der Pragmatik enthält der Text feste Sprecher- und Adressatenrollen: ein Kollektivsubjekt ‚Nous‘ richtet sich hier explizit an seine Mitbürger, die als ‚Français‘, ‚Enfants de la patrie‘ und ‚Citoyens‘ bezeichnet und durch eine Reihe performativer Sprechhandlungen (‚venger‘, ‚marcher‘, ‚suivre‘) zum Kampf gegen die Feinde des Vaterlandes aufgefordert werden. Auf der Ebene der Textsemantik, das heißt in thematischer Hinsicht, dominieren die in lexikalischen Variationen entworfenen identifikatorischen Selbstbilder (‚Nous‘, ‚nos fils‘, ‚nos compagnes‘, ‚guerriers magnanimes‘, ‚nos jeunes héros‘) sowie emphatisch hervorgehobene Identitätskonzepte (‚Liberté‘, ‚Amour sacré de la patrie‘). Ihnen werden äußerst negativ besetzte und zudem im Diskurs der Französischen Revolution politisch ‚aufgeladene‘ Feindbilder entgegengesetzt. Diese enthalten emotional besetzte und in vielfacher Form auch in der zeitgenössischen Bildpublizistik verbreitete Schlüsselbegriffe der politischen Sprache der Spätaufklärung und der Französischen Revolution: ‚tyrans‘, ‚hordes d’esclaves‘, ‚cohortes étrangères‘, ‚tigres‘, ‚patricides‘, ‚rois conjurés‘, ‚despotes‘ und ‚phalanges mercenaires‘. Der militant-patriotische Sinngehalt der Marseillaise entwickelte sich somit vor allem durch die Semantik des Liedtextes, den emphatischen Refrain und die kollektive Rezeptionssituation des gemeinsamen Singens, insbesondere anlässlich des Nationalfests des 14. Juli, in Kriegszeiten und bei militärischen Aufmärschen. Die in den Jahren 1792 bis 1815 und dann erneut seit 1879 (mit der 198 Unterbrechung des Vichy-Régimes 1940-44) zur französischen Nationalhymne erhobene Marseillaise rief seit der Französischen Revolution eine kaum zu übersehende Zahl von satirischen Imitationen und Parodien hervor, allein während der Revolutionsjahre nicht weniger als 250 (Hudde 1988, 75; Vovelle 1984). Die im zeitgenössischen Frankreich wohl bekannteste Parodie der Marseillaise stammt von dem Chansonnier Serge Gainsbourg (1929-1991) und erregte aufgrund ihres provokativen Kommunikationsstils und ihres - vorgeblich - antipatriotischen Inhalts breites Aufsehen. Zwar behielt Gainsbourg die erste Strophe der Marseillaise im Wortlaut bei, übernahm wortwörtlich Teile des Liedtextes von 1792 und blieb somit dem Original in wichtigen Strukturmerkmalen der Pragmatik und Semantik des Textes treu. Seinem Liedtext liegt eine Art inhaltliches ‚Kondensat‘ des Ursprungstextes zugrunde, das aus dem oben zitierten Text der ersten Strophe sowie den ersten vier Zeilen der vorletzten (7.) und letzten (8.) Strophe 3 der Nationalhymne besteht. Zugleich modifizierte er jedoch zwei Elemente, die den Sinngehalt des Textes entscheidend veränderten und auch die Pragmatik des Textes betrafen: zum einen reduzierte er den mitreißenden und zudem zentrale Bedeutungselemente des Textes enthaltenden Refrain, der - im Gegensatz zum Original - in Gainsbourgs Version von einem Frauenchor gesungen wurde, auf die lapidare Zeile „Aux armes et caetera“, deren Schluss von einem patriotischen Zuhörer (und ggf. Mitsänger) als deutliche Provokation und offene Verhöhnung staatlicher Autorität empfunden werde musste; außerdem veränderte er grundlegend Rhythmus und Melodie des Liedes, indem er an die Stelle der von Rouget de Lisle komponierten Marschmelodie einen aus der Karibik importierten Reggae-Rhythmus setzte, der beim Zuhörer völlig andere, der Vorstellungswelt von militantem Patriotismus und Vaterlandsverteidigung geradezu diametral entgegengesetzte Assoziationen hervorrufen musste (Exotismus, alternative Lebensmodelle, afroamerikanische Kulturen). Gainsbourgs Chanson „Aux Armes et caetera“ aus dem Jahre 1979, das sich auch als Revolte gegen eine als allzu patriotisch und in ihrem Inhalt geradezu ‚blutrünstig‘ empfundene Nationalhymne verstand, erscheint repräsentativ für die sängerzentrierte Chansontradition des 19. und 20. Jahrhunderts, die an die Stelle der weitgehend anonymen Chansons und Chansonniers der Frühen Neuzeit trat. Die Namen Pierre-Jean de Béranger (1780-1857), Charles Trenet (1913-2001), Jean Ferrat (geb. 1930), Jacques Brel (1929-78), Edith Piaf (1915-63), Boris Vian (1920-59), Georges Brassens (1921-81) und Maxime Le Forestier (geb. 1949) markieren Meilensteine der französischen Chansonentwicklung in der Moderne. Sie haben in der außereuropäischen Frankophonie ihre Entsprechung in Sängern und Komponisten wie Zachary Richard aus Louisiana (geb. 1948), Luc de la Rochelière (geb. 1965), Félix Leclerc (1914-1988), Ri- 3 Amour sacré de la patrie/ Conduis, soutiens nos bras vengeurs/ Liberté, liberté chérie/ Combats avec te défenseurs/ Aux armes et caetera/ Nous entrerons dans la carrière/ Quand nos aînés n’y serons plus/ Nous y trouverons leur poussière/ Et la trace de leurs vertus/ Aux armes et caetera.“ (Transkription H.-J. L.). 199 chard Desjardins (geb. 1948) und Gilles Vigneault (geb. 1928) aus der frankokanadischen Provinz Québec oder auch den weit über ihre Heimatländer hinaus populären Sängern Black So Man aus Burkina Faso und Youssou N’Dour aus dem Senegal, die neben französischen auch englisch- und afrikanischsprachige Liedtexte verwenden. Charakteristisch für das zeitgenössische Chanson weiter Teile der außereuropäischen Frankophonie, vor allem in Afrika, der Karibik und im Indischen Ozean, erscheint das Vordringen von Chansons in einheimischen Nationalsprachen, die die Kluft zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit vertiefen und neue Trennlinien zwischen französischsprachigen Schriftmedien (Presse, Literatur) und überwiegend nationalsprachigen semi-oralen Medien (Chanson, Theater, Teile der Film- und Fernsehproduktion) gezogen haben (Lüsebrink 2004). Sänger wie Danyèl Warò (in seiner kreolfranzösischen CD Bwarouz) von der Insel Réunion im Indischen Ozean - ein französisches Überseedépartement - oder Black So Man aus Burkina Faso (in seiner MC Tout le monde et personne) legen ihren großenteils sehr politisch geprägten Liedern nicht nur Rhythmen der eigenen kulturellen Lebenswelt - im Fall Waròs die Melodien des Maloya-Gesangs auf La Réunion -, sondern auch kreolsprachige oder mit afrikanischen Wörtern und Konnotationsfeldern durchsetzte Texte zugrunde, die sich ohne vertieftes kulturelles Wissen nur einheimischen Zuhörern erschließen. Die schriftliche Dimension des semi-oralen Mediums und ihre Verbreitung treten hier, wie allgemein beim zeitgenössischen französischsprachigen Chanson, zurück. Schriftliche und publizierte Texte der Chansons finden sich, wenn auch bei weitem nicht durchgängig, auf den Platten- und CD-Covern, daneben auch in spezialisierten Zeitschriften und Publikationen wie Schulbüchern und Anthologien (Rieger 1987; Chamberland/ Gaulin 1994) und in Ausnahmefällen wie bei Gilles Vigneault, Félix Leclerc (beide Québec) und Boris Vian (Frankreich) auch in Gestalt separater Buchpublikationen der Chansontexte. Da Chansons im gegenwärtigen Französischunterricht, in Frankreich ebenso wie im Ausland, gedruckte Lyrik tendenziell ersetzt haben und häufig als die eigentliche und soziokulturell mit Abstand wichtigere Form moderner Lyrik angesehen werden, kommt ihrer Publikation in Anthologie- und Schulbuchform eine wachsende Bedeutung zu. Hybride Mischformen von Lyrik und Chanson existieren sowohl in Frankreich wie in der außereuropäischen Frankophonie: so bilden Gedichte von Louis Aragon einen wichtigen Bestandteil der Chansons von Jean Ferrat (Ferrat chante Aragon, 1974); und zahlreiche Gedichte des senegalesischen Schiftstellers Léopold Sédar Senghor, wie die meisten Gedichte der Zyklen Hosties Noires, Ethiopiques und Nocturnes, enthalten präzise Angaben zur Musikbegleitung (‚Au son du Balafon‘, ‚Au son de la Cora‘, ‚pour flûtes et balafon‘, ‚pour orchestre de jazz‘, ‚pour khalam‘, ‚pour trois tabalas et tams-tams de guerre‘) und sind unmittelbar auch zum Vorsingen bestimmt (Senghor 1964). Das französischsprachige Chanson hat vor allem in Frankreich und in Québec eine wichtige identitätsstiftende Funktion. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Gesellschaften, in denen die angloamerikanische Musikkultur deut- 200 lich dominiert, nehmen französischsprachige Chansons in Frankreich fast zwei Drittel des CD-Absatzes ein. Ihr Marktanteil ist zwischen 1995 und 2001 sogar von 51% auf 62% angestiegen (Mermet 2002, 437). Dies ist ebenso auf staatliche Förderungsmaßnahmen und Quotenregelungen 4 zurückzuführen - die gleichwohl eine gewisse, auch ökonomische Wirkung gezeitigt haben - wie auf mentale Erwartungshaltungen des Publikums und die Kreativität der frankophonen Chansonniers und Musikgruppen. Letztere belegt beispielsweise das Phänomen der frankophonen Rap-Musik, die in den 1980er Jahren in den Vorstädten US-amerikanischer Metropolen entstand und seit Beginn der 1990er Jahre in Frankreich, durch Musikgruppen wie MC Solaar und Massilia Sound System, übernommen, aber zugleich interkulturell adaptiert wurde. Die französischen Rap-Formationen verwenden zwar ähnliche Rhythmen wie ihre USamerikanischen Vorgänger, verbinden diese jedoch mit französischsprachigen Texten, die sehr viel politischer sind und häufig unmittelbar an Traditionen des politischen Diskurses in Frankreich seit der Französischen Revolution anknüpfen. Selbst die Symbolfigur der Französischen Republik, die Marianne, wird auf Rap-Liedern evoziert, um die eklatanten Widersprüche zwischen der republikanischen Ideologie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und der sozialen Wirklichkeit des zeitgenössischen Frankreich hervorzuheben. Marianne solle, so die Rap-Sänger Stomy Bugsy und Hamed Daye in einem Lied aus dem Jahre 1998, „den Vorstadtkindern nichts vormachen“ und „weder das gelobte Land versprechen noch die Hauptstadt schöner färben und den Eiffelturm höher reden, als sie dies in Wirklichkeit sind“: Marianne! Où c’est qu’j’dépose toutes mes valises? Marianne! Tu m’avais dit qu’c’était la terre promise/ Putain de merde, c’est ça Paris? On m’a bluffé, même la Tour Eiffel n’est pas aussi grande qu’on me l’avait dit. 5 Als „schlagender Beweis für die Aufnahme, Aneignung und Abwandlung globaler Rhythmen“, stellen viele französische Rap-Lieder mit ihrem „textlastigmitteilungsfreudigen Stil“ (Hüser 2004, 414) Formen der Intervention und Revendication in einer gewandelten politischen Kultur dar, an den Schnittstellen von Jugendkultur, Popular-Musik und politischem Protest. 4 Laut Gesetz vom 1.2.1994 müssen 40% der im werbefinanzierten Hörfunk gespielten Titel französischsprachig sein. 5 Stomy Bugsy/ Hamed Daye: „J’avance pour ma familia.“ In: Quelques balles de plus pour le calibre qu’il, te faut. Album Columbia/ Sony, 1998. Zit. nach Hüser 2004, 262. 201 5.3 Theater und Theatralität Die Analyse des Mediums Theater in kulturwissenschaftlicher Perspektive, als semi-orale Gattung, unterscheidet sich grundlegend von einer literaturwissenschaftlichen Herangehensweise (die hierzu jedoch durchaus komplementär ist): sie richtet den Blick nicht auf den schriftlichen Dramentext, seine Handlungsstrukturen und Figurenkonfigurationen (vgl. hierzu z.B. Pfister 1975), sondern auf seine szenische Darstellung bzw. Performanz. Theater als semi-orales Medium zählt zu einem breiten Spektrum von Formen der Theatralität: diese reichen von religiösen Ritualen über unterschiedliche kollektive Festformen (wie Nationalfeste) bis zu ritualisierten Inszenierungsformen fremder Kulturen wie den Völkerausstellungen (Fischer-Lichte 1999, 2001a) und zur öffentlichen Darstellung politischer Macht (wie etwa den Entrées royales des Ancien Régime oder der Medieninszenierung der heutigen G8-Gipfel). In allen Formen der Theatralität wird der Körper des Menschen als Zeichen für eine Rollenfigur eingesetzt: Wird der Körper nicht allein als Zeichen interpretiert, sondern vor anderen seinerseits als Zeichen präsentiert, vollzieht sich ein theatralischer Prozess. Denn dies heißt nichts anderes, als dass A X verkörpert, während S zuschaut. Wo der menschliche Körper und die Objekte seiner Umwelt in ihrer materiellen Gegebenheit als Zeichen eingesetzt werden, hat also Theater sich konstituiert. (Fischer- Lichte 1988, I, 195) Theater, griechisch ‚Theatrikón‘, bedeutet ‚Schauplatz‘; „Drama“ bedeutet im Griechischen ‚Handlung‘, ‚Fabel‘, ‚erzählte Aktion‘. Theater als semi-orales Medium, dem - häufig - ein schriftlicher und gedruckter Dramentext zugrunde liegt, kann also in einem Zugriff durch folgende grundlegende Elemente definiert werden: - erstens seine Handlungsbezogenheit: Theater vermittelt Handlung in erster Linie in szenisch dargestellter, dialogischer Form; - zweitens die Öffentlichkeit von Theaterinszenierung und Dramenrezeption: Theater vollzieht sich - anders als der individuelle Leseakt - ähnlich wie das Vorlesen oder Vorsingen im öffentlichen Raum, in Präsenz eines Zuschauers bzw. eines Publikums. Das kulturelle System des Theaters setzt [...] zwei Konstituenten voraus, auf deren keines es verzichten kann, wenn es denn Theater sein will: den Schauspieler und den Zuschauer. Diese zwei Konstituenten enthalten implizit eine dritte. Denn der Schauspieler ist nur insofern Schauspieler und nicht einfach die Person A, B oder C, als er einen anderen als sich selbst, nämlich den X, Y oder Z darstellt, als er eine Rolle spielt. (Fischer-Lichte 1988, I, 16) - drittens die Plurimedialität der Drameninszenierung, in der neben der Mündlichkeit (dem gesprochenen Dramentext) eine Vielzahl außersprachlicher Codes 202 eine Rolle spielen, wie Gestik, Dekor, Bühnendisposition, Licht, Kostüme, Musik und im zeitgenössischen Theater auch Fotografien, multimediale Arrangements und Filmprojektionen. Versteht man unter einem Code ein „Regelsystem zur Hervorbringung und Interpretation von Zeichen bzw. Zeichenzusammenhängen“ (Fischer-Lichte 1988, I, 10), so lassen sich für den Theatercode als kulturelles System folgende vier Zeichentypen unterscheiden: 1) die Zeichenhaftigkeit der Tätigkeit des Schauspielers: hierzu zählen sprachliche Zeichen (verbale laute und Schriftzeichen), paralinguistische Zeichen (Intonation, Stimmqualität, Betonung, Melodie) und kinesische Zeichen (Bewegungszeichen), die in mimische Zeichen (Körper- und Gesichtsbewegungen), gestische Zeichen (Körperbewegungen ohne Positionswechsel) und proxemische Zeichen (Bewegungen im Raum) unterteilt werden; 2) die Zeichenhaftigkeit des Schauspielers als Rollenfigur: hierzu zählen Zeichen, die die äußere Erscheinung des Schauspielers bestimmen, das heißt ‚Maske‘ (Gesicht), Frisur und Kostüm. ‚Die Identität einer Rollenfigur‘, die nur in Ausnahmefällen präzise vom Dramenautor in den Didaskalien (Anweisungen der Theaterautoren oder Dramatiker zur Aufführung ihrer Werke) festgelegt wird, „wird also stets als Produkt eines Zeichenprozesses entfaltet.“ (Fischer-Lichte 1988, I, 131); 3) die Zeichenhaftigkeit des Raumes: hierzu zählen die Bühnendisposition im Verhältnis zum Zuschauerraum, die Bühnendekoration (Dekorelemente für Ort, Zeit und Handlungssituation, Stimmungen sowie Symbole), die Requisiten (Bühnenelemente, mit denen der Körper des Schauspielers in Berührung kommt, die er manipuliert, anfasst, berührt, ablegt) sowie das Licht. Ebenso wie die anderen Raumelemente stellt Licht (im Gegensatz zur technischen Apparatur der Beleuchtung) auf dem Theater ein Zeichen dar, das mit unterschiedlicher Bedeutung ausgestattet werden kann. „In seiner Eigenschaft als Zeichen sowohl in einer Kultur als auch auf dem Theater funktioniert das Licht aufgrund der Einheiten von (1) Intensität, (2) Farbe, (3) Verteilung und (4) Bewegung. Ändert sich einer dieser Faktoren, kann sich auch die Bedeutung des Lichtes ändern: so mag intensives gelbes Licht auf der Bühne mittäglichen Sonnenschein, abgeschwächtes Licht nachmittäglichen Sonnenschein, abgeschwächtes bläuliches Licht Mondschein bedeuten; über den ganzen Raum verteiltes Licht kann einen freien Platz, in Strahlen einfallendes Licht einen Wald anzeigen, von links kommendes Licht mag auf den Morgen, sein Weiterwandern zur Hinterbühne und von da nach rechts auf den Tagesablauf über Mittag zum Abend verweisen.“ (Fischer- Lichte 1988, I, 156f.); 4) die nonverbalen akustischen Zeichen: diese umfassen Musik (ästhetisch durchformte, intentionale Tonfolgen) und Geräusche (ästhetisch nicht durchformte Tonfolgen, die Handlungen, Situationen sowie räumliche Verhältnisse anzeigen, wie Schritte, Motorengeräusch, Gewittergrollen). 203 Die Analyse des Theaters als kulturelles System mit spezifischen, kodierten Zeichenformen, die der Erzeugung von Bedeutung dienen, impliziert zum einen, dass kein Element der Inszenierung vernachlässigt werden kann, sondern jedes Dekorelement, jedes Geräusch, jede Bewegung und jeder Lichteffekt, ebenso wie der gesprochene Text, prinzipiell Bedeutungsträger darstellen. Die Performanz eines Theaterstücks ist als kodierter Text zu lesen, dessen Zeichen nicht ‚Zeichen an sich‘, sondern ‚Zeichen von Zeichen‘ darstellen: die Mimik eines Schauspielers verweist nicht auf den Charakter des Schauspielers oder seine persönliche Gemütslage, sondern auf den Charakter oder die Gemütslage der Figur, die er vor einem Publikum verkörpert. Zum anderen sind theatralische Zeichen durch ihre Mobilität gekennzeichnet. So können die geschriebenen Worte des Dramentextes durch auf der Bühne gesprochene Worte repräsentiert werden, wo sie durch paralinguistische Elemente notwendigerweise eine andere, zusätzliche Bedeutungsdimension erhalten. Gesprochene Worte wiederum lassen sich prinzipiell durch Gesten (besonders ausgeprägt in der Theatergattung der Pantomime), Gesten durch Musik, Musik durch Dekorelemente und Dekorelemente wiederum durch sprachliche Elemente (z.B. die sprachliche Beschreibung des Bühnenraumes) ersetzen. Der Raum ‚exotische Insel‘ zum Beispiel, in dem eine Handlung angesiedelt werden soll, lässt sich durch Südseemusik, durch eine Palme, durch exotische Tänze, durch Lendenschurz und blumengeschmückte Frisuren der Schauspieler oder auch durch Sätze wie „Ici, sur l’île de la Martinique, beauté des Antilles“ semantisch erzeugen. Ein anderes Beispiel (Fischer-Lichte 1988, I, 182): Regen kann entweder durch Geräusche, Beleuchtung, Kostüme, Requisiten, Gestik oder Worte („cette pluie épouvantable“) erzeugt werden: durch den Regenmantel ebenso wie durch die Geste, mit der man sich einen Mantel über den Kopf zieht, um sich vor Regen zu schützen; durch die schützend über den Kopf gehaltene Hand ebenso wie durch das Requisit des Regenschirms; durch Geräusche wie Donnergrollen oder das akustisch erzeugte Trommeln von Regentropfen gegen das Fenster in gleicher Weise wie durch den Satz „Il pleut“. Dieses Phänomen der Zeichenmobilität unterscheidet das Theater von allen anderen ästhetischen Systemen, die im allgemeinen auf eine relativ homogene Zeichenmaterialität festgelegt sind (Schriftzeichen, bewegte Bilder, unbewegte Bildzeichen, Töne, Bild-/ Text- Kombinationen etc.): Auf dem Theater hingegen kann ich anstelle eines Zeichens jedes beliebige andere verwenden: hier vermag jedes Objekt jedes andere bedeuten und ist daher in seiner Funktion als ein theatralisches Zeichen durch jedes beliebig andere zu ersetzen. […] Mit der Mobilität des theatralischen Zeichens ist zugleich seine Polyfunktionalität angesprochen. Denn das theatralische Zeichen kann nur insofern andere theatralische Zeichen ersetzen, als es unterschiedliche Zeichenfunktionen zu übernehmen imstande ist [...]