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Das Subjekt in Literatur und Kunst

2011
978-3-7720-5408-2
A. Francke Verlag 
Simona Bartoli-Kucher
Dorothea Böhme
Tatjana Floreancig

Im vorliegenden Band, der aus einem internationalen Klagenfurter Symposion hervorging, werden die Stellung des Subjekts und die Entwicklung der Subjektivität vom Spätmittelalter(Dante) bis zur Postmoderne auf komparatistischer und interdisziplinärer Ebene untersucht. Während der erste Teil des Bandes hauptsächlich die frühe Moderne und die Romantik zum Gegenstand hat, beziehen sich Teil II und III auf die Spätmoderne (den Modernismus),die Avantgarden und die Neoavantgarden. Im vierten und letzten Teil wird Subjektivität in Musik, Malerei, Film und Design analysiert .In den meisten Beiträgen wird deutlich, dass der Spielraum, der dem Einzelsubjekt zur Verfügung steht, seit der Spätmoderne immer kleiner wird und dass die Emanzipationsversprechender Renaissance (etwa Montaignes oder Cervantes') nicht eingelöst wurden.

Simona Bartoli Kucher / Dorothea Böhme Tatiana Floreancig (Hrsg.) Das Subjekt in Literatur und Kunst Festschrift für Peter V. Zima Das Subjekt in Literatur und Kunst Simona Bartoli Kucher / Dorothea Böhme Tatiana Floreancig (Hrsg.) unter Mitwirkung von Brigitte Pappler Das Subjekt in Literatur und Kunst Festschrift für Peter V. Zima Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien, des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und der Dr. Manfred Gehring Privatstiftung in Klagenfurt. © 2011 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8408-9 Vorwort ................................................................................................. ix M ICHAEL S CHWARZE Dantes Poetik des Ich ............................................................................. 1 G ÜNTER B ERGER Identität und Rollenspiel bei Angelo Beolco alias Ruzante ................. 27 J AVIER G OMEZ -M ONTERO Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes (distingo, imaginatio, Zeitlichkeit)....................................................... 41 M ONIKA S CHMITZ -E MANS Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul ............................ 63 H EINRICH P ACHER Eichendorff und die Archäologie des Subjekts .................................... 85 S IMONA B ARTOLI K UCHER Zerfall des (weiblichen) Subjekts am Beispiel ausgewählter Novellen von Pirandello, Tozzi und Schnitzler.................................. 113 A NGELA F ABRIS Das Subjekt bei Broch und Burdin. Paradigmen der Zerrissenheit, Zerfallenheit und Austauschbarkeit.................................................... 131 P ATRIZIA F ARINELLI Bontempellis Repositionierung des Subjektes aus der Perspektive des Novecentismo ............................................................................... 147 ´ Inhaltsverzeichnis vi T ATIANA F LOREANCIG Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen bei Anaïs Nin und Robert Musil................................................................................ 163 W ALBURGA H ÜLK Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten. Zur Subjektivität und Form innerer Rede- und Bildströme um 1900............................. 181 H ELMUT M ETER Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire. Zum Verhältnis von „je“, „tu“ und „il“ in ausgewählten Gedichten............................ 203 D OROTHEA B ÖHME Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt........................................... 221 W ALTER F ÄHNDERS Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus .......... 237 A STRID P OIER -B ERNHARD Subjekt- und Körper(de-)konstruktion in Anne Garrétas Roman Sphinx ................................................................................................. 253 ! N ICO T HOM Subjektlose Musik? Kommunikationen über und durch Musik ohne Subjekte ..................................................................................... 279 S IMONE H EILGENDORFF Erfahrung minimalistischer Musik: Zu Morton Feldmans Untitled Composition ......................................................................... 297 J UTTA S TEININGER Künstlerische Inszenierungen - vom Selbstporträt zum Bild des postmodernen Selbst .......................................................................... 315 vii V OLKER R OLOFF Subjektivität und Theatralität. Surreale Spielformen der Autofiktion bei Robbe Grillet ............................................................ 335 J ÖRG H ELBIG Die Subjektivierung des filmischen Diskurses im zeitgenössischen Film am Beispiel postmortaler Erzählungen .......... 349 R AINER W INTER / S EBASTIAN N ESTLER Subjekt, Widerstand und Multitude im Film. V FOR V ENDETTA in der Tradition der Cultural Studies gelesen..................................... 367 A CHIM T REBESS Subjekt und Design ............................................................................ 389 Schriftenverzeichnis von Peter V. Zima ............................................. 407 Inhaltsverzeichnis Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde in den ästhetischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Diskussionen die überlieferte Vorstellung von einem starken, mit sich selbst identischen Subjekt in Frage gestellt, das die Welt überblickte, das Bewusstsein begründete, seit Plato und Aristoteles menschliches Denken mit der Wirklichkeit verband und zur Herrschaft über die Objektwelt bestimmte. Diese Vorstellung von einer harmonischen Beziehung zwischen Geist und Wirklichkeit erreichte ihre vollkommenste Gestalt in Hegels Theorie des Weltgeistes. Die synthetische oder hegelianische Auffassung des Subjekt-Objekt- Verhältnisses zerfiel allmählich bei den Junghegelianern (z.B. bei F. Th. Vischer), die die Kontingenz der Objektwelt entdeckten und dadurch Nietzsches radikale Kritik an Idealismus und Systemdenken ankündigten. In dieser Kritik wird der tradierte Subjektbegriff in Frage gestellt - zusammen mit dem idealistischen Glauben an die Einheit der erkennbaren Welt mit dem menschlichen Bewusstsein, mit Descartes’ ego cogitans, Kants „Ich denke“, Fichtes „Ich“ und Hegels „Geist“. Angesichts dieser Krise des überlieferten Subjektbegriffs sah man sich genötigt, die bestehende Terminologie zu revidieren und in Philosophie, Literatur, Musik und Kunst nach einer neuen Begrifflichkeit Ausschau zu halten. Dies gilt selbstverständlich auch für die Wissenschaft und die Wissenschaftstheorie. Im Denken von Ernst Mach erscheinen Natur und Subjekt nicht länger als unabänderliche Substanzen; das Ich zerfällt in variable, stets provisorische Zustände und wird zu jenem „unrettbaren Ich“, dem wir bei nahezu allen Vertretern der Wiener Moderne begegnen, vor allem bei Musil. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass der Subjektbegriff schon immer ambivalent war. Seine Ambivalenz ist etymologisch sowohl aus dem griechischen Terminus hypokeímenon als auch aus dem lateinischen Begriff subiectum ableitbar, die beide sowohl „Zugrundeliegendes“ als auch „Unterworfenes“ bedeuten können. In beiden ist die Entwicklung der Subjektivität vom starken, mit sich selbst identischen Subjekt bei Descartes, Fichte und Hegel bis zum unterjochten oder zerfallenden Subjekt bei Foucault, Deleuze, Derrida und Vattimo vorgezeichnet. Seit Roman und Ideologie (1986) befasst sich Peter V. Zima mit den Peripetien der Subjektivität, die er in Moderne/ Postmoderne (1997), vor allem aber in der Theorie des Subjekts (2000), im philosophischen, historischen und gesellschaftlichen Kontext nachzeichnet. Ein Ergebnis seiner Recherchen ist der Begriff einer dialogischen Subjektivität, der aus der Überlegung hervorgeht, dass sich Subjektivität in gesellschaftlicher Interaktion bildet und daher Vorwort x auch auf sprachlicher Ebene als permanenter Dialog zu denken ist. Aus dieser Auffassung der Subjektivität geht in Was ist Theorie? (2004) ein dialogischer Theoriebegriff hervor, der auf dem Theorievergleich und einer ständigen, kritisch-selbstkritischen Auseinandersetzung zwischen heterogenen Theorien gründet. Subjekt, Subjektivität und Theorie werden von Zima als offene Strukturen dargestellt, die einerseits auf das Ganze ausgerichtet sind, andererseits aber vom Gedanken der dialogischen Unabgeschlossenheit und der Alterität - im Sinne von Bachtin - beherrscht werden. In Das literarische Subjekt (2001) beschreibt Zima die Entwicklung der literarischen Subjektivität und richtet sein Augenmerk vor allem auf Autoren der Spätmoderne (des Modernismus), die wie Mallarmé, Valéry, Musil und Pirandello versuchen, die Autonomie des Subjekts in extremis zu retten. Im Gegensatz zu ihnen zweifeln die Nachmodernen (Pynchon, Cl. Simon, Th. Bernhard, J. Barth) an dieser Autonomie und zeigen uns ein fragmentiertes, dekonstruiertes Subjekt, das zum herrschenden Topos zeitgenössischer Literatur und Kunst wird. Ein Aspekt dieser Fragmentierung wird in den intertextuellen Experimenten postmoderner Literatur sichtbar, in denen - im Anschluss an den späten Joyce - Subjektivität zusammen mit den tradierten Formen des Erzählens aufgelöst wird. Zugleich fallen dem Zitat als Intertextualität neue Funktionen zu: Während es in der Moderne die Position des Subjekts stärkt und in der Spätmoderne zu einem kritischen und selbstkritischen Instrument wird, wird es in der postmodernen Literatur - etwa bei Eco oder Süskind - zu einem spielerischen Experiment mit aktualisierten literarischen Traditionen, mit populären Erzählformen - und mit der Subjektivität. Während der von den Herausgeberinnen organisierten Tagung zum Thema „Das Subjekt in Literatur und Kunst“ (Universität Klagenfurt, 7.-9. Mai 2009), aus der dieser Band hervorging, wurde auf interdisziplinärer Ebene über den Subjektbegriff diskutiert - im Sinne von Zimas Theorie des Subjekts. Zu den Themen gehörte die Subjektivität zwischen Mittelalter und Romantik, zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Erörtert wurde auch die intermediale Stellung des Subjekts zwischen Literatur, Philosophie, Musik, Kunst, Design und Film. In dieser Hinsicht folgte die Tagung der These aus der Theorie des Subjekts, dass „das Subjektproblem nur im interdisziplinären Kontext, in dem Philosophie, Soziologie, Semiotik, Psychologie und Literaturwissenschaft zusammenwirken, konkret zu erfassen ist“ (S. 3). Subjektkonstruktionen und deren Wandel vom Mittelalter bis zur Postmoderne sind auch das Thema der vorliegenden Festschrift, deren Beiträge sich mit der Frage nach dem Subjekt auseinandersetzen. In Übereinstimmung mit Zimas Arbeiten zum Subjekt und zur Subjektivität geht es hier primär um Vorwort xi „Subjektkonstruktionen in der Literatur“, mit denen sich die ersten drei Teile des Bandes - Das literarische Subjekt zwischen Mittelalter und Romantik, Modernismus, Avantgarde und Neoavantgarde - befassen. Alle drei haben den Wandel der literarischen Subjektivität zwischen Spätmittelalter und Postmoderne zum Gegenstand. Anhand von ausgewählten Werken und Strömungen werden verschiedene Vorstellungen vom Ich beschrieben und analysiert. Der vierte Teil der Festschrift - Subjektivität intermedial - geht über den literarischen Bereich hinaus und behandelt den Subjektbegriff in Musik, Malerei, Film und Design. Den ersten Teil leitet Michael Schwarze mit seinem Beitrag „Dantes Poetik des Ich“ ein. Er wirft die Frage nach dem Subjektbegriff in vormoderner Zeit auf und zeigt anhand der Divina Commedia, dass schon diesem spätmittelalterlichen Werk ein komplexer Subjektbegriff innewohnt. Dabei verweist Schwarze sowohl auf Dantes pietà als identifikatorisches Mitgefühl des Ich mit dem Lebensschicksal der Verdammten als auch auf intertextuelle Elemente und die Entwicklung der Protagonisten. Günter Bergers Beitrag „Identität und Rollenspiel bei Angelo Beolco alias Ruzante“ bildet in mancher Hinsicht eine Fortsetzung dieser Thematik. Der in den 20er und 30er Jahren des 16. Jahrhunderts in Venedig, Padua und Ferrara aktive Komödienautor, Regisseur und Schauspieler Angelo Beolco ist nicht zufällig unter dem Namen seiner wichtigsten Rolle, der des paduanischen Bauern Ruzzante, in die Literaturgeschichte eingegangen. Berger stellt anschaulich dar, wie Beolco diese Rolle auf der Bühne insbesondere über seine - schon über den Namen vermittelte - Körperlichkeit, die seine Identität garantiert, inszenierte. Ähnlich wie Dantes Divina Commedia lassen auch Beolcos Reflexionen über die Identität einige für diese Zeit überraschende Ansätze zur indivuellen Subjektbildung erkennen. In Javier Gómez-Monteros „Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes (distingo, imaginatio, Zeitlichkeit)“ geht es primär darum, erste Ansätze zu einer vormodernen Subjektbildung in Montaignes Essais und Cervantes’ Don Qujote de la Mancha zu rekonstruieren. Angesichts des „Verlusts metaphysischer Glaubensgewissheiten“, der die moderne Ära einläutet, tritt sowohl Montaignes als auch Cervantes’ Subjekt noch unsicher auf und antizipiert in mancher Hinsicht die Subjekt-Krisen der Spätmoderne als Modernismus. Als vorletzter Beitrag im ersten Teil weist Monika Schmitz-Emans’ „Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul“ schon auf die spätmoderne Problematik hin. In seinem autobiographischen Projekt der „Selbsterlebensbeschreibung“ kreiert Jean Paul gleichzeitig die Rolle des Autobiographen wie die des Biographen und des Doppelgängers. Schmitz-Emans betrachtet die Beziehungen zu den Romanfiguren, stellt aber auch das Maskenspiel dar, das Vorwort xii Jean Paul mit der Urheberschaft seiner Texte treibt und das im 20. Jahrhundert ebenfalls eine große Rolle spielt - etwa bei Bataille (vgl. den Beitrag von Dorothea Böhme). Den ersten Teil schließt Heinrich Pachers interdisziplinäre und intermediale Analyse ab: „Eichendorff und die Archäologie des Subjekts“. Der Beitrag unternimmt den Versuch, den geschichtlichen Horizont der in den neueren Literaturwissenschaften praktizierten Kulturtheorie zu erweitern und schlägt eine Brücke von Eichendorffs Lyrik zum alten Ägypten, das sich als Modellfall nicht zuletzt deshalb anbietet, weil dort der erste Flächenstaat der Menschheitsgeschichte entstanden ist. Am Beispiel dieser frühen Hochkultur wird der Frage nach der Genese jenes Subjekts, das in der modernen Lyrik und in Ansätzen bereits bei Eichendorff dekonstruiert wird, nachgegangen, wobei religiöse und politische Symbolik auf die reale Praxis der Naturbeherrschung bezogen wird. Der zweite Teil der Festschrift - Modernismus - beginnt mit Simona Bartolis Beitrag „Zerfall des (weiblichen) Subjekts am Beispiel ausgewählter Novellen von Pirandello, Tozzi und Schnitzler“. Sie zeigt, wie die drei Autoren der Spätmoderne im Anschluss an die médecins-philosophes der Jahrhundertwende in ihren Novellen eine Kartographie der Psyche entwerfen. Das Subjekt erscheint ihnen als ambivalente, entpersönlichte und vom Zerfall bedrohte Instanz. Die kommentierten Novellen, in denen die weiblichen Figuren wesentlich zur Demaskierung sozialer Verlogenheit beitragen, lassen zugleich eine tendenzielle Auflösung der narrativen Syntax erkennen, die mit dem Zerfall des Ichs einhergeht. Auch Angela Fabris’ Beitrag „Das Subjekt bei Hermann Broch und Francesco Burdin. Paradigmen der Zerrissenheit, Zerfallenheit und Austauschbarkeit“ befasst sich mit der Auflösung des Subjekts. Im Kontext einer literarischen Entwicklung, die parallel zur Auflösung der Donaumonarchie verläuft, treten in den Werken beider Autoren Haupt- und Nebenfiguren auf den Plan, die von Subjektlosigkeit und Identitätsverlust gekennzeichnet sind. In ihren detaillierten Analysen zeigt Angela Fabris, dass das Subjekt bei Broch von der Auflösung bedroht wird und bei Burdin endgültig zerfällt. Patrizia Farinelli entwirft ein Gegenmodell zum „Zerfall des Subjekts“ in ihrem Beitrag „Bontempellis Repositionierung des Subjekts aus der Perspektive des Novecentismo“. Bontempelli setzt den Auflösungstendenzen ein Subjekt entgegen, das sich aktiv mit seinem Schicksal auseinandersetzt und moralische Verantwortung übernimmt. In ihrem Kommentar hebt Farinelli die Besonderheiten des Subjektbegriffs von Bontempelli hervor, der jede Art von Aktionismus ablehnt, jedoch Helden auftreten lässt, die durch konsequentes Handeln versuchen, ihre Lebensprobleme zu bewältigen. Vorwort xiii Der Versuch, einen weiteren positiven Subjektbegriff ins Leben zu rufen, dominiert in Tatiana Floreancigs Beitrag „Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen bei Anaïs Nin und Robert Musil“. Sie geht der Frage nach, inwiefern die Geschlechtsgrenzen in den Werken Nins und Musils aufgehoben werden. Die Auseinandersetzung mit Themen wie „Androgynie“ und „Inzest“ setzt ein dialogisches Verständnis für das Andere voraus. Geschlechterpolaritäten werden ebenso in Frage gestellt wie die „Herrschaft des Einen“. Anaïs Nin und Robert Musil vertreten die Idee eines hybriden Subjekts, das sowohl die Aporie als auch den Zerfall meidet. Die Identitätsmerkmale ihres weiblich geprägten „Möglichkeitsmenschen“ gehen aus der Verwandlung im Kontext multipler Alternativen, aus Offenheit und ständigem Fließen hervor. Als letzter Beitrag dieses Abschnitts bildet Walburga Hülks „‚Petites perceptions‘. Nuancen, Nichtigkeiten. Zur Subjektivität und Form innerer Rede- und Bildströme um 1900“ einen Übergang zur Avantgarde und konkretisiert den spätmodernen Subjektbegriff in der Literatur. Die Wissenschaft um 1900 ist von der Nuance geprägt. Anhand von Autoren wie Ferdinand de Saussure, Paul Valéry, Stéphane Mallarmé und Marcel Proust macht Walburga Hülk deutlich, dass Nuancen für deren Werke entscheidend sind. In ihnen wird eine Subjektivität entworfen, die vor allem in Unbestimmtheitszonen angesiedelt ist. Der dritte Teil - Avantgarde und Neoavantgarde - beginnt mit Helmut Meters Beitrag „Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire. Zum Verhältnis von ‚je‘, ‚tu‘ und ‚il‘ in ausgewählten Gedichten“, in dem die Subjektfindung im Vordergrund steht. Charakteristisch für Apollinaire ist eine häufige Aufspaltung des Subjekts in ein „je“ und ein „tu“, die dem Monolog eine dialogische Form geben kann. Später tritt ein lyrisches Subjekt in der dritten Person hinzu. Meter zeigt, wie diese drei Subjektformen bei Apollinaire der Selbstfindung und Selbstvergewisserung dienen. Im Anschluss daran untersucht Dorothea Böhme in „Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt“, wie Bataille in Anlehnung an Nietzsche und den Marquis de Sade eine Philosophie der Überschreitung von Subjektgrenzen fordert. Das Subjekt, dessen Krise auch in den Beiträgen von Simona Bartoli-Kucher und Angela Fabris kommentiert wird, löst sich bei Bataille endgültig in eine Vielzahl von Masken auf, in Doppelgänger und Spiegelungen. Die einzige Möglichkeit, die der Einzelne noch hat, ist: dieses Schicksal zu akzeptieren und in Momenten der Ekstase durch die transgression die Wirklichkeit des Seins zu erfahren. Im Gegensatz dazu geht es im Beitrag von Walter Fähnders - „Subjektkonstruktionen und avantgardistischer Manifestantismus“ - um eine alternative Auffassung des Subjekts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fähnders zeigt, wie die Avantgarde in ihren verschiedenen Ausprägungen die alte Vorwort xiv Textform des Herrschaftsmanifests entdeckt und usurpiert. Seither wird die Avantgarde durch einen Manifestantismus bestimmt, der nach den Auflösungsdiskursen des Fin de siècle und in schroffem Gegensatz zu ihnen das manifestierende Subjekt zu neuer Identität und Stabilität zu führen sucht. Dieser Versuch einer neuen Subjektkonstitution mit avantgardistischen Mitteln erfährt durch die subversive Linie in der Manifesttradition, die sich sozialrevolutionär auch gegen den Herrschaftsdiskurs des Manifests richtet und dieses einer selbstkritischen Prüfung unterzieht, eine Verschärfung. Mit Anne Garréta bringt Astrid Poier-Bernhard in ihrem Beitrag „Subjekt- und Körper(de-)konstruktion in Anne Garrétas Roman Sphinx“ eine weibliche Sichtweise in die Diskussion ein. Mit ihrem Hinweis auf den Körper und das Körperliche fasst diese Autorin die Möglichkeit einer Auflösung des Selbst ins Auge. In ihrer Analyse des Romans Sphinx, in dem das namenlose Je des Erzählers oder der Erzählerin durch die von ihm oder ihr geliebte und ebenfalls geschlechtsunbestimmte Person A*** ergänzt wird, macht Poier- Bernhard deutlich, welche Rolle der Körper im Diskurs spielt. Je nach Sichtweise und Geschlechtszuordnung ergibt sich eine andere Lesart des Romans. Diese Subjekt- und Körper(de-)konstruktion weist nach der Auflösung eines fassbaren Selbst auf den Körper als Grundlage menschlichen Bewusstseins hin. Den vierten Teil der Festschrift - Subjektivität intermedial - leitet Nico Thom mit seinem Beitrag „Subjektlose Musik? Kommunikationen über und durch Musik ohne Subjekte“ ein, in dem anhand von Zimas Kurzgeschichte „Schallplatte“ auf die Rolle des Subjekts in psychischen und sozialen Systemen eingegangen wird. Thom macht deutlich, wie unpersönlich und unabhängig voneinander diese unterschiedlichen Systeme funktionieren. Kein Subjekt hat durch Musik teil an einer (Schein-)Wahrheit, vielmehr gibt es nur hin und wieder Berührungspunkte der ansonsten getrennten Subjekte durch Bewusstseins- oder Kommunikationsströme. Simone Heilgendorff führt in ihrem Beitrag „Erfahrung minimalistischer Musik: Zu Morton Feldmans Untitled Composition“ das Thema Musik weiter: am Beispiel der Patternbildung in der „stillen Musik“ Morton Feldmans. Diese nach dem Muster orientalischer Gebetsteppiche „gewebte“ Musik weckt durch ihre Stille die Aufmerksamkeit von Hörerinnen und Hörern bis zu einer unter Umständen ekstatischen Erfahrung, die das Erleben einer virtuellen Unendlichkeit ermöglicht. Mit Jutta Steiningers Beitrag „Künstlerische Inszenierungen - vom Selbstporträt zum Bild des postmodernen Selbst“ wird das Thema der Subjektivität auf die Malerei ausgeweitet. Darin wird die Wandlung des Selbstporträts als selbstbewusste Inszenierung des - zumeist männlichen - Künstlers von der frühen Neuzeit bis zur postmodernen Auseinandersetzung mit den Vorwort xv Codes der Repräsentation und der Repräsentationskritik nachgezeichnet. Die Darstellung des Ichs kann so zur Kritik an Herrschaftsstrukturen verwendet werden und sowohl Sexismus als auch Rassismus offen legen. Literatur und Film verknüpft Volker Roloff in seinem Beitrag „Subjektivität und Theatralität. Surreale Spielformen der Autofiktion bei Robbe-Grillet“. Die Wechselbeziehung von Subjektivität und Theatralität macht sich bei Robbe-Grillet vor allem in den drei Romanen der Romanesques bemerkbar, die das Konzept der Nouvelle Autobiographie bzw. der Autofiction veranschaulichen und ältere Definitionen des Nouveau Roman in Frage stellen. Die Texte der Romanesques und die bisher zu wenig beachteten Filme von Robbe- Grillet zeigen, dass er vor allem an intermediale Spielformen, Motive und Verfahren der Surrealisten anknüpft und diese auf seine Weise weiterentwickelt. Ebenfalls das Thema „Film“ behandelt Jörg Helbigs Beitrag „Die Subjektivierung des filmischen Diskurses im zeitgenössischen Film am Beispiel postmortaler Erzählungen“. Anhand der Filme Don’t look now, vor allem aber The Others und The Descent, wird eine Täuschung des Zuschauers verdeutlicht, der den Filmfiguren zunächst glaubt, schließlich jedoch entdecken muss, dass er sich nicht auf die Objektivität der Kamera verlassen kann. Helbig zeigt, wie im zeitgenössischen Kino die Grenze zwischen objektiver und subjektiver Erzählform bzw. Wahrnehmung verschwimmt. Auch Rainer Winter und Sebastian Nestler befassen sich in „Subjekt, Widerstand und Multitude im Film. V FOR VENDETTA in der Tradition der Cultural Studies gelesen“ mit dem Medium Film. In einer detaillierten Analyse der Comicverfilmung von V for Vendetta wird auf den Gegensatz Subjekt vs. Multitude eingegangen. Hinter der Maske des Helden V versteckt sich nicht nur ein Ich, denn das verzerrte weiße Gesicht steht für eine Idee, eine Idealidentität, die schließlich die gesamte Bevölkerung annehmen kann. Im letzten Beitrag des Bandes - „Subjekt und Design“ - geht Achim Trebeß auf den Designer und seine Arbeit ein. Es werden insgesamt drei Typen von Designern vorgestellt und charakterisiert: der Funktionalist, der Postmodernist und der Stylist. Im Anschluss daran wird ihr Verhältnis zum entscheidenden Subjekt des Designprozesses untersucht: zum Nutzer. Den Abschluss bilden einige Überlegungen zu neuen Richtungen in der Designtheorie. Die verschiedenen Beiträge ergänzen einander insofern, als sie die prekäre Stellung des individuellen Subjekts in spätmoderner und nachmoderner Zeit erkennen lassen. Trotz aller romantischen und spätmodernen Versuche, das Subjekt zu stärken und eine neue Subjektivität zu entwerfen, ist die Stellung des Einzelsubjekts in Literatur und Kunst unsicherer denn je. Die Herausgeberinnen Michael Schwarze (Konstanz) " Das Thema dieses Symposions stellt mit dem Subjekt eine Kategorie in das Zentrum der Betrachtungen, die, wenn wir von unserem heutigen Verständnis ausgehen, wesentlich eine neuzeitliche „Erfindung“ ist. 1 Sie deutet unverkennbar auf die Moderne. Daher überrascht es kaum, wenn philosophische Bestimmungen dessen, was „das Subjekt“ ausmacht und worauf Subjektivität basiert, in einem ausgesprochen modernen Konzept zusammenlaufen: Gemeint ist die Vorstellung einer unhintergehbaren Selbstbezüglichkeit, mittels derer das Ich versucht, sich seiner selbst zu vergewissern. Dahinter steht ideengeschichtlich die cartesianische Einsicht, dass das Einzige, was dem zweifelnden Ich noch Gewissheit geben kann, die Selbstreflexion seines Denkens ist. Einzig das cogito, ergo sum, so Descartes, verschafft dem Ich die Gewissheit, dass es überhaupt existiert und bildet somit den Urgrund aller weiteren Erkenntnis. Diese erkenntnistheoretische Bestimmung des Subjekts beruht auf einer typisch neuzeitlichen Einsicht, die alle Subjekttheorien seit dem deutschen Idealismus gemein haben: Sie besagt, dass das Bewusstsein des Menschen nicht mehr von den Gegenständen seiner Betrachtung oder prästabilierten Ordnungen bestimmt wird, sondern umgekehrt alles Erkannte vom Bewusstsein dessen, der es wahrnimmt, abhängig ist. Dieser Gedanke zieht als Konsequenz einerseits einen ungemeinen Zuwachs an individueller Freiheit des Einzelnen nach sich, bis hin zur Vorstellung seiner absoluten Autonomie. Andererseits bedeutet ein solchermaßen verstandener Subjektbegriff streng genommen, dass das Ich nun in all seinem Denken und Tun einzig auf sich selbst angewiesen ist. Außerhalb seiner selbst besitzt es keinen verlässlichen Maßstab mehr zur Erkenntnis und Beurteilung seiner selbst wie der Welt. Der Einzelne hat damit die alleinige Verantwortung für alle Entwürfe von der Wirklichkeit und das daraus resultierende Handeln. Vor diesem Hintergrund erscheint der Selbstbezug des Ich auf sich selbst oder - um mit Manfred Frank zu sprechen - die „Autoreflexivität des Vorstellens“ 2 vielleicht als das grundlegendste Konstituens des modernen Subjektbegriffs. Im Bereich 1 Siehe zur neuzeitlichen Genese des Konzepts grundlegend M. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität - Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer „postmodernen“ Toterklärung, Frankfurt/ M. 1986. Konzise hat Frank seine Überlegungen zusammengefasst in „Subjekt, Person, Individuum“, in: ders., A. Haverkamp (Hrsg.), Individualität (Poetik und Hermeneutik XIII), München 1988, S. 3-20. 2 M. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, op. cit., S. 7. Michael Schwarze 2 der Dichtung hat die literarhistorische Forschung diesen Befund in vielfältigen Facetten für weite Teile der europäischen Literatur bestätigt. 3 Das Ergebnis ist, dass heute als wesentliches Merkmal aller modernen Dichtung eben deren Selbstreflexivität gilt. Die poetische Selbstbezüglichkeit aber äußert sich bezeichnenderweise immer wieder aufs Neue in den Schwierigkeiten (s)ich zu sagen. 4 Doch unter welchen Bedingungen, so legt ein historischer Blick auf Formen der Ichrede nahe zu fragen, bringen sich Subjekte in vormoderner Zeit zum Ausdruck? Welchen Schwierigkeiten begegnen sie, wenn sie sich in eigenem Namen zu Wort zu melden? Diesen Fragen soll im Folgenden anhand eines prominenten Falls der spätmittelalterlichen Literatur nachgegangen werden. Dass das Subjekt im Werk Dante Alighieris eine eminent wichtige Rolle spielt, verdeutlicht bereits die augenscheinliche Tatsache, dass im Mittelpunkt seiner Dichtungen ein mehrfach kodiertes Ich steht, das verschiedene Rollen innehat: Es bezeichnet nicht nur den Sprecher, sondern weist ihn zugleich als Organisationszentrum der Darstellung und als Protagonisten des Dargestellten aus. Dies trifft auf die Vita Nova zu, in der Dante die Geschichte seiner Jugendliebe zu Beatrice erzählt und diese überhöht, indem er einige seiner vorgeblich in diesem Kontext entstandenen Minnekanzonen zusammenstellt, um sie im Modus der Allegorese auszulegen. 5 Eine derartige Autofiktion, die dem Ich mehrere Rollen zuweist, liegt auch im Falle der Divina Commedia vor. Gewissermaßen als Fortsetzung der spirituellen Autobiografie der Vita Nova berichtet das Ich namens „Dante“ 6 in ihr bekanntlich davon, wie es einst auf dem Weg durch die Hölle einem dunklen Wald von Verfehlungen entkam, wie es auf dem Gipfel des Fegefeuers letztlich versöhnliche Aufnahme durch Beatrice erfuhr, bevor es schließlich im Paradies Gottes ansichtig wurde. Hier tritt das Ich, welches das Jenseits durchquert, unter anderem als Schüler „Ver- 3 Stellvertretend für die intensive Forschung auf dem Feld literarischer Subjektivität sei hier lediglich auf die Bände von Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, 2 Bde., hrsg. von R. Fetz, R. Hagenbüchle, P. Schulz, Berlin-NewYork 1998 hingewiesen. In ihnen wird die Fragestellung in einer Folge von Einzelstudien umfassend behandelt. 4 So der Titel eines von Winfried Wehle herausgegebenen Tagungsbandes (Frankfurt/ M. 2001), der literarischen Selbstentwürfen in italianistischer Perspektive nachgeht. 5 Siehe dazu grundlegend W. Wehle, Dichtung über Dichtung. Dantes „Vita Nuova“: die Aufhebung des Minnesangs im Epos, München 1986. 6 Zur Abgrenzung vom Autor Dante wird mit der Setzung des Namens in doppelte Anführungsstriche im Folgenden die Inszenierung der Figur innerhalb der Commedia bezeichnet. Im Falle Vergils wird ebenso verfahren. Dantes Poetik des Ich 3 gils“ in der Rolle des Dichters und Liebenden auf; zudem leitet es den Leser als Sprecher durch die Darstellung. 7 Bevor wir uns der textbezogenen Rekonstruktion von Dantes Poetik des Ich zuwenden, erscheint es sinnvoll, kontrastiv zu dem eingangs skizzierten, modernen Subjektbegriff den Erwartungshorizont einer mittelalterlichen Ichkonzeption abzustecken, wie sie zu Dantes Zeit gegolten haben dürfte: Ein wesentlicher Aspekt der Alterität jener Gedankenwelt besteht darin, dass das Leben des Einzelnen niemals unabhängig von der göttlichen Ordnung konzipiert wurde, in die er dem christlichen Denken zufolge gestellt war. Konzeptionell war er mit diesem ordo untrennbar verbunden. 8 Denn die Erörterung dessen, was der Mensch sei, argumentierte im europäischen Mittelalter stets im Horizont des Glaubens an den christlichen Schöpfer- und Erlösergott. 9 Die Art von Subjektivität, die uns bei Dante begegnet, ist daher grundsätzlich immer als Ausdruck eines paradigmatischen Ichs zu begreifen, das sich selbst wie alle Phänomene des Lebens stets sub specie aeternitatis denkt. Ihm waren alle Formen selbstbezüglicher Subjektivität, wie sie in unserer Kultur seit Jahrhunderten selbstverständlich sind, unvorstellbar. Dies gilt auch in sozialer Hinsicht, insofern als es für die Zeitgenossen nicht denkbar war, sich in grundsätzlicher Abgrenzung von der familiär, ständisch oder religiös definierten Gemeinschaft, in die man gestellt war, zu begreifen. 10 Das paradigmatische Ich zeichnet vielmehr konstitutiv eine Gruppenidentität aus, von der sich nicht absehen ließ. 11 7 Die Rollen „Dantes“ samt der doppelten Lesbarkeit, die sich daraus hinsichtlich der Geschichte des Ich ergeben, hat maßgeblich Gianfranco Contini erörtert in: „Dante come personaggio-poeta della Commedia“ (11958), zuletzt in: G. Contini, Un’idea di Dante, Turin 1976, S. 33-62. 8 Siehe zum dominant von der thomistischen Lehre geprägten philosophischen Denken Dantes die immer noch grundlegenden Ausführungen von Etienne Gilson, Dante et la philosophie, Paris 1939. 9 Siehe dazu stellvertretend die hoch- und spätmittelalterliche Traktatliteratur um die Würde des Menschen, welche ausgehend vom Bericht der Genesis ebenso die Position der miseria hominis wie jene seiner dignitas kennt. Vgl. L. Sturlese, „Von der Würde des unwürdigen Menschen. Theologische und philosophische Anthropologie im Spätmittelalter“, in: M. Neumeyer (Hrsg.), Mittelalterliche Menschenbilder, Regensburg 2000, S. 21-34. 10 Siehe zu diesem thomistisch geprägten Aspekt mittelalterlicher Subjektivität G. Mensching, „Der Primat des Willens über den Intellekt: Zur Genese des modernen Subjekts im späten Mittelalter“, in: R. Fetz et alii, op. cit., S. 487-507. Für Thomas habe gegolten, „dass das Individuum sich nur in einer objektiven Totalität als Subjekt bestimmen kann, ihm also das real gesellschaftliche Allgemeine als notwendige Bedingung vorgegeben ist (…)“ (S. 496). Bereits mit Duns Scotus beginne sich im Bereich der Philosophie jedoch eine via moderna zu entwickeln, nach deren Verständnis es bedeute Subjekt zu sein, „aus eigenem Vermögen, individuell Substanz zu sein“. (Ibid.) 11 An die Stelle dieser Vorstellung treten in der Neuzeit zunehmend Konzepte eines empirischen Ich, dessen Singularität gerade auf individuellen Wahrnehmungen und Erlebnissen Michael Schwarze 4 Erhärtet werden diese allgemeinen Annahmen durch einen Blick auf die Wortbedeutung des Substantivs subiectum zur Zeit Dantes: Es gibt im mittellateinischen und volkssprachlichen Lexikon des Mittelalters keinen Begriff, der auch nur annähernd das bezeichnen würde, was wir heute konzeptionell unter Subjektivität verstehen. Wenn das lateinische Substantiv subiectum verwendet wird, dann in einem Sinn, der dem heute geläufigen geradezu entgegengesetzt ist - als Gegenstand einer Rede. Das subiectum nämlich bezeichnet im 13. und frühen 14. Jahrhundert - seinem etymologischen Ursprung entsprechend - „ein passives Substrat, das von wechselnden Zuständen affiziert wird“. 12 In diesem Sinne verwendet auch unser Autor „subietto“, um das grundlegende Thema einer Rede von dessen übertragenen Sinnschichten abzugrenzen. Dante trifft diese Unterscheidung am Beginn von Buch zwei des Convivio (II, i, 10), als er in die Lehre vom vierfachen Schriftsinn als Instrument der Selbstauslegung seiner Kanzonen einführt. Er vertritt dort die Auffassung, es sei unmöglich, tiefer gehende Bedeutungen aus einem Text zu schöpfen, wenn die Hermeneutik nicht stets vom buchstäblichen Literalsinn ausgehe (II, i, 8). Dieser Überzeugung verleiht er mittels einer Analogiebildung Nachdruck, welche den „äußeren“ Wortsinn mit der Materie und den anagogischen Sinn mit der Form gleichsetzt. Die Materie aber sei stets der Form vorzuordnen, „weil jedes natürliche oder künstliche Ding unmöglich [eine] Form erreichen“ könne, „ohne daß zuerst das Zugrundeliegende“ - das „subietto“ - „bereitet“ sei, „auf dem die Form stehen“ müsse. 13 „Subietto“ steht hier für den im Wortsinn thematisierten Gegenstand der Kanzonen. Aus ihm müssen sich nach seiner Auffassung - der Hermeneutik der Bibelexegese entsprechend - die anderen Sinnebenen ableiten lassen. 14 beruht und daher meistens nicht mit kollektiven Vorstellungen und Verhaltensmustern verrechenbar ist. Der erste, dessen literarische Selbstbestimmung auf dem radikalen Bruch mit der Gesellschaft beruht, war Jean-Jacques Rousseau. Im Zeichen eines „sentiment de mon existence“ beschreibt sein Weg aus der Gemeinschaft in den Confessions nicht mehr die schuldhafte Selbstisolierung des Einzelnen, wie z.B. dies in den Augustinischen Confessiones geschieht, sondern, im Gegenteil, den Weg zu sich selbst. 12 Mensching (wie in FN 10), S. 488. 13 Im Wortlaut heißt es in der entsprechenden Passage in Convivio, II, i, 10: „Ancora è impossibile però che in ciascuna cosa, naturale ed artificiale, è impossibile procedere a la forma, sanza prima essere disposto lo subietto sopra che la forma dee stare: sì come impossibile la forma de l’oro è venire, se la materia, cioè lo suo subietto, no è digesta e apparecchiata (…).“ Zitiert wird hier und im Folgenden nach: Le Opere di Dante Alighieri. Edizione nazionale, III: Convivio, hrsg. v. F. Brambilla Ageno, Florenz 1995, 2: Testo. Die deutsche Übertragung folgt im Wesentlichen Dante Alighieri, Das Gastmahl. Erstes Buch, übersetzt von Th. Ricklin. Eingeleitet und kommentiert von F. Chevenal. Italienisch-Deutsch, Hamburg 1996. 14 Siehe zur hermeneutischen Theorie, die Dante im Convivio entwickelt R. Stillers, „Zum impliziten Literaturbegriff und Textverstehen in Dantes Convivio“, in: Deutsches Dante- Jahrbuch 57 (1982), S. 85-107. Dantes Poetik des Ich 5 Wie beinahe alle seiner Zeitgenossen hatte Dante demnach noch keinen Begriff vom Subjekt als einem souveränen Menschen, der „aus eigener Macht wirkt und auf alle seine Regungen reflektieren kann“. 15 Wenn dem aber so ist, drängt sich die Frage auf, unter welchen Bedingungen es zur Zeit Dantes überhaupt als erlaubt erschien, in eigener Sache das Wort zu ergreifen. Welchen Restriktionen und Lizenzen unterlag die Rede über sich im Rahmen eines Denkens, welches das Ich nur als Teil eines übergeordneten Ganzen kannte? Dante selbst hat dieser Frage am Beginn des bereits erwähnten Gastmahl-Traktats breiten Raum eingeräumt, woraus wir bereits schließen können, dass ihm die Brisanz der massiven Inszenierung eines mehrfach kodierten Ich voll bewusst war. 16 Dantes Argumentation soll im Folgenden in zentralen Punkten zusammengefasst werden. Denn die Gründe, mit denen Dante die Selbstauslegung seiner Minnedichtung rechtfertigt, betreffen unser Thema konzeptionell unmittelbar. Darüber hinaus stellt die Rekapitulation der Danteschen Argumentation im Convivio einen historisch adäquaten Zugang auch zum Verständnis der Ichrede in der später geschriebenen Commedia bereit. Um sie wird es im dritten Teil dieser Überlegungen gehen. Der erste trattato des Convivio stellt, dem rhetorischen Schema des accessus folgend, eine ausführliche Rechtfertigung für den commento der Kanzonen in den weiteren drei „Traktaten“ des Buches dar. 17 Im zweiten Kapitel dieses ersten Teils ist Dante bestrebt, seine „scrittura“ / „Schrift“, wie er es formuliert, von zwei potentiellen „Makeln“ zu „reinigen“. Der erste, uns betreffende ist, „dass von sich selbst zu sprechen, nicht erlaubt zu sein scheint“, es sei denn ein „zwingender Grund“ rechtfertige dies. Als Begründung für dieses 15 Grund der hier gemachten Einschränkung ist, dass sich ebenfalls zu Beginn des 14. Jahrhunderts in der Philosophie Ansätze einer geistigen Wende feststellen lassen, die das subiectum nun durchaus im neuzeitlichen Sinn als erkenntnistheoretisches Subjekt begreift, welches die Objekte seiner Betrachtung seinem Willen unterzieht. Der berühmteste Denker, der diese via moderna einschlug und gegen den Aristotelismus des Thomas von Aquin in Frontstellung ging, war Johannes Duns Scotus. Siehe zu diesem äußerst weit reichenden, philosophiegeschichtlichen turn den grundlegenden Aufsatz von Mensching (wie in FN 10). Zitat, S. 488. 16 Siehe zu Dantes aus philosophiegeschichtlicher Perspektive hybriden Anlage des Convivio und den Folgen, die dies für die in dem Traktat angeführten Bedingungen und Möglichkeiten der Selbstaussprache hat, die grundlegende Studie von A. Kablitz, „Dantes poetisches Selbstverständnis (Convivio - Commedia)“, in: Wehle (wie in FN 4), S. 17-57, hier insbesondere S. 19-40. Diese Arbeit bietet eine vertiefte Analyse beinahe aller in diesem Abschnitt angesprochenen Punkte des Convivio. 17 Vgl. dazu den Kommentar von Ricklin in Das Gastmahl (wie in FN 13), S. 71ff. Michael Schwarze 6 generelle Verbot führt Dante die Auffassung der Gelehrten („i retorici“ 18 ) an, man könne über niemanden sprechen, „ohne dass der Redende jene, von denen er spricht, lobt oder tadelt; und diese zwei Gründe sind im Mund dessen, der von sich selbst spricht, unanständigerweise vorhanden“. 19 Selbstlob und Selbsttadel erscheinen in seinen Augen also als eine ebenso unvermeidbare wie unverzeihliche Begleiterscheinung jeglicher Ichrede. Zur Begründung dieser Einschätzung heißt es weiter unten, beide seien zu „fliehen“, „denn es gibt keinen Menschen, der ein wahrer und gerechter Bewerter seiner selbst ist, zu sehr täuscht ihn die propria caritate“ - seine Eigenliebe also. 20 Dantes Argumentation in diesem Punkt verdeutlicht, dass er von einem unmittelbaren Nexus zwischen dem Sprechen über sich selbst und der moralischen Bewertung des Sprechers ausgeht. Diese Auffassung lässt sich dahingehend verallgemeinern, dass es für Dante keine literarische Äußerung gibt, die über die Thematisierung eines Sachverhalts hinaus zugleich nicht auch immer dessen Beurteilung nach moralischen und moraltheologischen Maßstäben impliziert. Da die Parameter der Beurteilung im Falle des Sprechens in eigener Sache jedoch unter dem naturgegebenen Diktat des amor sui stehen, geht ihnen unausweichlich das rechte Maß verloren. Die Bewertung des Ich muss demnach per se verfälschend ausfallen. Dies aber führt unweigerlich dazu, dass der Einzelne der Öffentlichkeit ein schlechtes Vorbild von sich vermittelt. 21 Die Ichrede ist für Dante daher grundsätzlich verwerflich, weil ihr, wie aller Rede, ein exemplarischer Wert zugesprochen wird. Den aber kann sie aufgrund der unumgänglichen Eigenliebe ihres Sprechers naturgemäß nicht einlösen. Welches sind nun die „zwingenden Gründe“, die „lo parlare di sé“ entgegen aller prinzipiellen Verurteilung im Ausnahmefall doch gestatten? Dante führt im Convivio zwei „offensichtliche“ Ausnahmen an: Eine Voraussetzung, unter der es gerechtfertigt sei, über sich zu sprechen, sei, wenn man sich ge- 18 Die Enciclopedia Dantesca gibt unter dem Lemma „retorico“ für diese Stelle die Synonima „teorici, maestri dell’arte, dettatori“ an. 19 „Non si concede per li rettorici alcuno di se medesimo sanza necessaria cagione parlare, e da ciò è l’uomo rimosso, perché parlare d’alcuno non si può, che ’l parladore non lodi o non biasimi quelli di cui elli parla: le quali due cagioni rusticamente stanno, a fare [dire] di sé, nella bocca di ciascuno.“ (Convivio I, ii, 3) 20 „E ancora la propria loda e lo proprio biasimo è da fuggire per una ragione igualmente, sì come falsa testimoninaza fare: però che non è uomo che sia di sé vero e giusto misuratore, tanto la propia caritate ne ’nganna. Onde aviene che ciascuno ha nel suo giudicio le misure del falso mercatante, che vende coll’una e compera coll’altra; e ciascuno con ampia misura cerca lo suo mal fare, e con piccola cerca lo bene: sì che ’l numero e la quantità e ’l peso del bene li pare più che se con giusta misura fosse saggiato, e quello del male meno.“ (Convivio, I, ii 8-9) 21 Siehe zu den kommunikationstheoretischen Implikationen, welche die Thematisierung von Tadel und Lob desjenigen, der über sich selbst spricht, in Convivio I, ii, 6-8 mit sich bringt, A. Kablitz (wie in FN 16), S. 36-38. Dantes Poetik des Ich 7 gen große Verleumdungen oder Gefahren nicht anders zur Wehr setzen könne. 22 Eine zweite sei gegeben, wenn dem „ragionare di sé“ großer Nutzen dadurch erwachse, dass anderen eine Belehrung zuteil werde. 23 Zur Bekräftigung dieser beiden Ausnahmen von der Regel führt Dante bezeichnenderweise keine Sachargumente an 24 , sondern erwähnt stattdessen das Beispiel zweier unbestreitbarer Autoritäten. Ihr berühmtes Vorbild entschuldigt seine problematische Ich-Rede im Convivio gleichsam selbstredend: So habe „[g]rande infàmia“ Boethius dazu bewogen, in der Consolatio philosophiae von sich selbst zu sprechen, um „unter dem Vorwand der Tröstung der ebenso andauernden wie ungerechten Schmach seines Exils“ entgegenzutreten, „zumal sich kein anderer Verteidiger erhob“. 25 Und der Kirchenvater Augustinus habe in den Confessiones, indem er dort seinen Lebensweg zu Gott geschildert habe, den Menschen „essemplo“ und „dottrina“ bereitet, „die man von keinem wahrhaftigeren Zeugnis empfangen konnte“. 26 Das Beispiel der Selbstverteidigung gegen die üble Nachrede, die den Exilierten trifft, besitzt bekanntlich für die autofiktionale Biografie unseres Autors hohe Relevanz. Dementsprechend macht Dante es denn auch im Schluss dieses Kapitels zu seinen Gunsten geltend. Darüber hinaus jedoch - und dies ist in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung - nimmt er für seine Schrift ausdrücklich das Argument der doktrinalen Belehrung der Leserschaft in Anspruch. Er stellt sich so stillschweigend auf eine Stufe mit den Confessiones, die er soeben noch als exemplarische Ausnahme vom Verbot der Ichrede angeführt hat. Zu den Beweggründen seiner Ichrede im Convivio schreibt Dante: Movemi timore d’infamia, e movemi disiderio di dottrina dare, la quale altri veramente dare non può. Temo la infamia di tanta passione avere seguita, quanta concepe chi legge le sopra nominate canzoni in me avere segnoreggiata: la quale infamia si cessa, per lo presente di me parlare, interamente, lo quale mostra che 22 „L’una è quando sanza ragionare di sé grande infamia o pericolo non si può cessare; e allora si concede, per la ragione che delli due sentieri prendere lo men reo è quasi prendere un buono (…).“ (Conv. I, ii, 13). 23 „E l’altra è quando, per ragionare di sé, grandissima utilitade ne segue altrui per via di dottrina (…).“ (Conv. I, ii, 14). 24 Dies ist schlechterdings auch kaum möglich, denn beide Ausnahmefälle lassen sich streng genommen argumentativ nicht überzeugend ins Feld führen, da sie die grundsätzlichen Einwände gegen die Ichrede keinesfalls außer Kraft setzen. 25 „E questa necessitate mosse Boezio di se medesimo a parlare, acciò che sotto pretesto di consolazione escusasse la perpetuale infamia del suo essilio, mostrando quello essere ingiusto, poi che altro escusatore non si levava.“ (Conv. I, ii, 13.) 26 „Questa ragione mosse Agustino nelle sue Confessioni a parlare di sé, ché per lo processo de la sua vita, lo quale fu di [non] buono in buono, e di buono in migliore, e di migliore in ottimo, ne diede essemplo e dottrina, la quale per sì vero testimonio ricevere non si potea.“ (Conv. I, ii, 14.) Michael Schwarze 8 non passione ma vertù sia stata la movente cagione. Intendo anche mostrare la vera sentenza di quelle, che per alcuno vedere non si può s’io non la conto, perché è nascosa sotto figura d’allegoria: e questo non solamente darà diletto buono a udire, ma sottile amaestramento e a così parlare e a così intendere l’altrui scritture. 27 Dante formuliert in dieser Passage die zweifache Zielsetzung seines Gastmahls: Es soll Verleumdung abwenden, indem es darlegt, dass seine Minnedichtung nicht den sündigen Gesetzen der passiones folgt, sondern im Zeichen höchster „virtù“ steht. Und es soll die Leser über den wahren Gehalt der allegorisch verschlüsselten Kanzonen belehren. Doch warum, so ist zu fragen, übernimmt er diese doppelte Aufgabe selbst und überlässt sie nicht einem anderen, was durchaus denkbar wäre? Das mit Blick auf Boethius angeführte Fehlen eines solchen „Advokaten“ erwähnt Dante auf jeden Fall nicht. Stattdessen betont er zweimal, wie die Kursivierungen im obigen Zitat unterstreichen, niemand anders als er selbst könne die wahre „dottrina“, die „vera sentenza“ seiner Dichtungen darlegen. Dies aber heißt nichts anderes, als dass das Ich sich eine herausragende, einzigartige Fähigkeit zuschreibt, die ihren Grund darin hat, dass es selbst der Verfasser jener stark verrätselten Dichtung ist, die das „subietto“ des Convivio bildet. Dante reklamiert hier gewissermaßen Interpretationshoheit über seine Kanzonen! Hinter diesem überaus selbstbewussten Anspruch verbirgt sich ein thomistisch geprägtes Menschenbild, das den Menschen primär als animal rationale, als vernunftbegabtes Wesen begreift. Dessen höchstes Ziel im Leben ist die möglichst weit reichende Entfaltung seines Verstandes. Dieser im Hoch- und Spätmittelalter gültigen Vorstellung vom eigentlichen Nutzen der menschlichen Vermögen zufolge ist jedem Menschen ein Wissensdrang angeboren. Ihm leistet er im guten Falle auf seinem Lebensweg ebenso naturgemäß Folge, indem er sein Wissen vervollkommnet. Das Glück, das die Perfektionierung dieses natürlichen Vermögens für den Menschen bedeutet, postuliert Dante an exponierter Stelle, in den allerersten Sätzen des Convivio. Mit Bezug auf die Metaphysik des Aristoteles heißt es dort: Sì come dice lo Filosofo nel principio de la Prima Filosofia, tutti li uomini naturalmente desiderano di sapere. La ragione di che puote essere [ed] è che ciascuna cosa, da providenza di prima natura impinta, è inclinabile a la sua propia [sic, M. S.] perfezione; onde, acciò che la scienza è ultima perfezione della nostra anima, nella quale sta la nostra ultima felicitade, tutti naturalmente al suo desiderio semo subietti. 28 27 Convivio I, ii, 15-17. Kursivierungen von M. S. 28 Convivio I, i, 1. Dantes Poetik des Ich 9 Das höchste Glück der „Wissenschaft“ zu erlangen, so Dante, ist freilich nur ganz wenigen tatsächlich vergönnt, es bleibt den Auserwählten vorbehalten. In der den Traktat prägenden Metaphorik des Gastmahls schreibt Dante einschränkend zum soeben zitierten Abschnitt: Manifestamente adunque può vedere chi bene considera, che pochi rimangono quelli che all’abito da tutti desiderato possano pervenire, e innumerabili quasi sono li ’mpediti che di questo cibo sempre vivono affamati. Oh beati quelli pochi che seggiono a quella mensa dove lo pane delli angeli si manuca! e miseri quelli che colle pecore hanno comune cibo! 29 Im Convivio nun reduziert Dante diese Zahl der happy few, die bei Tisch das Brot der Engel essen, stillschweigend auf einen Einzigen - und dieser Auserwählte ist kein anderer als er selbst… Mit dem von der Vorsehung bestimmten „sapere“ aber, nach dem die Menschen ihrer Natur folgend streben, ist die göttliche Offenbarung gemeint. Sie bezeichnet Dante im Convivio mit dem Begriff der „dottrina“. Es ist dieses Wissen um die Wahrheit der letzten Dinge, welches das Autor-Ich des Traktats sich in Anlehnung an Augustinus letzen Endes selbst zuschreibt. Der Erkenntnis der Gesetze Gottes verdankt er eine exzeptionelle Autorität, die derjenigen Augustins strukturell betrachtet in nichts nachsteht. Auf diese Weise nimmt Dante für sich recht ungeschminkt die Rolle des Auserwählten in Anspruch, welcher der Masse derjenigen, die nicht zu höchster Erkenntnis gelangen, gleichsam das pane delli angeli bringt. 30 Damit aber hat dieses Ich der Möglichkeit nach nicht nur exklusiven Zugang zur Wahrheit seiner eigenen Dichtungen, sondern ebenso zu jenem anderer „scritture“ - einschließlich der „dottrina“ der Heiligen Schrift. 31 Soweit zu der äußerst kühnen Recht-fertigung der Danteschen Ich-Rede, wie sie sich aus dem Gastmahl-Trakat rekonstruieren lässt. 29 Convivio I, i, 6-7. 30 „Diese allegorische Rede nimmt sich (…) als eine schlechthin exzentrische aus, mit der ein privilegierter Autor den dafür schlecht gerüsteten Menschen eine außergewöhnliche Botschaft zu verkünden hat,“ schreibt Kablitz pointiert (wie in FN 16), S. 41. Zum Auftakt des Paradiso (in dessen zweitem Gesang) findet diese Selbstzuschreibung exklusiver Autorität des Dichter-Ichs in folgender mahnender Apostrophe an seine fiktiven Leser Bestätigung: „O voi che siete in piccoletta barca, / desiderosi d’ascoltar, seguiti / dietro al mi legno che cantando varca, / tornate a riveder le vostri liti: / non vi mettete in pelago, ché, forse, / perdendo me, rimarreste smarriti; / l’acqua ch’io prendo già mai non si corse.“ (Par. II, vv. 1- 7) 31 Mit der vermeintlich vagen Nennung „anderer Schriften“ proklamiert Dante insgeheim, dass die „dottrina“, die seine Kanzonen beinhalten, nicht nur der Wahrheit der Dichtung, sondern genauso derjenigen der Bibel Ausdruck verleiht. Siehe dazu die Ausführungen von Kablitz (wie in FN 16, S. 42-45) zum zweiten trattato des Convivio, in dem Dante das der Bibelexegese entstammende Interpretationsschema des vierfachen Schriftsinns generell auf „le scritture“ appliziert. Michael Schwarze 10 Auf der Grundlage dieser systematischen Überlegungen Dantes können wir uns nun der Poetik des Ich in der Commedia zuwenden. 32 Auch der „sacrato poema“ 33 steht bekanntlich im Zeichen der Wahrheit der göttlichen Offenbarung. Dies verdeutlicht neben Selbstaussagen des Autors bereits ein oberflächlicher Blick auf die Kosmologie der drei Jenseitsreiche, die das Ich durchquert. 34 Und auch das rechtsmetaphysische System, welches das Dasein der Seelen nach dem Tode in Hölle, Läuterungsberg und Paradies einer taxonomischen Ordnung unterstellt, ist transparenter Ausdruck der mittelalterlichchristlichen Ordnung des Wissens. 35 Wie legitimiert sich nun im Rahmen dieses ordo-Denkens die Inszenierung eines lebendigen Ichs, das die Reiche der Toten besucht, um den Zeitgenossen in der Folge davon zu erzählen? Wie lässt sich die ungeheuer anmutende Transgression „Dantes“ rechtfertigen, der die Grenzen der Welt und des Wissens über sie überschreitet? Der Bericht von einem einzigartigen Erkenntnisweg und von der Läuterung einer singulären, gefallenen Seele, die der Beginn des Proömial-canto zum Inferno scheinbar ankündigt, kann nach dem bisher Gesagten kaum als konsistente Begründung dienen. Unterstrichen wird dies im Text unter anderem dadurch, dass „Dante“ in Inferno II erhebliche Skrupel umtreiben, ob er „Vergils“ Vorschlag wirklich folgen und wie einst der ruhmreiche Äneas und der Heilige Paulus das Jenseits aufsuchen darf. 36 Die Furcht „Dantes“, eines solch ehrenvollen Unterfangens als einfacher Mensch nicht würdig zu sein, gibt „Vergil“ Anlass, seinem Schützling von seiner Mission zu erzählen: So berichtet er, wie er im Namen der Jungfrau Maria, der Heili- 32 Zitiert wird hier und im Folgenden nach Le Opere di Dante Alighieri. Edizione nazionale, VII: La commedia: secondo l’antica vulgata, hrsg. v. G. Petrocchi, 4 Bde., Mailand 1966- 1967. Für Übersetzungen ins Deutsche sei auf die relativ textnahe Prosaübertragung von G. Landmann verwiesen: Die Divina Commedia. In deutsche Prosa übersetzt u. erläutert von G. Landmann, Würzburg 1 1997. - In den beinahe 700 Jahren seit ihrer Entstehung hat die Dantephilologie eine solch unermessliche Fülle an Kommentaren und Auslegungen hervorgebracht, dass es schier unmöglich ist, die gesamte Forschungsliteratur, sei es auch nur zu einem Aspekt des Werkes, kritisch aufzuarbeiten. Bedenkt man zudem, dass das hermeneutische Verfahren der Texterschließung stets Aneignung bedeutet, scheint ein selektiver Umgang mit der Forschungsliteratur legitim. In diesem Sinne und mit Blick auf den interdisziplinären Rahmen dieses Symposions wird im Folgenden lediglich auf einen Bruchteil der einschlägigen Forschungsliteratur zur Thematik eingegangen. 33 So Dantes Bezeichnung der eigenen Dichtung in Paradiso XXIII, v. 62. 34 Vgl. dazu die immer noch hervorragende Einführung von A. Buck, „Die Commedia“, in: Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. X, 1, Heidelberg 1987, S. 21- 165. 35 Siehe dazu H. Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie. Francesca da Rimini, Frankfurt 1942. 36 Inf. II, vv. 31-36. Dantes Poetik des Ich 11 gen Luzia und aus dem Munde Beatrices den himmlischen Auftrag bekam, sich „Dantes“ anzunehmen. 37 Diese christliche Legitimierung der „Vergil’schen“ Rettungsaktion durch den göttlichen Willen markiert überdeutlich, dass „Dantes“ Jenseitsreise im Text wesentlich eine allegorische Funktion zukommt. Das Ich erlebt und schildert seine Jenseitsreise stellvertretend, im Zeichen eines übergeordneten Ziels der Darstellung. „Dante“ steht damit dem Selbstverständnis des Textes zufolge funktional in unmittelbarer Nachfolge von Äneas und Paulus. Im Namen welches übergeordneten Geschehens unternimmt die Ich-Figur nun ihre Jenseitsreise? Worin ihre Mission besteht, deutet bereits der allererste Gesang der Commedia versteckt an: Denn die Verirrung in dem „dunklen Wald“, die Begegnung mit den drei wilden Tieren und die auf diese Weise symbolhaft zum Ausdruck gebrachte Abkehr vom „rechten Wege“, welche „Dante“ hier in Erinnerung ruft, referieren nicht nur auf das Ich der Commedia. Genau besehen verweist die Ausgangslage „Dantes“ nämlich allegorice zugleich auf den Zustand der Gesellschaft seiner Tage. Deutlich macht diesen allegorischen Sinn, den das Ich als Objekt der Rede hat, die berühmte und bis heute ungeklärte Prophezeiung, mit der „Vergil“ dem um Hilfe flehenden „Dante“ bei ihrer ersten Begegnung antwortet: Es ist die Vision des „feltro“, eines Jagdhunds also, der dereinst die Bestie, welche das Ich bedroht 38 , in die Hölle verbannen wird. Der weise Dichter aber weitet dieses Bild einer fernen Errettung von sündhafter Gefährdung unversehens auf das Schicksal der „umile Italia“ (Inf. I. vv. 106ff.) aus. Die Gleichsetzung von Dantes schuldhafter Verirrung mit der Geschichte des geschundenen Italien jedoch macht aus dem Kasus unseres Protagonisten die Repräsentation eines kollektiven Zustands. Die selva oscura und die Anfechtungen durch die wilden Tiere bezeichnen demnach per Analogie gleichermaßen die Situation des in Sünde verstrickten Ich wie den Zustand des ebenso sündigen zeitgenössischen Italiens. Dieser zeichnet sich in den Augen des Verfassers, wie das Attribut „umile“ anzeigt, dadurch aus, dass Italien die Demut, die es eigentlich auszeichnet, dass es die christliche Tugend der humilitas eingebüßt hat. Im christlichen Denken jedoch bedürfen die Gemeinschaft wie der Einzelne, die in Schuld und Sünde gefallen sind, der Erlösung, wie sie sich in der Bibel in der Ankunft Jesu Christi auf Erden verwirklicht. In Vergils Prophezeiung symbolisiert eine solche Befreiungstat eben jener geheimnisvolle veltro, der auf ita- 37 Inf. II, vv. 52-126. 38 Ich folge in diesem Punkt der Argumentation von G. Gorni, „Canto I“, in: G. Güntert, M. Piccone (Hrsg.), Lectura Dantis Turicensis, Bd. I, Florenz 2000, S. 27-38, der mit guten Gründen dafür plädiert hat, in den drei „fiere“ in Analogie zur Dreifaltigkeit die Repräsentation des dreifaltigen Bösen zu sehen. Dafür spricht u.a., dass, nachdem er seine angsterfüllte Begegnung mit den Tieren geschildert hat, fortan stets nur noch von einer „bestia“ die Rede ist. Michael Schwarze 12 lienischem Boden die ursprüngliche Herrschaft von „sapienza, amore e virtute“ (Inf. I, vv. 104) wiederherstellen wird. Dantes eigentliches Interesse jedoch gilt in letzter Instanz genauso wenig der Geschichte eines individuellen Ichs wie derjenigen Italiens. Die Schilderung des Diesseits besitzt in der Commedia vielmehr generell allegorischen Wert. Dies bedeutet soviel wie, dass Dante jeglichen sensus historicus, der dieser Welt innewohnt, zugunsten seiner Bedeutung für die Heilsgeschichte ausblendet. 39 Im weiteren Verlauf der Commedia kommt dem Jenseitswanderer „Dante“ daher keine geringere Rolle zu, als auf seinem Weg das Heilswerk Christi gewissermaßen zu wiederholen und die gefallene Menschheit als Ganze symbolisch ein zweites Mal zu erretten. Seine Reise in das Reich Gottes versinnbildlicht gewissermaßen die neuerliche Erlösung der Menschheit aus der Erbsünde. 40 Die These einer geradezu heilsgeschichtlichen Rolle des Ich bestätigt sich auf dem Gipfel des Läuterungsberges, im irdischen Paradies: Dante hat diesen Ort des Übergangs in das Paradies (in Purg. XXVII ff.) gezielt als Gegentopos zur „selva selvaggia aspra e forte“ von Inferno I als „divina foresta spessa e viva“ (Purg. XXVIII, v. 2) angelegt. Hier im göttlichen Wald begegnet das Ich erstmals einer Natur, die von keinerlei menschlicher Schuld befleckt ist. Die spiegelbildliche Gegenüberstellung von göttlichem Wald und Sündenwald markiert auf diese Weise den Weg der Läuterung, den „Dante“ bis dahin unter der Führung „Vergils“ durchschritten hat. Dieser Weg bildet einen Prozess der Wiederherstellung ab, in dessen Verlauf unser Protagonist alle sündhafte Verstrickung hinter sich gelassen und zum heilen Zustand seiner ursprünglichen Natur zurückgefunden hat. Positiv sanktionieren diese Entwicklung des Ich die Abschiedsworte „Vergils“: Er bescheinigt „Dante“ die volle Wiedererlangung des freien Willens, dem er fortan in seinem Handeln einzig verantwortlich ist. 41 Darüber hinaus gibt „Dantes“ Aufenthalt im irdischen Paradies unmissverständlich auch dessen universelle Sendung zu erkennen. Sie vollzieht sich in einem höchst bedeutungsvollen Geschehen, in dem „Dante“ auf eine Prozes- 39 Dies verdeutlicht vielleicht am eindrücklichsten das Auftreten der Figur Vergils in der Commedia. Vgl. dazu konzise Kablitz (wie in FN 16), S. 52-54. 40 Karlheinz Stierle bezeichnet „Dante“ in diesem Sinne als „mediales Ich“ und kommentiert: „So ist das Ziel Dantes nicht die Selbstdarstellung, sondern durch die Selbstdarstellung hindurch das Ganze der Welt, gespiegelt im Ganzen des Werks.“ In: „Selbsterhaltung und Verdammnis. Individualität in Dantes Divina Commedia“, in: M. Frank, A. Haverkamp (Hrsg.), Individualität (Poetik und Hermeneutik XIII), München 1988, S. 270-290, hier S. 289f. 41 „Tratto t’ho qui con ingegno e con arte; / lo tuo piacere omai prendi per duce; / fuor se’ de l’erte vie, fuor se’ de l’arte. (…) Non aspettar mio dir piú né mio cenno; / libero, dritto e sano è tuo arbitrio, / e fallo fora non fare a suo senno; / / per ch’io te sovra te corono e mitrio.” (Purg. XXVII, vv. 130-132, vv. 139-142) Dantes Poetik des Ich 13 sion trifft, deren Zentrum der von einem Greifen gelenkte Wagen der Kirche bildet. Der grifone symbolisiert dabei nach allgemeiner Auffassung Jesus Christus. Unter seiner Führung und begleitet von Beatrice und „Dante“ zieht die Prozession in Purgatorio XXXII durch den „Wald“, der „durch die Schuld derjenigen, die der Schlange glaubte“ - gemeint ist natürlich Eva - (menschen-) „leer“ geblieben ist. 42 Dort versammelt sich der Triumphzug um den Baum der Erkenntnis, der seit dem Sündenfall bekanntermaßen ohne Blätter ist. Als der Greif die Deichsel des „Karrens“ an den „starken Baum“ bindet, „erneuert[e] sich die Pflanze, die zuvor so leere Zweige hatte.“ (Purg. XXXII, vv. 59f.) Das Wiedererblühen des Baumes der Erkenntnis jedoch setzt zweifelsfrei die Erlösung der Menschheit von der Erbsünde am Übergang zum Paradies ins Bild. Was daran in unserem Zusammenhang aber höchst bemerkenswert erscheint, ist die Abfolge der Ereignisse dieser sacra rappresentazione. Denn der Text stellt die Tilgung der Erbsünde implizit in unmittelbare Abhängigkeit vom Sündenbekenntnis des Ich. Erst nachdem „Dante“ nämlich in Purgatorio XXX/ XXXI unter erheblichem Druck Beatrices reuig Buße für seine persönlichen Verfehlungen geleistet hat, vollzieht sich im folgenden Gesang die Wiederherstellung jenes Naturzustands, der mit Adams Fall verspielt worden war. Das Sündenbekenntnis „Dantes“ erscheint auf diese Weise in der Syntagmatik der Commedia als entscheidende Tat eines Einzelnen, die das Wohl der Allgemeinheit überhaupt erst ermöglicht. Das insinuierte Verhältnis von Voraussetzung und Folge aber weist der Figur „Dante“, das heißt dem ersten Menschen, der das irdische Paradies nach Adam und Eva betrat, die „Rolle eines zweiten Erlösers“ 43 zu. Dantes Ich gewinnt im Verständnis der Commedia auf diese Weise letztlich das Heil zurück, das er selbst, seine Zeit, darüber hinaus aber die gesamte Menschheit einst durch Adams Fall verspielt haben. Genau in der heilsgeschichtlichen Dimension seiner in das Jenseits verlegten Befreiungstat aber lässt sich eine Art von Belehrung erkennen, von der es im Convivio hieß, dass sie außer ihm „wirklich kein anderer geben kann“. 44 Die Rolle als zweiter Erlöser legitimiert in letzter Instanz das unerhörte Wagnis einer Icherzählung, die in der Nachfolge der Aeneis und der Bibel davon berichtet, wie ein Mensch in einem Akt transgressiver Selbstentgrenzung die Reiche der Toten 42 Purg. XXXII, vv. 31f.: „Si passeggiando l’alta selva vòta, / colpa di quella ch’l serpente crese / (…) 43 So Kablitz (wie in FN 16), S. 57. 44 Dies untermauern nicht zuletzt die Worte Beatrices, die „Dante“ im Kontext der Ereignisse im irdischen Paradies ausdrücklich darauf verpflichtet, die Dinge, die er sieht, „in pro del mondo che mal vive“ (Purg. XXVII, vv. 103) niederzuschreiben. Wenig später bekräftigt sie diese Mission zum Wohl der gefallenen Menschheit mit den Worten: „Tu nota; e sí come da me son porte / cosí queste parole segna a’ vivi / del viver ch’è un correre a la morte.“ (Purg. XXVIII, vv. 52-54) Michael Schwarze 14 durchquerte. Diese gedankliche Konstruktion entkräftet die im Gastmahl vorgebrachten Einwände gegen das parlare di sé freilich nicht; sie ordnet diese lediglich insgeheim der Vermittlung einer heilgeschichtlichen Lehre unter. Zugleich stattet dies den Verfasser der Commedia mit einer nach mittelalterlichem Denken nicht zu übertreffenden auctoritas aus. 45 Sie steigert den vorgängigen Ruhm des Dichters Dante auf unerhörte Weise und legitimiert endgültig ein Gesamtwerk, das nicht zuletzt im Zeichen eines mehrfach kodierten Ich steht. Doch dies ist nur eine Facette der Ich-Inszenierung in Dantes Divina Commedia - gewissermaßen die doktrinäre. Eine andere ergibt sich aus dem Unterschied, der zwischen dem systematischen Traktat und der epischen Erzählung besteht, wie sie einerseits das Convivio und andererseits die Commedia darstellen. Die grundlegende Differenz zwischen beiden Diskursformen äußert sich im vorliegenden Fall darin, dass die Commedia eine individuelle Figur namens „Dante“ inszeniert, die schreibend an ihre Erlebnisse im Jenseits erinnert. In der Erinnerung aber bewegt sie sich im Raum und macht im zeitlichen Fortgang der Jenseitswanderung eine Entwicklung durch. 46 Im Zentrum der Darstellung stehen dabei, wie gesagt, die individuellen Erlebnisse des Ich. Konkret bestehen diese vor allem darin, dass „Dante“ auf seinem Weg einer großen Anzahl ausgewählter Bewohner der jenseitigen Welt begegnet, deren Lebensschicksal der Wissensbegierige fragend in Erfahrung bringt. 47 Im unmittelbaren Aufeinandertreffen des Protagonisten mit einzelnen 45 Es ist diese sich selbst attribuierte Autorität, die den Verfasser der Commedia nach mittelalterlichem Verständnis zu einem auctor macht. Mit diesem Konzept verbanden sich im Mittelalter die Urheberschaft eines Textes und der Gedanke der auctoritas, also einer besonderen Würde und Autorität seines Verfassers. Dante verwendet „autore“ eigens in diesem Sinne, wenn er in Inferno I, v. 85 „Vergil“ bewundernd mit den Worten tituliert „Tu sei il mio maestro e il mio autore.“ Siehe zu den Funktionen, die der auctor als Rolle in Texten der mittelfranzösischen Literatur innehaben kann G. Roellenbleck, „Überlegungen zum ‚acteur‘ als ‚persona‘ in der französischen Dichtung des Spätmittelalters“, in: A. Bollée, J. Kramer (Hrsg.), Latinitas et Romanitas: Festschrift für H. D. Bork zum 65. Geburtstag, Bonn 1997, S. 377-390. Roellenbleck erkennt die vornehmliche Bedeutung des „acteur“ darin, dass er für das „Dramatisieren der poetischen Selbstreflexion“ (S. 390) steht und stellt die für unseren Zusammenhang interessante These auf, die allegorische Dichtung sei „der bevorzugte (…) Ort des acteur“ (S. 382). Inwiefern die Spannung zwischen Ich-Rede und allegorischen Sinnebenen bzw. Allegorese die Modellierung des auctor im dichterischen Werk Dantes bestimmt, wäre näher zu untersuchen. 46 Stierle (wie FN 40), S. 288 weist auf die Originalität der Tatsache hin, dass sich „Dantes eigene Individualität“ erst im Laufe dieser Entwicklung entfaltet: „Indem Dante die Erfahrung der Welt in allen ihren Wirklichkeitsbereichen (…) auf sich selbst als den Erfahrenden bezieht, betritt er ein Neuland der Selbstdarstellung.“ 47 Hugo Friedrich (wie FN 35) hat „das Wissenwollen, die Frage“ (S. 146) „Dantes“ als das Gerüst dessen charakterisiert, was er im Kontrast zur „metaphysisch-objektiven Einheit des Gedichts“ (ibid.) als deren „subjektive Linie“ (ibid.) bezeichnet. Er schreibt: „Das tua res Dantes Poetik des Ich 15 Seelen aber, welche die Darstellung aus der Masse der auf gleiche Weise Gerichteten heraushebt, vermittelt die Commedia ein außergewöhnliches Maß an ichbezogener Emotionalität. Dies gilt vor allem für das Inferno, in dem der Lebende auf ewig gerichtete Sünder triff. Thematisch wird der Affekt des Ich hier vielfach in den augenblicklichen Reaktionen des Wanderers auf das, was er zuvor wahrgenommen und über das Leben der gerichteten Seelen in Erfahrung gebracht hat. Von einer starken emotionalen Anteilnahme ergriffen äußert „Dante“ Abscheu für die Sünder (Inf. III), beklagt emphatisch die Härte ihrer Strafen, er verfällt in beredtes Schweigen, es packt ihn das Grauen, ja einige Male fällt „Dante“ sogar in Ohmacht. So auch im berühmten fünften Gesang des Inferno, in dem „Dante“ auf jene trifft, die sich der Wollust schuldig gemacht haben, indem sie ihre Vernunft der Triebnatur unterwarfen. 48 Dieser unzählige Male gedeutete und kommentierte canto 49 sei hier aus zwei Gründen ein weiteres Mal angeführt: Zum einen lassen sich an ihm exemplarisch einige Verfahren aufzeigen, mittels derer der Verfasser der Commedia das individuelle Erleben seines Ich zur Darstellung bringt. Zum anderen - und darauf kommt es im Weiteren an - rekurriert der Text in dieser Episode zur Begründung der emotionalen Anteilnahme des Ich am Leiden der Verdammten in außerordentlicher Dichte auf die pietà. 50 Die explizite Rückbindung des individuellen Affekts an die „pietade“/ „pietà“ jedoch legt es nahe, Dantes und weiterhin unser Verständnis von „Mitleid“ als entscheidend für die Bewertung jener Emotionalität anzusetzen, die Dantes Ich in der Begegnung mit den lussuriosi wie an vielen weiteren Passagen seine Reise durch die Hölle und auf den Läuterungsberg kennzeichnet. 51 Berühmtheit hat der canto wegen seiner Darstellung von „Dantes“ Begegnung mit dem ehebrecherischen Paar Francesca da Rimini und Paolo Mala- agitur schwebt als Sinn über dem, was wir die innere, subjektive Linie im Epos der Göttlichen Komödie genannt haben.“ (S. 151) 48 Dante bezeichnet sie theologisch korrekt als „i peccator carnali, / che la ragion sommettono al talento“ (Inf. V, 38f.) 49 Der neben der literarischen und ikonographischen Rezeption von Boccaccio bis heute andauernden intensiven, heterogenen wissenschaftlichen Rezeption der Francesca-Episode hat jüngst Lorenzo Renzi ein höchst lesenswertes Buch gewidmet: Le conseguenze di un bacio. L’episodio di Francesca nella „Commedia“ di Dante, Bologna 2007. In der deutschen Romanistik hat sich vor allem Hugo Friedrich (wie in FN 36) intensiv mit der Szene auseinandergesetzt; siehe kontrastiv dazu die Interpretation von Karheinz Stierle (wie in FN 40) sowie P. Geyer, „Subjektivität in Dantes Divina Commedia“, in: Fetz et alii (wie in FN 3), S. 435-459. 50 Siehe Inferno V, vv. 72, 93, 116f., 140 sowie Inferno VI, v. 2. 51 An folgenden Stellen der ersten Cantica verwendet Dante die „pietade“ ebenfalls zur Kennzeichnung des Mitleids seiner Ich-Figur mit einzelnen Verdammten: VI, vv. 58f.; XIII, v. 84; XVI vv. 9-18, 46-51; XX vv. 19ff.; XXIX vv. 1-3, 36, 44. Michael Schwarze 16 testa erlangt. Als Bestrafung ihrer luxuria werden sie auf ewig von einem grausamen Windsturm umher getrieben - vergleichbar dem Begehren, das sie einst nicht ruhen ließ. Auf die neugierige Bitte „Dantes“, die „affannate anime“ mögen sich ihm erklären (vv. 79f.), antwortet Francesca in einer zweiteiligen vergleichsweise langen direkten Rede: Deren erster Teil (vv. 100-107) enthält in drei anaphorischen Terzinen ein persönliches Bekenntnis zur unumschränkten Macht Amors über jedes „cor gentil“, wie es auch sie selbst und ihren Geliebten auszeichnet. 52 Im zweiten Teil erzählt sie „Dante“ auf dessen Nachfrage, auf welche Weise sie die Bekanntschaft solcher „fürchterlicher Begierden“ („dubbiosi desiri“, v. 120) gemacht hätten, davon, wie sie bei der unschuldigen Lektüre des höfischen Romans von Lancelot eines Tages von unbändiger Lust ergriffen worden seien. 53 Angesichts dieses Berichts und der Tränen des mit Francesca gleichsam Verschmolzenen 54 ergreift „Dante“ zum Abschluss der Begegnung die erwähnte pietade. Er verliert die Besinnung. Die letzten Verse von Inferno V lauten: „(…) Mentre che l’uno spirto questo disse, l’altro piangëa; sì che di pietade io venni men così com’io morisse. E caddi come corpo morto cade. (Inf. V, vv. 139-142) Dies ist der dramatische Schlussakkord eines Canto, der das Mitleid „Dantes“ bereits zuvor geweckt hat: Der Gesang ist in zwei Hälften beinahe exakt gleicher Länge von je etwa 70 Versen unterteilt (vv. 1-69 und vv. 70-141), welche die bolgia der Wollüstigen aus unterschiedlichen Blickwinkeln thematisieren. Im ersten führt „Vergil“ „Dante“ in die Sünde der fleischlichen Liebe als ei- 52 Im Wortlaut: „Amor, ch’al cor gentil ratto s’apprende, / prese costui de la bella persona / che mi fu tolta; e ’l modo ancor m’offende. / / Amor, ch’a nullo amato amar perdona, / mi prese del costui piacer sì forte, / che, come vedi, ancor non m’abbandona. / / Amor, condusse noi ad una morte. / Caina attende chi a vita ci spense.“ (Inf. V, vv. 100-107.) 53 Im Wortlaut: „Noi leggiavamo un giorno per diletto / di Lancialotto come amor lo strinse: / soli eravamo e sanza alcun sospetto. / / Per più fiate li occhi ci sospinse / quella lettura, e scolorocci il viso; / ma solo un punto fu quel che ci vinse. / / Quando leggemmo il disïato riso / esser basciato da cotanto amante, / questi che mai da me non fia diviso, / la bocca mi baciò tutto tremante. / / Galeotto fu ’l libro e chi lo scrisse: / quel giorno più non vi leggemmo avante.“ (Inf. V, vv. 127-138) 54 Paolos Name fällt in der gesamten Episode nicht; in Inf. VI, v. 2 werden die Liebenden dann knapp als „i due cognati“ bezeichnet. Die Legenden bildende erste historisierende Darstellung der Geschichte von Francesca und Paolo findet sich einige Jahrzehnte später in Giovanni Boccaccios Esposizioni sopra Comedia di Dante (1374). Siehe zu dieser vielleicht wirkungsmächtigsten Auslegung der Commedia L. Renzi (wie in FN 49), Kapitel 11: „Un’altra Francesca. Da Dante a Boccaccio“, S. 269-285. Dantes Poetik des Ich 17 nen fol’amor ein, welcher der christlichen caritas zuwiderläuft. 55 Zur Illustration nennt er seinem Schützling eine Galerie berühmter Figuren aus Mythologie, Geschichte und höfischem Roman, die als „peccator carnali“ (v. 38) in diesem Höllenkreis auf ewig büßen. Bereits diese lediglich vermittelte Konfrontation mit den lussuriosi ruft in „Dante“ Mitleid hervor und das Gefühl der nahenden Ohnmacht. Seine ehrfürchtige Anteilnahme an der Verdammnis der prominenten Sünder bringt dabei deren Titulierung als „antike Damen und Ritter“ zum Ausdruck. „Dante“ bekennt: „Poscia ch’io ebbi il mio dottore udito / nomar le donne antiche e’ cavalieri, / pietà mi giunse, e fui quasi smarrito.“ (vv. 70-72, Kursivierung von M.S.) Im zweiten Teil des Gesangs inszeniert Dante dann das besagte Aufeinandertreffen des Ich mit Francesca und vollzieht damit gewissermaßen eine individuelle Verlebendigung der christlichen Sündenordnung. Plastizität und Überzeugungskraft erlangt diese Szene wesentlich dadurch, dass der Text Francesca das Recht einräumt, ihre Geschichte ausführlich selbst darzustellen. Im Gespräch mit dem neugierigen Jenseitswanderer entwickelt sich so ein Dialog von besonderer Lebendigkeit: Apostrophen 56 , Exklamationen 57 und die vergleichsweise detaillierte Nacherzählung des „Tathergangs“ verleihen dem Gespräch hier ein stark emphatisches Gepräge. Es sind demnach rhetorisch-literarische Verfahren, welche die „pietà“ der Ich-Figur plastisch vermitteln und das Dargestellte mit einem besonders hohen Grad an unmittelbarer Relevanz markieren. Vergleicht man die zwei Teile des Gesangs, kann man sagen, dass Inferno V auf prägnante Weise die doktrinäre Einführung in den Höllenkreis der Wollüstigen und den unmittelbaren Eindruck, den dieser auf eine Betroffene wie auf das wahrnehmende und reflektierende Ich macht, kombiniert. Die pietà bringt dabei zum einen gewissermaßen die Bewertung dessen, was das Ich sieht, hört und erfährt, begrifflich auf den Punkt; zum anderen löst sie in ihm Weinen, tiefe Traurigkeit 58 und schließlich das Schwinden seiner Sinne aus. Die zentrale Rolle des Mitleids in der Erinnerung an diese Begegnung bestätigt gleichsam resümierend die ersten Verse des sechsten Canto. Sie kennzeichnen die pietà als individuelle Reaktion, die sowohl der Auslöser dafür war, dass sich „Dantes“ „Verstand verschloss“, er also die Besinnung verlor, als auch dafür, dass er vor „Traurigkeit“ „ganz in Verwirrung geriet. 55 Siehe dazu ausführlich M. Piccone, „Inferno V“, in: Lectura Dantis Turicensis (wie in FN 38), S. 75-89. Das thomistisch geprägte Konzept der caritas bezeichnet im Denken Dantes über die zwischenmenschliche Liebe, den amor proximi, hinaus vor allem den amor Dei. 56 „O anime affannate, / venite a noi parlar, s’altri nol niega! “ (vv. 80f.) und gleich darauf: „O animal grazioso e benigno / che visitando vai per l’aere perso (…).“ (Inf. V,vv. 88f.) 57 „Oh lasso, quanti dolci pensier, quanto disio / menò costoro al doloroso passo! ” (Inf. V, vv. 112-114) 58 Als Replik auf den ersten Teil von Francescas Rede erklärt „Dante“ ihr: „Francesca, i tuoi martìri / a lagrimar mi fanno tristo e pio.“ (Inf. V, vv. 116f.) Michael Schwarze 18 Al tornar de la mente, che si chiuse Dinanzi a la pietà d’i due cognati, che di tristizia tutto mi confuse, (…) (Inf. VI, vv. 1-3) In der Forschung ist die Frage, wie das Mitleid „Dantes“ im Inferno und die damit einhergehende emphatische Thematisierung von Emotionalität zu bewerten ist, seit langem umstritten. Es lassen sich dabei, vereinfachend gesagt, zwei Richtungen unterscheiden: eine pointiert moderne, die den Nachweis einer fundamentalen gedanklichen Inkohärenz in der Commedia führt, und eine theologische bzw. philologische, die von der grundlegenden Vereinbarkeit zwischen dem religiös-philosophischen Diskurs und der Inszenierung des Individuums „Dante“ überzeugt ist. Die erstgenannte, ursprünglich romantisch geprägte Auffassung 59 begreift die pietà als identifikatorisches Mitgefühl des Ich mit dem Lebensschicksal der Verdammten - sowie in gewisser Hinsicht mit sich selbst. So sieht Karlheinz Stierle in Bezug auf die Francesca- Episode in „Dantes“ Mitleid vor allem die psychologische „Kraft der Identifikation“ mit dem in absoluter Liebe verbundenen Paar am Werke. „Dantes“ Ohnmacht am Schluss des Gesangs begreift er in diesem Sinne als emphatischen Ausdruck einer nicht gelebten Liebe. 60 Aus solch einer Sichtweise ergibt sich im Abgleich mit der doktrinären Ordnung der Commedia in neueren Arbeiten zuweilen die These einer aporetischen Inkohärenz zwischen dem ordo-Denken und seinem subjektiven Erleben auf Seiten des Ichs. 61 Diese 59 Von fundamentaler Bedeutung für die große Zahl romantischer Lektüren von Inferno V seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sind einige ursprünglich auf englisch verfasste Artikel Ugo Foscolos, die bezeichnenderweise primär auf die Esposizioni Boccaccios und nicht auf den Text der Commedia rekurrieren. Siehe zum Foscolo dantista M. Palumba, „Foscolo lettore di Dante“, in: Studi danteschi IV/ 2 (2004), S. 396-413 sowie Renzi (wie FN 49), S. 135-141. Das Bild von Francesca als romantischer Heldin ante litteram, der als „prima donna viva e vera apparsa sull’orizzonte poetico die tempi moderni“ das tiefe Mitgefühl des Dichters gilt, prägte Francesco De Sanctis Studie „Francesca da Rimini“ (1869), in: S. Romagnol (Hrsg.), Lezioni e saggi su Dante, Turin 2 1967, S. 633-652. Siehe zu De Sanctis’ Renzi (wie FN 49), S. 141-145. 60 Stierle (wie in FN 40), S. 278: „Dante selbst (…) ist so sehr von seinem Mitgefühl mit dem liebenden Paar ergriffen, in das er seine eigene unerfüllte Liebe zu Beatrice projiziert, daß er von Schmerz überwältigt, das Bewußtsein verliert.“ (ibid.) 61 Stierle (wie in FN 40) spricht von „Aporie“ und stellt im Inferno „immer wieder“ „eine Spannung zwischen göttlicher Gerechtigkeit und menschlicher Autonomie des Urteils“ fest, „die von Dante bewußt oft an eine äußerste Grenze getrieben wird. (…) Der göttliche Standpunkt ist zwar konstruierbar und imaginär konkretisierbar, aber er läßt sich nicht Dantes Poetik des Ich 19 Interpretationen beruhen darauf, dass die „individuelle Erfahrung des Ich“ gezielt als eine eigenständige diskursive Kategorie angesetzt wird, die mit dem ordo nicht per se exemplarisch verrechenbar ist. Um diese Dimension aber, so erneut Stierle, gehe es in der Commedia „in ebenso hohem Maße“ wie um „die Darstellung der Heils- und Rechtsarchitektur“. 62 Auch wenn man nicht so weit geht, das unverbundene Nebeneinander von göttlicher Ordnung und Mitleid des Ich auf ein aporetisches Verhältnis zuzuspitzen, lässt sich darin gleichwohl eine implizite Konfrontation erkennen. Denn das höchstrichterliche Urteil wird durch die Augenblickhaftigkeit der Reaktionen des Ich vor den Augen des Lesers insgeheim einer individuellen Prüfung unterzogen, das Verfahren gewissermaßen neu aufgerollt 63 - ohne dass es freilich zu einem neuen Schiedsspruch kommt. Auch in dieser Lesart führt die Inszenierung der unmittelbaren Begegnung des Ich mit den von Gott gerichteten Seelen deutlich über die Exemplifizierung der geschilderten Ordnung hinaus: Das Verfahren wird vielmehr als implizite Infragestellung des göttlichen Willens durch die Erfahrung des Einzelnen gedeutet. Solche Lesarten legen es, konsequent gedacht, jedoch nahe, die pietà über den Befund einer immanenten Inkohärenz hinaus im Hinblick auf den Wahrheitsanspruch der Commedia als selbstreferenziell zu deuten. Die Selbstbezüglichkeit läge darin, dass die Commedia der christlich verbürgten Wahrheit eine eigene, ihr inhärente, individuell verbürgte Wahrheit zur Seite stellen würde. Wenn letztere aber die philosophisch-theologische Doktrin infrage stellt, sie also der Möglichkeit nach revidieren kann, wird dem Danteschen Text und den Erfahrungen seines Ich in der Welt des Jenseits damit implizit die eigentlich gültige Autorität zur Erkenntnis des Wahren zugesprochen. Historisch betrachtet, dies gilt es freilich zu bedenken, würde dies bedeuten, alle erkenntnistheoretischen Grundlagen von Dantes Ästhetik bewusst außer Acht zu lassen. Der literarische Text nämlich (ebenso wie dessen Kommen- wirklich einnehmen.“ (S. 282) Diese „‚moderne‘ Möglichkeit“ der Interpretation vertritt ausdrücklich auch Geyer (wie in FN 49): Ihm zufolge sprengt „Dantes Mitgefühl mit den Leiden der Verdammten“ bereits „die Konstruktion des Inferno mit seinen scheinbar sicheren und unwiderruflichen Verurteilungen.“ (S. 451) Der pietà attestiert er dabei mit für mich nicht ganz nachvollziehbaren Gründen eine „Vermittlungsfunktion (…) zwischen Schuld und Unschuld“. 62 Stierle (wie in FN 40) S. 272. 63 Diese Lesart hat jüngst Joachim Küpper vertreten und einen Hiat im unvermittelten Aufeinanderstoßen zwischen der moraltheologischen Ordnung und deren zutiefst „‚menschlicher‘ Füllung“ festgestellt. Beide aber - die moralische Rechtsordnung und das subjektive Erlebnis vor allem des Bösen - kämen hier wie auch anderswo nicht zur Deckung. Resümierend äußert er die vorsichtige These, „daß die Vereinnahmung Dantes als eines möglicherweise unfreiwilligen Propheten der Moderne mehr ist als eine von Späteren vorgenommene narzißtische Projektion“. J. Küpper, „Bilder der Sünde: Dante und Botticelli“, in: Deutsches Dante Jahrbuch 81 (2006), S. 155-173, Zitat S. 172. Michael Schwarze 20 tar), so schließt Stillers aus Convivio III, iv, 3, verweisen „auf einen an sich außerhalb ihrer [der Sprache, M.S.] existierenden und zu suchenden Sinn. Der Inhalt wird als vor dem Text vorhanden gedacht, er wird in diesem, genauer: in seiner Auslegung nur entfaltet“. 64 Von Interesse ist nun die Beobachtung, dass der Aspekt der Selbstbezüglichkeit nicht nur - wie zu erwarten - bei den Verfechtern einer modernen Lesart des „Danteschen“ Mitleids von entscheidender Bedeutung ist. Auch die Argumentation jener, welche die emphatische Reaktion des Ichs auf die Begegnung mit Francesca durchaus im Einklang mit der gedanklichen Einheit des sacro poema sehen, 65 bezieht sich mehr oder weniger ausdrücklich auf diese Kategorie. Stützen können sie sich auf Dantes eigenes Verständnis von pietà, dem zufolge es sich bei ihr gerade nicht um einen mit der misericordia gleichzusetzenden Affekt handelt, sondern um eine „edle geistige Haltung“, die das Mitgefühl und andere „karitative Leidenschaften“ überhaupt erst ermöglicht. Im zweiten Traktat des Convivio (x, 6) heißt es: E non è pietade quella che crede la volgare gente, cioè dolersi dell’altrui male, anzi è questo uno suo speziale effetto, che si chiama misericordia e[d è] passione; ma pietade non è passione, anzi una nobile disposizione d’animo, apparecchiata di ricevere amore, misericordia ed altre caritative passioni. 66 An diese Begriffsbestimmung anknüpfend begreift ein Teil der Dantisti das Mitleid des Protagonisten prima facie als moralische Zerknirschung über den gefallenen Zustand der sündigen Seelen im Inferno. Dantes Ich empfindet demnach in den exemplarischen Begegnungen mit einzelnen Sündern, deren absolute Negativität für ihn außer Frage steht, stellvertretend tiefe Reue für die gefallene Menschheit. Seine mitleidig-reuige Haltung aber bringt er körperlich in Formen zum Ausdruck, die für die Vorstellungen vom vernunftge- 64 Stillers (wie in FN 14), S. 94 ff., Zitat S. 96. 65 Pointiert hat diese Auffassung bereits Francesco D’Ovidio vertreten in: „Galeotto fu il libro e chi lo scrisse“, in: ders., Nuovi studi danteschi, Mailand 1907, S. 531f. Siehe zur breiten Rezeption D’Ovidios den informativen Überblick von A. E. Quaglio, „Francesca da Rimini“, in der Enciclopedia Dantesca. In Deutschland war es Friedrich (wie in FN 35), S. 144- 200, der „Dantes“ pietà im Rahmen einer theologischen Argumentation ausführlich als eine notwendige Phase seiner Läuterung dargestellt hat. Er begriff das Mitleid als einen allerdings schlechten Affekt des Ich, den der Dichter eben wegen seiner Verderbtheit in die Hölle verwiesen habe: „Wenn aber Dante sich selbst in der Hölle das Mitleid in die Seele legt, so nur als das schlechte Mitleid, als den bloßen Affekt (…) - ein unangemessenes Beben des Gemüts, das an der Härte der Orte zerstiebt wie die Brandung am Felsen.“ (S. 169) 66 Im vierten Teil des Gastmahls (xix, 5) stellt Dante das Mitleid in diesem Sinne als eine von Natur gegebene Anlage mit der Religion auf eine den Affekten übergeordnete Stufe. In dem Lemma „pietà“ der Enciclopdia Dantesca schließt dessen Verfasser Antonio Lanci, S. 494: „La p. quindi, più che una specifica virtù, denota una condizione dell’animo, una naturale disposizione alle inclinazioni caritative, ma precedente ad esse.“ Dantes Poetik des Ich 21 leiteten, demütigen Mitleid seit jeher typisch sind. 67 Die Tränen, das Verstummen, die Ohnmacht sind so gesehen integrative Bestandteile einer reuigen Haltung und als solche ein erster notwendiger Schritt auf dem heilsgeschichtlichen Befreiungsweg des Ich, von dem oben die Rede war. Die offensichtliche Selbstreferenzialität, die diese Lesart des fünften Gesangs im Inferno implizit aufruft, ist intratextueller Art: Sie besteht darin, dass die pietade „Dantes“ im Angesicht von Francesca und Paolo - verstanden als reuiges Verständnis für die „peccator carnali, / che la ragion sommettono al talento“ (Inf. V., vv. 38f.) - hier bereits ganz am Anfang der Läuterung des Ichs auf seine individuelle contritio im irdischen Paradies verweist. 68 Die Francesca- Episode erscheint in dieser Hinsicht als Teil eines dichten Netzes intratextueller Korrespondenzen, mittels derer Dante in der Commedia permanent auf das komplementäre Verhältnis unterschiedlicher Sinnebenen verweist und ihr zugleich große poetische Einheit verleiht. Wenn sich eine derartige Form von Intratextualität aber, wie im vorliegenden Fall, in der Ich-Figur kristallisiert, die auch Dichter ist, bringt dies ein Moment individueller Selbstbezüglichkeit zum Ausdruck. Über diese vielfach nachgewiesene Form textueller Verweise innerhalb der Commedia hinaus hat die italienische Dante-Philologie seit Gianfranco Contini gezeigt, dass „Dantes“ Begegnung mit Francesca nicht zuletzt als mise en abyme der poetologischen Entwicklung des Dichter-Ichs zu lesen ist, welche die Commedia bekanntlich zum Thema hat. Entscheidend für diese Interpretation, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann, ist der detaillierte Nachweis, dass Dante seiner Francesca bei ihrer anaphorischen Bestimmung Amors als Macht, die alle ratio außer Kraft setzt, die amorologische Doktrin von Andreas Capellanus, Guido Guinizelli und Guido Cavalcanti in den Mund gelegt hat. Contini hat betont, dass Dante die Periphrase der stilnovistischen Liebesphilosophie, die bekanntlich auch seine eigene Vita nova speist, mit Francesca kaum zufällig einer „usufruttuaria delle lettere“, einer „Provinzintellektuellen“, und nicht einem Dichterkollegen zugeschrieben habe. Zudem realisiere die Leserin Francesca dieses Liebesideal in einem bovaristischen Akt avant la lettre konsequent als Ehebruch, weshalb Dante sie in den Höllenkreis der lussuriosi verdammt. Die intertextuelle Implementierung des stilnovistischen Diskurses führe in diesem Zusammenhang dazu, dass hier nicht nur Francescas Sündhaftigkeit gebrandmarkt werde, sondern 67 Siehe dazu L. Samson, „Mitleid“, in: J. Ritter, K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V, Basel-Stuttgart 1980, Sp. 1410-1416. 68 Siehe Purgatorio XXX-XXXI, wo „Dante“ als Voraussetzung für seine eigene Erlösung wie derjenigen der gesamten Menschheit aus sündiger Verstrickung unter dem Druck Beatrices Reue an den Tag legt. Dahinter steht das Konzept der christlichen Beichte, die sich in den Schritten contritio cordis, confessio und satisfactio operis vollzieht. Michael Schwarze 22 Dante zugleich dichterisch jene Liebeslehre überwinde, die für ihren Fall verantwortlich war. Das Inferno ist daher für Contini „auch der Ort seiner besiegten Sünden, der Sitz der von ihm überwundenen Versuchungen“: „Vuol dire che è oltrepassato lo stadio dell’amor cortese, della mera ‚probitas‘, dell’etica mondana, che perdura nello Stile Novo e si prolunga nella Vita Nuova.“ (47f.) 69 Entscheidend weiterentwickelt haben Continis Ansatz in den vergangenen Jahren die Arbeiten von Teodolinda Barolini. 70 Zum einen hat sie weitere intertextuelle Verbindungen von Francescas stilnovistisch kodierter Amor- Rede (Inf. V, vv. 88-107), vor allem zu Cavalcanti, aufgezeigt und so Continis philologischen Befunden zusätzliche Konsistenz verliehen. Zum anderen aber hat sie darauf aufbauend „Dantes“ Begegnung mit Francesca überzeugend kontextualisiert, indem sie gezeigt hat, dass Inf. V tatsächlich als erste Etappe „Dantes“ auf seinem dichterischen Läuterungsweg fungiert: „simply put: it is that Inferno 5 derives its extraordinary importance within the economy of Dante’s oeuvre from its perverse mirroring of the poet’s primal foundational belief“. 71 Als prägnantes Indiz für Dantes Weiterentwicklung seiner Konzeption der irdischen Liebe in der Commedia unterzieht Barolini u.a. Purgatorio XVIII einem intertextuellen close reading. Dort führt „Vergil“ „Dante“ auf dessen Bitten in eine gewandelte Amorologie ein 72 und erklärt: „Onde, poniam che di necessitate / surga ogne amor che dentro a voi s’accende, / di ritenerlo è in voi la potestate.“ (vv. 70-72) Mit diesen Worten verkündet „Vergil“ kraft seiner Autorität die Vorstellung von der zwischenmenschlichen Liebe, die „Dantes“ endgültige Abkehr von triebhaften Zwängen des fol’amor beschreibt: Sie entwirft das Bild eines Liebenden, der sich nicht mehr stilnovistisch der Macht Amors und damit seinem „talento“ ausgeliefert sieht, son- 69 Contini (wie in FN 7), Zitate S. 42, S. 47 und S. 47f. Renzi (wie in FN 49, S. 170-172) weist auf jene „cavallieri dell’ideale“ hin, die wie Ettore Bonora den Vorwurf des Bovarismus der Francesca nicht gelten lassen und in ihrem Zitat des stilnovistischen Liebesideals alles andere als eine poetologische Abgrenzung Dantes erkennen. So liest Bonora das Mitleid des Ich mit ihr (der Argumentation Stierles hinsichtlich des Liebenden Ichs vergleichbar) im Sinne einer weiterhin gegebenen totalen Identifikation des Dichters Dante mit seiner Jugenddichtung. E. Bonora, „Inferno canto V“, in: Giornale storico della letteratura italiana CLIX (1982), S. 321-352. 70 Für unsere Belange besonders interessant: T. Barolini, Dante’s Poet. Textuality and Truth in the Comedy, Princeton 1984, hier insbesondere S. 3-14 sowie vor allem jüngst der Aufsatz „Dante and Cavalcanti (On Making Distinctions in Matters of Love): Inferno 5 in its Lyric Context and Autobiographical Context“, in: dies., Dante and the Origins of Italian Literary Culture, New York 2006, S. 70-101. Auf diese exzellente Studie, die erstmals 1998 in Dante Studies (Bd. 116, S. 31-63) erschien, bezieht sich das Folgende. 71 T. Barolini, „Dante and Cavalcanti” (wie in FN 70), S. 79. 72 Purgatorio XVIII, vv. 9-15: „Maestro, il mio veder s’avvisa / sì nel tuo lume, ch’io discerno chiaro / quanto la tua ragion parta o descriva. / Però ti prego, dolce padre caro, / che mi dimostri amore, a cui reduci / ogne buono operare e ’l suo contrario.“ Dantes Poetik des Ich 23 dern der „il ben de l’intelletto“ (Inf. III, v. 18) wieder erlangt, indem er sein Begehren dem liberio arbitrio unterstellt. Im Lichte dieser Interpretationen, so lässt sich schließen, erscheint die pietà, die „Dante“ im fünften Gesang des Inferno dem „mal perverso“ (Inf. V, v. 93) des ehebrecherischen Paares entgegenbringt, tatsächlich auch als Inszenierung der zerknirschten Reue des Ich hinsichtlich der eigenen dichterischen Vergangenheit. Die Episode weist damit ein hohes Maß an poetologischer Selbstbezüglichkeit auf. Es geht im Rahmen dieser Betrachtung nicht darum, dezidiert für eine der Lesarten des „Danteschen“ Mitleids in Inferno V Stellung zu nehmen, geschweige denn eine grundlegend neue Deutung der „Danteschen“ pietà vorzuschlagen. Abschließend richtet sich unser Augenmerk daher stattdessen auf die Beobachtung, dass die kritischen Auseinandersetzungen mit dem mehrfach kodierten Ich, wie es dem Leser in der Hölle begegnet, eines eint - egal, ob sie die Inszenierung von „Dantes“ emphatisiertem Aufeinandertreffen mit exemplarischen Verdammten als Infragestellung der göttlichen Ordnung deuten oder sie, im Gegenteil, als kohärenten Aspekt dieses heteronomen Gedankengebäudes begreifen: In jedem Fall weisen ihre Rekonstruktionen der Bedeutung dieses Ich deutliche Affinität zu literarischen Manifestationen von Selbstbezüglichkeit auf. Mal betrifft diese die Geschichte des Protagonisten selbst, sei es in seiner Entwicklung als Liebender, sei es in jener als Dichter; mal bezieht sie sich auf den Verfasser der Commedia und deren intratextuelle Selbstverweise oder auf einen der Commedia insgeheim inhärenten Wahrheitsanspruch. Dieser Befund führt unmittelbar zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Er belegt, dass, auch wenn man versucht, sich Dantes Ich historisch adäquat zu nähern, neben der christlich verbürgten Ichrede der Bezug des Ich auf sich selbst, der vermeintlich ein Signum der Neuzeit ist, durchaus als konstitutives Merkmal der Texte dieses spätmittelalterlichen Autors erscheint. 73 Im Unterschied zu einem gängigen Entwurf des Subjekts in der Moderne jedoch bedeutet dieser Selbstbezug bei Dante nicht, dass das Ich damit zugleich zum Bewusstseins- und Erkenntniszentrum alles Gesagten avanciert. Das Bewusstsein seiner selbst sowie seine Wahrnehmung der Welt werden vielmehr dem im Mittelalter vorherrschenden Denken entsprechend von einer prästabilierten Ordnung geleitet, die das Telos dieses Ich darstellt. Dies bedeutet, dass die Selbstbezüglichkeit seiner Ich-Rede in einem episte- 73 Dieser Befund wirft im Übrigen zugleich ein elementares hermeneutisches Dilemma beim Versuch einer historisch adäquaten Rekonstruktion von Dantes Poetik des Ich auf: Wir können, so scheint es, der Frage nach dem Subjekt in einem (spät)mittelalterlichen Text kaum nachgehen, ohne dabei nolens volens zentral die Kategorie der Selbstbezüglichkeit zu veranschlagen. Das bedeutet, dass unser Wissen um die signifikante Differenz zwischen einer mittelalterlichen Ich-Konzeption, wie wir sie aus dem Convivio extrapolieren konnten, und modernen Entwürfen des Subjekts nicht verhindern kann, dass letztere unser Verständnis der Commedia wesentlich leiten. Michael Schwarze 24 mischen Kontext steht, der die Dominanz des autonomen Subjekts über die heteronom gestiftete, christliche Wahrheit noch nicht kennt. Man kann die Art von Selbstbezüglichkeit, die seiner Poetik des Ich eignet, daher am ehesten als ein Beispiel unabsichtlicher, a-systematischer Modernität im Spektrum der mittelalterlichen Literatur charakterisieren. Betrachtet man das unvermittelte Nebeneinander von orthodoxem Ich- Entwurf und selbstbezüglicher Ich-Inszenierung, welches das Gastmahl- Traktat und das christliche Epos gleichermaßen kennzeichnet, ergibt sich in der Zusammenschau folgendes Bild: Dantes Ich besitzt im literarischen Kontext seiner Zeit ein außergewöhnliches Maß an konzeptioneller Komplexität. Diese lässt sich, wie die diskrepanten Lektüren der pietà in der Francesca- Episode exemplarisch zeigen, nur schwerlich und unter Missachtung wesentlicher Aspekte der Konfiguration dieses polyvalenten Ichs auf uniforme Interpretationen reduzieren. Die Frage nach dem Subjekt weist Dantes Werk daher als ein ausgesprochen heterodoxes Stück mittelalterlicher Literatur aus, dem eine grundlegende Ambivalenz, begleitet von argumentativen Inkohärenzen, innewohnt. Dantes Poetik des Ich erscheint damit als ein Garant für die fundamentale Grundspannung - zumal der Commedia - und macht bis heute einen Teil des ungebrochenen Reizes aus, den dieses Weltgedicht ausübt. # Barolini, T., Dante’s Poets. Textuality and Truth in the Comedy, Princeton 1984. Barolini, T., „Dante and Cavalcanti (on Making Distinctions in Matters of Love): Inferno 5 in its Lyric Context and Autobiographical Context“, in: dies., Dante and the Origins of Italian Literary Culture, New York 2006, S. 70-101. Bonora, E., „Inferno canto V“, in: Giornale storico della letteratura italiana CLIX (1982), S. 321-352. Bosco U. u.a. (Hrsg.), Enciclopedia Dantesca, 6 Bde., Edizione Speciale, Rom 1996, (1. Aufl. 1970). 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Dementsprechend notiert der unersättliche Schauspielgänger und Stückesammler Marin Sanudo mit spürbarer Begeisterung in seinem Tagebuch sein wahrscheinlich erstes Erlebnis der Inszenierung eines Stückes von Angelo Beolco. Im Rahmen eines prächtigen Festes in der Ca’ Foscari tritt am 13. Februar 1520 ein gewisser Ruzante aus Padua auf und gefällt vor allem in der sprachlichen Ausgestaltung seiner Bauernrolle: „(…) uno nominato Ruzante, padoan, qual da vilan parla excelentissimamente (…)“. 1 Wenige Tage darauf, als Ruzante gemeinsam mit seinem später in vielen Stücken bewährten Partner Menato wiederum den paduanischen Bauer mimt, zeigt sich der Chronist ebenso angetan: „Poi recita la comedia d’i padoani a la villana e uno cognominato Ruzante e uno Menato feze ben da villani.“ 2 Wie Angelo Beolco als Ruzante, so wird also auch Marco Aurelio Alvarotto hier wie auch durchgehend in allen weiteren Eintragungen Sanudos mit seinem Rollennamen bezeichnet. Beolcos Identifikation mit seiner Rolle als Ruzante geht gar so weit, dass er einen Brief an den Herzog Ercole d’Este vom 23. Januar 1532, mit dem er einen Auftritt seiner Truppe in Ferrara vorbereitet, mit „Ruzante“ unterschreibt. 3 Und schließlich würdigt ihn der Stadthistoriker Scardeone postum im Jahre 1560 in einem Artikel, der nicht zufällig den Titel „De Angelo Beolco, alias Ruzante“ trägt, nicht allein als gefeierten Komödienautor, sondern ebenso als Regisseur und Schauspieler, der hierin alle Zeitgenossen übertreffe und einzig dem antiken Modell Roscius vergleichbar sei: 4 Et quoniam pronunciandi laude omnes nostrae aetatis histriones superabat Ruzantes, suarummet fabularum choragus, potiores semper partes agebat: quas quidem 1 Zitiert nach G. Padoan, La commedia rinascimentale veneta, Vicenza 1982, S. 74. 2 Ibid., S. 77f. 3 Vgl. ibid., S. 124, Anm. 109. 4 B. Scardeone, Historiae de urbis Patavii antiquitate, Sala Bolognese, S. 289 (Nachdr. der Ausg. Leiden 1722). Günter Berger 28 tanta cum venustate & gratia peragebat, ut, eo ab auditoribus in scena vel tantum conspecto, tametsi nihil prorsus ageret, magni repente prae laetitia clamores orirentur: quos ille sumpta alicujus ad imitandum persona, & coepto jucundo aliquo ad enarrandum figmento, ita illico sedare consueverat, ut tota multitudo ad audiendum composita, miram protinus attentionem praestaret. Was den Schauspieler in den Augen Scardeones so unübertrefflich macht, das ist also seine Bühnenpräsenz, sein körperliches Erscheinungsbild, das die Zuschauer in dem Moment, wo er die Bühne betritt, augenblicklich in seinen Bann zieht und zu Begeisterungsstürmen hinreißt, noch bevor er das erste Wort gesprochen hat. Dass diese gebannte Aufmerksamkeit des Publikums angesichts der Versuchungen zur Ablenkung während eines Festgelages, in dessen Ablauf Ruzantes Bühnenstücke ja nicht selten integriert waren, 5 nicht leicht zu erreichen und aufrechtzuerhalten war, auch das klingt aus den Worten des Paduaner Stadthistorikers heraus. ' ( ! Wir haben es hier offensichtlich mit einem Phänomen zu tun, das Erika Fischer-Lichte im Anschluss an G. P. Stone als Erscheinung mit identitätsstiftender Funktion deutet: 6 (…) das erste, was wir an einer Person wahrnehmen, ist ihre Erscheinung. Sie erlaubt uns, dieser Person eine Identität zuzuschreiben, noch ehe wir in eine diskursive Verständigung mit ihr eingetreten sind (…). Denn alle Mitglieder einer Gesellschaft können auf einen gemeinsamen Regelkanon zurückgreifen, der bei der Zuschreibung von Bedeutungen für unterschiedliche Erscheinungsformen zugrunde gelegt wird (…). Das Äußere fungiert also als ein Zeichen, dessen Bedeutung als Identität zu beschreiben wäre (…). Erscheinung ist also symbolisch zu verstehen, sie fungiert als ein Zeichen (…). Es repräsentiert vergangenes und gegenwärtiges Handeln und vermittelt Antizipationen künftigen Handelns. Die Erscheinung allein vermittelt laut Fischer-Lichte noch keine vollständige fest gefügte Identität der Rollenfigur. Diese wird vom Schauspieler ergänzt und verfestigt durch weitere rollengebundene Zeichen sprachlicher, mimischer, gestischer und proxemischer Natur. 7 5 Vgl. R. Ferguson, The Theatre of Angelo Beolco (Ruzante). Text, Context and Performance, Ravenna 2000, S. 75f. 6 E. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. I: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983, S. 97f. 7 Ibid., S. 98f. Identität und Rollenspiel bei Angelo Beolco alias Ruzante 29 ) ( Über Scardeones Zeugnis von der Erscheinung Ruzantes hinaus lassen sich praktisch keine weiteren direkten Belege finden, welche die Einschätzung des Chronisten stützen würden. Sanudos summarische Notizen beschränken sich auf Ruzantes (und seines Partners Menato) paduanischen Bauerndialekt oder ganz allgemein auf sein Rollenspiel als villano dieser Region. Die ohnehin nur für die Pastoral und die Betía, also die beiden frühesten uns bekannten Stücke, in größerer Anzahl überlieferten Regieanweisungen geben uns keinen Aufschluss über das Äußere Ruzantes, wenn er zu Beginn dieser Stücke erstmals in Erscheinung tritt. Und sein Partner Menato gibt in der 2. Szene des Parlamento nach dem Eingangsmonolog des aus dem Krieg heimkehrenden Ruzante vor, den „compare“, der einem „luço firto“, einem gebackenen Hecht, gleiche und die „mala ciera“, die hässliche Gesichtsfarbe eines Gepfählten zeige, nicht mehr wiederzuerkennen. 8 Erstaunlicherweise zweifelt der Gevatter an der Identität des Heimgekehrten, obwohl dieser seinen Namen nennt, um eben diese Identität unter Beweis zu stellen: „A’ son mi, Ruzante, vostro compare.“ 9 Doch der Name als Identitätsnachweis reicht nicht aus. Der Bauer Ruzante in der Rolle des aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten hätte nach Ansicht des Gevatters auch am Körper sichtbare Zeichen dieser Soldatenrolle zeigen müssen, wie z.B. Narben oder Verstümmelungen. 10 Als Ausweis dieser Rolle hätten diese Zeichen unmittelbar sinnlich fassbar dem Körper eingeschrieben sein müssen, ist doch der gesamte Körper des Schauspielers Ruzante, der diese Soldatenrolle verkörpert, ein Zeichensystem. * $ ! An seiner typischen Sprechweise dürften die Zuschauer den Protagonisten längst wiedererkannt haben, bevor Gevatter Menato sich über sein identitätsgefährdendes Erscheinungsbild mokiert. Denn schon in seiner ersten battuta verwendet er einen besonders für ein städtisches Publikum höchst komischen Vergleich, wenn er meint, „nie habe sich ein magerer, ausgepumpter Gaul derart nach frischem Gras gesehnt wie er nach seiner Heimkehr.“ 11 Diesen Vergleich hatte, als das Stück 1529 in Venedig aufgeführt wurde, das Publikum schon mehrfach in ähnlicher Form hören können: in der Prima Oratione aus dem Jahre 1521, die Ruzante freilich in der Residenz der Caterina Corna- 8 Vgl. Ruzante, Teatro, Hrsg. L. Zorzi, Turin 1967, S. 519. 9 Ibid., S. 519. 10 Ibid., S. 523. 11 Ibid., S. 517: „che no se agurè mé d’arivare a l’erba nuova cavala magra e imbolsía.” Günter Berger 30 ro in Barco del Asolo bei Treviso vortrug, 12 ebenso wie im Dialogo facetissimo von 1529 aus dem Munde des von Angelo Beolco gespielten Ruzante. Und noch vier Jahre später wird Beolco in der Rolle des Truffo in der Vaccaria mit diesem Spruch aufwarten. 13 Zurück zum Parlamento! Kaum ist das Publikum zu Atem gekommen, wird es eingangs der zweiten battuta mit einem der Lieblingsflüche Ruzantes konfrontiert, dem berühmt-berüchtigten „Cancaro“, hier gebraucht als Verfluchung des Krieges und der Soldaten. 14 Diesen Fluch führt Ruzante derart häufig besonders als allererste Äußerung im Munde, dass er geradezu als Erkennungsmerkmal gelten kann: Angefangen von seinem ersten Stück, der Pastoral, über den Dialogo facetissimo und die Anconitana bis hin zur Vaccaria leitet Beolco, ob in der Rolle des Ruzante, des Menego oder des Truffo seine Vorreden oder ersten Auftritte in den Stücken damit ein. 15 Im weiteren Verlauf dieser und der anderen Stücke wird der Fluch so inflationär gebraucht, dass aus Gründen der Raum- und Zeitökonomie hier auf weitere Nachweise verzichtet werden muss. Auch Verballhornungen von allem, was aus der Sicht eines paduanischen Bauern als gelehrt angesehen werden könnte, leisten ihren Beitrag zur Identitätsbildung. Da werden Aristoteles und Seneca in Ruzantes Mund zu „Stòtene“ und Sínica“, 16 [Tullius] Cicero und wiederum Aristoteles in dem des gleichfalls von Beolco gespielten Garbinelo zu „Trulio“ und „Stòtene“, 17 während Menego „Stòtene“ gar als Autorität in Sachen Medizin gilt. 18 Noch näher an die mentale Identität des villano Ruzante, an seine Einstellung zur Welt, an seine Sicht von unten auf diese Welt bringt uns seine Formel vom „roerso 12 Ibid., S. 1199. 13 Ibid., S. 695 (Dialogo facetissimo) und S. 1069 (Vaccaria). Der Dialogo facetissimo wurde in Fosson di Loreo aufgeführt, wo Alvise Cornaro Grundbesitz hatte, die Vaccaria in seinem Paduaner Stadthaus. Die Anwesenheit Sanudos bei der Aufführung der Vaccaria bezeugt, dass Venezianer durchaus auch Inszenierungen von Stücken Beolcos außerhalb der Lagunenstadt besuchten. 14 Ibid., S. 517. 15 Ibid. S. 7 (Pastoral), S. 693 (Dialogo facetissimo), S. 803 (L’Anconitana), S. 1045 (La Vaccaria). 16 Ruzante, Prima oratione, in: Teatro, op. cit., S. 1195. 17 Ruzante, La Piovana, in: Teatro, op. cit., S. 961. 18 Ruzante, Dialogo facetissimo, in: Teatro, op. cit., S. 707. Allerdings finden wir dieses Mittel sprachlicher Komik gelegentlich auch bei anderen Vertretern der paduanischen Landbevölkerung, wie etwa bei Taçio in der Betía, op. cit., S. 419 und Vezzo in der Vaccaria, op. cit., S. 1071. Identität und Rollenspiel bei Angelo Beolco alias Ruzante 31 mondo“, von der „verkehrten Welt“, 19 die er gern auch einmal in das drastische Bild vom „mondo (…) tuto voltò col culo in su“ 20 kleidet. Zur verkehrten Welt gehört aus der Sicht des paduanischen Bauern Ruzante und seines Partners Menato untrennbar dazu, an Stelle des pavan als des „natürlichen“ Dialekts das Florentinische, das „moscheto“, zu verwenden. Dementsprechend tadelt Gevatter Menato den aus dem Krieg heimgekehrten Ruzante im Parlamento wegen seiner für den Daheimgebliebenen fremd klingenden moscheto-Einsprengsel, die Ruzante damit rechtfertigt, weit in der Welt herumgekommen zu sein. 21 Mit anderen Worten: Mit seinem Gewinn an Weltläufigkeit ist ein partieller Verlust seiner sprachlichen Identität einhergegangen. Vollends - und zugleich in voller Absicht - verliert Ruzante seine Identität in der Moscheta, als er, verkleidet als „scolaro“ und moscheto sprechend, der Treue seiner Gattin Betía auf den Zahn fühlen will - mit dem erwartbaren Ergebnis: Betía erkennt den Gatten nicht, zeigt sich dem Werben des „scolaro“ gegenüber aufgeschlossen, der sich als Gehörnter in spe oder besser: in metu wutentbrannt wieder in Ruzante zurückverwandelt. Paradoxerweise ist diese Rückverwandlung nicht nur eine solche der Sprache, insofern sich seine Wut selbstverständlich im pavan entlädt, 22 sondern auch eine solche in die Rolle des gehörnten Liebhabers oder Ehemannes, die Ruzante ja ebenfalls in Stücken wie dem Parlamento, der Betía (als Zilio) oder dem Dialogo facetissimo (als Menego) spielt. Wie bewusst Angelo Beolco den paduanischen Dialekt zur Identitätsbildung der Rolle des villano einsetzt, zeigt sich erst recht in dem Moment, als der villano Ruzante in die Rolle des servo Truffo in der Vaccaria geschlüpft ist und sich dort über die karnevalesk-verkehrte Welt der commedia erudita mokiert, in der die Diener toskanisch reden: Hetu mé vezú, Vezo, quando l’è da Carnevale, che in Palazo i fa quele fiòbole che i ghe d’ise comielie, che ‘l gh’intravien qui famigi che i gi fa faelare in lengua mosca? 23 19 Ruzante, Prima oratione, in: Teatro, op. cit., S. 1191, 1195; in seiner allerersten Äußerung in der Fiorina, ibid., S. 733 und nochmals monologisch am Ende des 2. Aktes, op. cit., S. 747; als Sprecher des 2. Prologes zur Anconitana, op. cit., S. 781. 20 Als Prologsprecher, als „sprologaore“, wie er sich selbst nennt, zur Fiorina, ibid., S. 727; mit denselben Worten eröffnet er den Prolog zur Moscheta, op. cit., S. 677. 21 Ruzante, Parlamento, in: Teatro, op. cit., S. 521: „Cancaro! A’ favelè moscheto, compare. Ai muò la lengua: a’ favelè a la fiorentinesca de Breseghela.” 22 Ruzante, La Moscheta, in: Teatro, op. cit., S. 617/ 619. Sonst gehört es zu seiner Rolle, sich über den Gebrauch des Toskanischen lustig zu machen, vgl. Prima Oratione, ibid., S. 1185; L’Anconitana, op. cit., S. 803. In der Vaccaria, op. cit., S. 1075 erinnert Truffo (gespielt von Beolco) seinen Mitdiener Vezzo, der einen „fatore“ spielen soll, daran, dass zu diesem Rollenwechsel der sprachliche Wechsel zum „moscheto fiorentinesco“ gehört. 23 Ruzante, La Vaccaria, in: Teatro, op. cit., S. 1103. Günter Berger 32 + ,- $ . ! / 0 1 0 % Als symbolisches Zeichen steht der gesamte Körper des Schauspielers im Dienste seiner Rollenidentität: Die Mimik seines Gesichtsausdrucks, seine Gesten, all seine Bewegungen auf der Bühne tragen zu dieser Identitätsbildung bei. 24 Wir haben schon gesehen, wie verächtlich sich Gevatter Menato über den vom Krieg gezeichneten Ruzante äußert, mit seiner ungesunden Hautfarbe und seinem Gesamteindruck, der dem eines gebackenen Hechtes ähnele. Dieselbe Verachtung spricht aus den Worten von Dona Menega, mit denen sie ihrer Tochter Betía - und natürlich den Zuschauern - ihren von Beolco gespielten Verehrer Zilio mit wenig schmeichelhaften Vergleichen aus der niederen unheldischen Fauna in all seinen körperlichen Defiziten schildert: Mo dime un puo’ a mi: che hetu catò in sto poltron, che ‘l par un argiron che vegne dal palú? No vitu com l’ è menú de gambe e de lachiti che i par du stechiti che ghe sea cazè in lo culo? El par purpio un mulo, a guardarlo in lo sberozo, e sì par un pigozo, a guardarlo in lo muso. La testa par un buso, a’ digo, de quigi d’ave i dente de [le] rave, gi uoci par forè con un trevelín; l’ha po el volto pizenin co’ he sto pugno mi. Pota, mo de chi te te si’ andò inamorare? 25 Ich brauche wohl nicht weiter zu betonen, dass dieses Körperbild in keiner Hinsicht dem männlichen Schönheitsideal der Frühen Neuzeit entspricht. Ebenso klar dürfte sein, dass dieser weibliche Blick auf den männlichen Körper weder in seiner Form der Rundum-Musterung noch gar in der Abfolge der 24 Vgl. E. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, op. cit., S. 98f. 25 Ruzante, Teatro, op. cit., S. 353/ 355. Identität und Rollenspiel bei Angelo Beolco alias Ruzante 33 einzelnen Blicke von unten nach oben in irgendeiner Weise der literarischen Tradition, etwa in der petrarkesken Lyrik entspricht, es sei denn im Modus der Verkehrung. Alle Einzelelemente dieser Beschreibung, die von deiktischen Elementen unterstrichen wird, laufen auf Identifizierung Zilios als eines „poltron“, eines Feiglings, heraus. Instinktive Flucht, panisches Wegrennen ist die Bewegungskonstante Ruzantes und eines seiner hervorstechendsten körperlichen Markenzeichen. So spielt Ruzante gemeinsam mit dem compare Menato zu Beginn des 5. Aktes der Moscheta schwerbewaffnet den Helden, um dem bergamaskischen Soldaten Tonin die Lust auf Ruzantes Frau Betía auszutreiben und ihn zu verjagen. Doch je näher sie dem erwarteten Schauplatz des Kampfes, Ruzantes Haus, rücken, desto häufiger muss Menato dem von Tonin gehörnten Angsthasen gut zureden und Mut machen. Doch der antwortet nur, wie Menato sarkastisch bemerkt, mit einem auf Armbrustschussweite hörbaren Zähneklappern: „Pota, a’ crezo ch’ a’ tremè da paura. Mo a’ batívu i dente, ch’ a’ ’l s’ a’ ve sentirae una balestrà.” 26 Flehentlich ruft er den mutigen Menato, der freilich auch seine eigenen Interessen an der Gattin des compare verteidigen will, zum Rückzug auf, mit den Worten „Muzón, muzón, compare! “ 27 Diese Worte, die auf der Bühne gewiss von einer heftigen Fluchtbewegung Ruzantes unterstrichen wurden, bilden sein ins Lächerliche verkehrte Kampfgeschrei, ganz nach der am Ende des 4. Aktes von Menato schon sarkastisch vermerkten Devise „L’ è miegio viver poltron ca morir valent’omo.“ 28 Im Parlamento schildert Ruzante als kampferprobter Kriegsheimkehrer dem Gevatter Menato sichtlich selbstzufrieden mit stolzgeschwellter Pose seine Strategie des Fliehens: Auf den Fußspitzen stehend in alle Richtungen Ausschau nach sämtlichen Fluchtmöglichkeiten zu halten, das ist seine Überlebensgarantie. Denn darum geht es, nicht um die Flucht als Selbstwert. 29 Ist keine Flucht mehr möglich, greift der paduanische Bauer zum allerletzten Mittel: Er lässt sich fallen und stellt sich tot wie Menego im Dialogo facetissimo und hat dabei buchstäblich die Hosen voll, wie er mit überdeutlicher Deixis registriert: „È questo sangue, o 26 Ruzante, La Moscheta, in: Teatro, op. cit., S. 661. 27 Ibid. 28 Ibid., S. 655. Diese Devise hatte Ruzante schon in der von ihm vorgetragenen Prima oratione, op. cit., S. 1195 als die seine ausgegeben. Im Parlamento, Teatro, op. cit., S. 527 definiert Ruzante den flüchtenden Feigling als „valent’omo“. 29 „RUZANTE (…) a’ stasea, a’ ve sè dire, su le ale cussí … intendíu? (…) MENATO (…) Poh, s’a`v’intendo! A’ pensavi da che lò muzare … RUZANTE Sí: no per muzare tanto, com per salvarme, intendíu? “, in: Ruzante, Parlamento, op. cit., S. 525-527. Günter Berger 34 èla merda? La me porae esser muzà, ché la me strenzea.“ 30 Bezeichnenderweise gebraucht Menego dasselbe Verb für das Entfliehen seiner Exkremente aus seinem Körper wie Ruzante in der Moscheta für die Flucht seiner ganzen Person. Wie das Blut als pars pro toto und Symbol für den „valent’omo“ steht, so symbolisiert die Scheiße sein bäuerliches Gegenbild. 31 2 0 Ruzantes sprichwörtlicher Wolfshunger, sein „mal de la loa“, zu dem er sich schon in der Pastoral bekennt, gehört von Anfang an zu seinem Rollenbild. 32 A’ son chialò, mi, a la segura, e squase che a’ no cherzo esserghe gnian. S’a’ m’insuniasse? La sarae ben de porco! A’ sè ben ch’a’ no m’insunio, po. Non songie montà in barca a Lizafusina? A’ son stò pur a Santa Maria d’un bel Fantin a desfar el me vò. Se mi mo no foesse mi? e che a’ foesse stò amazò in campo? e che a’ foesse el me spirito? La sarae ben bela. [Cava in fretta dalla bisaccia un tozzo di pane e lo addenta] No, cancaro! spiriti no magna. [A bocca piena] A’ son mi, e sí a son vivo (…) 33 Auch diesen durchs Essen seines Brotes gesicherten Existenzbeweis hatte Ruzante schon im Proemio alla villana zur Pastoral geführt und diesen Beweis sich selbst und den Zuschauern deiktisch-plastisch vor Augen geführt in einer grotesken Steigerung existenzsichernder Gesten: Nicht der Kopf, von dessen Vorhandensein sich Ruzante zunächst überzeugt, sondern der Magen, den es mit Brot voll zu stopfen gilt, garantiert das Leben des Bauern durchs Überleben. Mithin muss mit Giorgio Padoan für ihn die Existenzformel lauten: „Manduco, ergo sum“ anstelle des cartesianischen „Cogito ergo sum“: 34 Vergine Maria, quando morigi? [Si tira i capelli]. Questi è pur i miè cavigi; 30 Ruzante, Dialogo facetissimo, in: Teatro, op. cit., S. 701. Im Parlamento erklärt Ruzante seinem Gevatter Menato das Sich-tot-Stellen als Kriegslist im Feld erlernt zu haben, op. cit., S. 541. 31 Auch seinem ihn verprügelnden Rivalen Marchioro gesteht Ruzante in der Fiorina, in: Teatro, op. cit., S. 745 vor Angst die Hosen voll zu haben. Das Lachen kann bei ihm dieselbe Wirkung haben, vgl. L’Anconitana, in: Teatro, op. cit., S. 811. 32 Ruzante, La Pastoral, in: Teatro, op. cit., S. 65. 33 Ruzante, Parlamento, in: Teatro, op. cit., S. 519. Die - sehr plausiblen - Regieanweisungen hat der Herausgeber Zorzi hinzugefügt. 34 Vgl. A. Beolco il Ruzante I, La Pastoral. La Prima Oratione. Una Lettera Giocosa, a cura di G. Padoan, Padua 1978, S. 62, Anm. 11. Identität und Rollenspiel bei Angelo Beolco alias Ruzante 35 a’ m’i toco pure. [Si stringe forte le mani e se le guarda]. Pota, a’ aén pur dure le mie man. A’ vuò pur tuor fora el pan, ch’a’ verò s’a’ magnerò. 35 Als die Rolle des paduanischen Bauern Ruzante in Angelo Beolcos späten Stücken, die sich in ähnlicher Form wie die commedie erudite seiner Zeitgenossen an römisch-antiken Modellen orientieren, zu der eines - immerhin noch regionalsprachlich verankerten - Dieners namens Garbinelo in der Piovana (1532) und Truffo in der Vaccaria (1533) mutiert, ändert sich auch die Einstellung zum Brot und zum Essen ganz allgemein. Zwar bekennt Garbinelo in seinem letzten Monolog sich noch zum Essen als dem nach Jahren der Entbehrung größten Vergnügen neben der Liebe: Ché, con l’afeto, el magnar de bon è el re d’i piaseri, né no gh’è negun che ’l passe. Perché del piasere del magnare tuti i limbi reversamen, dentro e de fuora, ne sente che de gi altri piaseri el no è cossí. 36 Was folgt, ist ein geradezu hymnisches Lob auf das Essen, in das alle Körperteile und Sinne des Menschen einstimmen. 37 Dennoch geht es hier nicht mehr um den Wolfshunger eines Ausgehungerten, sondern um die Vorfreude eines Fresslustigen auf Schlaraffenland-Zustände, der seinen Herren darum bitten will, ihn nach Herzenslust eine Woche lang fressen und faulenzen zu lassen. 38 Auch der Gedanke an sexuelle Lust, die mit der Fresslust einhergeht, hat nur noch wenig mit der elementaren animalischen Gier des heimkehrenden Ruzante nach seiner Gnua im Parlamento zu tun, die aus diesem unmittelbar nach seiner Befriedigung seines Esshungers hervorbricht. Beinahe sublimiert keimt hier in Garbinelo der Gedanke an die Freuden des Ehelebens auf 39 , und selbst die Vorstellung, zur Vollendung dieser Freude gelte es nach der Hochzeitsnacht die Braut zu verspeisen, 40 kommt im Vergleich zum kruden Autokannibalismus, den Menego als letzten Ausweg ersonnen hatte, relativ zivili- 35 Ruzante, in: Teatro, op. cit., S. 9. Wahrscheinlicher als die von Zorzi vermuteten Gesten Ruzantes erscheint mir der von Padoan angenommene Schlag mit der Hand an den Kopf. Vgl. Angelo Beolco, S. 62, Anm. 10. 36 Ruzante, in: Teatro, op. cit., S. 1017-19. 37 Ibid., S. 1019. 38 „A’ ghe domanderè de grazia che de sti oto dí el no me comande gniente, e che a’ posse magnar e star acolegò quanto vuò.“ Ibid. 39 „A’ no deniego zà che ’l no sea bel piasere a essere noízo (…).“ Ibid. 40 „(…) mo ’l besognerae a esser compío che la matina se poesse magnare la noíza (…).“ Ibid. Günter Berger 36 siert daher. 41 Vergleichen wir die beiden Szenen genauer: Auch im Dialogo facetissimo tritt Menego monologisch auf und beklagt ebenso wie Garbinelo die Hungersnot als Zeit der Entbehrung. Aber hier greift der notorisch arme Tagelöhner zum Suizid durch Autokannibalismus als letztem Mittel zur Überwindung des Hungers, während für Garbinelo die Hungersnot Vergangenheit und das Schlaraffenland verheißene Zukunft ist und auch der kannibalische Frauenverzehr rein im Zeichen der Lust steht. Obendrein scheint hier Ruzante als Garbinelo in Form einer optimistisch-lustvollen Replik mit einem Augenzwinkern zu den kundigen Zuschauern hin auf sein früheres Rollen-Selbst Ruzante als Menego zurückzublicken, um gemeinsam mit ihnen über den armen Kerl von damals zu lachen. Und als Truffo in der Vaccaria markiert der neue Ruzante vollends spielerisch seine Distanz zum alten Ruzante, wenn er herausstellt, um wie viel Scherz und Streich als lebensverlängernd doch dem Brot als lediglich lebenserhaltend überlegen sind: (…) mi a’ cherzo che le berte e le noele che se fa al mondo a questo e quelo, fosse ordenè dal çielo, per miegio che pan. (…) Oh, le garbinele è pur la bella cossa. 42 Mit dem Terminus der „garbinele“, der Tricks, von dem Garbinelo seinen Namen ableitet, verleiht Truffo dem Rollenbild des Ruzante auch begrifflich eine zumindest partiell erneuerte Identität. 3 $ . ! 43 Mit dem Wandel des Namens von Ruzante zu Garbinelo geht also ein Wandel der Rolle vom paduanischen Bauern zum paduanischen Diener einher, der zwar seine sprachliche Identität weitgehend wahrt, funktional jedoch die für die Entwicklung der europäischen Komödie der Frühen Neuzeit typische Position eines Strippenziehers im Intrigenspiel einnimmt. Und dieses Rollenwandels ist sich Garbinelo selbst auch völlig bewusst, wenn er von sich sagt: A’ son Garbinelo: e sí el me fo metú nome cossí, perché, dasché a’ nassí, a’ he sempre abú avanto de far miegio garbinele e de far trar dinari a questo e quelo, ca omo che supia stò al mondo. 44 41 Ruzante, Dialogo facetissimo, in: Teatro, op. cit., S. 709. 42 Ruzante, La Vaccaria, in: Teatro, op. cit., S. 1087. 43 Zur Funktion und zu den verschiedenen Typen sprechender Namen in der Geschichte des europäischen Dramas allgemein vgl. M. Carlson, „The semiotics of character names in the drama“, in: Semiotica 44, 1983, S. 283-296. Die Rollennamen Ruzante, Garbinelo und Truffo entsprechen Carlsons viertem Typ, der sich der weitesten Verbreitung erfreut, „where the emphasis is (…) upon character description“, op. cit., S. 292. 44 Ruzante, La Piovana, in: Teatro, op. cit., S. 954. Identität und Rollenspiel bei Angelo Beolco alias Ruzante 37 Und zur Betonung seiner Kompetenz im Finten-Erfinden leitet er sie in typischer Renaissancemanier im weiteren Verlauf seines Monologs genealogisch als Erbgut von seinen Vorfahren ab. 45 Truffo, der Diener in der Vaccaria, schließt nicht allein funktional an die Rolle Garbinelo an. Denn wie dieser stellt auch er die Bedeutung seines Namens heraus, als es darum geht, dem Mercante in betrügerischer Manier Geld abzuluchsen: „O Trufo, se mé a’ fu’ Trufo, el besogna ch’a’ sea adesso.“ 46 Ist es vom „Trickser“ Garbinelo zum „Betrüger“ Truffo nur ein kleines Wegstück, so war der Weg von Ruzante zu den beiden doch recht weit. Immerhin hatte auch der schon mit einer eigenen Etymologie den Beweis für sein Rollenbewusstsein geliefert, als er in der Anconitana die Herkunft seines Namens verkündet hatte: El me derto lome è Perduòcimo. Mo quando iera putato, che andasea con le biestie, sempre mé a’ ruzava o con cavale o con vache, o con scroe, o con piegore. E po aéa un can, che a’ me aéa arlevò, che a’ l’aéa usò ch’a’ me ’l menava a man, ch’a’ dissè: „L’è un asenelo“. A’ ruzava sempre mé con elo, a’ ghe spuava in lo volto, pur che a’ me oesse des-ciapar e andar drio qualche macion a ruzar con elo. E perzòntena i me messe lome Ruzante, perché a’ ruzava. 47 Wie aus dem Kontext hervorgeht - Ruzante hatte zuvor gesungen und getanzt -, bedeutet „ruzar“ hier nicht summen, brummen oder knurren, sondern springen, umhertollen, scherzen und, wie er selbst andeutet, wenn er sich mit seinem Hund hinter einem Gebüsch versteckt, schließlich auch sexuell verkehren. 48 In jedem Fall zielt die Herleitung seines Namens auf Ruzantes Fähigkeiten in der Hervorbringung körperkomischer Effekte, während seine Rollenachfolger Garbinelo und Truffo auf ihre intellektuellen Fähigkeiten zur Komikproduktion abheben. Allen aber ist gemeinsam, dass sie das Publikum an ihren Reflexionen über die Etymologie ihrer Namen teilhaben lassen. Wenn man so will, simulieren diese drei Rollen damit insofern Ansätze zu individueller Subjektivität, als sie über ihre Identität reflektieren. 49 Dabei inszeniert Ruzante seine individuelle Identität im Sinne der Selbstheit Ricœurs über die Kontinuität seiner Körperlichkeit von Kindheit an, während die Intellektualität Garbinelos und Truffos eher an die der Gleichheit Ricœurs entsprechende Subjektivität erinnert. 50 Freilich sollte uns die Bindung dieser Identitätsinszenierungen an eine durchaus traditionelle Denkform davor warnen, 45 Ibid. 46 Ruzante, La Vaccaria, in: Teatro, op. cit., S. 1083. 47 Ruzante, L’Anconitana, in: Teatro, op. cit., S. 817. 48 Darauf verweist schon Zorzi in seiner Anmerkung zu dieser battuta, op. cit., S. 1470. In dieser Bedeutung finden wir das Wort häufig in der Novellistik. 49 Vgl. P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen-Basel 2000, S. 21. 50 Vgl. ibid., S. 22. Günter Berger 38 hier vorschnell direkte Vorläufer moderner Subjektentwürfe entdecken zu wollen. Denn es liegt ja ein in der Frühen Neuzeit immer noch bedeutsames Denkmuster den Rollennamen Ruzante, Garbinelo und Truffo zugrunde: das Denkmuster der Etymologie in ihrer Wissen stiftenden und Wahrheit verbürgenden Funktion. Die Herkunft eines Wortes ableiten zu können, bedeutete in dieser Epoche zugleich, gesichertes Wissen über dessen aktuelle Bedeutung zu besitzen und dieses Wissen um die Herkunft der aktuellen Bedeutung war wiederum für den Besitzer dieses Wissens Garantie dafür, auch die Wahrheit des Bezeichneten zu erkennen. Denn von der Überzeugung der Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens war man zu dieser Zeit noch weit entfernt. Vielmehr war man im Sinne des nomen est omen ganz im Gegenteil von einem tiefgehenden inneren Zusammenhang zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten überzeugt. 51 Im Falle Garbinelos kommt, wie wir gesehen haben, noch ein weiteres zeittypisches Denkmuster hinzu: das Vertrauen in die Genealogie. Wie jeder Adelige, wie jede Stadt seiner Zeit, so leitet auch er seine Intrigen-Potenz von den Ahnen bzw. den Gründungsvätern ab. Garbinelos Ahnen als trickreiche Intriganten im Dienste ihrer Herrschaften sind freilich in der römisch-antiken Komödie zu suchen, doch insbesondere auf der Ebene der Sprache bewahren er und sein Pendant Truffo das Erbe Ruzantes und wahren damit einen erheblichen Teil seiner Identität. 52 # Beolco, Angelo il Ruzante, Bd. I, La Pastoral. La Prima Oratione. Una Lettera Giocosa (Hrsg. G. Padoan), Padova 1978. Berger, G., „Ruzantes ,Prima oratione‘ zwischen Parodie, Polemik und Utopie“, in: R. Franceschini u.a. (Hrsg.), Retorica: Ordnungen und Brüche. Beiträge des Tübinger Italianistentages, Tübingen 2006. Carlson, M., „The semiotics of character names in the drama“, in: Semiotica 44, 1983. 51 Erst im 17. Jahrhundert werden mots und choses voneinander getrennt, vgl. M. Foucault, Les mots et les choses, Paris 1990 (1. Aufl. 1966), S. 58. Zu den antiken Ursprüngen und der bis in die Frühe Neuzeit reichenden Geltung der „Etymologie als Denkform“ vgl. den gleichlautenden Exkurs XIV in E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1969 (1. Aufl. 1948), S. 486-490. 52 Der spielerisch-parodistische Umgang mit diesem Denkmuster in der Prima oratione unseres Autors zeigt allerdings auch schon Brüche in seiner Geltung an, vgl. G. Berger, „Ruzantes Prima oratione zwischen Parodie, Polemik und Utopie“, in: R. Franceschini et alii (Hrsg.), Retorica: Ordnungen und Brüche. Beiträge des Tübinger Italianistentages, Tübingen 2006, S. 325-336, hier S. 329f. Freilich beharrt etwa noch Benvenuto Cellini bei der Konstitution seiner Ich-Identität auf der ungebrochenen Geltungsgewissheit der Genealogie. Identität und Rollenspiel bei Angelo Beolco alias Ruzante 39 Curtius, E. R., Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1969 (1. Aufl. 1948). Ferguson, R., The Theatre of Angelo Beolco (Ruzante). Text, Context and Performance, Ravenna 2000. Fischer-Lichte, E., Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band I: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983. Foucault, M., Les mots et les choses, Paris 1990, (1. Aufl. 1966). Padoan, G., La commedia rinascimentale veneta, Vicenza 1982. Scardeone, B., Historiae de urbis Patavii antiquitate, Sala Bolognese (Nachdr. der Ausg. Leiden 1722). Zima, P. V., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2010 (3. Aufl.). Javier Gómez-Montero (Kiel) 4 5 0 0 6 7 Nostre ame ne branle qu’à credit, liée et contrainte à l’appetit des fantasies d’autruy, serve et captivée soubs l’authorité de leur leçon. On nous a tant assubjectis aux cordes que nous n’avons plus de franches allures. Nostre vigueur et liberté est esteinte. (...) Qu’il luy face tout passer par l’estamine et ne loge rien en sa teste par simple authorité et à credit; les principes d’Aristote ne luy soyent principes, non plus que ceux des Stoiciens ou Epicuriens. Qu’on luy propose cette diversité de jugemens: il choisira s’il peut, sinon il en demeurera en doubte. Il n’y a que les fols certains et resolus. Che non men che saper dubbiar m’aggrada. (Montaigne, Essais, I, XXVI) & ( 8 , 9 : ; < Zweifellos stellt der Verlust metaphysischer Glaubensgewissheiten für den Menschen das folgenreichste Ereignis im Rahmen einer Bewusstwerdung der eigenen Kontingenz dar. Ohne die Garantien einer göttlichen oder weltlichen auctoritas sowie der zugehörigen Institutionen, ohne allgemein gültige Prinzipien, die die Notwendigkeit der historischen Ereignisse oder des subjektiven menschlichen Handelns apriorisch begründen könnten, bleibt der Mensch darauf angewiesen, das eigene Bewusstsein als einzige Instanz heranzuziehen, die Erkenntnis legitimieren sowie individuelle und kollektive Verhaltensformen rechtfertigen kann. Diese kulturhistorische Entwicklung verdichtet sich zu Beginn der Renaissance, wobei mit Blick auf die epistemische Tragweite der Fiktionspoetik Miguel de Cervantes’ Don Quijote in diesem Zusammenhang als ein Gründungsdokument zu betrachten ist. Aus dieser Perspektive können auch die Novelas ejemplares als eine Kasuistik der condition humaine gelesen werden, die auf kontingenzbegründete Verhaltensformen angelegt ist. So inszenieren die Texte immer wieder die Auseinandersetzung zwischen gegenstrebigen Prinzipien, etwa zwischen der Fremdbestimmung und dem freien Willen (wie in der Marcela-Episode im Quijote) oder zwischen sozialen Normen und subjektiver Entscheidung (etwa in El celoso extremeño, dessen Javier Gómez-Montero 42 zweite Fassung mit einem Plädoyer für den freien Willen endet). 1 Daher kann es kaum verwundern, dass H.-J. Neuschäfer mit Blick auf den Quijote eine differenzierte Ethik für die eingeschobenen Erzählungen rekonstruieren kann. 2 Im Quijote stellt sich die Frage nach der Legitimation jeglicher auctoritas immer schon ausgehend von der Lektürepraxis, auch wenn hier sogleich die Ambivalenz der entsprechenden Problematik in den Blick gerät: So leitet sich Quijotes Fähigkeit zur Subjektivierung von Welt wohl aus seinen Lektüren der Ritter- und Schäferromane her, beruht jedoch gleichzeitig auf einem grundsätzlichen Trugschluss, wie der Kanoniker aus Toledo in seiner Diskussion mit dem Ritter aus der Mancha bemerkt, worauf dieser sich zur Wehr setzt: „yo he hecho mal en leerlos, y peor en creerlos, y más mal en imitarlos“. 3 In dieser Textpassage werden zwei Erkenntnisformen kontrastiert, nämlich ein mimetisches Modell, das ebenso subjektiv wie imaginationsbegründet ist, und ein vorgeblich rationales und der subjektiven Wahrheit angepasstes Modell, für das der Kleriker einsteht. Mit diesen beiden Modellen inszeniert der Text den Widerstreit zweier Erkenntnisstrategien, deren eine sich auf die Autorität der fantastischen Lektüren beruft, während die andere auf rationalen und persönlichen Urteilen gründet; gleichwohl ist die Entscheidung letztlich problematisch und wird folglich auch im Verlauf des ganzen zweiten Teils des Romans nicht getroffen. Entgegen dem ersten Eindruck wäre es daher auch unzureichend, den Wandel epistemologischer Paradigmen im Quijote einseitig als Ersetzung des magischen Wissens durch rationale Erkenntnis zu beschreiben, parallel womöglich zu einer denkbaren Trennlinie zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Gewiss führt die Überwindung der Mimesis zu neuen Subjektivitätskonzepten, doch gilt es, die Ausfaltungen dieses Prozesses zu analysieren, die vor allem eine Aufwertung der Imagination mit sich bringen, die als Agens der Erzeugung von Welt oder Wirklichkeit zu begreifen wäre und darüber hinaus ein erhebliches Potential für die Konstituierung des Selbst in sich birgt. Kern des Problems ist der Verlust von Erkenntnisgarantien, der den imaginationsgeleiteten Bildern von Welt eingeschrieben ist. So inszeniert der Quijote die Ambivalenzen einer Erkenntnis, die von der Frage nach der Wahrheit der eigenen Bewusstseinsrepräsentationen abhängig bleibt. Hier geht es um das 1 J. Gómez-Montero, „Las metamorfosis del ‚viejo celoso‘ y la heurística de la representación en Cervantes“, in: Ch. Strosetzki (Hrsg.), Teatro español del Siglo de Oro. Teoría y práctica, Frankfurt/ M.-Madrid (Vervuert-Iberoamericana) 1998, S. 131-158 (Studia Hispanica, 7). 2 H.-J. Neuschäfer, La ética del Quijote, Madrid 1999. 3 Die Zitate folgen der Ausgabe Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, Barcelona 1998 (die wörtlichen Wiedergaben sind dem ersten Band entnommen). Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 43 fantastische Bewusstsein Don Quijotes, das das Wunderbare selbstverständlich in sein Wirklichkeitskonzept integriert und das ausgehend von einem Trugschluss unter den Vorgaben der eigenen Lektüren Repräsentationen von Welt mimetisch hervorbringt, auch wenn die Grundlagen dieser Weltsicht im Verlauf des Romans zunehmend erschüttert respektive durch die Faktizität des Wirklichen selbst negiert werden. Der engaño - so das quid der Fragestellung - gehört zur Erkenntnis dazu und ist substantieller Bestandteil der condition humaine, wie der Text an verschiedenen Stellen klar demonstriert. In diesem mit der Aufwertung der vis imaginativa einhergehenden Prozess ist darüber hinaus - so der letzte Aspekt meiner Überlegungen - eine zeitliche Dimension enthalten, die am deutlichsten in den Figuren des Zweifels, der Ungewissheit, des Schwankens oder der Unbeständigkeit zum Ausdruck kommt. In eben dieser Problematik der Identität und der Erkenntnis, die den Zwischenräumen des literarischen Textes eingeschrieben ist, öffnet sich die cervantinische Fiktion auf einer Schwelle der modernen Subjektivität. Deren grundlegende Struktur wird dabei weder das cogito noch die mimesis sein, sondern vielmehr ein distingo, das jedes endgültige Wahrheitsurteil suspendiert. Der Gegenstand meiner Untersuchung, die Subjektivität im Quijote und ihre Repräsentationsmodi, bezieht sich auf die Herausbildung eines individuellen Bewusstseins, das in der literarischen Fiktion aufscheint. Hierbei ist die Rolle der Erzählerfigur 4 ebenso zu berücksichtigen wie in den Text eingearbeitete Fiktionalitätssignale. Gerade die komplexe metafiktionale Struktur des Quijote prädestiniert diesen Text für die hier aufgeworfene Fragestellung: Die Polyphonie der Erzählstimmen ist der Ausweis eines spielerischen Fiktionskonzepts, dessen verschiedene Wirklichkeitsbilder miteinander im Konflikt stehen können, sich auszuschließen scheinen und doch in einer perspektivischen Repräsentationsstruktur verbunden bleiben. Indem die Fabel ihre eigene Fiktionalität ausstellt und so den Modus der Repräsentation sichtbar macht, erhält Cervantes’ Text eine Dichte, die den Verlust metaphysischer Garantien und die Unzulänglichkeit der auf Erfahrung oder praktischem Wissen begründeten Garantien kompensiert, wenn auch freilich die erkenntnispragmatische Geltung des eigenen Bewusstseins noch ungeklärt bleibt. Es ist festzuhalten, dass sich eine Subjektfigur in einem so angeordneten Gefüge von Text und Repräsentation selbst entdeckt und ihr eigenes Erkenntnispotenzial im Freiraum, den die literarische Fiktion gewährt, ausloten kann. 4 J. Blasco, „La compartida responsabilidad de la ‚escritura desatada‘ del Quijote“, in: Criticón 46 (1989), S. 41-62, Santiago Fernández Mosquera, „Los autores ficticios del Quijote“, in: Anales Cervantinos 24 (1986), S. 47-65. Javier Gómez-Montero 44 Wie aber konstituiert sich das Subjekt im Quijote? Wo zeigt sich das angedeutete subjektive Bewusstsein am deutlichsten? Für die Beantwortung dieser Fragen erscheint es notwendig, zwei Aspekte zu erörtern: 1. Es ist naheliegend, das spezifische Bewusstsein des Protagonisten strukturell zu analysieren, nämlich wie es das Wunderbare akzeptiert, wie es sich im Zeichen des Begehrens nach der Selbsterfindung als Ritter konstituiert und wie schließlich die allmähliche Auflösung der imaginären Welten von statten geht, die diesen Bewusstseinsmodus erzeugt haben - den ich als fantastisch bezeichnen möchte. Darüber hinaus zeigt sich das Problem der ebenso schwierigen wie unbeständigen Erkenntnis, das im Zeichen des karnevalesken Diskurses in der Episode des baciyelmo (I, 44-45) verhandelt und im Verlauf des ganzen zweiten Teils verfolgt wird. 2. Die zweite Fragestellung geht der Entwicklung von Quijotes fantastischem Erkenntnismodus voraus und betrifft die Funktion der Einbildungskraft als Strategie der individuellen Selbstkonstituierung. Wissens- oder Erkenntnisformen, die nicht unmittelbar der Sanktionierung durch andere Autoritäten bedürfen (etwa Gott, Staat, Kirche, Gesellschaft, Familie, Tradition, Erfahrung), hängen direkt vom Augenblick ihrer Erzeugung oder Entstehung ab, also vom Kontext, von der Perspektive, der Argumentation, sowie allgemein von den diskursiven Strategien der Vermittlung oder Darstellung. Hierin liegt die relative oder prekäre Beschaffenheit allen Erkennens begründet, in der gleichwohl auch ein Prinzip der Selbstbestätigung wurzelt, nämlich die Unbeständigkeit der Erkenntnis, die Pluralität der Wahrheiten, die jede gesicherte Bewusstseinsvorstellung zerstört und diese als in stetem Wandel begriffenes Erkenntnisvermögen erscheinen lässt. Obgleich es nicht an Versuchen mangelt, die genannten Phänomene als epochentypische Aspekte zu systematisieren - etwa mit Blick auf die Renaissance-Episteme 5 in den romanischen Literaturen 6 oder hinsichtlich der spanischen Literatur des Siglo de Oro 7 -, ist es doch der zu Cervantes beinahe zeit- 5 Vgl. K. W. Hempfer, „Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ,Wende‘“, in: K. W. Hempfer (Hrsg.), Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen, Stuttgart 1993, S. 9-45, ders., „Ariosts Orlando Furioso - Fiktion und episteme“, in: H. Boockmann, L. Grenzmann, B. Moeller, M. Staehelin (Hrsg.), Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 1995, S. 47-85. 6 W.-D. Stempel, K. Stierle (Hrsg.), Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania, München 1987. 7 W. Matzat, B. Teuber (Hrsg.), Welterfahrung - Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Tübingen 2000; vgl. auch meinen Aufsatz „Celestina, Lozana, Lázaro, Urdemalas y la subjetividad. A propósito del lenguaje y los géneros de la ‚escritura realista‘ del Renacimiento“, in: A. Vian und C. Baranda (Hrsg.), El personaje literario y su lengua en el siglo XVI, Instituto Universitario „Seminario Menéndez Pidal“, Madrid, 2006, S. 285-340. Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 45 genössische Michel de Montaigne, der in den siebziger und achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts die Unbeständigkeit des menschlichen Bewusstseins im Rahmen essayistischer Reflexionen ebenso klug wie scharfsinnig beleuchtet hat. Da die Essais das Verhältnis von Ich und Welt, von Sprache und Wirklichkeit im Sinne der Imagination neu definieren, die solchermaßen epistemologisch aufgewertet wird und sich so von ihrer herkömmlichen Konnotation als Quelle des engaño löst, soll die Funktion der Einbildungskraft hinsichtlich der Dynamik des subjektiven Bewusstseins bei Montaigne skizziert werden. ' ( : < = ( Vereinfacht gesprochen: Bei Montaigne bedeutet die Imagination eine Instanz der Verinnerlichung von Erfahrungen, die das Urteilsvermögen beeinflusst und dessen Repräsentation prägt. Die epistemologische Geltung dieser Erkenntnisstrategie, die das vormoderne magische Wissen zurückweist und überwindet, um gleichzeitig das moderne cogito zu antizipieren, sei durch eine im distingo rationalisierte und in der Imagination subjektivierte Erfahrung gegeben, wobei ich jene zwischen dem auf Analogiebeziehungen gegründeten frühneuzeitlichen Wissen und der autonomen Vernunft der Moderne situiere. Zwischen der göttlichen Wahrheit und derjenigen des Menschen stünden Erfahrung und Imagination, die das eigene Bewusstsein zu einer relativistischen, perspektivischen oder gar skeptizistischen Betrachtungsweise berechtigten, die zwischen dem realen Sein der Dinge und den bloßen Erscheinungen zu unterscheiden wisse. Diese Überlegungen ließen sich an zahlreichen Essais nachvollziehen, so dass hier nur exemplarische Einblicke gegeben werden können. Gegen Ende der kurzen Reflexion über den Müßiggang (I, 8: „De l’oisiveté“) wird etwa die Rolle der Einbildungskraft als Instanz subjektiver Selbstkonstituierung betont, wenn auch zugleich noch der disziplinierende Intellekt genannt wird, der die Hervorbringungen der Imagination ordnen und mithilfe der Bewusstseinstätigkeit in geschriebene Form bringen müsse: [sc.: Mon esprit] m’enfante tant de chimeres et monstres fantasques les uns sur les autres, sans ordre et sans propos, que pour en contempler à mon aise l’ineptie et l’estrangeté, j’ay commancé de les mettre en rolle, esperant avec le temps luy en faire honte à luy mesmes. 8 Entsprechend setzt die Verschriftung einen regulierenden Bewusstseinsakt voraus, der die Fantasie als Ursprung der Gedanken bändigt. 8 M. de Montaigne, Œuvres complètes, Paris 1962, S. 34. Javier Gómez-Montero 46 Im berühmten Essai I, 21 („De la force de l’imagination“) werden magisches und empirisches Wissen einander gegenübergestellt. Dabei wird das empirische Wissen privilegiert, obgleich auch hier das Wahrheitsproblem als solches mit Blick auf die gelegentlichen Widersprüche zwischen Erfahrung und Vernunft ungelöst bleibt. Wie die Tiere, so stünden auch die Menschen unter dem Einfluss der Einbildungskraft: schwangere Frauen seien zuweilen im Stande, dem ungeborenen Leben durch phantasmatische Projektionen physische oder psychische Eigenschaften angedeihen zu lassen, Körper und Seele bedingten einander, auch wenn das kritische Urteilsvermögen des Verfassers jeden einzelnen Fall auf seine Wahrhaftigkeit und eventuelle Widersprüche zur Erfahrung prüfen müsse: Mais tout cecy se peut raporter à l’estroite cousture de l’esprit et du corps s’entrecommuniquants leurs fortunes. C’est autre chose que l’imagination agisse quelque fois, non contre son corps seulement, mais contre le corps d’autruy. (…) les Histoires que j’emprunte, je les renvoye sur la conscience de ceux de qui je les prends. Les discours sont à moy, et se tienent par la preuve de la raison, non de l’experience; chacun y peut joindre ses exemples: et qui n’en a point, qu’il ne laisse pas de croire qu’il en est, veu le nombre et varieté des accidens. (S. 103- 104) Diese Zitate belegen eindeutig den Skeptizismus Montaignes 9 , zugleich zeugen sie von der postulierten Veränderlichkeit und Pluralität von Wahrheit überhaupt, einer Einsicht, die wiederum die Konstitution eines Selbst betrifft, dessen Konstituierung als stetes Werden zu denken ist, angefangen beim Autor selbst, der nicht aus Eitelkeit schreibt, sondern als Konsequenz der Auffassung, dass „chaque homme porte la forme entiere de l’humaine condition“. Entsprechend heißt es im Essai III,2 („Du repentir“): Je veus qu’on m’y voie en ma façon simple, naturelle et ordinaire, sans contantion et artifice: car c’est moy qui je peins. (...) Ainsi, lecteur, je sui moy-mesmes la matiere de mon livre (...). (S. 9) Gewiss besitzt die écriture der Essais einen genauen Referenten, sobald sie autobiografische Elemente einfließen lässt, nämlich die Figur des Autors, der als Subjekt des Denkens, Imaginierens und Handelns freilich das menschliche Dasein als solches repräsentiert: Certes, c’est un subject merveilleusement vain, divers et ondoyant, que l’homme. Il est malaisé d’y fonder jugement constant et uniforme. (S. 13) 9 Die Monografie von H. Friedrich, Montaigne, Tübingen-Basel 1993 (3. Aufl.) zählt nach wie vor zu den erhellendsten Untersuchungen in dieser Frage. Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 47 Gegenstand dieses Textes ist das Selbst, jenes widersprüchliche und doch beständige Sein des Menschen. Die Veränderlichkeit gerät zum entscheidenden Definitionsmerkmal der Wirklichkeit und der condition humaine, wie sie der Essai III,2 artikuliert, der als Prolog der Troisième Partie (1588) dienen sollte: Le monde n’est qu’une branloire perenne. Toutes choses y branlent sans cesse (...). Je ne puis asseurer mon object. Il va trouble et chancelant, d’une yvresse naturelle. Je le prens en ce point, comme il est, en l’instant que je m’amuse à luy. Je ne peints pas l’estre. Je peints le passage: non un passage d’aage en autre, ou, comme dict le peuple, de sept en sept ans, mais de jour en jour, de minute en minute. Il faut accommoder mon histoire à l’heure. Je pourray tantost changer, non de fortune seulement, mais aussi d’intention. C’est un contrerolle de divers et muables accidens et d’imaginations irresoluës et, quand il y eschet, contraires; soit que je sois autre moymesme, soit que je saisisse les subjects par autres circonstances et considerations. Tant y a que je me contredits bien à l’adventure, mais la vérité, comme disoit Demades, je ne la contredy point. (S. 782) Jean Starobinski 10 hat eine denkwürdige Studie über die hier beschriebene Unbeständigkeit des menschlichen Wesens verfasst, das zum einen den Grund für scheinbar zufällige Erscheinungsformen bildet, zum andern jedoch Ideen und „imaginations irresoluës“ hervorbringt, wie in der Passage behauptet wird. Zweifellos konstituiert sich das Subjekt hier in einer zeitlichen Dimension, nämlich in den Momenten des Übergangs und damit im unaufhörlichen Werden der Zeit. In diesem Zusammenhang erhält die Imagination eine zentrale Bedeutung als Instanz, die die Repräsentation der eigenen ästhetischen Diskurse zu leisten vermag. Und in dem Maße, wie das Groteske als Grundfigur der Imagination gilt, mit deren Hilfe Montaigne die Struktur der essayistischen Rede in „De l’amitié“ (I, 28) gliedert, eignet sich die fiktionale Rede für die Beschreibung jenes Hin und Her von Ideen und Möglichkeiten, das das menschliche Denken charakterisiert. Gegenüber den normativen und hierarchischen Prinzipien impliziert die condition humaine einen dynamischen Prozess imaginativer Selbstkonstituierung, zugleich fördert die Emergenz des Grotesken in den ästhetischen, anthropologischen und philosophischen Diskursen der Renaissance - wie zuletzt Dorothea Scholl gezeigt hat - einen ironischen und subjektiven Modus der literarischen Repräsentation, in dem gegenstrebige Affekte wie Tragisches und Komisches, aber auch Irrationales und Irreales aufgehen. 11 So gestattet die Rede eine Darstellung von Selbst und Welt, die weder auf analogiebegründeten noch auf essentialistischen Vorstellungen aufbaut, sondern sich allein auf das ganz augenblicksbezogene Wertur- 10 J. Starobinski, Montaigne en mouvement, Paris 1982. 11 D. Scholl, Von den „Grottesken“ zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance, Münster 2004. Javier Gómez-Montero 48 teil des Selbst einlässt. In diesem Sinne eignet sich die Fiktion für Repräsentationen von Welt, da sie auch subjektive Erkenntnis ist. Größe und Elend der imaginativen Wahrnehmung leiten sich vom hohen heuristischen Potential jeglicher auf sinnlicher Erfahrung beruhender Selbsterkenntnis her, die gleichwohl nicht nur durch ihre Ausschnitthaftigkeit beeinträchtigt ist, sondern zudem immer schon Ergebnis und Ausdruck eines Übergangszustandes sowie der grundsätzlichen Unentscheidbarkeit zwischen Wirklichkeit und Erscheinungen ist. Zuletzt kann sie stets auch das Ergebnis eines Fehlurteils sein. Karin Westerwelle hat gezeigt, wie Montaigne das Groteske als poetologisches Strukturprinzip in den Essais 12 einsetzt. Entsprechend gerät das Groteske hier zum Emblem einer antimimetischen Ästhetik, die die Kategorien der Analogie und der Wahrscheinlichkeit suspendiert und die Imagination als Modus etabliert, mit dessen Hilfe sich das Verhältnis von Sprache und Welt, von verbum und res bestimmen lässt. Dieser Kerngedanke eines als stetes Fragen gedachten Wissens, der grundsätzlich vom Zweifel und vom Nichtwissen ausgeht, mündet ohne Umwege in den Skeptizismus, den bereits Montaignes Motto in der Apologie de Raimond Sebond (II, 12) formuliert 13 : Nostre parler a ses foiblesses et ses defauts, comme tout le reste. La plus part des occasions des troubles du monde sont Grammairiennes. Nos procez ne naissent que du debat de l’interpretation des loix (…). (...) quand ils prononcent: „J’ignore“, ou „Je doubte“, ils disent que cette proposition s’emporte elle mesme (…). Cette fantasie est plus seurement conceuë par interrogation: „Que sçay-je? “ comme je la porte à la devise d’une balance. (S. 508) Dieses „Que sais-je“ unterzieht nicht nur die Autorität des eigenen Wissens eier kritischen Prüfung, sondern auch die des savoir reçu, des überkommenen Wissensbestandes, wie es der zehnte Essai des Deuxième Livre der Essais („Des livres“) betont: Ce sont icy mes fantasies, par lesquelles je ne tasche point à donner à connoistre les choses, mais moy: elle me seront à l’adventure connuez un jour, ou l’ont autresfois esté (...). Ainsi je ne pleuvy aucune certitude, si ce n’est de faire connoistre jusques à quel poinct monte, pour cette heure, la connoissance que j’en ay. Qu’on ne s’attende pas aux matieres, mais à la façon que j’y donne. (S. 387) 12 K. Westerwelle, Montaigne. Die Imagination und die Kunst des Essays, München 2002, S. 395. 13 Der Essai II, 12 ist aus dieser Perspektive eingehend untersucht worden von Andreas Kablitz, „Montaignes ‚Skeptizismus‘. Zur Apologie de Raimond Sebond (Essais: II, 12)“, in: G. Naumann (Hrsg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart-Weimar 1997, S. 504-539. Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 49 Dieses Zitat relativiert nicht nur die Möglichkeit der Erkenntnis, vielmehr fokussiert es insbesondere deren Ausdrucksmöglichkeit, also deren sprachliche Repräsentation. Nachdem die Vorstellung einer absoluten, unveränderlichen oder objektiven Wirklichkeitserkenntnis aufgegeben worden ist, erscheinen in den Essais die Zufälligkeit und Augenblicksbezogenheit von Erkenntnis und deren Vermittlung als akzeptierte Grundprinzipien, die die subjektive Selbsterkenntnis allererst ermöglichen: La science et la verité peuvent loger chez nous sans jugement, et le jugement y peut aussi estre sans elle (...). Je n’ay point d’autre sergent de bande à ranger mes pieces, que la fortune. A mesme que mes resveries se presentent, je les entasse (...). (...) si j’estudie, je n’y cherche que la science qui traicte de la conoissance de moy mesme, et qui m’instruise à bien mourir et à bien vivre. (S. 388) Diese Andeutungen zeigen die prekäre Beschaffenheit allen Wissens, dessen Gültigkeit an die Grenzen des individuellen Bewußtseins gebunden bleibt. Eine eingehende Untersuchung des dreizehnten Essai des Troisième Livre („De l’experience“), in dem die Rechtmäßigkeit einer solchen reflexiven Erkenntnisstrategie betont wird, gestattete die Vertiefung der genannten Aspekte. Hier soll indessen lediglich die Angewiesenheit der Erfahrung auf die Vernunft betont werden, die Schwierigkeiten der sprachlichen Repräsentation, die Unsicherheit und Momenthaftigkeit der Urteile ebenso wie der imaginäre Status von Wahrheit: Quand la raison nous faut, nous y employons l’experience Per varios usus artem experientia fecit: Exemplo monstrante viam, qui est un moyen plus foible et moins digne; mais la verité est chose si grande, que nous ne devons desdaigner aucune entremise qui nous y conduise. La raison a tant de formes, que nous ne sçavons à laquelle nous prendre; l’experience n’en a pas moins. La consequence que nous voulons tirer de la ressemblance des evenemens est mal seure, d’autant qu’ils sont tousjours dissemblables: il n’est aucune qualité si universelle en cette image des choses que la diversité et varieté. (S. 1041) Jamais deux hommes ne jugerent pareillement de mesme chose, et est impossible de voir deux opinions semblables exactement, non seulement en divers hommes, mais en mesme homme à diverses heures. (…) Il pense remarquer de loing je ne sçay quelle apparence de clarté et verité imaginaire; mais, pendant qu’il y court, tant de difficultez luy traversent la voye, d’empeschemens et de nouvelles questes, qu’elles l’esgarent et l’enyvrent. (S. 1044-1045) Javier Gómez-Montero 50 Schon ein einziges der zusammengetragenen Zitate, die die Schwierigkeit von Erkenntnis beschreiben („cette chasse de coignoissance“, S. 1045), wäre geeignet, die Herausbildung einer individuell kultivierten Kunst der Lebensführung zu erklären, eines Handelns, das den ethischen Prinzipien eines natürlichen Selbstbewusstseins unterliegt. In diesem Zusammenhang tritt umso dringlicher die Zeitdimension in den Vordergrund, in der Menschsein, Urteilsvermögen, Unbewusstes, Göttliches und Irdisches konvergieren: Il n’est rien si beau et legitime que de faire bien l’homme et deuëment, ny science si ardue que de bien et naturellement sçavoir vivre cette vie (...). (S. 1091) Im Horizont jener Subjektphilosophie, die hier im Zeichen der imaginativen, reflexiven und ethischen écriture von Montaignes Essais skizziert worden ist und die das distingo zur diskursiven Leitfigur erhebt („Distingo est le plus universel membre de ma logique“, II, 1, S. 319), soll nun die heuristischrelevante Fiktionspoetik (i.e. eine epistemología poética) 14 nachgezeichnet werden, die verschiedene produktive Lektüren des Quijote ermöglicht. ) > : < ( ? ; Im Essai I, 26 „De l’institution des enfants“ empfiehlt Montaigne die kritische Prüfung des erworbenen Wissens, und dabei legt er Wert auf die Vielfältigkeit der Urteile, um so gleichermaßen die ausschließlich buchgestützte Autorität zu schwächen und den Zweifel als epistemologisches Prinzip zu behaupten. Dieses Vertrauen in das individuelle Urteilsvermögen führt zur Zurückweisung des magischen Wissens im Essai I, 21. Bezeichnenderweise führt Don Quijote beide Wissensformen - auctoritas und Magie - als Garantien seiner eigenen Wahrheit ins Feld, obwohl eigentlich gerade jene die Ursache seines Wahns oder seiner Fehlurteile bilden: Atentísimamente estuvo Don Quijote escuchando las razones del canónigo, y cuando vio que ya había puesto fin a ellas, después de haberle estado un buen espacio mirando le dijo: 14 Der Begriff epistemología poética im spanischen Original ist K.-W. Hempfers Konzept der Fiktion bzw. des fiktionalen Textes „als Explikation der Episteme“ verpflichtet, den der Berliner Literaturwissenschaftler im Zuge einer Wahrheitsproblematik oder einer im literarischen Werk evident werdenden epistemologischen Konfiguration ausgeführt hat - am Beispiel des Orlando furioso. Vgl. K.-W. Hempfer, „Ariosts Orlando furioso. Fiktion und episteme“, in: H. Boockmann, L. Grenzmann, B. Moeller, M. Staehlin (Hrsg.), Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989-1992, Göttingen 1995, S. 47-85. Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 51 - Paréceme, señor hidalgo, que la plática de vuestra mercéd se ha encaminado a querer darme a entender que no ha habido caballeros andantes en el mundo y que todos los libros de caballerías son falsos, mentirosos, dañadores e inútiles para la república, y que yo he hecho mal en leerlos, y peor en creerlos, y más mal en imitarlos, habiéndome puesto a seguir la durísima profesión de la caballería andante que ellos enseñan, negándome que no ha habido en el mundo Amadises, ni de Gaula ni de Grecia, ni todos los otros caballeros de que las escrituras están llenas. - Todo es al pie de la letra como vuestra merced lo va relatando dijo a esta sazón el canónigo. A lo cual respondió don Quijote: - Añadió también vuetra merced diciendo que me habían hecho much daño tales libros, pues me habían vuelto el juicio y puéstome en una jaula, y que me sería mejor hacer la enmienda y mudar de letura, leyendo otros más verdaderos y que mejor deleitan y enseñan. - Así es, dijo el canónigo. (S. 564) Für Don Quijote ist die Autorität des geschriebenen Wortes unantastbar, so dass es nicht notwendig erscheint, sie durch Erfahrung oder rationales Denken zu untermauern. Sodann vervollständigt Don Quijote die Darlegung seines epistemologischen Modells durch die Erzählung der encantos und maravillas des „Lago de Pez hirviendo a borbollones“ (S. 569 und 571) als Chiffren des vormodernen merveilleux und des Prestiges eines magischen Wissens, die die Wahrheit des Unmöglichen garantieren respektive dem Hidalgo glaubhaft werden lassen, der die buchgestützte Ritteridentität angenommen hat. In diesem Sinne wäre das fantastische Erkenntnismodell Don Quijotes die Quelle seiner Fehlurteile; gleichwohl setzt auch hier ein Prozess der Selbstvergewisserung ein, der von der Schwierigkeit aller Selbsterkenntnis zeugt. So können ihn nach seiner Selbsterfindung als Ritter gemäß den literarischen Vorbildern auch keine weiteren Erfahrungen - etwa die Windmühlen oder die Schafe - mehr vom Projekt der Selbstkonstituierung im Spiegel ritterlicher Identität - wie es in den libros de caballería vorgegeben ist - abbringen, und erst, als er gefangen ist und dringliche physische Bedürfnisse verspürt („si le ha venido gana de hacer lo que no se escusa“, S. 559), zweifelt Quijote an der Verhexung: - Ya, ya te entiendo, Sancho! Y muchas veces, y aún agora la tengo. ¡Sácame deste peligro, que no anda todo limpio! (S. 559) Von diesem Moment an stellt sich für Quijote das Problem der Wahrheit, für deren Ermittlung wiederum jene ironischen Erzählstrategien entscheidend werden, die von Beginn des Romans an zu beobachten sind. Wahrheit und Javier Gómez-Montero 52 Lüge hängen folglich mit der Romanform zusammen und gehen paradoxerweise zuletzt in einer Wahrheitsillusion auf, die die Diskursstrukturen selbst betrifft. Hierzu gehört die Ironisierung dessen, was vielleicht als fantastisches Erkenntnismodell des Don Quijote bezeichnet werden könnte, die insbesondere im zweiten Teil immer dringlichere Frage nach seiner narrativen Identität. Die ambivalente Debatte über poetische Wahrheit im Quijote, die mit dem im Protagonisten verkörperten Erkenntnisproblem zusammenhängt, darf nicht von der pragmatischen Lösung ablenken, die der Text selbst bereithält. Gemäß J. M. Pozuelo Yvancos erweisen sich die Gegensätze zwischen Wahrheit, Lüge und Wahrscheinlichkeit der Erzählung letztlich als ein Pakt („pacto“) oder Glaubwürdigkeitsspiel („juego de credibilidad“) zwischen den Figuren der Erzählung und zwischen Autor und Leser, dessen Garantien ästhetische Rezeptionskriterien wie agrado, deleite und admiración bilden. 15 In diesem Sinne schließt Pozuelo Yvancos, dass die Fiktion sich aus einer eigenständigen Logik herleitet, nämlich der inneren Kongruenz der referenziellen Welten, die das Erkenntnissystem des Quijote im Verlauf des récit entfaltet. 16 Struktur und Entwicklung dieser Welten sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden, da sie die Erkenntnisproblematik der Fabel illustrieren und zugleich die Metafiktionalität des cervantinischen Schreibens dokumentieren. 17 Quijotes Erkennen folgt einer Umkehrung von Wahrheit und Lüge, ausgehend von der Nachahmung der Ritterromane. 18 Seine Wahrnehmungsdispositive können folglich als Wahnsinn kategorisiert werden (so die häufigste Einschätzung von Erzähler und Figuren) oder schlicht als Ergebnis einer exzessiven buchgestützten Imagination, die die Wirklichkeit verfälscht: „se le representó en su imaginación al vivo“ (Begegnung mit den encamisados, S. 201), „imaginó Don Quijote“ (Begegnung mit Cardenio, S. 255). Kraft seines Ingeniums gelingt es Quijote während des ganzen ersten Teils des Romans mühelos, die Wirklichkeit mit seinem fantastischen Erwartungshorizont in 15 J. M. Pozuelo Yvancos, Poética de la ficción, Madrid 1993, S. 15-62, vgl. Javier Gómez- Montero, „Cervantes, Ariost und die Form des Romans: die eingeschobenen Erzählungen und die Strategien der Fiktionskonstituierung im Quijote“, in: D. Briesemeister, A. Schönberger (Hrsg.), Festschrift für Heinrich Bihler, Berlin 1998, S. 353-387. 16 Vgl. J. M. Paz Gago, Semiótica del Quijote. Teoría y práctica de la ficción narrativa, Amsterdam-Atlanta 1995, S. 87-140. 17 Vgl. K. W. Hempfer, „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses und Ariosts Orlando Furioso“, in: K. W. Hempfer, Grundlagen der Textinterpretation, Stuttgart 2002, S. 79-105, U. Winter, Der Roman im Zeichen seiner selbst. Typologie, Analyse und historische Studien zum Diskurs literarischer Selbstrepräsentation im spanischen Roman des 15. bis 20. Jahrhunderts, Tübingen 1998, S. 197-263. 18 Zum Leser in Don Quijote und zur Tradition dieses Motivs vgl. „Don Quijote lesen - Der Leser Don Quijote in Text und Bild”, in: J. Gómez-Montero, I. M. Martín, J. R. Trujillo (Hrsg.), Don Quijote ilustrado. Don Quijote als Leser und die Spanische Renaissance, Madrid-Kiel 2003, S. 41-60. Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 53 Übereinstimmung zu bringen; entsprechend erläutert der Erzähler in der Episode, in der es um den Helm des Mambrino geht: „todas las cosas que veía con mucha facilidad las acomodaba a sus desvariadas caballerías“ (S. 224). Im ersten Teil des Romans stellt sich das Wahrheitsproblem nur in der Episode des baciyelmo (I, 44-45), und zwar bezeichnenderweise als Anlass zur Komik. Der Erzähler selbst betont, dass der Barbier „urde una burla, para que todos riesen“ (S. 521), wobei dieser Scherz noch eine Parodie auf Verfahrensweisen der Rechtssprechung erkennen lässt. So fügt sich diese Episode in eine karnevaleske Komödie, die die vorübergehende Inszenierung eines „mundo al revés“ (S. 524) und damit die Vertauschung von Wahrheit und Lüge, von Schein und Sein erlaubt. Das komische Potential dieser Episode, in der zum ersten Mal die Durchlässigkeit zwischen wahrer und falscher Erkenntnis thematisch wird, tritt noch stärker hervor, wenn Don Quijote die Verwandlung des Barbierbeckens in einen Helm den Zauberern zuschreibt. Die karnevaleske Gestaltung dieser Episode bestätigt die Deutung von A. Redondo, der hier die Durchsetzung einer neuen Poetik entdeckt, einer „poética nueva que supera el principio de autoridad, invierte perspectivas, provoca la variedad de las miradas“. 19 Ab diesem Moment der Erzählung verliert das fantastische Erkenntnismodell Quijotes zunehmend an Konsistenz, so dass der Hidalgo wenig später seine vermeintliche Gefangennahme durchschauen kann, bevor schließlich im zweiten Teil des Romans sein bisheriges Weltbild ins Wanken gerät. In diesem Sinne stellt die Episode des baciyelmo eine komplexe Chiffrierung des Erkenntnisproblems dar, das in den folgenden Kapiteln zunehmend mit Blick auf den epistemologischen Status der Fiktion sowie die Schwierigkeit der angemessenen Realitätswahrnehmung ausdifferenziert wird. Im zweiten Teil lässt sich die fortschreitende Erosion der Grundfesten von Quijotes fantastischem Erkennen beobachten, die eine stärkere Problematisierung der Wahrheitsermittlung bedingt. Allein deren enorme Schwierigkeit lässt es plausibel erscheinen, dass sich der Protagonist noch an seine inneren Bilder hält, deren trügerisches Wesen er sich doch mehr und mehr eingestehen muss. Diese Einsicht schreitet voran, ausgehend von der Verzauberung Dulcineas über die Episode der Cueva de Montesinos bis zu den nachfolgenden Bemühungen der Figur, den Wahrheitsgehalt ihrer Sinneseindrücke trotz all der Nachwirkungen zu bestimmen, die sich in ihrem Bewusstsein entfalten und die sie sogar dazu bringen, neu erdachte Abenteuer in statu nascendi fallen zu lassen (etwa das des verzauberten Schiffes bei der Fahrt über den Ebro, II, 29). 19 A. Redondo, Otra manera de leer el Quijote. Historia, tradiciones culturales y literatura, Madrid 1997, S. 484. Javier Gómez-Montero 54 Bereits im zweiten Teil lassen sich Symptome für eine unterschwellige Dynamik der maßgeblichen Erkenntnisproblematik finden, nämlich in den Anzeichen für die Restitution rationaler Wahrnehmungsmechanismen. So erkennt Quijote in II,11 die Komödianten der Schauspieltruppe von Angulo el Malo ohne weiteres als solche: „Como vi este carro imaginé que alguna grande aventura se me ofrecía, y ahora digo que es menester tocar las apariencias con la mano para dar lugar al desengaño“ (S. 714). Ebenfalls im zweiten Teil bewahrt sein Scharfsinn Quijote vor einer grundsätzlichen Verwirrung, so dass er den Spuk der Zauberer auflösen kann, der doch bislang für seine Selbstvergewisserung maßgeblich war. Der Schluss des Abenteuers um das verzauberte Schiff dokumentiert, dass die Durchlässigkeit zwischen Schein und Sein zunehmend Skepsis hervorruft: „Ya te he dicho que todas las cosas trastruecan y mudan de su ser natural los encantos. No quiero decir que las mudan de uno en otro realmente, sino que lo parece“ (S. 872). So kann Don Quijote allmählich eine Wirklichkeit bejahen, die sich seinen Erkenntnismöglichkeiten immer schon entzogen hat: En esta aventura se deben de haber encontrado dos valientes encantadores, y el uno estorba lo que el otro intenta: el uno me deparó el barco y el otro dio conmigo al través. Dios lo remedie, que todo este mundo es máquinas y trazas, contrarias unas de otras. Yo no puedo más ... En diciendo esto, se concertó con los pescadores y pagó por el barco cincuenta reales, que los dio Sancho de muy mala gana. (S. 873-874) Diese Episode korrespondiert mit derjenigen, die die Zerstörung des Marionettentheaters von Ginés de Pasamonte (II, 36) schildert und in der Don Quijote die verfälschende Wirkung seiner Wahrnehmungsweise erkennt: („a mí me pareció todo lo que aquí he pasado que pasaba al pie de la letra (…): si me ha salido al revés, no es culpa mía, sino de los malos que me persiguen“, S. 852-853). Eben diese Nichtverfügbarkeit von Wahrheit zeigt sich dem Protagonisten gerade in den zahlreichen Versuchen, die Verzauberung Dulcineas zu beweisen, und als der wahrsagende Affe von Ginés ihm antwortet, dass ein Teil seiner Visionen in Montesinos’ Höhle falsch, ein anderer Teil aber wahrscheinlich sei („que parte de las cosas que vuesa merced vio o pasó en la dicha cueva [sc. de Montesinos] son falsas, y parte verisímiles“), nimmt Don Quijote von der Wahrheitsprüfung der weiteren Ereignisentwicklungen Abstand. In dem Maße, wie sich der Zweifel in seinem fantastischen Erkenntnismodell ausbreitet, ist er nach der Rückkehr aus Barcelona in der Lage, die Verkleidung der Schäferinnen der „fingida Arcadia“ (II, 58) zu erkennen und sie als „señoras zagalas contrahechas que aquí están“ (S. 1104) zu bezeichnen. Die Dynamik des Erkenntnisproblems erreicht ihren Höhepunkt, als es Don Quijote schließlich gelingt, Wirklichkeit von literarischer Mimesis zu trennen, Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 55 respektive zwischen der Kontingenz menschlicher Wahrheiten und dem Bedürfnis nach einer letzten Wahrheit zu unterscheiden. Dieser desengaño manifestiert sich in der Wiedererlangung des Urteilsvermögens ebenso wie in der Einsicht in den willkürlichen Charakter von Erkenntnis angesichts des Todes im letzten Kapitel: Yo, señores, siento que me voy muriendo a toda priesa: déjense burlas aparte y tráiganme un confesor que me confiese y un escribano que haga mi testamento, que en tales trances como este no se ha de burlar el hombre con el alma. (S. 1218) Das christliche Ende des Protagonisten und die Rückerlangung der Urteilskraft bedeuten die Zerstörung der ritterlichen persona, so dass aus Don Quijote nun wieder Alonso Quijano el Bueno wird, jene andere Person, deren Existenz dem Roman vorausgegangen war. Mit dieser Rückkehr zur alten Identität wird auch das Vermögen, die Wirklichkeit zu erkennen, wieder hergestellt, das die Fabel der Diskussion epistemologischer Fragestellungen und deren Verbindung zum fantastischen Erkenntnismodell Quijotes ausgesetzt hatte. Doch auch diese letzte Wahrheit der narratio - die intentionale Projektion einer umfassenden und unumstößlichen Erkenntnis - verweist noch auf einen Aspekt, der die Erkenntnisproblematik weiter zuspitzt. Die vorangegangenen Ausführungen zeigten die Schwierigkeit der Repräsentation an sich, die Erhebung der Unzulänglichkeit aller Erkenntnis zum zentralen Thema des Romans im Sinne einer differenzierten und sogar ironischen literarischen Modellierung. Tatsächlich geht diese Problemstellung über die Formeln der „oszillierenden Wirklichkeit“ oder der „zweifachen Wirklichkeit der Dinge“ hinaus, die mit Américo Castro 20 von der relativen Perspektive jeder einzelnen Figur ausgeht, da der Text bei näherer Betrachtung die Überlegenheit der Imagination als Agens subjektiver Realitätserzeugung postuliert. Selbst im Augenblick der Auflösung der fantastischen Erkenntnisweisen, die von einer im Wunderbaren verankerten Wirklichkeitsannahme ausgehen, im Zweifel an der imaginativen Wahrnehmung angesichts der Frage nach der Existenz von Dulcinea 21 („Dios sabe si hay Dulcinea o no en el mundo, o si es fantástica o no es fantástica“, S. 897), verzichtet Quijote nicht auf seinen Willen zur Phantasmabildung, der es ihm gestattet, das geliebte Bild vor der zerstörerischen Kraft der Evidenz zu bewahren. Hier lässt sich ein neues Fiktionskonzept beobachten, das sich von Kategorien wie Wahrheit, Lüge, Wahrscheinlichkeit emanzipiert hat und eine eigene Logik der narratio hervorbringt. So erhält der Text ein heuristisches Potential, das den oben genannten Glaubwürdigkeitspakt auf eine metapoetische Ebene hebt; auf dieser 20 A. Castro, El pensamiento de Cervantes, Barcelona-Madrid 1972, S. 82-90. 21 J. Gómez-Montero, „Con los ojos del deseo. De las razones que movieron a Don Quijote a no doblegar su voluntad pese al acoso de Altisidora“, in: Insula 484-485 (1995), S. 25-28. Javier Gómez-Montero 56 Ebene büßt eine als Galubwürdigkeit verstandene Wahrheit für die Fiktion an Geltung ein. Vielmehr generiert der narrative Text zwar im Rahmen der fiktionalen Kodierung Repräsentation 22 , nicht jedoch im Sinne ontologischer Allegorien oder transzendenter Symbole, wie F. Martínez Bonati 23 behauptet, sondern als Vermittlung einer Illusion von Wahrheit, die die Schwierigkeit von Repräsentation erahnen lässt. Auf diese Weise wird der Repräsentationsvorgang zugleich aufgezeigt und ironisiert. In diesem Spiel der Fiktion scheint die Reflexivität des Erkenntnisaktes auf; sie wird Quijote die Tür zur Entdeckung der Zeitlichkeit öffnen, insbesondere im Kontext der Verzauberung Dulcineas. Hier bleibt zuletzt zu bedenken, wie in der Episode der Cueva de Montesinos der Erzähler in metafiktionaler Form das Wahrheitsproblem der Fabel ironisiert, das ebenfalls die Schwierigkeit von Erkenntnis betrifft: Tú, lector, pues eres prudente, juzga lo que te pareciere, que yo no debo ni puedo más, puesto que se tiene por cierto que al tiempo de su fin y muerte dicen que se retrató della y dijo que él la había inventado, porparecerle que convenía y cuadraba bien con las aventuras que había leído en sus historias. (S. 829) Die metapoetische Lektüre dieser berühmten Passage impliziert eine doppelte Ironie, da zum einen der Erzähler den Leser auffordert, über den Wahrheitsgehalt der Erzählung zu urteilen, zum andern jedoch der Protagonist virtuell die Funktionen des Chronisten seiner eigenen Geschichte übernimmt und dabei Kompositionskriterien anführt. Das Urteil über die Legitimation einer unwahrscheinlichen Fiktion muss angesichts der faktischen Präsenz des Textes und der inneren, autonomen Logik der Fiktion offen bleiben. Wenn dem Leser das letzte Urteil über die Angemessenheit der Episode überlassen würde, so bedeutete dies die ausschließliche Anbindung der narratologischen Problematik an einen Glaubwürdigkeitspakt, der tatsächlich die Aporien einer auf Wahrhaftigkeit oder Wahrscheinlichkeit abgestellten Fiktion überwinden könnte. Dieses Urteil jedoch einzig dem Protagonisten zu überlassen, bedeutet nicht nur eine kühne Selbstironie, sondern begründet zugleich den autoreferentiellen Status des fiktionalen Spiels, von dem nur mehr innere Kongruenz verlangt wird. So löst sich das Wahrheitsproblem im Quijote dank der metafiktionalen Referenz 22 Bernhard Teuber nimmt die Episode der Cueva de Montesinos zum Ausgangspunkt für die Verbindung von Parodie und Subjektivität, wobei er zeigt, inwiefern der sueño die Brüchigkeit einer von ritterlichen Traditionen (und auch von der Quijote-Lektüre) geprägten Welt aufweist; in der Cueva zeige sich die Bewusstseinskrise von Don Quijote, der die Ereignisse in der Höhle nicht kohärent systematisieren könne, sondern nur Fragmente einer sinnlosen Welt jenseits seines eigenen Willens behalte, vgl. B. Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit, Tübingen 1989, S. 271-276. 23 F. Martínez Bonati, El Quijote. La poética de la novela, Alcalá de Henares 1995, S. 205. Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 57 einer écriture, die ihre eigenen textuellen Entstehungsstrategien ironisiert und hier zuletzt zu einer ganz pragmatischen Lösung findet. Der Pakt zwischen Autor und Leser entspricht weitgehend dem stillschweigenden Einvernehmen zwischen Don Quijote und Sancho, das sich ab der Montesinos-Episode herausbildet und das darauf beruht, die jeweiligen Wahrnehmungsmodelle nicht mehr zu hinterfragen, wie es Quijote nach Sanchos Bericht über die Sternenfahrt formuliert: - Sancho, pues vos queréis que os crea lo que habéis visto en el cielo, yo quiero que vos me creáis a mí lo que vi en la cueva de Montesinos. (S. 966) Auf gewisse Weise verkehrt diese Episode die Elemente des Streits über den baciyelmo, wenn auch ohne die komischen Konnotationen. Auch hier ist die Wahrheit nicht mehr regulierendes Leitprinzip der Erzählung, sondern eher komplexes und ironisches Gegenstück zur Lüge. Die beschriebene Zersetzung des fantastischen Erkenntnismodells von Don Quijote zeigt zugleich, dass die narratio des zweiten Teils zu einer Nivellierung der Kategorien Wahrheit, Lüge und Wahrscheinlichkeit führt, deren Differenzen im Zeichen der Fiktion aufgehoben werden. * > : 8 < 6 Der Einsatz parodistischer Textstrategien gestattet es Cervantes, die Frage der Repräsentation von Erkenntnis immer neu auszufalten. Ähnliches findet sich im Coloquio de los perros, wo eine pikaresk inszenierte vita in der wundersamen Anagnorisis kulminiert (durch Hexerei wurde Cipión vor seiner Geburt in einen Hund verwandelt) und wo der bukolische Diskurs durch seine Anpassung an die soziale Wirklichkeit der Epoche verzerrt wird, vergleichbar der Verfremdung der Ritterepik im Quijote. Durch diese Hybridisierung der literarischen Gattungstraditionen gelingt es Cervantes, die standardisierten Genera zu dynamisieren und so den heuristischen Status einer Fiktion zu hinterfragen, die von ihren überkommenen Inhalten abgelöst wird und somit der Vermittlung eines dialektischen und ironisierten Erkenntniskonflikts dienen kann, in dem heterogene Wahrnehmungsformen erprobt werden. Die Erosion allgemeingültiger Wahrheiten mündet demnach in eine Fiktionspoetik, in der die mimetische Entsprechung von Wirklichkeit und Fiktion zugunsten einer perspektivischen Tiefe der Repräsentation ironisch gebrochen wird. Die Poetik der cervantinischen Fiktion begründet die epistemologische Geltung der narratio, allerdings, wie Don Quijote belegt, unter Verzicht auf den eindeutigen Bezug zu Wahrheit, Lüge oder Wahrscheinlichkeit. 24 Wenn 24 Vgl. hierzu meinen ausführlicheren Artikel, „Episodios intercalados y epistemología poética en el Orlando Furioso y el Quijote“, in: J. Gómez-Montero, B. König (Hrsg.), Javier Gómez-Montero 58 diese Begriffe ironisiert und durch eine Wahrheitsillusion ersetzt werden, so überwindet die cervantinische écriture traditionelle Fiktionskonzepte, um die Grenzen der Erkenntnis auszuloten und den epistemologischen Status des Textes durch die Notwendigkeit des distingo zu begründen. Mit der Emanzipation des discours von der erzählten Geschichte nähert sich der Text gleichermaßen skeptisch und optimistisch dem Problem der Erkenntnis. Deren Auffächerung in eine Pluralität gleichzeitig möglicher Wahrheiten öffnet dem Subjekt einen Repräsentationsraum, der einen erheblichen Willen zur Selbstbestätigung und zur Selbstbestimmung dokumentiert. 25 Angesichts der bei Cervantes auffälligen Konvergenz von narratio und Erkenntnis, von écriture und Bewusstsein, die stets auf der Suche nach Selbstvergewisserung und Validierung ihrer Inhalte und Strukturen sind, lässt sich folgern, dass hier ihre Identität problematisiert wird. Die cervantinische écriture entspricht einem prekär gewordenen Wahrheitsbegriff; sie prüft immer wieder die Fundamente des Erkennens und ergründet die Extreme der Gewissheit und des Relativismus. Infolge dessen erlangt die narrative Fiktion den heuristischen Status von Repräsentation, der zusätzlich zum Akt des Lesens immer schon einen Vorgang der Interpretation einfordert, die den Sinn jedes einzelnen Textes zu erörtern hat. Der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge ist für Don Quijote immer schwieriger zu bestimmen, wie die Verzauberung Dulcineas im zweiten Teil zeigt. Zugleich jedoch impliziert die Unbeständigkeit seines Erkennens auch einen Riss in der Ritteridentität des Hidalgo, die sich als Existenz kraft des Begehrens begreifen lässt. In jenem Raum, der sich zwischen dem Dorf (nach der Begegnung mit den drei Bäuerinnen) und dem Austritt aus Montesinos’ Höhle (wo sich Dulcineas Verzauberung bestätigt hat) öffnet, ist eine zeitliche Dimension im fantastischen Erkenntnismodell Quijotes anzusetzen, das durch die Zeiterfahrung zusehends an Kraft verliert. Die Emergenz eines zeitlichen Bewusstseins zersetzt zunehmend die Ritteridentität Don Quijotes, bis schließlich der Zweifel an der fantastischen Beschaffenheit des Wunschbildes Dulcinea die Grundlagen seiner Glaubensgewissheiten und damit seiner an der caballería ausgerichteten Identität erschüttert. Nachdem deutlich geworden war, dass die Auflösung der mimetischen Illusion eine Zersetzung der Wahrheit im Bewusstsein Don Quijotes zur Folge hatte, ereignet sich die endgültige Aufgabe seiner ritterlichen Identität bekanntlich im letzten Kapitel, als der sterbende Protagonist Letteratura Cavalleresca fra Italia e Spagna (Da Orlando al Quijote) / Literatura caballeresca entre Italia y España (Da Orlando al Quijote), Kiel-Salamanca 2004, S. 467- 504. 25 B. Greiner, „‚Repräsentationen‘ novellistischen Erzählens. Cervantes, La fuerza de la sangre (Die Macht des Blutes), Kleist, Die Marquise von O ...“, in: Germanisch- Romanische Monatsschrift 47 (1997), S. 25-40. Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 59 ihre Kontingenz erkennen und auf ein Dasein verzichten muss, das einzig vom Wunsch nach einer ritterlichen Existenz bestimmt war. Dieses Begehren galt zugleich als entscheidendes Movens einer Selbstermächtigung, die auf der unsicheren Grundlage tastender und immer wieder Bestätigung sowie Selbstvergewisserung einfordernder Einsicht stand. Schließlich wird damit aber ebenso auf das Phantasma als identitätsstiftende Matrix von Selbstbildern verzichtet; das Ritterleben des Don Quijote war auf entscheidende Weise Ergebnis seines Willens zur Selbstkonstituierung, die freilich in die Entdeckung von Kontingenz und Zeitlichkeit einmündet. Vor diesem Hintergrund lässt sich resümieren, dass die Imagination bei Cervantes eine zentrale Rolle einnimmt und als Agens der individuellen Selbstkonstituierung aufgewertet wird. Auf eine paradoxe Anlage der Aufwertung der Imagination als Erkenntnisinstanz weist indes Bernhard Teuber hin: Immer deutlicher wendet sich Cervantes dem Sinnestaumel der Imagination zu; und am Vorabend des kartesischen Rationalismus, dessen Wille zur Wahrheit alles Sinnenhafte ausgrenzen muss, werden dem Cervantes die Phantasiebilder eines Verrückten, gerade weil sie trügerisch sind, zum Faszinosum. So wertet er ästhetisch auf, was die heraufziehende Ära der Repräsentation verdrängen will. 26 Diese Paradoxie können wir in unserem Zusammenhang folgendermaßen auf den Punkt bringen: Einerseits trägt imaginatio von dem Augenblick an, in dem Quijotes Bewusstsein die Zerstörung der Bilder seines Begehrens erfasst, zur Wahrnehmung der Individualität bei (die z.B. die ritterliche Identität, Dulcinea und die Selbsterkenntnis ante mortem betrifft), andererseits ist imaginatio im konventionellen Sinne die Matrix für die Erzeugung von Bildern, die Quijote blenden. Wenn Letzteres im Anschluss an G. Dorés berühmte Illustration mit der Legende „son imagination se remplit de tout ce qu’il avait lu“ eine Deutung im Sinne B. Teubers zuließe, wonach in dieser grotesken Verzerrung das durch die Vernunft verdrängte Unbewusste im modernen Menschen avant la lettre zum Ausdruck käme, so führte eine positive Lektüre der dargelegten ritterlichen Identitätswerdungs- und Identitätsauflösungsprozesse im Spannungsverhältnis von imaginatio und Begehren unweigerlich zur Entdeckung der Zeitlichkeit. Im Zeichen der individuellen Erinnerung, die die mimetisch erzeugten Bilder neu ordnet und hierbei bewusst Widersprüche und Differenzen ausmacht, entstehen so zuletzt biografische Konturen des Selbst. 27 Es ist wohl nur die heroische Konnotation der Ritteridentität, die die 26 B. Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit, Tübingen 1989, S. 281 27 R. Fine, „Tiempo y memoria: reflexiones sobre la función del recuerdo y el olvido del desmemoriado caballero Don Quijote de La Mancha“, in: M. L. Lobato, F. Dominguez Ma- Javier Gómez-Montero 60 emergente moderne Subjektivität noch begrenzt, welche sich im distingo profiliert und ausgehend vom cogito zunehmend mächtiger wird, um zuletzt in den transzendentalen Figuren des deutschen Idealismus und der romantischen Visionary Company (um Harold Blooms Ausdruck zu verwenden) titanische Physiognomien auszubilden, bevor Nietzsche sie als Trugbild entlarvt und so ihre chronische Krise im 20. Jahrhundert einleitet. 28 Demgegenüber hat die Untersuchung am Beispiel von Montaigne und Cervantes erste Profile vormoderner Subjektfiguren in der frühneuzeitlichen Literatur rekonstruiert, denn beide entwickeln alternative Ansätze zu Erkenntnismodellen, denen die Zeitlichkeit eingeschrieben ist; dadurch entzieht sich der literarische Diskurs sozialen Heteronomien und lässt sich auf den prekären Bereich einer Subjektivität ein, die als Keimzelle des modernen individuellen Bewusstseins gelten kann. 29 Aus dem Spanischen übersetzt von Frank Nagel (Kiel) # Cervantes, M. de, Don Quijote de la Mancha, Edición del Instituto Cervantes dirigida por Francisco Rico, 2 Bde., Barcelona 1998. Fernández Mosquera, S., „Los autores ficticios del Quijote“, in: Anuales Cervantinos 24 (1986), S. 47-65. Fine, R., „Tiempo y memoria: reflexiones sobre la función del recuerdo y el olvido del desmemoriado caballero Don Quijote de La Mancha“, in: M. L. Lobato, F. Dominguez Matito (Hrsg.), Actas del VI congreso de la Asociación Internacional Siglo de Oro, Burgos-La Rioja 15.-19.07.2002, S. 813-822. Friedrich, H., Montaigne, Tübingen-Basel 1993 (3. Aufl.). Gómez-Montero, J., „Cervantes, Ariost und die Form des Romans: die eingeschobenen Erzählungen und die Strategien der Fiktionskonstituierung im Quijote“, in: D. Briesemeister, A. Schönberger (Hrsg.), Festschrift für Heinrich Bihler, Berlin 1998, S. 353-387. Gómez-Montero, J., „Episodios intercalados y epistemología poética en el Orlando Furioso y el Quijote“, in: J. Gómez-Montero, B. König (Hrsg.), Letteratura Cavalleresca fra Italia e Spagna (Da „Orlando“ al „Quijote“) / Literatura caballeresca entre Italia y España (De „Orlando“ al „Quijote“), Kiel-Salamanca 2004, S. 467-504. tito (Hrsg.): Actas del VI congreso de la Asociación Internacional Siglo de Oro, Burgos-La Rioja 15.-19. 07. 2002. 28 Vgl. die einschlägigen Arbeiten Peter V. Zimas, insbesondere Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2010 (3. Aufl.). 29 Der Beitrag ist eine von Frank Nagel erstellte zusammenfassende Übersetzung meines Artikels: „El Quijote y Montaigne en los albores de la subjetividad moderna“, in: J. L. González Quirós, J. M. Paz Gago (Hrsg.), El Quijote y el pensamiento moderno, Madrid 2005, Bd. I, S. 405. Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes 61 Gómez-Montero, J., „Las metamorfosis del ‚viejo celoso‘ y la heurística de la representación en Cervantes“, in: Ch. Strosetzki (Hrsg.), Teatro español del Siglo de Oro. Teoría y práctica, Frankfurt/ M.-Madrid 1998, S. 131-158 (Studia Hispanica 7). Gómez-Montero, J., „Celestina, Lozana, Lázaro, Urdemalas y la subjetividad. A propósito del lenguaje y los géneros de la ‚escritura realista‘ del Renacimiento“ in: A. Vian, C. Baranda (Hrsg.), El personaje literario y su lengua en el siglo XVI, Instituto Universitario „Seminario Menéndez Pidal“, Universidad Complutense, Madrid 2006, S. 285-340. Hempfer, K. W. (Hrsg.), Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen, Stuttgart 1993. Hempfer, K. W., „Ariosts Orlando furioso - Fiktion und episteme“, in: H. Boockmann, L. Grenzmann, B. Moeller, Staehlin (Hrsg.), Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989-1992, Göttingen 1995, S. 47-85. Martínez Bonati, F., El Quijote. La poética de la novela, Alcalá de Henares 1995. Matzat, W., Teuber, B. (Hrsg.), Welterfahrung - Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Tübingen 2000. Montaigne, M. de, Œuvres complètes, Gallimard (Pléiade), Paris 1962. Neuschäfer, H.-J., La ética del Quijote, Madrid 1999. Paz Gago, J. 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Monika Schmitz-Emans (Bochum) @ $ A " Jean Paul ist als ein Wegbereiter des modernen Romans charakterisiert worden. 1 Die für Beschreibungen der Moderne maßgeblichen Befunde, mit denen die dabei gewählten Ausgangspunkte markiert werden, lauten in starker Vereinfachung und Verdichtung: (1) Das Ich sieht seine ihm mit Beginn der Neuzeit zugeschriebene Rolle als autonomes oder doch autonomiefähiges Subjekt bestritten, bedroht oder sogar negiert. Es büßt seine innere Einheitlichkeit ein und verliert dadurch die Kontrolle über sich selbst. (2) Die erfahrene Wirklichkeit als gedachte Gesamtheit aller Gegenstände menschlicher Erfahrung multipliziert sich insofern, als sie in inkompatible Auslegungen zerfällt; ein gedachter letzter Wahrheits-Grund als Telos der Erkenntnisbemühungen entzieht sich der Verifikation, wird zum bloßen heuristischen Konstrukt und schließlich zum Anlass der Dekonstruktion. Beide Befunde stimulieren literarische Experimente mit der tradierten Unterscheidung zwischen Faktischem und Fiktionalem, mit der für den traditionellen metaphysischen Diskurs prägenden Leitdifferenz von Sein und Schein. Diese Tendenz ist gelegentlich als eine die Postmoderne gegenüber der Moderne ausweisendes Merkmal begriffen worden. 2 Auflösung, Relativierung, Destabilisierung und Multiplikation sind etwa für Willem van Reijen typisch „postmoderne“ Prozesse. 3 Wie trag- 1 Vgl. W. Wehle, „Proteus im Spiegel. Zum reflexiven Realismus des Nouveau Roman. (Statt einer Einleitung.)“, in: W. Wehle (Hrsg.), Nouveau Roman, Darmstadt 1980, S. 1-28, hier S. 9; sowie P. Heinemann, Potenzierte Subjekte - Potenzierte Fiktionen. Ich- Figurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett, Würzburg 2001, S. 47. 2 W. van Reijen („Das unrettbare Ich“, in: M. Frank, G. Raulet, W. van Reijen [Hrsg.], Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/ M. 1988, S. 373-400, hier S. 374) möchte zwischen „Moderne“ und „Postmoderne“ unterschieden wissen: „Die Entstehung einer postmodernen Orientierung neben einer modernen zeigt (…) eine wichtige Verschiebung an. In Theorie und Praxis geht man nicht länger von der Annahme aus, dass die Trennung von Schein und Wirklichkeit die einzige oder wichtigste ist. Sie existiert weiterhin, wird aber in ihrer erkenntnis- und wissenschaftsphilosophischen und in ihrer für die Gesellschaft konstitutiven Wirkung relativiert. Darüber hinaus - so scheint es - ergibt sich eine neue Trennung, nämlich die von Wirklichkeit und Fiktion. Tatsächlich aber bilden diese Gegenpole eine Einheit. Postmoderne Philosophen versuchen, das Wirkliche in der Fiktion und das Fiktive in der Wirklichkeit zu sehen und zu verstehen.“ 3 „Die Verschmelzung von Fiktion und Wirklichkeit, die die Dominanz des einen über das andere ausschließt, relativiert die gängigen Denkschemata (…). Es gibt keinen archimedischen Punkt mehr, keine Grundlage, von der aus alles geordnet, gedacht oder durch meßbare Effekte beeinflußt werden könnte (…). Neben die eine Welt der Moderne tritt eine Plura- Monika Schmitz-Emans 64 fähig diese Differenzierung zwischen Moderne und Postmoderne ist, bleibe dahingestellt. Betrachtet man die Abkehr von der Leitdifferenz zwischen Schein und Wirklichkeit als Kriterium der Postmoderne, so erscheint es jedenfalls unumgänglich, deren Anbruch mit Blick auf manche literarische Texte vorzudatieren. Sternes Tristram Shandy und Diderots Jacques le Fataliste lassen van Reijen einräumen, auch „innerhalb der Periode der Moderne“ finde man „postmoderne Elemente“. 4 Sterne und Diderot haben gerade Jean Paul deutlich geprägt. Dieser spielt im Zeichen von Grenzverletzungen und Entdifferenzierungen zwischen dem sogenannten Faktischen und dem sogenannten Fiktionalen zum einen mit dem Projekt Autobiographie sowie zweitens mit dem Projekt einer Begründung von Wissen als Inbegriff von Wissenschaft. & " $ B ( C @ Die kritische Reflexion über das Projekt Autobiographie hat in der Literatur der letzten rund 200 Jahre nachhaltige Spuren hinterlassen und zu vielfältigen literarischen Experimentalanordnungen geführt. Max Frisch dekonstruiert in seinen Romanen Stiller und Mein Name sei Gantenbein die Form der Autobiographie sowie die an diese herangetragenen Erwartungen auf inhaltlicher wie auf narrativ-struktureller Ebene. Er bezeichnet die Geschichten, die ein Ich über sich erzählt, als Erfindungen - und damit das Ich selbst, das sich in ihnen darzustellen sucht. Dabei liegt ein starker Akzent auf der von solchen vermeintlich authentischen und offenbarenden Geschichten ausgehenden Verführung zur Selbsttäuschung. Frischs Reflexionen über die Fiktionalität des Ichs, das in seinen Geschichten Gestalt annimmt, können als repräsentativ für eine Vielzahl vergleichbarer literarisch-poetologischer Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex um Ich-Darstellung und Autobiographie gelten. Sie changieren auf ebenfalls repräsentative Weise zwischen dem Gestus der Entlarvung und einer konstruktivistischen Affirmation der künstlich geschaffenen narrativ fundierten „Identitäten“. Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die sich mit Ortsnamen und Daten durchaus belegen lassen, so dass an ihrer Wirklichkeit nicht zu zweifeln ist. Nur der Schriftsteller glaubt nicht daran. (…) Indem ich weiß, dass jede lität an Welten, neben die unterstellte Kontinuität (Raum, Zeit, Qualität) Diskontinuität.“ (Ibid., S. 374f.) 4 Ibid., S. 375. Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 65 Geschichte, wie sehr sie sich auch belegen läßt mit Fakten, meine Erfindung ist, bin ich Schriftsteller. 5 Die in literarischen Experimenten reflektierten Zweifel an der Möglichkeit der Mimesis eines als von seiner Darstellung unabhängig gedachten Gegenstands namens „autobiographisches Ich“ - respektive: die literarische Akzentuierung der Fiktionalität eines solchen Gegenstandes - haben auf die Theorie der Autobiographie als Textgattung zurückgewirkt. Paul De Man schlägt in seinem Aufsatz mit dem suggestiven Titel „Autobiography as De-facement“ vor, nicht die Lebensbeschreibung als das vom Leben Hervorgebrachte und dieses Leben Abbildende, sondern umgekehrt das Leben als Produkt des autobiographischen Projekts zu verstehen, als Abbild autobiographischer Entwürfe gleichsam. Dieser Vorschlag, mit dem ein konventionelles Begründungsverhältnis (das Leben als Grund der Biographie) umgekehrt wird, variiert die These einer im weiteren Sinn ästhetischen Konstitution von (in diesem Fall gelebter) Wirklichkeit, die sich grundsätzlich in verschiedenen alternativen Varianten entfalten könnte, deren Ergebnis also kontingent ist. 6 De Mans Übersetzer Christoph Menke übersetzt De Mans Begriff „defacement“ mit „Maskenspiel“ und wählt als deutsches Äquivalent des Wortes „self-portraiture“ einen Jean Paulschen Terminus, nämlich „Selberlebensbeschreibung“: Wir nehmen an, das Leben würde die Autobiographie hervorbringen wie eine Handlung ihre Folgen, aber können wir nicht mit gleicher Berechtigung davon ausgehen, das autobiographische Vorhaben würde seinerseits das Leben hervorbringen und bestimmen? Wird nicht alles, was der Autor einer Autobiographie tut, letztlich von den technischen Anforderungen der ‚Selberlebensbeschreibung‘ beherrscht und daher in jeder Hinsicht von den Möglichkeiten seines Mediums bestimmt? 7 Dies allein wäre vielleicht schon ein Anlass, nach der Jean Paulschen Konzeption des autobiographischen Projekts und ihrer Vergleichbarkeit mit modernen und postmodernen Modellen zu fragen - nach der Patenschaft Jean Pauls über rezente Modelle der Autobiographistik. 5 M. Frisch, „Unsere Gier nach Geschichten“, in: Gesammelte Werke, Bd. IV, hrsg. v. H. Mayer, Frankfurt/ M. 1976, S. 262ff., hier S. 263. 6 „We assume that life produces the autobiography as an act produces its consequences, but can we not suggest, with equal justice, that the autobiographical project may itself produce and determine the life and that whatever the writer does is in fact governed by the technical demands of self-portraiture and thus determined, in all its aspects, by the resources of his medium? “ (P. de Man, „Autobiography as De-facement“, in: Modern Language Notes 94, H. 5, Dez. 1979, S. 919-930, hier: S. 920.) 7 P. de Man, „Autobiographie als Maskenspiel“, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. v. C. Menke, Frankfurt/ M. 1993, S. 131-145, hier: S. 132. Monika Schmitz-Emans 66 Jean Paul hat mit der Form des autobiographischen Schreibens auf variantenreiche Weise gespielt. Er hat, anders gesagt, mit der Rolle des Autobiographen gespielt. Schon der Autorenname Jean Paul deutet darauf hin: Johannes Paul Friedrich Richter (im bürgerlichen Leben) hat ihn sich als Hommage an einen von ihm geschätzten Schriftsteller, an Jean-Jacques Rousseau, zugelegt. „Jean Paul“ aber ist nicht nur Schriftstellername, sondern zugleich der Name einer Figur, die in den Romanen dieses Autors oftmals selbst auftritt, und zwar vor allem in der Rolle eines Schreibenden. Der Gattung Autobiographie im engeren Sinn verpflichtet sind in Jean Pauls Œuvre vor allem die Selberlebensbeschreibung (1818-1819) und die Konjektural-Biographie. Erstere schildert die frühe Kindheit und Schulzeit des jungen Friedrich Richter und liest sich wie eine Jean Paulsche Idylle. Auch werden die einzelnen zyklisch wiederkehrenden Jahreszeiten, welche die Lebensumstände auf dem Dorf ja entscheidend prägen, als „Idyllen“, also wiederum mit einem literarischen Gattungsbegriff, charakterisiert. Die Kindheitswelt wird als eine Bühne beschrieben, die Naturerscheinungen inbegriffen. 8 Sämtliche Kindheitserinnerungen präsentieren sich dezidiert als Bestandteile einer Dichterbiographie (und, im Zusammenhang damit, einer metaphorisch-modellhaften Bespiegelung des Dichtertums überhaupt). 9 Vor allem die väterliche Arbeitsstube, wo die allsonntäglichen Predigten entstehen, wird zur Brutstätte des angehenden Autors, der seine ersten „Bücher“ aus Papierschnipseln herstellt. Der Titel der Konjektural-Biographie von 1798 deutet bereits an, dass Jean Paul sich hier einer ganz besonderen Spielart der Autobiographie zuwendet: 8 Der Schnee erscheint so etwa als ein Vorhang, „der bloß von der Bühne oder Erde aufgezogen zu werden braucht, so fangen für das Dorf (…) die Sommerlustbarkeiten an“. Sich selbst charakterisiert der Text als kleines Drama, untere Anspielung auf die aristotelischen „drei Einheiten“, die einerseits scherzhaft gemeint ist, insofern das Mikrologische hier mit der großen Tragödie verknüpft erscheint, andererseits aber ernst gemeint - als Hinweise auf ein gängiges Verfahren, Lebenszusammenhänge nach dem Modell poetischer Kontexte zu interpretieren. Dem Dichter, so heißt es analog in „Die natürliche Magie der Einbildungskraft“ (I, 4, S. 198), sei „das ganze Leben dramatisch“. 9 Parallelen bestehen insbesondere zur Abhandlung über „Die natürliche Magie der Einbildungskraft“. Die Fantasie ersetzt dem späteren Schriftsteller das, was er nicht hat, und verwandelt ihm die Dinge in das, was er sich wünscht. „Sein [Hans Pauls] Kunstgriff nämlich, sich auf dem Lande den Hering zu ersetzen in solcher Ferne von der Küste, bestand darin, dass er (…) in den Bach watete und leise einen Stein aufhob, worunter eine Grundel oder ein noch kleines Fischchen zu fangen war. Diese tat er in einen ausgehöhlten Krautstrunk (er stellte eine Heringstonne vor) und salzte sie gehörig ein und so hätt’ er, sobald das Tönnchen voll war, Heringe zu essen gehabt, wenn nicht alles gestunken hätte. Nicht besser, sondern noch schlechter würden (…) Surrogat-Erfindungen wie solche sich eignen, dass er braun getrocknete Birnhälften für kleinere Schinken, in Scherben gebratene abgeschnittene Taubenfüße für ein fertiges Essen gab oder dass er Schnecken auf die Weide trieb.“ (Jean Paul, „Selberlebensbeschreibung“, in: I, 6, S. 1058f.) Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 67 der Beschreibung seines zukünftigen Lebens. Ein sich als Autobiograph präsentierendes Ich schildert, wie sein Leben künftig verlaufen wird - ein Fall von Selbsterfindung, bei dem die „autobiographische“ Beschreibung dem vorangeht, was da Gegenstand der Beschreibung ist, so, als gelte es, de Mans Modell des auf das autobiographische Projekt folgenden Lebens beim Wort zu nehmen. Der sich „Jean Paul“ nennende Erzähler imaginiert ein Gütlein namens Mittelspitz, das er einmal besitzen wird, erzählt von seiner Tätigkeit dort, vom unspektakulären Ablauf seiner Tage, von den kleinen Freuden des Daseins, den Festtagen und Jahreszeiten. Insbesondere erdenkt sich der zu dieser Zeit noch unverheiratete Autor eine künftige Frau, die er, je nach Stimmungslage Rosinette oder Hermine nennt. Er beschreibt den künftigen Hochzeitstag, das zu erwartende Zusammenleben mit der Gattin und die künftige Kinderschar. Die einzelnen Kapitel werden „poetische Episteln“ genannt. In der sechsten Epistel, betitelt „Ich als literarischer Jubilar - und als Greis“, malt sich der Erzähler sein 50jähriges Autorjubiläum aus. Da er schon 1782, mit 19 Jahren, sein erstes Werk veröffentlicht habe, werde er mit 69, im Jahr 1832 also, sein Jubiläum begehen können. Und natürlich wird auch das Jubiläum im Wesentlichen daraus bestehen, über es zu schreiben. 10 Dass das erzählerische Experiment mit der „Konjekturalbiographie“ ein Experiment mit dem eigenen Ich darstellt, mit dem ein Moment der Selbsterfindung, aber auch der Selbstentfremdung verbunden ist, hat Jean Paul klar gesehen. Den Blick in die antizipierte eigene Zukunft beschreibt er als Begegnung mit seinem Doppelgänger (einem Ich der Zukunft). 11 Einleitend versichert der Erzähler, das spätere Leben werde sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dem antizipierenden literarischen Bericht anpassen. 12 10 Der Konjekturalbiograph stellt sich vor, wie er im Literatur-Anzeiger die Lustbarkeiten anlässlich seines Jubiläums beschreibt, malt sich aus, was er sonst noch schreibt, wie er mit Verlegern und Rezensenten feiert, wie er eine Jubelrede hält etc. - und dann teilt er die Jubelschrift auch gleich mit. Die Siebente Epistel der „Konjekturalbiographie“ gilt „Reflexionen über die Unsterblichkeit“, und wie so oft bei Jean Paul ist die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele als poetologisches Gleichnis interpretierbar - als Ausdruck des Wunsches nach dichterischer Unsterblichkeit. 11 „Als ein Doppeltgänger hab’ ich in der Konjektural-Biographie mich selber gesehen und gemalt und, wie Moses im Pentateuch, sogar meinen Tod: letzterer bleibt mir in jedem Fall gewiß (…).“ (Jean Paul, „Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf“, in: I, 4, S. 928) 12 Wichtig sei ihm, so betont der Konjekturalbiograph freilich schon in seiner ersten „poetischen Epistel“, die Beschreibung - nicht das Leben. Dieses mag sich der Beschreibung einst angleichen oder nicht; darauf komme es weniger an als darauf, dass es etwas zu schreiben und etwas zu lesen gibt. Um eine darstellungsunabhängige Wahrheit über das Biographen-Ich geht es nicht; Biographisches ist nur der Treibstoff, mit dem der literarische Prozess in Gang gehalten wird. Monika Schmitz-Emans 68 Wahrlich da mein künftiger Lebenslauf ja aus nichts bestehen kann als aus meinem wirtschaftlichen Feld- und Hausetat, den ich sehr klar beschreiben will, und aus der Frau, zu der ich vorher die Braut suche, und aus mir als Hausvater und aus meiner letzten Ölung und Totengräberszene: so wüßt’ ich nicht, was - die letztere ausgenommen - dazwischenkommen könnte, dass nichts aus der ganzen antichambrierenden Zukunft würde; aber was mich am meisten beruhigt, ist der neckende Hang, den ich öfters am Schicksale bemerkt, immer nach dem Szenenplan meiner fremden Geschichten meine eigne auszuschneiden und so, wenn andre mit der Wirklichkeit ihre Dichtkunst wässern, schöner jene mit dieser bei mir abzusüßen. Wie bei einem Schwenkschießen erzielt’ ich häufig mit den optischen Küchenstücken zugleich reelle Suppentäfelchen und kalte Küche. 13 Mit dem gekonnten Schuss auf Lebensmittel-Attrappen erwirbt der Schütze das Geld, welches ihm dann zu echten Lebensmitteln verhilft. Die „Fiktion“ dient, nimmt man das letzte Gleichnis genau, der Gewinnung von Realität. Autobiographie ist dabei in erster Linie ein Projekt der Selbst-Erfindung. Nicht bloß die Rolle des Autobiographen spielt Jean Paul unter mannigfachen Selbstverweisen, sondern auch die des Biographen. Er präsentiert sich als der Lebensbeschreiber seiner Figuren, der sich gern, wenn möglich, selbst mit ihnen bekannt macht, um möglichst authentische Informationen einzuziehen. Die Behauptung, auf der Basis von selbst gesammelten oder ihm von anderen zugespielten Informationen über ein „wirkliches“ Leben zu berichten, ist dabei jeweils als Schein-Beglaubigung transparent. 14 Der Leser lernt den Biographen „Jean Paul“ in den frühen Romanen der 1790er Jahre kennen. Er erlebt mit, wie dieser Biograph als heimlicher Prinz identifiziert wird, anstelle des Hoflebens aber die Existenz des Schriftstellers wählt und weiter seine Biographien verfasst. Im Komet, dem letzten Roman, tritt uns ein doppelter Jean Paul entgegen. Nikolaus Marggraf, die vom Erzähler Jean Paul beschriebene Zentralfigur, zieht als eine Art zeitgenössischer Don Quijote durch die 13 Jean Paul, „Konjektural-Biographie“, in: I, 4, S. 1028. 14 „Jean Paul“ ist der Biograph von Idyllenhelden wie Fixlein und Fibel, die er kennen lernt und befragt. Ihm fällt die Aufgabe zu, auf der Basis ihm zugespielter Materialien und eigener Beobachtungen die Lebensläufe der Romangestalten Gustav in der Unsichtbaren Loge, Viktor im Hesperus, Albano im Titan zu beschreiben - und natürlich die der ihnen nahe stehenden Figuren gleich mit. Er erhält den testamentarischen Auftrag, die Geschichte Walts und Vults in den Flegeljahren darzustellen - und so fort. Mit vielen seiner Protagonisten trifft er persönlich zusammen, und im Hesperus stellt sich sogar heraus, dass er der Bruder dreier Romanfiguren und der Sohn eines Fürsten ist. - Vor allem aus dem Grundeinfall, sich mit den Figuren seiner fiktiven Biographien auf einer und derselben Ebene dargestellter Wirklichkeit zu treffen, entwickelt Jean Paul eine Fülle von Ideen: So kommt es einerseits zu Klagen über die Schwierigkeiten der Schilderung einer Welt, der man nicht distanziert genug und ohne souveränen Überblick gegenübersteht; andererseits verbindet sich der Biograph mit seinen Figuren oft in Freundschaft und genießt die Rolle des nahe stehenden Lebenszeugen. Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 69 Welt, begleitet von einem kuriosen Gefolge und seinem Humoristenfreund Peter Worble. Eines Tages trifft die Reisegesellschaft auf einen leicht exzentrischen jungen Mann; man sieht „einen dürren Jüngling mit offner Brust und fliegendem Haare, und mit einer Schreibtafel in der Hand, singend im Trabe laufen“. 15 Auf Worbles Nachfrage stellt sich der dürre Jüngling, der sich noch dazu spontan als begabter Wetterprophet erweist, als „der Kandidat Richter aus Hof im Voigtlande“ vor, also als der Erzähler selbst in seiner Jugend, wie dem Leser sofort erklärt wird. 16 Worble ist der junge Mann als Autor der Auswahl aus des Teufels Papieren ein Begriff; er hat sich nach der Identität des Verfassers beim Verleger erkundigt, da das Buch selbst ja anonym erschienen war. Dass damit eine fiktive Figur die (Autoren-)Existenz des wirklichen Jean Paul beglaubigt, ist eine typische Jean Paulsche Verdrehung konventioneller Beglaubigungsmodelle. Neben der Biographenfigur Jean Paul gibt es das wiederholt auftretende Ich innerhalb rahmender Vorgeschichten, in denen es dann etwa zur Kommunikation mit erfundenen Lesern, Leserinnen oder Kritikern kommt. Manchmal unterzeichnet „Jean Paul“ die Vorreden (bei denen es sich zudem um mehrere, zeitlich verschobene handeln kann, dann nämlich, wenn es zu Lebzeiten des Romanciers mehrere Auflagen gab), manchmal „Friedrich Richter“ oder „J. P. F. Richter“. Diese Namen verknüpfen nicht allein die Romane untereinander, sie stiften auch Beziehungen zwischen der Autor-Rolle, der Erzählerinstanz und den romaninternen (erfundenen) Figuren. So hat der verstorbene Van der Kabel, der testamentarisch die Lebensbeschreibung Walt Harnischs anordnet (als welche sich die Flegeljahre präsentieren), einst Friedrich Richter geheißen. Damit wird neben dem Autornamen Jean Paul auch der bürgerliche Name Richters ins Spiel der Fiktionsebenen hineingezogen. 17 Nicht allein seine Beziehungen zu romaninternen Figuren, handle es sich um Charakterähnlichkeiten oder Namengleichheiten, lassen „Jean Paul“ respektive „Friedrich Richter“ in die Welt seiner Figuren eintreten, sondern auch die Urheberschaft an Texten. Der Figur des Vult aus den Flegeljahren werden die Grönländischen Prozesse, Richters frühe Satirensammlung, zuge- 15 Jean Paul, „Der Komet“, in: I, 6, S. 832. 16 Ibid., S. 833. 17 Vgl. dazu die zutreffende Einschätzung Paul Heinemanns: „Der Roman ‚Flegeljahre‘ kennzeichnet den Höhepunkt des Spiels mit der Fiktionalität in Jean Pauls Gesamtwerk, das in einer erfindungsreichen Bauweise der Erzählerkaskade zum Ausdruck kommt.“ (P. Heinemann, Potenzierte Subjekte - Potenzierte Fiktionen. Ich-Figurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett, Würzburg 2001, S. 332.) Heinemann verweist auf die Nähe der Textstrategien der Flegeljahre zu denen des sog. postmodernen Romans - repräsentiert etwa durch Calvino, Barth, Federman - welche dem Roman die Aufmerksamkeit der rezenten Forschung eingetragen haben. Monika Schmitz-Emans 70 schrieben. Siebenkäs verfasst die Auswahl aus des Teufels Papieren. 18 Überflüssig anzumerken, dass die in die Romane gelegentlich einmontierten Texte aus der Feder der Romanfiguren (Abhandlungen, Erzählungen, Streckverse, Briefe etc.) natürlich eine ähnlich doppelte Verfasserschaft haben, insofern hier ja der Autor hinter der Maske der Figur steckt. Und so stellt sich ein Bündel von Fragen: Wer und was ist Jean Paul? Inwiefern ist er zu unterscheiden von „Jean Paul“, dem Erzähler, dem Vorredner, dem gelegentlich im Roman von den Jean Paulschen Figuren selbst gelesenen Autor? 19 Wie ist die Beziehung Jean Pauls zu Romangestalten wie „Friedrich Richter“ alias „Van der Kabel“, zum „Kandidaten Richter“ und zu dem immer wieder auftretenden „Jean Paul“ zu beschreiben? Was soll der Leser in „Jean Paul“ sehen? Ein reines Masken-Ich, das in den fiktiven Romangestalten einen Kometenschweif von Doppelgängern hinter sich her zieht, die schriftliche Emanation eines ungreifbaren Autors und als solche eine bloße Fiktion, die ihre Fiktionalität durch ihre offenkundigen Spiele mit der Idee einer Authentifizierung - beteuerte Augenzeugenschaft, die Verbrüderung mit Romanfiguren, die Auswertung von biographischen Dokumenten unterschiedlicher Provenienz - nur noch zusätzlich unterstreicht? Oder begegnen wir in ihm dem Prototypus eines individuellen, in allen äußeren Wandlungen innerlich beständigen Schriftsteller-Ichs, der sich auch und gerade durch seine Maskierungen zu erkennen gibt? Sicher ist nur: Mit der Figur des „Jean Paul“ geht es um die Frage nach dem Ich schlechthin, nach seiner Identität, seiner Beschreibbarkeit, seiner Erzählbarkeit - und nach dem Status des im engeren oder weiteren Sinn autobiographischen Textes. Dessen unterschiedliche Einschätzungsmöglichkeiten werden bei Jean Paul in Erinnerung gerufen. Sie changieren zwischen der emphatischen Deutung des Textes als einem Spiegel des Ichs (der allerdings aus verschiedenen Spiegelscherben bestehen kann) und der (sei es spielerischlustvollen, sei es melancholischen) Absage an jede Suggestion authentischer Selbstdarstellung. ' $$ ! Wichtige Sinnbilder zur Reflexion der Ich-Problematik sind bei Jean Paul der Doppelgänger und die Maske. Beide Sinnbilder sind ambig und spiegeln in ihrer Ambiguität die des Konzepts „Autobiographie“, dessen Metaphern sie sind - ist doch der autobiographische Text sowohl als Double des Schreiben- 18 Jean Paul, „Siebenkäs“, in: I, 2, S. 81. 19 Viktor im Hesperus liest beispielsweise Die unsichtbare Loge (Jean Paul, „Hesperus“, in: I, 1, S. 1026). Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 71 den wie auch als dessen Maske beschreibbar. Doppelgängerfigurationen treten bei Jean Paul in bemerkenswert großer Zahl auf, wie er denn auch für die Wortgeschichte von „Doppel(t)gänger“ als entscheidende Referenz gilt. 20 Besonders markant entfaltet sich das Motiv im Siebenkäs, wo der Titelheld Siebenkäs und sein Freund Leibgeber einander äußerlich so ähnlich sehen, dass sie einander doubeln können - was im Roman Anlass zu diversen gewollten und ungewollten Verwechslungen gibt. Dass es mit solcher Doppelgängerei ums Ganze - ums Ich und seine Identität, sein „Leben“ - geht, kommt schon darin zum Ausdruck, dass beide Figuren am Ende des fragmentarischen Romans ihre Rollen tauschen: Siebenkäs inszeniert seinen eigenen Scheintod und lebt fortan unter dem Namen Leibgebers weiter; Leibgeber bricht auf, um ihn nie wiederzusehen. Der Namenswechsel ist dabei nur die Umkehrung eines zuvor schon einmal vollzogenen Namenstauschs: In der Vorgeschichte hatte Siebenkäs Leibgeber geheißen und umgekehrt. Kehrt nun jeder zu seinem echten Namen zurück, oder verdoppelt sich mit dem zusätzlichen Rollenwechsel der Schein? In den Namen- und Rollentausch ist Jean Paul (alias Friedrich Richter) selbst insofern verwickelt, als Siebenkäs ja im Roman an einer unter dem Namen des letzteren veröffentlichten Satirensammlung (an der Auswahl aus des Teufels Papieren) arbeitet. „Jean Paul“ ist also selbst das Double eines der beiden Doppelgänger. Dies bedeutet, dass er von der im Doppelgängertum sinnfällig werdenden Krise des Ichs kontaminiert ist. 21 20 Vgl. dazu J. und W. Grimm, Art. „Doppelgänger“, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. VI, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Leipzig 1983, Sp. 1247. 21 Dass Doppelgängerei und Selbstentfremdung einander zumindest eng benachbart sind, dass doppelgängerische Szenen auf drohende Ich-Spaltung, nahen Ich-Verlust hindeuten, hatte vor der Trennung Siebenkäs’ und Leibgebers vor allem eine Romanszene illustriert, in der sich beide Figuren vor einen Spiegel gestellt und Leibgeber zudem durch einen Druck auf seinen Augapfel das gesehene Doppel-Bild nochmals verdoppelt hatte; Siebenkäs hatte es angesichts dieses bedenklichen Selbst-Experiments geschaudert. Einerseits lädt sich das Motiv des Doppelgängers mit der Konnotation der psychischen Labilität, des drohenden Ichverlusts auf. Andererseits erscheint die äußere Ähnlichkeit der beiden Figuren aber auch wieder als adäquater Ausdruck ihrer engen, unerschütterlichen Freundschaft, ihrer „gleichgestimmten“ Seelen. Schon darum ist das Motiv ambig - es korrespondiert, je nach dem Vorzeichen, unter dem es auftaucht, einerseits dem Modell einer physiognomisch ausgedrückten charakterlichen Eigenart wie andererseits auch dem der täuschenden, ja entstellenden Körperhülle. - Was sich im Siebenkäs schon andeutet, geschieht dann im Titan: Leibgeber wird (unter neuem Namen) zum Opfer seiner reflexiven Selbstentfremdung. Hier tritt er unter dem Namen Schoppe auf (er hat, wie er berichtet, zudem diverse andere Namen getragen). Von einer Krise seines Ich-Bewusstseins mehr und mehr erschüttert, unter Visionen seiner Verfolgung durch einen von ihm selbst unterschiedenen „Ich“ („Der Ich“) gepeinigt, stirbt er gegen Ende der Romanhandlung an dem Schrecken, den er angesichts der Begegnung mit einem physischen Doppelgänger empfindet. Und dabei ist es nur der alte Freund Siebenkäs alias Leibgeber selbst, der wieder seinen Weg kreuzt. Dieser Sieben- Monika Schmitz-Emans 72 Gerade der Siebenkäs stellt einen besonders dichten Knotenpunkt von Kreuz- und Querbezügen zwischen Jean Paul, „Jean Paul“ und Jean Paulschen Figuren dar, dessen Fäden dann über die Grenzen dieses Romans hinaus auch in den Titan und in die Palingenesien hinüber weisen. 22 Die Hauptfigur Siebenkäs, Verfasser der Auswahl aus des Teufels Papieren, ist mit seinem Biographen offenbar befreundet, und bevor dessen Lebensbeschreibung in Druck geht, soll Siebenkäs sie einmal durchlesen. 23 Im späteren Roman Titan trifft Siebenkäs, der mit seinem Double Leibgeber die Identität gewechselt hat, wieder auf und erzählt dem dort als Erzähler-Biograph wirkenden „Jean Paul“ von diesem Rollentausch, also von einem Abschnitt aus der Handlung des Siebenkäs-Romans - was eigentlich nur dann sinnvoll bzw. notwendig erscheint, wenn dieser „Jean Paul“ nicht der Biograph des Siebenkäs aus dem Siebenkäs ist. Es gibt aber auch Indizien für eine Identität beider „Jean Pauls“. 24 Als Autor wirkt Siebenkäs auch an anderer Stelle: Für den ersten Band der von Jean Paul verfassten Palingenesien (also „Wiedergeburten“) schreibt er ein Vorwort (die „Alte Vorrede“) und nimmt diese zum Anlass der Anerkennung von Swift und Sterne, genauer der Tale of a Tub und des Tristram Shandy. 25 Eben diese Werke hatte sich aber ein gewisser J. P. F. Hasus - eine andere Autormaske Jean Pauls - selbst zugeschrieben. Vor der „alten Vorrede“ findet sich ein „Offener Brief“, den „Jean Paul Friedrich Richter“ verfasst und an Leibgeber adressiert hat. Er habe vor, so schreibt dieser Jean Paul Friedrich Richter, mit den „Palingenesien“ eine Fortsetzung der Auswahl aus des Teufels Papieren des Siebenkäs zu schreiben, sei er doch mit dieser Satirensammlung bestens vertraut. 26 J. P. F. Richter will Teile der „Teufelspapiere“ ins eigene neue Werk integrieren und dabei die Nahtstellen so unsichtbar machen, dass die Zusammenstellung als solche gar nicht deut- käs berichtet dann Schoppe-Leibgebers Freund Albano von der Vorgeschichte, dem Namenstausch, dem Rollenwechsel - und erzählt insofern zugleich in groben Zügen die Romanhandlung des „Siebenkäs“ innerhalb des Romans Titan. Schoppe hatte - wie Siebenkäs erfährt - als Leibgeber die im Titan selbst als Beilage enthaltene „Clavis Fichtiana“ verfasst. Ediert wurde dieser Text aber von „Jean Paul“, dem Biographen. 22 Paul Heinemann (S. 331) hat die realen und fiktiven Autorfiguren in diesem Werkverbund in einer Liste zusammengestellt, insbesondere die im Siebenkäs auftretenden. 23 Jean Paul, „Siebenkäs“, in: I, 2, S. 287. 24 Der „Jean Paul“ des Titan hat Leibgebers Schrift Clavis Fichtiana publiziert, weil er sich seit der Arbeit am Siebenkäs für Leibgebers Auseinandersetzung mit der Wissenschaftslehre Fichtes interessiert. Siebenkäs im Titan wundert sich darüber, dass der Clavis-Text überhaupt erscheinen konnte, da Leibgeber viele seiner Schriften verbrannt hat (vgl. Jean Paul, „Titan“, in: I, 3, S. 803). 25 Jean Paul, „Palingenesien“, in: I, 4, S. 733. 26 „Ich habe die Teufels-Papiere, darf ich sagen, wohl so oft gelesen wie den Werther, ja ich habe sie exzerpiert und auswendig gelernt (…).“ (Ibid., S. 724) Vgl. dazu Heinemann, S. 329. Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 73 lich wird. 27 Legitimiert glaubt er sich für diesen Übergriff auf die Siebenkäs’schen Texte wohl nicht zuletzt deshalb, weil seine Hinweise auf die Satirensammlung im Roman „Siebenkäs“ die Öffentlichkeit überhaupt erst neugierig auf diese Texte gemacht habe. Siebenkäs selbst soll nicht merken, dass hier die Texte zweier Verfasser - Siebenkäs selbst und Richters - miteinander verschmolzen wurden wie „die Scherben unserer Hirnschale“. 28 Siebenkäs schreibt auch Texte für das „Pestitzer Realblatt“ und führt in dieser Rolle wiederum die Feder Jean Pauls. Leibgeber hat möglicherweise den Titan verfasst. Den Erzählerbericht des mit seinem Luftschiff abgestürzten Giannozzo 29 zu komplettieren, fällt ihm zu. In seiner Eigenschaft als Verfasser der Clavis präsentiert Leibgeber sich als eine Art alter ego Fichtes. Und Siebenkäs’ und Leibgebers Auseinandersetzung mit dem Fichteanismus sind insofern parallele Unterfangen, als Siebenkäs in den Palingenesien seine Begegnung mit einem Kantischen Philosophen in einer an die Clavis Fichtiana erinnernden Weise schildert. 30 Der Autor Jean Paul, ein „sehr beliebter und geschmackloser Schriftsteller“, wird dabei kritisch beurteilt. 31 Seine Rezension unterschreibt er mit diversen Namenskürzeln, die auf die Pseudonyme Schoppes im Titan - Siebenkäs, Löwenskiold, Leibgeber, Graul, Schoppe - verweisen: ‚S-s, L-d, L-r, G-l, S-e‘. 32 27 Vgl. dazu Ibid., S. 330: „Tatsächlich spielte Jean Paul ursprünglich mit dem Gedanken, Teile der ‚Grönländischen Prozesse‘ und andere frühe Satiren für die ‚Palingenesien‘ neu zu bearbeiten und zu edieren.“ 28 Jean Paul, „Palingenesien“, in: I, 4, S. 724. 29 Vgl. Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch im Anhang zum Titan, I, 3, S. 925-1010. 30 „Er tat mir dar, der Raum und die Zeit und die Kategorien wären an und für sich oder für andere Wesen ganz und gar nichts, aber für Menschen alles, und wir erschüfen uns durch diese Denkform die ganze Sinnenwelt (…) so behalte er keine Welt übrig als die in seinen plastischen (Denk-)Formen gebackne (…). Ich kehrte aber auf dem Platze den Spieß um und versetzte ihn selber unter die nur in meinem Kopfe seßhaften Phänomena, die ich aus Gefälligkeit mit den Grund-, Vor- und Passerformen meiner Sinnlichkeit und meines Verstandes gestalte. Wir kamen hart aneinander, jeder wollte der Idealist sein und den andern in seinen Sprößling verkehren und ihn nicht außer dem Kopfe leiden - bis ich den Philosophen außer der Stube hatte, wodurch ich ihn so denken konnte, wie ich wollte.“ (Jean Paul, „Palingenesien“, in: I, 4, S. 735f.) 31 Jean Paul, „Titan“, I 3, S. 697f. (Aus einem Brief Schoppes, den Albano liest.) 32 Ibid. Vgl. dazu Heinemann, S. 331: „Zentrale Bestandteile der Poetik Jean Pauls wie die in die Abstraktion reichende Metaphorik oder die Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit in den visionären Passagen werden hier in selbstironischer Manier geschildert. Diese Rezension ist unterzeichnet mit den Kürzeln, die als „Siebenkäs, Löwenskiold, Leibgeber, Graul, Schoppe“ zu entziffern sind. Sie belegen, dass alle Figuren letztlich Abspaltungen ein und derselben Person sind, die als Ich-Figuration des Dichters Jean Paul vorgestellt wird.“ Heinemann verweist in diesem Zusammenhang auf Marianne Kestings Aufsatz: „Ich-Projektion und Erzählerschachtelung. Zur Selbstreflexion der dichterischen Imagination“, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, 1 (1991), S. 27-45. Monika Schmitz-Emans 74 Der mit seinem Luftfahrzeug tragisch abstürzende Luftschiffer Giannozzo, den der Leser im Anhang des Titan kennen lernt, steht der Reihe dieser einander in verschiedenen Konstellationen doubelnden Autoren nahe. Nicht nur, dass Leibgeber seinen (Giannozzos) Bericht ergänzt und darum als eine Art Double Leibgeber / Schoppes gelten kann. Gianozzo selbst kennt auch den Hesperus und spricht einmal über „Jean Paul“ als einen „aus Feucht-Wangen gebürtigen“ - also sentimentalen - Autor. 33 In einem Wirtshaus erinnert er sich ein weiteres Mal an den Schriftsteller, „dessen Autorschaft eine lange deutsche Übersetzung seines französischen Geschlechts-Namens ist“ 34 , denn hier findet er ein handschriftliches Blatt, das laut Fußnotenkommentar aus Jean Pauls Erzählung „Der Jubelsenior“ 35 stammt. Es ist unentscheidbar, ob man den werkübergreifenden Entwurf immer neuer fiktiver alter egos des Schriftstellers Jean Paul als eine Bekräftigung oder eine Demontage der Autorrolle zu sehen hat. Der Autor Jean Paul trete - so beschreibt es Norbert Miller im Nachwort zu Abt. II der Werkausgabe - immer wieder aus sich heraus, wird sich selbst zum Gegenstand der Beobachtung und Reflexion. 36 Einerseits macht die zwischen Leserwelt und Romanwelt agierende Kunstfigur „Jean Paul“ dadurch auf sich aufmerksam, konsolidiert also die eigene Rolle als Mittler zwischen Leser und Romanfiguren. Andererseits betreibt Jean Paul, wenn er sein Werk und damit seine Autor- Identität mit den eigenen Figuren teilt, eine Art von Selbstenteignung. 37 Paul Heinemann, der das Spiel Jean Pauls mit Autorfigurationen und Autorrollen ausführlich analysiert hat, sieht in den Konstruktionen multipler Autorschaft einen entscheidenden Beitrag zur Jean Paulschen Antizipation von Nietzsches 33 Jean Paul, „Titan“, I, 3, S. 945 34 Ibid., S. 995. 35 Jean Paul als „Herausgeber“ von Giannozzos Seebuch nimmt dies zum Anlass einer Fußnote, die er mit „D. H.“ (Der Herausgeber) zeichnet; er freut sich, dass durch Giannozzos Verfügen über sein (Jean Pauls) Manuskript der Öffentlichkeit deutlich wird, wie stark er seinen eigenen Text gekürzt hat. Manche Nachahmer seiner Schreibart, so glaubt er zu wissen, verwenden die Passagen, die er selbst aus seinen Manuskripten gestrichen hat, um diese Streichungen rückgängig zu machen und die Texte als eigene Werke zu veröffentlichen (Ibid., I, 3, S. 995). Zu den Verflechtungen auch Heinemann, S. 330f. 36 N. Miller, „Die Unsterblichkeit der zweiten Welt. Jean Pauls literarische Anfänge und die Entstehung seiner Romanwelt“, in: II, 4, S. 35. 37 „(…) die Einheit der Autor-Instanz ‚Jean Paul‘ beruht gerade in dem Spiel zwischen seiner realen und seiner imaginären Existenzweise, das in den Kommentaren des Erzählers und seiner schriftstellerisch tätigen Doppelgänger zum Vorschein kommt.“ (so Heinemann, S. 325 unter Verweis auf B. Lindner, Jean Paul. Scheiternde Aufklärung und Autorrolle, Darmstadt 1976, S. 159). Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 75 Perspektivismus; insbesondere werde hier bereits die Grenze zwischen Imaginärem und Faktischem als solche in Frage gestellt und unterlaufen. 38 Es ist aus der Perspektive eines Lesers, der Jean Pauls Konstruktionen vergleichend auf die Literatur des 20. Jahrhunderts beziehen kann, angesichts der von diesem betriebenen Zuschreibung eigener Werke an Figuren wie Vult, Siebenkäs und Hasus, der Maskierung als Viktor, als Leibgeber, als Walt, als Worble wohl kaum abwegig, an Fernando Pessoa zu denken, der als eine ganze Gruppe von Dichtern unter diversen Heteronymen ein multiples und stilistisch ausdifferenziertes Œuvre hinterlassen hat. Nahe liegt auch der Vergleich mit Jorge Luis Borges, der sowohl das Spiel mit dem Doppelgängermotiv als auch Strategien der Entdifferenzierung von Wirklichkeitsebenen auf variantenreiche Weise entfaltet hat - und zwar ebenfalls vorzugsweise so, dass der Text selbst, welchen wir lesen, als die Schnittstelle erscheint, an der sich die Wirklichkeiten treffen, die Doubles einander spiegelnd berühren. In der Erzählung „Borges und ich“ spricht das Erzähler-Ich von seiner Distanz, ja Abneigung gegenüber dem anderen Borges - dem, der das, was das Erzähler-Ich beschäftigt, zum Bestandteil literarischer Darstellungen, auffälliger Inszenierungen macht, dem literarischen Parasiten am geführten Leben, dessen Erfolg dann aber eben doch die Rechtfertigung des Ichs ist. 39 Der schreibende Bor- 38 „Mittels der Potenzierung literarisierter Vorstellungswelten, die aus der Potenzierung der Erzähl- und Schreibinstanzen resultiert, antizipiert Jean Paul ästhetisch den philosophischen Perspektivismus Nietzsches, als dieser Versuche einer Differenzierung zwischen den imaginären Konstrukten des schöpferischen Subjekts und einer faktischen Tatsachenwelt denunziert und für gescheitert hält. Indem Jean Paul zahlreiche Erzähler innerhalb eines Romans zu Wort kommen läßt, deren divergierende Darstellungen eines außertextuellen Geschehens er miteinander kontrastiert, verabschiedet der Autor wie Nietzsche die Idee einer Instanz außerhalb der menschlichen Vorstellungswelt (und jenseits der Sprache), die in der Lage wäre, abschließende Bewertungen vorzunehmen. Der Prozeß des Interpretierens erfährt eine Aufwertung, da er zum zentralen Bestandteil menschlichen Erkenntnisvermögens erklärt wird, auch jenes des Lesers, der bei der Lektüre die Romanwirklichkeit deuten muß.“ (Heinemann, S. 329) 39 „Es wäre übertrieben zu behaupten, dass wir auf schlechtem Fuß miteinander stünden; ich lebe, ich lebe so vor mich hin, damit Borges seine Literatur ausspinnen kann, und diese Literatur ist meine Rechtfertigung. Ich gebe ohne weiteres zu, dass ihm hie und da haltbare Seiten gelungen sind, aber diese Seiten können mich nicht retten, vielleicht weil das Gute schon niemandes Eigentum mehr ist, auch nicht des anderen Eigentum, sondern der Sprache oder der Tradition angehört. (…) Allmählich trete ich ihm alles ab, obwohl mir seine widerwärtige Art des Verfälschens und Vergrößerns bekannt ist. (…) Ich muß in Borges bleiben, nicht in mir (sofern ich überhaupt jemand bin), aber ich erkenne mich in seinen Büchern weniger wieder als in vielen anderen, oder als im beflissenen Gezupf einer Gitarre. Vor Jahren wollte ich mich von ihm befreien; von den Mythologien der Vorstädte ging ich zu Spielen mit der Zeit und mit dem Unendlichen über, doch treibt heute Borges diese Spiele, und ich werde mich anderen Dingen zuwenden müssen. So ist mein Leben eine Flucht, und alles geht mir verloren und fällt dem Vergessen anheim oder dem anderen. / Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.“ (J. L. Borges, „Borges und ich“, in: Monika Schmitz-Emans 76 ges: das ist das Spiegel-Ich, mit dem das sich als zeitlich und flüchtig wahrnehmende Ich eine relativ zeitresistente, wahrnehmbare, öffentlich anerkannte und gelobte, lexikographisch gewürdigte Gestalt annimmt, in die es sein Leben investiert, den es zugleich aber als Maske, als Schauspieler, als Urheber übertreibender Verfälschungen, als entstellende Hülle empfindet, mit dem es weniger zu tun hat, als mit manch beiläufiger und ruhmloser Nebenbeschäftigung. Dass dieses Ich abschließend gesteht, nicht einmal zu wissen, wer die vorliegende Seite geschrieben habe, passt ins Bild der Selbstentzweiung, bei der ein lebendiges Ich hinter einem Schriftsteller-Ich verschwindet, um selbst die Beschreibung dieses Verschwindens noch dem Schriftsteller-Ich anzuvertrauen. Die in „Borges und Ich“ abschließend thematisierte Vorstellung, der „andere“ schreibe selbst das nieder, was das eigene Ich bewege, findet - als Fantasie einer Usurpation - ihr Pendant in dem Einfall der Wiederholung eines bereits geschriebenen Textes durch einen zweiten Autor: Bei Borges wird Pierre Menard als neuer Verfasser des Don Quijote vorgestellt („Pierre Menard, autor del Quijote“). 40 Jean Paul und Borges verbindet die Idee geteilter oder übertragener Autorschaft (als eine Spezialversion des Doppelgängermotivs). Und Pierre Menard findet gerade bei Jean Paul gleich mehrere Vorgänger: Wutz und Fixlein, die sich von Titeln der Werke anderer inspirieren lassen oder sich aus fremden Zitaten ganze Bücher basteln, doubeln ebenfalls andere Schriftsteller, die ihnen vorangegangen sind. Fibel, der seinen Namen in fremde Bücher schreibt und seinem Biographen daher zunächst als ein Universalautor erscheint, treibt das subversive Spiel um Autorschaften womöglich noch weiter - und sie alle sind auf ihre Weise Doubles von „Jean Paul“, der in der Selberlebensbeschreibung unter anderem davon berichtet, wie er seine ersten „eigenen“ Werke aus den Papierschnipseln komponierte, die vom Schreibtisch des Vaters fielen. Versuchte man, das Leben der textinternen Figur namens „Jean Paul“ aus deren gesammelten Auftritten als Autobiograph, Erzähler-Biograph und als handelnde Person zu rekonstruieren, so wäre dies mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden. Zu rekonstruieren wären insbesondere mehrfach geschichtete Zeitreihen - und zwar als Folge des Umstands, dass in der einen Chronologie beispielsweise Jean Paul Friedrich Richter der Verfasser der Grönländischen Prozesse ist, während dies in der anderen Zeitreihe Vult Harnisch übernimmt. In gewissem Sinn antizipiert Jean Paul mit seiner „Jean ders., Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Teil, hrsg. v. G. Haefs und F. Arnold, München-Wien 2006, S. 200f.) 40 J. L. Borges, „Pierre Menard, Autor des Quijote“, in: ders., „Die Bibliothek von Babel“, in: Fiktionen, Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil, hrsg. v. G. Haefs und F. Arnold, München-Wien 2000, S. 119-129. Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 77 Paul“-Figur und ihren alternativen Lebensläufen (in denen „Jean Paul“ wiederholt mit anderen Figuren verschmilzt) ein Zeitmodell, das Borges in der Erzählung „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“ entwickelt und beschrieben hat: das der parallel verlaufenden und einander gelegentlich kreuzenden Zeitreihen, in denen die agierenden Gestalten multiple Identitäten haben und entsprechend in alternativen Beziehungen zueinander stehen. (Zu den autobiographischen Zukunfts-Dokumenten Jean Pauls in der „Konjektural-Biographie“ gehört übrigens auch ein „Brief über die Philosophie. An meinen erstgeborenen Sohn Hans Paul, den er auf der Universität zu lesen hat“.) ) $ % % C Jean Pauls Spiele mit Beglaubigungen und Begründungen stehen in engem Zusammenhang mit seinen Selbstentwürfen als Autor - und auch sie ähneln Borgesianischen Versuchsanordnungen. Umberto Eco, der seinen Roman Il nome della rosa einleitend von einem fiktiven Herausgeber als die Transkription einer Transkription einer Transkription etc. ausgibt, hat das Modell „Natürlich eine alte Handschrift“ als eine Strategie charakterisiert, durch das Fingieren von Gründen auf die Fiktionalität aller Begründungen, auf den rein imaginären Charakter aller so genannten letzten Gründe und absoluten Wahrheiten hinzuweisen. 41 Im Borgesschen Werk hat diese Demontage konventioneller Begründungsmuster exemplarischen Ausdruck gefunden. Als eine für Borges besonders spezifische Textform ist dabei der fingierte Forschungsbericht gewürdigt worden. Zu den ergiebigsten Einfällen im Gefüge der Borgesschen Gedankenexperimente gehört es, sich auf fingierte Quellen zu berufen und dabei die Grenze zwischen existierenden und imaginären Texten so zu verwischen, dass es oft unentscheidbar ist, ob die Lektüren, die einem Text bedingend zugrunde liegen, tatsächlichen oder erfundenen Texten gelten. Borges hat im Vorwort zu seiner Erzählungs-Sammlung Ficciones aber betont, dass ihm andere - Autoren des 19. Jahrhunderts - vorangegangen sind: Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende Darlegung wenige Minuten beansprucht. Besser ist es, so zu verfahren, dass man so tut, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorlegt. So machte es Carlyle im ‚Sartor Resartus‘, so Butler in ‚The Fair Heaven‘ (…) Aus größerer Gewitztheit, größerer Unbegabtheit, größerer Faulheit habe ich das Schreiben von Anmerkungen zu imaginären Büchern vorgezogen. Diese sind 41 U. Eco, Der Name der Rose, München-Wien 1984, S. 6-12. Monika Schmitz-Emans 78 ‚Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‘, die ‚Untersuchung des Werkes von Herbert Quain‘, ‚Der Weg zu Almotasim‘. 42 Mit der Erfindung und Porträtierung imaginärer Autoren verknüpft sich bei ihm mehrfach die Erfindung, Beschreibung und Kommentierung imaginärer Bücher oder Manuskripte, als deren Transkription, Nacherzählung, Übersetzung, Beschreibung, Kommentierung oder Interpretation sich der jeweils gegenwärtige Text dabei ausgibt. Jean Paul nimmt solche Konstruktionen, wie gesagt, vorweg, treibt mit dem Begründungsmodell der ausgewerteten Quelle, des originalen Ausgangstextes, verwickelte Spiele. Er erfindet vielfältige Grundlagen für seine angeblichen Biographien, sei es, dass ihm testamentarisch Dokumente übermacht werden, sei es, dass er auf eigene Initiative und auf abenteuerlichen Suchwegen stückweise zu seinen Informationen kommt. Im „Leben Fibels“ etwa sind es Blätterreste aus ausgeweideten Bucheinbänden sowie Papierabfälle aller Art (Tüten, Vogelscheuchen, Schnittmuster etc.), von denen der Erzähler angeblich seine „biographischen“ Informationen bezieht, in den Flegeljahren werden ihm die Materialien zu seinen Kapiteln abschnittweise zugespielt, ähnlich wie schon in der Unsichtbaren Loge und im Hesperus, wo ein Hund als Postbote fungierte. Für den Bericht über Quintus Fixlein wird ein Zettelkasten ausgewertet - und so fort. Mehrfach liegt ein starker Akzent auf der Zerstreutheit und der Fragmentarizität der benutzten „Quellen“ - und darauf, dass diese eine Geschichte haben, dass die Zeit sie zu zerstreuen droht oder der sie auswertende „Biograph“ sie erst sukzessiv auffindet bzw. geliefert bekommt. Mit dem Muster der von Wissensdrang und philologischem Ehrgeiz stimulierten Suche nach auswertbaren Informationen spielt insbesondere der Bericht über jene Reise des Erzählers „Jean Paul“, der der Geschichte über Lorenz Krönlein vorangeschaltet ist: ein fiktiver Forschungsbericht. 43 Krönlein, so behauptet sein „Biograph“ Jean Paul, ist Schöpfer der in einem verbreiteten Katechismus als Illustrationen enthaltenen Holzschnitte. Dort scheinen die Graphiken die zehn Gebote zu illustrieren, der Erzähler aber interpretiert sie (unter Aufbietung erheblicher Gelehrsamkeit und Argumentationskunst) im Widerspruch dazu als autobiographische Erzählung des Holzschneiders Krönlein, der hier jeweils Szenen aus seinem Leben, genauer: aus seinem Eheleben, bildlich dargestellt habe. Der Kommentar zu den gemeinsam mit dem Text reproduzierten Holzstichen erzählt das Leben Krönleins am Leitfaden dieser angeblich autobiographischen Bildserie nach und erörtert zugleich deren angebliche ästhetische Qualitäten. Parodiert werden anlässlich der Aus- 42 J. L. Borges, „Vorwort“, in: ders., „Die Bibliothek von Babel“, op. cit., S. 97 43 Jean Paul, „Erklärung der Holzschnitte unter den zehn Geboten des Katechismus“, in: I, 4, S. 627-716. Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 79 wertung des gefundenen Quellenmaterials sowohl philologisch-exegetische als auch kunstkritische und kunsthistorische Diskurse, insbesondere die Hogarth-Kommentare G. Chr. Lichtenbergs. Vor allem der Vorbericht spielt mit dem Konzept der ausgewerteten Quelleninformationen und des philologisch fundierten Wissens auf subversive Weise. Hier erfahren wir, wie der Erzähler überhaupt zum des Krönlein- Biographen und -Exegeten wurde. Neben den allgemein bekannten Holzstichen selbst liegt seiner Darstellung nämlich angeblich eine schriftliche Quelle zugrunde - eine eigenartige Spielform des meta-literarischen Motivs der „alten Handschrift“, denn diese Handschrift ist zugleich ein Bild. Es handelt sich um ein Schreibmeisterblatt, auf dem der Künstler (dem Exegeten zufolge Krönlein selbst) eine menschliche Figur durch Schriftlinien dargestellt hat. Das Kniestück ist, wie es heißt, ein Porträt Krönleins selbst. Diese geschriebene Gestalt gliedert sich in zehn verschiedene Körperabschnitte, die zum einen bestimmten Teilen der Krönleinschen Lebensgeschichte, zum anderen jeweils einzelnen Holzschnitttafeln der angeblichen Zehn-Gebote-Serie entsprechen. Auf seine Quelle ist der Erzähler, wie er berichtet, durch eine Folge von merkwürdigen Umständen gestoßen, bei denen ihm jeweils andere Darstellungen der Krönleinschen Physiognomie begegneten, bis er sich für diese zu interessieren begann und so zuletzt an die Entzifferung des Schreibmeisterblatts ging: Zuerst sieht er im sächsischen Bleesern in einem Fenster einen Haubenkopf mit sanften, engelhaften Zügen, der sich als der fehlende Kopf eines Taufengels in einer Kirche zu Wittenberg entpuppt, den der Erzähler früher schon einmal inspiziert hat, indem er ihm den Daumen in den Schlund steckte. Das analoge Abtasten des Schlundes am Haubenkopf bringt ihn zur Überzeugung, in diesem den fehlenden Teil des Taufengels vor sich zu haben. Weitergereist, betrachtet er im Dresdner Zwinger neben anderen Kuriosa den so genannten „ikonologischen Kirschkern“, in den 85 Gesichter eingeschnitzt sind. Im 70. Gesicht erkennt er ein Porträt derselben Figur, die auch der Haubenkopf aus Bleesern darstellte. In Weimar schließlich besichtigt er in der herzoglichen Bibliothek die Katechismus-Sammlung eines Magister Binder. Hier findet er, eingeleimt in einen lutherischen Katechismus für Ansbach und Bayreuth das erwähnte Buchbinderblatt mit dem aus Schriftlinien gebildeten Porträt, das deshalb seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil es wiederum dieselben Gesichtszüge zeigt. Und so entwendet er das Blatt vorübergehend, um es zu entziffern - getrieben von einem Ehrgeiz, den auch einzelne seiner Figuren teilen, nämlich einen gewichtigen Beitrag zur historiographischwissenschaftlichen Forschung zu leisten, das Wissen seiner Zeit und zugleich den eigenen Ruhm zu mehren. Zur Auswertung des spektakulären Fundes - den der Erzähler als „herkulanische Ausbeute“ bezeichnet, wohl in Anspielung auf den Fund von Herkulaneum, aber auch auf die Taten des Herkules - Monika Schmitz-Emans 80 bedarf es nach all den Spuren und Zeichen, deren Kette den Wanderer zum Krönlein-Forscher gemacht haben, aber noch einer weiteren Bedingung, eines katalysatorischen Zufalls. Denn die Schriftzüge, aus denen das Porträt auf dem Blatt besteht, sind in Spiegelschrift verfasst. Dass sie sich überhaupt lesen lassen, entdeckt der Betrachter, weil sich zufällig einige so auf die Kehrseite des Blattes durchgeschlagen haben, dass man sie von hinten in entspiegelter Form lesen kann. Er entziffert es und kommentiert auf der Basis der entzifferten, auf die einzelnen Körperglieder der gezeichneten Figur verteilten Geschichte Krönleins die Katechismus-Holzschnitte, welche nach seiner Auskunft dieselbe Geschichte darstellen: das Leben Krönleins als Ehemann. Zuletzt erscheint der selige Krönlein selbst dem Erzähler im Traum und teilt ihm mit, er sei sein eigener Ururgroßvater. Demnach hat der Biograph ein Stück seiner eigenen Familiengeschichte erzählt, also im weiteren Sinn wiederum als Autobiograph agiert. Dass diese Konstruktion einer Quelle, aus welcher der Erzähler angeblich schöpft, mit der Suggestion von Authentizität nichts zu tun hat, bedarf kaum der Betonung: Die Geschichte vom enthauptetem Taufengel und seinem auf dem ikonologischen Kirschkern abgebildeten Double, von der neuerlichen Erscheinung der Gesichtszüge auf dem Schreibmeisterblatt und von dessen halb zufällig ermöglichter Entzifferung ist so haarsträubend unwahrscheinlich, dass das neuerliche Auftauchen von Krönleins Gesicht im Traum nur bestätigt, was sich im Vorbericht andeutet: Krönleins Geschichte ist der Imagination entsprungen, einer Imagination, die sich an die groben Bilder des Katechismus heftet, um diese zu verwandeln und zu verklären - zur Künstlergeschichte und in ein Werk der Kunst. * Der - bei allen motivlichen, thematischen und strukturellen Analogien - entscheidende Unterschied zwischen Jean Paulschen und Borgesianischen Arrangements von Maskenspielen ist wohl nur auf der Ebene der Haltung zur Sprache zu fassen. Und die divergenten Auslegungen des Maskenmotivs korrespondieren diesem Unterschied. Für Borges ist der Text, auch und gerade der eigene Text des Ichs „Borges“, eine fremde Form, eine Maske, hinter der kein Subjekt greifbar wird, eine Wiederholung fremder Texte und Diskurse, die schon insofern nicht „charakteristisch“ ist, als sie in prinzipiell unzähligen möglichen Varianten auftritt, von denen sie sich nicht trennscharf abgrenzt, sondern in die sie hinüberfließt. 44 Das im Text sich artikulierende Ich ist ein 44 Im 56. Paragraphen der Vorschule (Jean Paul, „Vorschule der Ästhetik“, in: I, 5, S. 7-456) ist vom „Charakter“ allgemein, nicht nur vom literarischen, die Rede; Jean Paul unterstellt eine grundlegende strukturelle Analogie zwischen lebendigen Menschen und gelungenen Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 81 Teil der Textoberfläche, die nichts als die Kopie unabsehbar vielfältiger anderer Textoberflächen ist. Für Jean Paul ist die Sprache eine Art lebendiger Maske. Im Prozess sprachlicher Artikulation, und das heißt für den Schriftsteller: im Schreibprozess, nimmt das Ich Gestalt an. Es ist insofern auch ein artifizielles Ich, aber ein individuelles und charakteristisches. Der Stil ist Signatur solcher Individualität. Obwohl es im Jean Paulschen Romankosmos immer wieder geschieht, dass Personen miteinander verwechselt werden, betrifft dies doch „nur“ den Körper, insofern er eine äußere Hülle ist - gelegentlich sogar die Stimme, aber hier ist jede Verwechslung schon latent tragisch, insofern das Sprachorgan betroffen ist. 45 Demgegenüber sind die „charakteristischen“ Individualstile, die die sprachlichen, die schreibenden Subjekte entwickeln, als unverwechselbar konzipiert; hier ist das Besondere und Einzigartige greifbar, nicht in der kontingenten Körperhülle. 46 Wer den Sprachgestus eines anderen zu imitieren suchte, stieße damit in qualitativ ganz anderem Sinn in dessen Individualsphäre vor als jemand, der zufällig oder absichtlich so aussieht wie ein anderer. Das sprachliche Ich ist zwar für Jean Paul wie für Borges ein Masken-Ich, aber bei Borges erscheint die Maske als eine letztlich kontingente fremde Form - ablösbar von ihrem Träger, so wie der Text des Quijote sich fiktiven Figuren. „Der Charakter ist bloß die Brechung und Farbe, welche der Strahl des Willens annimmt; alle andere geistige Zusätze, Verstand, Witz etc., können jene Farbe nur erhöhen oder vertiefen, nicht erschaffen. Der Charakter wird nicht von einer Eigenschaft, nicht von vielen Eigenschaften, sondern von deren Grad und ihrem Misch-Verhältnis zueinander bestimmt; aber diesem allen ist der geheime organische Seelen-Punkt vorausgesetzt, um welchen sich alles erzeugt und der seiner gemäß anzieht und abscheidet (...).“ Jeder Charakter, so die Kernthese, hat ein Zentrum (einen „organischen Seelen-Punkt“): den individuellen Willen. Von diesem Zentrum aus werden alle einzelnen Charakter- Eigenschaften koordiniert. Die Erscheinungsform des Charakters (der „Phänotyp“, wie man vielleicht heute sagen würde) ergibt sich aus dem Mischungsverhältnis der Eigenschaften. Jean Pauls organologisches Charakter-Konzept bezieht sich auf wirkliche Menschen ebenso wie auf literarische gestalten. Auch letztere sind, wenn sie gelingen, „organische“ Ganzheiten, deren Einzelmomente nicht einfach additiv, sondern als Funktionszusammenhang zu begreifen sind. 45 Roquairol, der sich die Maskenhaftigkeit vieler Aspekte der menschlichen Wirklichkeit zu egozentrischen und schändlichen Zwecken zu Nutze macht, imitiert Albanos Stimme, um dessen Geliebte zu verführen. 46 Bücher, Briefe und andere Schriftdokumente sind für Jean Paul die anderen Leiber der Seelen, die sie geschrieben haben. Dem sterblichen Körper des Menschen haben sie einen Vorzug voraus: Sie sind dauerhafter. In Jean Pauls nachgelassenen Aufzeichnungen findet sich eine aufschlussreiche Bemerkung dazu: „Willst du bei den Reste(n) deines Geliebten trauern: so sind es doch mehr die, die ihn näher angehen als die Knochen im Grabe p. , nämlich jedes Blatt, auf dem er dir einen wahren Theil seines Daseins und Geistes gelassen.“ (B II 4, 188 = Berendsche Ausgabe) Ähnlich heißt es an anderer Stelle, dass „Bücher verstorbene, aber verklärte Menschen sind“ (I 5, 550). Monika Schmitz-Emans 82 von Cervantes ablösen und mit Pierre Menard verbinden lässt. 47 Jean Pauls Masken hingegen sind „personae“ - sprachliche Medien, durch welche die Stimme eines Ichs vernehmbar wird, eines Ichs, das zwar kein spezifisches und wiedererkennbares Gesicht hat, das sich in seinen sprachlichen Selbstentwürfen aber eben darum ausprägt, in ihnen „aufgehoben“ 48 ist. Während Borges sich von seinem literarischen Double „Borges“ verfolgt fühlt („Borges und Ich“), investiert sich Jean Paul weitgehend lustvoll in seine schreibenden Doppelgänger. Beide Akzentuierungen des Motivs der Ich-Maske lassen sich aber als ironisch begreifen - als Ausdruck des Bewusstseins von der Diskrepanz zwischen dem, was sich darstellt, und dem Dargestellten als einer ungreifbaren, vielleicht rein imaginären Instanz. 49 # Assmann, J., „Du siehst mit dem Kopf eines Gottes - Gesicht und Maske im Ägyptischen Kult“, in: T. Schabert (Hrsg.), Die Sprache der Masken, Würzburg 2002. Borges, J. L., „Vorwort“, in: ders., „Die Bibliothek von Babel“, in: Fiktionen, in: J. L. Borges, Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil (Hrsg. G. Haefs, F. Arnold), München-Wien 2000. Borges, J. L., „Pierre Menard, Autor des ,Quijote‘“, in: ders., „Die Bibliothek von Babel“, in: Fiktionen, in: J. L. Borges, Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil (Hrsg. G. Haefs, F. Arnold), München-Wien 2000. 47 „Angenommen, jemand kopiert einen Schriftsteller Wort für Wort, so tut er es unpersönlich, so tut er es, weil er diesen Schriftsteller mit der Literatur verwechselt (…).Viele Jahre lang glaubte ich, die nahezu unendliche Literatur sei in einem einzigen Menschen versammelt. Dieser Mensch war Carlyle, war Johannes Becher, war Whitman, war Rafael Cansinos-Assens, war de Quincey.“ (J. L. Borges, „Coleridges Blume“, in: Inquisitionen, Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil, hrsg. v. G. Haefs und F. Arnold, München, Wien 2003, S. 15-18.) 48 Das Wort „persona“ findet sich vielfach aus dem lateinischen Verb „personare“, hindurchtönen, abgeleitet. Es könnte sein, dass diese etymologische Ableitung historisch falsch ist - aber sie ist wirkungsgeschichtlich signifikant geworden. 49 „Das Eigentliche der Maske (…) scheint mir die Ironie. Die Maske repräsentiert etwas in voller Anerkennung der Unangemessenheit der Repräsentation. Sie verwandelt in voller Anerkennung der Unvollkommenheit und Unabgeschlossenheit der Verwandlung. Sie verbleibt bewußt im Zwischen und in der Zweiheit. Ihre Wahrheit liegt in der Anerkennung ihrer Uneigentlichkeit und der Tatsache, daß es keine Eigentlichkeit gibt. Die Maske lügt nicht, sondern gibt zu verstehen, daß es die nackte, unmaskierte Wahrheit nicht gibt. Sie ist das Bild, das sich als solches weiß, ein Zwischending, zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Gott, Mensch und Tier, und erweist [sich] gerade darin, als eine Allegorie des Zwischen, als ein unaufgebbares Humanum.“ (J. Assmann: „Du siehst mit dem Kopf eines Gottes - Gesicht und Maske im Ägyptischen Kult“, in: T. Schabert [Hrsg.], Die Sprache der Masken, Würzburg 2002, S. 149-172, hier S. 169) Autorschaft als Maskenspiel des Ichs bei Jean Paul 83 Borges, J. L., „Coleridges Blume“, in: Inquisitionen, in: J. L. Borges, Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil (Hrsg. G. Haefs, F. Arnold), München-Wien 2003. Borges, J. 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Heinrich Pacher (Karlsruhe) ( @@ ! & ( @@ Adorno hat in einem berühmten Essay den Versuch unternommen, Schichten an Eichendorffs Lyrik herauszuarbeiten, die einer politisch wie ästhetisch vorwiegend konservativ gesinnten Rezeption entgangen waren und in denen er die spätere Moderne - an erster Stelle die französische eines Baudelaire, Rimbaud oder Mallarmé - antizipiert sah. Die Gedichte des großen Romantikers seien, so die zentrale These, von einer „Selbstpreisgabe“ 1 des dichterischen Subjekts geprägt; dieser „Antisubjektivismus“ 2 sei greifbar an Textstellen, in denen sich eine Auflösung des Sinns vollziehe. Das von Adorno an ihnen beobachtete Hervortreten von Schichten, die erst im Lichte des Späteren sichtbar werden, lässt sich mittlerweile auch an seinem eigenen Denken wahrnehmen. So sind über ein halbes Jahrhundert nach dessen Erstveröffentlichung an seinem Eichendorff-Essay neue Aspekte hervorgetreten, die sich früher kaum in ihrer ganzen Bedeutung einschätzen ließen; inzwischen aber ist nicht länger zu übersehen, in welchem Maß in ihm Motive von Dekonstruktion und Poststrukturalismus vorweggenommen werden. 3 Dass das Subjekt ebenso wie der Sinn, in dem es sich konstituiert, scheinhaft sind, dass sich beide unentwegt selbst dekonstruieren, versuchen Derridas Lektüren ebenso zu zeigen, wie dass sich die Texte der literarischen Moderne - der eines Mallarmé, Joyce, Celan oder Beckett 4 , um nur diese Namen zu nennen - der selbstdekonstruktiven Dynamik nicht länger versperren, sondern sie zur Basis einer neuen Praxis machen. Die dekonstruktiven Tendenzen der literarischen Moderne werden bei Adorno wie bei Derrida von Theorien des Subjekts beleuchtet, die dessen 1 Th. W. Adorno, „Zum Gedächtnis Eichendorffs“, in: ders., Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften, Bd. XI, Frankfurt/ M. 1974, S. 84. 2 Ibid., S. 81. 3 Vgl. dazu ausführlich: H. Pacher, Die Spontaneität der Literatur. Studien zur Literaturtheorie Adornos, St. Ingbert 2010, S. 149 ff.; zum Verhältnis Adorno - Derrida vgl. auch E. L. Waniek, E. M. Vogt (Hrsg.), Derrida und Adorno. Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule, Wien 2008. 4 Zum Verhältnis Derridas zu letzterem vgl. J. Derrida, D. Attridge, „,This Strange Institution Called Literature‘: An Interview with Jacques Derrida“, in: J. Derrida, Acts of Literature, Hrsg. D. Attridge, New York-London 1992, S. 33-75, hier S. 60f. Heinrich Pacher 86 prekäre Seiten in den Focus rücken. Dabei sieht Adorno das Problematische am Subjekt vor allem in einem Aspekt, der in der gegenwärtigen Diskussion merkwürdigerweise zu kurz kommt: in der Unterdrückung der äußeren wie der inneren Natur. Dementsprechend erläutert er Eichendorffs Antisubjektivismus als „Absage ans Herrschaftliche, an die Herrschaft zumal des eigenen Ichs über die Seele“ 5 , über die innerpsychische Natur, durch die es Ich überhaupt erst wird. Dabei ist dessen naturbeherrschende Praxis immer eine des Identifizierens, die das Andere der Natur niemals in seiner Andersartigkeit belassen kann, sondern stets dem eigenen Apparat vorgefertigter Kategorien assimilieren muss. Da die Natur aber nicht so will, wie sie soll und sich diesem nicht von vornherein fügt, wird sie in der Wahrnehmung des naturbeherrschenden Subjekts zum Widerständigen und Feindlichen. 6 Unter Berufung auf diese Widerständigkeit, welche durch den Willen des Subjekts, Natur zu beherrschen, überhaupt erst generiert wurde, lässt sich dann erst recht, und um so besser, deren Unterwerfung legitimieren. Anders als bei Adorno findet man bei Derrida keine explizite Theorie der Naturbeherrschung. Dennoch ist kaum zu übersehen, wie nah sich Adorno und Derrida hier sind: in der Parteinahme nämlich für das Andere gegen eine totalisierende Praxis, die diesem Anderen in seiner Singularität Gewalt antut. Bei Adorno ist dies der Punkt, wo der Begriff des Systems, welches das Unerfasste erfasst und das Unkontrollierte unter Kontrolle bringt, ins Spiel kommt. Demgegenüber bezweifelt Derrida, ob diese Kontrolle überhaupt möglich ist und ob die totalisierende Praxis nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist 7 ; das mindert jedoch nicht die Gewalt, die mit ihr einhergeht. Gegen dieses gewalttätige Subjekt setzt Derrida die gewaltlose oder zumindest für Gewalt sensibilisierte Praxis der Dekonstruktion, seine eigene wie die jener Texte der literarischen Moderne. Eine solche andere Praxis ist es auch, die Adorno, wenigstens in Ansätzen, bei Eichendorff am Werk sieht. Wenn er die antisubjektivistischen Tendenzen von dessen Lyrik an Stellen festmacht, in denen die Bedeutungen von Signifikanten im Vagen verschwimmen und sich der Sinn auflöst, ist das zunächst überraschend, denn auf den ersten Blick ist, etwa im Vergleich mit den späten Hymnen Hölderlins, ihre Form noch recht konventionell. Doch das täuscht; dem mikrologischen Blick zeigen sich allenthalben Irritationen von Bedeutung und Sinn. 8 Zuwei- 5 Th. W. Adorno, „Zum Gedächtnis Eichendorffs“, op. cit., S. 78. 6 Th. W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/ 65), Nachgelassene Schriften, Bd. IV.13, Frankfurt/ M. 2001, S. 21f. 7 Womit das Subjekt entgegen seinem Anspruch auf Autonomie zum Unterworfenen wird, vgl. P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2000, S. 193ff. 8 Th. W. Adorno, „Zum Gedächtnis Eichendorffs“, op. cit., S. 78ff. Eine prinzipielle Bestätigung finden Adornos Beobachtungen in: K.-D. Krabiel, Tradition und Bewegung. Zum Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 87 len lassen sich Effekte beobachten, wie sie Derrida in seinen Arbeiten zu Texten der literarischen Moderne herausarbeitet. So findet man - um nur ein Beispiel zu nennen - in dem Vers aus Zwielicht: „Manches bleibt in Nacht verloren“ 9 ein Beispiel für die „Unentscheidbarkeit“ 10 des Signifikanten, wie sie Derrida an Schlüsselwörtern Mallarmés wie „hymen“ und „pli“ herausgearbeitet hat 11 ; das Wort „verloren“ flottiert aufgrund der spezifischen, vom gewöhnlichen Sprachgebrauch abweichenden Konstellation, in der es in der Zeile „Manches bleibt in Nacht verloren“ auftritt, zwischen verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten - „verloren gehen“, „verloren sein“, „sich in etwas verloren fühlen“ -, ohne dass allein aus dem Gedicht heraus die Entscheidung für eine von ihnen möglich ist. Dass dieser sich bereits in Ansätzen auflösenden Sprache, wie Adorno annimmt, ein sich auflösendes Subjekt entspricht, leuchtet ein. Denn was das Subjekt ausmacht, was es zum Subjekt erst werden lässt, hat wesentlich mit Sprache und deren Logizität zu tun, wie man unschwer an der wirren Sprache von Menschen beobachten kann, deren Bewusstsein, etwa im Rausch oder aufgrund von Krankheit, beeinträchtigt ist oder - bei kleinen Kindern - sich noch in der Entwicklung befindet. Demgegenüber ist in Eichendorffs Lyrik die Verwirrung der Sprache, von der sich ja nicht in der gleichen Weise auf den realen Menschen Eichendorff zurückschließen lässt, artifiziell. Mit der Simulierung ihrer Verwirrung wird auch die des Subjekts, das aus ihr spricht, simuliert. Sie nähert es dem Irrsinn an. Obsessiv kehren in den Gedichten immer wieder die Wörter „wirr“ und „irr“ wieder, die sich selbstreferentiell auf jene Auflösungserscheinungen der Sprache beziehen und für den Zusammenbruch der Ordnungsschemata stehen, anhand derer sich das Subjekt in der Welt orientiert: „O wunderbarer Nachtgesang: / Von fern im Land der Ströme Gang, / Leis Schauern in den dunklen Bäumen - / Wirr’st die Gedanken mir, / Mein irres Singen hier / Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.“ 12 „Mein irres Singen hier“: Damit gesteht die Dichtung auf schockierende Weise das Ungeheuerliche ein, das sich in ihr zuträgt. sprachlichen Verfahren Eichendorffs, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1973; vgl. auch St. Scherer, „Ereigniskonstruktionen als Literatur (Eichendorff, Musil, Goetz)“, in: Th. Rathmann (Hrsg.), Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur, Köln-Weimar-Wien 2003, S. 63-84, hier S. 72ff. 9 J. v. Eichendorff, Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch- Kritische Ausgabe (im Folgenden abgekürzt mit dem Sigel HKA) I/ 1, Stuttgart-Berlin-Köln 1993, S. 12. 10 J. Derrida, „Die zweifache Séance“, in: ders., Dissemination, Wien 1995, S. 193-322, hier S. 246. 11 Ibid., S. 233ff., 279ff., vgl. dazu auch P. V. Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel 1994, S. 71ff.; Pacher, Die Spontaneität der Literatur, op. cit., S. 132 u. 139f. 12 HKA I/ 1, S. 12 (Nachts). Nicht zufällig hebt auch Adorno das Eichendorffsche Schlüsselwort „wirr“ hervor: Vgl. ders., „Zum Gedächtnis Eichendorffs“, op. cit., S. 79. Heinrich Pacher 88 Die Tendenzen der Sprachauflösung, die sich bei Eichendorff auf vorerst noch zurückhaltende Weise zeigen, entfalten sich dann einige Jahrzehnte später in der Lyrik der französischen Moderne zu Gebilden von betörender Rätselhaftigkeit. In Rimbauds Enfance - um eines der großartigsten Beispiele zu nennen - wird die Dissoziation des Sinns, die sich bei Eichendorff nur dezent andeutet, gesteigert zu der des Kunstwerks als einer Totalität, so dass das Gedicht in eine Anzahl voneinander unabhängiger, autonomer Teile zerfällt. Mit Sprache und Einheit des Werks wird das Subjekt aufgelöst; in den Lettres du Voyant wird der Antisubjektivismus der modernen Lyrik kodifiziert und theoretisch reflektiert. ' % Die dekonstruktiv-antisubjektivistische Tendenz von Eichendorffs Sprachform korrespondiert mit inhaltlichen Elementen seiner Lyrik. Diese finden sich unter anderem auch in dem folgenden Gedicht: Verloren. Still bei Nacht fährt manches Schiff, Meerfey kämmt ihr Haar am Riff, Hebt von Inseln an zu singen, Die im Meer dort untergingen. Wann die Morgenwinde wehn, Ist nicht Riff noch Fey zu sehn, Und das Schifflein ist versunken, Und der Schiffer ist ertrunken. 13 In kunstvoller Verdichtung werden in den beiden Strophen zwei Momentaufnahmen parataktisch nebeneinander gestellt: die Nacht mit dem fahrenden Schiff und der singenden Meerfey sowie der folgende Morgen, an dem beide spurlos verschwunden sind. Ausgespart ist, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat: wie der Schiffer, angelockt durch ihren Gesang und ihre erotische Anziehung (die Haare, die sie durchs Kämmen betont! ) der Meerfey in die Falle geht. Doch der Leser versteht auch so, handelt es sich beim Motiv der die Männer ins Verderben lockenden Frau doch um einen verbreiteten Topos der europäischen Literatur - und, wie wir noch sehen werden, nicht nur der europäischen. Auch in Eichendorffs Lyrik tritt dieses Motiv wiederholt auf; in mehreren seiner Gedichte wird der männliche Protagonist 14 von einer numino- 13 HKA I/ 1, S. 368 f. 14 Der zaubrische Spielmann stellt die Ausnahme von der Regel dar: Hier wird ein „Fräulein“ von der männlichen Titelfigur in den Wald gelockt, aus dem es nicht mehr wiederkehrt. Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 89 sen Frauengestalt angelockt, um dann „verloren“ zu gehen (Die Zauberin im Walde, Das Bildnis, Waldesgespräch 15 ). Stets sind die lockenden Gegenfiguren mit der Natur verbunden; der Wald ist ihre bevorzugte Heimat, seltener ist es, wie in Verloren, die See. Bei jener Gegeninstanz kann es sich auch um ein Wild handeln, dem der Jäger in seinem zur Obsession gesteigerten Wunsch, es zu erlegen, durch den Wald folgt, bis er nicht mehr herausfindet (Der verirrte Jäger), oder um die Nacht, die ruft, um in „der Wälder Labyrinth“ 16 zu locken (Nacht). Der Wald, das Meer, die Nacht: Stets ist es das „Andere“ des Subjekts, das dieses als Natur oder als die „andere“ Zeit des Tages anlockt, um als Unterdrücktes Rache zu nehmen an seinem Unterdrücker - oder aber um ihm höchstes Glück zu gewähren. Denn in einer Vielzahl von Gedichten Eichendorffs ist die Lockung frei von aller Bedrohung, und das Subjekt findet Erfüllung darin, in der Natur ganz aufzugehen. 17 Es ist, als ob Eichendorffs lyrisches Werk von einer tiefen Ambivalenz geprägt sei, die einmal die Lust des Subjekts, sich der Natur hinzugeben und sich in ihr aufzulösen, beschreibt, während ein anderes Mal der Selbstverlust des Subjekts und seine Preisgabe an die Natur wieder als Verhängnis dargestellt wird. Die inhaltliche Ambivalenz steht in enger Beziehung zur Sprachform der Gedichte. Diese weist die gleiche Ambivalenz auf, insofern den sich in ihr manifestierenden Tendenzen der Subjektauflösung die Abwehr dieser Auflösung gegenübersteht, die sich im Festhalten an der Einheit der Form und an den konventionellen Formschemata zeigt. 18 Es ist wohl kaum zu übersehen, dass Eichendorffs Meerfey den Sirenen der griechischen Mythologie verwandt ist. Meerfey wie Sirenen locken durch ihren Gesang die Schiffer ins Unglück, wenn auch die Meerfey im Unterschied zu den als Ungeheuer vorgestellten Sirenen 19 einer Menschenfrau zu 15 In Waldesgespräch fehlt das Motiv des Angelocktwerdens, der männliche Protagonist begegnet im Wald der numinosen Frauengestalt, die ihm verkündet, dass er diesen nie wieder verlassen wird. 16 HKA I/ 1, S. 204. 17 Stellvertretend für viele andere Beispiele sei das fünfte Gedicht des Zyklus Jugend-Andacht genannt, wo es vom Sänger heißt: „Fühlt rings ein Lied durch alle Farben ziehen, / Das ihn so lockend nimmer läßt von hinnen.“ (HKA I/ 1, S. 294). 18 Die Parallelisierung von Inhalt und Sprachform ist der literaturgeschichtlichen Banalisierung der inhaltlichen Motive entgegenzuhalten. Natürlich zählen die angeführten Motive zum Gemeingut der deutschen und europäischen Romantik, und es ist anzunehmen, dass Eichendorff bei den ins Verderben lockenden Frauengestalten von Brentanos Lorelei- Gedicht inspiriert war. Demgegenüber besteht seine spezifische Leistung darin, dass er mit der Sehnsucht nach Subjektauflösung Ernst macht und diese der ästhetischen Form zuführt. 19 Allerdings haben diese im Verlauf der Antike immer mehr eine menschliche Gestalt angenommen: „Seit dem 8. Jahrhundert wurden die Seirenes, auch die homerischen, unter ägyptisch-vorderasiatischem Einfluß als Vögel mit Menschenkopf dargestellt, allmählich erhielten sie Arme und Brüste, und ganz spät kommt die rein menschliche Form vor.“ (H. v. Geisau, „Seirenes“, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, Bd. V, Mün- Heinrich Pacher 90 ähneln scheint - man kann sie sich vielleicht halb Mensch, halb Fisch vorstellen wie die Nixen - und deshalb ihre weiblichen Reize als zusätzliches Lockmittel einsetzen kann. 20 Bekanntlich spielt die Sirenen-Episode der Odyssee eine wichtige Rolle in den Überlegungen zur Urgeschichte des bürgerlichen Subjekts in der Dialektik der Aufklärung; Horkheimer und Adorno beschreiben die „Lockung“ 21 der Sirenen als eine, das Ich „zu verlieren“ 22 , und das heißt: in der „Anstrengung“ nachzulassen, „das Ich zusammenzuhalten“ 23 ; dies stimmt mit der hier vorgeschlagenen Deutung von Eichendorffs Meerfey und der anderen Repräsentanten des „Anderen“ in seinen Gedichten überein. Wichtige Ergänzungen zum Verständnis dieser Symbolik bietet Erich Neumanns Ursprungsgeschichte des Bewusstseins 24 , die von der Annahme ausgeht, dass sich bestimmte Mythen aufeinander folgenden Stadien der Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins - derjenigen der Menschheit wie der des Individuums - zuordnen lassen. 25 Im Licht von Neumanns Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins lassen sich die Sirenen ebenso wie andere Mischwesen der griechischen Mythologie als Repräsentantinnen der Großen Mutter begreifen 26 , die von Neumann als Symbol des im Verhältnis zum Ich noch übermächtigen Unbewussten gedeutet wird. 27 Das Ich wird demgegenüber mythologisch von männlichen Protagonisten repräsentiert, die den Erscheinungsformen der Großen Mutter unterliegen, was als Ausdruck eines Stadiums der Bewusstseinsentwicklung zu begreifen ist, in dem das Ich noch so schwach ist, dass es vom Unbewussten überwältigt werden kann und in dieses zurücksinkt. Die Stufe, auf der das Ich noch scheitert, wird von Neumann unterschieden von einer entwicklungsgeschichtlich späteren, auf der chen 1975, Sp. 79) Eichendorffs Meerfey dürfte ihrer späten Darstellungsweise nahe stehen. 20 Von den Sirenen ist zuweilen explizit in Gedichten Eichendorffs die Rede, z. B. Der Schiffer oder in Frühlingsfahrt, wo die lockenden Sirenen den zweiten Bruder in den „Schlund“ ziehen. 21 Die Autoren der Dialektik der Aufklärung kommen nicht umhin, dieses Schlüsselwort Eichendorffs in dieser Passage mehrmals zu benutzen, vgl. M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/ M. 1997, S. 49ff. 22 Ibid., S. 50. 23 Ibid. 24 E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, Düsseldorf-Zürich 2004 (erstmals 1949). Zu Neumann vgl. das ihm gewidmete Heft der Zeitschrift Analytische Psychologie 151 (2008). 25 E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 8f. u. passim. 26 Vgl. dazu auch das - neben der Ursprungsgeschichte des Bewusstseins - zweite große Werk Neumanns: Die Große Mutter. Die weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, Düsseldorf 2003 (erstmals 1956), hier insb. S. 27. 27 E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 51ff. Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 91 das Ich das Unbewusste besiegt und autonom 28 wird; mythologisch wird es ihm zufolge vom Heldenmythos repräsentiert. Odysseus würde folglich einem weiterentwickelten Bewusstsein entsprechen, das in Übereinstimmung mit der oben zitierten Stelle aus der Dialektik der Aufklärung den es bedrohenden Gefährdungen gewachsen ist, im Unterschied zu den Schiffern in Eichendorffs Gedicht, die der Gefährdung durchs Unbewusste nicht gewachsen sind. Aus Sicht der Ursprungsgeschichte des Bewusstseins gehört auch das Geschehen in Eichendorffs Gedicht Verloren dieser Stufe an; dazu passt, dass hier der Schiffer seinen Tod im Wasser, dem alten Symbol der Großen Mutter und des Unbewussten 29 , findet. Deutlicher noch tritt das mythologische Muster in Die Zauberin im Walde und Das Bildnis hervor. In beiden Gedichten ist ein Schema zu erkennen, das Erich Neumann in der Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, dabei an James Frazers The Golden Bough anknüpfend 30 , beschrieben hat und das sich in einer Reihe von Mythen unterschiedlicher Herkunft (Vorderasien, Griechenland, Ägypten) wiederfindet, in denen eine Göttin einen Jüngling verführt und ihn anschließend ins Verderben stürzt; dieses Handlungsschema wird in jenen Mythen auf unterschiedliche Weise variiert und dabei manchmal so stark verändert, dass seine ursprüngliche Gestalt kaum noch wiederzuerkennen ist. Auch die Mythen, die von der Göttin und ihrem Jünglingsgeliebten handeln, werden von Neumann jenem Stadium zugeordnet, in dem das Ich - hier repräsentiert durch den Jünglingsgeliebten - noch schwach entwickelt ist und jederzeit in das durch die Göttin symbolisierte Unbewusste zurückzusinken droht. Diese Deutung lässt sich auf die Gedichte Eichendorffs, die hier im Zentrum der Betrachtung stehen, übertragen. Die Titelfigur in Die Zauberin im Walde, die den Jüngling Florimund in die Tiefen des Waldes lockt, hätte man in vorchristlicher Zeit zweifellos als Göttin bezeichnet 31 , und wenn sie im Gedicht als „Zauberin“ oder als „Fey“ 32 auftritt, verrät das immer noch etwas von ihrer alten Macht und Würde. Wahrscheinlich sind die Feen der Märchen „Nachbilder“ weiblicher Gottheiten, die sich nach dem Sieg des Christentums nicht ganz aus der kollektiven Fantasie haben verdrängen lassen 28 Wenn bei Neumann von einem Sieg des Bewusstseins die Rede ist, ist damit keineswegs gemeint, dass das Bewusstsein seit einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung die fortan sichere und unerschütterliche Herrschaft über das Unbewusste antreten kann; er wie sein Lehrer Jung waren von einer solchen Annahme genauso weit entfernt wie Freud. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass es der Menschheit im Verlauf ihrer Entwicklung gelungen ist, eine gewisse Kontrolle über das Unbewusste zu erlangen - und genau das wird hier beschrieben. 29 E. Neumann, Die Große Mutter, op. cit., S. 58f., S. 64 (Schema II). 30 Vgl. E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 461, Anm. 73. 31 Die Zauberin Kirke wird von Homer so genannt, vgl. z. B. Odyssee X 136. 32 HKA I/ 1, S. 601. Heinrich Pacher 92 und nun in veränderter Gestalt in Sagen und Märchen auftreten. 33 Die Fee und Zauberin in Eichendorffs Gedicht verfügt über eine Macht, die über die gewöhnlicher Menschen hinausgeht und die sie, wie die alten Göttinnen, zur „Herrin der Tiere“ 34 macht - nicht von ungefähr ist ein Vogel der Bote, der Florimund in den Wald lockt. Dass dieser wie die Fee selbst immer im Frühling in Erscheinung tritt - gleiches gilt für die numinose Frauengestalt in dem thematisch eng verwandten Gedicht Das Bildnis -, lässt sich ebenfalls mit der Großen Mutter als der für die Fruchtbarkeit der gesamten Natur zuständigen Gottheit in Verbindung bringen. 35 Das Begehren der Fee richtet sich wie das der Göttinnen der Mythen auf junge Männer, ihr verlangt es, so erklärt der Vater Florimund, „nach eines Knaben Minne“. 36 Über die Jünglingsgeliebten der Großen Mutter heißt es bei Neumann: Alle Geliebten der Muttergöttinnen haben gemeinsame Züge, sie sind Jünglinge, aber ihre Schönheit und Lieblichkeit ebenso wie ihr narzisstischer Charakter stehen im Vordergrund. Sie sind zarte Blüten und werden mythologisch als Anemone, Narzisse, Hyazinthe oder Veilchen symbolisiert, die unsere männlichpatriarchalisch betonte Mentalität eher mit jungen Mädchen verbinden würde. 37 Auch Florimund ist noch jung, und nicht nur das, beide Male, da im Gedicht sein Name genannt wird, wird durch das Epitheton „süß“ seine „Schönheit und Lieblichkeit“ hervorgehoben; darüber hinaus assoziiert dieser das Blumenhafte, das den Jünglingsgeliebten eigentümlich ist. Es liegt nahe, in dem Namen des Protagonisten des Gedichts eine Anspielung auf „Florens“ zu sehen, wie sich Eichendorff selbst zur Entstehungszeit des Gedichtes nannte 38 , was auf eine unbewusste Identifikation mit der Figur des Jünglingsgeliebten hinweist, die insgesamt ein Signum der europäischen Romantik ist. Ein weiteres Merkmal, das die Fee aus Eichendorffs Gedicht mit den Göttinnen der Mythen teilt, ist, dass sie einen Jüngling nach dem anderen in den Wald lockt, um ihnen dann den Tod zu bringen. Der Vater warnt Florimund: 33 So nimmt man von der Righena auf Zypern an, dass in ihr Aphrodite, die Große Göttin der Insel, fortlebt, vgl. J. Karageorghis, Kypris. The Aphrodite of Cyprus. Ancient sources and archaeological evidence, Nicosia 2005, S. 228f. 34 Vgl. E. Neumann, Die Große Mutter, op. cit., S. 255f. 35 Vgl. z. B. E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 55. 36 HKA I/ 2, S. 601. 37 E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 61. 38 So wurde Eichendorff von seinem Heidelberger Dichterfreund von Loeben getauft, vgl. G. Schiwy, Eichendorff. Eine Biographie, 2., durchgesehene Auflage München 2007, S. 226ff. Schiwy vermutet, dass Loeben den Namen dem von Tieck bearbeiteten Volksbuch vom Kaiser Octavianus entnommen habe (ibid., S. 226). Das spricht nicht gegen die hier vorgeschlagene Deutung, die auf den Subtext, d. h. eine unbewusste Bedeutung des Namens zielt. Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 93 Und so manchen wilden Knaben Lüstete in frechem Mute Nach der Feye schönem Leibe Und den Edelstein’ und Gute. Doch von allen Knaben, allen Mochte keiner Lieb’ erwerben, Mussten all’ in bittern Klagen In dem dunklen Walde sterben. 39 Als die Göttin Ischtar Gilgamesch, den Helden des babylonischen Epos, zu verführen sucht, zählt dieser zur Begründung, warum er sich lieber nicht mit ihr einlassen will, ihre früheren Liebhaber auf, denen sie allen Verderben gebracht hat 40 ; die Große Mutter kennt keine Objektkonstanz, am Ende lässt sie die von ihr verführten Männer fallen. Diese scheitern in den Mythen wie in Eichendorffs Gedicht an ihr, weil sie ein noch schwaches Ich repräsentieren, das der Übermacht des Unbewussten nicht gewachsen ist. Gilgamesch aber ist Neumann zufolge schon ein erster Bewusstseinsheld, dem es gelingt, der Lockung des Unbewussten, zu regredieren und in dieses zurückzufallen, zu widerstehen. 41 Sind in den Mythen wie in der Zauberin im Walde die von der Göttin angelockten Jünglingsknaben dem Untergang geweiht, so gibt es doch einen Unterschied, der nicht übersehen werden sollte; während es in den Mythen zumindest zu einer kurzzeitigen Liaison kommt, bevor die Liebhaber fallen gelassen werden, stoßen die „wilden Knaben“, die sich in Eichendorffs Gedicht um die Gunst der Zauberin bemühen, bei ihr von vornherein nicht auf Gegenliebe. Es kommt hier also etwas ins Spiel, das einerseits in den von der Göttin und ihrem Jünglingsgeliebten handelnden Mythen in dieser Form nicht vorhanden ist, das aber an ein wohl bekanntes Motiv aus Märchen - Dornröschen etwa oder dem altägyptischen Prinzenmärchen - erinnert, in denen eine Reihe von Prinzen sich bemühen, eine schwierige Aufgabe zu lösen, doch an ihr scheitern, bis endlich der eine Glückliche kommt, dem die Lösung der Aufgabe gelingt, wofür er die Prinzessin zur Frau erhält. Zweifellos handelt es sich bei dieser Prüfung um eine der Männlichkeit im Sinne eines ausreichend entwickelten, starken Ichs. In Die Zauberin im Walde kehrt dieses Motiv verkürzt wieder: hier bedarf es keiner besonderen Prüfungsaufgabe, sondern die bloße Begegnung mit der Fee scheint auszureichen, damit diese ihr Urteil fällen kann. Eine solche Modifikation ist jedoch nicht verwunderlich, sondern führt vor Augen, dass man sich die offenkundige Kontinuität der Motive über Jahrtausende nicht als starr und unveränderlich vorstellen darf. 39 HKA I/ 2, S. 601. 40 Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert von St. Maul, München 2005, S. 93 f. (Sechste Tafel), vgl. E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 73. 41 Ibid., S. 103. Heinrich Pacher 94 Vielmehr werden sie durch die Geschichte hindurch immer wieder verändert und mit anderen Motiven kombiniert; auf diese Weise bleiben sie lebendig. Sowohl die Vorwürfe, die Gilgamesch Ischtar macht, als auch die Warnungen von Florimunds Vater handeln davon, dass denjenigen, der sich von der Göttin Liebe erhofft, der sichere Untergang erwartet. Doch gehen in Die Zauberin im Walde die Befürchtungen nicht in die Irre? Offensichtlich scheint es in Eichendorffs Gedicht ein Happy End zu geben: Und das Waldhorn war verklungen Und die Zauberin verschwunden, Wollte keinen Andern haben Nach dem süßen Florimunde. 42 Aber kann man dem scheinbar glücklichen Ausgang wirklich trauen? Zwar scheint der süße Florimund die Liebe der Fee gefunden zu haben, aber insofern er für die Welt der Menschen „verloren“ ist, - um nochmals auf das Titelwort des Gedichts von der Meerfey zurückzugreifen - ist der Schluss ambivalent. 43 Und was soll denn heißen: „Nach dem süßen Florimunde“? Dieses „nach“ klingt unheilschwanger. Es legt die Schlussfolgerung nahe, dass die Fee zwar nie wieder einen Jüngling in den Wald locken wird, dass von einem dauerhaften Liebesglück zwischen ihr und Florimund aber trotzdem keine Rede sein kann; offenbar wird, nachdem sie von seiner männlichen Kraft Gebrauch gemacht hat, auch er fallen gelassen. Ein Happy End kann man das nun wirklich nicht nennen. Und dennoch scheint das Schicksal Florimunds ein anderes als das seiner Vorgänger zu sein, denn er konnte das Wohlgefallen der Fee wenigstens so weit finden, dass sie „keinen Andern“ mehr „haben“ will nach ihm; die Kette der „Knaben“ wird nicht fortgesetzt, und sie tritt nie wieder in Erscheinung, um aufs Neue einen Jüngling anzulocken. Insofern Florimund ihre Gunst erringen konnte und nicht das Schicksal der Vorgänger teilt, hat er trotz jener Attribute, die ihn in die Nähe der Jünglingsgeliebten der Göttin rücken, bereits etwas vom Helden, welcher der Göttin, ähnlich Gilgamesch gegenüber Ischtar und Odysseus gegenüber Kirke, standzuhalten vermag, nachdem ungezählte andere davor an ihr gescheitert sind, und repräsentiert daher in Neumanns entwicklungsgeschichtlichem Schema ein im Verhältnis zum Unbewussten erstarktes Ich-Bewusstsein. 44 42 HKA I/ 2, S. 604. 43 Vgl. auch den Kommentar in: J. v. Eichendorff, Sämtliche Gedichte - Versepen, Hrsg. H. Schultz, Frankfurt/ M. 2006, S. 858. 44 Allerdings stellen Odysseus und Gilgamesch insofern bereits wieder eine weiter fortgeschrittene Stufe dar, als Florimund doch „verloren“ geht, wenn auch auf eine weniger verhängnisvolle Weise als etwa der Wanderer in Waldesgespräch; demgegenüber vermag Gilgamesch erfolgreich der Göttin zu widerstehen, Odysseus ist gar zu einem Verhältnis zu ihr auf gleicher Augenhöhe fähig; auf diese Weise kann man die männlichen Protagonisten in Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 95 Warum aber tauchen solche Motive in der Romantik, am Übergang zum modernen Zeitalter, wieder auf? Sie reflektieren im Inhalt jene Dekonstruktion des Subjekts, die sich bei Eichendorff und bereits vor ihm, und radikaler, bei Hölderlin vollzieht und sich in der Sprachform von deren Lyrik niederschlägt. Beide, Eichendorff wie Hölderlin, dekonstruieren das Subjekt an der Schwelle zu jener Epoche, in der dieses in einem buchstäblich ungeheuerlichen Ausmaß Macht über sein Anderes erlangt. 45 Denkbar, dass bei beiden die Französische Revolution und deren terreur, in der sich bereits die Terror-Seite der Moderne abzeichnet, den entscheidenden Impuls abgegeben hat, wobei dieser Zusammenhang den Dichtern aber kaum bewusst gewesen sein dürfte. In Reaktion auf die Tendenzen der Epoche regredieren die Bilder, die in Eichendorffs Lyrik die sich auf der Ebene der Form vollziehende Dekonstruktion begleiten, zu archaischen Schichten der Subjekt-Entwicklung und transformieren diese zugleich. ) ! Neumann zufolge kann man auf jene Symbole, die sich den von ihm beschriebenen Stadien der Bewusstseinsentwicklung zuordnen lassen, noch im Unbewussten des modernen Menschen stoßen. Damit passt auch auf seine Theorie die Formel von der „Archäologie der Seele“, mit der man immer wieder die Freudsche Psychoanalyse charakterisiert hat. Die Analogie zwischen Archäologie und Psychoanalyse wurde bereits von Freud erkannt, der wiederholt auf aus der Archäologie entlehnte Metaphern zurückgegriffen hat, um von der Psychoanalyse beschriebene Sachverhalte zu erläutern. 46 Zur Verwandtschaft zwischen beiden trägt auch eine Annahme bei, in der Freud und Jung - Neumann war Schüler des letzteren - grundsätzlich übereingestimmt haben: dass sich anhand der tieferen Schichten der Psyche des Individuums Erkenntnisse über frühe Stufen der Menschheitsentwicklung gewinnen ließen. Während aber die Psychoanalyse im Rahmen von deren Erforschung stets auf einer Entwicklungsreihe anordnen, wie es Neumann bereits bei Schimschon, Ödipus und dem Sohn in Barlachs Toter Tag versucht hat (Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 166ff.). 45 Das widerspricht nicht der u. a. von Adorno diagnostizierten Schwächung der Einzelsubjekte, die ins Unabsehbare gesteigerte Naturbeherrschung geht vielmehr in der späten Moderne mit jener Schwächung der Subjekte eine unheilvolle Verschränkung ein. 46 Vgl. dazu N. Kapferer, „Vom ,ursprünglichen Zauber des Wortes‘. Ansätze einer Theorie des Sprachursprungs bei Sigmund Freud“, in: J. Gessinger, W. v. Rahden (Hrsg.), Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. II, Berlin-New York 1989, S. 388-431, hier S. 406; K. Ebeling, „Freud, die Archäologie, die Moderne. Die archäologische Methode als Antwort auf Nietzsches Repräsentationskritik“, in: Nietzscheforschung 7 (2000), S. 127-139, hier S. 132ff. Heinrich Pacher 96 Ergebnisse der Archäologie einschließlich deren Nachbardisziplinen zurückgegriffen hat, sind solche Anregungen von Seiten der Archäologie nur sehr vereinzelt aufgenommen worden. Um so bemerkenswerter ist es, dass mit Jacques Cauvin nicht nur ein Vertreter der Archäologie Bezug auf die Analogie zwischen dieser und der Psychoanalyse genommen hat, sondern sich von seinem Fach einen Beitrag zu einer „kollektiven Psychoanalyse“ erhofft hat, welche in ihrer in eine ferne Vergangenheit vorstoßenden Arbeit die Wurzeln jener Probleme erforscht, vor denen die Menschheit heute steht. 47 Bedauerlicherweise wurde dieser Gedanke in dem Buch Cauvins, in dessen Einleitung er formuliert wurde, nicht weiter ausgeführt. Er wäre aber unbedingt aufzugreifen von einer Kulturtheorie, die den Versuch unternimmt, die Genese jenes Subjekts zu rekonstruieren, das als naturbeherrschendes diese Probleme verursacht hat. Dialektik der Aufklärung und Ursprungsgeschichte des Bewusstseins lassen sich als Vorläufer einer Archäologie des Subjekts begreifen; ihre vor allem an der Mythologie - einschließlich ihrer literarischen Verarbeitung etwa bei Homer - und - im Falle Neumanns - der bildenden Kunst gewonnenen Einsichten wären unter Einbeziehung vor allem der Archäologie und verwandter Disziplinen zu erweitern. Eben dies wäre die Aufgabe einer Kulturwissenschaft, die mehr sein will als nur der Schauplatz wechselnder Moden und die ihre Zuständigkeit für die Probleme, vor denen die Menschheit im 21. Jahrhundert steht, erkannt hat. Das erfordert aber auch, die üblichen geschichtlichen Grenzen des Horizonts der Kulturwissenschaft, wie sie bislang in den neueren Literaturwissenschaften betrieben worden ist, sehr viel weiter in die Vergangenheit zurück zu verschieben. Die Globalisierung, die gerade auch eine der Probleme ist, erfordert einen globalen Blick auf die Geschichte. Die Dialektik der Aufklärung verfolgt die Geschichte des naturbeherrschenden, auf seine Selbsterhaltung fixierten Subjekts immerhin bis zu Homer zurück, also bis an die Grenze des Bildungshorizonts der bürgerlichen Kultur, der ihre Verfasser entstammten und deren Renegaten sie waren. Demgegenüber ist die Absenz der Geschichte bei Derrida strukturalistisches Erbe der Dekonstruktion - als ob deren Ideal der mikrologischen Versenkung in den Text die Ausblendung der Zeitachse erfordern würde. Subjekttheorie ohne geschichtliche Dimension reicht aber nicht aus und genügt den Aufgaben, die sich ihr in der Gegenwart stellen, nicht. Denn hier muss mit ins Spiel kommen, wie weit es dieses Subjekt, das stets darauf aus ist, sein Anderes zu unterwerfen, inzwischen gebracht hat, und welches Ausmaß die Folgen seines Tuns mittlerweile angenommen haben. Eine solche Archäologie des Subjekts müsste einem Dialog zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen in genau jenem Sinne, wie ihn Peter V. Zima 47 J. Cauvin, Naissance des divinités - Naissance de l’agriculture. La Révolution des symboles au Néolithique, Nouvelle édition, Paris 1997, S. 16. Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 97 in seinen Arbeiten konzipiert hat, Raum geben; dieser erfordert von seinen Teilnehmern Offenheit, d. h. eine Bereitschaft, die Denkweise des anderen wenigstens probeweise nachzuvollziehen - gerade auch, wenn sie vielleicht fremd erscheint oder gar befremdet, unter Beibehaltung einer kritischen Haltung, deren Aufgabe das Abdriften in Beliebigkeit bedeuten würde. Ein wenig mehr Offenheit wäre wünschenswert in Hinblick auf die in der Archäologie herrschende Skepsis gegenüber auf „starke“ Theorien - sei es, wie bei Neumann, tiefenpsychologische, sei es, wie bei Horkheimer und Adorno, geschichtsphilosophische - bezogene Interpretationen. Umgekehrt müssen solche Interpretationen stets offen sein für die Einwände der Archäologie oder der Altphilologie und bereit sein, sich von diesen korrigieren zu lassen; deren „Positivismus“ muss stets auch als eine Chance begriffen werden, sich selbst zu überprüfen, und damit als Gegenwicht zum eigenen Mut zur theoretischen Konstruktion. Einen entsprechenden Korrekturbedarf kann man beispielsweise bei Neumanns Ursprungsgeschichte des Bewusstseins erkennen; er betrifft deren introvertierte Tendenz, die insgesamt ein Merkmal von Jungs Ansatz ist; sie zeigt sich u. a. darin, dass in ihr zwar immer wieder deutlich wird, dass sich in der Entwicklung des Bewusstseins sowohl dessen Verhältnis zum Unbewussten als auch das zur Welt draußen (und das muss in Hinblick auf die Phylogenese heißen: zur äußeren Natur) 48 wandelt, in der Darstellung der Akzent aber deutlich auf das Verhältnis des Ichs zum Unbewussten liegt, während das zur äußeren Welt vernachlässigt wird. 49 Im Rahmen einer Kulturtheorie, wie sie an der Zeit wäre, müsste Neumanns Ansatz erweitert und der Einsicht Rechnung getragen werden, dass die Entwicklung des Bewusstseins mit der Entwicklung der konkreten Fertigkeiten, die es dem Subjekt ermöglichen, die Natur zu beherrschen, einhergeht. Der Erhellung der Beziehungen zwischen den Symbolen, deren Interpretation bei Neumann im Zentrum steht, und der Entwicklung der Techniken der Naturbeherrschung käme eine besondere Bedeutung zu, und nicht zuletzt hier wäre der Rückgriff auf Ergebnisse der Archäologie von großer Bedeutung. * D ? $ 1 Die mangelnde Bereitschaft, auf eine Umweltkatastrophe, die längst nicht mehr bloß Gegenstand abstrakter Prognosen ist, sondern inzwischen überall 48 Z. B. E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 51. 49 Das Verhältnis von Ich und äußerer Natur dürfte auch eine bedeutende Rolle als Impulsgeber der Entwicklung spielen, während Neumann annimmt, dass diese „spontan“ abläuft, etwa in der Art, wie der Wachstumsprozess in Kindheit und Jugend des Individuums nach einem biogenetisch festgelegten Programm abläuft; demgegenüber besteht kein Zweifel, dass hier äußere Einflüsse wie z. B. solche der Umwelt eine wichtige Rolle spielen. Heinrich Pacher 98 für die Bewohner des Planeten spürbar ist, und auf eine Finanz- und Wirtschaftskrise, welche die bestehende Weltwirtschaftsordnung an den Rand des Abgrunds gebracht hat, angemessen zu reagieren, zeigt, wie wenig das naturbeherrschende Subjekt von seiner bisher geübten Praxis ablassen kann; an diese klammert es sich wie ein Junkie, der nicht auf seinen Stoff verzichten kann. Warum ist das so? Um diese Frage beantworten zu können, wird man weit, sehr weit in die Vergangenheit der Menschheit zurückgehen müssen. Dabei ist es entgegen der Auffassung Cauvins, der die Wurzel der Gegenwartsprobleme in der Neolithischen Revolution verortet hat 50 , unwahrscheinlich, dass sich hier ein einzelner Anfangspunkt isolieren ließe. „Alle Anfänge erweisen sich bei näherer Untersuchung nur als ‚Kulissen‘, hinter denen sich weitere Vorläufer und Anfänge auftun.“ 51 Diese Feststellung Jan Assmanns gilt auch für diesen Bereich. Wenn im Folgenden also auf das alte Ägypten Bezug genommen wird, dann gewiss nicht, weil in seiner Zivilisation ein solcher Anfangspunkt der Genese des naturbeherrschenden Subjekts zu sehen wäre; zweifellos aber stellt sie eine bedeutende Station derselben dar. Als Gegenstand einer exemplarischen Analyse bietet sich Ägypten nicht zuletzt deshalb an, weil zu Beginn von dessen dynastischer Epoche - und bereits während der prädynastischen - die Entwicklung der Naturbeherrschung, hier im weitesten Sinne verstanden als ein Handhaben von Dingen, als „Knowhow“, das auch das des Organisierens von Gesellschaft und von Arbeitsprozessen umfasst, einen ungeheuren Schub erlebt. Während Sumer, wo bereits etwas früher eine weitere frühe Hochkultur entstanden ist, bis weit in die zweite Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. durch ein Nebeneinander von Stadtstaaten geprägt ist, entsteht am Nil um 3000 v. Chr. der erste Territorialstaat der Menschheitsgeschichte. 52 Die Herrschaft über ein so großes Gebiet, wie es Ägypten nach der Reichseinigung war, erforderte neue soziale Techniken, die erst noch entwickelt werden mussten. Dies geschah in Gestalt des Aufbaus einer staatlichen Organisation, die wiederum Voraussetzung beispielsweise für den Bau der Pyramiden war, mit dem sich Ägypten als Meilenstein auf dem Weg fortschreitender Naturbeherrschung in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben hat. Zu Beginn des dynastischen Zeitalters gibt es noch keinen Staat im eigentlichen Sinne; der König lässt sich noch nicht durch Beamte dauerhaft vor Ort vertreten, sondern reist alle zwei Jahre mit dem Schiff durchs Land, treibt Steuern ein und spricht Recht. 53 Dass eine 50 J. Cauvin, Naissance des divinités, op. cit., S. 13ff. 51 J. Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München-Wien 1996, S. 41. 52 Zum Vergleich der unterschiedlichen Formen von Staatsbildungsprozessen (Stadtstaatenverbund vs. Territorialstaat) in Mesopotamien und Ägypten sowie der ihnen jeweils entsprechenden kulturellen Semantiken vgl. ibid., S. 50f. 53 W. Helck, Geschichte des alten Ägypten, Leiden-Köln 1968, S. 28; ders., Wirtschaftsgeschichte des alten Ägypten im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr., Leiden-Köln 1975, S. 22f.; J. Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 99 solche Form der Herrschaft nicht nur wenig effizient, sondern aufgrund des mit ihr verbundenen Mangels an Kontrolle unsicher ist, liegt auf der Hand. Vorübergehende Phasen der Instabilität während der ersten beiden Dynastien 54 könnten wesentlich dazu beigetragen haben, dass mit der Zeit Maßnahmen ergriffen wurden, mit denen eine straffe Durchorganisation 55 des ganzen Landes bewerkstelligt werden sollte. Das Ziel war, das durchzusetzen, woran es zuvor gefehlt hatte: Kontrolle. Dabei bedeutet „Durchorganisation“, dass nach und nach alles Einzelne verändert, angepasst, aufeinander abgestimmt werden muss, damit sich ein Ganzes - der Staat - ergibt. Was hier geschieht, lässt sich mit Schlüsselbegriffen Adornos beschreiben: Es geht darum, das bislang Unkontrollierte, „Unerfasste“ unter Kontrolle zu bringen und die geschichtlich gewachsene Vielfalt auf ein einheitliches Maß zu nivellieren; das Resultat ist Einheit, „System“. Am Beispiel des alten Ägypten lässt sich geschichtlich verfolgen, wie es zur Etablierung von Formen der Herrschaft und zur gesamtem Problematik von Differenz und Vereinheitlichung (hier bezogen auf die gesellschaftliche Praxis) kommt, die im Zentrum des Denkens Adornos wie dem der französischen Postmoderne steht und die sich, wie man hier sieht, bis in die frühen Epochen des pharaonischen Ägypten zurückverfolgen lässt. Den geheimen Impuls, der das Projekt einer Durchorganisation des Landes antreibt, verrät die Kunst. Bereits Jahrhunderte vor dem Bau der Pyramiden, an der Schwelle zum dynastischen Zeitalter, zeigt die Schminkpalette des Königs Narmer (Übergang zur 1. Dynastie, um 3100 v. Chr., vgl. Abb.) ein Motiv, dem man in sämtlichen Epochen der Geschichte des alten Ägypten wiederbegegnen wird: das „Erschlagen der Feinde“. 56 Dabei wird der König Assmann, Ägypten, op. cit., S. 60; Funde aus jüngerer Zeit zeigen, dass entgegen der Darstellung Helcks die Anfänge der ägyptischen Bürokratie weiter zurück in die Vergangenheit zu verlegen sind, vgl. B. An elkovi , „Parameters of Statehood in Predynastic Egypt“, in: B. Midant-Reynes, Y. Tristant (Hrsg.), Egypt at its Origins 2, Löwen-Paris-Dudley/ MA 2008, S. 1039-1056, hier S. 1048. Das legt die Annahme einer Übergangszeit nahe, während der die Königsreise noch parallel zum entstehenden Beamtenstaat, der diese noch nicht überflüssig machen konnte, stattgefunden haben muss. 54 W. Helck, Geschichte des alten Ägypten, op. cit., S. 31. 55 Ibid., S. 48, 84ff.; ders., Wirtschaftsgeschichte des alten Ägypten, op. cit., S. 32ff.; zu diesem Prozess und seinen einzelnen Bestandteilen vgl. auch J. Assmann, Ägypten, op. cit., S. 60ff.; T. A. H. Wilkinson, Early Dynastic Egypt, London-New York 1999, insb. S. 109ff.; J. C. Moreno García, Egipto en el Imperio Antiguo (2650-2150 antes de Cristo), Barcelona 2004, insb. S. 95ff.; ders., „The state and the organisation of the rural landscape in 3 rd millennium BC pharaonic Egypt“, in: M. Bollig, O. Bubenzer, R. Vogelsang, H.-P. Wotzka (Hrsg.), Aridity, Change and Conflict in Africa, Köln 2007, S. 313-330. 56 D. Wildung, „Erschlagen der Feinde“, in: W. Helck, W. Westendorf (Hrsg.), Lexikon der Ägyptologie, Bd. II, Wiesbaden 1977, Sp. 14-17; S. Schoske, Das Erschlagen der Feinde. Ikonographie und Stilistik der Feindvernichtung im alten Ägypten, Diss. Univ. Heidelberg 1982, 2 Bde. Heinrich Pacher 100 dargestellt, wie er im Begriff ist, mit einem Streitkolben den Angehörigen eines gegnerischen Volkes niederzustrecken. Nicht so sehr reale Kampfhandlungen werden in solchen Szenen dargestellt, sondern ein ewiges Geschehen: In dem dargestellten Feind werden die Mächte des Chaos personifiziert, die der König immer wieder zu unterwerfen hat, um die ma’at, die richtige Weltordnung, wieder in Kraft zu setzen. 57 Diese Symbolik findet sich auch in Darstellungen, die den König bei der Jagd zeigen; hier wird der Triumph über das Chaos als Erlegung wilder Tiere dargestellt. 58 Auf die göttliche Ebene transponiert, welcher der König als Inkarnation des Gottes Horus freilich selbst bereits angehört, wird dieses Thema im Kampf des Sonnengottes Re gegen die Apophisschlange auf seiner allnächtlichen Fahrt durch die Unterwelt. 59 Der Sieg über den Dämon der Finsternis stellt die ma’at wieder her 60 , die Barke des Re kann ihren Weg fortsetzen und die Sonne am nächsten Morgen wieder aufgehen. Der Kampf des Re gegen Apophis zeigt bereits alle Merkmale des Drachenkampfes, der von Erich Neumann als mythisches Paradigma begriffen wird, das für die Machtergreifung des Bewusstseins über das Unbewusste steht. 61 Der Sonnengott spielt hier die Rolle des Helden, der auch bei anderen Völkern und in späteren Zeiten häufig mit Licht - Symbol des Bewusstseins - assoziiert wird 62 , während der Drache für das Unbewusste, und, erweitert man Neumanns Konzept über seine psychologische Verengung hinaus, für die vom Menschen (noch) nicht beherrschte chaotische Natur - die innere des Unbewussten wie die äußere - steht; damit entspricht diese Symbolik Neumanns Stadium des Heldenkampfes, also des Siegs über das Unbewusste. Natürlich sind diese Bedeutungen den Ägyptern nicht in dieser Weise durchschaubar gewesen; erst in der geschichtlichen Distanz und vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens werden die altägyptischen Darstellungen, die den Sieg über das Chaos und die (Wieder-)Herstellung der Weltordnung variieren, als Leitsymbolik, in der sich die Tendenzen der Epoche zeigen, lesbar: die Unterwerfung der Natur, des Unbewussten, des „Anderen“ durch das naturbeherrschende Subjekt. Diese Symbolik, die nach einer Anlaufszeit 57 Zu diesem Begriff ausführlich vgl. J. Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990. 58 Aus der Fülle der Darstellungen seien hier, neben der berühmten Jagdtruhe Tutanchamuns, lediglich die Reliefs aus dem Pyramidenkomplex des Sahure hervorgehoben, vgl. D. Wildung, „Die Berliner Reliefs aus der Pyramidenanlage des Sahure“, in: V. Brinkmann (Hrsg.), Sahure. Tod und Leben eines großen Pharao, Frankfurt/ M.-München 2010, S. 183- 195; O. Zorn, D. Bisping-Isermann, „Weltordnung. Die Reliefs des Königs Sahure im Neuen Museum“, in: Sokar 20, 2010, S. 45-59. 59 Vgl. die Abbildungen in E. Hornung, Der Eine und die Vielen. Altägyptische Götterwelt, 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Darmstadt 2005, S. 169 (Abb. 25, 26). 60 Vgl. J. Assmann, Ma’at, op. cit., S. 180ff. 61 E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 159ff. 62 Vgl. C. G. Jung, Symbole der Wandlung, Olten-Freiburg/ Brsg. 1985. Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 101 bereits in der prädynastischen Zeit im Übergang zur dynastischen Epoche ins Zentrum rückt, formuliert das Programm für das, was in Ägypten für die nächsten Jahrhunderte auf der Agenda steht. Das Projekt der Durchorganisation des Landes hatte kein anderes Ziel, als das Chaos, als das dem Willen zur Macht alles erscheint, was ihm noch nicht ganz gefügig ist, unter Kontrolle zu bringen und, in einem realpolitischen Sinne, die ma’at durchzusetzen. Stellt man die Frage, ob sich analog zu dem von Neumann postulierten Stadium der Großen Mutter für Ägypten eine den Darstellungen des Sieges über das Chaos vorausgehende Leitsymbolik nachweisen lässt, begibt man sich auf ein heikles Gebiet. Auf der einen Seite gibt es für die These der Dominanz einer Muttergottheit eine Reihe von Bestätigungen aus der Ägyptologie. Wolfhart Westendorf hat in einer Reihe von Publikationen 63 unter Rekurs vor allem auf Darstellungen aus der dynastischen Epoche die Dominanz einer Muttergottheit in prädynastischer Zeit postuliert. Hierin könnte man durchaus eine Bestätigung der Abfolge der mythologischen Stadien, von der die Ursprungsgeschichte des Bewusstseins ausgeht, sehen. Überhaupt war lange Zeit in Archäologie und Altphilologie die Annahme einer vorgeschichtlichen Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin verbreitet, von der, so meinte man, unter anderem weibliche Figurinen aus vorgeschichtlicher Zeit zeugten, wie sie auch aus dem prädynastischen Ägypten bekannt sind. Diese Auffassung wurde Ende der 60er Jahre durch eine umfangreiche Studie von Peter Ucko 64 schwer erschüttert, in der die Ansicht vertreten wurde, dass es für diese Interpretation keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage gäbe. Uckos Angriff auf die Annahme einer vorgeschichtlichen Muttergottheit hat ihre Wirkung nicht verfehlt, ihre Befürworter befinden sich in den zuständigen Fächern heute in der Minderzahl 65 , während sich außerhalb gewisse Strömungen des Feminis- 63 An erster Stelle ist zu nennen: W. Westendorf, Altägyptische Darstellungen des Sonnenlaufs auf der abschüssigen Himmelsbahn, Berlin 1966; vgl. auch ders., „Mafdet“, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 118 (1968), S. 248-256; ders., „Die geteilte Himmelsgöttin“, in: I. Gamer-Wallert, W. Helck (Hrsg.), Gegengabe. Festschrift für Emma Brunner-Traut, Tübingen 1992, S. 341-357 und weitere Arbeiten; vgl. außerdem J. Assmann, „Muttergottheit“, in: W. Helck, E. Otto (Hrsg.), Lexikon der Ägyptologie, Bd. IV, Wiesbaden 1982, Sp. 266-271, hier Sp. 269 u. Sp. 271 Anm. 39. Auch Helck hat sich mit der Muttergottheit beschäftigt, vgl. W. Helck, Betrachtungen zur Großen Göttin und den ihr verbundenen Gottheiten, München-Wien 1971. 64 P. Ucko, Anthropomorphic Figurines of Predynastic Egypt and Neolithic Crete with Comparative Material from the Prehistoric Near East and Mainland Greece, London 1968. 65 Uckos „strident attack on Mother Goddess theories has left an undelible mark, anyone wishing to be regarded as a serious scholar finding it now almost impossible to mention them other than critically“, so beschrieb Mitte der 90er Jahre eine Prähistorikerin im Rückblick die Wirkung von Uckos Arbeit (N. Hamilton, „The Personal is Political“, in: Cambridge Archaeological Journal 6.2 [1996], S. 282-285, hier S. 283). Zur Frage der prädynastischen Figurinen und Uckos Kritik an der Interpretation derselben als Darstellungen Heinrich Pacher 102 mus ihrer angenommen haben 66 , ohne dass die dort vertretenen Positionen aber wissenschaftliche Anerkennung fänden. Zwar gibt es auch in jüngster Zeit noch Forscher, die weiterhin von einer vorgeschichtlichen Fruchtbarkeits- und Muttergottheit in Ägypten und anderswo ausgehen 67 , und auch die Figurinen der ägyptischen Prädynastik werden zuweilen noch mit aus historischer Zeit bekannten Göttinen - Bat und Hathor - in Zusammenhang gebracht; Fekri A. Hassan geht sogar so weit, unter Hinweis auf die Figurinen von einer Dominanz einer weiblichen Gottheit auszugehen. 68 Diese Positionen bleiben jedoch problematisch, so lange Uckos Kritik keine überzeugenden Gegenargumente entgegengesetzt werden. Dies ist sehr wohl möglich. Denn entgegen der Suggestion einer betont „harten“ Methodologie, die Ucko der älteren Forschung entgegensetzt, ist seine Arbeit in wichtigen Punkten methodologisch alles andere als solide. Um hier den vielleicht wichtigsten zu nennen: Ucko isoliert die prädynastischen Figurinen von anderen Objektgruppen, die eine Ikonographie aufweisen, die mit jenen verwandt ist und damit wichtige Anhaltspunkte für die Deutung geben können; so entgehen ihm wichtige Hinweise. Bei dem bekanntesten Typus prädynastischer Frauenfigurinen handelt es sich um Darstellungen von Frauen mit erhobenen Armen. Diese haben ihre Entsprechung in Frauenfiguren auf dekorierten Gefäßen (sog. „D-ware“) aus der Naqada II-Phase - derjenigen, auf die auch jene Figurinen datiert werden 69 -, von denen viele in der gleichen Haltung dargestellt sind und die Form von Rinderhörnern nachzuahmen scheinen; meist befinden sich die Figuren auf einem Schiff, manchmal in Begleitung von einer oder zwei kleineren, offenbar männlichen Figuren. Über eine Kette weiterer Objekte, zu denen die so genannte Gerzehpalette zählt 70 und die bis zur Narmerpalette 71 von Gottheiten vgl. auch E. Hornung, Der Eine und die Vielen. Altägyptische Götterwelt, 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2005, S. 103f. 66 Vgl. z. B. H. Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythos, Märchen und Dichtung, München 1980. 67 F. A. Hassan, „Primeval Goddess to Divine King. The Mythogenesis of Power in the Early Egyptian State“, in: R. Friedman, B. Adams (Hrsg.), The Followers of Horus. Studies dedicated to Michael Allen Hoffmann 1944-1990, Oxford 1992, S. 307-322; J. Cauvin, Naissance des divinités - Naissance de l’agriculture, op. cit., S. 43ff.; Y. Garfinkel, The Goddess of Sha’ar Hagolan. Excavations at a Neolithic Site in Israel, Jerusalem 2004, sowie die vor allem in bestimmten Spielarten des Feminismus populären, von der Fachwelt aber weitgehend abgelehnten Arbeiten von M. Gimbutas. 68 F. A. Hassan, „Primeval Goddess to Divine King“, op. cit., passim. 69 J. C. Crowfoot Payne, Catalogue of the Predynastic Egyptian Collection in the Ashmolean Museum, Oxford 1993, S. 17ff. 70 Abbildungen der Gerzeh-Palette und von Vergleichsobjekten (Siegelabdruck aus Abydos, Gefäß mit Gesicht von Hathor oder Bat) finden sich auf der hervorragenden Website von Francesco Raffaele zum prä- und frühdynastischen Ägypten (http: / / xoomer.virgilio.it / francescoraf/ hesyra/ palettes/ gerzeh.htm, Abruf 18. 9. 2010). Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 103 reicht, lässt sich die Annahme erhärten, dass sich die Darstellungen tatsächlich auf die Himmelsgöttin Bat (alternativ: Hathor) beziehen; angesichts von Details der Dekoration auf der „D-Ware“ aus Naqada II sowie des häufigen Auftretens der Darstellungen dieser Göttin 72 muss man davon ausgehen, dass es sich in prädynastischer Zeit um eine bedeutende, wenn nicht sogar zentrale Gottheit gehandelt haben muss 73 ; dies spricht für die hier in Anknüpfung an Neumann skizzierte Abfolge der Leitsymbole. Da das Bedürfnis nach bildlicher Darstellung im vorgeschichtlichen Ägypten erst mit der sich im Laufe des 4. Jahrtausends v. Chr. vollziehenden Bewusstseinsrevolution aufkommt, können wir die Symbolik, die der nun hervortretenden vorausgegangen ist, gerade noch in der Phase ihres allmählichen Verschwindens erhaschen, oder aber wir müssen sie aus der transformierten Gestalt, in der sie in geschichtlicher Zeit überlebt, rekonstruieren. + % 1- Im Ägyptischen Museum in Berlin wird ein Papyrus aufbewahrt, der in die Zeit der frühen 12. Dynastie (um 1900 v. Chr) datiert wird und auf dem sich nicht nur das berühmte Gespräch des Lebensmüden mit seiner Seele, sondern eine nicht mehr als 25 Zeilen umfassende Erzählung befindet, die in der Ägyptologie als Die Hirtengeschichte bekannt ist. 74 Die ersten und die letzten vier Kolumnen des Textes sind ausgewischt, Anfang und Ende der Erzählung sind also nicht erhalten. 75 Ein Hirte berichtet von einem Erlebnis, das er hatte, als er mit seinen Kameraden Vieh hütete: „Seht, als ich hinabstieg zu dem 71 Die Menschengesichter mit Rinderhörnern und Rinderohren, die jeweils auf Vorder- und Rückseite der Narmerpalette links und rechts oben zu sehen sind und in kleinerem Maßstab auf der Kleidung des den Feind niederschlagenden Königs auf der Rückseite erscheinen (vgl. Abb.), werden als Bat bzw. Hathor gedeutet; Hornung (Der Eine und die Vielen, op. cit., S. 104f.) gibt Bat den Vorzug. 72 Vgl. Funde aus jüngerer Zeit in Nechen (Hierakonpolis), vgl. St. Hendrickx, R. Friedman, „Chaos and Order: A Predynastic ‚Ostracon‘ from HK29A“, in: Nekhen News 15 (2003), S. 8-9; St. Hendrickx, „The Earliest Example of Pharaonic Iconography“, in: Nekhen News 17 (2005), S. 14-15. 73 Da eine ausführlichere Darstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, muss ich mich hier auf diese knappen Andeutungen beschränken; eine eingehende Erörterung soll an anderer Stelle folgen. 74 Die Titel der Texte sind in beiden Fällen modern, d. h. solche, welche die philologischen Bearbeiter ihnen gegeben haben, vgl. dazu für die Hirtengeschichte L. D. Morenz, Beiträge zur Schriftlichkeitskultur im Mittleren Reich und in der 2. Zwischenzeit, Wiesbaden 1996, S. 124. Einen aktuellen Überblick über die Forschung zur Hirtengeschichte geben G. Burkard, H. J. Thissen, Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte I: Altes und Mittleres Reich, Berlin (2. Aufl.) 2007, S. 160ff. 75 Ibid. Heinrich Pacher 104 Sumpf, der an diese Weide grenzt, sah ich dort eine Frau, deren Leib nicht von Menschenart war.“ 76 Bei dieser geheimnisvollen Frau scheint es sich um ein übermenschliches Wesen zu handeln; an einer späteren Stelle des Textes wird sie ausdrücklich als „Göttin“ 77 bezeichnet. In den Worten des Hirten: „Mein Haar sträubte sich, als ich ihre Locken sah und weil ihre Haut glatt (epiliert? ) war. Niemals werde ich tun, was sie gesagt hat. Ihre Ausstrahlung sitzt tief in mir.“ 78 Dezent wird verschwiegen, „was sie gesagt hat“, doch ist nicht schwer zu erraten, dass es sich um eine Situation erotischer Verführung handelt. Den jungen Hirten ergreift Panik, und er ruft seine Kameraden zum baldigen Aufbruch. Darauf folgt im Text der Erzählung ein Zauberspruch, der Hilfe gegen die Gefahren des Wassers, das die Hirten durchqueren müssen, bringen soll. Die Hirten folgen seinem Rat und rüsten sich zum Aufbruch, doch zuvor müssen sie noch eine Nacht in der Nähe des Wassers verbringen. „Als dann die Erde hell wurde am frühen Morgen - man tat so, wie er gesagt hatte -, da begegnete ihm diese Göttin wieder, als er sich dem See zuwandte.“ 79 Und nun geht sie in ihre n Verführungskünsten einen Schritt weiter: „Sie zog ihre Kleider aus und verwirrte ihr Haar.“ 80 Hier bricht der Text ab. Die Parallelen zu den um die Göttin und ihren Jünglingsgeliebten kreisenden Mythen einerseits 81 und zu den in der vorliegenden Arbeit erörterten Ge- 76 Altägyptische Märchen. Mythen und andere volkstümliche Erzählungen. Eingeleitet, übersetzt u. erläutert v. E. Brunner-Traut. 8., verbesserte u. erweiterte Aufl., München 1989, S. 42. Auch bei den weiteren Zitaten aus der Hirtengeschichte wird im Folgenden die Übersetzung von Brunner-Traut wiedergegeben, bei wichtigen Abweichungen darüber hinaus auf die Übersetzung von Morenz (Beiträge zur Schriftlichkeitskultur, op. cit., S. 125f.) verwiesen. Der Verfasser der vorliegenden Arbeit ist kein Ägyptologe und muss sich von daher jeglichen Urteils über die unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten enthalten. Unsicherheiten in der Übersetzung bestehen bereits bei der eben zitierten Stelle; während Brunner-Traut „nicht von Menschenart“ übersetzt, gibt Morenz der Übersetzung: „nicht nach den Wünschen der Menschen“ (ibid., S. 125) den Vorzug, schließt aber die Möglichkeit, für die sich Brunner-Traut entschieden hat, nicht aus (S. 126). Dass später im Text ausdrücklich von einer „Göttin“ die Rede ist, steht auch für ihn außer Frage (ibid.). 77 Altägyptische Märchen, op. cit., S. 42. 78 Ibid. Morenz übersetzt „Schmuckbänder“ statt „Locken“ (ders., Beiträge zur Schriftlichkeitskultur, op. cit., S. 125, vgl. die Erläuterung im Kommentar S. 126 mit unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten). 79 Altägyptische Märchen, op. cit., S. 42. 80 Ibid. 81 Dieser Bezug ist der Ägyptologie nicht entgangen, vgl. V. Vikentiev, L’énigme d’un papyrus, Kairo 1940, der von einem Einfluss des Gilgamesch-Epos ausgeht; vgl. zu dieser Frage auch Morenz, Beiträge zur Schriftlichkeitskultur, op. cit., S. 134: „Allerdings soll hier weder ein gemeinorientalischer Typ der ,Hirtengeschichte‘ noch Adaption einer mesopotamischen Geschichte behauptet werden; und zwar weniger, weil dies unmöglich wäre, sondern es nicht überprüfbar ist. Allerdings erscheint der gemeinorientalische Geisteshintergrund deutlich.“ Überhaupt ist mit der Unterstellung von Einflüssen wenig geklärt; selbst dort, wo sich eine fremde Herkunft von Motiven und Stoffen beweisen lässt, wäre immer noch die Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 105 dichten Eichendorffs andererseits sind auffallend. Auch in der Hirtengeschichte haben wir es wieder mit einer Situation der „Lockung“ zu tun, und die unheimliche Frau, der zu begegnen den Hirten so sehr erschüttert, ist den die jungen Männer verführenden und dann ins Unheil stürzenden Göttinnen der Mythen wie Eichendorffs numinosen Frauengestalten verwandt. Aufgrund des fehlenden Schlusses lässt sich nichts darüber sagen, ob auch dem Hirten der ägyptischen Erzählung Unheil widerfährt; es reicht aus, dass er solches befürchtet. Die Korrespondenzen zur Meerfey gehen bis ins Detail: Die Göttin der Hirtengeschichte ist nicht nur, wie jene, mit dem Wasser assoziiert, dessen Gefahren zu bannen ja die Aufgabe des rezitierten Wasserzaubers ist 82 ; darüber hinaus wurde sie in der Ägyptologie ausdrücklich als „Wassernixe“ 83 charakterisiert und damit in eine Nähe zu Eichendorffs Meerfey gestellt. Eine weitere Parallele kann man darin erblicken, dass das Haar der Göttin, für die Ägypter ein wesentlicher Aspekt weiblicher Schönheit, hervorgehoben wird - und dies, je nach Übersetzung, möglicherweise nicht nur an einer, sondern an gleich zwei Stellen 84 -, in Parallele zur Meerfey, die, indem sie sich kämmt, ihr Haar auf verführerische Weise betont. Nur auf den Gesang scheint sich die ägyptische Schwester der lockenden Göttinnen noch nicht zu verstehen. Unschwer lässt sich Neumanns Deutung der Mythen, die von der Göttin und ihrem Jünglingsgeliebten handeln, auf die Hirtengeschichte übertragen. Bemerkenswert ist, dass die Göttin der Hirtengeschichte in der neueren Forschung in die Nähe der kuhgestaltigen Hathor und mit dieser verwandter, weniger bekannter weiblicher Gottheiten gerückt worden ist. 85 Hathor aber zählt, wie bereits erwähnt, zu den Göttinnen, mit denen die weibliche Figur identifiziert werden kann, die man so häufig auf prä- und frühdynastischen Darstellungen erblickt. Sollten jene Annahmen zur Göttin der Hirtengeschichte zutreffen, würde sich der Kreis schließen, und es würde deutlich, dass die Göttin der Hirtengeschichte nicht erst als Import aus dem Vorderen Orient zur Repräsentantin der Großen Mutter wird, sondern sich auf deren dominierende viel wichtigere Frage zu beantworten, warum sie zum Zeitpunkt des Entstehens der Erzählung dort, wo sie rezipiert werden, überhaupt auf fruchtbaren Boden fallen. In diese Richtung hat sich auch Neumann wiederholt geäußert (vgl. Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 270f.; Die Große Mutter, op. cit., S. 119, Anm. 41). 82 Vgl. dazu L. D. Morenz, Beiträge zur Schriftlichkeitskultur, op. cit., S. 128f. 83 H. Brunner, Grundzüge einer Geschichte der altägyptischen Literatur, Darmstadt (4. Auflage) 1986, S. 36, zit. in L. D. Morenz, Beiträge zur Schriftlichkeitskultur, op. cit., S. 132. Morenz verweist außerdem auf eine Arbeit von L. Kakosy, in der sie als „eine Art Wasser- Fee“ charakterisiert wird (ibid.). 84 Während die Übersetzung der ersten Stelle unsicher ist (vgl. Anm. 78), herrscht bei der zweiten Stelle Übereinstimmung, vgl. L. D. Morenz, Beiträge zur Schriftlichkeitskultur, op. cit., S. 126. Das Haar ist in der altägyptischen Literatur generell ein Topos für weibliche Schönheit, vgl. Altägyptische Märchen, op. cit., S. 285, Anm. 4. 85 L. D. Morenz, Beiträge zur Schriftlichkeitskultur, op. cit., S. 132ff. Heinrich Pacher 106 Erscheinungsform in Ägypten vor der Revolution der Symbole um 3000 v. Chr. zurückführen lässt. Von entscheidender Bedeutung wäre die Frage, welche Stufe der Ich- Entwicklung der Hirte repräsentiert; allerdings sind hier ohne Kenntnis des fehlenden Schlusses lediglich Mutmaßungen möglich. Falls dieser davon gehandelt hat, dass die fortgesetzten Verführungsversuche der Göttin am Ende zum Erfolg geführt haben und sie den Hirten ins Verderben ziehen konnte, wäre er dem Typus der „Widerstrebenden“ zuzuordnen. Die Repräsentanten dieses von Neumann beschriebenen Untertypus des Jünglingsgeliebten, für den etwa Attis, Narkissos und Hippolytos stehen, versuchen sich bereits der Übermacht des Unbewussten, welches das Ich zur Selbstauflösung lockt - in der Symbolsprache der Mythen: der Werbung durch die Große Mutter - zu entziehen, scheitern jedoch dabei und werden von dieser vernichtet. 86 Sollte der Hirte aber standhaft geblieben sein, gliche er Gilgamesch, dem es gelingt, sich erfolgreich der Werbung durch Ischtar zu entziehen und damit von der Großen Mutter zu emanzipieren; wie dieser wäre er ein Bewusstseinsheld, welcher der Übermacht von Unbewusstem und äußerer Natur entwachsen ist und nun über beide zu herrschen vermag. Dies entspricht dem Stand der Bewusstseinsentwicklung in Ägypten zur Zeit des Eintritts ins dynastische Zeitalter. Spätestens mit dem Abschluss der Revolution der Leitsymbolik um 3000 v. Chr. und der Errichtung eines organisierten Staatswesens hat sich in Ägypten ein stabiles Subjekt herausgebildet. Zu Beginn des Mittleren Reiches, der Zeit, als die Hirtengeschichte entstand und Ägypten sich nach der 1. Zwischenzeit am Beginn einer neuen Phase hoch entwickelter staatlicher Organisation befand, könnte Natur bereits als Lockung und Drohung zugleich gesehen worden sein. Angesichts des realen Kräfteverhältnisses von Mensch und Natur dürfte sie weiterhin vor allem eine Gefahr dargestellt haben; an eine Preisgabe an die Natur in einer lustvollen Auflösung des Subjekts war deshalb gewiss noch nicht zu denken. Dagegen erscheint beinahe vier Jahrtausende später auf dem Weg in die gegenüber der Natur hochgerüstete Moderne das Nachgeben der Lockung, symbolisch realisiert im Medium der Sprache, als der einzige Ausweg: als Regression im Dienste beider Gegenspieler, Mensch und Natur. 86 E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, op. cit., S. 98ff. Eichendorff und die Archälogie des Subjekts 107 C $ 5E & ? 0 )&FF 4 7 5 / A ( ; 0 : " @ G $ <0 / ! " #$ $ % )2 5&HIH70 H&.H*0 J @ K 7 Heinrich Pacher 108 # Adorno, Th. W., „Zum Gedächtnis Eichendorffs“, in: ders.: Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften, Bd. XI, Frankfurt/ M. 1974. Adorno, Th. W., Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/ 65), Nachgelassene Schriften, Bd. IV.13, Frankfurt/ M. 2001. Altägyptische Märchen. Mythen und andere volkstümliche Erzählungen. Eingeleitet, übersetzt u. erläutert v. E. Brunner-Traut. 8. verbesserte u. erw. Aufl., München 1989, S. 42. Assmann, J., Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990. Assmann, J., Ägypten. Eine Sinngeschichte, München-Wien 1996. Cauvin, J., Naissance des divinités - Naissance de l’agriculture. La Révolution des symboles au Néolithique (Nouvelle édition), Paris 1997. Derrida, J., „Die zweifache Séance“, in: ders., Dissemination, Wien 1995, S. 193-322. 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" 0 J Cio che conosciamo di noi è (…) solamente una parte, e forse piccolissima, di ciò che siamo a nostra insaputa. 1 Menschen kennen bedeutet noch wenig, das Wesentliche ist, in menschliche Beziehungen hineinzuschauen. Auch diese heucheln, verstellen, verschließen sich bis zur Undurchdringlichkeit. 2 Allora mi vidi steso morto, sopra un letto di campagna, con un prete che leggeva in un libro; e da quella volta mi son creduto sempre un altro. 3 Die hier vorangestellten, programmatisch verstandenen Zitate dreier in der italienischen wie in der deutschsprachigen Moderne um 1900 so herausragender Schriftsteller wie Luigi Pirandello, Arthur Schnitzler und Federigo Tozzi deuten an, wie sehr ihnen und ihrem Schaffen die Gewissheit über fundamentale Kategorien und über Konfigurationen des Subjekts ins Wanken geraten bzw. partiell bereits abhanden gekommen ist. Parallel zu den Bemühungen der Moderne um Ordnung und Klassifikation treten immer stärker ihre Kehrseiten, allen voran die Wahrnehmung von Ambivalenz, die Verstrickung in identitäre Dynamiken, in den Vordergrund. Eine Re-Integration des solcherart gefährdeten Subjekts ins Soziale scheint oft nicht mehr erzielbar zu sein, hin- 1 „Was wir von uns selbst kennen, ist freilich nur ein Teil, vielleicht sogar nur das allerkleinste Stückchen von dem was wir sind, ohne es zu wissen.“ L. Pirandello, L’avemaria di Bobbio, in: ders., Novelle per un anno I, a cura e con un saggio di P. Gibellini, Florenz 1994, S. 5. Fortan werden die Novellen mit der Sigle N, der Band- und Seitenangabe direkt im Text zitiert. Die deutschen Übersetzungen werden zitiert nach: L. Pirandello, Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, hrsg. von M. Rössner, Berlin 1997. Auch die deutschen Fassungen werden im Text mit der Sigle GW, der Band- und Seitenangabe im Weiteren zitiert. Hier z.B. Bobbios Avemaria, in: L. Pirandello, Sonne und Schatten, Sizilianische Novellen I, Bd. VII, S. 159. 2 A. Schnitzler, Aphorismen und Betrachtungen, hrsg. von R. O. Weiss, Frankfurt/ M. 1967, S. 281. 3 „Dann sah ich mich tot auf einem Feldbett hingestreckt, ein Priester las aus einem Buch, und seit damals habe ich mich immer für jemand anderen gehalten“, F. Tozzi, Ricordi di un giovane impiegato, in: ders., Opere, a cura di G. Tozzi, Bd. I, Florenz 1961, S. 552. Simona Bartoli Kucher 114 gegen zeichnen sich Formen der Vereinsamung, De-Personalisierung und Alterität als negative Fluchtpunkte ab. 4 Es nimmt daher nicht wunder, dass vor allem Pirandello und Schnitzler als Interpreten eines „Unbehagens in der Kultur“ figurieren, als eine Art „Organon der Zeitgenossenschaft“, der „zeitgenössischen Diskurse“, wie sich diese am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts manifestieren. 5 Es überrascht aber doch, dass diese beiden Autoren nach wie vor selten im sehr weiten und ergiebigen Feld der Moderne-Forschung zueinander in Beziehung gesetzt werden, haben doch manche ihrer Texte die Epoche nachhaltig geprägt. 6 Federigo Tozzi, um etwa zwanzig Jahre jünger als Pirandello und in den Kanon der Moderne vergleichsweise spät, d.h. in den 1960er Jahren, aufgenommen 7 , darf ebenfalls als ein Exponent des literarischen Krisenbewusstseins aufgefasst werden. Wie Pirandello und Schnitzler sah auch er sich nicht mehr imstande, „die Wirklichkeit mit den überkommenen Werkzeugen und Kodices zu lesen“. 8 Wie sie hat auch Tozzi sein Schreiben ausgerichtet auf die „zentrifugale und destrukturierende Tendenz des Erzählens“, auf den, so Romano Luperini, „Zusammenbruch der üblichen Zeit- und Kausalbeziehungen“, auf die „Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit auf die tieferen Regungen und die freien Assoziationen der Psyche“ zu richten. 9 Der Präfreudianismus von Tozzi, die Exploration dessen, was er selbst als „il racconto di un qualsiasi misterioso atto nostro“ 10 („die mysteriösen Handlungen des Ich“) definiert hat, jener „widersprüchliche Strom von Gefühlen“ 11 , der das Ich seiner Figuren durchfließt, lässt sich plausibel auf einer intellektuell-kulturellen Landkarte verorten, und zwar neben den Studien über Neurosen von Théodule Ribot, Alfred Binet und Pierre Janet, die für die intel- 4 Zur Frage Moderne-Ordnung-Ambivalenz vgl. Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Aus dem Englischen von M. Suhr, Hamburg 1992, S. 19f. bzw. S. 30f. 5 Vgl. dazu, d.h. mit besonderer Bezugnahme auf das Werk Schnitzlers, G. Wunberg, Arthur Schnitzler - oder über Kulturwissenschaften und Literaturwissenschaft, in: K. Fliedl (Hrsg.), Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert, Wien 2003, S. 13-35, hier S. 15. 6 Vgl. M. Corti, Il viaggio testuale. Le ideologie e le strutture semiotiche, Turin 1978, S. 61. 7 Vgl. R. Luperini, Federigo Tozzi. Le immagini, le idee, le opere, Rom-Bari 1995, „Introduzione“, S. VII, in der auf den ersten wichtigen Beitrag von G. Benedetti verwiesen und die Entdeckung Tozzis im Kontext der zur selben Zeit einsetzenden Neubewertung des Werkes von Svevo und Pirandello gesehen wird. 8 Vgl. L. Baldacci, Tozzi moderno, Turin 1993, S. VIII. 9 Vgl. R. Luperini, Federigo Tozzi, op. cit., S. VIII. 10 F. Tozzi, Come leggo io (1919), in: ders., Realtà di ieri e di oggi, Rom 1992 (fotomechanische Neuauflage der Edizione Alpes 1928), S. 5. 11 Vgl. Luperini, Federigo Tozzi, op. cit., S. 90. Zerfall des (weiblichen) Subjekts 115 lektuelle Entwicklung von Pirandello, Tozzi 12 und Schnitzler 13 von Bedeutung waren. Das Ergebnis sind Texte, die eine außergewöhnliche Kartographie der modernen Psyche erkennen lassen: Texte, in denen ein Gefühl der Sinnlosigkeit der sozialen Normen und Moralvorstellungen, die im Konflikt mit den Bedürfnissen des Ich stehen, den Grundton bildet. & = ! = Es sind gerade die weiblichen Figuren, denen Pirandello eine zentrale Rolle im Prozess der Aufdeckung der Verlogenheit des Realen, der Umkehr und Ironisierung von Wertvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft zuerkennt, um sie aber auch zerbrochen an sich selbst, resigniert und ihrem Gefängnis ausgeliefert zu zeigen. Es handelt sich um ein Gefängnis, das weniger als Chiffre der Unterwerfung denn als einzige Möglichkeit der Rebellion begriffen werden kann. Man denke hier nur an den Fall des weiblichen Ich in der Novelle Scialle nero (Schwarzer Schal, 1904): Se non fosse nata e cresciuta tra i pregiudizii d’una piccola città e non avesse avuto l’impedimento di quel fratellino, si sarebbe forse avventurata alla vita di teatro. Era stato quello il suo sogno; niente altro che un sogno però. (…) (N.I, 10) 12 Die Kritik ist sich mittlerweile weitgehend einig über den Einfluss, den die Lektüre der Altérations de la personnalité von Alfred Binet, der mit seinen Kollegen Ribot und Janet der Psychopathologie ein Schema zur Seite gestellt hat, das wiederum über die Physiologie vermittelt war, auf Tozzi ausgeübt hat. Im Essay Arte e scienza bezieht sich auch Pirandello ausdrücklich auf die „rassegna di meravigliosi esperimenti psico-fisiologici“ des Buches von Binet. Diesem hätte er entnommen, dass die angenommene Einheit unseres Ich im Grunde nichts anderes sei als eine temporäre, auflösbare und veränderbare Anhäufung von verschiedenen Schichten des Bewusstseins („la presunta unità del nostro io non è altro in fondo che un aggregamento temporaneo scindibile e modificabile di varii strati di coscienza“). Vgl. L. Pirandello, Arte e scienza, in: ders., Saggi, poesie e scritti vari, S. 163. Tozzi hat ferner in der Seneser Stadtbibliothek aus der von Ribot herausgegebenen Revue Philosophique, einer wichtigen Zeitschrift auch der zeitgenössischen französischen Psychiatrie- Forschung, exzerpiert, ebenso aus den Standardwerken von Janet wie Les névroses (1909) und L’état mental des hystériques (1911). Vgl. dazu M. Föcking, „Autismus und Moderne. Federigo Tozzis Roman Con gli occhi chiusi und die Krise des Subjekts um 1900“, in: Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 27, 2005, H. 1, S. 12-27, bes. S. 17. 13 Wenige Jahre nach Freud hat Schnitzler seine Ausbildung beim Psychiater Theodor Meynert und dem Physiologen Ernst Brücke durchlaufen. Zwischen 1887 und 1892 besprach Schnitzler wichtige Arbeiten von Charcot und Bernheim, die wiederum Freud ins Deutsche übersetzt hatte, fasziniert von den Untersuchungen über die Verdoppelung der Persönlichkeit sowie von den Studien über Hysterie, einem Feld, in dem die beiden Franzosen zu den wichtigsten wissenschaftlichen Instanzen zählten. Die Thematik und Problematik der Spaltung des Ich - wie sie bei Pirandello und Schnitzler gestaltet wird - ist gewiss dieser Tradition physiologischer und psychologischer Forschungen mitgeschuldet. Simona Bartoli Kucher 116 Gli aveva fatto da madre, è vero? , a quel fratello. Ebbene: in premio di tutti i benefizi lietamente prodigati, in premio del sacrificio della propria vita, non le era stato concesso neanche il piacere di scorgere un sorriso, anche lieve, di soddisfazione su le labbra di lui (N.I, 14). 14 Erinnert uns das nicht an das Schicksal der Musikerin Berta in Schnitzlers Frau Berta Garlan? Es ist eine Frau, die in Wien inmitten ihrer Träume und Hoffnungen auf berufliche Verwirklichung als Pianistin infolge des Todes ihres Vaters in die Mittelmäßigkeit eines Lebens in der Provinz zurückgeworfen wird, in die glanzlose Apathie einer Vernunftehe. Nach nur drei Jahren findet sie sich als Witwe eingezwängt in die Rolle einer arbeitsamen, verhärmten Mutter, die jegliche sexuelle Regung unterdrückt und jegliches aufwallende „Kreisen des Blutes“ durch ihr Klavierspiel sublimiert. 15 Die ältliche Jungfer, die uns Pirandello vorstellt, gehorcht nach Jahren des Verzichts, nachdem sie ihre beste Zeit der Pflege ihres Bruders geopfert hat, erstmals „schwach geworden“, ihrem sexuellen Impuls. Indem sie sich dabei an den Hals eines viel jüngeren und beruflich niedriger stehenden Mannes wirft, setzt sie ihre Identität aufs Spiel, sieht sie sich an einen Abgrund herangeführt: Così era stato. Sopraffatta a quel modo, non aveva saputo respingerlo; s’era sentita mancare non sapeva più come sotto quell’impeto brutale e s’era abbandonata, sì, cedendo, pur senza voler concedere (…) (N.I,18) E ora? Come mai Giorgio [il fratello n.d.r.] non entrava a svergognarla? Forse il D’Andrea [l’amico del fratello] non gli aveva ancora detto nulla: forse pensava al modo di salvarla. Ma come? Si nascose il volto tra le mani, per non vedere il vuoto che le si apriva davanti. Ma era pure dentro di lei quel vuoto. E non c’era rimedio. La morte sola. Quando? Come? (N.I, p. 18). 16 14 „Wäre sie nicht unter den Vorurteilen einer Kleinstadt aufgewachsen und hätte nicht der jüngere Bruder ein Hindernis gebildet, vielleicht hätte sie sich in das Abenteuerdasein des Theaters gewagt. Einmal war dies ihr Traum gewesen - doch nichts weiter als ein Traum (…)“ (GW VII, 11). Sie hatte doch Mutterstelle an diesem Bruder vertreten, nicht wahr? Nun: Als Lohn für alle willig erwiesenen Wohltaten, als Lohn für das Opfer des eigenen Lebens, war ihr nicht einmal die Freude gewährt worden, auf den Lippen des Bruders (…) auch nur ein schwaches Lächeln der Befriedigung zu erblicken“ (GW, op. cit., 17). 15 A. Schnitzler, Frau Berta Garlan, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Das erzählerische Werk, Bd. II, Frankfurt/ M. 1977, S. 73-196, S. 78; künftig im Text mit der Sigle FBG zitiert. 16 „So war es geschehen. Solchermaßen überrumpelt, hatte sie ihn nicht zurückzustoßen gewusst. Ohne selber zu wissen wie, war sie unter diesem brutalen Angriff schwach geworden und hatte sich hingegeben, jawohl, indem sie nachgab, ohne gewähren zu wollen. (…).Und jetzt? Wie kam es, dass Giorgio [der Bruder, Anm. d. Verf.] noch nicht eintrat, um ihr ihre Schande vorzuhalten? Vielleicht hatte D’Andrea [der Freund ihres Bruders, Anm. d. Verf.] ihm noch nichts gesagt. Vielleicht dachte er über einen Weg nach, sie zu ret- Zerfall des (weiblichen) Subjekts 117 ' @ , ? 9 Es ist diese Vermengung von Situationen und Erzählstimmen, diese „Schwächung der auktorialen Instanz“, begleitet, so bereits Schulz-Buschhaus, von einem Verfahren „perspektivischer Labilität“ 17 , sowie das Fehlen einer einheitlichen narrativen Strategie, welche beiden Autoren gemeinsam sind. Ähnlich wie Pirandello in seiner Novelle die Stimme des externen Erzählers mit dem Gedankenfluss der Protagonistin überblendet, so verfährt auch Schnitzler. In der Garlan-Novelle wählt er nach einer auktorialen Exposition, die den Leser über die Alltagsgewohnheiten von Berta Garlan informiert, eine narrative Struktur, die wesentlich vom Gedankenfluss sowie von Rückblicken geprägt ist. Das Krisenphänomen der Ichspaltung, des Subjektzerfalls findet dabei sein formales Analogon in der Krise der modernen Syntax. Die Hoffnungen von Schnitzlers Protagonistin, aus dem Gefängnis ihrer provinziellen Umgebung auszubrechen, nehmen schließlich konkrete Gestalt an, als sich die Möglichkeit ergibt, die welterfahrene Frau Rupius auf ihren geheimnisumwitterten Fahrten nach Wien zu begleiten. Bereits während des ersten Wien-Besuchs, beim Vergnügen, „als Fremde unter den Leuten herumzugehen“ (FBG, 101), gerät ihr von Tugendhaftigkeit geprägtes Selbstverständnis ins Wanken, zumal in ihren Gedanken der Name und das Bild des Wiener Geliebten der Jugendzeit auftauchen. An dieses Bild schließt sich ein Assoziations- und Gedankenstrom an, der erotische Impulse zunächst auf andere Personen projiziert, dann aber auch eigene Wunschvorstellungen hervortreten lässt. Solche Vorstellungen heften sich an die inzwischen berühmt gewordene Jugendliebe, an den weltgewandten Violinvirtuosen Emil Lindbach. Während der Rückfahrt fangen sie an, als traumartige Bilder ihr Bewusstsein zu besetzen: „Was für wirre Träume …“(FBG, 107). Was folgt, ist zunächst ein leiser Verdacht, ein Wühlen in der Erinnerung und in alten Briefen. Berta lässt daraufhin ihre glanzlosen Jahre Revue passieren, fängt an, Bilanz zu ziehen und Möglichkeiten abzuwägen. Das Ich Berta Garlans splittert sich auf in ein Bündel von Projektionen, von Träumen, Idealen und Gefühlen, die sich zum Teil widersprechen und in einen Vergleich mit dem typisierten Bild der mondänen Geliebten, im Text verkörpert in Gestalt der Anna Rupius, münden. Ausdruck finden diese Projektionen und Gefühle in einer unregelmäßigen, aufgebrochenen Syntax, vor allem als Berta brieflich den ten. Aber wie? Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, wie um den Abgrund nicht zu sehen, der sich vor ihr auftat. Aber der Abgrund war auch in ihr selbst. Und es gab keinen Ausweg. Nur den Tod. Wann? Wie? “ (GW, op. cit., 22). 17 U. Schulz-Buschhaus, Pirandello e la “novellistica dell’assurdo”, in: Le novelle di Pirandello. Atti del 60 o convegno internazionale di studi pirandelliani, raccolti e ordinati da Stefano Milioto, Agrigent 1980, S. 231. Simona Bartoli Kucher 118 Kontakt mit Lindbach wieder herstellt und einem Wiedersehen entgegenfiebert, das ihr in Aussicht stellt, Versäumtes nacherleben zu können 18 : Sie schämte sich vor sich selbst, aber immer wieder träumte sie sich in Emils Arme. Warum denn nur? Daran hatte sie doch noch gar nicht gedacht! Nein! ... daran wird sie auch nie denken … Sie ist keine solche Frau … Nein, sie kann nicht die Geliebte von jemandem werden - und nun gar diesmal … Ja vielleicht, wenn sie noch einmal nach Wien kommt und wieder … nun, ja viel später - vielleicht (FBG, 125). Die Regeln der Kultur, die hier unter dem Druck der Triebe zerbröckeln, kennen keine Ausnahme, und dies gilt vor allem dann, wenn eine Grenzüberschreitung durch eine Frau erfolgt. Pirandellos Eleonora (Scialle nero), die gezwungen wird, einen jungen Bauern zu heiraten, von dem sie ein Kind erwartet, hat gemäß den herrschenden Konventionen, aber gegen ihren Willen, den Pflichten als Gattin nachzukommen. Ihr bleibt schließlich keine andere Wahl, als sich in einen Abgrund zu stürzen: In quella, se lo vide addosso, violento; si piegò indietro, precipitò giù dal ciglione. Egli si rattenne a stento, allibito, urlando, con le braccia levate. Udì il tonfo terribile, giù. Sporse il capo. Un mucchio di vesti nere, tra il verde della piaggia sottostante. E lo scialle, che s’era aperto al vento, andava a cadere mollemente, così aperto, più in là (N.I, 34-35). 19 Es ist ein Schicksal, das dem etlicher weiblicher Gestalten bei Tozzi ähnelt, wie z.B. jenem der Fiammetta in der Novelle Una figliola/ Eine Tochter, deren Jugend „passava da una primavera ad un’altra; senza che ci fosse nella sua vita un desiderio soddisfatto“. 20 Als Sklavin des Vaters und seiner Launen 18 Vgl. dazu I. Paetzke, „Verbotene Wünsche. Arthur Schnitzler: Frau Berta Garlan“, in: ders., Erzählen in der Wiener Moderne, Tübingen 1992, S. 95-110, bes. S. 96, ferner A. Rumpold, „Sexuelle Attraktion - Gespielte Tugend. Die erotische Ausstrahlung von Schnitzlers Frauenfiguren in Frau Berta Garlan und Der Weg ins Freie“, in: Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche (Rouen) 39/ 1994, S. 89-100, bes. S. 93f. sowie B. Neymeyer, „Libido und Konvention. Zur Problematik weiblicher Identität in Arthur Schnitzlers Erzählung Frau Berta Garlan“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 41. Jg., Stuttgart 1997, S. 329-368, bes. S. 330 bzw. S. 333. Konstanze Fliedl wiederum weist aufgrund der narrativen Struktur auf eine Nähe zu Freuds Traumdeutung hin und stützt dies u.a. auch auf die Parallelität zwischen der Freud-Lektüre und der Konzeption der Novelle. Vgl. K. Fliedl, Arthur Schnitzler, Stuttgart 2005, S. 128. 19 „Im selben Augenblick stürmte er auf sie zu. Da fuhr sie zurück und stürzte ab. Mit Mühe riss er sich zurück und brüllte, die Arme hochgeworfen. Von unten hörte er einen grässlichen Aufschlag. Den Kopf vorstreckend, erkannte er im Grün der Ebene dort unten einen Haufen schwarzer Kleider. Und das Kopftuch, das sich im Winde gelöst hatte, sank in der Ferne sanft zur Erde“ (GW VII, 48). 20 F. Tozzi, Una figliola, in: ders., Giovani e altre novelle, a cura di R. Luperini, Mailand 1994, S. 212. Fortan werden die in diesem Band enthaltenen Novellen mit der Sigle G zi- Zerfall des (weiblichen) Subjekts 119 teilt sie das Los der Eleonora Pirandellos, die wie eine Sklavin die Bedürfnisse des Bruders und seines Freundes zu befriedigen hatte, aber im Grunde auch das Los der Berta Garlan. Denn auch diese war zuerst den Vorstellungen und Launen des Vaters, danach jenen des Gatten ausgeliefert. Am Ende muss sie sich selbst von ihrem wiedergefundenen Jugendgeliebten missbraucht fühlen, der ihre Sehnsucht nach einer stabilen Beziehung mit dem Vorschlag, ein Mätressenverhältnis einzugehen, beantwortet (FBG, 190). Der engstirnige und egoistische Vater Fiammettas - in ihm bündeln sich typische Züge fast aller Väter und Gatten bei Tozzi - verweigert der Tochter alle Wünsche und Zukunftsaussichten, denn „a lui faceva comodo tenerla in casa; e sarebbe stato difficile deciderlo a dare il consenso che si maritasse. Ella doveva restare in casa! “ (G., 212-213). 21 Erinnern wir uns: Hat nicht auch Bertas Vater „in einer Aufwallung seiner bürgerlichen Anschauungen“ seiner Tochter den Besuch des Konservatoriums verboten, „wodurch sowohl ihre Aussichten auf eine Künstlerlaufbahn als auch ihre Beziehungen zu dem jungen Violinspieler (…) ein Ende nahmen“? (FBG, 75) Bei Schnitzler wie bei Tozzi und Pirandello erscheint des Öfteren „der Vater als äußerst ambivalente Figur (…)“, als eine Figur, „die Gegensätze vereint“. „Zwischen Vater und Sohn“, aber auch und meist noch drastischer zwischen Vater und Tochter „tut sich ein Abgrund auf, und das einst Nahe und Vertraute wird zum Fernen und Fremden (…). Nicht nur der Vater erscheint im Kontext der Ambivalenz als ein Fremder, auch die eigene Subjektivität wird gespalten und sich selbst entfremdet“. 22 Das von der Elternfigur abhängige, von der Vaterinstanz verfolgte weibliche Ich, dem „l’accesso alla genitalità adulta e al matrimonio“ 23 verweigert wird, ist bei Tozzi auch der Verfolgung durch die Außenbzw. durch die soziale Umwelt ausgesetzt: Perfino i contadini ridevano di quella ragazza che a poco a poco si maturava e si stagionava (G. 213). 24 tiert. Von „einem Frühling zum nächsten voranschritt, ohne dass auch nur ein Wunsch in ihrem Leben in Erfüllung gehen konnte“. Die deutsche Übersetzung stammt, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin des Beitrages; in der bislang einzigen deutschsprachigen Ausgabe sind die Texte, auf die hier Bezug genommen wird, nicht enthalten. 21 „Es war ihm angenehm, sie im Haus zu behalten und daher wäre ihm die Zustimmung zu einer Heirat schwierig gewesen. Sie musste im Haus bleiben.“ 22 Vgl. P. V. Zima, Das Literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2001, S. 179 bzw. S. 180. 23 Vgl. R. Luperini, Il „solco aperto“ di Tozzi. Strategie di scrittura e di lettura delle novelle. Introduzione a: F. Tozzi, Giovani, op. cit., S. 22. 24 „Selbst die Bauern lächelten über jenes Mädchen (die Rede ist von der Fiammetta Tozzis, Anm. der Verf.), das langsam heranreifte und älter wurde.“ Simona Bartoli Kucher 120 Ein ähnliches Verhalten legen auch die Bauern jenes Hofes an den Tag, auf dem Eleonora „schuldig“ wurde, was alle empfanden wie un gran piacere nel far pubblicamente strazio dell’ammirazione, del rispetto per tanti anni tributati a quella donna; come se tra l’ammirazione e il rispetto, di cui non la stimavano più degna, e il dileggio, con cui ora la accompagnavano a quelle nozze vergognose, non ci potesse essere posto per un po’ di commiserazione (N.I, 20). 25 In der Novelle Pirandellos nimmt das ganze Dorf an der Verurteilung der entehrten Frau teil. Grundmuster ist hier das Opfer, das seinen Henkern aus dem Kreis der Familie gegenübersteht: sei es die Schwester dem Bruder, die Tochter dem Vater. Es handelt sich hierbei immer um eine „binäre und antagonistische Struktur“ 26 , um eine Struktur, die auch in zahlreichen Novellen Tozzis anzutreffen ist: Dort kommt z.B. eine Lehrerin vor, die aus beruflichen und ökonomischen Überlegungen gezwungen ist, weit weg, außer Haus zu leben, verurteilt zur Einsamkeit. Gegen sie richten sich die Anfeindung und die Heuchelei der sie umgebenden Gesellschaft. Man denke nur an Un’osteria oder an die Prostituierte, die von jedem, der vorbeikommt, verhöhnt und verfolgt wird (Il crocefisso). Auch die Bucklige, die aufgrund ihres physischen Makels, ihrer Verunstaltung selbst von den Verwandten angefeindet wird (Una gobba), wäre als Beispiel zu nennen - oder die Obstverkäuferin, die dem Gespött der Gassenjungen ausgesetzt ist (La matta). Doch während es in den Novellen Pirandellos eine Art befreiendes Aufatmen in der Ironie geben kann - man denke nur an die Art und Weise, wie die Hochzeit Eleonoras mit dem grobschlächtigen Gerlando zelebriert und sprachlich inszeniert wird -, während also Pirandello aus dem Gefühl des Widerspruchs heraus lächeln kann, bleibt „das Paradoxe bei Tozzi immer düster“, fehlt ihm doch Pirandellos bisweilen von Bitterkeit begleitete Neigung zum Spielerischen. 27 Tozzi sei, so Alberto Asor Rosa, auch aus diesem Grund der einzige „scrittore della crudeltà“ 28 der italienischen Moderne. Sein Werk verdanke sich nicht wie das anderer zeitgenössischer Autoren der europäischen Moderne der neurotischen Gemengelage der großstädtischen Gesellschaft, wie sie Georg Simmel in der Formel von der „Steigerung des Nervenlebens“ aus- 25 „Ein besonderes Vergnügen, öffentlich all die Bewunderung und den Respekt zuschanden zu machen, die man lange Jahre hindurch dieser Frau gezollt hatte, als ob zwischen der Bewunderung und dem Respekt, deren sie nicht länger für würdig erachtet wurde, und der Lust, mit der die Leute ihr jetzt auf diese beschämende Hochzeit das Geleit gaben, überhaupt kein Platz gewesen wäre für ein wenig Mitleid“ (GW VII, 25). 26 Vgl. R. Luperini, Il solco aperto di Tozzi, op. cit., S. 15. 27 Vgl. ibid., S. 67: „La paradossalità di Tozzi è sempre cupa.“ 28 A. A. Rosa, „Uno scrittore italiano della crudeltà. (Federigo Tozzi)“, in: ders., Un altro Novecento, Florenz 1999, S. 246. Zerfall des (weiblichen) Subjekts 121 gedrückt hatte 29 , sondern geht „dalle costrizioni di una città antica e appartata“, d.h. aus der beengenden Atmosphäre einer alten, an der Peripherie gelegen Stadt, mit ihren „frustrazioni ancestrali del natìo borgo e della taverna“ hervor, aus den „überlieferten Frustrationen des Herkunftsviertels und der Kneipe“. 30 Diesem von Frustrationen geprägten Kontext können die Figuren Tozzis kaum entkommen. Fiammetta z.B. ist verzweifelt, als ihr Vater ihr die Erlaubnis verweigert, den Zollbeamten zu treffen, in den sie sich verliebt hat, aber zugleich fühlt sie sich verpflichtet, dem Vater zu „gehorchen“ (G, 215). Aus diesem Grund Fiammetta non pianse né meno e non si afflisse; ma non ebbe il coraggio di imporsi; e non si fece più vedere dal giovane. Passò un’altra annata, ed ella continuava a ingrassare (G, 217). 31 Tozzi stellt sich, so Luperini, immer „in oder neben seine Figuren, nie über sie. Sein Standpunkt ist stets ein horizontaler, nie ein vertikaler. Seine Angstbesessenheit lässt keinen Raum frei, zwingt den Leser zu einer aufreibenden Lektüre, zu einem Körper an Körper-Sein mit der Schrift, die einen erstickt; sie nimmt einem die Luft zu Atmen, deckt den ganzen Horizont zu. Kein Ausweg zeichnet sich ab, weder nach oben noch in eine Zukunft oder Vergangenheit. Es zirkuliert in seinen Erzählungen eine Art ewiger Präsenz der Angst“. 32 Indem Fiammetta immer unförmiger, aufgedunsener wird, wobei ihre äußerliche Deformation mit ihrer vorerst nicht sichtbaren psychischen Destabilisierung einhergeht, entwirft Tozzi nicht nur ein bedauernswertes Porträt, das sich vor allem auf ein abstoßendes Detail konzentriert, nämlich auf jenes „nido di nei in una guancia; certi nei cicciolosi e rossi come ciliegie mature“ (G. 217) 33 , sondern liefert zugleich einen plausiblen Rahmen für den Zerfall dieser Figur. Fiammetta verfällt der Krankheit, verliert für immer ihre Gesundheit und darf an Heirat oder dauerhafte Bindungen nicht mehr denken. Ihr Vater aber, der sie so sehr zum Arbeiten gebraucht hätte, „la guardava come 29 Vgl. G. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, = Gesamtausgabe, hrsg. von O. Rammstedt, Bd. VII, Frankfurt/ M. 1995, S. 116-131, hier S.116. 30 A. A. Rosa, Uno scrittore italiano della crudeltà, op. cit., S. 246. 31 „Weinte Fiammetta nicht einmal und quälte sich nicht; sie hatte auch nicht den Mut, sich durchzusetzen und ließ sich nie wieder mit dem jungen Mann sehen. Ein weiteres Jahr verging und sie wurde immer dicker.“ 32 Ibid, S. 67; deutsche Fassung von der Verf. d. Beitrages. 33 „Nest von Muttermalen auf einer Wange, gewisse grammelartige und rote Muttermale, ähnlich reifen Kirschen.“ Simona Bartoli Kucher 122 un pezzo di carne andata a male o come una bestia che non è più buona a lavorare“ (G. 218). 34 Tiere verkörpern, so Asor Rosa, für Tozzi „nicht nur Metaphern der conditio humana, in denen sich diese spiegelt, sie sind vielmehr Metaphern für Bestrafungsakte, welche die conditio humana (...) sich selbst ununterbrochen zufügt“. 35 Daher findet sich in den Erzählungen des Seneser Schriftstellers neben einer allgegenwärtigen Angst und Abfolge von Alpträumen eine häufige Parallelisierung von Brutalität, Sadismus und allegorischen Verschiebungen von Gewaltexzessen, die einerseits eine animalische Dimension, andererseits den prekären Status der „indifesa creatura“ erkennen lässt. 36 Dagegen lässt uns der deplaziert wirkende Bräutigam der Eleonora, der von Pirandello durch die väterliche Stimme als „robustes“ Vieh (bestione) bezeichnete eigene Sohn („così grosso, così duro, così ispido“, N I 17) 37 , der im Festgewand entsprechend tollpatschig auftritt - ein wenig das bittere Lächeln des Humors auskosten. Zum Lächeln bringen uns auch die zum Fest Geladenen, wenn sie sich in ihren schweren, von Schweiß triefenden festlichen Gewändern gegenseitig anstarren: nelle facce dure, arsicce, svisate dall’insolita pulizia; e non osavano alzare le grosse mani sformate dai lavori della campagna per prendere quelle forchette d’argento (la piccola o la grande? ) e quei coltelli, sotto gli occhi dei camerieri che, girando coi serviti, con quei guanti di filo bianco incutevano loro una terribile soggezione (N. I, 23-24). 38 In ihrer Technik der Figurenzeichnung tendieren beide, Pirandello wie Tozzi, dazu, „abgerundete Darstellungen zu vermeiden, um an deren Stelle bestimmte Details herauszuheben und diese mit expressiven Zügen oder grotesken Verfremdungen auszustatten“. 39 Die unerbittliche Zeichnung der Clementina in der Novelle von Pirandello I tre pensieri della sbiobbina / Die drei Gedanken des Buckelchen (1905) kann hierfür als Beispiel gelten: A nove anni, come se il destino avesse teso dall’ombra una minaccia invisibile e gliel’avesse imposta sul capo: - Fin qua! -, Clementina, tutt’a un tratto, aveva fatto il groppo. Là, a poco più d’un metro da terra. (…) Busto e gambe, dacché na- 34 „Blickte auf sie wie ein Stück schlecht gewordenes Stück Fleisch oder wie ein Vieh, das zum Arbeiten zu schwach geworden ist.“ 35 A. A. Rosa, Uno scrittore italiano della crudeltà, op. cit., S. 246. 36 Ibid. 37 „So robust, so hart, so stachelig“ (GW VII, 20). 38 „In die harten, sonnenverbrannten, durch die ungewohnte Reinlichkeit veränderten Gesichter; und sie wagten es nicht, die derben, von der Landarbeit unförmig gewordenen Hände zu heben und jene Silbergabeln zu ergreifen (die kleine oder die große? ) und jene Messer zur Hand zu nehmen, während die Kellner die Platten auftrugen und ihnen mit ihren weißen Zwirnhandschuhen tiefe Angst einjagten“ (GW VII, 31). 39 R. Luperini, Il solco aperto di Tozzi, op. cit., S. 51. Zerfall des (weiblichen) Subjekts 123 scendo, ci s’erano messi, avevano voluto crescere per forza, senza sentire ragione. Non potendo per lungo, sotto l’orribile violenza di quella minaccia che schiacciava, s’erano ostinati a crescere di traverso: sbieche, le gambe; il busto, aggobbito, davanti e dietro. Pur di crescere … 40 (N.I, 452). Nicht wesentlich anders verfährt Tozzi in der Darstellung einer erst posthum erschienenen Novelle, in La gobba: Brutta quasi da suscitare ripugnanza: con una gobba aguzza come una punta di ferro che gli potesse sfondare il vestito. (…) Aveva un canarino, che era brutto come lei: più bianco che giallo, con una zampetta storta e un becco sempre storto. 41 Die Beine und der Rumpf dieser mit Attributen der Hässlichkeit gezeichneten Clementina waren weiter gewachsen - „Che non crescono forse così, del resto, anche certi alberelli, tutti a nodi e a sproni e agiunture storpie? “ (N.I, 452) 42 - mit dem Unterschied allerdings, „che l’alberello (…) non ha occhi per vedersi, cuore per sentire, mente per pensare; e una povera sbiobbina, sì“ (N.I, 453) 43 ; und das arme Buckelchen (so die deutsche Wiedergabe durch Hinterhäuser, Anm. d. Verf.) sah sich dahinleben, ausgelacht, von Groß und Klein gemieden. Es steht im eklatanten Gegensatz zum kräftigen Bäumchen, das von selbst Früchte zu tragen imstande ist, denn 40 L. Pirandello, I tre pensieri della sbiobbina. „Mit neun Jahren hatte Clementina, wie wenn das Schicksal aus dem Schatten eine unsichtbare Tatze hervorgestreckt und sie ihr auf das Haupt gelegt hätte: - Bis hierher! -, plötzlich zu wachsen aufgehört. So einen Meter über der Erde oder weniger mehr (…). Rumpf und Beine, da sie nun einmal seit der Geburt damit begonnen hatten, wollten mit Gewalt weiterwachsen, ohne Vernunft anzunehmen. Und da sie das, unter der schrecklichen Gewalt dieser Tatze, die sie zu Boden drückte, nicht lange mehr konnten, hatten sie sich darauf versteift, krumm und quer zu wachse: die Beine schief; der Rumpf mit einem Buckel vorne und hinten. Wenn sie nur wuchsen …“ (GW VII, 202). 41 F. Tozzi, Una gobba. Diese Novelle ist nur als Autograph erhalten und undatiert; erstmals wurde sie in der Ausgabe der Opere a cura di Glauco Tozzi, veröffentlicht: Sie scheint der Reifeperiode des Autors anzugehören, vgl. dazu die Anmerkungen von R. Luperini, op. cit., S. 481. „Häßlich in einer Weise, die Abscheu erregte: mit einem kantigen Buckel, der wie die Spitze eines Messers, das ihm das Gewand auftrennen konnte, versehen war (…) Sie hatte einen Kanarienvogel, der ihr an Hässlichkeit ebenbürtig war: mehr weißlich als gelb, mit einem verdrehten Beinchen und einem stets gekrümmten Schnabel.“ 42 „Aber wachsen im übrigen nicht auch gewisse Bäumchen so, ganz voller Knoten und Knorren und verkrüppelter Gelenke“ (GW VII, 202). 43 „… dass das Bäumchen immerhin keine Augen hat (…), kein Herz (…), keinen Verstand (…), aber ein armes Buckelchen wohl“ (GW VII, 202). Simona Bartoli Kucher 124 (…) l’alberello infine non deve fare all’amore, perché fiorisce a maggio da sé, naturalmente, così tutto storpio com’è, e darà in autunno i suoi frutti; mentre una povera sbiobbina … (N.I, 453). 44 In der Typologie Pirandellos verkörpert Clementina die Ausgegrenzte, die sich ihren Platz in der sozialen Ordnung nur dadurch sichern kann, dass sie auf alle individuellen Ansprüche verzichtet und somit die Ansprüche und Bedürfnisse des Ich negiert. Ähnlich liegt der Fall der Elena Spadi: Während der Vorname als Oxymoron die leuchtende antike Helena-Figur evoziert, zielt Tozzi mit dem Nachnamen Spadi eher auf ein Bild der Hässlichkeit. Zutage tritt diese Hässlichkeit durch den Buckel, der „come una punta di ferro“ (G., 403) 45 das Gewand aufzuschneiden scheint. In dumpfer Bitterkeit lebt Elena vor sich hin und würde wohl alles geben, um die Zuneigung ihres Onkels zu gewinnen, des einzigen ihr verbliebenen Verwandten: „gli avrebbe fatto da serva, piuttosto che vivere sola a quel modo, in una stanza che non riesciva a sentire sua“. 46 (G., 403) Diese Elena Spadi kann Tozzi nicht anders beschreiben als durch eine auf das Subjekt fokalisierte Erzählweise. Dies hat zur Folge, dass die anfängliche Nähe des Erzählers zur Protagonistin und die objektiven, distanziert wirkenden Informationen, die er dem Leser vermittelt, in sich zusammenbrechen und sich schließlich im Nichts auflösen. Ein parataktisch strukturierter Auftakt, „der eher einem aufgeregten und widersprüchlichen Auf und Ab eines gestörten Bewusstseins zu folgen scheint als den Parametern einer sachlichen, auf Objektivität bedachten Erzählung“ 47 , begleitet diesen Standpunktwechsel, dem auf thematischer Ebene jene gravierende Verschiebung entspricht, die sich die ihr entsprechende, d.h. die sprachlichen Strukturen aufbrechende Form sucht. Das Opfer wird zudem durch seine Peiniger dazu gebracht, sich schuldig zu fühlen. Die Frau des Onkels, die mit Elena nicht einmal sprechen will, guardava con crudeltà negli occhi dolci della gobba: certi occhi che non avevano fondo e parevano sempre più chiari, con una tranquillità che la esasperava; certi occhi che le facevano paura (…) certi occhi di una dolcezza maligna e ambigua (406). 48 44 „… das Bäumchen nicht zu lieben braucht, weil es im Mai, so krumm es ist, aus eigener Kraft und auf natürlicher Weise blüht und im Herbst Früchte tragen wird; während ein armes Buckelchen …“ (GW VII, 203). 45 „… wie die Spitze eines Messers“ (F. Tozzi, G, 403). 46 „dem Onkel, dem sie gern die Magd gemacht hätte, um nur nicht allein in jener Welt, in jenem Zimmer leben zu müssen, das sie nicht als das ihre empfinden konnte.“ 47 R. Luperini, „Introduzione a Giovani“, op. cit., p. 41. 48 „Blickte mit all ihrer Grausamkeit in die weichen Augen der Buckligen: in Augen, die keinen Grund zu haben und immer heller zu werden schienen, in Augen, aus denen eine Zerfall des (weiblichen) Subjekts 125 Es fällt auf, dass hier die Erzählerstimme von derselben Ambivalenz geprägt erscheint, in die auch die Figuren des Textes eingebettet sind. In der Weise wie hier antagonistische Wertvorstellungen unvermittelt aufeinander treffen und ineinander greifen, kristallisiert sich ein zentrales Problem der Spätmoderne heraus, d.h. das der Ambivalenz aller Wertbegriffe, die - so Zima - „sowohl das Denken als auch das Handeln des Subjekts in Frage stellt“. 49 Ist das nicht auch der Fall der Elena Spadi, des Opfers, das von anderen zur bösen Person gemacht und von ihren Peinigern überzeugt wurde, selbst boshaft zu sein? Auch Pirandellos „Bucklige“ ist Opfer des grauenhaften Blickes derer, die sie mit mitleidigem Gesicht anstarren, die nichts andereres können, als mit schamloser Neugier um sie herumzutänzeln und sich zu fragen, „com’ella faccia con quelle gambe ad andare“ (N.I, 454). 50 Als sie mit der Schwester Laura - schön, aufblühend und blondhaarig - in ein anderes Viertel übersiedelt, in dem sie noch niemanden kennt, erblickt sie eines Tages von ihrem Fenster aus einen hübschen, jungen, blondhaarigen Mann und beginnt ihre Fantasie daraufhin in Gang zu setzen: Possibile? Gli occhi di quel giovane sono fissi su di lei, con una intensità strana. (…) Via, impossibile! Oh, che! Ha fatto un cenno, quel giovane, con la mano: come un saluto. A lei? No, no! Ci sarà senza dubbio qualcuna affacciata (N.I, 455). 51 Die Unruhe, die daraufhin die verwirrte, ungläubig staunende Clementina erfasst, weil ein Mann für sie Interesse zeigen könnte, schreibt sich in den Rhythmus der Sprache ein. Sie wird durch eine gebrochene Syntax wiedergegeben, in der Frage- und Ausrufungssätze vermengt werden und bisweilen, gebrochen durch Äußerungen des Zweifels und Auslassungszeichen, einander abwechseln: Che sciocca! Ma è uno sbaglio, certamente… Quel giovane là dev’essere miope, allora! Dev’essere cieco addirittura … (N.I, 455). 52 Doch der junge Mann fährt fort, sie auch noch am nächsten Tag anzublicken. Clementina verfällt darüber in völlige Unsicherheit, die Pirandello mit animalischen Konnotationen markiert, indem er sie „come una bestiolina insediata“ Ruhe strahlte, die sie in Zorn versetzten, Augen, die ihr Angst machten (…) Augen von einer bösartigen und doppelsinnigen Weichheit.“ 49 P. V. Zima, Das literarische Subjekt, op. cit., S. 6. 50 „Wie sie mit diesen Beinen voranzukommen vermochte“ (GW VII, 204). 51 „Ist es die Möglichkeit? Die Augen dieses jungen Mannes sind mit einer seltsamen Eindringlichkeit auf sie gerichtet. (…) Ach, nein, unmöglich! Oder doch? Er hat ein Zeichen mit der Hand gemacht, der junge Mann: wie einen Gruß! Gilt er ihr? Nein, nicht doch! Bestimmt steht jemand am Fenster“ (GW VII, 206). 52 „Was für ein Dummerchen! Aber es ist ein Irrtum, ganz gewiß … Der junge Mann dort muss kurzsichtig sein. Wer weiss, mit wem er sie verwechselt hat …“ (GW VII, 207). Simona Bartoli Kucher 126 (N.I, 456) 53 , als „Tierchen“ beschreibt, das alles unternimmt, um sich in seiner abstoßenden Hässlichkeit zu zeigen. Als der junge Mann trotzdem fortfährt, sie anzublicken und ihr gar Kusshände zuwirft, kann ihre Reaktion nicht anders sein als: È matto … pensa Clementina, stringendosi, storcendosi le mani. Oh Dio, è matto! È matto! (N.I, 456). 54 Das ungelöste Sexualproblem, das daraus hervorgehende Schuldgefühl, das auch der Protagonistin von Tozzi suggeriert, bösartig zu sein, führt dazu, dass diese Figur an einer Art Atrophie der Erfahrung leidet, an einem Unvermögen, Bindungen einzugehen. Einer stärker genderperspektivischen Lektüre wird diese Form der Verstrickung und sozialen Atrophie suspekt erscheinen. Sie wird (dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden) die Frage aufwerfen, inwieweit in diese Technik der Selbstverstrickung und der Blickverlagerung nicht männliche Verdrängungs- und Zuschreibungsmuster, gleichsam als subtile doppelte Form der Ausgrenzung und Disziplinierung des Weiblichen, einfließen bzw. in ihr wirksam werden. Die vermeintlich autonomen Handlungen des weiblichen Subjekts könnten auch als kulturell motivierte Autor- Modellierungen erscheinen. 55 Augenfällig sind nämlich die dramatische Zuspitzung und die Gestaltung des Schlusses. Elena beschließt, so heißt es bei Tozzi, „mit der Leichtigkeit einer Toten“, „con una leggerezza di morta” (G. 408) zu ihrem Onkel zu gehen. Ihr, die „nicht mehr lächeln konnte“, die „nicht mehr sprechen konnte, weil sie sich in diesem Moment an nichts mehr erinnerte“ / „non sapeva più parlare, perché in quel momento non se ne ricordava“ (G, 408), ihr, der die Gesellschaft, personifiziert durch den Onkel, die Tür ins Gesicht schlägt, die totale, irreversible Ausgrenzung vor Augen führt, bleibt kein autonomer Raum mehr. Infolge der sozialen Grenzüberschreitung, die darin besteht, dass sie zum Onkel gegangen ist und nicht passiv alles auf sich genommen hat, wird sie fortan mit dem Makel der „diversità“ 56 , eines Andersseins versehen, das mehr als nur kultureller Sanktionierung bedarf: 53 „Wie ein gehetztes Tierchen“ (GW VII, 208). 54 „Er ist verrückt …, denkt nun Clementina und preßt die Hände zusammen. Oh Gott, er ist verrückt! Er ist verrückt! “ (GW VII, 209). 55 Vgl. bereits S. Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/ M. 1979, bes. ihr Kapitel zu Wedekind, S. 43ff.; ferner, allerdings nur mit Bezug auf deutschsprachige Texte: S. Catani, Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925, Würzburg 2005, u.a. das Kapitel „Zur literarischen Inszenierung der Frau und ihrer Sexualität“, S. 78f. 56 Vgl. dazu auch Luperini, S. 482. Zerfall des (weiblichen) Subjekts 127 Poi la fecero chiudere al manicomio (G., 408). 57 Wenn wir Lotmans Analyse des modernen erzählerischen Textes im Auge behalten und an die Wichtigkeit der Gestaltung des Schlusses als „Modell von der Welt“, als „Interpretation der Strukturen der Realität“ 58 glauben, wie sie dem Autor eigen ist, dann empfiehlt sich ein Blick auf den Epilog der gerade analysierten Novelle von Pirandello. Als ihr die Schwester bestätigt, dass jener junge Mann, der in sie verliebt zu sein schien, nach dem Tod seiner Verlobten wahnsinnig geworden war, kehrt alles in seine alte Ordnung zurück: Ah, ecco perché! Clementina, ascoltando questo racconto della sorella, sente riempirsi gli occhi di lacrime. Per quel giovane o per sé? Sorride poi pallidamente e dice con voce tremula a Lauretta: Me l’ero figurato, sai? Guardava me … (N.I, 457). 59 Ein Epilog dieser Art, der aufgrund der Vermengung von erzählender Stimme mit steigender Personalisierung des Erzählten als geradezu exemplarisch anzusehen ist, steht für das resignierte Sich-Einfügen einer Figur, die zur Vereinsamung gezwungen wird. Weibliche Figuren Pirandellos wie Eleonora, Clementina oder Zia Michelina 60 , die hinter der Fassade der sozialen Regeln eine abstoßende Wahrheit erkannt haben, wählen den Tod oder fügen sich in die Isolierung, in die Vereinsamung. Zugleich sind sie auch Gefangene der Rolle, die sie sich, in Befolgung der sozialen Konventionen, selbst auferlegt, ja der sie sich unterworfen haben. Die Frauengestalten bei Tozzi hingegen, die völlig ihrem Schicksal ergeben sind, auf dass sie keinen Einfluss nehmen können, verweigern sich diesen Spielregeln. Die Erzählstruktur der Epiloge, welche auf jede Form eines personalisierten Erzählens verzichtet, zeugt davon: 57 „Danach sperrten sie sie in ein Irrenhaus“. Ein Schluss, der in einem einzigen klaren Satz Ausdruck findet und der in seiner lakonischen Schärfe auf den Schluss eines anderen Romans von Tozzi, an Con gli occhi chiusi, verweist: „Quando si riebbe dalla vertigine violenta che l’aveva abbattuto ai piedi ai piedi di Ghìsola, egli non l’amava più” (in: F. Tozzi, Con gli occhi chiusi, Mailand 2000). 58 Vgl. J. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972. 59 „Ah, das war also der Grund! Clementina fühlt, während sie der Erzählung der Schwester zuhört, wie sich ihre Augen mit Tränen füllen. Um des jungen Mannes oder um ihrer selbst willen? Sie lächelt blaß und sagt dann mit zitternder Stimme zu Lauretta: Ich hatte mir’s gedacht, weißt du! Er schaute mich an …“, (GW VII, 209). 60 Nachdem sie ihre Jugend einem weit älteren Mann geopfert hat, der sie geehelicht hat, um dem Jungen eines Bruders die Mutter zu geben, wird Zia Michelina (1914) gezwungen, die dumpfe Leidenschaft des mittlerweile etwa Zwanzigjährigen zu ertragen. Nach dem Tod des Adoptivvaters stellt der Sohn Ansprüche auf Eheschließung mit der noch immer attraktiven „Tante“, die überdies einzige Erbin des beträchtlichen Vermögens des Verstorbenen ist. Das ökonomische und sexuelle Interesse stellt dabei die Gesetze der Natur auf den Kopf, auch jenes elementare der Mutterliebe: Vor diese primitive Grausamkeit gestellt, wählt Tante Michelina schließlich den Tod. Simona Bartoli Kucher 128 Poi la fecero chiudere in manicomio (Una gobba, G., 408). 61 Ella gli sorrideva, ed ogni giorno peggiorava (Una figliola, G., 218). Poi cominciò a spogliarsi, sbottonandosi dietro il collo (Un’osteria, G. 154). 62 E la giovane si desta, come da dentro il mucchio della spazzatura (Il crocifisso, G. 254). 63 Wo, wenn nicht in Schlüssen wie diesen tritt der Aspekt des Zerfalls, der Depersonalisierung des weiblichen Subjekts klarer hervor, um uns trotz ambivalenter Genderzeichnung - weibliche Stimmen kommen kaum selbst zu Wort - jenes Auseinanderbrechen von individuellen Ansprüchen und kulturellen Regeln vor Augen zu führen? - Ein Auseinanderbrechen, das als Charakteristikum modernen Erzählens gilt. # Baldacci, L., Tozzi moderno, Turin 1993. Bartoli Kucher, S., Paradigmi dell’ambivalenza. Modernità nella novella di Pirandello e Schnitzler, Mailand 1996. Bauman, Z., Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, aus dem Englischen von M. Suhr, Hamburg 1992. 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Zur Problematik weiblicher Identität in Arthur Schnitzlers Erzählung ,Frau Berta Garlan‘“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 41, 1997. 61 „Danach sperrten sie sie in ein Irrenhaus.“ 62 „Dann begann sie sich auszuziehen, wobei sie mit den Knöpfen hinter dem Hals begann.“ F. Tozzi, Eine Geliebte. Erzählungen, Aus dem Italienischen von M. Kahn und R. M. Seidl-Gschwend, 1990, S. 59. 63 „Und das Mädchen erwacht wie aus den Tiefen des Abfallhaufens.“ Zerfall des (weiblichen) Subjekts 129 Paetzke, I., Erzählen in der Wiener Moderne, Tübingen 1992. Pirandello, L., Gesammelte Werke in sechzehn Bänden (Hrsg. M. Rössner), Berlin 1997. Pirandello, L., Novelle per un anno I (Hrsg. P. Gibellini), Florenz 1994. Rumpold, A., „Sexuelle Attraktion - Gespielte Tugend. Die Erotische Ausstrahlung von Schnitzlers Frauenfiguren in ,Frau Berta Garlan‘ und ,Der Weg ins Freie‘“, in: Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche 39, Rouen 1994. 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Angela Fabris (Klagenfurt) % % " 6 0 6 @ Einen ersten Kontakt zwischen Hermann Broch und Francesco Burdin kann man leicht in einem lyrischen - aus freien Versen bestehenden - Text des Triestiners Burdin (1916-2003) nachweisen, in dem die poetische Instanz bekannte Namen der mitteleuropäischen Kultur aufzählt. In dieser Versserie wird Hermann Broch zusammen mit Musil, Kafka und anderen genannt. 1 Es handelt sich um eine Widmung, die den Text Ai miei popoli (1987) eröffnet und deren Adressat Franzil ist, Vater des Autors und „Untertan / des Kaisers und Königs“, der sich mit Freud und einer Reihe von Schriftstellern „das Vaterland“ teilte 2 . Evoziert wird hier indirekt die Donaumonarchie: ein symbolischer Ort, an dem die sinnerfüllte Totalität endet und die Fragmentierung ihren Anfang nimmt; ein Ort mit paradigmatischer Funktion, der auf Situationen in der heutigen Zeit verweist, in denen eine ähnliche Zersplitterung zum Tragen kommt. 3 & % Das Ende der k. und k. Monarchie läutet einen Zerfall der Subjektivität ein. Parallel zum Zusammenbruch des Habsburgerreiches erfolgt im literarischen Bereich die Auflösung des Subjekts. Ein literarisches Werk, das diesen Verfallsprozess illustriert, ist Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler (1931- 1932). In diesem Text gelingt es Broch, wie Zima in Das literarische Subjekt bemerkt, „verschiedene ideologische Weltbilder - das romantische, das anarchistische und das sachlich-kaufmännische - dialogisch aufeinander zu beziehen“. 4 1 F. Burdin, Ai miei popoli, Triest, 1987, S. 1. (An meine Völker, aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Renate Lunzer, Salzburg-Wien 1996, S. 7.) 2 Ibid., S. 1: „divise la patria con Kafka e con Freud / con Musil e con Rilke / con Hofmannstahl con Broch con Joszef con Schnitzler” („teilte er das Vaterland mit Kafka und mit Freud / mit Musil und mit Rilke / mit Hofmannsthal und Broch, mit Joszef und mit / Schnitzler“, S. 7.) 3 Vgl. C. Magris, L’anello di Clarisse, Turin 1984, S. 3. 4 P. V. Zima, Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen- Basel 2001, S. 152. Angela Fabris 132 Der dialogische Charakter des Textes, der sich zwischen diesen unterschiedlichen Weltbildern bewegt, tritt auch in vielfältigen Darstellungsformen, in denen sich sokratische Dialoge, Sonette, Prosaparabeln und naturalistische Erzählfragmente abwechseln, in Erscheinung. Diese Art von Dialogizität kann man vor allem im dritten Teil beobachten: in Huguenau oder die Sachlichkeit, dem Teil der Trilogie, der am wenigsten kohärent zu sein scheint. Dies wird in den Exkursen deutlich, die alle den Titel Zerfall der Werte tragen. Sie sind in 10 Etappen gegliedert, von denen einige von klärenden Nebentiteln begleitet werden. Als Beispiele seien genannt: der Logische Exkurs, 5 der Historische Exkurs, 6 der Erkenntnistheoretische Exkurs 7 und schließlich der Epilog. 8 Diese Textsegmente sollen hier von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet werden und den „Wertzerfall“, 9 der sich in einem parallel verlaufenden Zerfall des Subjekts spiegelt, in einem neuen Licht erscheinen lassen. Um diesen Zerfall des Subjekts besser zu verstehen, wollen wir im Folgenden einige Haupt- und Nebenakteure, die als Momentaufnahmen der Subjektlosigkeit erscheinen, genauer betrachten. Solche Momentaufnahmen sind in den Lebensläufen des Buchhalters Esch und des preußischen Offiziers Pasenow zu erkennen. Beide können nur in einer Welt, in der sich Schwarz und Weiß klar unterscheiden lassen, leben. Diese Deutung wird durch das Scheitern der beiden bestätigt: Pasenow wird den Verstand verlieren - ein romantischer Verfall - und Esch wird ermordet - ein Ende in der Anarchie. Beide Schicksale ergeben sich aus einer Situation, in der das Individuum nicht mehr bewusst lebt; im Gegenteil, es bewegt sich in einem Zustand des „Schlafwandelns“, den Broch als „Hindämmern“ 10 bezeichnet. Die Krise, die mit dem Zerfall der Einheit des Subjekts endet, beginnt für diese Akteure in dem Augenblick, da sie bemerken, dass sie in einer ihnen unverständlichen Welt leben. Der folgende Satz veranschaulicht, worum es geht: „Der Tag war zu Nacht geworden, wie die Nacht zum Tage.“ 11 Dieser Verlust der Eindeutigkeit macht sich auch in einer erhellenden Passage des zweiten Teils der Romantrilogie bemerkbar: „Nichts ist eindeutig, dachte 5 H. Broch, Die Schlafwandler, Frankfurt/ M. 1978, S. 470. 6 Ibid., S. 533. 7 Ibid., S. 618. 8 Ibid., S. 689. 9 Vgl. H. Broch, Der Wertzerfall und die Schlafwandler, in: ders., Die Schlafwandler, Frankfurt/ M. 1978, S. 734. 10 H. Broch, Die Schlafwandler, Frankfurt/ M. 1978, S. 593 11 Ibid., S. 143. Das Subjekt bei Broch und Burdin 133 Esch voll Zorn, nichts ist eindeutig, nicht einmal an solch schönem Frühlingstag.“ 12 Die Einheit von Schein und Wesen ist damit verloren gegangen, und die Welt besitzt nicht mehr die ihr eigene Wahrheit, die nunmehr ein Wert unter vielen geworden ist. In diesem neuen Kontext stellt der Hauptakteur Pasenow ein „Verfließen der Formen“ 13 fest. Es handelt sich um eine Wirklichkeitsauflösung, die er emblematisch in den Gesichtszügen zweier Frauen, die für ihn die seelische und physische Liebe verkörpern, entdeckt. Elisabeth, die unberührte Braut, stellt eine erste Erscheinungsform dieser Subjektlosigkeit dar, und zwar zu dem Zeitpunkt, da ihr Gesicht mit der umliegenden Natur verschmilzt: „Verwunderlich war es, wie damals Elisabeths Gesicht in die Landschaft geglitten war und wie er sich gequält hatte es herauszulösen.“ 14 Dasselbe geschieht mit dem Gesicht von Ruzena, einem Animiermädchen, zu dem Pasenow eine Beziehung knüpft: Wenn er ihr [Ruzena] dann lang in die Augen schaute und mit sanft tastendem Finger über ihre Lider strich und sie es für Liebe nahm, so versank er oftmals in ein angstvolles Spiel und er ließ dieses Antlitz ins Unbestimmte verdämmern, bis hart an die Grenze, wo es ins Unmenschliche umzukippen drohte und das Gesicht gesichtslos wurde. 15 Das ist jedoch keineswegs schon das Endstadium in diesem „Verlöschen der Gesichter“, 16 da am Ende des ersten Teils der Romantrilogie - d.h. in Pasenow oder die Romantik - die Auflösung noch weiter fortschreitet. Das Profil Elisabeths, das sich scharf gegen das Zugfenster abhebt, ruft zwei Reaktionen bei Pasenow hervor: einmal das beruhigende Ausbleiben der gefürchteten Vision, dass „ihr Gesicht zur Landschaft wurde“, 17 zweitens einen beunruhigenden Eindruck, der das Gefühl der Entmenschlichung noch steigert: Aber während er sie noch betrachtete, sah er, wie der Koffer, den man auf den Sitz gegenüber gestellt hatte, sich nicht minder scharf vom grauen Horizont abhob und es überkam ihn sinnlos verschärfte Angst, sie wäre ein Ding, eine tote Sache, nicht einmal eine Landschaft. 18 Diese Furcht deutet an, dass das „Verlöschen der Gesichter“ sich nicht mehr auf die Auflösung in der Landschaft beschränkt, sondern sich in Verdinglichung und Entfremdung verwandelt. 12 Ibid., S. 226. 13 Ibid., S. 130. 14 Ibid., S. 125. 15 Ibid., S. 127. 16 Ibid., S. 130. 17 Ibid., S. 171. 18 Ibid. Angela Fabris 134 Das Erreichen dieser letzten Phase der Auflösung beweist, wie wichtig die Formen für Pasenow sind. Sie sind als einzige geeignet, seinem Leben einen Sinn zu geben. In diesem Zusammenhang kann man seinen Versuch, den Zerfall der Werte durch Formgebung aufzuhalten, verstehen. Eine dieser Formen ist die Uniform, die in seinem Leben eine zentrale Rolle spielt. Die folgende Passage verdeutlicht die enge Beziehung zwischen Mann und Uniform: „(...) Und keiner, am allerwenigsten Joachim v. Pasenow, vermag dann noch anzugeben, wo die Grenze zwischen seinem Ich und der Uniform liegt.“ 19 Die Uniform, d.h. eine äußere Form als Symbol der Ordnung, der Hierarchie und der Disziplin, soll dem Subjekt helfen, die Unwägbarkeiten und Gefahren des zivilen Lebens beherrschbar zu machen. Die Uniform gewährt Schutz vor einer Welt der Ambivalenz: „(...) Ist es ja der Uniform wahre Aufgabe, die Ordnung in der Welt zu zeigen und zu statuieren und das Verschwimmende und Verfließende des Lebens aufzuheben.“ 20 Vielleicht besteht ihre wahre Aufgabe darin, in einer veränderten, ambivalenten Welt auch das eigene Ich, die eigene Freiheit aufzuheben? Dieser Verdacht drängt sich auf, weil die Uniform Ordnung in die Welt eines Offiziers bringt, weil sie „ihm nur einen schmalen Streifen persönlicher und menschlicher Freiheit ließ, nicht breiter als der schmale Streifen der Stärkmanschette, den die Uniform den Offizieren gestattet“. 21 Die Uniform stellt jedoch noch etwas anderes dar, weil sie eine Übereinstimmung von Charakter und Berufskleidung bewirkt. Nicht zufällig wird der Mensch in diesem Zusammenhang im sechsten Teil von Zerfall der Werte wie folgt beschrieben: Er wird ratlos bleiben im Getriebe der selbstständig gewordenen Werte, und nichts bleibt ihm übrig als die Unterwerfung unter den Einzelwert, der zu seinem Berufe geworden ist, nichts bleibt ihm übrig, als zur Funktion dieses Wertes zu werden, ein Berufmensch, aufgefressen von der radikalen Logizität des Wertes, in dessen Fänge er geraten ist. 22 Dies ist das Schicksal des Menschen, der nicht mehr „Gottes Ebenbild“ ist, der nicht mehr „Spiegel des Weltwerts“ 23 ist. Auch die Sorge um den „Buchungsfehler“ 24 in dieser Welt, die den Buchhalter Esch quält, ist in diesem Kontext zu deuten. Nicht umsonst bringt diese Sorge den Wunsch hervor, dem gesellschaftlichen Druck zu entkommen und gleichzeitig eine feste Ordnung zu schaffen. Könnte man eine solche feste Ordnung durch das Eintreten in irgendeinen Verein retten oder wieder herstel- 19 Ibid., S. 27. 20 Ibid., S. 24. 21 Ibid., S. 28. 22 Ibid., S. 498-499. 23 Ibid., S. 498. 24 Ibid., S. 479. Das Subjekt bei Broch und Burdin 135 len? Nein, lautet die endgültige Antwort von Esch im zweiten Teil der Romantrilogie. Die einschlägige Passage hört sich so an: „Diese Vereinsmeierei erschien Esch plötzlich ekelerregend: wozu gab es so viele Vereine? Sie machen die Unordnung nur noch größer und wahrscheinlich sind sie es, die all dies verursachen.“ 25 Recht und Unrecht hat dieser Held aus heutiger Sicht, da diese „Vereinsmeierei“ einerseits die Frage aufwirft, ob Individuen in einem Verein zu Subjekten werden oder ob im Verein Subjektivität geschwächt wird oder gar erlischt. So präsentiert sich das spätmoderne Subjekt, das wir in Brochs Text vorfinden, als zugleich ambivalent und gespalten. In diesem Kontext erscheint das anhaltende Streben nach Totalität in der Romantrilogie als ein Versuch, sich nicht mit dem Wertzerfall abzufinden, sondern ihm Widerstand zu leisten. Die Auflösung des Subjekts nimmt dort die verschiedensten Formen an, wie im letzten Teil die drei Parabeln zeigen, die man im Zusammenhang mit den „gelieferten Materialien zum Charakteraufbau“ 26 verstehen kann. Es sind drei Geschichten, die parallel verlaufen und in denen die körperliche und seelische Zersplitterung eine wichtige Rolle spielt. Hanna Wendling leidet an einem Bruch zwischen ihrem Ich-Kern und dem Körper-Ich, an einer Fraktur, die Broch in seiner Schrift Werttheoretische Bemerkungen zur Psychoanalyse herausgearbeitet hat. 27 Im Laufe der Zeit verliert die junge Frau den Bezug zu ihrem Mann, zu ihrer Umwelt, ja sogar zu sich selbst bis eine „Lähmung des Willens“ 28 eintritt, die schließlich in einen todesähnlichen Zustand mündet. Zwischen dem Aufstehen und dem Niederlegen hängt ihr Leben „wie ein schlaffer Seidenfaden“, „schlaff und sich kräuselnd vor Spannungslosigkeit“. 29 Affektiv verarmt sie immer mehr, bis sie zu einem rein geschlechtlich empfindenden, einsamen Wesen wird. Die von ihr selbst beobachtete Zersetzung ihres Gesichts endet - in ihren Eindrücken von sich selbst als gespaltene, zerfallende G estalt - mit der Vorstellung von einem „Einbruch von unten“. 30 Parallel zu diesem Zerfallsprozess erfährt Hanna Wendling in der Zeitung von der russischen Revolution und den Sowjets unter dem Titel „Der Einbruch von unten“. Dieser Einbruch wird von ihr als Steigerung der Entfrem- 25 Ibid., S. 230. 26 Ibid., S. 179. Diese Anmerkung befindet sich im vierten und letzten Abschnitt des ersten Romans und ist auch auf die restlichen zwei Teile beziehbar. 27 Vgl. H. Broch, Werttheoretische Bemerkungen zur Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 61. 28 H. Broch, Die Schlafwandler, op. cit., S. 593. 29 Ibid., S. 421. 30 Ibid., S. 640. Angela Fabris 136 dung aufgefasst. Auch das von ihr perfekt möblierte „Haus in Rosen“, 31 in dem sie isoliert lebt, verwandelt sich immer mehr, bis es schließlich seinen ursprünglichen Charakter verliert, weil auch die Beziehungen zwischen den Dingen gleichgültiger geworden sind. Ein anderer analoger Fall ist der des jungen Leutnants Jaretzki, der versucht, sich durch ungezügelten Alkoholkonsum zu betäuben, um seine Kriegserfahrungen auszulöschen: vor allem die Erinnerung an seinen amputierten Arm. Mit seinem schmächtigen Körper erscheint er als metaphorische Darstellung des Menschen seiner Zeit. Nicht einmal die Prothese, die er als Ersatz für den verlorenen Arm erhält, ermöglicht es ihm, die Einheit eines nunmehr zersplitterten Körpers wieder herzustellen. Diese Zersplitterung des Subjekts ist ein Element, das auch im dritten und letzten Teil der Trilogie im Zusammenhang mit dem Maurer und Landwehrmann Gödicke wiederkehrt. Der Mensch, der verschüttet gewesen war und gerettet wurde, erweckt sich selbst wieder zum Leben und muss mühsam von neuem seine „Konstruktionselemente“ 32 zusammentragen. Er soll durch die Neustrukturierung seiner einzelnen Teile ein „Gerüst“ 33 - so wird es im Text genannt - für sein Ich schaffen. Seine Geschichte stellt beispielhaft eine paradoxe Projektion der Subjektspaltung dar, wie folgende Passage zeigt: Es lebten in der Seele Gödickes vielerlei selbständige und intakte Spaltungsleben, von denen man eigentlich jedes einzelne als Gödicke bezeichnen durfte, und es war eine mühselige und kaum zu bewältigende Arbeit, sie alle unter einen Hut zu bringen. 34 Die Zersplitterung des Subjekts ist nun endgültig eingetreten. In der Tat veranschaulicht der „neue“ Gödicke mit seinem Versuch, die einzelnen Fragmente seines Selbst wieder zusammenzusetzen, nur die Spaltung, von der er betroffen ist, und lässt zugleich seine Entfremdung von den „vergangenen Gödickes“ (vom Knaben, vom Jüngling usw.) erkennen. Kurzum, es geht hier um Zerfall und Selbstentfremdung zugleich. Dies wird im folgenden Satz deutlich: „Er sah jene Gestalten wie durch ein rußgeschwärztes Glas.“ 35 Tatsächlich ist der „neue“ Gödicke nicht einfach die Summe der vielen Ichs seiner Vergangenheit, sondern etwas anderes, weil er durch den plötzlichen Riss in seiner Biografie - vor allem durch die kriegerische Erschütterung - von seinem Leben losgelöst und zu einem gespaltenen Subjekt wurde. Bleibt aber das Subjekt als solches trotz dieser Spaltung erkennbar? Hier schreitet die Sprache als Helferin ein, weil Gödicke in den Augen der anderen 31 Ibid., S. 446. 32 Ibid., S. 454. 33 Ibid., S. 428. 34 Ibid., S. 454. 35 Ibid. Das Subjekt bei Broch und Burdin 137 erst dann wieder zum Subjekt wird - wenngleich aufgespaltet und zersplittert, - als er Laute von sich gibt. Anfangs sind es gebrüllte, fürchterliche Laute: Es war kein richtiges Bellen, es war ein atemloses, schweres und sehr schmerzliches Herausstoßen von etwas, das kaum ein Ton war und von ganz tief herauskam. Der Landwehrmann Gödicke saß auf seinem Bett; seine Züge waren schmerzhaft verzerrt, und er war es, der auf so eigentümliche Weise lachte. Es war der erste Laut, den [? ] man seit seiner Einlieferung von ihm zu hören bekam. 36 In der Folge lässt er Sprachbrocken hören, ein entfremdetes Getuschel mit sich selbst oder aber alarmierende Schreie, die das spätmoderne Verhältnis zwischen Sprache und Subjekt widerspiegeln und symptomatisch für die Krise des Letzteren sind. Komplementär dazu macht sich in der letzten Szene, in der Gödicke erscheint, ein besonderes Element bemerkbar: das „brüllende Tierlachen“ 37 , das auf einen Rückfall ins Tierische, ins Instinktive hinzudeuten scheint. Auf diese Weise wird die rettende Macht der Sprache zunichte gemacht, weil diese in ein Element des Tierisch-Irrationalen verwandelt wird. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass das Subjekt, das in der Schlafwandler-Trilogie auftritt, angesichts der in der Ambivalenz zerfallenden Werte endgültig in eine Krise mit ungewissem Ausgang gestürzt wird. Dies wird durch die Auflösung der Formen und durch die Tendenz zur Verdinglichung bestätigt: durch die Unterwerfung des Subjekts unter das berufliche Rollenmuster und unter andere Äußerlichkeiten wie die Uniform. Hinzu kommt der Mangel an Einheit und körperlicher Identität, der als Metapher für eine zerrüttete Subjektivität aufzufassen ist. Auch Versuche, ein Gerüst aufzubauen, das geeignet wäre, die verschiedenen Segmente, aus denen das Subjekt besteht, zusammenzuhalten, ist wegen der Unmöglichkeit, eine ganzheitliche Rekonstruktion vorzunehmen, zum Scheitern verurteilt. Schon der Ausdruck „Gerüst“ deutet auf den unsicheren Status des Vorhabens hin. ' % Wenn dies der Kontext ist, in dem das Problem der Subjektivität in Brochs Roman behandelt wird, kann man sich vom Vergleich mit dem im Jahre 1916 geborenen italienischen Autor Francesco Burdin, dessen Texte für die Schlussphase des italienischen Novecento stehen 38 , eine Vervollständigung der spätmodernen Subjektproblematik durch Feststellung von Übereinstim- 36 Ibid., S. 480. 37 Ibid., S. 671. 38 Zu einer umfassenden Darstellung der literarischen Laufbahn Francesco Burdins vgl. Vf.in, Un „de/ scrittore“ irriverente. Le strategie letterarie di Francesco Burdin, Pasian di Prato (Udine) 2004. Angela Fabris 138 mungen und Abweichungen versprechen. Es trifft jedenfalls zu, dass Broch und Burdin eine geistige Verwandtschaft verbindet. Davon zeugt der explizite Hinweis auf Broch im Autodizionario degli scrittori italiani, in dem Burdin über sich selbst in der dritten Person schreibt: Nel seguire il tracciato di un’opera tanto complessa quanto estrosa è stato agevole trovarne le radici nella tradizione mitteleuropea, da Musil a Broch e a Svevo; ma non è stata trascurata l’ascendenza di un altro ‚periferico‘, Luigi Pirandello. Al pari dei quattro nominati, Burdin è scrittore di cose e non di parole. 39 (Im Nachvollzug der Entwicklung eines vielschichtigen wie einfallsreichen Werks war es nicht schwierig, dessen Wurzeln in der mitteleuropäischen Tradition zu finden: bei Musil, Broch und Svevo, wobei jedoch die Abstammung von einem anderen ‚peripheren Europäer‘, nämlich Luigi Pirandello, keinesfalls vernachlässigt wurde. Ähnlich wie die vier hier genannten Schriftsteller ist Burdin ein Schriftsteller der Dinge, nicht der Worte.) 40 Der Hinweis auf Broch kehrt unter anderem in Davenport (1983) wieder, einem Roman, in dem vom paradoxen Fall des bekannten Schriftstellers F. B. erzählt wird, von dem angenommen wird, dass er bei einem Flugzeugunglück umgekommen ist, und der seinen postumen literarischen Erfolg einer Reihe von Texten verdankt, die er seiner Witwe durch verschiedene Tricks zukommen lässt. Es ist ein Roman voller Streifzüge durch die Literatur, in dem ein Spiel mit Text und Zitat inszeniert wird, an dem der Autor, der Herausgeber und das erzählende Ich als Überlebender teilnehmen. In einer der Exkursionen in die Literatur wird Hermann Broch mit seinem Roman Die Schuldlosen zitiert: ähnlich wie in einer der Sette variazioni su un tema universale, so der Untertitel von Manes (1988), einem Text, in dem es u.a. darum geht, literarische Identitäten zu erforschen. In beiden Fällen (insbesondere im ersten Fall) bereitet die Verwendung von Intertextualität und Zitat eine völlige Auslöschung der Subjektivität vor. Hier zeigt sich, wie Broch und Burdin, jeder auf seine Art, die Auflösung des Subjekts in der Literatur beschreiben. Ihre Geistesverwandtschaft erklärt sich aus ihrer Zugehörigkeit - effektiv für den einen, wahlweise für den anderen - zum österreichischungarischen oder mitteleuropäischen Kulturkreis. Wie der Wiener Broch geht auch Burdin von einer kontinuierlichen Dialektik zwischen Gegensätzen aus. Vor allem in dem bereits zitierten Text Ai miei popoli - 1996 unter dem Titel An meine Völker ins Deutsche übersetzt, was vom Interesse für diesen Autor auch außerhalb von Italien zeugt -, richtet Burdin sein Schreiben auf das zweideutige Verhältnis aus, das zwischen Wahrheit und Fiktion herrscht. So entsteht ein Roman des „Möglichkeitssinns“, der zwischen dem Reellen und dem Hypothetischen angesiedelt ist. 39 F. Piemontese (Hrsg.), Autodizionario degli scrittori italiani, Mailand 1990, S. 80. 40 Übersetzung der Autorin. Das Subjekt bei Broch und Burdin 139 Unter diesem Gesichtspunkt wird das tragische Attentat von Sarajewo unter fiktionalem Aspekt wiedergegeben. Das Wieder-in-Erinnerung-Rufen dieses Vorfalls und der Titel selbst, der den Sprachduktus wiedergibt, den Kaiser Franz Josef in seinen Bekanntmachungen verwendete, um den internationalen Charakter der Doppelmonarchie zu bestätigen, lassen diese Erzählungen in einem historisch-habsburgischen Kontext erscheinen. Auch Burdin präsentiert sich wie der Autor der Schlafwandler-Trilogie durch den Rückgriff auf eine Reihe bunt gemischter Schreibmodi wie den Essayroman, das aphoristische Fragment, den freien Vers, den Dialog und nicht zuletzt den Zitat-Roman als Meister der Intertextualität. Es handelt sich in seinem Fall um eine wahrhaft dialogische Begabung, die die verschiedensten Darstellungsmittel und -formen einschließt, zu denen auch die Aphorismen gehören. In der Tat enthält die umfangreiche Produktion Burdins neben den neun Romanen und den vier Novellenbänden auch zwei Aphorismen- Bände mit aussagekräftigen Titeln: Frammenti di un mondo in bilico („Fragmente aus einer Welt auf der Kippe“, 1991) und Un milione di giorni („Eine Million Tage“, 2001). 41 Der Aphorismus, der in seinem Wesen als „knapp formulierte Wahrheit auf weißer Fläche“, als eine Art Reduktion auf das Mindestmaß zu verstehen ist, ist eine Konstante in Burdins Werdegang. Burdins Aphorismus erforscht den fruchtbaren Zweifel in einer Welt der Ungewissheit, in der es keine stabilen Wertsetzungen mehr gibt. In diesem Kontext des Wertzerfalls, in dem klare Bezugspunkte fehlen, ist Burdins Subjektproblematik zu betrachten. In der ersten Phase seiner erzählerischen Produktion, zwischen den sechziger Jahren und der ersten Hälfte der siebziger Jahre, erscheint das Subjekt als eine der Bürokratie unterworfene Instanz, deren Niedergang vor allem in Eclisse di un Vice Direttore Generale (1969) geschildert wird. Hier entdeckt das erzählende Ich, der sechzigjährige, kurz vor seiner Pensionierung stehende De Michelis, wie seine eigene Subjektivität vollends hinter der Berufsmaske verschwindet, die von ihm wie von jedem anderen „la simulazione, la frode, l’adulazione, la calunnia, l’ipocrisia, l’imprudenza, la prevaricazione“ 42 („die Simulation, den Betrug, das Schmeicheln, die Verleumdung, die Scheinheiligkeit, die Unvorsichtigkeit, den Machtmissbrauch“ 43 ) verlangt - d.h. den Einsatz aller Mittel, die dem Erreichen größter Macht sachdienlich sind. 41 Der erste Band sammelt 389 von E. Guagnini und B. Maier ausgewählte Aphorismen Burdins ohne ersichtliche Reihenfolge; der zweite hingegen behandelt das aphoristische Werk des Schriftstellers systematisch auf der Grundlage einer präzisen Vorgehensweise: Jahr für Jahr, ausgehend von 1960, gruppiert er die Aphorismen nach einem chronologischen Kriterium. 42 F. Burdin, Eclisse di un Vice Direttore Generale, Mailand 1969, S. 207. 43 Übersetzung der Autorin. Angela Fabris 140 Es handelt sich um eine Unterwerfung unter die Diktate der Bürokratie, die in Marzo è il mese più crudele („März ist der grausamste Monat“, 1973) noch eindeutiger in Erscheinung tritt, wo auf über 500 Seiten Sexualität und beruflicher Ehrgeiz zu Triebfedern der Handlung werden. Ein Beispiel für diesen Sachverhalt ist die Ankündigung der bevorstehenden Schaffung eines Generalinspektorpostens im großen und einflussreichen Unternehmen „Libertas“ (das im Zentrum der Handlung steht), die unter den Anwärtern eine skrupellose und zynische Schlacht um die Besetzung auslöst. Auch das Nahen des Todes - einer der Beteiligten ist krebskrank - führt nicht aus dem Labyrinth der Intrigen hinaus und mildert auch nicht den skrupellosen und ungezügelten Wettkampf. Dies sind Symptome einer kranken Subjektivität, die einem bürokratischen Determinismus zum Opfer gefallen ist. In Bezug auf Marzo è il mese più crudele hat Mario Baldacci „certi grandi affreschi di Hermann Broch“ 44 („einige der großen Darstellungen Hermann Brochs“) 45 in Erinnerung gerufen. Freilich handelt es sich hier nicht um einen nachweisbaren Einfluss, sondern um eine intertextuelle Verwandtschaft, die dem mit der mitteleuropäischen Kultur vertrauten Leser auffällt. Solche Parallelen nehmen dort konkrete Umrisse an, wo die elfjährige Catti von Adriano Tessitore, einem Betriebsleiter der „Libertas“, der befördert werden soll, verführt wird. Diese Szene erinnert an den dritten Teil von Brochs Trilogie, wo Huguenau eine Beziehung zu einem achtjährigen Waisenmädchen erwägt, das - sich selbst überlassen - beschließt, „allein in die Welt hinauszuwandern“. 46 Anders als in der Schlafwandler-Trilogie, wo es zu keiner echten Beziehung zwischen Huguenau und der Minderjährigen kommt („Ich kann dich nicht brauchen … du bist noch nicht vierzehn“) 47 , wird der Geschlechtsakt in Marzo è il mese più crudele mit „un soddisfacimento fisico per la prima volta integrale“ 48 („einer zum ersten Mal vollständigen körperlichen Befriedigung“) 49 vollzogen. Während der Deserteur und künftige Mörder Hugenau vor der Verführung einer Minderjährigen zurückschreckt, geht der scheinbar anständige Adriano Tessitore bis ans Ende. Dies ist nur das Symptom eines krankhaften Triebes, der sich mit der Zeit immer häufiger bemerkbar macht und schließlich eine befreiende Entscheidung bewirkt: Ganz unerwartet beschließt Tessitore, nachdem er den beschämenden pädophilen Instinkt in sich selbst entdeckt hat, sich mit seiner Schuld und dem öffentlichen Skandal, den 44 L. Baldacci, „Un’Italia tutta aziendale in un romanzo morale e storico“, in: Epoca 1231, 5. Mai 1974. Es handelt sich um einen intertextuellen Hinweis, der auch in der Rezension von Ilo de Franceschi, „Tre voci pulite“, (in Il Piccolo, 20. Januar 1974) vorhanden ist. 45 Übersetzung der Autorin. 46 H. Broch, Die Schlafwandler, op. cit., S. 653. 47 Ibid., S. 663. 48 F. Burdin, Marzo è il mese più crudele, Bari 1973, S. 305. 49 Übersetzung der Autorin. Das Subjekt bei Broch und Burdin 141 sie bewirken wird, bewusst auseinanderzusetzen. Es scheint sich hier um einen verzweifelten Versuch zu handeln, die eigene Identität zu akzeptieren. In diesem Sinne kann der perverse Sexualtrieb - auch wenn er sich nur kleinen Mädchen gegenüber manifestiert - aus dem paradoxen Versuch hervorgehen, ein neues Wertsystem ins Leben zu rufen, das trotz seines kriminellen Charakters den Vorteil hat, die herrschende Normlosigkeit zu ersetzen. Aber um welche Art von Wertsystem kann es sich in diesem Fall handeln? Welcher Wert kann der Verführung einer Minderjährigen innewohnen? Möglicherweise kann sie über den Tod hinwegtäuschen, über ihn triumphieren. In diesem Sinn wäre die geistige Verwandtschaft zwischen Broch und Burdin nicht nur in der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem mitteleuropäischen Kulturbereich zu suchen, den die Einheit der Gegensätze prägt, sondern auch in der Erforschung des Grenzgebietes zwischen Leben und Tod. Dies alles zeugt vom Schlafwandlertum, dem Brochs Trilogie gewidmet ist und das auch in einem von Burdin zitierten Aphorismus im Vordergrund steht: Oggi si nasce morti. Alcuni riescono a diventare a poco a poco vivi.“ („Heute kommt man tot zur Welt. Einigen gelingt es, nach und nach zum Leben zu erwachen.“) Dieses Axiom, das aus der Feder von Bobi Bazlen, eines anderen genialen Triestiners, stammt, wird von Burdin im bereits erwähnten Autodizionario degli scrittori italiani wiederholt, und zwar an der Stelle, an der er, wie immer, über sich in der dritten Person schreibt: „Ogni romanzo e ogni racconto di Burdin è, a bene considerare, la storia di quel ‚a poco a poco‘.“ 50 („Jeder Roman und jede Erzählung Burdins ist, genau genommen, eine Geschichte dieses ‚nach und nach‘.“) 51 Es handelt sich hier um eine Anspielung auf die von Burdin angestellten Nachforschungen zu Grenzbereichen zwischen Leben und Tod, zu Bereichen, die in einigen paradoxen Erzählungen analysiert werden: etwa in Apoteosi di un libertino (1993), in dem die höchst erstaunlichen Erlebnisse eines plötzlich von der Katalepsie befallenen Mannes in erster und dritter Person erzählt werden. In dieser prekären Lage nimmt der Romanheld den einzigen ihm verbleibenden Sinn, den Gehörsinn, in Anspruch, der es ihm gestattet, mit seinen Familienangehörigen zu kommunizieren, die seine Krankheit und die Neugier der Umgebung nutzen, um zahlende Besucher anzulocken. Den Blicken und Kommentaren der Öffentlichkeit ausgesetzt, vertraut sich der Held seinem sprunghaften Gedächtnis an, mit dessen Hilfe er seine Entwicklung fragmentarisch rekonstruiert, bis ein Bild entsteht, in dem die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. 50 F. Piemontese (Hrsg.), Autodizionario degli scrittori italiani, op. cit., S. 81. 51 Übersetzung der Autorin. Angela Fabris 142 Auf diese Weise entdeckt der Leser, der einer für alle Peripetien offenen Schreibweise folgt, dass der von einer Katalepsie Heimgesuchte zuvor in jeder Hinsicht ein Freigeist, ja sogar ein Gigolo war (abermals ein Determinismus, wenn auch mit sexuellem Hintergrund). Er entdeckt auch, dass das einzige Merkmal, das ihn auszeichnet, das Kürzel A. Z. ist, in dem der erste Buchstabe mit aller Wahrscheinlichkeit auf seinen Status als Abwesender („assente“) anspielt. Am Ende lauscht der halb tote, halb lebendige Held den immer weiter entfernten und schwächer werdenden Geräuschen einer Welt, die nun der Vergangenheit angehört. Noch karger wirkt die Erzählweise in Il viaggio a Varsavia (1973). Der Held dieses Romans, der aus 21 Kurzgeschichten besteht, wird einfach als „ein Mann“ („Un uomo“) präsentiert. Diese Kurzformel, die immer wieder von einem Verb gefolgt wird, das eine Handlung oder eine Veränderung beschreibt, leitet einen Erzählmechanismus ein, der durch den Gebrauch der dritten Person von Verfremdungseffekten beherrscht wird. Zum Beispiel: Un uomo assiste da dietro i vetri di una finestra al passaggio della gente e dei veicoli nella strada. 52 (Ein Mann beobachtet, hinter einer Fensterscheibe stehend, das Vorbeiziehen der Leute und Fahrzeuge auf der Straße.) Un uomo si attarda al balcone e fuma contemplando il cielo stellato di agosto. 53 (Ein Mann steht auf dem Balkon u nd raucht, während er den sommerlichen August-Sternenhimmel betrachtet.) Un uomo si sveglia e nella penombra non riconosce la camera in cui si trova. 54 (Ein Mann erwacht und erkennt in der Dämmerung nicht das Zimmer, in dem er sich befindet.) Auf diese Weise wird das Subjekt austauschbar; es wird zum Doppelgänger seiner selbst: nicht im Versuch, die vielfachen, in ihm vorhandenen Möglichkeiten zu realisieren, sondern im Bestreben, stets mit sich selbst identisch zu sein. Es wird auf ein Minimum an Charakter reduziert. In diesem Sinn erscheint „ein Mann“ als Synekdoche des allgemeinen Zustands, in dem sich das zeitgenössische Subjekt befindet. Dieses wird zu einer in jeder Hinsicht austauschbaren Instanz. Dieser Zustand lässt das Subjekt als Chimäre oder ideologisches Trugbild erscheinen und lässt den Gedanken an eine sich ausbreitende Identitätslosigkeit aufkommen. Davon zeugt die folgende Passage: Può darsi che gli uomini si illudano di nascere, di vivere, di morire e che concretamente la società umana non esista, non sia mai esistita, costituisca semplicemente l’oggetto del pensiero di un soggetto inesistente. (Mag sein, dass sich die Men- 52 F. Burdin, Il viaggio a Varsavia, Padua 1973, S. 11. 53 Ibid., S. 47. 54 Ibid., S. 115. Das Subjekt bei Broch und Burdin 143 schen einbilden, zur Welt zu kommen, zu leben, zu sterben und dass die menschliche Gesellschaft konkret nicht existiert, nie existiert hat und einfach den gedanklichen Gegenstand eines nicht existenten Subjekts darstellt.) 55 Das beweist auch der Albtraum der Anonymität, der alle Erzählungen aus Il viaggio a Varsavia durchzieht. Eine Ausnahme bildet die Erzählung, die aus eingeschobenen und kursiv gedruckten Fragmenten besteht und eine klärende Funktion erfüllt: sowohl durch die Verwendung der ersten Person als auch durch ihre thematische Nähe zum Titel. Am Ende des Werks, in der Stille eines Krankenhauszimmers, befreit sich Francesco B. (man achte auf die Ähnlichkeit mit dem Namen des Autors) als Opfer eines verfehlten Identifikations- und Erkenntnismechanismus von jeglicher Täuschung und behauptet: Poiché non si presta fede alle mie affermazioni, poiché si respinge la mia identità e nessuno intende riconoscermi, è come se non fossi mai esistito. (...) Quasi che io fossi già scomparso, non soltanto per gli altri. Per me. (Da man meinen Aussagen keinen Glauben schenkt, da man meine Identität ablehnt und niemand mich zu erkennen beabsichtigt, ist es, als hätte ich nie existiert. [...] Es ist so, als wäre ich bereits verschwunden, nicht nur für die anderen. Für mich.) 56 Wir haben es hier mit einer von sich selbst entfremdeten Gestalt ohne Vergangenheit zu tun, die sich in einem „stato di incoscienza simile al sonnambulismo“ 57 („Zustand einer dem Schlafwandeln ähnlichen Bewusstlosigkeit“) befindet, wie in der Erzählung zu lesen ist. Hier zeigt sich, dass für die Protagonisten von Burdins Romanen und Erzählungen - fast alles Personen im fortgeschrittenen Alter - der Moment kommt, in dem sie entdecken, dass sie nie gelebt haben, keine wahre Subjektivität besaßen, weil sie den rigiden beruflichen Mechanismen unterworfen waren und deshalb nur eine minimale oder gar keine Identität hatten. Obwohl diese Entdeckung in ihnen zuweilen Selbstreflexion, Skrupel und Kritik hervorruft, erscheinen diese Reaktionen doch nur - das behauptet auf allgemeiner Ebene P. V. Zima, aber es gilt auch für die Situationen, die in Burdins Texten beschrieben werden - „als Überreste einer verschollenen metaphysischen Ära“. 58 Der letzte Titel Burdins, der für das Thema „Subjektivität“ von Bedeutung ist, ist Antropomorfo (1979). Der Romanheld Angelo ist ein Mann ohne Beine, Arme und Stimme, der mit seiner stummen Anwesenheit eine extreme Reduktion des Menschlichen zu evozieren scheint. Dennoch bemerkt er selbst im inneren Monolog, dass der Besitz der Gliedmaßen und der Sprache keinesfalls die Fähigkeit, sie zu benutzen, gewährleistet. Im Gegenteil: Die Gestalten, deren Schicksal dem des Romanhelden ähnelt, scheinen hilflos sexuellen 55 Ibid. S. 137. Übersetzung der Autorin. 56 F. Burdin, Il viaggio a Varsavia, Padua 1973, S. 201-202. Übersetzung der Autorin. 57 Ibid., S. 40. 58 P. V. Zima, Das literarische Subjekt, op. cit., S. 239. Angela Fabris 144 Impulsen ausgeliefert zu sein. Aus diesem Grunde beschließt Angelo nach einer gründlichen Analyse des Menschseins, sich in völlige Abgeschiedenheit - eine Form von Abwesenheit - zurückzuziehen, und verkündet: „Io mi dimetto, io mi dimetto da uomo / io mi dimetto.“ 59 („Ich verabschiede mich, ich verabschiede mich vom Menschsein / ich verabschiede mich.“) Abschließend kann festgestellt werden, dass wir bei Burdin kein Subjekt mit fester Physiognomie mehr vorfinden. Vielmehr zerfällt das Subjekt in einem Prozess progressiver Fragmentierung. Bei Broch wird dieser Zerfallsprozess am Fall des Maurers und Landwehrmanns Gödicke veranschaulicht. Hier wird angekündigt, was dreißig Jahre später Alain Robbe-Grillet diagnostiziert: „Der Personenroman gehört sicherlich der Vergangenheit an, denn er ist für eine bestimmte Epoche kennzeichnend: die Epoche, in der die Entfaltung des Individuums ihren Höhenpunkt erreichte.“ 60 Tatsächlich hat der Niedergang des Subjekts schon mit Broch begonnen, schon in seiner Trilogie zeichnen sich die Spaltung des Subjekts und der Zerfall seiner Identität ab. Anders gesagt: Der Zerfall der Werte in Brochs Trilogie führt zur Auflösung der Formen und bringt das Phänomen eines „atrophierten Subjekts“ 61 hervor. Davon zeugt die „Lähmung des Willens“ bei Hanna Wendling oder die Verstümmelung des menschlichen Körpers beim einarmigen Jaretzki, der metaphorisch die drastische Reduktion menschlicher Subjektivität darstellt. Nicht einmal soziale Formen wie Uniform oder Vereinsmeierei vermögen diesen Sturz in einen Zustand der Subjektlosigkeit aufzuhalten Bei Burdin scheint in einer stark säkularisierten Gesellschaft nicht einmal der Schriftsteller selbst an das Subjekt glauben zu können. Er stellt es einerseits in seiner Beschränktheit als atrophiertes Wesen ohne moralische Bindungen dar, das dem Geschlechtstrieb, dem Machtstreben und den beruflichen Ritualen hilflos ausgeliefert ist; andererseits erscheint es ihm als ein radikal weltliches Wesen, dem Gott als oberstes Subjekt nichts mehr bedeutet. Diese Beschreibung einer fortschreitenden Liquidation der Subjektivität hat auch die Austauschbarkeit der Individuen und das anonyme Umfeld, in dem sie leben, zum Gegenstand. Hinzu kommt die Fragmentierung oder Verstümmelung des menschlichen Körpers, die ebenfalls - sowohl bei Broch als auch bei Burdin - von einer Reduktion der menschlichen Subjektivität zeugt. Wir haben es immer wieder mit Analysen eines Subjekts zu tun, das im literarischen Schaffen von Burdin seine Bedeutung nach und nach verloren hat; eines Subjekts, das bei Broch noch A ussicht auf Rettung hatte, das aber bei Burdin endgültig zerfallen ist. 59 F. Burdin, Antropomorfo, Venedig 1979, S. 327. 