. Jedes theatralische Zeichen vermag dergestalt viele Funktionen zu erfüllen und entsprechend die unterschiedlichsten Bedeutungen zu erzeugen. (Fischer-Lichte 1988, I, 183) 204 Theatralische Zeichen sind somit polyfunktional und als solche überkodiert, d.h. sie können Verschiedenes bedeuten und unterschiedliche Funktionen erfüllen: ein Stuhl in einem Bühnenraum ist häufig nicht nur ein Stuhl, auf dem eine Person Platz nimmt, sondern kann auch ein Requisit mit ganz unterschiedlichen Funktionen darstellen, das proxemische Zeichen hervorruft (d.h. die Schauspieler zu bestimmten Bewegungen im Bühnenraum veranlasst bzw. zwingt), den Zuschauer einbezieht, Handlungsabläufe vorzeichnet (ein leerer Stuhl in der Bühnenmitte) oder auch völlig umfunktioniert werden kann und nicht mehr einen Stuhl ‚bedeutet‘, sondern etwa eine Treppe, einen Regenschirm oder eine Sänfte. Der Theatercode besteht also aus heterogenen Zeichenmaterialitäten, die sich aus unterschiedlichen Zeichensystemen konstituieren und in den verschiedenen Formen und Epochen des Theaters in sehr variabler Weise eingesetzt worden sind. So existieren Theaterstücke ohne Musik, ohne Dekor, mit wenig Gesten und Bewegung und kaum Mimik, wie zum Beispiel Samuel Becketts En attendant Godot (1952), ein Klassiker des modernen Avantgarde-Theaters in Frankreich. Und es gibt Theatergattungen wie die Gattung der Pantomime, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts ihre Blütezeit und dann erneut in den 1950er Jahren mit Mimen wie Marcel Marceau (geb. 1923) eine Renaissance erlebte, in denen das gesprochene Wort völlig fehlt, Bühnendekoration und Requisiten häufig auf ein Minimum reduziert sind und in denen auch keine Musik oder Geräusche erzeugt, sondern nur Bewegungen vollzogen werden, d.h. in denen nahezu ausschließlich kinesische Zeichen verwendet werden. Betrachtet man die Entwicklung des französischen Theaters nicht unter dem Blickwinkel der Literaturgeschichte, sondern der Geschichte von Theater als semi-orales und plurimediales Genre, so lassen sich mehrere Entwicklungsperioden herausarbeiten, in denen das französische und frankophone Theater eine Pionierrolle im internationalen Kontext einnahm. Das französische Theater des 17., 18. und 19. Jahrhunderts war - ähnlich wie in anderen europäischen Kulturen - durch eine dezidierte Valorisierung des schriftlichen und gedruckten Theatertextes gekennzeichnet. Die französische Klassik, die vor allem durch die großen Theaterautoren Molière, Racine und Corneille verkörpert wurde, ließ die Inszenierung in den Hintergrund treten, die auch im wissenschaftlichen Bereich relativ wenig Berücksichtigung fand. Mit Autoren wie Alfred Jarry (Ubu Roi, 1896), Guillaume Apollinaire (Les Mamelles de Tirésias, 1917) und Antonin Artaud (Le théâtre et son double, 1938) trat eine radikale Neuaufwertung der Performanz ein, die zum Teil durch außereuropäische Einflüsse, wie das balinesische, indochinesische und afrikanische Theater, die auf den Weltausstellungen der Jahrhundertwende zu waren und die europäischen Avantgarden vor allem in Frankreich nachhaltig beeindruckten, geprägt wurde. Artauds programmatisches Werk stellte ein Plädoyer für ein Theater dar, das sich von dem traditionell engen Bezug auf den Schrifttext lösen sollte. Er forderte dazu auf, alle Möglichkeiten der Performanz zu erproben, sprachlicher Improvisation und schauspielerischer Spontaneität einen völlig neuen und zentralen Stellenwert zu geben und 205 die nicht auf den Schrifttext bezogenen, vom herkömmlichen Theater weitgehend vernachlässigten Dimensionen des Theaters auszuloten: Et ce que le théâtre peut arracher à la parole, ce sont ses possibilités d’expansion hors des mots, de développement dans l’espace, d’action dissociatrice et vibratoire sur la sensibilité. C’est ici qu’interviennent les intonations, la prononciation particulière d’un mot. C’est ici qu’intervient, en dehors du langage auditif des sons, le langage visuel des objets, des mouvements, des attitudes, des gestes, mais à condition qu’on prolonge leur sens, leur physionomie, leurs assemblages jusqu’aux signes, en faisant de ces signes une manière d’alphabet. Ayant pris conscience de ce langage dans l’espace, langage de sons, de cris, de lumières, d’onomatopées, le théâtre se doit de l’organiser en faisant avec les personnages et les objets de véritables hiéroglyphes, et en se servant de leur symbolisme et de leurs correspondances par rapport à tous les organes et sur tous les plans. (Artaud 1938/ 1964, 136) Ähnlich wie im Bereich des Chansons brachte die Moderne auch beim Theater zahlreiche hybride Mischformen und Verwendungsweisen hervor. So wurden in den ersten Jahren nach der Entstehung des Kinos in Montréal während der durch das Wechseln der Filmrollen entstandenen Unterbrechungen kurze Theaterstücke gespielt, häufig auch mit tagespolitischen Anspielungen, die weitgehend improvisiert waren und nicht gedruckt wurden. Das Werk des frankokanadischen Sängers und Kabarettisten Yvon Deschamps (geb. 1935) ist ein Beispiel für die ‚Re-Oralisierung‘ der dramatischen (Sub-)Gattung ‚theatralischer Monolog‘ und seine Verankerung in der Alltagssprache. Deschamps brachte mit Texten wie Les Unions qu’ossa donne? und L’Histoire du Canada nicht nur - zusammen mit anderen Theaterautoren wie Michel Tremblay - das Joual, d.h. das gesprochene Französisch der sozialen Unterschichten Montréals, auf die Bühne, sondern vermittelte in seinen Monologen auch eine quebécer Sicht der eigenen Geschichte und Lebenswirklichkeit. Erst im nachhinein in schriftlicher Form veröffentlicht - nach den Ende der 1960er Jahre sehr erfolgreichen Bühnenauftritten Deschamps‘ (allein 310 im Jahre 1969) und den Rekordabsätzen seiner Schallplatten -, zielten seine Monologues darauf ab, mit ästhetischen Tabus und sprachlichen Konventionen zu brechen. Es ging darum, ein „spectacle de sacrilèges, et de profonations“ (Millière 1977, 90; Metz- Baumgartner 1997, 34) zu präsentieren, dessen politisch subversiver und antiklerikaler Sprachgestus einen völlig neuen Stil auf die Québecer Theaterbühne brachte. Ähnliches ließe sich auch für die Theatertruppe Grand Magic Circus von Jérôme Savary in Frankreich sagen, der seit Ende der 1960er in Theateraufführungen wie De Moïse à Mao ou 5000 ans d’aventures et d‘amour (1973), Cendrillon ou la lutte des classes (1970) oder Les Derniers Jours de solitude de Robinson Crusoë (1972) kollektive (Geschichts-)Mythen und Identifikationsfiguren ästhetisch wirkungs- und lustvoll in Szene setzte und zugleich durch provokative Stil- und Gattungsmischungen (Zirkus, Rockkonzert, Commedia 206 dell’Arte, Comics, Volkstheater etc.), sprachliche Improvisation sowie die dezidierte Loslösung von einer festen Schriftvorlage eine neue und hybride Theaterform schuf. 5.4 Die Wiederkehr von Körperlichkeit und Performanz Artauds Schrift, das wichtigste Manifest des modernen Theaters, gab einer Entwicklung einen theoretischen Reflexionsrahmen, die bereits um die Jahrhundertwende eingesetzt hatte und in der Folge zum wichtigsten Charakteristikum der Theaterentwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancieren sollte, nämlich die ‚Rückkehr des Performativen‘ (performative turn) (Fischer- Lichte 2001b). Die Funktion des Dramentextes als Lektürestoff und ‚Prä-Text‘, der vom Regisseur ‚in Szene gesetzt wird‘, trat zumindest in Formen des Avantgarde-Theaters gegenüber der Inszenierung selbst deutlich zurück. Der auf der Bühne gesprochene Text löste sich zunehmend von schriftlichen Vorlagen und ist von einer Aufführung zur anderen häufig starken Variationen unterworfen, etwa bei Theatertruppen wie dem Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine in Paris. Theaterregisseure wie Ariane Mnouchkine oder Jérôme Savary, der Leiter der im Juni 1968 gegründeten Theatertruppe Grand Magic Circus, verzichteten in zahlreichen ihrer Theaterinszenierungen völlig auf feste schriftliche Vorlagen, sondern verwendeten Handlungsskizzen und Inszenierungsschemata, die während der Proben und im Laufe der Aufführungen in einem kollektiven Schaffensprozess sukzessive verändert und mit Sprechtexten unterlegt bzw. verknüpft wurden (Travail théâtral 1976). „Von mir gibt es keine Bücher“, so der frankokanadische Theaterregisseur Robert Lepage. „Ich denke, ein Dramatiker gehört nicht an den Schreibtisch, sondern auch ins Theater. [...]. Die Trennung des Autors von der Bühne, von den Schauspielern und dem Publikum, die beide seine Koautoren sind, ist ein Dilemma des gegenwärtigen Theaters in Europa und Amerika.“ 6 Wie in zahlreichen anderen experimentellen Theatern der Gegenwart ist hier der linguistische Code gegenüber den anderen Komponenten des Theatercodes von seiner traditionell privilegierten Stellung verdrängt worden, zum Teil auch durch den Rückgriff auf vormoderne Theaterformen wie die Commedia dell‘ Arte (u.a. beim Théâtre du Soleil und beim Grand Magic Circus, vgl. Neuschäfer 1982) sowie auf andere Formen von Theatralität, wie Zirkus, Music- Hall, Kabarett, Politsatire, Talk-Show und Rockkonzert. Die Theaterwissenschaftlerin E. Fischer-Lichte hat diese ‚performative Wende‘ im Bereich des Theaters, aber auch anderer Mediengattungen, wie folgt charakterisiert: Die europäische Kultur hat im 20. Jahrhundert den Übergang von einer dominant textuellen zu einer überwiegend performativen Kultur vollzogen. Zwar verlief 6 Zit. in: „Robert Lepage. ‚Zulu Time‘.“ In: Züricher Theater Spektakel, 19.6.-5.9.1999, 1/ 2-2/ 2. 207 dieser Prozess parallel zur Entwicklung und Ausbreitung der neuen Medien und wurde ganz sicher durch sie ausgelöst. Gleichwohl hat er sich am Modell des Theaters orientiert, d.h. er wurde im Wesentlichen durch eine weitgehende Theatralisierung nahezu aller kulturellen Bereiche vollzogen. [...] Der performative turn, der in der europäischen Kultur um die Jahrhundertwende einsetzte, führte also nicht zu einer Retheatralisierung des Theaters, sondern auch zu einer umfassenden Theatralisierung des öffentlichen Lebens nach dem Ersten Weltkrieg. [...] Das Theater [...] hat die ihm eigene Performativität, die es als Aufführungskunst konstituiert, noch erheblich intensiviert. So stellt es den Körper des Schauspielers ins Zentrum und weist der Sprache völlig neue Funktionen zu. Die Übergänge zwischen dem Theater und den anderen Künsten werden immer fließender. (Fischer-Lichte 2000, 3, 20) Die Wiederentdeckung des Theaters als eines semi-oralen und multimedialen Mediums, in dem nicht die schriftliche Vorlage und seine ‚Inszenierung‘, sondern die hiervon abgelöste Performanz im Zentrum steht, lenkt zugleich den Blick auf weitgehend verdeckte und verschüttete Traditionen der Kultur- und Theatergeschichte. Die Analyse der Aufführungen von Voltaires Theaterstück Brutus während der Französischen Revolution, vor allem in den Jahren 1791- 1794, zeigt beispielsweise, dass hier zwar ein schriftlicher (und gedruckter) Text in Szene gesetzt wurde, die Aufführungen selbst jedoch häufig durch eine intensive Interaktion zwischen Publikum und Schauspielern gekennzeichnet waren. Voltaires Tragödie über das Schicksal des römischen Politikers Lucius Junius Brutus, der sich erfolgreich der Tyrannei des Tarquinius widersetzte und hiermit den Triumph der Republik durchsetzte, stellte im Kontext der Französischen Revolution ein eminent politisches Stück dar, das die Öffentlichkeit polarisierte und dazu diente, politische Positionen öffentlich und unter Rückgriff auf eine antike Identifikationsfigur zu legitimieren. Obwohl Voltaires Text von den Schauspielern in traditioneller Weise deklamiert wurde und die Inszenierungen auch der Revolutionszeit mit antikisierenden Dekors und Kostümen wenig Originalität aufwiesen, zeichneten sich die Aufführungen in Paris, aber auch in der Provinz vor allem in den Jahren 1790 und 1791 durch eine völlig neue Verbindung von Schriftlichkeit und mündlicher Interaktion zwischen Publikum und Schauspielern aus. Zentrale Verse des Stückes etwa, die tagespolitische Anspielungen enthielten, wurden von Schauspielern auf Verlangen des Publikums zum Teil mehrfach wiederholt. Einzelne Zuschauer warfen in den Pausen Handzettel mit politischen und auf das Stück bezogenen Aussagen auf die Bühne und forderten die Schauspieler auf, diese vorzulesen. Und bei vielen Aufführungen wurden zu Beginn, in den Pausen und am Ende politische Lieder des neuen Repertoires der Französischen Revolution gesungen, vor allem die Marseillaise, aber auch La Carmagnole und Ça ira. „Les allusions, les applications aux circonstances de la France, qui se trouvent en grand nombre dans la tragédie de Brutus,“ vermerkte eine zeitgenössische Aufführungskritik hierzu, „ont toutes été saisies, applaudies par un des partis, et sifflées par l’autre; mais tout le 208 monde s’est tellement réuni pour applaudir à un passage, à crier ‚vive la Nation, vive le Roi‘, qu’on croyait que la salle allait crouler …“ 7 Das Theaterstück Zulu Time (2000) des frankokanadischen Theater- und Filmregisseurs Robert Lepage gehört zweifellos zu jenen zeitgenössischen Theaterproduktionen des frankophonen Raums, die den performative turn am konsequentesten umgesetzt haben und verkörpern. Auf keiner schriftlichen Vorlage basierend, von seiner ursprünglichen Länge von über drei Stunden im Laufe der Aufführungen auf knapp zwei Stunden reduziert, stellt Lepages Stück in seiner 2003er Fassung in 24 Szenen, die von alphabetisch geordneten Zentralbegriffen (von ‚Alpha‘ bis ‚Zulu‘) ausgehen, die Lebenswirklichkeit einer von Mobilität und zeitlicher Beschleunigung geprägten zeitgenössischen Welt dar. Die symbolischen öffentlichen Orte der Zeitlosigkeit (Zulu Time), der Flughafen und das Flugzeug, die mit Vereinsamung und verflachten, internationalisierten Kommunikationsformen einhergehen, kontrastieren mit einem Bedürfnis nach Liebe, Intimität und menschlicher Nähe, die in Szenen inszenierter Privatheit dargestellt werden. Der zwischen den verschiedenen Aufführungen und Entwicklungsstadien des Stückes stark variierende und teilweise von Schauspielern improvisierte Text, der zudem - neben dem dominierenden Französisch - in anderen Sprachen (u.a. Deutsch, Englisch, Japanisch) abgefasst ist und die multilinguale Lebenswelt der Gegenwart zu reflektieren beabsichtigt, spielt im Verhältnis zu anderen Elementen des Theatercodes keine zentrale Rolle: die beeindruckende Bühnenkonstruktion, ein variables, dreistöckiges Aluminiumgerüst mit unterschiedlichen Bühnenebenen, auf deren beiden Seiten die Zuschauer platziert sind, die hiermit verknüpften proxemischen und gestischen Codes, die herausragende Bedeutung der sehr differenziert und mit technischer Raffinesse eingesetzten Lichtelemente sowie die Präsenz einer überdimensionierten Leinwand, auf der Filmausschnitte, Porträts und abstrakte multimediale, im Rhythmus synthetischer Musik sich bewegende Arrangements projiziert werden, stehen hingegen im Vordergrund einer Inszenierung, die visuell und performativ das zeitgenössische Zeit- und Mobilitätsgefühl darzustellen beabsichtigt. „Zulu Time s’affiche comme un immense spectacle de cabaret“, präzisiert das Programmheft des Stückes, „qui présente une suite de numéros sans parole, où se déclinent tous les modes d’expression possibles, de la vidéo aux arts de la rue, en passant par le théâtre, la musique, le cinéma, la danse, les arts visuels et la haute technologie. [...] Il propose une approche collective de la réalité virtuelle en confrontant les arts de la scène et les arts électroniques.“ („Zulu Time“ 2000, 13). Lepages Zulu Time, wie sein gesamtes Theaterschaffen, verbindet somit in sehr kreativer Weise die szenische Integration der verschiedenen Komponenten des Theatercodes mit dem Einsatz neuer Medientechnologien und dem Rückgriff auf Formen des vormodernen, mündlichen Geschichtenerzählens, denn auch in Zulu Time, wie anderen Theaterstücken Lepages, werden (Alltags)Geschichten 7 Journal de la Municipalité, du Département, des Sections de Paris. 21-23 novembre 1790, 142. 209 in Szene gesetzt und streckenweise auch von einem Geschichtenerzähler präsentiert. Lepage gelingt es wie kaum einem anderen Theater‚autor‘ und -‚regisseur‘ der Gegenwart, nicht nur die Rollen des ‚Autors‘ und ‚Regisseurs‘ grundlegend zu überdenken und neu zu definieren, sondern auch „eine Brücke zu schlagen zwischen dem visuellen, physischen, elektronisch mediatisierten Theater und der alten Tradition der Saga und des epischen Geschichtenerzählens.“ (Kleber 1999, 325; vgl. auch Balme 1999). Die Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die Rückkehr des Performativen haben hier eine völlig neue, genuin zeitgenössische Dimension erreicht. 5.5 Bibliographie Artaud, Antonin: Le théâtre et son double. Suivi de Le théâtre de Séraphin. Paris, 1938/ 1964. Balme, Christopher B.: „Robert Lepage und die Zukunft des Theaters im Medienzeitalter.“ In: Christopher B. Balme/ Christa Hasche/ Wolfgang Mühl-Benninghaus (Hg.): Horizonte der Emanzipation. Texte zu Theater und Theatralität. Berlin, 1999, S.133- 146. Bollème, Geneviève: La Bible Bleue. 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Uneinigkeit besteht aber nicht nur im Hinblick auf die Definition, was Medium denn bezeichne, sondern auch welcher Art die Beziehungen sind und was inter genau beschreibe. „Intermedialität ist ‚in‘.“ So begann Joachim Paech seine Ausführungen zu dem Begriff der Intermedialität, der allenthalben Buchtitel schmückt, der aber in seinem schillernden Gewand ebenso wenig fassbar scheint, denn man begegnet diversen Begriffen wie Multimedialität, Transmedialität, Intermedialität, Medien- oder Codewechsel oder auch Medientransfer. Paech beschreibt daher das Grundproblem des Begriffes: Das Konzept Intermedialität operiert, anders als die literarische Intertextualität in der Erweiterung des Textbegriffs, von vornherein auf sehr verschiedenen Ebenen (oder in ganz unterschiedlichen Systemen). Je nach der Dimension des Medienbegriffs kann damit zum Beispiel die (evolutionäre) Beziehung zwischen technischen Instrumenten oder Apparaten zur Beobachtung, Darstellung und Kommunikation von Ausschnitten der Realität gemeint sein; ebenso kann das perzeptive Zusammenspiel von Medien der Wahrnehmung zur kognitiven Konstruktion von Realität als erkenntnistheoretische Intermedialität gelten; oder aber Medien werden als Qualität oder Grund von formalen Eigenschaften in Kunstwerken unterschieden.(Paech 1998, 18f.) Ausgehend von diesen unterschiedlichen Tendenzen ergeben sich eine Reihe von Akzentsetzungen, die Irina Rajewsky in ihrem Ansatz zusammenfasst, um dann ein stringentes Modell von Intermedialitätsformen anzubieten, das operationell ist (Rajewsky 2002). Im Folgenden soll daher immer wieder auf die Ausführungen von Rajewsky zurückgegriffen werden. Sie geht zunächst auf die beiden Forschungsstränge ein, aus denen Untersuchungen zu intermedialen Phänomenen hervorgegangen sind. Da wäre zunächst der Strang aus dem Bereich der Komparatistik, der die „wechselseitige Erhellung der Künste“ zum Gegenstand hat (s.a. Zima 1995) und sich vorwiegend mit den Beziehungen zwischen 214 Literatur, Bildender Kunst und Musik beschäftigt, den interart studies oder comparative art studies. Die zweite Tradition geht auf die Auseinandersetzung mit dem Medium Film zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, die einen Schwerpunkt in der Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Film setzte, aus dem heraus sich Begrifflichkeiten wie filmische Schreibweise, Literarisierung des Films u.ä. ergaben, die schließlich in der Einführung des Begriffes Intermedialität in den 90er Jahren mündete. Stark beeinflusst wurde der Begriff der Intermedialität durch das Konzept der Intertextualität. Ausgehend von dem Bachtinschen Begriffspaar Monologizität (die vereinheitlichte Affirmation der bestehenden Ordnung und Traditionen), und Dialogizität (die Pluralität der Ansichten), entwickelt Julia Kristeva den Begriff der Dialogizität weiter: das Prinzip der Dialogizität meint das Aufrufen, die Anwesenheit einer zweiten ‚Stimme‘ innerhalb eines Textes, so dass ein Dialog durch die Präsenz mehrer Stimmen im Text entsteht. Indem sie von einem sehr weiten Textbegriff ausgeht, so dass nicht nur die Anwesenheit eines oder die Bezugnahme auf einen weiteren Textes erfasst wird, sondern jegliche Referenz auf einen anderen Text, in schriftlicher oder anders kodierter Form gemeint ist (Bachtin 1979; Pfister/ Broich 1985). Solche Konzepte schärfen den Blick für die Komplexität eines Textes. Allerdings wurde häufig der weit gefasste Textbegriff zugunsten einer Operationalisierung des Intertextualitätsbegriffes wieder eingeschränkt. Auch Rajewsky plädiert für eine Abgrenzung von Intertextualität und Intermedialiät, wobei Intertextualität sich ausschließlich auf Beziehungen zwischen verbalen, schriftlich fixierten Texten beziehen und Intermedialität ein weiter gefasster Terminus sein solle, der auch die Beziehungen zwischen verschiedenen Medien beschreiben könne. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut die Notwendigkeit, den Begriff des Mediums einzugrenzen. Denn die Definitionen reichen von „Medium als Informationsträger“ (Paech 1998, 17) über „Medium als Box“ bis hin zu der Auffassung, dass ‚Medium‘ ein ‚Dazwischen‘ beschreiben müsse, als „ein Mittel im weitesten Sinne“, so dass das Medium nicht beobachtbar wäre, „weil es nur in der Form erscheint, zu deren Erscheinung es verhilft.