60 A. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris 1963, S. 33. 61 Vgl. P. V. Zima, Das literarische Subjekt, op. cit., S. 237. Das Subjekt bei Broch und Burdin 145 # Broch, H., Die Schlafwandler, Frankfurt/ M. 1978. Broch, H., „Werttheoretische Bemerkungen zur Psychoanalyse“, in: Philosophische Schriften, Bd. II, Frankfurt/ M. 1977. Burdin, F., Eclisse di un Vice Direttore Generale, Einleitung von G. Gramigna, Padua 1969. Burdin, F., Il viaggio a Varsavia, Einleitung von G. Gramigna, Padua 1973. Burdin, F., Marzo è il mese più crudele, Einleitung von M. Lunetta, Bari 1973. Burdin, F., Antropomorfo, Einleitung von C. De Michelis, Venedig 1979. Burdin, F., Davenport, Mailand 1983. Burdin, F., Ai miei popoli, Nachwort „Ipotesi su uno scrittore di ipotesi“ von E. Guagnini, Triest 1987. Burdin, F., An meine Völker, aus der Italienischen und mit einem Nachwort von R. Lunzer, Salzburg-Wien 1996. Burdin, F., Frammenti di un mondo in bilico, Görz 1991. Burdin, F., Un milione di giorni (Hrsg., Einleitung G. Ruozzi), Venedig 2001. Fabris, A., Un „de/ scrittore“ irriverente. Le strategie letterarie di Francesco Burdin, Pasian di Prato (Udine) 2004. Magris, C., L’anello di Clarisse, Turin 1984. Schiavoni, G., Hermann Broch, Florenz 1976. Robbe-Grillet, A., Pour un nouveau roman, Paris 1963. Zima, P. V., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen- Basel 2001. Zima, P. V., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2000. Zima, P. V., Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2001. Patrizia Farinelli (Laibach) % $ $ " $ & & ( In den zwei Jahrzehnten zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg greift der Kritiker, Erzähler und Dramaturg Massimo Bontempelli 1 entscheidend in die zeitgenössische Debatte über die Begriffe „Subjekt“ und „Identität“ ein. Er betrachtet das Subjekt aus zwei Perspektiven, aus der soziologischen und der poetologischen. Einerseits äußert er sich zum Menschen als historischem Subjekt, insbesondere zur Figur des Schriftstellers und zu dessen Beziehung zur zeitgenössischen Welt; andererseits ist das Subjekt als literarisches Konstrukt, als Figur Gegenstand seiner Überlegungen. Sowohl auf historisch-soziologischer als auch auf literarischer Ebene reagiert Bontempelli mit seinen Argumenten auf eine „schwache“ Subjektauffassung und setzt ihr die Vorstellung eines Subjekts entgegen, das nicht in der Resignation lebt, sondern des Staunens fähig ist, seinem Handeln bzw. seinem Schicksal aktiv begegnet und moralische Verantwortung übernimmt. Die Besonderheiten seines Subjektbegriffs sollen in diesem Beitrag genauer bestimmt werden. Bontempelli lehnt vor allem den Aktionismus ab, wenn es um den existierenden Menschen und den Schriftsteller im Besonderen geht, wobei 1 Bontempelli (1878-1960). Nach dem Studium in Turin siedelte er 1910 nach Florenz über, wo er eine Stelle beim Verleger Sansoni erhalten hatte. 1915-16 schrieb er als Kriegsreporter für italienische Tageszeitungen und ging 1917 freiwillig an die Front. Nach dem Ersten Weltkrieg lebte er in Mailand, wo er seine ersten Romane und Theaterstücke veröffentlichte. Er sympathisierte mit dem Faschismus; in dieser politischen Bewegung sah er eine Möglichkeit zur Modernisierung Italiens. 1924 wurde er Mitglied der PNF. Ab 1936-37 wichen seine Ansichten häufig von den offiziellen Positionen der Partei ab. 1938 lehnte er den Lehrstuhl ab, den der Literaturkritiker Momigliano infolge der Rassengesetze verloren hatte. Im selben Jahr wurde ihm der Mitgliedsausweis der faschistischen Partei entzogen. Schon vor dem Beginn des Krieges kam Bontempelli mit Antifaschisten und Kommunisten in Kontakt. Nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte er einige Beiträge in der kommunistischen Tageszeitung L’Unità. Zu diesen Angaben vgl. „Cronologia generale“ in M. Bontempelli, Lettere da due mari; Visita ai vinti; Pezzi di mondo, S. Cigliana (Hrsg.), Palermo 2008, S. 203-228. Zur komplexen kulturpolitischen Position Bontempellis siehe vor allem F. Airoldi Namer, „Gli scritti teorici di Massimo Bontempelli nei ‚Cahiers du ’900‘ e la ricostruzione mitica della realtà“, Studi novecenteschi IV, 12, 1975, S. 248-269. Patrizia Farinelli 148 er darauf besteht, dass dieser immer hinter seinen Handlungen und Wertsetzungen stehen soll. Was hingegen seine Protagonisten angeht, so agieren diese nicht aus eigenem Antrieb, obwohl es sich im Allgemeinen um Gestalten handelt, die sich mit den Ereignissen souverän und konsequent auseinandersetzen. Hier sollte man jedoch genau zwischen seinem Früh- und seinem Spätwerk unterscheiden: Während der homo fictus seiner früheren Werke vom Zufall bewegt wird, ist es in den späteren Werken - in Analogie zu mythischen Figuren - eine höhere, schicksalhafte Instanz, die sein Handeln lenkt. Was die Methodologie dieser Untersuchung betrifft, so sollen anhand eines Vergleichs von Bontempellis literarischen Werken mit seinen theoretischen Ansätzen bzw. mit der von ihm seit Mitte der Zwanzigerjahre propagierten Tendenz des Novecentismo Überlegungen zu seiner Ablehnung eines passiven Subjekts angestellt werden. ' @@ % $ J & Anhand der Avventura novecentista ist es möglich, die Gedanken unseres Schriftstellers zum Subjekt aus den beiden eingangs erwähnten Perspektiven zu verfolgen. Dieser Text, der 1938 erschien, enthält Artikel kritischer, theoretischer und polemischer Art, die nach thematischen Kriterien geordnet sind. Sie sind im Laufe von mehr als einem Jahrzehnt entstanden und zum großen Teil bereits veröffentlicht worden. Dazu gehören auch die Texte in der von Bontempelli 1926 mitbegründeten literarischen Zeitschrift „900“ (Cahiers d’Europe et d’Italie). Es handelt sich in allen Fällen um Beiträge, die in einer direkten, scharfen und manchmal sogar respektlosen Sprache formuliert sind, sich durch argumentative Klarheit und Kohärenz auszeichnen und scharfsinnige Aussagen über unterschiedliche kulturelle Phänomene enthalten. Immer wieder lässt sich der Autor auf Polemiken ein. Von zentraler Bedeutung ist zweifellos seine scharfe Auseinandersetzung mit einer Literatur, die sich nicht zu erneuern weiß und im Psychologischen, Intimen, Sentimentalen und Subjektiven verankert bleibt. Nicht unwichtig sind in der Avventura novecentista auch seine Einwände gegen den Ästhetizismus. Darüber hinaus richtet sich der Blick des Kritikers polemisch auf jene Art von Intellektuellen und Künstlern, die in die Tradition zurückkehren, weil sie unfähig sind, vorurteilslos mit einem konstruktiven Projekt auf eine gesellschaftlich und kulturell veränderte Welt zu reagieren. Denn er sah die Kunst als etwas, was sich nur dann behauptet und wächst, solange es sich zu erneuern weiß. Bontempelli nahm besonders gegen zwei Übel der italienischen Literatur seiner Zeit Stellung: gegen die Fortsetzung der Romantik und des Verismus. Darüber hinaus beklagte er andere gravierende soziokulturelle Schwächen Italiens, nicht zuletzt seinen Provinzialismus. Schon deshalb sollte die Literaturzeitschrift „900“ Bontempellis Repositionierung des Subjekts 149 den Intentionen ihrer Redakteure zufolge auch eine europäische Komponente aufweisen; um neue Werke und Autoren vorzustellen, veröffentlichte sie z.B. auch ein Kapitel aus Joyces Ulysses. 2 Die Aufgabe, sich von der herrschenden Dekadenz zu verabschieden und eine neue Kultur im Einklang mit dem Zeitgeist des 20. Jahrhunderts aufzubauen, übertrug Bontempelli der Kunst. Laut seinem Projekt sollte diese keine Subjektivität ausdrücken. Der Künstler sollte zugunsten des Werks in den Hintergrund treten, jedoch nicht mehr im Sinne des Naturalismus und des Verismus: denn Bontempelli lehnte eine Auffassung der Kunst als Mimesis radikal ab. „Das höchste Ideal jedes Künstlers sollte sein, anonym zu werden“ 3 , schrieb er. In eine ähnliche Richtung weist seine Ansicht, dass die Aufgabe des Kritikers nicht darin besteht, die Gefühle des Autors darzustellen. Im Einklang mit den gesellschaftlichen Veränderungen bzw. mit der Entstehung einer Massengesellschaft verlangte er von Künstlern und Schriftstellern die Fähigkeit, ein breites Publikum anzusprechen. Dabei scheint er Positionen zu vertreten, die einige Jahre später auch Walter Benjamin verteidigen wird, allerdings aus einer ganz anderen Denkhaltung heraus. Was das literarische Werk im Besonderen angeht, so sollte dieses nach Bontempellis Meinung vor allem auf der Einbildungskraft gründen. Den Erzählern komme die Rolle zu, behauptete er, Geschichten zu schreiben, die sich wie Mythen dadurch auszeichnen, dass sie möglichst viele Leser erreichen. Diese Auffassung zeigt deutlich, dass er, wie auch von ihm an anderer Stelle explizit angegeben, die Kommunikationsfähigkeit für eine der wesentlichsten Eigenschaften des Kunstwerkes hielt. Sein Diskurs richtete sich gegen die Literatur für die wenigen (die nach seinem Ausdruck diejenige der „cacastecchi“/ „Geizkragen“ war). 4 ) % $ > Dies war Bontempellis zentrale Forderung: Die Hauptaufgabe der Epoche sei es, Begriffen wie Raum, Zeit, Individuum und Gott eine neue Festigkeit zu geben, nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten einem Prozess der Relativierung ausgesetzt worden waren. Die dringendste und genaueste Aufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts wird die Rekonstruktion von Zeit und Raum sein (…). Erst danach wird es uns möglich 2 Vgl. „900“ Cahiers d’Europe et d’Italie, 1, Cahier d’automne 1926, S. 106-131 (es handelt sich um den Anfang des 2. Teils des Romans). 3 M. Bontempelli, L’avventura novecentista , Florenz 1938, S. 32, dt. Übersetzung von der Autorin: kursiv im Text. 4 Vgl. M. Bontempelli, op. cit., S. 86-87, S. 299 und S. 314. Patrizia Farinelli 150 sein, sicher die zweite Aufgabe zu übernehmen, und zwar das selbstbewusste Individuum wiederzuentdecken, das Individuum, das weiß, wer es ist, dass es es selbst ist und nicht ein anderes, es selbst mit einigen Sicherheiten und einigen Verantwortungen, mit seinen besonderen Leidenschaften und einer Universalmoral; und auf der Grundlage von all diesem werden wir vielleicht einen Gott zum Beten oder zum Bekämpfen wiederfinden . 5 Die von ihm verteidigte These, man müsse wieder zu festen und absolut gültigen Begriffen zurückkehren und ein kulturelles Klima schaffen, in dem das Individuum mit einer klaren Identität seinen Platz findet, ist innerhalb seines polemischen Diskurses durchaus verständlich; philosophisch betrachtet, erscheint sie jedoch unzeitgemäß. Sie ist schlecht mit den seit dem Idealismus geltenden Denkparametern der Moderne zu vereinbaren, denn bei der Durchsetzung einer Epistemologie, deren Realitätsbegriff vom Subjekt abhängig ist, ist es ausgeschlossen, aus festen und universellen Perspektiven heraus zu denken. Noch weniger ist eine solche Position in Einklang mit der Philosophie und Ästhetik der Spätmoderne zu bringen, in der auch die subjektive Wahrheit der Romantiker „in der Ambivalenz“ zerfällt, wie Peter Zima in seiner Arbeit Das literarische Subjekt betont hat. 6 Gewiss stand Bontempelli nicht allein mit seinem Erneuerungsversuch, denn auch andere Autoren des Modernismus strebten in unterschiedlicher Form und vor allem durch ihr Festhalten an der Vorstellung von einem authentischen Schreiben nach einer Rettung des Subjekts (die eben erwähnte Studie führt mehrere Beispiele dazu auf), aber die Überzeugung, mit der unser Autor dieses Problem in Angriff nahm, und der Idealismus, der ihn dabei begleitete, sind etwas Einzigartiges. Bontempellis radikale Kritik am Relativismus ist vor allem im Zusammenhang mit der hemmenden Wirkung zu betrachten, die dieser auf das historische Individuum ausübte, wie einer 1938 veröffentlichten Rede zu Pirandello, einem von ihm besonders geschätzten Schriftsteller, klar zu entnehmen ist. Dass das Ich zum einzigen Maßstab und zur einzigen Wahrheit des Universums geworden ist, hat letzten Endes dazu geführt, dass dem Individuum jegliche Sicherheit abhanden gekommen ist, schrieb er in jenem Kontext. Die 5 „Il còmpito più urgente e preciso del secolo ventesimo, sarà la ricostruzione del tempo e dello spazio (…). Quando potremo credere di nuovo in un Tempo e in uno Spazio oggettivi e assoluti, che si allontanano dall’uomo verso l’infinito, sarà facile riseparare la materia dallo spirito e riprendere a combinare le variazioni innumerevoli delle loro armonie. A questo punto potremo con sicurezza affrontare il secondo còmpito, che sarà il ritrovamento dell’individuo, sicuro di sè, sicuro d’essere sè, di essere sè e non altri, sè con alcune certezze e alcune responsabilità, con le sue passioni particolari e una morale universale: e in cima a tutto ritroveremo forse un Dio, da pregare o da combattere.“ M. Bontempelli, op. cit., S. 17 (hier und im Folg. dt. Übersetzung von mir). 6 P. V. Zima, Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen und Basel 2001, S. 3. Bontempellis Repositionierung des Subjekts 151 gravierenden Folgen einer solchen Entwicklung hat der Sizilianer beispielhaft für seine Generation in seinem Werk thematisiert. Gerade in der Darstellung des menschlichen Verlustes aller Beziehungspunkte zeigt sich Pirandellos Verdienst. In Pirandellos Werken führt die Verunsicherung im Hinblick auf die eigene Identität das handelnde Subjekt entweder zum Wahnsinn oder zu der Entscheidung, für sich zumindest eine Rolle als Protagonist zu beanspruchen, um sich jene Einheit und Kohärenz zu sichern, die es im Leben nicht mehr findet. Obwohl die in der Avventura novecentista gemachten Einwände gegen die begriffliche Relativierung dogmatisch erscheinen, erweist sich die von Bontempelli künstlerisch gestaltete Welt als komplexer und vielschichtiger als man denkt. In seinen Hauptwerken nimmt sie neue Konturen an, sobald sie von außen betrachtet wird. Es ist kein Zufall, dass sich viele seiner Texte um das Motiv des Reisens drehen, welches zwar keine besonders originelle, dafür aber immer noch wirkungsvolle literarische Strategie ist, um die handelnden Instanzen neue Standpunkte einnehmen zu lassen. Von diesen Standpunkten aus erscheinen Raum und Zeit als veränderbare Kategorien. Es kommt hinzu, dass seine Protagonisten Individuen sind, die sich an radikal anders denkenden und agierenden Wesen orientieren; in dieser neuen Dimension verlieren schließlich die ihnen bekannten Gesetze und Konventionen ihre Geltung. Bontempellis Kampf gegen den Relativismus schließt also eine komplexe Auffassung des Individuums und seiner Welt nicht aus. Zweifellos geht es unserem Schriftsteller in seinen theoretischen Beiträgen vor allem darum, sowohl auf historischer als auch auf poetologischer Ebene ein Subjekt zu denken, das nicht im Nihilismus versinkt. Dies wird vor allem auf den Seiten des vierten Cahier, der den Titel „Giustificazione“ trägt, deutlich, wo er es als notwendig ansieht, dass sich der zeitgenössische Mensch eine „geistige Geometrie“ schafft bzw. an der „Rekonstruktion der äußerlichen und individuellen Realität“ 7 arbeitet. In diesem Zusammenhang lassen sich seine kategorischen Positionen verstehen; sein literarisches Werk ist jedoch reicher an Nuancierungen. Die konstruktive Einstellung dieses Intellektuellen zur abendländischen Kultur unterscheidet sich stark von der der Dekadenten der vorigen Generation sowie von der der Futuristen. 8 Im Zusammenhang mit dieser Einstellung lässt sich auch seine Verteidigung des magischen Realismus besser nachvoll- 7 Vgl. M. Bontempelli, op. cit., S. 18. Nicht nur an jener Stelle, sondern auch in anderen Teilen der in „900“ veröffentlichten Beiträge mit theoretischem Inhalt ist eine an der Architektur orientierte Semantik vorhanden. 8 Trotz der von Bontempelli deklarierten Distanz des Novecentismo zum Futurismus (vgl. dazu „900“, 4, Cahier d’été 1927, S. 9-13 und Bontempelli, op. cit., S. 38-41) übernahm der Schriftsteller einige stilistische Züge der Futuristen, nicht zuletzt eine gewisse provokative Haltung im Diskurs. Patrizia Farinelli 152 ziehen. Diese Poetik (oder eher, wie er meinte, „Tendenz“) zielt darauf ab, eine von deterministischen Gesetzen freie Welt darzustellen. Ihr Ziel ist es, ein „Mehr“ zu zeigen, das normalerweise nicht sichtbar ist. Um den Sinn seiner Aussagen zu veranschaulichen, führt Bontempelli als Beispiel die italienische Malerei des 15. Jahrhunderts an. Sie zeichnete sich noch durch experimentellen Geist aus und konnte außerdem eine transzendente Seite der Dinge in Erscheinung treten lassen, auch wenn ihre Objekte irdischer und körperlicher Art waren. Der magische Realismus, ähnlich wie die kurz zuvor durch Savinio, Carrà und De Chirico entstandene Tendenz der „metaphysischen Malerei“, war zweifellos ein Versuch, einen tieferen Sinn in einer Welt ohne Transzendenz zu finden. In der Avventura novecentista sind auch mehrere Bemerkungen zum Verhältnis des Menschen zur Geschichte enthalten. An einigen Stellen verteidigt der Autor beispielsweise die Entscheidungsfreiheit. Die Möglichkeit, dass ein Individuum und im spezifischen Fall ein Schriftsteller, in die Lage gerät, seine Ideen und Entscheidungen nicht verteidigen zu können, ist ihm unvorstellbar. Denn Autoren kämpfen mit ihren Werken um etwas und haben folglich ein Recht auf Verteidigung. Eindeutig bezieht hier Bontempelli Stellung gegen Beamte der faschistischen Partei, welche in einem Artikel vorgeschlagen hatten, dass von Kritikern nur technische Urteile ohne ethische Stellungnahmen verlangt werden sollten. 9 Dass die Autoren für die eigenen Auffassungen kämpfen sollen, bedeutet für die Verteidiger des Novecentismo jedoch nicht, dass sie eine aktive Rolle in der Politik spielen müssen. Obwohl Bontempelli erst nach 1938 dem Faschismus, den er zuvor noch als eine die Politik und Kultur modernisierende Bewegung verteidigt hatte, den Rücken kehren sollte, polemisierte er schon mehrmals in den Jahren ’36 und ’37 - wie im erwähnten Fall - gegen bestimmte Forderungen, mit denen diese Partei das kulturelle Milieu konfrontiert hatte. Er lehnte z.B. mit aller Entschiedenheit die Forderung ab, Schriftsteller sollten in ihren Werken das faschistische Italien darstellen. Ähnlich scharf ist seine Kritik an denjenigen, die bei den Literaten das Fehlen von aktiven Helden beklagten. Da Kunst eine Form von Kommunikation ist, die sich an den gesellschaftlichen Menschen richtet, ist nach Bontempellis Auffassung jedem Kunstwerk eine implizite politische Bedeutung eigen; letztere ist aber umso wirkungsvoller, je weniger der Autor sein Werk in ein Instrument der Politik verwandelt. In anderen Beiträgen behauptet er, dass die künstlerische Darstellung der zeitgenössischen Welt nur in indirekter Form gelingt. Ergänzend meint er, dass die Moral eines Schriftstellers nicht in der bloßen Darstellung moralischer Handlungen zu finden ist. Dies deutet darauf hin, dass ihn ethische eher als philosophische Überlegungen dazu führ- 9 Vgl. M. Bontempelli, op. cit, S. 291-294. Bontempellis Repositionierung des Subjekts 153 ten, das historische Individuum als „Subjekt“ zu verteidigen, als ein Wesen nämlich, das für sich Entscheidungsfreiheit beansprucht und Verantwortung für sein Handeln trägt. Dieselben moralischen Grundsätze liegen Bontempellis Auffassung vom Künstler zugrunde. Dessen Handeln sollte frei von Verblendungsstrategien sein, und er sollte immer bereit sein, ein Risiko einzugehen. * % $ , Die hier skizzierte Einstellung dieses Intellektuellen zum Subjekt als einem historischen Wesen findet bis zu einem gewissen Grad ein Pendant in Bontempellis Auffassung des Subjekts als literarischer Figur. Bevor hier auf diesen Aspekt näher eingegangen wird, ist es jedoch notwendig, kurz das Problem der Gestalt des homo fictus in der Spätmoderne zu betrachten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet eine tiefgreifende Änderung in der Konzeption und Gestaltung literarischer Protagonisten statt. Immer seltener stellen Protagonisten Menschen mit fester Identität und eigenem Schicksal dar, die in der Geschichte entschlossen handeln und ihr Glück selbst schmieden. 10 Während Helden der Frühmoderne seit dem 18. Jahrhundert meistens einen nach eigenem Willen handelnden Menschentypus darstellen, stellen die Helden der Spätmoderne oft ein schwaches Subjekt ohne feste Identität dar, das für die vita activa untauglich ist und abseits vom historischen Geschehen steht. 11 Ihr Handeln hängt vom Zufall ab. Diese Transformation findet bei gleichzeitigem poetologischen Nachdenken über die Möglichkeit statt, Sachverhalte durch literarisches Schreiben wiederzugeben. Solche Reflexion wird auch von einer neuen Auffassung des Wortes bedingt, in der die darstellende Fähigkeit der Sprache angezweifelt und eher ihre performative Kraft anerkannt und unterstrichen wird. Darüber hinaus wird die Illusionsbildug in Prosa- und Theaterwerken immer häufiger von Verfremdungseffekten abgelöst, was auch unmittelbare Auswirkungen auf Gestalt und Funktion der handelnden Figuren hat. 10 Die Annahme, dass die Änderung des Profils von Handlungsfiguren auch mit Transformationen der extratextuellen Realität verbunden ist, gilt nur, solange Handlungsfiguren nicht nur als reine Funktionen innerhalb der Logik des Erzählten angesehen werden, sondern sie auch als Vermittler ethischer, gesellschaftlicher, ideologischer Werte verstanden werden, bzw. ihnen eine metanarrative Funktion zuteil wird, wie W. Krysinski (der auf Positionen von P. Hamon zurückgreift) bemerkt. Vgl. W. Krysinski, „Persona grata et non-grata, ou les avatars du personnage“ in: C. Lombardi (Hrsg.), Il personaggio. Figure della dissolvenza e della permanenza, Alessandria 2008, S. 3-15, S. 6. 11 Zu diesem Aspekt vgl. P. De Meijer, „La prosa narrativa moderna“, in: Letteratura italiana, I-VI, A. Asor Rosa (Hrsg.), Le forme del testo, Bd. III,Turin 1984, S. 759-847, S. 844-845. Patrizia Farinelli 154 Der italienische Literaturkritiker Giacomo Debenedetti ging wiederholt in seinen Studien zu den Romanciers der Spätmoderne auf das Ende des „personaggio uomo“ ein. In einem kurzen Beitrag aus dem Jahr 1947, der den Titel „Personaggi e destino“ 12 trägt, stellte er „Realitätsepik“ und „Existenzepik“ einander gegenüber: In letzterer fänden die Protagonisten keine Beziehung mehr zwischen sich und der äußeren Realität; das in solchen Romanen dargestellte Individuum habe alle Bezugspunkte in der Welt verloren. 13 Bei der Verwendung eines Bildes, das an Nietzsches bekannte Formel vom Tode Gottes als Kurzdarstellung der Position des spätmodernen Menschen in der Welt (bzw. als Emblem seines verlorenen Bezuges zur Transzendenz) erinnert, schrieb Debenedetti, dass in einer Welt ohne Himmel die Bestimmung des Menschen wie eine „Papierschlange“ zerfällt. 14 In den Romanen von Proust, Joyce, Svevo, Pirandello, Moravia und einigen späteren Autoren des 20. Jahrhunderts registrierte er hellsichtig, aber nicht ohne Bedauern, die Präsenz von Protagonisten „senza destino“. Damit meinte er Gestalten, die Individuen darstellen, deren Leben einzig und allein vom Wahrscheinlichkeitsprinzip bestimmt wird und die sich wie Partikel im Raum ohne eine vorgegebene Richtung bewegen. 15 Die Rückkehr einer Figur, die einen an einem Telos orientierten Menschen darstellt, so wie Debenedetti sie verstand, war unvereinbar mit den Entwicklungen des Denkens und der Ästhetik des 20. Jahrhunderts. Sie scheint nie mehr in einer überzeugenden Form am literarischen Horizont aufgetaucht zu sein, wie auch Arrigo Stara in einem vor kurzem erschienenen Beitrag feststellt. 16 In den Prosa- und Theaterwerken der Spätmoderne erscheinen nicht selten Figuren, die verrückte und naive Menschen darstellen. Ihre Funktion besteht darin, Individuen auftreten zu lassen, die in ihrem Handeln von der geltenden Logik abweichen und einen alternativen Weg einschlagen. Eine ähnliche Rolle fällt auch Figuren zu, die Marionetten, Schneiderpuppen und aus Rauch 12 G. Debenedetti „Personaggi e destino“, in: ders., Personaggi e destino. La metamorfosi del romanzo contemporaneo, F. Brioschi (Hrsg.), Mailand 1977, S. 110-132. 13 Vgl. G. Debenedetti, op. cit., S. 112. 14 „[I destini] si perdono come stelle filanti, o ricascano addosso in un groviglio.“ G. Debenedetti, op. cit., S. 131. 15 Vgl. G. Debenedetti, „Un punto d’intesa sul romanzo moderno? “, in: ders., Il personaggio uomo, Mailand 1970, S. 65 und ders., „Commemorazione provvisoria del personaggio uomo“, in: ders., Personaggi e destino, op. cit., S. 158-194 . 16 Vgl. A. Stara, „Ultime notizie dal parco (personaggi senza destino)”, in: L. Chiara (Hrsg.), Il personaggio. Figure della dissolvenza e della permanenza, Alessandria 2008, S. 59-72. Von A. Stara siehe zum selben Thema auch L’avventura del personaggio, Florenz 2004, Kap. IV, S. 136-235. Bontempellis Repositionierung des Subjekts 155 bestehende Gestalten (wie Palazzeschis Perelà) darstellen. 17 Wenn ein Merkmal des Modernismus darin besteht, dass sich seine Autoren von einer nach Wahrscheinlichkeitsprinzipien formulierten Poetik verabschiedeten, dann war Bontempelli gewiss ein Sohn seiner Zeit. Gerade Marionetten, Schneiderpuppen wie auch ratlose und naive Menschen („i candidi“) treten in mehreren Texten seines Opus auf. Ihre Funktion ist es, mit ihrer entfremdeten Haltung sich selbst und andere zu zwingen, metaphysischen Fragen nachzugehen 18 und die Welt, in der sie sich bewegen, mit anderen Augen zu betrachten. Bei der Schaffung seiner Protagonisten strebte er keineswegs nach einer realistischen Darstellung des menschlichen Individuums. 19 Die in seinen Erzählungen, Romanen und Dramen auftretenden Figuren sind zwar immer noch menschliche Wesen, besitzen jedoch in der Regel übernatürliche Fähigkeiten und sind, was ihre physischen und psychologischen Eigenschaften betrifft, nur flüchtig skizziert oder, ganz im Gegenteil, stark karikiert. 20 Sie befinden sich außerdem nicht selten in einer unbestimmten und entfremdeten Raum- und Zeitdimension, lassen fast nichts von ihrer Vergangenheit wissen, und wenn sie Kontakt zu anderen aufnehmen, so handelt es sich meistens um Wesen anderer Natur. In Übereinstimmung mit seiner Ablehnung der dekadenten Kultur und jeglicher Kunst, die die historische und natürliche Welt mit Wahrscheinlichkeitseffekten wiederzugeben versucht, sprach sich Bontempelli auch gegen die Erschaffung von Figuren, die Lebensunfähige oder Massenmenschen ohne jegliche Identität sind und die in der Prosa seiner Zeit besonders häufig vorkamen. Seine Protagonisten, besonders die der Dreißigerjahre, begegnen den Ereignissen (auch denjenigen, die für sie unerfreuliche Konsequenzen haben) mit viel innerer Energie. Hierbei weist sein Schreiben Merkmale auf, die bei Autoren derselben Zeit seltener zu finden sind. Gewiss entspricht eine solche poetologische Entscheidung Bontempellis der ideologischen Verteidigung 17 Beim Versuch einer entmenschlichten Repräsentation von Handelnden wird manchmal am Anfang des 20. Jahrhunderts, wie z.B. im Theater von E. G. Craig, von den Akteuren verlangt, dass sie sich wie Marionetten bewegen oder Masken anziehen. 18 Ein Beispiel eines Einfaltspinsels in Bontempellis Werk ist die weibliche Protagonistin des Theaterstücks Minnie la candida (1928), dessen Hypotext eine kurze Erzählung aus La donna dei miei sogni ist. 19 Das Konzept der deshumanisación wurde in denselben Jahren von Ortega y Gasset verwendet, um neue künstlerische Tendenzen zu bestimmen, die sich von einer treuen Darstellung der Objekte zugunsten eines Ausdrucks reiner Ideen zu befreien versuchten. Die ästhetischen Positionen dieser zwei Intellektuellen unterscheiden sich jedoch deutlich: Während sich Ortega y Gasset bewusst war, dass eine nicht-mimetische Kunst nur ein kleines kultiviertes Publikum ansprechen kann, verlangte Bontempelli bei einer ähnlichen Verteidigung der nicht-mimetischen Kunst, dass diese sich an ein breites Publikum richtet, d.h. populär ist. 20 Zum Letzteren siehe z.B. die kurzen Romane La famiglia del fabbro und Gente nel tempo. Patrizia Farinelli 156 einer konstruktiven Haltung im Denken und Handeln. Dass es sich jedoch nicht um die von der Frühmoderne überlieferten Figuren handelt, die meistens Individuen darstellen, die selbst ihr Schicksal bestimmen, zeigt sich daran, dass seine Protagonisten in der Regel ihren Weg nicht selber wählen, sondern dem unterstehen, was ihnen das Schicksal verordnet, wie es auch oft im Mythos der Fall ist. 21 Es ist allerdings unmöglich, das Profil des typischen Bontempellischen Protagonisten zu zeichnen, weil im literarischen Werk dieses Autors so viele verschiedene stilistische Phasen auszumachen sind wie bei nur wenigen anderen Schriftstellern. Dementsprechend ändern sich auch die Charakterzüge seiner Figuren. Sowohl in seinen beiden 1919 und 1921 entstandenen Anti-Romanen La vita intensa und La Vita operosa, die mit der literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts brechen und viele Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft ironisieren (und in denen so komisch-groteske und selbstironische Züge vorhanden sind wie in keinem seiner nachfolgenden Werke 22 ), als auch in den Mitte der Zwanzigerjahre verfassten Kurzgeschichten des Bandes Miracoli 23 , welche mit Bontempellis Hinwendung zum magischen Realismus zusammenfallen, herrscht ein humoristischer Ton vor. Der Schriftsteller orientierte sich in dieser Zeit an einer Prosa mit surrealer Einfärbung. 24 Die Protagonisten dieser Texte entsprechen einer solchen Orientierung. Es sind Figuren, die sich problemlos in einer realitätsähnlichen Welt bewegen, in der auch übernatürliche Phänomene vorkommen. Ihr Handeln ist vom Zufall bestimmt. Sie erleben außerdem die Welt als Abenteuer oder Wunder und sind im Allgemeinen eher feststellende als reflektierende Typen. Während jedoch in den Anti- Romanen eine deutliche Gesellschafts- und Kulturkritik im Vordergrund steht, kommt in den etwa fünf Jahre später im Einklang mit der neu gewählten 21 Hierbei ist ein deutlicher Unterschied zwischen Bontempellis soziologischer und Bontempellis poetologischer Auffassung des Subjektes erkennbar. Denn, wie schon zuvor erwähnt, verteidigt er entschieden die Entscheidungsfreiheit des Menschen als historisches Subjekt. 22 Überzeugend vertritt Luigi Baldacci die Ansicht, dass La vita intensa und La vita operosa sowie Eva ultima die besten Werke des Schriftstellers sind. Vgl. „Introduzione“, Bontempelli, Opere scelte, Mailand 2004 (5. Aufl.), S. XI-XLIII. Zum Roman La vita intensa vgl. auch G. Guglielmi, „Un romanzo manifesto“, in: ders., La prosa italiana del Novecento. Umorismo, metafisica, grottesco, Turin 1986, S. 198-210. 23 Dieser Band wurde 1931 veröffentlicht und enthielt drei einige Jahre zuvor entstandene Erzählsammlungen, La donna dei miei sogni, Donna nel sole und Mia vita morte e miracoli. 24 Vgl. dazu M. Mascia Galateria, Tattica della sorpresa e romanzo comico di Massimo Bontempelli. Saggio su La vita intensa e La vita operosa, Rom 1977. Zum Surrealismus in Bontempellis Werk siehe auch L. Fontanella, Il surrealismo italiano, Rom 1983. Fontanella ist allerdings vorsichtig, ihn als Surrealisten zu betrachten; obwohl es in seinem Opus Strategien gibt, die typisch für surrealistische Texte sind, neigt der Bontempellische Diskurs seiner Meinung nach dazu, Überraschungseffekte aufzulösen, die wesentlich für diese Tendenz sind. Bontempellis Repositionierung des Subjekts 157 Tendenz des magischen Realismus verfassten Erzählungen eine konziliantere Haltung gegenüber der Wirklichkeit zur Geltung. In teils amüsanten, teils beunruhigenden Geschichten nimmt sich der Autor vor, eine tiefere und weniger banale Seite des Lebens als die oberflächlich wahrnehmbare in Erscheinung treten zu lassen. Die diskursiven und rhetorischen Strategien dieser Geschichten zielen darauf ab, das potenziell Unheimliche in gewissen Erscheinungen und logisch nicht nachvollziehbaren Vorfällen zu unterstreichen. Die Protagonisten dieser Texte nehmen mit Staunen das Leben wahr, das für sie auch im Alltag immer neue Überraschungen bereithält. Dem Unerklärbaren begegnen sie weder mit Zweifeln noch mit Unverständnis. In beiden Gattungen, sowohl in den Anti-Romanen als auch in den Kurzgeschichten Miracoli, setzt sich das Gefühl der Kontinuität des Lebens durch. Noch in den Zwanzigerjahren schrieb Bontempelli die zwei langen Erzählungen La scacchiera davanti allo specchio (1922) und Eva ultima (1923), die er später als Due favole metafisiche bezeichnete und die zu seinen bekanntesten Werken gehören. Deren Protagonisten stellen nicht mehr Charaktere mit einer detailliert herausgearbeiteten Psychologie dar, wie sie der Realismus kannte; sie repräsentieren eher Wesen, deren Rolle sich darin erschöpft, angesichts eines außerordentlichen Erlebnisses vieles zu hinterfragen. Sie stellen sich selbst und den Gesprächspartnern, mit denen sie es zu tun haben, grundlegende Fragen existenzieller Art: zur Identität oder zum Problem von Sein und Schein. Die Wesen, an die sie geraten, sind meistens nichtmenschlicher Natur, und gehören einem fremden und unwahrscheinlichen Raum an. Solche Begegnungen ereignen sich erst nach einem Übergang in eine andere Wirklichkeit, und eben dort findet das Forschen und Reflektieren der Protagonisten statt. Der Protagonist der Scacchiera davanti allo specchio ist ein achtjähriges Kind und gelangt zufällig, wie Alice in Wonderland, in eine logisch und räumlich andere Dimension, die sich hinter einem Spiegel befindet und eine verkehrte Welt darstellt. Hier begegnet er anderen Wesen, mit denen er kurze Gespräche führt. Es handelt sich um Spiegelbilder (von Menschen und Objekten), die handeln und denken, jedoch nach anderen als dem Protagonisten vertrauten Prinzipien. Diese Wesen erregen die Aufmerksamkeit des Kindes, das die Existenz anderer Gesetze und Perspektiven wahrnimmt, ohne explizite Schlüsse aus seiner Erfahrung zu ziehen. Dieser letzte Schritt wird dem Leser überlassen. Die Eva der gleichnamigen Erzählung gelangt auch an einen fremden Ort, an dem sie ein tiefsinniges Gespräch über Identitätsfragen mit einer Marionette führt, einem Wesen, das sie bald liebt und dem sie mehr als allen anderen Figuren vertraut, welche in krassem Gegensatz zur Marionette stehen und Patrizia Farinelli 158 Karikaturen menschlicher Typen mit all ihren negativen Zügen darstellen. 25 Die Protagonistin erfährt, dass auch die Menschen von Fäden gezogen werden und darin den Marionetten ähneln, bei denen das Manipuliert-Werden allerdings zu ihrem Wesen gehört. Es ist jedoch anzumerken, dass ein solch deterministisches Bild des Menschen als Marionette bei Bontempelli - je nach Kontext - beides darstellen kann: Einerseits den damals viel diskutierten Verlust individueller Entscheidungsfreiheit, andererseits jedoch auch die Überzeugung, dass Menschen ähnlich wie mythische Figuren einer höheren Instanz gehorchen, bzw. einem Schicksal, dem sie sich bewusst fügen sollen. In einigen seiner Werke der Zwanzigerjahre, von denen einige erwähnt wurden, unternimmt Bontempelli, wie die meisten Autoren der Spätmoderne, den Versuch, über Identitätsfragen nachzudenken. In den Geschichten und Dramen aus dieser Zeit geraten seine Protagonisten in Situationen, in denen sie sich und ihre Welt so betrachten, als ob sie alles zum ersten Mal sehen würden. Sie stehen für Menschen, die sich der Existenz des Anderen bewusst werden und daher beginnen, die eigene Identität in Frage zu stellen. Zugleich fragen sie nach den Mechanismen, welche die Welt bewegen. Nur wenige Jahre später steht die alles hinterfragende Haltung seiner Figuren nicht mehr im Mittelpunkt. Die Protagonisten seiner Romane jener Zeit - wie z.B. Luciana im Roman Il figlio di due madri (1929) oder Adria im Roman Vita e morte di Adria e dei suoi due figli (1930) oder auch die Figuren im Roman Gente del tempo (1937) - verspüren nicht mehr das Bedürfnis, den Anderen und sich selbst sowie ihre eigene Welt zu erforschen. Sie erfüllen mit Konsequenz die Instanzen des Schicksals oder des Lebens und agieren mit einer Radikalität, die ihr menschliches Profil fast entstellt. Sie werden zu so etwas wie Erfüllungsgehilfen einer Idee, zu reinen Figuranten. Adria z.B. verkörpert die Idee des Schönheitskultes. Diese weibliche Figur, die aus ihrer physischen Schönheit einen Kult gemacht hat und ihr Leben entsprechend gestaltet, entzieht sich radikal der Öffentlichkeit, sobald sie die ersten Anzeichen des Älterwerdens spürt und tritt bis zu ihrem Selbstmord nicht mehr in Erscheinung. Mit ihrer Absicht, dem Vergehen der Zeit zu entgehen, führt sie ein steriles, statisches Leben. Dazzi, einer der ersten Kritiker von Bontempelli, merkte dazu an, dass in dieser Erzählung die widerwärtige Ethik desjenigen vorherrscht, der sich dem Werden und den Ereignissen entzieht, und er stellte 25 Wie auch in einem vor kurzem veröffentlichten Artikel betont wird, handelt es sich bei dieser Erzählung, die den Mythos von Amor und Psyche erneuert, um eine Reflexion über den Zustand des Menschen. Vgl. G. Langella, „Riscritture del mito nell’Italia metafisica e surreale“, in: Italia magica. Letteratura fantastica e surreale dell’Ottocento e del Novecento, G. Caltagirone und S. Maxia (Hrsg.), Cagliari 2008, S. 456-500, S. 498. Bontempellis Repositionierung des Subjekts 159 die überzeugende Hypothese auf, dass der Autor hier mit kritischer Haltung auf die ästhetisierende Kunst von D’Annunzio anspielt. 26 Die Wahl solcher Protagonisten steht bei Bontempelli im Zusammenhang mit seiner Verteidigung des Heldenbegriffs. Die Art des Erzählens, die man in Italien für angemessen hält - so schrieb er 1934 in einem Brief an den Verleger Bompiani - entspricht einer Kunst des Niedergangs. „Wir verstehen den Roman als (episches) Poem, die handelnde Figur als Helden: als Helden im guten oder im bösen Sinne.“ 27 Bei dieser poetologischen Wende mögen auch seine späteren Ansprüche eine Rolle gespielt haben: a) Romane voller Handlung zu schreiben, nicht psychologische Romane; b) den Zeitgeist erzählerisch zu gestalten und ihm entsprechende neue Mythen zu bilden, ohne jedoch aktuelle Ereignisse bloß darzustellen und c) ein breites Publikum anzusprechen. Alle diese Forderungen führten dazu, dass die Bontempellischen Protagonisten der späteren Romane eher als etwas sperrige, schwerfällige Gestalten wirken und nicht wirklich überzeugen. Wenn eine ironisierende Haltung in seinen Texten jener Zeit vorkommt, dann ist sie in der Logik der Geschichte enthalten, nicht in der Einstellung der Figuren. Mit Giro del sole (1941) schien dann der Schriftsteller in den Vierzigerjahren wieder eine Form des Erzählens aufzunehmen, die reich an philosophischen und ethischen Implikationen war und einige formale und thematische Analogien zu den Favole metafisiche aufwies. In den drei Erzählungen des Bandes müssen sich die Protagonisten mit Situationen voller Zweifel und innerer Unruhe auseinandersetzen; sie erfahren auch Bitterkeit, bleiben jedoch sich selbst treu und handeln in jedem Fall aus einem innerem Antrieb heraus. Sie gehen dem Schicksal souverän und mit erhobenem Haupt entgegen und entsprechen weitgehend der Vorstellung von Helden. Alle drei Texte dieser Sammlung sind vom Motiv der Reise gekennzeichnet und greifen wieder mythische, historische und epische Episoden auf: z.B. Europas Entführung, Kolumbus’ Entdeckung von Amerika und Ruggieros Flug mit dem Ippogrifo zu Alcinas Insel. Auch hier, wie schon in den metaphysischen Fabeln, setzen sich die Protagonisten mit existenziellen Fragen auseinander. Sie gehen auf menschliche Probleme wie Liebe und Tod ein oder auf ethische Fragen: etwa nach dem Bewusstsein und der Selbsttäuschung. Zugleich befassen sie sich mit Phänomenen philosophischer Art: etwa mit der Beziehung des Menschen zu Raum und Zeit. Ihre Überlegungen sind in eine Situation eingebettet, die 26 M. Dazzi, Bontempelli narratore (o dell’avventura del magico), Urbino 1942, S. 53. 27 Es ging um den Einwand bzgl. eines Briefes des Verlegers Bompiani; letzterer hatte italienische Schriftsteller eingeladen, sich an der Initiative eines „romanzo collettivo“ zu beteiligen. Bontempelli schrieb in jenem Zusammenhang: „L’arte narrativa che si vuole imporre all’Italia è un’arte di disfacimento. Noi sentiamo il romanzo come poema, il personaggio come eroe. Eroe del bene o del male.“ M. Bontempelli, L’Avventura novecentista, op. cit., S. 265. Patrizia Farinelli 160 für sie neu ist: nämlich in jenes Anderswo, in dem sie angekommen sind. Es ist ein Ort, der auch als Schwelle zum Tod verstanden werden kann: ein Standort, von dem aus sie die Ereignisse des Lebens distanziert betrachten können. La via di Colombo soll hier näher betrachtet werden, denn dieser Text enthält das in Bontempellis Werk häufig vorkommende Motiv eines Wesens von unbestimmter Natur. Im vorliegenden Fall könnte es sowohl eine teuflische als auch eine göttliche Natur sein, wie im Text selbst explizit erklärt wird. Kolumbus befindet sich auf seiner Reise in die Neue Welt; er war noch nie so zufrieden, hat sich noch nie so selbstsicher gefühlt. An einem Abend taucht vor ihm plötzlich ein blinder Passagier auf, der sich als Krimineller erweist. Der Genueser fühlt sich von dessen Gestalt angezogen - trotz der inneren Unruhe, die diese in ihm auslöst. Was der Fremde bei seinem ersten Auftritt zunächst nur andeutet, wird beim zweiten deutlich zum Ausdruck gebracht: Die Motive des Seefahrers für seine Reise seien Selbsttäuschungen, denn er sei eigentlich auf der Suche nach Gold und Ruhm. Der Fremde fügt hinzu, dass das „lineare Verreisen ein Vorangehen ist, während dessen man weder an die Erde, noch an die Sachen, die sich auf oder in der Erde befinden, noch an andere Länder denkt, von denen man nicht weiß, ob es sie gibt oder nicht“. 28 Nur auf diese Art, behauptet er, komme man dem Ewigen näher. 29 An dieser Stelle enthält der Text eine eindeutige christliche Botschaft - die Aufgabe des Menschen, nach dem Ewigen zu streben -, welche in den meisten Texten des 20. Jahrhunderts kaum in einer so „schlichten“ und unmittelbaren Form zu finden ist. Diese Art zu schreiben lässt sich wahrscheinlich mit der gleichzeitigen spirituellen Orientierung des Schriftstellers und mit seinem neuen Interesse für die spätmittelalterliche religiöse Dichtung sowie für den Neuplatonismus erklären. 30 In der hier erwähnten Erzählung stellt der blinde Passagier gleichsam das personifizierte Gewissen des Helden dar und bringt diesen dazu, sich mit dem längst Verdrängten auseinanderzusetzen. Die Erzählung endet mit einem leisen Ton: Kolumbus steht entblößt vor seinem Gewissen. Er kommt sozusagen nackt zum gewünschten Ziel: ohne Begeisterung, in einem Augenblick echter innerer Einkehr. In dieser wie auch in den beiden anderen Erzählungen dieser Sammlung ist der ethische Sinn sicherlich dominant. 31 Die in einer neuen Dimension ge- 28 Vgl. M. Bontempelli, Opere scelte, L. Baldacci (Hrsg.), Mailand 2004 (5. Aufl.), S. 518. 29 „(…)in direzione d’eterno (…).“ Ibid. 30 Vgl. A. Scarsella, „Il declino del magico“, in: Donati (Hrsg.), Massimo Bontempelli scrittore e intellettuale, Rom 1992, S. 113-126, S. 116. 31 Der Text enthält auch einen weniger expliziten politischen Diskurs. Das Unternehmen von Kolumbus findet seine Motivation in einem Streben nach Macht und Geld, die junge Europa entdeckt Jupiter als eine schwache Gottesgestalt voller Hochmut, Argentina soll radikale Konsequenzen dafür in Kauf nehmen, sich einmal den Normen ihres Volkes entzogen zu Bontempellis Repositionierung des Subjekts 161 machte Erfahrung verändert die Protagonisten tiefgreifend. Bei ihren Erlebnissen empfinden sie Unbehagen sowie Schmerz (man denke besonders an die von Bontempelli umgeschriebene Geschichte des entführten Mädchens in Il viaggio d’Europa). Letztendlich gehen sie jedoch aus der Geschichte als „Überlegene“ hervor, auch wenn sie nur noch der Tod erwartet. Alle drei Erzählungen handeln von moralischer Integrität. Die Protagonisten bleiben mit ihrer Haltung nicht an der Schwelle, an diesem Ort der Ambiguität stehen, welcher der epistemologische Ort des zwanzigsten Jahrhunderts ist, sondern überschreiten ihn. Im Übrigen deutet auch die Struktur der Erzählungen, deren Handlung einem eindeutigen Abschluss zustrebt, in dieselbe Richtung. Dieser Aspekt unterscheidet Bontempellis Werk radikal von den Werken der ein wenig jüngeren Zeitgenossen Landolfi und Gadda, deren Weltsicht auf Entzauberung und Skepsis gründet. Gerade die innere Stärke des Subjekts, die Konsequenz seines Handelns und die Botschaft, die es mitteilt, machen die spätere literarische Produktion unseres Autors zu etwas Einzigartigem. Seine seit den Dreißigerjahren entstandenen Texte, welche konsequent die Thesen des Novecentismo zu realisieren versuchen, wirken paradoxerweise anachronistisch. + Bontempelli ging vorurteilsfrei auf die aktuellsten philosophischen und poetologischen Fragen des 20. Jahrhunderts ein. Er tat dies in einem utopischen Geist, der mit den Denkparadigmen seiner Epoche fast unvereinbar zu sein scheint. Er verfolgte in seinen theoretischen Schriften ein kulturelles Projekt, das unter anderem auf die begriffliche Rettung des Individuums abzielte. Diese Position wirkte sich auch auf seine literarischen Werke aus, insbesondere auf die der späteren Produktion, in denen er sich von den ironisierenden Protagonisten seiner Anti-Romane sowie von den hinterfragenden und etwas desorientierten Figuren seiner metaphysischen Erzählungen trennte und einen Helden einführte, der sein Schicksal konsequent und radikal durchschreitet. Verglichen mit den literarischen Werken einiger seiner Zeitgenossen, deren Protagonisten schwache und komplizierte Menschen voller Widersprüche und Zweifel darstellen, erscheinen Bontempellis Texte jener Jahre als ein isoliertes, „am Rande“ der damaligen Tendenzen angesiedeltes Experiment. haben. Gerade die politischen Nuancen sind in Il viaggio di Europa im Spezifischen zu finden, vgl. L. Fontanella, Storia di Bontempelli, Ravenna 1997, S. 103. Patrizia Farinelli 162 # Airoldi Namer F., „Gli scritti teorici di Massimo Bontempelli nei ,Cahiers du 900‘ e la ricostruzione mitica della realtà“, in: Studi novecenteschi, Bd. IV, 12, 1975. Bontempelli, M., Opere scelte (Hrsg. L. Baldacci Luigi), Mailand 2004 (5. Aufl.). Bontempelli, M., Miracoli, Mailand 1938. Bontempelli, M., Figlio di due madri, Macerata 2005. Bontempelli, M., Vita e morte di Adria e dei suoi figli, Macerata 2005. Bontempelli, M., Realismo magico e altri scritti sull’arte (Hrsg. E. Pontiggia), Mailand 2006. Bontempelli, M., L’avventura novecentista, Florenz 1938. Caltagirone, G. und Maxia, S. (Hrsg.), Italia magica. Letteratura fantastica e surreale dell’Ottocento e del Novecento, Cagliari 2008. Dazzi, M., Bontempelli narratore (o dell’avventura del magico), Urbino 1942. 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Zima, Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen- Basel 2001. Tatiana Floreancig (Triest) ! @ L 1 M & ( ? $ Im Folgenden werden einige Auszüge aus den Werken von Anaïs Nin (Neuilly 1903-Los Angeles 1977) und Robert Musil (Klagenfurt 1880-Genf 1942) näher untersucht und verglichen mit dem Ziel, die Aufhebung der Geschlechtergrenzen in den Subjektkonstruktionen bei beiden Autoren darzustellen. Ausgehend von den Anregungen in Robert Musils Mode-Essays 1 aus den Jahren 1912 und 1929 werden die Merkmale der neuen Selbstwahrnehmung der Frau und des Mannes in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen im Zusammenhang mit den mehrdimensionalen kulturellen Veränderungen beschrieben. Nins und Musils Überlegungen zum unrettbaren, dezentrierten Subjekt mit ambivalenten Geschlechtsmerkmalen stellen einen Versuch dar, einen Freiraum des Denkens und eine neue Grenzenlosigkeit der Subjektivität zu schaffen. Diese Themen werden später in den dekonstruktivistischen Ansätzen und in Foucaults Philosophie aufgegriffen und weiterentwickelt. Auf der Suche nach neuen Orientierungen geraten jedoch Musil und Nin im Umgang mit dem Traum und dem Unbewussten in Versuchung, sich auf solipsistische Lösungen einzulassen. Sie halten die äußere Realität für undurchschaubar und schließen in ihrer Fremdwahrnehmung vom eigenen auf das andere Bewusstsein. Aspekte des Diskurses über die Frau und die verfließenden Geschlechtsgrenzen in Musils und Nins Werken wurden auf verschiedene Arten im Kontext der Rezeption der 1970er Jahre verarbeitet und entwickelt. Nins und Musils Ausarbeitung einer neuen Form von Subjektivität durch die Wahl bestimmter Motive und ästhetischer Mittel floss als „Arbeit an sich selbst“ in den undogmatischen feministischen Diskurs der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ein und wurde in einigen Werken der Frauenliteratur als Anregung empfunden. 1 R. Musil, „Erinnerung an eine Mode“, „Die Frau gestern und morgen“, in: Essays und Reden, in: Gesammelte Werke in 9 Bänden, Hrsg. A. Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 983-984, S. 1193-1199. Tatiana Floreancig 164 Die Ambivalenz der Liebe und die existenzielle Kränkung der Frau bilden den Hintergrund von Nins Werk. Sie wurde in den 70er Jahren mit dem Bericht über ihre eigenen inneren Abgründe und über das weibliche Selbstbewusstsein zur feministischen Kultfigur. Da sie aber jegliche Ideologie ablehnte und ausschließlich die innere Befreiung als Leben nach eigenen Vorgaben betonte, sprach sie auch einfühlsame Männer mit ihrem Entwurf an. Sie vertrat eine weibliche Lebenseinstellung, die Emotionalität forderte, und propagierte eine weibliche Ästhetik, in der Impulse und Vernunft der Frau miteinander im Einklang stehen. Nins Tagebuch beeinflusste das autobiografische Schreiben der Frauen und löste eine Tagebuch-Epidemie aus. ' ! C Wie Robert Musil in seinen Mode-Essays beobachtet, war die Vermännlichung der Mode, die sich im Anschluss an die Errungenschaften der Frauenbewegung nach dem Ersten Weltkrieg und im Zuge der „neuen Sachlichkeit“ durchsetzte, die Begleiterscheinung eines neuen Frauentyps. Die Überschreitung der Geschlechtergrenzen in den sexuellen Erfahrungen und im Beruf entsprach der weiblichen Emanzipation und der neuen Bewegungsfreiheit der Frau. Sie gelangte zu größerer Selbständigkeit und spielte eine aktivere Rolle in der Kultur, indem sie an der Entwicklung der kollektiven Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der männlichen Gesellschaft mitwirkte. Der androgyne Charakter der neuen Frau wurde in vielen künstlerischen Bereichen zu einer idealen Projektionsfläche für den Dialog zwischen Tradition und Moderne. Wie Robert Musil in den ersten Kapiteln seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften 2 , die der Präsentation des Protagonisten und dessen Versuchen, ein bemerkenswerter Mann zu werden, gewidmet sind, schildert, hatte die Krise jener Zeit aber nicht nur etwas mit der Entwicklung der Frau zu tun, sondern betraf auch den verunsicherten Mann, der sich mit dem Selbstbild der Frau auseinandersetzen musste. Das Bild der Frau als sexuelles Objekt war von nun an umstritten. Der Mann fühlte sich vom Eindringen der Frau in seine Bereiche verunsichert, aber auch angezogen. Der äußere Wandel brachte deshalb auch Veränderungen in den Identitätsentwürfen des Mannes mit sich. Bei Musil wurden sie im Geiste der Utopie nicht als Ziel oder etwas Abgeschlossenes, sondern als Bewegung und unaufhaltsamer Prozess gedacht. Der neue Mann konnte daher als ein Aspekt der neuen Frau dargestellt werden. Er wurde in Verbindung mit der Frau definiert, weil sich beide Geschlechter nur gemeinsam verändern konnten. 2 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 2 Bde., Hrsg. A. Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. I, S. 9-80. Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen 165 Musils und Nins ausgewählte Texte zum Thema „Subjektproblematik“ stehen auch als semantische Erzähleinheiten in einer polemisch-dialogischen Beziehung zu anderen Diskursen: etwa zu denen der Psychoanalyse und des Surrealismus, die sich mit dem Mythos und dem Irrationalen als Mittel zur Erforschung einer zweiten Wirklichkeit auseinandersetzten. Nins experimenteller, zwischen Roman und lyrischer Prosa schwebender Text House of Incest 3 vermittelt aber eine Einstellung zur Frau, die sich durchaus von den „machistischen“ (Gauthier) 4 Positionen Bretons unterscheidet. Wichtige Bezugspunkte in der Entstehungsgeschichte von Musils und Nins Texten sind ferner Otto Ranks und Sigmund Freuds Interpretationen des Doppelgängers, die auf das Unheimliche verweisen. Der Doppelgänger dient beiden Autoren als Projektionsfläche für unausgelebte Wünsche. Musils und Nins Umgang mit dem Unbekannten, dem Heterogenen und der Vielfalt der Vernunftformen, die sowohl bei den psychisch Kranken als auch bei den Primitiven entdeckt wurden, setzt ein dialogisches Verständnis für das Andere und Andersartige voraus. Die zentrale Stellung des Ichs als eines Subjekts, das ethische Urteile fällt und ethische Wahrheiten und Werte bestimmt, wird von beiden Schriftstellern angezweifelt. Musil und Nin stellen den erkenntnistheoretischen oder ethischen Primat des Subjekts in Frage, machen zugleich aber den Anderen in der inzestuösen Erfahrung zu einem „Alter Ego“. Die Kritik an der zentralen Stellung des Ichs gefährdet in Musils und Nins Werken die Identität des individuellen Subjekts. Zu dieser Erscheinung sagt Moraldo: Die Abgründe des Unbewussten tun sich auf. Der Mensch wird sich in seiner individuellen Eigenart zum Problem; er verliert sozusagen sein psychisches Gleichgewicht. Zum anderen erkennt er ‚le sue multiple identità, (...) le sue disidentità‘, die es in seiner Illusion, mit sich selbst identisch zu sein, erschüttern. 5 Musil und Nin öffnen sich dem Anderen, ohne ihn zu vereinnahmen oder in ihm aufzugehen. Sie berücksichtigen die „multiple Persönlichkeit“ und den Doppelgänger in ihrer Darstellung des individuellen Subjekts, um sich einer dialogischen Subjektivität im Sinne von Peter V. Zima, die von „Ambivalenz und Negation, Dialogizität und Alterität, Reflexivität, Narrativität und Identitätskonstruktion lebt“ 6 , anzunähern. 3 A. Nin, House of Incest, Ohio 1979. 4 X. Gauthier, Surréalisme et sexualité, Paris 1971. 5 S. M. Moraldo: Wandlungen des Doppelgängers. Shakespeare - E.T.A. Hoffmann - Pirandello, Frankfurt-Berlin-Bern 1996, S. 26. 6 P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2010 (3. Aufl.), S. 368. Tatiana Floreancig 166 Musil und Nin stellen ein Subjekt dar, das sich mit den weiblichen, verdrängten, verschwiegenen und nichtrationalen Seiten auseinandersetzt und versucht, sie in einen Diskurs einfließen zu lassen, in dem man sie wahrnehmen kann. Der Inzest, die Androgynie und der Hermaphrodit sind Themen und Bilder, die den Traum, die Kindheit, die Utopie, die Eigenliebe, die Vernunftabweichung und die Weiblichkeit in einen Zusammenhang bringen. Musils und Nins Identitätsentwürfe verwerfen durch die reflexiven Schreibprozesse das Bild einer abendländischen Kultur, die das Weibliche zur Metapher für das Chthonische, Verdrängte, Unbewusste, Chaotische etc. gemacht hat. Die Geschlechterpolarität und Herrschaft des „Einen“ wird von ihnen in Frage gestellt; zugleich wird die Durchbrechung eines hierarchischen Denkens angestrebt. Nin beruft sich, um sich von der traditionellen, rationellen und bürgerlichen Lebenseinstellung zu lösen, auf den surrealistischen „point suprême“, einen Geisteszustand, in dem Gegensätze nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden. Eine ähnliche Position findet man auch bei Musil, bei dem dieser Gedanke in der Leidenschaft für krankhafte und prekäre Erscheinungen zum Ausdruck kommt. Es ist ein Versuch, den Begriff und das Gefühl, das Abstrakte und die Erfahrung zusammen zu denken. Gegen ideologisierende Formen und Begrenzungen äußert sich Musil in der Argumentation seines Helden Ulrichs: Ja, von dieser Doppelgeschlechtigkeit der Seele hätte ich natürlich auch sprechen müssen! (...) In allem spukt etwas davon. Selbst in jeder Analogie steckt ja ein Rest des Zaubers, gleich und nicht gleich zu sein. Aber hast du nicht bemerkt: in allen diesen Verhaltensweisen, von denen wir gesprochen haben, im Traum, in Mythos, Gedicht, Kindheit und selbst in der Liebe, ist der größere Anteil des Gefühls doch durch einen Mangel an Verständigkeit erkauft, und das heißt: durch einen Mangel an Wirklichkeit.“ 7 In Leitern ins Feuer plädiert Nin analog zu Musil für ein pulsierendes Leben, das monologisches Identitätsdenken meidet. Ihre Frauengestalt Lilian lehnt die männlichen Pygmalionsversuche ab, die Frau zu erschaffen und zu formen: „Innerlich und äußerlich ist jede Lebensweise eine Form, die zum Gefängnis wird. Und dann ist es unsere Aufgabe, sie zu zertrümmern.“ 8 Die Beschäftigung mit dem Mythos ist ein wichtiger Aspekt von Musils und Nins Texten, da sie ein abweichendes, divergierendes Denken ermöglicht. Der auf dem Mythischen gründende Diskurs in Musils und Nins Werken bevorzugt daher die analogische, metaphorische Beschreibung, die den Begriff meidet. Musil und Nin berücksichtigen den platonischen Mythos des Kugel- 7 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. I, S. 906. 8 A. Nin, Leitern ins Feuer, München 1988, S. 29. Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen 167 menschen und die Narzissfigur als Vorbilder bei der Thematisierung der Spiegelung und des Hermaphroditen, mit deren Hilfe sie die moderne Identität hinterfragen. Der Gedanke eines hybriden Subjekts kommt auch in Virginia Woolfs Roman Orlando (1928) zum Ausdruck, der die Aporie und den Zerfall meidet und die Spannung sowie das Zwiegespräch zwischen den Geschlechtern als Teil der Subjektkonstitution anvisiert. Die Figur Orlando lebt in der Alternation, in der Verflechtung, nicht in der Aufhebung oder Verschmelzung der Gegensätze und versucht daher nicht, eine homogene Einheit oder Synthese von Mann und Frau zu verwirklichen. 9 Die Aufrechterhaltung der Dualität wird durch den Schreibprozess möglich, weil dieser als reflexiv-kritische Form und Mittel der Identitätssuche verstanden wird. Dies ist auch der Fall bei Musil und Nin, die eine Wechselbeziehung zwischen Fiktion und Essay oder Tagebuchführung ins Auge fassen. Musils und Nins Subjekt, das die Alterität als Anreicherung empfindet, konstituiert sich als ein unvollständiges Gebilde. Es verschiebt die mögliche Vollendung in eine utopische „gestundete Zeit“ im Sinne von Ingeborg Bachmann. Daher besitzt es keine endgültig fixierte Identität. Dieses Subjekt kann man dank Remottis 10 Theorie der antistrukturellen Komponenten in einigen Fällen der Identitätsbildung besser verstehen. Bezugnehmend auf die gegensätzlichen Aspekte zwischen dem nach der Öffnung strebenden Polytheismus und dem festgefügten Monotheismus beschreibt Remotti drei Niveaus in der Organisation der Identität. Die drei Schichten können übereinander liegen. Das höchste (C) stellt „die Struktur, die Konstruktion“ dar, das mittlere (B) ist „die potenzielle Alternative und die Verknüpfung“, das niedrigste (A) entspricht „dem Fließen, der ständigen, destruktiven Wandlung“. 11 Die Identitätsbildung C unterscheidet sich von den anderen Niveaus, die die logischen Hindernisse überschreiten, da sie mögliche Verknüpfungen reduziert und das Fließen aufhält. Sie assimiliert, trennt, schließt aus, um glaubwürdig und abgesichert zu sein. In der Wahrnehmung der zahlreichen Möglichkeiten und Alternativen, bildet sich die Identität des afrikanischen Menschen „Ndembu“ durch die Initiation als außergewöhnlichen Grenzzustand und das Ritual. Dieses wird kennzeichnet durch antistrukturale Komponenten und eine reflexive Arbeit, die eine homogene, allgemeingültige Identität hinterfragt. Die Hauptmerkmale, die das Handeln und das Denken von Nins und Musils Protagonisten charakterisieren, sind die mehrfachen Verknüpfungen, die alternativen Möglichkeiten und die öffnungsreiche Vielfalt. Sie nehmen, wie 9 M. Minow-Pinkney, Virginia Woolf and the Problem of the Subject, Brighton 1987, S. 131. 10 R. Remotti, Contro l’identità, Bari 1999, S. 9, 36. 11 Ibid., S. 9-11, 42, 54, 92. Tatiana Floreancig 168 der afrikanische Mensch „Ndembu“, die Zufälligkeit, die Zufallsbedingtheit des menschlichen Wesens wahr und tendieren zum Möglichkeitssinn, zur Verwandlung, zu multiplen Alternativen, zum ständigen Fließen und Überschreiten. In einer erweiterten Wirklichkeit liebäugelt Musils und Nins Subjekt mit einer unkonventionellen Identität, mit einem verschwommenen, widersprüchlichen, inkohärenten, zerrissenen und unreinen Bild des Selbst. Der Möglichkeitsmensch will nicht die Alterität ausgrenzen, sondern ist stets bereit, neue und fremde Elemente in sich aufzunehmen. Seine Identität ist daher schwach, inkonsequent und lakonisch. Ihre Struktur öffnet sich ständig nach außen. Musils und Nins Subjekt bewegt sich demzufolge zwischen dem drohenden Zerfall seines Selbst und der herbeigewünschten Befreiung von kulturellen Zwängen. Die Aufhebung normativer Zwänge tritt vor allem in Musils und Nins Interesse für pathologische Erscheinungen zutage. Ihre Reflexionen zur Sache sind eng mit den Untersuchungen über die rätselhafte Natur der Frau verknüpft, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in Eibl-Eibesfeldts, Möbius’, Charcots und Janets Arbeiten, Weiningers Geschlechtsmetaphysik und Freuds psychoanalytischer Theorie der Weiblichkeit ihren Niederschlag fanden. Das wird durch manche Figuren Musils wie Clarisse in Der Mann ohne Eigenschaften, Veronika in Die Versuchung der stillen Veronika verdeutlicht sowie durch Nins Protagonistin Jeanne in Under the Glass Bell, die die Mechanismen der Verdrängung spürt. Musils Clarisse und die Protagonistinnen von Vereinigungen weisen mit einer prädiskursiven Symptomatik auf das weibliche Begehren und auf seine verästelte Struktur hin. Die Wahrnehmung dieser Protagonistinnen ist von Elementen des von Charcot beschriebenen zweiten Zustands gekennzeichnet. Er kommt in Sehstörungen, Sprachlosigkeit und Lähmungen zum Ausdruck. Der hysterische Charakter erweist sich als erregbar, launenhaft, theatralisch, kokett, emotionell labil und fantasiebegabt. Diese Merkmale kommen bei Clarisse, die die Schwärmerin verkörpert, besonders klar zum Ausdruck. Mit der Beschreibung von Neurosen werden von Musil und Nin Rollenklischees hinterfragt und weibliche Fähigkeiten sowie das weibliche Selbstbewusstsein schlechthin gegen gesellschaftliche Vorurteile und männliche Machtstrukturen verteidigt. Der kreative Wahnsinn, eine Vorstellung, die auf Untersuchungen über die Symbolbildung bei den Schizophrenen, Kranken und Primitiven 12 beruht, zeigt sich in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften am Beispiel der Protagonistinnen Agathe und Clarisse. Der Autor führt die schöpferische und innovative Vorgehensweise seiner Frauengestalt Agathe auf das Gefühl für 12 R. Musil, Tagebücher, 2 Bde., Hrsg. A. Frisé, Reinbek bei Hamburg 1976, Bd. II, S. 600. Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen 169 das Unbestimmte zurück: „Ags. Gedächtnis, das die Dinge nicht verbindet. Sie liegen darin wie in den unergründlichen Taschen eines Kindes, völlig sinnlos, aber wenn so ein Gegenstand hervorkommt, ist er zauberhaft ursprünglich“. 13 Ihr alogisches, assoziatives Denken und ihre irrationale, mystische Veranlagung drückt sie durch das Gleichnis aus, das der „gleitenden Logik der Seele entspricht“. 14 ) ! C @ Die Suche nach dem eigenen Doppelgänger in der Inzesterfahrung stellt einen neuen Ich-Entwurf dar. In ihm kommen die unbestimmten Grenzen zwischen den Geschlechtern zur Geltung. In Musils Der Mann ohne Eigenschaften heißt es diesbezüglich: „So gibt Gott Teillösungen (...), wir sind verurteilt, immer wieder daraus eine relative Totale zu bilden, die keinem entspricht.“ 15 Die Geschlechterproblematik wird sowohl bei Musil als auch bei Nin mit Freuds Untersuchungen über das als dunkler Kontinent definierte Weib, das sich aus einem bisexuell veranlagten Kind entwickelt, in Verbindung gebracht. Musils Protagonisten Törless und Ulrich spüren, dass ihre Sexualität nicht eindeutig ist. Ähnlich wie Musil, der in der Kindheit einen engen Kontakt zu seiner jung verstorbenen Schwester hatte und sie für seinen Doppelgänger im Jenseits hielt, wünschen sich die Gestalten Törless und Ulrich, in ihrer Kindheit ein Mädchen zu sein, weil in dieser Entwicklungsphase die Geschlechtergrenze noch nicht festgelegt ist. Bei Musil fällt dem Hermaphroditen die Aufgabe zu, parallele, alternative Identitäten zu schaffen, die den Einzelnen von der Entfremdung und der herrschenden Eindeutigkeit befreien und ihm helfen, zum eigentlichen Ich zu gelangen. Ulrich knüpft seinerseits an seine Kindheitserinnerungen an, in denen die Grenzen zwischen den Geschlechtern fließend sind 16 , und lernt in seiner Schwester Agathe seinen Doppelgänger sowie den Doppelcharakter seines Wesens kennen. Zugleich entdeckt er in sich selbst seine weibliche Hälfte. Zu Beginn des Romans stellt sein Erzähler fest: „Ein solcher Mann ist aber keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit.“ 17 Nin geht angesichts der Doppelgeschlechtigkeit der Frage nach, ob nicht ein Entwicklungsumschwung vom Mädchen zum Jungen, zum Männlichen, besser wäre. Eine Erfahrung von Unterlegenheit bringt die Frauengestalt Lilian in Leitern ins Feuer einmal dazu, die Kleider ihres Bruders anzuziehen. Sie 13 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. II, S. 1840. 14 Ibid., Bd. I, S. 140 15 Ibid., Bd. II, S. 1649. 16 Ibid., Bd. I, S. 690, und R. Musil, Tagebücher, op. cit., Bd. I, S. 612. 17 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. I, S. 17. Tatiana Floreancig 170 will fühlen, wie ein Junge fühlt. Sie spürt, dass ihr dadurch eine gewisse Stärke verliehen wird, die ihr ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit gibt. Sie kommt sich selbstbewusster und sogar etwas frech vor und stellt sich vor, dass ein Junge nie leiden muss. Zur Verschmelzung der als gegensätzlich empfundenen geschlechtlichen Komponenten kommt es im Inzest, der bei Nin 18 und Musil als homoerotische Liebe oder Eigenliebe dargestellt wird. Nin sieht in der Homosexualität eine kindhafte Eigenschaft, eine Beziehung, die auf einer Identifikation mit dem Zwilling, dem Doppelgänger, dem Narziss beruht und wesentlich leichter oder weniger anspruchsvoll ist als die zwischen Mann und Frau. In The House of Incest lesen wir: „this house of incest, where we only love ourselves in the other“. 19 Diese Aspekte treten auch in der narzisstischen Liebe zu Sabina oder in der Liebe Jeannes zu ihrem Bruder in Erscheinung. 20 Bei Musil kommt der Inzest in Der Mann ohne Eigenschaften in der Geschwisterliebe der „siamesischen Zwillinge“ Ulrich und Agathe vor allem als Gedankenexperiment vor. Er wird mit Mythen von „geteilten Menschen“ verknüpft: Pygmalion, Hermaphrodit, Isis und Osiris. 21 Ulrich empfindet „Agathe als eine zärtliche Wiederholung seiner selbst“. 22 Die inzestuöse und narzisstische Liebe, die autistische Züge trägt, ist bei Musil und Nin zugleich ein Versuch, sich vor dem Zerfall zu schützen und die Welt abzulehnen. 23 Nins und Musils Romanfiguren sind von einer narzisstischen Einstellung gekennzeichnet. Sie neigen zu einer kritischen, selbstanalytischen, das Zentrum suchenden Identität, die auf Synkretismus gründet. Musils Mann ohne Eigenschaften, Ulrich, ist ein homme disponible, ein Möglichkeitsmensch in einer utopischen Welt, der eine „potentiale“ „konnexionistische“ 24 und dynamische Identitätsbildung durchmacht - jenseits von Gewalt und Ideologie: So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was eben so gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. (...) Das Mögliche umfasst jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. 25 18 A. Nin, Die Tagebücher der Anaïs Nin (1944-1947), München 1986, S.135. 19 A. Nin, The House of Incest, op. cit., S. 48. 20 Ibid., S. 12, S. 29-30. 21 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. I, S. 905. 22 Ibid., II, S. 1330. 23 R. Musil, Tagebücher, op. cit., Bd. II, S. 411. 24 R. Remotti, Contro l’identità, op. cit., S. 9. 25 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. I, S. 16. Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen 171 Der Einzelne kann die neuen Möglichkeiten, die sich nach der Herauslösung aus überlieferten Handlungsmustern und Denknormen bieten, kreativ nutzen; er soll die multiplen Realitäten verknüpfen und kombinieren. Zum „transgressiven“, überschreitenden Vorgang der Identitätsbildung als Selbstschöpfungsgeschichte gehört in Nins und Musils Werken das Inzestproblem. Bei Nin erhält dieses Motiv vor allem den Charakter eines Versuches, sich mit dem von Otto Rank thematisierten Geburtstrauma auseinanderzusetzen: „ejected from the paradise of soundlessness (...) thrown up on a rock, the skeleton of a ship choked in its own sails“. 26 Im Zuge der Ablehnung patriarchalischer Vorschriften und der Neuentdeckung eigener Wurzeln befassen sich Musil und Nin mit der Wiederbelebung der Kindheit, die bisweilen in deren Verklärung mündet. Das Thema der Kindheit verwenden sie für die Rekonstruktion des Subjekts. Im Kindertagebuch thematisiert Nin das eigene Ich als Doppelfigur, die zwischen einem kompakten Ich und einem schattenhaften Möglichkeits-Ich gespalten ist. Die Vorstellung einer wiedergefundenen Einheit durch die Verdoppelung des eigenen Wesens im Tagebuch stellt für sie eine Art Intensivierung des Erlebten dar, die aber bis an die Grenze der Selbstauflösung reicht. Ihre Literaturauffassung stellt sie als Verschmelzung des Getrennten dar: von Realität und Traum, Bewusstem und Unbewusstem, Ereignis und Mythos, Tatsache und Symbol. Die Überschreitung der Grenzen ist für Nin ein Hinabtauchen in die Tiefen des Lebens, das die verborgene Wirklichkeit ans Licht bringen soll. Auf diese Weise wird der Willens- und Empfindungsbereich erweitert. Dies drückt sich in einem vielfältigen, abweichenden Verhalten aus, das sich dem rationalistischen Mythos widersetzt, indem es sich auf Reflexion, Integration und Öffnung einstellt. Es kommt dabei zu einer Aufwertung des Ausgeschlossenen und der Antistruktur in einem Einweihungsvorgang, der dem Ursprungsmythos verwandt ist. * " ! @ N@@ Musils und Nins Texte zeigen, wie konstitutiv das künstlerische Wechselspiel zwischen unbewussten Assoziationen und ordnendem Diskurs für das Einzelsubjekt ist. Die Problematisierung des Subjekts im Sinne einer Kritik des von Jacques Derrida analysierten „Phallogozentrismus“ ist vor allem vom Aufheben der Eindeutigkeit in der Sprache und dem Aufbrechen der binären Oppositionen gekennzeichnet. Musil lässt seinen Antihelden Ulrich im Roman Der Mann ohne Eigenschaften sagen: 26 A. Nin, The House of Incest, op. cit., S. 4-5. Tatiana Floreancig 172 Und er teilt gut und böse fest ein, aber indem er sie trennt, vermengt er sie rettungslos“ und: „Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Misstrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle. 27 Beide Autoren ersetzen die kausallogische Ordnung durch eine semantischkognitive, die auf dem Prinzip der Analogie gründet. Dabei wird die kontinuierliche Erzählung im Sinne einer évidence poétique von der Montagetechnik ständig durchbrochen. Ihre Werke, in einer Phase des Umbruchs und in Auseinandersetzung mit der Tradition entstanden, zeichnen sich durch das Fehlen einer Handlung bzw. durch deren sekundäre Rolle aus. An manchen Stellen von Musils und Nins Texten stößt man auf eine interpunktionslose Schreibweise. Musil stellt die Assoziationen des Unbewussten, die ihm als Alternative zur kommunikativen Rede erscheinen, der traditionellen Syntax gegenüber: Solange man in Sätzen mit Endpunkten denkt, lassen sich gewisse Dinge nicht sagen - höchstens vage fühlen. Andererseits wäre es möglich, dass man sich so auszudrücken lernt, dass gewisse unendliche Perspektiven, die heute noch an der Schwelle des Unbewussten liegen, dann deutlich und verständlich werden. 28 In den sogenannten Kapitel-Studien, die eine Art Ersatzteillager bilden, das Musil mit einer der Filmmontage ähnlichen Kompositionstechnik auswertet, meint Anders, der Vorläufer Ulrichs: Jedes Wort fällt in die Stille, und im nächsten Augenblick blinken rings darum andre Wortleichen auf, wie die toten Fische massenhaft emporsteigen, wenn man Gift ins Wasser wirft. Die Ordnung der Worte in einem Zusammenhang der Wirklichkeit zerstört den tiefen Spiegelglanz, mit dem sie unausgesprochen über dem Unsagbaren liegen, und man kann ebenso gut gleich vom Rechtsanwalt sprechen, statt von der Philosophie. 29 Die Zerrüttung des Satzes durch die Dehnung der phrastischen und transphrastischen (diskursiven) Syntax und die Ausrichtung auf unbewusste und assoziative Mechanismen werden an einer Stelle in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften sichtbar, an der Agathe in einem Gespräch mit Ulrich einen Satz ohne Punkt zitiert, dessen Form James Joyces „stream of consciousness“ verwandt ist und die „écriture automatique“ ankündigt: Und es war doch schön“, - fragte sie - dass der Kleine in seiner Schule, mit dem er nicht zufrieden war, die Worte so wörtlich und schaurig übersetzt hat, wie er da liegen fand, wie einen Haufen auseinandergefallener Steine? Und sie wiederholte: Feige sterben oftmals vor ihrem Tod - die Tapferen niemals kosten vom Tode au- 27 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. II, S. 1644, I., S. 129 28 R. Musil, Tagebücher, op. cit., Bd. I, S. 53 29 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. II, S. 1640 Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen 173 ßer einmal - Von all den Wundern, die ich noch habe gehört - es scheint für mich sehr seltsam, dass Menschen sollten fürchten - sehend das Tod, ein notwendiges Ende - wird kommen, wann er will kommen...! ! ! 30 In ihren Versuchen, expressionistische Gedichte zu schreiben, schafft Clarisse im Roman Der Mann ohne Eigenschaften in der Syntax die Verben ab und verwendet Paarworte, die keine Begriffe bilden. 31 Sie denkt in Symbolen, in Farb- und Zahlenmetaphern. 32 Ihre Halluzinationen deuten an, dass die Welt nicht so stabil ist, wie es der Alltag suggeriert. Um kein Detail auszulassen, versucht Clarisse, alles zu verdichten und zu vereinheitlichen. Analog dazu lässt Nin in ihrem Werk The House of Incest das weibliche Ich die vielen „zu gleicher Zeit gefühlten Leben“ 33 durch die Idee einer neuen Sprache ausdrücken: I want to tell the whole truth, but I cannot tell the whole truth because I would have to write four pages to the present one, and so I do not write at all. I would have to write backwards, retrace my steps constantly to catch the echoes and the overtones. 34 Nins Darstellung des Andersartigen bedient sich in der Komposition der Halb- Short-Story, des Halb-Traums, der Verflechtung von Poesie und realistischer Beobachtung. Die Selbstvervielfältigung erfolgt durch die Aufhebung der chronologischen Zeit, die zeitliche Verschiebung und den vielfachen Perspektivenwechsel. Nins Schreibweise will direkt auf die Sinne wirken. Ihr Stil ist fragmentarisch, weil er das Leben nachahmen will, das in seiner Flüchtigkeit schwer fassbar ist und keine Rahmen, keine Wände, keine Türen und Grenzen kennt. 35 Das Aufbrechen der Form, das Verwischen der Grenzen zwischen Träumen und Wachen sowie die Hervorhebung der vorrationalen Zusammenhänge weisen auf das Konzept eines Lebens hin, das im Essay In Favour of the Sensitive Man wie ein Laboratorium oder ein Experiment mit offenem Ausgang erscheint. Denselben Gedanken lässt Musil seinen Helden Ulrich äußern: Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt. So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten, 30 Ibid., Bd. I, S. 704. 31 Ibid., Bd. II, S. 1796. 32 Ibid., Bd. II, S. 1784 ff. 33 A. Breton, „Erstes Manifest des Surrealismus“ in: Als die Surrealisten noch recht hatten: Texte und Dokumente, Hrsg. Günter Metken, 2. Aufl., Hofheim 1983, S. 23. 34 A. Nin, The House of Incest, op. cit., S. 46. 35 A. Nin, „Realism and Reality“, in: G. Stuhlmann (Hrsg.), Anaïs. An International Journal, Bd. VIII, 1990, S. 37. Tatiana Floreancig 174 Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müssten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte. 36 In Musils und Nins Werken erfolgt die Evokation eines neuen Menschideals durch ins Schwanken geratene „generative“ und kreativ angelegte Metaphern, die z. B. aus dem Wasserbereich stammen. Sie wirken stärker durch ihre Variationen im Text und erschließen dadurch neue Freiräume. Die Vielfalt und Vielschichtigkeit von Wirklichkeits- und Persönlichkeitsverhältnissen, von Stimmungen und Empfindungen lassen sich durch Bilder wiedergeben, die das Element Wasser bevorzugen und es mit dem weiblichen Universum, dem Unbewussten und der Welt der Kindheit in Verbindung bringen. + > Die wiederkehrende Bezugnahme auf die Welt des Wassers weist in Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Nins The House of Incest auf einen Möglichkeitsmenschen hin, der auf der Suche nach einem regressiven Verschmelzungszustand ist. Musil bezeichnet ihn als „anderen Zustand“. Er ist eine moralische, gedankliche und emotionale Einstellung zur Wirklichkeit 37 , die die gewöhnlichen Denkmuster ausschließt und auf mystische und mythische Traditionen anspielt. Die Metaphern, die aus dem semantischen Bereich des Wassers stammen, schaffen die Grundlage für eine experimentelle Sprache, die geeignet ist, das Unbekannte zu erforschen. Durch die Erweiterung des verbalen Bereichs vermitteln die Autoren bestimmte abstrakte Phänomene und solche, die das Innenleben betreffen, ohne dabei eine verbrauchte oder rein begriffliche Sprache zu verwenden. In Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften liest man diesbezüglich: „Jede Form, jeder Gedanke, die du dem Leben gibst, ist nur ein schwebendes Gleichgewicht.“ 38 Im Roman bemerkt man eine ständige Wiederholung von Ausdrücken, die das Schwanken, das Strömen und das Fließen konnotieren. Diese Ausdrücke bilden eine Reihe von „obsessiven Metaphern“ im Sinne von Charles Maurons Psychocritique. Sie kommen in Vergleichen wie: „so märchenhaft schöne Sinnlosigkeit, wie wenn Wasser im Frühling von allen Seiten rinnt“ 39 , zum Ausdruck, in denen eine grenzenlose Harmonie suggeriert wird. Die Vorstellung eines symbiotischen Zustandes, in dem alles ineinander fließt, wird durch Ausdrücke wie „fließendes Gleichgewicht“ 40 , 36 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd., I, S. 152. 37 G. Müller, „Isis und Osiris. Die Mythen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 102, 1983, S. 583. 38 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. II, S. 1645. 39 Ibid., Bd. I, S. 940. 40 Ibid., Bd. I, S. 128. Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen 175 „schwimmender Schwan“ 41 , „stehendes Wasser“ 42 , „Meer der Unendlichkeit“ 43 ermöglicht. Die Verwendung bildlicher Beschreibungen des Wassers löst im Roman Der Mann ohne Eigenschaften die Konturen der beobachteten oder imaginären Szenen auf. Äußere und innere Welt verschmelzen, weil ihnen eine Metapher gemeinsam ist. Das Fließen und Strömen vereinigt alle Personen, die im Einklang stehen und sich nach demselben Ziel sehnen. Das innere Streben und Begehren übersteigt in seiner Kraft jeden Begriff, jedes Gefühl und jeden Ausdruck. Deshalb kann das Unsagbare nur durch unerhörte und außergewöhnliche Stilmittel ausgedrückt werden. Die Metaphern sind es also, die den geistigen Inhalt verständlich machen. Bei Musil werden die Wassermetaphern vorwiegend dann eingesetzt, wenn es um Liebe oder Vereinigung geht. Anaïs Nin erzählt in The House of Incest die eigene Geburt ohne genaue Zeit- und Ortsangabe. Sie beschreibt das Strömen, den Übergang vom weichen, fließenden und amorphen Zustand zum festen, indem sie die Erinnerung an die Kindheit heraufbeschwört. Das am häufigsten wiederkehrende Bild in dem Haus, in dem sich inzestuöse Beziehungen bilden, ist das des Wassers. Es stellt einen Bereich dar, in dem das Ich Herr über sich und die Welt ist. Das Bild des Wassers weist auch auf die verlorene und herbeigesehnte paradiesische Einheit hin: (...) the suave voyage on the water bearing one through obstacles. The water was there to bear one like a giant bosom; there was always the water to rest on, and the water transmitted the lives and the loves, the words and the thoughts. (…) Loving without knowingness, moving without effort, in the soft current of water and desire, breathing in an ecstasy of dissolution. 44 Musil und Nin haben den Reiz des Wassers entdeckt und den Zauber und die Faszination, die dieses Element auf ihre Psyche ausübte, in eine Bildsprache übertragen. Ihre Vertrautheit mit dieser Materie machte es möglich, dass sie sie bearbeiteten, indem sie sie sprachlich veränderten. Sie nahmen die Impulse, die ihnen das Wasser vermittelte, auf und steigerten sie durch das Hinzufügen der eigenen psychologischen, bildhaften und stilistischen Dynamik. 45 Die Wassermetaphorik, die eine eigene poetische Kraft hat, wird in ihren Werken zur Grundlage verschiedener Überlegungen zur Liebe und zu den fließenden Grenzen zwischen den Geschlechtern. 41 Ibid., Bd. I, S. 129. 42 Ibid., Bd. I, S. 558. 43 Ibid., Bd. I, S. 1088. 44 A. Nin, The House of Incest, op. cit., S. 4-5. 45 Vgl. G. Bachelard, La poétique de la rêverie, Paris 1960. Tatiana Floreancig 176 In Musils und Nins wiederkehrenden Metaphern - oder métaphores obsédantes im Sinne von Charles Mauron 46 - kommt die unlösbare Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit zum Ausdruck. Ihre Kunstproduktion beruht auf dem Wechselspiel zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen. Diese dialogische Schreibweise wird, nach Kristeva, von Frauen bevorzugt, die am Herrschaftsdiskurs des Symbolischen nur marginal teilhaben. Die Signifikanten von verdrängten Bedeutungen, die metaphorische und metonymische Verbindungen eingehen, werden von Lacan 47 als Triebfedern der unbewussten Rhetorik bezeichnet. 2 N > Musils und Nins Hervorhebung bestimmter Aspekte der Subjektivität, die von modernen Sprachexperimenten begleitet wird, bildet einen Beitrag zur Diskussion über die Frau als Alterität. Diese Diskussion erhielt einen entscheidenden Impuls durch das im Jahre 1949 erschienene und bahnbrechende Werk von Simone de Beauvoir Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Beauvoirs kulturgeschichtliche und soziologische Abhandlung über die Lage der Frauen in einer von Männern dominierten Welt erschien zwischen zwei Phasen der Frauenbewegung: der historischen, die bis zum Ersten Weltkrieg währte, und der neuen seit 1970. Frauen seien, nach Beauvoir, von den Männern zum „Anderen Geschlecht“ gemacht worden. Dies bedeutet in der existenzialistischen Terminologie Beauvoirs, dass sich der Mann als das absolute Subjekt setzt, während der Frau, die immer in Abhängigkeit vom Mann definiert wird, die Rolle des Anderen, zugewiesen wird. Sie müsse sich mit einer passiven Rolle begnügen und auf ihren Wunsch verzichten, sich als freies Subjekt durch selbstbewusstes Handeln selbst zu bestimmen. Anscheinend wurde Anaïs Nins Kunstproduktion nicht von de Beauvoirs Werk beeinflusst, da Nin de Beauvoir einen männlichen Verstand vorwirft. Wenn sie vom weiblichen Selbstbewusstsein und vom weiblichen Schreiben spricht, bezieht sie sich lediglich auf Djuna Barnes und Marguerite Young. 48 Der Schriftstellerin de Beauvoir kann aber, der Meinung von Françoise Rétif zufolge, eine Schlüsselstellung in der Androgynie-Debatte zugesprochen werden. In ihrem Buch Pour une morale de l’ambiguïté werde die Grundstruktur des von der Zweideutigkeit lebenden Androgynen veranschaulicht: „Er ist 46 Ch. Mauron, Des Métaphores obsédantes au mythe personnel. Introduction à la psychocritique, Paris 1983. 47 J. Lacan, „Préface“, in: A. Lemaire, Jaques Lacan, Sprimont 1977 (8. Aufl.), S. 12. 48 J. Laughlin zu K. Rexroth , 9. November 1942, 30, in: Kenneth Rexroth and James Laughlin Selected Letters, Hrsg. Lee Bartlett, New York 1991. Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen 177 derselbe und der andere, der identische und der differente, der maskuline und der feminine, alles in einem.“ 49 Das Thema der Abhängigkeit des Subjektes von der symbolischen Ordnung der Gesellschaft wurde von der neuen Frauenliteratur vielschichtig, heuristisch und neuartig kommentiert. Mit ihrem Drang zur authentischen Selbstdarstellung und Selbstfindung jenseits des männlichen Spiegels leistete sie einer männlich geprägten Sprache Widerstand und warf die Frage nach einer geschlechtsspezifischen ästhetischen Wahrnehmung auf. So konnte die Theorie einer spezifisch „weiblichen Ästhetik“ entwickelt werden. Indem Musil 50 und Nin 51 der Intuition und dem Onirischen eine kreative Rolle im Schreibprozess zuweisen, lassen sie das Unbewusste und die Kontingenz in den Mittelpunkt ihrer Ästhetik rücken. Sie schaffen mit Hilfe der modernen narrativen Inszenierung und der gattungsübergreifenden Schreibweise eine rhythmisch-fließende, subjektive und assoziative Prosa des Nicht- Eindeutigen, des Offenen, das sich jeder Definition entzieht. Diese Elemente werden von einigen Vertreterinnen der feministischen Literaturkritik wie Heide Göttner Abendroth 52 und Hélène Cixous 53 als Merkmale der weiblichen Ästhetik interpretiert. Sie decken eine Leerstelle in der phallokratischen und logozentrischen Kultur auf, wie sie von Derridas Dekonstruktion dargestellt wird. Das Subversive und Irritierende in Musils und Nins Schreibweise wäre also dem Einbruch des verdrängten, der Triebstruktur entsprechenden Vorsprachlich-Semiotischen in die männlich beherrschte, normativ-symbolische Sprache zuzuschreiben, das Julia Kristeva als „poetische Sprache“ bezeichnet. Musils „homme disponible“, der sich nach einem utopischen „anderen Zustand“ sehnt, und Nins narzisstisches Subjekt, das den Doppelgänger oder das Spiegelbild sucht, leisten im Hinblick auf die Ich-Spaltung eine Vorarbeit für eine Literatur mit frauenspezifischen Themen. Sie antizipieren Aspekte, die Ingeborg Bachmanns Texte auf verschiedenen Ebenen weiterentwickeln. Bachmanns Werke über die Geschlechterdifferenz wurden in den 1980er Jahren zu Klassikern feministischer Kreise. Die österreichische Autorin, die Musils „Anderen Zustand“ und seinen Utopiebegriff rezipierte und in ihrem Werk kreativ umsetzte, betrachtet die Subjektwerdung als Sprachbemächtigung durch komplizierte Brechung und wechselnde Erzählperspektive, die beide weibliches Bewusstsein sichtbar machen. Sie knüpft an den Begriff des Möglichkeitsdenkens an, für das jede 49 F. Rétif, Simone de Beauvoir. L’Autre en miroir, Paris 1998, S. 70. 50 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., Bd. I, S. 906. 51 A. Nin, „Proceed from the dream outward“, The Novel of The Future, London 1968, S. 5ff. 52 H. Göttner Abendroth, „Frauenliteratur. Grundsatzüberlegungen zum Problem weiblicher Äußerungen“, in: Die große Bertelsmann Lexikothek. Spektrum der Literatur, Gütersloh 1990, S. 384-387. 53 H. Cixous, Weiblichkeit in der Schrift, Berlin 1980. Tatiana Floreancig 178 herrschende Ordnung nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten ist. Wie bei Musil ist auch bei ihr die Utopie durch Beweglichkeit und Offenheit gekennzeichnet und ist als Prozess und nicht als Ziel gedacht. Bachmann aktualisiert dieses Denken und versucht, den latenten Faschismus im Verhältnis zwischen Männern und Frauen zu überwinden. Die Androgynie wird auch bei ihr in Der Fall Franza im Zusammenhang mit der Geschwisterbeziehung und in Malina im Doppelgängermotiv thematisiert. Musils Vision einer Einheit in der Differenz, die in der Liebesbeziehung der Geschwister Ulrich und Agathe zum Ausdruck kommt, wird von Ingeborg Bachmann in Der Fall Franza und Malina auch erzähltechnisch realisiert. Durch sprachliche Verdichtungen und Verschiebungen, in Träumen und Körpersymptomen des Ichs verweist die Autorin auf den Ausschluss des Ichs aus der phallischen Ordnung des Vaters und des Geliebten. Die Ich-Figur in Malina stellt einen Frauentypus dar, der an unbewussten Konflikten krankt. Die Protagonistin ist ohne Bezug zum Geliebten/ Vater nicht lebensfähig, im verliebten Zustand verfällt sie aber einer sklavischen Abhängigkeit. Die Österreicherin Bachmann wird zum Bezugspunkt für bestimmte Autorinnen, deren Ziel eine kritisch-weibliche Literatur ist. Bachmanns Werke Malina und Der Fall Franza wurden von der Nachkriegsgeneration (Elfriede Jelinek, Anna Mitgutsch, und Elisabeth Reichart) verarbeitet. Renata Cornejo zeigt in ihrem Buch Das Dilemma des weiblichen Ich wie diese Autorinnen das postmodernistische und poststrukturalistische Denken mit Aspekten der französischen Theorien verbinden. Sie befassen sich mit dem verstümmeltem weiblichen Ich und mit der Ich-Spaltung und betrachten die Erinnerungsarbeit als Element der Subjektwerdung. Sie thematisieren das Gesicht, das nicht eins ist und das Spiegelbild als ein Spiel zwischen dem Sich-Selbst Erkennen und Verkennen. In ihrer Erörterung von Themen wie Androgynie und Inzest, die als Zeichen der schwachen und nicht anpassungsfähigen geschlechtsbedingten Identität gelten, befassen sich Musil und Nin mit den fließenden Grenzen in der menschlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie gelten als Vertreter eines Ansatzes, der das utopische Denken zum Ausgangspunkt nimmt und die Öffnung und den Prozess betont. Die Koexistenz unterschiedlicher Stilmerkmale in ihren Texten verweist jedoch auf keine Synthese, sondern eher auf die von Levinas postulierte Wechselbeziehung zwischen Ich und Du. Musil und Nin weisen einer Schreibweise den Weg, die eine weiblich orientierte Gesellschaftskritik anvisiert. Ihr Vorhaben kann mit dem Versuch verglichen werden, den Anspruch des Anderen im Sinne von Levinas in der Ästhetik sichtbar zu machen. Identitätssuche und fließende Geschlechtsgrenzen 179 # Bachelard, G., La poétique de la rêverie, Paris 1960. Breton, A., „Erstes Manifest des Surrealismus“, in: G. Metken (Hrsg.), Als die Surrealisten noch recht hatten: Texte und Dokumente, Hofheim 1983 (2. Aufl.). Cixous, H., Weiblichkeit in der Schrift, Berlin 1980. Gauthier, X., Surréalisme et sexualité, Paris 1971. Göttner Abendroth, H., „Frauenliteratur. Grundsatzüberlegungen zum Problem weiblicher Äußerungen“, in: Die große Bertelsmann Lexikothek. Spektrum der Literatur, Gütersloh 1990. 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Zur Subjektivität und Form innerer Rede und Bildströme um 1900“ - so lautet das Thema der folgenden Überlegungen, deren Zentrum, die Jahrhundertwende 1900, eingebettet sein wird in den unablässigen Strom der Zeit und in Reflexionen, welche die Frühe Neuzeit ebenso berühren wie das späte 20. Jahrhundert. Dass diese Jahrhundertwende zugleich eine Schlüsselepoche in den Schriften Peter V. Zimas ist, macht dieses Thema zu einer besonders reizvollen Herausforderung. Ausgehen will ich von dem Begriff „Unbestimmtheitsdispositiv“, den Gerhard Gamm vorgeschlagen hat für die epistemische Verfasstheit der Jahrhundertwende 1900. Er benutzt diesen Begriff sehr präzise als Signatur der westlichen Moderne oder, wie Peter V. Zima differenziert, Spätmoderne 2 , die, so Gamm, „alle scheinbar natürlichen Markierungen des Lebens (verflüssigt)“ 3 und als ästhetische und intellektuelle Bewegung einsetzt mit Baudelaires Diagnose des „fugitif“, des „transitoire“ und des „contingent“. 4 Wenn diese zum einen das Inzitament eines neuen Wahrnehmungs- und Schönheitskonzepts sind, so sind sie zum anderen die Fluchtlinie der sprachlichen und bildlichen Repräsentation. Der Kunstwille, den Baudelaire dem „Maler des modernen Lebens“ - hier Constantin Guys - zuerkennt und den er dem Dich- 1 U. Hahn, Das verborgene Wort, München 2001, S. 59. 2 P. V. Zima, Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen- Basel 2001; siehe auch ders., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2000. 3 G. Gamm, Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/ M. 1994, S. 228. 4 Ch. Baudelaire, Œuvres complètes II, hrsg. von C. Pichois, Paris (Bibliothèque de la Pléiade) 1975, S. 695. Walburga Hülk 182 ter, also sich selbst, abverlangt, bedeutet solcherart die Herausforderung, den überraschenden und flüchtigen Eindrücken ebenso wie den Nuancen oder dem „radikal Unbestimmten, das nicht Nichts ist“ 5 , eine adäquate Form zu geben. War Formgebung auch stets die vornehmste Aufgabe eines jeden Künstlers und eine immer wieder neue Leistung seiner Intuition, seiner Aufmerksamkeit und seines Könnens, so kann sie doch im Zeichen der Akkumulation von Sinnesreizen und Zerstreuungen des modernen Lebens - jenes Zustands, den Georg Simmel 1903 in „Die Großstädte und das Geistesleben“ beschreibt - nur der Effekt einer gewaltigen Anstrengung und eines radikal veränderten Formbewusstseins sein. Dies gilt umso mehr, als die „Verwandlung der Welt“, die Jürgen Osterhammel jüngst zum Titel seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts machte 6 , mitbegründet und begleitet war von einer Ausdifferenzierung des Wissens- und Kommunikationssystems, welche die Wirklichkeit als immer komplexere Ordnung und die Modalitäten und Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit als dynamische Transformation und prozessuale Bewegung kenntlich machte. „Die Intensivierung der kommunikativen Phänomene, das Anwachsen des Informationsflusses (stellt)“, so auch Gianni Vattimo, „für den Modernisierungsprozess nicht nur einen Aspekt unter anderen (dar), sondern gewissermaßen dessen Zentrum und Bedeutung“. 7 Es muss zugleich davon ausgegangen werden, dass diese „Intensivierung der kommunikativen Phänomene“, die den Gewinn an Wissen und den Wissenstransfer erst ermöglichte, zugleich auch die Krise der Erkenntnis und den „epistemologischen Zweifel“ 8 an der gelingenden Versprachlichung oder Medialisierung der Welt anzeigt, insofern als diese offenbar nicht mehr in dichotomisch organisierten Kategorien, sondern als Netz von komplexen Beziehungen und differentiellen Abschattungen zu denken ist. Die Jahrhundertwende 1900, das ist keine neue Erkenntnis, steht im Zeichen der Nuance: Dies gilt zum einen für die Naturwissenschaften - die Physiologie, die sich dem Vibrieren der Nerven und zerebralen Strömen widmet; die Physik, welche die Relativität von Gegenstand, Raum und Beobachtung, sodann die Unschärfe der Messbarkeit von Ort und Impuls verzeichnet und formalisiert - , und dies gilt ebenso für die Kunst, die, wie Marcel Schwob 5 G. Gamm, Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/ M. 2000, S. 159. 6 J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhundert, München 2009. 7 G. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, übers. von C. Klein und A. Valazza, Wien 1992, S. 28, zit. nach J. Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/ M. 2002, S. 23; zuvor: Suspensions of Perception, Cambridge, MA. 1999. 8 D. Fokkema nach P. V. Zima, Das literarische Subjekt, op. cit., S. 131. Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten 183 1896 sagte, längst jenseits von Normen „entklassifiziert“ 9 , indem sie sich dem Individuellen und Akzidentellen, den diffizilen Spannungen und Zwischentönen der Psyche, den kaum wahrnehmbaren Linien, Wirbeln und Strudeln von Wasser, Wind, Rauch und Licht zuwendet und zuwenden muss, solange sie den Bezug zur Realität aufrecht erhält, ja, selbst noch dort, wo sie diesen ästhetisch zu negieren scheint: Einmal, in Fernando Pessoas Buch der Unruhe, sind es Wolken, die alle Aufmerksamkeit des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares binden, „Wolken (…) sind für mich die Hauptsache der Wirklichkeit und beschäftigen mich so, als ob das Überwachen des Himmels eine der großen Sorgen meines Schicksals sei (…). Ich will Wolken…Sie ziehen immer vorbei, einige riesengroß, (…) andere von unbestimmter Größe…“ 10 ; ein anderes Mal sind es Mallarmés Nichtigkeiten und Nichtungen: Éventail, Coup de dés, Sainte und Cygne, die das Kontingente, das Ephemere und die Bagatelle als Sprache erscheinen lassen. „Der Sinn und die Lust an der Nüance (die eigentliche Modernität)“, so bemerkt Nietzsche 11 , „an dem, was nicht generell ist, läuft dem Triebe entgegen, welcher seine Lust und Kraft am Erfassen des Typischen hat: gleich dem griechischen Geschmack der besten Zeit.“ Wenn aber solcherart der vorletzten Jahrhundertwende alle Idiosynkrasien einer Spätzeit zuzufallen scheinen - als decadent 12 -, so sind diese doch allererst Figuren eines lebendigen Willens zum Wissen und zur Vorstellungskraft, die seinerseits Baudelaire dem Beobachter der Moderne, den er sich als Rekonvaleszenten vorstellte, zuschrieb. Die Poetik und die Epistemologie der Nuance, des Nicht nichts, des rien / rem, die hier interessieren, weil sie um 1900 verdichtet, gleichsam als „cluster“ auftreten, sind gleichwohl nicht aus dem Nichts entstanden. Es war Gottfried Wilhelm Leibniz, der in seinen „Nouveaux Essais sur l’entendement humain“ (Neue Abhandlungen über den menschlichen Geist), 1764 postum erschienen, jenen Begriff der petites perceptions bildete, der für die Geschichte der Ästhetik grundlegend und für die phänomenologische und ästhetische Dimension des „Kultes der Nuance“ 13 wichtig ist, zumal Leibniz um die Jahrhundertwende in einschlägigen Texten präsent ist - so 1896 in Bergsons Matière et mémoire 14 oder bei Ernst Cassi- 9 M. Schwob, Vies imaginaires, Paris 1986, S. 7, zit. in: H. Lange, Die Nuance. Kunstgriff und Denkfigur, München 2005, S. 20. 10 F. Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, übers. von G. R. Lind, Frankfurt/ M. 1987, S. 87f.; vgl. W. Lange, Die Nuance, Kunstgriff und Denkfigur, München 2005, S. 16f. 11 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, Bd. II, München 1982, S. 892; vgl. W. Lange, Die Nuance, op. cit., S. 14. 12 S. Beck, Decadent. Über das Erscheinen, Berlin (in Druck). 13 W. Lange, Die Nuance, op. cit., S. 11. 14 H. Bergson, Matière et mémoire, Paris 1939/ 1997, S. 36. Walburga Hülk 184 rer, der 1902 vergeblich versuchte, über das leibnizsche System zu habilitieren, das ihn für den Zusammenhang seiner Philosophie der symbolischen Formen und seiner Konzepte der „symbolischen Prägnanz“ und des „Werden(s) zur Form“ 15 interessieren musste. In der Vorrede Ernst Cassirers zu den Nouveaux Essais heißt es über die „unmerklichen Perzeptionen“: Übrigens gibt es gar viele Anzeichen, aus denen wir schließen müssen, daß es in jedem Augenblicke in unserem Innern eine unendliche Menge von Perzeptionen gibt, die aber nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet sind, sondern lediglich Veränderungen in der Seele selbst darstellen, deren wir uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrücke entweder zu schwach und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, so daß sie im einzelnen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale aufweisen. Nichtsdestoweniger können sie im Verein mit anderen ihre Wirkung tun und sich in der Gesamtheit des Eindruckes, wenigstens in verworrener Weise, geltend machen. So bringt die Gewohnheit uns dahin, auf die Bewegung einer Mühle oder eines Wasserfalles nicht mehr achtzugeben, wenn wir einige Zeit ganz nahe dabei gewohnt haben. Nicht als ob jene Bewegung nicht immer noch unsere Sinneswerkzeuge träfe und als ob nicht, gemäß der Harmonie von Seele und Leib, auch in der Seele eine entsprechende Änderung sich vollzöge: sondern die auf die Seele und den Körper geschehenden Eindrücke sind, wenn sie den Reiz der Neuheit verloren haben, nicht stark genug, um unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis, die von fesselnderen Gegenständen in Anspruch genommen werden, auf sich zu ziehen. Denn jedwede Aufmerksamkeit verlangt Gedächtnis; und wenn wir, sozusagen, nicht daran gemahnt und darauf hingewiesen werden, auf bestimmte gegenwärtige Bewußtseinszustände in uns zu achten, so lassen wir sie ohne Reflexion, ja ohne sie zu bemerken, vorübergehen (…). Um diese kleinen Perzeptionen, die wir in der Menge nicht unterscheiden können, noch besser zu fassen, bediene ich mich gewöhnlich des Beispiels vom Getöse oder Geräusch des Meeres, welches man vom Ufer aus vernimmt. Um dieses Geräusch, wie es tatsächlich geschieht, zu hören, muß man sicherlich die Teile, aus denen sich das Ganze zusammensetzt, d.h. das Geräusch einer jeden Welle hören, obgleich jedes dieser geringen Geräusche nur in der verworrenen Gemeinschaft mit allen übrigen zusammen, d.h. eben im Meeresbrausen selbst, erfassbar ist, und man es nicht bemerken würde, wenn die Welle, von der es herrührt, die einzige wäre. Denn die Bewegung dieser Welle muß doch auf uns irgendeinen Eindruck machen und jedes Einzelgeräusch muß, so gering es auch sein mag, von uns irgendwie aufgefaßt werden, sonst würde man auch von hunderttausend Wellen keinen Eindruck haben, da hunderttausend Nichtse zusammen nicht Etwas ausmachen. (…) Solche kleinen Perzeptionen sind also von größerer Wirklichkeit, als man denken mag. Auf ihnen beruhen unsere unbestimmten Eindrücke, unser Geschmack, unsere Wahrnehmungsbilder der sinnlichen Qualitäten (…). Diese unmerklichen Per- 15 E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. I, Hamburg 1995, S. 15. Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten 185 zeptionen sind es auch, die dasjenige bezeichnen und ausmachen, was wir ein und dasselbe Individuum nennen, denn kraft ihrer erhalten sich im Individuum Spuren seiner früheren Zustände, durch die die Verknüpfung mit seinem gegenwärtigen Zustand hergestellt werden. (…) Ja, diese Perzeptionen geben sogar […] das Mittel ab, im Notfall diese Erinnerung wieder zu wecken. (…) Danach scheint es wenig zu bedeuten, wenn ich noch hinzufüge, dass diese kleinen Perzeptionen es sind, die uns bei vielen Vorfällen, ohne daß man daran denkt, bestimmen und die hierdurch für die gewöhnliche Betrachtungsweise den Schein einer völlig indifferenten Willenentscheidung hervorbringen, wie wenn es beispielsweise völlig gleichgültig wäre, ob wir uns zur Rechten oder zur Linken wenden. (…) Die unmerklichen Perzeptionen sind mit einem Worte in der Geisteslehre (Pneumatik) von ebenso großer Bedeutung, wie es die unmerklichen Körper in der Physik sind; und es ist gleich unvernünftig, die einen wie die andern unter dem Vorwande, daß sie außerhalb des Bereichs unserer Sinne fallen, zu verwerfen. Nichts geschieht auf einen Schlag; und es ist einer meiner wichtigsten und bewährtesten Grundsätze, daß die Natur niemals Sprünge macht. Ich habe diesen Satz das Gesetz der Kontinuität genannt. (…) Freilich haben bisher diejenigen, die die Gesetze der Bewegung aufgestellt haben, dieses Gesetz nicht bemerkt; denn sie glaubten, daß ein Körper in einem Augenblicke eine der vorangegangenen entgegengesetzte Bewegung annehmen könne. Alles dies berechtigt zu dem Schluß, daß auch die merklichen Perzeptionen stufenweise aus solchen entstehen, welche zu schwach sind, um bemerkt zu werden. Urteilt man anders, so zeugt dies von geringer Erkenntnis der grenzenlosen Subtilität der Dinge, die stets und überall eine wirkliche Unendlichkeit in sich schließt. 16 Mit jedem neuen Satz, jedem Wort, jeder Wendung erscheint der Text moderner und aufregender für den Zusammenhang von Unbestimmtheit und Nuance, „grenzenlose(r) Subtilität“ und Form. Leibniz schließt hier mit der Analogie von petites perceptions und physischen „unmerklichen Körpern“, und er beruft sich auf das alte „Gesetz der Kontinuität“, das er wirken sieht innerhalb der äußeren und inneren, in allen Teilen miteinander verknüpften und bewegten Welt. Das „Gesetz der Kontinuität“ vollzieht sich als „inneres Prinzip“ unterschiedlicher Kräftegrade 17 in graduellen oder differentiellen Veränderungen der physischen und psychischen Natur, die nicht immer „hinreichende Unterscheidungsmerkmale“ innerhalb des „Ganzen“ einer „wirkliche(n) Unendlichkeit“ aufweisen und folglich keinen bewussten Eindruck hinterlassen. Die kontinuierlichen Veränderungen nämlich sind so minimal und häufig so vertraut, dass sie keine Aufmerksamkeit erregen, weil ein neuer, zumindest prägnanter, intensiver Reiz Voraussetzung dafür ist, dass ein Gegenstand oder 16 E. Cassirer, „Einleitung“, in: G.W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (Nouveaux Essais sur l’entendement humain), Hamburg 1996, S. 10-14. 17 Vgl. Ch. Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt/ M. 2008. Walburga Hülk 186 auch eine Empfindung bewusst wird. Dieses geschieht, indem etwas aus einer „verworrene(n) Gemeinschaft“ isoliert und zugleich als Teil eines Ganzen sichtbar gemacht wird. Leibniz veranschaulicht diesen Vorgang mit dem reizvollen, in Philosophie und Kunst immer wieder aufgenommenen Bild eines Menschen, der plötzlich vom Meeresstrand aus im allgemeinen Rauschen des Meeres das Aufschlagen einzelner Wellen hört. Die kontinuierlichen, vorbewussten petites perceptions aber - später im Text von Leibniz als „Unruhe“ benannt 18 - sind der Kern der Subjektivität, will heißen der Subjekt-Objekt- Beziehung und des Selbstbezugs, weil sie die ganze eigentümliche, monadische Vergangenheit eines Menschen bergen und weil jede gegenwärtige Wahrnehmung oder Repräsentation sich aus dieser immensen, virtuellen Verworrenheit heraushebt und formt. 19 Die psychologischen, phänomenologischen und ästhetischen Dimensionen des leibnizschen Begriffs der „unmerklichen Perzeptionen“ sind, so will mir scheinen, in der intellektuellen und künstlerischen Szene um 1900 von erstaunlicher Aktualität, und wer Hippolyte Taine und William James gelesen hat, kann in ihren Schriften zur experimentellen Psychologie - 1869 Taines De l’Intelligence, 1890 James’ Principles of Psychology - die systematische Ausfaltung der Dynamik und Kontinuität des Imaginären, der Relevanz der „nuance précise d’émotion“, der „transitive states“ oder des „stream of thought“ erkennen. 20 Besonders augenfällig freilich ist die Idee der unablässigen zerebralen Modellierung von Formwerdung und Formauflösung im Denken Bergsons, und dies prägnant in den frühen Schriften Essais sur les données immédiates de la conscience von 1889, seiner Dissertation und Matière et Mémoire von 1896. Hier entwickelt er die Grundfiguren seiner Wahrnehmungs- und Gedächtnistheorie, die jetzt nur angedeutet werden kann. Gleich im ersten Kapitel von Matière et Mémoire, „De la sélection des images 18 E. Cassirer, op. cit., S. 13; dazu H. Strahm, Die ‚petites perceptions‘ im System von Leibniz, Bern 1930, S. 80; siehe W. Hülk: „Inquietudini 1900. Epistemische und ästhetische Dynamiken einer italienischen Jahrhundertwende“, in: R. Behrens, R. Stillers (Hrsg.), Inquietudini. Gestalt, Funktion und Darstellung eines affektiven Musters in der italienischen Literatur, Heidelberg 2010, S. 101-116. 19 Zu petites perceptions, Neurobiologie und freiem Willen, siehe J. Reichertz, „Was bleibt vom göttlichen Funken? Über die Logik menschlicher Kreativität“, in: ders., N. Zaboura (Hrsg.), Akteur Gehirn - oder das vermeintliche Ende des handelnden Subjekts: Eine Kontroverse, Wiesbaden 2006, S. 200f. 20 H. Taine, De l’intelligence, Paris 1870, S. 70; W. James, The Principles of Psychology, New York-London 1890, S. 239f., vgl. W. Hülk, „Prousts Intensitäten“ in: U. Felten, V. Roloff (Hrsg.), Die Korrespondenz der Sinne / La correspondance des sens. Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Proust, München 2007, S. 73-86; W. Hülk, „Mémoire 1900“, in: K. van der Meer, H. Thoma (Hrsg.), Epochale Psycheme und Menschenwissen. Von Montaigne bis Houellebecq, Würzburg 2007, S. 169-182; M. Vrhunc, Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München 2002, 62f. Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten 187 pour la représentation. - Le rôle du corps“ verweist Bergson auf Leibniz 21 , um wenig später folgende Metaphern einzusetzen: Dans un espace amorphe on découpera des figures qui se meuvent; ou bien encore (…), on imaginera des rapports de grandeur qui se composeraient entre eux (…): dès lors la représentation, chargée des dépouilles de la matière, se déploiera librement dans une conscience inextensive. Mais il ne suffit pas de tailler, il faut coudre. Ces qualités que vous avez détachées de leur soutien matériel, il faudra maintenant expliquer comment elles vont le rejoindre. 22 Die unscheinbare Passage weist hin auf den Kern aller philosophischen Fragen Bergsons: das Verhältnis zwischen amorpher Masse und Form, zwischen dem unteilbaren flow der kontinuierlich fließenden äußeren und inneren Zeit, die für ihn die Realität ist, und dem Bewusstsein, das durch Morphologisierung einzelne Eindrücke isoliert, fixiert und verräumlicht - eine Methode oder Hilfskonstruktion, die nach Bergson der Illusion aufliegt, das zeitliche und psychische Kontinuum sei segmentierbar, während es doch nur in stetig ineinander gleitenden, Nuancen lebendig ist, deren Repräsentation in Bildern und Wörtern ein Problem, aber eben auch eine unhintergehbare Aufgabe ist. Schneiden, so heißt es, reiche nicht, man müsse auch nähen. Alle Wahrnehmungen und Erinnerungen bewegen sich in einem je einzigen zerebralen, dynamischen und plastischen System - es fallen hierfür die Begriffe „plasticité intégrale“, „élasticité“ und „forme d’un état mixte et en quelque sorte impur“ 23 und koexistieren „à l’état virtuel“ 24 . Diese virtuelle Koexistenz oder besser Koaleszenz innerer Bilder bezeichnet Bergson später als einen „amas nébuleux“ oder eine „nébulosité“ 25 - Leibniz hatte von der „verworrenen Gemeinschaft“ noch verborgener, dunkler Vorstellungen gesprochen. Die „nébulosité“ birgt eine latente, in steter Veränderung befindliche und anwachsende Fülle an Eindrücken, von denen die qualitativ hervorstechendsten, d.h. intensivsten, zu einer „représentation symbolique“ drängen 26 , die - als sprachliches Zeichen, als Gemälde, als Fotografie, selbst als Filmbild - zwar trügerisch isoliert, für das soziale System jedoch nützlich und für die Wissenschaft in der Regel unerlässlich ist: Nous nous exprimons nécessairement par des mots, et nous pensons le plus souvent dans l’espace. En d’autres termes, le langage exige que nous établissions entre nos idées les mêmes distinctions nettes et précises, la même discontinuité 21 H. Bergson, Matière et Mémoir. Essai sur la relation du corps à l'esprit, Paris 1896, S. 36. 22 Ibid., S. 37. 23 Ibid., S. 148, S. 115. 24 Ibid., S. 148. 25 Ibid. S. 184, S. 148. 26 G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen, op. cit., S. 104. Walburga Hülk 188 qu’entre les objets matériels. Cette assimilation est utile dans la vie pratique, et nécessaire dans la plupart des sciences. 27 Mit diesem Gedanken einer „traduction illégitime“ 28 der psychischen Kontinuität in Sprache beginnt der Essai sur les données immédiates, und mit ihm beginnt Bergsons philosophisches Werk, das bis zum Ende um die Aporie der Form kreisen und mit dem Wort hadern wird, „le mot aux contours bien arrêtés, le mot brutal qui emmagasine ce qu’il y a de stable, de commun et par conséquent d’impersonnel dans les impressions de l’humanité, écrase ou tout au moins recouvre les impressions délicates et fugitives de notre conscience individuelle“ 29 . Bergson „war der intellektuelle Star seiner Epoche“ 30 , der bekanntermaßen zahllose Künstler und Wissenschaftler der Jahrhundertwende inspiriert hat, auch wenn er nicht von allen als Referenz genannt wird und sein Einfluss nicht überall so augenfällig ist wie in den Bildexperimenten der Futuristen, z.B. in Boccionis Suche nach dem „bildnerischen Infinitum“, oder in Prousts Sinnes- und Erinnerungsroman, der Bergsons vorbewusste „mémoire du corps, constituée par l’ensemble des systèmes sensori-moteurs que l’habitude a organisés“ 31 direkt zitiert und zum Ausgangspunkt seiner zunächst stockenden Suche nach der verlorenen Zeit“ und seiner Epiphanien geglückter Erinnerung macht. Am Anfang, das ist allgemein bekannt, ist der Blick des Erzählers getrübt und verschleiert, ist die Sicht unklar; dann folgt, vor der quälenden Fixierung auf die Stunde des Zubettgehens und den Gutenachtkuss der Mutter, und lange vor den sinnlichen Erleuchtungen - Madeleine, Weißdorn, Pflasterstein - der berühmte „Satz der Zimmer“, der „chambres d’hiver“ und der „chambres d’été“. Erich Köhler hatte die verästelte Syntax in seiner Proust-Lektüre minutiös analysiert 32 , diesen Satz, der mit der Auffächerung ebenso beiläufiger wie qualitativ geschichteter Empfindungen und habitueller Sinneseindrücke genau an das wuchernde psychische Kontinuum erinnert, aus dessen „verworrener Gemeinschaft“ oder „nébulosité“ sich jene intensiven, klaren und leuchtenden Wahrnehmungen und Erinnerungen drängen, die Leibniz und Bergson, mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen, zum Ausgangspunkt ihrer Reflexion über die Formwerdung des Bewusstseins machten. Bei Bergson, der auch „von leuchtenden Punkten im Nebel (der übrigen 27 H. Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1927, S. VII. 28 Ibid. 29 Ibid., S. 98. 30 M. Weinmann, „Einleitung“, in: G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, hrsg. und übers. von M. Weinmann, Hamburg 2001, S. 7-22, hier S. 13. 31 H. Bergson, Matière et Mémoire, op. cit., S. 169. 32 E. Köhler, Marcel Proust, Göttingen 1958. Neuauflagen 1967 und 1994. Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten 189 Erinnerungen)“ 33 spricht, heißt es, wie ein Kommentar avant la lettre zum „Satz der Zimmer“: La répétition a pour véritable effet de décomposer d’abord, de recomposer ensuite, et de parler ainsi à l’intelligence du corps. Elle développe, à chaque nouvel essai, des mouvements enveloppés; elle appelle chaque fois l’attention du corps sur un nouveau détail qui avait passé inaperçu; elle fait qu’il divise et qu’il classe; elle lui souligne l’essentiel; elle retrouve une à une, dans le mouvement total, les lignes qui en marquent la structure intérieure. En ce sens, un mouvement est appris dès que le corps l’a compris. 34 Bereits 1928 hatte Leo Spitzer in seinem Aufsatz „Zum Stil Marcel Prousts“ die mäandernde Syntax der Recherche beschrieben als „Prousts impressionistische(n) Stil, (…) umspielt, unterhöhlt, unterkellert von Quergängen, Labyrinthen, einem Dickicht verflochtener Gedankenmotive, die der Vielfältigkeit und Vielmaschigkeit des Lebens entsprechen“. 35 Und Spitzers Vokabular - „Vielfältigkeit und Vielmaschigkeit“ - zur Charakteristik der proustschen Satzperioden könnte aktueller nicht sein als mit der Evokation von Falte, Netz und Textur, die heute längst zum Kanon der Texttheorie und ebenso zu den Debatten über Latenzen, Synapsen und Komplexität des Zerebralsystems gehören. Bergson hingegen hätte in Proust zumindest Ansätze jenes „romancier hardi“ erkennen können, „(qui) nous montre (…) sous cette juxtaposition d’états simples une pénétration infinie de mille impressions diverses qui ont déjà cessé d’être au moment où on les nomme“ 36 , denn auf einen solchen wartete er seit seinem Essai sur les données immédiates de la conscience. Paul Valéry, im gleichen Jahr geboren wie Marcel Proust, hielt 1941 in der Académie française einen Nachruf auf Bergson, in dem er, eingebettet in die genus- und akademiespezifische Rhetorik, interessanterweise die Nähe der bergsonschen Philosophie zur filigranen Musik Debussys, „l’oeuvre très subtile et très dégagée“ 37 hinweist. Valérys Werk ist gleichwohl weit weniger mit Bergson in Verbindung gebracht worden als dasjenige Prousts. Man könnte sagen: zu Unrecht, denn Valéry war um 1900 ebenfalls ein Schriftsteller, der die psychologische und physikalische Dimension der „unmerklichen Perzeptionen“ und „unmerklichen Körper“, die Leibniz „erfunden“ hatte und die Bergson kontinuierlich weiterdachte, besonders intensiv, und zeitgleich mit 33 H. Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, übers. von J. Frankenberger, Hamburg 1991, S. 127f. 34 H. Bergson, Matière et Mémoire, op. cit., S. 122. 35 L. Spitzer, Stilstudien II, München 1928, S. 329ff. 36 H. Bergson, Essais sur les données immédiates, op. cit., S. 99. 37 P. Valéry, „Discours sur Bergson“, in: ders., Œuvres I, hrsg. von J. Hytier, Paris (Bibliothèque de la Pléiade) 1968, S. 883-886, hier S. 885. Walburga Hülk 190 Bergson, reflektierte und zum Prüfstein seiner experimentellen Poetik und Ästhetik machte. Diese sind formal - als Skizze, Traktat, Carnet, Cahier, Fragment - so ganz der großen Narration Prousts entgegengesetzt. Und so wie Bergson den Bogen zurückschlug zu Leibniz, nimmt Valéry, ungeachtet seiner ausgestellten Hochachtung für den cartesianischen Rationalismus, in einem seiner eindrucksvollsten Texte die Methode Leonardos zum Anlass für eine Prüfung der sinnlichen Begreifungskraft und eine selbstreflexive Operation, und er beobachtet und notiert, indem er Leonardos Studien minutiös folgt, nicht nur das Kontinuum „unmerklicher Körper“, sondern auch das Kontinuum der eigenen nuancierten Sinnesreize, Wahrnehmungen, kreativen Einfälle seines „univers mental (dans lequel) les formes en mouvement triomphent du statisme et de la rigidité de la représentation“. 38 Es ist nämlich kein Zufall, dass Valéry gerade an Leonardos Heft über den Vogelflug, Codice sul volo degli uccelli, Gefallen gefunden hat, dem er schon in seinem Carnet de Londres 1894 einen prominenten Platz einräumte, um ihn dann noch im gleichen Jahr in der Introduction à la méthode de Léonard de Vinci zu systematisieren - einem Text, der übrigens dem bereits zitierten Marcel Schwob gewidmet ist. Denn Valéry sah sehr wohl, dass hier der alte Menschheitstraum vom Fliegen zwingend zum Studium der Mechanik und Ästhetik des Flügelschlags, und damit des Gesetzes der unmerklichen Bewegungsmuster geführt hatte, die sich in der Anatomie der Flügel großer und kleiner Vögel in Relation zur Aerodynamik verbarg. 39 Und indem Leonardo die gleichförmige Spur des Flügelschlags nachzeichnete als jene Abfolge von Linien und Punkten im Luftraum, die das Auge wahrnimmt, segmentierte er zwar im bergsonschen Sinne unrechtmäßig eine unaufhörliche Bewegung, vermittelte aber zugleich die Ahnung der zwar unsichtbaren, aber im Spiel des Windes, der organischen Materialität und des Luftraums kontinuierlich wirkenden Kraft und Mobilität, die das Auge und ebenso die künstlerische Mimesis vor eine echte Herausforderung stellte. Was Valéry in Leonardos Studien über den Flug der Vögel las, war der ihm wahlverwandte Wille, das Faszinosum bewegter Formen und elastischer, geschmeidiger Modulationen zu begreifen und aufzuzeichnen, die für ihn selbst das Gesetz der äußeren und inneren Natur und der Gegenstand seiner Selbstbeobachtung und vieler seiner Texte waren 40 . 38 P. Valéry, 1894, Carnet inédit: dit „Carnet de Londres“, hrsg. von F. de Lussy, Paris 2005, S. 18; vgl. zu diesem Zusammenhang auch: W. Hülk, „Paul Valéry, ‚Carnet de Londres‘, Leonardo, Teste und die Dynamik von Gedächtnis und Kunst“, in: K. Dickhaut, S. Wodianka (Hrsg.), Geschichte - Erinnerung - Ästhetik, Tübingen 2010, S. 351-362. 39 Vgl. W. Hülk, „Inquietudini 1900“, op. cit. 40 Zum Faszinosum des Flüssigen vgl. auch P. Valéry, „L’homme et la coquille“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S. 886-907; ders., „Degas Danse Dessin“, in: ibid., Bd. II, S. 1163-1240, Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten 191 Und da, wo Valéry diese und andere Zeichenstudien - vor allem die Wasserstudien - Leonardos in sein eigenes Medium, in Sprache übersetzt und zusammenfasst, lesen wir ein Prosagedicht, das die unmerklichen Körper und Perzeptionen in einer Bewegung von Form und Formauflösung vorübergleiten lässt - ganz auch im Sinne Baudelaires, der glaubte, in der Gattung des „poème en prose“ am ehesten die Nuancen und die Komplexität der modernité verwirklichen zu können. &/ # / O)P Ich zitiere aus der Introduction à la méthode de Léonard de Vinci: Il garde, cet esprit symbolique, la plus vaste collection des formes (…). Des précipitations ou les lenteurs simulées sur les chutes des terres et des pierres, des courbatures massives aux draperies multipliées; des fumées poussant sur la toile aux arborescences lointaines, aux hêtres gazeux des horizons; des poissons aux oiseaux; des étincelles solaires de la mer aux mille minces miroirs des feuilles de bouleaux; des écailles des éclats marchant sur les golfes, des oreilles et des boucles aux tourbillons figés des coquilles. Il va. Il passe de la coquille à l’enroulement de la rumeur des ondes; de la peau des minces étangs à des veines qui la tiéderaient; à des mouvements élémentaires de répétition, aux couleuvres fluides. Il vivifie. L’eau, autour du nageur, il la colle en écharpes, en langes moulant les efforts des muscles. L’air, il le fixe dans le sillage des alouettes en effilochures d’ombre, en foules mousseuses de bulles que ces routes aériennes de leur bes. S. 1173. (hier ein Absatz zur Beweglichkeit der „méduse“, ebenfalls einem Prosagedicht vergleichbar). Walburga Hülk 192 fine respiration doivent défaire et laisser à travers les feuillets bleuâtres de l’espace, l’épaisseur du cristal vague de l’espace. 41 Nicht nur für die bildliche Darstellung in Malerei, Fotografie und Film, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, waren also die unmerklichen Bewegungsfiguren der äußeren und inneren Natur eine Herausforderung, sondern auch für die Repräsentation durch sprachliche Zeichen. Das Problem der Transformation unmerklicher Körper und Wahrnehmungen, das Valéry löste in einer als Prosagedicht geformten, elastischen und geschmeidigen Ekphrasis der Bewegungsstudien Leonardos, erwies sich um die Jahrhundertwende 1900 als nahezu ubiquitäres Thema der Dichtung und der Sprachphilosophie. Es mag zunächst verwundern, wenn an dieser Stelle nun auch der Begründer der modernen Linguistik, Ferdinand de Saussure, ins Spiel gebracht wird. Saussure, Sohn einer über Generationen naturwissenschaftlich geprägten Genfer Familie, war zutiefst geprägt durch die „forma mentis scientifique, héritée du passé familial (…) le refus de toute mystification, de toute fausse clarté“ 42 und durch die intellektuelle Szene um 1900, und es ist bekannt, dass er auch in Künstlerkreisen verkehrte, z.B. den hier mehrfach erwähnten Marcel Schwob kannte. Saussures postum von seinen Schülern aus Vorlesungsmitschriften kompilierter und publizierter, legendärer Cours de linguistique générale leitet bekanntlich aus der Annahme des „caractère systémique“ 43 der Sprache („langue“) das Postulat einer systematischen Linguistik ab, ausgehend von einer Definition des sprachlichen Zeichens. Was in unserem Zusammenhang als interessant auffällt, ist die Metaphorik Saussures, mit der er den Zeichenbegriff einführt und die, wie jede wissenschaftliche Metaphorik, nicht einfach eine komplexitätsreduzierende Bildsprache ist, sondern ein Code in epistemologischer Absicht und Funktion. Im zentralen Kapitel IV über das Sprachzeichen, „La valeur linguistique“, stehen folgende Sätze: Psychologiquement, abstraction faite de son expression par les mots, notre pensée n’est qu’une masse amorphe et indistincte. Philosophes et linguistes se sont toujours accordés à reconnaître que, sans le secours des signes, nous serions incapables de distinguer deux idées d’une façon claire et constante. Prise en elle-même, la pensée est comme une nébuleuse où rien n’est nécessairement délimité. Il n’y a pas d’idées préétablies, et rien n’est distinct avant l’apparition de la langue. 41 P. Valéry, „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“ in: Œuvres I, op. cit., S. 1177; vgl. L. da Vinci, Das Wasserbuch. Schriften und Zeichnungen, ausgew. und übers. von M. Schneider, München u.a. 1996. 42 T. de Mauro in: F. de Saussure, Cours de linguistique générale, hrsg. von T. de Mauro, Paris 1974, S. I. 43 Ibid., S. IX. Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten 193 En face de ce royaume flottant, les sons offriraient-ils par eux-mêmes des entités circonscrites d’avance? Pas d’avantage. La substance phonique n’est pas plus fixe ni plus rigide; ce n’est pas un moule dont la pensée doive nécessairement épouser les formes, mais une matière plastique qui se divise à son tour en parties distinctes pour fournir les signifiants dont la pensée a besoin. (…) La pensée, chaotique de sa nature, est forcée de se préciser en se décomposant. Il n’y a donc ni matérialisation des pensées, ni spiritualisation des sons, mais il s’agit de ce fait en quelque sorte mystérieux, que la « pensée-son » implique des divisions et que la langue élabore ses unités en se constituant entre deux masses amorphes. Qu’on se représente l’air en contact avec une nappe d’eau: si la pression atmosphérique change, la surface de l’eau se décompose en une série de divisions, c’est-à-dire de vagues; ce sont ces ondulations qui donneront une idée de l’union, et pour ainsi dire de l’accouplement de la pensée avec la matière phonique. 44 Zahlreiche Bilder, die unsere Überlegungen zur Formbildung von Nuancen um 1900 bisher begleitet haben, finden sich in dieser Passage wieder und zeigen, dass auch der Sprachwissenschaftler Saussure, der sich anschickte, die Linguistik strikt zu trennen von anderen Wissenschaften, so der Philologie und Psychologie, die Formbildungsprozesse in der Sprache beschreibt wie jene Philosophen, hier Bergson und lange vor ihm Leibniz, die sich der Emergenz der distinkten Erscheinungen und der bewussten Wahrnehmungen aus der Verworrenheit der äußeren und inneren Welt annahmen: Das Zeichen, so Saussure, hebt sich hervor aus der „masse amorphe“, der „nébuleuse“ von Gedanken, die nicht eine feste Gussform sind („moule“) sind, sondern ein durch „plasticité“ gekennzeichneter zerebraler „trésor intérieur“ 45 , ein „système latent“ 46 mit frei beweglichen, kontinuierlich fließenden Figuren: „Le fleuve de la langue coule sans interruption; que son cours soit paisible ou torrentueux, c’est une considération secondaire“ 47 . Am Beispiel der Welle erläutert Saussure die durch Trennung und Vereinigung, Morphologie und Synthese - bei Bergson hieß es: tailler, coudre - gekennzeichnete Bildung des Sprachzeichens, das vor jeder Bedeutung ist, „ce que les autres ne sont pas“. 48 44 F. de Saussure, Cours, op. cit., S. 12. 45 Ibid., S. 171. Vgl. G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen, op. cit., S. 18. 46 F. de Saussure, Cours, op. cit., S. 173. 47 Ibid., S. 192, dazu Bergsons Flussmetapher in: H. Bergson, „Durée et simultanéité. À propos de la théorie d’Einstein“ (Paris 1922), in: H. Bergson: Mélanges, hrsg. von A. Robinet, Paris 1972, S. 67. 48 F. de Saussure, Cours, op. cit., S. 162. Walburga Hülk 194 '/ > = * + Noch bevor Saussure jedoch im zweiten Teil seines Cours de linguistique générale, beginnend 1908, die Idee des zugleich distinkten und relationalen Zeichens als Basis des Sprachsystems formulierte, hatte er sich in einer Reihe von Heften mit dem Thema der Anagramme - von ihm auch Anaphone und Hypogramme genannt - in (indogermanischer) Sprachgeschichte und vorrangig lateinischer Dichtung befasst. Diese Notizen, die er zwischen 1906 und 1909 verfasst hat, zeigen, unvollendet, zuweilen rätselhaft, seine Formtheorie in statu nascendi, und zwar als eine detektivische (Re-)Konstruktion des sprachlichen und poetischen Lautspiels von Latenz und Evidenz, Nuance, Zirkulation und Wechselklang. Saussure äußert hier nämlich, so Jean Starobinski, die eigentümliche Idee einer ungeheuren Fülle von „Wörter(n) unter Wörter(n)“ 49 , aus denen sich in differentiellen Variationen, einem „weder rein zufälligen noch voll bewussten Prozeß“ 50 die Rede bildet, deren einzelne Symbole für sich selbst genommen keine Identität haben. Saussures Beobachtungen, die fragmentarisch bleiben und noch weit entfernt sind von der „Erfindung“ des systemischen und zunächst substanzlosen Charakters der Sprache, entspringen, so Starobinski, „einer einfachen Wahrheit“: „daß die Sprache jene unendliche Quelle ist und daß sich hinter jedem Satz das vielfache Gemurmel verbirgt, wovon sie sich gelöst hat“. 51 Wahrscheinlich hat sich 49 J. Starobinski, Wörter unter Wörtern, übers. von H. Beese, Frankfurt/ M. u.a. 1980. (Original: Les mots sous les mots, Paris 1971). 50 Ibid., S. 127. 51 J. Starobinski, op. cit., S. 127; zur Latenz allgemein: A. Haverkamp, Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004; vgl. auch, in die Zeit passend, Aby Warburgs Annahme verborgener antiker Spuren in der modernen Kunst, die er, ähnlich Nietzsche, in Nuancen bewegter Formen entdeckt, dazu: G. Didi-Hubermann, L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002; M. Ersti , „Pathosformel ‚Venus‘? Überlegungen zu einer Mythengestalt bei Aby Warburg“, in: Y. Hoffmann, W. Hülk, V. Roloff (Hrsg.), Alte Mythen - Neue Medien, Heidelberg 2006, S. 33-51. Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten 195 Saussure, der in seinen Anagramm-Studien die feinen Unterschiede der kleinsten Spracheinheiten, der Phoneme, als conditio sine qua non der Form- und Bedeutungsbildung der Rede entwarf, nicht auseinandergesetzt mit dem Konzept der „parole intérieure“, das der Schweizer Literaturwissenschaftler Victor Egger 1881 mit seiner Dissertation La parole intérieure. Essai de psychologie descriptive der „Faculté de Lettres“ in Paris vorlegte. Man kann dieses Konzept jedoch parallel und als eine weitere Variante der zeittypischen Reflexion auf die Nuance lesen. Egger befasste sich, wie viele seiner Kollegen, mit dem Rätsel des Imaginären. Anders jedoch als viele seiner Zeitgenossen - darunter Taine, James und Bergson -, die zur Veranschaulichung der Mobilität der psychischen Tätigkeit die Metapher des Kaleidoskops benutzten, legte Egger den Akzent nicht auf die Flut innerer Bilder, sondern auf die Kontinuität innerer Worte. In zweifellos anderer Absicht als Saussure ging auch er davon aus, dass jeder Mensch kontinuierlich und unhintergehbar in Worten denkt, fühlt, träumt, und dass das Kontinuum der inneren Lautsprache 52 der Bewusstheit der Gedanken und Reden vorausgeht, manchmal schneller, manchmal langsamer fließt, sich bewegt in Abkürzungen, Sprüngen und Brüchen, bevor und während es zur sprachlichen Repräsentation kommt. Eine solche innere Lautsprache als Ausdruck der grundsätzlichen Sprachförmigkeit der Gedanken aber ist eine vorbewusste Sprache der Abschattungen und Nuancen, der unmerklichen Bewegungen und Verschiebungen. 53 Ursula Renner hat dieses Konzept gerade im wissenschaftsgeschichtlichen und künstlerischen Zusammenhang erläutert und zwingend geltend gemacht für Schnitzlers Leutnant Gustl aus dem Jahr 1900, den ersten Text, der nahezu ausschließlich als innerer Monolog - als lächerlicher Entscheidungsmonolog eines mittelmäßigen jungen Soldaten der Habsburger Monarchie 1900 - gehalten ist. 54 In dem Maße, in dem ein solcher Text, als Strom der „parole intérieure“ in Gustls merkwürdig verworrenem Kopf zirkuliert, ist er die Mimesis dessen, was Freud zeitgleich „freie Assoziation“ nennt: ein Zur- Sprache-Kommen unmerklicher Perzeptionen, die sich aus der Verworrenheit des von Schnitzler benannten „Mittelbewusstseins“ 55 lösen. Wissenschaftsge- 52 Siehe auch L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Bd.I, Frankfurt/ M. 1984, S. 388ff. 53 Vgl. Beitrag zur „Parole intérieure“, in: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, Hrsg. F. Kirchner, Leipzig 1907 mit Verweis auf Victor Egger, La Parole intérieure. Essai de Psychologie descriptive, Paris (1881) 2008; C. Knobloch, „Innere Sprache“, in: H. Glück (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart-Weimar 2004, S. 303f. 54 U. Renner, „Lassen sich Gedanken sagen? Mimesis der inneren Rede in Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl“, in: S. Schneider (Hrsg.), Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2010, S. 31-52. 55 A. Schnitzler, siehe U. Renner, op. cit. Walburga Hülk 196 schichtlich interessant ist hier einmal mehr das „Doppelgängertum“ Freuds und Schnitzlers, insofern als bei beiden ein „acoustic turn“ indiziert ist, der auf dem Höhepunkt der Spätmoderne, gegenüber der durch Poe und Baudelaire vorrangig visuell codierten Ordnung der modernité, lautliche Nuancen und Bagatellen hervorhebt als Kern der Form- und Bedeutungsbildung. Freuds „Lapsus“ ebenso wie Saussures Anagramme / Anaphone und Sprachzeichen lassen solcherart, aus der Verworrenheit, dem Nebel und den verborgenen Linien des Ganzen, Klarheit entstehen - im Gegenstand und in der Methode. 56 Bergsons und Saussures Nebel, das kann an dieser Stelle nur vermutet werden, ist eingegangen in Unamunos Roman Niebla von 1914. Die petites perceptions, Nuancen und Nichtigkeiten jedoch finden sich vor allem wieder in Nathalie Sarrautes Prinzip der „tropismes“, auf das hier abschließend hingewiesen werden soll. Beginnend 1932, hat sie diesen aus der Biologie stammenden Begriff, der die minimalen, auf (Licht-)Reize reagierenden Bewegungen von Pflanzen bezeichnet, als poetischen Begriff verwendet; vielfach missverstanden, ist er dem phänomenologischen Suchprogramm Sartres verwandt, während er sodann zu einem tragenden Prinzip der Formensprache des „nouveau roman“ geworden ist. Im Vorwort zu der Essaysammlung L‘Ère du soupçon (1956) erklärt Sarraute die Tropismen noch einmal folgendermaßen: Ce sont des mouvements indéfinissables, qui glissent très rapidement aux limites de notre conscience; ils sont à l’origine de nos gestes, de nos paroles, des sentiments que nous manifestons, que nous croyons éprouver et qu’il n’est possible de définir. Ils me paraissent encore constituer la source secrète de notre existence. (…) aucun mot - pas même le monologue intérieur - ne les exprime, car ils se développent en nous avec une rapidité extrême, sans que nous percevions clairement ce qu’ils sont, (…) Il fallait aussi décomposer ces mouvements et les faire se déployer dans la conscience du lecteur à la manière d’un film au ralenti. Le temps n’était plus celui de la vie réelle, mais celui d’un présent démesurément agrandi. Leur déploiement constitue de véritables drames qui se dissimulent derrière les conversations les plus banales, les gestes les plus quotidiens. Ils débouchent à tout moment sur des apparences qui à la fois les masquent et les révèlent. 