“ (Ibid., 22f.) Während in den ersten beiden Fällen die Vorstellung vorherrscht, dass ein Stoff weitervermittelt werde, der je nach den Eigenschaften des Mediums unterschiedlich verarbeitet oder ‚verpackt‘ sei, zielt der letztere eher auf technische oder apparative Eigenarten ab. Medium soll nicht nur als Informationsträger oder apparativer/ technischer Behälter betrachtet werden, sondern es soll als ‚Kommunikationsdispositiv‘ angesehen werden, dem ein (oder die Kombination von mehreren) semiotische(n)s System(en) inhärent ist. Damit kann ein Einzelmedium wie z.B. das bewegte Bild von dem Medium Schrift unterschieden werden, wobei der Informationsträger der lichtempfindliche Film bzw. das Papier in der gebundenen Form des Buches wäre. Film konstituiert sich über ein visuelles und ein verbales 215 System, zuweilen auch über ein schriftliches; Schrift basiert dahingegen nur auf einem verbal-schriftlichen System, um Bedeutung zu generieren. Aufgrund solcher Überlegungen findet sich auch die Bezeichnung des Code- Wechsels (Hess-Lüttich/ Posner 1990; Hess-Lüttich 1990) im Hinblick auf intermediale Phänomene. Für jedwede Kommunikation muss auf einen Code, ein Regelsystem von Zeichen, zurückgegriffen werden, der jeweils medienspezifisch ist. Findet dann ein Wechsel von einem Medium zu einem anderen statt, so muss auch der entsprechende Code gewechselt werden. Dabei stellt sich die Frage nach der medialen Bedingtheit der ästhetischen Wirkung des Mediums, denn der unverwechselbare Charakter schlägt sich in der Modalität der Botschaft und des spezifischen Appells an die Sinne des Rezipienten nieder. Somit kann ein Stoff oder eine Botschaft, deren Vermittlung auch mit dem unverwechselbaren Charakter des jeweiligen Mediums (Zima 1995) verbunden ist, nur durch eine Reduktion auf Textsubstrate in ein anderes Medium transponiert werden. Damit könnte nun auch eine Abgrenzung gegenüber der alt hergebrachten Quellen- oder Einflussforschung erfolgen: Intermedialität setzt sich zum Ziel, die Umsetzung, die Transposition oder Transformation eines semiotischen Systems oder auch Teile desselben in ein anderes zu erfassen, während die Quellenforschung lediglich die genetische Linie zurückverfolgt, d.h. dem Ursprung einer Referenz in einem anderen Text oder der Einflussnahme eines Textes oder Systems auf den zu untersuchenden Text nachgeht. Trans-, Inter-, Intramedialität Nachdem das Problemfeld Intermedialität kurz angerissen wurde, sollen nun Definitionen von Termini erfolgen, die einen operationellen Einsatz in der Analysepraxis gestatten. Wenn Medialität nun als Kommunikationsdispositiv begriffen wird, das jeweils auf ein Regelsystem, einen Code zurückgreift, so bleibt noch die nähere Bestimmung der Präfixe trans, inter und intra, die aus dem Umfeld der Beziehungen zwischen Medien hervorgegangen sind, als eine notwendige Begriffsunterscheidung, um verschiedene Phänomene beschreiben zu können. Intramedialität bezeichnet Phänomene, die die Mediengrenze nicht überschreiten. Dies kann sowohl Bezüge eines Textes auf einen anderen Text oder das Zitat eines Films in einem Film betreffen. Transmedialität fasst Phänomene, die über die Grenzen eines Mediums hinweg gehen, ohne jedoch das jeweilige System zu berücksichtigen oder genetische Verbindungen herstellen zu können, so z.B. das wiederkehrende Auftreten einer bestimmten Gattung oder auch eines Stoffes in verschiedenen Medien. Intermedialität in Abgrenzung zur Intramedialität bezeichnet zunächst Phänomene, die Beziehungen zwischen mindestens zwei Medien herstellen. 216 Diese erste Definition verfeinert Rajewsky in einem zweiten Schritt, indem sie zwischen intermedialen Bezügen, Medienwechsel und Medienkombination unterscheidet. Intermediale Bezüge: dies beschreibt die Bezugnahme innerhalb eines Mediums auf ein anderes, z.B. auf einen Film in einem Text. Dabei können diese Referenzen auf einzelne Elemente erfolgen, auf ein System oder eine Gattung. Medienwechsel: dabei handelt es sich um die Umsetzung eines medialen Produktes in ein anderes Medium, z. B. die Umsetzung eines Romans in einen Film, also die Transformation eines Stoffes, der in einem bestimmten Code realisiert, in einen anderen medienspezifischen Code übertragen wird. Dieses Phänomen wird häufig auch als Multimedialität bezeichnet (Prümm 1998). Medienkombination: die Kombination von zwei oder mehreren Medien, wobei ein Medium dominant sein kann, z.B. Fotoroman. Diese Termini erlauben es, relationale Phänomene zu kategorisieren, und zu analysieren. Dabei war bislang die Rede von Medienkombination und Medienwechsel, ohne die Metatexte zu erwähnen, die durch die immer enger werdenden Wechselbeziehungen zwischen den Medien zu anderen und über andere Medien entstehen. Albersmeier hat in seinem Artikel „Literatur und Film. Entwurf einer praxisorientierten Textsystematik“ (Albersmeier 1995) diese Textsorten kategorisiert. Er unterscheidet zunächst zwei Ebenen: A: literarisch (schriftlich) fixierte Texte, die im Hinblick auf den Film/ das Kino/ bestimmte Filme produziert wurden; B: Texte aus den Medien Theater, Film, Fernsehen und Buchliteratur, deren Entstehung sich entweder unilateralen („von der Literatur zum Film“ oder „vom Film zur Literatur“) oder reziproken (wechselseitigen) Einflüssen zwischen den genannten Medien verdankt. (Ibid., 242f.) Ausgehend von diesen Ebenen erstellt er die folgende Klassifikation von Textsorten: Zu A: 1) Texte für Filme (präfilmische Texte) 2) Texte zu Filmen (perifilmische Texte) 3) Texte über Filme (postfilmische Texte) Zu B: 4) Literarische Filme (mit den Sonderformen „Theaterverfilmung“; „abgefilmtes Theater“) 5) Filmische Literatur/ Filmisches Theater 6) Wechselseitige Einflüsse zwischen Literatur, Theater, Film. (Ibid., 244) Dieses Modell ist natürlich um andere Medien (z.B. Video, Hörfunk) erweiterbar. Festzuhalten ist, dass die intermedialen Beziehungen auch in den Kontext der Produktionsabläufe und des Marktes gestellt werden müssen. Dabei müsste der von Albersmeier hier eingesetzte Textbegriff weiter gefasst werden, denn es wären nicht nur Texte für und zu Filmen, Büchern oder anderen Medienproduk- 217 ten zu berücksichtigen, sondern es müssten auch Filme über Filmproduktionen oder Theaterinszenierungen, kurz Filme oder Features in verschiedenen Medien zu und für Schaffensprozesse/ n in verschiedenen Medien in Betracht gezogen werden. Es soll nicht zuletzt darauf hingewiesen werden, dass Rajewsky wiederholt die historische Einbettung der Phänomene anmahnt, die immer berücksichtigt werden müsse. Auch Franz-Josef Albersmeier plädiert für eine Kombination der verschiedenen Bereiche in einer übergreifenden geschichtlichen Darstellung, die erst die Wechselwirkungen zwischen Medien, in diesem Fall zwischen den Medien Buch und Theater einerseits und des Mediums Film andererseits, erfassen könnte. Keine punktuelle Analyse von Beziehungsphänomenen jedwelcher Art würde den Ansprüchen gerecht, die an Untersuchungen von Wechselbeziehungen gestellt würden. Dies könne nur eine ‚integrierte Mediengeschichte‘ leisten, die die Einzelphänomene berücksichtigt, sie aber darüber hinaus in einen Gesamtzusammenhang stellen könne (Albersmeier 2001). 6.2 Geschichte intermedialer Verflechtungen in Frankreich Es wurde bereits erwähnt, dass die Intermedialitätsforschung aus einer Tradition hervorgegangen ist, die sich mit den Wechselbeziehungen zwischen dem zu Anfang des Jahrhunderts neuen Medium Film und den etablierten, als Künste anerkannten Medien wie Literatur, Theater, Malerei beschäftigte. Es handelt sich somit in erster Linie um eine Abgrenzung der Künste gegenüber dem Medium Film. Doch gerade in Frankreich, wo Georges Méliès und die Brüder Lumière frühe Erfolge mit dem neuen Medium feierten, ist die Geschichte der Konkurrenz zwischen den Medien eine Geschichte eines intensiven Austauschs und wechselseitiger Beeinflussung oder Bezugnahme. Nach Franz-Josef Albersmeier 1 sind in Frankreich Phänomene zu beobachten, die ein Spannungsverhältnis zwischen Fotografie und Literatur im 19. Jahrhundert, zwischen Film und Literatur sowie Film und Theater im 20. Jahrhundert ausmachen. Dabei sind Überschneidungen und Wechselbeziehungen zwischen den Medien Buch, Malerei, Fotografie, Film und Theater möglich. Die Fotografie soll die Wahrnehmung und in Folge die verbalen Darstellungs- und Beschreibungsmodi in der Literatur beeinflusst haben. Untersuchungen zu präkinematographischen Passagen in Flauberts Madame Bovary oder der Verweis auf einen fotografisch vermittelten Realismus finden sich immer wieder. Sicher ist aber lediglich, dass eine Reihe von französischen Schriftstellern sich der Fotografie bedienten, darunter auch Flaubert und Balzac, und dass das Aufkommen der Fotografie die ästhetische Wahrnehmung und Wiedergabe von 1 Die folgenden Ausführungen sind wesentlich dem Buch von Franz-Josef Albersmeier verpflichtet: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität. Darmstadt, 1992. 218 Wirklichkeit beeinflusst haben mag. Die ‚impassibilité‘ Flauberts wird demnach häufig mit objektiver Erfassung und Wiedergabe erklärt, die sich durch die Erfahrung der Fotografie verstärkt haben (Albersmeier 1992, 148f.). In Texten der Avantgarde lassen sich dann bereits Fotografien durch Montagen im schriftlichen Text antreffen, wie z. B. bei André Bretons Nadja (1928). Eine sehr viel stärkere Beziehung bestand zwischen Theater und Film einerseits und Literatur und Film andererseits. Schon 1907 wurde durch die Gründung der Gesellschaft Film d’Art und die ein Jahr später ins Leben gerufene Société Cinématographique des Auteurs et Gens de Lettres (S.C.A.G.L.) versucht, dem Ruf des Films als ein populäres Medium zur einfachen Unterhaltung entgegenzuwirken. Von Anfang an war der Film mit der Dramenstruktur verknüpft. Wesentlicher Unterschied war dabei die gesprochene Sprache, über die das Medium Film als visuelles Medium zunächst nicht verfügen konnte. Doch mit der Einführung des Tonfilms in den 1930er Jahren gewann der Film auch hier zunehmend an Terrain. Im Gegenzug wurde dem Film angelastet, er sei zu ‚theaterhaft‘, d.h. zu starr, er nutze die Möglichkeiten der Kamerabewegung und der Bewegung im Raum nicht genügend. Aber selbst Regisseure wie René Clair, der lange Kamerafahrten für Verfolgungsjagden zur Erzeugung von Komik einsetzte (so z.B. Le Million, 1931), bleiben dem Theater verpflichtet, wenn Dialoge oder in Stummfilmtradition mit Musik untermalte Dialogszenen frontal gefilmt werden, als stünden die Schauspieler zu einem Publikum gewendet (z.B. Sous les toits de Paris, 1930). Nicht zu vergessen wäre auch der Einsatz von Mimik und Gestik als spezifische Codes des szenischen Mediums Theater, die sich in den frühen Filmen wiederfinden. Verweise auf das Theater finden sich im Film ebenfalls immer wieder, wie zum Beispiel in Marcel Carnés Les Enfants du Paradis (1943) oder Truffauts Le dernier métro (1980), in denen die Theaterwelt thematisch aufgegriffen wird und auch dramaturgisch Anleihen an das Medium gemacht werden, wie z.B. Bühnenauf- und -abgänge oder Frontalinszenierungen. Eine sehr spezifische Ausprägung erfuhr das Verhältnis von Literatur und Film in Frankreich seit den frühen Anfängen des Films. Die ersten epischnarrativen Strukturen finden sich bereits in dem Film L’arroseur arrosé (1901) der Brüder Lumière. Aber auch der dem Theater verbundene Film Le voyage à la lune (1902) von Georges Méliès, der zwar Theatertechniken nutzte, ist in seiner narrativen Konstruktion der Epik verpflichtet. Ab 1910 entstanden die sogenannten ciné-romans (es finden sich jedoch auch die Bezeichnungen romanciné oder ciné-feuilleton), die als Gegenreaktion auf die Bemühungen der Film d’Art-Gesellschaft gesehen werden müssen. Hier stehen sich zwei Konzepte gegenüber. Zum einen waren Schauspieler von der Comédie Française ebenso für den Film engagiert worden als auch dem Theater verbundene Autoren und Regisseure für die Drehbücher, um das Niveau und infolgedessen auch das Ansehen des neuen Mediums im Sinne der Film d’Art-Gesellschaft anzuheben. Zum anderen musste die französische Filmproduktion auf die einsetzende Konkurrenz aus den USA reagieren, wo die ersten serials mit Erfolg starteten. In 219 Frankreich wurden die films à épisodes von Victorin Jasset (Nick Carter, 1909ff oder Zigomar 1911), Louis Gasnier, Leiter der Niederlassung der Pathé-Studios in New York (Mystères de New York, 1915), und Louis Feuillade (Fantômas, 1913/ 14, Vampires, 1915/ 16) lanciert und erfuhren ebenfalls sensationellen Erfolg. Zu einigen der Episodenfilme wurden begleitend oder im nachhinein die Texte oder gar bebilderte Versionen als ciné-feuilletons oder romans-cinéma herausgegeben, die es dem Rezipienten gestatten sollten, die Texte nachzulesen oder sich bei der Lektüre nur an der Geschichte zu erfreuen, wenn ein Kinobesuch nicht erschwinglich war. Darüber hinaus besannen sich Filmschaffende der Ursprünge des Kinos, so dass Ciné-romans sich an populären Erzählmuster ausrichteten. Guillaume Apollinaire und André Billy schufen das Ciné-drame La Bréhantaine (1917), das Feuillade und dem amerikanischen Vorbild verpflichtet war. Die Produktion und Veröffentlichung der Texte ging dann später im Wesentlichen von der Société des Cinéromans (1922-29) aus, die wiederum die Produktion französischer Filme mittrug. Diese Tendenz steht der ersten entgegen, da sie das Medium wieder einem breiteren Publikum zugänglich machte. Auch wenn die Serien häufig auf literarische Quellen zurückgriffen (wie z.B. Victor Hugos Les misérables), geschah dies in einer popularisierenden Form. Trotz dieser entgegenlaufenden Tendenzen kann festgehalten werden, dass die Beziehungen sich zunächst einseitig gestalteten, nämlich dass die Literatur (Medium Buch) und das Theater das Medium Film beeinflussten. Dies zeigt sich bereits von den Anfängen an besonders deutlich in dem Sonderfall der so genannten Literaturverfilmung. So geht der erste französische Film mit Spielfilmlänge von Albert Capellani, L’Assommoir, auf Emile Zolas Roman zurück. Die Frage nach einer angemessenen Adaptation ist in Frankreich über mehrere Jahrzehnte mit besonderer Intensität geführt worden, wobei das implizite Wertgefälle von Literatur/ Theater hin zum Medium Film immer ein wesentliches Argument darstellte. Man denke hierbei beispielsweise an Jean Mitrys Unterscheidung von ‚fidèle à la lettre‘ und ‚fidèle à l’esprit‘ (Mitry 1965), die aber auch in modernen Besprechungen hartnäckig wiederkehren, obwohl die Abgrenzung in Rückgriff auf ein Wertgefälle längst überholt ist. Die Aufhebung erfolgte bereits in Malraux’ Überlegungen zur Adaptation, als er seinen Roman zum spanischen Bürgerkrieg L’Espoir (1937) selbst in dem Film Sierra de Teruel (1939) umsetzte, wobei er zu dem Schluss kam, dass das Medium Film eine eigene Bildersprache entwickeln müsse (Malraux 1946). Einige Jahre später veröffentlichte der Filmtheoretiker und Regisseur Alexandre Astruc den wegweisenden Aufsatz „Naissance d’une nouvelle avantgarde: La caméra-stylo“ (1948) und prägte damit den Begriff caméra-stylo, der das Medium Film gleichwertig neben das Medium Literatur stellte und das Schaffen des Regisseurs mit dem eines Schriftstellers gleichsetzte. Neben diesen theoretischen Reflexionen haben auch praktische Arbeiten zu einer Anerkennung des Mediums Film beigetragen. Neben Malraux wäre da vor allem Jean Cocteaus Verfilmung seines eigenen Theaterstückes Les Parents 220 terribles (1948) zu nennen, das nicht nur gefilmtes Theater sondern eine Bearbeitung des Stoffes unter Berücksichtigung der filmischen Mittel darstellt. Robert Bressons Verfilmung von Bernanos’ Roman Journal d’un curé de campagne (1950) ist ein vielzitiertes Beispiel für eine sogenannte treue Verfilmung, die aber zugleich durch den Einsatz der filmspezifischen Techniken ein kinematographisches Werk schafft. Als Gegenbewegung oder gar Bruch mit diesen Traditionen der engen Anlehnung an das Theater und der zahlreichen Literaturverfilmungen ist die Nouvelle Vague (1959-1963) anzusetzen, die gegen die Kinotradition der qualité française in enger Verflechtung mit Literatur und Theater aufbegehrte. In Anlehnung an den Film Noir und an amerikanische Vorbilder versuchten die jungen Regisseure in ihren Filmen die Möglichkeiten des Mediums auszuschöpfen. Eines der bekanntesten Beispiele ist wohl A bout de souffle von Jean-Luc Godard, der im Film wiederholt den Film Noir, die moderne Technik und den amerikanischen Schauspieler Humphrey Bogart zitiert, zum großen Teil junge Schauspieler oder Laien einsetzt, nicht im Studio dreht und durch den Einsatz von ‚Jump Cuts‘ die Wahrnehmung verfremdet. All diese Mittel entfernen den Film von dramatischen Vorlagen. Die Abkehr von der Vorstellung eines Wertgefälles ebnete den Weg für Wechselbeziehungen zwischen den Medien, die die vorwiegend einseitige Einflussnahme der Literatur und des Theaters auf den Film beendete. Im Gegenzug gewann der Film auch auf die anderen Medien zunehmenden Einfluss. In diesem Zusammenhang wäre insbesondere der Nouveau Roman zu nennen. Wichtige Vertreter sind Marguerite Duras und Alain Robbe-Grillet. Duras hat wiederholt Drehbücher für Filme geschrieben, die zugleich Romane sind, die sich durch eine Reduzierung in der Schreibweise auf das Wesentliche an den Film annähern, so beispielsweise in dem Drehbuch Hiroshima, mon amour des gleichnamigen Films, bei dem Alain Resnais Regie führte. Robbe-Grillet schrieb Romane wie Le voyeur oder La jalousie, in denen er die Erzählperspektive gleich der einer Kamera einsetzte. Der Begriff der filmischen Schreibweise oder der écriture filmique wäre hier zu nennen. Die bisherige Aufzählung der Autoren bzw. Regisseure lässt eine weitere Besonderheit erkennen: es finden sich sehr viele Fälle, in denen ein Schriftsteller zum Drehbuchautor und/ oder Regisseur wird (Malraux, Cocteau, Robbe-Grillet). Albersmeier spricht dann von einer Personalunion von écrivains-scénaristes- cinéastes (Albersmeier 1992, 164-167). Intermedialität vollzieht sich also bereits seit den 20er Jahren (z.B. René Clair) durch das Schaffen der Künstler in mehreren Medien, was zu einem Medienwechsel, zu Adaptationen oder auch zu Übertragungen von ästhetischen Mitteln und Arbeitsweisen von einem Medium auf ein anderes führen konnte. Im Folgenden soll daher eine weitere Verfeinerung des terminologischen Apparates erfolgen und deren Anwendung anhand von einigen Beispielen erläutert werden. 221 6.3 Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten Die enge Verzahnung der medialen Ausformungen, die nach Albersmeier als integrierte Literatur- und Mediengeschichte zu verstehen ist, kann auch mit Kategorien aus der Intermedialitätsforschung beschrieben werden. Nach einer ersten orientierenden Unterscheidung zwischen Intra-, Inter- und Transmedialität, sollen nun zunächst für den Bereich der Intra- und Intermedialität Differenzierungen aufgezeigt werden. Prinzipiell kann zwischen einer Einzelreferenz und einer Systemreferenz unterschieden werden. Einzelreferenz: der Ausgangstext (Hypertext) nimmt Bezug auf einen weiteren Text (Hypotext oder Prätext), sei es durch eine Anspielung, ein Zitat, ein Verweis. Dies kann intramedial geschehen, d.h. es vollzieht sich kein Medienwechsel, wenn in einem Buch auf ein anderes Buch Bezug genommen wird; oder aber intermedial, was einen Medienwechsel voraussetzt, so dass beispielsweise in einem Buch ein Verweis auf einen Film anzutreffen wäre. Systemreferenz: in diesem Falle erfolgt der Verweis oder das Abrufen nicht in Bezug auf ein konkretes Werk, sondern es stellt eine Beziehung her zu einer Gattung, einem Diskurs. Auch dies kann intramedial oder intermedial erfolgen. So kann beispielsweise in einem Text auf die Gattung Epos Bezug genommen werden, obwohl es sich bei dem Text um eine Novelle handelt. Intermedial könnte eine solche Systemreferenz darin bestehen, dass in einem Roman die Filmgattung Film Noir erwähnt wird, um eine Atmosphäre zu beschreiben, die als Bündel von Merkmalen in der genannten Gattung abzurufen wäre. In diesem Bereich sind eine Vielzahl von Phänomenen möglich, so dass weitere Unterkategorien die Spezifizierung ermöglichen sollen. Subkategorien der Systemreferenz: Systemerwähnung und Systemaktualisierung bei intramedialen Phänomenen: Eine Systemerwähnung ist ein Erwähnen, ein Erkennenlassen eines Bezuges auf ein anderes System. Die Systemaktualisierung setzt dagegen den Einsatz von Systemregeln voraus, die aus dem System stammen, auf das Bezug genommen wird. Eine Systemerwähnung könnte das Zitieren eines Märchens sein, sei es ein Titel oder eine Figur, eine Systemaktualisierung würde das Aufgreifen von Regeln bedeuten, die dem Märchen als System inhärent sind, wie z.B. die Eröffnungsformel „Es war einmal...“, die dreimalige Bewährungsprobe o. ä. Systemerwähnung qua Transposition bei intermedialen Phänomenen: Auch bei intermedialen Phänomenen ist das Zitieren oder Thematisieren eines anderen Systems möglich. Die Systemaktualisierung muss jedoch durch die Differenz zwischen dem bezugnehmenden Medium und dem Bezugsmedium stets eine Transposition vollziehen. Hierbei wären drei mögliche Systemerwähnungen in Form von Transpositionen zu nennen: 222 1. Evokation: die Evokation entspricht der expliziten Erwähnung eines anderen Mediums oder Teile desselben; 2. Simulation: die Simulation setzt voraus, dass durch eine Übernahme oder Simulation von strukturellen Elementen eines anderen Mediums die Illusion aufgebaut wird, dass ein Medienwechsel innerhalb des Mediums stattfindet. Dies wäre z. B. der Fall, wenn in einem Film durch eine voice over-Technik die Illusion eines allwissenden oder eines personalen Erzählers hervorgerufen wird oder durch die Kameraperspektive, die sich ausschließlich auf diejenige des erzählenden Subjektes beschränkt (z.B. Montgomerys Lady in the Lake oder Philippe Harels La femme défendue (Prédal 2002, 100)). Im Gegenzug finden sich in der Literatur Erzähltechniken, wie z.B. die der camera eye-Technik, die beim Leser den Eindruck erweckt, als sei die Erzählperspektive auf den Ausschnitt einer Kamera begrenzt (z. B. Robbe-Grillets La jalousie); 3. (Teil-)reproduzierende Systemerwähnung: die reproduzierende Systemerwähnung schafft die Illusion, der Leser sei Zuschauer (der Zuschauer auch Leser oder der Betrachter auch Hörer etc.) durch das Einsetzen einzelner Bezüge und einer Nachahmung der Strukturen aus einem anderen Medium. Es bezeichnet die Kombination der ersten beiden Phänomene, der Evokation und der Simulation. Systemkontamination: dieser Terminus ist die konsequente Fortsetzung der reproduzierenden Systemerwähnung. Denn werden Elemente und Systemkomponenten oder -strukturen aus anderen Medien nicht nur punktuell oder teilweise in ein anderes umgesetzt, sondern auf den gesamten Text angewendet, so liegt eine Systemkontamination vor. So könnte der Film Marie Octobre von Julien Duvivier in seiner Struktur und Präsentation der handelnden Personen sowie dem Ablauf der Handlung eher als Drama gesehen werden. Lediglich einige Kameraeinstellungen wie Halbnah oder Groß erinnern daran, dass die Kamera die Wahrnehmung leitet. Ansonsten spielt sich die Handlung in einem geschlossenen Raum und in fest umrissener Zeit (ein Abend) ab, was an klassische Vorgaben für das Theater erinnert. Es ist das Spiel der Schauspieler und der Spannungsbogen der Handlung, die den Zuschauer fesseln, nicht aber die Montage und die Bewegung, wie es für einen Film zu erwarten wäre. 6.4 Anwendung An einem Beispiel sollen die bisherigen theoretischen Ausführungen zu intermedialen Phänomenen zu einer Analyse herangezogen werden. Es handelt sich um den Roman Jules et Jim von Henri-Pierre Roché aus dem Jahr 1953, den Kinofilm mit demselben Titel von François Truffaut (1961) und den Fernsehfilm von Jeanne Labrune (1992). Roché erzählt mit stark autobiographischen Zügen die Geschichte einer Freundschaft zwischen dem Deutschen Jules und dem Franzosen Jim, die 1912 in Paris ihren Anfang nimmt. Beide verlieben sich in Kathe, die Jules später 223 heiratet. Nach dem Krieg lädt das Paar Jim zu sich ein. Während dieses Besuchs entsteht eine Liebesbeziehung zwischen Kathe und Jim, die Jules aber gutheißt, da er Kathe glücklich wissen will. Diese Dreiecksbeziehung endet jedoch tragisch, als Kathe ihr Auto in die Seine stürzen lässt und damit Jules mit in den Tod reißt. 2 Truffaut ist fasziniert von der Dreiecksbeziehung und dem telegraphischen Stil (Jules et Jim 1997, 21) des Romans. Bei seiner Bearbeitung der Romanvorlage bezieht er Tagebuchaufzeichnungen Rochés mit ein. Ein Vergleich der beiden Werke lässt zahlreiche Veränderungen im Film gegenüber dem Roman erkennen: die Erzählstruktur wird auf eine lineare hin vereinfacht und durch die Auslassung zahlreicher sekundärer Ereignisse beschleunigt; ebenso wird die Anzahl der Personen reduziert (Ibid., 27ff.) 3 . Viel wichtiger sind jedoch die Veränderungen in der Relation Erzählerstandpunkt/ Kameraperspektive, weil dies die ästhetischen narrativen Mittel des jeweiligen Mediums berücksichtigen muss. Albersmeier hält diesbezüglich fest: Doch Truffaut vermeidet in seiner Geschichte der „reinen Liebe zu dritt“ Moralisierung nicht weniger als Pathos und Dramatisierung. Diesen Effekt der Distanzierung des Publikums erreicht er durch die Einführung des „off“- Kommentars; über ihn werden längere Originalzitate aus Rochés Vorlage „abgewickelt“; zugleich gestattet er die nun ganz und gar wieder „literarische“ Vermittlung der Gedanken und Gefühle der Personen. Verbürgt der Dialog Unmittelbarkeit, so setzt der „off“-Kommentar Mittelbarkeit dagegen: Kamerabewegung, Schnittechnik, der Einsatz von Musik (das Lied Le tourbillon de la vie enthält den Schlüssel für das Verständnis des Films) und nicht zuletzt der kommentierende Erzähler lassen uns den Film als „reines Schau-Objekt“ rezipieren. Mit dem „voice-over“-Kommentar stellt Truffaut dem Bild eine zweite, gleichwertige Ebene an die Seite: das literarische Wort. (Albersmeier 1992, 215) Somit spricht Albersmeier auch von einer Transposition des Romans und nicht von einer Adaptation, denn er weist darauf hin, dass Truffaut gezielt eine Reihe von filmästhetischen Mitteln einsetzt. 4 Andererseits versteckt sich hinter der Formulierung „‚literarische‘ Vermittlung“ eine Systemkontamination, da Truf- 2 Es gibt eine Vielzahl von möglichen Leseweisen des Romans, wie beispielsweise die deutsch-französische Freundschaft oder Jules als deutscher Jude in der Emigration, die hier nicht angesprochen werden können. 3 Ibid., S. 27 ff. 4 Siehe hierzu die Definitionen von Transformationsprozessen bei Schanze 1998. Er unterscheidet Transposition (selektive Dramatisierung und Perspektivierung), Adaption (Werktreue durch Re-Episierung), Transformation (Strukturäquivalenz durch Rückgriff auf ein Transform, eine stofflich-formale Basis, aber Narration mit strikt filmischen Mitteln), Transfiguration (mit filmischen Mitteln Figuren des literarischen Kanons fortschreiben). Siehe hierzu auch Schneider 1981. 224 faut durch den Kunstgriff der voice-over- und off-Kommentare narrative Strukturen des schriftlichen Textes imitiert. Des weiteren ist der Einsatz eines musikalischen Leitmotivs zu nennen, des Liedes Tourbillon, dessen Text und Melodie auf die zyklische Struktur des Filmes und der Lebens- und Liebesgeschichte der Personen verweist: „On s’est connu, on s’est reconnu/ On s’est perdu de vue, on s’est r’perdu de vue/ Chacun pour soi est reparti/ Dans l’tourbillon de la vie“ (Jules et Jim 1997, 71). Der akzelerierende Rhythmus unterstreicht dabei den Lebensrhythmus von Kathe. Der Roman von Roché ist bereits durchsetzt mit intertextuellen und intermedialen Bezügen auf Bücher, Theaterstücke, Malerei und Bildende Kunst. So verlieben sich die beiden Freunde zunächst in das Lächeln einer griechischen Statue. Aufgrund dieses Fotos machen die beiden sich auf eine erfolglose Suche nach der Statue. Erst als sie Kathe kennen lernen, entdecken sie das Lächeln der Statue in dem Lächeln Kathes. In diesem Fall handelt es sich um intermediale Einzelreferenzen, die auf Elemente aus anderen Medien (Zeichnung, Fotografie) verweisen. Zugleich nimmt die Passage mit dem Foto die Begegnung mit Kathe vorweg und die Liebe zu diesem Lächeln wirkt als eine dem Schicksal ergebene Erwartungshaltung inszeniert. Truffaut greift diese Szene im Film wieder auf und setzt ebenfalls das Medium Fotografie ein. Die beiden Freunde sind von dem Lächeln der griechischen Statue auf dem Foto so fasziniert, dass sie sich auf die Suche nach diesem Lächeln begeben: sie finden die Statue und aus der Betrachtung heraus schließen sie für sich selbst, dass sie diesem Lächeln folgten, würden sie ihm begegnen. Der Verweis auf die Fotografie erfolgt wiederholt, indem Einstellungen zu einem Standbild einfrieren oder durch einen Rahmen ein Ausschnitt einer Einstellung zum Foto stilisiert wird. Sie erscheinen wie Zitate des Fotos der Statue, die sich leitmotivisch durch den Film ziehen. Über diesen Einzelreferenzcharakter hinaus haben die Fotos einen anteiligen Wert als Systemerwähnung. Eine weitere Einzelreferenz erfolgt durch das Zitieren von Gemälden. In den gezeigten Räumen hängen Werke von Picasso, die durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Schaffensperioden das Verstreichen der Zeit signalisieren (Albersmeier 1992, 213). Darüber hinaus mag es eine Hommage an Roché sein, der als Freund von Picasso dazu beitrug, dessen Werk in Amerika bekannt zu machen (Jules et Jim 1997, 23). Den Wechsel von Zeit und Raum inszeniert Truffaut außerdem durch das Einfügen von Sequenzen aus historischem Dokumentarfilmmaterial als intermediale Referenz auf die Gattung Dokumentarfilm: Szenen aus Paris, Aufnahmen aus dem 1. Weltkrieg und von der Bücherverbrennung durch das Nazi-Regime. Hierdurch gelingt es Truffaut, sowohl die Distanz zum fiktionsbildenden Medium Film zu schaffen als auch der Freundes- und Liebesgeschichte eine politische Note zu verleihen, die dem Roman fehlt. Die Transposition von Truffaut bewahrt wohl die wesentlichen Grundzüge des Romans wie die Akzentsetzung auf die Freundschaft und die Suche nach der wahren Liebe. Er greift die Auseinandersetzung Rochés mit den Medien Litera- 225 tur, Theater und Fotografie auf, wobei diese mit den dem Film unmittelbar verwandten visuellen Medien Fotografie, Malerei und Dokumentarfilm in stärkerem Maße erfolgt als im Roman, so als würde die Vermittlungsleistung des jeweiligen Mediums ausgelotet, wodurch eine große Dichte an Referenzen und Positionen zum einen und eine Distanz zu ‚Abbildungsfunktionen‘ von Medien zugleich entsteht. Mit dem Fernsehspielfilm Jules et Jim (1992) vollzieht die Regisseurin Jeanne Labrume erneut einen Medienwechsel. Allerdings bezieht sie sich direkt auf den Roman und nicht auf Truffauts Film, denn im Vorspann wird die Adaptation nach dem Roman angekündigt. Es handelt sich erneut um die Dreiecksbeziehung Jules, Jim und Claire (alias Kathe). Allerdings ist die Geschichte im heutigen Marseille angesiedelt. Die deutsch-französische Komponente verschiebt sich, indem nur der dritte Liebhaber ein deutscher Archäologe ist; und die in der Vorlage durch den Krieg bedingte Trennung der Freunde erfolgt hier durch einen Auslandsaufenthalt des erfolgreichen Schriftstellers Jules in Tokio. So kann man auch in dieser Transposition erneut eine Reihe von Änderungen in der Personenkonstellation und des Ort-Zeit-Verhältnisses feststellen. Intermediale Referenzen sind weit spärlicher eingestreut als im Roman - und auch im Vergleich zum Film. Noch zu Beginn des Films fordert Jules seinen Freund auf, eine Passage aus Le Mépris vorzulesen, als eine Freundin zu Besuch kommt. Die Passage ist die lustvolle Beschreibung des weiblichen Körpers, die so die Dreierbeziehung in dem Akt des Vorlesens vorwegnimmt. Das Zitat dieses Romans von Moravia mag zugleich auf den Film von Godard verweisen Le Mépris (s. Roloff 1995, 289-299). Die jeweilige Ansiedlung im Mittelmeerraum und die Beschäftigung mit griechischen Mythen schafft in diesem Zusammenhang zusätzliche Bedeutungsebenen. Klaus, der Archäologe, zeigt den beiden Freunden den Überrest einer griechischen Vase in Form eines vollkommenen Frauenkörpers, dessen Kopf aber verloren ist, was ihn dazu veranlasst, sich häufig das Gesicht hierzu vorzustellen. Diese Passage nimmt das Motiv der griechischen Statue aus dem Roman auf, es ist somit ein intermediales Zitat, das hier aber zu einer Leerstelle umgewandelt wird. Das Lächeln, das der Ursprung und das Ziel von Jules’ und Jims Suche war, wird hier durch die Frage nach der wahren Liebe ersetzt. Die Leerstelle wird zunehmend durch Claire besetzt, die bei ihrer Suche nach der wahren Liebe in den Mittelpunkt rückt. Sie ist nicht mehr nur das Objekt, das eine Antwort auf das Fragen und Suchen der Freunde zu sein scheint, sondern sie ist diejenige, die auf der Suche ist. Vom auslösenden wird sie zum treibenden Moment der Suche. Diese Verlagerung des Schwerpunktes mag sich auch dadurch bestätigen, dass der voice-over-Kommentar sehr viel seltener eingesetzt und zudem von einer Frauenstimme gesprochen wird. Die intermedialen Bezüge sind in dem TV-Film sehr viel spärlicher. Aber abgesehen von den Einzelreferenzen auf Bücher oder auf die ‚Romanvorlage‘ 226 finden sich filmische Mittel wieder, die auch Truffaut eingesetzt hatte, so z. B. das Einfrieren einer Einstellung zum Standfoto. In diesen Momenten setzt die voice-over-Stimme ein, so als sei der Kommentar mit dem visuellen Erzählstrang nicht vereinbar. Es vollzieht sich im Grunde eine Distanznahme zur ‚Romanverfilmung‘, wobei die direkte Bezugnahme auf Truffaut nur aufgrund einiger Sequenzen vermutet werden kann, die in ihrer Durchführung an den Film erinnern, wie z. B. die Sequenz des Wettlaufs über die Brücke. Der Dialogcharakter dieser Bearbeitung in der Auseinandersetzung mit dem Roman und dem Film zeigt sich auch am Schluss. Nach dem Freitod von Kathe, in den sie Jim mitgerissen hat, werden die Leichen verbrannt und Jules erhält die Urnen. Sowohl der Roman als auch der Film schließen mit der Erinnerung Jules’ an den Wunsch von Kathe, ihre Asche von der Höhe eines Hügels in den Wind zu streuen. Da dies nicht erlaubt war, werden die Urnen in einem Schrein verschlossen. Der TV-Film greift das Ende auf. Allerdings kann Jules Claires Wunsch erfüllen und die Asche im Wind verstreuen. Während in den Vorläufern der Gedanke des Scheiterns an einem neuen Modell der Liebe und für das Leben sich erhärtet und mit dem Verschließen der Urnen endet, wird im TV-Film das Scheitern durch die Erfüllung des Wunsches nach der letzten Freiheit relativiert. Damit scheint der TV-Film in einen Dialog mit den Vorläufern zu treten, indem er Leerstellen aufgreift, um diese neu zu besetzen und Ansätze weiterzuführen. Hierfür tritt die Komplexität vielzähliger intermedialer Referenzen und Kontaminationen des Romans/ Films in den Hintergrund. Der Kinofilm bearbeitet den Roman neu, aber durch zahlreiche komplexe wechselseitige intermediale Bezüge thematisiert er auch die suggestive Kraft, die den jeweiligen Medien aufgrund der ihnen inhärenten Ästhetik und Perspektive innewohnt. 6.5 Tendenzen der 1980er und 1990er Jahre Tendenzen in der Forschung sind schon angesprochen worden. Die Einzelanalysen mit Schwerpunktsetzungen auf ein Werk, eine Epoche etc. verweisen allesamt auf die Notwendigkeit einer integrierten Mediengeschichte. Tendenzen in der französischen Medienlandschaft im Hinblick auf intermediale Phänomene auszumachen ist ungleich schwerer. Die engen Beziehungen zwischen Film und Fernsehen, aber auch mit Videokunst und digitaler Technik finden zunehmend Beachtung. In der Literatur der 1980er und 1990er Jahre sind bei einer Reihe von Autoren intermediale Prozesse zu verzeichnen, die Christian von Tschilschke als „filmisches Schreiben“ benannt hat. Denn der Roman, der zum Erzählen zurückfinden wollte, musste mit dem Medium Film in Konflikt geraten, der den Bereich des Erzählens bereits besetzt hatte. Infolgedessen sind vor allem intermediale System- und Einzelreferenzen im Roman zu verzeichnen. Diese reichen von Systemerwähnungen, indem auf filmische Gattungen Rekurs genommen wird (wie z.B. auf den Agententhriller für Patrick Devilles Cordon-bleu (1987), oder Jean Echenoz’ Lac (1989) oder auf den Road-Movie für Philippe Djians 227 Bleu comme l’enfer (1982)), bis zu teilreproduzierenden Systemerwähnungen, wenn Echenoz Anfangs- und Schlussmotive in Anlehnung an filmische Strukturen konstruiert (‚Cherokee‘, ‚Lac‘). Einzelreferenzen auf Orte oder zur Charakterisierung von Personen finden sich ebenso wie die Nachahmung von filmischen Techniken wie Zoom oder Kamerafahrt, die zur Systemkontamination führen kann. 5 Tschilschke macht darauf aufmerksam, dass in den 1990er Jahren das Fernsehen zunehmend als Referenzsystem an Bedeutung gewonnen hat. Exemplarisch hierfür ist der Roman La télévision von Jean-Philippe Toussaint (1997). Aber auch Echenoz’ Les grandes blondes (1995) setzt sich mit Fernsehen auseinander, da der Romantitel zugleich der Titel einer Fernsehserie ist, die im Laufe der Romanhandlung gedreht und ausgestrahlt wird. Im postavantgardistischen Roman der 1980er und 1990er Jahre tragen die intermedialen Bezüge nicht nur der Bedeutung der visuellen Medien Rechnung sondern erzeugen auch hohe Kommunikativität, d.h. eine dialogische Auseinandersetzung und Distanznahme zum Erzählen in der kritischen Hinterfragung von Authentizität in einer zunehmend medial dominierten Welt. Tschilschke fasst diese Tendenzen folgendermaßen zusammen: Der postavantgardistische Roman der 80er und 90er Jahre entscheidet sich für eine ironisch-spielerische Strategie, die aus dem Eingeständnis der Abhängigkeit und der bewussten Anlehnung an den Film auf allen Textebenen zugleich die Voraussetzung für die Würdigung der medialen Differenzqualitäten der Literatur, für ihre sinnliche Distanz und ihre imaginative Freiheit schöpft. Die filmische Schreibweise zeugt damit von einem neuen, doppelten Selbstbewusstsein des Romans: dem Bewusstsein der unleugbaren Dominanz der Bildmedien, aber auch der eigenen, unersetzlichen Möglichkeiten [...] (Tschilschke 2000, 241) Beim Kino ist keine vergleichsweise starke Strömung auszumachen. Das junge französische Kino zeichnet sich durch reiche Facetten aus, wobei eher intramediale Bezüge festzustellen sind, da es auf Vorläufer rekurriert (Prédal 2002). Aus den Zwängen des Marktes heraus entstanden eine Reihe von Literaturverfilmungen als Koproduktionen mit den Fernsehgesellschaften (z.B. Le Comte de Monte Cristo (1999), Les Misérables (2000)). Im Folgenden sollen zwei Beispiele für intermediale Bezüge im Hinblick auf die französische Filmproduktion genannt werden. Der große Kassenschlager Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (2001) von Jean-Pierre Jeunet, häufig als mär- 5 „Le visage de Madame Fatima s’étalait en gros plan devant lui, aplati par un objectif à cent quatre-vingts degrés. Körberg localisait peu à peu, entre un nez rose et robuste et les cheveux rouges des tempes, parallèles, mêlés de crins blancs déjà, l’œil vert et globuleux dont la pupille, en croisant son regard, sembla se retrécir. Le visage recula. Apparurent les pages du journal, dispersées, qui recouvraient ses genoux et la table basse, devant la banquette. A l’arrière-plan, un chauffeur coiffé d’une casquette soulevait ses deux valises.“ (Zitiert nach Tschilschke 2000, 191: Deville, Patrick: Longue Vue. Paris, 1998, 39) 228 chenhaft bezeichnet, nutzt eine Reihe von intermedialen Bezügen: das Einfrieren von Einstellungen zu Standfotos, das Sammeln und Zitieren von Fotos, die Erzählstimme, die an einen auktorialen Erzähler erinnert, Trickaufnahmen - auch unter Einsatz digitaler Technik -, die den märchenhaften Charakter einiger Momente visualisieren, die Anlehnung an die Märchenstruktur wie das Glücklichmachen anderer Menschen als Bewährungsprobe zur Erlangung des eigenen Glücks. Zu nennen wären auch solche Phänomene wie die Systemerwähnung der Gattung amerikanischer Actionthriller bei Luc Bessons Film Léon (1994) oder die stark parodistischen Elemente in Le Cinquième Elément (1997) im Hinblick auf die Gattung Science-Fiction. Von solchen Beispielen konkreter Anwendung intermedialer Techniken hebt sich das Schaffen Jean-Luc Godards ab. Sein letzter Film For ever Mozart (1996) verknüpft eine Reihe von intermedialen Praktiken: Bezug auf ein Theaterstück Alfred de Mussets, auf den Film im Film mit dem Titel Boléro Fatal in Sarajevo während des Krieges, Zitate aus seinen früheren Filmen wie Prénom Carmen und Passion. Die hohe Komplexität dieses Films beschreiben Lommel/ Winter: Godard gestaltet einen virtuellen Imaginations- und Spiegelraum, einen heterotopischen ‚non lieu‘, in dem sich Kriegsort und Drehort, Film- und Theaterbühne, Kostümfilm und Kriegsfilm spiegeln und verschränken. Mit dieser Vermischung und Auflösung der Genres, im Gleiten ihrer Bedeutungen und Erscheinungen führt Godard die Kontingenz und Austauschbarkeit (inter)medialer Wirklichkeiten vor. (Lommel/ Winter 1997, 212) Intermedialität ist nicht mehr nur ein Zitierspiel, auch nicht nur eine Bereicherung um weitere Sinnebenen, die zu einer höheren Kommunikativität führen. In dem ständigen Wechsel der Medien bricht die Identifikationsoberfläche an den ‚Schnittstellen‘ der Kombinationen auf, so dass Sehen bewusster werden kann. Daher zielen Godards Konstruktionen darauf ab, das „Sehen des Films zu produzieren“, die „Geschichte jenes Sehens zu zeigen“, „das sich mit dem Kino, das die Dinge zeigt, entwickelt hat, und die Geschichte der Blindheit, die daraus entstanden ist“ (Roloff 1997, 4). Intermedialität macht Verflechtungen und Zitatreihungen sichtbar, so dass in den Zwischenräumen eine Distanz zu den vorgegebenen Wahrnehmungsweisen möglich wird. Sie schafft somit Passagen und Zwischenräume, die eine Distanz zum Medium ermöglichen, so dass herrschende Diskurse erkennbar werden. Damit erhält das ‚inter‘ eine zusätzliche, weitreichendere Bedeutung, die in der Forschung und Lehre berücksichtigt wurde. (Foucault 1991; Deleuze 1986; Zielinski 1989) Allen bislang angeführten Forschungsansätzen ist gemeinsam, dass in der Analyse eine Begrenzung im Bereich der Medien oder der Epoche vorgenommen werden muss, wohinter immer das übergeordnete Ziel der ‚integrierten Medien- 229 geschichte‘ (s.a. Müller 1996, 275ff.) steht oder gar wie bei Godard dies abzuleiten wäre, dass „nicht nur die Geschichte der audiovisuellen Wahrnehmung, sondern Geschichte überhaupt als Mediengeschichte gedacht und geschrieben werden müsste, und zwar mit dem Ziel, den Begriff des ‚Realen zu erweitern, bis dieser das Imaginierte einschließt‘“ (Roloff 1997, 4). Die Ausführungen dieses Kapitels beschränkten sich im Wesentlichen auf die Beziehungen zwischen Literatur und Film bzw. Fernsehen, was sich durch die Ursprünge der Wissenschaften aus dem erweiterten Literaturbegriff und der Einbeziehung der Medien in die Literaturwissenschaft erklären lässt. Es sei hier aber darauf hingewiesen, dass die Intermedialitätsforschung sich ebenso mit den Medien Hörfunk, Malerei, Fotografie, Musik, Video und digitaler Technik (Müller 1996; Thomsen/ Thomsen 1998; Oberhuber 2001) beschäftigt. Die eingeführte Terminologie findet auch in diesen Bereichen Anwendung und sollte in die genannten Forschungsrichtungen Eingang finden. 