57 Die Tropismen bewegen sich als flüchtige, minimale und latente Bewegungsfiguren, als „mouvements sous-jacents“ 58 und „innombrables nuances“ 59 in 56 Zur epistemologischen Relevanz des „Abhubs“ auch: C. Ginzburg, „Spie. Radici di un paradigma indiziario“, in: A. Gargani (Hrsg.), Crisi della ragione. Nuovi modelli nel rapporto tra sapere e attività umane, Turin 1979, S. 57-106. Dt.: C. Ginzburg: „Spurensicherung“, in: ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, S. 61-96. 57 N. Sarraute, L’Ère du soupçon, Paris 1956, S. 8f. 58 Ibid., S. 34. Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten 197 einer amorphen Masse, einer „matière anonyme (…), dans un magma sans nom, sans contours“ 60 und sind noch dem inneren Monolog, wie Schnitzler ihn fasste, vorgelagert. Als petites perceptions - mit Patricia Oster-Stierle kann man auch sagen: Als Nano-Perzeptionen 61 - machen sie sich in einer „sous-conversation“ 62 „aux portes de la conscience“ 63 bemerkbar, „s’assemblent en groupes compacts et surgissent tout à coup, se défont aussitôt, se combinent autrement et réapparaissent sous une nouvelle forme, tandis que continue à se dérouler en nous, pareil au ruban qui s’échappe en crépitant de la fonte d’un téléscripteur, le flot ininterrompu des mots“. 64 Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten. Sarrautes Konturierung der „tropismes“ scheint mir besonders prägnant die psychologischen und ästhetischen, poetischen und linguistischen Überlegungen zur Formbildung der Nuancen und zu den Unbestimmtheitszonen der Subjektivität weiter zu denken, wie sie in den Metaphoriken und Experimenten der Spätmoderne verdichtet zu beobachten waren, die seinerzeit antworteten auf sehr viel ältere Reflexionen und Studien über unmerkliche Körper, Sinnesreize und Stimmungen, für die hier stellvertretend jene von Leonardo und Leibniz erwähnt wurden. Und so begegnen sich immer wieder, „d’un pas égal“, die Künste und die Wissenschaften in der Erforschung, Inszenierung und Ausdifferenzierung der Weltwahrnehmung und des Weltwissens, die selbst jenem schönen „Gesetz der Kontinuität“ zu folgen scheinen, dem wir hier für einen Augenblick nachgegangen sind. # Baudelaire, Ch., Œuvres complètes II (Hrsg. C. Pichois), Paris 1975. Bergson, H., „Durée et simultanéité. À propos de la théorie d’Einstein“, in: ders., Mélanges (Hrsg. A. Robinet), Paris 1972 (1. Aufl. 1922). Bergson, H., Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, übers. von J. Frankenberger, Hamburg 1991. Bergson, H., Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1927. Cassirer, E., Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. I, Hamburg 1995. Crary, J., Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/ M. 2002. 59 Ibid., S. 45. 60 Ibid., S. 76. 61 P. Oster-Stierle, „Nathalie Sarraute oder die Nanowelt der Ich-Instanzen“, in: K. van der Meer, H. Thoma (Hrsg.), Epochale Psycheme und Menschenwissen. Von Montaigne bis Houellebecq, Würzburg 2007, S. 219-235, auch hier findet sich der Hinweis auf Bergson. 62 N. Sarraute, L’Ere du soupçon, op. cit., S. 81ff. 63 Ibid., S. 97. 64 Ibid. Walburga Hülk 198 Didi-Hubermann, G., L’image survivante. Histoire de l’Art et Temps des Fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002. 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Zima, P. V., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen-Basel 2010 (3. Aufl.). Abbildung 1: „Leonardo Da Vinci: Sitzender alter Mann …“, Tafel 26 aus dem Anhang von: L. da Vinci, Das Wasserbuch. Schriften und Zeichnungen, ausgew. und übers. von M. Schneider, München u.a. 1996. Abbildung 2: „Wellenzeichnung“ aus: F. de Saussure, Cours de linguistique générale (Hrsg. T. de Mauro), Paris 1972. % & Helmut Meter (Klagenfurt) $ ? $ 6 ! : <0 : < : < ! 1 Für die Literarhistoriker ist G. Apollinaire eine ausgesprochen facettenreiche Figur. Als zentraler Exponent der Pariser Bohème im Umkreis der Belle Époque 1 kann er für vieles - vielleicht allzu vieles - vereinnahmt werden: für die Wiederbelebung mittelalterlicher Formen der Lyrik, die Entwicklung des modernen Bildgedichts, die Überwindung der symbolistischen Poetik, die zeitgemäße Hinwendung zu den Kulturen Deutschlands und Italiens, die literarische Erschließung der technischen Zivilisation, die Erfindung des Surrealismus, das Übertragen von Techniken der modernen Kunst auf die Literatur und nicht zuletzt für eine maßgebliche Funktion bei der Herausbildung der frühen Avantgarden. Der Katalog ließe sich unschwer erweitern. Jedenfalls tritt eine heterogene, letztlich eher zentrifugale Fülle von Qualitäten und Aktivitäten zutage, die das Bild einer vielseitigen, im Zweifelsfalle gar zur Zersplitterung neigenden Persönlichkeit entstehen lässt. 2 Was die Lyrik betrifft, den markantesten Sektor von Apollinaires literarischem Schreiben, so hat sie an nahezu allen genannten Faktoren entscheidend teil und stellt in ihrer Gesamtheit ein schwer zu strukturierendes Feld dar. Das macht die Crux, aber auch den Reiz einer Beschäftigung mit dem Autor aus und lässt die Forschungsbeiträge nicht versiegen. So breit gefächert diese methodologisch wie ideologisch und von ihren oft divergenten Ergebnissen her sein mögen, so einmütig unterstreichen sie die Ansicht, dass das lyrische Subjekt Apollinaires eine unverwechselbare Physiognomie habe. 3 Das ist 1 Vgl. zur Charakterisierung des Autors in seinem zeitlichen Umfeld A. Boschetti, La Poésie partout. Apollinaire, homme-époque (1898-1918), Paris 2001. 2 Zum summarischen Forschungsstand zu Apollinaire und seinem Werk siehe J. Burgos, C. Debon, M. Décaudin, Apollinaire, en somme, Paris 1998. 3 So spricht M. Décaudin, Apollinaire, Paris 2002, S. 80 und 93, von einer „même disposition morale“ angesichts von „résonances différentes“ bzw. von einer kontinuierlichen „quête du moi“. - Unter lyrischem Subjekt ist hier eine fiktionale Instanz verstanden, die unterschiedliche pronominale, figurale und semantische Ausprägungen erhalten kann, doch insgesamt dem Basiskonzept eines lyrischen Ich verpflichtet bleibt. Es handelt sich mithin Helmut Meter 204 erstaunlich angesichts einer literarischen Evolution zumindest in Frankreich, die seit Rimbauds Feststellung Car Je est un autre für die Ausprägung eines Subjektbewusstseins keine semantischen Regularitäten mehr zu kennen scheint. Offensichtlich liegt somit bei Apollinaire in diesem Punkt ein unorthodoxes, nahezu gegenmodernes Phänomen vor, dem eine neuralgische Funktion nicht abzusprechen ist. In mancher Hinsicht fühlt man sich damit an den Beginn der modernen Lyrik bei Baudelaire zurückversetzt, wo ein konstantes lyrisches Ich trotz unsteten Seelenlebens in vielem die verlässliche Fiktion eines noch abbildartig vorstellbaren Subjekts befördert. 4 Ähnlich fällt durchweg der Vergleich mit Verlaine noch aus. Doch bei Verlaine lässt sich in Andeutungen bereits ein kompositorisches Merkmal finden, das Apollinaire zu einem Charakteristikum seines lyrischen Subjekts machen wird: die sprachliche Aufspaltung dieser Instanz in mehrere lexikalische Erscheinungsformen, in die pronominale Repräsentanz von „je“, „tu“ und „il“. Im Falle Verlaines zeigt sich das in nur wenigen Texten und zudem noch unter Ausschluss des Pronomens der dritten Person. Darüber hinaus entspricht hier die Subjektvariante des „tu“ vom semantischen Profil her einer unpersönlichen Festlegung, insofern sie allgemeine Verhaltensprinzipien thematisiert - wie etwa in Art poétique - oder selbstbezogene Aufforderungen von überindividuellem Geltungsanspruch wie in Conseil Fallot. 5 Es fehlt die subjektspezifische Dimension des Einzigartigen, die dem „tu“ und „il“ Apollinaires hingegen eingeschrieben ist. Dass es sich hierbei um inhaltliche Abwandlungen eines fiktionalen Subjekts handelt, ist in der sprachlichen Entfaltung eines jeweiligen Gedichts unmissverständlich erkennbar. Ein textinterner Referenzrahmen - eingerichtet in Analogie zu lebensweltlichen Verhältnissen - lässt keinen Zweifel daran. darum, den „processus identificatoire“ eines textlichen Subjekts im Sinne von J.-M. Maulpoix (Le Poète perplexe, Paris 2002, S. 102) zu verfolgen bzw. den Spuren einer fiktionalen „conscience de soi“ nachzugehen, wie sie G. Poulet (Entre moi et moi. Essais critiques sur la conscience de soi, Paris 1977, S. 273-277) mit den idealtypischen Grenzmarkierungen des „sentiment de soi“ und der „saisie purement intellectuelle de soi-même“ festhält. Das lyrische Ich erweist sich somit als eine textliche Sprecherinstanz, als die fiktionale Konstruktion eines Selbstentwurfs, deren Status sich auch im Falle autobiographischer Autorreferenz nicht ändert. Somit setzt sich die hier wirksame Auffassung vom lyrischen Subjekt und seiner Unterkategorie des lyrischen Ich deutlich ab von den meisten Beiträgen in D. Rabaté (Hrsg.), Figures du sujet lyrique, Paris 1996, wo keine klare Trennlinie zwischen fiktionalem und empirischem Ich gezogen ist. 4 Dies zumal in Kontexten, die die mentale Rückkehr aus Traumvisionen des Ich markieren wie am Ende des „Rêve Parisien“. Cf. Ch. Baudelaire, Œuvres complètes. Texte par Y.-G. Le Dantec, éd. rév. par Cl. Pichois, Paris 1961 (Bibl. de la Pléiade). 5 Cf. P. Verlaine, Œuvres poétiques complètes, éd. de Y.-G. Le Dantec, rév. par J. Borel, Paris 1962 (Bibl. de la Pléiade), S. 326-327 u. 372-374. Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire 205 So ist das Lexem „je“ wenn nicht der Ausgangs-, so doch der Flucht- und Endpunkt eines Subjekts, das sich temporär einem einförmigen Verständnis entzieht. Da der Wechsel der pronominalen Ebene meist unversehens erfolgt, liegt es nahe, eine kalkulierte Verrätselung am Werk zu sehen. Andererseits stellt sich rasch heraus, dass ein manifestes lyrisches Ich die übergeordnete Instanz des Variationsprozesses bleibt. Das fragliche Phänomen ist in einer stattlichen Zahl von Gedichten anzutreffen, unter anderem in einigen konzeptuell wie rezeptionsgeschichtlich besonders hervorstechenden. Zudem lässt es sich von den frühesten Texten bis zu den letzten hin beobachten. Es verdankt sich mithin nicht einer bestimmten Schaffensphase und ebenso wenig der poetologischen Eingebung eines Augenblicks. Schließlich erregt es besondere Neugier bei einem Autor, der das Trachten verschiedener Avantgardisten nach Abschaffung des Subjekts in der Literatur ausdrücklich befürwortet hat. Dies gilt etwa für die vehemente Forderung seitens F.T. Marinettis und seiner Gefolgsleute, jegliches Ich zu tilgen, wie sie etwa im Manifest I Poeti Futuristi erhoben wird. 6 Dem aufgeworfenen Problem genauer nachzugehen, erscheint mithin verlohnend. Dabei ist das „Einzelsubjekt“, um das es sich im folgenden handelt, als „eine kontingente Konstruktion“ begriffen, als „eine Identitätssuche voller Unwägbarkeiten“. 7 Am häufigsten zu beobachten in Apollinaires Dichtung ist die meist vorübergehende Aufspaltung des lyrischen Subjekts in ein „je“ und ein „tu“. Des Öfteren dient dabei die Form der zweiten Person dazu, einem Monolog des Ich scheinbar dialogische Züge zu verleihen. Doch recht schnell schwindet das eher flüchtige Du wieder zugunsten des übergeordneten Ich und bestätigt damit seine vorrangige Aufgabe stilistischer Variation. Einfache Verhältnisse der Rückkoppelung eines pronominalen „tu“ an ein hierarchisch höheres „je“ sind in Abschnitt V des Alcools-Textes À la Santé (140-145) zu finden. 8 Hintergrund des Gedichts ist Apollinaires irrtümliche Inhaftierung als vermeintlich Mitverantwortlicher eines Diebstahls des Mona- Lisa-Gemäldes aus dem Louvre. 9 Das lyrische Ich sieht als Gefängnisinsasse 6 Siehe I Poeti Futuristi. Con un proclama di F. T. Marinetti e uno studio sul verso libero di P. Buzzi, Mailand, Edizioni Futuriste di „Poesia“, 1912, S. 18. 7 P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2000, S. XII. 8 Textgrundlage im Folgenden: G. Apollinaire, Œuvres poétiques, préf. par A. Billy. Texte par M. Adéma et M. Décaudin, Paris 1965 (Bibl. de la Pléiade). Bloße Seitenangaben im Text nach dieser Edition; Kursivschrift in Zitaten vom Vf. 9 Zu diesem Ereignis cf. F. Balandier, Les Prisons d’Apollinaire, Paris 2001. Helmut Meter 206 einer tristen Zukunft entgegen im Gewand eines Du, bis in der nächsten Versgruppe die Ich-Form wieder dominiert: V (…) Tu pleureras l’heure où tu pleures Qui passera trop vitement Comme passent toutes les heures VI J’écoute les bruits de la ville (…) (144/ 145) Rätselhafter und bedeutsamer nimmt sich hingegen ein unvermittelter, kurzer Wechsel von Ich zu Du in Le Brasier (108-110) aus, einem Text, der über teils hermetische Passagen die seelische Neugeburt eines Subjekts feiert, die sich im Zeichen einer Lösung von der Vergangenheit vollzieht. Das Du sieht sich hier in eine breit gefächerte, symbolistisch anmutende Bilderfolge integriert, die dem Mythos des Amphion verpflichtet ist 10 , dem Dichter und Musiker, der die Mauern Thebens errichtete, indem er die erforderlichen Steine durch den Klang seiner Leier zur Selbsttätigkeit veranlasste: Le fleuve épinglé sur la ville T’y fixe comme un vêtement Partant à l’amphion docile Tu subis tous les tons charmants Qui rendent les pierres agiles (108) Die Ebene des „tu“ korreliert hier mit einem Wechsel der bildlichen Referenz von der primären Metaphorik des im Scheiterhaufen lodernden Ich zu weiter entfernten Imaginations- und Erfahrungswelten hin. Dies motiviert einen perspektivischen Wandel vom unmittelbaren Erleben des lyrischen Subjekts zu einem solchen der sekundären räumlichen und zeitlichen Einbindung. Konsequenterweise gleitet das Subjekt sofort wieder in die Hülse des Ich zurück, sobald der maßgebliche Bildrahmen des reinigenden Feuers erneut in den Vordergrund rückt: Je flambe dans le brasier à l’ardeur adorable (109) Verbindendes Element der unterschiedlichen motivischen Einbettung von Du und Ich ist die jeweils positive sinnliche Erfahrung in Szenerien passiven 10 Cf. hierzu R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Bd. I, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 232-234. Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire 207 Verhaltens. Ich und Du sind die beiden Seiten ein- und derselben Medaille und verleihen dem kathartischen Prozess größeren Nachdruck. 11 Vergleichbares gilt zunächst für die Verhältnisse in Le Voyageur (78-89). Hier umschließt ein- und derselbe Ich-geprägte Vers einen Text, der nahezu völlig im Zeichen des Du steht: „Ouvrez-moi cette porte où je frappe en pleurant“ (78). Bringt der Vers eine unmittelbare Emotionalität zum Ausdruck, so sind die vom Du bestimmten Passagen einer Vergangenheit gewidmet, die über die Erinnerung wiederbelebt wird: Tu regardais un banc de nuages descendre Avec le paquebot orphelin vers les fièvres futures Et de tous ces regrets de tous ces repentirs Te souviens-tu (78) Die Vergangenheitssphäre betrifft Fragmente verschiedenartiger Reisen, die nur eine spezifische Ortsangabe enthalten: Luxemburg. Die pronominale Zweiteilung, verstanden als Aufzeigen abgestufter Bewusstseinslagen, erscheint damit konsequent, ebenso wie eine sporadische Wiederkehr des Ich innerhalb des Du-Sektors, wenn der Erinnerungsvorgang im aktuellen Bewusstsein registriert oder eine inchoative Handlung festgehalten wird: Je m’en souviens je m’en souviens encore (78) Vor diesem Hintergrund regelhaften Vorgehens wirkt nun aber der unvermittelte Hinweis auf das anscheinend tatsächliche Du einer anderen Person verfremdend. Das etablierte binäre Prinzip gerät ins Wanken und damit zugleich der Vorschein eines verlässlichen Identitätsmusters. Die pronominale Dialektik scheint ad absurdum geführt an dem Erinnerungsort einer tristen Herberge bei Luxemburg: Dans le fond de la salle il s’envolait un Christ (…) L’on jouait aux cartes Et toi tu m’avais oublié (78) Diese Anspielung auf ein unbestimmtes zwischenpersönliches Verhältnis lässt indessen - trotz eines ersten, gegenteiligen Anscheins - zugleich auch eine Verstehensweise zu, die dem kooperativen Wechselspiel von „je“ und „tu“ als gleichwertigen Facetten des lyrischen Subjekts nicht zuwiderläuft. Einmal manifestiert sich im Plusquamperfekt von „avais oublié“ eine neue Zeitebene, die von Präsens und Präteritum - den beiden dominierenden - klar abgegrenzt ist. Auf dieser Ebene kann folglich ein Du lokalisiert werden, das eine andere 11 Zu Dantes Paradiso als einer Quelle des Gedichts siehe A. Fongaro, „La troisième partie du Brasier“, in: ders., Apollinaire poète. Exégèses et discussions 1957-1987, Toulouse 1988, S. 163-181. Helmut Meter 208 Person als das Subjekt meint. Des weiteren - und dies ist die lectio difficilior - könnte die unmittelbare Juxtaposition von Du und Ich dennoch im Rahmen der üblichen heuristischen Bipolarität des Subjekts aufgefasst werden. Indiziert würde damit ein Stadium der schmerzlichen Desorientierung des Selbst, eine Selbstvergessenheit oder Identitätskrise, die in der Motivik und Bildlichkeit von Le Voyageur ihre kongeniale Einbindung findet. Apollinaires poetisches Universum, eine Montage aus kryptischer Semantik und ihrem krassen Gegenteil, zielt nun freilich insgesamt nicht darauf ab, die konstitutive Subjektalternanz von Ich und Du als solche zu verrätseln. Die Anteile einsinniger Enunziation lassen keinen Zweifel daran, wie etwa der Text Cortège (74-76) deutlich macht. Er thematisiert explizit - über die traumartige Vision eines langen Menschenzuges, in dem das lyrische Ich sich selbst sucht - den diachronischen Aufbau des Selbst. Dabei tritt die Dichotomie der fraglichen Pronomina als wechselseitiger Spiegelbilder unmissverständlich zutage: Un jour je m’attendais moi-même Je me disais Guillaume il est temps que tu viennes Pour que je sache enfin celui-là que je suis Moi qui connais les autres (…) (74) Die Rollenfunktion von Ich und Du bedarf hier nicht der kontextuellen Erschließung, sondern resultiert über die Namensnennung aus einem ostentativen Zeigevorgang. Interessanterweise enthält der markante Passus mit der Bezeichnung „celui-là“ zudem schon den Hinweis auf ein lyrisches Subjekt in der dritten Person, was aber noch keinen Reflex in einem Personalpronomen findet. Das Selbstverständnis des Ich gründet sich schließlich als Produkt kombinatorischer Faktoren auf ein sozialanthropologisches Fundament: Le cortège passait et j’y cherchais mon corps Tous ceux qui survenaient et n’étaient pas moi-même Amenaient un à un les morceaux de moi-même On me bâtit peu à peu comme on élève une tour Les peuples s’entassaient et je parus moi-même Qu’ont formé tous les corps et les choses humaines (76/ 77) Baut sich das Selbst aus zahllosen Teilen der verschiedensten humanen Provenienz auf, so verwundert es nicht, dass in Phasen der Selbstbetrachtung seine Verzweigung in die Instanzen von Ich und Du erfolgen kann. In dieser Hinsicht bietet Apollinaires exemplarisches und die Alcools einleitendes Modernitätsgedicht Zone (39-44) nichts Neues. „À la fin tu es las de ce monde ancien“ (39), lautet der erste Vers, und alsbald wird diesem „tu“ ein „je“ entgegengesetzt: „J’aime la grâce de cette rue industrielle“ (39). Die Trennung der Sphären ist offenkundig. Der Blick auf das Alte obliegt dem Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire 209 Du, das zivilisatorisch Neue ist dem Ich zugeordnet. Diese vertraute Trennung in distinkte Bereiche schwindet indes alsbald. Zwar gibt es etliche Verse, die die gelebte Vergangenheit im Modus des „tu“ einbringen wie etwa: Te voici à Coblence à l’hôtel du Géant Te voici à Rome assis sous un néflier du Japon Te voici à Amsterdam avec une jeune fille que tu Trouves belle et qui est laide (42) Doch entspricht dem nicht mehr eine dem Ich vorbehaltene Gegenwart, und wenig später schon scheinen in der raschen Alternanz von Du und Ich keinerlei Ordnungsprinzipien mehr erkennbar: Tu as souffert de l’amour à vingt et à trente ans J’ai vécu comme un fou et j’ai perdu mon Temps Tu n’oses plus regarder tes mains et à tous moments Je voudrais sangloter Sur toi sur celle que j’aime sur tout ce qui t’a épouvanté (42/ 43) Es liegt nahe, die sprunghaften Übergänge zwischen den Subjektkonstituenten als direkten Ausdruck, aber auch als Kenntlichmachen höchster Gefühlsintensität zu begreifen. Immerhin inszeniert sich hier das Subjekt noch in kompakter Form, über eine gedoppelte Perspektive und als zentripetales Gebilde. Wie üblicherweise wäre am Textende schließlich die Wiederkehr des uniformen Ich-Subjekts zu erwarten als Markierung gesicherter Identität. Hier aber obsiegt das Du, das im Morgengrauen in depressiver Stimmung den Heimweg nach Auteuil einschlägt. Es folgt der berühmte Schluss: Adieu Adieu Soleil cou coupé (44) Die Metapher der enthaupteten Morgensonne wird in der Apollinaire-Literatur seit jeher als Chiffre tiefer Depression gedeutet. Der Autor selbst sieht Zone als „poème de fin d’amour“. 12 Die solch düsterer Verfassung assoziierte Pronominalform ist das „tu“, da eine Rückwendung zur Basis des „je“ diesmal nicht vollzogen wird. Dem Du kann also auch die Aufgabe zufallen, eine emotionale Extremsituation oder eine dieser vergleichbare Befindlichkeit als struktureller Indikator zu begleiten. Ein weiterer gewichtiger Text bestätigt den Befund: Arbre (178-179) aus der ersten Sektion der Calligrammes. In seiner suggestiven Dunkelheit ist das Gedicht seit langem ein exemplarisches Exerzierfeld für die unterschiedlichsten Interpretationsansätze und Deutungsversuche. 13 Weitgehendes Einver- 12 Vgl. die Angaben in Apollinaire, Œuvres poétiques, op. cit., S. 1043. 13 Als paradigmatisch vgl. den schon älteren Beitrag „Gemeinsame Interpretation von Apollinaires Arbre, in: W. Iser (Hrsg.), Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 464-484. Helmut Meter 210 nehmen herrscht nur in der Ansicht, dass der Text den als bitter empfundenen Verlust natürlicher Lebensgrundlagen im Gefolge der technischen Zivilisation beklage. Ich und Du vollziehen auch hier das nunmehr bekannte Wechselspiel. Zugleich wandeln sich die geographischen Referenzen brüsk: Isfahan, Amerika, Transsibirien und Finnland können als Extrempunkte einer weiten Amplitude mentaler Präsenz des Ich gelten. Auch autobiographisch zu verstehende Aspekte sind vorhanden. Die Schluss-Sequenz der Verse ist jedenfalls der monologisch angelegten Du-Form vorbehalten und von einem negativen Sinngehalt geprägt: (…) Tout est plus triste qu’autrefois Tous les dieux terrestres vieillissent L’univers se plaint par ta voix Et des êtres nouveaux surgissent Trois par trois (179) So bedrohlich die teils traumbildartigen Beobachtungen auch wirken mögen, dem indirekt umschriebenen Dichter-Subjekt fällt eine herausgehobene Rolle zu: Es spricht stellvertretend für das Universum. Dass dies im Gestus des Klagens geschieht, nimmt ihm nicht seine teils romantische, teils an Rimbaud gemahnende Sehergabe. 14 Bedrückung und Belastung erweisen sich jedoch als so groß, dass die Ebene des Du für den Gedichtausgang bestimmend bleibt. Unter manchen Umständen ist es in Apollinaires Lyrik mithin schwer oder gar unmöglich, „ich“ zu sagen. Die Variationsbreite der Ich-Du-Modulation ist beträchtlich. Das Modell sieht sich nun freilich mitunter ergänzt, indem eine dritte Subjektrepräsentanz hinzutritt, nämlich „il“. Damit erweitert sich das zu vermessende Areal, wenngleich die Belege in diesem Fall weniger zahlreich sind. Einsichtigerweise handelt es sich an der Textoberfläche nunmehr um das Verhältnis von Ich und Er, wobei die dritte Person sich stets als Substitut der ersten herausstellt. Eine Darstellungsweise im Zeichen von „il“ bedingt im übrigen einen stärker narrativen Charakter der fraglichen Gedichttexte, da zunächst die Außensicht auf diese Instanz überwiegt und nur ihr Tun sie näher kennzeichnen kann. L’Émigrant de Landor Road (105-106) - ein Gedicht, das sich Apollinaires unerwiderter Liebe zu der Engländerin Annie Playden verdankt 15 - zeigt das sehr deutlich. Fokussiert ist die Gestalt eines „il“, die im Begriff ist, nach Amerika auszuwandern, und den Vollzug dieses Schrittes schließlich als 14 Diese zeigt sich freilich bei Rimbaud als entschieden abstrakter in ihren „accidents de féerie scientifique“, wie etwa der Text „Angoisse“ aus den Illuminations dokumentiert. Vgl. A. Rimbaud, Œuvres, éd. de S. Bernard, Paris 1960, S. 289. 15 Vgl. hierzu J. Adlard, „Un soir de demi-brume à Londres“ - Annie Playden amour de Guillaume Apollinaire, Reims 1988. Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire 211 schmerzlich empfindet. Lediglich eine kurze Textstrecke ist insgesamt der Instanz eines „je“ unterstellt. Schon den Auftakt bestimmt das „il“: Le chapeau à la main il entra du pied droit Chez un tailleur très chic et fournisseur du roi (…) (105) Spezifischeres zu dieser zunächst fremden Gestalt erfährt man freilich erst in dem Augenblick, da sie sich in einem unvermittelten Registerwechsel als ein Ich zu erkennen gibt: Mon bateau partira demain pour l’Amérique Et je ne reviendrai jamais Avec l’argent gagné dans les prairies lyriques Guider mon ombre aveugle en ces rues que j’aimais (105) Unwillkürlich nimmt man hinter einem sich solcherart dekuvrierenden Sprecher-Ich Fragmente der Biographie Apollinaires wahr, der längere Zeit seinen Lebensunterhalt auch durch das Verfassen lyrischer Texte bestritten hat. Doch der Ich-Einschub ist eher kurz. Den weiteren Fortgang bestimmt bis zum Schluss die wiederkehrende Er-Form. Dies findet eine plausible Erklärung, insofern der narrative Textinhalt in paradoxer Weise authentische Gegebenheiten von Apollinaires Leben fiktional in ihr Gegenteil verkehrt. Annie Playden hat sich als Auswanderin mit dem Schiff nach Amerika begeben, nicht aber der sie vergeblich Liebende. Die von Schmerz durchwobene Fiktion des Gedichts kann hier offenbar nicht zu einem Ich zurückfinden, da dem Subjekt sonst ein Imaginationsstatus ohne existenzielles Fundament eignete. Offenbar ist die Dimension existenzieller Parallelität von empirischem Subjekt und fiktionalem, lyrischen Subjekt für Apollinaire unverzichtbar. So zeigt das Kriegsgedicht Merveille de la guerre (271-272) in positiver Wendung, was in L’Émigrant als eine negative Metamorphose des Subjekts zu betrachten war. Erste Person und dritte Person finden hier zur Kongruenz, ohne dass der mindeste Zweifel an der personalen Identität entstehen könnte. Die tautologische Gleichordnung beider Pronomina hat ostentativen Charakter und gründet sich, jede Ambiguität ausschließend, auf die Selbstbezeichnung des Subjekts als „Guillaume Apollinaire“. Dies geschieht im letzten Teil eines Gedichts, das hinter der expliziten „Schönheit“ (271), die sich der Farbenpracht vielfältiger Raketen verdankt, durchaus die „kannibalische“ oder von „Anthropophagie“ bestimmte Zielrichtung (272) des kriegsbestimmten Spektakels offen legt. 16 So dient die Abstufung von Ich und Er weniger der perspektivischen Doppelung des Subjekts als dem Mitteilen einer paradigmatischen Kriegserfahrung an die Nachwelt über die Benennung des Erlebenden: 16 Als grundlegend zu Apollinaires Kriegslyrik vgl. C. Debon, Guillaume Apollinaire après „Alcools“, Bd. I. „Calligrammes“. Le poète et la guerre, Paris 1981. Helmut Meter 212 Je lègue à l’avenir l’histoire de Guillaume Apollinaire Qui fut à la guerre et sut être partout (…) (272) Im Relativpronomen der dritten Person, „Qui“, veräußerlicht sich das Subjekt nur scheinbar. Es bleibt sich selbst verpflichtet, indem es sich namentlich festlegt und auf diese Weise der Leserschaft einen anscheinend objektivierbaren Zugang zu seinem Erfahrungswissen eröffnet. Dass dies der Ich-Identität keine Probleme bereitet, sondern ihr vielmehr zugute kommt, geht aus dem Gedichtende hervor. Es enthält eine nachdrücklich selbstgewisse Markierung des lyrischen Ich: Car je suis partout à cette heure il n’y a cependant Que moi qui suis en moi (272) Offenbar wird, sozialpsychologisch gesehen, der Wert des Mitteilbaren um so höher veranschlagt, je selbstsicherer das Ich sich zu erleben vermag. Nicht immer gestattet die literarisierte Kriegssituation solch klare Verhältnisse. So vermag die Bewegung von „il“ zu „je“ auch in anderen Fällen zwar durchaus zu einem sich seiner selbst bewussten Subjekt hinzuführen. Doch kann dieses Bewusstsein dann eher tragisch akzentuiert sein, wenn es das Vergessen seiner Inhalte und tendenziell seiner selbst in Rechnung stellen muss. Dies geht aus der komplexen Dichte der zwölf Verse von La Boucle retrouvée (248) hervor. 17 Das unbestimmte initiale „Il“ - es verweist offenbar auf einen Frontsoldaten - ist einem Vorgang der Erinnerung verbunden: Il retrouve dans sa mémoire La boucle de cheveux châtains (…) In seinem Gedächtnis entdeckt mithin ein Jemand über das Motiv der Haarlocke eine vergangene Liebesgeschichte. Dieser Jemand entpuppt sich am Ende als ein Ich, ein Ich allerdings, das im Bewusstsein seiner selbst als sich erinnerndes um die Vergänglichkeit der Gedächtniskraft und damit seines „souvenir“ weiß: Il y tomba comme un automne La boucle de mon souvenir Et notre destin qui t’étonne Se joint au jour qui va finir 17 Vgl. die Interpretation von Vf., „Von der Vergänglichkeit erinnerter Liebe. Guillaume Apollinaires La Boucle retrouvée“, in: A.-S. Buck, M. Mariani, D. Nelting, U. Prill (Hrsg.), „Versos de amor, conceptos esparcidos… “ Diskurspluralität in der romanischen Liebeslyrik. Für Hans Felten, Münster 2003, S. 263-270. Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire 213 Somit ist nicht nur die hier gemeinte Liebe beendet, sondern zugleich schwindet auch die Erinnerung daran. Dies schmälert die Selbstsicherheit des Ich, das folglich nicht als reflexives Agens hervortritt, sondern im blassen Possessivum des „mon“ die Flüchtigkeit seiner selbst zur Anschauung bringt. Die perspektivische Bewegung von „er“ zu „ich“ klärt mithin die momentane Identität des Subjekts, doch nicht dessen Beständigkeit. Diesem Krisensyndrom entspricht denn auch das kaum merkliche Du von „t’étonne“. Auch hier, ganz wie in den schon betrachteten Beispielen, indiziert es als letztes Pronomen im Textkontinuum ein im Sinnrahmen des Gedichts unlösbares Problem. Die unterschiedlichen Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire repräsentieren nicht allein gesonderte Facetten seiner semantischen Essenz. Die anschauliche Dekomposition des personal markierten Bewusstseinszentrums dient obendrein - und in höherem Maße noch - einer Selbstfindung und einer Selbstvergewisserung. So konvergieren die drei pronominalen Formen selbstbezogener Aussage in der Regel immer wieder zur originären Instanz des expliziten lyrischen Ich. Ist dies in Einzelfällen anders - wie die markanten Beispiele von Zone und Arbre zeigen -, so verweist dieses Abweichen auf eine problematische Verfassung der Ich-Instanz, die ihre Befindlichkeit dann nicht in die Bahnen geordneter Subjektkonstitution zurückzuführen vermag. Im Normalfalle hingegen tritt am Gedichtende ein nicht dezentriertes, mitteilsames Ich zutage, das sich der unmittelbaren Kommunikation widmet. Die abschließende Dominanz des lyrischen Ich bedeutet erhöhte Verständlichkeit des Textes und mithin eingeschränkte Rätselhaftigkeit. Interessanterweise korreliert dies mit einer Zunahme autobiographischer Referenz. Obwohl dieser notwendigerweise ein fiktionaler Status zukommt, stellt sie für die Leserschaft elementare Verstehens- und Orientierungsmuster bereit. Auf diese Weise offenbart sich Apollinaires Absicht, einen engen Nexus zwischen lyrischem und lebensweltlichem Subjekt zu suggerieren. 18 Be- 18 D. Rabaté („Poésie et autobiographie: d’un autre caractère? “, in : M. Braud, V. Hugotte (Hrsg.), L’Irressemblance. Poésie et autobiographie, Bordeaux 2007, S. 37-46) bezeichnet etwa die Alcools als „recueil indéniablement autobiographique“, freilich im Zeichen von „dispersion“ und „rassemblement“ eines „unbeständigen Ich“ (S. 43). Dabei gehe es weniger um den Faktor des „wieder Erkennens“ als um einen Modus, „dispersion“ zu generieren, mithin um eine „dissipation élocutoire“ (S. 44). Der Beitrag schreibt sich in ein Gefüge ein, das um autobiographische Referenz bemühte Lyrik partiell heranrückt an autobiografische Narration. Im Verständnis der Herausgeber ist in der „autobiographie poétique“ deshalb eine „doppelte, zugleich referentielle und metonymische Stimme“ zu vernehmen; direkter Realitätsbezug und metonymischer Verweis auf „Universalität“ gelten als untrennbar ineinander verwoben (vgl. „Avant-propos“, S. 11). Helmut Meter 214 trachtet man ein zentrales Thema wie das der Liebeserfahrungen, so wird dies idealtypisch erkennbar. Die gesamte Liebesthematik zeugt essentiell vom Übertragen des autobiographischen Registers in ein literarisches. Doch der Fluchtpunkt Apollinaires im Aufbau seines lyrischen Subjekts ist letzten Endes dennoch nicht die mitunter obsessionsartige fiktionale Modellierung persönlicher Erlebnisse, wie einschlägige, ausgeprägt narrative Passagen seines poetischen Œuvres vermuten lassen könnten. Das emphatische wie programmatische Diktum „Je lègue à l’avenir l’histoire de Guillaume Apollinaire“ (272) eröffnet auch ein Feld des semantisch Möglichen, des Spekulativen und Virtuellen, und somit nicht zuletzt des Experimentellen. Zum Beschreiten eines solchen Terrains eignet sich ein sprachlich einförmiges Subjekt nur bedingt. 19 Ein solches kann als Hort der Absicherung, als entlastender Raum des Rückzugs aus der Gefahrenzone reflexiver und affektiver Erkundung von Neuland fungieren. Darüber hinaus tritt es in Erscheinung, wenn das gedanklich Neue und das bereits Gesicherte sich einander so weit assimiliert haben, dass ein lyrisches Ich als plausibler Integrationsrahmen dies zu bezeugen vermag. Dem entspricht nicht zuletzt auch die Auffassung einer sich nur sukzessiv und aus heterogenen Bestandteilen herausbildenden Ich- Identität, wie dies in Cortège bildkräftig veranschaulicht ist. Artikuliert sich das personale Bewusstsein hingegen über die Pronomina „tu“ und „il“, so kommt dies einer vorübergehenden oder anhaltenden Verfremdung des Selbst gleich. Das Ich ist dann in Außensicht und in eine gewisse Distanz gerückt. Zumal im Gewand der dritten Person erscheint es fern und fremd, gleichsam in die Anonymität einer unbekannten Gestalt versetzt. Freilich ist dies auch ein Modus, das verdeckte Subjekt einem diffusen Figurenspektrum anzugleichen, es teilhaben zu lassen an überindividuellen Prinzipien. Insofern handelt es sich, im Verständnis Apollinaires, aber auch um eine produktive Distanznahme. Demzufolge ist in den fraglichen Situationskontexten zunächst nicht erkennbar, dass die mit „il“ umschriebene Entität schließlich zu einem unverkennbaren Ich hin- oder zurückfinden wird. Im initialen Entfalten eines poetischen Raums meint das Lexem „il“ eine unbestimmte Wesenheit. Solch konsequente Außensicht auf das Selbst kann für dieses erkenntnisfördernd sein. Doch Selbstobjektivierung heißt in einem gewissen Ausmaß auch Selbstverleugnung, zumal in problembehafteten Zusammenhängen. So finden wir insgesamt ein Ich, das von sich selbst abrückt, sich im Zuge dessen dann aber wieder sucht und zumeist auch findet. Manches hiervon gilt auch im Falle des Pronomens „tu“. Sicherlich ist dabei die größere Nähe zur primären Subjektform zu vermerken. Eine vorläufi- 19 Dieser Umstand entspricht dem „nouveau lyrisme“, verstanden als „art de la parole“, was sich zunehmend als „thème du morcellement“ dokumentiert laut M.-L. Lentengre, Apollinaire. Le nouveau lyrisme, Paris 1996, S. 99. Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire 215 ge, kategoriale Trennung von ihr bleibt indes unübersehbar. Als Oberflächenphänomen entspricht dies zudem freilich dem allgemein beobachtbaren Umstand, dass lyrische Äußerungsweisen des Öfteren neben einem artikulatorisch maßgeblichen Ich auch über ein von ihm apostrophiertes, fremdes Du als gesonderte personale Instanz verfügen. So kann sich in den hier fokussierten Gedichten im Lesevorgang zumindest anfänglich die Interferenz zweier Rezeptionsweisen einstellen: Das wesensfremde Du verschränkt sich mit dem als Du drapierten Ich. Der irreführende, im Grenzfalle dem Spiel geschuldete Charakter des Vorgehens fällt somit besonders auf. Nun bedient sich Apollinaire jedoch der Du-Variante meist zu einem anderen Zweck: dem des Selbstgesprächs. Dies wiederum spricht für eine intensive Betonung der personalen Identität, sei es dass das Ich sich in der letzten Endes monologischen Anrede des Du in seinem schieren Duplikat wiederfindet, sei es dass im Zusammenspiel beider Pronomina unterschiedliche, doch komplementäre Erfahrungsweisen zum Vorschein kommen. Eine Selbstsubversion der Subjektform liegt allerdings nicht vor. Wenn im Vorangehenden gelegentlich auf die Bildkraft abgehoben wurde, die sich mit der pronominalen Dissemination verbindet, so gemahnt dies zum einen an die zeitgenössisch aufkommende Technik des Films oder auch an Aspekte der Fotografie. Das Du erscheint dabei zuweilen in statischen Situationen oder als Teil eines einfachen, kohärenten Geschehens, jedenfalls in einem Duktus mimetisch angelegter und stark visuell akzentuierter Repräsentation. 20 Solcherart vermittelt es Vertrautheit und Sicherheit. Demgegenüber stehen dann allerdings die seltenen, doch bemerkenswerten Fälle, in denen das Du mit neuartigen, tendenziell problematischen Erfahrungen assoziiert wird, wie am Ende von Arbre, wo in elegischer Tönung und dunkler Kürze die bedrückende Vision neuer Lebewesen thematisiert ist. Von hier führt dann keine Brücke zu einem manifesten Ich zurück. Das Subjektsurrogat Du erkundet damit Zonen der Innenwelt mit dem Resultat, dass sich letzten Endes eine Gefährdung oder Instabilität der Ich-Identität abzeichnet. Der Faktor der Bildkraft in der pronominalen Auffächerung des Subjekts hat indessen eine weitere, im Ansatz eher ästhetische Funktion. Apollinaire, der Begriffsschöpfer und Bannerträger des Esprit Nouveau, hat über seinen regelmäßigen Kontakt zu Pablo Picasso dessen damals revolutionäre Zeichen- und Maltechnik kennen gelernt. 21 Man denke etwa an Bilder wie „La femme 20 In prinzipieller Hinsicht vgl. hierzu W. Bohn, „Apollinaires plastische Imagination“, in: V. Bohn (Hrsg.), Bildlichkeit, Frankfurt/ M. 1990, S. 162-191. 21 Zu beider Verhältnis vgl. P. Read, Picasso et Apollinaire. Les métamorphoses de la mémoire 1905-1973, Paris 1995. Helmut Meter 216 au chapeau“ (1909) oder „Fernande“ (1909). 22 Die Verfremdung der jeweiligen Gesichter über ihre dissoziierende Zerlegung in verschiedene Teile, die von wechselnden perspektivischen Standpunkten aus wahrgenommen werden, dokumentiert ein Grundprinzip der frühen kubistischen Kunst in ihrer Abwendung von einer monokular fixierten Perspektive und dem Eröffnen einer neuen, dreidimensionalen Sicht auf die Objekte, welche zeitlich sukzessive Blickwinkel-Wechsel einbezieht und in einer simultanen flächenbezogenen Darstellung integriert. Damit wird der tradierte Abbild-Realismus als ästhetische Norm zumindest relativiert, wenn nicht aufgehoben. Apollinaires sprachliche Aufspaltung des Subjekts ist im Ansatz diesem Verfahren vergleichbar 23 . Auch er zielt auf unterschiedliche Perspektiven, auf eine neue, komplexere Wahrnehmungsweise ab. Diese ist freilich einem zweifachen Register verpflichtet: sowohl der erweiterten perzeptiven Fähigkeit des lyrischen Ich selbst als auch dem Blick auf ebendieses in einer pronominal inszenierten Entgrenzung. Das sprachliche Experiment macht Neues zugänglich. Doch nicht immer beschränkt sich dieses auf den Reiz der ästhetischen Trouvaille wie etwa bei manchem Konversationsgedicht. Wenn das lyrische Subjekt selbst betroffen ist, zeitigt das Folgen auch existenzieller Natur. Obgleich diese nur Ausdruck literarischer Fiktion sind, erschöpfen sie sich nicht in einem reinen Sprachspiel. Apollinaire hält insgesamt an einer Subjektauffassung fest, die auf eine imaginierte wie vorstellbare persona hingeordnet ist. Es handelt sich um ein Subjekt, das zugleich als körperlich-sinnliches, reflexiv-rationales und emotionell-psychodynamisches Gebilde konzipiert ist und somit das Bild einer personalen Einheit vermittelt. Dass dieses Subjekt in seinen verschiedenen Anteilen einer steten Evolution unterworfen bleibt, kann nicht verwundern, insofern eine jede Entwicklungsphase immer wieder in ein übergeordnetes Ich-Bewusstsein einmündet. Dieses versteht sich durchaus als kognitives Zentrum und erhebt einen letztlich noch uneingeschränkten Wahrheitsanspruch, wie etwa aus der kategorischen Behauptung: „Je dis ce qu’est au vrai la vie“ (175) hervorgeht 24 , die dem prophetisch ausgerichteten Text Les Collines (171-177) eingeschrieben ist. Ein solcher Subjektentwurf der kontinuierlichen Horizontverschiebung und -erweiterung ist ausgerichtet auf eine hermeneutische Erfahrungsweise 22 Siehe die Abb. in: W. Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Bild-Enzyklopädie, München 1965, S. 83 und 84. 23 Dass es sich indes verbietet, von einer „kubistischen Literatur“ Apollinaires zu sprechen, erläutert in einsichtiger Weise Décaudin, Apollinaire, op. cit., S. 90. 24 Dass die künstlerische „Wahrheit“ für Apollinaire weder einer Kopie der Natur gleichkommen darf noch einer großen Entfernung von ihr, sondern dass sie der natürlichen menschlichen Fähigkeit zum Erfinden entspricht, erläutert schlüssig L. Campa, L’Esthétique d’Apollinaire, Paris 1996, S. 45-46. Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire 217 der Leser. Im Prinzip sind die beiderseitigen Horizonte - von Text und Leserschaft - unschwer aufeinander beziehbar. So wird eine übergeordnete Anthropologie erkennbar, die das Verbindende über das Trennende setzt. Im zumeist erneut sich behauptenden lyrischen Ich als zentraler Subjektsfolie präsentiert sich folglich nicht allein eine für sich seiende, klar konturierte Instanz. Bei aller personalen Eigenart steht das Subjekt am Ende auch für die anderen, es zur Kenntnis nehmenden Subjekte, nicht zuletzt den fiktiven Leser. Man erkennt dies unter anderem an den gelegentlichen Einsprengseln eines pronominalen „nous“, eines „Wir“, das eine Gemeinschaft der Subjekte meint, insoweit diese als denselben Erfahrungskriterien innerer wie äußerer Natur unterworfen gelten. „Toujours nous irons plus loin / sans avancer jamais“, lautet in Toujours (237) beispielsweise eine Formel, die den Einblick in einen nur vermeintlichen historisch-zivilisatorischen Fortschritt als intersubjektives Erfahrungsgut umschreibt. 25 Apollinaires Subjektverständnis ist mithin keines der singulären Absonderung. Die pronominalen Variationen des Subjekts können kurzzeitig eine ernsthafte Bedrohung seiner Identität signalisieren; im Endeffekt ordnen sie sich indessen meist wieder der Kategorie eines reflexiven Ich unter. Deshalb kann Apollinaires Lyrik auch nur in geringeren Anteilen als des Öfteren eher pauschal - und nicht zuletzt von André Breton - behauptet, mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht werden. 26 Sie ist zumindest ebenso sehr auf die Reflexion wie auf die Hingabe an das Unbewusste gegründet. Ein Subjekt, das gerade über seine unverwechselbare Spezifik intersubjektives Erfahrungswissen verfügbar machen will, verweist als Paradigma eher auf existenziell ausgerichtete Formen von Lyrik. Zu denken ist dabei etwa an die frühen Dichtungen von Ungaretti und Montale, selbst wenn die Modi der Subjektinszenierung dort entschieden anders sind. Immerhin gibt es bei Montale bisweilen ein ambigues „tu“, dessen deiktische Ausrichtung verborgen bleibt, wie unter anderem schon im ersten Text der Ossi di seppia unter dem Rubrum In Limine (1925). Dort heißt es etwa in der dritten Strophe 27 : Se procedi t’imbatti Tu forse nel fantasma che ti salva: (…) 25 Diese Skepsis gegenüber dem Neuen kann die homologe Skepsis gegenüber dem künstlerisch Neuen implizieren, was der zugespitzten These zugute käme, in den Calligrammes falle Apollinaire „teilweise wieder deutlich hinter die amimetische Komplexität (…) der großen Alcools-Gedichte“ zurück. Siehe V. Krenzel-Zingerle, Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den „Alcools“, Tübingen 2003, S. 271. 26 Cf. zu diesem Fragenbereich schon M. Bonnet, „Aux sources du surréalisme: Place d’Apollinaire“, in: La Revue des Lettres Modernes (Série G. Apollinaire, 3) 104-107 (1964), S. 38-74. 27 E. Montale, Tutte le poesie, a c. di G. Zampa, Mailand 1984 (I Meridiani), S. 7. Helmut Meter 218 In Pellegrinaggio (1916) aus Ungarettis L’Allegria lautet eine Versgruppe gar 28 : Ungaretti uomo di pena ti basta un’illusione per farti coraggio Das klingt vertraut. Doch Ungaretti weilte ja eine Zeit lang in Apollinaires Paris. Und er hat dies offenbar nicht vergessen. # Apollinaire, G., Œuvres poétiques. Préf. par André Billy. Texte par M. Adéma et M. Décaudin, Paris 1965 (Bibl. de la Pléiade). Adlard, J., „Un soir de demi-brume à Londres“ - Annie Playden amour de Guillaume Apollinaire, Reims 1988. Balandier, F., Les Prisons d’Apollinaire, Paris 2001. Baudelaire, Ch., Œuvres complètes. Texte par Y.-G. Le Dantec, éd. rév. par Cl. Pichois, Paris 1961 (Bibl. de la Pléiade). Bohn, W., „Apollinaires plastische Imagination“, in: V. Bohn (Hrsg.), Bildlichkeit, Frankfurt/ M. 1990, S. 162-191. Bonnet, M., „Aux sources du surréalisme: Place d’Apollinaire“, in: La Revue des Lettres Modernes (Série G. Apollinaire, 3) 104-107 (1964), S. 38-74. Boschetti, A., La Poésie partout. Apollinaire, homme-époque (1898-1918), Paris 2001. Burgos, J., Debon, Cl., Décaudin, M., Apollinaire, en somme, Paris 1998. Campa, L., L’Esthétique d’Apollinaire, Paris 1996. 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Spielarten des lyrischen Subjekts bei Apollinaire 219 sos de amor, conceptos esparcidos… “ Diskurspluralität in der romanischen Liebeslyrik. Für Hans Felten, Münster 2003, S. 263-270. Montale, E., Tutte le poesie, a c. di G. Zampa, Mailand 1984. I Poeti futuristi. Con un proclama di Filippo Tommaso Marinetti e uno studio sul verso libero di Paolo Buzzi, Mailand, Edizioni Futuriste di „Poesia“, 1912. Poulet, G., Entre moi et moi. Essais critiques sur la conscience de soi, Paris 1977. Rabaté, D. (Hrsg.), Figures du sujet lyrique, Paris 1996. Rabaté, D., „Poésie et autobiographie: d’un autre caractère? “, in: M. Braud, V. Hugotte (Hrsg.), L’Irressemblance. Poésie et autobiographie, Bordeaux 2007, S. 37- 46. Ranke-Graves, R. von, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, I, Reinbek bei Hamburg 1963. Read, P., Picasso et Apollinaire. Les métamorphoses de la mémoire 1905-1973, Paris 1995. Rimbaud, A., Œuvres. Éd. de S. Bernard, Paris 1960. Ungaretti, G., Tutte le poesie, a c. di L. 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Dans leur ensemble sans doute les hommes doivent à jamais se dérober, mais la conscience humaine - dans l’orgueil et l’humilité, avec passion, mais dans le tremblement - doit s’ouvrir à l’horreur au sommet. 1 In der Geburt der Tragödie beschreibt Nietzsche das Dionysische als rauschhaftes Prinzip, das dem durch das apollinische principium individuationis bestimmten Menschen die Möglichkeit gibt, sich im Urgrund der Welt aufzulösen. Das geteilte Individuum verschmilzt wieder mit dem Ganzen, mit dem lebendigen Dionysos. Der Schmerz der Individuation ist vergänglich und wird im ewigen Kreislauf des Werdens und des Vergehens, seiner Entstehung und seiner Überwindung, gelindert. 2 Ein Gegenmodell bringen Peter V. Zima in Theorie des Subjekts und Ursula Schneider in Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche: Das Dionysische als Grundlage der Welt wird auch mit dem Übermenschen in Verbindung gebracht. 3 Dionysos wird von ihnen nicht nur mit dem Zerfall des Subjekts assoziiert, sondern auch mit seinem Gegenteil, mit dem Übermenschen, in dem Subjekt- und Objekt-Aktant zusammengeführt werden. Der Übermensch wird zur treibenden Kraft des dionysischen Prinzips, die eine neue Subjektivität herstellt. Wie so vieles bei Nietzsche ist auch das Dionysische ambivalent: einerseits subjektauflösend, andererseits subjektkonstituierend. Im Folgenden liegt der Fokus auf der Zerfallserscheinung, die das Dionysische in Batailles Werk repräsentiert. 1 G. Bataille, Les Larmes d’Eros, in: ders., Œuvres complètes Bd. X, Paris 1987, S. 573-627, S. 620. 2 Vgl. F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. I, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, München 1988, S. 9-156. Zum dionysischen Gedanken vgl. N.-R. Chung, Der tragisch-dionysische Gedanke. Eine Interpretation der Philosophie Nietzsches, Würzburg 2004, S. 24. 3 Vgl. P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 2010 (3. Aufl.), S. 138 und U. Schneider, Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche, New York-Berlin 1983, S. 37. Dorothea Böhme 222 Der tragische Dionysos, der für Nietzsche den Schlüssel zur menschlichen Existenz darstellt, bestimmt auch in Batailles Philosophie der Überschreitung alle Subjektkonstruktionen: Der Mensch muss, wie Nietzsche fordert, sein tragisches, dionysisches Selbst bejahen und sich der grausamen Wahrheit seines Daseins öffnen. Er ist ein diskontinuierliches Wesen; er leidet darunter, durch Tod und Krankheit ständig mit seiner Diskontinuität konfrontiert zu werden. Überwunden werden kann das menschliche Leid nicht, es muss akzeptiert werden. Einen besonderen Akzent legt Bataille auf die Verwandtschaft von Lust und Gewalt. 4 Inspiriert durch die Schriften des Marquis de Sade verbindet er die dionysische Philosophie und den Aspekt der Lustgewinnung durch Grausamkeit 5 mit der Erotik: „L’érotisme dionysiaque était une affirmation - comme tout érotisme, en partie sadique (…).“ 6 Der Mensch ist durch Verbote Mensch. Er unterscheidet sich vom Tier durch die Auferlegung von Tabus. Diese Tabus beziehen sich auf die Gewalt. Darunter fällt zunächst der schlimmste vorstellbare Gewaltakt: die Tötung eines anderen Menschen. Aber auch die Erotik ist für Bataille untrennbar mit Gewalt verbunden; der sexuelle Akt ist eine Hingabe an die Gewalt der Umarmung. Durch den Ausdruck „la petite mort“ ist die Verwandtschaft mit dem endgültigen Tod auch in der Sprache hergestellt. 7 Das Verbot sieht seine Gegenstände als heilig an: Die Tötung eines Menschen ist verboten, nur als Opfer ist sie erlaubt. Der Mord an einem Menschen wird geahndet, seine rituelle Tötung ist heilig. Dadurch wird das Verlangen nach den verbotenen Gegenständen nur umso größer, und der Übertretung des Verbots wird besondere Bedeutung beigemessen. Der Bruch dieser Tabus ist eine bewusste Grenzüberschreitung, die das Subjekt - zumindest für kurze Zeit - in die Welt des Heiligen eintreten lässt. 4 Vgl. G. Bataille, Les Larmes d’Eros, op. cit., S. 618: „(…) Goya n’associa pas, comme Sade, la douleur à la volupté. Pourtant sa hantise de la mort et de la douleur eut en lui la violence convulsive qui les apparente à l’érotisme. Mais l’érotisme est en un sens l’issue, c’est l’issue infâme de l’horreur.“ 5 Ansätze dafür sind auch schon in den Werken des späten Nietzsche zu finden wie z.B. im Gedicht „Nur Narr! Nur Dichter! “, in: F. Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. VI, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, München 1988, S. 375-411, „Nur Narr! Nur Dichter! “, S. 377-380. Auch in Morgenröte geht es um das Thema von Lust und Gewalt, wenn Nietzsche „unsägliches Glück beim Anblick von Martern“ anspricht. F. Nietzsche, Morgenröte, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. III, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, op. cit., S. 9-331, S. 103. 6 G. Bataille, Les Larmes d’Eros, op. cit., S. 614. 7 Vgl. das Kapitel „L’érotisme, le travail et la petite mort“, in: G. Bataille, Les Larmes d’Eros, op. cit., S. 591. Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt 223 Die Ekstase, der Exzess und die Überschreitung von Verboten ermöglichen es dem Menschen, für Augenblicke den Gipfel des Seins zu fühlen. 8 Beeinflusst von Nietzsches dionysischer Philosophie, sieht auch Bataille es für notwendig an, dass der Mensch die Grausamkeit der Welt akzeptiert und in sein Leben integriert. Dies geschieht in Momenten, die das Subjekt entgrenzen und zumindest für einen Moment lang auflösen. Auch andere, weniger drastische Formen der Gewalt, die auf den menschlichen Körper ausgeübt werden, stellen eine Entgrenzung dar: So verliert der Mensch beim Lachen, beim Weinen oder durch Angst ebenfalls die Kontrolle über sich selbst und ist sich seiner subjektiven Grenzen nicht mehr bewusst. 9 Ein wichtiger Aspekt des Subjektbegriffs bei Bataille ist also dessen Entgrenzung. Diese konstituiert sich sowohl durch die angesprochene transgression als auch durch einen Verlust des Ichs. Batailles Subjektbegriff ist von Anfang an labil: Das sich durch Gewalt auflösende Subjekt ist noch nie eine stabile Einheit gewesen. Das Ich kämpft in der profanen Welt um seine Identität, die jedoch nur schwer bestimmbar ist. Diese Dimensionen der Auflösung des Subjekts sollen im Folgenden aufgezeigt werden. Ein Schwerpunkt wird dabei auf die Romane und Erzählungen Batailles gelegt, in denen die Erschütterung der Identität thematisiert wird. In L’Abbé C., Le Bleu du Ciel oder Madame Edwarda löst Bataille die Einheit des Ichs auf. Das prinicipium individuationis, welches das eine Selbst unvermeidlich vom anderen trennt, hat keine unbedingte Gültigkeit mehr. In einer Verdoppelung und Spiegelung der Charaktere findet sich das Ich immer wieder im anderen und kann sich seiner einzigartigen, unteilbaren Identität nicht sicher sein. & $ ! Batailles Spiel mit der Identität wird in seinem literarischen Werk schon auf den ersten Blick sichtbar: Im Gegensatz zu seinen philosophischen Schriften publiziert er nur wenige seiner Romane und Erzählungen unter seinem richtigen Namen. Seine literarischen Schriften können in drei Kategorien eingeteilt werden. Erzählungen wie L’Abbé C. oder Le Bleu du Ciel erscheinen wie das theoretische Werk unter dem Namen Georges Bataille. Andere literarische Texte wie Madame Edwarda oder L’Histoire de l’Œil werden unter einem 8 Vgl. G. Bataille, L’Érotisme ( in: ders., Œuvres complètes, Bd. X, Paris 1987, S. 7-270, S. 270. 9 Vgl. G. Bataille, Les Larmes d’Eros, op. cit., S. 585: „(…) l’objet du rire et l’objet des larmes se rapportent toujours à quelque sorte de violence, interrompant le cours régulier, le cours habituel des choses.“ Dorothea Böhme 224 Pseudonym publiziert, und wieder andere wie Ma Mère gelangen überhaupt nicht an die Öffentlichkeit und können erst posthum gedruckt werden. 10 Veranlassten ihn skandalöse Inhalte zu Pseudonym oder Nichtveröffentlichung? Auf den ersten Blick mag es so scheinen, doch sind die unter seinem richtigen Namen erschienenen Romane L’Abbé C. und Le Bleu du Ciel nicht weniger obszön und tabubrechend als das unter Pseudonym veröffentlichte L’Histoire de l’Œil. 11 Zudem sind seine Pseudonyme sofort als solche erkennbar. Sie bilden keine Künstleridentität, hinter der Bataille sich versteckt, sondern fungieren als offensichtliche Masken. Pierre Angélique, Lord Auch, Louis Trente oder Dianus: Diese Künstlernamen enthüllen ihre Funktion mehr, als dass sie sie verschleiern. Bataille veröffentlicht seine Erzählung Madame Edwarda unter dem Pseudonym Pierre Angélique. Pierre Angélique ist jedoch nicht nur das Pseudonym des Autors Bataille, sondern gleichzeitig der Ich-Erzähler der Geschichte. Sein Name erinnert nicht nur zufällig an den Beinamen Thomas von Aquins: „Père Angélique“. 12 Damit verweist Bataille auf ironische Art und Weise auf die überirdische Erfahrung, die sein Erzähler im Text machen wird. Pierre Angélique trifft auf Gott - in der Gestalt der Prostituierten Edwarda. Diese Art von Ironie wird in den Pseudonymen Lord Auch und Dianus auf vulgäre Weise gesteigert: Lord Auch ist eine abgewandelte Kurzform für „Dieu aux chiottes“, Gott im Scheißhaus. Der Name Dianus, dessen Klang und Aufbau auf den griechischen Gott Dionysos verweist, ist zusammengezogen aus den Wörtern „Dieu“ und „Anus“. 13 10 Vgl. M. Surya, Georges Bataille: An intellectual Biography, London-New York 2002, S. 91. 11 Es wurde zumeist vermutet, dass Bataille sich seine Pseudonyme aus Gründen der Vertraulichkeit oder der Privatsphäre zulegte. Dennoch ist es auffällig, wie wenig seine Pseudonyme echten Namen ähneln und wie häufig er sie wechselte. Zumindest als zusätzlicher Grund kann angenommen werden, dass seine Pseudonyme für Bataille zu einem Spiel mit Identitäten wurden, zu Masken, die den jeweiligen Texten einen eigenen Stempel aufdrücken konnten. Vgl. hierzu L. Hill, Bataille, Klossowski, Blanchot, New York 2001, S. 94. 12 Seine Somme athéologique spielt ebenfalls auf Thomas von Aquin und dessen Schrift Summa theologica an. 13 Zu einer genaueren Untersuchung der Bedeutungen der Pseudonyme Batailles vgl. G. Ernst, Georges Bataille. Analyse du récit de mort, Paris 1993, S. 67ff. Vulgäre Anklänge finden sich auch in den Namen der Protagonisten Batailles wieder. So ist die Aussprache des Namens von Madame Hanusse aus L’Abbé C. dieselbe wie die von „anus“. Henri Troppmann, der Erzähler von Le Bleu du Ciel, weist auf zwei Bedeutungen hin: Zum einen ermordete Jean-Baptiste Troppmann 1867 eine Frau und ihre fünf Kinder, zum anderen deutet das Französische „trop“ auf seinen lateinischen Wortstamm „troppus“, so dass sich bei einer Rückübersetzung die Bedeutung Haufenmann, Schmutzmann, Kloakenmann ergibt, was wiederum in einem Wortfeld mit dem Titel der Geschichte (W.C.) und dem Namen ihrer weiblichen Protagonistin (Dirty) steht. Vgl. B. Mattheus, Georges Bataille. Eine Thanatographie, Bd. I, München 1984, S. 76. Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt 225 Batailles erster, inzwischen zum größten Teil verschollener Text W.-C. gibt als Autor Georges Troppmann an. Später schreibt Bataille eine erweiterte Fassung dieser Geschichte: Le Bleu du Ciel wird unter dem Namen Georges Bataille publiziert. Der Ich-Erzähler und Hauptcharakter des Romans heißt jedoch Henri Troppmann und verweist durch seinen Namen auf das erste Pseudonym Batailles. In Madame Edwarda kommt eine weitere Dimension hinzu, in der die Distanz des Autors zu seinem Werk noch stärker betont wird. Wie schon erwähnt wurde, erschien der Text unter dem Pseudonym Pierre Angélique. Es gibt jedoch ein Vorwort zu Madame Edwarda, das Bataille in L’Erotisme unter eigenem Namen veröffentlicht. 14 In diesem Vorwort spricht er von Pierre Angélique als realer Person. Er zitiert ihn als Autor der Erzählung und fügt ihm eigene Erklärungen an. Bataille interpretiert „den anderen“, der doch er selbst ist. 15 So wird schon auf dem Buchdeckel ein Spiel mit Identitäten und Rollen getrieben, das innerhalb der Texte fortgeführt wird. Im Roman Le Bleu du Ciel beispielsweise schildert Bataille eine Erzählung innerhalb einer Erzählung. Der Leser erfährt von den Erlebnissen Troppmanns mit seiner Geliebten Dirty nicht etwa in einer fortlaufenden Handlung. Sie werden von Troppmann seiner Bekannten Lazare erzählt. ' Bemerkenswerterweise steigert Bataille dieses Spiel bis zur Unkenntlichkeit der Personen in seinem Roman L’Abbé C., der als einer der wenigen Romane unter seinem richtigen Namen veröffentlicht wurde. Die Geschichte eines Brüderpaars, des Lebemanns Charles C. und des Priesters Robert C., und der Geliebten der beiden, Eponine, wird in mehreren Teilen aus verschiedenen Perspektiven erzählt: Das erste „je“ des Romans ist das des Herausgebers. Im Gegensatz zum Erzähler in Le Bleu du Ciel oder Madame Edwarda bleibt der Herausgeber jedoch namenlos. Er schildert aus der Ich-Perspektive im ersten Teil des Romans, im „Préface. Récit de l’éditeur“, wie er zum nachfolgenden Manuskript gelangte. Er erzählt von seiner Freundschaft mit Charles C. und einem verwirrenden Treffen mit Charles’ Zwillingsbruder Robert. Schließlich nimmt er den Tod der beiden 14 G. Bataille, L’Érotisme, op. cit., S. 259-264. Inzwischen steht dieses Vorwort am Anfang der Erzählung selbst: G. Bataille, Madame Edwarda, in: ders., Œuvres complètes, Bd. III, Paris 197, S. 7-31. 15 Ibid., S. 9: „L’auteur de Madame Edwarda a lui-même attiré l’attention sur la gravité de son livre.“ Ibid. S. 10: „Pierre Angélique a soin de le dire: nous ne savons rien et nous sommes dans le fond de la nuit.“ Dorothea Böhme 226 Brüder - der anderen Ich-Erzähler des Romans - vorweg. Der Leser weiß also schon während der Lektüre der folgenden Teile, dass sich Charles’ und Roberts Ichs endgültig aufgelöst haben. Der zweite und dritte Teil des Romans, der „Récit de Charles C.“ und der „Epilogue du récit de Charles C.“, handeln von den Erlebnissen des zweiten „je“ des Romans. Hier erzählt Bataille aus der Sicht von Charles C., der seinen Bruder überreden will, sein Priesteramt aufzugeben. Unterstützt wird Charles von seiner Geliebten Eponine, die versucht, Robert zu verführen. Es schließt sich im vierten Teil das Tagebuch von Robert C. an, die „Notes de l’Abbé C.“. In diesem Tagebuch kommt der titelgebende Abbé, Robert C., als das dritte „je“ des Romans zu Wort. Doch ahmt er, die eigentliche Hauptfigur des Romans, seinen Erfinder Bataille nach und versteckt sich hinter einem Pseudonym: In Anlehnung an die Geliebte Eponine nennt er sich Chianine. Der letzte Teil des Romans, die abschließende „Suite du récit de l’éditeur“, greift wieder auf das allererste „je“ zurück: Der Herausgeber erzählt abschließend vom Tod Roberts, von dem er selbst nur aus dritter Hand weiß, und vom Tod seines Freundes Charles. Die Unbestimmbarkeit, die Erschütterung und die Auflösung des Subjekts, die Bataille in seinem theoretischen Werk beschreibt, wird in L’Abbé C. literarisch umgesetzt: Nicht nur der formale Aufbau, auch der Inhalt führt dem Leser die fließenden Grenzen des Subjekts vor Augen. Charles und Robert sehen sich täuschend ähnlich, der Herausgeber bezeichnet sie anfangs als „Doppelgänger“. 16 Charles gibt zu, Robert einst für sein zweites Ich gehalten zu haben, für sein anderes Selbst. 17 Feste Subjektkonstruktionen existieren also von Anfang an nicht: Sogar die Brüder selbst sind sich über ihre Identität nicht im Klaren. Wer ist Robert, wer ist Charles, und was ist der Unterschied zwischen ihnen? Diese Frage wird zum Auslöser für ihre spätere unterschiedliche Entwicklung. Zur Zeit der Geschehnisse im Bericht des Charles C. führt Charles ein Leben voller sexueller Ausschweifungen und alkoholisierter Rauschzustände, Robert hingegen hat das Amt des Priesters gewählt. Durch die Verführungskünste von Charles und Eponine gibt Robert seinen Glauben und seine asketische Haltung jedoch auf. Er tritt ein in die Welt von Charles und Eponine. Charles erkennt dadurch, dass die absolute Gegensätzlichkeit ihrer Lebensläufe im Grunde aus 16 G. Bataille, L’Abbé C., in: ders., Œuvres complètes 0 Bd. III, Paris 1974, S. 233-365, S. 239: „Robert était le sosie de Charles (…).“ 17 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 255: „Je regardai cet homme voyant, faux et agréable, que jadis je prenais pour un autre moi-même.“ Ibid. S. 273: „Mon frère avait toujours été, il restait un autre moi-même, j’éprouvais comme sa cruauté mes moqueries et comme une impuissance - qui me dégradait - l’enjouement vide avec lequel il s’efforçait de me nier.“ Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt 227 ihrer vollkommenen Identität entstanden war. Als Zwillinge standen sie zu ihrer Gleichheit immer schon in einem ambivalenten Verhältnis, so dass sie versuchten, sich so weit wie möglich vom anderen zu entfernen. Charles erkennt jedoch noch etwas anderes: Sie beide, Robert und er selbst, spielen ein Spiel. Charles spricht von einer Komödie. Das Wort „comédie“ kommt im Text mehrfach vor. Gleich zu Beginn wird es von Charles zur Beschreibung seines Bruders verwendet: „Des femmes excellent à ces débordements de naïvetés, mais un homme (un prêtre) donne une figure de diais et de m’as-tu-vu à cette comédie de bonté divine! “ 18 Im Folgenden bildet die Komödie eine Art Leitmotiv im Bericht des Charles C. 19 Er verwendet den Begriff zunächst allgemein zur Beschreibung seines Verhaltens und vor allem des Verhaltens seines Bruders. Der Begriff der Komödie kann aber nicht allein dastehen, er braucht immer auch die komplementären Begriffe des Schauspielers und der Rolle. Und so spielen Charles und Robert ihre Rollen: im Leben und im Text. Besonders im Zusammenhang mit Robert wird die Komödie deutlicher und Robert selbst mehr und mehr als Schauspieler entlarvt. Zu Beginn des Romans vermutet Charles, dass Robert seine Rolle als Priester bloß vortäuscht. Im Zusammenhang mit Roberts Soutane werden gleich zu Anfang Wörter wie „Verkleidung“ oder „Heuchelei“ verwendet. So sagt beispielsweise der Herausgeber: „Robert me fascinait: il était le sosie comique de Charles: Charles effondré, sous le déguisement d’une soutane.“ 20 Noch gibt es für die Komödie, die Robert spielt, jedoch keinen Beweis, es ist nur eine Vermutung. Später macht Robert sein Spiel selbst offenbar: In seiner Rolle als Priester gibt er vor, einen Schwächeanfall zu erleiden und ohnmächtig zu Boden zu fallen. Er wird umsorgt, ein Arzt wird geholt, und während er noch regungslos daliegt, gibt er seinem Bruder zu verstehen, dass es nur ein Streich war. Die Komödie erreicht hier einen ihrer Höhepunkte. Schließlich gelangt Charles am Ende seines Berichts zu der Erkenntnis, dass nicht nur Roberts Rolle als Priester, sondern auch seine Ängste ein Spiel waren: „Je le savais: mes angoisses ou les mines de Robert étaient un jeu.“ 21 Das Prinzip der Komödie und des Komödienspiels verwendet Bataille in seinem Werk mehrfach: So benutzt auch Henri Troppmann, der Erzähler von Le Bleu du Ciel, häufig das Wort „comédie“, vor allem im Hinblick auf exzessive Erfahrungen mit einer seiner Geliebten. 18 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 256. 19 Vgl. hierzu B. T. Fitch, Monde à l’envers, texte réversible, la fiction de Georges Bataille, Paris 1982, S. 102ff. 20 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 241. Zur Heuchelei heißt es: „J’imagine qu’ayant l’habitude de l’affectation, il affectait alors la honte.“ 21 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 322. Dorothea Böhme 228 Dieses Spiel im Spiel führt Bataille in der Verdopplung der Personen fort: Dazu bedient er sich in L’Abbé C. des Doppelgängermotivs. Dieses Motiv, das schon in altem folkloristischem Material zu finden ist, gibt es in unterschiedlicher Ausprägung: Die Doppelung erfolgt wie in Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte über den Schatten, wie in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray über ein Bild, sie erfolgt über das Motiv des Spiegels oder auch wie in L’Abbé C. über den Zwilling. 22 Im Zwilling spiegelt sich das Ich. Charles und Robert sind sich nicht nur äußerlich ähnlich, auch ihr Inneres gleicht dem des anderen. Ihre Liebe zueinander - und der Herausgeber bemerkt, dass Charles seinen Bruder mehr als alles andere liebt 23 - ist immer auch die Liebe zu sich selbst. Der Narzissus-Mythos ist weithin bekannt: In der Variante, die heute am häufigsten erzählt wird, erblickt Narziss in einem Fluss das eigene Spiegelbild, in das er sich verliebt. Im Doppelgängermotiv steckt jedoch auch ein Verweis auf die Variante des Mythos, in der Narziss nicht sich selbst, sondern die geliebte, verstorbene Zwillingsschwester sieht. Die narzisstische Liebe zum Doppelgänger ist immer auch eine inzestuöse Liebe: Otto Rank und Peter V. Zima heben hervor, dass sich im Narzissmus die Fixierung auf die Mutter zeigt, da der Doppelgänger die Stelle der verbotenen Mutter einnimmt. Sowohl beim männlichen, homosexuellen als auch beim weiblichen Narzissmus spielen die Mutterbindung und die Verdrängung dieser ursprünglichen Fixierung eine große Rolle. 24 Durch die Zwillingsschwester im Narzissus-Mythos wird das inzestuöse Verlangen nach der Mutter auf die Schwester übertragen. L’Abbé C. handelt von einem Brüderpaar, wodurch die von Zima und Rank angesprochene homosexuelle, inzestuöse Ebene forciert wird. Charles und Robert lieben sich selbst im anderen. Ausgedrückt wird ihr sexuelles Verhältnis durch Eponine: die eine Geliebte, die sich die Brüder teilen. Durch sie wird ihr narzisstisch-inzestuöses Verhältnis endgültig mit einem sexuellen Verlangen vermischt. Eponine selbst komplettiert den Reigen. „Tu es la même chose que Robert“, sagt Charles zu ihr. 25 22 Zum Doppelgängermotiv vgl. O. Rank, „Der Doppelgänger“, in: J. M. Fischer (Hrsg.), Psychoanalytische Literaturinterpretationen, Tübingen 1980, S. 104-188. 23 Vgl. G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 240: „Pourtant, il est sûr que jamais il ne cessa d’aimer Robert, de tenir à son frère plus qu’à ses maîtresses et de souffrir, sinon de sa piété, de l’affectation enjouée sous laquelle il dissimulait la détresse.“ 24 Vgl. P. V. Zima, Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen 2009, S. 42f. und O. Rank, Sexualität und Schuldgefühl. Psychoanalytische Studien, Leipzig u.a. 1926, S. 42. Zum Thema Narzissmus und Mutterbindung vgl. auch P. V. Zima, Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen-Basel 2008, S. 224f. 25 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 321. Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt 229 Schon in ihrer Jugend war Charles Eponines beharrlichster Liebhaber, während Robert seine Zuneigung zu ihr zu leugnen versuchte. Da Charles und Robert sich jedoch nicht nur zum Verwechseln ähnlich sehen, sondern in ihrer Kindheit durch häufigen Kleidertausch sogar die Rolle des anderen einnahmen, wird Roberts Verhalten in Bezug auf Eponine schnell als Farce aufgedeckt, als Komödie, die er spielt. Auch wenn das Brüderpaar in der Interpretation abseits vom klassischen Doppelgängermotiv liegt, wo ein urplötzlich auftauchender Mensch, der dem eigenen Ich vollkommen gleicht, das Subjekt in eine tiefe Identitätskrise stürzt, kann man auch bei Charles und Robert von einer „inneren Zerrissenheit“ und deren Projektion auf den anderen sprechen. 26 Ihr gegensätzliches Verhalten und die gegensätzliche Kleidung entspringen dem Wunsch, den Teil ihrer Persönlichkeit zu verbannen, der dem Bruder gleicht. Sie wollen das Unterschiedliche betonen, weil sie die Einheit fürchten. Dies kann ihnen, die im Grunde so gleich sind, jedoch nicht gelingen. Sie brauchen den Gegenentwurf für die eigene Persönlichkeit: Als Robert sich infolge von Charles’ und Eponines Verführung von Gott abwendet, bereut Charles sein lasterhaftes Leben und meint, sich nun Gott zuwenden zu müssen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Ein weiteres verbreitetes Motiv des Doppelgängerspiels tritt kurze Zeit später hinzu, als Charles den Tod seines Bruders vorhersieht. Er fühlt diese Ahnung als Halbierung seiner Selbst und als Prophezeiung seines eigenen Todes. Nicht nur das Leben seines Bruders sieht er schwinden, sondern gleichzeitig das eigene. Seine Vorahnung wird sich gegen Ende des Romans erfüllen: Robert stirbt noch in der Gestapogefangenschaft. Daraufhin nimmt Charles sich, nachdem er seine und Roberts Geschichte aufgeschrieben und somit unsterblich gemacht hat, selbst das Leben. Das Todesmotiv ist den meisten Doppelgänger-Geschichten gemeinsam und hat seinen Ursprung in Aberglaube und Mythos. So gibt es unzählige Versionen der Furcht, dass man sterbe, wenn man sich selbst zu einem bestimmten Zeitpunkt, zum Beispiel in der Silvesternacht, im Spiegel erblickt - oder nicht erblickt. Es gibt die Angst, dass man sterbe, wenn man seinen Schatten sehe - oder nicht sehe, je nachdem, welche Regionen man dafür untersucht. 27 Durch diverse Romane, Filme und Computerspiele der Popkultur ist der Voodoo-Kult bekannt geworden: Von einer lebenden Person wird eine Puppennachbildung geformt und diese mit Nadeln gespickt. Man glaubt, dass die „Schmerzen“ der Puppe auf den realen Menschen übertragen werden. Tief verwurzelt ist auch der Aberglaube in Bezug auf Zwillinge und ihre besondere „telepathische“ Verbindung. Im Volksglauben meint man, ein 26 O. Rank, „Der Doppelgänger“, op. cit., S. 177. 27 Vgl. O. Rank, „Der Doppelgänger“, op. cit., S. 152. Dorothea Böhme 230 Zwilling müsse den Tod des anderen spüren. Charles spürt Roberts Tod nicht nur: Für ihn ist Robert mehr als nur ein ihm gleichender Bruder; er sieht in ihm sein anderes Selbst. Deshalb kann er nach Roberts Tod nicht weiterleben. Umgekehrt gilt diese Interpretation auch für Robert: Er stirbt im Anschluss an Verhöre und Folter, nachdem er der Gestapo die Namen von Eponine und Charles genannt hat. Da er sich, als Chianine, mit Eponine gleichsetzt, und als Robert Charles’ Doppelgänger ist, hat er also die verraten und dem Tod ausgeliefert, die ihm gleichen, die er selbst sind. Er hat sein eigenes Todesurteil gefällt. Aber auch außerhalb dieser engen Dreiergruppe stehende Personen, wie Rosie, Raymonde, Henri und der Herausgeber, werden in den Identitäts- und Verwechslungsreigen hineingezogen. So wird Rosie in den Aufzeichnungen Chianines zu Eponine, von der Robert besessen ist. Robert beschreibt Rosie, sieht aber Eponine. 28 Henri, der Fleischer, ist ebenfalls der Geliebte von Eponine; sie und Charles vermuten zunächst, dass er statt Robert der nächtliche Besucher unter Eponines Fenster ist. Charles erinnert sich an seine Kindheit. Damals waren er, Robert, Eponine und Henri stets zusammen. Der große Fleischer Henri war auch als Junge schon stark und wurde vom schwächeren Robert bewundert. Robert wurde zu Henris „Schatten“. 29 Auch der Herausgeber gerät in die Verwechslung der Identitäten, wenn er ganz zu Anfang über Robert und sich selbst sagt: „J’avais peur de ressembler à cet homme fascinant mais pitoyable.“ 30 Später trifft er Germaine, Charles’ Frau, die ihn vor Charles’ Augen und mit dessen schweigender Zustimmung zu verführen versucht. Der Herausgeber findet sie von Anfang an unsympathisch, doch besteht eine seltsame Komplizenschaft zwischen ihnen. Von dem Zeitpunkt an, da sie eine alte Frau sehen und gleichzeitig denken, dass sie der Geist des verstorbenen Roberts sein könnte, häufen sich die Ähnlichkeiten in ihrem Verhalten. In der Schlussbetrachtung des Herausgebers erfährt der Leser von Roberts Tod und dessen Verrat an seinem Bruder. Charles selbst hatte davon gehört, aber nicht die Kraft gehabt, es aufzuschreiben. So hat er den Herausgeber davon in Kenntnis gesetzt, und dieser verfasst seinen Bericht, indem er ein wörtliches Zitat von Robert einfügt. Dort heißt es, dass es Robert höchstes Vergnügen bereitet habe, gerade die zu verraten, die er am meisten liebte. 31 Die Schlussbetrachtung des Herausgebers 28 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 337: „A la rigueur, la femme de La Conscience dût répondre à l’image d’Éponine, à l’obsession de laquelle, durant les derniers temps, il avait cédé sans réserve.“ 29 Ibid., S. 252: „En ces temps lointains, Robert était devenu l’ombre d’Henri.“ 30 Ibid., S. 241. 31 Ibid., S. 365: „Tandis que j’ai joui de trahir ceux que j’aime.“ Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt 231 enthält zudem die Wiederaufnahme von Charles’ Leitmotiv: „Tout cela est peut-être un jeu.“ 32 In diesem Spiel mit den Identitäten erlebt der Leser ein Verschmelzen vom „Ich“ mit dem „anderen“, eine Austauschbarkeit, eine Wiederholung und Verdoppelung des Subjekts, die letztlich zu dessen Auflösung führen. Wenn Charles Robert ist, wenn Robert Eponine, Charles und Henri ist, wenn Rosie Eponine ist und wenn der Herausgeber Robert und Germaine ist, dann gibt es keine fest gefügten Identitäten mehr. Das Ich ist gespalten, zerrissen und nicht eindeutig zu benennen. ) Das Subjekt ist also kaum bestimmbar: weder das des Autors noch das der Personen im Roman. Es ist ein „zerrissenes“ Subjekt. Es ist ein geteiltes, ein entgrenztes, aber auch ein leeres Subjekt, das den Text beherrscht. Wenn der Tod des Autors unmöglich ist 33 , so hat Bataille doch eine Möglichkeit gefunden, ihm nahe zu kommen: 34 Er kann den Erzähler töten, wie er es mit Charles und Robert C. tut. Und er kann den Autor hinter so vielen Erzählern und Pseudonymen verstecken, dass er kaum zu finden ist. Es ist nicht der Tod des Autors, sondern die Repräsentation, die Vertretung seines Todes. Dadurch kommt seine Abwesenheit zum Ausdruck. In seinen Werken bricht Bataille das Bewusstsein des Erzählers von sich selbst auf und konstituiert ihn durch Abwesenheit. Es herrscht eine Leere im Ich, die vom Erzähler bemerkt wird. Troppmann sagt zu Anfang des Romans Le Bleu du Ciel, dass er selbst leer sei. Er könne sich nicht vorstellen, diese Leere mit Bildern anzufüllen. 35 Einige Seiten später erklärt er, dass sein „je“ sich in einem leeren Kopf befinde und nur noch durch den Tod befriedigt werden könne. 36 Gegen Ende des Romans, als Troppmann mit Dirty zum Friedhof geht, spürt er eine grenzenlose Leere. Unter seinen Füßen die unendliche Leere der Gräber, über ihm die unbeschränkte Leere des Himmels. 32 Ibid., S. 360. 33 Vgl. hierzu R. Barthes, La mort de l’Auteur, Paris 1984. 34 Zur notwendigen Möglichkeit des Todes des Autors, um der Fiktion ihre Einzigartigkeit zu erhalten, in Bezug auf Bataille vgl. L. Hill, Bataille, Klossowski, Blanchot. Writing at the limit, op. cit., S. 73. 35 G. Bataille, Le Bleu du Ciel, in: ders., Œuvres complètes, Bd. III, S. 377-478, S. 391: „Moimême j’étais vide. C’est à peine si j’imaginais de remplir ce vide à l’aide d’images nouvelles.“ 36 G. Bataille, Le Bleu du Ciel, S. 395, „La tête vide où ‚je‘ suis est devenue si peureuse, si avide, que la mort seule pourrait la satisfaire.“ Dorothea Böhme 232 Auch in L’Abbé C. spricht der Erzähler, hier Charles C., von der Leere, als er zu Anfang seiner Erzählung versucht, den Turm hinaufzusteigen, dabei fällt und den Abgrund der Welt unter sich spürt: „J’étais suspendu sur le vide à l’échelle.“ 37 In Madame Edwarda steht die Prostituierte ganz in schwarz gekleidet vor dem Torbogen von St. Denis. Der Erzähler Pierre Angélique begreift die Bedeutung Edwardas und der Leere, die für die Abwesenheit Gottes stehen: Elle était noire, entièrement, simple, angoissante comme un trou: je compris qu’elle ne riait pas et même, exactement, que, sous le vêtement qui la voilait, elle était maintenant absente. 38 Wo zu Anfang die Prostituierte Edwarda war, befindet sich jetzt nur noch eine Maske: Ihre Kleidung verhüllt und enthüllt gleichzeitig ihre Abwesenheit. Edwarda fungiert nicht nur als Leerzeichen für Gott, sondern auch als Analogie für den Autor Bataille. Seine Pseudonyme sind Masken, doch dahinter herrscht Leere. Die Abwesenheit kann nicht erfasst und erklärt werden, sie ist unnennbar und doch aufdringlich in ihrer Existenz. * 0 6 1 Die Abwesenheit des Subjekts wird in Madame Edwarda schon am Anfang deutlich gemacht: Die Erzählung beginnt nicht mit einem „je“, sondern „l’angoisse“ stellt das Subjekt des Satzes dar und drückt sich dem nicht näher bestimmten und bestimmbaren „je“ auf: „Au coin d’une rue, l’angoisse, une angoisse sale et grisante, me décomposa (peut-être d’avoir vu deux filles furtives dans l’escalier d’un lavabo).“ 39 Auch im Roman L’Abbé C., der mit dem „je“ des Herausgebers beginnt, trifft der Leser im ersten Satz auf diese Angst: „Mon souvenir est précis: la première fois que je vis Robert C…, j’étais dans un pénible état d’angoisse.“ 40 In Le Bleu du Ciel berichtet Troppmann ebenfalls von der Angst, die ihn und Dirty während des gesamten Anfangs der Geschichte begleitete und die bis zum Schluss immer wiederkehrt. 41 Die Angst des Erzählers bildet eine Schlüsselfunktion. In der Angst ist das Subjekt erschüttert: Es ist nicht mehr ganz es selbst, seine Grenzen fangen an zu verschwinden. Die Angst bildet einen Übergang vom gefassten, begrenzten 37 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 257. 38 G. Bataille, Madame Edwarda, op. cit., S. 24. 39 G. Bataille, Madame Edwarda, op. cit., S. 19. 40 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 239. 41 G. Bataille, Le Bleu du Ciel, op. cit., S. 391: „L’angoisse qui ne laissait pas le corps un instant détendu est d’ailleurs la seule explication d’une facilité merveilleuse (…).“ Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt 233 Subjekt zum entgrenzten, zerrissenen Subjekt, das die Abwesenheit und Leere erkennt. Mit ihm geht oft ein Zittern einher, das die innerliche Entgrenzung auf physische Art und Weise verdeutlicht. So steht in Madame Edwarda beides miteinander in Verbindung, das Zittern und die Erkenntnis der Leere. Von Anfang an spricht der Erzähler davon zu zittern, von Anfang an spürt er die in Edwarda repräsentierte Abwesenheit Gottes, als er mit ihr zusammen ist. Schließlich heißt es am Schluss der Erzählung in einer Fußnote: J’ai dit: ‚Dieu, s’il ‚savait‘ serait un porc.‘ Celui qui (je suppose qu’il serait, au moment, mal lavé, ‚décoiffé‘) saisirait l’idée jusqu’au bout, mais qu’aurait-il d’humain? au-delà, et de tout… plus loin, et plus loin… LUI-MÊME, en extase au-dessus d’un vide… Et maintenant? JE TREMBLE. 42 In der überirdischen Erfahrung, die Troppmann und Dirty auf dem Friedhof machen, können sie nicht mehr aufhören zu zittern. Die Angst und das Zittern bestimmen einen Übergangszustand auf dem Weg zur anderen Welt, eine Bewegung, die von Bataille als Gleiten, als „glissement“ bezeichnet wird. Das zerrissene Subjekt, das sich seiner Identität nie wirklich sicher sein kann, kann den Gipfel seines Seins nur spüren, wenn es sich völlig entgrenzt und die profane Welt hinter sich lässt. Sowohl die Angst als auch das Zittern sind notwendige Begleiterscheinungen für diesen Übergangszustand. In Madame Edwarda werden die drei Worte „l’angoisse“, „trembler“ und „glisse“ oder „glissement“ in den ersten Absätzen mehrfach in Verbindung gebracht. + E Bataille bezieht sich auf Nietzsche und dessen dionysische Philosophie: Das Subjekt als identitätsstiftende Einheit existiert nicht mehr. 43 Es ist die Erfahrung des Grenzenlosen und der Überschreitung, die Batailles zerrissenes Subjekt konstituieren. In der Ekstase kann sich das Subjekt auflösen, kann seinen Tod annehmen und so die Wahrheit seiner Existenz erfahren. Im Vorwort zu Madame Edwarda heißt es: L’être nous est donné dans un dépassement intolérable de l’être, non moins intolérable que la mort. Et puisque, dans la mort, en même temps qu’il nous est donné, il nous est retiré, nous devons le chercher dans le sentiment de la mort, dans ces 42 G. Bataille, Madame Edwarda, op. cit., S. 31. 43 Sofern das Dionysische als Zerfallsprinzip aufgefasst wird. Zum Dionysischen in Verbindung mit dem Übermenschen als neues Prinzip der Subjektivität vgl. P. V. Zima, Theorie des Subjekts, op. cit., S. 138 und U. Schneider, Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche, op. cit., S. 37. Dorothea Böhme 234 moments, intolérable où il nous semble que nous mourons, parce que l’être en nous n’est plus là que par excès, quand la plénitude de l’horreur et celle de la joie coïncident. 44 Alle starken Emotionen, die dem Menschen die Kontrolle über seinen Körper entziehen, entgrenzen das Subjekt: Die Erotik, das Lachen, die Angst und die Gewalt. In diesen Momenten erfährt das Subjekt die Wahrheit über sein Sein, und in diesen Momenten kann es mit anderen Subjekten kommunizieren. Um diese Wahrheit zu erfahren, muss sich das Bewusstsein der Gewalt des Schrecklichen öffnen. 45 Diese Erfahrung machen Batailles Protagonisten immer wieder: Eponines und Charles’ Begegnungen in L’Abbé C. sind geprägt von Erotik, Gewalt, Lachen, Angst und Rausch. Treten sie gemeinsam auf, verstärkt sich ihre Wirkung. So beschreibt Bataille eine Begegnung zwischen Eponine und Charles, in der er Nervosität, Zittern, Lachen, den sexuellen Akt und ein gewisses Maß an Gewalt miteinander in Verbindung bringt: Elle tremblait de nervosité, riait aux éclats et son léger corps, dans l’amour, eut des mouvements violents. Elle gigotait comme une poule qu’on égorge, et elle se tendait comme une toile dans le vent. 46 Angst, Gewalt und Erotik begleiten einander. Die Angst vor dem Fleischer bringt Eponine zum Lachen. Der sexuelle Akt weckt im Fleischer Henri und in Charles Gewaltbereitschaft. Der Verrat Roberts, das Todesurteil für seinen Bruder, seine Geliebte und sich selbst, die Überschreitung eines der größten Tabus, bereiten ihm höchste Lust. Batailles Protagonisten lieben ihr Leid, sie lieben die Gewaltsamkeit, die ihnen widerfährt. Wie Robert genießt auch Dirty in Le Bleu du Ciel ihre Krankheit. 47 Es macht sie glücklich zu leiden, weil sie dadurch Grenzen überschreitet. In Le Bleu du Ciel findet sich eine Anhäufung verschiedener Exzesse: Schon zu Beginn trifft der Leser auf eine betrunkene, weinende und wild zuckende Dirty, die mit Troppmann in immer obszönere Szenen gelangt. Einen Höhepunkt der Überschreitung bildet bei Bataille das Bild, in dem Tod und Erotik zugleich dargestellt werden. Die Verwandtschaft des „kleinen Todes“ mit dem endgültigen Tod wird somit deutlich gemacht. 48 Die Überschreitung und das Vergnügen, das in ihr liegt, werden für das Subjekt nur umso größer. Und so erzählt Troppmann davon, vor dem aufgebahrten Leichnam seiner 44 G. Bataille, Madame Edwarda, op. cit., S. 11f. 45 G. Bataille, Les Larmes d’Eros, op. cit., S. 620. 46 G. Bataille, L’Abbé C., op. cit., S. 271. 47 G. Bataille, Le Bleu du Ciel, op. cit., S. 471: „J’étais heureuse de souffrir.“ 48 Zur Verwandtschaft von Sexualität und Tod vgl. das Kapitel „L’Érotisme, le travail et la petite mort“, in: G. Bataille, Les Larmes d’Eros, op. cit., S. 590-593. Georges Bataille: Das zerrissene Subjekt 235 Mutter onaniert zu haben 49 , und schließlich gipfelt Le Bleu du Ciel im Sexualakt auf einem Friedhof. 50 Nicht nur die Gräber und die Szenerie weisen auf den Tod hin, auch die schwer kranke Dirty mit ihren blassen Lippen ist schon vom Tod gezeichnet. 51 In solchen entgrenzenden Momenten findet die Erkenntnis statt, das „glissement“ von der profanen Welt in die heilige. Das Subjekt wird erschüttert, zittert und verliert schließlich gänzlich seine Grenzen. Es wird zum dionysischen Subjekt, das jegliche Identität, alle Grenzen und seine Einheitlichkeit abgelegt hat. 52 # Barthes, R., La mort de l’Auteur, Paris 1984. Bataille, G., L’Abbé C., in: ders., Œuvres complètes, Bd. III, Paris 1974. Bataille, G., Le Bleu du Ciel, in: ders., Œuvres complètes, Bd. III, Paris 1974. Bataille, G., L’Érotisme, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. X, Paris 1987. Bataille, G., Les Larmes d’Eros, in: ders., Œuvres complètes, Bd. X, Paris 1987. Bataille, G., Madame Edwarda, in: ders., Œuvres complètes, Bd. III, Paris 1974. Chung, N.-R., Der tragisch-dionysische Gedanke. Eine Interpretation der Philosophie Nietzsches, Würzburg 2004. Ernst, G., Georges Bataille. Analyse du récit de mort, Paris 1993. Fitch, B. T., Monde à l’envers, texte réversible, la fiction de Georges Bataille, Paris 1982. Hill, L., Bataille, Klossowski, Blanchot, New York 2001. Mattheus, B., Georges Bataille. Eine Thanatopgraphie, Bd. I, München 1984. Nietzsche, F., Die Geburt der Tragödie, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. I (Hrsg. G. Colli, M. Montinari), München 1988. Nietzsche, F., Dionysos-Dithyramben, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. VI (Hrsg. G. Colli, M. Montinari), München 1988. Nietzsche, F., Morgenröte, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. III (Hrsg. G. Colli, M. Montinari), München 1988. 49 Hierbei spielt auch wieder das inzestuöse Verhältnis zur Mutter eine Rolle, was den Tabubruch verstärkt. 50 G. Bataille, Le Bleu du Ciel, op. cit., S. 481: „Nous sommes tombés sur le sol meuble et je m’enfonçai dans son corps humide comme une charrue bien manœuvrée s’enfonce dans la terre. La terre, sous ce corps, était ouverte comme une tombe, son ventre nu s’ouvrit à moi comme une tombe fraîche. Nous étions frappés de stupeur, faisant l’amour au-dessus d’un cimetière étoilé. Chacune des lumières annonçait un squelette dans une tombe, elles formaient ainsi un ciel vacillant, aussi trouble que les mouvements de nos corps mêlés.“ 51 G. Bataille, Le Bleu du Ciel, op. cit., S. 480: „Dorothea, les lèvres pâles, le visage rougi par le froid, ne disait rien (…).“ Sie wird kurze Zeit später sterben. 52 Vgl. Peter V. Zimas Hinweise auf das Dionysische und seine Verbindung zum Übermenschen. P. V. Zima, Theorie des Subjekts, op. cit., S. 138. Dorothea Böhme 236 Rank, O., „Der Doppelgänger“, in: J. M. Fischer (Hrsg.), Psychoanalytische Literaturinterpretationen, Tübingen 1980. Rank, O., Sexualität und Schuldgefühl. Psychoanalytische Studien, Leipzig u.a. 1926. Schneider, U., Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche, New York, Berlin 1983. Surya, M., Georges Bataille: An intellectual Biography, London-New York 2002. Zima, P. V., Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen-Basel 2008. Zima, P. V., Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen 2009. Zima, P. V., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2010 (3. Aufl.). Walter Fähnders (Osnabrück) @ & : < „Nichts ist eindeutig, dachte Esch voll Zorn, nicht einmal an solch schönem Frühlingstag.“ Diese Reflexion aus Hermann Brochs zweitem Schlafwandler- Roman verweist auf die Sehnsucht des Protagonisten Esch nach „der verlorenen Eindeutigkeit“, so Peter Zimas Kommentar zu dieser Stelle, und Zima schreibt weiter: „Hier zeigt sich, wie sehr Eindeutigkeit zur Subjektkonstitution beiträgt und wie sehr Ambivalenz ihr im Wege steht: Esch empfindet sie als Bedrohung seines Ichs und seiner Handlungsfähigkeit.“ 1 Der von Broch in seinem Roman Anfang der 1930er Jahre diagnostizierte Zerfall der Werte, der Persönlichkeit, des Subjekts verweist auf jene viel diskutierten Auflösungstendenzen der Jahrhundertwende von 1900, die durch nichts anderes als einen Zerfall der traditionellen Wertordnung, durch Erschütterungen sondergleichen, durch „Erschütterungsdiskurse“ 2 , wie sie jüngst bezeichnet wurden, bestimmt ist. Auf fast postmoderne Weise kommen in der Moderne des Fin de siècle elementare Gewissheiten ins Rutschen - wenn Nietzsche Gott für tot erklärt, so ist dies bekanntermaßen nicht eine Aussage allein über das Metaphysische, sondern eine Kampfansage eben an das Prinzip „Eindeutigkeit“, an „Gewissheit“, an Ideologie, an die Konstruktion von Entität. Die Verunsicherung betrifft alle Felder der Gesellschaft, alle Wissensbestände und Kulturbereiche und somit auch Individuum und Subjekt. Es geht im Fin de siècle um eine weit reichende Bedrohung des Ich und der Konstitution des Subjekts, seiner Handlungsfähigkeit insbesondere, was für unsere Frage nach der Avantgarde mit Blick auf das Manifest und die Rolle des Manifestantismus relevant ist. Derartige Erschütterungen und Bedrohungen resultieren aus einem ganzen Ensemble von Faktoren, die durch eine Umwertung aller Werte das so lange 1 P. V. Zima, „Das individuelle Subjekt zwischen Natur und Kultur: Modernismus und Avantgarde“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik - Avantgardeforschung, Amsterdam-Atlanta 2000, S. 121-137, hier S. 125; das Zitat aus H. Broch, Die Schlafwandler, Frankfurt/ M. 1978, S. 226. 2 U. Brunotte, R. Herrn (Hrsg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2007, S. 17. Walter Fähnders 238 stabil scheinende bürgerliche Subjekt verunsichert und destabilisiert haben. Anzuführen wären die Entstehung der Psychoanalyse, der Fortschritt der Naturwissenschaften einschließlich der Vererbungslehre und nicht viel später der Relativitätstheorie, aber auch die Frauenemanzipation mit ihrer Forderung nach Neuordnung der Geschlechterbeziehungen, die sich formierende Jugendbewegung, die soziale Bewegung. Nicht zuletzt ist an Sprachkrise und Sprachkritik zu erinnern, also an jene Reflexionen über die Sprache um 1900, die jahrhundertealte Gewissheiten über die als stabil geltende Beziehung zwischen Gegenstand, Sprache und Begriff in Frage stellten. Das Fin de siècle hat darüber selbst reflektiert und war sich seines Relativismus durchaus bewusst. Nietzsche schreibt 1888 im Fall Wagner, „daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr (...) jedesmal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens (...). Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt“. 3 Dieser explizite „Verlust des Ganzen“ korrespondiert mit Hermann Bahrs bekanntem Diktum: „Das Ich ist unrettbar“, das er aus seiner Lektüre der Schriften Ernst Machs exzerpiert, und Freuds Demontage des Individuums zu einem „armen Ding“ 4 kommt, ausgehend von einem anderem Ansatz als bei Nietzsche oder Mach, zum selben Postulat des Ich-Zerfalls. Zima spricht resümierend von „gesellschaftlichen und sprachlichen Situationen, die von der Ambivalenz als unaufhebbarer Einheit der Gegensätze beherrscht werden. In solchen Situationen erscheint der Einzelne als unversöhntes Ineinander (und Gegeneinander) von Natur und Kultur, von Unbewußtem und Bewußtem, von Zufall und Notwendigkeit, von Moral und Ausschweifung. Zugleich kommt es zu einer Verdoppelung der Werte, die (...) im literarischen Modernismus der Jahrhundertwende Wirklichkeit wird. Diese Verdoppelung ist selbst ambivalent, weil sie einerseits von der Krise des gesamten sozialen Wertsystems zeugt, andererseits kritisch-ironische Perspektiven eröffnet (...)“. 5 Ich möchte diesen Gedanken der ambivalenten Verdoppelung aufgreifen und um einen Aspekt erweitern: um den Gedanken, dass im Kontext dieser Erschütterungen der Versuch unternommen wird, diese Verdoppelung selbst aufzuheben mit dem Ziel einer neuen Totalitätsgewinnung - als Gegenbewe- 3 F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, Hrsg. K. Schlechta, München 1966, Bd. II, S. 917. 4 Zit. n. W. Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933, Stuttgart-Weimar 2 2010, S. 85 u. 84. 5 Als Beispiele werden Broch, Musil, Svevo und Pirandello genannt; vgl. P. V. Zima, „Das individuelle Subjekt zwischen Natur und Kultur: Modernismus und Avantgarde“, op. cit., S. 125. Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus 239 gung zur Atomisierung. Denn der „Nexus von Ambivalenz und Ich-Zerfall“ 6 ist womöglich selbst ambivalent und sucht in dieser Ambivalenz nach Möglichkeiten, sich selbst sozusagen zu zerreißen. Der Relativismus der Erschütterungen im Fin de siècle findet ein Pendant im Versuch, neue Absolutheiten zu schaffen oder doch zu entwerfen. Die Konjunktur des Monismus um 1900 ist historisches Indiz für eine derartige Suche nach einer „All-Einheit“ 7 , wie sie genannt wurde. Mir scheint, die Suche nach der eingangs zitierten „Eindeutigkeit“, genauer: nach einem archimedischen Punkt, noch genauer: die Konstruktion eines solchen sprengt die Ambivalenz auf, und damit geht auch der Versuch einer Schaffung neuer subjektiver Identität einher. Es ist dies der Punkt, an dem ich die Avantgarde lokalisieren möchte, und zwar anhand ihrer Produktion von Manifesten, ihres Manifestantismus. ' : < Unter Avantgarde wird hier jenes internationale Netz von Gruppierungen, Bewegungen, Ismen und Strömungen verstanden, das von Künstlern, Verlegern und Galeristen, von Zeitschriften und Zeitungen mit dem Anspruch verknüpft worden ist, nicht nur eine radikale Neuerung künstlerischer Formen und der einzelnen Künste zu bewirken, sondern zugleich eine gänzlich neue Auffassung von Kunst und eine neuartige Positionierung der Kunst in der Gesellschaft durchzusetzen und auf diese Weise Grundzüge einer veränderten Lebenspraxis zu schaffen. 8 Bei einer solchen Bestimmung lässt sich der Aufbruch der Avantgarde mit der Formierung ihrer ersten großen Bewegung, der des italienischen Futurismus, datieren, mit dem Erscheinen von dessen Gründungsmanifest 1909, auch wenn es mit dem Fauvismus, dem Kubismus oder der Dresdner Künstlervereinigung „Die Brücke“ bereits avantgardistische Bestrebungen gab, deren Beginn wenige Jahre früher lag. Die Avantgarde ist jedenfalls eine europa-, später weltweite Erscheinung in allen Genres der Kunst und Literatur, die bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges ihre ersten großen Höhepunkte hat, die Ende der Zwanziger, Anfang der Dreißiger 6 Ibid., S. 126. 7 Vgl. etwa den Roman von Julius Hart, Zukunftsland, Bd. I: Der neue Gott, Florenz-Leipzig 1899. 8 Vgl. zum Avantgardebegriff resümierend: H. van den Berg, W. Fähnders, „Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert. Einleitung“, in: H. van den Berg, W. Fähnders (Hrsg.), Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart-Weimar 2009, S.1-19; W. Asholt, „Theorien der Modernität oder Theorie der Avantgarde(n)“, in: W. Asholt, R. Reinecke, E. Schütz, H. Weber (Hrsg.), Unruhe und Engagement. Blicköffnungen für das Andere. Festschrift für Walter Fähnders, Bielefeld 2004, S. 155-168. Walter Fähnders 240 Jahre abebbt und nach dem Zweiten Weltkrieg als Neo-Avantgarde die Kunst vor allem der Fünfziger bis Siebziger Jahre mitprägt. Als wichtigstes Medium der Avantgarde für Selbstverständigung und Außendarstellung gilt das Manifest - denn es ist das Manifest, das die Avantgarde für ihre Ziele entdeckt, adaptiert und usurpiert. 9 Anhand des avantgardistischen Manifestantismus lässt sich zeigen, wie durch den Einsatz dieser Gattung die Avantgarde zu jener neuen Totalität zu gelangen sucht, die eine Überwindung des Ich-Zerfalls des Fin de siècle und eine Neukonstituierung des Subjekts in der Moderne ermöglichen soll. ) 6 1 @ Die Wortbedeutung - lat. manifestum: mit Händen greifen, handgreiflich - verweist auf ein Dokument, auf ein Konkretum, zugleich auf einen Vorgang. Dabei lassen sich distinkte Textmerkmale eines Manifestes - von dessen Nebenbedeutung als Register einer Schiffsladung hier abgesehen wird - kaum ausmachen, es ist von benachbarten Textsorten (Deklaration, Proklamation, Thesen, Pamphlet u.a.m.) durch spezifische Textmerkmale kaum unterscheidbar. Als Kriterium für seine Bestimmung taugt noch am ehesten die Selbstbezeichnung eines Textes als Manifest. Das Manifest stammt aus dem politischen Bereich und hat seit den ersten bekannten Wortbelegen in der Frühen Neuzeit die Hauptbedeutung von Staats- oder Herrschaftserklärung, z.B. als Kriegserklärung. Die älteste und bis ins 19. Jahrhundert dominante Bedeutung von „Manifest“ ist die des hoheitlich-herrschaftlichen Aktes: Von Anbeginn bestimmt also ein Öffentlichkeitsbezug den Begriff. Einen eigenen Diskurs begründet das Kommunistische Manifest, das auch durch die zahlreichen Übersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung einen enormen Verbreitungsgrad gefunden hat. Das Kommunistische Manifest markiert die wachsende Loslösung des Terminus vom Herrschaftsmanifest und die Übertragung des Wortes auf oppositionelle und revolutionäre Gruppenerklärungen. Es gewinnt also auch eine Bedeutungsschicht des Subversiven und Revolutionären, zumal es selbst wiederum inner- 9 So die neueren Forschungen zum Manifest; vgl.: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.): „Die ganze Welt ist eine Manifestation.“ Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997; W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938, Stuttgart-Weimar 2 2005; H. van den Berg, R. Grüttemeier (Hrsg.), Manifeste: Intentionalität. Amsterdam 1997; M. Burger, Les Manifestes: paroles de combat. De Marx à Breton, Paris 2002; H. Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgardebewegungen, Berlin 2001; C. Jarillot Rodal, Manifiesto y vanguardia: los manifiestos del futurismo italiano, Dadá y el surrealismo, Bilbao 2010; F. W. Malsch, Künstlermanifeste. Studien zu einem Aspekt moderner Kunst am Beispiel des italienischen Futurismus, Weimar 1997. Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus 241 halb der sozialen Bewegung weitere Manifeste evoziert hat, z.B. von anarchistischer Seite. Seit dem 19. Jahrhundert nimmt zwar die metaphorische Verwendung des Wortes zu - Manifest wird nun, wenn auch noch selten, auf künstlerische Erklärungen und auf literarische Texte übertragen; als Selbstbezeichnung bleibt das Wort aber in den europäischen Hauptsprachen im 19. Jahrhundert die Ausnahme. So geben vor dem Ersten Weltkrieg weder der große Meyer noch der Brockhaus oder Herder Hinweise auf das Manifest im Kontext künstlerisch-literarischer Bewegungen, diese finden sich auch nicht in den Folgeauflagen um 1930. Auch das Italienische kennt bis zur Jahrhundertwende manifesto primär als Staatsproklamation, allerdings auch als politische oder wissenschaftliche Erklärung; durch die Bedeutung als „Programmzettel bei einer Theatervorstellung“ und „Plakat“ steht es dem literarischen Bereich allerdings näher als im Deutschen. Das Französische, so Littré 1859, bezieht die Bezeichnung Manifest auch auf Literatur und Kunst, allerdings nicht als Selbstbezeichnung derartiger Texte. Die Selbstbezeichnung „Manifest“ für literarische Grundsatzerklärungen ist die Ausnahme. 10 Die Hauptbedeutung bleibt: Staatserklärung - und der Generation der Avantgardisten zweifellos bekannt gewesen sein dürfte ein solches Manifest, nämlich das folgenschwere „Manifest Kaiser Franz Josephs“ vom 28. Juli 1914, in dem dieser die österreichische Kriegserklärung an Serbien verkündet. * " @ @ Am 20. Februar 1909 erschien auf der Titelseite des Pariser Figaro jener Text von Filippo Tommaso Marinetti, der die Bewegung des Futurismus begründete und weltberühmt machte. 11 Der Artikel war überschrieben mit „Le Futurisme“, die darin enthaltenen elf Programmpunkte dagegen mit „Manifeste“. Mit dem Zusatz „Manifest“ im Titel versah Marinetti den Gesamttext dann in einem vierseitigen Flugblatt: „Manifeste Initial du Futurisme (Publié par le Figaro le 20 février 1909)“. Marinettis handschriftliche Version des Textes 10 In einer viele Dutzend Titel umfassenden Auflistung von Programmtexten in Frankreich bis 1909 finden sich nicht einmal ein halbes Dutzend von Texten mit der Selbstbezeichnung Manifest (vgl. J. Schultz, Literarische Manifeste der “Belle Epoque” Frankreich 1886- 1909. Versuch einer Gattungsbestimmung, Frankfurt/ M.-Bern 1981, S. 269-278.) 11 Zu den genauen Umständen der Publikation und der Titelvarianten vgl. J.-P. A. de Villers, Le premier manifeste du futurisme. Edition critique avec, en fac-similé, le manuscrit original de F. T. Marinetti, Ottawa 1986; W. Fähnders, „‚Vielleicht ein Manifest‘. Zur Entwicklung des avantgardistischen Manifestes“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), „Die ganze Welt ist eine Manifestation“, op. cit., S. 18-38; zu den Textvarianten vgl. auch F. Roche- Pézard, L’Aventure Futuriste 1909/ 1916, Rom 1983, S. 59ff. u. S. 103ff. Walter Fähnders 242 trägt die Überschrift: „La fondation du Futurisme et son manifeste“. 12 Die etwas später in Italien erschienene und ebenfalls als Flugblatt verbreitete, längere italienische Fassung lautete wiederum: „Fondazione e Manifesto del Futurismo“. 13 Nach den Angaben von Marinetti soll der Text bereits am 11. Oktober 1908 ausformuliert vorgelegen haben 14 , der italienische Erstdruck des Textes erschien zunächst als eine Art Vorwort zu Enrico Cavacchiolis Lyrikband Le Ranocchie Turchine im Januar 1909. Dieses monatelange Experimentieren mit verschiedenen Überschriften verweist auf nichts weniger als die generalstabsmäßige Lancierung eines Ismus durch ein Gründungsdokument, bei dem zunächst unterschiedliche Titel erprobt werden, bis dann die definitive Entscheidung für die Gattung und Gattungsbezeichnung „Manifest“ gefällt wird. Es wurde ein Erfolgsmodell. Nicht nur fanden sich im Februar dieses Jahres zum 100. Geburtstag des Manifestes Gedenkartikel in der gesamten europäischen Presse, was für einen literarischen Text bemerkenswert genug ist, 15 auch das Manifest selbst trat sehr rasch seine Reise durch verschiedene Sprachen und Kontinente an und bot dergestalt ein frühes Beispiel für eine sich zunehmend vernetzende Avantgarde. Bereits im März 1909 kam eine Übersetzung in Moskau heraus, im Mai in Japan; bis zum Juli 1909 waren Auszüge in Tageszeitungen in Berlin, Frankfurt am Main und Köln sowie in Madrid und Buenos Aires zu lesen; im März 1912 erschien das Manifest in London und im selben Jahr in Deutschland, nun in vollständiger Übersetzung in Herwarth Waldens Sturm. Damit wurde nicht nur der Futurismus bekannt, sondern auch das Manifest setzte sich als Medium für Ausrufung und Programm einer neuen Bewegung, eines Ismus, durch: Nach der ersten Erprobung der Gattungsbezeichnung führten seither ein Großteil der Programmerklärungen des italienischen Futurismus geradezu seriell die Selbstbezeichnung „Manifest“ oder „futuristisches Manifest“ im Titel oder Untertitel. Andere Bewegungen der Avantgarde folgten diesem Modell - vom Adamismus oder Aismus über den Poetismus und Surrealismus bis zum Zenitismus. In einer (durchaus kritischen) Auseinandersetzung mit dem Futurismus prägte Franz Pfemfert, der Herausgeber der Aktion, 1912 den Begriff „Manifestantismus“. 16 Er ließe sich adaptieren nicht allein für die Fülle avant- 12 Vgl. das Faksimile der Handschrift bei de Villers, Le premier manifeste, op. cit., S. 40ff. 13 De Villers, Le premier manifeste, op. cit., S. 105f.; die russische Übersetzung führt ebenfalls das Wort „Manifest“ im Titel, die englische Fassung lautet: „Declaration of Futurism“ (op. cit., S. 126f.). 14 Vgl. C. Baumgarth, Geschichte des Futurismus, Reinbek 1966, S. 23ff. 15 Vgl. H. van den Berg, W. Fähnders, „Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert. Einleitung“, op. cit., S. 3f. 16 A. Stech [d.i. F. Pfemfert], „Aufruf zum Manifestantismus“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 63-65, hier S. 64. Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus 243 gardistischer Manifeste, sondern auch für ein elementares Medium im Projekt Avantgarde. + : @ < Bei den Hinweisen auf Semantik und Gattungsgeschichte des Wortes „Manifest“ wurde hervorgehoben, dass der Terminus bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Dokument der Herrschaftsausübung bezeichnet, und dass es einen subversiven Manifeste-Diskurs gibt, der sich von Kommunistischen Manifest ableitet und der in den sozialen Bewegungen geführt wird. Indem die Avantgarde als zunächst von der Kunst ausgehenden Bewegung die Dominanz beider Diskursfelder bricht und Gattung und Gattungsbezeichnung für sich usurpiert, reklamiert sie beides: Herrschaftsanspruch wie Subversion. Die erst probeweise, dann definitive Entscheidung für das Manifest als Form, als Selbstbezeichnung und Ausgangsbasis eines Ismus zeigt an, dass die Avantgarde ein Medium erobert hat, das sie als archimedischen Punkt handhabt, um ihr Projekt zu realisieren. Dass die anhand des italienischen Futurismus aufgezeigte Entscheidung für die Selbstbezeichnung Manifest keine zufällige ist und in den Avantgarde- Bewegungen zur Regel wird, mögen folgende Beispiele belegen, die die Gattungsreflexion innerhalb der Avantgarde zeigen. Dada Berlin beispielsweise experimentiert mit dem Terminus. Das berühmte „Dadaistische Manifest“ vom April 1918 wurde zuerst, und zwar in einer Pressemitteilung der Dadaisten selbst, unter dem Titel „Der Dadaismus im Leben und in der Kunst“ angekündigt. Eine zweite Pressemitteilung revidierte diesen Titel und sprach nun vom „ersten umfassenden dadaistischen Manifest“. 17 Auch andere Avantgarde-Manifeste sind erst später zu ihrem Manifesttitel gekommen: Das „Manifest Proletkunst“ von Theo van Doesburg erschien zuerst 1923 in De Stijl unter dem Titel „Anti-tendenzkunst“ 18 ; das erste „Surrealistische Manifest“ von André Breton sollte ursprünglich als „Préface“ den surrealistischen Prosatext Poisson soluble einleiten. 19 Dass derartige Texte teilweise mit anderen Selbstbezeichnungen versehen werden, bevor sie zum Manifest geadelt werden, macht die Selbstbezeichnung nicht beliebig oder austauschbar, sondern verleiht der Entscheidung für den Manifesttitel ein umso größeres Gewicht. 17 Dokumentiert in: Urlaute dadaistischer Poesie. Der Berliner Dada-Abend vom 12. April 1918, Hrsg. J. Goergen, Hannover 1994, S. 12f. 18 In: De Stijl 6, 1923 (April), Bl. 17-19; die deutsche Version in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 298f. 19 J. Filliolet, „Le manifeste comme acte de discours. Approche linguistique“, in: Littérature 1980, Nr. 39 (Okt.), S. 23-28, hier S. 27 Walter Fähnders 244 Marinetti spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von „l’arte di far manifesti“. 20 Bei seinen Reflexionen über die Handhabung der Gattung insistiert er auf Einhaltung einer angemessenen „Form von ‚Manifest‘“, es sind „Gewalt“ und „Genauigkeit“ die entscheidenden Manifestmerkmale. 21 „Um ein Manifest zu lanzieren, muß man das ABC wollen, gegen 1, 2, 3 wettern“ - mit derart deutlichen gattungstypischen Bestimmungen eröffnet Tristan Tzara sein „Manifest Dada 1918“. 22 Manifest und Manifestantismus bedeuten also nicht kontingente Gattungsentscheidungen, sondern wohlkalkulierte, universalistische und totalisierende Maßnahmen der Avantgarde: Mit dem Manifest usurpiert die Avantgarde „Herrschaft“, indem sie die Herrschaftsgeste des Manifestes und seines ebenso herrschaftlichen Verkünders übernimmt, sich selbst gleichsam inthronisiert und virtuell Macht ausübt - und gleichzeitig leistet sie Widerstand gegen die bestehende Herrschaft, weil ja das Manifest in der Marx-Engels-Tradition auch eine Redeweise der Subversion bedeutet oder zumindest impliziert. Beides leistet der Gattungsanspruch des Manifestes. In der gleichermaßen spätexpressionistisch wie linksradikal inspirierten Schrift Das Neue Leben. Ein kommunistisches Manifest 23 von Heinrich Vogeler (1919) mag man dieses beispielhaft belegt finden, und noch Franz Pfemferts leicht ironische Wendung von den „manifestantischen Manifesten“ 24 erweist in der Tautologie der neu eroberten Gattung ihre Reverenz. Den Erschütterungen und Auflösungstendenzen der Jahrhundertwende wird also eine Redeweise entgegengeschleudert, die dezidiert „Gewissheiten“ schaffen und auch die Sprachkrise beenden und überwinden möchte: Nicht mehr zerfallen, wie dem Lord Chandos, die Worte wie modrige Pilze im Munde, sondern die Gattung und Gattungsnorm vermittelt einen fixen Halt, ohne in die Ambivalenz ausweichen zu müssen. 2 @ @ . In geselliger Runde findet man sich - „meine Freunde und ich“ - die Nacht über beisammen, „unter den Moscheeampeln mit ihren durchbrochenen Kupferschalen, sternenübersät wie unsere Seelen“, man lagert auf „weichen Ori- 20 Zit. nach der deutschen Übertragung in H. Schmidt-Bergmann, Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland. Über Anverwandlung und Abwehr des italienischen Futurismus, Stuttgart 1991, S. 384f. 21 Vgl. W. Fähnders, „Vielleicht ein Manifest“, op. cit., S. 26ff. 22 T. Tzara, „Dada Manifest 1918“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 149-155, hier S. 149 23 H. Vogeler, Das Neue Leben. Ein kommunistisches Manifest, Hannover 1919. 24 A. Stech [d.i. F. Pfemfert], „Aufruf zum Manifestantismus“, op. cit., S. 63f. Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus 245 entteppichen“, diskutiert „bis zu den äußersten Grenzen der Logik“ und „schwärzt viel Papier mit irren Schreibereien“. 25 So inszeniert Marinetti den Eingang seines ausdrücklich auch narrativ 26 angelegten berühmten ersten Manifestes. Geräusche von vorbeifahrenden Straßenbahnen und das „Aufbrüllen hungriger Autos“ geben schließlich den Anlass zum Aufbruch: In drei Automobilen bricht die anonym bleibende Runde auf; „wir jagten dahin“, heißt es, bis der Wagen des anonymen Erzählers durch zwei Radfahrer ins Schleudern gerät: „Ich bremste hart.“ Der Wagen des Protagonisten fährt in den Straßengraben - Oh mütterlicher Graben, fast bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt! Oh schöner Abflußgraben einer Fabrik! Ich schlürfte gierig deinen stärkenden Schlamm, der mich an die heilige, schwarze Brust meiner sudanesischen Amme erinnerte … Als ich wie ein schmutziger, stinkender Lappen unter meinem auf dem Kopf stehenden Auto hervorkroch, fühlte ich die Freude wie ein glühendes Eisen erquickend mein Herz durchdringen! (S. 4) Es gelingt dem Erzähler, seinen Wagen („mein schöner Haifisch“) wieder in Gang zu bringen - und dies ist der Moment, an dem der Text zu den elf Punkten, die innerhalb des Gesamttextes mit „Manifest des Futurismus“ überschrieben sind, überleitet: „Da, das Antlitz vom guten Fabrikschlamm bedeckt (…) zerbeult und mit verbundenen Armen, aber unerschrocken, diktierten wir unseren ersten Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde“. (S. 4) Hier wird nichts weniger als eine profan angelegte Initiation vorgeführt: Die Extremsituation eines Autounfalls mit anschließendem Schlammbad im Straßengraben, das als „purgatio“, als säkularisierte Taufe gelesen werden kann, erlaubt es dem Individuum und ermächtigt es auch, das Manifest des Futurismus zu verkünden. Dessen elf Punkte bestätigen nun, dass ein geläutertes Subjekt eine neue Welt zu verkünden weiß - zu verkünden: es handelt sich nicht um Forderungen an die Welt, sondern manifest-gerecht um handlungsorientierte Aussagen, Vorsätze und Willensbekundungen, also durchaus um eine (metaphorisch gesprochen) „Kriegserklärung“. Die grammatikalischen Konstruktionen lauten: „Wir wollen“, „wir werden“, „wir erklären“, „es muss“. Zwar beziehen sich die meisten der Punkte zunächst auf einen gesellschaftlichen Teilbereich, die Literatur bzw. sie gehen von ihr aus - „Wir wollen die Liebe zur Gefahr 25 F. T. Marinetti, „Gründung und Manifest des Futurismus“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 3-7, hier S. 3; Zitate hieraus im Folgenden direkt im Text. 26 W. Fähnders, „Die Fahrt in den Straßengraben. Narrative Strukturen in Manifesten der europäischen Avantgarde“, in: W. Menninghaus, K. Scherpe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und politische Kultur. Eberhard Lämmert zum 75. Geburtstag, Stuttgart-Weimar 1999, S. 74-82. Walter Fähnders 246 besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit“ (S. 4), lautet der erste Punkt -, aber eingebettet sind diese neuen Bestimmungen dessen, was Kunst zu leisten habe, in gleichermaßen universale und universalistische Zusammenhänge. Am deutlichsten geschieht dies in der berüchtigten Bestimmung des Krieges als „einziger Hygiene der Welt“ (S. 5), aber auch in der Absage an das antike Schönheitsideal zugunsten der „neuen Schönheit“, der „Schönheit der Geschwindigkeit“ (S. 5). Das sind Sätze zur Neudefinition der Welt, nicht allein der Literatur oder des ästhetischen Feldes, und es sind Dikta, die keinen Zweifel daran lassen: Hier spricht ein Subjekt, das sich per Manifestantismus im angenommenen Herrschaftsdiskurs ebenso konstituiert hat wie im Gestus der Subversion. Wenn Marinetti in seinem „Technischen Manifest der futuristischen Literatur“, in dem er die neuen avantgardistischen Schreibtechniken formuliert, einmal fordert: „Man muß das ‚Ich‘ in der Literatur zerstören“ 27 , so ist dies eben kein Zeugnis irgendwelcher Negation oder Schwäche des Ich, sondern im Gegenteil: Nur ein neu konstituiertes Ich vermag eine für die avantgardistische Poetik derart weitreichende Forderung zu erheben. Dementsprechend wird der italienische Futurismus bis zu seinem Ende 1944 alle Lebensbereiche der menschlichen Existenz geradezu flächendeckend in Hunderten von Manifesten zu erfassen versuchen - bis hin zur futuristischen Küche. Andere Avantgardebewegungen, so der Surrealismus in Frankreich, begnügen sich nicht weniger effektvoll und gewichtig mit zwei (ungleich umfangreicheren) Hauptmanifesten und einer Vielzahl von Kollektiverklärungen. Mit einer derartigen Neudefinition der Welt ist nicht nur jene eingangs zitierte „Eindeutigkeit“ ermöglicht, es wird eine neue Eindeutigkeit geschaffen bzw. gefordert, gefordert von einem sich selbst als identisch setzenden Subjekt. Es ist eine Subjektkonstitution, die ihre Legitimität aus profaner Erleuchtung und der Bereitschaft zu Kampf und Gewalt bezieht und die vom Teilsektor des Ästhetischen in die Totalität der Gesellschaft strebt. Das Subjekt konstruiert sich, und seine Identität, sein Selbst-Bewusstsein ist das einer Vorhut, wie noch die avantgardistischen Raummetaphern signifikant zeigen. Bereits im Futurismus-Manifest heißt es: „Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! (…) Zeit und Raum sind gestern gestorben.“ (S. 5), und am Ende des Manifestes: „Aufrecht auf den Gipfeln der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu! “ (S. 7). Dieses ist eine für die internationale Avantgarde charakteristische, häufig wiederkehrende Bildlichkeit - das Subjekt überblickt vom Berggipfel, vom Wolkenkratzer oder von einem Kap aus die Welt und verfügt so über die entsprechende 27 In: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 24-27, hier S. 26. Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus 247 Übersicht, die es befähigt, die Welt auch zu ändern. Die Raum-Metaphern bestätigen in ihrer poetischen Dignität, was den universalistischen Anspruch bestimmt und was in der Gattungspoetik das Manifest ja vorexerziert. Das ist wohl das, was eine „Avantgarde“ ausmacht und ihren Anspruch, „Vorhut“ zu sein, besiegelt. Dass das dergestalt sich konstituierende Subjekt sein Manifest dann in gesellschaftliche Praxis, in eine Aktion zu treiben sucht, wird selbst Thema von Avantgarde-Manifesten: „Alle werden mit dem Moment der Verkündung dieses Manifests zur sofortigen Aufnahme einer einmütigen, massenhaften futuristischen Aktion aufgefordert”, heißt es 1921 am Schluss eines Manifestes des polnischen Futurismus, dem „Manifest in Sachen der sofortigen Futurisierung des Lebens” von 1921. 28 „Dieses Manifest gilt uns als Tat“, schreiben Hausmann, Arp, Puni und Moholy-Nagy 1921 in ihrem „Aufruf zur elementaren Kunst“. 29 Dazu korrespondiert, dass Manifeste häufig auf avantgardistischen Veranstaltungen von dem oder den Manifestanten vorgetragen wurden und somit eine ausgesprochen performative Bedeutung und Funktion erlangt haben. 3 Die Avantgarde bzw. die Avantgardebewegungen haben sich historisch als einzelne Ismen konstituiert, der Begriff „Avantgarde“ taucht als Selbstbezeichnung dieser Strömungen zwischen den 1910er und 1940er Jahren eher selten auf und hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg international durchgesetzt. Es sind die Avantgarde-Manifeste, die die einzelnen Bewegungen konstituieren und proklamieren - sie tun dies im Namen der neuen Labels von Futurismus, Surrealismus oder Zenitismus. „Der ISMUS ist etwas Berechtigtes“, heißt es 1912 in der Zeitschrift Die Aktion, „denn diese Endung bedeutet die panische Besitzergreifung der Welt durch einen Gedanken.“ 30 Wird mit der Formulierung von der „Besitzergreifung der Welt“ erneut der Universalismus einer jeden Avantgarde-Bewegung postuliert, so stellt sich doch auch die Frage nach dem Gruppencharakter der Bewegungen bzw. der Relation zwischen dem individuellen und dem kollektiven Subjekt der Avantgarde- Bewegungen. Sofern es sich nicht, wie im Ausnahmefall des Kurt Schwitters und seiner Merz-Kunst, um eine Ein-Mann-Bewegung handelt, sind die Ismen Angelegenheiten von Gruppen oder Kollektiven. Die ungezählten Kollektivmanifeste der Avantgarde bezeugen dies. Allerdings verweisen bereits die 28 B. Jasienski, „An das polnische Volk. Manifest in Sachen der sofortigen Futurisierung des Lebens“ (1921), in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 240-243, hier S. 243. 29 In: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 258. 30 A. Stech [d.i. F. Pfemfert], „Aufruf zum Manifestantismus”, op. cit., S. 64. Walter Fähnders 248 Einzelsignaturen des ersten futuristischen und 15 Jahre später des ersten surrealistischen Manifestes darauf, dass hier nicht umstandslos von Kollektivität gesprochen werden kann - zu deutlich sind Marinettis bzw. Bretons Narrationen des Ich. Zwar identifiziert sich der Erzähler des futuristischen Manifestes eher selten als „ich“ und spricht meistens in der ersten Person Plural, und es ist ja auch von einer Gruppe die Rede, die da aufbricht. Aber das entscheidende Initiationsmodell betrifft, wie aufgezeigt, allein das manifestierende Subjekt. Peter Zima hat in einem Lexikon-Beitrag über „Kritische Theorie“ darauf hingewiesen, dass diese „dem spätmodernen Versuch verpflichtet bleibt, individuelle Subjektivität zu stärken. Insofern unterscheidet sich ihre Ästhetik von den Ästhetiken europäischer Avantgarden, die dazu neigen (etwa in Marinettis Manifesten), das individuelle Subjekt als autonome Einheit in Frage zu stellen“. 31 Dies ließe sich dahin präzisieren oder auch erweitern, dass eine „autonome Einheit“ im Manifest der Avantgarde durchaus konstruiert und proklamiert wird - und zwar für individuelle wie für kollektive Subjekte. Aber es ist das Individuum, das als derart potent, als mit sich identisch gezeichnet wird, dass ihm ja sogar Herrschaftsinsignien und Qualitäten der Welterschaffung zugemessen werden. Es ist dann doch das individuelle Subjekt, das für die Initiation von kollektiven Prozessen steht. Es sind jene Prozesse, die in der Avantgarde-Theorie Peter Bürgers unter der Formel „Überführung von Kunst in Leben“ stehen werden (man sollte vielleicht weniger emphatisch von „Leben“ und genauer von „sozialer Praxis“ sprechen). Die Spannung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Subjekt hebt sich idealiter in der Gruppenpraxis der Bewegung auf. In seinem Manifest „An die Künstler aller Länder! “ schreibt der ungarische Avantgardist Ludwig (Lajos) Kassák 1920: „Weg mit den auf den Fahnen geschriebenen Namen (…) mit dem individuellen Imperialismus! Kein Stehenbleiben! Brüder, verbrüdert euch zum Aufbau des neuen Menschen, des kollektiven Individuums! “ 32 Mit der Wendung vom „kollektiven Individuum“ scheint in der Avantgarde- und Manifest-Debatte eine Position erreicht, die den Ich-Zerfall des Fin de siècle in nicht zu übertreffender „Eindeutigkeit“ hinter sich lässt und eine neue Subjektkonstitution im Wortsinn „in Angriff“ nimmt. „Ich werde darüber einige Manifeste erlassen“, kündigt kurzerhand ein Avantgardist an 33 , „Schrei Manifeste” 34 , fordert ein anderer. 31 P. V. Zima, „Kritische Theorie“, in: H. van den Berg, W. Fähnders (Hrsg.), Metzler Lexikon Avantgarde, op. cit., S. 179-181, hier S. 181. 32 L. Kassák, „An die Künstler aller Länder! “ (1920), in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 197-200, hier S. 199. 33 H. Leybold, „Literär“, in: Die Aktion 3, 1913, Sp. 956. Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus 249 H @ Wenn sich der Avantgardist des Manifestes bedient, hat er Teil am Herrschaftsdiskurs der Gattung, den er alternativ für seine Zwecke umzubiegen sucht - er partizipiert aber auch an der subversiven Manifest-Tradition, also der sozialrevolutionären Attacke auf das staatliche Herrschaftsmanifest. In der Avantgarde findet sich die Tendenz, Manifest und Manifestantismus nicht nur in ihren ästhetischen und sozialen Möglichkeiten zu reflektieren, sondern sie auch selbstkritisch zu problematisieren - die subversive Manifesttradition also gegen die eigene Usurpation des Herrschaftsmanifestes zu richten: Das manifestierende Subjekt vermag über die Herrschaftsattitüde hinaus sich selbst zu beobachten und eigene Verfahrensweisen zu kritisieren. „Vielleicht ein Manifest” 35 überschreibt Vicente Huidobro Anfang der 1920er Jahre einen Text, „In der Art eines Manifests” verfasst Joaquín Torres-García seine „Evolutions-Kunst“ 36 - beides Titel, die bewusst offen halten möchten, ob sie jener Gattung zugerechnet werden sollen, die wie keine andere in der europäischen Avantgarde Furore gemacht hat. Francis Picabia schreibt ein „Von Hinten durchbohrtes Manifest“, Theo van Doesburg ein „Manifest 0,96013“, Sándor Barta das „Manifest einer aktiven Leiche“ 37 , Johannes Baader 1925 ein „Letztes Manifest“. 38 Dieses präsentiert zerschnittene und kreuz und quer auf- und übereinander geklebte Typoskriptschnipseln, die zwar einzelne Wörter und Satzfragmente erkennbar machen, aber demonstrativ keinen Sinnzusammenhang bieten möchten. Dies Verfahren erinnert an das „Typoscript-Manifest” von Max Ernst und Johann Theodor Baargeld, das sie 1920 collagiert und für das sie mit einigem Aufwand verschiedene Umschlagsbilder entworfen haben: Eine lettristische Collage aus Buchstaben- und Zeichenreihen der Schreibmaschine mit häufig „verschriebenen“ Satzfragmenten. 39 Auch hier lassen sich bestimmte Wörter und Satzfragmente entziffern. All dies gestattet zwar Textauslegungen, aber der Selbstbezeichnung als Manifest zum Trotz weigern sich derartige Texte, im jahrhundertealten oder auch im jüngsten avantgardistischen Manifestverständnis etwas zu „manifes- 34 I. Goll, „Appell an die Kunst“ (1917), in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 131. 35 In: Dada. Eine literarische Dokumentation, Hrsg. Richard Huelsenbeck, Reinbek 1964, S. 124-126. 36 In: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 135f. 37 In: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen, op. cit., S. 216f., S. 288, S. 233-236. 38 J. Baader, „Letztes Manifest“ (1925). Faksimile in: W. Fähnders, „Avantgardistischer Manifestantismus“, op. cit., S. 79. 39 Abbildung in: Max Ernst in Köln. Die rheinische Kunstszene bis 1922, Hrsg. W. Herzogenrath, Köln 1980, S. 235-240; Transkription bei J. Schröder, A. Merkel, Dada in Köln. Ein Repertorium, Frankfurt/ M. 1995, S. 180f. Walter Fähnders 250 tieren“. Das manifestierende Subjekt hat sich bei diesem selbstreferenziellen Spiel zu einer avantgardistischen Selbstkritik 40 erhoben, die es aus der herrschaftlichen Umklammerung des Manifestes befreit und in die Subversion des Manifestierens führt. Denn, so Raoul Hausmann: „Manifeste wollen meist die Schwere der Erde aufheben.“ 41 - Man mag sich erinnert fühlen an das Prinzip der Selbst-Annihilation und unendlichen Progression der frühromantischen Konzeption einer progressiven Universalpoesie durch den jungen Friedrich Schlegel. I / $ In Hermann Hesses Steppenwolf von 1927 ist vom „Wahn der Persönlichkeitseinheit“ die Rede, vom Zerfall des Subjekts, wofür die fraktale „Vielfalt des Ichs“ steht: „Er hielt mir einen Spiegel vor, wieder sah ich darin die Einheit meiner Person in viele Ichs zerfallen, ihre Zahl schien noch gewachsen zu sein.“ 42 Als avantgardistisches Gegenbild, das für die Einheit des Ichs und zugleich den Universalismus des Avantgardistischen steht, sei eine Figur aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zitiert, die also gleichsam auf die erste große Etappe der historischen Avantgarde zurückblickt: das Aleph. Dieses von dem argentinischen Avantgardisten Jorge Luis Borges entworfene Aleph markiert den „Ort, an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte der Welt sind, aus allen Winkeln gesehen“. 43 Hier geht es nicht mehr um eine Spiegelmetapher, die die Gebrochenheit des Subjekts markiert, sondern um wie utopisch auch immer angelegte avantgardistische Subjekt-Autonomie. Man mag das Aleph nicht nur als universale Raumvision der Avantgarde ansehen, sondern als Allegorie für die Avantgarde selbst: Jedes Ding (etwa die Scheibe eines Spiegels) war eine Unendlichkeit von Dingen, weil ich sie aus allen Ecken des Universums deutlich sah. Ich sah das belebte Meer, ich sah Morgen- und Abendröte, ich sah die Menschenmassen Amerikas, ich sah ein silbriges Spinnennetz im Zentrum einer schwarzen Pyramide, sah ein aufgebrochenes Labyrinth (das war in London), sah unzählige ganz nahe Augen, die sich in mir wie in einem Spiegel ergründeten, sah alle Spiegel des Planeten, doch reflektierte mich keiner. 40 Vgl. W. Asholt, „Projekt Avantgarde und avantgardistische Selbstkritik“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Der Blick vom Wolkenkratzer, op. cit., S. 97-120. 41 R. Hausmann, „Sieg Triumph Tabak mit Bohnen“ (1921), in: R. Hausmann, Sieg Triumph Tabak mit Bohnen. Texte bis 1933, Hrsg. M. Erlhoff, Bd. II, München 1982, S. 32-35, hier S. 32. 42 H. Hesse, Der Steppenwolf (1927), Frankfurt/ M. 1972, S. 209. 43 J. L. Borges, „Das Aleph“, in: J. L. Borges, Das Aleph (El Aleph). Erzählungen 1944-1952, Frankfurt/ M. 4 1999, S. 131-148, dieses und die folgenden Zitate S. 144f. Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus 251 Gegen Schluss dieser nicht enden wollenden Reihe heißt es bei Borges: [Ich] sah das Aleph aus allen Richtungen zugleich, sah im Aleph die Erde und in der Erde abermals das Aleph und im Aleph die Erde, sah mein Gesicht und meine Eingeweide, sah dein Gesicht und fühlte Schwindel und weinte, weil meine Augen diesen geheimen und gemutmaßten Gegenstand erschaut hatten, dessen Namen die Menschen in Beschlag nehmen, den aber kein Mensch je erblickt hat: das unfaßliche Universum. # Asholt, W., „Projekt Avantgarde und avantgardistische Selbstkritik“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik - Avantgardeforschung, Amsterdam-Atlanta 2000. 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Astrid Poier-Bernhard (Graz) . ,- $ 5 .7 1 8 $ , Für Anne Garréta ist das Schreiben eines Romans, wie sie in einem Interview mit Frédéric Grolleau formuliert, „ein Erkenntnisinstrument“, „eine Lebensform im Wittgensteinschen Sinn“. 1 Die Frage, die für die Autorin jeweils den Ausgangspunkt bildet, wird durch den Roman eher umspielt als beantwortet. Unmittelbare Identifikationsangebote oder klare Rezeptionsperspektiven bieten Garrétas Texte nicht. Meine Betrachtung wird darauf ausgerichtet sein, einige Bedeutungspotentiale ihres vielschichtigen Romans Sphinx 2 sichtbar zu machen; die Wahl dieses Textes steht im Zusammenhang mit einem Forschungsgebiet des Jubilars, zumal Sphinx in subtiler Weise die Problematik der Subjektdekonstruktion im Spannungsverhältnis von Moderne und Postmoderne thematisiert. Sphinx wurde 1986 veröffentlicht und war Garrétas Erstling; darauf folgten einige Novellen Pour en finir avec le genre humain 3 , Ciels liquides 4 , La Décomposition 5 und Pas un jour, 6 wofür die Autorin 2002 mit dem Prix Médicis ausgezeichnet wurde. 2009 erschien der gemeinsam mit Jacques Roubaud verfasste Roman Eros mélancolique. 7 & : 8 < Lange bevor Anne Garréta Mitglied von Oulipo, der Werkstatt für potenzielle Literatur wurde, 8 machte sie sich eine Contrainte, eine selbstgewählte Einschränkung zum Ausgangspunkt des Romans: Das biologische Geschlecht und damit auch die sexuelle Orientierung der beiden durch eine Liebesgeschichte verbundenen Hauptfiguren sollte bis zum Ende des Romans unein- 1 Vgl. „Entretien avec Anne Garréta, Propos recueillis par Frédéric Grolleau“, in: L’Humeur du Marcassin (01.09.1999). 2 A. Garréta, Sphinx, Paris 1986. Ich zitiere im Folgenden mit einfacher Seitenzahl im Text. 3 A. Garréta, Pour en finir avec le genre humain, Paris 1987. 4 A. Garréta, Ciels liquides, Paris 1990. 5 A. Garréta, La Décomposition, Paris 1999. 6 A. F. Garréta, Pas un jour, Paris 2002. 7 A. F. Garréta, J. Roubaud, Eros mélancolique, Paris 2009. 8 Garréta wurde im Jahr 2000 Mitglied von Oulipo. Astrid Poier-Bernhard 254 deutig bleiben. 9 Das erzählende Je ist namenlos, die geliebte Person, Tänzer oder Tänzerin in einem Nachtlokal, wird A*** genannt. Das Paar, das sich nach längerer Annäherung findet, bis es durch den Tod von A*** getrennt wird, ist höchst unterschiedlich. A*** vertritt gewissermaßen den Körper, hat kaum andere Interessen, als sich für das Tanzen fit zu halten, und verfügt im Grunde auch über keine andere Sprache, um sich auszudrücken. Das Ich erlebt sich über den Intellekt, analysiert sein Erleben, hat eine melancholischkritische Haltung gegenüber der Welt, während es A*** eher auf Unbeschwertheit und Leichtigkeit ankommt als auf Selbstreflexion und Bewusstheit. Was bedeutet die Contrainte im Hinblick auf die Sprachhandhabung? Mit dem Imparfait und Passé simple stehen im Französischen unverfängliche Vergangenheitszeiten zur Verfügung, es mussten jedoch Adjektive und Satzkonstruktionen vermieden werden, die eine Genus-Übereinstimmung erfordern - keine ganz einfache Aufgabe, aber eine zu bewältigende Herausforderung für die sprachlich und stilistisch ausgesprochen virtuose Autorin. Die Idee zu dieser Contrainte hatte Garréta, die sich von Anfang an zu ihrer Homosexualität bekannte, wohl vor dem Hintergrund ihrer Kritik an der Hegemonie eines Diskurses, der auf Geschlechterdifferenzen und einfachen binären Kategorien beruht - Sphinx trägt die Widmung „To the third“. Marie- Odile Métral eröffnete ihre Besprechung in der Zeitschrift Esprit mit den Worten: „Par la contrainte littéraire qu’elle se donne: écrire au neutre résolument, Anne Garréta, sans militance, fait œuvre féministe. A partir du moment où dans la langue disparaît le genre, ce n’est plus le masculin qui commande les rapports d’assujettissement.“ 10 Ralph Nelson, der den Roman für World Literature Today rezensierte, schien die sexuelle Unbestimmtheit allerdings gar nicht zu bemerken: Das Erzähler-Ich erscheint bei ihm schlicht als Mann - immerhin ist es ja das intellektbegabte Subjekt -, das begehrte Liebesobjekt als Frau, deren auf „her movements on stage“ reduzierte Darstellung er allerdings kritisiert. 11 Giorgiana Colvile imaginiert die sexuellen Identitäten in derselben Weise, findet dafür aber im Rahmen ihrer Studie Argumente im 9 Eine ähnliche Contrainte - aber mit anderer Funktion und Wirkung - verwendete schon die ebenfalls Oulipo angehörende Autorin Michelle Grangaud in ihrem kurzen (auf 8000 Anschläge festgelegten) Prosatext On verra bien (Paris o.J., [= Les Guère Epais, III, 2]). Grangauds Text erzählt in philosophisch-reflektierender, sachlicher und sprachlich schlichter Form den Bewusstwerdungsprozess eines Individuums, das mehr und mehr beginnt, „Falten zu bilden“, d.h. in der Welt, in der es lebt, etwas aktiv und bewusst zu gestalten. 10 M.-O. Métral, „Sphinx“, in: Esprit 124 (1987), S. 116-117. 