6.6 Bibliographie Albersmeier, Franz-Josef/ Volker Roloff: Literaturverfilmungen. Frankfurt/ Main, 1989. Albersmeier, Franz-Josef: Theater. Film. Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität. Darmstadt, 1992. Albersmeier, Franz-Josef: „Literatur und Film. Entwurf einer praxisorientierten Textsystematik.“ In: Zima, Peter: Literatur intermedial. Darmstadt, 1995, S. 235-268. Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film, Literatur in Spanien. Literaturgeschichte als integrierte Mediengeschichte. Berlin, 2001. 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Neue Medien: Internet und Multimedia 7.1 Zur Entwicklung der Neuen Medien Der Begriff Neue Medien ist seit einigen Jahren zu einem viel benutzten Schlagwort geworden; eine eindeutige Begriffsabgrenzung ist jedoch immer noch schwierig. Das Adjektiv neu verweist zunächst auf einen Versuch der chronologischen Klassifizierung im Verhältnis zu alten Medien. Allerdings waren alle Medien einmal ‚neu‘ und auch innerhalb der sog. ‚Neuen Medien‘ entstanden und entstehen neue Medien oder zumindest neuartige mediale Nutzungsmöglichkeiten. So führten beispielsweise die Erfindung der ‚neuen‘ Medien Buchdruck im 15. Jahrhundert und des Fernsehens im 20. Jahrhundert zu tief greifenden Veränderungen nicht nur der Medienlandschaften, sondern auch des Mediengebrauchs und der Wissensstrukturen der Gesellschaft (vgl. Elsner/ Gumbrecht u.a. 1991). Eine rein chronologische Klassifikation der Neuen Medien erscheint daher nur bedingt sinnvoll, zumal ihre Entwicklung bereits spätestens ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm und noch nicht als abgeschlossen angesehen werden kann. Weiterhin können die Neuen Medien nicht losgelöst von ‚alten‘ Medien (wie Presse, Radio, Fernsehen und Kino) betrachtet werden, da auch diese sich weiter entwickeln und sich an die veränderte Medienlandschaft anpassen (z.B. durch die Online-Presse oder digitales Fernsehen). Von den verschiedenen Ansätzen zur Definition der Neuen Medien sind zunächst klassifikatorisch-deskriptive Versuche zu nennen, wie sie vor allem seit den 1970er Jahren zu finden sind. So stellte beispielsweise Hans Magnus Enzensberger 1970 im Kursbuch einen „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ (Enzensberger 1975; vgl. auch Bollmann 1997, 9) vor, in dem er eine Liste der Neuen Medien - vom Farbfernsehen bis zu Datenbanken - präsentiert, die unter heutigen Gesichtspunkten angesichts der technologischen Weiterentwicklung zwar einer Revision unterzogen werden müsste, aber grundsätzlich noch als paradigmatisch für deskriptive Klassifizierungsversuche zur Annäherung an den Begriff der Neuen Medien gelten kann. 1 Neuere Definitionsversuche sind vor allem im Kontext der Diskussion um die Abgrenzung von den Begriffen der Massenmedien und der audiovisuellen Medien entstanden. So sind nach dieser Auffassung die Neuen Medien als Resultat 1 Weitere Beispiele dieser klassifikatorischen Begriffsbestimmungen bis in die 1990er Jahre finden sich u.a. bei Lievrouw/ Livingstone 2002, 6. 234 des Zusammenwachsens von Informations- und Telekommunikationstechnologie zu verstehen, denn erst durch die Verbindung der informationstechnologischen Voraussetzungen (d.h. der Entwicklung leistungsstarker Computer) mit modernen Telekommunikationsmöglichkeiten zur Vernetzung und Datenübertragung konnten mediale Anwendungsmöglichkeiten dieser Technologien entwickelt werden (vgl. Lievrouw/ Livingstone 2002, 5ff.; Barbier/ Bertho Lavenir 2000, 299). Aus dieser Definition ergibt sich weiterhin, dass die Neuen Medien auf die Digitalisierung und Komprimierung von Daten bzw. Informationen angewiesen sind. So umfasst das Spektrum der Neuen Medien Anwendungen dieser Technologien wie Videotextsysteme, CD-Roms und DVDs (Digital Versatile Disk), digitales Radio oder Fernsehen und Internet-Anwendungen wie E-Mail oder World Wide Web. Verbindet man die technologischen Voraussetzungen zur Entstehung der Neuen Medien mit klassifikatorisch-deskriptiven Definitionsversuchen, so bietet sich zunächst die Unterscheidung nach der Art der Produktpräsentation an: Online-Medien und Offline-Medien bzw. hybride Formen, wie sie z.B. CD-Roms mit Verbindung zum Internet darstellen. Eine weitere Abgrenzungsmöglichkeit besteht in den jeweiligen technischen Geräten, die zur Speicherung und Nutzung der Angebote notwendig sind, so z.B. CD-Rom, Diskette, Spielkonsole, PC, Handy, Minitel etc. (vgl. Brodersen 2001, 152). Allerdings scheint sich eine gewisse Konvergenz der verschiedenen Präsentations- und Speicherformen im World Wide Web abzuzeichnen (s.a. Kapitel 7.4). Im Zentrum der folgenden Ausführungen soll das Internet mit seinen vielfältigen medialen Nutzungsmöglichkeiten stehen. Internet scheint sich auf dem Weg zu einem neuen Leitmedium, zumindest in den westlichen Gesellschaften, zu befinden. Es steht damit im Zentrum des heutigen öffentlichen Interesses und umfasst inzwischen fast alle Lebensbereiche; die Nutzerzahlen und damit auch die Inhalte nehmen immer noch beständig zu. Nicht nur die traditionellen Medien wie Presse und Fernsehen müssen sich den Herausforderungen der zunehmenden Teilnahme der Gesellschaft am weltweiten Datennetz stellen, auch der Mediengebrauch sowie Kommunikations- und Wissensstrukturen wandeln sich unter dem Einfluss des neuen Mediums. Fernsehsender bieten beispielsweise den Zuschauern im Rahmen ihrer Internet-Präsenz zahlreiche Informations- und Interaktionsangebote zu den Sendungen, auf die auch durch Einblendung der entsprechenden Web-Adressen innerhalb des Programms verwiesen wird. Sendungen wie die französische Big Brother-Variante Loft story erscheinen in enger Verflechtung mit den entsprechenden Internet-Angeboten. Ähnliches gilt auch für die Online-Angebote der Printmedien oder die Werbung, die in Fernsehspots oder Anzeigen auf eine Webseite verweisen. Die spezifischen medialen Eigenschaften des Internet - wie Hypertextualität, Multimedialität und Interaktivität - stellen eine der zentralen Herausforderungen für die Kultur- und Medienwissenschaften dar, die sich nicht nur einem neuen Analysegegenstand stellen müssen, sondern auch vor der Aufgabe stehen, angemessene methodische Instrumente zur Beschreibung und Analyse des Mediums 235 und seiner Anwendungen zu entwickeln (vgl. Gabriel 1997). Weiterhin sind im Rahmen einer französischen Kultur- und Medienwissenschaft die spezifischen Entwicklungen aufschlussreich, die zur (verzögerten) Implementierung des Internets und seiner Anwendungen in Frankreich führten, da sie als paradigmatisch für die französische Medienlandschaft gelten können. 7.1.1 Zur Genese des Internets Die Entwicklung der technologischen Grundlagen der heutigen medialen Internet-Anwendungen (Online-Medien) vollzog sich seit Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie lässt sich in fünf Phasen unterteilen (Winter 1998): 1. Phase (1958-1969): Im Jahre 1958 wurde in den USA die Advanced Research Project Agency (ARPA) als Behörde zur Koordination von externen Forschungsprojekten des Militärs gegründet. Ab den frühen 1960er Jahren entstanden unter ihrer Aufsicht erste Time-Sharing-Betriebssysteme (d.h. die noch teure Rechenzeit eines Prozessors wurde von mehreren Nutzern geteilt), die mehreren Anwendern den gleichzeitigen Zugriff auf einen zentralen Prozessor erlauben sollten. Parallel wurde von der US-amerikanischen Luftwaffe die Entwicklung eines neuen Netzwerktyps vorgeschlagen, der nicht mehr eine sternförmige Organisation von Computern um einen zentralen Rechner (ein Hauptcomputer, auf den von verschiedenen Arbeitsplätzen aus zugegriffen werden kann) vorsieht, sondern vielmehr ein System, das ohne Zentrum auskommt und auf einer Vielzahl von Verbindungen beruht. Der Grundgedanke hinter einer solchen dezentralen Netzwerk-Organisation war die Angst vor einem möglichen militärischen (nuklearen) Angriff: Würde ein Element dieses Netzwerkes ausfallen, so blieben die übrigen voll einsatzfähig und könnten sich neu organisieren, da kein einzelner zentraler Knotenpunkt mehr für die Aufrechterhaltung des Systems notwendig ist. Ein weiteres militärisches Forschungsprojekt (das jedoch noch nicht unmittelbar umgesetzt wurde) beruhte etwa zur gleichen Zeit auf der Idee, elektronische Daten nicht mehr en bloc zu übermitteln, sondern in Form von kleineren ‚Daten-Paketen‘, die einzeln versandt und beim Empfänger wieder zusammengesetzt werden. Sollten Teile davon bei der Übertragung verloren gehen oder beschädigt werden, so könnten sie anhand der verbleibenden Daten-Pakete wieder rekonstruiert bzw. ersetzt werden. Mit diesen drei Elementen - der Vernetzung von Computersystemen, der Organisation in einer dezentralen Netzwerkstruktur und der Übermittlung von Botschaften in kleinen Daten-Paketen - waren bereits die grundlegenden Eigenschaften des späteren Internet gefunden. Ab Mitte der 1960er Jahre wurden diese Ideen umgesetzt und ein Projekt zum Aufbau eines Computer-Netzwerks zwischen den an ARPA-Projekten arbeitenden Forschungseinrichtungen und 236 Universitäten gestartet. Mit der erstmaligen Verbindung von vier Computern im Jahre 1969 war das sog. ARPANET betriebsbereit. 2 2. Phase (1969-1983): Noch im gleichen Jahr wurde die Online-Anwendung Telnet (telecommunicationsnetwork) entwickelt, die den Zugriff auf entfernte Computer und deren Steuerung ermöglichte, ein System, das zum Teil heute noch z.B. den Zugang zu vielen Datenbanken und Bibliotheken regelt. Weiterhin entstand Anfang der 1970er Jahre die Anwendung FTP (file transfer protocol), welches die gleichberechtigte Kooperation und den Datenaustausch zwischen unterschiedlichen Computersystemen ermöglichte. Auch heute noch wird FTP zur Übertragung von Dokumenten und Programmen genutzt: So kann z.B. zur Erstellung oder Aktualisierung einer Homepage mit Hilfe von FTP eine Webseite von einem lokalen Computer auf einen Internet-Server übertragen und damit online gestellt werden. Doch erst die Entwicklung der ersten Möglichkeit zur Kommunikation zwischen Menschen - und nicht nur von Computern - durch E-Mail etwa zur gleichen Zeit führte zu einer gesteigerten Nutzung der ersten Netzwerke. Im gleichen Zeitraum experimentierten auch andere Länder mit dezentralen Computernetzwerken (in Frankreich z.B. mit den Systemen Cyclades und Transpac), die jedoch mit jeweils eigenen technologischen Standards operierten und daher nicht untereinander kommunizieren konnten (Abbate 1999; Colombain 2000; Dufour 2000). Erst die Entwicklung einer gemeinsamen ‚Sprache‘ durch den Amerikaner Vinton Cerf im Jahre 1974, dem TCP (Transmission Control Protocol), legte mit einer einheitlichen Adressierung aller Rechner und einer einheitlichen Datenübertragung die technischen Voraussetzungen zur Kommunikation zwischen verschiedenen Netzwerken. 1976 wurde mit dem Usenet eine weitere Internetanwendung möglich: Usenet erlaubt den Datenaustausch unter Nutzung des Telefonnetzes und so die Öffnung der Netze für eine größere Nutzergruppe, die sich in den Newsgroups nach Interessengebieten organisiert und austauscht. Die Schnittstelle zwischen Computer und Telefonnetz bilden Modems (modulateur - démodulateur), die die digitalen Daten des Computers in analoge Informationen (Töne) umwandeln, so dass sie über die Telefonleitung übertragen werden können, um dann wieder vom Modem des Empfängers digital lesbar gemacht zu werden. 3 Anfang der 80er Jahre war also bereits der Grundstein für vier der wichtigsten Internet-Anwendungen gelegt. 3. Phase (1983-1992): 1983 wurde auf Betreiben der ARPA im sog. ‚Internet-Programm‘ mit der Verbindung der verschiedenen Netzwerke 2 Beteiligt an dieser Geburtsstunde des Internets waren die University of California in Santa Barbara, das Stanford Research Institute, die University of Utah und die University of California in Los Angeles. 3 Inzwischen sind auch schnellere Verbindungen mittels ISDN- oder DSL-Technologie üblich, die größere Datenmengen in wesentlich kürzerer Zeit transportieren können. Andere Übertragungsmöglichkeiten, wie z.B. über das Kabel- oder Stromnetz (‚Internet aus der Steckdose‘), haben bisher nur eine sehr marginale Bedeutung. 237 begonnen, die inzwischen entwickelt worden waren. Das TCP kam hierfür zum Einsatz, wurde aber aufgrund der stetig steigenden Anzahl der vernetzten Computer durch das IP (Internet Protocol) ergänzt. Dies bedeutete eine Abtrennung der Datenübertragungsfunktion des TCP von der Adressierungsfunktion, die dem IP übertragen wurde. Das Übertragungsprotokoll TCP/ IP (Transmission Control Protocol / Internet Protocol) ist also eine Kombination beider Protokolle, in der das IP die Identifizierung und Lokalisierung von Rechnern und Netzen übernimmt. So verbirgt sich hinter der Adresse einer Website im World Wide Web (z.B. die der französischen Nationalbibliothek http: / / www.bnf.fr) eine Zahlenkombination, die es erlaubt, die entsprechende Seite zu lokalisieren und aufzurufen. 1984 gründete die National Science Foundation (NSF) das NSFNet, das zahlreiche weitere Netzwerke weltweit integrierte (Frankreich war z.B. ab 1988 beteiligt) und zu einem rapiden Anstieg der Teilnehmer an den Netzwerken führte. 1990 wurde auch das ARPANET in das NSFNet integriert, das schließlich 1995 in einem Verbund mehrerer großer amerikanischer Netzwerke aufging. In dieser Zeit (1988) wurde auch die Anwendung IRC (Internet Relay Chat) entwickelt, wodurch die (schriftliche) Echtzeit-Kommunikation in virtuellen Räumen (Chatrooms) möglich wurde. Trotz einer stetigen Ausweitung des Teilnehmerkreises - 1992 waren beispielsweise ca. 4500 Netzwerke aus 42 Ländern an das NSFNet angeschlossen - blieb die Internet-Nutzung in diesem Zeitraum noch weitgehend auf einen universitären Kontext beschränkt. 4. Phase (seit 1992): Die bislang ausschließlich textbasierten Anwendungen des Internet änderten sich grundlegend mit der Entstehung des World Wide Web ab 1992. Im Zentrum dieser Entwicklung steht das Team um Tim Berners-Lee am Europäischen Kernforschungszentrum CERN (Conseil européen pour la recherche nucléaire) in Genf. Eingeleitet wurde dieser entscheidende Schritt zum heutigen World Wide Web (kurz WWW) durch die Erfindung des Hypertext Transfer Protocol (HTTP), das die Verknüpfung verschiedener Dokumente im WWW durch Hyperlinks ermöglichte. Von da an war die nichtlineare, individuelle Organisation von Informationen und Daten umsetzbar, die eines der Charakteristika des WWW darstellt. In Verbindung mit der Programmiersprache HTML (HyperText Markup Language) zur Beschreibung der graphischen Darstellung von Webseiten und der Adressierung via URL (Universal Ressource Locator), die auf dem IP aufbaut, konnte die bekannte benutzerfreundliche Struktur entstehen, die die Darstellung von Text, Bild, Ton, Animation usw. erlaubt. Mit der Entstehung der WWW-Browser ab 1993 (wie z.B. Mosaic und dann Netscape durch den Studenten Mark Andreesen) begann der Aufstieg des Internets zu einem Massenmedium - so versechsfachte sich beispielsweise die Anzahl der Websites in der zweiten Jahreshälfte 1993 -, das weit über die ursprünglich rein universitäre Nutzung hinaus zum allgemein zugänglichen und relativ benutzerfreundlichen Kommunikations- und Informationsmedium wurde (vgl. Barbier/ Bertho Lavenir 2000, 330ff.). 238 5. Phase (seit 1994): Seit Mitte der 1990er Jahre setzt sich die kommerzielle Nutzung des Internets mehr und mehr durch. Nicht nur im Bereich der kommerziellen Anbieter von Internet-Handel (E-Commerce) und -Dienstleistungen wie der Buchhändler Amazon.com oder die Anbieter von Online-Banking, sondern auch bei der Nutzung des Internet durch Unternehmen ist ein stetiger Anstieg zu verzeichnen. Gleichzeitig kann man eine Verschiebung seitens der Internet-User feststellen: die privat-kommerzielle Nutzung nimmt stetig zu und das WWW entwickelt sich neben E-Mail zur zentralen Internet-Anwendung (Winter 2000, 289f.). Weiterhin führten die massenmediale Nutzung des Internets und das Ausloten seiner bis dahin noch kaum abzuschätzenden kommerziellen Möglichkeiten zu einer beispiellosen wirtschaftlichen Euphorie, die sich u.a. in zahlreichen Unternehmensgründungen und dem explosionsartigen Anstieg der Börsengänge sog. Internet-Start-ups bis zur Krise dieser Branche im Jahr 2000 äußerte (Vatter 2001). Das anfänglich erwartete, nicht enden wollende exponentielle Wachstum der Branche wurde abrupt gebremst und machte einer langsameren Entwicklung Platz. Trotz des Anspruches des Internets als globales Medium und seiner internationalen Genese konnte es sich in Frankreich erst später als in den übrigen Industriestaaten durchsetzen. Ausschlaggebend hierfür sind technische, aber auch politische und kulturelle Faktoren, die im Folgenden skizziert werden sollen. 7.2 Neue Medien in Frankreich Frankreichs Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft ist zusehends von der durch die Konvergenz der Telekommunikations- und Informationstechnologien entstandenen neuen Medienlandschaft geprägt. Obwohl Frankreich durchaus als Vorreiter bei der Entwicklung der Neuen Medien in den 1970er und 1980er Jahren zu sehen ist, erfolgten die tief greifenden Veränderungen durch das Internet in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im Vergleich zu anderen Industrieländern später und zunächst nur zögerlich. Bereits 1978 prägten Alain Minc und Simon Nora in ihrer zukunftsweisenden, im Auftrag des französischen Präsidenten entstandenen Studie „L’informatisation de la société“ den Begriff télématique (aus téléphone und informatique) und prognostizierten eine Konvergenz der beiden Technologien. Dieser Bericht leitete in Frankreich eine Phase der staatlich vorangetriebenen Modernisierung des Telekommunikationssektors ein, als deren herausragendes Ergebnis das Videotextsystem Minitel entwickelt wurde. 4 4 Weitere Impulse des Nora/ Minc-Berichts waren die progressive Aufweichung der Monopolstellung von Post und France Télécom, verstärkte Forschungsförderung im Bereich der télématique und der Versuch, den französischen Telekommunikationssektor vor ausländischer Konkurrenz (v.a. aus Japan und den USA) zu schützen. 239 Das auf der Télétel 5 -Videotextnorm (die sich international nicht durchsetzen konnte) beruhende System wurde ab den frühen 1980er Jahren flächendeckend eingeführt; der Erfolg des Minitel beruhte auf einer dirigistischen Kommunikationspolitik des Staates, der durch die Verbindung von im Wesentlichen drei Faktoren eine schnelle gesellschaftliche Akzeptanz und Popularität des neuen Mediums förderte: der Digitalisierung des Telefonnetzes, der Veröffentlichung eines elektronischen Telefonbuches und auch der kostenlosen Abgabe 6 der am Centre national d’étude des télécommunications entwickelten Minitel-Apparate an die Bevölkerung (Haberer 2001). Bereits Mitte der 1980er Jahre war Minitel das erfolgreichste Videotextsystem weltweit. Bis in die 1990er Jahre entstanden ständig neue Minitel-Angebote, die neben den üblichen Informationsdiensten (wie z.B. auch im deutschen Videotext) bereits Homebanking und elektronische Einkaufsmöglichkeiten 7 sowie den persönlichen Nachrichtenaustausch ermöglichten. Gleichzeitig mit der Erweiterung der Angebote, die es französischen Institutionen und Unternehmen schon sehr früh erlaubte, Erfahrungen im E-Commerce zu sammeln, stieg auch die Zahl der Nutzer auf etwa 14 Millionen bei ca. 6,4 Millionen installierten Geräten Mitte der 1990er Jahre (France Télécom 1994, 5-8). Im Zuge der fortschreitenden Ausbreitung des Internet auch in Frankreich ab Mitte der 1990er Jahre endete die informations- und telekommunikationstechnologische Vormachtstellung des Mediums Minitel. Die staatliche Telefongesellschaft France Télécom versuchte ab 1997 sich mit zwei Strategien an die neue Entwicklung anzupassen: zum einen durch eine Stärkung des Minitel über die Preispolitik sowie die Integration von Internet-Diensten wie E-Mail in das Angebot des Videotextsystems; zum anderen durch die Entwicklung des Browser i-Minitel, der die Nutzung der Minitel-Dienste mittels eines herkömmlichen PC ermöglicht, und die Hinführung der Minitel-Kunden zum Internet-Provider Wanadoo.fr, einem Tochterunternehmen der France Télécom. Allerdings bleibt fraglich, ob der bislang noch bestehende Vorsprung von Minitel, z.B. im Bereich der E-Commerce-Umsätze, angesichts der weiteren Öffnung des Telekommunikationssektors und der Zunahme schnellerer Internetverbindungen wie DSL weiter aufrecht erhalten werden wird (Haberer 2001). Obwohl (oder gerade weil) sich Minitel in Frankreich in weitaus größerem Maße durchsetzen konnte als beispielsweise das deutsche Btx-System und somit die Franzosen bereits vor der Verbreitung des Internet über weitreichende Erfahrungen in der Nutzung von Online-Medien verfügten, lag Frankreich lange Zeit 5 Aus télévision und téléphone. 6 Die Kunden konnten ihre gedruckten Telefonbücher gegen einen Minitel-Apparat zur Nutzung des annuaire éléctronique eintauschen. 7 Die Zahlungssysteme beruhen u.a. auf Kredit- und Chipkarten, die auch die Zahlung kleinerer Beträge ermöglichen und durch hohe Sicherheitsstandards das Vertrauen der Anwender schneller gewinnen konnten, als dies bisher im web-basierten E-Commerce der Fall ist. 240 auf den neuen Telekommunikationsmärkten der 1990er Jahre hinter den anderen Industriestaaten. Minitel bietet zwar einige mit den Möglichkeiten des Internet vergleichbare Angebote (wie Nachrichtenaustausch, elektronischer Handel, Auskunftssysteme etc.), bleibt aber gerade in der integrierten Darstellung von Bild, Schrift und Ton sehr beschränkt. So erwies sich die sehr frühe massive Etablierung eines ersten Online-Mediums in der französischen Bevölkerung auch als Hemmnis für die Teilhabe des Landes am WWW. Sowohl bei der Ausstattung der Schulen als auch der Haushalte sowie beim E-Banking oder der Anzahl der Homepages lag Frankreich lange deutlich unter dem Durchschnitt der EU-Staaten. Der französische Rückstand in der Nutzung des Internet konnte allerdings in den letzten Jahren erheblich aufgeholt werden: Lag die Zahl der Internet-Hosts 1995 noch bei 151 000 (Deutschland: 474 000) und 1999 bei 607 000 (Deutschland: 1 635 000), so stieg sie bis Anfang 2001 auf 1 230 000 (Deutschland: 2 163 000). Auch wenn zwischenzeitlich die Anzahl der Hosts im Zuge der Krise der Neuen Märkte leicht zurückging, übertrifft das Wachstum in Frankreich mit 25% (2000-2001) Deutschland um etwa das Doppelte. Auch die Zahl der Internet-Nutzer nahm beständig zu: von 1 Mio. 1997 auf 10,8 Mio. 2001. Damit verfügten 18,4 % der Einwohner über Zugang zum Internet (Deutschland: 38,4%). Der Anstieg setzte hierbei später ein und vollzog sich mit entsprechend höheren Wachstumsraten, z.B. 1999 um 8,4 % in Frankreich im Gegensatz zu 3,8 % in Deutschland. 8 Im Frühjahr 2004 nutzen schließlich 23 Mio. Franzosen und damit 45% der Bevölkerung Frankreichs das Internet (vgl. Les Baromètres Multimédia, www.mediametrie.fr). Der Rückstand und der beschleunigte Aufholprozess Frankreichs sind jedoch nicht allein durch das technologische Primat des Minitel zu erklären. Ein weiterer Faktor sind die relativ hohen Kosten für die Ausstattung mit den notwendigen Heimcomputern - erst ab 1998 ist mit den sinkenden Computer-Preisen ein sprunghafter Anstieg der französischen Haushalte zu verzeichnen, die über einen PC verfügen - und für die Telefonverbindungen, die seit der zunehmenden Öffnung des Telekommunikationsmarktes und dem Markteintritt von Gratisanbietern von Internetzugängen ab 1998 zurückgingen. Außerdem wird häufig eine spezifisch französische Mentalität - Internationalisierungsfeindlichkeit und eine ablehnende Haltung gegenüber neuen Technologien vermeintlich USamerikanischer Herkunft - angeführt, die zu einer gewissen Skepsis der Franzosen gegenüber dem Internet geführt habe (Haberer 2001, 161; vgl. auch Bloche 1998, 13). Der Verweis auf eine traditionelle französische Angst vor einer US- 8 Alle Angaben von Eurostat aus Deiss 2002. Andere Quellen gehen noch weiter: So nennt z.B. Brodersen (2001, 152) einen Anstieg um jährlich 41 % (1998-2003) im Vergleich zu 33% in Deutschland. Trotz des rapiden Anstiegs der internautes bleiben die Nutzerzahlen für das Internet immer noch weit hinter den traditionellen Massenmedien Radio und Fernsehen zurück, die einen beispiellosen Grad der Durchdringung der französischen Gesellschaft erreicht haben (vgl. die entsprechenden Angaben in den Kapiteln zu Rundfunk und Fernsehen). 241 amerikanischen kulturellen Hegemonie in Verbindung mit dem Internet wird ebenfalls zur Begründung des verspäteten Anschlusses Frankreichs an die autoroutes de l’information herangezogen. In der Tat spielen der Verlust des Einflusses des Staates auf die neuen Kommunikationsmedien, wie sie z.B. im Minitel aufgrund der Monopolstellung von France Télécom noch möglich war, sowie die Furcht vor einer Marginalisierung der französischen Sprache und Kultur im von englischsprachigen Angeboten dominierten World Wide Web eine entscheidende Rolle für das politische Engagement des französischen Staates zur Förderung der Neuen Medien. Bereits im Nora/ Minc-Bericht (s.o.) Ende der 1970er Jahre verweisen die Autoren auf die Vormachtstellung Nordamerikas im Bereich der neuen Technologien und fordern ein Engagement des Staates zur Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität angesichts einer drohenden kulturellen Entfremdung: L’apparition des réseaux suscite le développement de banques de données qui se multiplient, surtout aux Etats-Unis et au Canada, tandis que la France commence à accuser en la matière un retard considérable. [...] Les banques de données sont souvent internationales et le développement de transmissions permettra d’y accéder sans pénalisation tarifaire excessive depuis n’importe quel point du globe: d’où la tentation dans certains pays d’utiliser des banques américaines, sans en constituer sur le territoire national [...] Laisser à d’autres, c’est-à-dire des banques américaines, le soin d’organiser cette ‚mémoire collective’, en se contentant d’y puiser, équivaut à accepter une aliénation culturelle. La mise en place de banques de données constitue donc un impératif de souveraineté. (Nora/ Minc 1978, 71f.) Ähnliche Argumentationslinien, die durchaus im Einklang mit anderen französischen (kultur-)politischen Maßnahmen wie z.B. den GATT-Verhandlungen 1992 stehen, die zur Ausnahme der französischen Kulturgüter aus dem Welthandelsabkommen führten (exception française), finden sich auch in den Bemühungen Frankreichs um den Anschluss an die weltweite Informations- und Kommunikationsgesellschaft ab 1997 wieder. Obwohl zeitgleich mit anderen europäischen Ländern bereits ab Anfang der 1990er Jahre auch Frankreich eine sich langsam entwickelnde Internet-Kultur aufweisen konnte, war es erst die programmatische Rede des damaligen Premierministers Lionel Jospin „Préparer l’entrée de la France dans la société de l’information“ anlässlich der Université de la communication im August 1997 in Hourtin/ Gironde (Jospin 1997), die erhebliche Bemühungen von Politik und Wirtschaft zur Verankerung des Internet in der französischen Gesellschaft zur Folge hatte. In zwei Schritten - von August 1997 bis Januar 1999 und ab Januar 1999 - sollte Frankreich seine Verspätung aufholen und den Eintritt in die société de l’information umsetzen: So lancierte Jospin das Programme d’action intergouvernemental pour la société de l’information (PAGSI) und das Comité interministériel de la société de l’information (CSI), das die Realisierung der Vorgaben durch staatliche Förderung gewährleisten sollte. In sechs Kernbereichen sollte 242 das Programm wirksam werden: Vernetzung von Schulen, Kulturpolitik, öffentliche Verwaltung, Förderung von E-Commerce und Informationstechnologie (IT), Forschung und Entwicklung sowie Aufbau von gesetzlichen Regulierungsmöglichkeiten. 9 Jospin konnte bereits zwei Jahre später bei einer weiteren Rede in Hourtin (Jospin 1999) auf erste Erfolge dieser Maßnahmen verweisen. Inzwischen sind z.B. in der Ausstattung von Schulen mit Internetanschluss bereits beeindruckende Ergebnisse sichtbar: Während 1997 nur 32 % der Gymnasien Zugang zum World Wide Web hatten, konnten zu Schuljahresbeginn 2000 bereits 98 % das Internet nutzen (vgl. http: / / www.educnet.education.fr/ plan/ bilan.htm [17.06.04]). Im gleichen Zeitraum verdreifachte sich die Anzahl der kleinen und mittleren Unternehmen (PME) mit Internetzugang. Auch wirtschaftlich konnte Frankreich Anschluss an die Internet-Ökonomie gewinnen. 1999 titelte das Wirtschaftsmagazin Le Nouvel Economiste am 12.12. „Internet, ça y est! La France s’enfièvre“ - die Internet-Euphorie in der Wirtschaft hatte auch Frankreich erfasst; einige Beobachter sprachen selbst von einer ‚dritten ökonomischen Revolution‘ (nach der schnellen und nachhaltigen Modernisierung der ‚Trente Glorieuses‘ in den 1950er und 60er Jahren und der Welle der Deregulierung und Liberalisierung der 80er und 90er). An der 1996 gegründeten Börse Nouveau Marché - der französischen Entsprechung von Nasdaq und Neuem Markt - waren schließlich 2001 trotz der weltweiten Krise der New Economy 179 Unternehmen notiert. Der 1998 vorgelegte Bericht „Le désir de France. La présence internationale de la France et la francophonie dans la société de l’information“ des Abgeordneten der Nationalversammlung Patrick Bloche legt die maßgeblichen Motivationen und Herausforderungen der politischen Anstrengungen zur Informatisierung der französischen Gesellschaft offen: In Reaktion auf den ‚retard français‘ müsse ein Umdenken stattfinden; nicht mehr die Schwächen, sondern die Stärken Frankreichs sollten genutzt und in den Vordergrund der Debatten um die Informationsgesellschaft gestellt werden. 10 In seinen Vorschlägen zur Stärkung der internationalen Präsenz Frankreichs rekurriert Bloche auf die (kultur-)politischen Traditionen des Landes seit dem 16. Jahrhundert und insbesondere der Aufklä- 9 Eine offizielle Übersicht über das politische Engagement Frankreichs für die Informationsgesellschaft findet sich unter http: / / www.educnet.education.fr/ plan/ textes.htm weitere Informationen hierzu auch unter http: / / www.internet.gouv.fr [17.06.04]. 10 Vgl. hierzu auch in kritischer Perspektive Wolton 1999, der den Diskurs über den gesellschaftlichen Rückstand, verbunden mit der kaum hinterfragten politischen Forderung nach dem massenhaften Anschluss der Gesellschaft ans WWW, radikal in Frage stellt. Gerade im Vergleich mit dem Fernsehen zeige sich, dass die Frage der ‚Masse‘ - dort eher zur Kritik des Mediums benutzt - im Fall des Internets als euphorisches Argument der Legitimierung und Aufwertung des WWW-Angebots gebraucht wird, ohne dass Inhalt und Funktion selbst einer kritischen Analyse unterzogen würden. 243 rung. 11 Frankreich solle sich auf seine weltpolitische Bedeutung als ehemalige Großmacht und Land der Menschenrechte zurückbesinnen, seine technologischen und innovatorischen Fähigkeiten bündeln und so - ausgestattet mit einem erneuerten internationalen Sendungsbewusstsein - als eine ‚société de l’information républicaine‘ eine herausragende Stellung mit Vorbildcharakter im virtuellen Raum einnehmen. Neben einer verstärkten Präsenz der französischen Sprache und Kultur sowie eigenständigen französischen Web-Angeboten wie eigene Zugangsportale und Suchmaschinen zur Selbst- und Außendarstellung Frankreichs könne, so Patrick Bloche, im Internet auch die Idee der auf der französischen Sprache beruhenden Gemeinschaft der Länder der Francophonie wieder Aufwind gewinnen. Weitere Schwerpunkte der Vorschläge Bloches liegen auf französischsprachigen Bildungsangeboten, Übersetzungen von existierenden Web-Diensten und der Entwicklung einer adäquaten französischen Terminologie für die Anforderungen der neuen Technologien. So bemühen sich beispielsweise Institutionen wie das Centre de terminologie et de néologie (CTN) und die Académie française in Zusammenarbeit mit anderen frankophonen Organisationen wie dem Québecer Office de la langue française 12 um die Entwicklung einer entsprechenden französischen Terminologie. Zahlreiche Neologismen haben so bereits Eingang in die französische Sprache gefunden: internaute (Internetnutzer), courrier électronique / courriel / mél (E-Mail), page d’accueil (Homepage), navigateur (Browser), dialoguer (chatten), causettes (Chatrooms) etc. (s.a. Dejond 2002). Trotz dieser Vorschläge in der Tradition eines quasi-missionarischen Anspruchs der Ausstrahlung der ‚civilisation française‘ in den Cyberspace weist die Realität des Internet immer noch eine große Dominanz anglophoner Angebote auf. Der in den letzten Jahren verzeichnete Rückgang der englischen Sprache im WWW vollzog sich in erster Linie zu Gunsten von Ländern wie China, Japan und Deutschland: Eine Auswertung von ca. 313 Millionen Webseiten im März 2002 ergab 68,4% englische, 5,9% japanische, 5,8% deutsche und 3% französische Angebote - eine Verteilung, die den entsprechenden Anteilen der Sprachgemeinschaften an der gesamten Web-Bevölkerung nur in Ansätzen gerecht wird (Sietmann 2002). Die formulierten politischen Ansprüche auf eine adäquate Außendarstellung Frankreichs konnten somit zwar noch nicht im gewünschten Maße umgesetzt werden; dennoch belegen die o.g. Zahlen, dass die Verankerung des Internets in der französischen Gesellschaft im Zuge der massiven Anstren- 11 So z.B. durch das Projekt einer Enzyklopädie des 21. Jahrhunderts, die Kreation eines frankophonen Qualitäts-Labels und die Koordination des internationalen Engagements Frankreichs u.a. in den vormaligen Kolonien. 12 Nicht nur auf dem Gebiet der Terminologiefindung für die neuen Technologien nimmt die kanadische Provinz Québec eine Vorreiterrolle unter den frankophonen Ländern ein. Auch vollzog sich die Durchdringung der Gesellschaft mit dem Internet deutlich früher (ab ca. 1994); im Januar 2002 verfügten 43 % der Québecer Haushalte über einen Internetzugang (Statistique Canada 2002). 244 gungen von staatlicher Seite durchaus erfolgreich war - nicht zuletzt durch populäre Maßnahmen wie die - nach dem Modell der fête de la musique - seit 1998 alljährlich stattfindende fête de l’Internet (http: / / www.feteinternet.fr). Der verspätete, aber beschleunigte Aufholprozess, der zur Teilhabe Frankreichs an der weltweiten Informationsgesellschaft im Internet führte, ist also nicht nur ein Resultat von globalen Entwicklungstendenzen (v.a. im Bereich der Ökonomie), sondern auch von den für Frankreich spezifischen Einflüssen einer massiven staatlichen Interventionspolitik und sprachlich-kulturellen Faktoren geprägt. 7.3 Begriffliche Annäherungen Versucht man, das Phänomen Internet aus medienwissenschaftlicher Perspektive begrifflich zu fassen, stellt sich zunächst die Frage, inwiefern das Internet Qualitäten eines eigenständigen Mediums innehat. Wie in den Ausführungen zur Technikgeschichte des Internets ausgeführt, stellt das Internet zunächst eine technische Plattform dar, die die Voraussetzung zur Darbietung verschiedener medialer Angebote und zum Austausch von Daten bietet (Winter 1998, 274; Wolton 1999, 101ff.) . Diese verschiedenen Internetanwendungen 13 - wie Usenet, FTP, E-Mail, IRC (Internet Relay Chat) oder das WWW - stellen auch jeweils spezifische Anforderungen an die Inhalte und den Mediengebrauch. So dient beispielsweise E-Mail (wie Telefon oder Brief) in erster Linie der interpersonalen Kommunikation zwischen zwei Menschen, wohingegen die Newsgroups im Usenet den Austausch von Informationen zwischen vielen Kommunikationsteilnehmern gleichzeitig zum Ziel haben. Die spezifischen Eigenschaften der Neuen Medien im Allgemeinen und der Internet-Dienste im Besonderen lassen sich anhand der Art der Codierung und des kommunikativen Potenzials in Abgrenzung zu anderen Medien beschreiben: 1. Definition nach Art der Codierung: Fernsehen, Rundfunk, Telefon und Magnetband (Video-/ Audiokassetten) waren noch analoge Medien, d.h. die Informationen waren auf einen jeweils eigenen Träger angewiesen, der materielle Spuren der Medieninhalte aufweist, wie z.B. die Rillen einer Schallplatte. Mit der Digitalisierung - der Aufteilung der Information in definierte Ein-Aus- Zustände - können Bild, Ton und Text über ein- und denselben Träger transportiert werden. Dies betrifft nicht nur CD-Roms oder das WWW, vielmehr sind alle Medien von der Digitalisierung betroffen: die analoge Schallplatte wurde z.B. durch die CD ersetzt, DAB (Digital Audio Broadcasting) stellt das Radio vor neue Herausforderungen (vgl. das Kapitel zum Rundfunk), digitales Fernsehen stellt eine Alternative zu analogen TV-Programmen dar etc. 2. Definition nach kommunikativem Potenzial: Waren die traditionellen Massenmedien wie Rundfunk und Fernsehen oder Presse in Abgrenzung zur Indivi- 13 ‚Internet‘ bezeichnet hier die technologische Grundlage, das Computernetzwerk, das die Nutzung der genannten Anwendungen erlaubt. 245 dualkommunikation (z.B. via Brief oder Telefon) durch eine ‚einer-an-viele‘- Kommunikationsstruktur (one-to-many) charakterisiert - wenige entscheiden über die Sendung einer Nachricht, die dann eine sehr große Anzahl von potenziellen Empfängern erreichen kann -, so wird in den Neuen Medien und insbesondere im WWW die scharfe Unterscheidung zwischen Individual- und Massenkommunikation aufgehoben. Insbesondere durch die Integration von Diensten wie Chat und E-Mail im WWW-Browser ist die scharfe Trennung nicht mehr aufrecht zu erhalten. So verbindet z.B. die France Télécom-Tochter wanadoo.fr von ihrem Eingangsportal aus Funktionen zur individuellen Kommunikation wie E-Mail und Chat mit persönlichen Homepages der Kunden und aktuellen Angeboten aus dem WWW (wie Nachrichten, Wetter und Kleinanzeigen) sowie E-Commerce - vor allem durch Partnerunternehmen. Auch wenn die Angebotsstruktur des WWW vielfach mit den eher rein konsumtiven (Massen-) Medien Fernsehen und Rundfunk verglichen wird, so wird doch die Rollentrennung zwischen Sender und Empfänger im klassischen Sinne aufgehoben, so dass man von einem ‚viele-an-viele‘-Medium (many-to-many) sprechen kann. Entscheidend sind hier die spezifischen Eigenschaften des WWW Hypertextualität bzw. Hypermedialität und Interaktivität des World Wide Web. 14 Die am Genfer CERN entwickelte Grundstruktur des WWW auf der Basis von Hypertext, der Organisation von Texten in einem Netzwerk, geht zurück auf Ted Nelson, der bereits 1965 die Idee der assoziativen Verknüpfung zahlreicher verschiedenartiger Elemente (Bilder, Texte, Töne, etc.) in einer Datenbank formulierte, um auf die zur Verfassung seiner philosophischen Texte notwendigen Quellen zuzugreifen. Die grundlegenden Elemente jeder Hypertextstruktur sind Knoten (nodes, nœuds) und Verbindungen (links, liens) zwischen diesen. Hieraus ergibt sich die Nicht-Linearität des Leseprozesses im WWW. Anders als bei einem herkömmlichen Text, den ein Leser in der Regel sequentiell-linear von Anfang bis Ende lesen wird, übt der Leser in einem Hypertextsystem einen direkten Einfluss auf den Lesestoff aus. Je nach dem Grad der Vernetzung 15 eines solchen Textes werden die Inhalte vom Nutzer so nach seinem individuellen „situativ-interessegeleiteten Informations- oder Lernbedürfnis prinzipiell beliebig abruf- und kombinierbar“ (Lang 1998, 304). Theoretisch ist so jeder Text im WWW über eine gewisse Anzahl von links mit allen anderen Texten im WWW verknüpft. Es entsteht also ein offener dynamischer Raum, ohne Anfang und Ende, der auf beliebigen Wegen erkundet werden kann. Hieraus ergibt sich, dass der Nutzer im WWW einen jeweils eigenen, individuellen Text produziert und konsumiert. Aufgrund der Organisation des Wissens im Netzwerk können weder 14 Vgl. zu diesen Aspekten auch die Ausführungen zu Intertextualität und Intermedialität im Kapitel II.6. 