11 R. Nelson, „Anne Garréta - Sphinx“, in: World Literature Today, Bd. LXI (1987), S. 236- 237, hier S. 237. Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 255 Handlungsverlauf und betrachtet ihre Entscheidung als „pari“. 12 Monika Fludernik analysiert die verschiedenen Mosaiksteine der Figurencharakterisierung und meint, eine homosexuelle Beziehung zwischen zwei Männern werde durch die Summe der vergebenen Gender-Informationen nahegelegt. 13 Wer hat recht? Impliziert der Titel Sphinx, dass es sich bei der biologischen Identität der Figuren um eine Art Texträtsel dreht, das es zu lösen gilt? In einer Lehrveranstaltung am Institut für Romanistik in Graz haben sieben Studierende den Roman gelesen; in der Diskussion stellte sich heraus, dass alle vier der möglichen Interpretationen vollzogen worden waren: Das Erzähler-Ich war meist männlich, mehrfach aber auch als weiblich wahrgenommen worden, A*** als weiblich oder als männlich, sodass auch im Hinblick auf die Frage, ob es sich um eine homosexuelle oder heterosexuelle Beziehung handelte, keine Einigkeit herrschte: Jeder Leser, jede Leserin hatte Argumente, die ihn bzw. sie überzeugten oder hatte sich - um der Lesbarkeit des Romans willen - auf eine Variante eingestellt. Wie sehr man als Leser daran gewöhnt ist, die Figuren auf der Basis ihrer Geschlechtszugehörigkeit wahrzunehmen und zu interpretieren, erfährt man während der Lektüre von Sphinx an sich selbst. Informationen über Aussehen, Kleidung, Einstellungen, Verhalten, werden - selbst wenn man als Leser weiß, dass Garréta die sexuelle Identität der Figuren nicht festlegt - ständig darauf ausgewertet, ob diese nun eher auf einen Mann oder eine Frau hindeuten. Eigentlich stattet Garréta ihre beiden Hauptfiguren mit - im Sinne eines binären Gender-Denkens - so widersprüchlichen Eigenschaften aus, dass es nicht möglich ist, ihre Körper im Hinblick auf ihr Geschlecht zu kategorisieren. A*** hat einen wunderschönen, muskulösen Körper, den die Ich- Erzählinstanz mit Michelangelos Skulpturen assoziiert, A*** schminkt sich gern, interessiert sich für Kleidung, A*** ist nicht bereit, sich mit dem Erzähler-Ich auf eine monogame Beziehung einzulassen, hat einen „Adonis“ als Liebhaber, der die Eifersucht des erzählenden Ichs erweckt - usf. Durch den fehlenden Bezugspunkt treten Gender-Konzepte ins Bewusstsein, die sich mitunter, bei genauerem Hinsehen, als potenzielle Gender-Stereotype erweisen. Die systematische Verunsicherung, die Garréta erzeugt, beruht aber nicht nur auf einer Informationsvergabe, die gängige Gender-Konzepte und Gender-Stereotype widersprüchlich organisiert, sondern auch auf einer weit gehenden Neutralisierung: Diese kommt sprachlich durch die Wahl von neutralen Adjektiven und Begriffen zustande. Als das Erzähler-Ich ein einziges Mal von diesem Prinzip abweicht und sich selbst als „travelo en intellection, gigo- 12 G. M. M. Colvile, „Plaisir et chorégraphie de l’inter-texte: Sphinx d’Anne Garréta“, in: J. Brami, M. Cottenet-Hage, P. Verdaguer (Hrsg.), Regards sur la France des années 1980. Le roman, Saratoga 1994, S. 110-125, hier S. 111. 13 M. Fludernik, „The Generization of Narrative“, in: GRAAT 21 (1999), S. 153-175. Astrid Poier-Bernhard 256 lo en énamorations“ (170) bezeichnet, handelt es sich dabei zwar eindeutig um „masculine gendered terms“, wie Gill Rye feststellt; dennoch könne - „because of the figurative use of the terms and also because no feminine equivalents for them exist“ - daraus nicht eindeutig abgeleitet werden, dass es sich um ein männliches Erzähler-Ich handle: „The reader is led to recognize the way language encloses us in meaning and to accept his or her own complicity with reinforcing such meanings.“ 14 Darüber hinaus tritt die Differenz zwischen Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit zu Tage: In Pariser Nachtlokalen wird es mehr Tänzerinnen, aber auch männliche Tänzer geben, die Rolle von DJs ist eher eine männliche, kann aber auch von Frauen ausgefüllt werden; wäre es tatsächlich undenkbar, dass, wie Fludernik meint, ein Priester eine Theologiestudentin zum Abendessen einlädt und danach mit ihr einen Nachtclub aufsucht? Dem Priester werden durchaus gewisse erotische Interessen unterstellt - diese könnten sich ebenso auf einen jungen Mann wie auf eine junge Frau richten. In der Begegnung zwischen Roman und Leser bzw. Leserin geht es hier also nicht nur um die poststrukturale Infragestellung eines im Text liegenden, vom Leser zu eruierenden Sinnes, 15 sondern um ein implizites Bewusstmachen des Anteils, den der Leser bei der Konstruktion von Sinn - und Gender - hat. Natürlich könnte man hier einwenden, dass „der ideale Leser“ jemand ist, der nicht in die von Garréta geschickt gestellten Fallen fällt, doch in konventionellen Gender-Kategorien zu denken 16 oder, etwas weniger konventionell, die beiden als androgyne oder transsexuelle Wesen festzulegen. Es überrascht jedoch nicht, dass sich Garréta über die unterschiedlichen Lesarten, die in der Rezeption ihres Romans sichtbar wurden, durchaus erfreut zeigt, denn diese sind zweifellos der Beleg dafür, dass es der Autorin tatsächlich gelungen ist, die zentralen Figuren des Romans geschlechtsneutral - und damit als Projektionsflächen für Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit anzulegen. Wäre es, um das gesamte Bedeutungspotential des Textes im Hinblick auf die doch etwas rätselhafte Beziehung zwischen erzählendem Ich und A*** zu 14 G. Rye, „Uncertain readings and meaningful dialogues: Language and sexual identity in Anne Garréta’s Sphinx and Tahar Ben Jelloun’s L’Enfant de sable and La Nuit sacrée“, in: Neophilologus 84 (2000), S. 531-540, hier S. 533. 15 Vgl. z.B. R. Barthes: „Je lis le texte. Cette énonciation, conforme au ‚génie‘ de la langue française (sujet, verbe, complément) n’est pas toujours vraie. Plus le texte est pluriel et moins il est écrit avant que je le lise“ (S/ Z, Paris 1970, S. 16). 16 Das Bild der „Fallen“ verwendet Garréta selbst im Gespräch mit Eva Domenighini, wobei sie anmerkt: „Ou plutôt c’est un piège dans lequel on tombe pour sortir de celui dans lequel on était sans le savoir“ (Entretien avec Anne F. Garréta. Propos recueillis par Eva Domeneghini (13 octobre 2000), in: „Anne Garréta, littérature contemporaine. Présentation, bibliographie et analyse des œuvres. Manuscrits et premières de couverture“ , http: / / cosmogonie.free.fr/ index2.html (zuletzt besucht: 07.01.2010). Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 257 realisieren, im Grunde erforderlich, den Roman viermal zu lesen und den vier Varianten entsprechend zu interpretieren? Ist Sphinx eine Art „Four in One“- Roman, der dank einer effektvollen Contrainte das Bedeutungspotential des Textes vervierfacht? Oder ist es im Gegenteil so, dass diese Varianten für Garréta gar keinen so großen Unterschied ausmachen, dass es gar nicht darauf ankommt? Diese Annahme trifft es eher: Die interessanteste Lektüre bestünde für Garréta darin, sich tragen zu lassen und die Identifikation im Laufe der Lektüre immer wieder zu ändern. Sie bestünde eher in der Entscheidung für eine Vervielfachung der Identitäten als in einer monolithischen Identifikation mit dem einen oder dem anderen Geschlecht. Die Frage, ob es eine „nécessité d’identification en fonction de la sexualité“ gebe, verneint Garréta: Il n’y a pas de nécessité. Il y a un impératif qui est à la fois socialement et psychologiquement inscrit dans la plupart des lecteurs et qui les force à s’assimiler à une identité, une qu’ils bétonnent par tous les bouts et tous les moyens. Tout ce qui vient remettre en cause ou en question cette identification, qu’elle soit normative (selon le bon canon de la norme sociale) ou minoritaire, les gens semblent y tenir, dur comme fer, ne pas savoir comment être sans. Ce qu’ils demandent à la fiction, c’est non de remettre en question cela mais de les rassurer alors que la fiction peut être un espace possible dans lequel prendre de la distance, se désadhérer de ces constructions pour voir comment elles sont faites, à quoi elles servent, à qui, se poser la question de leur nécessité et de leur utilité. 17 Das Rätsel von Garrétas Sphinx besteht demnach nicht darin, das Geschlecht des erzählenden Ich und seines Liebespartners „herauszufinden“. Deutet der Umstand, dass sich die Mehrzahl der dem Roman gewidmeten Studien in irgendeiner Form mit dem Phänomen der „Degenderization“ beschäftigt, auf einen grundlegend falschen Zugang zum Roman? Liegt die Autorin Béatrix Beck richtig, die in ihrer Rezension meint, es wäre beinahe obszön danach zu fragen, ob die beiden Partner Mann oder Frau bzw. Männer oder Frauen sind? 18 Lediglich nach Argumenten zu suchen, welche die Annahme einer bestimmten Geschlechterkonstellation fundieren, wäre zweifellos eine allzu eingeschränkte Perspektive, gleichzeitig halte ich es aber nicht für unangebracht, über die Implikationen und Effekte der Contrainte nachzudenken, die den Roman in seiner Figurenkonzeption bestimmt. Das bedeutet jedoch nicht, 17 Entretien avec Anne F. Garréta, Propos recueillis par Eva Domeneghini, op. cit. Anna Livia, die „nongendered characters“ in der französischen und englischen Literatur untersucht, glaubt nicht daran, dass es sinnvoll bzw. möglich sei, sich bzw. den anderen geschlechtlich nicht zu identifizieren: „It doesn’t make sense to behave as though we are living in a non-gendered utopia because we may desire one“ (A. Livia, Pronoun envy: literary uses of linguistic gender, New York 2001, S. 37). 18 „Il serait presque obscène de se demander si les deux partenaires sont homme(s) et (ou) femme(s)“ (B. Beck, „Anne Garréta, certains sphinx ont des ailes“, in: Roman 16 [1986], S. 29-30). Astrid Poier-Bernhard 258 dass Garrétas Roman nicht noch wesentlich mehr Bedeutungspotenziale aufwiese. ' 6 $ Durch das enigmatische Incipit des Romans entsteht eine interessante Rahmung. Vor dem Hintergrund des Wissens um das Ende der Geschichte - das Ich wird bei einem Spaziergang im nächtlichen Amsterdam ermordet und erzählt in aller Ausführlichkeit seine Todeserfahrung - bekommt das Incipit noch ein weiteres Bedeutungspotenzial: Sphinx ist als postmortale Erzählung lesbar. Dem Anfang kann man gut folgen: Es handelt sich offensichtlich um eine Erinnerungserzählung, vermutlich um einen Roman in autobiografischer Form, wobei man überrascht sein könnte, dass das Ich nicht mehr genau weiß, wie lange die erzählten Ereignisse zurückliegen: „Me souvenir m’attriste encore à des années de distance. Combien au juste, je ne sais plus. Dix ou treize peut-être. Et pourquoi me faudra-t-il ne vivre qu’en souvenir, en mémoire? “ (9) Seine darauf folgende Selbstbeschreibung gibt allerdings gleich ein Rätsel auf: „Ame en quête d’incarnation, mais lourde déjà de trop de savoir ou corps fatigué de s’éprouver pensant et impuissant à la fois, tant l’a traversé cette obsession d’un ennui dont rien ou presque ne le divertit plus.“ (9) Abgesehen von einer möglichen (nicht markierten) Baudelaire-Referenz auf das Spleen-Gedicht Je suis le roi d’un pays pluvieux 19 interessieren hier die durch ein „oder“ verbundenen Appositionen, die beide Geist bzw. Seele und Körper miteinander in Verbindung bringen: Einmal wird der Zugang von der Seele her gewählt, die sich „inkarnieren“ will, sich aber aufgrund der Erfahrungen, die sie mit sich trägt, „schwer“ fühlt; das andere Mal bildet der Körper den Ausgangspunkt, der im selben Atemzug jedoch als „fatigué de s’éprouver pensant et impuissant à la fois“ bezeichnet wird. Dem Körper fehlt somit die eigentliche Körpererfahrung, die sinnliche Dimension, da er sich nur über das Denken erfährt: Die Descartes’sche Seinsbestimmung über das Cogi- 19 Im Spleen-Gedicht Je suis comme le roi d’un pays pluvieux (Ch. Baudelaire, Les Fleurs du mal (Spleen et idéal LXXVII), Paris 1975 [Ed. Pléiade], S. 74) erlebt sich das lyrische Ich als impuissant, es langweilt sich, sein Körper ist erschöpft: Gegenüber Baudelaires „corps hébété“ erscheint die Formulierung bei Garréta als Abschwächung; nichts kann ihn erfreuen: „rien ne distrait plus (…)“ wird bei Garréta zu „rien ne le divertit plus“. Im Satz darauf ist von den erwähnten „théorie de cadavres“ die Rede - in Baudelaires Gedicht wird der eigene Körper als „cadavre“ bezeichnet. Der Umstand, dass sich bei Baudelaire das Bett zum Grab verwandelt („son lit fleurdélisé se transforme en tombeau“), passt ebenfalls zur Metaphorik des leblosen Körpers. Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 259 to erscheint damit implizit zumindest als ungenügend. „Impuissant“ kann unterschiedlich gedeutet werden, aber auch als Hinweis darauf, dass die Seele in ihrem gegenwärtigen Sein schlicht keinen konkreten, physischen und damit sinnlich erfahrbaren Körper besitzt. Eine mögliche Lektüre des Romans als „mémoire d’outre-tombe“ ist also im Text angelegt, aber vermutlich nur eine Ausdrucksmöglichkeit für die Frage nach der Relation von Bewusstsein bzw. Seele und Körper, die der gesamten Erzählung zugrunde liegt. 20 Unmittelbar darauf begegnen wir einer Formulierung, die als Anspielung auf theoretische Ansätze gedeutet werden kann, welche vom Tod des Menschen als Subjekt ausgehen: „A l’époque, si je me souviens bien, je décrivais le monde comme un théâtre où auraient dansé, au bal macabre des pulsions, des théories de cadavres.“ (9) Die Verwendung des Begriffs „théories de cadavres“ ist ungewöhnlich. Erstens: Warum sollten Leichen tanzen? Zweitens: Warum verwendet Garréta das Wort „théories“, das nur in seiner literarischen, veralteten Bedeutung Prozession, Aufmarsch u.ä. heißt? Es sieht so aus, als distanziere sich das Ich der Gegenwart von seiner damaligen Sicht der Welt, in der es von postmodernen theoretischen Positionen beeinflusst war, die von einem „Tod des Subjekts“, jedenfalls einem Verlust jeglicher Subjektautonomie ausgehen. Gleichzeitig kündigt sich darin bereits eine Kritik an der unbewussten, maschinenartig tanzenden Masse in der Diskothek an, in der das Ich, vormals Theologiestudent bzw. Theologiestudentin als DJ tätig war. 21 Bevor das Ich von seiner Begegnung mit A*** zu erzählen beginnt, fasst es seine ganze Geschichte in Form eines metaphorischen Kommentars zusammen, der seinen Weg - überraschend krass - als „voie de l’enfer“ und „destin de fuite fascinée“ charakterisiert. Der Rhythmus der Musik in der Diskothek wird in einer Beschreibung vorweggenommen, die fragmentierte Körperbilder der tanzenden Menge mit traditionellen Höllenqualen in Verbindung bringt: Contemption et vocifération ne m’empêchaient pourtant pas de traquer la décomposition de valse en valse amoureuse. Nuits alanguies à dériver au gré de scansions syncopées, pulsations brèves; la voie de l’enfer s’étoilait de sourdes lanternes; un fond d'abîme se rapprochait indéfiniment; aux parois lisses du tourbillon dans lequel je me mouvais, je discernais les images déformées de corps extatiques, dans le râle lent et rauque des tortures de la chair à vif. 20 Ob im obigen Zitat das „oder“ zwischen den beiden Appositionen im Sinne von „vel“ oder im Sinne von „aut“ zu interpretieren ist, ist unsicher - „vel“ erscheint vom Fluss und Rhythmus des Satzes her natürlicher, „aut“ bzw. eben ein Spiel mit dem möglichen Doppelsinn ist jedoch nicht auszuschließen. Durch das „aut“ käme es zu einer klaren Opposition zwischen einer idealistischen und einer materialistischen Seinsauffassung. 21 Unter dieser Perspektive interpretiert Alain-Philippe Durand („Discothèques. Sur Sphinx d’Anne Garréta“, in: L’Atelier du roman, juin 1999, S. 126-134) den Roman. Astrid Poier-Bernhard 260 Mais je glissais et ne pouvais m’éprendre, m’interrompre et faillir à mon destin de fuite fascinée. Était-ce vraiment une imposture que d’aller nier la grâce là où je ne pouvais pas croire qu'elle ne résidât pas? Était-ce une hérésie de soutenir que la lucide traversée de l'enfer est voie directe de rédemption ? Tu ne me chercherais pas si tu ne m'avais pas trouvé; tu ne me désirerais pas si tu ne m’avais pas un jour tenu dans tes bras. (9f.) Bei den genannten Fragen ist offen, wer der Adressat ist: Spricht das Ich hier mit sich selbst? Ist es eine reine Selbstreflexion? Oder wendet es sich an Gott? Auf die zweite Frage, ob es häretisch sei zu behaupten, die luzide Durchquerung der Hölle sei der direkte Weg zur Erlösung, folgt eine als Zitat ausgewiesene Antwort. Sie kommt „von Gott“, seine Vermittler sind aber Augustinus in den Confessiones oder Pascal in den Pensées: „Tu ne me chercherais pas, si tu ne m’avais pas trouvé“. (9) 22 Gleich im Anschluss - d.h. noch innerhalb der Anführungszeichen - versieht die Autorin diesen die grundlegende Verbundenheit von Mensch und Gott herausstreichenden Gedanken - mit einer auf den Körper gemünzten, homosyntaktischen Variation: „tu ne me désirerais pas si tu m’avais pas un jour tenu dans tes bras“. (10) Die Frage nach der Beziehung von Mensch und Gott wird hier somit durch eine Frage nach dem Zusammenhang von Begehren und Erfüllung ergänzt. In der Folge beginnt Mallarmés vielfältige Präsenz durch den Text zu scheinen, die über den ganzen Roman im wahrsten Sinn des Wortes „disseminiert“ zur Wirkung kommt und eine ganz besondere Rolle in der Textgestaltung der Todesszene am Ende des Romans innehat. 23 Das Nachtlokal, in dem A*** tanzend auftritt, trägt den Namen L’Eden. Mallarmé sah in einem Theater namens Eden die Tänzerin „La Cornalba“, die ihn zu einer Reflexion über den Tanz bewegte. 24 Die Passage, die ich daraus zitiere, ist in zweifachem Sinn im Hinblick auf Garréta bedeutsam: Mallarmé abstrahiert von der Weiblichkeit der Tänzerin und sieht deren Bewegung als unmittelbare, reine Sprache, den Tanz als Gedicht: A savoir que la danseuse n’est pas une femme qui danse, pour ces motifs juxtaposés qu’elle n’est pas une femme, mais une métaphore résumant un des aspects élémentaires de notre forme, glaive, coupe, fleur, etc., et qu’elle ne danse pas, suggérant, par le prodige de raccourcis ou d’élans, avec une écriture corporelle ce 22 Bei Pascal heißt es: „Console-toi, tu ne me chercherais pas si tu ne m’avais pas trouvé“ (B. Pascal, Pensées, fr. 553, Paris 1964, S. 212). 23 Wie Colvile bemerkt, finden sich mit Ausnahme von „bibelot“ fast alle Wörter des berühmten Verses: „Aboli bibelot d’inanité sonore“ im Text verstreut. Es ist allerdings nicht, wie sie meint, der Vers, nach dem das erzählende Ich am Ende des Romans sucht. 24 Vgl. Colvile, „Plaisir et chorégraphie“, op. cit., S. 116. Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 261 qu’il faudrait des paragraphes en prose dialoguée autant que descriptive, pour exprimer, dans la rédaction: poème dégagé de tout appareil du scribe. 25 Wenn vorhin aber von der Hölle die Rede war, kann Eden nicht nur als Name gelten, sondern ruft auch seine eigentliche Bedeutung auf: das Paradies. Eden ist der Ort, an dem A*** tanzt, und stellt als Nachtlokal eine Art pervertiertes Paradies dar; die Faszination, die das Erzähler-Ich empfindet, die Bewunderung für A***’s Schönheit und Tanz sind davon jedoch vollkommen unbeeinflusst. Das Paradies scheint für das erzählende Ich untrennbar eine spirituelle und eine körperlich-sinnliche Komponente zu haben. Der Begriff der „illumination charnelle“, der „körperlichen Erleuchtung“, die das Ich in der Vereinigung mit A*** erfährt, bringt dies zum Ausdruck und bildet ein ideales Scharnier zu dem sich nun im Textverlauf abzeichnenden Herabsteigen in irdische, konkret lebensweltliche Gefilde: „Ses bras, douceur intense, série de scènes qui encore à ma mémoire font l’effet d’une illumination charnelle.“ (10) 26 Die letzte Passage des Incipits wird durch den schlichten, auf die Darstellung unmittelbarer Wahrnehmung abzielenden Zweiwortsatz „A*** dansait“ eingeleitet, der im Roman noch mehrmals aufgerufen werden soll. A***s Individualität ist durch das Fehlen eines Namens wie einer geschlechtlichen Identität als Subjekt aufgehoben - aufgehoben im Tanz. Das Ich konstituiert sich als betrachtendes Subjekt, löst sich aber sogleich in alle erdenklichen Betrachter auf, da die Schönheit von A***s Körper und Bewegungen kein „persönliches Urteil“ ist, sondern Schönheit an sich. Die Mutmaßung, dass die in diesem Incipit hergestellte Verbindung von Inkarnation und Erlösungsvorstellung mit der Seelen- und Ideenlehre Platons sowie dessen vielstimmiger Reflexion über den Eros im Zusammenhang steht, erhärtet sich durch die Wortwahl „apparition“ - Erscheinung: A*** dansait: j’ai passé des soirées à guetter son apparition sur la scène de l’Eden, cabaret bon ton de la rive gauche. Et qui ne se fût épris de cette charpente élancée, de cette musculature comme modelée par Michel-Ange, de ce satiné de peau dont rien de ce que j’avais connu jusqu’alors n’approchait? (10f.) 25 S. Mallarmé, Œuvres complètes, Paris 2003 (Ed. Pléiade), S. 170. 26 Der junge Mallarmé hatte 1867 geschrieben: „Je crois que pour être bien l’homme, la nature se pensant, il faut penser de tout son corps - ce qui donne une pensée pleine et à l’unisson comme ces cordes du violon vibrant immédiatement avec sa boîte de bois creux“ (S. Mallarmé, „A Eugène Lefebure“, in: Œuvres complètes, op. cit., S. 720). Und in dem Gedicht Prose - Pour Des Esseintes kreierte er in der achten Strophe mit der erfundenen Blumengattung „la famille des iridées“ einen Neologismus, einen schillernden Blütennamen, um die Verbindung von „désir“ und „idées“ in vollendeter Homophonie zum Ausdruck zu bringen: Gloire du long désir, Idées / Tout en moi s’exaltait de voir / La famille des iridées / Surgir à ce nouveau devoir. S. Mallarmé, in: „Prose (pour des Esseintes)“, in: Œuvres complètes, op. cit., S. 28-29, hier S. 28. Astrid Poier-Bernhard 262 Die Schönheit ist gewissermaßen „jenseits“ alles Bekannten, am ehesten noch mit der höchsten Formkunst eines Michelangelo vergleichbar; die französische Namensform beginnt mit einem gängigen menschlichen Namen, dessen etymologische Bedeutung jedoch „Wie Gott“ ist und die biblische Geschichte des Erzengel Michael evoziert; der zweite Teil ist als Engel überhaupt ein Bote Gottes, eine menschenähnliche, geflügelte Lichtgestalt. Die Zwitterwesen, die den Roman auf realer, mythologischer, symbolischer oder allegorischer Ebene kennzeichnen, werden vervielfacht. Eros hat in vielen Darstellungen einen männlichen Körper mit Flügeln. Durch die Formulierung „un dédale de portes et d’escaliers“ (17) rückt mit Dädalus Ikarus ins Bewusstsein. A*** wird öfter als göttlich bezeichnet und mit einem Engel verglichen, aber auch als Sphinx gesehen bzw. so genannt. In der griechischen Mythologie wird die Sphinx als geflügelter Löwe mit dem Kopf einer Frau oder als Frau mit den Tatzen und Brüsten einer Löwin, einem Schlangenschwanz und Vogelfedern dargestellt - womit die Hybridität noch gesteigert wird. „J’officiais à l'époque cinq soirs par semaine comme disquaire à l'Apocryphe, boîte de nuit à la mode en ces années-là“ (11), lautet der Schluss des Incipits, in dem die für den gesamten Roman charakteristische Verflechtung von traditionellem theologischem Vokabular (hier: „j’officiais“) und zeitgenössischer Lebenswelt bereits deutlich sichtbar wird. Sie ist Ausdruck der widersprüchlichen Identität des erzählenden Ich. Wie das Eden zwei Seiten hat, so auch der Name l’Apocryphe. Stistrup Jensen bezieht die Namen der Lokale direkt auf die Figuren bzw. deren Beziehung zueinander: „A*** travaille à ‚l’Eden‘, ce qui reflète son côté divin et originel et l’adoration que JE lui voue. JE travaille à ‚l’Apocryphe‘, signe de son authenticité douteuse, de son statut ambigu, non reconnu.“ 27 In seiner zweiten, hier angewandten Bedeutung ist apocryphe (nach Larousse) synonym mit „controuvé, faux, inauthentique“. Die postmoderne Thematik rund um Original, Kopie, Simulacrum ist tatsächlich ein immer wieder präsentes Moment des Romans. Wenn das Münchner Nachtlokal Sans nom vom Ich als Pendant des Apocryphe bezeichnet wird, könnte man darin einen Verweis auf die Namenlosigkeit des Ich sehen, auf das Fehlen einer Essenz. Aber auch an die erste Bedeutung des Begriffs - „Que l’Eglise ne reconnaît pas, n’admet pas dans le canon biblique“ - eröffnen sich Anschlussmöglichkeiten. Das Ich hatte als Studierender der Theologie offenbar ein geistiges und geistliches Interesse, führte das Studium seiner intellektuellen Begabung und seiner Aussicht auf eine akademische theologische Karriere zum Trotz jedoch nicht weiter. Der Grund dafür war seine Abneigung gegen 27 M. Stistrup Jensen, Les Voix entre guillemets. Problèmes de l’énonciation dans quelques récits français et danois contemporains, Odense 2000, S. 335. Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 263 fundamentalistisch denkende Studierende und einzelne dogmatisch Lehrende; nur die Vorlesungen eines Paters - Vorlesungen über die Inkarnation -, wie es nebenbei heißt - besucht es noch. Später, als es nach dem Tod von A*** seine theologischen Studien wieder aufnimmt, sind es die apophatischen, also mystischen Traditionen, die von jeder Benennung Gottes oder des Göttlichen absehen, für die es sich interessiert. ) " # C L J 9 Das Rätsel der griechischen Sphinx, auf die sich Garréta offensichtlich bezieht, scheint mit der Antwort, die Ödipus gefunden hat und die bekanntlich „der Mensch“ 28 lautete, nicht seine Lösung zu finden, sondern seine Gestalt, seine implizite Frage: Was hat es mit dem Menschen grundlegend auf sich, mit dem Sein als Mensch, mit dem menschlichen Bewusstsein und seinem Körper, mit seiner Fähigkeit oder Unfähigkeit, sich zu finden, dem anderen tatsächlich zu begegnen, nicht sich selbst, sondern ihn zu lieben? Zu diesen fundamentalen Fragen, die Garrétas Roman evoziert, gesellen sich noch einige historische Konkretisierungen derselben: Was bedeutet Menschsein in der postmodernen Gegenwart? Wie wirken sich lebensweltliche und technologische Entwicklungen auf unsere Selbst- und Körperwahrnehmung, auf unser Bewusstsein, unser Lebensgefühl, unsere sozialen Beziehungen aus? Und schließlich: Wie kann sich der zeitgenössische Mensch als spirituelles Wesen fassen: Gibt es gangbare Wege zwischen fundamentalistischen Glaubenshaltungen, zwischen einem ausschließenden, vorurteilsbehafteten Denken in Wert-Oppositionen und dem Verzicht auf den Versuch, sich als Subjekt metaphysisch zu verorten? In gewisser Weise scheint Sphinx ein Musterbeispiel für die narrative Umsetzung poststrukturaler theoretischer Positionen zu sein. Ohne Lacan, Derrida, Barthes, Foucault, Lyotard, Baudrillard, Kristeva und ihre Vordenker hätte Garréta ihren Roman nicht in dieser Form geschrieben. 29 Die Liste der Fragen, 28 Die Frage, die der griechischen Mythologie zufolge von Ödipus richtig beantwortet wurde, lautete: „Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein in der Zahl seiner Füße; aber eben, wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit bei ihm am geringsten.“ Die vollständige Antwort von Ödipus war: „Du meinst den Menschen, der am Morgen seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittag seines Lebens auf zwei Füßen, am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.“ Vgl. G. Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Stuttgart 1986, S. 259. 29 Möglicherweise bildet die Psychoanalyse bzw. Philosophie Lacans den Hintergrund für zentrale Konzepte des Romans: in Lacans Definition des Begehrens, in der Begrifflichkeit von objet petit a und grand A, in seiner Lektüre Descartes’ und Pascals, in der er den pari Astrid Poier-Bernhard 264 die Garrétas Roman aufwirft, erscheint unabschließbar. Es ist ein Text, der sein Ende zum Ausgangspunkt für seinen Anfang hat, bei dem unterschiedliche Zugänge möglich sind und sich eine Hierarchisierung der einzelnen, im Text angelegten Bedeutungsstrukturen nicht unbedingt aufdrängt. Er kommt somit dem „idealen pluralen Text“ im Sinn von Barthes nahe. Überraschende Ereignisse bzw. Handlungen tragen zu einer gewissen Befremdung bei, durch zahlreiche ungewöhnliche, teilweise sogar hermetische Formulierungen und die fehlende Definition der geschlechtlichen Identität der zentralen Protagonisten wird eine Bewegung des Fragens und Nachdenkens ausgelöst, durch seine auffällige Intertextualität gerät und bleibt die Zeichenhaftigkeit des Texts im Bewusstsein - obwohl der Roman eine durchaus vorstellbare Geschichte in einer dem zeitgenössischen Leser vertrauten Lebenswelt erzählt, also nicht davon die Rede sein kann, dass eine „structure de signifiés“ durch eine „galaxie de signifiants“ ersetzt würde, wie Barthes in S/ Z formulierte. 30 Von einem Text wie Sollers’ Nombres, den Derrida in La Dissémination analysiert 31 , sind wir in Sphinx weit entfernt. Garréta verbindet die Erzählung einer singulären Geschichte in der Zeit mit der Eröffnung eines mit unzähligen Anschlussmöglichkeiten versehenen Textraumes, so dass man bei der Lektüre den Eindruck hat, sich in einer gewissermaßen ausdehnenden Galaxie von Zeichen zu bewegen, deren Signifikanten eine Vielzahl potentieller Bedeutungsstrukturen bilden; diese entstehen jedoch nicht nur zufällig im eigenen Bewusstsein, sondern verdanken sich einem ganz bewusst geknüpften Netz an Bezügen und Sinnpotenzialen. Ohne Pascal, Stendhal, Balzac, Flaubert, ohne Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, Proust, Gide und eine ganze Reihe anderer Autoren (insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts) wäre Garrétas Roman ebenso wenig oder noch weniger das, was er ist. Es finden sich in Sphinx die unterschiedlichsten Spielarten intertextueller Bezugnahmen, von der mehr oder weniger markierten Integration einzelner Begriffe - wie Spleen oder ennui oder Titel wie [La] Parure, La chute, Les mains sales, Les nourritures terrestres, bis zur réécriture einzelner Sätze oder ganzer Passagen. Am auffälligsten ist eine sich über zwei Seiten hinziehende réécriture von Prousts Madeleine-Episode. 32 Die ironisch-humorvolle Brechung, die man hier während der Lektüre erlebt, beruht nicht auf einem simplen parodistischen Proust-Pastiche, sondern auf dem Umstand, dass dem - als eklektizistisch charakterisierten, polyphonen - Er- Pascals „korrigierte“, in seiner Beschreibung des Spiegelstadiums, auf das eine Schlüsselszene des Romans sehr deutlich verweist, wie in seiner Beschäftigung mit dem Unsagbaren. 30 R. Barthes, S/ Z, op. cit., S. 12. 31 J. Derrida, La Dissémination, Paris 1972. 32 Vgl. Sphinx, S. 130f. Prousts Recherche bildet den Hintergrund der Struktur bzw. Contraintes in Garrétas Roman La Décomposition. Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 265 zähler-Ich gar nicht aufzufallen scheint, in welchem Ausmaß das eigene Erleben durch Lektüren bestimmt ist, die es sich „einverleibt“ hat. Für Colvile, die sich in ihrer Studie dem „Plaisir de l’intertexte“ widmet, besteht ein „aspect policier“ der Lektüre des Romans „dans l’étrange sensation de ‚déja vu‘ (eigentlich wäre hier der Barthes’sche Begriff des „déjà lu“ 33 angebracht) qui revient sans cesse au niveau du signifiant. L’histoire se détache sur un patchwork d’intertextualité multiple qui sous-tend la diégèse.“ 34 Colvile liest Sphinx vor allem vom Ödipusmythos und Barthes’ Analyse der Balzac-Novelle Sarrazine aus, Stistrup Jensen stellt inhaltliche wie strukturelle Analogien zwischen Garrétas Roman und Camus’ Erzählung La chute fest. 35 Die Darstellung von A*** als Sphinx kann, wie Colvile darlegt, mit Mallarmés zweitem Text über den Tanz, Les Fonds dans le Ballet 36 , in Verbindung gebracht werden. Mir erscheint hier aber auch ein Hinweis auf das meistinterpretierte Gedicht Baudelaires, Les Chats 37 , angebracht. Baudelaire beschrieb die großen Katzen als stolze, geheimnisvolle Sphinxen, die sowohl von den „amoureux fervents“ als auch den „savants austères“ geliebt werden. Das erzählende Ich erlebt den geliebten Körper als katzenhaft und verwendet „Mon sphinx“ als Kosenamen: Il y avait du chat ou de la divinité dans ce corps qui, mû par quelque inquiète volupté, exprimait dans la nonchalance du pas une languide damnation ou immémoriale fatalité faite geste. (…) A*** avait alors du sphinx (…) la pose dédaigneuse, 33 R. Barthes, „De l’œuvre au texte“, in: Revue d’esthétique 24 (1971), S. 225-232, hier S. 229. 34 G. M. M. Colvile, „Plaisir et chorégraphie“, op. cit., S. 112. 35 M. Stistrup Jensen, Les Voix entre guillemets, op. cit., S. 234. 36 S. Mallarmé, „Autre étude de danse. Les fonds dans le ballet“, in: Œuvres complètes, op. cit., S. 174-178. 37 Les Chats Les amoureux fervents et les savants austères Aiment également, dans leur mûre saison, Les chats puissants et doux, orgueil de la maison, Qui comme eux sont frileux et comme eux sédentaires. Amis de la science et de la volupté Ils cherchent le silence et l’horreur des ténèbres; L’Erèbe les eût pris pour ses coursiers funèbres, S'ils pouvaient au servage incliner leur fierté. Ils prennent en songeant les nobles attitudes Des grands sphinx allongés au fond des solitudes, Qui semblent s’endormir dans un rêve sans fin; Leurs reins féconds sont pleins d’étincelles magiques, Et des parcelles d’or, ainsi qu’un sable fin, Etoilent vaguement leurs prunelles mystiques. Ch. Baudelaire, Les fleurs du mal (Spleen et idéal LXVI), op. cit., S. 66. Astrid Poier-Bernhard 266 l’esthétique aiguë. Je m’en fis la réflexion et, riant finalement l’apostrophai ainsi: „mon sphinx“ comme j’aurais dit „mon amour“. (118f.) Macht man aus dem Pluralsubjekt des Sonetts Les Chats einen Singular, findet sich darin überdies eine überraschend genaue Beschreibung des Ichs: Dieses ist ein „amoureux fervent“ und, als Studierender der Theologie, ein „savant austère“, und liebt A***, d.h. eine Person, deren Beschreibung mit der Baudelaire’schen Darstellung der sphinxgleichen Katzen zusammenfällt. Da A*** nicht irgendein Revuetänzer bzw. eine Revuetänzerin ist, sondern - im gegebenen Rahmen - ein Star, ist auch die Apposition „orgueil de la maison“ kongruent. Durch den Vergleich, den Baudelaire zwischen den menschlichen Katzenliebhabern und den Katzensphinxen herstellt, kann der Vers „Ils cherchent le silence et l’horreur des ténèbres“ auch auf das Ich bezogen werden, das aus seinem stillen, zurückgezogenen Studienleben, in dem es sich mit Fragen der Metaphysik auseinandersetzte, plötzlich in die Pariser Nachtwelt abtaucht und sich als DJ auf „die Schrecken der Finsternis“ einlässt. Das Erzähler-Ich ist weiß und kommt aus dem französischen Bildungsbürgertum, wurde offenbar von seiner Großmutter aufgezogen und entbehrt jeglicher familiärer Bindungen. A dagegen ist schwarz - „A noir“, wie Rimbauds Gedicht Voyelles es vorzugeben scheint - und stammt aus Harlem, lebt somit weit von seiner großen Familie entfernt, die das Paar, welches das „Ich“ und A*** nach langer Annäherung schließlich werden, bei seinen regelmäßigen Besuchen in New York aufwändig bekocht, was das im Sozialkontakt zurückhaltende und eher asketische Ich zum ersten Mal auf den Geschmack der „nourritures terrestres“ bringt. A propos: Wäre nicht vielleicht Les Nourritures terrestres von André Gide ein Stichwort für den nächsten Loop, der uns, wenn wir ihm folgten, ein Stück weit von den im Roman erzählten Ereignissen und Entwicklungen entfernt, um uns diese von einem anderen Blickpunkt, in einer anderen Rahmung zu zeigen? Wäre es nicht auch möglich, Sphinx von Gide her aufzurollen (der ja auch eine Ödipus-Bearbeitung verfasst hat) oder von Oscar Wildes De profundis her, worauf der Roman ebenfalls anspielt? Vielleicht soll das Gebet De profundis, welches das Erzähler-Ich für Michel, den ersten Toten des Romans, nicht in der Lage war zu sprechen, auf die Suspiria de Profundis des englischen Essayisten Thomas de Quincey verweisen, der überhaupt das Gehirn als Palimpsest bezeichnete und dies bereits 1845? - What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? Such a palimpsest is my brain; such a palimpsest, O reader! is yours. Everlasting layers of ideas, images, feelings, have fallen upon your brain softly as light. Each succes- Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 267 sion has seemed to bury all that went before. And yet in reality not one has been extinguished. 38 Des Weiteren könnte uns das De Profundis aber auch wiederum mit Platon in Verbindung bringen, denn Michel stirbt an einer Überdosis von Drogen in den tief gelegenen Toiletten der Diskothek L’Apocryphe, wo sein Leichnam auf schockierend pietätlose Weise in einer Klärgrube entsorgt wird. Die Diskothek, in der das Ich unmittelbar nach dem Tod des DJ Michel als DJ eingesetzt wird, wird mehrfach als jene „Höhle“ ins Bild gesetzt, die Platon für sein Höhlengleichnis benützt: L’Apocryphe! Nuit rouge et non pas noire. Rien ne s’y dévoilait jamais de son essence ambiguë, entre bordel et boucherie, qu’à qui savait déchiffrer le reflet des miroirs. Il y fallait tout deviner, saisir sans preuve les paroles venues sur les lèvres, les signes fugitifs, incidents que le miroir captait (…). (26) Nicht zuletzt kann man den erwähnten Psalm De Profundis, der für das Seelenheil eines Toten gesprochen wird, aber auch selbst in den Blick nehmen - dabei stößt man auf den Begriff der „redemptio“, der schon im Incipit auffiel. 39 In der gegebenen Romansituation, die im höchsten Grade abstoßend und „heillos“ ist, erscheint allein der Gedanke an ein De Profundis als absurder, geradezu lächerlicher Reflex einer Person, bei der kurz die Erinnerung an ein traditionelles, ihr offenbar vertrautes Mittel aufblitzt, für das in der gegenwärtigen Lage nicht der geringste Raum ist. 40 Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass man bei der Lektüre von Garrétas Text, um mit Oskar Pastior zu sprechen, sehr rasch „Vom Sichersten 38 T. de Quincey, „Suspiria de Profundis“, in: Confessions of an English Opium-Eater and Other Writings, London 2003, S. 150. Im Zusammenhang mit ihrem Roman La Décomposition erwähnt Garréta eine andere Schrift de Quinceys: „Du meurtre considéré comme l’un des beaux-arts. L'essai de de Quincey est une parodie violente de la morale kantienne“ (Entretien avec Anne F. Garréta. Propos recueillis par Frédéric Grolleau, op. cit.). 39 Ich zitiere hier einen Abschnitt daraus, der mit dem Begriff der „redemptio“ endet (De profundis, Psalm 130): Sustinuit anima mea in verbo eius: speravit anima mea in Domino. A custodia matutina usque ad noctem: speret Israel in Domino. Quia apud Dominum misericordia: et copiosa apud eum redemptio. 40 Francine Dugast-Portes betrachtet das Oxymoron als zentrale Stilfigur von Garrétas écriture, die sie zurecht von zahlreichen effets paroxystiques gekennzeichnet sieht. Die Szene der Leichenentsorgung in der Diskothek könnte als Musterbeispiel für eine solche Zuspitzung von Kontrasten und Widersprüchen angeführt werden (F. Dugast-Portes, „Anne F. Garréta: jeux de construction et effets paroxystiques“, in: N. Morello, C. Rodgers (Hrsg.), Nouvelles écrivaines: nouvelles voix? Amsterdam-New York 2002, S. 159-179). Astrid Poier-Bernhard 268 ins Tausendste“ 41 kommt. In der Galaxie der Zeichen erleben wir Echos aus unserer gesamten Kultur, von der Antike bis zur Gegenwart, insbesondere aus Mythologie, Philosophie und Literatur. Es scheint, als wäre beinahe jedes Wort mit einem oder sogar mehreren Links versehen und diese wiederum untereinander vernetzt. 42 Aber was will Garréta damit? Hält sie es für notwendig zu belegen, dass die Wörter, die wir benutzen, immer schon von den Spuren geprägt sind, die andere Sprecher mit ihren jeweiligen Absichten in ihnen hinterlassen haben, wie Bachtin dies in seiner Theorie der Dialogizität gefasst hat? 43 Geht es um Barthes’ Textbegriff als vieldimensionalem Raum, als Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur, wie er ihn in seinem bekannten Aufsatz vom „Tod des Autors“ 44 formulierte? Oder um Derridas unendliches Spiel differenzieller Relationen? Oder befinden wir uns in Borges’ unendlicher Bibliothek? In gewisser Weise trifft dies alles zu. Gleichzeitig gibt es einige Kräfte, die zu diesen zentrifugalen Tendenzen in ein interessantes Spannungsverhältnis treten. Zunächst wird ja ein Abschnitt einer Lebensgeschichte in subjektzentrierter Ich-Form erzählt, einer Geschichte, die ebenso als „éducation sentimentale“ lesbar ist wie als Thanatographie mit impliziter Memento mori- Funktion: Drei Tode prägen die Entwicklung des Ich: Der erste ist der Drogentod des DJ Michel, zu dessen Tod das Erzähler-Ich zufällig hinzukommt und dessen Rolle es übernimmt; der zweite ist der Tod des geliebten Partners A***, mit dem sich aber keine längerfristig glückliche Beziehung entwickeln ließ: A*** stirbt, kurz nach einer Auseinandersetzung, während einer Tanzaufführung durch einen Sturz von einer Stiege an einem Genickbruch. Der dritte ist, sieben Jahre später, der Tod von A***s Mutter in New York, welche das Ich in deren letzter Phase begleitet, zugleich aus Liebe und aus einer Art von Schuldgefühl gegenüber A***, zumal es nach dem Tod von A*** nicht nur unter dessen Verlust litt, sondern auch unter all dem, was sich in ihrer Verbindung nicht hatte verwirklichen lassen. Von dem Moment an, da dem Ich bewusst wird, dass es mit dem Tod von A***s Mutter jegliche echte Verbindung zum Leben verloren hatte - die akademischen Kontakte waren ohne 41 So lautet der Titel des ersten von Oskar Pastior in Westdeutschland publizierten Gedichtbandes (O. Pastior, Vom Sichersten ins Tausendste, Frankfurt/ M. 1969). 42 Verschaltet man z.B. Platons Höhlengleichnis und Wildes De profundis, wäre eine solche Vernetzung jenseits der Textoberfläche in der Umkehr des Zusammenhangs von Gefangenschaft und Erkenntnis zu sehen: Oscar Wilde schrieb De Profundis während seiner Haft; sein Gefängnisaufenthalt war die Quelle mannigfacher Einsichten. In Platons Höhlengleichnis sind die Menschen in einer Höhle festgebundene Gefangene und daher nicht in der Lage, die Erscheinungen richtig zu deuten. 43 M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/ M. 1979, S. 157. 44 R. Barthes, „La mort de l’auteur“, in: ders., Le bruissement de la langue, Paris 1984, S. 61- 67. Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 269 Bedeutung - scheint es selbst den Tod in sich zu tragen. Es entscheidet sich für eine Aufarbeitung seiner Geschichte, zieht sich zurück und schreibt diese nieder; kaum hat es diese beendet und fühlt sich dadurch einigermaßen befreit, wird es allerdings in einem zwielichtigen Viertel von Amsterdam ums Leben gebracht: Tod Nummer 4, bei dem das Bewusstsein, wie wir gesehen haben, aber nur den Körper zu verlieren scheint. Zwischen der intertextuellen Polyphonie des Ich und der Ich-Form des Erzählens, die neben der fonction proprement narrative (Genette) vor allem aus Reflexionen besteht, ergibt sich eine interessante Spannung. Das Ich ist so vielstimmig wie überhaupt nur denkbar; es scheint aus nichts anderem zu bestehen als aus verschiedensten miteinander verwobenen Diskursen unserer gesamten theologischen, philosophischen und literarischen Kultur - und doch bildet es ein Zentrum aus, das sich innerhalb der Stimmen, von denen es geprägt ist, zu situieren versucht, das sich durch Selbstreflexion zu verstehen sucht. Stistrup Jensen unterstreicht zunächst die auffällige Fragmentiertheit, „Leerheit“ und Polyphonie des Ich, kommt aber auch zu dem Schluss, dass die Ich-Erzählinstanz einen klaren Bezugspunkt darstellt und man sich als Leser nicht im kulturellen Stimmengewirr verliert: Pour conclure sur Sphinx, on peut dire que s’il se présente comme un texte aux nombreux éléments polyphoniques, on ne se perd pas vraiment dans ses voix. Ces voix sont presque toutes ramenées à une sorte de centre, le moi-narrateur, qui, bien qu’il paraisse éclaté ou réfracté par de multiples facettes, constitue néanmoins le noyau du récit. En fait, c’est la perspective et la/ les voix du moi-narrateur qui dominent le récit. 45 Der Roman stellt auf der Ebene des Erzählvorgangs einen komplexen Innenweltdiskurs vor, und auch auf der Ebene des Erzählten erleben wir das Ich als suchende, denkende, trauernde, sich in Schuldgefühlen verstrickende, sich daraus durch das Schreiben mehr oder minder befreiende und dabei ständig reflektierende Person. Dass uns kein Name zur Verfügung steht und wir über keine Informationen bezüglich des Geschlechts verfügen, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Als weitere zentripetale Kraft fungiert die Sprachverwendung, die mit einer interessanten „Hörbarkeit“ der Erzähler-Stimme einhergeht. Auch wenn Garréta sagt, sie identifiziere sich nicht mit ihren Erzähler-Figuren, was in Bezug auf deren Denken und Verhalten zutreffen mag, schenkt sie ihnen doch ihre Stimme und ihre differenzierte sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Garrétas Satzbau ist bei aller Komplexität immer präzise, musikalisch, rhythmisch komponiert - Laute und Bilder werden aufeinander abgestimmt wie in den symbolistischen Gedichten, auf die die Autorin nicht nur anspielt, sondern 45 M. Stistrup Jensen, Les Voix entre guillemets, op. cit., S. 146. Astrid Poier-Bernhard 270 deren poetische Kraft und Dichte sie offenbar zu nützen versteht: „Je ressens à présent la blessure infligée“ (230) ist eigentlich ein ausgesprochen euphonischer - „klassischer“ - Alexandriner. Abgesehen von der Integration neuester „zeitgenössischer“ technischer oder alltagssprachlicher Vokabeln hat diese Ausdrucksweise etwas überraschend Unzeitgemäßes. Man könnte den Begriff der „dissonantischen Schönheit“, den Friedrich im Zusammenhang mit Baudelaire geprägt hat, auf Garréta münzen und doppelt interpretieren: Wie bei Baudelaire wird eine in vielem hässliche, brutale oder schmerzliche Lebenswelt in kunstvoller, suggestiv schöner Form dargestellt; eine Dissonanz ergibt sich aber auch durch die Konfrontation des Paradigmas der Moderne mit dem der Postmoderne und einer Lebenswelt, die im Roman durch Fragmentierung, Bewusstseins- und Identitätsverlust, eine Befriedigung durch Surrogate und einen Verlust von Wertorientierung gekennzeichnet wird. Das Erzähler-Ich, das dank seiner Bildung, aber auch dank seiner metaphysischen Sehnsucht die Moderne noch in sich trägt, ist mit einer Welt konfrontiert, in der eine scheinbare „Leichtigkeit des Seins“ mit einer problematischen „Austauschbarkeit von identitätslosen Individuen“ 46 einhergeht, wie Peter V. Zima sie als Signum der Postmoderne betrachtet. Die Sprache erweist sich als Halt, als eine Kraft, die dem Auseinanderdriften, der Auflösung von Subjektivität im offenen Raum der sich kreuzenden Diskurse und Sinnpotentiale etwas entgegensetzt. Auf die Frage, warum sich Garrétas Erzähler-Figuren immer so höflich verhalten, gibt Garréta eine Antwort, die auch auf das erzählende Ich in Sphinx zutrifft und zugleich die intendierte Funktion des intertextuellen Textgeflechts verdeutlicht: Tous mes narrateurs sont des sujets pris entre deux cultures et deux époques, sujets contradictoires qui ont hérité quelque chose d’une culture classique qui ne cesse de revenir sous la forme de l’intertexte, de la citation, de la répétition de scripts ou de romans anciens qu’ils connaissent ou pas, mais qui agissent à travers eux. Et d’autre part ils sont jetés dans un monde où les formes anciennes n’ont plus de sens et ils doivent donc faire du sens dans un monde où les formes selon lesquelles leur subjectivité ou leur identité se manifeste n’ont plus de sens. La politesse est l’un des paramètres de cette contradiction des sujets. Ce sont des narrateurs tissés d’une époque révolue où régnaient certaines formes de l’interaction sociale, de la culture et qui sont jetés dans un monde de machines, dans un monde de corps désincarnés ou décorporés, et qui doivent faire avec. Leur politesse est alternativement tragique ou comique. 47 46 Vgl. P. V. Zima, Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen 2001, S. X. 47 Entretien avec E. Domenighini, op. cit. Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 271 Als „insufficiently postmodern“ bezeichnete sich Garréta einmal in einem Gespräch mit Josyane Savigneau. 48 Das dichte Geflecht von Intertexten, das Garrétas Roman prägt, schreibt sich in das für die Postmoderne typische Spiel mit Zitaten, 49 Anspielungen und Bedeutungen ein, auf der anderen Seite wird hier ein Ich entworfen, das mit den Texten der Moderne und gewissermaßen durch diese lebt. Der gesamte Roman könnte auch als Metaroman gelesen werden, der nichts anderes zum Gegenstand hat als die Verabschiedung des Subjekts durch die von „théories de cadavres“ geprägte Postmoderne. Das Erzähler-Ich, das am Ende des Romans ermordet wird, ist das melancholische, zerrissene, suchende Subjekt der Moderne. Dem Ich, das sich durch die Niederschrift des Erlebten als Subjekt zu fassen versuchte, bleibt keine Zeit für eine neue, gesammelte Lebensphase: Sobald es die Rekonstruktion seiner Erinnerungen beendet, fällt es einem Raubüberfall zum Opfer. Da sich alle nahen Verbindungen zuvor aufgelöst haben, weiß man, dass der Tod des Ich ebenso unbemerkt vonstatten gehen wird, wie der Tod des DJ Michel: Der Mensch erscheint austauschbar, unwesentlich. Je nachdem, ob man den Tod des Ich aus der Innenperspektive mitverfolgt, in der er geschildert wird, oder von außen, als Ereignis auf der Ebene der Geschichte, erscheint er tragisch oder banal bzw. anders formuliert: modern oder postmodern. * QQQ : < B # / R 0 0 ,- $ Abschließend möchte ich nun noch einer der in Sphinx quasi mehrspurig angelegten Sinnstrukturen nachgehen, die Garréta nicht im Sinne klarer Rezeptionsperspektiven entwirft, sondern als Hypothesen betrachtet, die durch das fiktive romaneske Universum „getestet“ werden. 50 Die mit Platons Erkenntnis- und Seelenlehre hergestellten Verbindungen drängen nicht nur als punktuelle Anspielungen ins Bewusstsein, sondern bilden einen regelmäßig aktualisierten Subtext und damit einen potentiellen Hintersinn. An der Textoberfläche finden wir die bekannte Lebenswelt vor, die illusionäre Welt der Erscheinungen, dahinter Platons Reich der reinen Ideen. 48 A. F. Garréta and Josyane Savigneau, „A conversation“, in: Yale French Studies 90 (1969), S. 214-34, hier S. 218. 49 Vgl. P. V. Zima, „Intertextualität und Subjektivität in der Nachmoderne“, in: ders., Das literarische Subjekt, op. cit., S. 185-240. 50 „Il n’y a pas de thèses, il n'y a que des questions. Ce sont plutôt des fictions hypothétiques comme on en fait parfois en logique, ou dans les sciences. On se dit: Et si? Alors... , on construit un univers autonome pour tester une hypothèse“ (Entretien avec Eva Domenighini, op. cit.). Astrid Poier-Bernhard 272 Mehrmals im Roman beschreibt sich das Ich als „Schatten“. Die Grundthematik des Eros sowie einige Textstellen führen zum platonischen Phaidros- Dialog. Einige rätselhafte Aspekte des Romans klären sich vor diesem Hintergrund. Der Beweis, den Sokrates für die Unsterblichkeit der Seele liefert, bildet die Basis; die weitere Beschreibung von der möglichen Wiedererinnerung der Seele weist das Erzähler-Ich als ein Wesen aus, das die Erinnerung an das Schöne in sich trägt und durch die Erfahrung der Liebe - zu A*** - an ihre „göttliche Heimat“ erinnert wird. All die Federn und Flügel, die im Text aufscheinen, berühren das sokratische Bild des „Seelengefieders“. Handelt es sich nach Sokrates um eine -„vollkommene, befiederte Seele“, setzt sie „zum Höhenflug an und durchwaltet den ganzen Kosmos; die aber ihr Gefieder verloren hat, treibt so dahin, bis sie sich an irgend etwas Festes heftet“ 51 - letzteres trifft offenbar auf die melancholische Seele des Ich-Erzählers zu, die sich ja eingangs als eine sich nach Inkarnation sehnende Seele definiert. Der Platonismus bildet somit einen Texthintergrund, der sich v.a. auf der Bild- Ebene des Textes manifestiert. Daneben finden sich Hinweise auf mystische Traditionen des Christentums, deren Weltbild auf neuplatonischen Lehren beruht: Das theologische Arbeitsfeld des Erzähler-Ichs sind die „apophatischen Traditionen“ (137), die im Gegensatz zu den kataphytischen Traditionen darauf verzichten, über Gott irgendeine Form von direkter Aussage zu machen. Schließlich kann man beobachten, dass nicht nur der Name von A*** mit drei Sternchen versehen wird. Auch der Padre wird zunächst als Père*** eingeführt, bei einem Aufenthalt in München - also „apud Munichen“, bei den Mönchen, wie der Name der Stadt etymologisch gedeutet wird, kann das Ich A*** zu seiner Freude dazu überreden, eine barocke Kirche zu besuchen: Saint***. Mit den Sternchen wird also nicht nur der Eigenname abgekürzt oder getilgt - die Sternchen haben somit - als formales, reines Zeichen - ihren Sinn, ihre Hinweisfunktion jenseits von Sprache. Mit Mallarmé, dem Dichter, den das Unsagbare am meisten beschäftigt hat, endet das Buch: Das Erzähler-Ich stirbt - gewissermaßen als „cygne d’autrefois“, als Schwan bzw. Zeichen von einst -, auf der Suche nach der Fortsetzung der berühmten Verse Mallarmés „Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui / Va-t-il nous déchirer avec un coup d’aile ivre“: 52 51 Platon, Phaidros, Hrsg. Wolfgang Buchwald, München 1964, S. 61. 52 S. Mallarmé, op. cit., S. 36. „Das reine, lebensvolle, schöne Heut und Jetzt / Wird’s uns mit einem trunknen Flügelschlag aufreißen“ (P. V. Zima, Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg 2005, S. 52f.). Zahlreiche Wörter der beiden Verse, die das Erzähler-Ich zu erinnern versucht - Ce lac dur oublié que hante sous le givre / Le transparent glacier des vols qui n’ont pas fui! - bzw. darüber hinaus weitere Wörter des Gedichts werden von Garréta in der Darstellung der Todesszene aufgegriffen. Im Satz „Passe sur mon visage l’effleurement d’un coup d’aile, la caresse des plumes d’un éventail dont tu jouais… Eden, Eden“ (229) wird Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 273 Je suis là sans mot dire tandis que continue de me hanter l’incomplétude de ces vers oubliés. Il me semble que je suis immobile dans ce décor glacé depuis un très long moment; je me détache et m’éloigne de mon corps comme pétrifié, je le considère, érigé au bord d’une eau durcie par le gel où il se mire, simulacre et son reflet. Au gré d’un songe froid, mon esprit divague, emporté au loin par ces deux vers en quête du fragment symétrique dont la chute dans l’oubli leur ravit sens et harmonie. (228) Die Auswahl gerade dieses Gedichts als Intertext für die Schlussbzw. Todesszene ist in mehrfachem Sinn bedeutsam. Einmal im Zusammenhang mit dem Unsagbaren. Peter V. Zima konstatiert in seiner Analyse von Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui: „Wie im Falle von L’Azur haben wir es hier mit einer metaphorischen Inszenierung der sprachlichen Situation der Dichtung zu tun, die vom Verstummen bedroht wird: von der Unmöglichkeit, das Unsagbare zu sagen und das undarstellbare Erhabene darzustellen.“ 53 Gleichzeitig liest Zima das Gedicht als „eine nostalgische Kritik an Hugo und Baudelaire“, als „eine Erinnerung an die Zeit, als in der Lyrik Hugos und Baudelaires die Freiheit des poetischen Wortes noch unproblematisch erschien“. 54 Auch dieser Aspekt der Nostalgie, der sich besonders im Vers „Un cygne d’autrefois se souvient“ ausdrückt, passt gut in das Schlussbild des Romans. Wenn das erzählende Ich um die Erinnerung an das fehlende „fragment symétrique“ ringt, das erst die Erfahrung von „Sinn und Harmonie“ ermögliche, ist diese in einem übertragenen Sinn mehrfach deutbar: Im Hinblick auf das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz erscheint das A gefolgt von drei Sternchen - in platonischer Rahmung - als Mallarmés A-zur. Auf der menschlichen Beziehungsebene ist das symmetrische Fragment das Du, der Partner: Das Ich und A***, worin - zufällig oder nicht - exakt das Thema eines Liebesgedichts von René Char mit dem Titel A*** besteht: A*** Tu es mon amour depuis tant d’années Mon vertige devant tant d’attente, Que rien ne peut vieillir, froidir ; Même ce qui attendait notre mort, Ou lentement sut nous combattre, Même ce qui nous est étranger, Et mes éclipses et mes retours. die Überlagerung von Mallarmé-Referenzen und einem Element der Geschichte - dem Requisit von A*** - besonders deutlich. 53 P. V. Zima, Ästhetische Negation, op. cit., S. 53. 54 Ibid. Astrid Poier-Bernhard 274 Fermée comme un volet de buis Une extrême chance compacte Est notre chaîne de montagnes, Notre comprimante splendeur. Je dis chance, ô ma martelée ; Chacun de nous peut recevoir La part de mystère de l’autre Sans en répandre le secret; Et la douleur qui vient d’ailleurs Trouve enfin sa séparation Dans la chair de notre unité, Trouve enfin sa route solaire Au centre de notre nuée Qu’elle déchire et recommence. Je dis chance comme je le sens. Tu as élevé le sommet Que devra franchir mon attente Quand demain disparaîtra. 55 Indem die Liebenden, wie es in der dritten Strophe heißt, in ihrer Vereinigung „la part de mystère de l’autre“ aufnehmen können, findet ein tiefer Austausch statt, der die im Roman evozierte Problematik von narzisstischer Liebe auf der einen Seite, und zu großer Fremdheit und Trennung auf der anderen Seite, überwindet. Die dritte „Zweiheit“, deren Auflösung implizit nahegelegt wird, ist die zwischen Geist und Körper. Der Wunsch nach Inkarnation kann unabhängig von der postmortalen Erzählsituation und dem platonischen Reinkarnationsgedanken als Suche nach einer integrierten Geist-Körper-Erfahrung verstanden werden. In einem Interview stellt Garréta die „décorporation“ als problematische Tendenz des Menschen und insbesondere der Gegenwart dar: L’homme est un animal qui „fictionne“ tout le temps. Le plus inquiétant n’est pas, me semble-t-il, la menace de déréalisation dans des fictions mais plutôt celle de la „décorporation“, la „désincarnation“. Ce sont les deux faces du dualisme, esprit immatériel d’un côté et corps matériel de l’autre. 56 55 R. Char, „A***“, Œuvres complètes, Paris 1983 (Ed. Pléiade), S. 762. P. Schunck („René Char, „A***“, in: H. Hinterhäuser [Hrsg.], Die französische Lyrik. Von Villon bis zur Gegenwart II, Düsseldorf 1975, S. 341-348, hier S. 341) übersetzt den Titel mit „An***“. Der Umstand, dass Char die Sternchen unmittelbar auf das A folgen lässt, spricht aber eher dafür, dass die Sternchen hier für einen Vornamen stehen. 56 Entretien avec Anne Garréta, Propos recueillis par Frédéric Grolleau, op. cit. Subjekt- und Körper(de-)konstruktion 275 In dieser Lektüre repräsentiert das Erzähler-Ich den reflexionsfähigen Geist, A*** den beweglichen, tanzenden Körper. Die Sehnsucht nach „Inkarnation“ bedeutet dementsprechend die Sehnsucht nach der Wiedereroberung und Integration des Körpers in ein Bewusstsein, das - wie es im Incipit hieß - es leid ist, sich nur als denkend zu erleben. Das Wechseln und Vermischen der Ebenen, auf denen der Roman lesbar ist - psychologische, philosophische, gesellschaftskritische - soll der Tendenz zur nicht reflektierten Identitätskonstruktion entgegenarbeiten. Die im Roman vollzogene Identitäts(de)konstruktion steht im Zeichen eines intendierten Bewusstseinsgewinns: Selbst wenn es kein fassbares Selbst gibt - wie es ja auch keine unabhängige, in sich bestehende Welt und kein kleinstes Teilchen gibt - verfügt der Mensch doch in jedem Augenblick seines Lebens über einen Körper - als Erlebensgrundlage für sein Bewusstsein wie als Kontaktfläche zur Welt. Ich-Identität und Wirklichkeit als autonome Größen werden dekonstruiert, aber das Leben im Sinne eines lebendigen, bewussten und gestaltbaren menschlichen Seins wird nicht relativiert, im Gegenteil. Eine in diesem Sinn radikale Dekonstruktion erscheint Garréta längst überholt: „Il y a déjà longtemps qu’on a arrêté de faire semblant qu’il n’y ait ni sujet ni corps dans la quête du sens“, sagte Garréta im Interview mit Frédéric Grolleau, und in Bezug auf die Verantwortlichkeit des zwar nicht autonomen, aber eben doch handlungs- und entscheidungsfähigen Subjekts: „Toute la question morale se résume à savoir les effets du sens sur ses interprétants.“ 57 Es eröffnen sich andere Möglichkeiten des Denkens und des Mensch-Seins, wenn man in der Lage ist „de se défaire des catégories de l’identification sociale, de leur pente, de leur poids“. 58 # Bachtin, M., Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/ M. 1979. Barthes, R., S/ Z, Paris 1970. Barthes, R., „De l’œuvre au texte“, in: Revue d’esthétique 24, 1971. Barthes, R., „La mort de l’auteur“, in: Le bruissement de la langue, Paris 1984. Baudelaire, Ch., Les Fleurs du mal, Paris 1975. 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Sie hatte zwei Bücher auf ihrem Schreibtisch liegen, die sie mir wärmstens empfahl. Es waren Peter V. Zimas Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft 1 sowie der von ihm herausgegebene Sammelband Literatur intermedial: Musik - Malerei - Photographie - Film. 2 Über den Autor bzw. Herausgeber sagte sie, er wäre eine Koryphäe der deutschsprachigen Komparatistik, eine Instanz geradezu. Als ich 2007 nach Klagenfurt kam, um meine Assistenten-Stelle an der neu gegründeten Abteilung Musikwissenschaft anzutreten, die zu diesem Zeitpunkt noch dem Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft angehörte, war ich doch sehr verwundert zu erfahren, dass Zima das Institut leitete. Meine Verwunderung bezog sich nicht auf den Umstand, dass er dem Institut vorstand, sondern auf die Tatsache, dass er hier, in Klagenfurt, forschte und lehrte. Ich hatte angenommen, dass ein Forscher von seinem Format in einer Metropole bzw. an einer großen altehrwürdigen Universität mit klingendem Namen tätig sein müsste. Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht und noch dazu selbst gute erste Erfahrungen in Klagenfurt gemacht hatte, fiel es mir jedoch wie Schuppen von den Augen: Selbstverständlich bot eine kleine und noch junge Universität wie die Klagenfurter einem Wissenschaftler wie Zima gute Arbeitsbedingungen, denn hier musste er sich nicht mit den verwaltungstechnischen und studienorganisatorischen Unwägbarkeiten einer Massenuniversität befassen. Hier konnte er nahezu ungestört arbeiten und seinen wissenschaftlichen Interessen nachgehen. Dies war der erste indirekte Denkanstoß, den ich Zima verdanke. Unsere erste Begegnung brachte die nächste Überraschung bzw. Lektion mit sich: Zima sprach mich freundlich an, bat mich in sein Büro und befragte 1 P. V. Zima, Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel 2011 (2. Aufl.). 2 P. V. Zima (Hrsg.), Literatur intermedial: Musik - Malerei - Photographie - Film, Darmstadt 1995. Nico Thom 280 mich ausgiebig nach meinem wissenschaftlichen Werdegang sowie nach meinen Schwerpunkten. Er tat dies mit einer Unbefangenheit, die ich so nicht erwartet hatte. Immerhin war er die Koryphäe und ich das Greenhorn, obschon in unterschiedlichen Disziplinen. Wir stellten schnell gemeinsame Interessen fest. Insbesondere der Status der traditionellen philosophischen Ästhetik im Kanon der zeitgenössischen Wissenschaften beschäftigte uns gleichermaßen. Die umgängliche Art, mit der Zima auf mich zuging und die Unvoreingenommenheit gegenüber mir, dem jungen, eigentlich fachfremden Kollegen, beeindruckten mich, und ich zog für mich daraus die Lehre, dass sich ein angesehener Wissenschaftler vielmehr durch eine einfühlende und offenherzige Persönlichkeit auszeichnet als durch Unnahbarkeit und Distanz, die leider allzu oft als Zeichen von Genialität gedeutet werden. Durch die überaus angenehme Bekanntschaft mit dem arrivierten Institutsvorstand begann ich, mich mit dessen Werk auseinanderzusetzen. Schnell stellte ich fest, dass die Forschungsinteressen von Zima sehr vielseitig waren und immer noch sind: Neben nahezu allen Spielarten literaturwissenschaftlicher Forschung beschäftigt(e) er sich ebenso intensiv mit Fragen der Philosophie, Soziologie, Semiotik und Wissenschaftstheorie. In den letzten Jahren widmete er sich mit bewundernswerter Produktivität vor allem dem Subjekt bzw. der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart, und so ist es mir Freude und Ehre zugleich, im Rahmen des vorliegenden Bandes mit einigen Bemerkungen an seine Überlegungen anknüpfen zu dürfen. ' " 6 , $ Nicht nur, dass Zima unzählige wissenschaftliche Monographien und Aufsätze verfasst hat, nein, unter seinen Publikationen findet sich auch ein Prosa- Band aus jungen Jahren 3 , den ich mit großer Lust gelesen habe und in dem eine Kurzgeschichte mit dem Titel Schallplatte enthalten ist, die ich an dieser Stelle gern vollständig wiedergeben möchte, weil sie so wunderbar zum Thema dieses Aufsatzes passt: Wir gingen am Kai entlang. Leichter Nebel stieg wie Dampf aus dem Fluß. Kitty hatte ihre kleinen Hände in den großen Taschen ihres für sie zu schweren Lodenmantels verschwinden lassen und einen wollenen rostfarbenen Schal mit dunkelgelben Streifen als Kopftuch umgebunden. Sie fror. Ihr ovales, vom Süden gebräuntes Gesicht mit den etwas vorstehenden Backenknochen hatte sich bis zur Unwirklichkeit verkleinert. Ich bekam Angst, es könne jäh im Nebel verschwinden und sagte es ihr. Sie lachte. Es war, als schiene eine Miniatursonne in nebliger Polarlandschaft. 3 P. V. Zima, Grenzgang. Prosa, Hamburg 1979. Subjektlose Musik? 281 Da fiel uns die Schallplatte wieder ein: Wir suchten eine Melodie, die wir größtenteils vergessen hatten und wollten nun die Schallplatte mit dem Lied finden. Kitty summte den Anfang, verlor bald den Faden, versuchte es so, dann wieder anders, ärgerte sich: „Vor ein paar Wochen war’s noch da! “ - Sie wirkte wie ein Kind, dem sein Lieblingsspielzeug abhanden kommt. „Ich hab’s auch nicht“, lachte ich. „Lach nicht! “ befahl sie mir mit ihrer etwas rauen Stimme und hüpfte ein wenig, um mich einzuholen. Ich ging zu schnell und machte zu große Schritte, aber es war so kalt. Neben mir hörte ich durch Wind und Straßenlärm Kittys hartnäckiges Summen wie aus weiter Ferne. „Hast du den Brief an Katja und Michel aufgegeben? “ fiel ihr plötzlich ein. Ich griff in die Tasche: „Nein, ich hab ihn noch.“ - „So ein Mist. - Jetzt ist es zu spät. Wir vergessen noch die halbe Welt wegen der paar Töne.“ - „Da bleibt uns ja noch die andere Hälfte.“ - „Ja, die wesentliche, die über den Wolken“, spottete Kitty. Endlich fanden wir einen Laden mit Schallplatten; traten ein, wollten unser Anliegen vorbringen, stellten aber fest, daß wir den Titel des Liedes und den Namen der Sängerin nicht kannten. Der Verkäufer breitete bedauernd die Arme aus und sagte „Ah! “ um anzudeuten, daß er sich angesichts unserer höchst ungewohnten Ignoranz seiner Verantwortung als ordentlicher Kaufmann mit gepflegtem Schnurrbart enthoben fühlte. Kitty gab nicht auf: Sie summte ihm, die Hände tief in den Manteltaschen, den Anfang des Liedes vor und sah ihm dabei erwartungsvoll ins gerötete Gesicht, in dem die Spitzen des grauen Schnurrbarts nervös vibrierten. Der Händler lächelte formell und breitete abermals die Arme aus. Wir verabschiedeten uns. Mir fiel ein, daß ich gegenüber der Ile Saint Louis, auf dem rechten Ufer, ein großes Plattengeschäft kannte. Große Auswahl. Dort hätten wir eine Chance. Ich sagte es Kitty. Sie wußte von keinem Plattengeschäft in der Gegend, fror und wollte nicht hingehen. Wir fingen an zu streiten. Plötzlich verstummte sie, schaute auf den Gehsteigrand und begann leise zu pfeifen: mal so, mal so. Bald verlor sie sich wieder in endlosen Variationen zu einem unbekannten Thema. Schließlich mußte sie lachen: „On va se taper le disque? “ - Wir liefen so schnell wir konnten über die Brücke, auf der es stark wehte. Der Wind pfiff in den Ohren; Kittys Pfeifen hörte ich nicht mehr. Im Schallplattengeschäft herrschte großes Gedränge. Die Luft war schwül und roch nach feuchten Wintermänteln. Kitty beschwerte sich, sie könne in so vollen Geschäften nicht atmen. Nach einer Weile entdeckte ich eine Langspielplatte, auf der in grellen Farben die Sängerin schillerte, die früher unser Lied gesungen hatte. „Ob es auf dieser Platte ist? “ - Ich wollte schon zugreifen, als ich spürte, wie Kittys Hand an meinem Oberarm zog. Sie strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erklärte eifrig etwas, was ich nicht verstand, weil Louis Armstrong gerade Trompete spielte. Wir traten wieder hinaus auf die feuchtkalte Straße. Ich ging voran. Bei der Tour Saint Jacques dachte ich an André Breton, der vor vielen Jahren hier gestanden hatte. Ich drehte mich um und wollte es Kitty sagen. Fern von mir lächelte ein Gesicht im Nebel. Lange Straßen öffneten sich an der Nico Thom 282 Kreuzung. Die ersten Lichter leuchteten auf, und mir fiel ein, daß ich eine unbekannte Melodie suchte.“ 4 ) ! J 5 7 Die „unbekannte Melodie“ scheint vordergründig der Beweggrund dieser Kurzgeschichte zu sein. Sie wird gesucht von Kitty und dem Ich-Erzähler, einem Liebespaar, das durch Paris streift. Die unbekannte Melodie lässt sich aber auch als literarisches Motiv deuten, das Subjektivität symbolisiert. Sowohl Kitty als auch der Ich-Erzähler sind auf der Suche nach der eigenen Identität, die sich in der Identität mit der / dem Geliebten spiegelt. Eine unterschwellige Angst vor dem Nichtfinden des eigenen Selbst im Anderen schwingt dabei unüberhörbar mit. Zum Beispiel in Sätzen wie: „Ihr ovales, vom Süden gebräuntes Gesicht mit den etwas vorstehenden Backenknochen hatte sich bis zur Unwirklichkeit verkleinert. Ich bekam Angst, es könne jäh im Nebel verschwinden und sagte es ihr.“ Oder: „Fern von mir lächelte ein Gesicht im Nebel.“ Die Tragik der Protagonisten besteht darin, dass sie eigentlich nicht wissen, wonach sie suchen. Sie wissen nicht, welche Melodie sie suchen, in welche Melodie sie einstimmen sollen, mit wem bzw. was sie identisch sein wollen. Beide stellen fest, dass sie „den Titel des Liedes und den Namen der Sängerin“ nicht kennen. Und obwohl sie zeitweise glauben, wenigstens die namenlose Melodie bzw. das titellose Lied summen zu können, bemerken sie, dass selbst diese(s) de facto im Dunkeln liegt. „Kitty summte den Anfang, verlor bald den Faden, versuchte es so, dann wieder anders, ärgerte sich: ,Vor ein paar Wochen war’s noch da! ‘“ Und an anderer Stelle heißt es: „Plötzlich verstummte sie, schaute auf den Gehsteigrand und begann leise zu pfeifen: mal so, mal so. Bald verlor sie sich wieder in endlosen Variationen zu einem unbekannten Thema.“ Ernüchtert resümiert der Ich- Erzähler am Ende der Geschichte: „(…) mir fiel ein, daß ich eine unbekannte Melodie suchte“. Unbekannt bleibt ihm nämlich die Geliebte, die sich in „endlosen Variationen zu einem unbekannten Thema“ verliert, und unbekannt bleibt er sich daher selbst, weil es ihm nicht gelingt, sich in ihr zu spiegeln, sein Bild mit ihrem überein zu bringen, Kongruenz mit dem Eigenen und dem Fremden zu erzeugen. In dieser frühen Geschichte von Peter V. Zima scheinen alle Aspekte der postmodernen Subjektivität und ihr verzweifeltes Abstoßen von der (spät)modernen Subjektvorstellung schon enthalten zu sein. Diese Thematik beschäftigt den Autor ein Leben lang und kulminiert um die Jahrtausendwen- 4 Ibid., S. 47-49. Subjektlose Musik? 283 de schließlich in den Büchern Theorie des Subjekts 5 und Das literarische Subjekt. 6 In beiden Monographien beschreibt Zima den gesellschaftshistorischen Übergang von der Moderne zur Postmoderne und zeigt Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede in den jeweiligen Subjektideen auf. In seiner Theorie des Subjekts verweist er unter anderem auf die Aporien des individuellen Subjekts zwischen Moderne und Postmoderne 7 und konstatiert, dass es „den Autoren des Modernismus (als spätmoderner Selbstkritik der Moderne) um die Rettung des individuellen Subjekts in der Ambivalenz zu tun [ist] (…). Darin sind sie den Autoren der Kritischen Theorie verwandt“. 8 Ein Zitat aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften beispielsweise fasse - einseitig zwar - „das sozialphilosophische Anliegen der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers zusammen, einer Theorie, die ihre Solidarität mit der Metaphysik ‚im Augenblick ihres Sturzes‘“ 9 (Zitat im Zitat aus Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 398.) einbekennt. Diese paradoxe Musilsche Aussage könnte - ebenso einseitig - auch als Zusammenfassung von Zimas Theorie des Subjekts gelesen werden, in der es darum geht, „im Anschluß an die Kritische Theorie und in durchaus ‚alteuropäischer‘ Absicht, das individuelle Subjekt in extremis durch eine Neubestimmung zu retten“. 10 Zima verortet seinen Standpunkt also direkt an der Bruchstelle zwischen (Spät-)Moderne und Postmoderne und benennt seine Referenzautoren - insbesondere Adorno. Zimas eigene Subjekt-Definition scheut daher nicht - wie auch die Adornos - die Uneindeutigkeit. Er schreibt: Das individuelle Subjekt ist weder etwas Souverän-Fundamentales noch Unterworfenes, sondern eine sich wandelnde, semantisch-narrative und dialogische Einheit, die von der Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem ihr Fremden, lebt. 11 In seiner Schrift zum literarischen Subjekt zeichnet Zima vor diesem theoretischen Hintergrund die „Peripetien literarischer Subjektivität zwischen Spätmoderne und Postmoderne“ nach, um zu veranschaulichen, „(…) wie spätmoderne Autoren versuchen, die Autonomie des individuellen Subjekts in extremis zu retten, während Autoren der Nachmoderne den modernen Entwurf 5 P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2000. 6 P. V. Zima, Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen- Basel 2001. 7 P. V. Zima, Theorie des Subjekts, op. cit., S. 86ff. 8 Ibid., S. 87. 9 Ibid. 10 Ibid. 11 Ibid., S. 88. Nico Thom 284 einer autonomen und mündigen Subjektivität mit Skepsis betrachten oder gar ablehnen“. 12 * ! " $ / # Die Dichotomie (spät-)modernes versus postmodernes Subjekt lässt sich vielleicht am deutlichsten vor Augen führen mithilfe des Vergleichs von Adornos und Luhmanns Ansichten zum Subjekt. Auch Zima tut dies, obschon er nicht den direkten Vergleich bemüht, sondern die Ansichten beider Autoren in Einzeldarstellungen zusammenfasst. In seinem Buch Ästhetische Negation 13 arbeitet Zima unter anderem Adornos Subjektbegriff heraus und stellt fest, dass dieser ästhetisiert sei und zwischen dem Schönen und Erhabenen stehe. Zima sieht Adorno mit Bezug auf den Subjektbegriff in einer Traditionslinie mit dem Aufklärer Immanuel Kant sowie den spätmodernen Schriftstellern Stéphane Mallarmé und Paul Valéry. Adorno sei aber zugleich auch geistiger Vorläufer und Antipode des Postmodernisten Jean-François Lyotard. Ausgehend von Mallarmés und Valérys Autonomieästhetik, entwickelt er [Adorno] eine Ästhetik, in der das Erhabene zu einem unversöhnten Bestandteil des Schönen wird. Weit davon entfernt, individuelle Subjektivität zu bedrohen oder zu zerstören, wird dieses Negativ-Schöne im Sinne von Valéry zur lebenswichtigen Stütze einer kritischen Subjektivität. Wie Lyotard beruft sich Adorno auf Kant und Mallarmé. Aber in seinen Augen erscheinen der Philosoph [Kant] (dessen repressive Askese er kritisiert) und der Dichter [Mallarmé] als Zeugen einer autonomen Subjektivität, die den Ideologien und der Kulturindustrie widersteht. Lyotard hingegen folgt der postmodernen Tendenz, die in eine Negation der individuellen Subjektivität mündet. 14 Nichtsdestotrotz nehme, Zima zufolge, Adornos Subjektbegriff bereits postmoderne Überlegungen - z.B. die Lyotards - vorweg: „Obwohl Adornos Ästhetik in ihrer Gesamtheit noch als Ästhetik des Negativ-Schönen betrachtet werden kann, weist sie über sich hinaus: auf die Zerrüttung von Kunst und Subjekt durch das Erhabene.“ 15 In kritischer Absicht analysiert Zima nicht nur Lyotard, sondern an anderer Stelle auch Niklas Luhmann als einen Vertreter der postmodernen Subjektüberwindung. In seiner Schrift Theorie des Subjekts widmet er Luhmann einen ganzen Abschnitt unter der Überschrift „Die Liquidierung des Subjekts 12 P. V. Zima, Das literarische Subjekt, op. cit., S. vii. 13 P. V. Zima, Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg 2005. 14 Ibid., S. 23. 15 P. V. Zima, Das literarische Subjekt, op. cit., S. 86. Subjektlose Musik? 285 durch seine Allgegenwart“. 16 Darin versucht Zima plausibel zu machen, dass Luhmann das Subjektproblem keinesfalls löst, indem er davon abstrahiert: Mit der von Luhmann vorgeschlagenen Verabschiedung des Subjektbegriffs ist das Problem nicht gelöst, weil eine Negation dieses Begriffs zu seiner Mythisierung auf ‚höherer‘ Ebene, auf der Ebene der abstrakten Subjekt-Aktanten, führt. Anders gesagt: In Luhmanns Diskurs verschwindet das Subjekt zwar als transzendentale und individuelle Instanz, setzt sich aber als abstrakter Subjekt-Aktant (…) voll durch: als ,Differenzierung‘, ,System‘, ,Operation‘ oder ,Kommunikation‘. Das Problem besteht in diesem Fall darin, daß abstrakte Aktanten, die in keinem theoretischen Diskurs zu vermeiden sind, zu mythischen Aktanten werden, weil sie nicht mit individuellen und kollektiven Subjekten interagieren, sondern diese ersetzen und dadurch deren Funktionen verdecken. 17 Zima konkretisiert im Weiteren seine Kritik: „Es geht um die linguistische (saussurianische) Überlegung, daß sich die Tilgung einer semantischen, syntaktischen oder aktantiellen Funktion auf die benachbarten Funktionen auswirkt.“ 18 Außerdem will Zima zeigen, dass seine sprachkritischen Einwände „die marxistische Kritik an Luhmann in jeder Hinsicht ergänzen; denn Marxisten wie Sigrist haben schon in den 80er Jahren darauf hingewiesen, daß Luhmanns Verzicht auf den Subjektbegriff zu einer systematischen Ausblendung von Gewaltanwendung, Herrschaftsverhältnissen und Interessen führt“. 19 Eben jene historisch gereifte „marxistische Kritik“, die im 20. Jahrhundert über Adorno bis in die Cultural Studies hinein Schule gemacht hat, scheint Zima Argument genug zu sein, Luhmanns systemtheoretische Gedanken zum Subjekt zu widerlegen. Die „linguistische (saussurianische) Überlegung“ zur sprachfunktionalen Ebenenverschiebung bei Luhmann kann als Gegenargument nämlich allein für sich genommen nicht bestehen, denn Luhmann selbst insistiert nachdrücklich auf dieser Verschiebung. Er möchte ganz bewusst die in der zeitgenössischen Sprache verwurzelten alteuropäischen Ideen aufdecken und in Teilen umdeuten bzw. sprachliche Umgewichtungen vornehmen, um andere Perspektiven auf die momentane Weltgesellschaft zu eröffnen bzw. angemessene Beschreibungen der ausdifferenzierten komplexen Gegenwart zu liefern. Luhmann formulierte das in einer Vorlesung folgendermaßen: „Das hat seinen Grund auch darin, dass wir es in der Semantik oder in der Kultur, in der Begrifflichkeit, in den Ideen mit einem Überhang an traditionellen 16 P. V. Zima, Theorie des Subjekts, op. cit., S. 324ff. 17 Ibid., S. 325. 18 Ibid. 19 Ibid., S. 326. Nico Thom 286 Konzepten zu tun haben, die wir nicht wirklich kontrollieren können, weil wir an sie gewöhnt sind, etwa an den Subjektbegriff (…).“ 20 Doch was setzt Luhmann an die Stelle des Subjekts bzw. wie substituiert er den Begriff? Zima selbst liefert für diese Frage eine knappe, aber prägnante Antwort: Luhmann unterscheidet drei Systemtypen: den neuro-physiologischen, den psychischen und den sozialen Typus. Während der erste aufgrund von biologischen Prozessen funktioniert, besteht der zweite aus Gedanken und der dritte aus Kommunikationen. Diese Systemtypen sind zwar über ,Reize‘ oder ,Irritationen‘ aneinander ,gekoppelt‘, kommunizieren aber nicht direkt miteinander (ebenso wenig wie das Gehirn mit den anderen Organen des Körpers). Der Mensch als individuelles Subjekt erscheint in diesem Zusammenhang antiquiert, weil er in ein neuro-physiologisches und ein psychisches System zerfällt und am sozialen System überhaupt nicht teilhat, sondern als Zusammenwirken von biologischen und psychischen Faktoren zu dessen Umwelt gehört. 21 Zimas Ansicht, dass bei Luhmann der Mensch „am sozialen System überhaupt nicht teilhat“, erscheint bei genauerer Hinsicht verkehrt. In ihrer Dissertation über Das psychische System in der Systemtheorie Niklas Luhmanns 22 beschreibt Melitta Konopka nämlich das komplizierte Luhmannsche Quasi- Aktanten-Modell - wie ich es nennen würde - folgendermaßen: Akteure sind im Kontext sozialer Handlungsbzw. Kommunikationszusammenhänge m. a. W. die sozialen Systeme selbst. Der Mensch kann allerdings in der Umwelt sozialer Systeme als Akteur in Erscheinung treten und als ,Ensemble‘ von Systemen in der Umwelt sozialer Systeme diese zu Strukturänderungen anregen. Das heißt: Menschen können zwar die Voraussetzungen für die Selbstreproduktion sozialer Systeme schaffen, aber reproduzieren müssen sich die sozialen Systeme in der Tat selbst. 23 Wenn nun aber Zimas Sprachkritik an Luhmanns Quasi-Aktanten-Modell gewissermaßen offene Türen einrennt, was dann? Bleibt vorerst die in der Tradition von Marx stehende Kritik der Herrschafts- und Machtverhältnisse, die Zima neben vielen anderen Autoren bei Luhmann einfordert. Diese Forderung nach einer vom Subjekt ausgehenden und zum Subjekt zurückkehrenden gesellschaftskritischen Betrachtungsweise stellte nicht zuletzt der Sozialphilosoph Jürgen Habermas direkt an Luhmann. In der mittlerweile berühmt gewordenen gemeinsamen Streitschrift Theorie 20 N. Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft, hrsg. von Dirk Baecker, Darmstadt 2005, S. 11. 21 P. V. Zima, Theorie des Subjekts, op. cit., S. 332. 22 M. Konopka, Das psychische System in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Frankfurt/ .M. 1996. 23 Ibid., S. 330. Subjektlose Musik? 287 der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? 24 äußerte Habermas offen gegenüber Luhmanns Systemtheorie den Ideologieverdacht. Luhmanns Theorie sei Sozialtechnologie, da sie die bestehenden Verhältnisse legitimiere. Im Detail kritisiert Habermas Luhmanns These, dass die im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten ,klassischen‘ Demokratietheorien (…) der komplexen Wirklichkeit moderner Gesellschaften nicht länger ,angemessen‘ [seien], da sie den ,Bezug auf Wahrheit oder wahre Gerechtigkeit‘ ins Zentrum demokratischer Legitimität rücken. Sie binden diese insofern an ,Wahrheit‘ zurück, als sie eine Transparenz politischer Entscheidungsprozesse einfordern, die es jedem Staatsbürger gestatte, sich eine fundierte ,Überzeugung von der Richtigkeit‘ (bzw. Falschheit) der getroffenen Beschlüsse zu bilden. Das komplexe Geflecht der modernen Zivilisation macht jedoch das ,Erreichen so hoch gespannter Ziele‘ unmöglich: ,kein Mensch ist in der Lage, für alle Entscheidungsthemen Überzeugungen zu bilden.‘ Die ,Handlungsfähigkeit‘ moderner Gesellschaften bleibt nur dann gewahrt, wenn die Bürger grundsätzlich bereit sind, die Entscheidungskompetenz, die ihnen in einer Demokratie zusteht, an politische Institutionen zu delegieren, d.h. verfahrensrechtlich korrekte institutionelle Beschlüsse, deren Genese sie nicht im Einzelnen nachvollziehen können, als ,verbindlich‘ hinzunehmen. 25 Habermas warf daraufhin Luhmann eine Entpolitisierung sowie eine Entmündigung der Öffentlichkeit bzw. ihrer Subjekte vor - eine Anschuldigung, die von Zima mehr oder weniger verdeckt fortgeführt wird, obwohl Zima auf abstrakterem, d.h. weniger offenkundig politischem Niveau diskutiert. So äußert er sich beispielsweise in seiner Schrift Ideologie und Theorie 26 wie folgt: Trotz der Differenzen, die den Theoretiker der ,Lebenswelt‘ von Adorno und Horkheimer trennen (…), spricht der Habermas der frühen siebziger Jahre die Sprache der Kritischen Theorie, die Lexeme wie ,Individuum‘, ,Wahrheit‘, ,Vernunft‘ und ,Herrschaft‘ zu ihren Schlüsselbegriffen gemacht hat. (…) Von solchen Rettungsversuchen ist bei Niklas Luhmann nichts zu spüren, im Gegenteil: Der Leser hat immer wieder den Eindruck, daß die liberale Tradition, die Hobhouse gegen Sozialdarwinismus und Imperialismus, Adorno und Habermas gegen den Spätkapitalismus und Popper gegen den Totalitarismus verteidigen, dem Systemdenker nichts mehr gilt. (…) Er nimmt sich in der Debatte mit Habermas weder eine Apologie noch eine Kritik der bestehenden Ordnung vor, son- 24 J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt/ M. 1971. 25 S. Rapic, Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie von Rousseau bis zur Habermas / Luhmann-Kontroverse, Freiburg-München 2008, S. 400. 26 P. V. Zima, Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen 1989. Nico Thom 288 dern geht explizit von der Indifferenz (…) aus. (…) Luhmann verrät nicht, welche Richtung er bewußt eingeschlagen hat (…). 27 Zimas Kritik bezieht sich ergo auf den Versuch Luhmanns, eine Theorie zu entwerfen, die weitgehend frei ist von politischen und ideologischen Bestandteilen. Zima hält diesem Versuch entgegen, dass Luhmann als „Aussagesubjekt“ ohnehin nur drei Möglichkeiten habe: Er „kann eine Apologie des Bestehenden entwickeln, eine Kritik oder einen Diskurs, der unvereinbare Ideologeme kombiniert, ohne sie zu explizieren“. 28 Luhmanns Ideal einer möglichst wertfreien Theorie lässt Zima nicht gelten. Vielmehr scheint er Luhmann vorzuwerfen, dass diesem im Gegensatz zur Frankfurter Schule der politisch-ideologische Impetus fehle, der das „Wahre“ vom „Falschen“ trenne. Damit argumentiert Zima jedoch wieder auf der Ebene, auf die sich Luhmann bewusst nicht eingelassen hat, weil hier mit eben jenen alteuropäischen Begriffen hantiert wird, die Luhmann überwinden wollte; der Wahrheitsbegriff ist nur einer von ihnen. + 6 # # .% @@ % . .% @@ Genau diesen Wahrheitsbegriff aber nimmt Zima in seinem Buch Was ist Theorie? 29 in Beschlag, um Luhmanns System-Begriff ebenso wie Bourdieus Feld-Begriff zu problematisieren. 30 In einer Art Synopsis stellt er die beiden Begriffe „System“ und „Feld“ heraus, in der Absicht, vor allem deren Subjektlosigkeit vor Augen zu führen, die Zimas Meinung zufolge einer falsch verstandenen Orientierung an den Naturwissenschaften geschuldet sei. Er geht davon aus, „(…) daß ohne die Darstellung der subjektiven Instanzen und ihrer Sprachen die Dynamik der Kultur- und Sozialwissenschaften nicht zu verstehen ist“. 31 Da bei Luhmann das Wissenschaftssystem generell mit dem Leitcode wahr / falsch operiere, würde es die Komplexität der Kultur- und Sozialwissenschaften nicht adäquat erfassen. Aber auch Bourdieus differenziertere Vorstellung, dass die Kultur- und Sozialwissenschaften ein weniger autonomes wissenschaftliches Feld seien als die Naturwissenschaften, ist für Zima nicht angemessen, da die Heteronomie der Theorien und Ansichten in den 27 Ibid., S. 316-319. 28 Ibid., S. 319. 29 P. V. Zima, Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel 2004. 30 Ibid., S. 167: „Im folgenden steht der Wahrheitsbegriff im Mittelpunkt, und es werden sowohl frappierende Übereinstimmungen als auch Gegensätze zwischen der System- und der Feldtheorie in Erscheinung treten.“ 31 Ibid., S. 183. Subjektlose Musik? 289 Kultur- und Sozialwissenschaften nicht von außen, sprich aus den Feldern der Politik und Wirtschaft, eingebracht werde, sondern ihnen genuin innewohne, d.h. die Kultur- und Sozialwissenschaften also tatsächlich heteronom seien. 32 Deshalb ist es nach Zimas Meinung auch möglich, eine Dialogische Theorie zu entwerfen, welche die Heteronomie der Kultur- und Sozialwissenschaften konstruktiv nutzt. Er schreibt, dass er im Anschluß an die Kritische Theorie (Adornos, Horkheimers) und Bachtins Hermeneutik eine dialektische und dialogische Metatheorie [vorschlägt], die gegensätzliche theoretische Positionen zusammenführt, um sie im Rahmen einer Konfrontation zu überprüfen. Wo konträre Standpunkte aufeinandertreffen, läßt jede beteiligte Theorie ihre Wahrheitsmomente und ihre blinden Flecken erkennen. Indem sie andere Perspektiven eröffnet, indem sie den in Frage stehenden Gegenstand ganz anders konstruiert, macht die konkurrierende Theorie Probleme sichtbar, welche die von uns bevorzugte Theorie verdeckt. Es geht also darum, theoretische Diskurse zwischen heterogenen Gruppensprachen oder Soziolekten überprüfen zu lassen. 33 Aus meiner Sicht ist das Offensichtliche an dieser Definition, neben der zu begrüßender Dialogfreudigkeit, vor allem das Dilemma, dass die „Metatheorie“ sofort wieder an eine konkrete Theorie - in diesem Falle in erster Linie an die Kritische Theorie - zurückgebunden wird und damit der alteuropäische Wahrheitsbegriff erneut die Hintergrundfolie des Dialogs bzw. Diskurses bildet. Das „Erkennen“ von „Wahrheitsmomenten“ bzw. deren „Überprüfung“ steht ja gerade im postmodernen Diskurs nicht mehr zur Debatte - wie unter anderen Luhmann mehrfach versucht hat zu zeigen. Dieses Ideal eines echten Dialogs fand in Habermas’ Theorie der „idealen Sprechsituation“ einen letzten erkenntnistheoretischen Begründungsversuch, der, wie nicht nur ich glaube, gescheitert ist. Insofern wird es vielleicht ein Ideal bleiben, dass sich konkurrierende Theorien in dem von Peter Zima intendierten emphatischen Sinne gegenseitig befruchten bzw. ergänzen. Ich vermute hingegen, dass solch ein Theorie-Dialog allenfalls punktuell die jeweils eigene Theorie- Position präzisiert, wenn Schwachstellen in der eigenen Argumentation aufgezeigt werden. Da aber die Argumente grundsätzlich auf unterschiedlichen Schlüsselbegriffen aufgebaut sind, wird es wohl niemals zu einer Verständigung zwischen Theorien kommen, bei der man sich einigt bzw. auf verbindliche Begrifflichkeiten festlegt. Subjekt-Theorien sind meiner Überzeugung zufolge daher leider unvereinbar mit Theorien vom Luhmannschen Typus, in denen das Hauptaugenmerk auf dem Kontext (der Gesellschaft) und nicht auf dem Text (dem Subjekt bzw. dem Individuum oder der Person) liegt. Mit 32 Vgl. ibid., S. 179. 33 Ibid., S. xi und xii. Nico Thom 290 anderen Worten: Das Ausgangsinteresse solcher Theorien ist schlichtweg ein anderes und damit auch deren zentrale Begrifflichkeit. Nichtsdestotrotz stimme ich mit Peter Zima überein, dass durch den Vergleich von Theorien „blinde Flecken“ aufgezeigt werden können - eine Formulierung übrigens, die Luhmann häufig verwendet und populär gemacht hat. Ich möchte deshalb im Folgenden andeuten, wie Luhmanns Theorie bei der Suche nach blinden Flecken behilflich sein könnte, die z. B. im Zusammenhang mit einem Musik-rezipierenden Subjekt auftauchen. Meine Ausgangsfrage ist: Wie kommt das Subjekt zur Musik bzw. wie nimmt es sie wahr, und wie kann uns Luhmann bei der Beantwortung dieser Frage helfen? 2 % $ ? ? # Luhmanns Systemtheorie ist zu vielschichtig, als dass sie an dieser Stelle prägnant zusammengefasst werden könnte; ich muss voraussetzen, dass der / die LeserIN einigermaßen vertraut ist mit deren Grundzügen. Der bekannteste, d.h. berühmt-berüchtigtste Theoriebestandteil ist ohne Zweifel der Umstand, dass Luhmann Begriffe wie Mensch, Individuum, Person und Subjekt auflöst zugunsten eines komplizierten Modells, in dem verschiedene Systemtypen zueinander in Beziehung treten. Die zentralen Systemtypen sind dabei physische, psychische und soziale Systeme. In Luhmanns Theorie (…) werden psychische Systeme ebenso wie soziale Systeme als autopoietische, in selbstreferentieller Geschlossenheit operierende und auf der Basis von Sinn organisierte Systeme begriffen. Und zwar verarbeiten psychische Systeme Sinn - auf der Basis des Operationsmodus Bewußtsein - in Form von Gedanken und Vorstellungen bzw. allgemeiner ausgedrückt: in Form von mentalen intentionalen Akten als Elementareinheiten der Selbstreproduktion. Um nun die Anschlußfähigkeit dieser Elementareinheiten sicherzustellen (…) differenziert sich das psychische System aus in eine Ebene der basalen Selbstreferenz, der prozessualen bzw. strukturalen Selbstreferenz und eine Ebene der reflexiven Selbstreferenz. Dabei ist auch für die Umweltbezüge des psychischen Systems die Ebene der reflexiven Selbstreferenz von besonderer Bedeutung, denn auf dieser Ebene entwickelt ja ein autopoietisches bzw. selbstreferentielles System seine Vorstellung von Identität bzw. wird ‚für sich selbst‘ zu einem Individuum, das sich in Abgrenzung von seiner Umwelt reproduziert, womit die Erkenntnis verbunden ist, daß Umwelt im wesentlichen [sic! ] aus anderen Systemen besteht und somit ein System immer auch Umwelt für andere Systeme ist (…). Hinsichtlich der Umweltbezüge des psychischen Systems ist zu unterscheiden zwischen den Beziehungen des psychischen Systems zu sozialen Systemen, also zu - ebenfalls auf der Basis von Sinn organisierten - Kommunikationssystemen, Subjektlose Musik? 291 und seinen Beziehungen zu - nicht-sinnhaften - physischen Systemen. Und zwar können diese Umweltbezüge des psychischen Systems - analog zu den Beziehungen des sozialen Systems - als strukturelle Kopplung oder Interpenetration beschrieben werden. So stellt bei der strukturellen Kopplung zwischen einem psychischen System und [einem sozialen Systemen, d.h.] einem Kommunikationssystem das psychische System dem Kommunikationssystem Eigenkomplexität zur Verfügung und leistet damit einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der autopoietischen Selbstreproduktion des sozialen Systems. In diesem Kontext hat das Bewußtseinssystem Luhmann zufolge die ,privilegierte Position‘, Kommunikation ,stören‘, ,reizen‘, ,irritieren‘ und damit Anstöße für das weitere Operieren des sozialen Systems geben zu können (…). (…) Bei der physischen Umwelt des psychischen Systems handelt es sich um das autopoietische bzw. selbstreferentielle System des menschlichen Organismus mit dem Reproduktionsmodus ‚Leben‘ und speziell um die neuronalen Prozesse im menschlichen Gehirn als selbstreferentiellem Subsystem des Organismus. Dieses Subsystem des menschlichen Organismus bildet ein selbstreferentielles System erster Ordnung, das bei einem bestimmten Reifegrad ein ,emergentes System‘, ein System zweiter Ordnung, hervorbringt, nämlich das kognitive System. Dieses stellt die Basis des psychischen Systems dar und beinhaltet folglich eine spezifische Beziehung zwischen dem neuronalen System und - kognitiven - Bewußtseinszuständen, die ebenfalls als strukturelle Kopplung bzw. auf Grund der damit verknüpften Wechselseitigkeit der Einflußnahme zwischen Gehirn und Bewußtsein als Interpenetration bezeichnet werden kann. Diese Synthese zwischen Psyche und Physis stellt - in systemtheoretischer Perspektive - den Menschen dar (…). (…) Die strikte Abgrenzung zwischen den Systemen und ihrer jeweiligen Umwelt bleibt (…) erhalten. Letzteres bedeutet gleichzeitig, und das macht die Brisanz des Luhmannschen Ansatzes aus, daß sich Menschen bzw. psychische Systeme niemals in den sozialen Systemen befinden, sondern immer in deren Umwelt verbleiben. Denn grundsätzlich sind nicht Menschen oder psychische Systeme die Elementareinheiten sozialer Systeme, sondern Kommunikationen. Kommunikationssysteme entstehen zwar unter Beteiligung von psychischen Systemen, die sich unter Bedingungen doppelter bzw. multipler Kontingenz zu verständigen suchen; aber die unter diesen Bedingungen ,emergierenden‘ [d.h. sich entwickelnden] Kommunikationssysteme folgen bei ihrem Operieren stets nur ihrer Eigengesetzlichkeit, die gekoppelt ist mit einer grundsätzlichen Indifferenz gegenüber ihrer physischen und psychischen Umwelt. 34 34 M. Konopka, Akteure und Systeme. Ein Vergleich der Beiträge handlungs- und systemtheoretischer Ansätze zur Analyse zentraler sozialtheoretischer Fragestellungen unter besonderer Berücksichtigung der Luhmannschen und der post-Luhmannschen Systemtheorie, Frankfurt/ M. 1999, S. 155-157. Nico Thom 292 3 $ / 6 , $ # $ , $$ $ . $ ? ? ? Unterstellt man nun, dass Musik ein soziales System sein kann - wie im musikwissenschaftlichen Diskurs schon mehrfach geschehen 35 - bzw. dass auch spezifische Musikstile den Status eines sozialen Systems im Sinne Luhmanns erreichen können 36 , so lassen sich Luhmanns Überlegungen zur strukturellen Kopplung bzw. Interpenetration von psychischen und sozialen Systemen auch auf den konkreten Fall übertragen, dass psychische Systeme auf ein Musiksystem treffen. Ich versuche diesen Fall am Beispiel von Peter Zimas Kurzgeschichte Schallplatte zu veranschaulichen. Die beiden psychischen Systeme von Kitty und dem Ich-Erzähler - wohlgemerkt nicht deren physische Systeme bzw. Körper! - treten in ein Interaktionssystem, d.h. beide nehmen sich wechselseitig wahr, wobei diese Interaktion ein Situationssystem sein kann oder ein Episodensystem, in dem beide Systeme (Kitty und Ich-Erzähler) relativ dauerhaft miteinander kommunizieren. Dabei greifen beide psychischen Systeme auf das Medium Sprache zurück, über das sie sich strukturell koppeln. Im Einzelnen passiert in etwa Folgendes: „Da fiel uns die Schallplatte wieder ein: Wir suchten eine Melodie, die wir größtenteils vergessen hatten und wollten nun die Schallplatte mit dem Lied finden.“ Genau genommen ist es höchst unwahrscheinlich, dass beide psychische Systeme gleichzeitig im eigenen Bewusstsein den Gedanken an eine bestimmte Melodie und die damit verbundene Schallplatte haben. Vielmehr stellt eines der beiden psychischen Systeme eigenselektiv diesen Gedanken fest und schließt weitere Gedanken daran an, d.h. aktualisiert den Gedanken. Angenommen Kitty lässt sich zuerst von dem Gedanken an eine Melodie irritieren - wir wissen nicht, wer angefangen hat - und nimmt diese Irritation als den Gedanken an die „bestimmte Melodie“ wahr, dann schließt sie dem Gedanken einen weiteren Gedanken an, der z.B. „die bestimmte Melodie ist auf einer bestimmten Schallplatte“ heißen könnte. Kitty - d.h., genau genommen nur ihr psychisches System - beansprucht nun die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers, da sie ihn mit der manifesten sprachförmigen Mitteilung der selektiven Information: „die bestimmte Melodie ist auf einer bestimmten Schallplatte“ irritiert. Das Bewusstsein des Ich-Erzählers wird in 35 Siehe z.B. W. L. Bühl, Musiksoziologie, Frankfurt/ M. 2004. Oder: M. Brech, „Können eiserne Brücken nicht schön sein? “. Über den Prozeß des Zusammenwachsens von Technik und Musik im 20. Jahrhundert, Hofheim 2006. 36 Siehe z.B. T. Böhme-Mehner, Die Oper als offenes autopoietisches System im Sinne Niklas Luhmanns? , Essen 2003. Subjektlose Musik? 293 Anspruch genommen und idealer Weise versteht er die Mitteilung von Kitty, obwohl er sie wiederum nur selektiv verstehen kann, d.h. durch seine eigene Wahrnehmung, die autopoietisch und selbstreferentiell operiert. Damit verändert sich die von Kitty ausgesendete Information über das Zwischenstadium der Mitteilung bis hin zum Verstehen der mitgeteilten Information durch den Ich-Erzähler. Erst jetzt ist Kommunikation unter Inanspruchnahme von Bewusstsein im Medium der Sprache entstanden. Erst jetzt wird die Einheit der Differenzen von Information, Mitteilung und Verstehen konstitutiv für Systembildung. Die sprachliche Gleichheit der Vorgänge in den beteiligten psychischen Systemen und die von ihnen sprachlich als gleich angesehene mitgeteilte Information ändern weder etwas an der Verschiedenheit der Systeme noch an der Verschiedenheit der in ihnen prozessierenden Elemente. 37 Das so entstandene Interaktionssystem Kitty / Ich-Erzähler interpenetriert in weiterer Folge der Kurzgeschichte mit dem Gesellschaftsbzw. Funktionssystem Musik, das durch evolutionäre Gesellschaftsentwicklung bzw. soziale Ausdifferenzierung in der modernen Weltgesellschaft eine eigene Kommunikationsstruktur ausgebildet hat, die autopoietisch und selbstreferentiell ist: d.h., dass das Musiksystem eine Eigendynamik ausgeprägt hat, die von keinem anderen System gesteuert werden kann. Die Kopplung des Interaktionssystems Kitty / Ich-Erzähler mit dem System Musik kann auf mehreren Wegen zustande kommen: einmal z.B. über die Medien Stimme, Luft und Klang („Kitty summte den Anfang, verlor bald den Faden, versuchte es so, dann wieder anders…“), weiterhin über das Organisationssystem Plattenladen 38 („Endlich fanden wir einen Laden mit Schallplatten…“) sowie über das Medium (Schrift-)Sprache („…stellten aber fest, daß wir den Titel des Liedes und den Namen der Sängerin nicht kannten“) und schließlich auch über das Medium Bild bzw. Fotografie („Nach einer Weile entdeckte ich eine Langspielplatte, auf der in grellen Farben die Sängerin schillerte, die früher unser Lied gesungen hatte.“). Die Eigenart dieser temporären Kopplungen besteht darin, dass die jeweiligen Prozesse in den psychischen bzw. physischen Systemen und dem Musiksystem bei Lichte betrachtet keine Auswirkungen aufeinander haben. Das psychische Wahrnehmen bzw. Hören sowie das physische Reproduzieren bzw. Summen / Pfeifen der „unbekannten Melodie“ durch Kitty und den Ich- Erzähler hat keinerlei Einfluss auf die Melodie selbst, die Sängerin der Melo- 37 D. Krause, Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, Stuttgart 1996, S. 113. 38 Als Organisationssysteme bezeichnet Luhmann Einheiten, die adressierbar sind und Entscheidungen treffen. Im Funktionssystem Wissenschaft gibt es das Organisationssystem Universität, im Funktionssystem Wirtschaft die Firma etc. Nico Thom 294 die oder die Platte, auf der die Melodie zu finden ist, den Plattenladen, der die Platte anbietet, die Musikindustrie, welche die Platte vertreibt, oder den Musikjournalismus, der über die Platte berichtet - kurz: auf das Kommunikationssystem Musik, das nach seinen eigenen Regeln operiert. Aber auch umgekehrt hat die Bewegung im Kommunikationssystem Musik (z.B. ihre Werbung um Aufmerksamkeit bzw. Käufer) keine Konsequenzen für Kitty und den Ich-Erzähler, denn diese können sich offenbar weder an die Sängerin noch an den Titel der Melodie, noch an die Melodie selbst erinnern. Sogar der Text, welcher der gesungenen Melodie unterliegt, bleibt gänzlich im Dunkeln; er wird mit keiner Silbe erwähnt, er spielt schlichtweg keine Rolle. Demnach ist nicht einmal der Inhalt des Liedes, über das Kitty und der Ich-Erzähler kommunizieren, bis zu ihnen vorgedrungen! Aber wenn dem so ist, über wen oder was wird hier eigentlich kommuniziert? H 6 @ Vielleicht macht dieses literarische Beispiel pointiert deutlich, wie separiert und unpersönlich die unterschiedlichen Systeme (psychische Systeme, Interaktionssysteme, Organisationssysteme, gesellschaftliche Funktionssysteme etc.) letztendlich agieren. Ein Subjektbegriff, der diese vermitteln will, muss zwangsläufig ausblenden, wie weitgehend unabhängig voneinander die Kommunikationsflüsse strömen und dass ihr Aufeinandertreffen im engeren Sinne bedeutungslos ist, da sie es nicht vermögen, sich gegenseitig zu steuern bzw. zu regulieren. Mit anderen Worten: Es findet sich keine Form von echter Nachhaltigkeit in den zufälligen, temporären Kopplungen zwischen den ansonsten in sich abgeschlossenen themenbezogenen Verständigungen. Das, worüber man sich verständigt, kann - wie im Falle von Musik - ein Eigenleben entwickeln, das losgelöst von denjenigen „Personen“ ist, die - wie Kitty und der Ich-Erzähler - zufällig kommunikativ daran anschließen. Das Paradoxe ist, dass selbst die scheinbar elementaren psychischen Systeme - z.B. Kitty und der Ich-Erzähler -, die einen Rest von gefestigter Subjektivität vermuten lassen, nach diesem Muster „handeln“, wobei jenes Handeln eher als das Aufscheinen von in-sich-kreisenden Eigenkommunikationen zu verstehen ist. So suchen sich beispielsweise beide, Kitty und der Ich-Erzähler, in der Reibung aneinander sowie in der Verständigung über die verbindende und doch „unbekannte Melodie“. In der Quintessenz der Erzählung bleiben sie dabei in sich gefangen, jeder für sich. Systemtheoretisch betrachtet macht das Sinn, subjekttheoretisch ist das ein Problem! Kein Subjekt partizipiert durch Musik an irgendeiner Wahrheit oder Scheinwahrheit, wie es beispielsweise Adorno in seiner Ästhetischen Theorie ausdrückt, sondern es werden lediglich Bewusstseinsströme und Kommunikationsströme fortwährend selbstständig aktuali- Subjektlose Musik? 295 siert, die sich manchmal, wie in diesem Kurzgeschichten-Beispiel, gegenseitig berühren und dabei punktuell Aufmerksamkeit bzw. Wahrnehmung erzeugen. Diese Art der Beschreibung mag technisch, prosaisch oder gar obskur anmuten, ist aber aus „meiner“ Sicht nicht mehr und nicht weniger als eine nicht subjektbezogene Beschreibung musikbezogener Kommunikation, die „ich“ als adäquat erachte. „Ich“ betone „meine“ Perspektive, da es de facto „nicht meine“ ist, sondern die der Systemtheorie, welche unabhängig von Luhmann (und mir) längst ein Eigenleben gewonnen hat, ebenso wie die Kritische Theorie, welche unabhängig von Adorno und Zima weitergeführt wird. Beide Theorien kommunizieren aus Zimas und meiner Sicht unvereinbare Begriffe, die sich gegenseitig ausschließen. Meiner Meinung nach ist damit die von Zima avisierte Dialogische Metatheorie auf eine harte Probe gestellt. Ich hoffe jedoch inständig, dass mit ihrer Hilfe eine Vermittlung der „konträre[n] Standpunkte“ 39 irgendwann möglich sein wird. # Böhme-Mehner, T., Die Oper als offenes autopoietisches System im Sinne Niklas Luhmanns? , Essen 2003. Brech, M., „Können eiserne Brücken nicht schön sein? “. Über den Prozeß des Zusammenwachsens von Technik und Musik im 20. Jahrhundert, Hofheim 2006. Bühl, W. L., Musiksoziologie, Frankfurt/ M. 2004. Habermas, J., Luhmann, N., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt/ M. 1971. Konopka, M., Das psychische System in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Frankfurt/ M. 1996. Krause, D., Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, Stuttgart, 1996. Luhmann, N., Einführung in die Theorie der Gesellschaft (Hrsg. D. Baecker), Darmstadt 2005. Rapic, S., Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie von Rousseau bis zur Habermas / Luhmann-Kontroverse, Freiburg- München 2008. Zima, P. V., Grenzgang. Prosa, Hamburg 1979. Zima, P. V., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen 1989. Zima, P. V., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenbschaft, Tübingen-Basel (1992), 2011 (2. Aufl.). Zima, P. V. (Hrsg.), Literatur intermedial. Musik - Malerei - Photographie - Film, Darmstadt 1995. Zima, P. V., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel (2000), 2010 (3. Aufl.). 39 P. V. Zima, Was ist Theorie? , op. cit., 2004, S. xii. Nico Thom 296 Zima, P. V., Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen- Basel 2001. Zima, P. V., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel 2004. Zima, P. V., Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg 2005. Simone Heilgendorff (Klagenfurt) ( @ / 6 = / * $ More Light We acknowledge the term subjective when applied to Mahler’s music. Cage on the other hand demonstrates an equally startling objectivity towards musical phenomena, the extreme „outer life“, so to speak, in comparison to the Mahlerian „inner life“. (…) 1 Am Beispiel von Untitled Composition (1981) 2 , einer rund 75 Minuten dauernden Komposition für Cello und Klavier aus dem Spätwerk Morton Feldmans, soll in diesem Beitrag Musik-Erfahrung in performativer Perspektive ins Spiel gebracht werden. Diese führt in der Musikwissenschaft bislang noch ein Schattendasein, obwohl die Erforschung von Performativität in den Künsten wesentliche Impulse aus der nahen Nachbardisziplin der Theaterwissenschaft erhielt. Die „Performanzästhetik“ (Fischer-Lichte) wird in den folgenden Ausführungen zur Erfahrung von Neuer (Kunst-)Musik die Stellung des Subjekt-Begriffs im Umgang mit Musik relativieren. Bei meiner Beschäftigung mit der minimalistischen Musik von Morton Feldman treten tradierte Subjekt-Begriffe in den Hintergrund zugunsten einer näheren Erkundung interaktiver Komponenten im Erfahrungsprozess. Zwar bleiben subjektive Perspektiven aller Beteiligten auch in einer am Performativen orientierten Diskussion erhalten, doch sind sie nur als Teile der ablaufenden interaktiven Prozesse wesentlich. Die Performativitätsforschung liefert auch Argumente für die essentielle Bedeutung von „Live-Acts“, wie sie nunmehr im Musikbetrieb oft genannt werden, also leibhaftiger Konzerte. Sie schließt an den Aura-Begriff Walter Benjamins an, der schon in den 1930er Jahren die großen Verluste von Erlebnis-Qualität durch Reproduktionsprozesse beklagte. Heute, in einer Zeit, die uns via Internet und durch andere digitale Medien schier unendlich viel reproduziertes Material zur Verfügung stellt, 1 M. Feldman, „More Light”, in: ders., Essays, hrsg. v. W. Zimmermann, Kerpen 1985, S. 120. 2 Untitled Composition ist auch bekannt unter dem Titel „Patterns in a Chromatic Field“, unter dem das Stück bei der Universal Edition Wien publiziert ist. Simone Heilgendorff 298 kann man eben diese von Benjamin beklagten auratischen Verlustzonen mit Hilfe performativer Ansätze besser erkennen und ihre Eigenschaften beschreiben, wie etwa die Frage der leibhaftigen „Präsenz“ von Agierenden auf der Konzert-, Opern- oder Theater-Bühne und deren Rückwirkung auf die Erfahrung beispielsweise von Musik. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei auch, dass wissenschaftliches Forschen mit neu entstehenden Modellen künstlerischer Reflexion in Verbindung tritt und dabei Beiträge für die noch relativ junge Disziplin der kunstbasierten Forschung generiert. Indem so performative Aspekte einbezogen werden, geraten sogar Bereiche des Alltags-Erlebens in den Blick. In kaum einem Bereich haben die zusehends weiter ausgebauten Möglichkeiten technischer Reproduktion den Umgang mit künstlerischer Produktion so stark verändert wie in der Musik. Diskussionen um den möglichen und auch teilweise eingetretenen Niedergang etwa klassischer Konzerte oder Orchester zugunsten einer Konsumation von Musik durch reproduzierende Medien sind zwar oft markttechnisch geprägt, befassen sich aber dennoch auch mit dem Stellenwert von Musik im menschlichen Leben, individuell und kollektiv. Die traditionelle Subjekt-Objekt-Beziehung erfährt so eine starke wechselseitige Energie, beispielsweise durch den Umgang mit Musik über neue Medien, aber auch in den offenen Strukturen musikalischer Ereignisse, die Nähe zum alltäglichen Leben suchen. Dadurch rückt diese Beziehung ebenso an den Rand wie eine einseitige subjektive Perspektive, denn das Objekt der Begierde ist selbst derart konzipiert oder aktiv, dass es gewissermaßen selbst zum Agierenden, zum Subjekt wird. Diese Wechselwirkungen bilden einen zentralen Bestandteil performativer Zugänge. In der Musik ist dies an sich von jeher bezüglich Aufführungen ein ganz selbstverständlicher Tatbestand, denn zweifellos strahlen die Musizierenden Vieles aus und kommunizieren mit dem Publikum etc., doch wurde dieser ja eigentlich essentielle Bereich musikalischer Rezeption und Interaktion aus der Forschungsperspektive bis vor Kurzem als unergiebig und nicht erfassbar angesehen. Ein Hauptgrund für all dies liegt darin, dass zumindest die notierte Musik, im Gegensatz zum Lesestoff der Literatur, zur bildenden Kunst und weit mehr als Theater und Tanz, in wechselseitiger Abhängigkeit von den Vorgaben des Notentexts nur dann wahrnehmungstechnisch voll entfaltet werden kann, wenn sie leibhaftig mit allen Sinnen erlebt wird. Damit verknüpft sind neben den konkreten Verankerungen bestimmter Aufführungsbedingungen eines Konzerts interpretationsästhetische, aufführungspraktische und spieltechnische Aspekte, die die Erfahrung wesentlich beeinflussen. Auch die Reflexion gemeinschaftlicher Erfahrung von notierter Musik, nicht nur des Publikums, sondern selbstverständlich auch der sie aufführenden Musiker bzw. Musikerinnen sowie, soweit noch unter uns, der Komponisten bzw. Erfahrung minimalistischer Musik 299 Komponistinnen der erlebten Musik, führt zu weit reichenden individuellen Differenzen bezüglich der gleichen Erfahrung und damit auch zu der Frage nach der Position des Subjekts in entsprechenden Erfahrungsprozessen, nicht zuletzt im Vergleich zu jenen mit den anderen Künsten. Zur Veranschaulichung dieser Thematik eignet sich mit Feldmans Untitled Composition ein Stück, das als Neue Musik in verschiedenen Hinsichten performative Ansätze in Kunst und Wissenschaft vereinigt und erfordert. Morton Feldman setzte zwar in seinen Kompositionen immer konventionelle und damit in bestimmter Weise idiomatisierte Instrumente der westlichen Kunstmusik ein, im Fall von Untitled Composition Cello und Klavier. Ansonsten komponierte er aber Klangprozesse, die sich nicht unmittelbar auf die Tradition europäischer Kunstmusik und deren Idiomatik beziehen bzw. beziehen wollen, noch nicht einmal explizit in einer möglichen Haltung der Rebellion oder des Widerspruchs. Das kann Hörerwartungen noch mehr verwirren, als wenn offensichtlich nichteuropäische Instrumente, Aufführungspraxen und Klänge zu erwarten sind. Feldman gehört zu einer Künstlergeneration, die sich - ohne mit der Begrifflichkeit und Systematik zu hantieren - stark für die performativen Aspekte künstlerischen Handelns interessierte, die ihre Kunst dadurch sperrig machen konnte gegen traditionelle Zuweisungen wie etwa die des musikalischen „Kunstwerks“, des traditionellen Konzerts etc. Letztlich wurde der „performative turn“, so sind sich einige wissenschaftliche Nutzer des performativen Ansatzes einig, in den 1960er Jahren künstlerisch ausgelöst, um später als Topos und als Verankerung einer neuen Methode in die Kulturwissenschaften und die Philosophie übernommen zu werden. Morton Feldman agierte nicht zufällig im kreativen Umfeld des südlichen Manhattan, downtown New York, wo seit den 1950er Jahren eine rege interdisziplinäre experimentelle Kunstszene aller Sparten existiert. Feldman, 1926 im New Yorker Stadtteil Queens als Sohn ukrainischer Immigranten geboren, fand nach Studien bei dem deutschen dem DADA und dem Neoklassizismus verbundenen Emigranten Stefan Wolpe 1950 in den Kreis um John Cage, der Leuchtturm-Figur der später so genannten „Downtown School“. Diese wandte sich dezidiert und lustvoll von der europäischen Tradition der Kunstmusik und ihrem letzten Flagschiff, der seriellen Musik, die bis heute uptown beheimatet ist, ab. Im Umfeld dieser sich durchsetzenden musikalischen „Downtown School“ agierten viele dem „Abstract Expressionism“ nahe stehende oder diesen sogar verkörpernde bildende Künstler, Dichter und Tänzer. Der „Eighth Street Artists Club“ oder kurz „The Club“, gegründet 1949 von 20 Mitgliedern in der East Eighth Str. in Greenwich Village, wurde Zentrum einer Subkultur intellektuellen und sozialen Austauschs für Künstlerinnen und Simone Heilgendorff 300 Künstler, die sich weit in unbekannte kreative Gefilde vorwagten. 3 Von Cage wissen wir, dass die bildenden Künstler hier in der Mehrheit waren und dass nur vier Komponisten zum engeren Kreis gehörten: er selbst, Feldman, Wolpe und Edgar Varèse, der als Vaterfigur der frühen Moderne verehrt wurde. 4 Feldman lebte zudem einige Jahre unter einem Dach mit Künstlern wie Willem de Kooning, Philip Guston und Cage. Als ein Resultat dieser subkulturell geprägten (im Sinne von nicht öffentlich anerkannten) Begegnungen entstand dann - gewissermaßen in performativer Interaktion - Musik, die sich problemlos in vielen Hinsichten vom Herkömmlichen lossagte. Komponisten wie Cage und Feldman gewannen ihre Lösungen für Klang- und Formprobleme teilweise grundlegend aus ihrer Beschäftigung mit der bildenden Kunst ihrer Freunde aus dem Umfeld des „Abstract Expressionism“. Bei Feldmans Musik ist dies vor allem seine durch viele Gespräche und Beobachtungen von Arbeitsprozessen ermöglichte Beschäftigung mit den minimalistischen und prozessorientierten Prinzipien der Künstlerfreunde. Zu dieser gesellte sich seit einer Iran-Konzertreise 1977 seine Liebe zu orientalischen Teppichen, insbesondere alten anatolischen Gebetsteppichen. Bei den Teppichen faszinierte ihn vor allem deren subtiles Farbspiel, das aus der Kombination mehrerer Knäuel annähernd gleicher natürlicher Wollfarben mit dem so genannten „Abrash“-Effekt sowie den auf einem Teppich subtil voneinander abweichend gestalteten Musterwiederholungen resultierte. Beide Einflüsse der Künstlerfreunde und der Teppiche brachten Feldman auf eigene klangliche und formale Ideen für seine Musik. Was wir dann hören, wird zwar in der Regel auf klassischen Instrumenten musiziert, ist aber strukturell weit vom Konventionellen entfernt und beim späten Feldman schon allein wegen der teilweise exorbitanten Länge der Stücke an die Erfahrung leibhaftiger Aufführung in besonderer Weise gekoppelt. Auf musikalische Aufführungen lässt sich Erika Fischer-Lichtes Ansatz zur Beschreibung von Theateraufführungen übertragen. Sie schreibt von Theater-Aufführungen als Situationen, die auf der Basis „Physischer Ko-Präsenz von Schauspielern und Zuschauern (…) prinzipiell die Möglichkeit zur Aushandlung der Beziehungen zwischen Schauspielern und Zuschauern eröffne[n]“. Sie schreibt weiter, „dass sich die These vertreten [lässt], dass die Aufführung aus ihrer Konfrontation entsteht, dass sie das Resultat eben dieser Verhandlungsprozesse ist bzw., dass sie aus diesen Verhandlungsprozessen hervorgeht. Und da dies so ist, lässt sich [aus der Sicht Fischer-Lichtes] weder von einem produktions-, noch einem werk-, noch einem rezeptionsästheti- 3 Vgl. S. Johnson, The New York Schools of Music and Visual Arts: John Cage, Morton Feldman, Edgar Varèse, Willem de Kooning, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, London- New York 2002, S. 59-60. 4 Vgl. ibid., S. 60. Erfahrung minimalistischer Musik 301 schen Ansatz angemessen erfassen, sondern nur von einem performanzästhetischen“. 5 Dieser Ansatz ist in der Musikwissenschaft bis dato noch sehr selten anzutreffen, aber eigentlich ohne Einschränkungen auf diese übertragbar. Er scheint mir gerade für das Verstehen der musikalischen Entwicklungen nach 1950 sehr hilfreich, allerdings zumindest bezüglich europäischer Kunstmusik nur in Verbindung mit musikalischer Analyse auf der Basis der vorliegenden Partituren. Bei der Person, dem Umfeld und der Musik Morton Feldmans haben wir es jedenfalls mit einer Figur der westlichen Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun, deren Anspruch, Praxis und Wirkung etliche Anknüpfungspunkte für eine „performanzästhetische“ (Fischer-Lichte) Analyse bieten. Für das Verstehen der Musik Feldmans erweist sich der Ansatz sogar als ausgesprochen nützlich, weil er dem menschlichen Subjekt, zumindest dem mitteleuropäischer Provenienz, aus persönlicher und wahrnehmungstechnischer, in überkommener Idiomatik verhafteter Orientierungslosigkeit gegenüber seiner Musik heraus hilft. Es ist nämlich zu konstatieren, dass das Gros der ausübenden Künstler und Künstlerinnen bzw. des Publikums hinsichtlich der Musik weit weniger tolerant gegenüber Neuerungen zu sein scheint, als dies im Theater oder in der bildenden Kunst der Fall ist. Der Philosoph Dieter Mersch hat 2002 den schon in den 1960er Jahren einsetzenden Perspektivbzw. Paradigmenwechsel künstlerischer und dann auch geisteswissenschaftlicher Arbeit treffend benannt. Er positioniert die experimentierfreudigen und rebellischen Kunst-Aktionen seit den 1960er Jahren als wesentliche Bestandteile eines heute wohl durchgesetzten Paradigmenwechsels hin zu einer praktischen und wissenschaftlichen Verankerung in Prozessen performativer Interaktion. Neue Begriffe (Performanz, Ekstasis, Wirkung, Ereignis und Aura) bieten alternativen Zugriff. Angezeigt ist damit ein Paradigmenwechsel. Kunst verschiebt sich, wird zur Praxis, zum evolutionären Prozess, zum Akt, zum einmaligen Geschehnis. Ein ganzes Kompendium von Kategorien - Subjektivität, poiesis, Imagination, Symbolisierung, Originalität und Form -, das die Fundamente der traditionellen Kunst strukturierte, stürzt um und verliert seine Gültigkeit. An seine Stelle treten andere Evidenzen: Performanz, Ekstasis, Wirkung, Ereignis und Aura. Dort der Gegenstand, das Werk, die Dauer und Geschlossenheit, hier das Flüchtige, die ‚Bricolage‘, das Risiko, die Situierung im Augenblick, die Konfiguration von Präsenz im hic et nunc. 6 5 E. Fischer-Lichte, „Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen“, in: Performativität und Praxis, Hrsg. J. Kertscher, D. Mersch, München 2003, S. 105. 6 D. Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ M. 2002, S. 233. (Verweis auf: D. Charles, Zeitspielräume, Performance, Musik, Ästhetik, Berlin 1989, S. 25.) Simone Heilgendorff 302 Mersch mag hier etwas zu radikal formulieren, bleibt doch etwa die Form weiterhin ein wesentlicher Bestandteil von Kunst, doch trifft er mit seiner These von der Ablösung des Subjektbegriffs als zentraler Kategorie bezüglich der Kunst bzw. ihrer Ästhetik, d.h. bezüglich unserer Interaktion mit Kunst zugunsten einer dynamischen Auffassung, die zwar das Subjekt enthält, aber lediglich als Teil eines Ganzen, aus meiner Sicht einen Kern heutigen künstlerischen Tuns. Die an die Stelle des „Subjekts“ getretenen Begriffe sind allesamt auf nicht statische Bereiche in zwischenmenschlicher Interaktion ausgerichtet, daher einerseits schwer zu fassen, andererseits zeitgemäß. Zugleich weist Mersch auch den Weg zu einem Verständnis von Neuer Kunst als ihrerseits forscherisch tätiger Praxis, sowohl Form, Struktur und Materialien als auch ihre Wirkungsmöglichkeiten betreffend. 7 Bei Feldman ist eines der Grundprinzipien die Neudefinition der Mittel auf der Basis ihrer extremen Reduktion. In den 1950er und 60er Jahren sind neben wilden und farbenreichen, interdisziplinären, oftmals offenen happeningartigen Formen auch in der Musik, etwa eines Mauricio Kagel, eines Karlheinz Stockhausen oder eines John Cage, auch Phänomene des Rückzugs, der leisen Musik und des „Minimalismus“ diverser Kunstsparten bestimmt von einer Befreiungs-Gestik gegenüber der Tradition, weg vom statischen lebensfernen Kunst- und Werkbegriff. Wenn man bezüglich des Minimalismus in der bildenden Kunst beispielsweise Donald Judd als einen der Hauptvertreter nennen müsste, wären für die Musik neben den auch für die Massen populären Vertretern der Minimal Music wie Steve Reich oder Philip Glass auch die beiden Downtown-Komponisten La Mounte Young und Morton Feldman als höchst eigenwillige Protagonisten dieser „Bewegung“ zu nennen. Der Minimalismus zielt über Reduktion auch auf Entsubjektivierung und die Verschiebung der Wahrnehmung auf das Eigene erfahrener äußerer Prozesse. Den Rückzug ins Minimalistische hat der 2003 verstorbene Musiker und Musikwissenschaftler Peter Niklas Wilson in seinem letzten Buch mit dem Titel reduktion zur aktualität einer musikalischen strategie 8 gründlich unter- 7 Zu nennen ist im Kontext dieser neuen Denkweise allerdings auch die ebenfalls in den 1960er Jahren initiierte psychoanalytisch orientierte Kulturanalyse Alfred Lorenzers und deren zentraler Begriff des „szenischen Verstehens“. Diese dynamische Methode ist, verankert zwischen der psychoanalytischen Sozialforschung der Frankfurter Schule und der Philosophie des Symbols von Ernst Cassirer in der Interpretation seiner Schülerin Susanne Langer, bereits per se performativ aufgestellt. Ihr eigen ist einerseits der zentrale Begriff symbolischer Interaktion als Schaltstelle einer sich ständig wandelnden Wertigkeit und Konstellation menschlichen Lebens, des individuellen wie des kollektiven, und andererseits eine interdisziplinäre Integration intellektueller und emotionaler wie bewusster und unbewusster Komponenten menschlichen Seins. Lorenzers Methodik bzw. Ansatz verwendete ich bereits mehrfach zur Analyse von Musik. 8 Mainz 2003 (edition neue zeitschrift für musik). Erfahrung minimalistischer Musik 303 sucht. In einem Vorabdruck dazu schrieb er 2002: „Der negierende Impetus hat persönliche Dialekte, persönliche Feindbilder, doch Hauptgegner sind - in reduktiver bildender Kunst wie Musik - Narration und Psychologie, Drama, überbordende Subjektivität und Zelebrieren des eigenen Künstlertums.“ 9 Eine Seite später lässt er Steve Reich sprechen: „Musical process can give one a direct contact with the impersonal“ 10 , postulierte Steve Reich 1968 in seiner Textsammlung Music as Gradual Process und brachte den Begriff des „unpersönlichen Rituals“ ins Spiel, der Entsubjektivierung des Musikmachens und -hörens. 11 Wilson geht noch einen Schritt weiter und unternimmt den Versuch, bei minimalistischer Musik eine stark sakrale Wirkung nachzuweisen: Fokus, Maßstabveränderung, Etablierung eines Klangraums: Reduktion führt zur Feier des Jetzt; der Klangraum wird zur akustischen Kathedrale eines säkulären Zeitalters. Damit ist auch ein entscheidender Unterschied zur Minimal Art benannt. Denn letztere betont auf eine geradezu provokative Weise die Profanität nicht nur ihrer Materialien, sondern auch die ihres Arrangements. 12 Im Gegensatz dazu sieht er in der bildenden Kunst eher eine Profanisierung: In ihrer Insistenz auf alltäglichen, oft industriellen, unbearbeiteten oder allenfalls maschinell zugerichteten, geometrisch arrangierten Modulen inszenieren Künstler wie Carl Andre, Dan Flavin, Donald Judd immer wieder eines: den Grenzgang der Kunst zur Nicht-Kunst, ihren Rückzug in die Unauffälligkeit. (…) Solcher Rückzug bleibt der reduktiven Musik verwehrt. 13 Die Rückung in Richtung Alltäglichkeit und Unauffälligkeit ist bei reduktiver akustischer Musik allerdings auch gegeben, erst recht ist dem so bei reduktiven Klanginstallationen. Nicht von ungefähr wird oft für „stille“ Musik nach alternativen Räumen und offenen Aufführungssituationen gesucht, die eine Erfahrung nach individuellem Maß in Eigenzeit ermöglichen. Zu diskutieren ist Wilsons folgende Bemerkung, mit der er die Distanz musikalischer Ereignisse zum Alltag unterstreicht: „Reduktive Musik erscheint so a priori als akustische Gegenwelt - in der Sparsamkeit ihres akustischen Farbauftrags, im künstlichen, kunstvollen Arrangement ihres auffallend eng umrissenen, homogenisierten Ensembles von Klangereignissen.“ 14 Wilson klammert damit Ereignisse aus, welche eine Erfahrung fließender Übergänge 9 P. N. Wilson, „Subtext Spiritualität. Reduktive Ästhetik und Sakralität“, in: Neue Zeitschrift für Musik 5/ 2002, S. 32. 10 S. Reich, „Music as Gradual Process“, in: ders., Writings about Music, Halifax-New York 1974, S. 11. 11 P. N. Wilson, Subjekt, Spiritualität, op. cit., S. 34. 12 Ibid. 13 Ibid. 14 Ibid., S. 35. Simone Heilgendorff 304 zwischen künstlerischer Aktivität und Alltags-Tun mit sich bringen. Deratige Bezüge sind möglich seit Cages Credo-Manifest, wonach alles Musik sei, und seit der von ihm propagierten Öffnung konzertartiger Ereignisse für den Einfluss des Alltags, etwa für das Rauschen des Autoverkehrs bei offenem Fenster. Das heißt nicht, dass solche Ereignisse nicht auch als Störung wahrgenommen werden könnten, doch fehlt dann, in der Perspektive Cages, die nötige Durchlässigkeit für alles was Klang ist. Insgesamt ist Wilson aber zuzustimmen, wenn er auf mögliche Irritationen verweist, die minimalistische Musik auslösen kann, auch wenn dies sicher eher für die westliche Kultur als etwa die Asiens gelten dürfte: Doch dass die bekannte Maßstabveränderung [zum Kleinen, Unspektakulären hin], wie sie nun im Einzelnen auch inszeniert sein mag, kompositorisch oder improvisatorisch, ein weitaus drastischeres Heraustreten aus unserer Alltagszeit bedeutet, als es durch herkömmliche, ‚erzählende‘ Musik geschieht, lässt sich schwer von der Hand weisen. 15 Auf diesen Aspekt einer irritierten Alltagsdistanz stützt Wilson seine Beobachtung eines spirituellen und sakralen Subtexts reduzierter Musik. In einem Text der Philosophin Julia Rebentisch findet sich ein Erklärungsansatz dieser merkwürdig reduzierten Erfahrung minimalistischer Kunst, in dem sie auch den Subjekt-Begriff nutzt: Performativität wäre mithin weniger im Sinne eines subjektiven Aktes, im Sinne einer intentional vollzogenen Handlung denn im Sinne eines Ereignisses zwischen dem Subjekt und Objekt zu verstehen, eines Ereignisses, das dem ästhetisch erfahrenden Subjekt eher ‚widerfährt‘, denn intentional von ihm vollzogen wird. 16 Sie beschreibt in ihrem Text die Bühnenhaftigkeit und Performativität gerade minimalistischer Kunst, die gewissermaßen die sie Erfahrenden provoziert, zu einer intensiveren Interaktion herausfordert, als dies bei traditioneller Kunst, man muss wohl ergänzen „westlicher“ Kunst, der Fall ist. Auf der Basis dieses Exkurses zur Erfahrung minimalistischer Kunst und Musik kehren wir zu Feldman zurück. Zunächst soll der amerikanische Musikjournalist Alex Ross mit einer Beschreibung zu Wort kommen, die Feldmans Leben, Ausstrahlung, Umfeld, Ästhetik und Wirken in einer Weise porträtiert, die es leichter macht, Feldmans Musik zu begreifen: 15 Ibid., S. 34. Kursivdruck v. d. V. 16 J. Rebentisch, „Der Auftritt des minimalisitischen Objekts, die Performanz des Betrachters und die ethisch-ästhetische Frage“, in: J. Kertscher, D. Mersch (Hrsg.), Performativität und Parxis, München 2003, S. 135. Erfahrung minimalistischer Musik 305 A champion monologist, Feldman had an uncanny ability to dominate the most illustrious company. Six feet tall, and weighing nearly three hundred pounds, he was hard to miss. He attended meetings of the Eighth Street Artists’ Club, the headquarters of the Abstract Expressionists; he made his presence felt at gatherings of the New York School of poets, dancers, and painters, lavishing sometimes unwanted attention on the women in the room; he both amused and affronted other composers. (…) The often noted paradox is that this immense, verbose man wrote music that seldom rose above a whisper. In the noisiest century in history, Feldman chose to be glacially slow and snowily soft. Chords arrive one after another, in seemingly haphazard sequence, interspersed with silences. Harmonies hover in a no man’s land between consonance and dissonance, paradise and oblivion. Rhythms are irregular and overlapping, so that the music floats above the beat. Simple figures repeat for a long time, then disappear. There is no exposition or development of themes, no clear formal structure. Certain later works unfold over extraordinarily lengthy spans of time, straining the capabilities of performers to play them and audiences to hear them. More than a dozen pieces last between one and two hours, and „For Philip Guston“ and „String Quartet (II)“ go on for much longer. In its ritual stillness, this body of work abandons the syntax of Western music, and performers must set aside their training to do it justice. Legend has it that after one group of players had crept their way as quietly as possible through a score of his Feldman barked, „It’s too fuckin’ loud, and it’s too fuckin’ fast.“ 17 Feldman war ein Extremist, wenn ihn selbst die leiseste und langsamste Interpretation seiner Musik, geleistet von Leuten, die dafür sicher an ihre spieltechnischen Grenzen gehen mussten, derart erzürnen konnte. Was brachte Feldman dazu, sich dieser leisen, langsamen und nach Gesichtspunkten westlicher Ästhetik ereignisarmen Klanglichkeit zu verschreiben? 1969 entstand ein Text, in dem Feldman seine Abkehr von den Forderungen europäischer Tradition und insbesondere von ihrem Dualismus beschreibt: What I am really trying to say here is only that I feel we have been victimized. For centuries, we have been victimized by European civilization. And all it has given is - including Kierkegaard - is an Either/ Or situation, both in politics and in art. But suppose what we want is Neither/ nor? Suppose we want neither politics nor art? Suppose we want a human action that doesn’t have to be legitimized by some type of holy water gesture of baptism? Why must we give it a name? What’s wrong with leaving it nameless? 18 Selbstverständlich liegen hier Schlüsse auf Feldmans jüdischen Kontext nahe, sind sogar berechtigt, aber diese allein erklären die Haltung eines säkularisierten Juden wie Morton Feldman eher nicht. Der deutsche Komponist Walter Zimmermann, ein ausgezeichneter Feldman-Kenner und stark durch dessen Musik beeinflusst, schreibt: 17 http: / / www.therestisnoise.com/ .m/ 2006/ 06/ morton_feldman_.html? p=4 (6.2.2010) 18 „Neither/ Nor“ (1969), in: M. Feldman, Essays, op. cit., S. 79. Simone Heilgendorff 306 (…) seine nonexpressive Musik hat sicherlich da auch einen politischen Kern, den der Weigerung des Ikonoklasten, des Bilderzertrümmerers, der mitansehen muß, wie Ausdruck sich verselbständigte zu Aggression und Vernichtung. Zugleich hat Morton Feldman eine Ästhetik entwickelt, die stark im jüdischen Denken verwurzelt ist, allem voran seine Forderung nach Bildlosigkeit. So gelingt es ihm auch mit seinen Kompositionen immer diesen Schwebezustand zu erreichen, der an nichts gemahnt, an nichts erinnert als an das, was er vorgibt, nämlich Klang zu sein. 19 Etliche der Kompositionen Feldmans tragen entsprechend abstrakte Titel wie „Duration“, „Intersection“, „Instruments“, „Voice and Instruments“ und „structures“. Auch „Why patterns? “ ist der Titel eines Ensemblestücks von Feldman. Als wesentliches form- und farbgebendes Element seiner Musik entwickelte Feldman ab den 1950er Jahren seine persönliche Technik der Patterns, die dann im Verlauf aus verschiedenen Gründen zu Phänomenen einer „Crippled symmetry“, also einer verkrüppelten Symmetrie zusammenwachsen, ebenfalls ein Stück-Titel (1983). Die „crippled symmetry“ verweist unmittelbar auf die schon genannten Merkmale leicht gestörter Regelmäßigkeit in Muster und Farbgebung alter orientalischer Teppiche. Bezüglich des 1981 fertig gestellten Duos für Violoncello und Klavier, das Feldman selbst als Untitled Composition führte und bei seinem Verleger, der Universal Edition in Wien, im gleichen Jahr neben Feldmans Reinschrift als Untitled Composition leider in einer relativ fehlerreichen gesetzten Ausgabe unter dem Titel „Patterns in a Chromatic Field“ veröffentlicht wurde, sind die minimalistischen Grundprinzipien Feldmans nachvollziehbar. Untitled Composition ist mit ca. 75 bis 80 Minuten Dauer eine der längeren, aber keineswegs die längste der späten Feldmanschen Kompositionen. Die Dauern reichen bis zu fünf bzw. sechs Stunden ohne Pause. Das Duo spielt sich im ultraleisen Bereich zwischen ppp und ppppp ab; das Cello ist von Anfang bis Ende mit Dämpfer zu spielen, am Klavier ist bei fast durchgehenden Pedalisierungsangaben mit der natürlichen Lautstärke des modernen Flügels zu kämpfen. Der Freiburger Komponist Thomas Hummel hat dazu 1994 eine gründliche, dem Stück gerecht werdende Analyse veröffentlicht, 20 in der er einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der „Pattern“-Technik Feldmans und dem sich dann zwingend ergebenden Schlusspunkt des Werkes überzeugend darlegt, der nicht viel früher sein könnte und viel später sein dürfte. Mithilfe von Software entwickelte Hummel seine Methode gemäß Adornos Diktum aus dem Gegenstand heraus und räumte dafür zunächst ein- 19 W. Zimmermann, „Morton Feldman - Der Ikonoklast“, in: M. Feldman, Essays, op. cit., S. 15. 