15 Pierre Lévy definiert Hypertext als „texte structuré en réseau“ (Lévy 1997, 67). 246 der Lektüreprozess noch der Text selbst als abgeschlossenes autonomes System analysiert werden, wie dies z.B. beim Buch noch möglich war. 16 Allerdings weisen Kritiker darauf hin, dass auch das sequentielle Lesen traditioneller Printmedien als aktiver und kreativer Prozess der Sinngebung zu verstehen ist und auch die Verknüpfung verschiedener Texte - in beschränkterem Umfang - kein neues Phänomen darstellt: so z.B. in Fußnoten, Querverweisen etc. Auch in der Literatur wurden ähnliche Verfahren bereits früher eingesetzt. Der französische Schriftsteller Raymond Queneau veröffentlichte z.B. 1961 seine Cent Mille Milliards de Poèmes, die es dem Leser ermöglichten, aus einer Sammlung von Papierstreifen mit je einem Vers eine kreativ-individuelle Lesart der Poesie Queneaus zu entdecken. 1973 entwickelte Queneau sein computergestütztes Werk Conte à votre façon, in dem der Leser am Ende eines jeden Abschnitts eine binäre Entscheidung über den weiteren Verlauf der Handlung treffen muss und am Ende sein eigenes récit composé als kontinuierlicher Text präsentiert wird. Neu am Hypertextsystem des WWW ist jedoch - neben der digitalisierten Form - die Integration von Bildern, Videos, Animationen, Datenbanken etc., die hypertextuell untereinander verknüpft werden können. Nicht nur als links markierte Textstellen, sondern auch Bilder, Animationen usw. können Knotenpunkte der Hypertextstruktur sein und auf andere Elemente verweisen. Daher bietet es sich an, nicht nur von Hypertext, sondern von Hypermedia oder der Hypermedialität des WWW zu sprechen. Das Konzept der Hypermedialität steht in enger Verbindung mit dem Begriff Multimedia oder Multimedialität. Als Multimedia wird die Verbindung verschiedener Text-, Bild- und Tonmedien durch digitale Technik verstanden, so dass eine interaktive Nutzung möglich ist (Becker/ Werner 1997, 88). Herkömmliche Kombinationen oder Additionen aus analogen Medien - wie z.B. Texte und Bilder in einer Zeitung - könnten nach dem Vorschlag Norbert Langs (1998, 297) als Medienmix bezeichnet werden. Multimedia aktiviert mehrere Sinnesmodalitäten, sowohl der visuelle als auch der auditive und der haptische Kommunikationskanal werden angesprochen. 17 Eine haptische Dimension haben Multimedia-Anwendungen aufgrund der Interaktionsmöglichkeiten des Nutzers durch Ein- und Ausgabeelemente, z.B. zur Steuerung und Ordnung der Inhalte über Tastatur oder Maus, die einen bidirektionalen Informationsfluss erlauben. Weiterhin ermöglicht die digitale Vorhaltung der Informationen die Kopräsenz 16 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die zunehmende Kommerzialisierung des WWW und die Finanzierung von Websites über Bannerwerbung einerseits zwar den Nutzer zum Besuch verschiedener (Sponsoren-)Angebote animieren möchte, andererseits der Anbieter einer Seite ein gesteigertes Interesse daran hat, die Verweildauer der Besucher möglichst lange zu halten, so dass der Preis für die Werbeflächen steigt. Eine umfassende Verlinkung zu anderen Websites ist aus finanzieller Perspektive daher nicht unbedingt sinnvoll. 17 Versuche zur Integration von Geschmacks- und Geruchssinn wurden bereits durchgeführt, gelangten jedoch bislang nicht zur Marktreife. 247 von statischen und dynamischen Daten, d.h. Elemente (wie Texte, Grafiken etc.) einer Multimedia-Präsentation können unveränderlich und zeitunabhängig dargeboten werden, während andere - wie Animationen, Musik und Video - kontinuierlich ablaufen. Hieraus ergibt sich ein informativer Mehrwert gegenüber dem analogen Medienmix, der von den meisten Autoren mit neuro- und kognitionswissenschaftlichen Argumenten zur besseren Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns bei Ansprache mehrerer Sinnesmodalitäten begründet wird. Das Phänomen Multimedia findet sich sowohl in Onlineals auch in Offline-Medien wieder: CD-Roms und DVDs (Digital Video Disk) sind Multimedia- Anwendungen, die auch ohne die Vernetzung von Computern genutzt werden können. Weiterhin besteht die Möglichkeit hybrider Anwendungen, wie z.B. CD-Roms, die mit einem Zugang zum Internet dem Nutzer über entsprechende Websites ein umfassenderes Informationsangebot zur Verfügung stellen oder sich online aktualisieren lassen, wie z.B. im Falle von elektronischen Nachschlagewerken. Greift ein Multimedia-Produkt zu Steuerung und Navigation auf eine Hypertextstruktur zurück, so spricht man von Hypermedia. Da dies für die meisten modernen Anwendungen zutrifft, werden Multimedia und Hypermedia oft synonym verwendet (Lang 1998, 305). Eine andere Annäherung an den Begriff schlägt Pierre Lévy (1997, 76) vor: Da Multi-/ Hypermedia auf den beiden Voraussetzungen Multimodalität - d.h. der Ansprache mehrerer Sinne - und Bereitstellung aller Inhalte in digitalisierter Form beruht, sei es angebracht, von einem unimédia multimodal zu sprechen. Es handele sich nämlich weniger um die Darbietung verschiedener Medien nebeneinander, sondern vielmehr um die Integration verschiedener medialer Präsentationsformen auf einem einzigen Träger auf digitaler Basis, der es dann erlaube, verschiedene Sinne des Nutzers anzusprechen (Multimodalität). Die komplexe hypermediale Struktur des Internet führt zu einer kaum überschaubaren Fülle von Angeboten. Gerade durch die Durchdringung der verschiedensten Lebensbereiche stellen die Orientierungsmöglichkeiten des Nutzers im WWW eines der zentralen Problemfelder dar: das Nebeneinander von privaten Homepages und offiziellen Angeboten von Institutionen wie der französischen Nationalbibliothek (http: / / www.bnf.fr), des Außenministeriums (http: / / www.diplomatie.fr) oder des Premierministers (http: / / www.premierministre.fr), von E-Commerce (z.B. http: / / www.fnac.com oder http: / / www.amazon.fr) bis zu Dienstleistungen traditioneller Massenmedien wie z.B. des Fernsehsenders France 2 (http: / / www.france2.fr) oder von Radio France Internationale (http: / / www.rfi.fr) sowie Internet-Metamedien (wie Suchmaschinen (z.B. http: / / www. nomade.tiscali.fr), Linksammlungen und -kataloge) wirft die Frage der Mediennutzungskompetenz auf. Zur erfolgreichen Nutzung der Möglichkeiten, die das Internet gerade im WWW bietet, ist die Entwicklung von Relevanz- und Ordnungskriterien zur Bewertung der dargebotenen Informationen von zentraler Bedeutung. Gerade die partizipative Konzeption des WWW, die die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten/ Rezipienten einer Nachricht aufhebt, 248 verlangt dem Anwender ab, Glaubwürdigkeit, Seriosität und Informationswert der Quellen genau zu prüfen. Noch ist offen, inwiefern eine ‚Qualitätskontrolle‘ - im Sinne des Vorschlags eines frankophonen Qualitäts-Labels im Rapport Bloche - durchsetzbar und wünschenswert ist. 18 7.4 Internet und andere Medien Die rasche Verbreitung des World Wide Web im Zuge seiner kommerziellen Nutzung seit Mitte der 1990er Jahre stellte auch die traditionellen Massenmedien vor neue Herausforderungen. Selbst wenn das Internet nicht das oft heraufbeschworene Ende der traditionellen Medien bedeutete - Entwicklungen wie das E-book konnten sich bislang nicht durchsetzen -, so mussten sich gerade die Massenmedien auf die veränderte Medienlandschaft einstellen. 19 Zum einen veränderten sich die Produktionsbedingungen der Medieninhalte. Durch schnellere, unmittelbare Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten (E-Mail, WWW etc.) konnten neue Quellen erschlossen und genutzt werden und auch Nachrichten eine umfassendere und schnelle Verbreitung erfahren. Gerade für Medien, die bislang unter erschwerten Bedingungen arbeiten mussten - wie z.B. in zahlreichen Ländern im frankophonen Afrika - bedeutete dies mitunter eine deutliche qualitative Verbesserung der Produktionsbedingungen und des Informationsangebots. 20 Eine zweite Herausforderung bedeutete die Präsenz der Medien im World Wide Web in Form eines eigenen Internet-Angebots. Durch steigende Nutzerzahlen erschien eine eigene Webpräsenz für Printwie audiovisuelle Medien den meisten Medienunternehmen bald als unumgänglich. In Frankreich konnten viele Anbieter bereits auf Erfahrungen mit dem Btx-System Minitel zurückgreifen. Neben gewissen Marketing-Effekten lassen sich über ein Online-Angebot auch neue Zielgruppen erschließen, wie z.B. Emigranten und andere an Frankreich Interessierte im Ausland. 18 Gerade die Verfechter des Internets als offenem Raum ohne regulative Einflussnahme verwehren sich gegen den Gedanken einer Kontrolle, wie sie z.B. im Bereich der Printmedien durch das Verlagswesen gewährleistet ist. 19 Das Medium Buch ist z.B. vor allem indirekt durch die Erschließung neuer Distributionswege durch Online-Buchhändler wie Amazon.com oder in Frankreich fnac.com betroffen. 20 Auch wenn der afrikanische Kontinent mit lediglich 1% kaum Anteil an der weltweiten Internet-Nutzung zu haben scheint, muss - zumindest für das subsaharische Afrika - eine spezifische kollektive Nutzung von Internetzugängen in Betracht gezogen werden. Die Infrastruktur dafür bieten die zahlreichen ‚télécentres‘ oder ‚cybercentres‘ genannten Internet-Cafés, die selbst in abgelegeneren Regionen zu finden sind und vor allem der jüngeren Bevölkerung den Zugang zu zahlreichen (auch afrikanischen) Internet- Angeboten ermöglichen (vgl. Lüsebrink 2004; Bonjawo 2002). 249 Inhaltlich bieten die Websites der traditionellen Medien wie Zeitung, Fernsehen und Radio zunächst ein komplementäres Angebot. So können sich Internetnutzer z.B. auf den Homepages der Fernsehsender ausführlich über das Programm informieren, Aspekte einzelner Sendungen vertiefen oder sich Programmvorschläge nach individuellen Interessen zusammenstellen lassen. Weiterhin nutzen die Sender die interaktiven Möglichkeiten des Internets zur Integration von E-Commerce-Angeboten (z.B. Fan-Artikel, Videos etc.) und zur Bindung der Zuschauer; gerade loft story, die französische Ausgabe des Endemol-Sendekonzeptes big brother, wurde z.B. als Medien-Mix mit On- und Offline-Elementen präsentiert. Einer besonderen Herausforderung sahen sich die Printmedien gegenüber gestellt (De Laubier 2000; Guérin 1996). Obwohl die Zeitungen und Zeitschriften in Frankreich dank Minitel bereits sehr früh Erfahrungen mit elektronischen Medien sammeln konnten, präsentierten sich die französischen Printmedien nur zögerlich im World Wide Web (Le Monde diplomatique war 1995 die erste französische Zeitung mit einer Online-Ausgabe), zumal die große Verbreitung des Internets z.T. als Bedrohung v.a. der traditionellen Tagespresse wahrgenommen wurde. Hauptargument waren die schnellen Reaktionsmöglichkeiten und dadurch größere Aktualität des Online-Mediums. Die frühen Web-Angebote der Presse variierten von einem einfachen Verweis auf die Print-Ausgabe bzw. Angaben zu den Bezugsmöglichkeiten (so z.B. im Fall des Wirtschaftsmagazins Capital, dessen Website http: / / www.capital.fr auch heute nur auf ausgewählte Artikel der Papier-Ausgabe verweist) bis zu einer direkten Übertragung der Artikel der gedruckten Zeitung ins Internet. Die spezifischen Eigenschaften des Mediums fanden in diesem Stadium noch kaum Berücksichtigung. Inzwischen bieten die meisten Zeitungen und Zeitschriften über eine eigene Online-Redaktion mediumsgerecht aufbereitete Inhalte im WWW an. Die Frage, ob eine Internet-Ausgabe eingerichtet werden soll und ob diese der Zeitung schadet, wurde weitgehend abgelöst von Überlegungen zum Zusammenspiel zwischen Online- und Offline-Version: Welche Angebote sollen in welcher Form im WWW zur Verfügung gestellt werden, damit die (finanzielle) Existenz der gedruckten Zeitung nicht gefährdet wird. Aktuelle Webseiten von Zeitungen, wie z.B. http: / / www.lemonde.fr, nutzen die interaktiven Möglichkeiten des Mediums Internet und passen die Inhalte in Umfang und Layout an die Präsentationsform auf dem Computer-Monitor an. So kann der Leser direkt an die Autoren Feedback per E-Mail geben, an - im Falle von Le Monde - etwa 30 Diskussionsforen teilnehmen, die im forum le monde in insgesamt zehn Rubriken von dossiers de l’actualité über culture bis hin zu éducation organisiert sind; ein newsticker (prompteur de dépêches) stellt unter les dernières dépêches aktuelle Agenturmeldungen bereit; zu verschiedenen Schwerpunkten kann ein Newsletter abonniert werden etc. Viele Zeitungen verfolgen im Internet eine gemischte Strategie zwischen Gratis-Angeboten und kostenpflichtigen Diensten - im Fall von lemonde.fr z.B. mit Zugang zu thematischen Dossiers, Archiven, einer nach persönlichen Interessen zusammengestellten Ausgabe oder 250 der Möglichkeit zum Download der kompletten Papier-Ausgabe. Auf diese Weise entsteht ein komplementäres Angebot zur klassischen Tageszeitung, das das Medium um die interaktiven Möglichkeiten sowie die Echtzeit-Aktualisierung des WWW ergänzt. 21 7.5 Problemfelder und Perspektiven Die technologischen und kommunikativen Neuerungen im Rahmen der Entwicklung der Neuen Medien wecken fast zwingend den Diskussionsbedarf über die Konsequenzen aus diesen Veränderungen in den Medienlandschaften. Drei der zentralen Diskussionsfelder sollen an dieser Stelle kurz umrissen werden: die Debatte um den partizipativ-demokratischen Charakter der Neuen Medien, das damit verbundene Problem des digital divide und des Zugangs zu den Medienangeboten sowie die Diskussion der potenziellen Konvergenz von medientechnischen Apparaten und Inhalten im Internet. Seit Beginn der massenwirksamen Verbreitung des Internet ist dessen demokratisches Potenzial zentrales Element der medientheoretischen Debatten. So wurde z.B. bereits in den ersten Jahren des Usenet eine Diskussion über die Meinungsfreiheit in den verschiedenen Newsgroups geführt. Mit dem World Wide Web verlagert sich die Debatte von der Problematik der freien Meinungsäußerung auf die Frage, ob das Internet wirklich neue partizipative Möglichkeiten und damit einen demokratischen Raum eröffnet oder ob es nicht doch ein eher konsumtives Medium im Sinne der traditionellen Massenmedien Radio und Fernsehen ist. Verfechter des Internets als partizipativ-demokratisches Medium stehen in der Tradition der Radiotheorie Bertolt Brechts, der bereits in den 21 Zur Analyse von Webseiten liegen bislang kaum eigene methodische Instrumentarien vor. Semiotische Ansätze erscheinen vielversprechend, da sie sowohl die Textals auch die Bildebene erfassen können. Der multimediale Mehrwert von Web-Angeboten erfordert allerdings Beschreibungs- und Analysewerkzeuge, die Interaktionsmöglichkeiten, Hypertextstrukturen und in diesem Zusammenhang auch die Beziehungen zu anderen Angeboten berücksichtigen. Aaron Marcus (2001) unterscheidet fünf Komponenten von Webseiten, die gerade für vergleichende Analysen fruchtbar sein können: Metaphern: Grundlegende Konzepte, die über Wörter, Bilder und Töne vermittelt werden; z.B. ‚Chatrooms‘, ‚Einkaufswagen‘ oder ‚Seite‘; Mentale Modelle: Die Organisation von Daten, Funktionen, Aufgaben, Rollen und Personen; z.B. Gruppen von Personen bei Arbeit und Spiel, Hierarchien etc.; Navigation: Die Art und Weise, wie der Nutzer sich durch mentale Modelle bzw. die Inhalte einer Website bewegt; z.B. Menüs, Dialog-Felder, Icons und Fenster; Interaktion: In- und Output-Techniken; z.B. über Drag-and-drop, Feedback-Möglichkeiten, Foren etc. Erscheinungsbild ("Appearance"): Visuelle und auditive Eigenschaften; z.B. gewählte Farben und Schrifttypen, Text-Bild-Verhältnis, Sprachregister (formelle/ informelle Ansprache) etc. 251 1930er Jahren im Medium Radio ein emanzipatorisch-demokratisches Potenzial zur Aufhebung der strikten Rollentrennung zwischen Sender und Empfänger sah, 22 und des „Baukasten[s] zu einer Theorie der Medien“ Hans Magnus Enzensbergers von 1970, der Brechts Ansatz auf die Gesamtheit der neuen Medien ausweitet: Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär. Durch einen einfachen Schaltvorgang kann jeder an ihnen teilnehmen; die Programme selbst sind immateriell und beliebig reproduzierbar. (160) In Frankreich wird diese Position z.B. von Pierre Lévy (1997) vertreten, der in geradezu euphorischer Art und Weise die demokratischen Freiheiten des cyberspace beschreibt, in dem der Nutzer nicht nur durch die individuelle Lesart in einer Hypertextstruktur im Verlauf der Lektüre seinen eigenen Text produziert, sondern auf einfache und direkte Art eine eigene Homepage entwerfen und so zum eigenen ‚Content-Provider‘ werden kann. 23 So entstehe ein Prozess der ‚écriture - lecture collective‘ (Lévy 1997, 69), ja sogar eine ‚intelligence collective‘ (31), die als Motor der cyberculture fungiere. Die kritische Gegenposition betont in erster Linie den kommerziellen Charakter des World Wide Web, der demokratisch-partizipative Angebote zur Randerscheinung mache. Dominique Wolton (1999) anerkennt vor allem die individuelle Kommunikation als zentrale Funktion des Internets, da diesem die grundlegenden Eigenschaften der herkömmlichen Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, fehlten, die zur Herausbildung einer sozialen Identität, zur Vergemeinschaftung, zum sozialen Zusammenhalt - kurz: zur Öffentlichkeit im Habermas’schen Sinn - beitragen. Dies könne nur über die Übermittlung der gleichen Botschaft an die Gesamtheit der Gesellschaft gewährleistet werden. Das Medium Internet trage dagegen vielmehr zur Fragmentierung und Individualisierung der Gesellschaft bei. Eng verbunden mit der Debatte um das Internet als demokratisches Medium ist die Frage nach dem tatsächlichen Zugang zum Internet und nach seiner einfachen Handhabbarkeit. Die ungleiche Verteilung der Zugangsmöglichkeiten zum weltweiten Netz wird unter der Bezeichnung digital divide (fossé numérique) diskutiert, in Anspielung auf die soziale Kluft, die sich zwischen denen, die ‚drin‘ sind, und den übrigen, ohne Zugang zum Netz, auftut. Die digitale Scheidelinie verläuft aber nicht nur zwischen Nord und Süd, zwischen Industrie- und Entwicklungsländern; auch innerhalb der Gesellschaften, die wie die EU-Staaten und Nordamerika den Großteil der Nutzer des WWW stellen, wird man sich der zunehmenden Gefahr der sozialen Spaltung bewusst, wenn keine Anstrengungen 22 Eine Argumentation, die sich heute beispielsweise in Texten zu den Möglichkeiten der Web-Radios wiederfindet (so z.B. von der Mühlen 2000, 34). 23 Auch die Teilnahme an Meinungs- oder Diskussionsforen im Netz, Eintragungen in Gästebücher auf Homepages etc. verändert natürlich die Rolle des Nutzers und machen ihn zum Produzenten von Inhalten. 252 unternommen werden, um allen Bevölkerungsschichten Zugang zu den neuen Medien zu ermöglichen. Dies soll z.B. über spezielle öffentliche Internetanschlüsse und Kurse für Senioren, sozial Schwache usw. gewährleistet werden. 24 Als einen der Hauptgründe für die ungleiche Teilnahme am WWW innerhalb der westlichen Gesellschaften, in denen die finanzielle und technische Ausstattung ein weitaus geringeres Problem als in Ländern der Dritten Welt darstellt, sehen kritische Stimmen wie Hans Magnus Enzensberger (2000, 15) und Wolf Lotter (2000, 208) das Problem der usability, der Benutzerfreundlichkeit, der neuen Medien und gerade der PCs als wichtigste Zugangsapparate zum Internet an. So müsse sich meist der Mensch an das Medium anpassen, um es überhaupt bedienen zu können - und nicht umgekehrt; und die Vielzahl der im multimedialen Haushalt notwendigen technischen Geräte, eine ganze ‚Kistenfamilie‘ (Enzensberger 2000, 15) von Videorekordern über Modems und Scanner bis hin zu den Anwendungsprogrammen, schließe einen großen Anteil der Bevölkerung von der Teilnahme am digitalen Multimedia aus. An diese Position schließt sich die Frage nach der weiteren Entwicklung der neuen Medien an. Einerseits wird eine Konvergenz der elektronischen Geräte und der Medieninhalte im Meta-Medium Internet prognostiziert - World Wide Web, digitales Fernsehen und Radio, Telefon etc. könnten alle über die Internet- Technologie genutzt werden; die ‚alten‘ Medien würden gleichsam im Internet integriert. Momentan spricht aber noch die mangelnde Ausstattung an leistungsstarken Breitband-Zugängen dagegen, die für eine angemessene schnelle Darstellung von Multimedia-Inhalten (v.a. Video) Voraussetzung sind. Andererseits wird auch die Entwicklung von jeweils spezifischen Endgeräten für einzelne Anwendungen von Seiten der Industrie vorangetrieben. Spezielle Terminals, z.B. nur zum Surfen im World Wide Web, sollen das Vielzweck-Gerät PC ersetzen und gleichzeitig die Benutzerfreundlichkeit erhöhen. Welcher auch immer der zukünftige Platz des Internets in der Gesellschaft sein mag, das digitale Netz bleibt zunächst eine technische Grundlage mit einer Vielzahl von verschiedenen Anwendungen, die zwar auf gemeinsamen Grundprinzipien der Wissensorganisation (wie Hypermedialität und Interaktivität) beruhen, in ihrer Heterogenität jedoch ihrem jeweils spezifischen Kommunikationsziel gemäß gesondert betrachtet werden müssen. An E-Mail oder Homebanking werden eben nicht die gleichen medialen und ästhetischen Anforderungen gestellt wie an ein virtuelles Kunstprojekt oder netzbasierte Serviceangebote. 7.6 Bibliographie Abbate, Janet: Inventing the Internet. 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Dabei zeichnen sich die verschiedenen Dispositive mit ihrer je eigenen Technik- und Mediengeschichte als Entwicklungen innerhalb der Medienlandschaft zum einen als Antwort auf kommunikative und mediale Bedürfnisse im Laufe der Jahrzehnte ab und zum anderen als die Suche nach dem stets Neuen in technischer und künstlerischer Hinsicht. In der diachronen Entwicklung sind dabei immer wieder Konkurrenzsituationen entstanden, die dazu führten, dass die jeweils neuen Medien, sei es das Kino zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder das Fernsehen seit den 1950er Jahren, sich gegenüber den bereits etablierten Medien behaupten mussten. Dies erfordert gleichfalls eine Definition des Nutzens, des Auftrags und der Besonderheit jedes Mediums, was es im Vergleich zu den anderen zu leisten vermag. Dabei zeigt sich auch im französischen Kontext, dass jedes Medium seinen besonderen Platz einnimmt, der sich aus dem Zusammenspiel von historischen Entwicklungen, Konkurrenzsituationen, Erwartungshaltungen und dem Selbstverständnis der Medienpolitik in Frankreich ergibt, was sich z.B. an Phänomenen wie dem noch immer hohen Ansehen der französischen Kinoproduktionen oder auch an der Dominanz der Zeitschriften gegenüber den Zeitungen auf dem französischen Printmedienmarkt ablesen lässt. Digitale Herausforderungen Bei aller Spezifik des französischsprachigen Kulturraums und der Parallelität und Komplementarität der einzelnen Medien untereinander zeichnet sich dennoch eine Tendenz ab, die für alle Medien gilt, nämlich die zunehmende Digitalisierung, die alle Medien gleichermaßen erfasst. So beeinflusst die Speicherung von Informationen in der äußerst reduzierten Form von Ein/ Aus-Zuständen bzw. im binären Code aus Nullen und Einsen nicht nur die materielle Beschaffenheit der Medien, sondern auch in erheblichem Maße ihre Produktionsbedingungen, wie z.B. die journalistische und gestalterische Arbeit bei den Printmedien, ebenso wie digitale Radio- und Fernsehsender, die den Zuschauern Möglichkeiten zur Interaktion bieten, oder auch computererzeugte Effekte in Spielfilmen - wie 256 z.B. in dem französischen Film Le fabuleux destin d’Amélie Poulin von Jean- Pierre Jeunet oder in den neueren Produktionen von Luc Besson - bis hin zu den ersten vollständig digital animierten abendfüllenden Filmen wie der Disney- Produktion Toy Story (1995). In diesem Kontext ist als bisher jüngste mediale Entwicklung das World Wide Web zu nennen, das sich die digitale Speicherung zunutze macht, um andere Medien quasi zu ‚imitieren‘ und zu integrieren, wodurch eine Kopräsenz der Einzelmedien einerseits und intermedialer Phänomene andererseits erzielt werden können: Texte verschiedener Gattungen, gesprochene Sprache, Bilder, Musik und Videos können darüber hinaus durch interaktive Elemente ergänzt werden. So werden nicht nur die Grenzen zwischen verschiedenen medialen Gattungen durchlässig; die spezifischen Produktions- und Nutzungsbedingungen des Internets führen auch dazu, dass eine klare Unterscheidung von Individual- und Massenmedien nicht mehr zu leisten ist. Charakteristisch für diese Medien ist auch, dass die Trennung zwischen Oralität und Schriftlichkeit im Internet nicht mehr ohne weiteres aufrechterhalten werden kann. Als Beispiel seien die - aus linguistischer und intermedialer Perspektive interessanten - kreativen Sprachschöpfungen der Chat-Communities genannt: Die Beschränkung auf die schriftliche Kommunikation und die damit verbundene Kanalreduktion, die non- und paraverbale Phänomene ausschließt, werden z.B. durch den Gebrauch von Emoticons wie dem bekannten smiley ☺ kompensiert. Die französische ‚bise‘ wird so auch virtuell durch die Zeichenkombination : -* möglich. Weitere Beispiele sind onomatopoetische Wortschöpfungen wie arf für ein verhaltenes Lachen, Akronyme wie alp (‚à la prochaine‘) oder mdr (‚mort de rire‘), Ausdrücke aus dem verlan wie tof (‚photo‘) und lautsprachliche Kurzfassungen von Wörtern, die aus sprachökonomischen Gründen verwendet werden: kk1 (‚quelqu’un‘), oqp (‚occupé‘), g (‚j’ai‘), pkoi (‚pourquoi‘) etc. Eher problematisch sind die Konsequenzen der Digitalisierung für die Frage nach dem Autor bzw. dem Urheberrecht. Nicht nur das viel diskutierte Thema der illegalen Kopien v.a. von Musiktiteln und Filmen, die sich qualitativ und materiell nicht vom Original unterscheiden, sondern auch die Möglichkeiten der Manipulation von Inhalten stellen Produzenten wie Nutzer vor neue Fragen und Herausforderungen: Jeder kann mit geringen technischen Kenntnissen Inhalte nach Belieben verändern oder eigene Dokumente erstellen und veröffentlichen und zum Produzenten von Inhalten werden, wodurch eine unüberschaubare Angebotsschwemme im Internet entsteht, ohne dass diese Selektions- und Bewertungsinstanzen unterliegen würden. Damit läuft der Nutzer Gefahr, zwischen relevanter Information und reiner ‚Datenflut‘ die Orientierung zu verlieren. In diesem Zusammenhang stellt sich erneut die Frage der Authentizität von Informationen und Bildern, die ihren ‚Wahrheitsgehalt‘ und ihre Referentialität zu einer gelebten Realität mit der zunehmenden Virtualität und Konstruktivität von Wirklichkeit und ihrer Wiedergabe zu verlieren drohen. Trotz der weiter steigenden Internetnutzung - gerade im Bereich der Nachrichten - erfüllen daher immer noch in erster Linie Tageszeitungen, Radio und Fernsehen die Orientierungsfunktion innerhalb einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern einen gemein- 257 samen Erfahrungshorizont ermöglicht und damit zur Kohäsion einer Gemeinschaft beiträgt. Im Hinblick auf das Internet trifft man wieder auf die ‚exception française‘, denn auch im Bereich der digitalen Medien ist der Einsatz seitens der französischen Regierung zur aktiven Förderung der Neuen Medien bemerkenswert. Nicht nur der rapide Anstieg der Zahl der französischen Internetnutzer ab 1997 ist maßgeblich auf staatliche Intervention zurückzuführen; der französische Staat nutzt auch massiv die Möglichkeiten des Internets, um Frankreich als Einheit in der Vielfalt nach innen ebenso wie nach außen zu propagieren (vgl. Kapitel II.7). So erklärt sich das Bestreben, mit ausführlichen und ständig aktualisierten Internetseiten zu den verschiedenen kulturellen Bereichen - darunter auch die Einzelmedien - präsent zu sein ebenso wie mit dem Web-Angebot der transnational orientierten frankophonen Medien RFI und TV5 oder der Beteiligung an der Organisation internationale de la Francophonie. Interdisziplinäre Perspektiven Abgesehen von der historischen und mediengattungsorientierten Ausrichtung des Bandes, der eine Einordnung der Medien in die französische Medienlandschaft verfolgt, ist die Beschäftigung mit dem Fach selbst unerlässlich. Die interdisziplinäre Herangehensweise an den komplexen Gegenstand ‚französische Kultur- und Medienwissenschaft‘ erfordert eine Standortbestimmung innerhalb der deutschen Hochschullandschaft, die das Zusammenspiel aus landeskundlichen, medien- und kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen und Zielsetzungen den Studierenden näher bringt und auch eine Umsetzung erlaubt. Neben den historischen Pfeilern der (Franko-)Romanistik, der Sprach- und Literaturwissenschaft, nehmen landeskundliche und kultur- und medienwissenschaftliche Inhalte inzwischen einen festen Platz in den Curricula an deutschen Universitäten ein. Die kulturraumbezogene Herangehensweise impliziert solch eine interdisziplinäre Verschränkung auch mit kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen. Die Entwicklung dieses Fachgebiets vollzog sich unter ähnlichen Bedingungen wie die der so genannten ‚Landeskunde-Diskussion‘ in der Romanistik in den 1970er Jahren 1 : Die zunehmende Bedeutung der audiovisuellen Medien - insbesondere des Fernsehens - stellte die Fokussierung des Fachs auf Literatur- und Sprachwissenschaft in Frage und förderte die Hinwendung der Geisteswissenschaften zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Ein weiterer Faktor stellte die Forderung der Kultusministerien dar, landeskundlichen Inhalten im schulischen Französischunterricht einen größeren Stellenwert beizumessen. Parallel hierzu eröffneten sich für Absolventen geisteswissenschaftlicher Studiengänge zunehmend neue Tätigkeitsfelder in den Medien und der Wirtschaft. Mit dem Zusammentreffen dieser Veränderungen in verschiede- 1 Vgl. hierzu den Überblick mit weiteren Literaturhinweisen in Höhne/ Kolboom 2003. 258 nen und doch miteinander verbundenen Bereichen wurden neue Ansprüche an das Fach herangetragen (vgl. Lüsebrink 1995, 23f.). Vor allem mit der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung der Neuen Medien, aber auch der sprunghaften Zunahme medialer Angebote seit der Einführung des Privatfernsehens wird den Geisteswissenschaften die Vermittlung von Mediennutzungskompetenz als eine zentrale Aufgabe zugesprochen, die sich auch in den schulpolitischen Debatten niederschlägt. Als zentrale Kompetenzen - nicht nur für Schüler - werden die Fähigkeiten angesehen, sich im Informationsüberangebot orientieren, unter den vielfältigen Medienangeboten eine sinnvolle Auswahl treffen und diese kritisch bewerten zu können. Auch im schulischen Kontext bislang nur marginal behandelte Medien wie dem Film wird zunehmend Bedeutung beigemessen, wie die Diskussion um die Einführung eines Fachs ‚Filmwissenschaft‘ zeigt, deren Wurzeln sicherlich auch auf die Problematik des potenziellen Einflusses von Gewalt in den Medien auf schulische Gewalt zurückzuführen sind. Die Universität als Ausbildungsstätte zukünftiger Lehrer ist im Zuge dieser gesamtgesellschaftlich relevanten Veränderungen gefordert, Inhalte auf diese Bedürfnisse abzustimmen und ihre Absolventen mit diesen - in einer ‚Wissensgesellschaft‘ unabdinglichen - Kompetenzen auf die Arbeitswelt vorzubereiten. Somit führte die erwähnte Neuorientierung zur Landeskunde in den 1970er Jahren auch zu einem wachsenden Interesse an medienwissenschaftlichen Fragestellungen in den Fremdsprachenphilologien. Dennoch wurde die Beschäftigung mit Medien noch lange vorwiegend als ‚Bildschirmphilologien‘ (Schmidt) betrieben: Der Schwerpunkt lag auf textbasierten Gattungen wie dem Chanson und dem Theater, dann auch auf dem Spielfilm, vor allem unter dem Aspekt der Literaturverfilmung. Performative Aspekte oder populärkulturelle Phänomene wie Fernsehen oder auch Werbung fanden zunächst nur vereinzelt Berücksichtigung. Die technische Entwicklung neuer Aufzeichnungsmöglichkeiten, insbesondere des Videorekorders, führte dann auch zur Erschließung neuer Untersuchungsgegenstände und Analysemethoden, insbesondere zu Film und Fernsehen. So hat auch diese Form von authentischen Materialien in den Unterricht Einzug gehalten, was lange Zeit der Literatur und den Printmedien vorbehalten war. Sehr schnell haben sich in der deutschen Hochschullandschaft Spezialisierungen herauskristallisiert, die sich beispielsweise intermedialen Phänomenen (im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs ‚Medienumbrüche‘ an der Universität Siegen) zuwenden oder auch populären Medien wie dem Fernsehen (beispielsweise an den Universitäten Mannheim und Saarbrücken). Die Kultur- und Medienwissenschaft verfolgt demnach das Ziel, nicht nur eine Medienkompetenz zu vermitteln, sondern auch im Bereich der Forschung eine intermediale und interkulturelle Medienanalyse (vgl. Lüsebrink/ Walter 2003) voranzutreiben. Die interdisziplinären Ansätze zeigten sich insbesondere in Grenzbereichen wie der interkulturellen Werbeanalyse (Dmoch 1997) oder auch der Vermittlung von Fremd- und Eigenbildern über Medien wie z.B. in den populärkulturellen 259 Gattungen Rundfunk-Satire (Behrmann 2002) oder Sportberichterstattung (Müller 2004) und in Comics (Sistig 2002) als gewinnbringend. Aber auch ein Vergleich von Fernsehserien kann für interkulturelle und intermediale Fragestellungen aufschlussreich sein, da diese aktuelle sozial und kulturell relevante Themen aufgreifen, so dass sie sich zu einer Plattform entwickeln können; so zum Beispiel das Aufgreifen von gesellschaftlich brisanten Themen wie Drogenmissbrauch oder Aids in Krimiserien (Fendler 2004), was ebenso in Frankreich wie in frankophonen Ländern anzutreffen ist. Der Transfer von Gattungen lässt Rückschlüsse auf die Bedürfnisse und Normsetzungen innerhalb eines gegebenen kulturellen Kontextes zu: Gattungen, die genuin auf historische Entwicklungen eines Landes oder einer Kultur zurückzuführen sind, wie z.B. der amerikanische Road-Movie, der in Québec einem beträchtlichen Wandel in der narrativen Struktur ebenso wie in den Inhalten unterliegt. Aber auch die Komödie ist im interkulturellen Vergleich hochinteressant, da gerade Komik mit Normverletzungen arbeitet, die sich mit Transferbewegungen verlagern können. Man denke hier nur an die französischen Kino- Komödien zu Résistance und Kollaboration, einem Thema, dessen Behandlung in diesem Genre in Deutschland noch sehr problematisch ist. Im afrikanischen Kontext lässt der Umgang mit Geschichte Beobachtungen im Hinblick auf unterschiedliche Perspektiven und eine langsame Schwerpunktverlagerung zu: das gemeinsame frankoafrikanische Geschichtskapitel der Tirailleurs Sénégalais wurde noch in den 1980er Jahren von dem senegalesischen Regisseur Ousmane Sembène mit didaktischem Anspruch behandelt, da eine historische Erfahrung tradiert werden, aber auch der afrikanischen Position eine Stimme (oder Bilder) verliehen werden sollte. Dagegen greift der burkinische Regisseur Kollo Daniel Sanou 2003 dasselbe Thema in Tasuma. Le feu in der Gattung der Komödie auf. Im Zusammenhang mit der Wiederkehr von Themen, in Form eines ‚writing back‘ oder auch einer ‚réécriture‘, wären auch Remakes als interkulturelles Phänomen zu nennen, die häufig einen Stoff oder Motive in einen anderen kulturellen Kontext transponieren und als ‚Übersetzung‘ in die andere Kultur gelesen werden können, wie die Hollywood-Adaptationen von französischen Filmen wie J.-L. Godards A bout de souffle (Breathless, J. McBride) oder C. Serreaus Trois hommes et un couffin (Three men and a baby, L. Nimoy). Aber auch die konzentrierte Darbietung intermedialer und interkultureller Phänomene innerhalb eines Werks lädt zu einer interkulturellen Medienanalyse ein, wie z.B. die Arbeiten des quebecischen Theater- und Filmregisseurs Robert Lepage, der in seinen multimedialen Inszenierungen das Aufeinandertreffen verschiedener Sprachen und Kulturen thematisiert (wie z.B. in Nô (Lüsebrink 2002)) und in Stücken wie La face cachée de la lune Theater mit anderen Medien wie Fernsehen, Musik und Radio eng verknüpft. Im französischen Kontext sind diesbezüglich insbesondere die Werke von Godard (Roloff/ Winter 1997) und Rohmer (Felten/ Roloff 2001) zu nennen. So macht die zunehmende Vernetzung und multimediale Präsenz von Medien eine Betrachtung der Einzelmedien immer schwieriger. Denn die Querverweise 260 zwischen den Medien, wie beispielsweise zwischen Literatur, Film und Internet schaffen ein Diskursnetz, das auch in seiner Gesamtheit betrachtet werden muss, um die Medialität beschreiben zu können. Diese multimediale Realisierung und Vernetzung, die zu Wechselwirkungen führen und Veränderungen nach sich ziehen können, sind in der Hinführung zu einer Medienkompetenz unerlässlich. Hinzu kommt der interkulturelle Aspekt, denn die spezifischen Eigenschaften eines Mediums in einem gegebenen kulturellen Kontext werden häufig erst im Vergleich deutlich. So sind die Quotenregelungen für französische Musikproduktionen im Radio, die die Stellung der Sprache und der Schaffung einer kulturellen Gemeinschaft fördern, ebenso eine Besonderheit wie die Förderung von Kinoproduktionen auf verschiedenen Ebenen. Aber auch die institutionelle Verankerung der Repräsentation Frankreichs nach außen über das Ministeramt ‚Ministre délégué à la coopération et à la Francophonie‘, den ‚Conseil supérieur de la langue française‘, die ADPF (Association pour la diffusion de la pensée française) oder TV5 gibt Aufschluss über das Selbstverständnis Frankreichs, das genuin verschieden von dem Deutschlands ist. Solche interkulturellen Vergleiche ermöglichen eine Annäherung an Eigen- und Fremdbilder, die sich über Medienproduktionen und -institutionen vermitteln. Bibliographie Behrmann, Sven: Politische Satire im deutschen und französischen Rundfunk. Würzburg, 2002. Dmoch, Thomas: Interkulturelle Werbung. Aachen, 1997. Felten, Uta/ Roloff, Volker: Rohmer intermedial. Tübingen, 2001. Fendler, Ute/ Fendler, Susane (Hg.): Prime Time - Crime Time - Global Time. Crime serials - global genre or regional speciality? Aachen, 2004. Fendler, Ute/ Naba, Jean-Claude: „Komik im afrikanischen Film - Ist interkulturelles Lachen möglich? “ In: Lüsebrink, Hans-Jürgen/ Walter, Klaus Peter (Hg.): Interkulturelle Medienanalyse. Methoden und Fallbeispiele aus den romanischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts. St. Ingbert, 2003, S. 163-188. Höhne, Roland/ Kolboom, Ingo: „Von der Landeskunde zu den Kultur- und Landeswissenschaften.“ In: Kolboom, Ingo/ Kotschi, Thomas/ Reichel, Edward (Hg.): Handbuch Französisch. Sprache - Literatur - Kultur - Gesellschaft. Für Studium, Lehre, Praxis. Berlin, 2003, S. 375-384. Lüsebrink, Hans-Jürgen: „Romanische Kulturwissenschaft und interkulturelle Kommunikation. Theorieansätze, Gegenstandsbereiche, Forschungsperspektiven.“ In: Ders./ Röseberg, Dorothee (Hg.): Landeskunde und Kulturwissenschaft in der Romanistik. Theorieansätze, Unterrichtsmodelle, Forschungsperspektiven. Tübingen, 1995, S. 23-40. Lüsebrink, Hans-Jürgen: „'Québec à la japonaise'. Robert Lepages Film Nô als multikulturelle Filmkomödie der Postmoderne.“ In: Kolboom, Ingo/ Grzonka, Sabine Alice (Hg.): Gedächtnisorte im anderen Amerika. Tradition und Moderne in Québec. Heidelberg, 2002, S.177-188. Lüsebrink, Hans-Jürgen/ Walter, Klaus Peter (Hg.): Interkulturelle Medienanalyse. Me- 261 thoden und Fallbeispiele aus den romanischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts. St. Ingbert, 2003. Müller, Jochen: Von Kampfmaschinen und Ballkünstlern. Fremdwahrnehmung und Sportberichterstattung im deutsch-französischen Kontext. Eine Presse- und Fernsehanalyse. St. Ingbert, 2004. Ochsner, Beate/ Grivel, Charles: Intermediale. Kommunikative Konstellationen zwischen Medien. Tübingen, 2001. Roloff, Volker/ Schanze, Helmut/ Scheunemann, Dietrich: Europäische Kinokunst im Zeitalter des Fernsehens. München, 1998. Roloff, Volker/ Winter, Scarlett Chr.: Godard intermedial. Tübingen, 1997. Sistig, Joachim: Invasion aus der Vergangenheit. Das Deutschlandbild in frankophonen Bandes Dessinées. Frankfurt/ M., 2002. Ute Fendler / Christoph Vatter narr studienbücher narr studienbücher Ziel des Bandes ist es, eine auf den Kulturraum Frankreich spezifizierte Einführung in die Kultur- und Medienwissenschaft zu geben, die die Vermittlung der wichtigsten theoretischen Grundlagen und eines Analyseinstrumentariums mit der Veranschaulichung durch konkrete Fallstudien und Demonstrationsbeispiele verbindet. Der Band gibt Studienanfängern der Romanistik (mit Schwerpunkt Frankreich) sowie anderen Interessierten für die Bereiche ,Kultur‘ und ,Medien‘ und die immer mehr an Bedeutung gewinnenden interkulturellen Studien eine solide und leicht fassliche Überblicksdarstellung an die Hand. ISBN 3-8233-4963-5 Hans-Jürgen Lüsebrink / Klaus Peter Walter / Ute Fendler / Georgette Stefani-Meyer / Christoph Vatter Französische Kultur- und Medienwissenschaft Eine Einführung Französische Kultur- und Medienwissenschaft 055004 Stud. Lüsebrink/ Walter/ 03.09.2004 16: 21 Uhr Seite 1 Fotosatz Hack, Dusslingen