20 Th. Hummel, Morton Feldmans „U ntitled Composition“ (1981) für Violoncello und Klavier. Eine computergestützte Analyse, Saarbrücken 1994 (Fragment 3). Erfahrung minimalistischer Musik 307 mal mit dem von Feldman selbst, genährt von einem tief sitzenden Anti- Intellektualismus 21 , kreierten Mythos eines Analyse-Verbots dieser Musik auf. 22 Mit seinem überzeugenden Ansatz kommt Hummel zu brillanten Ergebnissen, die auch bei der Verarbeitung der Hörerfahrung helfen. Hummels Darlegungen werde ich im Folgenden soweit vorstellen, als sie für eine performanzästhetische Annäherung gebraucht werden. Insbesondere die Abrash- Effekte, also die Färbungseffekte, die Feldman aus den alten orientalischen Gebetsteppichen ableitet, bzw. die Effekte der „Crippled Symmetry“, kann Hummel problemlos als von Feldman systematisiert und intendiert nachweisen. Hummel entdeckt beispielsweise, dass im Sinn eines Motivs oder einer Figur c h r o m a t i s c h e F e l d e r aus drei oder mehr Tönen fungieren, die vielfach wiederholt werden, dann gestört werden durch kleine feldfremde Einsprengsel und evtl. durch neue Felder abgelöst werden. 23 Zu Beginn des Stücks erklingt etwa im Klavier eine streng rhythmisch notierte und wiederholte Dreitonfigur bestehend aus d, es und fes in verschiedenen Oktavlagen, zuweilen durch Brechung der rhythmischen Ordnung oder Folge der Töne gestört. &/ = / * $ 0 = , 5J &B27 T R ( > Als Basis-Material solcher rhythmisch-figurativen Abläufe benennt Hummel V o r g e s t a l t h a f t e s bzw. Muster, „Patterns“, nachdem er, wie er selbst schreibt, das Stück auch analytisch aufmerksam gehört hat, also performanzästhetisch agierte: „Beim Durchhören des Werkes und bei der Durchsicht der Partitur werden Blockelemente bzw. die Texturen in bestimmten Kategorien 21 Vgl. M. Feldman, „Middleburg Lectures“, in: H.-K. Metzger, R. Riehn (Hrsg.), Morton Feldman, München 1986 (Musik-Konzepte 48/ 49), S. 3-63. 22 Hummels Veröffentlichung folgten seitdem alsbald S. Claren mit Neither. Die Musik Morton Feldmans (Diss. 1996) und M. Saxer, Between categories. Studien zum Komponieren Morton Feldmans von 1951 bis 1977, Saarbrücken 1998. 2001 erschien zudem Th. DeLio The Music of Morton Feldman, New York-London. 23 Vgl. Th. Hummel, Morton Feldmans „Untitled Composition“, op. cit., S. 4-9. „ “ Simone Heilgendorff 308 wahrgenommen. Diese Kategorien werden am besten als Muster dargestellt (…).“ 24 Als wichtigste struktur- und formbildende Elemente identifiziert Hummel die so genannten B l ö c k e . 25 Hummel kam bei seiner Analyse rasch zu dem Schluss, dass die traditionellen formbildenden Elemente wie eben Motiv, Thema, Durcharbeitung etc. zu ersetzen sind durch neue Begriffe wie den des „Blocks“ für eine Passage, die vormals vielleicht als Thema oder Abschnitt bezeichnet wurde, den der Figur und den des chromatischen Feldes. Hummel identifiziert insgesamt 135 Blöcke im gesamten Stück und benennt Gründe für die von ihm gewählten Blockgrenzen. Ein Block besteht aus etlichen vielfach wiederholten Figuren als chromatische Felder, die bestimmten Änderungsverläufen unterworfen sind. '/ = / * $ 0 % $ : % < J )&+ 5J )F3B)'*7 T R ( > 5 $ $ 4 4 > 7 Hummel erarbeitete aus dem Verlauf des Stücks mittels computergesteuerter Analyse 26 folgende Komponenten, die einen Block determinieren: 24 Ibid., S. 17. 25 Ibid., S. 9-10. 26 Diese unternahm er seinerzeit noch auf einem Atari mit dem von ihm selbst geschriebenen Programm KRAKE (Programmiersprache FORTH). Erfahrung minimalistischer Musik 309 Änderung der Spieltechnik in beiden Instrumenten Änderung des Tonhöhenverlaufs in beiden Instrumenten Änderung der zeitlichen Notendichten (Ereignisdichten) in beiden Instrumenten 27 Wesentlich ist, dass Feldman die theoretischen Veränderungsmöglichkeiten bei weitem nicht ausreizt und dass die Blockveränderungen nicht mittels Kontrast oder Dualität auftreten. Es handelt sich vielmehr um monochrome Schattierungen im ultraleisen Bereich. Auch die doppelten Versetzungszeichen, die sich fast ausschließlich im Cellopart finden, gehören dazu. Hummel legt großen Wert darauf, sich so objektiv und defensiv wie möglich dem Material zu nähern und greift auf „Periodizitäten“ als kleinsten gemeinsamen Nenner aller Blöcke des Stücks zurück. 28 Die von Hummel genannten Komponenten sind am Beispiel in Abb. 2 nachvollziehbar: Cello: An der Blockgrenze in T. 315 wechselt die Spieltechnik des Cellos vom Flageolett zum Pizz., von einzeln zu streichenden Tönen im sehr hohen Register zu gezupften Tontrauben in tiefer Lage. Die rhythmische Struktur des Celloparts lichtet sich deutlich ruckartig an der Blockgrenze. Klavier: Das chromatische Feld ändert sich auch, insbesondere die linke Hand hat ab der Blockgrenze in tiefster Lage zu spielen. Die rhythmische Textur ändert sich minimal, auch verursacht durch die Änderung der Taktart vom 5/ 16tel zum 4/ 16tel-Takt. Hummel unterstützt seinen Ansatz durch einen Hinweis auf eine Aussage Feldmans von 1984: „I work very moduly, I don’t work in a continuity, I work moduly. And many times I like to work moduly because then I turn it around! If I just think in terms of a module, I could take this in another place like Frankenstein, and I could put it over here...“ 29 Dabei verbindet sich Feldman hier auch mit den repetitiven Ansätzen seiner Malerfreunde. 30 Wir dürfen uns also vorstellen, dass Feldman das Stück nach den Vorentscheidungen über die zu verwendenden chromatischen Felder und den sehr leisen Gesamtduktus nahezu technizistisch mit modulartiger Mustergebung „webte“. Feldmans Nutzung der doppelten Versetzungszeichen gab immer wieder Anlass zu Diskussionen über eventuelle mikrotonale Abweichungen. Er ließ entsprechende Fragen leider unbeantwortet. Hummels Beobachtung, dass diese Vorzeichen zum allergrößten Teil im Cello vorgeschrieben sind und die Klavierstimme sie kaum hat, lässt zu Recht darauf schließen, dass diese dop- 27 Th. Hummel, Morton Feldmans „Untitled Composition“, op. cit., S. 9. 28 Vgl. Ibid., S. 10-17. 29 M. Feldman, „Anecdotes and Drawings“, in: ders., Essays, op. cit., S. 166. 30 Bezüglich der von Hummel entdeckten Blockstruktur ist ein Bezug zu den Crosshatch- Bildern Jackson Pollocks evident, die dieser in den 1970er und 1980er Jahren anfertigte, zumeist als Drucke. Vgl. S. Johnson, The New York Schools of Music and Visual Arts, op. cit, S. 217. Simone Heilgendorff 310 pelten Zeichen in Abweichung vom ihnen bei gleich schwebender Stimmung enharmonisch gleichen Ton (des Klaviers) erklingen sollten. 31 Hinzu kommt allerdings noch der virtuose Einsatz natürlicher und künstlicher Flageolette, deren exorbitant schwierige Realisierung, wenn permanente hörbare Rutscher auf dem Griffbrett des Cellos vermieden werden sollen, Feldman vermutlich ganz gleichgültig war. 32 Für die modulartige Struktur essentiell sind die Störungen der Figuren und Blöcke, ihre „Crippled symmetry“. Solche hat Hummel mehrfach mit seinen Bordmitteln identifiziert. Die entsprechende Abweichung hat er beispielsweise bezüglich der Blöcke 0 und 1, also bezüglich der Takte 1-18 und 19-54, identifiziert. Hier hat das Cello Tongruppen mit as heses, as, fisis und ais zu spielen, in 16teln mit und ohne Punkt. Für diesen Rhythmus weist Thomas Hummel eine genau in der Mitte des Blocks drehende so genannte „Punkt-Symmetrie“ nach, und zwar geht sie am Schaltpunkt genau im Krebs, also rückwärts bis auf eine Stelle in T. 8. )/ = / * $ 5J &B&H70 J - ? % F & $ ? )) 31 Hummel schlägt vor, die Zeichen jeweils um rund 20 Cent vom nächsten enharmonisch verwechselten Ton abweichen zu lassen, wenn sie abwärts gehen etwas über dem enharmonisch verwechselten Ton, wenn sie aufwärts gehen unter dem nächsten enharmonisch verwechselbaren Ton. Ein eses sollte entsprechend etwas über dem d intoniert werden, ein disis etwas unter dem e. 32 Der Cellist Claudius von Wrochem verwendet daher eine leichte Skordatur, also eine Umstimmung der oberen drei Saiten, A +18, D +18 und G -15 Cent, die ihm den Einsatz besonders zahlreicher natürlicher Flageolette, auch mit doppelten Versetzungszeichen, erlaubt. 33 Th. Hummel, Morton Feldmans „Untitled Composition“, op. cit., S. 37. Erfahrung minimalistischer Musik 311 Für das gesamte Stück gelten solche minimalen Eingriffe, die rhythmisch gesprochen oft über die „Valeur ajoutée“ 34 , den dazu gegebenen Wert etwa eines Punkts erreicht werden. Hummel nennt solche minimalen Abweichungen gewollte Störungen der sonst allzu perfekten Symmetrie. Auch für die Tonhöhen bietet Hummel eine vollständige grafisch belegte Analyse an, die weitere Spiegelsymmetrien und Krebse des Materials aufweist. */ = / * $ 5J &B&H70 1 @ % F & ? . - 5 7 )+ Hummel findet aufgrund seiner Erhebungen eine plausible Erklärung, warum Untitled Composition nach den rund 75 Minuten enden muss: Er weist eine gewisse Erschöpfung des Materials und seiner Permutationen nach. Es findet, um mit Feldmans eigener Äußerung über musikalisches Material in seinen langen Stücken zu sprechen, ein „Alterungsprozess“ statt, der an dem gewählten Endpunkt nicht mehr weiter geführt werden könnte. Die Dauer von Untitled Composition ist also nicht einer absichtlichen Quälerei des Komponisten geschuldet, sondern ergibt sich aus den inneren Gesetzmäßigkeiten ihrer Abläufe. Erst ein performanzästhetischer Ansatz, der alle denkbaren Wirkungs- und Interaktionsebenen inkl. der „reinen“ musikalischen Analyse nutzt, erlaubt es, der Irritation beizukommen, die eine Erfahrung von Feldmans Untitled Com- 34 Vgl. ibid., S. 42-43. 35 Ibid., S. 40. Simone Heilgendorff 312 position auslöst, denn derart minimalistische Musik „fordert zu aktiver Interaktion heraus“ (Rebentisch). Feldmans „Bilderzertrümmerung“ (W. Zimmermann) wäre ohne Einbeziehung seines Umfelds sowie interaktiver Aspekte im unmittelbaren Umgang mit der Musik kaum zu begreifen. Feldman fand seine eigene Musik - beeinflusst durch Arbeiten bestimmter Maler-Freunde und Musterstrukturen alter orientalischer Teppiche - durch Reduktion seines Materials. Dies gilt etwa für seine eng begrenzten chromatischen Felder in vielfach sehr leisen dynamischen Bereichen. Durch Feldmans Entwicklung eigener struktureller Strategien mittels modulartiger Blöcke entstehen allmähliche, oftmals repetitive Verwandlungsprozesse. Für Letztere sind die Einbeziehung von minimalen, kaum merklichen Störungen der Symmetrie sowie die Ausdehnung der Zeit gemäß den dem Material immanenten Vorgaben wesentlich. Dabei verankerte er seine Musik idiomatisch durch die verwendeten konventionellen Instrumente der westlichen Kunstmusik und deren Aufführungskontext des klassischen Konzerts in herkömmlichen Rezeptions-Traditionen, führte aber beide Bereiche an die Grenzen des Machbaren, bezüglich der Ausführenden in Hinsicht auf ihre Fähigkeiten, ihre verfügbaren spieltechnischen Ressourcen weitestmöglich auszunutzen, bezüglich der Ausführenden und der Rezipierenden hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, sich auf derart grenzgängerisch leise, ereignisarme und lang andauernde Musik einzulassen. Feldman fordert Musizierende wie Zuhörende zu einer ausgesprochen zugewandten, kontemplativ-wachen und aufmerksamen Haltung heraus, ohne die die Rezeption seiner Musik Einbußen erleidet. Idealiter erhält sie dazu auch den performativen Rahmen eines leibhaftigen Konzerts. Nur hier kann die für diese Musik essentielle Präsenz der Körper, von Musizierenden wie Publikum, ihren Wirkungsanteil an dieser Musik angemessen entfalten. Dies gilt umso mehr für ein Stück dieser Länge, denn nur live können zusätzlich zu den klanglichen Abläufen (und deren physischer Präsenz im Saal! ) Konzentration und Interaktion der Musikerinnen und Musiker, ihre Bewegungen, ihre Mimik und ihr physischer Ausdruck über so lange Zeit Aufmerksamkeit erregen. Eine Rezeption von Untitled Composition von einem Reproduktionsmedium wie CD oder DVD würde diese Musik höchstwahrscheinlich nach kürzester Zeit in die Position eines Begleitereignisses einer anderen ins Zentrum gerückten Tätigkeit abdrängen. Die Möglichkeit des Publikums wiederum, die eigene Konzentration und Zugewandtheit den Musizierenden zu geben, und diese bei der fordernden langen Reise durch das Stück zu unterstützen, in entsprechende „Verhandlungsprozesse“ (Fischer-Lichte) einzutreten, wird ebenfalls ausschließlich bei einer Live-Performance gewährt. Sie macht auch einen großen Teil des auratischen Zaubers einer so versammelten Gemeinschaft aus. Erfahrung minimalistischer Musik 313 Belohnt werden alle Beteiligten u.a. durch eine enorm gestiegene Aufmerksamkeit für alle Feinheiten dieser leisen und im monochromen Bereich doch vielfarbigen Klangprozesse bei einer zeitlichen Ausdehnung, die „ein drastisches Heraustreten aus der Alltagszeit“ (P. N. Wilson) bedeutet. Möglicherweise dürfen wir sogar eine ekstatische Erfahrung konstatieren: „So heben Farben, Formen, Buchstaben oder Klänge durch Wiederholung und Eintönigkeit die Realzeit auf und versetzen den Rezipienten in eine Art virtuelle Unendlichkeit.“ 36 Die produzierenden und die rezipierenden Subjekte gehen dann auf in der Erfahrung einer virtuellen Unendlichkeit, ermöglicht durch ein musikalisches Ereignis, das einen „Schwebezustand“ (W. Zimmermann) vermittelt, „der an nichts gemahnt, an nichts erinnert, als an das, was er ist, nämlich Klang zu sein“. Für alle Zitate aus Partituren: © 1981 by Universal Edition (London) Ltd., London/ UE 17327 # Caduff, C., Gebhardt Fink, S., Keller, F., Schmidt, S., Die Künste im Gespräch. Zum Verhältnis von Kunst, Musik, Literatur und Film, München 2007. Claren, S., Neither. Die Musik Morton Feldmans (Diss. 1996), Hofheim 2000. DeLio, Th., The Music of Morton Feldman, New York 2001. Feldman, M., Essays (Hrsg. W. Zimmermann), Kerpen 1985. Fischer-Lichte, E., „Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen“, in: J. Kertscher, D. Mersch (Hrsg.), Performativität und Praxis, München 2003. Johnson, S., The New York Schools of Music and Visual Arts: John Cage, Morton Feldman, Edgar Varèse, Willem de Kooning, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, New York 2002. Hummel, Th., Morton Feldmans „Untitled Composition“ (1981) für Violoncello und Klavier. Eine computergestützte Analyse (Fragment 3), Saarbrücken 1994. Mersch, D., Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ M. 2002. Rebentisch, J., „Der Auftritt des minimalisitischen Objekts, die Performanz des Betrachters und die ethisch-ästhetische Frage“, in: J. Kertscher, D. Mersch (Hrsg.), Performativität und Praxis, München 2003. Reich, S., „Music as Gradual Process“, in: ders., Writings about Music, Halifax, New York, 1974. Ross, A., „American Sublime“, in: The New Yorker, 19.6.2006 (http: / www.therestisnoise.com/ .m/ 2006/ 06/ morton_feldman_.html? ) (Zugriff: 5. 2. 2010). 36 C. Caduff, S. Gebhardt Fink, F. Keller, S. Schmidt, Die Künste im Gespräch. Zum Verhältnis von Kunst, Musik, Literatur und Film, München 2007, S. 55. Simone Heilgendorff 314 Saxer, M., Between categories. Studien zum Komponieren Morton Feldmans von 1951 bis 1977, Saarbrücken 1998. Wilson, P. N., „Subtext Spiritualität. Reduktive Ästhetik und Sakralität“, in: Neue Zeitschrift für Musik 5, 2002. Wilson, P. N., reduktion zur aktualität einer musikalischen strategie, Mainz 2003. Jutta Steininger (Wien/ Klagenfurt) ,C B $ ! % $ & G ,C ? / (9 , Die historische Bildgattung des Porträts, der visuell anschaulich gemachten Erscheinung einer bestimmten Person, hat im Laufe der westlichen Kunstgeschichte spezifische Bildtypen hervorgebracht. Traditionellerweise galten diese in der Kunstliteratur als Ausdruck „innerer und geistiger Wesenheit“, wenngleich auch der soziale Rang durch Attribute, Eigenschaften, Insignien und Darstellungsweisen angezeigt wird. Das Selbstporträt wird seit der frühen Neuzeit als selbstbewusste Inszenierung des hauptsächlich männlichen Künstlersubjektes betrachtet. Seine reflexive Struktur spiegelt nicht nur künstlerisches Selbstverständnis vor der Folie des je wirksamen Subjektverständnisses wider, sondern bezieht zunehmend, spätestens seit der Romantik, Vorstellungen eines freien schöpferischen Geistes mit ein, der sein Selbst in expressiver Geste dauerhaft im Kunstwerk ausdrückt. 1 Die zahlreichen Möglichkeiten der Selbstdarstellung lassen die Beziehung des Künstlers wie der Künstlerin zu seinem oder ihrem eigenen Bild als exklusiv erscheinen und markieren vorerst den Wandel des Selbstverständnisses vom Handwerker zum Virtuosen. 2 Auch die der Legendenbildung um Genie und Meisterschaft höchst zuträgliche Kunstliteratur, die sich der biographischen Beschreibung der Künstlerexistenzen widmete, schuf ein weites Interpretationsfeld für selbstbildnerische Porträts. Im Bild des seit der Antike vom Handwerker zum Weltbaumeister gewandelten, porträtiert sich der Künstler in einem Medium, dem Tafelbild, das seit dem 15. Jahrhundert als „Fenster zur Welt“ verstanden wurde. Als Vertreter seines Standes, ikonographisch identifiziert durch Pinsel und Palette, im Atelier, oft mit nacktem Modell als Attribut des männlichen Künstlersubjektes, 1 D. Krystof, „Identität und Selbstinszenierung“, in: H. Butin (Hrsg.), Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2006 (2002), S. 114. 2 A. Conti, Der Weg des Künstlers. Vom Handwerker zum Virtuosen, Berlin 1998 (1997 auf italienisch). Jutta Steininger 316 für das es meistens auch die lebensweltliche Muse und Geliebte war, trat er, gelegentlich auch sie, selbstbewusst vor sein Publikum. 3 Schon in den ersten Selbstdarstellungen der Renaissance imaginieren sich die Künstler in vielerlei Gestalten. Als Heiliger Lukas, der die Madonna malt (Rogier van der Weyden, 1435, Boston), aufgrund seiner bildnerischen Leistungen und seines sozialen Status mit gesteigertem Selbstgefühl sich selbst verklärend als Christus und Welterlöser (Albrecht Dürer, 1499, München, Abb. 1). &/ C 0 $ ! 0 &+FF0 C 0 " Wenn sich also Joseph Beuys als frontal auf die Betrachter zuschreitender Revolutionär in einem Foto inszenierte - „La Rivoluzione siamo noi“ heißt das Bild - oder als Schamane, der in einer Tage dauernden Performance mit einem Schakal zusammen lebte und das archaische Schauspiel einer Mensch- Tierbeziehung ablaufen ließ, nahm er den Gestus einer in der Renaissance ausgebildeten Künstlerattitüde für sich in Anspruch. Rembrandt van Rijn schuf an die hundert Selbstbildnisse. Er imaginierte sich als serielles Ich im Bild, als Reproduktionsagent seiner selbst und lieferte damit eine aufmerksame Chronologie seines Alterns und seiner Befindlichkeiten. Umberto Boccioni unternahm den futuristischen Versuch, ein plurales Ich zu gestalten, mit der Fotomontage „Io - noi - Boccioni“. Unter Ausnützung der neuesten Fototechnologie konnte er sich selbst gleichzeitig von mehreren 3 So zum Beispiel: Jan Vermeer van Delft, Der Maler in seinem Atelier, gilt zugleich als Allegorie der Malkunst, um 1665/ 66, Wien; Gustave Courbet, Atelier des Malers, 1855, Paris; Dorothea Therbusch, Selbstporträt mit dem Einglas, um 1770, Berlin. Künstlerische Inszenierungen 317 Seiten im Bild darstellen. Dauer, Gedächtnis und Simultaneität sind die im Technischen Manifest des Futurismus 1912 angeführten Kriterien, denen er seine bildnerischen Absichten unterstellt hatte. Eine seit dem 15. Jahrhundert belegte toskanische Redensart, „ogni pittore dipinge sè“ 4 , meint, dass sich jedes Künstlersubjekt vor allem in seinem Werk spiegle oder emotional ausdrücke. Noch direkter kommt dies in den seit dem Quattrocento gelegentlich erzeugten Selbstdarstellungen innerhalb vielfiguriger religiöser Szenarien zum Ausdruck: Benozzo Gozzoli, Sandro Botticelli, Raffael verewigten sich in solchen Bildern und Bernardo Luino in Lugano brachte sich sogar mit seiner ganzen Familie ins Bild. Der Künstler verstand sich durch seine Teilhabe am dargestellten Geschehen als Figur in assistenza. Kunst ereignet sich unter den Bedingungen ihrer Produktions- und Rezeptionsmöglichkeiten innerhalb des Kunstsystems. Doch erst mit Victor Stoichitas Buch Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei (1993 auf französisch erschienen, 1998 auf deutsch) wurde das der Kunst inhärente Phänomen „der potentiellen Selbstbezüglichkeit“ 5 für die Kunstwissenschaft virulent. Dazu gehörten nicht nur der seit der Neuzeit vermehrt reflektierte Illusionismus und seine Störfaktoren im Bild, sondern auch das Reflektieren evidenter Bildereignisse. Die Motive, Darstellungsmuster und -besonderheiten können diachron und synchron rezipiert, historisiert, ironisiert, wiederholt oder anders verfremdet werden. Die Kunst als Traditionskanon und der Kunstbetrieb als Kanonisierungsmaschinerie können aber auch gänzlich verworfen werden, um die Differenz des Neuen hervorzuheben - ein Merkmal aller sich als Avantgarde verstehenden Richtungen. Die Selbstreflexivität der Kunst, ihre Autoreferenzialität wird auch in den künstlerischen Selbstinszenierungen sichtbar. Autonomes Handeln innerhalb kultureller Sinnsysteme wie jenes der Kunst ist dann möglich, wenn sich die Kunst auf die Position eines ausschließlich autopoietischen L’Art pour L’Art zurückzieht. Die multiphrene Erfahrung, „Teil eines wachsenden Netzwerkes von Beziehungen zu werden, von direkten zwischenmenschlichen, aber auch von elektronischen und solchen aus ‚zweiter Hand‘“ 6 , eröffnet diverse Optionen der Lebens- und Selbstgestaltung, die von den Künstlerinnen und Künstlern als äußere Referenzen in das Kunstsystem einbezogen werden. 4 F. Zöllner, „Ogni Pittore Dipinge Sé, Leonardo da Vinci und Automimesis“, in: M. Winner (Hrsg.), Der Künstler über sich in seinem Werk, Weinheim 1992, S. 137. 5 V.v. Rosen, „Selbstbezüglichkeit“, in: U. Pfisterer (Hrsg.), Lexikon Kunstwissenschaft, Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2003, S. 327-329. 6 K. Gergen, Interview, in: Psychologie heute, 1994 (10), S. 36, zitiert nach H. Keupp, Th. Ahbe, W. Gmür, R. Höfer, B. Mitzscherlich, W. Kraus, F. Straus (Hrsg.), Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 49. Jutta Steininger 318 Nach der Grundthese von Alexander Reckwitz, „produziert die Moderne keine eindeutige homogene Subjektstruktur, sondern liefert vielmehr ein Feld der Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen bezüglich dessen, was das Subjekt ist und wie es sich formen kann“. 7 Das Subjekt formiere sich unter Bedingungen der Kontingenz, die für das Subjekt immer wieder neue Herausforderungen bedeuten und allen Subjektkulturen dadurch spezifischen Hybriditätscharakter verleihen, der sie „als kombinatorisches Arrangement verschiedener Sinnmuster“ ausweist, was heißt, dass „Spuren historisch vergangener Subjektformen“ ebenso virulent werden wie „subkulturelle Elemente in den dominanten Subjektkulturen“. 8 Die von Reckwitz ausgemachten, miteinander konfligierenden Subjektordnungen innerhalb der Moderne, nämlich das moralisch-souveräne, respektable Subjektmodell der bürgerlichen Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts, das extrovertierte Angestelltensubjekt der 1920er bis 1970er Jahre und das seit den 1980er Jahren kreativkonsumtorische Subjektmodell der Postmoderne 9 vermögen nun ein in den eigentlichen Künstlerexistenzen schon traditionellerweise präfiguriertes ästhetisches Subjekt zu zeitigen, das über das ästhetische Know-how in einer Weise verfügt, die über die Fähigkeiten des „konsumtorischen Kreativsubjektes“ 10 hinausgeht und das postmoderne Künstlersubjekt formiert. In der Arbeitsserie „Der Künstler als Avatar“ (1996-2002) präsentiert der Konzept- und Medienkünstler Thomas Feuerstein im Rahmen einer Installation künstliche Künstler, „die als Dämonen oder Agenten Handlungen performieren“, so dass das Künstlerhybrid, mit einer multiplen Persönlichkeitsstruktur ausgestattet, sozial, technisch, biologisch, medizinisch etc. disponibel wird. Feuerstein konstruiert ein künstliches Künstlerideal-Ich, das das „Selbst als Server“ betrachtet, die Idealform eines Übergangssubjektes, das „historisch zwischen Tradition und Moderne, medizinisch zwischen Mensch und Cyborg, intellektuell zwischen Ideologie und Wahnsinn“ pendelt. Er spricht, „nachdem wir uns als Subjekte abgeschrieben haben“, vom demiurgischen Begehren nach Hervorbringung des Selbst „jenseits der natürlich verfassten Ordnungen“ und von der Verwischung der Grenzen „zwischen Teddybär, Tamagotchi und der wilden Entität aus Fleisch und Blut“. 11 Für das Projekt „Eugen - Hire all my information“ wählte Feuerstein eine kalifornische Samenbank, in die er sich in Form seiner DNA aufnehmen ließ - „Reality on demand“: Die virtuelle Realität des menschlichen Subjektes ist 7 A. Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 14. 8 Ibid., S. 15. 9 Ibid. 10 Ibid., S. 441. 11 Th. Feuerstein, „Me, Myself and I: Das Selbst als Server“, in: Kunstforum international, Bd. 181, Juli 2006, S. 87. Künstlerische Inszenierungen 319 speicherbare, manipulierbare Information, das Subjekt selbst ist de- und rekonstruierbar geworden. Als entzaubertes Subjekt hinterlässt es folglich ein zugleich konditioniertes und konditionierendes Künstler-Ich. So gesehen streben sowohl Gentechnologie als auch Selbsttechniken demselben Ziel zu: Beide bestimmen das Individuum als Träger und Transmitter von Information. Identität kann als Summe von Informationen gedeutet werden, die veränderbar und zufällig sind wie das Phänomen der Identität selbst. 12 Feuerstein gehört zu den wenigen Künstlern, die sich explizit zur Frage der Subjektkonstitution und zur Rolle des Künstlersubjektes äußern. Im von ihm evozierten Bild des Künstler-Avatars und des Selbst als Servers, „in dem sich Werte, Konditionierungen, Normen, Diskurse, Ideologien etc. ‚einloggen‘“ 13 , kommen auch jene Facetten des Selbst zum Ausdruck, die bereits im traditionellen Künstlerselbstbildnis angelegt sind. Als Jacques Derrida seine Zweifel an der „Konsistenz des traditionellen Genres“ des Selbstbildes artikulierte, dem „immer schon eine Blindheit eingeschrieben sei“ 14 , waren innerhalb der Kunst und Kunsttheorie die Zweifel an der Kohärenz des Selbstbildes längst Thema geworden. Gerade Künstler haben immer gewusst, dass jede Form der Visualisierung die sinnliche Gewissheit aufhebt und dass zwischen dem Bild und dem, was es darstellen will, eine Differenz besteht, die durch die Fotografie nicht aufgehoben, sondern trotz aller Euphorien über die neuen Abbildungsmöglichkeiten sogar aktualisiert wurde. Die klassischen Avantgarden richteten zu Beginn des 20. Jahrhunderts denn auch ihr Augenmerk auf Fragen der Sichtbarkeit und auf die Aufgaben der Kunst. Marcel Duchamp etwa sagte, ganz unter Auslassung der Fotografie: Seit Courbet meint man, die Malerei wende sich ausschließlich an das Auge - ein allgemeiner Irrtum. Der optische Schauder! Vorher hatte die Malerei ja auch andere Funktionen, sie war religiös, philosophisch oder moralisch ausgerichtet. Ich selbst habe zwar glücklicherweise zu dieser Anti-Netzhaut-Position gefunden, aber viel geändert hat sich dadurch nicht: Unser gesamtes Jahrhundert ist dem Optischen verfallen. 15 12 P. Bianchi, „Das Selbst als Avatar“, in: Kunstforum international, Bd. 181, S. 89. 13 Th. Feuerstein, in: Kunstforum international, Bd.181, S. 86. 14 Zitiert nach M. Weinhart, „Den Tod im Nacken“, in: Kunstforum international, Bd. 181, S. 124. 15 Zitiert nach P. Bexte, Blinde Seher. Die Wahrnehmung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts, Dresden 1999, S. 10. Jutta Steininger 320 In den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts tauchen die Formeln pictorial 16 und iconic turn 17 auf, Symptome eines als „Wiederkehr der Bilder“ konstatierten Phänomens, das sich mit den neuen Medien Fotografie und Film angekündigt hatte. In Erinnerung an das eigene Entsetzen kann man sich den Schrecken der Zeitgenossen vorstellen, als sie sehen mussten, wie in Louis Buñuels kurzem Film Un Chien Andalou (1928) das Rasiermesser in den Augapfel eindringt. Der surrealistische Schwenk vom Bild zum Text, vom Visuellen zur écriture, ist bei Buñuel durch ein Bild ausgedrückt. Die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, vor allem Marcel Duchamp, die Surrealisten, nach 1945 die Fluxus- und Happeningbewegungen, die Performance-Kunst, die Pop Art und die in den Siebzigern einsetzenden repräsentationskritischen Auseinandersetzungen der feministischen Küns t lerinnen mit dem Objektcharakter von Frauen im Bild, revidierten die Einschätzung des Selbstporträts als Bild eines kohärent denkenden, fühlenden und handelnden Subjektes erneut. Seit Lacans Aufsatz über „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ gilt dieses Spiegelbild als Projektionsfläche des Imaginären, von Träumen und Phantasmen. Das bestätigen die Selbstporträts auf eindringliche Weise. Die sich im Spiegel betrachtenden Künstlerinnen und Künstler, die sich als es noch keine Fotografie gab, im Spiegel sehen mussten, um sich zu konterfeien, suchten etwas Reales einzufangen und visualisierten ihre narzisstischen Selbstbespiegelungen. So finden sich neben den nicht uneitlen Selbstvisualisierungen als souveräne Standesvertreter auch Bilder von Skeptikern und Verzweifelten. Michelangelos Selbstbildnis in der geschundenen Haut des Hl. Bartholomäus (Jüngstes Gericht, Fresko in der Capella Sistina, Rom, 1536-1541) verweist auf seine prekäre Lage unter den erschwerten Arbeitsbedingungen der Freskenmalerei. Unter Ausnützung der Pathosformel des Sieges und der Vittoria- Allegorese verlieh der Barockbildhauer Balthasar Permoser dem von Eugen von Savoyen heroisch niedergezwungenen Türken seine eigenen Gesichtszüge und setzte sich so als von seinem Auftraggeber Geknechteter ins statuarische Bild der apotheotischen Verherrlichung des Prinzen (Wien, 1721). Gustave Courbet gibt sich 1871 nach seinem Gefängnisaufenthalt als erstickender Fisch am Angelhaken wieder (Privatbesitz, 1871). Das entfremdete Selbst wird Bildgegenstand am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Es gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und Draußen (…), die sinnliche Welt gehört dem 16 W. J. T. Mitchell, „The Pictorial Turn“, in: Artforum, March 1992; Deutsch in: Ch. Kravagna (Hrsg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 15-40. 17 G. Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder“, in: ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild, München 1994, S. 11-38. Künstlerische Inszenierungen 321 physischen und psychischen Gebiet zugleich an“ 18 , schrieb Ernst Mach in seiner Analyse der Empfindungen. Die Grimasse wird Ausdrucksträger der expressionistischen Selbstbefragungen: bei Egon Schiele zum Beispiel, der Gesicht und Körper immer wieder als gemarterte Erscheinungen zeichnete, bei Richard Gerstl, dessen Lachen eine zur Fratze erstarrte Verzweiflung zeigt, die im Selbstmord endete, bei Oskar Kokoschka, dessen dynamischer Pinselstrich die Entfesselung der Gefühle anreißt. Arnulf Rainer, der sich im exzentrischen Umgang mit dem Selbst in immer neuen Versionen an den Grimassenfotos abarbeitete, erklärte: Dieses Anti-Yoga tragikomischer Posen, manierierter Clownerien und müder Haltungen ohne Grazie, Chic und Charme beansprucht nicht, harmonischer Körperausdruck zu sein, sondern eine Suche nach den vielen möglichen und unmöglichen Menschen, die in uns allen stecken. 19 Die am Beginn des 20. Jahrhunderts eröffneten Diskussionen um den Status der Kunst und ihren Werkcharakter brachten bereits die Frage von Original und Reproduktion aufs Tapet. Marcel Duchamp, der 1917 das Urinoir per Deklaration zum Kunstwerk machte, es mit „R. Mutt“ signierte und damit einem trivialen Alltagsgegenstand Kunstwerkcharakter zuschrieb, und Walter Benjamin, der den „Verlust der Aura“ aufgrund medientechnischer Reproduktionsverfahren konstatierte und damit die Trivialisierung der Kunst generell andeutete, leiteten eine Entwicklung in der Kunst und Kunsttheorie ein, die nach 1945 so richtig zum Tragen kam. Die von den klassischen Avantgarden, vor allem Marcel Duchamp und der Pop Art Andy Warhols, initiierten Gesten der Entauratisierung der Kunst, ihrer Banalisierung und Trivialisierung haben, um es mit Arthur C. Danto zu sagen, „etwas Komisches“, weil es wenig Unterschied zu machen scheint, „ob die Kunst ein körperloses Nichts ist, das die Realität in ihrer Nacktheit zeigt, oder ob sie so mit Wirklichkeit gesättigt ist, dass es zwischen ihr und der Wirklichkeit keinen sichtbaren Unterschied mehr gibt“. 20 Der Unterschied liegt also in den kunsttheoretischen und ästhetischen Diskursen, die über die Gegenstände der Kunst und Nicht-Kunst geführt werden. Auf das Urinoir angewandt: Das Einordnen in das System Kunst durch die an ein künstlerisches Subjekt gebundene Geste und der darüber geführte interpretative Diskurs machen von nun an den solcherart designierten Gegenstand zum Kunstwerk. 18 E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena (7. Aufl.), 1917, S. 253. 19 A. Rainer, Ausstellungskatalog Nationalgalerie Berlin, 1980, S. 47. 20 A. C. Danto, Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993 (Englisch 1986), S. 47f. Jutta Steininger 322 ' N @ , / % Andy Warhol (1928-1987) orientierte sein Werk konsequent an den Diskursen um Originalität, Serialität und Reproduktion. Das gilt für die Techniken der materiellen Herstellung ebenso wie für die Kreation seines öffentlichen Selbstbildes. In seinen zahlreichen Selbstporträts tritt er in verschiedenen Rollen auf. Diesen Rollen und Maskeraden lagen immer Selbsteinschätzungen, Erfahrungen oder Befindlichkeiten zugrunde, die in einem „Original“ realisiert worden waren. Warhol hatte indessen eines erkannt: Je mehr Bilder er von sich reproduzierte, umso entrückter konnte er sich gebärden. Er lokalisierte seine künstlerische Existenz in der factory genannten Arbeitsstätte, was auf den industriemäßigen Ansatz serieller Produktion in seiner Arbeit weisen und jede Assoziation mit handwerklicher Tätigkeit verhindern sollte. In seinem letzten Selbstporträt (Camouflage, 1986) legte er über die Porträtschablone das als Tarnungs-Code aus dem Militärwesen bekannte Farb- und Formmuster, so dass das Gesicht dahinter verschwand. Das Porträt, dessen outrierte Flächigkeit keinen Blick in die Tiefe zulässt und imaginative Zugänge abwehrt, soll und muss als blankes Oberflächenmuster zur Kenntnis genommen werden. Er selbst sagte über seine zahlreichen Selbstporträts, die er vor allem als planimetrische Schablonen gestaltete: „If you want to know all about Andy Warhol, just look at the surface of my paintings and films and me, and there I am. There’s nothing behind it.“ 21 Er kreierte sein Image und ein Bild von sich, das auf einem unverwechselbaren Verfahren beruht und das mittlerweile als Warholizer-software zur Bearbeitung privater Fotografien zur Verfügung steht (http: / / bighugelabs.com/ flickr/ warholizer.php). 22 Die Strenge der künstlerischen Gesten zeigte sich in den Happenings und Fluxus-Bewegungen der Sechzigerjahre, in der Aktions- und Performance- Kunst, womit eine „radikale Transformation der Kunst vom Werkhaften zum Performativen“ 23 , vom Dauerhaften zum Ephemeren vollzogen wurde. Künstlerische Selbstdarstellung bedeutete von nun an Selbstinszenierung als Strategie der Werk- und Diskursvermittlung. Im Kontext des Originalitätsanspruches thematisiert der Aura-Begriff Walter Benjamins die Differenz zwischen dem Alltäglichen und dem Besonderen, dem Trivialen und dem Verklärten, dem Gewöhnlichen und dem Gewöhnungsbedürftigen. Das Ästhetische in der Regie des sich selbst inszenierenden Künstlersubjektes hebt sich nun aus dem alltäglichen Tun heraus. Der Einsatz 21 Zitiert nach L. Derenthal, „Andy Warhol“, in: Ausstellungskatalog Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln 2000, S. 199. 22 Madame Figaro, 28. Februar 2009, S. 92. 23 D. Mersch, „Ereignis und Aura“, in: Kunstforum international, Bd. 178, November 2005, S. 94. Künstlerische Inszenierungen 323 der eigenen Person, des eigenen Körpers bringt den Begriff des Originals zurück ins Bild (als Objekt des Sehens und des Blicks verstanden), an dem die authentische Person Künstler/ Künstlerin partizipiert. So mag der Anschein von Originalität durch das persönliche, körperliche Engagement gesichert scheinen. Dieser Aspekt wird in den Selbstinszenierungen feministischer Künstlerinnen aktuell und zeigt sich in den unter „Corporeality“ subsummierten Arbeiten. Ganz konsequent verfuhren Künstlerinnen wie Jo Spence, Gina Pane, Valie Export mit der Instrumentalisierung des eigenen Körpers, und auch die Wiener Aktionisten scheuten vor Selbstverletzungen nicht zurück. Gina Pane ritzte mit Rasierklingen ihre Haut auf, Valie Export ließ sich in ihrem Tapp- und Tastkino die Brüste begrapschen, Yoko Ono mit Scheren die Kleider vom Leibe schneiden, und die Fotokünstlerin Jo Spence machte sich selbst zum Objekt einer Fotodokumentation ihrer Brustkrebserkrankung. Hannah Wilke (1940-1993) inszenierte sich nackt in Performances, um den Status der Frau als Bild zu unterlaufen und die Repräsentation des Weiblichen zu kritisieren, wie wohl sie sich selbst - ganz weibliches Klischee als verletzlich und fragil demonstrierte. In den S.O.S. Starification Object Series 1974/ 82 inszenierte sie sich in Glamourposen, ganz als weibliches Blickobjekt, störte jedoch das Genießen in der Betrachtung, indem sie ihren Körper mit Kaugummis beklebte, die sie zuvor an die Zuschauer verteilt hatte. Bevor sie starb dokumentierte sie ihren körperlichen Verfall in einer Serie von Fotos, den Intra-Venus Series (1992, Abb. 2, Abb. 4). Der Vergleich ihrer Selbstinszenierung als Madonna mit einem Marienbild Antonello da Messinas veranschaulicht, wie Hannah Wilke sich in diesem Stadium ihrer Krankheit begriff: nicht als Schmerzensmutter, als mater dolorosa, sondern als Madonna der Verkündigung (Abb. 3). Sie verwandelte das Erschrecken in das Sichfügen in ein nicht selbst gewähltes Schicksal. Eine ihrer letzten Eintragungen kurz vor ihrem Tod 1993: „Wie kann ich versuchen klar zu machen, dass Kunst keine Ware ist, sondern die Herstellung des Selbst.“ 24 24 Zitiert nach D. Krystof, „Hannah Wilke“, in: Ausstellungskatalog Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, op. cit., S. 133. Jutta Steininger 324 '/ G > 0 )/ */ G 0- U 0 > 0 0- V *0 &II' 0 C 0 - ! 0 " &*3)W3*1 V *0 &II' Der Körper fungiert als collagiertes Bild multipler Faktoren und differenter Merkmale wie der Codifizierung von ethnischer Zuschreibung, Sexualität, Geschlecht, Schönheit, Alter, Klasse. Er repräsentiert sich als ausgewählter Ort des Begehrens. Jede mehr oder weniger theatralische Selbstinszenierung ist eine konstruktive Form der Rollen- und der Selbstgestaltung unter dem Prinzip der Performativität. 25 Judith Butler hatte diese Vorgaben zu einer soziokulturellen Theorie des doing gender ausformuliert, wonach die normativ festgelegten, geschlechtsspezifischen Unterschiede durch permanente Wiederholung, durch bestimmte Praktiken situiert und aufrecht erhalten würden. Der Körper wird so in den künstlerischen Selbstinszenierungen Instrument, Medium und Paradigma kultureller Codierungen, er macht Repräsentationsformen als Handlungsformen sichtbar und bildet die über ihn geführten Diskurse ab. Yasumasa Morimura arrangiert sich mit dem Warhol zugeschriebenen Diktum, dass im Medienzeitalter jeder für zehn Minuten zum Star werden könne, mittels doing gender und doing glamour: Ironisch, parodistisch, spielerisch inszeniert sich der japanische Künstler als weibliche Starikone westlicher Glitzerwelt. Er demonstriert ein hedonistisches Vergnügen am Rollenwechsel und an der Maskerade, darüber hinaus thematisiert er die globale Hegemonialisierung der westlichen massenmedialen wie hochkulturellen Bilderwelt. 25 J. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/ M. 2003. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt/ M. 2001. Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ M. 2004. Künstlerische Inszenierungen 325 Die zur Kunstgeschichtsikone hochstilisierte Mona Lisa Leonardos war schon von Marcel Duchamp entzaubert und durch eine kleine textliche und bildliche Intervention erotisch rüde aufgeladen worden. Seine kryptische Neubenennung L.H.O.O.Q (1919) erweist sich beim Lesen als vulgäres Elle a chaud au cul: Das ist eine Attacke auf die Aura und das Paradigma künstlerischer Meisterschaft. Morimura trieb das frivole Spiel mit den Verweisen weiter. Nach der vulgären Erotisierung zeigen sich gewissermaßen die „Folgen“: Mona Lisa, nun mit Morimuras Gesichtszügen ausgestattet, ist schwanger geworden (Schwangere Mona Lisa, 1998, Foto auf Leinwand, Abb. 5). Durch die Anverwandlung der Bildikone, die Verknüpfung mit seiner Person vernetzt er sich im Spiel mit Identifizierung und Identität mit dem dominanten kunsthistorischen Referenzsystem des Westens und versucht es zu unterlaufen. +/ X 0 2 0 &IIH Radikal anders verfuhr die französische Künstlerin Orlan (Operationsperformance, 1993, Fotodokumentation). Zwar blieb auch sie im kunsthistorischen Bezugsrahmen und nahm Meisterwerke als Vorlagen für plastische Eingriffe in Gesicht und Körper. Das von ihr entworfene Ideal-Bild sollte aber zugleich den Idealentwurf ihres an den Körper gebundenen Selbst mittransportieren. Im Unterschied zu Morimura musste sie sich dieses von ihr angenommenen äußerlichen Selbstentwurfs wieder durch operative Eingriffe entledigen, um an sich die Machbarkeit der Selbstgestaltung durch plastische Chirurgie zu demonstrieren: „Ich bin mein von mir entworfenes Bild.“ Im Kontext der von Michel Foucault so bezeichneten „Technologien des Selbst“ fokussiert Orlan Jutta Steininger 326 auf Selbstoptimierung, Ego-tuning und narzisstischen Selbstentwurf (Abb. 6). 26 2/ A Die österreichische Künstlerin Irene Andessner verwandelt sich für ihre Aktionen seit Jahren in die Bilder berühmter Frauen: „Ich bediene ein Bild der Frau, das sich andere machen.“ 27 2001 gebärdete sie sich als Double von Marlene Dietrich und suchte sich unter 450 Herren mit dem Namen Dietrich einen aus, mit dem sie sich für die Dauer der Aktion verheiratete, um mit „I. M. Dietrich“ authentisch signieren zu können. Sie wollte mit dieser Heiratsaktion bewirken, „dass die (bildende) Kunst als Heiratszweck in die Reihe der gesellschaftskonformen Vernunftsgründe aufgenommen wird“ 28 , wie sie auf ihrer Homepage mitteilt. Andessner moderiert das Identitätenspiel, indem sie für die Zeit simulierter Starexistenz versucht, eine andere und doch sie selbst zu sein. 26 In ähnlicher Weise hatte sich Michael Jackson mittels zahlreicher medizinischer Eingriffe in einen „weißen“ Popstar verwandelt. 27 Zitiert nach J. Raap, „Star-Kult und Maskerade“, in: Kunstforum international, Bd. 191, Mai 2008, S. 96. 28 Ibid. Künstlerische Inszenierungen 327 Feng Mengbo (China) entwickelte für die Documenta 11 aus einem der brutalsten Computerspiele, Quake III Arena, eine choreographierte Gewaltorgie im Spiel mit dem Selbst (Q4U, Performance und Online-Projekt mit Internetverbindung, Abb. 7). Er nahm den Begriff des Ego-Shooter-Spiels wörtlich, veränderte den Quellcode, setzte sich in die Spielmatrix und stellte sein eigenes Bild an die Stelle des Schießenden. Mit nacktem Oberkörper, US- Army-Hose, in einer Hand den Mini-DV-Camcorder, in der anderen die Schusswaffe, führte sein Bild den Kampf mit sich selbst, dem Selbst eines „Homo ludens“, der den Krieg simuliert. Das Publikum war aufgefordert mitzuspielen und sich als er, als „viele Fengs“, ins Spiel zu bringen. In beschleunigter 3D-Grafik und möglichst realistischem Soundeffekt tauchen die Fengs in Massen auf und metzeln sich auf grausamste Weise nieder. Nie ist genau auszumachen, ob du als Spieler du selbst oder doch der Künstler bist, der auf sein permanent auftauchendes feindliches Selbst schießt. 29 3/ = 0 34/ 0 'FF' http: / / www.shanghart.com/ exhibitions/ q4u.htm 29 D. Buchhart, „Das Spiel mit Tod und Gewalt“, in: Kunstforum international, Bd. 178, S. 80. Jutta Steininger 328 Absurd ist das Spielziel, die vielen Gegner und zugleich pluralen Selbstbilder zu liquidieren - der vergebliche Rettungsversuch der Konstituierung eines einheitlichen Selbst. James Lee Byars (1932-1997, USA) gab sich den Habitus einer Kunstfigur im Kunstsystem. Angetan mit einem Goldlamé-Anzug, oft mit Zylinder und Augenbinde, ritualisierte er unter dem Diktum „I cancel all my works at death“ 30 in verschiedenen Performances seinen Tod als erhabenes Ereignis und als ästhetischen Augenblick einer Begegnung zwischen dem Publikum und seinem künstlerischen Leben, seinem Künstler-Ich. Jeder seiner Auftritte mit Installationen und Objekten wurde so zur exquisiten Performance seines Lebens als öffentliches Gesamtkunstwerk. 1984 inszenierte er „The Perfect Death of James Lee Byars“ vor dem Philadelphia Museum. In Goldlamé gekleidet legte er sich auf eine blattvergoldete Unterlage, goldfarben mit dieser verschmelzend, als ob sein Leib sich in Unsichtbarkeit auflöste. So trachtete er seine Selbst-Transzendierung zu visualisieren. Mündete einst Arnold Böcklins symbolistische Selbstbefragung in ein Selbstbildnis mit dem ihm über die Schulter schauenden, fiedelnden Tod (1872, Berlin), zelebrierte Byars „das, was wir nicht fassen können“, mehr als 100 Jahre später als erhabenes Spektakel der Bestattung des Autors, der sich anschließend vom Totenlager erhob, um sich zu verbeugen. Johan Lorbeer stellt sich mit seinen von ihm als Still-Life Performances bezeichneten „lebenden Bildern“ immer in einen ausgeklügelten Verweisungszusammenhang: Still life, wörtlich genommen, bedeutet noch Leben, still life als Terminus der Kunstwissenschaft ist nature morte, natura morta, Stillleben. In der Kunstgeschichte codifizieren die Diskurse und mythischen Erzählungen den Effekt des trompe-l’oeil, der den Illusionismus im Bild bis zur Verwechslung mit der Realität steigern kann. Lorbeer steht auf der Wand, er ist gekleidet in die knallorange Uniform der Berliner Stadtreinigung (Proletarisches Wandbild, 2004, http: / / www.johanlorbeer.com, Abb. 8). 30 Zitiert nach V. Michely, „Tod als Performance“, in: Kunstforum international, Bd.178, S. 106. Künstlerische Inszenierungen 329 H/ A # 0 " > 0 &II30 02 0' % . 0 ' 0 http: / / www.johanlorbeer.com/ unter/ projekte/ still3.htm Das archaische Standmotiv der kouroi, das paradoxerweise „Schreitmotiv“ heißt, und die in der Performance statt nach vorne nach unten gedrehte Frontalansicht verweisen auf die kunsthistorische Entwicklungsgeschichte der Raumgestaltung und Raumgewinnung seit der Antike. Die Irritationen der Wahrnehmung nutzend, aktiviert das „lebende Bild“ Lorbeers die Sinnesregungen Neugierde und Staunen, die mit der Ablehnung der Bewunderung als „nutzloser und verwirrender Affekt“ 31 in Lessings Laokoon (1766) aus der Ästhetik verschwinden sollten. Wer aber den Beginn dieser installativen Performance miterlebt hatte, konnte beobachten, wie sich Lorbeer in ein kompliziertes Tragegestell fädelte und dieses dann unter der orangefarbenen Montur verbarg - trompe-l’oeil als Technologie künstlerischen Darstellens in neuer Form. Das „Proletarische Wandbild“ und die Montur der Stadtreinigung spielen auf den sozialistischen Realismus an. Lorbeer selbst ist als Bildgegenstand Objekt reflexiver Rezeption und als Künstler das reflektierende Subjekt, er ist Subjekt und Objekt seines von ihm kreiierten Bildes und der von ihm referierten und ironisierten multiplen Diskurse, Ideen, Methoden und Begriffe des Kunstsystems. 31 C. Logemann, „Neugierde und Staunen“, in: U. Pfisterer (Hrsg.), Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2003, S. 252. Jutta Steininger 330 I/ J 0 2 5 0 &II2 In einer Serie nur scheinbar amateurhafter Fotografien (Living Together, 1996, Abb. 9) inszeniert sich die norwegische Fotografin Vibeke Tandberg als Zwilling und dessen Doppel in Alltagsszenen. Die als Schnappschüsse angelegten Fotos sind bis ins Kleinste ausgeklügelt: Innenräume, Außenräume, in Gesellschaft mit der Mutter, beim Essen, beim Reden. Dass das Ambiente mit dem Alter Ego eine theatralische Form visualisierter Selbstbeobachtung darstellt, muss gewusst werden, denn zu sehen ist dies nicht. Dass das analoge Medium der Fotografie keine Gewähr für die Wiedergabe von empirischer Realität im Bild zur Verfügung stellt, ist damit nur wieder einmal bestätigt. Doch die von Tandberg eingesetzte digitale Technik ermöglicht eine autopoietische Manipulation des Selbst und die Erfindung einer pseudodokumentarischen Welt, in der es sich einrichten lässt. Um es mit Slavoj Žižek zu sagen: „Liebe Dein Symptom wie Dich selbst“ wird in Tandbergs Selbstregie zur Handlungsanleitung. Die Polin Aneta Grzeszykowska setzte sich unter sorgfältiger Verarbeitung der „Untitled Film Stills“ Cindy Shermans für ihre Fotoserie in Szene (2006). Das Cindy-Shermanizing betraf nicht nur die Bildvorlagen, sondern sogar den Titel der Fotoserie. Die an weiblichen Bild- und Rollenklischees der 50er bis 70er Jahre orientierten Film Stills Shermans, die einst den Eindruck erzeugt hatten, man könnte diese Bilder schon in alten Filmen gesehen haben, erzeugen mittlerweile selbst Déjà vus. Diesen Effekt nützte Grzeszykowska aus und stellte Shermans inzwischen kanonisierte und damit entschärfte, unverwechselbare Bildszenarien nach. Damit gab sie den einst als repräsentationskritisch gegen die Klischees gewandten und nun zu kunsthistorischen Ikonen gewandelten Bildformeln neue Bedeutung. Statt in schwarz-weiß fotografiert Künstlerische Inszenierungen 331 sie in Farbe, der Effekt des Komischen entsteht durch die Verwendung osteuropäisch codierter Outfits und „Notlösungs“-Attribute: Zum Beispiel verwendet sie anstelle eines Handspiegels den abgebrochenen Seitenspiegel eines Autos und kann so die ökonomische Ungleichheit von Ost und West ins Bild bringen. Sie appropriiert Shermans Verfahren, Shermans Bildideen und Shermans Status als amerikanische Referenzfigur feministischer Kunstwissenschaft und transponiert dies in den osteuropäischen Kontext von Frauenbildern, Frauenrollen und Schönheitsvorstellungen. Das postmoderne Verfahren der Aneignung (appropriation) unterläuft die Kanonisierung, die die Kunst affirmativ macht, sie ihres subversiven Gehaltes und kritischen Potentials entledigt. Denn hat sich der rezeptive Erfolg eingestellt, ist der avantgardistische Effekt vorbei. Die seit den 60er Jahren geführte Diskussion um den Postmodernismus-Begriff in den USA bezieht sich auf einen Bereich künstlerischer Praktiken, der für die mitteleuropäische Kunstwelt ein dunkler Fleck geblieben ist: auf die künstlerischen Aktivitäten im Kontext der „Counter Culture“. Diese kritische Gegenkultur, in den US-amerikanischen kulturellen Zentren beheimatet, umfasst ein breites Spektrum des Aktivismus: Kampf gegen den Vietnam-Krieg, vehemente Auseinandersetzungen mit dem Rassismus und Sympathie mit den Bürgerrechtsbewegungen, ökologische Kritik an der Vorherrschaft kapitalistischer Rationalität, Offensive gegen die puritanische bürgerliche Sexualmoral - dazu kommen Frauenbewegung sowie Lesben- und Schwulenbewegung (Gay Liberation). 32 Ist die postfeministische Kunst europäischer Prägung daran orientiert, wie sich Konsum und Marktinteressen auf einen Zustand auswirken, in dem weibliche Gleichheitsinteressen schon als durchgesetzt angesehen werden, ist die amerikanische postfeministische Kunst politisch codiert. Der Postmoderne- Begriff amerikanischer Provenienz 33 schließt die historischen Avantgarden bereits als postmodern mit ein, „die nur an den konservativen Kräften gescheitert wären“. 34 Postmoderne unter diesem Prätext dezidiert politischkonzeptueller Programmatik lässt denn auch in den USA die Kategorien von race, class, gender, aber auch von Alter, Krankheit, minoritärer Existenz in der sogenannten „postfeministischen Kunst“ zuerst wirksam werden. „Hatte die postmoderne Kunsttheorie ein stärkeres Bewusstsein für die Politik der 32 L. Hieber, „Postmodernismus als Politisierung der Kunst“, in: L. Hieber, P. Villa (Hrsg.), Images von Gewicht, Bielefeld 2007, S. 22. 33 Douglas Crimp, Die Ruinen des Museums, Dresden-Basel 1996. 34 L. Hieber, op. cit., in: L. Hieber , P. Villa (Hrsg.), Images von Gewicht, op. cit., S. 26. Jutta Steininger 332 Repräsentation geschaffen, so haben Feminismus und Multikulturalismus diese Politik mobilisiert.“ 35 Carrie Mae Weems arbeitet seit den 80er Jahren mit den visuellen und narrativen Stereotypen afro-amerikanischer Diskriminierungsrassismen. In der strategischen Verwendung des Märchens vom schneeweißen Schneewittchen (Mirror, Mirror, 1987 - 88, Abb. 10) und der ins Bild montierten Frage an den Spiegel sprach sie ganz direkt die Vorurteile gegenüber der Hautfarbe an. 36 Sie demonstrierte das Dilemma der schwarzen Frau, immer an der weißen gemessen zu werden, im Zitieren des „weißen“ Märchens. Damit übernahm Weems die Codes des dominierenden Repräsentationssystems, um sich durch das Neu-Arrangement der Bedeutungen gegen dieses zu wenden. &F/ 4 > 0 ( 0 &IH3.&IHH Sarat Maharaj schreibt in seinem Essay „The Congo is Flooding the Acropolis: Black Art, Orders of Difference, Textiles“, dass sich die oppositionelle Haltung in der Black Art - und das gilt auch für alle anderen oppositionellen Positionen in der Kunst - der Elemente genau jenes Repräsentationssystems, über das es hinausweisen will, bediene. Es ist, als entwickle die ‚Black Art‘ ihre Kritik aus einer ursprünglichen Komplizenschaft mit dem von ihr kritisierten Material, als forme sie ihr Gefühl der kriti- 35 A. Solomon-Godeau, „Mistaken Identities“, in: Ausstellungskatalog Mistaken Identities, Santa Barbara, USA, 1993, S. 19. 36 H. Reckitt (Hrsg.), Art and Feminism, New York 2001, S. 137: Looking into the mirror, the black woman asked, “Mirror, mirror on the wall, who’s the fines of them all? ” The mirror says, “Snow white, you black bitch, and don’t you forget it! ! ! ” Künstlerische Inszenierungen 333 schen Distanz, indem sie sich zuerst mit dem vereinigt, was sie sich vom Leib halten will. 37 Kunst will auf der Höhe der Zeit bleiben und muss sich stets neu erfinden: Das betrifft die materiellen Aspekte und die technischen Dispositive ebenso wie die semantisch-inhaltlichen. Aktualität und Authentizität sind Kriterien, an denen die zeitgenössische Relevanz gemessen wird. Das gilt auch für die von ihrem Werk nie zu trennende existenzielle Performance von Künstlerinnen und Künstlern, selbst wenn sie den „Tod des Autors“ simulieren. Das Künstlersubjekt vertritt sich immer als Agent seiner selbst. Es visualiert sein fiktionales wie sein ontologisches Ich als kommunikative Akte im Betriebssystem Kunst. Das Spektrum reicht von heroischer Idealisierung, der Destruktion eines stabilen und kohärenten Ich-Bildes bis zu den multiphrenen Erfahrungen tatsächlicher wie virtueller Multiplizierung von Identitäten. All diese Strategien enthalten die Auseinandersetzung mit den Codes der Repräsentation und der Repräsentationskritik auf semantischer, syntaktischer und pragmatischer Ebene. Zwar ist die Kritik der Repräsentation als Paradigma ausformuliert und kaum mehr zu überbieten, aber auf der semantischen Ebene immer wieder wirksam. Auf der pragmatischen Ebene sind immer neue Formen der Bildkommunikation (das Bild als ein Objekt des Sehens und des Blicks) möglich, denn wechselnde mediale Bedingungen entfachen die Diskussionen um Form und Inhalt jedes Mal neu. Die ausgewählten Beispiele folgen alle dem postmodernen Prinzip des othering, das drei Kernelemente umfasst: die Spaltung des Subjekts in Erwerb und Umgang mit multiplen Identitäten, die Geschlechterdifferenz unter Betonung des weiblichen Anderen und das kulturell Andere im Gegensatz zum Hegemonialen. Und sie folgen alle dem Prinzip des morphing - fabricando fabricamur, was herausragend am künstlerischen Kreativ-Subjekt sichtbar wird. Dieses muss, dem Paradigma der Performativität des Handelns folgend, innerhalb des Sinnsystems Kunst agieren, um im ernsten Spiel mit der inventio wahrgenommen zu werden und um die das künstlerische Selbst konstituierenden Subjektivitäten ausagieren zu können. Das dabei zum Vorschein kommende dezentrierte Subjekt beschreibt Slavoj Žižek an der Figur Woody Allen. Nach dessen skandalumwitterter Trennung von Mia Farrow habe sich dieser vor Journalisten „genauso neurotisch und unsicher wie die männlichen Protagonisten in seinen Filmen“ verhalten. Das solle uns nun aber nicht veranlassen, in den männlichen Hauptfiguren seiner Filme halb verhüllte Selbstporträts zu sehen. Nein, wie Žižek ausführt, er identifiziere sich im „richtigen Leben“ mit einem von ihm entwickelten 37 S. Maharaj, zitiert nach A. Solomon-Godeau, „Mistaken Identities“, in: Ausstellungskatalog Mistaken Identities, op. cit., S. 25. Jutta Steininger 334 bestimmten Modell, „das heißt, es ist das wirkliche Leben, das symbolische Muster imitiert, die am reinsten in der Kunst zum Ausdruck kommen“. 38 # Ausstellungskatalog Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln 2000. Ausstellungskatalog Mistaken Identities, Santa Barbara, USA, 1993. Boehm, G., Was ist ein Bild, München 1994. Butler J., Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt/ M. 2001. Conti, A., Der Weg des Künstlers. Vom Handwerker zum Virtuosen, Berlin 1998. Crimp, D., Die Ruinen des Museums, Dresden-Basel 1996. Danto, A. 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Sie waren nicht nur damals originell und wegweisend, sondern sind immer noch, auch im Blickwinkel der neuesten Proustforschung, sehr anregend. Es genügt ein kurzer Blick auf die Themen und Thesen einzelner Abschnitte: „Conversation et masque“ (S. 163ff.), „Ambivalences caractérielles et dédoublement du personnage“ (174ff.): „L’ambivalence multiplie les possibilités existentielles des personnages“ (S. 190). 2 Die „ambivalence“ führt, so Zima, zu narrativen und diskursiven Varianten, zu karnevalesken Elementen und Strukturen, zum Spiel der Metamorphosen und Inversionen der Figuren und der Gesellschaft. Insbesondere auch Zimas Hinweise auf Affinitäten zwischen Proust und dem Surrealismus sind m.E. immer noch sehr wichtig und längst nicht genügend beachtet, z.B. die Vergleiche zwischen dem „hasard objectif“ und Prousts „mémoire involontaire“ - und nicht zuletzt, und damit komme ich zu dem zentralen Thema: „La crise du Sujet (du Moi conscient, de l’individu libéral) qui est sous-jacente à l’écriture surréaliste“. Diese sei, so Zima, „une continuation de la crise du roman telle qu’elle se manifeste dans les textes de Musil, Kafka, Proust et Joyce“. 3 Bei dem Thema „Surreale Spielformen der Autofiktion“ geht es, wie auch bei Peter V. Zima, nicht um einen einzelnen Autor, sondern um aktuelle Probleme neuer Formen der Autobiografie bzw. der Autofiktion und Automedialität - und es geht damit um ein Konzept der Subjektivität, in dem die Theatralität integraler Bestandteil ist. Der Zerfall des traditionellen Subjektbegriffes korreliert, um an Zima anzuknüpfen, mit der Erweiterung des Spielraumes der 1 P. V. Zima, L’ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris (1980), 2002 und ders., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München 1986; ders., Le désir du mythe. Une lecture sociologique de Marcel Proust, Paris 1973. 2 Vgl. P. V. Zima, L’ambivalence romanesque, op. cit., S. 163ff., 174ff., 190. 3 Ibid., S. 348. . Volker Roloff 336 Subjektivität. Die „Nouvelle autobiographie“, die Robbe-Grillet in seinen drei Romanen, den so genannten Romanesques 4 , und auch in seinen Filmen präsentiert, ist dafür ein Musterbeispiel; sie führt zurück zu Vorbildern, besonders zu Proust, zu den Surrealisten, zu Bataille, Sartre und Roland Barthes. Wichtig sind dabei nicht literarische Einflüsse oder biografische Bezugspunkte, sondern die Beiträge der Autoren oder Regisseure zu grundlegenden existenziellen Fragen der Geschichte und Gegenwart. Der Begriff der Autofiktion, der bei Robbe-Grillet auch die Filme mit einbezieht, überschreitet die Grenzen der traditionellen Literaturwissenschaft. In dem wegweisenden Sammelband Literatur intermedial weist Zima zu Recht darauf hin, dass die intermediale Praxis vieler Künstler aufgrund der Abgrenzung der akademischen Disziplinen nicht angemessen erfasst wird. „Während die philosophische Ästhetik Kants, Hegels und Schellings die Kunst in allen ihren Erscheinungsformen zu ihrem Gegenstand machen konnte“ 5 , konzentriert sich die zeitgenössische Literatur-, Film-, Kunst- oder Musikwissenschaft meist nur auf einzelne Aspekte. Dies ist besonders evident im Blick auf den Surrealismus und die intermediale Praxis der meisten Künstler des Surrealismus, mit der Folge, dass z.B. die Wechselbeziehungen zwischen Texten, Bildern und bewegten Bildern, etwa bei Picasso, Buñuel, Dalí, Max Ernst und vielen anderen, zu wenig analysiert werden. Ein prominentes Beispiel ist Robbe-Grillet, der sich selbst als Romancier, Cinéasten und auch Fotokünstler versteht und darauf bedacht ist, die Grenzen, nicht nur zwischen literarischen Genres, sondern auch zwischen Film und Literatur zu öffnen und neue Kombinationen zu entdecken. Ich werde im Folgenden versuchen, im Blick auf Robbe-Grillet vor allem surrealistische Verfahren wie Hybridisierung, Collage, Glissement, Verrätselung, traumanaloge ars combinatoria hervorzuheben und dabei ihre Subversivität auch in Bezug auf die Ordnung der akademischen Fächer zu betonen. Robbe-Grillet selbst weist darauf hin, dass er, als er anfing Filme zu machen, einer „ganz anderen Kritik“ ausgesetzt wurde, einer sich abgrenzenden, exklusiven Filmkritik, die ihm einreden wollte, dass er gar kein „echter Filmemacher“ sein könne, „da er ja nur ein Schriftsteller sei“. 6 Noch heute, trotz der zehn Spielfilme zwischen 1961 und 1996, verschiedener Ciné-romans und Filmszenarien (vgl. zuletzt 4 Vgl. A. Robbe-Grillet, Neuer Roman und Autobiographie, Konstanz 1987; Le miroir qui revient, Paris 1985; Angélique ou l’enchantement, Paris 1987; Les derniers jours de Corinthe, Paris 1984. 5 P. V. Zima (Hrsg.), Literatur intermedial. Musik - Malerei - Photographie - Film, Darmstadt 1995, S. VII. 6 A. Robbe-Grillet, Neuer Roman und Autobiographie, op. cit., S. 5. Subjektivität und Theatralität 337 die posthume Publikation La forteresse, ein Szenario für Antonioni) 7 , gilt Robbe-Grillet meist „nur“ als ein Autor des Nouveau roman der 1960er und 70er Jahre, als einer der Erfinder und Theoretiker des in Deutschland so genannten „Dingromans“, der angeblich objektiven, sachlichen, emotionslosen Darstellung der Dinge und Räume, die ihm aufgrund seiner Ausbildung als Ingenieur besonders gelungen sei. 8 Wie sehr auch schon die früheren Romane an surrealistische Motive und Spielformen anknüpfen, z.B. mit Motiven des „hasard objectif“ oder „acte gratuit“, wird in der Literatur zu Robbe-Grillet zu wenig bemerkt. Robbe-Grillet hat selbst oft darauf hingewiesen, dass die dem Nouveau roman zugeschriebene Kategorie der Objektivität verfehlt sei; es sei, so Robbe-Grillet, „eine der absurdesten Behauptungen, dass der Nouveau roman objektiv sei“. 9 Wenn man - mit Peter V. Zima - die Kategorie des Subjekts als unhintergehbar ansieht, zugleich aber die Geschichtlichkeit, den Wandel und die zunehmende Gefährdung des Subjekts betont, so kann man Robbe-Grillet als einen Autor ansehen, der diese Problematik in seinen Texten und Filmen in einer exemplarischen Weise darstellt und reflektiert. Entscheidend ist für Robbe-Grillet, dass zwar das Subjekt in der Mitte der Medienrelationen steht, zugleich aber brüchig und fragil erscheint. 10 Das Subjekt erscheint als medialer Prozess, als variabler intermedialer Spielort und als Bühne, die durch eine Vielzahl von Inszenierungen, Hybridisierungen, Transgressionen geprägt ist, als ein Ort (bzw. Nicht-Ort) der Passagen und Zirkulationen, der Mischungen, des Gleitens und Entgleitens der Bilder und Figuren. 11 Das Subjekt wird zum Schnittpunkt der „Figuren“ des kollektiven und individuellen Imaginären, im Sinne der Definition von Roland Barthes: „Aucune logique ne lie les figures, ne détermine leur contiguïté.“ 12 Robbe-Grillet hat z.T. schon in frühen Texten und seinen Ciné-romans, besonders aber in den Romanesques, eine eigenständige intermediale Ästhetik entwickelt, die bisher kaum als solche gewürdigt wurde: mit vielen Spuren der Lektüre, u.a. von Breton, Bataille, Sartre bis hin zu Lacan, Foucault, Deleuze oder Roland Barthes. Die Romanesques von Robbe-Grillet sind daher auch ein Dokument der Pariser Literaturszene, der Veränderung ihrer Diskurse und Moden seit den 60er Jahren. Die intermediale 7 Vgl. A. Robbe-Grillet, Œuvres cinématographiques. Edition vidéographique critique, Paris 1982; A. Robbe-Grillet, La forteresse. Scénario pour Michelangelo Antonioni, Paris 2009. 8 Vgl. z.B. G. Zeltner-Neukomm, „Der neue Dingroman. Alain Robbe-Grillet“, in: dies., Das Wagnis des französischen Gegenwartsromans, Reinbek bei Hamburg 1960, S. 72-82. 9 A. Robbe-Grillet, Neuer Roman, op. cit., S. 20. 10 Vgl. K. Hickethier, Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart-Weimar 2003, S. 237. 11 Vgl. V. Roloff, „Intermedialität und Medienanthropologie“, in: J. Paech, J. Schröter (Hrsg.), Intermedialität. Analog / Digital. Theorien - Methoden - Analysen, München 2008, S. 17-30, hier S. 19. 12 Vgl. R. Barthes, Fragments d’un discours amoureux, Paris 1977, S. 10. Volker Roloff 338 Ästhetik von Robbe-Grillet ist nur durch das Zusammenspiel von Texten, Bildern und Filmen erschließbar, wobei die medienästhetische Reflexion des Autors selbst, seiner ästhetischen und erotischen Fantasien, wichtige Anhaltspunkte bietet. Ich möchte einige Beispiele herausgreifen, die für die Fragestellung der Subjektivität und Theatralität besonders relevant sind. Robbe-Grillet hat mehrfach erläutert, warum er sein Konzept einer Nouvelle autobiographie traditionellen Autobiografien vorzieht und auch warum seine früheren Nouveaux romans nichts anderes als Spielformen dieser Nouvelle autobiographie seien: „Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi. Comme c’était de l’intérieur, on ne s’en est guère aperçu.“ 13 Robbe-Grillet operiert hier mit drei Begriffen, die er selbst im gleichen Moment als „suspect“ bezeichnet: „moi“, „intérieur“, „parler de“ - und er entwirft im Bewusstsein dieser Problematik das Konzept einer neuen erweiterten Autobiografie, die die traditionellen Mythen der Autonomie des Ichs, der Repräsentation, des Glaubens an die Wahrheit der Texte, der Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Fiktion auflöst. Aber der Autor verschwindet dabei nicht. Dieser Autor sei, so Robbe-Grillet, wie eine Spiegelhydra, deren abgetrennter Kopf schnell wieder nachwächst - und so sei es an der Zeit „de s’interroger à nouveau sur le rôle ambigu que joue (...) dans le récit moderne, la représentation du monde et l’expression d’une personne qui est à la fois un corps, une projection intentionnelle et un inconscient“. 14 Robbe-Grillet verwendet hier Begriffe der existenziellen Psychoanalyse Sartres, z.B. den Begriff „personne“ im Sinne von lat. persona als Rolle, Maske und projet. Sartres Konzeption der Theatralität („le jeu est à l’origine du monde“) und des universalen Rollenspiels gehört zu den Leitgedanken auch der Nouvelle autobiographie Robbe-Grillets. 15 Ein Vorbild für Robbe- Grillet ist insbesondere Sartres La nausée. Ebenso wichtig für Robbe-Grillet ist das surrealistische Modell einer spielerischen ars combinatoria, die, wie Hans Holländer gezeigt hat, die Produktion surrealistischer Texte, Bilder und Filme bestimmt: nicht im Sinne einer écriture automatique, sondern im Bewusstsein der Kontingenz und Offenheit des Ichs, der alle Sinne umfassenden Kombination von Imaginationen und Erinnerungen, Tagträumen, Träumen, der unendlichen Vielfalt der Rollenspiele und der Zwischenräume zwischen Bewusstem und Unbewusstem. 16 Robbe-Grillet definiert seine Konzeption der ars combinatoria in Angélique: 13 A. Robbe-Grillet, Le miroir qui revient, op. cit., S. 7. 14 Ibid., S. 12. 15 Vgl. J.-P. Sartre, Saint Genet. Comédien et martyr, Paris 1972, S. 144; S. Winter, Robbe- Grillet, Resnais und der neue Blick, Heidelberg 2007. 16 Vgl. H. Holländer, „Ars inveniendi et investigandi: Zur surrealistischen Methode“, in: P. Bürger (Hrsg.), Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 244-312. Subjektivität und Theatralität 339 il y a quelque chose de troublant dans les souvenirs: ils constituent un tissu mouvant dont les fils innombrables se déplacent sans cesse pour se nouer, puis se dénouer, disparaître, resurgir et se renouer ensuite ailleurs, de mille et mille manières presque identiques et soudain tout à fait neuves, combinaisons imprévues ou ressassantes, et former ainsi à chaque instant de nouvelles figures plus au moins semblables, plus au moins différentes, dont le nombre doit être pratiquement infini. 17 Dieser Gedanke wird in Angélique ou l’enchantement Henri de Corinthe zugeschrieben, dem Double des Autors der Romanesques: „C’est maintenant pour moi comme s’il s’agissait de quelqu’un d’autre, dont la vie rappellerait la mienne par quelque détails secondaires, contingents ou aléatoires.“ 18 Solche und viele andere Stellen deuten an, dass Robbe-Grillet das Ich - mit der „infinie complexité des combinaisons possibles“ 19 - als Rollenspiel begreift und damit als ein, wie Borges es nennt, imaginäres Theater im Innern des Körpers, als Traumform, die das Prinzip der Metamorphosen und Spiegelungen, Maskeraden und Vervielfältigungen des Ichs zum Ausdruck bringt; 20 eine Theatralität, die unendlich viele und immer neue Inszenierungen ermöglicht. Die von Robbe-Grillet so genannte Nouvelle autobiographie versucht, das subjektive und kollektive Imaginäre in diesem Sinne als ein Element der persona zu erfassen. Das Ich sei, wie Hans Belting es in seiner Bild-Anthropologie formuliert, nicht Herr seiner Bilder, sondern ein Ort oder Bühne der Bilder, die seinen Körper besetzen und so zu einer ständigen Zirkulation und Substitution kollektiver und individueller Bilder führen. 21 Robbe-Grillet betont die Unmöglichkeit der Sprache, diese Bilder, ihre Kontingenz, Flüchtigkeit und Mobilität zu erfassen; aber es sei möglich, die Bewegung, die Mängel, die „unerklärliche Kontingenz des Lebendigen“ 22 , die Figuren der Diskontinuität, die Rollenspiele des Ich durch Sprache und Bilder zumindest anzudeuten. Es ist klar, dass eine solche écriture autobiographique mit konventionellen Vorstellungen des Genres Autobiografie nicht zu vereinbaren ist. Robbe- Grillet selbst kritisiert die bekannte Definition von Philippe Lejeune in Le pacte autobiographique: Nicht der von Lejeune postulierte Anspruch auf Bedeutung und Sinngebung sei das Prinzip der autobiografischen Suche, sondern das Gegenteil, die Vergeblichkeit einer solchen Suche, der Zweifel an der Identität bis hin zu dem Gefühl der Leere, des Mangels, der Bedeutungslosig- 17 A. Robbe-Grillet, Angélique, op. cit., S. 24. 18 Ibid., S. 24; vgl. dazu N. Groß, Autopoiesis. Theorie und Praxis des autobiographischen Schreibens bei Alain Robbe-Grillet, Berlin 2008, S. 52ff. 19 A. Robbe-Grillet, Le miroir qui revient, op. cit., S. 220-221. 20 Vgl. V. Roloff, „Intermedialität, Trauerspiele und Mediensynästhesie“, in: Grenzgänge 14 (2007), H. 27, S. 28-38, hier S. 31f. 21 H. Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 12. 22 A. Robbe-Grillet, Le miroir qui revient , op. cit., S. 17ff; ders., Angélique, op. cit., S. 69. Volker Roloff 340 keit und Entfremdung und vor allem der Unmöglichkeit, Realität und Fiktion zu unterscheiden. 23 Die Kritik an Lejeune und damit an den Prämissen der traditionellen Autobiografie hat, wie auch Robbe-Grillet anmerkt, schon seit längerem begonnen, mit jenen autobiografischen Romanen am Anfang des 20. Jahrhunderts, die bereits die Realitätsillusion der Romanciers des 19. Jahrhunderts aufgeben und neue Formen des autobiografischen Schreibens entwickeln, wie z.B. Prousts Recherche, aber auch Bretons Nadja oder L’Amour fou, wie Musil, Joyce und dann auch Sartre mit La nausée. Wenn Sabine Schlickers im Hinblick auf Robbe-Grillets Romanesques zu Recht von einem speziellen „Gattungshybrid“ 24 spricht, einem Erzählen zwischen Autobiografie, Fiktion und Essay, so kann man ergänzen, dass eine solche Mischung im 20. Jahrhundert schon eine lange Geschichte hat. Es sind, wie bereits angedeutet, besonders die intermedialen Experimente der Surrealisten, die Versuche, Texte, Bilder, Fotografie, Theater und Film zu kombinieren, die diesem Konzept der Nouvelle autobiographie zugrunde liegen und Robbe-Grillet inspirieren. Die akademische Literaturwissenschaft hat Schwierigkeiten, die Nouvelle autobiographie von Robbe-Grillet zu kategorisieren. Zu den aktuellen Versuchen gehören verschiedene Beiträge von Alfonso de Toro, Nathalie Groß, Brigitte Burrichter und Sabine Schlickers. 25 Neue Ansätze, allerdings ohne speziellen Bezug zu Robbe-Grillet, bietet der von Jörg Dünne und Christiane Moser herausgegebene Sammelband Automedialität mit dem Untertitel Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien (München 2008). Hier geht es darum, die Voraussetzungen der traditionellen Autobiografie in Frage zu stellen und neue Kategorien ins Spiel zu bringen: Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind, dass das Subjekt nicht vorgegeben ist, dass das Leben (bios) nicht mehr als Geschlossenheit, Einheit und Kohärenz gedacht werden kann und dass vor allem die Schrift, wie bei Robbe-Grillet, nicht mehr das einzige und privilegierte Medium der Selbstdarstellung sein kann (ibid.). Man 23 Vgl. Ph. Lejeune, Le pacte autobiographique, Paris 1973; dazu A. Robbe-Grillet, Angélique op. cit., S. 67f. 24 S. Schlickers, „Vom Nouveau Roman zur Nouvelle Autobiographie: Le miroir qui revient (1984), Angélique ou l’enchantement (1987) und Les derniers jours de Corinthe (1994) von Alain Robbe-Grillet“, in: A. Gelz, O. Ette (Hrsg.), Der französischsprachige Roman heute, Tübingen 2002, S. 173-184, hier S. 178. 25 A. de Toro, „La ‚Nouvelle Autobiographie‘ postmoderne ou l’impossibilité d’une histoire à la première personne: Robbe-Grillet, Le miroir qui revient et Doubrovsky, Le livre brisé“, in: A. de Toro, C. Gronemann (Hrsg.), Autobiographie „revisited“. Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur, Heidelberg-Zürich-New York 2004, S. 79-113; B. Burrichter, „Le miroir qui revient. Der Spiegel zwischen Roman und Autobiographie in Alain Robbe-Grillets Trilogie Les romanesques“, in: Romanistisches Jahrbuch LVI (2005), S. 163-178; N. Groß, Autopoeisis op. cit.; S. Schlickers, „Vom Nouveau Roman“, op. cit. Subjektivität und Theatralität 341 kann daher die Kombination von Subjektivität und Theatralität, die Mischung von Autobiografie, Fiktion, Essay und Dokumentation mit dem Begriff der Autofiktion erfassen und in dem Maße, in dem Robbe-Grillet Bilder, Fantasien und Mythen in den Texten und ebenso in den Filmen als Elemente seiner Selbstdarstellung ins Spiel bringt, auch mit dem Begriff der Automedialität beschreiben. Ich möchte aus der Vielfalt möglicher Ansatzpunkte einige Beispiele zunächst aus den Romanesques und aus den Filmen auswählen. In Angélique ou l’enchantement und in Le Miroir qui revient erzählt der Autor von der „vertrauten Gesellschaft von Gespenstern“, mit denen er groß geworden sei: von Figuren aus bretonischen Legenden, aus der Artusepik, aus Romanen der Weltliteratur, Theaterstücken, Filmen, Bildern und Comics und auch aus bekannten Bildern, Kopien, privaten Fotos oder Texten. Diese Gesellschaft der Gespenster und insbesondere der erotischen Fantasien taucht in den Romanesques immer wieder auf. So stammen z.B. die Bilder nackter junger Mädchen, die von Hunden oder Wölfen gehetzt oder gebissen werden, wie Robbe- Grillet erläutert, aus Illustrationen eines Sammelbandes der Erzählungen von Boccaccio; andere Varianten sind von einem Ölgemälde inspiriert, das im Arbeitszimmer von Robbe-Grillet hängt und eine junge Frau mit einem hauchdünnen Schleier zeigt. 26 Jeder Leser der Romanesques und weiterer Romane und die Zuschauer der Filme von Robbe-Grillet wissen, dass solche Bilder und Szenarien quasi seriell in immer neuen Varianten auftauchen: perverse Fantasien und auch Folterszenarien, die, wie auch Robbe-Grillet selbst anmerkt, von ihm mit der Lektüre von Märtyrergeschichten, antiken Dramen und nicht zuletzt mit der Lektüre von de Sade weiter ausgestaltet werden. Die erotischen Fantasien werden dabei - dies ist der Unterschied zu pornographischen Texten und Bildern - meist in Form einer ironischen Selbstanalyse kommentiert, im Rahmen einer kritischen Diskussion mit den Kategorien Freuds und im Dialog insbesondere mit Bataille, Foucault, Lacan oder Barthes. Es geht Robbe-Grillet darum, die Funktion zirkulierender, immer wiederkehrender Bilder am eigenen Beispiel, also automedial und autoreflexiv, zu veranschaulichen; in einer Kombination von Ästhetik und Erotik, Lektürefantasie und Schaulust, die schon bei Proust eine Rolle spielt, aber vor allem in den intermedialen Experimenten, Texten und Bildern der Surrealisten in einer Mischung von Groteske und Ironie weiter ausgestaltet wird. In Le Miroir qui revient konzentriert sich Robbe-Grillet vor allem darauf, die Spiegel- und Spektralfiguren als „réflexions virtuelles miroitentes“ zu erläutern, als Spiegelbilder, die, wie Scarlett Winter ausführt, als Gespenster im Kopf des Erzählers entstehen, sich im Medium, sei es im Spiegel, im Text, im künstleri- 26 Vgl. Le miroir qui revient, op. cit., S. 17, 21; Angélique ou l’enchantement, op. cit., S. 59ff. Volker Roloff 342 schen Bild, in der Fotografie oder im Film, realisieren und an denen sich wiederum neue Gespenster bilden. 27 Diese wiederkehrenden Gespenster - Robbe- Grillet nennt sie fantômes, spectres oder auch monstres - markieren, so Scarlett Winter, die unheimlichen Zwischenräume und Bilder in unserem Bewusstsein. Sie inspirieren Wahrnehmungsprozesse zwischen Realität und Fiktion und decken verborgene Vorgänge der Bildproduktion und -rezeption auf. 28 Im Sinne des spectre-Begriffs geht es hierbei um die Inszenierung eines Spiels der Differenzen und gespenstischen Wiederholungen. Die Gespensterbilder entstehen, so erinnert sich Robbe-Grillet, in seiner Kindheit im Halbdunkel seines Zimmers und setzen sich „langsam und wellenförmig in Bewegung“; und sie verfolgen das Kind bis in die nächtlichen Albträume und später die erotischen Fantasien und Phantasmen. 29 Robbe-Grillet operiert dabei, wie Joachim Paech und Scarlett Winter im Einzelnen zeigen, mit aktuellen Topoi einer Medienästhetik, die in Frankreich seit den 60er Jahren Gestalt annimmt und - mit Merleau-Pontys Phänomenologie des Sichtbaren und Unsichtbaren und Sartres Blicktheorie - zur interstitiellen Filmästhetik von Deleuze führt, mit dem Begriff der inneren Leinwand zu Derridas „logique spectrale“, Barthes’ synästhetischem Begriff der „figure“ und nicht zuletzt Lacans „stade de miroir“. 30 Robbe-Grillet ist den neuen medienästhetischen Theorien und Theoremen z.T. schon voraus, u.a. mit frühen Texten wie Le Voyeur (1955), dem ciné-roman und dem Film L’Année dernière à Marienbad (1961) oder auch dem picto-roman und dem Film La belle Captive (1975), in dem er versucht, eigene Positionen, z.B. auch gegenüber Sartre und Lacan, zu entwickeln und in Texten und Filmen zu erläutern. 31 Dies gilt, wie schon angedeutet, für die Spiegelbilder und „wiederkehrenden Gespenster“, die in den Filmen Gestalt gewinnen und so das Wechselspiel von Lektüre und Schaulust veranschaulichen, 32 für das Phänomen der unendlichen Bildassoziationen, das Gleiten und die Zirkulation innerer und äußerer Bilder. Verfahren wie Montage, glissement, labyrinthische Strukturen sind typische Elemente seiner Texte und ciné-romans, aber es geht 27 A. Robbe-Grillet, Les derniers jours de Corinthe, op. cit, S. 198; Vgl. S. Winter, Robbe- Grillet, Resnais und der neue Blick, Heidelberg 2007, S. 109ff. 28 S. Winter, op. cit., S. 110. 29 Vgl. A. Robbe-Grillet, „Fantasmes, fantômes et folie“, in: ders., Préface à une vie d’écrivain, Paris 2005, S. 163-177. 30 J. Paech, „La belle captive. Malerei, Roman, Film (René Magritte, Alain Robbe-Grillet)“, in: F.-J. Albersmeier, V. Roloff (Hrsg.), Literaturverfilmungen, Frankfurt/ M. 1989, S. 409- 436; S. Winter, Robbe-Grillet, Resnais, op. cit., S. 111ff. 31 Vgl. J. Paech, „La belle captive“, op. cit.; S. Winter zu L’année dernière à Marienbad und Glissements progressifs du plaisir, op. cit.; R. Prédal (Hrsg.), Robbe-Grillet cinéaste, Caen 2005. 32 S. Winter, Robbe-Grillet, Resnais, op. cit., S. 142. Subjektivität und Theatralität 343 ihm auch darum, die Transmedialität dieser Verfahren zunächst über Zwischenformen wie ciné-roman oder picto-roman darzustellen und dann vor allem in eigenen Filmen zu reflektieren - nach dem Vorbild surrealistischer Filmexperimente: „Il y a des structures oniriques de montage qui y sont passionnantes et assez proches des miennes: mais je n’ai pas envie de refaire Un chien andalou.“ 33 Die Kunst der Spiegelungen und Variationen betrifft bei Robbe-Grillet immer auch den Umgang mit solchen Vorbildern bzw. Prätexten. Es ist offensichtlich, dass Robbe-Grillet in Le miroir qui revient das traditionelle Motiv des Spiegels in vielen Varianten aufnimmt, als Schlüsselfigur einsetzt und zugleich im Blick auf Lacan auf seine Weise interpretiert. 34 Da es sich bei den Spiegelbildern zugleich um das zentrale Problem der Wechselbeziehung von Subjekt und Theatralität handelt, möchte ich etwas näher darauf eingehen. Das Spiegelbild ist, im Sinne Lacans und seiner Analyse der frühkindlichen Urszene (die er im Übrigen im Dialog mit Dalí entwickelt), nicht eine Bestätigung des Ich, sondern, wie Walburga Hülk es ausdrückt, dessen Konstitution. Mit seiner Spiegeltheorie stellt Lacan ein „Ich“ vor, das, „generiert aus einer Fiktion, in seiner weiteren Entwicklung durch deren illusionären Charakter und entfremdende, irrealisierende Wirkung bestimmt sein wird“. 35 Das so genannte „drame de miroir“ erscheint bei Lacan als ein medialer Komplex von Spiegelungen und Täuschungen, der unaufhebbaren Ambiguität des Begehrens, der Bedrohung durch den Blick des Anderen, der Gefährdung der Identität - durch Bilder der Zerstückelung, Fragmentierung und Fragilität des Körpers, wie z.B. in den Träumen oder Bildern von Hieronymus Bosch. 36 Auch für Peter V. Zima ist Lacan eine wichtige Referenz für die Analyse der Entfremdung des Ichs, der Macht des Imaginären, die in den Diskurs des Subjekts eindringt, ihn verwirrt und damit das Ich in eine permanente Bühne des Imaginären verwandelt. 37 In Le miroir qui revient, in der Schlüsselszene, in der Corinthe einen Spiegel aus dem Meer zieht, ist der Bezug zu Lacan sehr deutlich, wie Robbe-Grillet selbst anmerkt: „Le miroir qui revient correspond au stade du miroir lacanien: l’enfant recolle ses morceaux dans la glace et s’aperçoit que l’image de lui-même dans la glace est un autre.“ 38 Der Spiegel reflektiert, so Burrichter, nicht das Ich, „sondern - je nach Lesart - die tote 33 A. Robbe-Grillet, Œuvres cinématographiques, op. cit., S. 32. 34 Vgl. bes. B. Burrichter, Le miroir qui revient, op. cit. 35 W. Hülk, Schrift-Spuren von Subjektivität, Tübingen 1999, S. 7. 36 J. Lacan, Ecrits, Paris 1966, S. 65. 37 Vgl. P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2000, S. 262. 38 A. Robbe-Grillet, „Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi“, in: La Quinzaine littéraire 432, 1984, S. 6, vgl. B. Burrichter, Le Miroir qui revient, op. cit., S. 169. Volker Roloff 344 Geliebte oder aber, weniger wörtlich genommen, Erinnerungsfetzen oder Phantasmata. Die Erinnerung kommt völlig unerwartet, - „inopinément“ 39 - also ähnlich wie die mémoire involontaire in Prousts Recherche. Der wiederkehrende Spiegel ist ein magischer Spiegel, „der die Realität in Fiktion“ 40 verwandelt und Dämonen und Gespenster zeigt: „Ainsi mon livre est une sorte de miroir, sauf qu’il n’est en rien totalisant. Il est au contraire un système de diffraction. C’est un miroir qui disperse.“ 41 Bei Robbe-Grillet geht es, im Unterschied zu Freud und zu Lacan, nicht darum, eine tiefere Bedeutung durch die Analyse der wiederkehrenden Spiegel zu finden, auch wenn, so Robbe-Grillet, Lacan seiner Auffassung näher sei, indem er, anders als Freud, das Ich als „fatras“, „bric-à-brac de représentations imaginaires“ 42 begreife. Robbe-Grillets Umgang mit der Psychoanalyse und ihren Erklärungsmustern ähnelt den karnevalesken Spielformen und ironischen Umkehrungen, die schon bei Buñuel, Dalí, Lorca oder Max Ernst, Magritte oder Bellmer in ihrem Bezug zu Freud auffällig sind. Zu den surrealen Spielformen der Autofiktion bei Robbe-Grillet gehört die enorme Ausweitung der Domäne des Imaginären, der Traumform gegenüber der, so Robbe- Grillet, „künstlichen Welt“ des „faden, armseligen, bewussten Lebens“ 43 , seiner Moral und Vernunft. So entsteht eine Theatralität, die sich in den Szenarien seiner Romane, insbesondere auch im Medium der Filme, entfaltet. Joachim Paech hat in seiner Analyse des so genannten picto-roman und des Films La belle Captive den Begriff der „Einbildungen“ als einen Angelpunkt intermedialer Beziehungen eingeführt. Magrittes La belle Captive (Titel von sechs ganz verschiedenen Bildern von Magritte) gibt - so Paech - das Muster vor, „nach dem die literarische und filmische Produktivität Robbe- Grillets funktionieren“. „Einbildung ist zunächst die szenische Realisation des Imaginären in einem Bild (Magritte), zwischen Bild und literarischem Text (Robbe-Grillets)“ und schließlich das „komplexe audiovisuelle Verfahren“ 44 des Films. Schon bei Magritte funktioniert La belle Captive als eine Art „Bühne für Auftritte ihrer Einbildungen“, bei Robbe-Grillet „spiegeln sich endlos (en abyme) die Bilder im Schnittpunkt des Erzählens wieder“. 45 Dasselbe Verfahren der unendlichen Spiegelungen, der mises en abyme und der circulation, des glissement der Bilder, der arabesken Verzweigungen und labyrinthischen Irrwege findet sich in den Texten ebenso wie in den Filmen 39 B. Burrichter, Le Miroir qui revient, op. cit., S. 176. 40 Ibid., S. 171. 41 Vgl. „Alain Robbe-Grillet par lui-même“, zit. bei B. Burrichter, S. 171 Anm. 35. 42 A. Robbe-Grillet, Œuvres cinématographiques, op. cit., S. 47. 43 A. Robbe-Grillet, Angélique, op. cit., S. 182ff. 44 J. Paech, „La belle captive“, op. cit., S. 412, 414. 45 Ibid. S. 414, 434. Subjektivität und Theatralität 345 der 60er Jahre: schon in Marienbad, in L’Immortelle, Glissements progressifs du plaisir, L’Eden et après und weiteren Filmen. Scarlett Winter behandelt in ihrer Untersuchung Robbe-Grillet, Resnais und der neue Blick einerseits die Bezüge zu den surrealistischen Filmen von Buñuel, Dalí und Cocteau, zu den Bildern von Chirico, Max Ernst, Magritte, Delvaux und Duchamp, andererseits aber auch die Bezüge zu den Autorenfilmen der Nouvelle Vague, die bisher noch zu wenig beachtet wurden. Sie betont das Konstruktionsspiel, die „impulsion génératrice“, die durch den Zwischenraum, den „écart visible“ zwischen Texten und Bildern entsteht und dadurch Leser bzw. Zuschauer einbezieht 46 : „Ainsi le lecteur-spectateur est-il convié à prendre part (créateur à son tour d’itinéraire) à cette circulation du sens.“ 47 Der Lecteur-spectateur ist eine Schlüsselfigur in diesem Spiel und Szenarium und damit der eigentliche Protagonist der autofiktionalen Texte und Filme, gefangen im Spiegel der Inszenierungen und Einbildungen des Autors, und doch frei im Umgang mit den eigenen Spiegelbildern und Gespenstern. Robbe-Grillet folgt in dieser Hinsicht Autoren wie Proust, Borges oder Sartre, die die Kreativität und Freiheit der Lektüre und ihrer Rollenspiele sowie den Dialog zwischen Autor und Leser bzw. Regisseur und Zuschauer hervorheben - mit anderen Worten: den Zusammenhang von Subjektivität und Dialog. Die von Robbe-Grillet so genannte Zirkelstruktur, „cette circulation du sens“, das Gleiten der Bilder und Bedeutungen, wird besonders deutlich in einem Film, den ich als Beispiel herausgreife: Glissements progressifs du plaisir. Hier wird die junge Alice in einer von Nonnen geleiteten Erziehungsanstalt wegen imaginärer oder auch realer Morde und Folterungen angeklagt und schließlich freigesprochen; ganz am Ende aber, als das Bild des Sexualverbrechens plötzlich wieder auftaucht, kommt der Polizist zu dem Schluss: „Alors, tout est à recommencer.“ Der Film, der an Michelets Sorcière und auch Barthes Interpretation von Michelet und de Sade anknüpft, zeigt sehr genau, wie Robbe-Grillet bereits 1974 die zentralen Motive und Verfahrensweisen der Romanesques andeutet und filmisch umsetzt. Der Film ist ein Beispiel der Nouvelle autobiographie und Autofiktion: der Selbstdarstellung mit speziell filmischen Mitteln, mit grotesken, surrealen Szenarien und Einbildungen, die sich im Kopf des Regisseurs, der Figuren des Films und der Zuschauer abspielen. Die vorgespielte Wirklichkeit der filmischen Bilder, die Zimmer, die Objekte, das Meer, die Puppen, erscheint als Täuschungs- und Imaginationsspiel. 48 46 S. Winter, Robbe-Grillet, Resnais, op. cit., S. 143. 47 A. Robbe-Grillet, zit. in S. Winter, op. cit., S. 143. 48 S. Winter, Robbe-Grillet, Resnais, op. cit., S. 153. Volker Roloff 346 Il va se passer dans le film, so Robbe-Grillet in einem Interview mit François Jost, des opérations de glissement de sens, d’une part d’un objet à l’autre, d’autre part et surtout, des objets de ponctuation vers la narration et de la narration vers les objets. Le système de perversion que la jeune fille a imaginé pour détruire le juge c’est justement ce dont il a plus horreur, c’est le système de glissements. 49 Robbe-Grillets Film enthält die Elemente und traumanalogen Verfahrensweisen der frühen surrealistischen Filme, insbesondere auch ihre radikale Subversivität, die hier als groteske Satire der Vertreter der Ordnung, der Polizei, der Gerichte und besonders der Kirche in Erscheinung tritt. Der Film spielt darüber hinaus, wie die späteren Filme Robbe-Grillets, in einer raffinierten Weise mit den Erwartungen und Fantasien der Zuschauer, deren Schaulust erregt, aber nie befriedigt wird. Es handelt sich, wie z.B. auch in späten Filmen von Buñuel, besonders in Le Fantôme de la liberté, um Steigerungsformen und Aktualisierungen surrrealistischer Subversivität. Wie bei Buñuel wird auch in Glissements progressifs du plaisir das Gefängnis zum „fantasme“ und zugleich zu einer Heterotopie der Freiheit. # Burrichter, B., „Le miroir qui revient. Der Spiegel zwischen Roman und Autobiographie in Alain Robbe-Grillets Trilogie ,Romanesques‘“, in: Romanisches Jahrbuch LVI, 2005. Belting, H., Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. Dünne, J., Moser, Ch. (Hrsg.), Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, München 2008. Groß, N., Autopoiesis. Theorie und Praxis autobiographischen Schreibens bei Alain Robbe-Grillet, Berlin 2008. 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Während einer Fahrt mit dem Vaporetto, den schwimmenden Straßenbahnen der Lagunenstadt, sieht Baxter in Gegenrichtung eine Gondel vorüberfahren. An Bord der Gondel befinden sich seine Ehefrau Laura und zwei ältere italienische Damen, mit denen die Baxters kürzlich Bekanntschaft geschlossen haben. Aus unerfindlichen Gründen tragen die drei Frauen Trauerkleidung. Keine von ihnen reagiert auf Baxters Zurufe, obwohl sie nur wenige Meter an ihm vorüberfahren. Kurz nach diesem Zwischenfall wird Baxter von einem Unbekannten ermordet. &/ ! J N Y J # NN, N> & Soweit eine bekannte Szene aus Nicolas Roegs Thriller D ON ’ T L OOK N OW , der die deutsche Fassung, W ENN DIE G ONDELN T RAUER TRAGEN , ihren Titel verdankt. Das Bild der vorüberziehenden Gondel stellt sich als flüchtiger Blick in die Zukunft heraus - in eine Zukunft, in der Laura um ihren toten 1 Bei allen Abbildungen dieses Beitrags handelt es sich um DVD Screenshots. Jörg Helbig 350 Ehemann trauert. Fatalerweise kann Baxter die Natur dieser übersinnlichen Wahrnehmung nicht deuten. Was er für die reale Gegenwart hält, ist in Wahrheit eine präkognitive Vision. Diese Szene ist ein frühes Beispiel für filmische Bilder, deren ontologischer Status den Zuschauern zunächst verborgen bleibt. 2 Nur scheinbar spiegeln die Bilder die filmische Diegese wider, während in Wahrheit eine mentale Fokalisierung vorliegt, bei der die Zuschauer für einen kurzen Moment John Baxters subjektive Wahrnehmungen teilen. Die für ein adäquates Verständnis dieser Szene maßgebliche Information, dass die filmische Darstellung vom diegetisch realen Geschehen unvermittelt zu subjektiven inneren Vorgängen gewechselt hat, wird dabei vorenthalten. Übergänge von der Außenzur Innenperspektive wurden im Film lange Zeit durch explizite Kommentare oder filmische Techniken wie Großaufnahmen der intern fokalisierenden Figur, atmospärische Hintergrundmusik, Überblendungen, Weichzeichnung, o.ä. markiert. 3 Derartige Indikatoren sind indes weder obligatorisch noch monosemisch, sie können entweder fehlen oder in anderen Kontexten gänzlich andere Funktionen erfüllen. 1994 machte Paul Messaris zudem geltend, dass diese Konvention veraltet sei: During much of the history of Hollywood cinema, it was a common practice to introduce flashbacks with the familiar device of a blurring or warping of the image (…). A similar device was also commonly used for other kinds of transitions out of the stream of ongoing reality, such as hallucinations and dreams. However, it goes without saying that this device is now obsolete, and it seems inconceivable that any filmmaker would employ it today without appearing either hopelessly archaic or deliberately campy. (…) The loss of this convention has probably not had much effect on the intelligibility of these transitions; it appears that viewers are quite able to figure out the nature of the transition on the basis of the narrative context. 4 Messaris ist natürlich zuzustimmen, wenn er die genannten Indikatoren für obsolet erklärt. Sein Argument, die Zuschauer eines Films seien ohnehin in der Lage, Übergänge von äußeren zu inneren Vorgängen bzw. von unpersönlicher zu persönlicher Fokalisierung zu erkennen, wird freilich durch die geschilderte Szene aus D ON ’ T L OOK N OW widerlegt. Wie unzählige weitere Beispiele belegen, gelingt es Filmen ohne weiteres, ihr Publikum über den 2 Eine ähnliche Szene findet sich in Dennis Hoppers vier Jahre vor D ON ’ T L OOK N OW erschienenem Film E ASY R IDER , wo Wyatt (Peter Fonda) eine Vision seines brennenden Motorrads hat. 3 Vgl. hierzu ausführlicher J. Helbig, „Follow the White Rabbit! Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit im zeitgenössischen Spielfilm“, in: F. Liptay, Y. Wolf (Hrsg.). Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 135. 4 P. Messaris, Visual „Literacy”: Image, Mind, and Reality, Boulder, CO 1994, S. 31. Die Subjektivierung des filmischen Diskurses 351 subjektiven Status der Bilder im Unklaren zu lassen und dadurch zu falschen Annahmen zu führen. Mehr noch: Viele Filme können nur deshalb ihre Wirkung entfalten, weil die Zuschauer keineswegs immer in der Lage sind zu erkennen, dass eine subjektive Fokalisierung vorliegt. George Wilson hat dieses Phänomen 1986 etwas unscharf als „intermediate between unrestricted and directly subjective schemes“ beschrieben. 5 Er meint damit Filme, die durch „indirect or reflected subjectivity“ 6 gekennzeichnet sind, d.h. deren Handlung nur teilweise, wenn überhaupt, aus der optisch-räumlichen Perspektive einer Figur gezeigt wird, obwohl die Bilder die Art und Weise der Wahrnehmung dieser Figur „irgendwie“ reflektieren. 7 Wilson verweist in diesem Zusammenhang auf Roman Polanskis Psychothriller R EPULSION (1965), in dessen Mittelpunkt die psychisch labile Carole Ledoux (Catherine Deneuve) steht, die in der klaustrophobischen Einsamkeit ihres Londoner Apartments unter Wahnvorstellungen leidet und sukzessive die Verbindung zur Wirklichkeit verliert. Richtig ist, dass die filmische Darstellung in R EPULSION „irgendwie“ zwischen persönlicher und unpersönlicher Fokalisierung fluktuiert, und es erweist sich auch hier, dass es den Zuschauern nicht immer möglich ist, zwischen beiden Darstellungsmodi zu differenzieren. So lässt sich beispielsweise nicht mit absoluter Gewissheit feststellen, ob Carole in ihrem Apartment einen zudringlichen Mann getötet hat, wie im Bild zu sehen, oder ob diese Tat von ihr halluziniert wurde. Dieses Phänomen wurde, ebenfalls unter Verweis auf R EPULSION und einige ähnlich gelagerte Filme, 8 von Steven Jay Schneider folgendermaßen beschrieben: [T]he audience is left more or less in the dark as to whether the strange and troubling phenomena experienced by the female protagonists (…) are merely subjective in nature (because they are products of their psyche) or whether they are truly objective (rendering them supernatural in origin). 9 Schneider identifiziert mithin den Wechsel zwischen persönlicher und unpersönlicher Fokalisierung als potentielle Quelle der Unzuverlässigkeit. Filme, die sich hierauf gewissermaßen spezialisieren, wurden seit den 1990er Jahren in einer Größenordnung produziert, die es rechtfertigt, von einem eigenen Genre zu sprechen. In diesen Filmen wird die Darstellung der äußeren diegeti- 5 G. Wilson, Narration in Light, Baltimore, Md. 1986, S. 87 6 Ibid., Hervorhebung im Original. 7 Ibid., 87-89. 8 Die von Schneider untersuchten Filme, neben R EPULSION , sind: T HE H AUNTING (GB 1963, Regie: Robert Wise), S ÉANCE ON A W ET A FTERNOON (GB 1964, Regie: Bryan Forbes), A SYLUM (GB 1972, Regie: Roy Ward Baker), F ULL C IRCLE (CDN/ GB 1976, Regie: Richard Loncraine). 9 St. Schneider, „Barbara, Julia, Carol, Myra, and Nell: Diagnosing Female Madness in British Horror Cinema“, in: St. Chibnall, J. Petley (Hrsg.), British Horror Cinema, London 2002, S. 127. Jörg Helbig 352 schen Wirklichkeit von der Darstellung einer subjektiven inneren Wirklichkeit mehr oder weniger stark überlagert. Da die subjektive Wahrnehmung ohne einhergehende Signale an die Stelle der äußeren Realität tritt, bemerken die Zuschauer hiervon zunächst nichts - nicht einmal dann, wenn der Wechsel der Wahrnehmungsebenen im Unterschied zu Don’t Look Now nicht nur in einer kurzen Szene erfolgt, sondern während des größten Teils der gesamten Filmhandlung. Mehrere dieser Filme sind an der Schwelle zwischen Leben und Tod angesiedelt. Sie zeigen Halluzinationen von Sterbenden oder postmortale Visionen. Zu ihnen gehören u.a. T HE S IXTH S ENSE (1999), M EMENTO (2000), T HE O THERS (2001), M ULHOLLAND D R . (2001), D ONNIE D ARKO (2001), N OVEM- BER (2004), S TAY (2005) und T HE D ESCENT (2005). Im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen stehen zwei dieser Filme, nämlich Alejandro Amenábars T HE O THERS und Neil Marshalls T HE D ES- CENT . Gemeinsam ist diesen beiden Filmen, dass ihre jeweiligen weiblichen Hauptfiguren in einer von der äußeren Realität abgeschlossenen subjektiven Welt gefangen sind, ohne sich dessen bewusst zu sein. ' A ? &I*+ Die Handlung von T HE O THERS spielt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auf der Insel Jersey bewohnt Grace Stewart mit ihren beiden Kindern Anne und Nicholas ein großes viktorianisches Anwesen. Grace befindet sich in einer Phase schwerer psychischer Belastung: Ihr Ehemann Charles ist noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, ihre Kinder leiden an einer lebensbedrohlichen Lichtallergie, und zu allem Überfluss hat das gesamte Personal das Haus vor einigen Tagen ohne Ankündigung verlassen. Um neues Personal zu finden, gibt Grace ein Zeitungsinserat auf, und kurz darauf werden drei Personen vorstellig: die Haushälterin Mrs. Mills, der Gärtner Mr. Tuttle und das Dienstmädchen Lydia. Grace stellt alle drei ein und führt sie durch das Haus. Dabei schärft sie ihnen ein, dass wegen der Lichtallergie der Kinder stets sämtliche Türen im Haus abgeschlossen und die Fenstervorhänge zugezogen sein müssen. Einige Tage später entdeckt Grace, dass sich ihre aufgegebene Post noch immer im Briefkasten befindet und nicht weiterbefördert wurde. Sie stellt Mrs. Mills zur Rede, um zu erfahren, woher sie von dem Stellenangebot wusste, wenn das Inserat gar nicht erschienen ist. Mrs. Mills antwortet, dass sie, Lydia und Mr. Tuttle schon früher in dem Haus angestellt gewesen seien und auf Verdacht angefragt hätten, weil in so einem großen Haushalt immer genügend Arbeit anfalle. Der ungeleerte Briefkasten steht am Beginn einer Kette mysteriöser Ereignisse, die sich fortan in dem Haus abspielen. Anne Die Subjektivierung des filmischen Diskurses 353 behauptet wiederholt, dass sich Fremde (sprich: Geister) im Haus aufhalten. Unerklärliche Stimmen und Geräusche kommen aus scheinbar leeren Räumen, eben noch verschlossene Türen stehen plötzlich offen, das Klavier scheint von alleine zu spielen. Als schließlich über Nacht auch noch alle Fenstervorhänge („the curtains my children’s lives depend on“, 1: 14: 53 10 ) spurlos verschwinden, jagt Grace die neuen Angestellten entnervt aus dem Haus. '/ 1 6 $ ? # ! Im Zuge dieser Ereignisse erlangt das Thema von Wahrheit und Lüge eine zentrale Bedeutung. Insbesondere wird dieses Thema in der Konstellation der drei weiblichen Figuren Grace, Anne und Mrs. Mills relevant. Mehrfach im Verlauf des Films erscheint mal die eine, mal die andere dieser Figuren glaubwürdiger. Grace besitzt insofern eine privilegierte Stellung, als ihre Wahrnehmung fast den gesamten Film dominiert. Allerdings wird ihre Glaubwürdigkeit gleich zu Beginn zur Disposition gestellt, weil sie als labile Person eingeführt wird, die von Albträumen und Migräneanfällen geplagt wird und zur Hysterie neigt. Zudem behauptet ihre Tochter mehrfach, dass ihre Mutter kürzlich verrückt geworden sei. 11 Dabei spielt Anne auf ein spezifisches Ereignis an, das immer nur kryptisch mit „that day“ umschrieben wird. Trotz dieser Einschränkungen nehmen die Zuschauer Graces Perspektive am ehesten als vertrauenswürdig wahr, zumal ihr Hang zur Hysterie durch die familiäre Ausnahmesituation - ihre Sorge um das Schicksal des Ehemanns und die Gesundheit ihrer Kinder - plausibilisiert wird. Anne ist diejenige, die die engste Verbindung zu den angeblich im Haus lebenden Geistern hat. Sie ist die Einzige, die explizit behauptet, es würden 10 Alle Zeitangaben entsprechen der DVD-Fassung von 2002, Universal Studios and Senator Film. 11 Vgl. T HE O THERS , 10: 49, 1: 04: 03, 1: 08: 25, 1: 18: 14. Jörg Helbig 354 sich fremde Personen im Haus aufhalten, die offensichtlich für alle anderen unsichtbar sind. Meist habe sie zu einem Jungen namens Victor Kontakt, aber auch Victors Vater und eine ältere Frau seien gelegentlich zugegen. Für diese Behauptungen wird sie von Grace, einer strenggläubigen Christin, aggressiv der Lüge bezichtigt und bestraft. Tatsächlich wird Annes Glaubwürdigkeit nachhaltig untergraben, indem Grace dem vorpubertären Mädchen eine überbordende Fantasie und einen Hang zum Lügen bescheinigt. Bald darauf hört indes auch Grace Stimmen und Geräusche, deren Herkunft sie nicht bestimmen kann. Sie gelangt schließlich zu der Überzeugung, dass es im Haus spukt und weist das Personal an, im Garten nach den Gräbern von Victor und seiner Familie zu suchen. Die Grenze zwischen objektiver sinnlicher Wahrnehmung und subjektiver Einbildung bleibt jedoch vage. Mehrere Durchsuchungen des gesamten Hauses durch Grace und die Dienstboten verlaufen ergebnislos, so dass Annes Behauptungen unbewiesen bleiben. Mrs. Mills positioniert sich im Konflikt zwischen Mutter und Tochter frühzeitig auf Seiten Annes. Im Gegensatz zu Grace schenkt sie Annes Behauptungen Glauben und stellt dem Mädchen in Aussicht, dass ihre Mutter schon bald die Wahrheit verstehen werde. Sobald dies geschehe, werde sich alles ändern: „There are going to be some big surprises. There are going to be... changes.“ (0: 59: 19). Mrs. Mills ist es auch, die eine spirituelle Erklärung für Annes Behauptungen ins Spiel bringt, indem sie Grace erzählt, dass die Welten der Lebenden und der Toten manchmal in Kontakt treten würden. Obwohl Mrs. Mills undurchsichtig wirkt, bildet sie doch eine Art rationalen Gegenpol zu der hysterischen Grace. Dennoch verliert ihre Glaubwürdigkeit im Verlauf des Films am stärksten an Kredit, da sie offenbar ein doppeltes Spiel treibt. Deutlich wird dies u.a., als sie und Mr. Tuttle auf Graces Anweisung im Garten nach den Gräbern von Victor und seiner Familie suchen sollen, stattdessen aber konspirativ einige Grabsteine unter trockenem Laub verstecken. Beide Dienstboten hüten offensichtlich ein Geheimnis und verfügen über einen höheren Wissensstand als Grace. Was die beiden konkret im Schilde führen, wird jedoch zunächst nicht ersichtlich, es bleibt bei rätselhaften Andeutungen, wie der Bemerkung von Mrs. Mills: „It’s the mother who’s going to cause us problems.“ (0: 59: 53). Die beschriebene Figurenkonstellation führt die Zuschauer zu wechselnden Hypothesenbildungen und Sympathieverteilungen, doch lässt sich bis kurz vor Schluss des Films nicht eindeutig bestimmen, wessen Perspektive zuverlässig ist. Die genretypischen Konventionen des haunted house-Films forcieren den Glauben des Publikums an die Existenz übersinnlicher Phänomene im Anwesen der Stewarts. Dabei steht vor allem die Frage im Raum, welche der beteiligten Figuren möglicherweise mit den angeblich im Haus spukenden Geistern im Bunde steht. Diese Frage wird scheinbar beantwortet, als Grace im Verlauf Die Subjektivierung des filmischen Diskurses 355 der Handlung eine Fotografie aus dem Jahr 1891 entdeckt, auf der die Leichen ihrer drei neuen Hausangestellten zu sehen sind. ).*/ : < G Z = G In der späteren Auflösung stellt sich freilich heraus, dass sowohl Anne als auch Mrs. Mills stets wahrheitsgemäße Aussagen machten, Graces Wahrnehmung hingegen unzuverlässig war. In der Auflösungsszene erweist sich die bisherige, scheinbar unpersönliche Fokalisierung als subjektive Fokalisierung, die an die Perspektive einer bereits verstorbenen Figur, nämlich Grace, gebunden war. Erst am Schluss wechselt die Fokalisierung von der bislang vorherrschenden Perspektive der Toten in die Welt der Lebenden: Während einer im Haus abgehaltenen Séance werden erstmals die Lebenden gezeigt, die das Haus seit einigen Tagen bewohnen. Anne konnte sie schon immer sehen, aber erst jetzt werden sie auch für Grace und somit für die Zuschauer sichtbar. Trotz einiger subtiler Hinweise ist es für die Zuschauer praktisch unmöglich, die Unzuverlässigkeit der filmischen Erzählung vor der Enthüllungsszene zu durchschauen. Einer dieser Hinweise ist das Fotoalbum aus dem 19. Jahrhundert, das Grace während einer ihrer Durchsuchungsaktionen im Haus findet. Es enthält Fotografien von Verstorbenen, die nach ihrem Tod so auf- Jörg Helbig 356 gebahrt wurden, als seien sie noch lebendig. Grace interpretiert die Fotos zunächst falsch und hält die Personen für Schlafende. Erst Mrs. Mills klärt sie über den alten Aberglauben auf, wonach die Angehörigen davon ausgingen, dass die Seelen der Verstorbenen durch die Fotografien weiterleben würden. So werden in T HE O THERS bereits frühzeitig Bilder von Toten inszeniert, die von der Betrachterin zunächst nicht als Tote erkannt werden. Diese intradiegetische Fehllektüre von Bildern verweist auf die potentielle Unzuverlässigkeit der vermeintlich objektiven optischen Aufzeichnungen des Fotoapparats und - im weiteren Sinne - der Filmkamera. 12 +.2/ = Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die erzählerische Unzuverlässigkeit in T HE O THERS dadurch entsteht, dass die gezeigten Bilder an die Wahrnehmungen einer diegetischen Figur gebunden sind, ohne dass dies den Zuschauern kenntlich gemacht wird. Der Unzuverlässigkeitsgrad ist in diesem Fall besonders hoch, weil die fokalisierende Figur Grace keine normale, sondern eine pathologisch verzerrte Wahrnehmung besitzt, und sie sich dessen nicht bewusst ist. Erst anhand der oben beschriebenen Auflösungsszene wird offen- 12 Einen weiteren Hinweis auf die Unzuverlässigkeit liefert die Metapher des Lichts, die den Film leitmotivisch durchzieht. Deutet bereits die Lichtallergie der Kinder latent auf deren Status als Untote hin, steht das Wort „Licht“ rückblickend synonym für „Wahrheit“. Die permanent zugezogenen Fenstervorhänge symbolisieren Graces panische Angst vor dem Eindringen der Wahrheit in ihre hermetische Welt. Mehrmals im Film wird diese Ambivalenz manifest: In einer Szene fordert Grace ihre Tochter auf, ihr die Wahrheit zu sagen und öffnet anschließend die Tür zu einem Zimmer, in dem die Vorhänge versehentlich nicht geschlossen wurden. Anne ruft daraufhin: „Mummy, you’re letting the light in! “ (32: 41). Als eines Morgens sämtliche Vorhänge im Haus verschwunden sind, verliert Grace völlig die Fassung und fragt, warum jemand so etwas tun sollte. Mrs. Mills antwortet ihr, „To let some daylight into this house.“ (1: 15: 18). Behutsam versucht Mrs. Mills Grace davon zu überzeugen, dass das Licht den Kindern nichts mehr anhaben könne, doch Grace weist diesen Gedanken schroff zurück: „Are you mad? The light will kill them! “ (1: 15: 36). Auch diese Aussage ist doppeldeutig: Das Eindringen bzw. Aussprechen der Wahrheit würde in der Tat den Tod der Kinder zum Fakt machen. Daher lautet Graces Maxime: „They [the children] must never be exposed to any light. It would eventually be fatal.“ (09: 36-09: 48). Die Subjektivierung des filmischen Diskurses 357 bar, dass während der Filmhandlung zwei Ereignisabfolgen parallel verlaufen. Das Anwesen wurde während dieser Zeit von Verstorbenen - der Familie Stewart und den drei Dienstboten - sowie von den neuen, lebenden Hauseigentümern bewohnt. Die Sphäre der Lebenden wurde in Graces Wahrnehmung jedoch ausgeblendet. Sie konnte deren Existenz nicht wahrnehmen, ja, musste sie sogar negieren, weil sie die Tatsache, dass sie und ihre Kinder bereits verstorben sind, zwanghaft aus ihrer Erinnerung verbannt hat. “There are things your mother doesn’t want to hear“ (59: 00), wie Mrs. Mills es einmal gegenüber Anne umschreibt. Der Euphemismus „that day“ steht für das Unaussprechliche, für die grauenhafte Wahrheit, die Grace nicht zu akzeptieren bereit ist. An „jenem Tag“ hat Grace ihre beiden Kinder erstickt und sich anschließend erschossen. ) $$ 'FF+ Während in dem Mysterythriller T HE O THERS für das Publikum frühzeitig klar wird, dass „etwas nicht stimmt“, und dieser Eindruck letztlich auch explizit bestätigt wird, liegen die Dinge bei T HE D ESCENT etwas anders. T HE D E - SCENT lässt sich vordergründig als ein typischer Survival-Horrorfilm rezipieren, ohne dass sich die Zuschauer am Schluss getäuscht fühlen müssten. Implizit lässt sich jedoch erschließen, dass auch mit dieser Handlung „etwas nicht stimmt“. Nach einer Aufblende zeigt die erste Einstellung des Films eine bizarre Landschaftsaufnahme, die symbolhafter nicht sein könnte. Vom linken unteren Bildrand zieht sich diagonal die fein konturierte, gezackte Silhouette eines Nadelwalds durch das Bild und teilt es in zwei Hälften. Wie ein bedrohlicher Keil schiebt sich der Wald als Versinnbildlichung menschlicher Urangst in das Wahrnehmungsfeld. Unterhalb der Silhouette ist das Bild in tiefes, kontrastloses Schwarz getaucht. Nur die Baumspitzen zeichnen sich deutlich ab und scheinen sich wie winzige Finger in den Himmel zu recken. Dieser Himmel bietet indes einen nicht minder bedrohlichen Anblick. Das normale Himmelblau zeigt sich nur zaghaft einen Finger breit am oberen Bildrand. Zwischen diesem schmalen optimistischen Farbstreifen und dem unergründlichen Schwarz des Waldes wabert eine bläulich-weiße Nebelmasse, die dem Betrachter keinen Halt bietet. Alles scheint sich in dieser nebulösen Zwischenwelt zu verlieren. Jörg Helbig 358 3.H/ ( J G( ( 4( J Die zweite, nicht minder symbolhafte Einstellung des Films zeigt, wiederum in der Totalen, ein Schlauchboot auf einem Wildwasser. Wie ein winziger Korken treibt es inmitten der umgebenden Naturgewalten auf einen Abgrund zu. Die folgenden Einstellungen rücken das Boot ins Zentrum des Interesses und verlagern den Fokus von der überwältigenden, menschenleeren Natur auf die Zivilisation, bzw. auf den menschlichen Versuch, die Natur zu bezwingen. Drei Frauen befinden sich an Bord des Boots und steuern es routiniert den Wasserfall hinab. Auffällig ist die Art und Weise, wie die drei Frauen inszeniert werden. Zwei von ihnen sind blau gekleidet, eine hingegen rot. Blau, die Farbe der Treue und Freundschaft, verbindet also zwei der Frauen, Sarah und Beth, und assoziiert sie zugleich mit dem schmalen blauen Himmelsstreifen der ersten Einstellung. Die dritte Frau, Juno, trägt die Farbe der Leidenschaft und Aggressivität. Sie wird daher schon farblich als Außenseiterin gekennzeichnet, und weitere Details forcieren diesen Kontrast: So sitzen Sarah und Beth auf der einen Seite des Boots, Juno allein auf der gegenüberliegenden; Sarah und Beth schauen vorwiegend geradeaus, um das Boot auf Kurs zu halten, Juno hingegen blickt seitwärts zu einem am Ufer stehenden Mann, der sich als Sarahs Ehemann Paul herausstellt. Schließlich erhebt sich Juno im Boot, blickt mit triumphierender Geste zu Paul und wird von Beth, scheinbar im Übermut, mit dem Ruder ins Wasser gestoßen. Die Subjektivierung des filmischen Diskurses 359 I/ A : % @ < % Beths Handlung wirkt auf den ersten Blick spontan und harmlos, hat aber tiefer gehende Bedeutungen. Erstens ist der Stoß mit dem phallischen Ruder das erste Beispiel für die hochgradig sexuelle Symbolik des Films. 13 Vor allem aber ist der gegen Juno gerichtete Stoß eine aggressive Geste. Sie antizipiert Junos Bestrafung für die Schuld, die sie am späteren Tod von Beth, Paul und Sarahs Tochter Jessica trifft, die alle drei durch Eindringen spitzer Gegenstände in den Oberkörper ums Leben kommen werden. Die folgenden Interaktionen werfen ein bezeichnendes Licht auf die Beziehungen zwischen den vier Personen. Paul hilft Juno, nicht aber seiner Frau ans Ufer und beschäftigt sich auffällig lange mit ihr. Er hilft ihr, den Helm abzunehmen, während sie dies passiv geschehen lässt und ihm tief in die Augen blickt. Beth und Sarah entgeht dies keineswegs, und die Vermutung liegt nahe, dass beide von einer heimlichen Affäre zwischen Paul und Juno ahnen. Auf der Heimfahrt im Auto erhärtet sich dieser Verdacht. Paul sitzt am Steuer, Sarah auf dem Beifahrersitz, die gemeinsame Tochter Jessica auf dem Rücksitz. Paul ist unkonzentriert und einsilbig und offensichtlich noch mit den Gedanken bei seiner Geliebten. Folglich bemerkt er nicht einen entgegenkommenden Kleintransporter, mit dem er frontal kollidiert. Mehrere Kupferrohre lösen sich aus der Ladung des Transporters und durchschlagen mit voller Wucht die Windschutzscheibe von Pauls Auto. Die Kameraperspektive wechselt in diesem Moment vom Wageninneren nach außen. Aus der Vogel- 13 Immer wieder zeigt der Film, wie spitze Gegenstände Oberflächen durchbohren oder in menschliche Körper eindringen. Diese wiederkehrenden Bilder der Penetration kontrastieren mit der vaginalen Symbolik, die den größten Teil des Films dominiert. Dies gilt insbesondere für die den späteren Handlungsverlauf dominierende uterusartige Höhle, die durch enge, vaginale Passagen mit der Außenwelt verbunden ist. Jörg Helbig 360 perspektive blickt man auf das zerstörte Auto, unter dem sich eine Blutlache gebildet hat. Es herrscht vollkommene Stille. Langsam entfernt sich die Kamera weiter nach oben, bis eine Abblende diesen 3-minütigen Prolog des Films beendet. &F/ % @ R @ Die folgenden Ausführungen gehen von der These aus, dass hier zugleich die äußere, „objektive“ Handlung von T HE D ESCENT endet und der anschließende 90-minütige Hauptteil des Films sich lediglich im Kopf der zentralen Figur Sarah abspielt. Zwar suggeriert der Film dem Publikum, dass Sarahs Ehemann und Tochter bei dem Unfall ums Leben kamen, sie selbst aber überlebt hat. Dennoch lassen zahlreiche Indizien hieran Zweifel aufkommen, und vieles spricht dafür, dass es sich auch bei T HE D ESCENT um eine postmortale Erzählung handelt. Obwohl der Film - im Gegensatz zu T HE O THERS - eine explizite Bestätigung hierfür schuldig bleibt, dürfte auch Sarah bei dem Unfall den Tod gefunden haben. Die letzte Einstellung des Prologs symbolisiert demnach den letzten Blick, den der entschwebende Geist der toten Sarah auf die irdische Welt wirft. Was danach folgt, ist ihre subjektive Verarbeitung des tragischen Geschehens. Diese These soll im Folgenden anhand von drei Beispielen erläutert werden. (1) Die zweite Sequenz von T HE D ESCENT spielt im Krankenhaus und markiert einen deutlichen Bruch in der Präsentation der filmischen Realität. Während die erste Sequenz keine Skepsis gegenüber der Authentizität der dargestellten Ereignisse zuließ, wird die Realitätsillusion nun massiv untergraben. Eigentümlich ist zunächst, dass keine außen stehende Person auftritt, die eine neutrale Version des Unfallgeschehens liefern könnte. Keine Krankenschwester, kein Arzt, kein Polizist ist zugegen, der bestätigen könnte, dass Sarah tatsächlich die einzige Überlebende des Unfalls ist. Stattdessen erwacht Die Subjektivierung des filmischen Diskurses 361 Sarah allein in einem scheinbar menschenleeren Krankenhaus. Eine Kombination aus Halluzinationen, irrealen Bildern und desorientierenden Filmtechniken 14 kennzeichnet die gesamte Sequenz als subjektives Erleben. Die Funktion der Sequenz besteht darin, dass sich Sarah schockartig der Endgültigkeit des tragischen Ereignisses bewusst wird und die Konsequenzen hieraus ableiten muss. (2) Das zweites Beispiel liefert der Titel gebende, zentrale Handlungsstrang von T HE D ESCENT . Hierfür springt der Film ein Jahr in die Zukunft. Mit ihrer Freundin Beth ist Sarah in den Appalachen auf dem Weg zu einer einsam gelegenen Blockhütte, wo Juno sie bereits erwartet. Aus Gesprächen wird klar, dass die Frauen ein Jahr nach der Raftingtour erneut zusammengekommen sind, um Extremsport zu betreiben. Ihr Vorhaben besteht diesmal darin, in ein Höhlensystem abzusteigen. Unter der Prämisse, dass sich alles, was nach dem Autounfall geschieht, lediglich in Sarahs Kopf abspielt, erhält der Filmtitel eine signifikante Bedeutungserweiterung. „The Descent“ meint dann keineswegs nur den physischen Abstieg in das Höhlensystem, sondern vor allem Sarahs Abstieg in ihr Unterbewusstsein oder - wenn man so will - in ihr persönliches Fegefeuer. Nicht nur die Bildsymbolik weist in diese Richtung, auch zahlreiche doppeldeutige Dialogzeilen lassen sich als Beschreibungen des Unterbewussten verstehen: „This is an ego trip“, sagt beispielsweise eine der Frauen, und „It [the cave] has no name, we are the first to discover it.“ Sarahs nun folgendes Purgatorium bedingt extreme körperliche und seelische Leiden und dient drei Zielsetzungen: der Klärung der Schuldfrage, der Sühne der Schuld und der Wiederherstellung von Sarahs Seelenfrieden. (3) Hieraus ergibt sich das dritte Beispiel, nämlich das Bild von Juno, das Sarah im weiteren Verlauf des Films entwirft. Der Abstieg in die unterirdischen dunklen Kammern endet in einem Desaster, und die Schuld hierfür wird ebenso schnell wie eindeutig Juno zugewiesen. Juno ist nicht nur die Initiatorin des Höhlentrips, sie tut auch nahezu alles, um dessen Erfolg zu sabotieren. Die Liste ihrer Verfehlungen ist lang: Zunächst lässt sie alle in dem Glauben, dass sie eine touristisch erschlossene Höhle mit geringem Schwierigkeitsgrad ausgewählt hat, während sie die Gruppe in Wahrheit in ein bisher noch nie erkundetes System führt. Auch hat sie die Expedition nicht, wie vorgeschrieben, bei der Rettungswacht angemeldet und folglich keine Vorsorge für den Notfall getroffen. Darüber hinaus lässt sie absichtlich und heimlich ihr Kartenmaterial im Auto zurück, als die Gruppe zu Fuß zur Höhle aufbricht. In 14 Vgl. etwa die imaginierte Szene, in der Sarah ihrer Tochter eine Geburtstagstorte mit fünf Kerzen überreicht, das unmotivierte Verlöschen der Lichter im Krankenhaus sowie den Einsatz eines dolly-zooms, also einer Kombination von Zoom und gegenläufiger Kamerafahrt. Jörg Helbig 362 ihrer Gesamtheit repräsentieren diese Handlungen die fast schon grotesk übersteigerte Absicht, die Expedition ins Verderben zu führen. In ihrer postmortalen Vision weist Sarah Juno also eine zutiefst destruktive und lebensbedrohende Rolle zu. Folgerichtig erhöhen sich während der Expedition die Spannungen zwischen den beiden Frauen, und auch die Hinweise auf eine Affäre zwischen Juno und Paul verdichten sich allmählich bis zu einem Punkt kurz vor Schluss des Films, als Juno, aufgrund einer scheinbaren Verwechslung, auf Beth einsticht. Obwohl sie ihr eine tödliche Verletzung beigebracht hat, macht Juno keine Anstalten, ihre Freundin zu retten, sondern lässt sie alleine und hilflos zurück. Als Sarah kurz darauf die verblutende Beth findet, überreicht diese ihr mit letzter Kraft einen Anhänger, den sie Juno im Kampf abgerissen hat. Er trägt als Inschrift Pauls Wahlspruch „Love each day“. Der Anhänger bildet somit den letzten Mosaikstein, der die Beziehung zwischen Juno und Paul zur Gewissheit werden lässt. Für Sarah hat sich damit die Schuldfrage geklärt, sie kann nun Juno für Pauls und Jessicas Tod verantwortlich machen. Wie ein Racheengel tritt sie daraufhin ihrer Rivalin gegenüber und vollzieht die Bestrafung, indem sie mit dem Eispickel auf Juno einschlägt und sie ebenso hilflos zurücklässt, wie diese Beth zurückgelassen hatte. Diese befreiende Tat beendet Sarahs Purgatorium. Ihre Erlösung erfolgt im unmittelbaren Anschluss, indem sich ihr der Ausgang aus der Höhle offenbart. Die Bilder von Sarahs Rückkehr an die Oberfläche erinnern an eine Wiedergeburt: &&/ > : 1 < # L Die Subjektivierung des filmischen Diskurses 363 &'0 &)0 &*0 &+/ : 5> .71 < Eine Art Geburtskanal weist ihr den Weg zum Licht, und blutverschmiert bricht sie durch ans Tageslicht. Es liegt freilich in der Konsequenz der hier vorgestellten Interpretation, dass diese Erlösung nur symbolisch erfolgt. Sarah Jörg Helbig 364 hat ihre Errettung halluziniert. Die letzten Bilder des Films zeigen sie alleine auf dem Boden der ausweglosen Höhle kauernd, heimgesucht von Visionen ihrer toten Tochter. * Wie anhand der Filme T HE O THERS und T HE D ESCENT exemplarisch deutlich wird, werden im zeitgenössischen Kino die Grenzen zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung mitunter bewusst verwischt. Die zahlreichen einschlägigen Filme loten dabei das Terrain subjektiver Erfahrungen vor allem in Grenzbereichen aus, sei es, wie gesehen, an der Schwelle zwischen Leben und Tod oder zwischen Normalität und Wahnsinn. Die Weigerung dieser Filme, die Übergänge zwischen objektiver und subjektiver Sicht zu markieren, führt dazu, dass das Publikum über den ontologischen Status der Bilder absichtlich im Unklaren gelassen wird. Wir sehen in diesen Filmen mit den Augen der Verstorbenen auf eine Scheinwelt, die wir, wie diese, für die Wirklichkeit halten. Erst dadurch werden die subjektiven Erfahrungen der filmischen Protagonisten in einer Weise zugänglich und nachvollziehbar, wie es in traditionell inszenierten Filmen nicht möglich war. # Helbig, J., „Open your eyes! : Zur (Un-)Unterscheidbarkeit filmischer Repräsentationen von Realität und Traum am Beispiel von David Finchers ,The Game‘ und Cameron Crowes ,Vanilla Sky‘“, in: Helbig J. (Hrsg.), „Camera doesn’t lie“: Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film, Focal Point 4, Trier 2006. Helbig, J., „,Follow the White Rabbit! ‘ Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit im zeitgenössischen Spielfilm“, in: Liptay, F., Wolf, Y. (Hrsg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005. Messaris, P., Visual „Literacy“: Image, Mind, and Reality, Boulder 1994. Schneider, S. J., „Barbara, Julia, Carol, Myra, and Nell: Diagnosing Female Madness in British Horror Cinema“, in: S. Chibnall, J. Petley (Hrsg.), British Horror Cinema, London 2002. Wilson, G. M., Narration in Light, Baltimore 1986. = $ Descent, The, Regie und Drehbuch: Neil Marshall; Darsteller: Shauna Macdonald (Sarah), Natalie Jackson Mendoza (Juno), Alex Reid (Beth), Oliver Milburn (Paul), Nora-Jane Noone (Holly), Saskia Mulder (Rebecca), GB 2005. Die Subjektivierung des filmischen Diskurses 365 Don’t Look Now, Regie: Nicolas Roeg; Drehbuch: Allan Scott, Chris Bryant; Darsteller: Donald Sutherland (John Baxter), Julie Chistie (Laura Baxter), Hilary Mason (Heather) 1973. Donnie Darko, Regie und Drehbuch: Richard Kelly; Darsteller: Jake Gyllenhaal (Donnie Darko), Holmes Osborne (Eddie Darko), Maggie Gyllenhaal (Elizabeth Darko), Drew Barrymore (Karen Pomeroy), USA 2001. Memento, Regie und Drehbuch: Christopher Nolan; Darsteller: Guy Pearce (Leonard Shelby), Carrie-Anne Moss (Natalie), Joe Pantoliano (Teddy), USA 2000. Mulholland Dr., Regie und Drehbuch: David Lynch; Darsteller: Naomi Watts (Betty Elms/ Diane Selwyn), Laura Elena Harring (Rita/ Camilla Rhodes), USA, F 2001. November, Regie: Greg Harrison; Drehbuch: Benjamin Brand; Darsteller: Courteney Cox (Sophie Jacobs), James LeGros (Hugh), Dori Mizrahi (Adnan), USA 2004. Others, The, Regie und Drehbuch: Alejandro Amenábar; Darsteller: Nicole Kidman (Grace Stewart), Alakina Mann (Anne Stewart), James Bentley (Nicholas Stewart), Fionnula Flanagan (Mrs. Mills), Eric Sykes (Mr. Tuttle), USA, F, Esp 2001. Repulsion, Regie: Roman Polanski; Drehbuch: Roman Polanski, Gérard Brach; Darsteller: Catherine Deneuve (Carole Ledoux), Ian Hendry (Michael), John Fraser (Colin), Yvonne Furneaux (Hélène Ledoux), GB 1965. Sixth Sense, The, Regie und Drehbuch: M. Night Shyamalan; Darsteller: Bruce Willis (Malcolm Crowe), Haley Joel Osment (Cole Sear), Toni Collette (Lynn Sear), USA 1999. Stay, Regie: Marc Forster; Drehbuch: David Benioff; Darsteller: Ewan McGregor (Dr. Sam Foster), Ryan Gosling (Henry Letham), Naomi Watts (Lila Culpepper), Bob Hoskins (Dr. Leon Patterson), USA 2005. Rainer Winter / Sebastian Nestler (Klagenfurt) 0 > = - .6 - 7&0 755% J * & " = Seit den 1980er Jahren haben Cultural Studies dazu beigetragen, die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Film zu verändern, indem sie textuelle Analysen mit Überlegungen zu unterschiedlichen Rezeptionsformen beziehungsweise mit ethnographischen Publikumsuntersuchungen verbanden. Wurden Zuschauerpositionen zunächst von der Struktur der Medientexte abgeleitet, so betonten diese Konzeptionen eine qualitative Beschäftigung mit dem „realen“ Publikum, durch dessen Erlebnisse und Praktiken sich erst die affektive und sinnhafte Effektivität medialer Texte entfalten kann. 1 Hierbei geht es in den Cultural Studies darum, Filme in ihrer Einbettung in größere kulturelle und historische Kontexte zu betrachten, in denen sie „Wirkungen“ in der Welt entfalten. Zum einen ist der Film ein Produkt kultureller und gesellschaftlicher Prozesse, zum anderen spielt er aber auch eine aktive Rolle in diesen Prozessen. 2 Wesentliches Merkmal von Cultural Studies-Ansätzen ist ihr gemeinsamer Ausgangspunkt bei gesellschaftlichen Praktiken, sozialen Beziehungen und Konstruktionen, in denen Objekte, Ereignisse und Erfahrungen, so die Auffassung, erst ihre soziale Relevanz und Bedeutung erlangen. Das cartesianische Subjekt-Objekt-Paradigma, das auch Ansätze in der Filmwissenschaft bestimmt, die einen abstrakten hypothetischen Zuschauer postulieren, der repräsentativ für alle Zuschauer sein soll, wird entschieden in Frage gestellt und schließlich verabschiedet. Der Schwerpunkt verschiebt sich zu den Filmpraktiken hin, womit zum einen alle Praktiken im Kontext des Films, zum anderen die Interaktion dieser Praktiken mit anderen kulturellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Praktiken gemeint sind. Damit werden essentialistische 1 Vgl. R. Winter, Filmsoziologie. Eine Einführung in das Verhältnis von Film, Kultur und Gesellschaft, München-Köln 1992; vgl. R. Winter, „Die Filmtheorie und die Herausforderung durch den ‚perversen Zuschauer‘. Kontexte, Dekonstruktionen und Interpretationen“, in: M. Mai, R. Winter (Hrsg.), Das Kino der Gesellschaft — die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, Köln 2006. 2 Vgl. T. Gunning, „Film Studies“, in: The Sage Handbook of Cultural Analysis, London 2008, S. 186. Rainer Winter / Sebastian Nestler 368 Auffassungen, wie sie in manchen Teilen der Filmtheorie vorherrschen, aufgegeben, das Interesse gilt der Geschichte und der Soziologie von sich verändernden Filmpraktiken, die als dynamische Prozesse des Hervorbringens, der Inszenierung und Aufführung, als Relationen beziehungsweise als „Verben“ 3 verstanden werden. In der Praxistheorie spricht man von der „Kultur in Aktion“ 4 . Bezogen auf den Film bedeutet dies, dass er nicht als isolierter Text wie in Teilen der Semiotik oder als einer kognitiven Mentalität korrespondierend wie in der neoformalistischen Filmtheorie betrachtet wird, sondern es geht um die gewöhnlichen Gebrauchsweisen und regelmäßigen Praktiken im Umgang mit Filmtexten. Praktiken als differenzierte und eingeübte Formen von Handeln und Sprechen greifen routinemäßig auf vorhandene kulturelle Wissensbestände zurück, entfalten diese, setzen aber auch durch den kompetenten Gebrauch von Wissen neue Interpretations- und Gestaltungsprozesse in Gang. 5 So stellen Filme eine gesellschaftliche Wirklichkeit dar, die interaktiv im Handeln, in den Bereichen der Produktion, Zirkulation, Rezeption und Aneignung, hervorgebracht wird. So sind beispielsweise die textuellen Merkmale von Genrefilmen, die sie erkennbar und erwartbar machen, das Ergebnis eines „doing genre“, das von unterschiedlichen Akteuren in unterschiedlichen Kontexten realisiert wird. 6 Für die Analyse von Filmen bedeutet dies, dass kontextuelle Faktoren kultureller, politischer und soziologischer Natur die Produktion sowie die Erfahrung und das Erlebnis von Filmen bestimmen. Nicht das einzelne Subjekt, das einen Film rezipiert, sondern die kulturell eingespielten, sich wiederholenden Praktiken im Umgang mit dem Film und die sozialen Ereignisse der Interpretation rücken ins Zentrum. 7 Hierzu können die Einflüsse der Rezeption in einer Gruppe an einem bestimmten Ort, Rezensionen in Zeitungen, Fandiskurse im Internet oder auch Gespräche nach der Rezeption im Freundeskreis oder im Klassenzimmer gezählt werden. Gerade im Sprechen über Filme können bestimmte Bedeutungen ins Zentrum rücken, andere in den Hintergrund gedrängt und gemeinsam Interpretationen entwickelt werden, die mögliche 3 Vgl. N. K. Denzin, „Ein Schritt voran mit den Cultural Studies“, in: K. H. Hörnig, R. Winter (Hrsg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/ M. 1999. 4 Vgl. K. H. Hörning, J. Reuter, „Doing Culture: Kultur als Praxis“, in: Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004. 5 Vgl. K. H. Hörning, „Kulturelle Kollisionen. Die Soziologie vor neuen Aufgaben“, in: K. H. Hörnig, R. Winter (Hrsg.), Widerspenstige Kulturen, op. cit. 6 Vgl. A. Tudor, Monsters and Mad Scientists. A Cultural History of the Horror Movie, Oxford 1989; vgl. R. Winter, Filmsoziologie, op. cit. 7 Vgl. R. Winter, Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess, München 1995; vgl. J. Staiger, Perverse Spectators. The Practices of Film Reception, New York 2000; vgl. L. Mikos, „Film und Fankulturen“, in: M. Mai, R. Winter (Hrsg.), Das Kino der Gesellschaft die Gesellschaft des Kinos, op. cit.. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 369 Rätsel und Ambivalenzen der Filmhandlung auflösen. Ein wesentliches Merkmal von Praktiken ist, dass sie sich wiederholen. Dabei gilt auch für Filmpraktiken, dass sie das Vergangene nie identisch reproduzieren können, weil es um eine „Wieder-Erzeugung eines Zustands in einem anderen Kontext unter einem anderen Vorzeichen“ 8 geht. So erzeugt zum Beispiel die wiederholte Rezeption eines Films Differenzen in der Wahrnehmung und im Erlebnis. Wenn dieser Prozess immer wieder lustvoll erfahren wird, kann ein Film zu einem Kultfilm werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Film, wie Tom Gunning 9 vorschlägt, als ein Palimpsest begreifen, in das sich die Spuren unterschiedlicher und vielfältiger Filmpraktiken eingeschrieben haben. Auch wenn im Produktionsprozess bereits die Rezeption antizipiert wird, sind die Rezeptions- und Aneignungsprozesse in der Regel komplex, widersprüchlich, vielfältig und oft nicht vorhersehbar. 10 Denn das postmoderne Subjekt hat verschiedene sozial konstruierte und aufgeführte Identitäten 11 , die in unterschiedlichen kulturellen Praktiken konstituiert werden. Kategorien wie Klasse, Ethnizität, Alter oder Gender stehen für Praktiken der Inszenierung und Aufführung, in denen Differenzen artikuliert und zugleich Formen sozialer und kultureller Ungleichheit reproduziert sowie problematisiert werden. So kann ein Film von derselben Person in unterschiedlichen Kontexten verschieden interpretiert werden, je nachdem welcher Aspekt ihrer Identität gerade inszeniert wird. Bei der Rezeption eines Films kann auch die Perspektive und damit die Rahmung des Films gewechselt werden. Ebenso können unterschiedliche Identitäten, so zum Beispiel in Bezug auf Gender oder ethnische Zugehörigkeit, bei verschiedenen Subjekten angesprochen werden. Dies passt zu einer Feststellung von Georg Seesslen: „Das Kunstwerk der Postmoderne ist eine Art Schizophrenie-Maschine, die sehr unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen ebenso ansprechen kann, wie einen Menschen zugleich auf sehr unterschiedliche Weise.“ 12 In der Interaktion mit Filmen wird Subjek- 8 K. H. Hörning, „Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem“, in: K. H. Hörning, J. Reuter (Hrsg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 34. 9 Vgl. T. Gunning, „Film Studies“, op. cit., S. 192. 10 Dabei zeigen zum Beispiel die Studien von Richard Maltby (vgl. R. Maltby, Hollywood Cinema. An Introduction, Oxford 1996.), dass gerade die Filmpraktiken in Hollywood nicht auf eine eindeutige Interpretation eines Filmtextes abzielen, sondern offen für eine Vielfalt von Interpretationen in unterschiedlichen (lokalen) Kontexten sein möchten. 11 Vgl. N. K. Denzin, Symbolic Interactionism and Cultural Studies. The Politics of Interpretation, Oxford 1992, S. VIII; vgl. P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel 2010 (3. Aufl.). 12 G. Seesslen, David Lynch und seine Filme, Marburg 1994, S. 138. Rainer Winter / Sebastian Nestler 370 tivität konstruiert, die mit medialen Repräsentationen unauflöslich verknüpft ist. Im nächsten Schritt möchten wir diese Prozesse der Kontextualisierung genauer betrachten und auf eine Vertiefung der Filmanalysen in den Cultural Studies eingehen, die hauptsächlich im Rahmen einer kritischen Medienpädagogik verfolgt wird, nämlich Filme auf ihre möglichen politischen Bedeutungen hin zu lesen und sie mit pädagogischen Interventionen zu verbinden. Daran anschließend werden wir, diese Impulse aufnehmend, exemplarisch den Film V FOR V ENDETTA im Kontext einer Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Multitude auf den Ort des widerständigen Subjekts in diesem Film hin analysieren. ' = ? / 4 "! Die kritische Medienpädagogik, die sich vor allem in den USA entwickelt hat 13 , begreift Filme als kulturelle Praktiken und Ereignisse, in denen sich die politischen Auseinandersetzungen und Kämpfe von Gesellschaften ausdrücken. So ermöglicht ihre Analyse einen Zugang zu kulturellen, sozialen und historischen Kontexten, die in die Praktiken bereits eingeschrieben sind beziehungsweise durch diese hervorgebracht werden. Auf diese Weise lässt sich zeigen, wie sich Formen kultureller Politik und gesellschaftliche Repräsentationsordnungen im Alltagsleben ausdrücken, wie sie durch (hegemoniale) Sinnmuster aufrechterhalten werden und wie sie durch (pädagogische) Interventionen in Form von Analysen, Deutungen und Gesprächen über Filme problematisiert und transformiert werden können. Filme unterhalten nicht nur, sie erziehen auch, wie Henry A. Giroux 14 feststellt. Zum einen werden durch Filme politische Ideologien und kulturelle Werte artikuliert, wodurch sie zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen werden können. Zum anderen kann in pädagogischen Prozessen gezeigt werden, wie Filme als soziale Praktiken das alltägliche Leben gestalten, indem sie beispielsweise Subjektpositionen zuweisen oder in audiovisuellen, dramaturgischen Repräsentationen das post- 13 Vgl. R. Winter, „Kultur, Reflexivität und das Projekt einer kritischen Pädagogik“, in: P. Mecheril, M. Witsch (Hrsg.), Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Interventionen, Bielefeld 2006; vgl. J. Wimmer, „Henry A. Giroux: Kritische Medienpädagogik und Medienaktivismus“, in: A. Hepp, F. Krotz, T. Thomas (Hrsg.), Schlüsselwerke der Cultural Studies, Wiesbaden 2009. 14 Vgl. H. A. Giroux, Breaking Into the Movies. Film and the Culture of Politics, Malden 2002, S. 3. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 371 moderne Subjekt reflektieren und zur Aufführung bringen. 15 Neue, alternative Interpretationen können in diese Prozesse eingreifen, sie in Frage stellen und den Raum der Selbstgestaltung erweitern. Dies gilt beispielsweise für die Bereiche von Gender und ethnischer Zugehörigkeit. Deren Repräsentationen sollen in (gemeinsamen) Analysen hinterfragt, ihrer Selbstverständlichkeit beraubt und in der alltäglichen Praxis transformiert werden. Populäre Filme lassen sich als eine Form öffentlicher Pädagogik begreifen, die, so Douglas Kellner 16 , die Möglichkeit eröffnet, die aktuelle Politik der Repräsentation zu hinterfragen, herauszufordern und nach gesellschaftlichen Alternativen zu suchen. Dekonstruktive Analysen sollen Filme gegen den Strich lesen, ihr polysemes Bedeutungspotential aufzeigen und Möglichkeiten der Reartikulation in der Rezeption und Aneignung sichtbar machen. 17 Auf die öffentliche Pädagogik Hollywoods wird mit engagierter Analyse sowie durch Diskussionen mit Jugendlichen, Studierenden und adressierten Gruppen reagiert, mittels derer mögliche alltägliche Lesarten von Filmen identifiziert, Alternativen erarbeitet und auch Gegenerzählungen initiiert werden sollen. Dabei heben sowohl Giroux als auch Kellner hervor, dass bei Filmanalysen nicht Einzelaspekte isoliert, sondern Filme im Sinne von Fredric Jameson 18 als soziale und politische Allegorien betrachtet werden sollten, die ihre Bedeutungen nicht als separate Texte, sondern im Netzwerk gesellschaftlicher Praktiken, kultureller Auseinandersetzungen und institutioneller Formationen gewinnen. Eine zentrale Aufgabe kritischer Pädagogik ist es daher zu untersuchen, wie Filme mit kulturellen und gesellschaftlichen Transformationen zusammenhängen, im Dialog mit ihnen stehen, wie sie Ängste und Befürchtungen zum Ausdruck bringen, Sexismus und politische Verzweiflung, aber auch Hoffnung und Utopie artikulieren können. Darüber hinaus bietet die Analyse populärer Filme auch die Möglichkeit, in den Dialog der Gesellschaft mit sich selbst einzugreifen und mehr Demokratie zu verwirklichen. Über Filme zu sprechen schafft oder erweitert öffentliche Räume, in denen Vergnügen, Reflexion und Handlungsfähigkeit eine fruchtbare Synthese eingehen können. Der Film ist eines der wenigen Medien, wie Henry Giroux 19 feststellt, die Gespräche möglich machen, in denen Fragen der persönlichen Erfahrung, der Politik und des öffentlichen Lebens mit größeren sozialen Fragestellungen 15 Vgl. N. K. Denzin, Images of Postmodern Society. Social Theory and Contemporary Cinema, London-Thousand Oaks-New Delhi 1991, S. VIII. 16 Vgl. D. Kellner, Cinema Wars. Hollywood Film and Politics in the Bush-Cheney Era, Oxford 2010. 17 Vgl. R. Winter, „Filmanalyse in der Perspektive der Cultural Studies“, in: Y. Ehrenspeck, B. Schäfer (Hrsg.), Film- und Photoanalyse in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2003. 18 Vgl. F. Jameson, The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System, Bloomington 1992. 19 Vgl. H. A. Giroux, Breaking into the Movies, op. cit., S. 7. Rainer Winter / Sebastian Nestler 372 verbunden werden können. Eine pädagogisch orientierte Filmanalyse versucht also, gesellschaftliche Konflikte und Diskurse zu verstehen, für welche die Zuschauer sensibilisiert werden sollen. Die bildungstheoretische Intention zielt auf die Vermittlung von Kompetenz durch die Dekonstruktion kultureller Texte mit der Absicht, die Handlungsfähigkeit zu steigern. 20 Dabei sind Filmanalysen partiell und perspektivisch konstruiert und können jederzeit revidiert beziehungsweise in Frage gestellt werden. 21 Eine von uns durchgeführte Analyse von V FOR V ENDETTA zeigt beispielsweise, welches Bedeutungspotential die kulturelle Analyse des populären Films als Methode der kritischen Pädagogik in sich trägt. 22 In diesem Film kommen die aktuellen sozialen Diskurse der Überwachungs- und Kontrollgesellschaft, des Medienspektakels und des Terrorismus in transkodierter Form vor. 23 Der Film artikuliert Risiken, Gefahren und Ängste, verweist aber auch auf gesellschaftliche Diskurse der Hoffnung, der Veränderung und der Transzendenz, wie sie sich zum Beispiel zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den sozialen Bewegungen für „global justice“ ausdrücken. Durch die Multitude wird das Private mit dem Öffentlich-Politischen verknüpft. Dies lässt sich wiederum mit kritischer Medienpädagogik in Beziehung setzen, wie sie Henry Giroux in Breaking Into the Movies 24 beschreibt. Hier setzen Filme Privates mit Öffentlich-Politischem in Beziehung, was zu Kritik und Ermächtigung führen kann. So macht V FOR V ENDETTA einige Vorschläge, als Utopie rezipiert zu werden. Indem dieser Film Themen wie Verschiedenheit, das Erzählen infamer Geschichten oder die Demaskierung von Herrschaftsverhältnissen inszeniert, führt er die Möglichkeit von Widerstandsformen in totalitären Regimes vor Augen. Hierbei thematisiert er vor allem Abweichungen von der gesellschaftlichen Definition von Normalität, sei es eine andere Religion, eine andere sexuelle Orientierung oder ein anderes politisches und kulturelles Denken: All diese Formen werden im Film durch das totalitäre Regime mit aller Härte bekämpft, weil sich in ihnen ein widerständiges Potential von Differenz artikuliert. Deshalb wird die Kommunikation in möglichst vielen Lebensbereichen kontrolliert, zensiert oder kommt erst gar nicht zustande. Jedoch versagen diese Kontrollstrategien zunehmend. Da die Hauptfigur V begreift, dass 20 Vgl. D. Kellner, Media Culture. Cultural Studies, Identity, and Politics Between the Modern and the Postmodern, London-New York 1995; vgl. R. Winter (Hrsg.), Medienkultur, Kritik und Demokratie. Der Douglas Kellner Reader, Köln 2005. 21 Vgl. H. A. Giroux, Breaking into the Movies, op. cit., S. 13. 22 Vgl. S. Nestler, R. Winter, „Utopie im Film - V FOR V ENDETTA “, in: Gesellschaft im Film, Konstanz 2008. 23 Vgl. D. Kellner, Media Culture, op. cit.; vgl. Douglas Kellner, Media Spectacle and the Crisis of Democracy: Terrorism, War, and Election Battles, Boulder 2005. 24 Vgl. H. A. Giroux, Breaking into the Movies, op. cit. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 373 die Kritik an der Macht innerhalb der Macht ansetzen muss, macht er sich die Kommunikationsstrategien des Systems zunutze und unterläuft sie mittels seiner subversiven Taktiken. Auch die doppelte Metapher der Maske spielt hierbei eine zentrale Rolle. Durch seine Maskierung verbirgt V seine wahre Identität. Er ist daher nicht lokalisierbar und kann sich seiner Verhaftung entziehen. Zudem gelingt es ihm, das scheinbar Wahre, nämlich die Ideologie des bestehenden Systems, als das Falsche zu demaskieren. V verwendet seine Maske gegen die Maske des Systems. Die Szene gegen Ende des Films, in der Tausende gleich maskierte Menschen ihre Maske abnehmen und als unterschiedliche Individuen sichtbar werden, illustriert entlang des Denkens der „Multitude“ im Sinne von Michael Hardt und Antonio Negri 25 den Sieg der Verschiedenheit über die Nivellierung. So zeigt unsere Analyse von V FOR V ENDETTA die Perspektiven einer pädagogisch motivierten Filmanalyse auf, mittels der es möglich wird, gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge zu thematisieren und zu diskutieren, die sich sonst nur schwer erschließen lassen würden. Durch diese Methode gelingt es auch, den Begriff der Utopie, die Vorstellung von einer anderen Welt, zu bewahren, ein differenziertes Bild von ihm zu zeichnen und sein Hoffnungspotential für eine demokratische Praxis sowie eine alternative Zukunft der Gesellschaft nutzbar zu machen. In unserer Analyse, die selbst eine Form des „doing cinema“ ist, haben wir den populären Film in reflexiver Weise betrachtet. Wir stehen anders als bei positivistischen Methoden nicht länger als forschendes Subjekt in distanzierter und indifferenter Weise vor einem zu erforschenden Objekt, sondern sind teilnehmende und erlebende Beobachter, die sich im Laufe der Beobachtung und der darin anschließenden Diskussionen selbst verändern können, weil die dominanten Beschreibungen der Welt instabil und flüchtig werden und schließlich eine Verschiebung der hegemonialen Diskurse stattfindet. Die reflexive Analyse des Films eröffnet den Raum einer Utopie, weil sie Alternativen zum Bestehenden aufzeigt und zumindest in der Imagination die Möglichkeit bietet, diese Alternativen zu verwirklichen. Hierbei wird deutlich, dass die Bedeutung eines Films ein umkämpftes Terrain ist, auf dem stets aufs Neue kulturelle und soziale Auseinandersetzungen stattfinden, die weder in Richtung der Utopie noch in Richtung dominanter Ideologien determiniert sind. Vor diesem Hintergrund werden wir im Folgenden eine ausführlichere Analyse von V FOR V ENDETTA vornehmen, die die Rolle eines zwischen Singularität und Gemeinschaft oszillierenden Subjekts in der Multitude näher fokussiert. Auf diese Weise können populäre Filme mit ihren polysemen Repräsentationen, denen in den prozesshaften Interaktionen mit Zuschauern und Zu- 25 Vgl. M. Hardt, A. Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/ M. 2004. Rainer Winter / Sebastian Nestler 374 schauerinnen Sinn verliehen wird, Einblicke in gesellschaftliche und kulturelle Dimensionen gewähren, die ansonsten nicht oder kaum möglich wären. 26 So stellt Norman Denzin fest: „Filme sind kulturelle und symbolische Formen und können dazu genutzt werden, wichtige Merkmale des sozialen Lebens aufzudecken und zu beleuchten.“ 27 Die Filmanalyse wird zur Kulturanalyse, die auch pädagogische Möglichkeiten der Intervention bietet und, wie Douglas Kellner 28 in seinen Analysen von US-amerikanischen Filmen demonstriert, in eine diagnostische Kritik gesellschaftlicher Ideologien münden kann. Die Erzählungen der Filme können mit eigenen Geschichten und Erfahrungen sowie qualitativ-ethnographischen Untersuchungen mit dem Ziel verknüpft werden, die umfassenderen kulturellen Erzählungen, die unser Leben bestimmen, zu erfassen, zu verstehen und möglicherweise ihren Bann zu brechen. 29 Eine pädagogisch orientierte Filmanalyse versucht also, gesellschaftliche Konflikte und Diskurse zu verstehen, für welche die Zuschauer sensibilisiert werden sollen. Die bildungstheoretische Intention zielt auf die Vermittlung von Kompetenz durch die Dekonstruktion kultureller Texte und will der Handlungsfähigkeit Räume erschließen. 30 Dabei sind Filmanalysen partiell und perspektivisch konstruiert und können jederzeit revidiert oder in Frage gestellt werden. 31 In diesem Sinne möchten wir nun einen ausführlicheren analytischen Blick auf V FOR V ENDETTA werfen. ) / ! @ ) & 6 % @@ : < W : ( $ < In das Zentrum ihrer Analyse stellen Michael Hardt und Antonio Negri 32 den Begriff der „Multitude“. Denn effektives politisches Handeln, so Hardt und Negri, ist nur auf Basis der Multitude möglich. Ähnlich wie Marx politisches Handeln untrennbar mit dem Klassenbegriff verknüpft, geht es Hardt und Negri darum, mittels eines (Klassen)Begriffs die für politisches Handeln not- 26 Vgl. N. K. Denzin, „Reading Film — Filme und Videos als sozialwissenschaftliches Erfahrungsmaterial“, in: Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek 2000, S. 426. 27 Ibid., S. 428. 28 Vgl. D. Kellner, Media Culture, op. cit.; vgl. D. Kellner, Cinema Wars. Hollywood Film and Politics in the Bush-Cheney Era, Oxford 2010. 29 Vgl. N. K. Denzin, Images of Postmodern Society, op. cit., S. 157. 30 Vgl. D. Kellner, Media Culture, op. cit.; vgl. R. Winter (Hrsg.), Medienkultur, Kritik und Demokratie, op. cit. 31 Vgl. H. A. Giroux, Breaking into the Movies, op. cit., S. 13. 32 Vgl. M. Hardt, Antonio Negri, Multitude, op. cit.. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 375 wendige Sozialität herzustellen. Das Politische ist im Öffentlichen, nicht im Privaten angesiedelt. Gleichzeitig ist es ihnen aber auch ein Anliegen, das Individuum in seiner Einzigartigkeit aufrecht zu erhalten. Von einer massenhaften Nivellierung der Individualität und Verschiedenheit zum Zwecke des politischen Handelns nehmen Hardt und Negri deutlich Abstand, wenn sie sagen, dass die Multitude „nicht vereinheitlicht, sondern (…) plural und vielfältig“ 33 ist. Demgegenüber setzen sie den Begriff des Volkes, der in seiner Einheit keine Verschiedenheit aufweist, sondern diese zur Erlangung politischer Handlungsfähigkeit der Einheit unterordnet. Identität wird im Volk durch die Negation individueller Unterschiede hergestellt, während die Multitude aus einer Reihe von Singularitäten besteht. Singularität bei Hardt und Negri bezeichnet in diesem Zusammenhang „ein gesellschaftliches Subjekt, dessen Differenz sich nicht auf Gleichheit zurückführen lässt, eine Differenz also, in der die Verschiedenheit bestehen bleibt“. 34 Das Bestehen auf Differenz, die in der Dialektik der pluralen Singularitäten der Multitude liegt, formiert also politische Handlungsfähigkeit. Die Multitude ist somit eine zusammenhängende Vielfalt, die nicht mit einer zusammenhanglosen Masse verwechselt werden darf. Denn in der Masse sind die verschiedenen Individuen vereinzelt, d.h. sie „weisen keine gemeinsamen, von allen geteilten Elemente auf“ 35 , weshalb sie durch ihr Verbleiben im Privaten politisch nicht handlungsfähig sind. Im Gegensatz zur Multitude ist die Masse passiv und verlangt nach politischer Führung und Manipulation durch einen politischen Körper, der vom Kopf her geführt werden muss. Das Führungsprinzip der Masse ist daher die Souveränität, gegen die sich die Multitude als aktives gesellschaftliches Subjekt explizit richtet. Insbesondere die Souveränität des Empire 36 lässt sich als das Gegenstück zur Multitude bestimmen, da das Empire eine vereinheitlichende Macht ist, die sich selbst als immerwährend und zwingend notwendig darstellt. In diesem Sinne ist das Empire eine tendenziell totalitäre Macht, die nach ihren eigenen ethischen Kategorien einen sozialen „Frieden“ herstellt, indem sie diesen durch äußere wie innere Kriegsführung gegen seine Feinde verteidigt. Hierbei wird Krieg stets als „gerechter Krieg“ dargestellt. Diese Kriegsführung umschließt nicht nur offensichtliches militärisches Eingreifen, sondern findet auch im Zivilen beispielsweise als totalitäre Kontroll- und Sicherheitspolitik statt. Diese Ausweitung des Krieges als „ethisches Instrument“ führt einerseits zur Ausweitung und Verabsolutierung des Krieges, wie andererseits zu seiner Banalisierung, da er nun den Stellenwert routinemäßiger „polizeili- 33 Ibid., S. 117. 34 Ibid. 35 Ibid. 36 Vgl. M. Hardt, A. Negri, Empire, Cambridge, MA-London 2001. Rainer Winter / Sebastian Nestler 376 cher Aktionen“ einnimmt, die Recht und Ordnung herstellen sollen. Dabei wird das Recht aber zunehmend durch einen mitunter durch Zwang hergestellten Konsens ersetzt. Der Ausnahmezustand wird hier zur Normalität. 37 So kommt die in der Logik des Empire notwendige Vereinheitlichung zwecks Friedenssicherung der (gewaltsamen) Unterdrückung von Singularitäten gleich. Anders in der Multitude. Hier nämlich handeln Singularitäten gemeinsam und regieren sich selbst. Die Multitude ist eine irreduzible Vielfalt, die sich nicht zu entscheiden braucht, ob sie gemeinschaftlich oder vielfältig sein möchte, weil sie beides ist, weil Verschiedenheit nicht die Zusammenarbeit verhindert. 38 In diesem Sinne ist die Multitude ein Klassenbegriff, der all jene bezeichnet, „die unter der Herrschaft des Kapitals arbeiten und produzieren“. 39 Die Multitude ist ein weit gefasster Klassenbegriff, der beispielsweise im Gegensatz zum Begriff der Arbeiterklasse weniger exkludierend ist, da für die Multitude jeder gesellschaftliche Bereich produktiv ist. 40 So sind alle an relevanten politischen Projekten beteiligt, sind alle als Singularitäten kreativ und „kooperieren in den Netzwerken der Multitude, das heißt im Gemeinsamen“. 41 Hier agiert die Multitude gegen Unterdrückung und Ausbeutung nicht nur in einem sozio-ökonomischen Sinne, sondern generell in Bezug auf Subjektivität und Singularität. Die Multitude überwindet Grenzen und eröffnet Fluchtlinien. Indem sie das tut, gelingt es ihr, sich der machtvollen Kontrolle, die über festgelegte Identitäten operiert, zu entziehen und der Identität Singularität entgegenzusetzen. Wie V in V FOR V ENDETTA überwindet die Multitude Schranken und schafft unterirdische Gänge, die durch Mauern hindurchführen. 42 Das Gemeinsame überwindet traditionelle Unterscheidungen zwischen „Individuum und Gesellschaft (…), privat und öffentlich“. 43 Privatheit betrifft hier die „Singularität sozialer Subjektivitäten“ 44 , während Öffentlichkeit in enger Beziehung zum Gemeinsamen steht. Dadurch stehen in der Multitude Öffentliches und Privates nicht mehr in einem Widerspruch. Das Gemeinsame fußt auf der Kommunikation zwischen Singularitäten. Öffentliches und Privates bringen also einander hervor, denn „Singularitäten (…) drücken sich frei im Gemeinsamen aus“. 45 In dieser Hinsicht schlagen Hardt und Negri vor, anstelle des Begriffspaares öffentlich / privat das Paar 37 Vgl. ibid., S. 10-21. 38 Vgl. M. Hardt, A. Negri, Multitude, op. cit., S. 118, 123f. 39 Ibid., S. 125. 40 Vgl. ibid., S. 125, 149-159. 41 Ibid., S. 156, Herv. SN. 42 Vgl. ibid., S. 158. 43 Ibid., S. 228. 44 Ibid., S. 229. 45 Ibid., S. 230. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 377 gemeinsam / singulär zu gebrauchen, weil das Gemeinsame zu einer neuen demokratischen Souveränität wird, in der die Singularitäten selbst regieren, ohne die Kontrolle an einen Souverän zu übertragen. 46 So hat auch V mit seinem Kampf den „Übergang von der res publica zur res communis“ 47 zum Ziel. ) ' ( $ =N ( (JJ In V FOR V ENDETTA kämpft V, ein maskierter Einzelgänger, gegen ein scheinbar übermächtiges totalitäres Regime in einem fiktiven zukünftigen England, das dem Empire im Sinne von Hardt und Negri 48 stark ähnelt. Dieses Regime des Kanzlers Adam Sutler ist sich der existenziellen Wichtigkeit der unbedingten Einheit bewusst und bringt dies auf die Formel „Strength through unity, unity through faith“ 49 , die alltäglich verkündet wird. Diese Einheit wird gegen vermeintliche innere Andersdenkende, Kriminelle, Homosexuelle etc. wie äußere Feinde, beispielsweise die USA, beschworen, wobei das monopolisierte Fernsehen es gibt nur den Sender British Television Network (BTN) als Verbreitungsmedium dieser Botschaften eine zentrale Rolle spielt. Insbesondere die Nachrichtensendung The Voice of London des Showmasters Lewis Prothero erfüllt diese Aufgabe, indem sie mit dominanthegemonialer Stimme die offiziellen Geschichten erzählt, die das Empire vereinheitlichen sollen. Denn wie das Empire, so leidet auch das Regime von Kanzler Sutler an der Paranoia, dass Zweifel an der Einheit, die die Grundlage der politischen Handlungsfähigkeit ist, das Land ins Chaos stürzen könnten. Gleichzeitig wirkt diese Paranoia vereinheitlichend, indem sie ein Klima der Angst erzeugt. Ein solches Klima der Angst steht auch am Beginn der Herrschaft Sutlers: Auf seine Anweisungen hin wurden in einem Geheimlabor namens Larkhill Experimente mit zur Kriegsführung bestimmten tödlichen Viren an politischen Gefangenen durchgeführt. Zur Festigung und Erweiterung der eigenen Macht werden diese Viren jedoch nicht zur Bekämpfung äußerer Feinde eingesetzt, sondern es werden Teile der eigenen Bevölkerung infiziert, was in den Medien als ein terroristischer Angriff dargestellt wird. Hierdurch wird ein allgemeiner Schockzustand in der Bevölkerung erzielt, weshalb sie sich mit den totalitären „Sicherheits“maßnahmen, beispielsweise 46 Vgl. ibid., S. 230ff. 47 Ibid., S. 232, Herv. im Orig. 48 Vgl. M. Hardt, A. Negri, Empire, op. cit. 49 V for Vendetta Rainer Winter / Sebastian Nestler 378 mit totaler Zensur und mit einem geheimpolizeilich überwachten nächtlichen Ausgangsverbot, einverstanden erklärt. 50 Vor diesem Hintergrund fällt den Erzählungen eine zentrale Rolle zu. Allein die Möglichkeit von Subversion, die Idee, wie sie in Erzählungen vorkommt, ist Gegenstand rigidester Zensur, der es stets um die totale Kontrolle als Mittel zur totalen Einheit geht, weil das Empire um die faktische Macht von Erzählungen weiß. Deshalb ist Protheros The Voice of London so wichtig. Deshalb wird Gordon Deitrich, ebenfalls ein BTN-Showmaster, sofort verhaftet, weil er in seiner Unterhaltungssendung Kanzler Sutler verspottet hat. Jedes Ausscheren aus der Einheit, und sei es im satirischen Rahmen, wird negativ sanktioniert. Erzählungen sind der neuralgische Punkt des Empires. Sie müssen um jeden Preis kontrolliert werden, da Abweichungen von der Einheit dessen Zusammenhalt gefährden, es möglicherweise unregierbar werden lassen. Genau hier setzt V mit seinen Gegenerzählungen an. Doch gibt es, wie wir sehen werden, über Vs Gegenerzählungen hinaus noch weitere Stimmen, die sich nicht vereinheitlichen lassen. Getragen werden alle Gegenerzählungen Vs von einer zentralen Geschichte, derjenigen des Guy Fawkes, der am 5. November 1605 ein Sprengstoffattentat auf König Jakob I. von England plante, aber scheiterte, weil der Sprengstoff zuvor entdeckt wurde. Fawkes war Katholik und wollte mit der Sprengung des Parlamentsgebäudes in Westminster gegen die Katholikenverfolgung seitens des protestantischen Königshauses revoltieren und politische Gefangene befreien. Zwar wurde er nach der Vereitlung des Attentats hingerichtet, doch seine Geschichte lebt bis heute fort. Diese Geschichte macht V zunächst zu seiner persönlichen Erzählung, da er ein ähnliches Ziel verfolgt, nämlich den Sturz des Regimes Sutlers und die Befreiung der von ihm Unterdrückten. Wie wir im Laufe des Films erfahren, war V einst Insasse in Larkhill. V konnte aus diesem Lager entkommen, indem er es in Brand setzte, wobei er allerdings Verletzungen davontrug, die seine bisherige Identität entstellten. Daraufhin wählte V eine neue Identität: Die des Guy Fawkes, dessen Maske er nun ständig trägt. Doch bleibt diese Erzählung nicht nur Vs persönliche Geschichte. Ihm wird es gelingen, sie zu einer Geschichte der Multitude zu machen. Da V begreift, dass er seinen revolutionären Plan (mit Hardt und Negri ausgedrückt) 51 nur auf der Basis einer breiten Solidarität, einer Multitude, wird verwirklichen können, macht er diese Geschichte zur Gründungserzählung der Multitude. V besetzt die BTN-Sendezentrale und sendet eine Videoansprache an die ganze Nation. Hier rekontextualisiert er die Geschichte des 50 Auch in Larkhill selbst haben Erzählungen eine tragende Funktion: Derjenige, der in Larkhill das höchste Gehalt bekam war ein Priester, der spätere Bischof Anthony Lilliman: Priester erzählen Glaubensgeschichten. 51 Vgl. M. Hardt, A. Negri, Multitude, op. cit. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 379 Guy Fawkes in der Gegenwart. V stellt die Frage, wie Kanzler Sutlers Totalitarismus Fuß fassen konnte, welche Rolle hierbei Ängste und Massenhysterien gespielt haben, aber auch, welche Rolle die Freiheit im Leben der einzelnen Individuen eigentlich spielen sollte. Schließlich appelliert V an die Bevölkerung, dass wenn sie bezüglich der Freiheit so denkt wie er, sie sich am kommenden 5. November vor dem Parlamentsgebäude versammeln soll, um Sutlers Regierung einen Tag zu bereiten, den sie niemals vergessen wird. An diesem Datum nämlich plant V, das Parlamentsgebäude zu sprengen. Doch geht es V dabei nicht vordergründig um den materiellen Akt der Sprengung. Vielmehr ist für V das Gebäude ein Symbol, so wie der Akt der Zerstörung des Gebäudes ein Symbol ist. Symbole erlangen ihre Macht erst durch diejenigen, die an diese Symbole glauben. Ohne ein solches von allen geteiltes Element ist ein Symbol an sich bedeutungslos. Daher muss es V gelingen, möglichst viele Menschen von seiner Erzählung zu überzeugen, weil nur dann die Sprengung eines Gebäudes die Welt verändern kann. So kommt der Gegenerzählung auch eine organisierende und vergemeinschaftende Funktion zu. Allerdings vereinheitlicht die Vergemeinschaftung nicht, so wie es die Erzählungen des Empire tun, sondern sie betont die Wichtigkeit von Singularitäten und die Notwendigkeit, diese gegen totalitäre Gleichschaltung zu verteidigen. Da V sich der Funktion von Gegenerzählungen bewußt ist, sendet BTN nach Vs Überfall unverzüglich eine Meldung, die einen erschossenen Maskierten präsentiert, um die entstandenen Lücken im dominant-hegemonialen Diskurs zu reparieren. Doch dessen Macht hat durch Vs Videobotschaft bereits erste Risse bekommen, die sich nicht mehr schließen lassen. Generell betont V FOR V ENDETTA die herausragende Bedeutung von Erzählungen und Gegenerzählungen, von kleineren als auch größeren. Auch kleine Gegenerzählungen verfügen über die Macht, das Empire herauszufordern. Diese kleinen Gegenerzählungen können auch kulturelle Artefakte sein, wie sie V in seiner geheimen Schattengalerie sammelt. Seine Sammlung hat eine doppelte Funktion: Einerseits spendet sie V Trost und Mut, seinen Plan zu verwirklichen. Andererseits entzieht V auf diese Weise die subversiven und verbotenen Kunstwerke dem zensierenden und vereinheitlichenden Zugriff des Empire. Auch der Showmaster Gordon Deitrich, der seine Homosexualität unterdrücken muss, weil es ein Verbrechen ist, sich offen als homosexuell zu bekennen, verfügt über eine solche geheime Galerie. Eine weitere Gegenerzählung, die nicht öffentlich zirkuliert, findet sich in dem roten Notizbuch, in dem die Ärztin Delia Surridge ihre Experimente an den Gefangenen in Larkhill dokumentiert hat. Es ist eine Geschichte, die die Geschichte des Regimes als Verschwörung gegen die eigene Bevölkerung enttarnt, weshalb diese Erzählung unterdrückt werden muss. Als Inspektor Finch während seiner Ermittlungen gegen V auf dieses Buch stößt und es liest, stellt Kanzler Rainer Winter / Sebastian Nestler 380 Sutler es als Erfindung dar und verbietet Finch jede Erwähnung dieses Buches. Doch bringt dieses Notizbuch Finch schließlich dazu, Vs Plan nicht zu vereiteln. Nicht nur medialisierte Erzählungen, wie es Videobotschaften, kulturelle Artefakte oder Bücher sind, erfüllen in V FOR V ENDETTA eine wichtige Funktion, auch unmittelbare Face-to-Face-Erzählungen spielen eine wichtige Rolle. Dies betrifft vor allem V und die BTN-Angestellte Evey, die V gleich zu Beginn des Films vor den Übergriffen von drei Geheimpolizisten, die Evey aufgreifen, als sie verbotenerweise während der nächtlichen Ausgangsperre durch die Stadt geht, schützt. Nun weiß Evey von der Existenz Vs und von seinen Plänen, da V sie eingeweiht hat. Sie weiß, wer hinter dem Überfall auf BTN steckt, und so kommt es, dass sie V ebenfalls vor der Verhaftung bewahrt, als er während des Überfalls von einem Polizisten gestellt wird. Weil Videokameras die Szene aufzeichnen, befindet sich Evey erneut in Gefahr, weshalb V kurzerhand beschließt, sie in sein geheimes Versteck, die Schattengalerie, mitzunehmen. Evey, die das Versteck nicht verlassen kann, weil sie nun gesucht wird, lernt V näher kennen, wobei sie zunehmend Sympathie für ihn, seine Pläne und seine Idee einer freien Gesellschaft empfindet. Es gibt Ähnlichkeiten, die V und Evey verbinden. So war Eveys Vater ein dissidenter Schriftsteller, weshalb auch er nach Larkhill verschleppt wurde. Auch Eveys Mutter, die als politische Aktivistin gegen Kanzler Sutlers Regime agierte, wurde dorthin gebracht. Dennoch verlässt Evey bald der Mut, an Vs Seite zu kämpfen, und sie nutzt die nächste Gelegenheit, um zu fliehen. Erneut bewahrt sie V vor einer Verhaftung, doch diesmal wird Evey Vs Gefangene. Er simuliert ihre Gefangenschaft in einem Foltergefängnis, wodurch sie schließlich ihre Ängste verliert und in einer metaphorischen Szene im Regen neu geboren wird. So durchlebt sie Ähnliches wie V, der während seiner realen Gefangenschaft in Larkhill zu einem neuen, angstfreien Menschen wurde, der im Feuer neu auferstand. Nun, da V und Evey nicht mehr von Ängsten determiniert sind, kann sie die Terrorherrschaft Sutlers, deren wichtigstes Werkzeug die Angst ist, wie es auch Hardt und Negri 52 allgemein für das Empire beschreiben, nicht mehr manipulieren. Erneut spielt hierbei eine widerständige Erzählung eine wichtige Rolle: Es ist die Geschichte Valeries, die einst ebenfalls in Larkhill gefangen war, dort starb, aber zuvor ihre Lebensgeschichte auf ein Stück Toilettenpapier schrieb, um anderen Gefangenen Lebensmut zu geben. V fand einst diese Geschichte in seiner Zelle und gibt sie an Evey weiter, was sie nun zu einer unzertrennlichen Gemeinschaft verschweißt. Dennoch bleiben V und Evey Singularitäten, was einmal mehr metaphorisch dadurch verdeutlicht wird, dass beide eine ähnliche Epiphanie 52 Vgl. M. Hardt, A. Negri, Empire, op. cit. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 381 durchleben, aber in konträren Elementen: V wird im Feuer, Evey im Wasser wiedergeboren. V und Evey lassen sich daher als die kleinstmögliche Form der Multitude begreifen. Gemeinsam leisten sie dem Empire Widerstand, welches Singularitäten unterdrückt. Die Unterdrückung von Singularitäten beschrieb bereits Valerie, die aufgrund ihrer Homosexualität interniert wurde, in ihrer Widerstandserzählung mit den Worten „Different became dangerous“. 53 Doch war sie nicht in der Lage, eine machtvolle Multitude gegen das Empire zu organisieren und starb in Larkhill. Aus Vs und Eveys kleinstmöglicher Multitude entwickelt sich eine immer größer werdende Menge, die für die Verwirklichung einer Freiheitsutopie eintritt. Seit Vs Videoansprache ist die Lage zunehmend angespannt. Die Menschen verlieren das Vertrauen in die Erzählungen des Empires. Sie erkennen, dass das Empire sich nur durch die immer neue Schaffung kollektiver Ängste an der Macht halten kann und beginnen, dagegen zu rebellieren. Darauf reagiert das Empire mit immer drastischeren Katastrophenmeldungen, die neue Hysterien erzeugen sollen, um die Bevölkerung daran zu erinnern, dass sie dieses Regime braucht. Doch funktioniert dieser Plan nicht mehr wie in früheren Zeiten. Die Leute organisieren sich weg vom gleichgeschalteten Empire hin zu einer mannigfaltigen Multitude, die den Glauben an eine freie Welt miteinander teilt. Vs Gegenerzählung ermöglicht nun oppositionelle Interpretationen der offiziellen Erzählungen. Auf die neusten TV-Nachrichten reagiert ein Pubbesucher mit der rhetorischen Frage: „Can you believe this shit? “ 54 Als schließlich ein junges Mädchen, das Vs Erkennungszeichen als Graffiti an eine Wand sprüht, von einem Geheimpolizisten angeschossen wird, eskaliert die Situation. Die Leute gehen auf den Polizisten los, was die Initialzündung für weitere, größere Aufstände ist, die unorganisiert an vielen Orten ausbrechen. So trägt Kanzler Sutler schließlich seine letzte große Einheitsrede im Fernsehen vor leeren Wohnzimmern vor sein Volk befindet sich auf der Straße, wo es einer anderen Erzählung folgt. Gegen diesen Aufstand lässt Sutler die Armee aufmarschieren, die nun die Aufgabe der Polizei übernimmt, indem sie gegen die eigene Bevölkerung auftritt. Hierin erkennen wir die von Hardt und Negri 55 beschriebene gleichzeitige Ausweitung und Banalisierung des Krieges, eine für das Empire notwendige Doppelbewegung zur Herstellung absoluter Einheit, in der die Grenzen zwischen dem Militärischen und dem Zivilen entdifferenziert werden, weil der Krieg überall stattfindet, aber nicht mehr als Krieg, sondern als ordnender Polizeieinsatz. Dieser uniformierten Einheit des Empires stellt sich eine, so will es zunächst scheinen, uniformierte Einheit aus Maskierten entgegen. V nämlich hat zuvor meh- 53 V for Vendetta 54 Ibid. 55 Vgl. M. Hardt, A. Negri, Empire, op. cit. Rainer Winter / Sebastian Nestler 382 rere hunderttausend Exemplare seiner Maske an die Haushalte verschickt, weshalb nun die Bevölkerung in seinem Kostüm gegen das Militär marschiert. Was zunächst aufgrund seiner Uniformität wie ein weiteres Empire aussieht, ist eine Multitude, die gemeinsam handelt, aber ihre Singularitäten erhält. Denn nachdem V Kanzler Sutler und seinen Stellvertreter Creedy getötet hat, ist die Armee, die, um in der Metapher des Volkskörpers zu sprechen, den Arm darstellt, führungslos, weil der Körper enthauptet wurde. So erwartet der Kommandant Befehle, die nicht mehr erteilt werden können. Die Armee ist handlungsunfähig und senkt die Gewehre. Ihr gegenüber steht eine große Menschenmenge, die aufgrund ihrer uniformen Maskierung zunächst eine Masse zu sein scheint. Doch sehen wir in dem Moment, indem jedes einzelne Individuum dieser einheitlichen Masse seine Maske abnimmt, dass unter diesen Masken viele singuläre Individuen stecken. Die Maske stellt hier im Gegensatz zu den Uniformen der Armee keine Einheit, sondern eine Gemeinschaft her. Die dem Empire auf den ersten Blick ähnliche einheitliche Masse ist eine singuläre Menge der Multitude, die kein hierarchisch gegliederter Körper ist und darum keinen Kopf zum Handeln braucht. So überrennt die Multitude schließlich das Empire und starrt gebannt auf das Feuerwerk, das das Parlamentsgebäude in die Luft sprengt. An seinem offenen Ende stellt der Film mit Hardt und Negri die Frage: „Was kann die Multitude werden? “ 56 In dem Film kommt V eine Sonderstellung zu, die sich im Kontext von Empire und Multitude begrifflich schwer fassen lässt. V initiiert zwar mit seinen Ideen und Erzählungen die Bildung der erfolgreich widerständigen Multitude, ohne jedoch jemals als Mensch ein Teil von ihr zu sein. Er versteckt nicht nur sein Gesicht hinter einer Maske, sondern er ist die Maske, die die Lügen des Empire demaskiert. Auch erlebt V die Verwirklichung seines Plans nicht mehr, weil er vorher durch Polizeikugeln stirbt. Evey ist es, die letztlich den entscheidenden Hebel für die Sprengung betätigt und Vs Plan zum Abschluss bringt. V ist kein Teil der Multitude. In gewisser Weise ist er so paradox dies klingen mag ihr Kopf, denn er erfüllt die alles bewegende Idee der Freiheit mit Substanz: mit seinen Erzählungen und Aktionen. Doch muss dieser Kopf schließlich sterben, weil es in der Struktur der Multitude keine Hierarchie und somit keinen sinnvollen Platz für ein Oberhaupt gibt. Auch als Person ist V im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Idee in sich widersprüchlich. V stellt sich nicht als Mensch, sondern als Idee dar. In seiner Biografie behauptet er, in Larkhill als Mensch gestorben und durch das Feuer als Idee wiedergeboren zu sein. V verbirgt sein Gesicht hinter der Maske, weil sein individuelles Gesicht bei dem Feuer in Larkhill entstellt wurde und ihm keine Identität mehr stiften kann. Die Funktion der Identitätsstiftung 56 M. Hardt, A. Negri, Multitude, op. cit., S. 124. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 383 erfüllt nun die Maske. V trägt die Maske nicht, er ist sie. Für ihn gilt, was Gordon Deitrich, allerdings weniger positiv besetzt, in Bezug auf seine unterdrückte Homosexualität erzählt: „You wear a mask for so long, you forget who you were beneath it.“ 57 Vs menschliche Identität erschöpft sich in der Oberflächlichkeit der Maske. Als Idee jedoch hat V eine Tiefe, die es vermag, die Welt zu verändern. Denn es sind Ideen, die Solidarität und Gemeinschaftlichkeit erzeugen, und so die Multitude erst ermöglichen. V löst sich als Mensch in der Idee auf. Dies zeigt insbesondere die Szene, in der Creedy versucht, V zu erschießen. V überlebt den Kugelhagel und spricht, als er Creedy tötet: „Beneath this mask there is an idea, Mr. Creedy. And ideas are bulletproof.“ 58 Später stirbt diese Idee im Akt ihrer Verwirklichung, weil die nachrevolutionäre Welt von einer anderen Idee geleitet werden wird. Es ist nicht die Idee des zerstörenden Feuers, aus dem V wiedergeboren wurde, sondern die Idee des Regens, der Evey neu gebiert: der Regen, der das Feuer löscht und die verbrannte Erde wieder fruchtbar macht. In diesem Sinne ist Eveys Liebe zu V metaphorisch zu verstehen. Zwar sucht Evey vordergründig stets den Menschen hinter der Maske und verliebt sich sogar in den Menschen, den sie hinter der Maske vermutet. Doch wird ihr nach Vs Tod klar, dass es kein Mensch war, den sie geliebt hat und noch immer liebt, sondern etwas Größeres. Diese Liebe ist als Form affektiver Vergemeinschaftung der Motor der Utopie, die über die paranoide Kontrollideologie des Regimes siegt. Die Liebe zur Idee transzendiert die Liebe zum einzelnen Individuum, sie lässt sich nicht allein an ihm festmachen, obwohl der Einzelne eine große Bedeutung als Träger der universellen Idee haben kann. So antwortet Evey am Ende des Films Inspektor Finch, der nach Vs Identität fragt: „He was all of us.“ 59 * = Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen war ein Plädoyer für eine soziologische Betrachtung des Films, die ähnlich wie die historischen Analysen abstrakte und universale Konzeptionen des Zuschauers in Frage stellt. Wie wir versucht haben zu zeigen, sollte sie von den sozialen und kulturellen Kontexten des „doing cinema“ ausgehen. Dabei sind nicht nur die Prozesse der Produktion, sondern auch die der Rezeption und Aneignung als Praktiken aufzufassen. In ihnen werden die Bilder und Töne eines Films (neu) geschaffen und die Bedeutungen des Filmtextes aktiv fabriziert. Das Interesse einer von den 57 V for Vendetta 58 Ibid. 59 Ibid. Rainer Winter / Sebastian Nestler 384 Cultural Studies inspirierten Filmanalyse sollte den gesellschaftlichen Praktiken und sozialen Beziehungen des „doing cinema“ gelten, was differenzierte Analysen von Filmen und ihrer Bedeutungspotentiale keineswegs ausschließt. Von den Cultural Studies lässt sich lernen, dass gerade populäre Filme wichtige Erkenntnisgegenstände von gesellschaftlicher Relevanz sein können, wie wir am Beispiel von V FOR V ENDETTA gezeigt haben. Mittels unserer Kontextualisierung konnten wir darlegen, dass es diesem Film gelingt, auf eine unmittelbare und affektive Weise das dialektische Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft in der Multitude näher zu beleuchten, ohne es zu simplifizieren. So wie Hardt und Negri 60 das „Empire“ und die „Multitude“ beschreiben, so nähert sich auch V FOR V ENDETTA diesen Begriffen mit der gebotenen Umsicht. Weder stellt der Film das Individuum als alleinigen Urheber gesellschaftlichen Widerstands und Wandels dar, noch wird es einem vereinheitlichenden Klassenbegriff untergeordnet. Der Film zeigt, dass politisches Handeln nur in der Öffentlichkeit stattfinden kann, während das Verbleiben im Privaten zur ohnmächtigen Vereinzelung führt. Das Individuum kann also nur in der Multitude politisch aktiv werden, weil es hier sowohl ein gemeinschaftlich-öffentliches als auch ein singuläres Subjekt ist. Es bleibt weder vereinzelt im Privaten, noch wird es, wie im Empire, seiner Singularität beraubt und einer totalitären Einheit einverleibt. Die Multitude ist eine produktiv-widerständige Macht, weil in ihr die Singularitäten und die Vielfalt der einzelnen Individuen im Zusammenschluss zu einer politischen Gemeinschaft werden. So ist die Multitude eine zusammenhängende Vielfalt, keine Einheit. Diese unauflösliche Dialektik des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft in der Multitude bleibt auch in der Darstellung in V FOR V ENDETTA erhalten. Auch die Darstellung des Empire in V FOR V EN- DETTA betont dessen Tendenz zur Ausweitung und Banalisierung des Krieges. Hier wird der Ausnahmezustand, der die widerständige Vielfalt gewaltsam unterdrückt, zur alltäglichen gesellschaftlich-politischen Normalität. Doch kann es der Multitude gelingen, diese Unterdrückung zu überwinden und die Utopie der Freiheit zu verwirklichen. So wie es Hardt und Negri für die Multitude beschreiben, die unterirdische Gänge gräbt, die durch Mauern hindurchführen und so Grenzen überwinden und Fluchtwege erschließen 61 , nutzt V die Londoner U-Bahntunnel, um dem totalitären Regime Kanzler Sutlers zu entkommen und schließlich der gesellschaftlich-politischen Veränderung den Weg zu ebnen. Denn der vordergründig vereinzelt-individualistisch kämpfende V ist im Sinne der Multitude ein Kämpfer, in dessen Gestalt das Private und das Öffentliche nicht im Widerspruch stehen. Durch seine Interventionen gelingt es ihm, vereinzelte Singularitäten in einen Kommunikationsprozess 60 Vgl. M. Hardt, A. Negri, Empire, op. cit.; M. Hardt, A. Negri, Multitude, op. cit. 61 Vgl. ibid., S. 156. Subjekt, Widerstand und Multitude im Film 385 einzubinden, wodurch eine Gemeinschaft entsteht, in der die Singularitäten als Produktivkraft der Multitude erhalten bleiben. So stehen Öffentliches und Privates nicht im Widerspruch, sondern setzen einander voraus. Populäre Filme und ihre Analysen sind hinsichtlich ihrer Fähigkeit, sozialkritische und gesellschaftsverändernde Prozesse in Gang zu setzen und zu unterstützen, als interventionistisch zu verstehen. Sie können im Sinne der Cultural Studies Wissen auch denen zugänglich machen, die nicht in die Prozesse der akademischen Wissensproduktion eingebunden sind. Denn sie verfügen über das Potenzial, durch Bilder und ihre Montage komplexe Sachverhalte leicht zugänglich und verstehbar zu machen, ohne sie ihrer Ambivalenzen, Vieldeutigkeiten und inneren Widersprüche zu berauben. 62 In ihnen kann sich die Komplexität gesellschaftlicher und kultureller Auseinandersetzungen in transkodierter Form ausdrücken. In dieser Perspektive bewahrheitet sich die Äußerung von Sam Fuller in Jean-Luc Godards P IERROT LE F OU : „Film is a battleground.“ 63 # Denzin, N. K., Images of Postmodern Society. Social Theory and Contemporary Cinema, London-Thousand Oaks-New Delhi 1991. Denzin, N. K., Symbolic Interactionism and Cultural Studies. The Politics of Interpretation, Oxford 1992. Denzin, N. K., „Ein Schritt voran mit den Cultural Studies“, in: K. H. Hörning, R. Winter (Hrsg.), Widerspenstige Kulturen. 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Winter (Hrsg.), Das Kino der Gesellschaft die Gesellschaft des Kinos, op. cit. 63 Pierrot le Fou. Rainer Winter / Sebastian Nestler 386 Hörning, K. H., „Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem“, in: K. H. Hörning, J. Reuter (Hrsg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004. Hörning, K. H., Reuter, J., „Doing Culture: Kultur als Praxis“, in: K. H. Hörning, J. Reuter (Hrsg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004. Jameson, F., The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System, Bloomington 1992. Kellner, D., Media Culture. Cultural Studies, Identity, and Politics Between the Modern and the Postmodern, London-New York 1995. Kellner, D., Media Spectacle and the Crisis of Democracy: Terrorism, War, and Election Battles, Boulder 2005. Kellner, D., Cinema Wars. Hollywood Film and Politics in the Bush-Cheney Era, Oxford 2010. 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Der Versuch lohnt aus meiner Sicht deswegen, weil die Erinnerung an die schlichte Tatsache, dass gestaltete Gegenstände von - nun allerdings individuellen - Subjekten für individuelle Subjekte produziert werden, möglicherweise helfen kann, den gegenwärtigen Tendenzen der Entmachtung solcher Subjektivitäten durch die wirtschaftlichen und medialen Gegebenheiten der Gegenwart entgegen zu denken. Es geht um die Erkundung von Handlungsspielräumen - in diesem Fall der von Designern. Die spätestens seit der Psychoanalyse und der postmodernen Philosophie geläufige Tatsache, dass es kein individuelles oder kollektives Subjekt gibt, das seiner Handlungen, so reflektiert und leidenschaftlich sie sein mögen, in Gänze mächtig ist, ist mitgedacht. Doch solche Einschränkungen - auch durch die ökonomischen Globalisierungsprozesse oder das drohende Verschwinden des handlungsfähigen Körpers in der Virtualität - setzen nicht außer Kraft, dass Subjekte dennoch ihre Chancen, solche Spielräume zu nutzen, möglicherweise besser ergreifen können, wenn Theoretiker diese Spielräume immer wieder neu erkunden und auf diese Weise womöglich zu erweitern oder doch wenigstens zu erhalten suchen. Erst die völlige Unmöglichkeit, begründete Entscheidungen treffen zu können, würde die Rede vom Subjekt obsolet machen. Im Wort Spielraum ist hier das gemeint, was Schiller als Spiel ansah: Räume und Zeiten, in denen Freiheit möglich ist, mit Folgen für den Ernst des Lebens, auf den Design ja - anders als die Kunst, um die es Schiller ging - unmittelbar zielt. Aus der gestalterischen Wahrnehmung solcher Freiheit wächst sicher keine soziale Bewegung, aber es kann doch versucht werden, ein Stück Emanzipation in den Alltag zu tragen. Vorausgesetzt ist allerdings, dass man das Objekt des Designs, den Nutzer, als Subjekt begreift und behandelt. In diesem Sinne möchte ich meinen Beitrag als einen zur Aufklärung solcher Freiräume begreifen. Gesetzt ist die philosophische Ebene: Es wird nicht um konkrete Gestalter gehen, sondern um verallgemeinerte Subjekttypen, weil auf dieser Ebene die Spielräume anders sichtbar werden als beim praktischen Achim Trebess 390 Gestalten. Deswegen komme ich auch ohne Bilder aus, denn es geht um Gestaltungshaltungen, die sich nicht durch Gegenstände darstellen lassen. Doch bringt die Konzentration auf die philosophische Ebene Einschränkungen anderer Art mit sich. Vielleicht tue ich der Designtheorie Unrecht, aber die theoretische Beschäftigung mit dem Design ist in der Gegenwart - von, im Vergleich mit bspw. der Literaturwissenschaft, wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht so stark von philosophischen Überlegungen durchdrungen, dass es sehr viel gäbe, auf dem sich bauen ließe. Kaum überspitzt hat das Ulrich Heinen formuliert: Praxisorientierte Schriften von und für Designer (...) kommen mit pragmatischen Derivaten von Theorie aus. Zwischen ihnen und den Bezugsdisziplinen, die zur Begründung von Designwissenschaften herangezogen werden - philosophische Ästhetik, Linguistik, Semiotik, Kommunikationswissenschaft, Psychologie oder Soziologie - gäbe es einen tiefen Graben 1 . Mein Eindruck ist gar, dass es in den Designwissenschaften selbst auch nicht sehr viel besser aussieht. Vertretern anderer Disziplinen mag daher primitiv vorkommen, was hier zu sagen ist - mir scheinen solche Schritte aber dennoch nützlich, denn der Trend im Design geht zwar zu einem inflationären Gebrauch des Wortes Philosophie, gleichzeitig aber zu einer Feuilletonisierung des Denkens. 2 Vielleicht kann die hier versuchte Typisierung mit tatsächlicher, wenn auch vergleichsweise schlichter Philosophie ein wenig dagegenhalten. & $ Zuvor noch eine notwenige Bemerkung, damit nicht der Eindruck entsteht, die Gestaltersubjekte wären die einzigen, die bedacht werden müssten, wenn es um das Thema Subjekt und Design geht. Mitnichten. In die Gestalt eines Gegenstandes fließen die Handlungen vieler Aktanten ein, deren Zusammenwir- 1 U. Heinen, „Bildrhetorik der Frühen Neuzeit - Gestaltungstheorie der Antike. Paradigmen zur Vermittlung von Theorie und Praxis im Design“, in: G. Joost (Hrsg.), Design als Rhetorik, Basel-Boston-Berlin 2008, S. 143f. 2 Dazu ein paar Sätze eines der wenigen Designphilosophen: „Zeitgenossen, wenn es sich um Designer und ihre Interpreten handelt, tun sich nicht so schwer. Keine Zweifel, keine Hoffnung, keine Qual. Lassen sie eine Botschaft mit den Worten beginnen: ‚Das ist meine (ihre, seine, unsere) Philosophie‘, und diesen vier Worten folgt ein Doppelpunkt, kann man sicher sein, daß sich die Bedeutungsschwere im Doppelpunkt erschöpft hat, denn was folgt, wußte man schon - daß der Benutzer und seine Bedürfnisse wieder ernster zu nehmen sind, daß mehr Bescheidenheit angesagt ist, daß die Dinge modern aber nicht modisch, daß sie einfach aber nicht simpel sein sollen, daß die Funktion ganz vorn im Vordergrund steht usw.“ H. Hirdina, „Das Faustische im Design“, in: ders., Am Ende ist alles Design. Texte zum Design 1971-2004, Hrsg. D. Nehls, H. Staubach, A. Trebeß, Berlin 2008, S. 12. Subjekt und Design 391 ken zwar kooperativ, deswegen aber nicht widerspruchsfrei und harmonisch sein muss, genauer: nie harmonisch gewesen ist. Die Herstellung von Gegenständen ist zuerst ein arbeitsteiliger Vorgang. Der Designer taucht als neu entstehender Beruf 3 mit der Industrialisierung auf, der Beruf ist von Anfang an in arbeitsteilige Prozesse eingebunden. In der „Berliner Ästhetik“ ist das mit dem Marxschen Modell des Reproduktionsprozesses für die Kunst als Kunstprozess beschrieben worden. 4 Dieser Gedanke ließe sich - als Designprozess - auch auf das Design übertragen und ausarbeiten. Ein herzustellender Gegenstand wird beeinflusst durch Vorgänge nicht nur in der Sphäre der Produktion, sondern auch der der Konsumtion, Distribution und Verteilung, die miteinander zusammenhängen und auf den Produktionsprozess einwirken. In all diesen Sphären sind Subjekte mit sehr unterschiedlichen Interessen und Handlungen am Werk, die auf die Herstellung und auch die Gestalt eines Produktes direkt oder indirekt Einfluss nehmen. Ich nenne hier nur den Auftrag- und Geldgeber, den Konstrukteur des Produktes, die das Produkt Herstellenden (die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der technischen Herstellbarkeit müssen beim Entwerfen der Gestalt bedacht werden), den Handel und natürlich den Konsumenten, der durch Marketingstrategien bearbeitet wird. Aber auch Ausstellungen, Preisverleihungen, Diskussionen und Tagungen hinterlassen ihre Spuren beim Gestalten von Produkten. Auch Gesetze spielen eine Rolle und natürlich ökologische Rücksichten. Diese Reihe ließe sich sowohl endlos verlängern als auch systematisieren, Widersprüche zwischen den arbeitsteiligen Positionen und Reproduktionssphären eingeschlossen. Auch eine historische Darstellung wäre nötig, denn die arbeitsteiligen Vorgänge verändern sich. Bei der Produktion von Filmen beispielsweise wird durch die Anwendung des Rechners die Anzahl arbeitsteiliger Stationen wieder eingezogen, während beim Design die Ausdifferenzierung des Berufes weiter zunimmt. Auf der Mikroebene hat sich der Beruf des Produktdesigners ausdifferenziert: nicht nur in Spielzeugdesigner, Möbeldesigner und sehr viele Designberufe anderer Sparten, sondern es gibt nun auch Food-Designer oder Nail-Designer, bis hin zum nicht mehr fernen pränatalen Körperdesigner oder Gefühlsdesigner etc., während auf der Makroebene die Dominanz vom Pro- 3 Wenn auch noch nicht unter diesem, sondern unter sehr verschiedenen Namen; Design wird Industriekunst genannt oder Formgestaltung oder Produktkunst, erst mit dem Bauhaus ist von Gestaltung die Rede, noch später von Design. Vgl. H. Hirdina, „Design“, in: Kh. Barck u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. II, Stuttgart-Weimar 2001. 4 Vgl. E. Pracht u.a., Ästhetik der Kunst, Berlin 1987, besonders die von U. Roesner verfassten Abschnitte zum Kunstprozess auf den S. 48-77. Erste Ansätze dafür finden sich in: M. Naumann u.a., Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin-Weimar 1976, doch ist die Ausarbeitung des Konzeptes seit 1989 in einem recht frühen Stadium abgebrochen. Achim Trebess 392 duktgestalter zum Mediengestalter überzugehen scheint. Eine durchaus problematische Tendenz, weil sie mit dem besonders von Dietmar Kamper befürchteten Verschwinden des Körpers zusammenhängt. 5 Das ist die eine Seite, auf der anderen aber bewegen sich die Sparten des Designs aufeinander zu: Ausbildungsinhalte und Arbeitsfelder von Architekten, Innenarchitekten, Produkt- und Kommunikationsdesignern nähern sich an. Auch dies kann hier nicht untersucht werden, obwohl es getan werden müsste. Zu fragen bleibt in meinem Beitrag stattdessen, wie sich die zu charakterisierenden Subjekttypen innerhalb dieses Designprozesses jeweils verhalten. Darauf wird das Augenmerk liegen. Eine neben der Arbeitsteilung zweite, nur methodisch zu separierende Ebene des Designprozesses entsteht aus wirkungsmächtigen vergangenen Produktions- und Reproduktionsprozessen, also aus Gestaltungstraditionen, aus Kenntnissen im Umgang mit Materialien, Entwurfstechniken, auch technischen Möglichkeiten überhaupt, aber natürlich auch aus vergangenen politischen und ökonomischen Verhältnissen vielfältigster Art. Der Designgegenstand ist eine Resultante dieser Aktivitäten, wobei der Designer eine gegenüber anderen Beteiligten spezifische Rolle spielt und ein besonderes Gewicht hat - dennoch, und das sollte im Hinterkopf bleiben, ein Alleinherrscher ist er nicht. Eine dritte Reihe schließlich betrifft das gesamte Leben eines entstehenden Produkts: Auch dieser Aspekt gehört zum Designprozess. Günter Höhne beschreibt ihn in seinem Lexikon des DDR-Design folgendermaßen: „Design ist nicht nur Ergebnis, sondern vielmehr Prozess, beginnend mit der Geburt einer Nutz- und Gestaltidee und endend erst mit dem Ableben des Produktes und / oder bestenfalls seiner ‚Entsorgung nach oben‘, in Museen...“ 6 Hinzuzufügen bleibt, dass das Stadium des Produktes als Müll heute bereits im Entwurfsprozess mitzudenken ist. Soviel vorweg. Nun zum ersten Gestaltertyp, dem Funktionalisten und seinem Verhältnis zu diesem Designprozess, wobei es bei der Beschreibung dieses Verhältnisses nur um die erste Ebene gehen wird, also die jeweilige Stellung innerhalb der Arbeitsteilung. 5 Am konzentriertesten nachzulesen in: D. Kamper, „Körper“, in: Kh. Barck u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, op. cit. 6 G. Höhne, Das große Lexikon DDR-Design, Köln, o. J. [2008], S. 6. Subjekt und Design 393 ' 1 ? $ ' & = Wenn das Stichwort „Funktionalismus“ fällt, geht es ohne eine kurze Klärung nicht ab. Der Funktionalismus ist ein Konzept der Industrialisierungsperiode, das auf zwei Tatsachen reagiert: einmal auf die zunehmende Arbeitsteilung, die zersplittert, was der Handwerker noch in seiner Hand haben konnte: die (persönliche) Beziehung zum Auftraggeber sowie Entwurf, Konstruktion, Herstellung und Verkauf von Gegenständen. Das alles fällt nun an unterschiedliche Subjekte, es wird auch räumlich und zeitlich zergliedert. Die Gestaltgebung von Produkten wird zu einem eigenständigen Beruf, und eine wesentliche Frage dieses Berufes ist, wie trotz der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung brauchbare und schöne Gegenstände entstehen können. Dabei geht es, das ist die zweite Tatsache, um Gegenstände für neue Konsumenten, nämlich um die Produktion für den Massenbedarf, zuvörderst für das Existenzminimum. So entsteht der Funktionalismus, und er bleibt an die industrielle Herstellung von Gegenständen gebunden, selbst wenn sie ihren seriellen Charakter verlieren sollte. Das ästhetische Zeichen des Handwerkers war das Ornament, das ästhetische Zeichen des industriellen Funktionalismus war die glatte Fläche. Das muss so nicht bleiben. Die Funktionalismusdebatte der 1960er und 70er Jahre hat die Missverständnisse hervortreten lassen, die sich mit diesem Begriff verbinden können. Karin Hirdina hat sie zusammengefasst und festgehalten, dass es bei dem Funktionalismus - wenn man nach seiner aktuell bleibenden Leistungsfähigkeit sucht - nicht um einen historischen Stil geht (z.B. den sog. „Bauhausstil“), nicht um eine Doktrin (die sich mit Askese und Bedürfnisverzicht verbindet), nicht um eine Verwirklichung der problematischen Formel Luis Sullivans „form follows function“, auch nicht, wie Adorno befürchtet hat, um eine Zerschlagung des Ornaments, sondern um ein soziales Programm. 7 Dieses Programm wiederum ist nach vorne offen, es ist nicht fixiert, sondern ein Gegenstand der Suche, und zwar auf theoretische wie auf gestalterische Weise. Allgemeine Bestimmungen, die der Orientierung dienen, ohne dass sie als „Logarithmen“ für die gestalterische Arbeit dienen könnten, lassen sich trotzdem versuchen. Dieses soziale Programm richtet sich weniger auf die Gegenstände selbst, vielmehr auf ihren Nutzer. Die inhaltliche bzw. gestalterische Konkretisierung von „Funktion“ ergibt sich nicht aus feststehenden Größen wie „Sitzen“ oder 7 K. Hirdina, „Der Funktionalismus und seine Kritiker“, in: V. Fischer, A. Hamilton (Hrsg.), Grundlagentexte zum Design, Bd. I, Frankfurt/ M. 1999. Achim Trebess 394 „Trinken“ oder „Beleuchten“, für die adäquate und möglichst unübertreffbare, minimalistische Lösungen gefunden werden müssen (obwohl Walter Gropius sich das - als Suche nach dem „Wesen“ der Dinge 8 - durchaus so vorgestellt, allerdings nie so praktiziert hat), sondern aus den sich verändernden und sehr komplexen Bedürfnissen der Nutzer. Allerdings nicht unbedingt aus allen Bedürfnissen, wie sie tatsächlich existieren bzw. im marktwirtschaftlichen Zusammenhang hervorgebracht worden sind, sondern aus einem bestimmten, sich verändernden Bild des Nutzers. Ganz im Sinne der Aufklärung wird ein Nutzer vorgestellt, dem mit Hilfe von Gegenständen Zeit, Raum und Gelegenheit verschafft werden sollen, sein Leben nach eigenem Willen und Gutdünken bei voller Verantwortung für sich und andere wie die umgebende Natur zu gestalten. Es ist ein Nutzer gemeint, der im erfüllten Sinne des Wortes Subjekt unter Subjekten sein kann. Das ist, auf die kürzeste und allgemeinste Formel gebracht, das soziale Programm, das sich mit dem Funktionalismus verbindet. Ich nehme an, dass auch ohne weitere Konkretisierung deutlich wird, dass es sich hier um ein Programm handelt, das mit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung tatsächlich nur im Sinne von zu erkundenden und zu erobernden Freiräumen verbunden werden kann. Abraham Moles, eher ein Kritiker des Funktionalismus, hat das am klarsten formuliert: Die Überflussgesellschaft... wird durch die Vorstellung bestimmt, daß die industrielle Produktionsmaschinerie permanent laufen muß, das heißt, daß der Konsument zu permanentem Konsum stimuliert wird. Konsumsphäre und Produktionssphäre sind zu einem Kreislauf geschlossen, der ein immer intensiveres Tempo annehmen muß. Der Funktionalist widersetzt sich notwendig der Philosophie der Überflussgesellschaft, die rücksichtslos produzieren und verkaufen will. 9 Ungehindert entfalten kann sich eine funktionalistische Gestaltungshaltung hier ebenso wenig wie das innerhalb der sozialistischen Planwirtschaft gelungen ist und gelingen konnte. Steht in der Marktwirtschaft der Zwang, Gegenstände zu produzieren und abzusetzen entgegen, so waren es im realen Sozialismus ideologische Diktate und die Bedingungen einer Mangelwirtschaft. Dennoch ist eine Ablehnung der Arbeitsteilung eher selten. Der Funktionalist begreift die moderne Arbeitsteilung nicht vor allem als Entfremdung, sondern als Chance zur Gestaltung der Alltagskultur. Es ist jemand, der den Nutzer so allseitig sieht, wie es nur möglich ist: als körperliches, bedürftiges Wesen, als Subjekt mit politischen und sozialen Interessen, als jemanden, der Zeit und Raum sucht, um sie nicht vor allem mit Gegenständen zu verbringen, sondern mit sich und anderen Menschen. Es geht ihm nicht um die Entde- 8 W. Gropius, „Bauhaus Dessau - Grundsätze der Bauhausproduktion“, in: ibid., S. 167f. 9 A. Moles, „Die Krise des Funktionalismus“, in: ibid., S. 212. Subjekt und Design 395 ckung neuer Trends, sondern um die Entdeckung neuer Funktionen. Darin liegt der Kern funktionalistischer Kreativität. Der Funktionalist ist daher ein gleichzeitig kritischer und an Utopien orientierter Gestalter, aber kein Träumer, sondern arbeitsteilig eingebunden und innerhalb dieser zur Kooperation anregenden Einbindung darauf aus, Zusammenarbeit als Kooperation im Namen des Nutzers zu organisieren. Leitfaden dabei sind nicht wirtschaftliche Interessen, nicht Traditionen, nicht der Bruch von Traditionen, nicht Forminnovationen, sondern die Absicht, Gegenstände als Diener für Menschen zu entwerfen, für jene, die den eigentlichen Reichtum von Menschen als Reichtum an Beziehungen zu sich selbst, zu anderen und zur Natur begreifen. So hat es Lothar Kühne formuliert. Der Gegenstand jedenfalls ist kein Subjekt oder Ziel der Gestaltung für Subjekte, er ist nichts als Mittler zwischen Subjekten, Mittler zwischen Natur und Kultur, zwischen Sozialität und Individualität. Deswegen steht auch nicht der Gegenstand im Mittelpunkt des Interesses des Funktionalisten, sondern der Raum. Wieder Lothar Kühne, diesmal im Zitat - erschrecken Sie bitte nicht vor dem Wort „kommunistisch“, man kann diese Form des Reichtums auch anders nennen, ohne die Substanz des Gedankens zu beschädigen: Wenn die gründende Form des kommunistischen Reichtums die Persönlichkeit ist [und nicht der Reichtum an Gegenständen oder der abstrakte Reichtum an Geld - AT], so kann ihre wesentliche Vermittlung nicht der Gegenstand, sondern nur die für das Individuum freie Zeit sein. Den Gegenstand kann das Individuum aber nur über den Raum auf die Zeit beziehen. 10 Das ist meines Wissens die bisher tiefste Bestimmung des Funktionalismus, und Sie sehen, dass es eine des Reichtums ist und nicht eine der Askese. Das wichtigste Betätigungsfeld des Funktionalisten ist daher das Experiment. Kaum etwas steht fest innerhalb dieses Beziehungsgeflechts von Natur, Gesellschaft, Individuum, Gegenstand, Raum und Zeit: nicht die Bedürfnisse, nicht die Funktionen, nicht die Gestaltgebung und auch nicht das Gelingen des Experiments oder seine Tragfähigkeit für eine unbekannte Zukunft. All das muss entwerfend gesucht, recherchiert und erprobt werden - nicht selten gegen Widerstände. Dies verlangt wiederum, dass dieser Gestalter sich selbst als Subjekt begreift und konstituiert - in einem unabschließbaren Prozess. Da das Programm nicht an Gegenständen und ihren Formen hängt, sondern ein soziales Programm ist, sind Erfolge eher selten. Der Funktionalist ist jemand, der sich in Widersprüchen bewegt. Wut ist ihm so gut bekannt wie List. Das macht Funktionalisten sehr häufig zu politisch denkenden Menschen, es kann im Extrem aus dieser widersprüchlichen Situation aber auch ein Erziehungsprogramm resultieren oder eine Diktatur mit Hilfe von Gegenständen 10 L. Kühne, Gegenstand und Raum, Dresden 1981, S. 262f. Achim Trebess 396 oder eben doch Askese, wenn nicht gar die Verliebtheit in Formen und Stile. Dann steht nicht ein Bild des wirklichen Nutzers, wie er werden könnte, im Zentrum, sondern ein ideologisiertes Bild vom Nutzer oder das vom Designer als Künstler. Beides überschreitet m. E. die Grenzen des Funktionalismus. Wie sich die Bedingungen für die ständige Neuformulierung des Programms ändern und die seiner Durchsetzungsmöglichkeiten, so auch die Gefahren beim Versuch seiner Umsetzung. Aus diesem Dilemma sind Funktionalisten, seit es sie gibt, nicht herausgekommen. Aber das ficht sie nicht an. ' ' " 11 Die Industrialisierungsperiode ist vorbei. Die Utopien sind widerlegt, die Verbindung zur Vergangenheit ist zerrissen. Die Großstadt ist zur chaotischen Megacity geworden, die sozialen Klassen zu sozialen Milieus. Dienstleistungs-, Konsum - oder Medieng esellschaft auf der Basis elektrischer und elektroni scher Geräte bestimmt die Gegenwart. Der Postmodernist ist zerrissen; Charles Jencks, der es wissen muss, spricht gar von (bewusster) „Schizophrenie“. 12 Er ist zerrissen zwischen Moderne und Posthistoire, zwischen Elite und Masse, zwischen Markt und gestalterischer Freiheit, zwischen Kunst und Design, zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Ernst und Ironie, zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen Verantwortung und Zynismus, zwischen Ende und Anfang. Aber er leidet daran nicht. Er versucht, ein fröhlicher Mensch zu sein. Das muss er, denn er ist angetreten gegen den Ernst der historischen Avantgarde und gegen die Gewalt der Kommerzialisierung. „Postmodernes Design sucht die Schlupfwinkel, die noch nicht von den Leitbildern der Warenwerbung, den ästhetischen Normen des Kleinbürgertums und dem vermarkteten Funktionalismus besetzt sind.“ 13 Der Postmodernist erneuert das Design, indem er zum Künstler wird. Er wechselt vom Designzum Kunstprozess. Er ist nicht mehr in der Industrie tätig, sondern Kleinproduzent. 14 Damit entzieht er sich dem Markt - der zudem gesättigt ist -, erobert als Designer den Kunstmarkt, die Ausstellungen, Galerien und Zeitschriften, das Fernsehen und die neue, bunte Welt der Medien. Er hat, darauf legt er Wert, keine Utopie, er kennt keine teleologisch 11 Ich stütze mich in diesem Abschnitt auf einen Text von Heinz Hirdina: H. Hirdina, „Postmodernismus: Experiment oder Produktleitbild? “ in: ders., Am Ende ist alles Design. Texte zum Design 1971-2004, op. cit. 12 Ch. Jencks, „Die Sprache der postmodernen Architektur“, in: W. Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 86. 13 H. Hirdina, „Postmodernismus: Experiment oder Produktleitbild? “, op. cit. S. 129. 14 Vgl. ibid., S. 127. - Subjekt und Design 397 verlaufende Geschichte, nur ihr Material, mit dem er die Gegenwart überschüttet. Er verzichtet auf das Projekt. Als Künstler nur kann es ihm gelingen, sich der Arbeitsteilung zu entziehen und wieder die spielerische Freiheit des ganzen Subjekts zu genießen, das ihm dennoch als Illusion erkennbar geworden ist. Er „redigiert“ die Moderne (Lyotard), weil sie ihm Gelegenheit dazu gibt und keine andere Chance lässt. Denn die avantgardistische Utopie der Subjektwerdung der Massen erweist sich seit dem Zweiten Weltkrieg als Trugbild. Dem postmodernen Designer, der in der ersten Liga spielen will, hat die Avantgarde dennoch nur wenige Spielräume übrig gelassen: Die Stühle von Thonet, Marcel Breuer und Mies van der Rohe sind nicht zu überbieten - nur ironisieren kann man sie, und das, was doch zum funktionalistischen Dogma geworden ist, mit Angriffslust zerbrechen. Ideologische Verkrampfungen werden mit kindlicher, zugleich hochintellektueller Freude am Trivialen und Banalen konterkariert. Diese Ironisierung stiftet ein neues Experiment: die Rückkehr zur Tradition als fröhlichem Eklektizismus, die Rückkehr zum Ornament durch die Erfindung neuen Kitsches auf modernster technischer Grundlage und die Explosion der Farbigkeit und des Spiels mit Materialien - dies alles bei gleichzeitiger Zerstörung der Symmetrie, der Hierarchie und der Harmonie durch selten aggressive, sondern meist satirische Dissonanz. Das Schräge wird sein Charakteristikum. Es wird imitiert und zitiert, es ist Design zum Lesen, zum Schauen, zum Bewundertwerden, zum Lächeln. Der Nutzer wird zum Betrachter. Dennoch: Dieses Experiment belebt das Design, es strahlt aus auch auf diejenigen, die beim Entwerfen für die praktischen Bedürfnisse des Nutzers bleiben. Was Gropius zu bezwingen suchte, der „Dämon“ 15 Technik, wird nun zum selbstverständlichen Ausgangspunkt; zugleich bekommt die Technik etwas Mysteriöses, wird zur „Technik, die ästhetisch fasziniert, rational aber nicht durchschaubar ist“. 16 Doch die Palette dessen, was der Postmodernist entwirft, ist überschaubar. Heinz Hirdina beschreibt sie: Nicht von Bürotechnik, nicht von Fernseh- und Phonotechnik, nicht von Maschinen und Geräten ist die Rede, sondern von Leuchten, von Vasen in Hülle und Fülle, von Sideboards, Servierwagen, Regalen, Kommoden und anderen Behältnissen, von Stühlen, Sesseln und Sofas, von Teekannen, Töpfen und Fruchtschalen, von Dessins für Plast und Textilien. Die Rede ist also vom Interieur der Wohnung, nicht von Arbeitsumwelt und nicht vom Interieur der Stadt, nicht vom Design für 15 W. Gropius, „Die Tragfähigkeit der Bauhaus-Idee“, in: H. M. Wingler (Hrsg.), Das Bauhaus. Weimar, Dessau, Berlin 1919-1933, Köln 2002, S. 63. 16 H. Hirdina, „Postmodernismus: Experiment oder Produktleitbild? “, in: op. cit., S. 128. Achim Trebess 398 Kranke und Behinderte, nicht von Spielzeug für Kinder, auch nicht von jenem Design, das in der Wohnung Arbeit spart und Pflege erleichtert, nicht also von Bädern und Küchen, nicht von Dingen, die uns hautnah berühren wie die Eßwerkzeuge. 17 Der Körper wird auf Distanz gehalten, man arbeitet für das Auge, verwöhnt es nach der Dominanz des Grauen. Diese Verweigerung ist Protest: Es ist noch einmal gelungen, Design zu produzieren, das sich der Moderne nicht widersetzt, wohl aber der Massenproduktion. Die Lenkung der Innovation auf die Form und die Ironisierung der Funktion bei gleichzeitigem Funktionieren der Gegenstände entziehen sich der Kommerzialisierung - aber man muss nicht arm bleiben dabei, weder in finanzieller noch in kreativer Hinsicht. Funktionsveränderungen allerdings gibt es kaum. Man spielt das Spiel der Kreativität - und man spielt es gut. Man kann sich zugleich außerhalb und innerhalb der Arbeitsteilung als Subjekt inszenieren - die betuchten Sammler sammeln die originellen, teuren Objekte, und der kleine Nutzer schaut lächelnd zu. ' ) ? Der Stylist ist der Designer der Überflussgesellschaft. Er betritt während der amerikanischen Wirtschaftskrise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Bühne mit dem Ziel oder dem Auftrag, den Konsum und damit die Konjunktur wieder anzukurbeln. Das hier entstehende Phänomen des Styling ist direkt übertragbar auf die Kommunikations- und Mediengesellschaft, da es den Symbolwert von Gegenständen an die erste Stelle stellt, nicht den Gebrauchswert. Die Produktion von Zeichen tritt in den Vordergrund. Mittlerweile ist Styling die marktbeherrschende Strategie bei der Gestaltung gegenständlicher und kommunikativer Produkte. Michael Suckow dazu: „S[tyling] hat ... die Tendenz, zum allgemeinen produktkulturellen Prinzip zu werden: Die Verpackung, die Werbung und schließlich die gesamte Konsumtions- und Gebrauchssphäre einschließlich der Mentalitäten der Konsumenten / Nutzer werden zu modellieren versucht.“ 18 Kaum ein Designer wird zum Stylisten ausgebildet, doch der Druck des Marktes lässt funktionalistische Gestaltungshaltungen nicht selten zerbröseln. Bei diesem Typ wird mehr als bei den anderen deutlich, dass Design es nicht nur mit dem Subjekt des Gestalters und dem des Nutzers zu tun hat, sondern mit vielen weiteren, die es so weit treiben können, dass das Subjekt Designer schließlich zum Objekt wird. Der Stylist hält sich nicht vor allem an 17 Ibid., S. 127. 18 M. Suckow, „Styling“, in: A. Trebeß (Hrsg.), Lexikon Ästhetik. Design, Kunst, Medien, Alltag, Stuttgart-Weimar 2006, S. 369. Subjekt und Design 399 den Nutzer - er ist ihm ausschließlich Objekt der Verleitung zum Kauf -, sondern er hält sich an den Eigentümer und Auftraggeber. Auch der ist inzwischen nicht mehr als Individuum greifbar, was eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung des Styling befördert: Verantwortungslosigkeit. Peter V. Zima beschreibt die Veränderung so: „Nicht der individuelle Unternehmer ist für Entscheidungen und Ereignisse im wirtschaftlichen und sozialen Bereich verantwortlich, sondern komplexe Verwaltungsapparate und Kommunikationsprozesse, die die persönliche Verantwortung zwar nicht verschwinden, aber sekundär erscheinen lassen.“ 19 Das hat Folgen für den gesamten Designprozess, hier nur vorgeführt am Designer und Nutzer. Es entsteht eine neue Struktur des Designprozesses, die wiederum Michael Suckow beschreibt: In den meisten Unternehmen in den USA werden im Verlauf der 1950er Jahre die Designabteilungen aus dem Bereich Konstruktion und Fertigung in das Ressort Marketing verlagert. Designkonzeptionen werden von nun an primär nach den Richtlinien der Verkaufstrategie entwickelt. Die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich entfaltende Massenkonsum- und Überproduktionsgesellschaft entwickelt im sich verschärfenden Konkurrenzkampf eine Doppelstrategie: die vehemente Rationalisierung der Produktion und das warenästhetische S[tyling] der Produkte, schließlich die entsprechende Modellierung der Konsumtionssphäre insgesamt. 20 Es handelt sich auf Seiten des Gestalters um eine Kreativitätsreduktion, zumindest aber um die Verlagerung der Kreativität von der Funktionsgestaltung zur Inszenierung des Gegenstandes vor allem als Verpackung. Wenn es überhaupt um Funktionserneuerung geht, dann ist es entweder eine Modifikation vorhandener Funktionen, oder es ist die Entdeckung vermarktungsfähiger Neuentwicklungen, die nicht zuerst auf die Befriedigung oder Veränderung des Nutzers zielt, sondern auf seine Verführung. Nicht nur die Verpackung des Gegenstandes rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der Gegenstand selbst wird tendenziell zur Verpackung. Diese Tendenz hat Wolfgang Fritz Haug bereits in den 1970er Jahren beschrieben. Es ist der Grundzusammenhang des Styling bzw. der von Haug so genannten Warenästhetik: Hinfort [nach dem Vermitteln von Tauschakten mit Hilfe des Geldes - AT] wird bei aller Warenproduktion ein Doppeltes produziert: erstens der Gebrauchswert, zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswertes. Denn bis zum Verkauf, mit dem der Tauschwertstandpunkt seinen Zweck erreicht, spielt der Gebrauchswert tendenziell nur als Schein eine Rolle. 21 19 P. V. Zima, „Subjekt“, in: ibid., S. 371. 20 M. Suckow, „Styling“, in: ibid., S. 369. 21 W. F. Haug, „Zur Kritik der Warenästhetik“, in: W. Henckmann (Hrsg.), Ästhetik, Darmstadt 1979, S. 423. Achim Trebess 400 Verändert hat sich seitdem, dass der Gegenstand selbst in seiner äußeren Gestalt Verpackung geworden ist, Hülle. Der Designer wird als Stylist zum Gestalter dieses Scheins. Auch dies ist ein soziales Programm, ohne dass es als solches artikuliert wird. Sein Inhalt ist die Konstitution des Nutzers: nicht als Produzent seines eigenen Lebens und Zusammenlebens mit anderen, sondern als Objekt des Konsums eines von anderen für ihn vorbestimmten Lebens, das seinen Höhepunkt im Verbrauch von Gegenständen findet, die so schnell als möglich durch andere, neuere Gegenstände ersetzt werden sollen. Es ist kein Erziehungsprogramm; die Gegenstände versprechen ein erfülltes Leben, ohne das Versprechen einlösen zu können oder zu wollen, denn das Versprechen muss permanent erneuert werden. Erfüllung findet Styling nicht in einzelnen Gegenständen, sondern im Kreislauf der Gegenstände vom Versprechen zur Vermüllung. 22 Aber man soll sich nicht täuschen. Spaß macht das den Gestaltern trotzdem. Denn der Austausch der Leitkategorie der Verantwortung durch die des permanent erneuerungsbedürftigen Vergnügens und Wohlfühlens betrifft auch den Stylisten - es ist durchaus seine eigene Lebensvorstellung, die er zur Grundlage seiner Entwürfe macht. Das Spektrum reicht von herziger Naivität über mephistophelisches Vergnügen an der eigenen Überzeugungsmacht bis hin zu bloßem Zynismus oder schierer Existenzangst. Freude am Styling entsteht nicht nur, weil es den Absatz von Gegenständen auf lange Sicht nur geben kann, wenn sich auch tatsächliche Gebrauchseigenschaften erhalten und verändern, wenn sich also auch der Stylist innerhalb seiner Grenzen funktionalistisch verhält, sondern weil die diabolische Rolle der Erfindung des Scheins offenbar nicht ohne Reiz ist. Der von sozialer Verantwortung sich frei fühlende - oder sich ihr beispielsweise durch ökologische Rücksicht auf der Ebene des einzelnen Produkts verpflichtet glaubende - Stylist unterwirft sich der Arbeitsteilung und den Macht- und Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Industrie freudig. Er entfaltet seine Kreativität als Verführer. Er hat Freude daran, wenn ihm die Leute in seinen durch Konsum bestimmten Lebensvorschlägen folgen, wenn er bestimmen kann, was „in“ ist, wenn er Lebensstile setzen kann. Er wendet sich an das Unbewusste, erkundet dieses Terrain, um es in Gestaltungen umzusetzen, die in der Psycho-Logik des gegenwärtigen Konsumenten als Verlockung wirken müssen. Die vermeintlichen „Urtriebe“ werden angesprochen, vor allem die Verbindung von Sexualität und Macht: So kommen die Haifischflossen ans Auto, mit denen er seine Tätigkeit begann. Er selbst will an dieser Macht teilhaben und hat gelernt, dass Unterwerfung unter sie die Voraussetzung dafür ist. So unterwirft er andere seiner Gestaltungsmacht. 22 Vermüllung ist ein Begriff, den Lothar Kühne eingeführt hat: L. Kühne, Gegenstand und Raum, op. cit., S. 212. Subjekt und Design 401 Das ist nicht ganz so einfach, wie es sich hier anhören mag, die Entwürfe allein genügen nicht, es muss zudem eine gigantische Werbemaschinerie in Bewegung gesetzt werden, in der die Stylisten ebenfalls ein reiches Betätigungsfeld finden. Sicher, die Widersprüche dieses Gestaltertyps genauer unter die Lupe zu nehmen, wäre ratsam und ist bisher kaum geschehen - doch das wäre ein eigenes Thema. Nur eines sei angemerkt: Für den mitunter skrupulösen Stylisten finden sich Argumente, die seine Tätigkeit rechtfertigen. Innerhalb des Rahmens der „Überflussgesellschaft“ ist das auch kein Problem, denn wenn man sie als gegeben nimmt, dann ist der Konsum als Konjunkturmotor nicht nur in Gang zu halten, sondern zu beschleunigen. Dieses Denken glaubt, sich unter den Bedingungen der ökologischen Krise dadurch rechtfertigen zu können, dass die Umweltverträglichkeit von Produkten selbst zum Verkaufsmerkmal oder doch wenigstens zum Verkaufsversprechen wird. Mitunter wird Styling auch als Kunst begriffen, damit hat sich bereits Tomás Maldonado 1958 auseinandergesetzt (die HfG Ulm ist die erste Institution, die sich mit dem Styling beschäftigte). Er meinte: Der Engländer Rayner Banham machte vor kurzem den Vorschlag, das ‚Styling‘ als ‚Volkskunst‘ zu betrachten. Das ‚Styling‘ des Autos gehöre dem gleichen Ausdrucksbereich an wie der Film, die illustrierten Zeitschriften, die ‚Science Fiction‘, die ‚comics‘, der Rundfunk, das Fernsehen, die Tanzmusik, der Sport. Nach Banhams Meinung wären die Autos nicht nur Gebrauchsgegenstände, sondern auch Symbolträger. 23 Design wechselt in die Sphäre der Kulturindustrie. Volkskunst wird es dadurch natürlich nicht, denn das Volk gestaltet diese Produkte nicht, das machen die Gestalter immer noch selbst; es ist bestenfalls Kunst für das Volk, und in vielen Fällen keine Kunst, sondern Kitsch. Styling ist auch längst nicht mehr beschränkt auf Gestaltung für „das Volk“, sondern hat sich auf die Erfindung und Vertiefung der „feinen Unterschiede“ verlegt, von denen Pierre Bourdieu gesprochen hat. Styling ist in nicht wenigen Designbereichen feiner und intelligenter geworden. Die Haltung jedoch, die hier dem Nutzer gegenüber eingenommen wird, ist die dem Funktionalismus entgegengesetzte. Falls unter der Dominanz funktionalistischer Intentionen das Volk zuweilen als Objekt begriffen wird, dann doch immerhin als Objekt der Erziehung, nicht als Objekt des Wirtschaftskreislaufes, der nur läuft, wenn konsumiert wird, was produziert werden kann. 23 T. Maldonado, „Neue Entwicklungen in der Industrie und die Ausbildung des Produktgestalters“, in: V. Fischer, A. Hamilton (Hrsg.), Grundlagentexte zum Design, op. cit., S. 56. Achim Trebess 402 Auch kulturelle Argumente werden offeriert; dem Styling wird dann die Funktion zugesprochen, positiven Einfluss auf Lebensstile zu nehmen, die von allein nicht zustande gekommen wären. Die Ästhetisierung der Lebenswelt wird dabei als ihre Verschönerung begriffen. Auch das allerdings setzt nicht außer Kraft, dass es Lebensstile sind, die nicht die kulturelle oder ästhetische Emanzipation, sondern den Konsum zum Ziel haben. Das beschädigt entweder die kulturelle oder ästhetische Absicht oder überschreitet das Styling. ' * Um den Nutzer dreht sich alles im Design. Er ist natürlich nicht zu fassen. Er ließe sich zwar ebenfalls in Typen sperren, aber es wäre keine Typologie, die der bisher entwickelten entsprechen würde. Es gibt nicht den funktionalistischen Nutzer, den stylistischen und den postmodernen. Auch die so beliebte Einteilung in Zielgruppen änderte daran wenig. Der Funktionalist sowieso, aber auch der Stylist und der Postmodernist meinen potenziell alle Nutzer. Der Funktionalist zielt auf die mögliche Zukunft des bedürftigen Nutzers, den er der jeweiligen Gestaltungsaufgabe entsprechend konkretisiert - es macht einen Unterschied, ob man ein Theater entwirft oder die Frankfurter Küche. Er will den Nutzer selbst zum Gestalter machen, zum Gestalter des eigenen Lebens, zumindest aber zum Mitgestalter seiner räumlich-gegenständlichen Umgebung. Der Postmodernist unterteilt vor allem in Elite und Masse und sucht nach Gestaltungen, die den Ironiebedarf der Elite befriedigen, aber zugleich der Masse den aus postmoderner Sicht gewünschten (intelligenten) Kitsch bieten, und eigentlich ist er, ein Hedonist, selbst der entscheidende Nutzer in seinem Drang nach Artikulation auf der Bühne der Sozialität, im Drang nach dem Ausbruch aus Gestaltungskonventionen und dem Vermarktungsdruck gleichermaßen. Dem Stylisten dagegen erscheint der Nutzer vor allem als marketingtechnisch zu erobernde Zielgruppe. Er schreibt den Nutzer in seinen gegenwärtigen Subjektqualitäten fest und lauscht ihm Verführungsmöglichkeiten ab, die ihm die Brieftasche öffnen könnten. Was sich unterscheidet, sind also die Bilder vom Nutzer. Darüber ist diskutiert worden. Hier, am Ende, lässt es sich in einem Satz zusammenfassen. Drei Bilder vom Nutzer sind erkennbar geworden: Der Nutzer als Subjekt, das ist das Bild des Funktionalisten; der Nutzer als Betrachter, auf den die Postmoderne zielt; und der Nutzer als Käufer, dem der Stylist auf der Spur ist. Dieser eine Satz lässt sich lange erweitern: Der eine verhält sich zum Nutzer idealerweise dialogisch, der andere monologisch, der dritte verführend. Der eine sucht nach Problemlösungen, der zweite nach Zerstreuung, der dritte Subjekt und Design 403 sucht die Schwachstellen. Der erste begreift sich als Diener des Nutzers, der zweite als Selbstdarsteller, der dritte als Knecht - seines Herren. Transparenz ist das Leitbild des ersten, Verwirrung das des zweiten, Verpackung die Lebensaufgabe des dritten. Sparsamkeit ist Gesetz für den ersten, Originalität für den zweiten, Verschwendung auf Höchst- oder Tiefstpreisebene für den dritten. Ausnahmen gibt es überall, Schnittmengen ebenso; die Bilder vom Nutzer treffen die Realität des wirklichen Nutzers nie ganz, und keiner der drei Gestaltertypen hat eine völlig weiße Weste, obwohl der Funktionalist sich darum am meisten bemüht, der Postmodernist an weiße Westen nicht mehr glaubt und der Stylist sie nicht mehr zu brauchen meint. Soweit die gewiss nicht hinreichende Beschreibung dreier Designertypen und ihres Verhältnisses zum vierten Gestalter, dem Nutzer. Kein Gestalter wird einem dieser Gestaltertypen völlig entsprechen, und im „wahren Leben“ werden Dominanzverhältnisse und Mischformen die Regel sein. Niemand ist nur und ausschließlich Stylist, und fast jeder Gestalter hat mindestens einmal im Leben auch seine „funktionalistische“ Periode. ) > S Kann man aus alldem irgendetwas schlussfolgern? Ihnen wird sicher aufgefallen sein, dass ich zur Charakterisierung der Subjekttypen oder Gestaltungshaltungen Zitate und Theorien benutzt habe, die vor allem in den 50er bis 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden sind; es ging um das Gestalten von Gegenständen, nicht um die Arbeit in und mit den neuen Medien. Mein Eindruck ist, dass in der Designtheorie seitdem nichts Wesentliches geschehen ist. Was neu an ihr ist, folgt dem Marketing, dem Feuilleton oder geht in Medientheorie über, etwa wenn versucht wird, Design mit Begriffen der Rhetorik zu fassen. 24 Dass die neuen Medien für die Entwicklung des Design, für den Entwurfsprozess und die Designtheorie folgenreich sind, ist unbestritten - allerdings böte die für das Produktdesign nötige Konzentration auf die Körperlichkeit von Menschen die Möglichkeit nicht nur der Problematisierung der neuen Medien (statt Unterwerfung unter sie und unter die vorhandenen Medientheorie), sondern könnte helfen, auf deren Entwicklungsrichtung Einfluss zu nehmen. Erste Ansätze dafür gibt es unter dem Stichwort der Tangibi- 24 Vgl. G. Joost (Hrsg.), Design als Rhetorik, op. cit. Achim Trebess 404 lity. 25 Vielleicht könnte hier ein neuer Typ von Designern entstehen oder doch eine neue Variante vorhandener Typen. Andere Anknüpfungspunkte für theoretische Arbeit gäbe es ebenfalls genug, ich möchte zwei nennen: Wolfgang Welschs Begrifflichkeit der Ästhetisierung und Anästhetisierung hat auch eine designtheoretische Dimension, die ausgearbeitet werden könnte. Schärfer noch: Wenn man Walter Benjamins Auffassung, dass die Ästhetisierung von Kunst (aber vielleicht auch die von Design) zum Krieg führe, nicht nur für die dreißiger Jahre gelten lassen will, wird die Dringlichkeit solcher Beschäftigung erkennbar. Friedrich Kittlers Herleitung der modernen Medien aus dem Militär läßt eine solche Denkrichtung wieder aktuell werden. Nicht weniger wichtig ist, dass die Designtheorie den neuen Wegen, die das Design seither gegangen ist, zu folgen hätte: Das so genannte Kommunikationsdesign und Mediendesign hat neue Typen von Gestaltungen, neue Gestaltungswerkzeuge, einen neuen Designprozess und ebenfalls neue Typen von Gestaltern hervorgebracht. Sie sind den beschriebenen Typen nicht unähnlich - aber identisch sind sie nicht mit ihnen. Hier findet die Designtheorie heute statt - das heißt: hier müsste sie stattfinden. Sie ist durch die Medientheorie abgelöst worden, die jedoch designspezifische Fragen bestenfalls am Rande verhandelt (wenn man von Vilém Flusser absieht, dessen Designtheorie allerdings medientheoretisch geprägt ist, sonst würde er nicht so vehement die Gegenständlichkeit in Frage stellen). Substanzielle Beiträge zu diesen neuen Entwicklungen des Design - zu einer neuen Epoche - finden sich eigentlich nur in der Designzeitschrift form+zweck. Die neuen Themen dieser Diskussion sind das Schwinden der Gestaltungsmacht des Designers und die Möglichkeiten, sie wiederzugewinnen (was vermehrte Auseinandersetzungen der Designer mit ungewohnten Gebieten - auch mit denen der Theorie, der Politik und Ökonomie - voraussetzte), sowie die Bedeutung des Körpers für den Entwurfsprozess und natürlich für den Nutzer selbst. Die neuen Medien (ebenso wie der demographische Wandel) fordern die Designtheorie m. E. heraus, sich dem Thema des Körpers, auch dem des Alterns und generell dem der Sterblichkeit von Menschen zu stellen. Hier läge ihr spezifischer Zugriff. Denn die Nutzer von Design bleiben noch „innerhalb“ der virtuellen Welten körperliche Wesen. Ob funktionalistisch, postmodernistisch oder stylistisch - der Adressat aller hier geschilderten gestalterischen Bemühungen ist der ein Körper seiende und habende Nutzer. Ich habe mich für diese Typologie von Gestaltersubjekten und Gestaltungshaltungen entschieden, weil sie an Relevanz durch die 25 Vgl. Tangibility of the Digital - Die Fühlbarkeit des Digitalen, in: form+zweck 22, Berlin 2008. Näheres dazu findet sich auf der Internetseite von form+zweck: http: / / www.formundzweck.de/ Subjekt und Design 405 neuen Entwicklungen nicht verloren hat. Es käme nun aber darauf an, die beiden Linien designtheoretischen Denkens - die neue medientheoretische und die bis in die 80er Jahre selbstverständlich die Körperlichkeit des Nutzers voraussetzende - miteinander in Beziehungen zu setzen. Das ist ein Desiderat, das wäre der Schritt, der nun folgen könnte. # Gropius, W., „Bauhaus Dessau - Grundsätze der Bauhausproduktion“, in: V. Fischer, A. Hamilton (Hrsg.), Grundlagentexte zum Design, Bd. II, Frankfurt/ M. 1999. Gropius, W., „Die Tragfähigkeit der Bauhaus-Idee“, in: H. M. Wingler (Hrsg.), Das Bauhaus. Weimar, Dessau, Berlin 1919-1933, Köln 2002. Haug, W. F., „Zur Kritik der Warenästhetik“, in: W. Henckmann (Hrsg.), Ästhetik, Darmstadt, 1979. Heinen, U., „Bildrhetorik der Frühen Neuzeit - Gestaltungstheorie der Antike. Paradigmen zur Vermittlung von Theorie und Praxis im Design“, in: G. Joost, A. Scheuermann (Hrsg.), Design als Rhetorik, Basel-Boston-Berlin 2008. Hirdina, H., „Das Faustische im Design“, in: D. Nehls, H. Staubach, A. 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Zima (Titel, die für die Subjektproblematik von Bedeutung sind, wurden fett gedruckt.) I. Bücher als Autor 1. Le Désir du mythe. Une lecture sociologique de Marcel Proust, Paris, Nizet, 1973. 2. Goldmann. Dialectique de l’immanence, Paris, Editions Universitaires/ Delarge, 1973. (Spanische Übers.: Goldmann. Para una sociología dialéctica, Barcelona, Mandragora, 1975. Übersetzer : J. Sarret Grau.) 3. L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, Editions Universitaires / Delarge, 1974. Neue überarbeitete und ergänze Aufl.: Paris, L’Harmattan, 2005. (Spanische Übers.: La Escuela de Frankfurt. Dialéctica de la particularidad, Barcelona, Galba, 1976. Übersetzer: F. Parcerisas.) (Italienische Übers.: La Scuola di Francoforte. Dialettica della particolarità, Mailand, Rizzoli, 1976. Übersetzerin: M. G. Merriggi.) 4. Kritik der Literatursoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978. 4a. Pour une sociologie du texte littéraire, Paris, UGE, 10/ 18, 1978, Paris, L’Harmattan, 2000 (2. 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Sartre, Moravia, Camus, Paris, Le Sycomore, 1982, 2. korrigierte Aufl.: Montpellier, CERS, 1988, Paris, L’Harmattan, 2005 (Nachdruck). 8a. Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia und Camus, Stuttgart, Metzler, 1983, korrigierte Neuauflage: Trier, WVT, 2004 (erw. deutsche Fassung von 8). 9. Manuel de Sociocritique, Paris, Picard, 1985, Paris, L’Harmattan, 2000 (2. Aufl. mit einer ergänzten kommentierten Bibliographie; der erste Teil ist eine erw. Fassung von 7). (Italienische Übers.: Manuale di Sociocritica, Neapel, Dick Peerson Editore, 1986. Übersetzerin : E. D’Ambrosio). (Koreanische Übers.: Munhagui Shahoebipyongron, Seoul, Taehaksa 1996. Übersetzer: Jeong Su Cheol.) 10. Breve introduzione alla sociologia del testo, Neapel, Libreria Sapere, 1985 (mit einem Aufsatz von E. Köhler im Anhang: Sistema dei generi letterari e sistema della società). 11. Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, W. Fink Verlag, 1986, 1999 (Nachdruck). (Koreanische Übers.: Shosholgwa Ideologi, Seoul, Munye Chulpansa, 1996. Übersetzer: Sheo Yeong Shang, Kim Chang Ju.) 12. Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989. („Woitschach-Forchungspreis 1993“ im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Bonn 1993.) (Koreanische Übers.: Ideologiwa Iron, Seoul, Munhak-kwa-Jiseong- Sa, 1996, Übersetzer: Hur Tschang-Un, Kim Tae Hwan.) 13. Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke UTB, 1991, 1995 (2. Aufl.). (Koreanische Übers.: Munye Mihak, Seoul, Ulyumunhwasa, 1993. Übersetzer: Hur Tschang Un.) (Tschechische Übers., vom Autor revidiert: Literární estetika, Olmütz, Votobia, 1998. Übersetzer: J. Schneider.) Schriftenverzeichnis 409 14. Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke UTB, 1992, 2011 (2. überarbeitete und um zwei neue Kapitel ergänzte Aufl.). (Tschechische Teilübers., Kap. II-VII: „Komparatistika“, in: D. Ture ek Hrsg., Národní literatura a komparatistika, Brünn, Host, 2009. Übersetzerin: Z. Adamová.) (Chinesische Übers.: Bijao Wenxue Daolun, Schanghai, 2010. Übersetzer: Jin Fan.) 15. La Déconstruction. Une critique, Paris, Presses Universitaires de France, 1994, Paris, L’Harmattan, 2007 (korrigierte und leicht erw. Fassung). (Arabische Übers.: Beirut, 1996.) (Italienische Übers., vom Autor revidiert: Derrida e la decostruzione, Chieti, Edizioni Solfanelli, 2007. Übersetzer: C. Bordoni.) 15a. Die Dekonstruktion. Eine Kritik, Tübingen-Basel, Francke UTB, 1994 (erw. Fassung von 15). (Koreanische Übers.: Seoul, Munhakdongne Publishing, 2001. Übersetzer: Kim Tae Hwan.) (Englische Übers., vom Autor revidiert und ergänzt : Deconstruction and Critical Theory, London-New York, Continuum, 2002, Nachdruck 2005, 2. Aufl.: London, Turnshare, 2007. Übersetzer: R. Emig.) 16. Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke UTB, 1997, 2001 (2. Aufl.). (Koreanische Übers.: Modern/ Postmodern, Seoul, Munhak-kwa- Jiseong-Sa, 2010. Übersetzer: Kim Tae Hwan.) 16a. Modern/ Postmodern. Society, Philosophy, Literature, London- New York, Continuum, 2010 (verbesserte und erw. engl. Fassung von 16). 17. The Philosophy of Modern Literary Theory, London-New Brunswick, Athlone-Continuum, 1999, 2005 (Nachdruck). (Türkische Übers.: Modern edebiyat teorilerinin felsefesi, Ankara, HECE Yayinlari, 2005. Übersetzer: M. Özsari.) 17a. Critique littéraire et esthétique. Les fondements esthétiques des théories de la littérature, Paris, L’Harmattan, 2004 (leicht erw. Fassung von 17). 18. Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke UTB, 2000, 2010 (3. Aufl., Nachdruck der überarbeiteten 2. Aufl.). Peter V. Zima 410 19. Bipanjok Munhagirongwa Mihak, Seoul, Munhak-kwa-Jiseong-Sa, 2000 (koreanische Übers. von: Literaturtheorie, in: W. Rickleffs Hrsg., Fischer Literaturlexikon, Frankfurt, Fischer, 1996 sowie Der Mythos der Monosemie. Parteilichkeit und künstlerischer Standpunkt, in: H.-J. Schmitt Hrsg., Einführung in Theorie, Geschichte und Funktion der DDR-Literatur, Stuttgart, Metzler, 1975. Übersetzer: Kim Tae Hwan.) 20. Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2001. 21. La Négation esthétique. Le Sujet, le beau et le sublime de Mallarmé et Valéry à Adorno et Lyotard, Paris, L’Harmattan, 2002. 21a. Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2005 (leicht erw. Fassung von 21). 22. Théorie critique du discours. La discursivité entre Adorno et le postmodernisme, Paris, L’Harmattan, 2003. 23. Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke UTB, 2004. 23a. What is Theory? Cultural Theory as Discourse and Dialogue, London- New York, Continuum, 2007 (erw. Fassung von 23). 24. Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen-Basel, Francke, 2008. 25. Narzissmus und Ichideal. Psyche, Gesellschaft, Kultur, Tübingen- Basel, Francke, 2009. 26. Komparatistische Perspektiven. Theoriebildung in der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011. II. Bücher als Herausgeber und Mitherausgeber 1. Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977. 2. Semiotics and Dialectics. Ideology and the Text, Amsterdam, J. Benjamins, 1981. 3. Degrés 25-26: „Texte et idéologie“, Brüssel 1980/ 81. 4. Europäische Avantgarde, Frankfurt-Paris-Bern, Peter Lang, 1987 (mit J. Strutz). Schriftenverzeichnis 411 5. Komparatistik als Dialog, Frankfurt-Paris-Bern, Peter Lang, 1991 (mit J. Strutz). 6. Literatur intermedial. Musik - Malerei - Photographie - Film, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995, London, Turnshare, 2009 (Nachdruck). 7. Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur, Tübingen, Gunter Narr, 1996 (mit J. Strutz). 8. Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Gunter Narr, 2000. 9. Strategien der Verdummung. Infantilismus in der Fun- Gesellschaft, München, Beck, 2001 (mit J. Wertheimer). 10. Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen, Francke, 2004 (mit R. Kacianka). 11. Kritische Theorie heute, Bielefeld, Transcript, 2007 (mit R. Winter). III. Artikel in Zeitschriften, Sammelbänden und Lexika 1. Objet trouvé/ Sujet perdu, in: Les Lettres nouvelles, Sept./ Okt., 1972. 2. Le Philosophe exilé, in: Les Lettres nouvelles, Dez./ Jan., 1972/ 73. 3. L’Aura, in: Les Lettres nouvelles, Sept./ Okt., 1974 (als Kap. in : I.3.). 4. Le Caractère double du texte, in: Les Lettres nouvelles, Sept./ Okt., 1975 (als Kap. in: I.4/ I.4a). 5. Der Mythos der Monosemie. Parteilichkeit und künstlerischer Standpunkt, in: H.-J. Schmitt Hrsg., Einführung in Geschichte, Theorie und Funktion der DDR-Literatur, Metzler, 1975 (frz. Fassung in: I.4a, kor. Übers. in 19). 6. Leo Löwenthal: l’immagine cancellata, in: La Scuola di Francoforte, Mailand, Rizzoli, 1976 (geschrieben für die ital. Übers., von M. G. Merriggi übersetzt; die frz. Originalfassung wurde in die erw. Ausgabe von 2005 aufgenommen). 6a. Leo Löwenthal: l’image effacée, in: X-Alta 7, 2003 (leicht geänderte frz. Fassung von 6). Peter V. Zima 412 7. De la structure textuelle à la structure sociale, in: Revue d’Esthétique 2, 1976 (als Kap. in: I.4 / I.4a). 8. Literary Reception-Literary Production: Two Ideological Concepts, in: Comparison, Winter, 1976. 8a. „Rezeption“ und „Produktion“ als ideologische Begriffe, in: P. V. Zima Hrsg., Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977 (erw. dt. Fassung von 8). 9. Diskurs als Ideologie, in: Textsemiotik als Ideologiekritik, op. cit., 8a. 10. Literatuur en geschiedenis als teksten, Groniek, Groningen, Herbst, 1977. 10a. L’Histoire dans le texte, in: Revue de l’Université de Bruxelles 3-4, 1979 (frz. Fassung von 10). 11. La Mise en scène de la dialectique, in: A. Goldmann, M. Lowy, S. Naïr Hrsg., Le Structuralisme génétique, Paris, Denoël, 1977. 12. Le Texte comme objet: une critique de la sociologie empirique de la littérature, in: L’Homme et la Société 43-44, 1977 (als Kap. in: I.4 / I.4a). 13. Dialektik zwischen Totalität und Fragment, in: H.-J. Schmitt Hrsg., Der Streit mit Georg Lukács, Frankfurt, Suhrkamp, 1978. 14. Krise des Subjekts als Krise des Romans. Überlegungen zur Kritischern Theorie und den Romantexten Prousts, Musils, Kafkas und Hesses, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4, 1978 (als Kap. in: I.11.). 15. Literatuursociologie als tekstsociologie, in: Ch. Grivel Hrsg., Methoden in de literatuurwetenschap, Muiderberg, Coutinho, 1978. 15a. Pour une sociologie de l’écriture, in: A. Kibédi-Varga Hrsg., Théorie de la littérature, Paris, Picard, 1981 (erw. Fassung von 15). (Ital. Teilübers.: Due modelli dialettici, in: C. Bordoni Hrsg., Introduzione alla sociologia dell’arte, Neapel, Liguori, 2005, 2008. Übersetzer: C. Bordoni.) 16. De crisis van het personage-begrip in de socio-ideologische context, in: M. Bal Hrsg., Mensen van papier. Over personages in de literatuur, Assen, Van Gorcum, 1979. 17. Objets oniriques et structures narratives chez Proust, in: Revue d’Esthétique 2-3, 1979. Schriftenverzeichnis 413 18. Twee aspekten van een tekstsociologie, in: Restant, Gent, Winter, 1979/ 80. 19. Indifferenz und verdinglichte Kausalität: Albert Camus’ L’Etranger , in: GRM 2, 1980 (als Kap. in: I.11.). 20. La Nausée de Sartre comme réaction narrative à la crise des valeurs, in: Degrés, Winter, 1980/ 81. 21. Semiotics, Dialectics and Critical Theory, in: Semiotics and Dialectics, op. cit., II.2. 21a Semiotiek, dialektiek en kritische theorie: inleidende opmerkingen, in: L. de Vos, M. Moens Hrsg., Wetenschapstheorie, semiotiek en literatuurwetenschap, Antwerpen-Eugene (Or.), Restant Uitgaven, 1981 (leicht geänderte niederl. Fassung von 21). 22. Text and Context: The Sociolinguistic Nexus, in: Semiotics and Dialectics, op. cit., II.2. 23. L’Ambivalence dialectique, in: „Walter Benjamin“, Revue d’Esthétique 1, 1981. (Ital. Übers.: L’ambivalenza dialettica: fra Benjamin e Bachtin, in: Immagine Riflessa [Genua] 1-2 „Saggi su Bachtin“, 1984. Übersetzer: N. Pasero). 23a. Ambivalenz und Dialektik: von Benjamin zu Bachtin - oder: Hegels kritische Erben, in: V. Bohn Hrsg., Poetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1986 (erw. dt. Fassung von 23). 24. Receptie-esthetica en tekstsociologie - of receptie en productie, in: R. T. Segers Hrsg., Lezen en laten lezen, Den Haag, Nijhoff, 1981. 25. Les Mécanismes discursifs de l’idéologie, in: Revue de l’Institut de Sociologie (Brüssel) 4, 1981. 26. De fictionele tekst en zijn structuren, in: Sociology of Literature Proceedings of the Tilburg Conference held on 19 September 1980, Tilburg, Katholieke Hogeschool, Studies in Language and Literature 2, November, 1981. 27. Indifferentie en conformisme bij Alberto Moravia, in: Handelingen van het zeven en dertigste Nederlandse Filologencongres (Utrecht, 14-16 April, 1982), Amsterdam, Holland University Press, 1982. 28. Literatursoziologie/ Textsoziologie, in: D. Harth, P. Gebhardt Hrsg., Erkenntnis der Literatur, Stuttgart, Metzler, 1982. (Kor. Übers. in: I.19. Übersetzer: Kim Tea Hwan.) Peter V. Zima 414 29. Vom Dandy zum Künstler oder Narcissus Bifrons, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 3-4, 1983 (erw. Fassung als Kap. in: I.20). 29a. From Dandyism to Art or Narcissus Bifrons, in: Neohelicon XII/ 2, 1985 (leicht erw. Fassung von 29). 30. Roman, nouvelle, psychanalyse, in: Arthur Schnitzler. Actes du Colloque du 19-21 octobre, 1981, Paris, Presses Univ. de France, 1983. 31. Psyche und Gesellschaft bei Marcel Proust - Zur Synthese von psychoanalytischen und soziologischen Methoden, in: E. Mass, V. Roloff Hrsg., Marcel Proust. Lesen und Schreiben, Frankfurt, Insel, 1983 (frz. Fassung in: I.9). 32. Tekst en sociale context. Kritiek van de literatuursociologie, in: ALW. Bulletin van de Vereniging voor Algemene en Vergelijkende Literatuurwetenschap 4, 1983. 33. Per una sociologia del testo: Gli Indifferenti di Alberto Moravia, in: L’Immagine riflessa VI, 1983. 34. Du discours idéologique au discours théorique: dualisme, ambivalence et indifférence, in: „Figures de la société“, Degrés 37, 1984 (als Kap. in: I.22). 35. Gleichgültigkeit und Konformismus bei Alberto Moravia. Eine Studie über die Funktion von Ideologien, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1-4: „In Memoriam Erich Köhler“, 1984 (als Kap. in: I.11). 36. Vom Nouveau Roman zu Jürgen Beckers Prosa, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 4, 1984 (als Kap. in: I.11). 37. Adorno et la crise du langage. Pour une critique de la parataxis, in: Revue d’Esthétique, 4, 1985 (als Kap. in: I.22). 38. Het Tsjechoslowaakse structuralisme. Geschiedenis en theorie van de Praagse Linguistische Kring, in: R. T. Segers Hrsg., Vormen van Literatuurwetenschap, Groningen, Wolters-Noordhoff, 1985. 39. Robert Musils Sprachkritik. Ambivalenz, Polyphonie und Dekonstruktion, in: Josef Strutz, Johann Strutz Hrsg., Musil-Studien 13, München, Fink, 1985 (als Kap. in: I.11). 40. Die Komparatistik zwischen Ästhetik und Textsoziologie, in: Sprachkunst 1, 1985 (frz. Teilübers: Influence et réception: Nietz- Schriftenverzeichnis 415 sche/ Baroja, in: L’Internationalité littéraire, Actes Noesis II, Calaceite/ Teruel, 1988. Übersetzer: A. Pym). 41. La „vision du monde“: trois modèles et une critique, in: Sociocriticism 1: „Theories and Perspectives“, 1985. 42. La Crise des valeurs culturelles dans les discours théoriques et littéraires, in: La Crise dans tous ses états. Actes du colloque de l’Association des Sociologues Belges de Langue Française, Liège, 28, 29, 30 mars, 1984, Hrsg. B. Bawin, F. Pichault, M. Voisin, Lüttich, Ciaco Editeur, 1985. 43. Indifférence et structures narratives dans L’Etranger , in: Albert Camus. Textes réunis par Paul-F. Smets à l’occasion du 25 e anniversaire de la mort de l’écrivain, Brüssel, Editions de l’Université de Bruxelles, 1985. 44. Verhaal en werkelijkheid: een tekstsociologisch perspectief, in : Sociologisch tijdschrift 3, 1986. 45. Pour une sémiotique sociocritique, in: Revue des Sciences Humaines 201, Jan./ Feb., 1986. 45a. Towards Sociological Semiotics, in: Sociocriticism 2, 1986 (engl. Fassung von 45). 45b. Plädoyer für eine soziologische Semiotik, in: Österreichische Zeitschrift für Semiotik, „Semiotica Austriaca“ (Hrsg. J. Bernard), Wien, ÖGS, 1987 (dt. Fassung von 45). 46. Avantgarde zwischen Revolution und Integration, in: P. V. Zima, J. Strutz Hrsg., Europäische Avantgarde, Frankfurt-Bern-Paris, Peter Lang, 1987. 47. Indifferenz und Objektivität: Von Marinetti zu Robbe-Grillet, in: Europäische Avantgarde, op. cit., 46. 47a. Indifférence et avant-garde: de Marinetti à Robbe-Grillet, in: S. Briosi, H. Hillenaar Hrsg., Vitalité et contradictions de l’avant-garde, Paris, Corti, 1988 (frz. Fassung von 47). 48. La Critique des idéologies chez Broch et Musil, in: Vienne au tournant du siècle (sous la direction de F. Latraverse et W. Moser), Quebec, Hurtubise, 1988. 49. Towards a Sociology of Fictional Texts, in: New Comparison 5, 1988. Peter V. Zima 416 50. Elementi sociologici nell’estetica della ricezione, in: Problemi, Palermo, Jan./ Feb., 1988. 51. Ideology and Theory: Towards a Critique of Discourse, in: Sociocriticism (Montpellier-Pittsburg), Sommer, 1988. 51a. Ideologie en theorie, in: E. van Alphen, I. de Jong Hrsg., Door het oog van de tekst. Essays voor Mieke Bal over visie, Muiderberg, Coutinho, 1988 (niederl. Fassung von 51). 52. Gli Indifferenti di Moravia tra scrittura e lettura, in: C. Bordoni Hrsg., Produzione letteraria e cultura di massa, Carrara, Società Editrice Apuana, 1988. 53. Parataxis und Dekonstruktion, in: Semiotische Berichte 1, 1989. 54. Irrationalität und Totalität bei Broch, Lukács und Mannheim, in: K. Amann, H. Lengauer Hrsg., Österreich und der große Krieg, Wien, Ch. Brandstätter Verlag, 1989. 55. Hesse et Sartre: entre nature et culture, in: SUD 82, Sondernummer „Hermann Hesse“, 1989. 56. Bakhtin’s Young Hegelian Aesthetics, in: Critical Studies 2: „The Bakhtin Circle Today“, 1989. 57. Polikulturalnost fikcije. Izme u Alpa i Jadrana (mit J. Strutz), in: Republika 9-10, Okt./ Nov., 1989 (Übersetzer: A. Žmega ). 58. Ideologiekritik bei Hermann Broch und Robert Musil, in: J. Strutz, E. Kiss Hrsg., Genauigkeit und Seele. Zur österreichischen Literatur seit dem Fin de siècle, München, Fink, 1990. 59. Barthes nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten, in: Semiotische Berichte, österreichisch-ungarischer Sammelband, 1990 (als Kap. in: I.13). 60. Zeno zwischen Zeitblom und Marcel, in: R. Behrens, R. Schwaderer Hrsg., Italo Svevo. Ein Paradigma europäischer Moderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1990 (als Kap. in I.11). 61. L’inconscio nel testo: da Freud e Schnitzler a Svevo e Moravia, in: A. Fliri Hrsg., Miti e contromiti. Cent’anni di relazioni culturali italoaustriache dopo il 1861, Fasano, Schena Ed., 1990. 62. Ouverture et clôture du texte littéraire, in: L. Milot, F. Roy Hrsg., La Littérarité, Quebec, Les Presses de l’Université Laval, 1991. Schriftenverzeichnis 417 63. Komparatistik als Dialog, in: J. Strutz, P. V. Zima Hrsg., Komparatistik als Dialog, Frankfurt-Bern-New York, Peter Lang, 1991. 64. Theorievorming in de literatuurwetenschap. Dialogiseren met J. J. A. Mooy, in: Festschrift voor J. J. A. Mooy, Visies op cultuur en literatuur, R. T. Segers Hrsg., Amsterdam, Rodopi, 1991. 65. Ideology and Theory. The Relationship between Ideological and Theoretical Discourses, in: Recherches sémiotiques/ Semiotic Inquiry 2-3, 1991. 66. Roman, Novelle, Psychoanalyse. Exkurs zum Ursprung einer Theorie, in: „Kakanien“, Budapest, Akademiai Kiadó, 1991. 67. Ambivalenze del romanzo. Tre opere emblematiche del Novecento a confronto, alla ricerca di un denominatore comune, in: Prometeo 36, 1991 (Übersetzer: F. Cochetti). 68. Ideologie und Theorie: Zum Verhältnis von ideologischen und theoretischen Diskursen, in: K. Salamun Hrsg., Ideologien und Ideologiekritik, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992. 69. L’Esthétique de la déconstruction. Du romantisme à Nietzsche et Derrida, in: Futur antérieur 9 : „Le texte et son dehors“, 1992. 70. Framework ist kein Mythos. Zu Karl R. Poppers Theorie der wissenschaftlichen Kommunikation, in: H. Albert, K. Salamun Hrsg., Mensch und Gesellschaft aus der Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 1993. 71. Zur Konstruktion von Moderne und Postmoderne, in: Wiener Slawistischer Almanach, Bd. 32, 1993. 72. Robert Musil und die Moderne, in: H. J. Piechotta, R.-R. Wuthenow, S. Rothemann, Hrsg., Die literarische Moderne in Europa, Band 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1994 (erweitert und modifiziert als Kap. in: I.20 unter dem Titel „Robert Musil und die Spätmoderne“). 73. Ideologie: Funktion und Struktur, in: H. Bay, Ch. Hermann Hrsg., Ideologie nach ihrem „Ende“, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1995. 74. Komparatistik als Metatheorie, in: L. Danneberg, F. Vollhardt Hrsg., Wie international ist die Literaturwissenschaft? , Stuttgart, Metzler, 1995. 75. Ästhetik, Wissenschaft und „wechselseitige Erhellung der Künste“. Einleitung, in: P. V. Zima Hrsg., Literatur intermedial. Musik - Male- Peter V. Zima 418 rei - Photographie - Film, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995, London, Turnshare, 2009 (Nachdruck). 76. Gibt es Weltbilder in literarischen Texten? in: H.-J. Bachorski, W. Röcke Hrsg., Weltbildwandel: Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, Trier, Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1995. 77. Interpretacija in dekonstrukcija: iterativnost in iterabilnost, in: Primerjalna književnost, letnik XVIII, V1, št. 1, Ljubljana, 1995 (Übersetzerin: I. Samide). 78. Moderno, post-moderno e ideologia. Da Alberto Moravia a Italo Calvino e Umberto Eco, in: S. Vanvolsem, F. Musarra, B. Van den Bossche Hrsg., Rinnovamento del codice narrativo in Italia dal 1945 al 1992, Rom, Bulzoni Editore, 1995. 79. Zur Konstruktion von Modernismus und Postmoderne, in: Sprachkunst 1, 1996. 80. Literaturtheorie, in: Fischer Literaturlexikon, Hrsg. W. Rickleffs, Frankfurt, Fischer, 1996 (kor. Übers. in: I.19. Übersetzer: Kim Tae Hwan). 81. Der unfaßbare Rest. Die Theorie der Übersetzung zwischen Dekonstruktion und Semiotik, in: J. Strutz, P. V. Zima Hrsg., Literarische Polyphonie. Mehrsprachigkeit und Übersetzung in der Literatur, Tübingen, Narr, 1996. 82. Kulturelle Vielstimmigkeit: Istrien als Metonymie (mit J. Strutz), in: Arcadia 1-2, 1996. 83. Il concetto di simbolo nella teoria di Paul de Man, in: Symbolon 1-2, Univ. Siena, 1996-97. 84. Von Marcel Proust zur Dekonstruktion. Le „monde des différences“, in: U. Link-Heer, V. Roloff Hrsg., Frankfurt, Insel Verlag 1997. 85. Vers une construction du postmoderne, in: Questionnement des formes / Questionnement du Sens, pour Edmond Cros, Montpellier, CERS, Hrsg. Monique Carcaud-Macaire, 1997 (auch in: Neohelicon XXV/ 1, 1998). 86. Ästhetik, in: Literaturwissenschaftliches Lexikon, Hrsg. H. Brunner, R. Moritz, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1997, 2006 (2. Aufl.). 87. Formalismus, in: Literaturwissenschaftliches Lexikon, Hrsg. H. Brunner, R. Moritz, op. cit., 86. Schriftenverzeichnis 419 88. Semiótica, estética y desconstrucción: ¿iteratividad o iterabilidad? , in: Discurso. Revista internacional de semiótica y teoría literaria, 1997. 89. Formalismus und Strukturalismus zwischen Autonomie und Engagement, in: W. F. Schwarz Hrsg., Prager Schule: Kontinuität und Wandel, Frankfurt, Vervuert, 1997. 90. Interpretation und Dekonstruktion: Iterativität und Iterabilität, in: Tausch, Bd. 10, 1997. 91. Iterativitätssuche unter dem Sternbild der Iterabilität oder: The Ghost’s Limits, in: Tausch, Bd. 10, 1997. 92. Contingency and Construction: From Mimesis to Postmodernism, in: Literator 2, Potchefstroom, Südafrika, 1997. (Frz. Übers.: Contingence et construction: de la mimésis au postmodernisme, in: X-Alta, Oktober, 2002. Übersetzer: H. Vaugrand, N. Vialaneix.) 93. Thesen zur Literaturwissenschaft, in: Neohelicon XXIV/ 2, 1997. 93a. Teze k literární v d , in: Aluze. asopis pro literaturu, filosofii a jiné 1, 1999 (erw. tschechische Fassung von 93). 94. Einheit und Vielheit. Zwischen Romantik und Moderne, in: A. von Bormann Hrsg., Volk - Nation - Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, Würzburg, Königshausen & Neumann, 1998 (erw. und geänderte Fassung als Kap. in: I.26). 95. Komparatistik, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Hrsg. A. Nünning, Stuttgart, Metzler, 1998. 96. Ideologie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Hrsg. G. Ueding, Tübingen, Niemeyer, 1998. 97. Diskurse der Negativität: von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard. Konstruktion und Krise des Subjekts zwischen Moderne und Postmoderne, in: Arcardia 2, 1998 (erw. Fassung als Kap. in: I.20). 98. Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne, in: Lendemains 91-92, 1998 (erw. und geänderte Fassung als Kap. in: I.20). 99. Les périodes littéraires comme problématiques sociales: modernité et postmodernité, in: Sincronie 5, 1999. 100. Literaturwissenschaft zwischen Autonomie und Heteronomie: Die Herausforderung durch die Sozialwissenschaften, in: C. Zelle Hrsg., Peter V. Zima 420 Konturen der allgemeinen Literaturwissenschaft: Profile im Pluralismus, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999. 101. Komparatistische Forschung: Kulturelle Bedingtheit und kulturelle Vielfalt, in: Sprachkunst 1, 1999 (auch in: A. Wierlacher Hrsg., Handbuch interkulturelle Germanistik, Stuttgart, Metzler, 2003 und als Kap. in: I.26). 102. Idéologie, théorie et altérité: L’enjeu éthique de la critique littéraire, in: Etudes littéraires 3, 1999 (als Kap. in : I.22). 103. Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne, in: M. Csáky, R. Reichensperger Hrsg., Literatur als Text der Kultur, Wien, Passagen Verlag, 1999 (erw. Fassung als Kap. in: I.20). 104. Jan Muka ovský’s Aesthetics between Autonomy and the Avantgarde, in: V. Macura, H. Schmid Hrsg., Jan Muka ovský and the Prague School, Universität Potsdam, Ústav pro eskou literaturu AV R, 1999. 105. Dialogische Theorie. Zum Problem der wissenschaftlichen Kommunikation in den Sozialwissenschaften, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999. 106. Vergleich als Konstruktion. Genetische und typologische Aspekte des Vergleichs und die soziale Bedingtheit der Theorie, in: P. V. Zima Hrsg., Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Gunter Narr Verlag, 2000 (als Kap. in: I.26). 107. Zitat - Intertextualität - Subjektivität. Zum Funktionswandel des literarischen Zitats zwischen Moderne und Postmoderne, in: K. Beekman, R. Grüttemeier Hrsg., Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 2000 (als Kap. in: I.20). 108. Das individuelle Subjekt zwischen Natur und Kultur: Modernismus und Avantgarde, in: W. Asholt, W. Fähnders Hrsg., Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik - Avantgardeforschung, Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 2000. 109. The Sociology of Texts: Position and Object, in: B. Keunen, B. Eeckhout Hrsg., Literature and Society. The Function of Literary Sociology in Comparative Literature, Brüssel-Bern-Berlin, Peter Lang, New Comparative Poetics 2, 2001. Schriftenverzeichnis 421 110. Wo steht das Subjekt? in: Steirisc[: her: ]bst, 4. Oktober - 4. November, 2001. 111. Textproduktion und Textrezeption, in: Lexikon der romanistischen Linguistik, Hrsg. G. Holtus, M. Metzeltin, C. Schmitt, Tübingen, Niemeyer, 2001. 112. Vers une déconstruction des genres? À propos de l’évolution romanesque entre le modernisme et le postmodernisme, in: R. Dion, F. Fortier, E. Haghebaert Hrsg., Enjeux des genres dans les écritures contemporaines, Quebec, Editions Nota Bene, 2001 (als Kap. in : I. 22). (Span. Übers.: ¿Hacia una deconstrucción de los géneros? A propósito de la evolución novelística entre el modernismo y la postmodernidad, in: A. Conde u.a Hrsg., Matrices del siglo XX: signos precursores de la postmodernidad, Madrid, Universidad Complutense, 2001. Übersetzerin: S. Cantero Garrido.) 113. Dekonstruktion und Postmoderne. Die Aufwertung des Partikularen, in: H. Jaumann u.a. Hrsg., Domänen der Literaturwissenschaft, Tübingen, Stauffenburg, 2001 (erw. Fassung als Kap. in: I.26). (Niederl. Übers.: Deconstructie en postmodernisme, in: Frame 15/ 2, 2000. Übersetzerin: M. Schulze.) 114. Négativité et expérience des limites: le sublime chez Lyotard et Céline, in: P. Glaudes, H. Meter Hrsg., L’Expérience des limites dans les récits de guerre (1914-1945), Genf, Slatkine, 2001. 115. Wie man gedacht wird. Die Dressierbarkeit des Menschen in der Postmoderne, in: J. Wertheimer, P. V. Zima Hrsg., Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft, München, Beck, 2001. 116. Deconstruction and Literary Translation, in: Encyclopedia of Literary Translation into English, London, Fitzroy-Dearborn, 2001. 117. Literaturtheorie, in: Reallexikon der Literaturwissenschaft, Hrsg. H. Fricke, Berlin-New York, de Gruyter, 2002. 118. Thesen zum Thema „Kulturwissenschaften“, in: Kultursoziologie 1, 2002. 119. Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: die Ambivalenz des Zufalls, in: W. Helmich, H. Meter, A. Poier- Bernhard Hrsg., Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Peter V. Zima 422 Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, München, Fink, 2002 (als Kap. in I.20). 120. Innovation als Negation - Peripetien des Subjekts zwischen Moderne und Postmoderne, in: M. Moog-Grünewald Hrsg., Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne, Heidelberg, C. Winter, 2002. 121. Subjektivität und Vermarktung, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 18: „Alles käuflich“, Marburg, Metropolis Verlag, 2002. 122. Der Dialog oder Europa. Subjektivität und Identität im Zeitalter der Europäischen Union, in: G. Kofler, J. le Rider, J. Strutz Hrsg., Kulturelle Nachbarschaft. Zur Konjunktur eines Begriffs, Klagenfurt, Wieser, 2002. 123. Die Stellung der Literaturwissenschaft zwischen den Kulturen. Eine textsoziologische Betrachtung, in: H. Foltinek, Ch. Leitgeb Hrsg., Wien, Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften, 2002 (als Kap. in: I.26). 124. Historische Perioden als Problematiken: Sozio-linguistische Situationen, Soziolekte und Diskurse, in: D. Dolinar, M. Juvan Hrsg., Kako pisati literarno zgodovino danes? Institut za slovensko literaturno in literarne vede ZRC SAZU, Laibach 2003 (als Kap. in: I.26). 124a. Historical periods as Problematics: Sociolinguistic Situations, Sociolects and Discourses, in: D. Dolinar, M. Juvan Hrsg., Writing Literary History. Selected Perspectives from Central Europe, Frankfurt, Peter Lang, 2006 (erw. engl. Übersetzung von 124: Übersetzt von R. Fraller und P. V. Zima). 125. Why the Postmodern Age Will Last, in: K. Stierstorfer Hrsg., Beyond Postmodernism. Reassessments in Literature, Theory and Culture, Berlin-New York, de Gruyter, 2003. 126. Von Hobbes zu Stirner: Mensch, Naturzustand und Staat. „Leviathan“ und „Der Einzige und sein Eigentum“ im Vergleich, in : Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig 4, „Max Stirner und Individualität“, 2004. 127. Krise und Kritik der Sprache: Das Ende der Kunstutopie, in: R. Kacianka, P. V. Zima Hrsg., Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen, Francke, 2004. Schriftenverzeichnis 423 128. Subjectivité et négativité: Adorno et Lyotard, in: A. Blanc, J.-M. Vincent Hrsg., La Postérité de l’Ecole de Francfort, Paris, Syllepse, 2004. 128a. The Subject, the Beautiful and the Sublime. Adorno and Lyotard between Modernism and Postmodernism, in: A. Eysteinsson, V. Liska Hrsg., Modernism, Amsterdam, J. Benjamins, 2007 (engl. Fassung von 128). 129. Zur Institutionalisierung der Leserrolle bei Italo Calvino: „Se una notte d’inverno un viaggiatore“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4, 2004. 129a. L’Institutionnalisation de la lecture dans le roman de Calvino: „Si par une nuit d’hiver un voyageur“, in: F. Gaudez Hrsg., Connaissance du texte. Approches socio-anthropologiques de la construction fictionnelle, Bd. I, Paris, L’Harmattan, 2010 (gekürzte frz. Fassung von 129). 130. Inhumane Ästhetik. Von Poe, Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, in: K. Hirdina, R. Reschke Hrsg., Ästhetik. Aufgabe(n) einer Wissenschaftsdisziplin, Freiburg, Rombach, 2004. 131. Komparatistik und Sozialwissenschaften, in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL, 2005 (als Kap. in: I.26). (Slowenische Übers. Primerjlana književnost in družboslovne vede, in: Primerjalna kniževnost 2, 2004. Übersetzer: D. Kos.) 132. La Théorie comme discours et sociolecte, in: J.-M. Adam, U. Heidmann Hrsg., Science du texte et analyse de discours, Genf, Slatkine Erudition, 2005. 133. Quelle théorie critique à l’âge postmoderne ? in: P. V. Zima, L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité (Nouvelle édition revue et augmentée), Paris, L’Harmattan, 2005. 133a. Kritische Theorie als Dialogische Theorie, in: R. Winter, P. V. Zima Hrsg., Kritische Theorie heute, Bielefeld, Transcript Verlag, 2007 (erw. dt. Fassung von 133). 134. The End of Artistic Autonomy? Literature and the Arts between Modernism and Postmodernism, in: L. Korthals Altes, B. van Heusden Hrsg., Aesthetic Autonomy: Problems and Perspectives, Löwen, Peeters, 2005. Peter V. Zima 424 135. Subjekt/ Subjektivität, in: Metzler Lexikon Ästhetik, Hrsg. A. Trebeß, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2006. 136. Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff, in: K.-M. Bogdal, A. Geisenhanslüke Hrsg., Die Abwesenheit des Werks. Nach Foucault, Heidelberg, Synchron Verlag, 2006. 137. Postmodernidad e indiferencia: hacia una novela postmoderna, in: J. Gómez-Montero Hrsg., Memoria literaria de la Transición Española, Madrid-Frankfurt, Iberoamericana-Vervuert, 2007. 138. Adorno als Medienkritiker, in: R. Winter, P. V. Zima Hrsg., Kritische Teorie heute, Bielefeld, Transcript Verlag, 2007 (mit R. Winter). 139. Feminist Concepts of Subjectivity Between Modernism and Postmodernism. From Virginia Woolf to Dialogical Subjectivity, in: W. Delanoy, J. Helbig, A. James Hrsg., Towards a Dialogic Anglistics, Münster, LIT, 2007. 140. Kunst als gimmick: Joost Zwagerman, in: DWB - Literair tijdschrift 5-6, 2007: „Brief aan Beatrix“ (Deutsch in: I.24: Niederl. Übers. von D. Reich und P. V. Zima). 141. L’Evénement comme construction narrative: quatre modèles littéraires, in: P. Glaudes, H. Meter Hrsg., Le Sens de l’événement dans la littérature française du XIXe et XXe siècles. Actes du colloque international de Klagenfurt, 1 er -3 juin 2005, Bern-Berlin-Brüssel, Peter Lang, 2008. 142. Ideologie, Theorie und Alterität. Ideologie als Wertsystem und falsches Bewusstsein, in: Ch. Duncker Hrsg., Ideologiekritik aktuell. Ideologies Today, Bd. I, London, Turnshare, 2008. 143. Dialogische Theorie, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Hrsg. A. Nünning, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2008 (4. Aufl.). 144. Dekonstruktion, in: Metzler Lexikon Avantgarde, Hrsg. H. van den Berg, W. Fähnders, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2009. 145. Formalismus, in: Metzler Lexikon Avantgarde, op. cit., 143. 146. Kritische Theorie, in: Metzler Lexikon Avantgarde, op. cit., 143. 147. Postmoderne, in: Metzler Lexikon Avantgarde, op. cit., 143. 148. La sociologie du texte comme théorie de la littérature et métathéorie scientifique, in: Texte. Revue critique de théorie littéraire 45-46: Schriftenverzeichnis 425 „Carrefours de la sociocritique“ (sous la direction d’A. Glinoer), 2009. 149. Essay and Essayism between Modernism and Postmodernism, in: Primerjalna književnost (Laibach) 32/ 2, 2009. 150. Psychanalyse et sociocritique : la fonction sociale de l’imaginaire dans le roman d’artiste moderne, in: J.-M. Privat, M. Scarpa Hrsg., Horizons ethnocritiques, Nancy, Presses Univ. de Nancy, 2010. 151. Jacques Derrida, in : M. Martínez, M. Scheffel Hrsg., Klassiker der modernen Literaturtheorie, München, Beck, 2010. IV. Vorworte 1. Prefazione all’edizione italiana, in: P. V. Zima, L’ambivalenza del romanzo. Proust, Kafka, Musil, Neapel, Pironti, 1985 (Übersetzerin: E. D’Ambrosio). 2. Vorbemerkung, in: P. V. Zima, J. Strutz Hrsg., Europäische Avantgarde, Frankfurt-Bern-Paris, 1987 (mit J. Strutz). 3. Vorbemerkung. Komparatistik in Klagenfurt, in: J. Strutz, P. V. Zima Hrsg., Komparatistik als Dialog. Literatur und interkulturelle Beziehungen in der Alpen-Adria-Region und in der Schweiz, Frankfurt- Bern-Paris, Peter Lang 1991 (mit J. Strutz). 4. Vorwort zur koreanischen Ausgabe von P. V. Zima, Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Seoul, Eulyoo Publishing, 1993 (Übersetzer: Hur Tschang Un). 5. Vorwort zur zweiten Auflage, in: P. V. Zima, Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke UTB, 1995 (2. Aufl.). 6. Vorwort, in: P. V. Zima Hrsg., Literatur intermedial. Musik-Malerei- Photographie-Film, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1995, London, Turnshare, 2009. 7. Vorwort, in: J. Strutz, P. V. Zima Hrsg., Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur, Tübingen, Gunter Narr, 1996. 8. Vorwort, in: P. V. Zima Hrsg., Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Gunter Narr, 2000. Peter V. Zima 426 9. Préface à la nouvelle édition, in: P. V. Zima, Pour une sociologie du texte littéraire, Paris, UGE-10/ 18, 1978, L’Harmattan, 2000 (Neuausgabe). 10. Préface à la seconde édition, in: P. V. Zima, Manuel de sociocritique, Paris, Picard 1985, L’Harmattan, 2000 (2. Aufl.). 11. Vorwort, in: Bipanjok Munhagirongwa Mihak, Seoul, Munhak-kwa- Jiseong-Sa, 2000 (kor. Übers. von: Literaturtheorie, in: Fischer Literaturlexikon, Hrsg. W. Rickleffs, Frankfurt, Fischer, 1996 sowie Der Mythos der Monosemie. Parteilichkeit und künstlerischer Standpunkt, in: H.-J. Schmitt Hrsg., Einführung in Theorie, Geschichte und Funktion der DDR-Literatur, Stuttgart, Metzler, 1975. Übersetzer: Kim Tae Hwan.) 12. Vorwort zur zweiten Auflage, in: P. V. Zima, Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke UTB, 2001. 13. Vorwort, in : J. Wertheimer, P. V. Zima Hrsg., Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft, München, Beck, 2001, 2006 (6. Aufl.) (mit J. Wertheimer). 14. Préface à la seconde édition, in: P. V. Zima, L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L’Harmattan, 2002 (2. durchgesehene und erw. Aufl.). 15. Vorwort zur zweiten Auflage. Der existentialistische Roman zwischen Spätmoderne und Postmoderne, in: P. V. Zima, Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia und Camus, Trier, WVT, 2004. 16. Vorwort, in: R. Kacianka, P. V. Zima Hrsg., Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2004. 17. Spremna beseda, in: K. J. Kozak, Privla na usudnost: subjekt in tragedija, Laibach, Knjižnica mestnega gledališ a ljubljanskega, 2004. 18. Préface à la nouvelle édition, in: P V. Zima, L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, Ed. Universitaires/ Delarge, 1974, L’Harmattan, 2005 (neue überarbeitete und erw. Aufl.). 19. Préface à la nouvelle édition, in: P. V. Zima, La Déconstruction. Une critique, Paris, Presses Univ. de France, 1994, L’Harmattan, 2007 (neue überarbeitete und erw. Aufl.). Schriftenverzeichnis 427 20. Vorwort, in: R. Winter, P. V. Zima Hrsg., Kritische Theorie heute, Bielefeld, Transcript, 2007 (mit R. Winter). 21. Vorwort, in: C. Bordoni, Heidegger und ein Paar Schuhe (Übersetzer: R. Kacianka), Klagenfurt-Wien, Kitab-Verlag, 2007. V. Rezensionen 1. La Fin d’un silence: M. Jimenez, „Adorno: art, idéologie et théorie de l’art“, Paris, UGE-10/ 18 in: La Quinzaine littéraire, 16. - 31. Okt., 1973. 2. Die Ambivalenz der Subversion: M. Schneider, „Subversive Ästhetik. Regression als Bedingung und Thema von Marcel Prousts Romankunst“, Tübingen, Niemeyer, 1975, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift XXVIII/ 1, 1978. 3. „Aufstieg und Krise der Vernunft. Komparatistische Studien zur Literatur der Aufklärung. Festschrift für Hans Hinterhäuser“, Hrsg. M. Rössner, B. Wagner, Köln-Wien, Böhlau, 1984, in: Sprachkunst XVI/ 2, 1985. 4. Literatuurwetenschap: tussen retorica en theorie, in: Forum der Letteren 27/ 3, 1986. 5. Edmond Cros et la sociocritique: E. Cros, „Théorie et pratique sociocritiques“, Montpellier, CERS/ Etudes sociocritiques, 1983, in: Rapports. Het Franse Boek 4, 1986. 6. M. Schmeling, „Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell“, Frankfurt, Athenäum Verlag, 1987, in: Sprachkunst XIX/ 2, 1988. 7. „Decadence and Innovation: Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century“, Hrsg. R. Pynsent, London, Weidenfeld and Nicholson, 1989, in: New Comparison 10, 1990. 8. U. Link-Heer, „Prousts ‚A la recherche du temps perdu‘ und die Form der Autobiographie“, Amsterdam, Verlag B. R. Grüner, 1988, in: Sprachkunst XXII/ 2, 1991. 9. „Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches“, Hrsg. F. Burwick, W. Pape, Berlin-New York, De Gruyter, 1990, in: Sprachkunst XXIV/ 1, 1993. Peter V. Zima 428 10. „Figures du sujet lyrique“, Hrsg. D. Rabaté, Paris, PUF, 1996, in: Romanische Forschungen 111/ 3, 1999. 11. O. Ette, „Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie“, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, in: Sprachkunst XXX/ 2, 1999. 11a. Barthes en Europe: Ottmar Ette, „Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie“, 1998, in: Critique 631, Dez. 1999 (frz. Fassung von 11). 12. „Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert“, Hrsg. P. Geyer, M. Schmitz-Emans, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2003, in: Sprachkunst XXXV/ 2, 2004. 13. „Literature and Science/ Literatur und Wissenschaft“, Hrsg. M. Schmitz-Emans, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2008, in: Sprachkunst XXXIX/ 2, 2008. VI. Übersetzungen 1. U. Eco, Semiotik der Ideologien, in: P. V. Zima Hrsg., Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, aus dem Italienischen: Semiotica delle ideologie, in: U. Eco, Le forme del contenuto, Mailand, Bompiani, 1971. 2. J. Kristeva, Semiologie als Ideologiewissenschaft, in: P. V. Zima Hrsg., Textsemiotik als Ideologiekritik, op. cit., aus dem Französischen: La sémiologie comme science des idéologies, in: Semiotica 1, 1969. 3. J. Kristeva, Der geschlossene Text, in: P. V. Zima Hrsg., Textsemiotik als Ideologiekritik, op. cit., aus dem Französischen: Le texte clos, in: J. Kristeva, Sémeiotiké recherches pour une sémanalyse, Paris, Seuil, 1969. 4. J. Muka ovský, Probleme der ästhetischen Norm, in: P. V. Zima Hrsg., Textsemiotik als Ideologiekritik, op. cit., aus dem Tschechischen: Problémy estetické normy, in: Cestami poetiky a estetiky, Prag, eskoslovenský Spisovatel, 1971. 5. K. Chvatik, J. L. Fischer - The founder of dialectical structurology in Czech philosophy, in: P. V. Zima Hrsg., Semiotics and Dialectics. Ideology and the Text, Amsterdam, J. Benjamins, 1981, aus dem Tschechischen: J. L. Fischer zakladatel dialektické strukturologie (Manuskript). Schriftenverzeichnis 429 6. E. Köhler, Can vei la lauzeta mover. Remarques sur les rapports entre structures phoniques et structures sémantiques, aus dem Deutschen: Can vei la lauzeta mover. Überlegungen zum Verhältnis von phonischer Struktur und semantischer Struktur, in: P. V. Zima Hrsg., Semiotics and Dialectics, op. cit., 5. VII. Interviews 1. „Le Rapport sémiotique/ dialectique dans le domaine de la littérature“: Interview mit Pierre Razdac, in: Critique communiste 28, 1979 (Paris). 2. „Tekstsociologie is een geëngageerde wetenschap“: Interview mit Berto Merx, in: Universiteitskrant Groningen (UK), 19. Oktober 1983. 3. Interview mit Hur Chang Un, in: Contemporary World Literature 49, 1996 (Seoul). 4. „S Petrem Zimou o jeho osudech i literárn v dném myšlení“: Interview mit Jan Schneider, in: Aluze. asopis pro literaturu, filosofii a jiné (Olmütz), 2, 1999. 5. „Jede Ästhetik erzählt ihre eigene Geschichte anders“: Interview mit Peter Mahr, in: P. Mahr Hrsg., Österreichische Ästhetik. 19 Interviews, Klagenfurt-Wien, Ritter Verlag, 2003.